Buch Die große Umwälzung hat stattgefunden, das verlorene Land der Ashioi ist an seinen angestammten Platz zurückgekehr...
25 downloads
832 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch Die große Umwälzung hat stattgefunden, das verlorene Land der Ashioi ist an seinen angestammten Platz zurückgekehrt - an jenen Ort, von dem es vor Jahrtausenden mit mächtiger Magie in den Äther hinausgeschleudert wurde. Und während die Menschen noch versuchen, mit den Nachwirkungen der Katastrophe fertigzuwerden, unternimmt Sanglant alles, damit ihm die gerade gewonnene Macht nicht gleich wieder aus den Fingern gleitet. Denn sein Vater, König Henry, hat ihm zwar mit seinem letzten Atemzug die Krone vermacht, aber das bedeutet nicht, dass seine Untergebenen und ehemaligen Verbündeten sich diesem Wunsch fügen werden. Und Liath kann Sanglant in seiner Not nicht helfen - im Gegenteil, sie belastet ihn eher in seinem Ringen um die Königskrone, denn sie wurde von der Kirche exkommuniziert. Wird es Sanglant gelingen, die Menschen zu einen und das Reich zu ordnen - oder werden alle menschlichen Reiche den zurückgekehrten, nach Rache dürstenden Ashioi zum Opfer fallen? Oder vielleicht auch Starkhand, dem Aikha, der von seinem Inselreich Alba aus schon die nächsten Eroberungszüge plant? Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Solo-Projekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern gleichermaßen begeistert aufgenommen. Von Kate Elliott bereits erschienen: S TERNENKRONE : 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24138), 9. Ins Land der Greife. Roman (24183), 10. Die magischen Tore. Roman (24139), 11. Das verwüstete Land. Roman (24140) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Das verwüstete Land Sternenkrone 11
Originaltitel: Crown of Stars, vol. 6, In the Ruins
Vorbemerkung Wie alle meine Leser wissen, war dies eine lange und komplizierte Serie, mit einem langen und komplizierten Plot. Und tatsächlich gab es, nachdem ein bestimmter Punkt erreicht war, einfach keine Möglichkeit mehr, umzukehren.
In den zwei Jahren, die ich gebraucht habe, um den letzten Band zu schreiben, habe ich mich ausschließlich auf die aus meiner Sicht notwendige Entwicklung der Charaktere und der Geschichte konzentriert, um der ganzen Sternenkronen-Saga ein möglichst starkes Ende zu geben. Ich bin zufrieden, dass ich mein Möglichstes getan und das Ende erreicht habe, das ich im Blick gehabt hatte. Allerdings war das Manuskript, das ich schließlich meinem amerikanischen Verlag übergeben habe, mit etwa 430.000 Wörtern einfach zu lang, um es in einem einzigen Band zu veröffentlichen. Ich musste also eine Entscheidung treffen. Eine Möglichkeit wäre gewesen, mehrere hundert Seiten aus dem Buch herauszunehmen - und das Ende der Serie dadurch zu schwächen, dass einige Handlungsstränge und Personenschicksale unaufgelöst bleiben würden -, die andere, das Manuskript in zwei Bände aufzuteilen. Ich habe mich lange mit der Frage nach der Länge herumgeschlagen und mich gefragt, ob irgendwelche Bücher überhaupt so lang sein müssen. Letztlich habe ich jedoch keine Möglichkeit gesehen, das Manuskript zu kürzen, ohne der Geschichte eine Menge Kraft zu nehmen, und so habe ich mich entschieden, das letzte Buch zu teilen, um die Geschichte so zu erhalten, wie ich sie erzählen wollte. Jenen, die diese Entwicklung begrüßen oder sich zumindest mit ihr abfinden, danke ich für ihre Geduld. Die anderen, die verständlicherweise verärgert sind, bitte ich um Entschuldi3 gung. Als ich mit der Sternenkrone angefangen habe, hatte ich keine Vorstellung, worauf ich mich da einlassen würde.
Prolog Federkleid stand kurz vor der Niederkunft - die einzige schwangere Frau, die ihrem Volk noch geblieben war. Genau betrachtet war sie die einzige noch lebende Frau, die mehr als einmal schwanger geworden war. Deshalb hatte sie den Vorsitz über den Rat der Stämme, denn sie besaß eine Macht, die die anderen nicht hatten, eine Macht, die während der Zeit des Exils aus dem Land verschwunden war. Niemand konnte sich dieses langsame Versickern erklären, aber alle wussten, dass es dem Tod des Landes und des Volkes vorausging. Wenn jemand sie retten konnte, musste es jemand sein, in dem die Macht noch immer weilte, während sie die anderen längst verlassen hatte. Und so war ihr der Adlersitz übergeben worden. Tatsächlich war es der einzige Platz, auf dem sie noch gut sitzen konnte. Ihr anderes Kind war fast schon erwachsen - äußerlich und im Hinblick darauf, was es zu lernen galt -, aber in den Tagen, als der Junge in ihrem Innern herangewachsen war, war er nicht so groß gewesen. Jetzt sah es so aus, als würde sie die Brut eines Riesen hervorbringen, obwohl sie wusste, dass der Erzeuger ihres Kindes Regen war, der weder kleiner noch größer als die anderen Männer war. Er war sanft und gutmütig und von mittlerer Statur, ein harter Arbeiter mit geschickten Händen und gut darin, Feuersteine abzuschlagen. Und er hatte einen Namen mit einem guten Omen. Aus all diesen Gründen war er als Vater eine bessere Wahl gewesen als hochmütige Krieger wie Katzenmaske oder Echsenmaske, die Gefallen daran fanden, ihre Speere zu recken und vor den Frauen herumzustolzieren. Wie sie es auch jetzt taten. »Wir müssen uns an einem Ort versammeln - weiter im Landesinnern, wo wir geschützt sind - und uns bereitmachen! 11
Dann können wir sofort und in großer Zahl handeln. Wir können zuschlagen, bevor unser Feind damit rechnet!« »Es ist besser, uns in kleinere Gruppen aufzuteilen, du Narr! Wir müssen uns über das Land verteilen. Falls dann eine Gruppe überrascht wird, kann die andere dem Feind zusetzen und sich wieder neu formieren, wenn es sicher ist.« »Wenn der Feind zuerst zuschlägt, wenn er die Weißstraße passiert und seinen Fuß auf unser Land setzt, sind wir verloren!« Katzenmaske pochte mit dem Ende des Sprechstabes wiederholt auf den Boden, um seine Aussage zu betonen. Als wäre seine Stimme nicht laut genug!
Echsenmaske war einen halben Kopf größer als Katzenmaske. Dies machte er sich jetzt zunutze, reckte die Brust und schob das Kinn vor, während er den Stab oberhalb von Katzen-maskes Hand ebenfalls ergriff. »Wie können wir wissen, wo genau der Feind in unser Land eindringen wird? Wenn wir alle an ein und derselben Stelle sind, werden wir unsere Beweglichkeit verlieren. Wir werden uns so langsam von der Stelle bewegen wie dein Verstand!« »Pff! Dein Wunsch nach Sicherheit lässt dich ängstlich werden! Wir müssen kühn sein!« »Wir müssen vorsichtig, aber geschickt sein - wir müssen der Stachel in ihrer Seite sein.« »Wir müssen der Pfeil in ihrem Herzen sein! Wir müssen ihnen einen gewaltigen Schlag versetzen, der sie kampfunfähig macht, nicht eine Unmenge von bedeutungslosen Stichen, die sie nur noch mehr verärgern werden, ohne dass sie wirklich Schaden anrichten!« Die Beratenden saßen in dem höhlenartigen Zimmer und sahen den beiden jungen Kriegern zu, die in der Mitte herumstampften und sich aufplusterten. Die älteren Frauen wirkten erheitert und nachsichtig, während sich auf den Gesichtern der jüngeren Frauen Abscheu oder eingehendes Interesse spiegelte, je nachdem, ob sie eine Vorliebe für solch ein männliches, streitlustiges Gehabe hatten oder es ablehnten. Die älteren 4 Männer standen mit verschränkten Armen und ergebenen Mienen da und warteten darauf, dass der Sturm sich wieder legte; sie hatten sich früher ebenso aufgeplustert und waren klug genug, sich nicht einzumischen. »Ein Schwärm Bienen kann einen Wolf zur Strecke bringen, der sie ärgert und ihr Nest aufstöbert.« »Ein Wolf kann ihnen davonlaufen und sich nachts zurückschleichen, während sie schlafen, um ihre Zuflucht in Fetzen zu reißen, damit andere Tiere sie verschlingen!« Solange die Männer das Wort hatten, waren die Frauen nicht an der Reihe zu sprechen; dennoch war Federkleid nicht überrascht, als die Ungeduldige - Uapeani-kazonkansi-a-lari, Tochter von Ältester Onkel - lachte. »Was für schöne Reden ihr schwingt!«, rief sie. »Sollen wir demjenigen zujubeln, der uns mit der schönsten Poesie aufspießt?« Die beiden Männer wurden rot. Derart ihrem Spott ausgesetzt, veränderten sie ihre Haltung und vereinigten sich gegen sie. In früheren Jahren hatte die Ungeduldige mit beiden geschlafen und beide wieder verworfen; und auch wenn die beiden aufeinander eifersüchtig waren, war dieses Gefühl bedeutend geringer als die Verstimmung über Uapeanis Gleichgültigkeit. »Ihr streitet über einen Krieg«, sprach sie weiter. »Aber mit Waffen wird sich diese Schlacht nicht gewinnen lassen.« »Wir müssen kämpfen!«, erklärte Katzenmaske. »Ob wir unsere Streitkräfte zusammenziehen oder aufteilen, wir müssen zum Kampfbereit sein«, stimmte Echsenmaske ihm zu. Sie schnaubte. »Sie sind viele - und wir sind wenige. Darüber hinaus sind die Menschen nur eine der Gefahren, mit denen wir es zu tun haben. Wir können noch immer großen Schaden erleiden, wenn der Tag kommt - der schon nahe ist!« Als sollte ihrer Aussage ebenso viel Nachdruck verliehen werden, wie Katzenmaske seine Worte betont hatte, indem er mit dem Speer auf den Boden geklopft hatte, erzitterte das 4 Land unter ihnen. Das Vibrieren erinnerte an ein Erdbeben, aber es war die Erschütterung des Landes, das nach seinesgleichen rief, das inmitten der Wellen des Äthers, die es umgaben, seine Heimat suchte. Es ging geradewegs durch Federkleids Körper hindurch. Ihr Mutterleib verkrampfte und entspannte sich im gleichen Rhythmus. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, wusste, dass ihre Zeit bald gekommen war, ebenso wie der Tag, den sie so lange erwartet hatten. Was auseinandergerissen worden war, würde wieder an seinen Ruheplatz zurückkehren, und die Ashioi, verflucht und vertrieben, würden heimkehren.
Nun, da die Ungeduldige außer der Reihe geredet hatte, sprachen viele, und alle auf einmal. Frieden. Krieg. Beschwichtigung. Verhandlungen. Jede Sichtweise hatte ihre Anhänger, aber jene, die nach Krieg schrien, waren am lautesten. »Ich werde sprechen«, sagte Federkleid. Die anderen verstummten, sogar die Ungeduldige. »Hört gut zu. Wenn wir nicht mit einer Stimme sprechen, werden wir ganz bestimmt untergehen. Wir haben keine Zeit mehr, um zu streiten. Eine Entscheidung muss gefällt werden, und so werde ich es tun. Auf diese Weise soll es geschehen: Lasst das Volk sich im Landesinneren versammeln, wo es auf die größte Sicherheit hoffen kann. Aber es soll sich in dreizehn einzelne Gruppen aufteilen, damit die anderen entkommen können, wenn eine in Gefahr gerät. Katzenmaske, du wirst unsere Krieger in zwei Gruppen aufteilen. Die größere Gruppe wird mit dir an einem Ort deiner Wahl bleiben, wo du dich rasch bewegen und gut kämpfen kannst. Echsenmaske, du wirst die Übrigen in kleine Gruppen einteilen, die die Grenzgebiete bewachen und die anderen warnen, wenn irgendwelche feindlichen Kräfte unsere Grenzen überschreiten. Der Rat wird sich mit den anderen verteilen. Ich werde hierbleiben, bis der Sturm vorüber ist. Weißfeder wird als meine Hebamme bei mir sein. Für die Übrigen gilt, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, uns zu verteidigen, aber erst nach dem Sturm werden wir wissen, wie unsere Lage ist und 5 wie viele überlebt haben. Wir werden uns dann wieder versammeln, um unsere weiteren Schritte zu erwägen. Ich habe gesprochen. Niemand soll meine Worte in Zweifel ziehen.« Sie hatte nur ein einziges Mal zuvor ihr Recht in Anspruch genommen, allein eine Entscheidung zu treffen. Kein weiser Anführer tat so etwas oft. Sie seufzte unter ihrer doppelten Bürde, als die Ratsmitglieder sich ihren Worten fügten. Die meisten gingen schnell weg, um ihre Anordnungen auszuführen. Ein paar zögerten, unterhielten sich leise; ihre Stimmen hallten schwach durch die Höhle. Nur Ältester Onkel, der auf dem zweiten Absatz saß, verharrte dort stumm, die Beine überkreuzt. »Du hast deine Meinung nicht gesagt, Onkel«, bemerkte sie. »Er hat keine Meinung«, erwiderte seine Tochter; sie brach das Gespräch mit ihrer Kameradin Weißfeder ab, die genau wie sie schroff, aber stark war. »Er hat sich in die nackte Gefährtin seines Enkels verliebt, die von allen Männern begehrt wird, weil in ihr das Feuer der oberen Sphären brennt.« Ältester Onkel seufzte. »Stimmt das?«, fragte Federkleid. »Ich gebe zu, dass ich überrascht war, als du sie vor den Rat gebracht hast. Sie ist gefährlich - und wie alle gefährlichen Dinge hübsch und klug.« »Sie ist jung, und sie musste unterrichtet werden. Wenn ihr Frauen an nichts als das körperliche Verlangen denken könnt, ist das nicht mein Fehler.« »Mein Vater und mein Sohn - beide ihre Sklaven! Was sagst du dazu, Federkleid?« »Ich habe sie verbannt, als ich gesehen habe, was sie war. Abgesehen von der Gefahr, die sie aufgrund dessen, was sie ist, für jedes irdische Wesen darstellt, sehe ich kein Übel in ihr.« »Du bist eine Närrin!« Federkleid lächelte, legte die Hände auf ihren riesigen Bauch. »Mag sein. Und du bist vielleicht eifersüchtig.« Ältester Onkel kicherte. Die Ungeduldige starrte finster drein. 5 »Aber ich sitze auf dem Adlersitz. Wenn du mein Recht bestreiten willst, diesen Platz innezuhaben, wirst du beweisen müssen, dass du würdiger bist als ich.« Wie alle Erwachsenen ihres Volkes konnte Federkleid einen Bogen benutzen und hatte gelernt, sich mit Messer und Stab zu verteidigen, aber die Ungeduldige hatte Gefallen an den Künsten des Krieges gefunden, in denen alle Jugendlichen unterrichtet wurden. Sie war körperlich stark, hatte kräftige Glieder und besaß eine kämpferische Anmut, die sie einsetzen konnte, um zu beschützen oder zu bedrohen, wie sie es auch jetzt tat. Sie war angespannt und vollkommen im Gleichgewicht - eine Kriegerin, die bereit war, einen Speer auf ihre Feindin zu schleudern. »Ich bin in den Sphären gewandelt! Verhöhne nicht meine Macht!«
»Ich verhöhne dich nicht. Aber ich fürchte dich auch nicht. Macht ist nicht Weisheit. Es ist nur Macht. Wenn Katzenmaske übereilte Entscheidungen trifft, können er und seine Krieger uns nicht beschützen. Wir sind durch unser Exil geschwächt. Wir wissen nicht, was wir noch zu erdulden haben, deshalb rate ich zur Vorsicht. Du selbst hast dich gegen Waffengewalt ausgesprochen.« »Aber nur, weil sie so viele und wir so wenige sind. Wir müssen schnell zuschlagen, mit anderen Mitteln. Ihre größten und grausamsten Krieger können mit Zauberei besiegt werden. Ich habe sogar die wilden Tiere abgewehrt, die bei ihnen hausen und die mich fast in Stücke gerissen hätten.« »Sei vorsichtig«, sagte Ältester Onkel ruhig. »Wir haben gesehen, wie viel größer das Leid ist, wenn Zauberei angewandt wird, um Schaden anzurichten.« »Du denkst, wir sollten uns ergeben!« »Tue ich das? Wir müssen Frieden suchen.« »Frieden ist dasselbe wie sich ergeben! Die Menschheit wird uns niemals den Frieden anbieten.« »Wie kannst du das wissen, Tochter?« 6 »Ich kenne sie besser als du! Ich habe bei ihnen gelebt. Ich habe für einen von ihnen ein Kind ausgetragen.« Sie sah Federkleid trotzig an. »Sie sind nicht wie wir. Sie werden niemals Frieden mit uns schließen. Mein Sohn ist bei ihnen als Ausgestoßener aufgewachsen, und dennoch haben sie ihn zu ihrer Lebensweise verführt.« »Es wäre besser gewesen, wir hätten ihn gemäß unseren Traditionen aufgezogen«, erklärte Ältester Onkel, »statt ihn dort zurückzulassen.« »Ja, das hast du gesagt! Aber es war entschieden worden, den Weg der Beschwichtigung zu gehen - und zwar durch die Geburt eines Kindes, das sowohl ihr Blut als auch das unsere besitzt. Dieser Plan ist gescheitert!« »Ist er das?« »Siehst du das anders? Wie kannst du das wissen? Du bist seit den alten Tagen nicht mehr auf der Erde gewandelt, und die alten Tage sind bei der Menschheit in Vergessenheit geraten. Sie erinnern sich nur noch in Geschichten an uns - an einen uralten, lange verbannten und besiegten Feind. Oder ist es die Erinnerung an die Strahlende, die dich blendet, so dass du keinen Krieg gegen sie führen willst?« »Es zeugt von schlechtem Benehmen, wenn eine Tochter so unhöflich mit ihrem Erzeuger spricht«, bemerkte Federkleid. »In deinen Worten mag Wahrheit enthalten sein, aber dein Verhalten gibt uns Grund, dir mit Zweifeln zu begegnen.« »Ihr seid wirklich Narren!« Die Ungeduldige schnippte mit den Fingern, und einer der jungen Krieger, die vor dem aus der Höhle führenden Gang gewartet hatten, tauchte auf. »Dennoch ist es möglich - nur möglich -, wenn sie nicht tot sind, sondern einfach nur zwischen den Welten gefangen ...« Sie grinste, sprang die Stufen hinauf und verschwand in der Dunkelheit. Der junge Mann folgte ihr dicht auf den Fersen. »Wer ist tot?«, fragte Weißfeder. »Wir sind gefangen zwischen den Welten«, sagte die ältliche Frau namens Grünrock. »Was führt sie im Schilde?« ±6 »Sie wird versuchen, noch einmal schwanger zu werden«, sagte Weißfeder. »Sie will den Adlersitz. Sie wird ihn dir wegnehmen, wenn sie kann.« Federkleid hatte viele Prüfungen in ihrem Leben überstanden - wie alle, die im Exil lebten. Sie lächelte, spürte das vertraute Zupfen der Müdigkeit an ihrem Herzen, das nur von der Erinnerung an das Gelächter aufgelockert wurde, das sie einst mit der Ungeduldigen verbunden hatte, als sie noch Mädchen gewesen waren. »In den alten Tagen«, sagte sie, als die letzten Mitglieder des Rates sich um sie versammelten, »haben wir eine Anführerin nicht einfach nur aufgrund ihrer Fruchtbarkeit gewählt. Es ist eine Schande, dass es so weit gekommen ist.« Sie tätschelte ihren Bauch. Muskeln spannten sich unter ihrer Hand. Die Haut wogte, als das Kind in ihrem Innern sich umdrehte wie eines der legendären Merwesen unter Wasser.
»Wie hat sich die Welt verändert?«, fragte sie die anderen, bedachte sie nacheinander mit einem Blick: Ältester Onkel, Grünrock, den alten Krieger Schädelohrring, Weißfeder, die ihr als Hebamme zur Seite stehen würde. Diesen vier vertraute sie am meisten, denn sie waren ehrlich, ausgeglichen und taten es kund, wenn sie nicht mit ihr übereinstimmten. Sie waren ihr Frühling, Winter, Herbst und Sommer. »Wir wissen nicht, was wir auf der Erde vorfinden werden, wenn wir zurückkehren, denn niemand von uns ist in dem Land gewandelt, das es jetzt ist. Niemand außer der Ungeduldigen.« »Uapeani-kazonkansi-a-lari ist in den Sphären gewandelt«, sagte Weißfeder. »Sie hat ihr Leben riskiert, um zu erfahren, was notwendig war, um den Äther zu durchqueren und zur Erde zurückzukehren. Wir sollten ihre Worte nicht leichtfertig beiseite schieben, nur weil sie nicht mit ihrem Vater einig ist.« Ältester Onkel kicherte. Grünrock verabscheute Unsinn wie alle älteren Frauen. Sie reckte scharf das Kinn, um zu zeigen, dass sie anderer Meinung war. »Dass sie sich weigert, den Älteren zuzuhören, ist genau das, was ihre Ansichten verdächtig macht. Sie ist voreilig.«
7 Schädelohrring verschränkte die Arme vor der Brust. Er war einmal ein kühner, ungestümer und ungeduldiger Krieger wie Katzenmaske gewesen, aber das Alter, der Hunger und die Verzweiflung hatten an ihm gezehrt. Er war wie altes Gold, das zu einem weichen Glanz poliert war. »Zuerst sollten wir das Bevorstehende überleben. Wir wissen nicht, was uns erwartet, abgesehen von dem, was die Strahlende uns erzählt hat: dass unsere alten Feinde, die Pferdemenschen, und ihre menschlichen Verbündeten noch leben und dass sie uns für immer vertreiben wollen. Falls wir überleben, können wir Späher ausschicken, die das Land erkunden sollen. Falls wir ein zweites Mal verstoßen werden, werden wir es nicht überleben, sondern ganz gewiss sterben. Was können wir tun?« »Wir können nichts tun«, sagte Ältester Onkel. »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen und hoffen, dass die Sturmwinde uns verschonen.« »Es muss aber etwas geben, das wir tun können!«, rief Weißfeder. »Sind wir denn Ziegen, die sich vom Schäfer zusammentreiben und schlachten lassen, wenn es Zeit ist, Fleisch zu bekommen?« »Jetzt - in diesem Augenblick - sind wir hilflos«, sagte Ältester Onkel. »Es ist keine Schande, diese Wahrheit anzuerkennen, denn so ist es. Ich stimme mit meinem Neffen überein.« Er machte eine Handbewegung in Richtung Schädelohrring. Der andere Mann lachte. »Nach so vielen Jahren ist es gut, dass wir endlich übereinstimmen, Onkel!« Der alte Mann lächelte, aber Federkleid sah, dass dieses Lächeln nicht von Herzen kam. »Ich werde bei der Lichtung warten, auf der der brennende Stein erscheint«, sagte er. »Das ist am Rand des Landes«, wandte Federkleid ein. »Die Wogen könnten über dich hinwegfluten. Du wirst in Gefahr sein.« »So wie du hier, Federkleid.« »Ich kann den Adlersitz nicht verlassen. Ich brauche dich bei mir. Ich fühle mich dann ruhiger.« 7 Er zuckte mit den Schultern; er wusste, dass sie recht hatte, wusste, dass sie als Anführerin keine Ruhe haben würde. Der Adlersitz war eine ebenso schwere Bürde wie die Schwangerschaft. »Dennoch muss ich dort warten, für den Fall, dass -« Weißfeder schnaubte. »Für den Fall, dass die Strahlende auftaucht? Vielleicht spricht deine Tochter die Wahrheit, Onkel. Du hast den Geist eines jungen Mannes im Körper eines alten Mannes.« »Das ändert sich niemals!«, entgegnete er, aber er fühlte sich von ihrer Aussage nicht beleidigt. Die anderen lachten. »Ich bin der Älteste. Ich werde in dieser Sache tun, was ich tun will. Ich werde sehen, was ich sehen will. Wenn die Wogen mich überwältigen, dann sei es so.«
Ein Krampf erfasste Federkleid. Wie als Echo erzitterte die Erde, und die Erschütterungen hörten nicht auf, bis sie bemerkte, dass sie angestrengt atmete und mit den Händen die Adlerflügel umklammerte. Weißfeder kniete neben ihr nieder. »Es ist bald so weit.« Sie winkte Grünrock, die nickte und zur Tür ging, um einer Kriegerin, die dort wartete, ein paar Anweisungen zu geben. Es war eine junge Frau mit einer Fuchsmaske, die sie nach hinten geschoben hatte. Das Mädchen rannte los, um Wasser zu holen, während Weißfeder Kohlen aus einem hohlen Stab schüttete und ein Feuer entfachte. Schädelohrring holte den Geburtsstuhl. All dies emsige Treiben und weitere Krämpfe lenkten Federkleid ab. Sie nahm kaum wahr, dass Ältester Onkel sich verabschiedete, ebenso wie die zwei jungen Krieger, die ihm folgten. Als sie sich das nächste Mal in der Kammer umsah, waren alle drei verschwunden. Als die Krämpfe heftiger wurden und häufiger kamen, war sie nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, welche Kräfte an ihrem Körper zerrten oder welche das Land erzittern ließen. So viele Bürden; so viel Erschöpfung, so eine große Prüfung. Sie 8
musste loslassen. Sie hatte keine Möglichkeiten mehr einzugreifen. Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war es auszuhalten. Alles, was sie jetzt tun konnte, wann immer die stechenden, brennenden Schmerzen es zuließen, war zu Sharatanga zu beten, Jene-Die-Keinen-Mann-Haben-Wird. »Führe uns durch diese Geburt und diesen Tod. Gib uns deinen Segen.« War dies ihre Stimme oder die von Weißfeder? Oder sprach Grünrock, deren grüne Perlen und kleine, weiße Schädelmasken aneinanderklackerten, wann immer sich die alte Frau bewegte? Murmelte sie Worte, oder ächzte und stöhnte und fluchte sie nur, während die Eröffnungsschmerzen kamen und gingen? Jenseits ihrer Haut spürte sie schwach die Haut des Kosmos, die die Erde umhüllte - wie sie sich einer Blume gleich öffnete, um das in Empfang zu nehmen, was jetzt zu ihr zurückkehrte: das ausgestoßene Land. Gewaltige Kräfte bewegten sich in den Tiefen. Das Meer wütete auf der Oberfläche, und die Winde heulten, während sich tief unten in den Höhlen Flüsse aus Feuer verlagerten und ein neues Gewirr aus Gängen erschufen. Die Erde heißt uns willkommen. »Still«, sagte Weißfeder. »Behalte deinen Atem, damit du pressen kannst.« »Höre auf das, was Weißfeder sagt!«, wandte Grünrock ein. »Sie sieht, was wir nicht sehen können.« Der Schmerz der Öffnung verwandelte ihr Bewusstsein, während das Kind nach draußen drängte, bereit zum Geboren werden war. Doch was an ihr zerrte, war nicht der Schmerz, sondern die Unausweichlichkeit. Jetzt wurde das ausgestoßene Land zurück an den Platz gezogen, von dem es gekommen war, wo es immer hingehört hatte. Jetzt würde das Kind geboren werden, denn Kinder mussten geboren werden, wenn sie einmal diese Reise begonnen hatten. Vier kümmerten sich um sie: Weißfeder, Schädelohrring, 8
Grünrock und die fuchsmaskige junge Kriegerin, ein ernstes Mädchen, das jeden finster anstarrte, während es hin und her rannte, um das zu tun, was ihm aufgetragen wurde. Sie wusste dies, nicht weil sie darauf achtete, sondern weil sie alles wusste. Die lebendige Seele, die dem Kosmos innewohnt und ihn und alle Dinge mit Leben versorgt - sogar jene, die tot zu sein schienen -, wurde für sie jetzt deutlich erkennbar. Sie sah das Pulsieren aller Dinge bis hinunter in die kleinsten Einheiten. Sie sah die Weite der Himmel, die sich in einem unendlichen Bogen erstreckten, dessen nicht zu ergründender Horizont sie verwirrte. Dem ausgestoßenen Land war diese Seele fast ausgesaugt worden. Vom nährenden Mutterleib getrennt, war es verkümmert, als das Wogen der heiligen Anwesenheit verebbt war. Jetzt hatte das lebenssprühende Netz, das die Erde umgab, sie verschluckt, und während das Kind in ihrem Bauch aus seinem Schutz gestoßen wurde, wurden sie in das alte Nest gezogen, in dessen Struktur noch immer die Erinnerung an den Platz wohnte, den sie einst darin eingenommen hatten. Der glitschige Körper eines Kindes fiel in Weißfeders wartende Hände.
Sie stöhnte, aber vielleicht war es auch die Erde, die in einer Tonlage knirschte, die fast zu tief war, um wahrgenommen werden zu können. »Noch eins!«, rief Grünrock entsetzt. »Zweimal gesegnet! Zweimal verflucht!«, sang Weißfeder, die das erste Kind den wartenden Händen von Schädelohrring übergab, damit sie das zweite ungeduldige Kind übernehmen konnte. Federkleid presste, als die Welt erneut geboren wurde, als die Weißstraße ins Dasein flackerte, ein so helles Band, dass es leuchtete, während die Erde jenseits der Grenzen des Landes der Ashioi barst. Feuerstürme wüteten und Sturmwinde peitschten das Land. Und doch geschah all dies so weit weg vom Herzen des Mahlstroms, dass ihre Wahrnehmung des Kosmos ebenfalls verblasste und sie nur noch müde war. So müde. 9
»Zwei Mädchen!«, sagte Schädelohrring, der das erste zärtlich in den Armen wiegte. »Die Götter sind uns wohlgesonnen !« Sie glitt die lange Straße der Erschöpfung entlang und sank in den Schlaf. Nördlich des Landes ist die Zerstörung so vollständig, dass das Land dampft. Ist diese verwüstete Ödnis, in der sie nichts als Rauch und Ruinen erkennen kann, durch ihre Rückkehr entstanden? Nein, jenseits der Narbe liegt ein Land, das von Feuer heimgesucht wird, vom Wind und von tobenden Meeren, von großen Verlagerungen in der Erde selbst, von Tumulten, aber es ist nicht tot. Sie sieht jetzt, was dazu geführt hat, dass das Land gleich jenseits der Weißstraße von geschmolzenem Felsgestein umhüllt ist. Die Strahlende wandelt in der Ödnis. Sie hat sie erschaffen - mit der Macht, die ihr innewohnt, dem Fluch, den sie vom Volk ihrer Mutter empfangen hat. Sie ist nackt und trägt nur einen Bogen bei sich, der die magische Essenz von Greifenknochen verströmt... die hell strahlt... Sie stöhnte und wurde wach, blinzelte gegen ein Licht an, das sie nicht erkannte. »Oh!« Sie schützte die Augen. »Was ist das?« »Er-Der-Brennt!«, rief Grünrock. »Das ist die Sonne. Seht nur, wie sein Licht scheint!« Sie deutete auf das Dach der Höhle, wo ein gelber Schimmer die Pflanzenwurzeln beleuchtete, die von den bröckelnden Schrunden aus Erde hingen. Schädelohrring trat vor, mit Weißfeder an seiner Seite. »Hier sind deine Töchter«, sagte er und zeigte die dunklen Säuglinge. Weißfeder nickte. »So klein. So vollkommen.« Weinend küsste sie sie. »Sie werden niemals das Exil kennenlernen. Wir sind nach Hause zurückgekehrt.«
Teil Eins
Die Flut der Zerstörung 1 Als die Erde zu zittern begann, ließen die Gefangenenwärter ihn einfach in der Ruine des alten Klosters zurück, neben der deckenlosen Kirche und dem Steinturm. In seinem Käfig im hinteren Teil des Wagens sah er benommen zu, wie die Pferde und Ochsen sich aufgeschreckt durch das unnatürliche Wetter aufbäumten. Am Ufer der Meerenge von Osna zog sich das Wasser weit zurück - viel weiter, als es gewöhnlich bei Ebbe der Fall war -, so dass unterhalb des Drachenrücken genannten Kamms der Meeresboden und eine Reihe scharfer Felsen zum Vorschein kamen. Der Himmel war eine einzige Masse aus Blitzen, die die Sterne verhüllten, aber das Licht war unheimlich, weil ihm keinerlei Donner folgte. Stille senkte sich wie angehaltener Atem über das Land, hing wartend in der Luft. Bald. Die Stille wurde von einem lauten Grollen durchbrochen, als der Boden erbebte. Der Wagen stürzte um. Der Pfosten, an den Alain gekettet war, zerbrach, als er auf den Boden prallte. Unter lautem Ächzen fiel der Steinturm in einer Staubwolke in sich zusammen, die ihn beinahe erstickte, als er wie ein auf
10
Eine Vision des Endes dem trockengelegten Meeresboden gestrandeter Fisch dalag und nach Luft schnappte. Die Staubfahne wurde rasch vom stärker werdenden Wind verjagt, aber der Boden bebte noch immer. Mit ohrenbetäubendem Krachen zerbarst der Drachenrücken. Ganze Felsschichten stürzten in die Meerenge hinunter. Die Erde bewegte sich grollend, als der Drache zum Leben erwachte. Sein Schwanz zuckte wild hin und her, zerschmetterte Bäume. Erdlawinen schössen hinunter zum Meer, löschten die alte Uferlinie aus, als seine Flanke sich hob. Das Wesen reckte eine Klaue, setzte sie hart auf den Boden - und rief damit ein neues Beben hervor. Es hob den riesigen Kopf und starrte zum Himmel hinauf, ließ ihn dann herumschnellen. Alain, der immer noch angekettet war, konnte nur zusehen, als der Kopf sich senkte und knapp vor dem Käfig innehielt, um ihn ebenfalls anzustarren. Mit einem einzigen Biss hätte der Drache sowohl den Wagen als auch ihn verschlingen können. Alain kämpfte sich auf die Knie, um ihm ins Auge zu sehen, obwohl er seine ganze Kraft dafür aufwenden musste. Die Schuppen schimmerten golden. Die Augen glänzten wie Perlen. Das Erwachen war nicht spurlos an dem Drachen vorübergegangen: An seinem Bauch war ein Schnitt, und aus der Wunde fiel zischend ein Tropfen aus hellem, heißem Blut, besprenkelte ihn. Die Berührung brannte sich in sein Herz, doch nicht mit Hitze, sondern mit Wahrheit. Mein Herz ist die Rose. Jedes Herz ist die Rose des Heilens, das Barmherzigkeit kennt und sie erblühen lässt. Der Drache blinzelte, stieß zischend eine Dampfwolke aus, legte den Kopf in den Nacken und öffnete die riesigen Schwingen, deren Schatten das gesamte Klostergelände bedeckte. Er hockte sich auf die Hinterbeine, einen Atemzug lang, zehn Atemzüge, hundert Atemzüge, als horchte er auf etwas, als würde er warten. Eine Windböe peitschte heulend aus Südwesten heran, ent 10 wurzelte Bäume auf ihrem Weg. Als sie das Kloster erreichte, stieß der Drache sich ab. Alain stürzte; er würde nie erfahren, ob es der Sturm gewesen war, der ihn zu Boden geschleudert hatte, oder der von dem Drachen verursachte Luftzug. Der Schatten verschwand. Unterhalb von Alain wütete das Meer gegen die Felsen. Die Sterne über ihm waren erloschen. Alles, was er vom Himmel sehen konnte, waren ein wirbelnder Schleier aus Staub, Asche und zerfetzten Blättern und die verblassenden Funken eines gewaltigen Zaubers. Noch immer war ein Tosen zu hören, wurde noch lauter, und bevor er begriff, was es war, schwappte eine salzige Woge über ihn hinweg. Die Ketten hielten ihn unter Wasser, während er in der Brandung herumwirbelte, darum kämpfte, zur Oberfläche zu gelangen. Während er ertrank, sah er in einer Vision, wie sich das Land entfaltete. Er sah, wie der Zauber sich verhedderte und zusammenbrach. Er sah, wie das Land der Ashioi aus dem Äther auftauchte und an den Platz zurückkehrte, von dem es vor so langer Zeit gekommen war. Er sah, was im Kielwasser des Zaubers folgte: Entlang der gesamten westlichen Küste des Stiefels von Aosta erwacht eine Kette von Vulkanen zum Leben. Lava schießt aus der Erde. Leider brechen auf, als sich gähnende Abgründe unter ihnen öffnen. Ein unaufhaltsamer Strom aus Schlamm und Asche begräbt Dörfer und mit ihnen die Menschen, die darin wohnen. Es gibt keine Warnung, es bleibt keine Zeit zur Flucht. Das Wasser des Mittleren Meeres, vom zurückkehrenden Land verdrängt, wogt in riesigen konzentrischen Kreisen nach außen. Die Wellen überschwemmen ferne Küsten, ertränken die Ufer. Entlang des nördlichen Meeres fließen Flüsse rückwärts, und Häfen trocknen aus, während das Land ächzt und sich verlagert, sich gerade mal eine Fingerlänge hebt, als das Gewicht, das sich im Süden niederlässt, den ganzen Kontinent zur Seite neigt. 10 Erdbeben erschüttern das Land. Der Sturm, der über die Erde hinwegfegt, verliert sich in der Wildnis zwischen geistlosen Tieren. Tief in der Erde rennen Kobolde durch uralte Labyrinthe, suchen ihre verlorenen Hallen. Draußen im Meer tauchen die Merwesen tief hinab, um dem Sog zu entkommen. Im fernen Grasland
suchen die Pferdemenschen Schutz in den Höhlen ihres Landes. Die Magie der Geheiligten schützt sie vor dem Schlimmsten, während das Leben aus ihr heraussickert. All dies sieht er, während er im Wasser kämpft. Er sieht, und er versteht: Jene, die in der alten Zeit am meisten Schaden erlitten haben, überstehen den Sturm jetzt mit am besten. Es ist die Menschheit, die am meisten leidet. Vielleicht hat Li'at'dano gehofft oder vorgehabt, dass das Weben schließlich jene am meisten schädigen würde, die die größte Bedrohung für ihr Volk darstellten: die Verfluchten und ihre menschlichen Verbündeten. Vielleicht hatten die WeisMütter vermutet, dass die Menschheit die größte Wucht des Rückpralls abbekommen würde. Vielleicht hatten sie keine andere Möglichkeit, als zu tun, was sie getan hatten, in dem Wissen, dass der Gürtel bereits verdreht war und der Pfad sich klar und deutlich vor ihren Füßen erstreckte. Sie sprechen durch Stein und Wasser zu ihm, obwohl das salzige Meer ihre Stimme fast ertränkt. Es. Ist. Getan. Du. Hast. Uns. Gerettet. Er schnappt nach Luft, aber er schluckt nur Wasser. Die Verbindung zwischen ihnen bricht so abrupt ab, als hätte sie nie existiert. Gefangen im Rückstrom brach er plötzlich durch die Wasseroberfläche, und er wedelte mit den Armen und keuchte, würgte und hustete, während die Strömung ihn zum Meer mitriss. Die Kette hielt ihn jedoch am Boden fest. Der Wagen, verkeilt zwischen umgestürzten Steinen, hatte ihn gerettet, nachdem er ihn die ganze Zeit gefangen gehalten hatte. Alain lag da, zu benommen, um sich zu rühren. 3° Schließlich drang Tageslicht durch den Schleier aus Asche und Staub. Nach einiger Zeit begriff er, dass er am Leben war und dass die Welt, so unmöglich es auch schien, überlebt hatte. Das große Weben, das Adica vor so langer Zeit mit ihren Kameradinnen begonnen hatte, war endlich beendet worden. Der Zauber war wieder dorthin zurückgekehrt, von wo er gekommen war. Die Verlorenen waren aus ihrem Exil zurückgekehrt. Er hatte beides gesehen, den Anfang und das Ende, allerdings war das Ende natürlich selbst ein Anfang. Aber er war nicht allein in der Ruine, wie er geglaubt hatte. Die Hunde kamen und mit ihnen sein Stiefvater Henri. »Wohin gehen wir?«, fragte Alain. »Nach Hause, mein Sohn. Wir gehen nach Hause.«
2 Weil der Kamm durch das Erwachen des Drachen vernichtet worden war, entpuppte sich der Rückweg als schwierig und mühsam, denn sie mussten durch ein Gewirr aus Felsbrocken, umgestürzten Bäumen und von der Flut herangeschwemmtem Unrat nach Hause wandern. Schließlich versagten Alains Beine ihren Dienst, und seine Kräfte verließen ihn. Er konnte kaum noch atmen. Sobald sie einen richtigen Weg erreichten, musste Henri ihn tragen und immer wieder Pausen einlegen, um sich auszuruhen. »Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen«, sagte Henri bei einer dieser Pausen. Er saß schwitzend auf einem glatten Birkenbaumstamm, den der nächtliche Sturm entwurzelt hatte. Alain lag zusammengerollt auf dem Boden, denn er hatte nicht die Kraft, aufrecht zu sitzen. Die Hunde stupsten ihn unruhig an. »Du wiegst nicht mehr als ein Kind. Ich werde es
3* Edelmann Jeoffrey nie verzeihen, dass er dir so etwas angetan hat. Es ist eine Sünde, einen anderen Menschen so grausam zu behandeln.« Er war zu schwach, um zu antworten. Es schien ihm, als hätte die Dämmerung eingesetzt, aber vielleicht lag das nur daran, dass Wolken den Himmel bedeckten. Henri seufzte. »Du stinkst auch, mein Sohn. Pfui!« Die Zuneigung, die in seiner Stimme mitschwang, brachte Alains Lippen zum Zittern, aber es gelang ihm nicht zu lächeln. So lange hatte er ausgehalten. Und jetzt, da er in Sicherheit war, starb er möglicherweise, weil er zu dünn geworden war. Er wollte weitergehen, aber er hatte keine Kraft mehr. »Kommt schon, Jungs, rückt beiseite.«
Henri hob ihn mühelos hoch, nahm ihn auf den Rücken, so dass Alains Kopf an seiner Schulter ruhte, während er weiter stapfte. Eigentlich hätten sie durch Osna kommen müssen, aber offensichtlich hielt Henri sich an die Waldwege, die um das Dorf herum und auf die breite südliche Straße führten. Viele Bäume waren umgestürzt, der Boden von Zweigen übersät. Es war still, kein Vogel brachte ihnen ein Ständchen, und nicht eine einzige andere Menschenseele begegnete ihnen an diesem Morgen danach. Als die Straße sich gabelte, bog Henri nach rechts auf einen schmaleren Weg ab, der sich zwischen Eichen und Silberbirken, Ahornbäumen und Buchen hindurchwand. Vor langer Zeit war Alain diesen Weg mit Graf Lavastin entlang geritten. Die Erinnerung kam ihm jetzt wie ein Traum vor, nicht wirklicher als sein Leben mit Adica. Alles vorbei, ihm durch den Tod entrissen. Und doch gab es hier noch Leben. Irgendjemand hatte sich um diese Wälder gekümmert, hatte an vielen Stellen Bäume gefällt, um Feuerholz zu bekommen und Boote zu bauen. An anderen Stellen waren rasch wachsende Eschen gepflanzt worden, während die Hälfte der langsam wachsenden Eichen stehen geblieben war. Tief abgeschnittene Weiden, Haselnussbüsche und Weißdornsträucher befanden sich in unterschiedli 12 chen Wachstumsphasen, einige frisch gestutzt, andere bereit, gefällt zu werden. Kummer bellte. Schweine liefen quiekend ins Unterholz davon. »Wer ist da?«, kam ein Ruf von weiter vorn. »Ich habe ihn gefunden!«, rief Henri. Alain hatte nicht die Kraft, den Kopf zu heben, und so sah er das Anwesen erst auftauchen, als der Pfad an abgemähten Wiesen vorbei und zu einem ordentlichen Garten führte, der erst vor kurzem abgeerntet worden war. In zwei Pferchen standen Schafe und zwei Kühe. Gänse schrien, und Hühner stoben auseinander. Es gab sogar ein Pferd und ein Pony, Reichtümer für eine freie Familie, die keine edlen Vorfahren besaß. Menschen waren aus der Werkstatt und dem Haus getreten und starrten ihn und Henri an, aber diejenigen, die er am besten kannte, rannten ihnen auf dem Pfad entgegen. Julien war narbenüber-sät und schlank. Stancy war schwanger; sie hielt ein Kind an der Hand. War die dritte Erwachsene Agnes, so schön und groß? »Das kann unmöglich Alain sein«, sagte Julien. »Diese Kreatur besteht aus nichts weiter als Haut und Knochen.« »Er ist es«, sagte Stancy. »Armer Junge.« Sie wischte Tränen weg. »Er stinkt! Er stinkt!«, jammerte das Kind, versuchte sich loszureißen und wegzurennen. »Er macht mir Angst.« »Still!« Tante Bei trat zu ihnen, musterte ihn eingehend und runzelte die Stirn. »Stancy, schlachte ein Huhn und mach eine Hühnersuppe. Er ist nicht kräftig genug, um feste Nahrung zu sich nehmen zu können. Agnes, ich brauche den großen Zuber, um ihn zu waschen. Draußen allerdings. Julien, schaff Wasser her und sag Bruno, dass er es auf der Feuerstelle der Werkstatt heiß machen soll. Wir werden viel brauchen. Er darf nicht frieren.« Sie stoben auseinander - wie die Hühner, allerdings zielstrebiger. »Gütiger Gott«, sagte Tante Bei. »Was für ein starker Ge12 ruch. Wir werden ihn zweimal waschen müssen, bevor wir ihn ins Haus holen. Ich lasse die Mädchen ein gutes Bett beim Feuer vorbereiten. Er wird den ganzen Winter über bettlägerig sein, wenn er ihn überhaupt übersteht. Er ähnelt mehr einem Geist als unserem süßen Jungen.« »Er kann dich hören.« »Kannst du mich hören, Junge?«, fragte sie. Weil es Tante Bei war, die ihn fragte, zuckte er mit den Lidern und zwang ein Krächzen heraus, aber es war kaum mehr als ein Seufzen. »Es ist ein Wunder, dass er noch lebt, so, wie er misshandelt wurde.« Sie gab ein schnalzendes Geräusch von sich, war deutlich angewidert. »Es ist gut, dass du ihn gesucht hast, Henri.« »Lass ihn nicht sterben, Bei. Ich habe ihm gegenüber schon einmal versagt.« »Ja, du hast dich von deinem Hochmut leiten lassen. Du bist eifersüchtig gewesen.« Henris Schultern bewegten sich unter Alains Brust und verrieten seine Gefühle.
»Nein, es gibt nichts mehr dazu zu sagen«, erklärte Bei. »Lass es gut sein, kleiner Bruder. Was vergangen ist, ist mit der Strömung dahin. Lass ihn in Frieden. Ich werde mich selbst um ihn kümmern. Wenn er überlebt, werden wir weitersehen.« Etwas Feuchtes fiel auf Alains herabhängende Hand. Zuerst hielt er es für einen Regentropfen aus den dunklen Wolken, aber als sie sich weiter in das Gewimmel der Lebenden begaben, begriff er, dass es Henris Tränen waren.
1 Sanglant wusste nur deshalb, dass der Morgen angebrochen war, weil er die aufgehende Sonne hinter dem Dunst riechen konnte, der den Horizont in alle Richtungen verbarg. Asche regnete auf sein Heer herab, während sie durch den versengten Wald zogen und dabei die Verwundeten mitschleppten. Hier und dort brannten Baumkronen. Rauch stieg auf und vermischte sich mit der Asche, die über ihnen dahintrieb. Große Äste knackten und fielen zu Boden, erzeugten immer neue Echos, als der verwüstete Wald um sie herum einstürzte. Sie versammelten sich mit ihren zersprengten Truppen bei der alten Festung, bei der Edelfrau Wendilgard den Tod gefunden hatte. Hauptmann Fulk ließ Soldaten auf den teilweise eingestürzten Mauern Position beziehen, damit sie über die Verwundeten wachten. Der Prinz stand bei der zerstörten Rampe, die früher einmal ein erhöhter Damm gewesen war, der zur Festung geführt hatte, jetzt aber nur noch aus einer Reihe zerbrochener Stufen bestand, die mit Steinen und Waffen übersät waren und auf denen vier tote Männer lagen. Die letzten überlebenden Soldaten, die den Befehl zum Rückzug gehört hatten, tauchten mitgenommen und humpelnd zwischen den Bäumen 13
II
Das Glück des Königs auf und nahmen ihre Plätze auf der Lichtung ein. Dicht gedrängt, müde und verängstigt warteten alle auf seine Befehle. Etwa zweitausend Soldaten waren ihm noch von den beiden Heeren geblieben, die - als sie sich noch als Gegner gegenübergestanden hatten - jeweils gut und gern doppelt so groß gewesen waren. Von seiner Leibgarde, die einmal mehr als zweihundert Mann gezählt hatte, waren noch etwa vierzig Männer am Leben. Jeder von ihnen hatte sich mindestens eine Verletzung zugezogen, manche davon nur geringfügig, ein paar jedoch zweifellos tödlich. Links von ihm wartete Capi'ra mit ihren Zentaurinnen, die den Sturm besser überstanden hatten als die meisten anderen, sowie ein Rest qumanischer Soldaten. Henrys zahlenmäßig überlegenes Heer hatte den geflügelten Reitern auf dem Schlachtfeld übel mitgespielt, aber sie hatten seinem Druck standgehalten. Es war in einem erheblichen Maß ihrem Mut und ihrer Willenskraft zu verdanken, dass Sanglant während dieser Schlacht ebenso viele Soldaten gerettet hatte wie während des verheerenden Rückzugs der ersten Schlacht, als Henrys Streitkräfte ihn gleich zu Beginn überrannt hatten. Von den Edelleuten, die ihn von Wendar und den Marklanden hierher begleitet hatten, waren ihm nur noch zwei Befehlshaber geblieben: Edelmann Wichman und Hauptmann Istvan, der Ungrianer. Edelmann Druthmar war auf dem Schlachtfeld geblieben, obwohl niemand gesehen hatte, wie er gefallen war, und die übrigen Hauptleute und Edelleute hatte Sanglant längst aus den Augen verloren. Sie mochten sich ebenso gut irgendwo im Wald verbergen wie unter den Toten befinden. Henrys Heer hatte sich rechts von ihm aufgestellt: Herzogin Liutgard und ihre Reiterei aus Fesse, Herzog Burchard und seine Avarianer - zu denen auch die überlebenden Männer seiner Tochter Wendilgard zählten - sowie weitere Soldaten aus Sao-ny und den Herzogtümern von Varre. Der schreckliche Sturm und die Wucht des brennenden Windes hatten Henrys Heer so schwer getroffen wie sein eigenes. 13 Es ist nicht mehr Henrys Heer. Henrys Leiche lag quer über Fests Sattel. Sanglant hielt die Zügel in der Hand. »Eure Majestät.« Hathui verneigte sich vor ihm. »Was nun?«
»Wo ist Zuangua?«, fragte er und ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. »Ich sehe hier keinen Ashioi.« »Sie sind nicht mit uns hierher zurückgekehrt, Prinz Sanglant«, sagte Lewenhardt. Dann berichtigte er sich. »Eure Majestät.« Wie die anderen starrte der junge Bogenschütze vor Asche, Dreck und Blut. Asche rieselte als ein gleichmäßiger Regen auf sie herab, der trotz der vielen Geräusche zu hören war, die das Heer verursachte - die weinenden und sprechenden Menschen, die unruhigen Pferde, die wenigen bellenden Hunde und die auf der Schicht aus Staub und Asche knirschenden Wagenräder. »Sie sind zwischen den Bäumen in Richtung Meer verschwunden, über den alten Pfad, den sie auch vorher benutzt haben. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind.« »Ich weiß es«, sagte Sanglant. »Sie haben uns verlassen und sind nach Hause zurückgekehrt. Ich vermute nämlich, dass ihre Heimat aus der langen Verbannung zurückgekehrt ist.« Das Atmen schmerzte. Der Gedanke an Liath schmerzte, die entweder inmitten der Lebenden kämpfte oder an die Toten verloren war. »Hathui, wenn wir ein Feuer machen, könnt Ihr dann durch die Flammen nach Liath suchen?« »Ich kann es versuchen, Eure Majestät.« Er nickte. Sie nahm zwei Soldaten und schritt durch die Dunstglocke hindurch in den Wald, wo gewiss kein Mangel an Holzkohle herrschen würde. Die drei kamen an einer Gruppe erschöpfter Männer vorbei, die zwischen den Bäumen hervorstolperten. Sie waren so vollständig mit Asche bedeckt, dass unmöglich zu erkennen war, welchem Edelmann oder welcher Edelfrau sie vor der Umwälzung gedient hatten. Sie gehörten jetzt alle ihm. Jeder und jede Einzelne. Mit seinem letzten Atemzug hatte Henry Wendar und Varre seinem 14 bevorzugten Kind übergeben, seinem gehorsamen Sohn, dem Bastard, demjenigen, von dem der König sich schon seit langem gewünscht hatte, dass er trotz aller Widerstände in seine Fußstapfen treten würde. »Wir können nicht in die Zukunft sehen«, hatte Helmut Villam einmal bemerkt. Das war eine Gnade, die der Menschheit gewährt wurde, die ansonsten in einem Meer ungewollten Wissens über Umschwünge, Tragödien, unverhoffte Rettungen und die endlosen Widersprüche des Lebens ertrunken wäre. Er erinnerte sich an die Leidenschaft in seiner Stimme, als er damals am Fluss unterhalb des Palastes von Werlida so entschieden mit seinem Vater, dem König, gesprochen hatte. »Ich will kein König sein. Oder Erbe. Oder Kaiser.« Und jetzt war er doch genau das. König und Erbe eines Kaiserreiches, das er sich nie gewünscht hatte. »Was ist mit Euren aostanischen Verbündeten?«, fragte er seine Kusine Liutgard und nickte dabei auch dem alten Herzog Burchard zu. Die Herzogin zuckte mit den Schultern, wischte sich mit einem schmutzigen Handrücken Asche von den Lippen. Ihre Haare waren ebenfalls mit Asche verschmiert, unordentlich und schmutzig; es war unmöglich zu erkennen, wie hell sie unter all dem Dreck waren. »Sie sind die Küste entlang nach Westen geflohen, statt uns zu folgen«, sagte sie. »Ihre Treue galt Adelheid, nicht Henry. Es gibt noch Nachzügler, und ein paar laufen verwirrt zwischen unseren Soldaten umher. Was die Übrigen betrifft - diejenigen, die noch leben -, vermute ich, dass sie nach Hause fliehen.« Mit einem Seufzen rieb Sanglant sich die brennenden Augen. »Gibt es Nachrichten von den Greifen?«, fragte er jene, die nah bei ihm standen. Hinter Hathui hatten sich etwa ein Dutzend Adler versammelt, die aus Henrys Zug gerettet worden waren. In Wahrheit benötigte er gar keine Antwort. Sofern der 14 Sturm die Greifen nicht auf der Stelle getötet hatte, hatte er sie sicherlich weit weggetrieben. Es schien unmöglich, dass irgendein Geschöpf in der Luft diesen Sturm überlebt haben könnte. Oh Gott, er war so müde, dass er sich einbildete, ein eigenartiges Tosen und Rauschen zu hören, das an seinem Gehör nagte, bis sogar die Menschen um ihn herum es wahrnahmen. Aus dem
Süden erklangen Warnrufe, übertönten das Knacken und Krachen von Zweigen, als ein zweiter Sturmwind durch den Wald raste. Kundschafter, die zurückgeblieben waren, um die Straße zu bewachen, kamen auf die Lichtung gestolpert. »Der Ozean! Der Ozean erhebt sich!« Er winkte Lewenhardt und Hauptmann Fulk zu sich, und gemeinsam liefen sie die Straße zwischen den Bäumen entlang. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie etwas Erstaunliches sahen. Wassermassen schoben sich zwischen den Bäumen hindurch ins Landesinnere, doch die Woge lief rasch aus, so dass sie nur noch um ihre Stiefel herumplätscherte. Noch während sie das Geschehen fassungslos anstarrten, versickerte das Wasser bereits zum größten Teil im Boden, oder es floss in natürlichen Gräben zurück zum Meer, riss dabei Zweige und Blätter mit. Sanglant kniete sich hin und hielt seinen Finger in eine der verbliebenen Pfützen, als das Tosen des zurückweichenden Wassers nachließ. Er führte den feuchten Finger an die Lippen und spuckte aus. »Meerwasser.« »Das ist unmöglich«, sagte Hauptmann Fulk. »Keine Flut kann so hoch steigen. Von hier bis zum Ozean ist es mindestens eine Wegstunde - eher noch mehr!« »Holt Fest. Ich brauche eine Eskorte von hundert Mann. Wenn wir irgendeine Chance haben wollen, Königin Adelheid gefangen zu nehmen, müssen wir sie jetzt suchen. Holt auch Herzog Burchard, denn er kennt die Stadt und ihre Verteidigungsanlagen. Herzogin Liutgard soll eine Liste der verbliebenen Vorräte anfertigen, sich um die Verletzten kümmern und 15 die Männer auf einen langen Marsch vorbereiten. Und die Toten müssen begraben werden, bevor sie zu verwesen beginnen.« »Auch der Kaiser, Eure Majestät?« »Nein. Henry muss für die Reise gen Norden vorbereitet werden. Sorgt dafür, dass sein Herz entfernt und sein Körper gekocht wird, bis nur noch Knochen übrig sind.« Die Straße durch den Wald hatte die Feuersbrunst überstanden, aber sie war matschig und voller Unrat. Ein unbeständiger Wind herrschte, und nachdem ein Mann von einem herabfallenden Ast bewusstlos geschlagen wurde, achteten sie bei jeder Böe auf entsprechende Anzeichen. Die Bäume waren an der nach Südosten weisenden Seite geschwärzt und verbrannt. Verdorrte Blätter flatterten im unaufhörlichen Ascheregen herab. Im Laufe des Morgens wurde es allmählich heller, aber auch am Tag blieb es dunstig und düster, während der Himmel von einem leuchtenden Schimmer überzogen war. Jedes Geräusch wurde von dem beständigen Zischen der herabregnenden Asche und der Schicht aus Schmutz und Matsch gedämpft, die den feuchten Boden überzog. Es war kühl, sogar klamm, und der lange Marsch erschöpfte sie und die Pferde gleichermaßen. »Ist dies das Ende der Welt, Pr- Eure Majestät?«, flüsterte Lewenhardt. »Wenn dies das Ende ist, wieso sind wir dann nicht tot? Nein, Lewenhardt, es ist so, wie es aussieht. Eine schreckliche Umwälzung ist über uns gekommen. Wir können immer noch überleben, wenn wir einen klaren Kopf behalten und zusammenhalten.« Herzog Burchard machte das Kreiszeichen über der Brust, aber er sagte nichts. Der alte Mann schien zu benommen, um sprechen zu können. Er war nicht der Einzige. Auf jeden Soldaten, der sich laut über den versengten Wald und die Überreste der gerade erlebten Flut äußerte, kamen vier oder fünf, die 15 die Zerstörung auf eine Weise anstarrten, als hätten sie in der Tat den Verstand verloren. »Mir gefällt das nicht, Eure Majestät«, sagte Fulk. »Was ist, wenn das Meer zurückkommt?« »Wir werden es herausfinden. Außer Königin Adelheid müssen wir auch noch diejenigen suchen, die bis Tagesanbruch überlebt und sich versteckt haben. Liutgard hat gesagt, dass viele Aostaner entlang der Küste nach Westen marschiert sind. Was ist mit ihnen?« Tümpel aus Salzwasser füllten die Löcher in der Straße. Ein hoffnungsloser Anblick erwartete sie, als sie endlich die Bäume hinter sich ließen und auf die wirbelnden Schleier aus Asche starrten, die den Blick auf die eine halbe Wegstunde entfernte Bucht von Estriana behinderten. Die Ebene sah aus, als wäre sie mit einer seltsamen Schicht überzogen, und war von Trümmern übersät. Er
konnte das Feld nicht erkennen, auf dem die Schlacht stattgefunden hatte, oder den Weg, den sie auf ihrem Rückzug benutzt hatten, denn Zweige und Leichen, Holzplanken von Wagen und alle Arten von Treibgut lagen überall herum. Er konnte keinerlei Hinweise auf Leben in der fernen Stadt erkennen. »Seid Ihr sicher«, fragte er Herzog Burchard, »dass Ihr Königin Adelheid in Estriana gelassen habt?« Die Stimme des alten Mannes klang mehr wie ein Krächzen. »Ja, Eure Majestät. Sie hat für den Notfall eine Truppe hinter den Mauern zurückgehalten. Es war bereits vereinbart worden, dass sie in dem Turm bleiben sollte, statt einen Ausfall zu machen. Sie denkt strategisch, Eure Majestät, nicht wie ein Soldat.« »Das tut sie«, bestätigte Sanglant. »Sofern sie noch lebt. Ich bin geradewegs in den Hinterhalt hineinmarschiert, den sie und Henry gelegt hatten.« Burchard schüttelte ungehalten den Kopf. »Henry ist in eine Falle geraten; das haben wir nur zu gut begriffen. Der Daemon, mit dem Presbyter Hugh ihn gebunden hatte, sprach seine
4* Worte und bewegte seine Gliedmaßen entsprechend den Befehlen, die der Presbyter ihm gegeben hat. Henry hat nicht gesprochen. Das hier war allein der Plan der Königin.« »Dann ist sie eine ausgezeichnete Gegnerin. Was tun wir jetzt mit ihr?« Burchard starrte über die Ebene zum Mittleren Meer und weinte leise. »Vielleicht sollten wir sie begraben?« Die Dunstglocke traf auf das Meer; es schien - was eigentlich unmöglich war - Ebbe zu herrschen, denn das Wasser hatte sich weit zurückgezogen, so dass sie auf eine ebene Wattfläche blickten. »Oh Gott!«, rief Lewenhardt, der die besten Augen von allen besaß und durch den Dunst hindurchsehen konnte. »Seht nur!« Das Wasser stieg rasch. An der Mündung der Bucht wuchs es zu einer gewaltigen Welle an, die sich in eine Mauer aus sprühendem Weiß verwandelte. Die Welle wogte durch die Bucht und krachte auf die Stadt und das Ufer, überflutete das Land. Das Wasser stieg höher und immer höher und überschwemmte die Ebene. »Lauft!« Die anderen drehten sich um und flohen. Sanglant war unfähig, sich zu bewegen. Obwohl er es mit eigenen Augen sah, konnte er nicht glauben, dass das Meer so schnell ansteigen und so rasch vordringen konnte. Der weiße Kamm, der auf die Stadt niedergegangen war, löste sich rasch auf, ging unter in der riesigen Flutwelle, die über die Ebene landeinwärts rollte. Fest schnaubte und scheute, und er zügelte ihn, zog ihn in einem vollständigen Kreis herum, bis das Pferd stehen blieb, unsicher und widerstrebend, aber standhaft. »Prinz Sanglant!«, rief Hauptmann Fulk, der zurückgekehrt war und sein Pferd neben ihm zügelte. »Wir werden ertrinken. Ihr müsst mitkommen!« Die Flutwelle lief einen Steinwurf entfernt von Fests Hufen aus, erreichte nicht einmal die ersten Bäume des Waldes und 16 rauschte zischend und glucksend wieder zurück ins Meer. Alles, was die erste Welle im Gelände verteilt hatte, wurde jetzt mitgezogen. Sogar die Wälle von Estriana wankten - bis auf den höchsten Turm, denn der wurde durch einen doppelten Mauerring geschützt, der die eigentliche Wucht des Aufpralls abbekommen hatte. Die Männer, die jetzt zurückkehrten, weinten beim Anblick des wütenden Meeres. Als die Welle sich zurückzog, tauchten die Ruinen der Stadt aus dem Wasser auf. Mehr als ein Dutzend Breschen klafften in der steinernen Mauer. Durch diese Löcher betrachtet wirkten die Gebäude wie ein Haufen von Stöckchen. »Oh Gott«, rief Herzog Burchard. »Königin Adelheid ist gewiss tot! Niemand kann eine solche Flutwelle überlebt haben!« Er warf Sanglant einen Blick zu und wischte sich unruhig über die Stirn. »Sicherlich hatte sie einen Grund, warum sie diesen schrecklichen Weg eingeschlagen hat,
Eure Majestät. Sie wollte dem König bestimmt keinen Schaden zufügen. Sie hat ihn geliebt. Sie ist eine gute Frau.« »Hoffen wir, dass wir nicht gezwungen sein werden, ebenso grausame Entscheidungen zu fällen wie sie«, erwiderte Sanglant. »Ich halte es für das Klügste, wenn wir uns zurückziehen«, sagte Fulk. »Wir haben gesehen, dass diese unnatürlichen Flutwellen nicht aufhören. Seht nur, wie das Wasser wieder zurückweicht. Was ist, wenn eine noch größere Welle kommt?« »Da!«, rief Lewenhardt. »Da bewegt sich etwas!« Sanglant stieg ab. »Eure Majestät!«, protestierte Hauptmann Fulk. »Ich werde zu Fuß gehen. Der Boden ist zu rutschig für Pferde.« »Wieso wollt Ihr überhaupt gehen? Wenn Ihr weggeschwemmt werdet -« »Ich glaube, dass wir Zeit haben. Die zweite Welle ist erst gekommen, nachdem wir von der alten Festung hierhergeritten 17 waren. Wenn Ihr jemals am Meer gewesen seid und die Wellen beobachtet habt, Hauptmann, werdet Ihr wissen, dass sie einen ganz eigenen Rhythmus haben. Diese großen Wellen brauchen Zeit, um sich zu nähern.« Fulk hatte viele schreckliche Ereignisse mit ihm durchgestanden, während andere gejammert hatten und zusammengebrochen waren, und obwohl die Aussicht zu ertrinken ihn sichtlich erschreckte, ließ er Sanglant auch jetzt nicht im Stich. »Also schön. Ich komme mit Euch, Eure Majestät.« Sanglant grinste und marschierte los. Der Boden war nicht sonderlich schlammig, denn die Flut war schnell gekommen und ebenso schnell wieder zurückgewichen, so dass das Wasser nicht hatte einsickern können. Nasse Asche machte ihn jedoch glitschig, und Zweige, Ranken und Aststücke verfingen sich an den Knöcheln und verhedderten sich in den Beinkleidern. Es war nicht still, aber auf unheimliche Weise ruhig; abgesehen von ihren eigenen Schritten gab es keinerlei Lebenszeichen. Nur das Zischen des Ascheregens begleitete sie. Vielleicht würde es nie mehr aufhören, Asche zu regnen. Vielleicht waren die Himmelssphären selbst verbrannt und verteilten jetzt den Ruß ihrer Zerstörung über die Erde. Das erstickende Gurgeln des Meeres verklang in der Ferne, als das Wasser immer weiter zurückwich, noch über den Gezeitenstreifen hinaus, auch wenn sich in dem Dunst nur schwer etwas erkennen ließ. Hin und wieder stieg ihnen Verwesungsgestank in die Nase. Sie marschierten auf die Ebene hinaus, warfen immer wieder einen Blick zurück zum Wald, der jedes Mal ein Stück weiter weg war, genau wie die Soldaten, die dort kauerten und jetzt hinter den Ascheschleiern verborgen waren. »Seid Ihr sicher, dass Lewenhardt etwas gesehen hat, Eure Majestät?«, fragte Fulk schließlich. »Es könnte der Wind gewesen sein. Es ist schwer, bei all dem Dunst und der Asche etwas zu erkennen.« »Still.« Sanglant hob die Hand, und Fulk verstummte. Er rührte sich nicht, reckte lediglich das Kinn, während er eben 17 falls lauschte. Aber nur wenige Männer besaßen ein ähnlich scharfes Gehör wie Sanglant, und Fulk konnte das schwache, platschende Geräusch nicht hören. »Es klingt, als würde ein Fisch halb aus dem Wasser springen. Da!« Etwas Lebendiges hatte sich in einem Graben verfangen, zappelte jetzt in einem Rest Meerwasser. Vorsichtig traten sie an den Rand und starrten in eine Grube, in der sich ein Gemisch aus Schlamm, Wasser und Pflanzenresten befand. Unter der Achse eines zerbrochenen Wagens war eine Leiche festgeklemmt, das Gesicht barmherzigerweise durch ein Rad verborgen, die aus dem schaumigen Wasser ragenden Beine grau. »Oh Gott!«, rief Fulk und wich entsetzt einen Schritt zurück.
Die Flutwelle hatte ein Ungeheuer aus der Tiefe hier stranden lassen. Es spürte jetzt, dass jemand da war, schob seinen Körper mit einem Platschen ins Wasser zurück, hatte aber keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sein riesiger Schwanz peitschte hin und her. Schließlich bäumte es sich trotzig im Schlamm auf, schüttelte den Kopf und versprühte überall Matsch, Gras und Blätter. Die Haare zischten und schnappten nach ihnen, jedes einzelne wie ein augenloser Aal, der in der Luft eine Mahlzeit suchte. Es besaß den Oberkörper eines Menschen, war schlank und kraftvoll und voller schimmernder Schuppen. Es hatte auch eine Art Gesicht: flache Augen, Schlitze, wo eigentlich eine Nase hätte sein müssen, einen lippenlosen Mund und schuppige Hände, deren klauenbewehrte Finger mit Schwimmhäuten verbunden waren. »Das ist ein Fischmensch«, flüsterte Fulk. »Wie wir sie im Fluss gesehen haben!« Es war von der Flutwelle hierhergespült worden und gestrandet. Jetzt saß es in der Falle, zum Tode verurteilt. Aber es war ein furchterregendes Tier, keiner Barmherzigkeit würdig. Trotzdem runzelte Sanglant die Stirn, als Fulk das Schwert zog. Das Wesen starrte sie kühn an. Scharfe Zähne glänzten, als es den Mund öffnete. Und sprach.
18 »Prinss Ssanglant. Hauptmann Fulk.« Fulk machte einen Satz zurück. »Wie kann dieses Tier unsere Namen kennen!« »Prinss Ssanglant«, wiederholte es. Die Aale, die seine Haare waren, zischten und zuckten, als würden auch sie eine Botschaft übermitteln, eine, die er nicht verstehen konnte. »Kannst du Wendisch? Was bist du? Wie heißt du?« »Mücke«, schien es zu sagen, aber es sprach in einer Sprache, die er nicht verstand, obwohl er sie schon gehört hatte. »Das ist Jinnisch.« »Es ist zu undeutlich, Eure Majestät. Ich weiß es nicht.« »Kannst du Wendisch?«, fragte Sanglant langsam, denn er kannte kein einziges jinnisches Wort. Er versuchte die anderen Sprachen, die er ein bisschen beherrschte. »Kannst du Ungrianisch? Kannst du die Sprache der Qumaner? Kannst du -« »Liat'ano«, sagte das Wesen und hob eine Hand, um die flachen Augen zu beschatten - wie ein Mensch, der in die helle Sonne blickt. »Liathano! Sprichst du von meiner Frau Liath?« Das Wesen zischte, als würde es ihm zustimmen. »Was hat das zu bedeuten, Prinz Sanglant?«, flüsterte Fulk. »Wie kann ein solches Ungeheuer unsere Namen kennen?« »Ich weiß es nicht. Wie kann ein solches Wesen gelernt haben, Jinnisch zu sprechen?« »Jinnisch!« Das Wesen sprach jetzt wieder eine Zeitlang, aber sie konnten nur mit dem Kopf schütteln. Brennende Ungeduld erfüllte Sanglant, als er sich fragte, was dieses Wesen wusste und was es ihm sagen konnte. Lebte Liath oder war sie tot? Wie hatte es sie erkannt? »Gibt es irgendjemanden bei uns, der die Sprache der Jinnen beherrscht?«, fragte Fulk. »Nur Liath«, sagte er voller Bitterkeit. »Deshalb hat sie die beiden jinnischen Diener mitgenommen, als sie gegangen ist. Sie war die Einzige, die sie verstehen konnte.« »Was tun wir jetzt?« 18 »Wir ziehen es ins Meer zurück. Wenn es sprechen kann, ist es kein stummes Tier, sondern ein denkendes Wesen wie wir.« »Aber wenn es unser Feind ist? Seht nur seine Zähne und die Klauen. Der Schiffsmeister hat Geschichten erzählt ... sie sollen Menschen fressen.« »Es ist uns ausgeliefert.« Sanglant schüttelte den Kopf. »Es gibt mir die Hoffnung, dass meine Frau noch lebt. Schon aus diesem Grund kann ich es nicht töten oder zum Sterben hier liegen lassen, was sicherlich passieren wird, wenn es hier bleibt.« Es war in der Tat kein stummes Tier. Sanglant deutete aufs Meer. Er sprach seinen eigenen Namen und den von Liath und Fulk, deutete wieder aufs Meer, während das Wesen sie anstarrte. Als sie das bröckelige Ufer hinunterstiegen und es an den Armen packten, wehrte es sich nicht. Es fühlte
sich schwer und seltsam an, und es war schwierig zu schleppen, obwohl der glitzernde Schwanz über die meisten Hindernisse geschmeidig hinwegglitt. Schließlich hatten sie es atemlos und über und über mit Matsch und Asche bedeckt dorthin geschafft, wo früher einmal das Ufer gewesen war. Das Meer hatte sich ein gutes Stück aus der Bucht zurückgezogen, aber sie trauten sich nicht, auf den glitschigen Steinen weiter hinauszugehen, denn sie wussten, dass schon bald die nächste Welle kommen würde. »Geh mit der Gnade des Herrn und der Herrin«, sagte Sanglant. »Mehr können wir nicht für dich tun.« »Liat'ano«, sagte es erneut, deutete zum Himmel und dann zum Boden. »Lebt sie?«, fragte Sanglant. Er wusste, dass der Schmerz in seinem Herzen nie aufhören würde, solange er nicht wusste, was mit ihr geschehen war - mit ihr und ihrer gemeinsamen Tochter. Er hatte so viel verloren - wie sie alle -, aber er fürchtete, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand. Das Wesen lag unbeholfen auf dem Boden und starrte aufs Meer hinaus, wiederholte dann mit unheimlicher Genauigkeit seine Geste. Es deutete zum Wald, legte Eile nahe und sagte ein einziges Wort, wiederholte es zweimal, etwas wie: Geht. Geht. 19 Es hatte den Ton einer Warnung. Sicher konnte es die Strömungen des Meeres besser spüren als ein Mensch. Fulk verlagerte ungeduldig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, sah von dem Wesen zum Meer und wieder zurück. »Oh Gott!«, fluchte Sanglant. »Kommt, Fulk.« Sie rannten über die Ebene zurück. An manchen Stellen hatte die Strömung den Boden leergefegt. An anderen hatten Gräben, kleine Rillen oder andere Hindernisse alle Arten von Abfall eingefangen, Leichen und Zweige und hier und da eine Waffe oder ein Wagenrad. All dies hatte sich miteinander verheddert und stank inzwischen fürchterlich. Nichts rührte sich auf dieser Ebene. Es gab immer noch keinen Hinweis auf Leben innerhalb der eingestürzten Stadtmauern. Kein Vogel flog, und jetzt durchzuckten hier und da Blitze die Wolken, gefolgt von Donnergrollen. Sie hörten das Wasser, noch ehe sie die Soldaten erreichten, die beunruhigt am Waldrand warteten und lauschten und das glitzernde Meer beobachteten. Sanglant drehte sich noch einmal um, während sie sich eilig in den Schutz der versengten Bäume zurückzogen. Das Wasser kam dieses Mal nicht als eine erkennbare Welle, sondern stieg einfach nur rasch an. Er konnte das Merwesen nicht sehen. Das Licht war nicht hell genug, das Ufer ohnehin zu weit weg, der Boden zu uneben. Wie alle anderen würde es die Flut der Zerstörung überleben oder untergehen. Ein Dutzend Männer warteten am Rand, nicht bereit, ohne ihren Prinzen wegzureiten. Ohne ihren König. »Sie muss noch am Leben sein«, sagte er. »Ja, Eure Majestät«, sagte Fulk. Lewenhardt reichte ihm die Zügel. Sanglant stieg auf und ritt zusammen mit den Überresten seiner einst so stolzen Kompanie zwischen die Bäume davon. 19
2 »Ich habe durch das Feuer nach denjenigen gesucht, deren Gesichter ich kenne, Eure Majestät, aber ich habe niemanden gefunden.« Sanglant musterte die Mitglieder seines Rates, die auf der Festungsrampe warteten. Das Heer hatte sich im Dunst des Nachmittags niedergelassen, um seine Wunden zu lecken, Kraft zu sammeln und seine Anzahl und die Vorräte zu überprüfen. »Die Sieben Schläfer könnten sich vor der Adlersicht schützen. Wir müssen so handeln, als würde es sie noch geben. Sie bleiben eine Bedrohung.« Hathui zuckte mit den Schultern. »Ich habe Flammen und Schatten gesehen. Blitzartige Eindrücke. Einen umgestürzten Wagen. Herabstürzende Steine. Ein Pferd, das von einem herabfallenden Ast getötet wurde. Nichts davon hat einen Sinn ergeben, und ich konnte keine einzige Vision im Feuer festhalten. Von Liath habe ich gar nichts gesehen.« »Oh Gott!« Er schritt hin und her, wirbelte Asche auf und wandte ihr dann das Gesicht zu. »Sucht sie jeden Abend bei Einbruch der Dämmerung. Hoffen wir, dass sie ebenfalls sucht.«
»Der Einbruch der Dämmerung ist bei dieser Wolkendecke und dem Ascheregen schwer zu erkennen, Eure Majestät. Wir könnten einander jeden Abend suchen und doch niemals finden. Die Adlersicht ist eine mächtige Gabe, aber ein Mann, der einen Hirsch schlachtet, verfügt über mehr Genauigkeit und Feinheit.« Er lachte, aber mehr vor Schmerz als vor Erheiterung. »Die Kronen leiden unter der gleichen Schwäche, nicht wahr? So sind wir von der Last einer Macht verschont, die zu groß ist, um sie mit natürlichen Mitteln zu bekämpfen. Ich wundere mich nicht mehr« - er machte mit dem Arm eine ausschweifende Bewegung, um auf den Himmel und den Wald zu deu 20 ten -, »wieso die Kirche die Zauberei verdammt hat. Seht nur, was sie angerichtet hat.« »Liath ist eine Mathematiki, Eure Majestät. Wollt Ihr sie beiseiteschieben, weil sie die Kunst der Zauberei beherrscht?« Er grinste. »Ich habe als Hauptmann der Drachen des Königs angefangen. Ich bin immer ein Soldat gewesen. Wenn man mir eine Waffe in die Hände gibt, benutze ich sie. Und abgesehen davon ...« Und abgesehen davon liebe ich sie. Er konnte diese Worte nicht laut aussprechen. Er war jetzt der Herrscher, aber seine Position war keineswegs sicher. Er durfte keine Schwäche zeigen; er durfte keine Schwäche haben, und wenn er doch eine hatte, wenn er unklug liebte, musste er die Natur seiner Begierde verbergen, damit sie nicht gegen ihn verwendet werden konnte. Die Qumaner des Pechanek-Clans hatten ihm seine Ehre rauben wollen, indem sie ihn mit dem Körper einer Frau zu verführen versucht hatten. Er wäre beinahe gestürzt. »Sucht sie bei Einbruch der Dämmerung, Hathui. Versucht es immer wieder.« »Jawohl, Eure Majestät.« Er ging zu denjenigen, die auf ihn warteten, kletterte die Rampe zu ihnen empor und stellte sich so, dass alle unterhalb von ihm oder innerhalb der Festung ihn hören konnten. Er hob die Hand, damit Ruhe einkehrte, und sie schwiegen, aber es war nie wirklich ruhig. Seine Worte wurden begleitet vom Stöhnen der Verwundeten, dem Zischen des Ascheregens und dem Knistern zerbrechender Äste im Wald. Es brachen nicht mehr so viele ab wie zuvor, aber jedes Mal, wenn es geschah, kam das scharfe Geräusch überraschend. »Kusine«, sagte er. »Was habt Ihr herausgefunden?« Liutgard war eine hervorragende Verwalterin und im Hinblick auf Kämpfe und Kriege meistens klug genug, ihre Hauptleute die Schlachten für sie schlagen zu lassen. Als sie jünger gewesen war, hatte ihr Mann an ihrer Stelle ihr Schwert getra 20 gen, als Talisman, aber seit seinem Tod einige Jahre zuvor hatte sie eine beunruhigende Neigung erkennen lassen, sich selbst auf das Schlachtfeld zu begeben. Sie winkte ihre Hauptverwalterin zu sich. Die Frau führte die verbleibenden Streitkräfte auf, etwa zweitausend Männer und vielleicht halb so viele Pferde, obwohl ständig noch versprengte Tiere eingefangen wurden. Sie besaßen Vorräte für etwa drei Wochen, wenn sie sie streng einteilten, aber nicht viel frisches Wasser und Futter für die Pferde. Es gab nicht genügend Wagen, um all die Verwundeten zu transportieren, aber zu diesem Zweck konnten behelfsmäßige Schlitten hergestellt werden, die dann von den Gesunden gezogen würden. »Was jetzt, Eure Majestät?«, fragte Liutgard, als ihre Verwalterin fertig war. »Ja, was jetzt?«, fragten auch die anderen Edelleute und Hauptleute, die überlebt hatten. Er schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Wenn Feuer, Asche und Wasser hier ein solches Unheil angerichtet haben, wie schlimm wird dann das übrige Land gelitten haben?« Edelmann Wichman lachte heiser. »Bestimmt haben wir das Schlimmste überstanden!«, rief er. »Still, du Narr!«, wies Liutgard ihren Vetter zurecht. »Fordere Gott nicht heraus! Es kann immer noch schlimmer kommen. Was wollt Ihr tun, Eure Majestät?« Der Fluch, in die Zukunft blicken zu können, war ihm erspart geblieben, wie allen Menschen. Es war erstaunlich, dass er einmal zu seinem Vater gesagt hatte: »Ich will nicht König sein, dem andere Fürsten an den Fersen hängen, die nur darauf warten, dass ich zu Boden gehe, damit sie mir die Kehle he-
rausreißen können. Ich möchte ein Stück Land, Liath zur Frau, und Frieden.« Solch ein Luxus stand ihm nicht mehr zur Verfügung. Wenn er dieses Heer jetzt nicht führte, würde es zerfallen, und tatsächlich wäre noch viel Schlimmeres die Folge. »Wir müssen aufbrechen, und zwar rasch. Dieses Land ist zu sehr verwüstet, um ein Heer zu ernähren.«
5* »Was ist mit Königin Adelheid, Eure Majestät?«, fragte Bur-chard. Sanglant lachte voller Bitterkeit. »Wir haben die Trümmer von Estriana gesehen. Ich glaube nicht, dass es Überlebende gibt.« »Sollten wir Kundschafter in die Stadt schicken?« »Wie können wir wissen, wann eine weitere Welle einen derjenigen überrollt, die sich auf die Suche machen? Wenn wir warten, bis das Meer sich vollständig beruhigt hat, werden Hunger und Durst uns Verluste zufügen. Königin Adelheid lebt - oder sie ist tot. Wenn sie tot ist, können wir ihr nicht mehr helfen. Wenn sie lebt, werden jene, die mit ihr überlebt haben, sie bereits in Sicherheit bringen.« Burchard neigte den Kopf, aber er erhob keine Einwände. Liutgard nickte, um zu zeigen, dass sie ihm zustimmte. »Der Brinne-Pass«, sprach er weiter. »Es ist zu spät im Jahr, um die höher gelegenen Pässe zu nehmen, aber wir können in die Marklande gehen und uns von dort nach Wendar wenden.« »Nach Hause!«, rief Luitgard. »Endlich!« »Eure Majestät!«, wandte Burchard ein. »Was ist mit Darre? Was ist mit Henrys Kaiserreich?« »Ohne Wendar gibt es kein Kaiserreich. Versucht Euch doch nur vorzustellen, wie weit diese Flut der Zerstörung gereicht hat. Wir wissen nicht, in welchem Umkreis die tödlichen Stürme zugeschlagen haben oder welche Folgen sie nach sich ziehen. Die Menschen von Wendar haben bereits sehr gelitten. Wenn sie keinen Beistand erhalten, werden sie sich an andere wenden, die ihnen Sicherheit und Ordnung versprechen. Wir müssen zuerst das sichern, was uns gehört - das, was unser Geburtsrecht ist. Dann können wir sehen, ob mein Vater ein Kaiserreich zurückgelassen hat, das es zu verteidigen gilt.« Sie knieten nieder, um ihren Gehorsam auszudrücken, bis auf Liutgard und Burchard. »Was ist mit Henrys sterblichen Überresten?«, fragte Liutgard.
52 »Seine Gebeine und sein Herz müssen nach Quedlingham gebracht werden.« Sie seufzte. Er erinnerte sich daran, wie jung, strahlend und lebhaft sie gewesen war, als sie gemeinsam in der Schule des Königs aufgewachsen waren. Jetzt sah sie so alt aus, wie er sich fühlte; Henrys unglückselige Reise nach Aosta und die Ereignisse der letzten beiden Tage hatten tiefe Spuren hinterlassen. Aber sie besaß einen zu starken Willen, um sich an etwas zu klammern, das nicht zu ändern war. Sie winkte ihrer Verwalterin, sprach mit ihr und wandte sich dann wieder an ihren Vetter. »Meine Verwalterin hat sich um Euren Vater gekümmert, Eure Majestät. Sie wird eine geeignete Truhe finden und ein Kästchen für das Herz.« »So sei es. Wir werden hier lagern, um die Verwundeten zu versorgen und das zu reparieren, was für die Rückreise nötig ist. Trinkt sparsam. Fulk, schickt Kundschafter aus, die nach Wasser suchen sollen, und andere, die nachsehen sollen, ob es im Wald etwas gibt, das wir brauchen können: Wagen oder Waffen, Vorräte, verirrte Pferde. Verwundete. Was auch immer. Begrabt die Toten, die ihr findet. Wir können ihnen jedoch keinen Gedenkstein errichten oder irgendjemanden mit nach Hause nehmen, abgesehen von meinem Vater. Sobald die sterblichen Überreste des Königs vorbereitet sind, werden wir aufbrechen.« Während die Leute sich zerstreuten, um sich zu ihrem Nachtlager zu begeben, trat Hathui zu ihm. »Was ist mit Liath, Eure Majestät? Wenn sie Dalmiaka erreicht hat, wie sie gehofft hatte, befindet sie sich südöstlich von uns. Wir würden sie zurücklassen.« »Wir können nichts tun, solange wir nicht wissen, ob sie noch lebt oder wo genau sie ist.« »Man könnte eine Gruppe ausschicken. Ich würde gehen -« »Ich verfüge nicht über genügend Streitkräfte oder Vorräte, um Männer abzustellen.«
»Nur eine kleine Gruppe, Eure Majestät. Zehn oder zwölf Leute würden sicherlich -« 22 »Und wohin würden sie reiten?« »Wir haben zumindest eine Vermutung, wo sie sein könnte. Nur eine Gruppe von Kundschaftern. Ich könnte ein Dutzend Leute finden, die mutig genug wären, um -« Er biss die Zähne zusammen, und als sie das sah, verstummte sie abrupt. »Quält mich nicht mit Einwänden, Adler. Liath ist stark genug, um sich selbst zu retten.« »Und wenn sie verletzt ist?« »Dann bin ich ohnehin zu weit weg, um ihr helfen zu können. Gott, Hathui, vergesst meine Tochter nicht! Ich vergesse sie jedenfalls nicht! Ich weiß nicht, ob Gnade noch lebt oder tot ist. Ob die Pferdemenschen ihren Schwur gehalten oder sie getötet oder gefangen genommen haben. Ich werde es vielleicht nie erfahren. Aber wir müssen nach Norden marschieren. Wir müssen sofort marschieren. Ich werde mein Heer nicht aufteilen. Nein.« Sie hielt seinem Blick stand. Sie war eine mutige Frau, und deshalb achtete er sie. »Es ist eine schreckliche Entscheidung, Eure Majestät.« »Es ist die Entscheidung, die ich treffen muss. Wir sind zweitausend Leute und haben höchstens eintausend Pferde, nicht genug Wasser, Nahrungsmittel, Futter, befinden uns in einem feindlichen Land, das von unsäglichem Unheil heimgesucht wurde, der Winter steht bevor und wir müssen die Berge überqueren. Unsere Situation ist ziemlich hoffnungslos. Wenn wir Wendar verlieren, verlieren wir alles. Wenn Liath lebt, wird sie uns finden.« »Das hoffe ich, Eure Majestät.« »Das hoffen wir alle.«
1 Sie wartete allein in einer riesigen, neuen Welt. Eine ganze Weile stand sie hoch oben auf einem zerklüfteten Grat, während die vielerorts heiße Erde qualmte, und sah zu, wie die aufgehende Sonne eine veränderte Landschaft erhellte. Alles um sie herum war verwüstet. Was von dem alten Land noch geblieben war, hatte der gewaltige Ausbruch in nackten Fels verwandelt, oder die Hitze hatte es verdampft, oder es war von der Gewalt des Sturms so hart getroffen worden, dass es jetzt völlig kahl war. Im Westen und Nordwesten blies der Wind, und eine Schicht aus Aschewolken verhüllte den Horizont. Im Osten und Nordosten war der Ascheregen nicht ganz so schlimm, aber der Boden hatte sich auf seltsame Weise verändert, denn dort gab es jetzt eine ganze Reihe unheimlich wirkender, hintereinander liegender Hügelketten, die alle gleich hoch und gleich geschwungen waren. Schlamm sammelte sich in den Senken und stank nach Schwefel. Nichts rührte sich. Nichts lebte. Nichts, was jemals hier gelebt hatte, war noch da, um auch nur verwesen zu können. Der Himmel direkt über ihr sah seltsam aus, und nach längerem Betrachten begriff sie, dass es sich um einen natürlichen, blauen Himmel handelte. 22
III
In Erwartung der Flut Nur im Süden, dort, wo sich am meisten verändert hatte, hatte das Leben keinen Schaden erlitten. Irgendeine Magie, vielleicht sogar die Hülle des Äthers, hatte das Land der Ashioi vor den zurückschlagenden Kräften des Zauberspruchs geschützt. Obwohl es während der Verbannung unter einer Dürre gelitten hatte, wirkte es jetzt fruchtbar, bildete mit seinem üppigen Leben einen Gegensatz zu der Verwüstung um sie herum. Im Osten bemühte sich die Sonne, den Aschedunst zu durchdringen, aber es gelang ihr nicht; sie glühte in einem unheilvollen Rot, während sie höher stieg. Was sollte sie tun? Das Ausmaß der Zerstörung überwältigte sie so sehr, dass sie nicht einmal weinen konnte. Es war, als wäre ein Teil von ihr mit der Umwälzung weggerissen worden, so dass sie ohne Tränen zurückblieb, nur mit ein paar praktischen Fragen, die unbedingt beantwortet werden mussten. Kleidung. Wasser. Essen. Ihre verlorenen Kameraden. Sanglant und Gnade.
Alles andere konnte warten. Das Land hinter ihr wirkte unpassierbar. Sicherlich würde sie viele Wegstunden weit nichts zu essen und zu trinken finden. Es war schwer zu sagen, wie weit der Sturm gereicht hatte. Sie bezweifelte, dass sie es lange aushalten würde, wenn erst die Nacht kam und die Temperatur sank. Es war spät im Jahr. Es hatte bereits Schnee gegeben, der nun weggebrannt war. Sie packte ihren Bogen fester und ging nach Süden auf die Berge des alten Landes zu, das jetzt zurückgekehrt war. Das Land der Ashioi. Sie hörte einen schwachen Hornruf. Von weiter weg erzitterte in der eindringlichen Stille der Ruf eines Menschen, aber das mochte auch eine Täuschung sein. Sie sah nichts und niemanden. Der heiße Boden ließ ihre Füße rissig werden, und als der Morgen verstrich, wurden ihre Fußsohlen immer trockener und platzten auf, so dass sie bluteten und sie eine Spur aus Blutstropfen zurückließ. Es war heiß, aber die Hitze hatte ihr noch nie zugesetzt. Der Durst war schlimmer, 23 und ihre Füße schmerzten. Ihre Haut brannte von der Asche. Der Zauberspruch hatte sie erschöpft. Aber wenn sie stehen blieb und anschließend nicht mehr in der Lage sein würde weiterzugehen, würden Durst, Hunger und Schwäche sie besiegen, und niemand, der lediglich der Menschheit entstammte, würde diese dampfende Landschaft betreten und sie retten können zumindest solange sie nicht abkühlte. Und es konnte auch nur jemand versuchen, sie zu retten, wenn er wusste, dass sie hier war, was aber nicht der Fall war. Sanglant war zu weit weg, um ihr zu helfen, wenn er überhaupt noch lebte. Im Laufe der Zeit erhob sich die Sonne über den Dunst und erreichte den Zenit in dem kleinen Stück klaren Himmels direkt über ihr. Die Sonne war so hell. Sogar der Boden blendete sie, als sie auf einen kalkweißen Streifen stolperte. Sie blieb stehen. Sie stand auf einer schmalen Straße, und ihr Blut tropfte auf den kiesigen Boden. Hinter ihr war nichts als leere Wildnis. Vor ihr stieg das Gelände steil an. Gras klammerte sich hier und da an die Bergflanke, in der vielerorts Spalten und Löcher klafften - wie schmale Höhlenöffnungen. Oben auf der Anhöhe stand ein zerfallener Wachturm am Rand einer Gruppe von Kiefern. Sie war schon einmal hier gewesen. Sie hatte genug Kraft, um zu kichern, dann stolperte sie weiter, über alle Maßen müde. Unglaublicherweise war er da, wartete mit einer Wasserhaut auf sie. Er trat hinter dem eingestürzten Turm hervor, und der überraschte Blick auf seinem Gesicht verriet ihr, dass er eigentlich nicht damit gerechnet hatte, sie zu sehen. »Liath!« »Ältester Onkel! Oh Gott! Ich brauche Wasser, wenn du etwas übrig hast.« »Ich habe viel übrig, wie du feststellen wirst.« Er lächelte. »Die Jungen sollten klüger sein, als vor den Alten etwas zur Schau zu tragen, das diese nie zurückerhalten können.« 23 »Entschuldigung!« Sie trank gierig, zwang sich jedoch, aufzuhören, ehe sie die gesamte Haut leergetrunken hatte. Dann schüttete sie Wasser auf ihre Hand und wischte sich über die Stirn. Ihre Finger waren schwarz vor Dreck. Sie sah an sich herunter. »Ich bin in Asche gehüllt«, sagte sie, und das stimmte auch, aber sie war trotzdem nackt, wenn auch rußverschmiert. Er war erheitert. »Komm mit.« Er deutete zu den Bäumen. »Wohin gehen wir?« »Zum Fluss, wo du dich waschen kannst. Ich werde sehen, ob ich aus dem Schilf Kleidung weben kann.« Das Wasser verlieh ihr Kraft, aber das tat auch eine zweite, nicht so greifbare Macht. Sie erinnerte sich deutlich an das letzte Mal, als sie durch diesen Kiefernhain gewandert war, kurz bevor sie die Leiter des Magiers zum Himmel hinaufgestiegen war. Damals war die Luft trocken und der Boden rissig gewesen. Jetzt roch sie Wasser in der Luft. Sie spürte es in den grünen Blättern und den Schösslingen, die grüne Spuren auf dem Boden hinterließen. Seine Weichheit kühlte ihre Haut.
Doch als sie aus dem Schatten der Kiefern traten, war die Wiese verwelkt, die einst voller Kornblumen und Pfingstrosen gewesen war, voller Lavendel und Heckenrosen. Trockene Blütenblätter knisterten unter ihren Füßen. »Komm.« Ältester Onkel eilte voran, achtete nicht auf die sterbende Lichtung. »Hier war es einmal so herrlich. Was ist mit den Blumen passiert?« »Der Äther hat dieses Land gewässert, indem er Feuchtigkeit aus den tiefen Wurzeln hochgezogen hat. Jetzt, da diese Verbindung abgerissen ist, sterben die Blumen. Aber das Land wird leben. Sieh nur da!« Sieh nur da! Sie eilte hinter ihm her über den Weg, der einmal als Blumenpfad bezeichnet worden war und zum Fluss führte. Wo einst ein Rinnsal die Felsen befeuchtet hatte, floss jetzt ein richtiger Strom. Lachend sprang sie in das kalte Was 24 er. Es war wie ein Schock. Ihre Haut schmerzte überall, aber das Wasser war wie die Berührung Gottes. Sie tauchte mit dem Kopf unter, wieder und wieder, schrubbte sich die Haare und die Kopfhaut, bis der schlimmste Dreck weg war, danach schwamm sie, bis ihre Zähne klapperten und ihre Hände blau waren. Dann nahm sie ihren Bogen und watete zum anderen Ufer. Ältester Onkel wartete auf einem Teppich aus Gras auf sie. Frische Schösslinge wuchsen am Ufer, so weit das Auge reichte. Das Land, das einmal gelblich und braun gewesen war, hatte sich unter dem Ansturm eines falschen Frühlings verwandelt, obwohl sie wusste, dass der Winter bevorstand. »Oh Gott!« Sie setzte sich neben ihn. Das Gras kitzelte. Wasser tropfte von ihrem Körper. »Das war gut! Ich bin so müde!« Sie gähnte, legte den Kopf auf die angezogenen Knie, schlang die Arme fest um die Beine. Die Welt entschlüpfte ihr o leicht. Sie glitt in einen Schlummer. Erwachte abrupt und hörte Stimmen. Ältester Onkel stand ein Stück entfernt im Schatten eines Baumes, sprach mit zwei maskierten Kriegern, einem Mann und einer Frau. Sie griff nach ihrem Bogen, erinnerte sich zu spät, dass sie keine Pfeile hatte. Dass sie keine Waffen benötigte. Sie war eine Waffe. Die Erinnerung schlug zu, weil sie verletzbar war. Sie war nur halb wach, unfähig, die Visionen abzuwehren. Die Soldaten brannten wie Fackeln. Sie schrien und schrien, während das Fleisch von ihren Knochen brannte ... »Liath!« Ich habe sie verbrannt. Sie zitterte. Ältester Onkel kniete sich neben sie. Er berührte sie nicht. »Wer sind die?«, fragte sie, den Blick auf die zwei jungen Krieger gerichtet. Der eine trug eine Falkenmaske, der andere die eines Bussards. Sie zitterte so sehr, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihr war übel. »Ich muss aufstehen ... wenn Katenmaske ...« 24 »Dies sind nicht Katzenmaskes Krieger. Sie werden dir nichts tun.« Es hieß, ihm zu vertrauen oder ihm nicht zu vertrauen. »Wieso solltest du mich betrügen?«, fragte sie leise. Ein bitterer Zug stahl sich in sein Lächeln, aber er war nicht gekränkt. »Ja, wieso?« Sie sackte nach vorn und schlief sofort ein.
2 Sie träumte. Sie geht durch so hohes Gras, dass sie nicht darüber hinwegsehen kann. Das Wispern eines vorbeistreichenden anderen Wesens dringt an ihr Ohr, und sie bleibt stehen. Gras biegt sich, die goldenen Spitzen beugen sich und verschwinden. Etwas Großes nähert sich. Sie dreht sich um, als die Pferdeschamanin sich durch die Halme drängt und vor ihr stehen bleibt. »Liathano! Ich habe dich gesucht!« Andere Stimmen fluten über sie hinweg, und das Gras und die Zentaurin erzittern wie Wasser, das von einem Windstoß bewegt wird. »Schon wieder sie! Wenn Katzenmaske sie findet, wird er sie töten, während sie schläft!« »Dann müssen wir dafür sorgen, dass Katzenmaske sie nicht findet. Wirst du es ihm erzählen?« »Das werde ich nicht tun!«
»Du hast dich zuvor gegen sie ausgesprochen, Weißfeder.« »Das habe ich. Aber jetzt sind wir sicher zur Erde zurückgelangt. Es kann sein, dass sie bei unserer Rückkehr die Hand im Spiel hatte, wie sie es uns versprochen hat. Wenn das der Fall ist, verdient sie den Tod nicht. Auch wenn ich es für das Beste halte, wenn sie sich nicht lange in unserem Land aufhält.« 25 Liath stöhnte und schüttelte sich, bis sie einigermaßen wach war, stellte dabei überrascht fest, dass ein kurzer Mantel auf ihr lag. Er bedeckte sie von den Schultern bis fast zu den Knien und bestand aus einem rauen, braunen Gewebe. Sie setzte sich vorsichtig auf, wickelte den Umhang um sich. Ihr tat alles weh. Sie hatte einen Ausschlag bekommen, und an verschiedenen Stellen waren Abdrücke von Steinen zu sehen. Ihr Nacken schmerzte, und ihr Kopf tat weh. Ältester Onkel reichte ihr eine Wasserhaut. Sie trank langsam, musterte ihre Umgebung. Es war deutlich mehr Grün zu sehen als zu dem Zeitpunkt, da sie eingeschlafen war. Die Bäume wirkten kräftiger, der Boden feuchter. Sogar auf der Wiese jenseits des Flusses standen etwa zwanzig blühende Blumen, die gesprossen sein mussten, während sie geschlafen hatte. Das Licht hatte sich verändert; es war so dämmrig wie die Düsternis vor einem Gewitter. Weißfeder betrachtete sie nachdenklich, fast misstrauisch. Weiter weg hockten Falkenmaske und Bussardmaske auf den Fersen, betrachteten erst sie und dann den Fluss. »Wie lange habe ich geschlafen? Wird es bald dunkel?« »Es wird bald dunkel, ja«, stimmte Ältester Onkel ihr zu. »Die Dunkelheit der Nacht vor einem neuen Tag. Du hast den ganzen gestrigen Nachmittag geschlafen, eine ganze Nacht und den größten Teil dieses Tages.« Sie pfiff, fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen erhalten. »Ich bin immer noch müde! Und hungrig und durstig.« »Hunger ist ein Schmerz, den wir alle empfinden«, sagte Weißfeder scharf. »Aber bevor ich die Ratshalle verlassen habe, hörte ich ein halbes Dutzend Berichte, dass auf den alten Feldern bereits die Schösslinge sprießen. Wenn wir es schaffen, den Winter mit den Vorräten zu überstehen, die uns verblieben sind, können wir auf eine reiche Ernte hoffen. Dennoch. Ich möchte nicht erleben, dass du aus Schwäche Katzenmaske in die Hände fällst.« Sie bot Liath ein paar getrocknete Beeren und Körner an, und 25 wenn es auch mühsam war, sie zu kauen, waren sie doch essbar und füllten den Bauch. Liath nahm sich Zeit beim Essen; sie wusste, wie wenig Nahrung die Ashioi hatten. Immerhin mangelte es nicht an Wasser. Die Pflanzen schienen unnatürlich rasch zu wachsen, als würde der nachlassende Einfluss des Äthers ihr Wachstum beschleunigen; es war, als hätte dieses Potenzial jahrelang geschlummert und auf die Flut gewartet. Sie knabberte weiter. Sie wusste, dass sie die Hälfte eigentlich für später aufheben sollte, aber sie war so hungrig, dass sie alles aß. Wie Weißfeder blickte auch Ältester Onkel beiseite, als sie aß, entweder, damit sie sich nicht beobachtet fühlte, oder weil er seinen eigenen Hunger nicht verstärken wollte. »Was jetzt?«, zog sie seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Werde ich von Katzenmaske bedroht? Wird er mich jagen?« »Nur, wenn er erfährt, dass du hier bist«, sagte Weißfeder in ihrer direkten Art. »Er befürchtet einen Angriff der Menschen.« Liath lachte bitter. »Seid ihr in dem Land jenseits des weißen Pfades gewesen, nördlich von hier? Nichts lebt dort, und kein Lebewesen kann es durchqueren.« »Du hast es durchquert.« »Ich habe es erschaffen.« Weißfeder berührte das Obsidianmesser, das in einer Scheide an ihrer Hüfte steckte. »Was meinst du damit?« »Ich bin halb aus Feuer geboren. Diejenige, die du Federkleid nennst, hat mein Herz gesehen. Deshalb haben sie mich >Strahlende< genannt.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war zwar bewölkt, aber trotzdem heiß. Sogar die Brise war unangenehm.
Ältester Onkel wirkte entspannter, als sie ihn jemals zuvor erlebt hatte. Er sah jünger aus, wie ein alter Mann, der durch die Rückkehr in die Welt, in der er geboren worden war, an Lebenskraft gewonnen hatte. Es war, als hätten die Wasser auch ihn getränkt, als würde er wie die Pflanzen ergrünen. »Seht nur!«, rief Falkenmaske. Sie sprang auf. Über ihr 26 schwebten zwei Bussarde. Sie schob die Maske zurück, um besser sehen zu können, und weinte stumm vor Freude. »Ein gutes Omen«, sagte Ältester Onkel und nickte. »Du bist nicht die Einzige, die dieses Land durchqueren kann. Andere werden kommen.« »Unsere Feinde«, sagte Weißfeder. »Wie kann das ein gutes Omen sein?« »Federkleid hat zwei Mädchen geboren, Zwillinge. Was für ein stärkeres Omen könnte es geben?« Die Frau schnaubte. Sie hatte ein ernstes Gesicht, das schon lange nicht mehr jung war. Die weiße Feder an ihrem Schopf bewegte sich im Wind. »Du bist schwach, Strahlende. Ich verspreche dir Folgendes als Gegenleistung für dein Versprechen, dass du für unsere sichere Heimkehr sorgen würdest. Ruh dich hier aus, bis du wieder bei Kräften bist - ich werde Katzenmaskes Aufmerksamkeit von diesem Ort ablenken. Danach musst du gehen, sonst werde ich selbst Katzenmaske und seine Krieger auf dich hetzen.« »Tu das bitte nicht«, murmelte Liath. »Du verstehst nicht...« Sie zitterte erneut, als sie von Erinnerungen überwältigt wurde. Es war zu viel. Sie hörte noch immer die Schreie, hörte, wie die Geräusche abbrachen, als das Feuer ihre Stimmen verbrannt hatte. Sie schloss die Augen und zwang ihre Erinnerung, sich hinter eine geschlossene Tür zurückzuziehen. »Oh!«, rief Falkenmaske. »Sie sind zwischen den Bäumen verschwunden! Aber da! Hört ihr es?« Aus der Nähe kam ein gereizt klingender Ruf. Bei dem unerwarteten Geräusch öffnete Liath die Augen. »Was ist das?«, fragte Bussardmaske und schob die Maske hoch. Er war genauso jung wie Falkenmaske. Sie hätten Zwillinge sein können mit ihren bronzefarbenen Gesichtern, den breiten Nasen und dunklen Augen. »Das ist eine Seeschwalbe«, sagte Liath, die den Ruf erkannte. »Sie muss hergeweht worden sein. Wie weit weg ist das Meer?« 26 »Ich habe es vergessen«, erwiderte Ältester Onkel. »Ich habe das Meer nie gesehen«, sagte Weißfeder. Die beiden jungen Krieger nickten, um zu zeigen, dass sie es ebenfalls noch nie gesehen hatten. »Ich habe nur Geschichten gehört. Ich weiß nicht, wie weit entfernt das Ufer ist. Ich bin den größten Teil des gestrigen Tages und diesen ganzen Morgen gegangen, um zu dir zu gelangen, Onkel. Federkleid hat darum gebeten, dass du zurückkehrst. Die Krieger haben sich aufgemacht, das Grenzland zu erkunden. Es wird bald eine Ratsversammlung geben.« »Was ist mit meiner Tochter?«, fragte Ältester Onkel. Weißfeder zuckte mit den Schultern. »Sie ist starrsinnig.« »Ha! Sag mir etwas Neues!« »Federkleid glaubt, dass Kansi-a-lari das Land verlassen hat. Sie kann ihre Schritte auf der Erde nicht hören. Wenn sie die Weißstraße überquert hat, wird sie für uns unsichtbar.« »Wie könnte sie solch eine Verwüstung durchqueren? Es ist ein dampfendes Ödland.« »Nördlich von hier«, sagte Liath. »Aber was ist mit den Küsten? Es könnte sein, dass sie entlang der Küste reist.« Was war aus Mücke und Moskito geworden? Sie würde es nicht erfahren, wenn sie nicht ans Meer kam, und selbst dort würde sie sie möglicherweise niemals finden. Sie hatte kaum die Kraft, aufzustehen und sich im Wald zu erleichtern, und mühte sich hinterher ebenso sehr, den Mantel eng um sich geschlungen, den Pfad entlangzugehen, um die Lichtung zu finden, auf die sie vor so kurzer und doch so langer Zeit gelangt war. Hier war ihr einmal der brennende Stein erschienen. Das Lager, für das sie tagelang - nein, monate-oder gar jahrelang -
Blätter und Gras gesammelt hatte, war so gut wie unberührt. Sie brach darauf zusammen, im Schutz einer Steineiche, und schlief erneut ein. Sanglant, der auf einem unbekannten Pferd reitet. Er ist schmutzig und blickt verbittert drein. Feuer brannte in ihrem Herzen, und in seinen Flammen er 27 haschte sie einen Blick auf Hathui und Hanna, suchte nach ihnen, suchte und rief ... aber sie war zu erschöpft, um aufzuwachen. Gnade ruft einem jungen Mann etwas zu, dessen Gesicht ihr vertraut vorkommt, obwohl sie seinen Namen nicht weiß, und er dreht sich um und sieht eine Landschaft aus brennendem Sand. Ein Löwe mit dem Körper und dem Gesicht einer Frau bäumt sich über ihr auf, versucht das Mädchen mit den Krallen zu erreichen, während sie schreit, aber es ist nicht sie selbst, die sie sieht, sondern eine junge Frau mit ebenso dunkler Haut wie sie. Ein Mann mit silbrigen Haaren springt in das Gewühl, stößt eine brennende Fackel zwischen die Sphinx und das blutende Mädchen. Als er keuchend herumwirbelt, sieht er sie und schreit »Liathano! Wo bist du?« Die Zentaurin geht am Ufer eines flachen Flusses entlang, der sich durch das Grasland schlängelt aber die strahlende Strömung zieht sie weg. Sie geht unter, und zur gleichen Zeit nährt der Äther sie, so wie er alles nährt, was ursprünglich ist. Sie rührte sich immer wieder, fand zwischendurch etwas zu essen und zu trinken neben ihrem Lager, obwohl sie sich kaum daran erinnern konnte, dass sie aß und trank; die Fäden des Äthers nährten sie, waren die ganze Nahrung, die sie benötigte. Dann wieder wachte sie in der Hoffnung auf, die Sterne zu sehen, aber der Dunst lichtete sich niemals, und es war fürchterlich warm. Gedanken tauchten mit unerwarteter Klarheit auf. Ich hätte bei Einbruch der Nacht mit der Adlersicht nach ihm suchen sollen. Das Land ersetzt eine entsprechend große Menge Wasser. Sind alle Sieben Schläfer gestorben, oder haben einige überlebt? Wenn der Faden, der das Land der Ashioi an die Erde gebunden hat, durchtrennt ist - ist uns dann die Sphäre des Äthers 27 verschlossen? Ist die Leiter des Magiers fort? Ist die Heimat meiner Mutter jetzt für mich verloren? Woher kommt der Äther, der um die Erde gewoben ist? Wird er ständig erneuert, oder wird er vergehen? Gibt es jetzt weniger Äther in der Welt, seit das Tor geschlossen ist? Bei Einbruch der Nacht sucht Hathui mit der Adlersicht im Feuer, aber sie sieht nur Bruchstücke, kleine Fetzen, die in Flammen und Schatten aufblitzen. Der Schlaf überwältigte sie - und ihre Gedanken. Was in ihrem Herzen und in ihrem Verstand war, löste sich in Träumen auf, die so fein gesponnen waren, dass jeder Faden in nichts zerfiel, in dunstige, weiße Schwaden aus Asche, die sich in alle Richtungen verteilten, sich über fahle Dünen zogen, die keinen Anfang und kein Ende kannten, sondern nur Trostlosigkeit. »Wird sie sterben? Sie ist in diesem Zustand, seit ich aufgebrochen bin. Das war vor fünf Tagen!« »Ich glaube nicht, dass sie sterben wird. Sie siecht nicht dahin. Die Substanz, die das Universum zusammenhält, nährt sie, auch wenn wir sie nicht sehen können, weil sie jenseits unserer fünf Sinne existiert. Vergesst nicht, dass sie in den Sphären gewandelt und durch den brennenden Stein gegangen ist; was sie danach noch gemacht hat, weiß ich nicht, aber wir können davon ausgehen, dass es nicht einfach gewesen ist. Jetzt zahlt sie den Preis dafür.« »Was ist, wenn Katzenmaske kommt? Er hat seine Krieger versammelt. Er hat Frieden mit Echsenmaske geschlossen, und sie schmieden Pläne, fragen sich, wann die Menschen uns angreifen.« »Katzenmaske macht mir keine Angst, Weißfeder. Kehre zu Federkleid zurück. Ich werde so bald wie möglich nachkommen.« »Federkleid kann die Ratsversammlung nicht mehr länger aufschieben. Wenn du jetzt nicht mit mir zurückkehrst, werde ich ihr sagen müssen, dass du nicht kommst. Der Rat wird ohne deine Stimme sprechen.« 27
»Ich werde sie nicht verlassen, solange sie nicht kräftig genug ist, um sich zu verteidigen.« »Sucht niemand nach ihr, Onkel? Hat sie keine Familie?« »Sie hat ihren Ehemann, aber wie sollen wir wissen, ob er lebt oder tot ist? Ich habe viele Tage am Rand der Verwüstung im Norden gestanden, jenseits der Weißstraße.« »Eine Ödnis, die Er-Der-Brennt angemessen ist! Es ist ein schrecklicher Anblick.« »Ich weiß nicht, wie weit die Verwüstung reicht. Ich weiß nicht, wer und was überlebt hat, ob sie hierhergelangen können oder ob sie es überhaupt versuchen werden.« »Dann werden wir vielleicht nicht so viel kämpfen müssen! Es würde der Menschheit recht geschehen, wenn sie sich mit ihrer Zauberei am Ende am meisten selbst schädigt!« »Ich glaube, dass wir alle gelitten haben und dass wir es weiterhin tun werden. Dieses Wetter beunruhigt mich. Wir müssten die Sonne sehen.« »Müssten wir das? Scheint die Sonne oft? Früher war es auch immer so.« »Weil es >auch immer so< war, als wir in den Äther gereist sind, ist das Land gestorben. Und so wird es auch jetzt sein, ohne Regen und Sonne. Dies sind keine natürlichen Wolken. Ich erinnere mich, wie es war, als ich ein junger Mann war. Es war nicht so. Wir haben sowohl Regen als auch Sonne gesehen.« »Ich werde all das Federkleid erzählen. Aber wenn du mich nicht begleiten willst, Ältester Onkel, darfst du dich nicht beklagen, wenn die anderen Katzenmaskes Ansichten übernehmen, nur weil er am lautesten spricht und seine männliche Brust stolzgeschwellt präsentiert.« Ein Kichern. »Ich vertraue dir, Weißfeder, dass du dich von seinen Worten nicht blenden lässt. Oder von seiner Brust. Gibt es immer noch kein Zeichen von meiner Tochter?« »Ein kleines Zeichen. Gruppen von Kundschaftern haben die Küste abgesucht und Neuigkeiten über seltsame Vorkomm 28 nisse mitgebracht. An der westlichen Küste, etwa einen Tagesmarsch von hier, wurde diese grüne Flügelfeder zwischen den Steinen gefunden. Erkennst du sie?« »Ah! Ah! Ja. Sie hat die Farbe ihrer Augen. Es ist sicherlich diejenige, die ich ihr gab, als sie die Kraft ihres Frauseins erlangt hat. Ich kann nicht glauben, dass sie sie so nachlässig weggeworfen hat.« »Uh«, stöhnte Liath und versuchte sich zu erheben. Aber sie hörten sie nicht, und sie war so müde. Wie konnte man nur so müde sein, so ohne jede Lebenskraft? »Es gab auch Spuren im Sand, aber wir konnten sie nicht deuten. Etwas wie das hier ...« Ein leichtes Kratzen führte sie in den träumerischen Nebel zurück. So beruhigend. So müde. »Ich weiß nicht. Ich müsste es selbst sehen. Es sieht aus wie der Abdruck eines ans Ufer gezogenen Bootes.« »Was ist ein Boot? Ach ja. Ein Wagen, der dich übers Wasser trägt. Wo könnte sie ein Boot finden?« »Vielleicht ist es ans Ufer gespült worden ...« Wasser, wie Feuer und Luft, ist ein Schleier, durch den ferne Anblicke von jenen gesehen werden können, die keine Angst davor haben zu sehen. Sie träumt. Sanglant und ein zerlumptes Heer mühen sich durch eine verbrannte Landschaft. Er steht bei einigen Männern in verdreckter und zerlumpter Kleidung, die ein Grab ausheben. Sie tragen die Abzeichen von Lesse, denn trotz des Schmutzes ist der stolze rote Adler sichtbar. »Einer von Liutgards Männern?«, fragt er, als sie auf dem rissigen Boden niederknien. »Unser Feldwebel, Eure Majestät«, sagt jemand. »Seine Wunde hat angefangen zu faulen; sie ist ganz schwarz gewesen und hat widerlich gestunken.« Er sieht so ernst aus, als hätte die Umwälzung auch ihn verbrannt, bis tief in die Seele. »Werden wir unsere Heimat wiedersehen, Eure Majestät?« »Dieser arme Mann nicht. Aber das Heer wird Wendar er 28 reichen, auch wenn ich befürchte, dass wer immer uns zu folgen versuchen sollte, eine Spur aus toten Männern und Pferden vorfinden wird.« »Es wird guttun, den Staub von Aosta von den Stiefeln zu schütteln. Wir sind über die hohen Pässe westlich von hier in den Süden gelangt, Eure Majestät. Wie werden wir nach Hause gehen?«
»Seht!« Er deutet auf eine Stelle, die sie nicht sehen kann, nicht einmal in ihren Träumen. »Da sind die Berge. Wir sind dicht genug, dass man sie sogar durch den Dunst erkennen kann. Diese Kerbe da markiert das Tal, das uns zum Brinne-Pass hinaufführen wird. Wenn wir den überquert haben, sind wir in den Marklanden.« »Eure Majestät.« Der eindringliche Ruf lässt die Soldaten unruhig werden, denn sie rechnen mit der Aufforderung, sich zum Kampf gegen einen noch unsichtbaren Feind bereitzumachen. »Seht nur!« Ein junger Mann auf einer störrischen Stute taucht auf. Ein Bogen hängt über seinem Rücken, und er hat die Hand ausgestreckt, deutet auf den bewölkten Himmel im Nordosten. »Die Greifen!« Rufe ertönen von allen Seiten; einige klingen verängstigt, während andere die Rückkehr der Greifen freudig begrüßen. Wie zur Antwort erschallt ein kreischender Schrei vom Himmel. Pferde wiehern, und Sanglant zügelt seinen Wallach mit dem Druck der Knie. Seine Lippen teilen sich, als er nach oben starrt und etwas sieht, das sie nicht sehen kann, und doch fühlt sie ihren Glanz, spürt die Geschöpfe, die bis auf die Knochen mit Magie durchwirkt sind. Sie fliegen über sie hinweg, weiter nach Südosten. »Wohin fliegen sie, Eure Majestät?«, fragt der junge Bogenschütze, während alle die Köpfe drehen und ihnen hinterherblicken. Sanglant schüttelt den Kopf, kneift die Augen zusammen, und einen Moment sinken seine Schultern herab, als wäre er besiegt worden. »Ich weiß es nicht.« 29 »Werden sie zurückkehren?« »Ich verfüge nicht über die Fähigkeit der Vorausschau, Lewenhardt.« Als er seine Worte hört und sie bedenkt, lächelt er kurz und drängt sein Pferd weiter. »Wir sollten dankbar sein, dass sie den Sturm überlebt haben. Wir sollten uns fragen, wieso sie ins Herz der Umwälzung fliegen.« Sie wirbelt mit dem Wind hinauf und findet sich hoch oben wieder, fliegt mit Greifenfedern. Ihre Sicht ist so scharf wie die eines Adlers. War sie nicht einmal ein Adler? Sie beherrscht die Gabe der Sicht, sogar in ihren Träumen, während sie zwischen Traum und Wach sein auf den letzten verklingenden Wogen des Äthers dahintreibt, während die Nachwehen der Umwälzung sich grollend auflösen. Der Odem der Himmel hat seinen Atem längst durch den Faden, der das abgestoßene Land mit seinen Wurzeln verbindet, in die niedere Welt verströmt. Schon bald wird diese Straße versperrt sein. Wird die Magie der Erde verklingen, nicht länger genährt durch diese Kraft? Äther ist ein Element wie die anderen vier, eingewoben in das Gewebe des Kosmos. Sicher wird etwas vom Hauch des Äthers auf der Erde zurückbleiben. Doch das Wissen um die Zukunft ist ihr verschlossen, denn sie ist hier verwurzelt. Was sein wird, ist nicht einmal als Schatten jenseits eines durchlässigen Schleiers zu sehen; es liegt hinter einem undurchdringlichen Vorhang. Nur die Ursprünglichen, die im reinen Äther atmen, können in der Zeit vor und zurück sehen. Nur Gott können die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sehen, als wenn alles eins wäre. Hat ihre Mutter gewusst, welches Schicksal sie erwartet? Ist sie freiwillig in jene Dunkelheit gegangen, oder hat sie dagegen angekämpft? Hat sie meinen Vater eigentlich geliebt? Ich werde es nie wissen. Die Landschaft streicht unter ihr vorbei, eine verwüstete Kette staubverhüllter Berge und niedergemähter Wälder. Hin
29 und wieder gerät ein Dorf in Sicht, abgedeckte Dächer, niedergerissene Zäune, tote Tiere, die in salzigen Tümpeln treiben. Mit jeder Wegstunde, die sie sich nach Südosten bewegen, werden die Narben des Landes deutlicher sichtbar. Diejenigen Bäume, die noch stehen, sind auf der einen Seite verbrannt. Der Boden ist versengt und kahl. Sie wenden sich nach Süden, und sie riecht das Meer. Wellen klatschen gegen ein arg mitgenommenes Ufer. Sie fliegen über eine zerstörte Stadt hinweg, deren Steinmauern eingestürzt sind. Eine Küchenschabe huscht zwischen den Steinen umher. Nein. Es ist ein Mensch, klein und zerbrechlich, aber immer noch am Leben. Dann bleibt die Stadt hinter ihnen zurück. So nah am Meer bewegt sich nichts als der Wind durch das, was von den Pflanzen noch übrig geblieben ist. Draußen auf dem Wasser sieht sie den glatten Rücken eines Merwesens die Oberfläche zerteilen und wieder hinabtauchen. Ist es Mücke oder Moskito?
Der Greif schreit, setzt zu einer weiten Kurve nach rechts an. Unter ihr bewegen sich menschliche Gestalten parallel zum Ufer. So viele! Mindestens zweitausend, oder vier- oder zehntausend, es ist unmöglich, so viele zu zählen. Ein Heer von Flüchtlingen, die zu zweit oder dritt nebeneinander in die schlimmste Verwüstung hineingehen. Viele davon sind Kinder und alte Leute. Es scheinen ihnen weitere Gruppen zu folgen, die sich alle in die gleiche Richtung bewegen. Sie will aufschreien. Sie möchte sie warnen: »Kehrt um! In dieser Richtung liegt das Verderben!« Aber sie hat keine Stimme. Und dann sieht sie sie richtig. Ihren Gesichtern und ihrem Körperbau nach sind es Ashioi. Woher sind sie gekommen? Bei den Verbannten waren nicht so viele Kinder wie in dieser Gruppe. Die Größeren helfen den Kleineren. Die Krieger marschieren vorneweg und als Nachhut, um die Hilflosen zu beschützen, die auch die Kostbarsten sind. Sie sind gut gekleidet, in Tuniken und knielange Um 30 hänge, und die Krieger tragen fein gearbeitete Rüstungen und in leuchtenden Farben bemalte Masken. Die Ashioi, bei denen sie - wenn auch nur kurz - gelebt hatte, waren arm gewesen; niemand von ihnen hatte mehr als einen Fetzen Stoff oder ein abgenutztes Fell gehabt, um sich zu bedecken, nicht einmal die Krieger. Deshalb schläft sie unter einer Decke aus gewebtem Schilf. Ältester Onkel hatte nicht einmal eine zusätzliche Tunika, die er ihr hätte geben können, damit sie nicht nackt schlafen - und wach sein - musste. Alle Tiere waren in der Verbannung gestorben, und zum Schluss waren sogar die Flachsfelder verwelkt. Dies sind nicht die gleichen Leute. Aber wer können sie dann sein? Weiter vorn steigt der Boden an, kennzeichnet den verbrannten Bereich. Im Nordosten dampft die Erde, aber entlang dem Ufer bleibt der Weg begehbar, denn das Meer hat das Feuer gelöscht, das aus der Tiefe gekommen war. Die Erde ist ruhig. Die Alten haben ihre Macht zurückgezogen. Alles, was noch übrig ist, ist das Ödland. Ein Boot ist ans Ufer gezogen worden. Eine einzelne Gestalt eilt den Flüchtlingen laut rufend entgegen, um sie zu begrüßen. Ihr Sichtfeld verengt sich. Den Blick starr auf ihre Beute gerichtet, erkennt sie, wen sie da sieht: Sanglants Mutter, die auch Ältester Onkels einzige Tochter ist. Kansi-a-lari rennt weiter, bleibt dann stehen und starrt den Mann an, der die Übrigen anführt. Ihr Mund öffnet sich. Sie ruft laut etwas, und er lacht, belächelt sie. »Du bist also diejenige!«, sagt er. »Ich bin deinem Sohn begegnet. Aber ich habe ihm nicht geglaubt. Ich grüße dich, Tochter.« »Tochter?« Ihre grimmige Miene verdüstert sich, und sie zieht die Brauen verwirrt zusammen, während sie den Prinzen anstarrt, der sicherlich jünger ist als sie. »Wieso nennst du mich -« »Seht nur! Seht dort oben!« Hinter ihm hebt eine Kriegerin
30 mit einer Fuchsmaske ihren Bogen, zieht die Sehne weit zurück und schießt einen Pfeil ab. »Ha!«, rief Liath. Sie fuhr aus dem Schlaf und erschreckte Ältester Onkel, der wie immer dasaß und biegsame Weidengerten zu einem großen Korb flocht. »Oh Gott!«, sagte sie einen Augenblick später enttäuscht und zog den Mantel fester um sich, während Ältester Onkel kicherte. »Gibt es wirklich überhaupt nichts, was ich anziehen könnte?« »Oh doch, Tochter. Die Frauen haben sich Gedanken gemacht, was sie für dein Schamgefühl tun können. Sieh her.« Aus einem zweiten Korb nahm er ein zusammengefaltetes Stück Stoff, als wäre es kostbarer als Gold. »Aus den Höhlen unterhalb der Ratskammer sind die letzten Schätze geholt worden, Öl und Korn für die allerletzte Dürre, bronzene Werkzeuge, Stoffe und die Schriftrollen, die Er-Der-Brennt geweiht sind.« Der Stoff war ungefärbt, aber im Laufe der Jahre vergilbt. Er war schön gewebt und bestand aus einem Faden, der so weich war, dass sie nicht wusste, was es war. Als sie den Stoff auseinanderfaltete, erwies er sich als ärmellose Tunika, die ihr bis zu den Knien reichte. Sie zog sie rasch an. Die Tunika war eigentlich nichts weiter als zwei gerade geschnittene Rechtecke, die an den Seiten und den Schultern zusammengenäht worden waren. Aber das genügte vollauf. Sie zog den Mantel darüber und ging zum Fluss, um zu trinken. Beeren reiften am Ufer, und sie aß, bis ihre Finger purpurrot waren, obwohl die Beeren säuerlich schmeckten. »Ich bin so hungrig! Oh! Ich werde Bauchschmerzen davon bekommen.«
»Du fühlst dich besser«, sagte Ältester Onkel, der ihr gefolgt war. Sie sah keinen Hinweis auf Falkenmaske und Bussardmaske. »Stärker, ja. Ich habe geträumt ...« Ein Hornruf erklang im Norden. 31 »Es war kein Traum! Komm, rasch!« Während sie schlief, hatten sie eine Seilbrücke über dem rauschenden Fluss angebracht - drei dicke Seile, die straff zwischen Bäumen gespannt worden waren, eins für die Füße und zwei andere darüber, um sich festzuhalten. Sie fand schnell heraus, wie sie sich bewegen musste, und balancierte über den Fluss, den Bogen über der Schulter und Ältester Onkel hinter sich. Der Blumenpfad war an einigen Stellen bunt erblüht, doch alles war von einer Haut aus grauer Asche überzogen, die Blätter und Steine umhüllte. Sie beschattete die Augen, dann ließ sie die Hand sinken. »Es gibt keine Sonne«, sagte Ältester Onkel. »Ich erinnere mich aus meiner Jugend an die Sonne, aber wir haben sie nicht öfter als zwei- oder dreimal gesehen, während du geschlafen hast, und dann auch nur für sehr kurze Zeit.« »Wie lange habe ich geschlafen?« Sie betraten den Schatten des Kiefernwaldes, zermatschten herabgefallene Nadeln unter ihren Füßen. Vorher war alles so trocken gewesen. Jetzt wirkte es feucht. »Zehn Nächte. Vielleicht auch elf. Ich habe vergessen mitzuzählen. Die Tage sind dunstig, und der Rat verhandelt.« »Sieh nur.« Sie deutete auf den Wachturm. Falkenmaske hockte auf der obersten Mauer und starrte nach Westen. Bussardmaske sah sie und kam zu ihnen gelaufen. »Wer sind sie?« »Von wem sprichst du?«, fragte Ältester Onkel. Bussardmaske klang wie ein Jugendlicher; es war nicht sicher, ob er den Stimmbruch schon hinter sich hatte. »Es kommt ein Heer über die Weißstraße! Sie sind nicht wie wir gekleidet, aber viele tragen Kriegermasken.« Liath rannte zum Wachturm und kletterte zu Falkenmaske hinauf. Die junge Frau sah sie überrascht an, dann grinste sie und machte ihr Platz. Sie war jung und kühn und hatte keine Angst vor der Höhe, aber Liath machte es benommen, hier oben zu stehen, während direkt unter ihnen zunächst die Mau 31 er und dann die Bergflanke steil abfiel. Aber das schwindelerregende Gefühl war nicht schlimmer als der Anblick, der sich ihr in Richtung Norden bot: das verwüstete Ödland, das von jenem Ausbruch gezeichnet war, durch den Anne und ihre Leute getötet worden waren. Die meisten von Annes Anhängern hatten kein größeres Verbrechen begangen als das, loyal gewesen zu sein. Welcher Mensch würde sich schon den Forderungen der Skopos entgegenstellen? Aber Anne hatte sich nicht um ihre Tugenden geschert, oder um ihre Sünden, sie waren Schachfiguren gewesen, nichts weiter, und Schachfiguren konnten geopfert werden. Hinter ein paar Bäumen kam kurz die erste Gruppe der Neuankömmlinge in Sicht, verlor sich dann wieder hinter Blattwerk. Ältester Onkel sprach ein Wort und sank auf die Knie. Er wäre gefallen, hätte Bussardmaske ihn nicht gestützt. »Was ist los, Onkel? Was hast du?« »Ich bin getroffen worden«, sagte er zu dem Jüngeren. »Mach sie auf dich aufmerksam«, sagte Liath zu Falkenmaske. »Es sind so viele! Und noch mehr folgen ihnen! Ich habe noch nie so viele Leute gesehen!« Die junge Frau zögerte. Sie war unsicher. »Ist es nicht gefährlich?« »Es sind Leute von eurem eigenen Volk.« Sie kletterte wieder hinunter und kniete sich neben Ältester Onkel, der zu schwach wirkte, um sich zu erheben. »Ist es dein Herz?«, fragte sie voller Angst, dass er an Ort und Stelle sterben würde. »Es ist mein Herz.« Er weinte stumme Tränen, als die Dahinziehenden unterhalb von ihnen auf der Weißstraße auftauchten. Es war ein seltsamer Anblick mit der steilen Bergflanke und dem
zerrupften Wald auf der einen Seite des kalkigen Straßenbandes und der vernarbten, öden Erde, die sich so weit nach Norden erstreckte, wie das Auge reichte, auf der anderen. Es sah aus, als wären diese Flüchtlinge zwischen zwei Welten gefangen, wie es seit Jahrhunderten der Fall gewesen war. Sie ging den Hang hinunter, um sie zu begrüßen. Ihre Haa 32 re waren wirr und verknotet, und ihr Körper klebte vor Schweiß und Schmutz. Ich hätte zwischendurch ein Bad nehmen sollen. Sie trat auf die Weißstraße. Die Marschierenden folgten einer Biegung des Weges, der hinter Bäumen und einem fernen Bergkamm verschwand. Es waren die gleichen Leute, die sie in ihrem Traum gesehen hatte. Der Mann, der sie anführte, trug im Gegensatz zu den Tiermasken der anderen Krieger einen Helmbusch. Er hatte ein stolzes, gutaussehendes Gesicht und kam ihr auf eine Weise vertraut vor, die sie nicht verstand. Als sie sich näherten und begriffen, dass Liath sich nicht vom Fleck rühren würde, hob er die Hand, und die anderen kamen hinter ihm zum Stehen. Er sah Liath von oben bis unten an, während eine Frau mit einer Fuchsmaske neben ihm finster dreinblickte, aber es war Sanglants Mutter, die vorne stand, die als Erste sprach. »Liathano! Wo ist mein Vater?« Liath machte eine Geste. »Sie ist das?«, fragte der gutaussehende Mann. »Dies ist die Frau deines Sohnes, von der du gesprochen hast?« Sein Blick folgte ihrer Geste, und er sah zu dem alten Mann, der gestützt von Bussardmaske gerade den steilen Hang herunterkam. Ein kühler Wind aus dem Norden rauschte durch die Blätter. Draußen im Ödland stieg Staub zum Himmel empor, bis der Wind schlagartig aufhörte und Millionen Staubkörnchen auf den nackten Fels sanken. »Ich dachte, er wäre verloren«, keuchte er. Sein Speer fiel klappernd zu Boden, aber er achtete nicht darauf, sondern sprang wie ein Hirsch vorwärts und den Berg hinauf. Es waren nicht viele Schritte. Sie waren so nah beieinander und konnten sich deutlich sehen. Liath lief ihm nach, aber als er zwei Schritte vor Ältester Onkel stehen blieb, blieb auch sie stehen. Sie starrte beide an, begriff jetzt zum ersten Mal, wieso der junge Mann ihr so vertraut vorgekommen war. Die Daemonen der oberen Sphären können in der Zeit voraus und zurück se 32 hen, weil die Zeit keine Macht über sie hat; sie leben oberhalb der mittleren Welt, in der alle lebenden Kreaturen dem Joch der Zeit unterworfen sind. Einen Moment lang war sie wie entrückt, sah wie ihre Verwandten beides zugleich: Jugend und Alter, was gewesen war und was sein würde. Ältester Onkel und der junge Krieger waren der gleiche Mann, aber der eine war alt - und der andere war jung. Ältester Onkel bedeckte die Augen und zitterte. Der andere schüttelte den Kopf, als wäre er wahnsinnig. »Bruder!« »Wie ist das möglich?« Es war nur ein Flüstern. Sie wusste nicht, wer von ihnen sprach. Bussardmaske ließ den alten Mann los, und der junge machte einen Schritt auf den alten zu, und sie umarmten sich, hielten einander fest, zwei Wesen, die in ihren Herzen eins waren. »Verstehst du jetzt?«, fragte Sanglants Mutter. Als sie neben Liath trat, deutete sie mit einem leichten Recken des Kinns auf die Männer. Sie lachte, aber nicht freundlich, wie Liath verblüfft bemerkte. »Wieso hast du etwas gegen mich?«, fragte Liath sie. »Ich weiß es nicht. Es ist einfach so.« »Wie kann es sein, dass du etwas gegen jemanden hast, den du nicht kennst?« »In der Zeit, als ich mit meinem Sohn zusammen war, musste ich mir immer und immer wieder anhören, wie er von dir gesprochen hat - von dir und vom Kämpfen. Es gibt nur zwei Dinge, über
die er jemals richtig nachgedacht hat, sofern man überhaupt sagen kann, dass ein Mann richtig nachdenkt, sobald sein Schwanz betroffen ist.« »Du scheinst deinen Sohn nicht sehr zu mögen.« »Er ist nicht das, was ich mir gewünscht hatte.« Liath lächelte scharf, wünschte sich, sie wäre wie Sanglant in der Lage, andere mit schlauen Worten und einem Heben der Schultern in Furcht zu versetzen. »Er ist das, was er ist, nicht 33 mehr und nicht weniger. Wenn dir das nicht gefällt, hast du wohl deine Chance versäumt, ihn zu etwas anderem zu machen, nicht wahr? Er ist Henrys Sohn, nicht deiner.« »Geboren von der Menschheit«, sagte Kansi spöttisch. »Seht nur!«, rief Falkenmaske von der Mauer herab. Sie hielt sich mit einer Hand an dem höchsten Stein fest, als sie sich jetzt erhob und darauf entlangging, obwohl die Mauer vor und hinter ihr steil abfiel. Sie deutete zum Himmel. Die beiden Männer lösten sich aus ihrer Umarmung und starrten zum bewölkten Himmel. Wie seltsam es war, einen Menschen sowohl alt zu sehen als auch jung. Es war, als hätte die Zeit ihn halbiert und sich in ihrem kreisförmigen Lauf schließlich selbst eingeholt. Ein Licht zuckte kurz hinter den Wolken auf, war aber rasch wieder verschwunden. »Wir haben zwei Greifen gesehen«, sagte der junge Mann. »Aber unsere Pfeile haben sie vertrieben.« Hoffnung breitete sich in Liath aus, aber sie sagte nichts. Ältester Onkel legte dem anderen Mann eine Hand auf die Schulter, was ihm augenscheinlich neue Kraft verlieh, und starrte die Neuankömmlinge an, die auf der Weißstraße warteten. »Wer sind diese Leute? Wo kommt ihr alle her?« »Wir waren seit den alten Tagen zwischen den Welten gefangen. Jetzt, da ihr zurückgekehrt seid, sind wir aus den Schatten befreit worden.« »Gibt es noch mehr von euch?« »Ich war bei der einen Gruppe, aber wir haben viele andere getroffen. Es kommen noch mehr hierher.« »All diejenigen, die vor dem Ende zur Grenze geschickt worden sind«, sagte Ältester Onkel. »Was meinst du damit?«, fragten Sanglants Mutter und Bussardmaske zur gleichen Zeit. »Ich muss mich setzen«, sagte er entschuldigend, aber es war der junge Mann, der ihn besorgt zum Turm führte und sich dort neben ihm niederließ. Er musterte ihn, als wollte er sich jede Falte und jede Runzel einprägen. 33 »Ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe«, sagte der junge Mann. »Ich dachte, ich hätte dich verloren.« »Ich auch. Ich war verzweifelt, aber dann habe ich doch weitergelebt.« Sie berührten sich ungezwungen, eine Hand lag sorglos auf dem Knie oder der Schulter des anderen. Es war, als gäbe es ein Missverständnis zwischen ihnen, als hätten sie vergessen, dass es gewöhnlich einen wenn auch unendlich kleinen Raum zwischen dem einen Körper und dem anderen gab, einen Raum, der die eine Seele von einer anderen trennte. »Du bist alt.« »Ich bin der Ältere.« »Du siehst nicht schlecht aus für einen alten Mann! Nicht so wie der warzige, schwabbelige alte Priester von Schlangenkleid.« Sie lachten zusammen, kicherten fast, wirkten plötzlich jünger, als es ihrem Alter entsprach. Sie waren wieder Jungen. Brüder. Zwillinge. »Seht ihr nicht, was das bedeutet?«, fragte Sanglants Mutter, die Fäuste in die Hüfte gestemmt. Sie wirkte angeekelt, als sie sah, wie sie sich an den Armen berührten. »Von Norden her werden noch mehr kommen! Katzenmaskes Heer wird wachsen. Mit einer solchen Streitmacht brauchen wir unsere Feinde nicht mehr zu fürchten.«
»Katzenmaskes Heer?«, fragte der Jüngere, wandte sich dabei von seinem Bruder ab. »Wer ist Katzenmaske? Was hat er mit mir zu schaffen?« »Pfft! Sie-Die-Erschafft wird viele Fragen zu beantworten haben! Wirst du wie die übrigen jungen Männer herumstolzieren und um die Führung kämpfen wie all die anderen pissenden Hunde?« Er kniff die Augen zusammen. »Du bist durch das Blut meine Tochter. Meine Nichte. Sprich mit deinen Älteren nicht so!« »Du bist jünger als ich! Ich habe einen erwachsenen Sohn! Ich kann sprechen, wie ich will!« 34 »Offensichtlich ist sie mehr deine Tochter als meine, Zuangua«, sagte Ältester Onkel und lachte pfeifend. »Schnell wütend, aber langsam, wenn es um Weisheit geht. Ihr seid beide ungeduldig. Und so habe ich an dich gedacht, als ich ihr einen Namen gegeben habe.« Statt darauf zu antworten erhob sich Zuangua und starrte nach Norden, ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. Jetzt konnte Liath die Ähnlichkeit mit seinem Zwillingsbruder, seiner Nichte und Sanglant in den Konturen seines Gesichtes deutlich erkennen. Sie spürte die Wärme einer erwachenden Begierde, als sie in ihm einen attraktiven Mann erkannte. Bis er sie ansah. Seine Miene veränderte sich, nur ein leichtes Anspannen der Lippen, ein kleines Rümpfen der Nase, aber sie spürte seine Verachtung, wusste, dass er ihr Interesse erkannt und es zurückgewiesen hatte. Sie zurückgewiesen hatte. Sein Hohn schmerzte. Sie war Gleichgültigkeit von Männern nicht gewohnt. Sie hatte ihr Interesse nicht gewünscht oder gesucht, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Sogar König Henry, der mächtigste Mann, den sie jemals getroffen hatte, hatte ihm nachgegeben. Das ist also der Preis für meine Eitelkeit, dachte sie und genoss es, ihn kühl anlächeln zu können. Er wandte sich von ihr ab und seinem Bruder zu. »Wir werden zurückkehren, alle, die jenseits der Weißstraße gefangen waren, als der Bann gewebt wurde. Wir, die einst Schatten waren und wieder aus Fleisch bestehen. Wir wollen Rache für das, was wir erlitten haben. Wir werden Tag für Tag zurückkehren, jeden Tag mehr, wie eine anschwellende Flut. Wenn wir alle zu Hause sind, werden wir ein Heer aufstellen und die Menschheit vernichten. Unseren alten Feind.« »Wir sind stärker, als ich dachte«, murmelte seine Nichte. »Es sind bereits mehr zu uns gekommen, als von uns in der Verbannung überlebt haben.« »Es ist nicht der richtige Weg«, sagte Ältester Onkel. 34 »Das hast du immer behauptet, aber sieh doch nur, was sie uns angetan haben.« Zuangua deutete auf die öde Wildnis. »Das ist das, was die Menschen erschaffen haben - ein Ödland. Du bist alt. Unser Volk ist geschwächt. Das hat Kansi selbst gesagt, und wenn diese Fetzen das Beste sind, was du zum Tragen hast, erkenne ich die Wahrheit in ihren Worten. Die Menschen sind zahlreich, aber sie sind schwach, und die Umwälzung hat ihnen Schaden zugefügt.« Er berührte den fleckigen Stoff an seiner Schulter. Ein Verband. »Ihr König hat mir diese Wunde zugefügt, aber ich habe ihn getötet. Er ist tot, und dein Enkel ist an seine Stelle getreten.« An seine Stelle getreten. Liath wich einen Schritt zurück. Die anderen bemerkten es nicht, sie achteten zu sehr auf Zuanguas Worte. »Er sucht ein Bündnis. Wir haben zusammen gekämpft, als seine Not groß war, aber jetzt müssen wir ihn als Gefahr betrachten. Wir können den Menschen nicht trauen.« »Wir haben ihnen in den alten Tagen getraut.« »Einigen. Die anderen haben immer gegen uns gekämpft, und sie werden es wieder tun. Sie werden uns niemals trauen.« »Nein, das werden sie nicht«, sagte Kansi. »Sie hassen uns. Sie fürchten uns.« »Glaubst du das auch von deinem Sohn?«, fragte Ältester Onkel. »Sein Herz ist bei seinem Vater. Ich kenne ihn nicht.« »Niemand von uns kennt ihn. Wir sollten so viel wie möglich herausfinden, das Gelände erkunden, ehe wir voreilig handeln.«
»Wir sollten handeln, bevor wir tot sind!«, erwiderte Zuangua. »Das hat deine Tochter mir geraten.« »Ja.« Ältester Onkel seufzte und schloss für einen Moment die Augen. »Der erste Pfeil trifft am tiefsten. Du wirst ihr glauben, was immer die anderen auch zu sagen haben.« Liath war inzwischen vier Schritte zurückgegangen, langsam und mit Pausen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. 35
»Seht nur!«, rief Falkenmaske von der Mauer. »Ist das ein Adler?« Auf der Weißstraße hoben hundert Krieger ihre Bögen und legten Pfeile an. »Lasst sie gehen.« Ältester Onkel fing Liaths Blick ein und reckte das Kinn - eine Geste, die der seiner Tochter auf unheimliche Weise ähnlich war. Eine unausgesprochene Botschaft lag darin: Jetzt! Sie stürzte davon. Kansi sprang hinter ihr her und bekam den Saum ihres Mantels zu fassen, aber als Liath zog und Kansi zerrte, schloss Ältester Onkel die Augen und murmelte leise Worte. Die gebundene Kordel löste sich auf, und der Mantel glitt von ihren Schultern und in den festen Griff der Ungeduldigen. Kansi taumelte, und Liath lief weiter. »Sie ist die Gefährlichste von allen -«, schrie Kansi. Andere Stimmen riefen hinter ihr her. »Diese magere, schmutzige Kreatur ist eine Gefahr für uns ?« »Sie ist nicht nur eine Zauberin ... sie ist auch in den Sphären gewandelt!« »Lass sie gehen, Zuangua! Ich bitte dich - bei dem Band, das uns im Leib unserer Mutter verbunden hat.« Sie stolperte über die Weißstraße und stürzte und prellte sich das Schienbein, als sie über den nackten Boden voller Asche und loser Steine rutschte. Der Boden schien sich aus eigenem Antrieb zu wellen, und scharfe Kanten schnitten in ihre Fußsohlen. Blut fiel zischend auf den Stein, dessen Oberfläche sich auflöste und dampfte, als sie auf einen flachen Felsbrocken zusprang, der fest wirkte. Sie roch die Schärfe von Zauberei, einen Bann, der sie aufhalten und ergreifen sollte: Ashioi-Ma-gie, die den Kern der Dinge beeinflusste. Liath suchte nach ihren Flügeln aus Flammen, aber die Erde band sie. Sie war durch das Fleisch gefangen, das sie von ihrem Vater ererbt hatte. »Hai!«, rief Zuangua hinter ihr. »Los, Bogenschützen! Lasst sie nicht entkommen!« 35 Sie musste sich umdrehen, um sich dem Angriff entgegenzustellen. Zwanzig Pfeile gingen in Flammen auf, und die Feuerwoge vernichtete auch die nächste Salve. Aber sie würden wieder schießen. Pfeile hatten sie schon einmal zu Fall gerächt. Sie besaß nur eine einzige Möglichkeit, sich gegen Pfeilschüsse zu verteidigen, und die konnte sie nicht nutzen, nicht einmal, um ihr eigenes Leben zu retten. Nie wieder. Sie würde lieber sterben als zulassen, dass noch einmal jemand von innen nach außen schmolz. »Ich werde sie festhalten!«, rief Kansi. »Der Stein wird sie verschlingen!« Eine dritte Salve stieg in die Luft empor und verwandelte sich in Funken und einen Regen aus dunkler Asche, als sie Feuer in die Schäfte rief. Der Fels unter ihr zersplitterte mit einem lauten Knacken. Der Boden riss auf, und sie stürzte. Ein von Flügeln erzeugter Windstoß und eine schwüle Hit-e schwappten über sie hinweg, und der goldene Greif kam herabgeglitten, packte sie mit den Klauen an den Schultern. Mit einem Ruck stiegen sie auf, sackten dann wieder ab, so dass sie "ich die Knie an den Felsen aufschürfte, ehe es wieder nach oben, in die Luft ging. Aber sie waren noch nicht außer Reichweite. Noch mehr Krieger waren jetzt auf die Straße gekommen, verteilten sich auf Zuanguas Befehl hin, um besser ihre Pfeile abschießen zu können. Der Greif gewann nur mühsam an Höhe. Liath war zu schwer. Aber auch die Tiere waren Taktiker. Rufe und Schreie brachen unter den Ashioi aus, als das silberne Männchen von hinten dicht über die Marschierenden hinwegstrich. Die Ablenkung genügte, um sie außer Reichweite zu tragen und dem Silbernen zu gestatten, abzudrehen und in Richtung Landesinneres zu fliegen.
Von den Klauen des Greifen gehalten und sich der Tatsache bewusst, dass ihr Gewicht eine Last war, wagte Liath es nicht, sich zu bewegen, um einen letzten Blick auf Ältester Onkel zu werfen. Ihre Kehle war trocken, und ihr Herz schmerzte. Sie
36 fürchtete, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Welches Recht hatten sein Bruder und seine Tochter, aus Wut auf ihre alten Feinde über Sanglant zu richten und den alten Mann so von seinem einzigen Enkel fernzuhalten? Jedes Recht, würden sie sagen. Aber es machte Liath wütend, dass Ältester Onkel niemals seinen Enkel sehen würde, dass er seiner Urenkelin nie einen Kuss auf die Stirn drücken könnte, sofern Gnade überhaupt noch lebte. Nein, sie wusste es tief in ihrem Herzen. Sie hatte wahre Visionen gesehen. Gnade hatte die Umwälzung ebenso überlebt wie Sanglant. »Wir werden sie finden«, schwor sie sich. Der Griff des Greifen wurde fester und zwang ihr Tränen in die Augen, die heiß waren vor Schmerz, Wut und Trauer, als sie tief über das Ödland flogen und sie all seine hässliche Pracht sah. Eine versengte Wildnis aus Asche, Stein und einer Schicht aus nach wie vor qualmendem, geschmolzenem Fels, der im Laufe der Tage abkühlte und härter wurde. Der tief in die Erde führende Tunnel war verschlossen; dafür hatten die Alten gesorgt. Aber die Zerstörung breitete sich viele Wegstunden in alle Richtungen aus, und als sie schließlich wieder Bäume sehen konnte als sie an Stellen gelangten, an denen sie nicht verbrannt waren -, waren sie alle in die gleiche Richtung umgestürzt. Viele Stämme standen auch noch, aber sie waren alle auf einer Seite versengt. Während sie ruhten und flogen und ruhten und flogen, blieb das am schlimmsten zerstörte Gebiet allmählich hinter ihnen zurück, und sie sah wieder Pflanzen, aber niemals Sonne und selten Regen. Hin und wieder flackerten im Norden Blitze auf. Einmal sah sie einen zerlumpten Mann mit drei Schafen einen staubigen Weg entlanggehen; erstaunlicherweise blickte er nicht auf, als der Greif einen Ruf ausstieß, als hätte er sich entschieden, dass es besser war, nichts zu wissen. Es ist niemals besser, nichts zu wissen. Der Schmerz in ihren Schultern war schlimm, aber dass sie ihn ertrug, brachte sie ihrem Ziel näher. Was, wenn sie nie er 36 fuhr, was mit den anderen geschehen war? Wenn die Greifen Sanglant nicht finden konnten? Wenn sie Gnade niemals zurückerhielten ? Monate - oder zumindest Wochen - waren vergangen, seit sie, Sorgatani, Edelfrau Bertha und ihre Gefolgschaft in Annes Hinterhalt gestolpert waren. Sie würde vielleicht nie erfahren, ob ihre treuen Kameraden den Sturm überlebt hatten. Hanna könnte tot sein, der arme Ivar für immer verloren in der Wildnis, die aus der Ferne, der Zeit und den Ereignissen gebildet wird, die uns einen unerwünschten Pfad entlangziehen. Es gab so wenige, die sie als Verwandte oder Kameraden bezeichnete, dass der Gedanke, einen einzigen dieser Menschen zu verlieren, sie zum Weinen brachte. Eigentlich hatte sie sie schon vor Jahren verloren, an dem Tag, als sie durch den brennenden Stein getreten und die Leiter des Magiers hinaufgestiegen war. Sanglant hatte recht: sie hatte sie verlassen. Ich hatte keine Wahl. Es wurde dunkel. Sie sehnte sich ebenso sehr nach ein paar Augenblicken der Erholung vom Anblick der verwüsteten Landschaft, wie der Greif angesichts der Last, die sie für ihn war, eine Pause brauchte. Die Landung auf einer breiten Lichtung war holprig, und sie schürfte sich ein Knie auf, aber sie brach sich nichts. Das Wasser eines Baches, das barmherzigerweise klar war, löschte ihren Durst, aber zwischen den vertrockneten Pflanzen fand sich nichts Essbares. Gott, und sie war so hungrig! Sie fror, und ihre Schultern schmerzten so sehr. Eine Klaue hatte ihre Haut über der rechten Brust aufgerissen. Blut sickerte durch die Tunika, und als sie Gras ausrupfte, um es auf die Wunde zu pressen, machte die Bewegung die Schmerzen noch schlimmer. Während es dunkler wurde, saß sie mit geschlossenen Augen da und versuchte, den Schmerz wegzuatmen. Das Weibchen hockte beschützend über ihr, so dass sie sich im Schutz ihrer weichen Kehle und abseits der schneidenden Flügel zusammenrollen konnte, denn sie hatte nicht einmal einen Mantel, um sich zu bedecken. Sie schlummerte ein, obwohl sie sich vor
37 genommen hatte, Holz für ein Feuer zu sammeln. Die Greifen schnauften und keuchten die ganze Nacht, und Liath schlief unruhig, wachte immer wieder auf und starrte zum Himmel, aber sie sah niemals auch nur einen Stern. Es war sehr kalt, aber wie bei ihr, so war auch in das Wesen der Greifen Feuer gewoben, und das hielt sie am Leben, wie es einst die Schweine getan hatten. Sie lächelte schläfrig, als sie sich an die Namen erinnerte. Hib, Nib, Jib, Bib, Gib, Rib, Tib und die Sau Trotter. Dumme Namen. Es schien so weit zurückzuliegen. Sie beschwor Hugh vor ihrem geistigen Auge, aber er ängstigte sie nicht. Furcht und Schmerz waren jetzt ein Teil von ihr, auf die gleiche Art und Weise in ihre Knochen und in ihr Herz gewoben wie das Wesen ihrer Mutter. Es machte sie zu nichts weniger als dem, was sie war. Dahinströmendes Wasser grub eine Rinne in den Boden, die die Menschheit als Fluss bezeichnete, und in jedem Winter und mit jedem Hochwasser im Frühling konnte sich diese Rinne verlagern und verändern, aber der Fluss blieb stets der gleiche. Sie träumte. Einst war der Äther wie ein Fluss gewesen, der auf dem Weg von den Himmelssphären zur Erde der tiefen Rinne gefolgt war, die die Erde mit dem Land der Ashioi verbunden hatte, fetzt jedoch gibt es Breschen in den Ufern der Rinne, und sie ist verschüttet, und der Äther fließt stattdessen in tausend Rinnsalen weiter, verteilt sich überallhin, dringt als Tröpfeln in alle Dinge ein. Sie geht auf einem Fluss aus Silber, der durch das Weideland fließt, aber es wartet niemand auf sie, nur die Überreste des verwüsteten Lagers der Pferdemenschen und ein paar hastig ausgehobene Gräber. Der Morgen brach ohne Sonnenaufgang an, und die Helligkeit war so diffus, dass überhaupt nicht klar war, ob das Licht wirklich von Osten kam. Es war ganz ruhig, kein Windhauch zu 37 spüren. Ein Zweig knackte, und das Geräusch war so laut, dass Liath aufsprang, während das silberne Männchen einen he-ausfordernden Schrei von sich gab. Am anderen Rand der Lichtung tauchten ein paar Männer auf, die Speere und Knüppel in den Händen hielten. Sie sahen zwielichtig und verzweifelt aus - wie Räuber. Lange Zeit starrten sie nur zu ihr herüber, als wollten sie abschätzen, was sie zu bieten hatte und welche Gefahr sie darstellte. Liath hielt ihren Bogen fest, aber sie hatte keine Pfeile. Ihr Köcher war wie alles Übrige verbrannt, sogar ihr guter Freund, Lucians Schwert. Schließlich trat einer der Männer vor und legte seine Waffe auf den Boden. Er sprach einen dariyanischen Dialekt, die Sprache der Ortsansässigen, so dass sie das Wesentliche verstehen konnte. »Bist du ein Engel oder ein Dämon? Von wo kommst du?« »Ich bin das, was ihr in mir sehen wollt«, antwortete sie mutig. »Nicht mehr und nicht weniger.« »Bist du von Gott geschickt worden? Kannst du uns helfen?« »Was für Hilfe benötigt ihr?« Sie waren offensichtlich verzweifelt, und als sie ihre schwieligen Hände betrachtete - und die zerfurchten, ängstlichen Gesichter -, begriff sie, dass es ich um Bauern handelte. »Wir haben unser Dorf verloren«, sagte der Sprecher. »Unsere Häuser wurden vom Wind weggerissen. Vor drei Tagen ist ein Edelmann mit Soldaten vorbeigekommen. Er hat die Vorräte mitgenommen, die wir noch hatten. Jetzt haben wir nichts u essen. Wir konnten nicht kämpfen. Sie hatten Waffen.« Die Speere waren nichts weiter als zugespitzte Stöcke, und die Knüppel waren Äste aus dem Wald. Einer hatte eine Schaufel. Ein anderer trug eine Sense. »Seid stark«, sagte sie und wusste dabei, wie dumm ihre Worte klangen, aber sie konnte ihnen sonst nichts geben. »Wiff«, hustete das Weibchen und erhob sich. Die Männer rannten davon, flohen in den Schutz der Bäume. »Gehen wir.« Es war immer noch besser, den Schmerz in den 8/ Schultern zu ertragen, als das Messer der Hilflosigkeit an die Kehle gehalten zu bekommen. Wessen Heer hatte das Korn gestohlen? Sie hoffte, dass es nicht Sanglants war. Das Greifenweibchen brauchte zwei Versuche, um sich so weit abzustoßen, dass sie über die Bäume aufsteigen konnten. Wäre die Lichtung nicht so breit gewesen, hätten sie es überhaupt nicht geschafft. Sie kamen an diesem Tag nicht sehr weit, aber immer noch viel weiter, als sie zu Fuß gekommen wäre. Als der Nachmittag zu Ende ging - was vor allem an der Veränderung der
Helligkeit zu bemerken war -, ließen sich die Greifen an einem breiten Berghang, der für ihre Größe besser geeignet war, auf dem Boden nieder. Das silberne Männchen war kurz zuvor ein Stück zurückgeblieben und erschien schließlich mit einem Hirsch in den Klauen. Sie hatte nichts, um ihn zu zerlegen, und so wartete sie darauf, die Reste nehmen zu können, nachdem die Greifen ihn in Stücke gerissen hatten. Sie sammelte Zweige, herabgefallene Äste und Steine und baute mit bloßen Händen eine Feuerstelle, so gut es ging. Feuer in das trockene Holz zu rufen, verlangte nur einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit: Sie suchte tief im Innern der trockenen Zweige das Feuer und -da! - schon leckten Flammen am inneren Stapel empor, den sie sorgfältig in Rechtecken aufgeschichtet hatte, um dem Feuer Luft zu geben. Die Fleischbrocken brauchten nicht lang, um an einem Spieß zu braten, und als sie aß, rann ihr der Fleischsaft das Kinn hinunter. Die Greifen ließen sich ein Stück vom Feuer entfernt nieder; sie waren zu unruhig, um zu schlafen. Liath leckte sich die Finger und musterte den dunkler werdenden Himmel. Die Wolkendecke machte es schwer, den Sonnenuntergang zu bestimmen. Sanglant. Gnade. Hanna. Sorgatani. Hathui. Ivar. Heribert. Li'at'dano. Sogar Hugh. Sie suchte mit der Adlersicht nach ihnen, aber alles, was sie sah, war ein knisterndes Durcheinander aus Flammen und Schatten. 38
IV
1 Flüchtlinge«, sagte Fulk und zügelte sein Pferd neben Sanglant, der sich in der Vorhut des Heeres befand. Als sie angefangen hatten, die Ausläufer der Berge zu erklimmen, hatte trübes Wetter geherrscht; es hatte so gut wie einen Tropfen Regen gegeben und nicht den geringsten Hinweis auf die Sonne. In den vergangenen zehn Tagen hatten sie hundert Pferde verloren und dabei das Gebirge noch längst nicht überquert, während der Winter näher rückte. Immerhin war es bis vor kurzem ungewöhnlich warm gewesen, aber in den letzten zwei Tagen hatte der Winter seinen Griff verstärkt. Fulk deutete auf einen Pfad, der von der Straße weg in eine Senke führte. Etwa vierzig verzweifelt wirkende Reisende hatten dort unter behelfsmäßigen Unterständen aus Wagen und Zeltplanen Schutz vor der herannahenden Dunkelheit gefunden. »Ich kenne diesen Ort«, sagte Sanglant. »Hier haben wir die Männer mit den durchtrennten Kehlen gefunden, nachdem die alla uns angegriffen haben.« »Ja, Eure Majestät. Ich sehe jetzt keinen Hinweis mehr auf das Massaker. Es ist ein guter Ort zum Lagern. Bleiben wir
Schauergeschichten für Kinder heute Nacht hier? Diese Leute könnten um Essen und Wasser bitten, aber wir haben eigentlich nichts übrig.« »Die aostanischen Edelleute denken nicht gerade vorausschauend«, bemerkte Sanglant. »Jedes Dorf, an dem wir vorbeigekommen sind, war geplündert. Wenn es niemanden mehr gibt, der die Felder bestellen kann, weil die Bauern alle verhungert sind und es kein Korn mehr gibt, werden sie ihre Truppen nicht mehr ernähren können. So sei es. Wir werden hier lagern.« Sanglant drängte Fest weiter, ritt mit Fulk, Hathui und einem Dutzend seiner Leibgardisten in die Senke hinunter. Er hatte keine Angst vor einem Angriff. Sie konnten ihn nicht töten, und ohnehin war es offensichtlich, dass diese abgerissenen Flüchtlinge für bewaffnete Männer keine Gefahr darstellen würden. Sie hatten nicht einmal eine Wache aufgestellt, sondern sich einfach nur erschöpft auf den Boden gelegt. Als sie jetzt die Pferde und Männerstimmen hörten, kämpften sie sich auf die Beine, warteten in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt. »Wer seid ihr?«, fragte Sanglant.
Als sie ihn sprechen hörten, sank die Hälfte von ihnen auf die Knie, die Übrigen weinten. »Ist es möglich?«, fragte ein Mann mittleren Alters, der nach Art eines Bittstellers mit ausgestreckten Armen auf ihn zukroch. »Ihr sprecht Wendisch.« »Wir sind Wendaner«, sagte Sanglant, aber eine Frau in der Kleidung einer Geistlichen zischte scharf und zupfte den ersten Mann am Ärmel. »Das ist Prinz Sanglant, Vindicadus. Sieh nur! Da ist das Banner von Fesse!« »Wer seid ihr?«, fragte Sanglant erneut, ohne abzusteigen. Der Mann namens Vindicadus erhob sich, als andere ihn vorwärtsdrängten. Es war eine seltsame Gruppe, die nur aus Jugendlichen und Erwachsenen im besten Alter bestand. Es gab einen Säugling, aber keinerlei kleine Kinder oder Ältere. Sie
39 waren schmutzig, wirkten aber kräftig, und der Dreck ließ ihre Kleidung abgerissener erscheinen, als sie wirklich war. Es waren auch einige Geistliche dabei, wie er an ihren Gewändern erkennen konnte. »Wir sind Wendaner, mein Herr. Wir waren bei König Henrys Rundreise und sind in Darre zurückgeblieben, weil wir zu den Haushalten von Geistlichen und Presbytern gehören.« »Und wieso seid ihr jetzt hier?« In ihrem Schweigen, ihrem Zögern und Luftholen hörte Sanglant eine Antwort. Einige sahen zur Seite. Andere schluchzten. Zwei Diener klammerten sich an den Rand eines Handkarrens, auf dem ein in sich zusammengerollter Mann lag. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und die Augen geschlossen, trug das zerrissene, fleckige Gewand eines Presbyters. Seit langem getrocknetes Blut hatte seinen Haarschopf steif gemacht und kupfern gefärbt. »Sie haben uns angegriffen, mein Herr«, sagte der Mann namens Vindicadus schließlich. »Weil wir Wendaner sind. Sie haben gesagt, dass wir Gott durch unsere Anmaßung verärgert hätten. Sie sagten, wir hätten den Sturm verursacht, der die Strafe Gottes wäre. Wir sind die Einzigen aus Wendar, die in den Palästen von Darre gedient haben und noch am Leben sind. Unsere Kameraden sind an jenem Tag getötet worden, oder sie sind unterwegs gestorben. Ich bitte Euch, mein Herr, lasst uns nicht allein.« »Wer hat euch angegriffen?« »Alle, mein Herr.« Er weinte. »Die Aostaner. Die Leute von Darre. Die Stadt hat schrecklichen Schaden erlitten - zuerst durch den Sturm und dann die Erschütterungen, die danach folgten. Gas strömte aus Spalten in der Erde. In Richtung der Küste barsten Feuer und Stein aus dem Abgrund und zerstörten alles, was sie berührten. Mindestens drei Berge spuckten entlang der westlichen Küste Feuer. Es ist das Ende der Welt, mein Herr. Was sollte es sonst sein?« »Wahre Worte«, murmelte Hathui. 39 »Werdet Ihr uns helfen, mein Herr? Wir sind Unbekannte für Euch, aber viele haben in der Gelehrtenschule von König Henry gedient.« »Du trägst die Kleidung eines Fraters. Bist du einer?« »Nein, mein Herr. Ich bin ein bescheidener Diener aus Austra und stand einst im Dienst von Markgräfin Judith, bin aber später in den Dienst ihres edelmütigen Sohnes, des Presbyters Hugh, getreten.« Sanglant spürte einen Stich in seinem Innern. Hathui sah ihn scharf an, als hätte er sich irgendwie verraten, und vielleicht hatte er das auch. Sie kannte Liaths Geschichte genauso gut wie er selbst. »Du hast Edelmann Hugh gedient?« »Ja, mein Herr. Von seiner Schule und seiner Gefolgschaft sind nur noch sechs übrig. Die anderen sind tot ...« Er verschluckte sich an dem Wort und konnte fünf Atemzüge lang nicht weiterreden. Sanglant wartete, hörte jenseits des niedrigen Kammes, der die Senke von dem Hauptpfad trennte, das Heer vorbeimarschieren. »Sie sind tot.« Er war kein alter Mann, aber er hatte schon bessere Tage gesehen; der Kummer lastete schwer auf seinen Schultern. »Die Übrigen sind vor Monaten mit dem Presbyter nach Norden gegangen.« »Hugh ist nach Norden gegangen? Wann war das?«
»Vor Monaten, mein Herr. Im ... oh, lasst mich nachdenken. Es war spät im Sommer. Ja, das stimmt.« »Wie klug von ihm, dem Unheil aus dem Weg zu gehen«, murmelte Sanglant. »Es ist genauso gut möglich, dass er tot ist, Eure Majestät«, sagte Hathui. »Das können wir nur hoffen, aber wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.« Er sah sie an, während die Flüchtlinge warteten. Sie wölbte eine Braue; die Geste war kaum wahrnehmbar und hätte ihn niemals so hart treffen dürfen. »Es geht nicht nur um Liath! Er hat Adelheid dazu gebracht, ihm zu glauben. Er hat meinen Vater mit einem Bann belegt. Er ist ehrgeizig, und er ist am Ende.« 40 »Königin Adelheid ist nicht dumm. Sie ist selbst sehr ehrgeizig. Vielleicht hat sie Hugh dazu verführt, von mehr Macht zu träumen, als er sich jemals erhofft hatte.« Er schnaubte. »Glaubt Ihr das, Hathui?« »Nein. Aber ich glaube, dass sie sich jeweils sehr bereitwillig miteinander verbündet haben.« »Hat er mit ihr das Bett geteilt?« »Ich glaube, dass sie Eurem Vater treu gewesen ist. Sie hat Henry bewundert und geachtet.« »Ich bin froh, das zu hören. Obwohl es dadurch noch schwieriger wird, ihre Handlungen zu verstehen.« »Sie haben zwei Kinder, Eure Majestät. Welche Mutter würde nicht versuchen, ihren geliebten Kindern das Vorankommen zu ermöglichen? Auch Presbyter Hugh hat seine hohe Position dem hingebungsvollen Einfluss seiner Mutter zu verankern« »Das ist nur zu wahr. Markgräfin Judith war nicht dumm, abgesehen von ihrer Liebe zu ihm.« Einer der Geistlichen löste sich aus der Menge, humpelte zu Vindicadus, flüsterte ihm etwas ins Ohr und drängte ihn dann vorwärts. »Mein Herr. Ich bitte Euch. Was gibt es für Neuigkeiten vom König? Ich weiß - wir wissen -, dass Ihr gegen ihn rebelliert habt.« »Mein Vater ist tot.« Sie stießen laute Rufe aus. Er hörte ihr Getuschel: Mörder. Vatermörder. »Eure Majestät«, rief Fulk mit lauter Stimme. »Herzogin Liutgard kommt.« Sie ritt auf ihrem Pferd vorsichtig den Hang herunter, mit ihrem Bannerträger zur Linken und ihrer bevorzugten Verwalterin zur Rechten. Als sie die Flüchtlinge sah, schnappte sie nach Luft, und ihr Gesicht wurde noch bleicher als zuvor. Sieben von den abgerissenen Gestalten rannten los und warfen ich vor ihr auf den Boden. Liutgard stieg ab und reichte ihrer 40 Verwalterin die Zügel, trat dann zu den Flüchtlingen, nahm ihre Hände und sprach sie mit Namen an. »Wie ist das geschehen? Wieso seid ihr hier?«, fragte sie. Sie sprachen alle auf einmal, ihre Worte stolperten übereinander. »... Sturmwind ... Rumpeln, dann ein schreckliches Erdbeben ... Feuer am Himmel ... glühende Steine, die überall herumflogen ... Unruhen ... der Palast wurde gestürmt ... Flucht durch zerstörte Straßen.« »Überall herrscht Chaos, meine Herrin«, weinte die Älteste, die nicht älter als vierzig war. »Ich heiße Elsebet und bin als Geistliche in Kaiser Henrys Gelehrtenschule gewesen. Bereits am ersten Tag haben wir die Hälfte der Unsrigen verloren, und noch einmal die Hälfte in diesem Zug hier. Wir haben uns nicht getraut, es über den Julier-Pass zu versuchen. Bruder Vindicadus stand früher einmal im Dienst von Presbyter Hugh und davor im Dienst von Markgräfin Judith. Er kennt einen Pass im Osten, der selten benutzt wird. Ihr seht, wie wenige von der Gelehrtenschule des Königs noch übrig sind. Wir haben so viele verloren. Ist es wahr? Ist der Herrscher - der Kaiser - tot?« »Henry ist tot«, sagte Liutgard und starrte Sanglant an. »Dass überhaupt noch jemand von uns lebt, haben wir meinem Vetter Sanglant zu verdanken. Henry hat ihn zum Erben ernannt, als er im Sterben lag. Es war sein -« Ihre Stimme brach, aber nach einem kurzen Augenblick sprach sie weiter. »Es war sein Herzenswunsch, dass Prinz Sanglant nach ihm herrschen soll. Henry war zum Schluss nicht mehr er selbst, die letzten zwei oder drei Jahre nicht mehr. Er war von seiner Königin
und Presbyter Hugh mit einem Bann belegt worden. Sanglant hat ihn aus ihrem Netz befreit. Hört mich an!« Ihre Stimme erhob sich über das Gemurmel. »Es ist wahr. Ich schwöre es bei den Gräbern meiner Mutter und meines Vaters. Ich schwöre es bei der Hand des Herrn und der Herrin. Sanglant ist jetzt Herrscher über Wendar und Varre. Er ist derjenige, dem wir folgen. Er führt uns nach Hause.« 41 »Wir werden unser Lager heute Nacht hier aufschlagen«, sagte Sanglant leise zu Fulk. »Wir müssen diese Leute irgendwie unterbringen.« »Wir haben nicht genug Nahrung, Eure Majestät.« »Wir können sie nicht zurücklassen. Es sind unsere Landsleute. Wenn wir sie nicht retten, wer wird es dann tun?« Fulk nickte und ging davon, um die Befehle auszuführen. Sie ließen sich in der Reihenfolge nieder, in der sie marschiert waren, während die Dämmerung auf sie herabsank. Die Männer und Frauen schliefen vollständig angezogen, die Waffen griffbereit neben sich; allerdings legten viele ihre Kettenhemden ab. Die Pferde wurden abgerieben, getränkt und gefüttert - glücklicherweise gab es ganz in der Nähe einen unvergifteten Bach. Sanglant ging mit Lewenhardt, Bärbeiß und dem humpelnden Sibold die Reihen entlang, sprach mit vielen Soldaten und kam schließlich zur Nachhut. Die Zentaurinnen, angeführt von Capi'ra, hatten sich freiwillig für diese schwere Aufgabe gemeldet. Sanglant vermutete, dass allein ihr Anblick viele mögliche Angreifer davon abhalten würde, etwas Unüberlegtes zu tun. »Irgendetwas Besonderes?«, fragte er sie nach der Begrüßung. »Alles ist wie immer. Wir sehen Hinweise von Menschen, die unseren Spuren folgen, aber sie verschwinden wieder. Heute waren es weniger. Hier leben weniger Menschen, und wenn sie uns schon nicht angreifen, wenn sie viele sind, werden sie es erst recht nicht tun, wenn sie nur eine Handvoll sind.« Er nickte. Es war fast dunkel. Die Nacht brach jetzt früh herein, was nicht nur mit der Jahreszeit zu tun hatte. Selbst während des Tages verdeckten die Wolken die Sonne. Seine Haut sehnte sich nach Licht. Alle spürten diesen Mangel. »Es ist seltsam bei Euch«, sagte Capi'ra nach kurzem Schweigen. »Eure Art ist so unbenommen. Ich freue mich darauf, in mein Heimatland zurückzukehren.« Sie schnaubte, was ihre Art eines Kicherns darstellte. »Das war nicht als Belei 41 digung gemeint, Sanglant. Wir fühlen uns einfach nicht wohl hier. Das Land sieht falsch aus. Es riecht seltsam. Wir kennen die Winde nicht.« »Seht nur!«, sagte er und blinzelte. »Ich dachte, ich hätte einen Blitz gesehen.« »Einen Blitz?« Er winkte. »Lewenhardt, komm her. Siehst du es?« Der Bogenschütze ritt zu ihm und starrte nach Süden in den dunklen Himmel. Zunächst schüttelte er den Kopf, doch dann versteifte er sich. »Ist das möglich?«, flüsterte er. Dann rief er laut: »Die Greifen! Es sind die Greifen, Eure Majestät!« Sanglant ritt zur hintersten Linie, legte den Kopf in den Nacken, um zum Himmel zu starren, während die Neuigkeit die Reihen entlang weitergegeben wurde, damit die Männer ihre Pferde festhalten konnten. Hunde bellten. Lewenhardt ritt zu ihm. »Sie fliegen tief. Einer hat etwas in seinen Klauen ... vielleicht einen Hirsch? Wenn sie gejagt haben ...« »Oh Gott«, keuchte Sanglant. Durch seinen Körper jagte ein solcher Adrenalinstoß, dass er glaubte, blind zu werden. Er glitt von Fest und rannte stolpernd den Hang hinunter, während die Greifen tiefer und tiefer sanken. Domina wurde von der Bürde, die sie trug, nach unten gezogen. Der kostbaren Bürde, die sie den ganzen Weg zu ihm gebracht hatte - zu ihm, der beschlossen hatte, dass sie weitermarschieren und sie zurücklassen mussten, ohne nach ihr zu suchen.
Ich bin nicht besser als sie. Ich habe getan, was ich für notwendig hielt. Domina senkte sich das letzte Stück herab, und als Liath noch eine Mannslänge vom Boden entfernt war, ließ die Greifin sie los. Sie kam hart auf dem Boden auf. Sanglant sank neben ihr auf die Knie, fragte sich, ob sie noch lebte oder tot war, aber er wusste, dass sie lebte, und das nicht nur, weil sie lachte und weinte und ihn umarmte und den Kopf so fest gegen seine 42 Schulter drückte, dass sein Kettenhemd ein Muster auf ihrer Wange hinterließ, als sie sich schließlich wieder von ihm löste. Er war vollkommen benommen. »Der Herr und die Herrin haben uns gesegnet«, sagte sie und verzog das Gesicht, als sie sich beim Aufstehen auf ihn stützte. »Die Greifen haben dich gefunden.« Er war wie erstarrt und kniete noch immer, während sie die ahne zusammenbiss und ihre Schultern reckte, sie hin und er bewegte, die Arme kreisen ließ. Blut befleckte den hellen Stoff ihres ärmellosen Gewandes, aber jeder Narr konnte Seh en, dass sie nicht ernsthaft verletzt war, nur müde, dünn, schmutzig und sehr mitgenommen. Sie starrte ihn an, suchte in seinem Herzen. Schließlich küsste sie ihn auf den Mund. Sie schmeckte salzig, und etwas wie Schwefel strömte von ihrem Körper aus. Er schloss die Auen, genoss ihre Berührung, ließ alle Gefühle von Siegestaumel, Schrecken und Freude in seinem Innern sich vermischen. Schließlich fand er zu sich zurück, zu seinen Worten, zu seiner Stärke. »Mit dir«, murmelte er, »ist alles möglich.« Er stand auf, drückte sie fest an sich, obwohl offensichtlich ar, dass sie nicht stürzen würde. »Stimmt es, dass du jetzt Herrscher bist?«, fragte sie. »Ja. Woher weißt du das?« »Ich bin Zuangua begegnet.« »Ah. Was ist mit deinen Kameraden, die mit dir durch die Krone gegangen sind?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe sie schon vor Monaten verloren.« Sie bebte. »Es war schrecklich, Sanglant. Schrecklich. Anne ist tot.« Ihre Stimme klang rau vor Trauer. Er musste nicht nachfragen. Anne war tot. Liath hatte getan, was notwendig war, obwohl der Preis hoch gewesen war. Er spürte ein wildes Lachen in sich aufsteigen, schluckte seine Furcht, seinen Kummer und eine Wut hinunter - sie wussten noch nicht einmal annä 42 hernd, was der Sturm angerichtet und wie weit er seine Flügel ausgebreitet hatte. »Du wirst mir erzählen, was ich wissen muss«, sagte er. »Komm. Ich kann dir zumindest ein bisschen was zum Essen besorgen. Du bist viel zu dünn, mein Liebling.« »Was ist mit denen, die wir zurückgelassen haben?«, fragte sie und klammerte sich an ihn, so dass es ihm unmöglich war, einen Schritt zu tun. »Was ist mit Gnade? Heribert? Wo ist Hanna? Was ist mit Ivar? Und mit Sorgatani und Bertha? Sind sie alle verloren?« »Ich weiß es nicht.« Sie ließ ihn los und barg ihr Gesicht in den Händen. Er wartete, während sie zitterte, verloren in einem Kampf, für den er keine Waffen dabeihatte, aber dann, endlich - als die Nacht herabsank und die Greifen sich mit hustenden Geräuschen niederließen und auf dem Boden scharrten, während eine Stimme in der Ferne die Leute aufforderte, sich hinzulegen und etwas zu schlafen -, endlich seufzte sie und ließ die Hände wieder sinken. »Nun«, sagte sie. »Nun. Es ist geschehen. Wohin gehen wir?« »Nach Hause. Nach Wendar.« Er nahm ihre Hand, als sie zurück zum Heer marschierten. Die Soldaten starrten sie verwundert an. Wie konnte es anders sein? Er war jetzt ihr Herrscher, und Liath würde ihre Königin sein.
2 In dieser Nacht stand Liath hoch oben im Alfar-Gebirge am Feuer und erzählte die Geschichte einigen hundert Zuhörern, die ihre Worte an die Übrigen im Heer weitergeben würden. Viele weitere kauerten in der Dunkelheit und verhielten sich vollkommen still, denn sie erzählte die Geschichte wie ein
42
Dichter, der in einer geschlossenen Halle etwas vortrug und nicht wie ein Hauptmann, der seine Befehle rief. Ihre Stimme reichte nicht so weit, wie seine es getan hätte, die gewohnt war, den Lärm einer Schlacht zu übertönen. Aber er hätte die Geschichte niemals so erzählen können wie sie. Darum überließ er es ihr, während er auf dem Stuhl seines Vaters saß, der - da es der Stuhl des Herrschers war - jetzt ihm gehörte. Die kleine Kiste mit Henrys Asche, seinen Gebeinen und seinem Herz stand auf dem Boden links von ihm, neben den Stuhlbeinen. Er mochte es nicht, wenn sie zu weit von ihm entfernt war, ob bei Tag oder bei Nacht. »Mein Wissen ist nicht vollständig«, begann sie, wie es ihre Art war. »Aber dies weiß ich ganz sicher - so wie ich das für wahr halte, was auf Geschichten und Erfahrungen beruht, die ich selbst gehört und erlebt habe. All dies war lange Zeit verborgen oder vergessen, viele Generationen lang - länger als wir uns vorstellen können. Es war vergessen oder wurde lange vor der Geburt des heiligen Daisan, der uns das Licht gebracht hat, zur Legende. Diese Geschichte muss jetzt ans Licht gebracht werden, muss so vielen Menschen wie möglich bekannt gemacht werden, wenn wir verstehen wollen, was wir als Nächstes tun müssen.« Er musterte die Zuhörerschaft. Ihm am nächsten saßen seine edelsten Kameraden, Herzogin Liutgard, der zitternde Herzog Burchard, Edelmann Wichman, der ausnahmsweise einmal aufmerksam war, und die anderen Edelmänner und die wenigen Edelfrauen, die mit Henry oder mit ihm nach Süden marschiert waren. Hinter ihnen hatten sich die Geistlichen von Henrys Gelehrtenschule versammelt, angeführt von Schwester Elsebet und jenen Kirchenleuten, die zur Gefolgschaft eines Edelmannes oder einer Edelfrau gehörten. Er bemerkte, dass der Mann namens Vindicadus einen Platz gefunden hatte, der nah genug war, um etwas hören zu können, obwohl er nicht in den Diensten eines Edelmannes stand, der sich für ihn hätte einsetzen können. Hinter ihm standen die Hauptleute und 43 Verwalter, die das Heer führten, und noch weiter entfernt warteten die Feldwebel und Soldaten in der Hoffnung darauf, so viel wie möglich mitzubekommen. Alle mussten es hören, damit sie verstehen konnten. Er hatte diese Zusammenkunft angeordnet. Die Zerstörung, die sie erlebt hatten, hatte Fragen aufgeworfen, hatte Ängste erzeugt. Jede Erklärung war besser als gar keine, wie seltsam sie ihnen auch vorkommen mochte, selbst wenn es sich um die Wahrheit handelte. »Vor zweitausendsiebenhundertundvier Jahren hat sich das Pferdevolk mit sieben Zauberern aus sieben Stämmen der Menschen gegen einen gemeinsamen Feind verbündet, der als die Verfluchten« oder die Ashioi bekannt war. Mit Hilfe der Musik der Sphären - jener Zauberei, die wir als >die Mathematika< bezeichnen - haben sie eine Beschwörung gewoben. Sie leiteten die Zauberei durch sieben Steinkreise, die sie als Webstühle bezeichneten und die wir Kronen nennen. Diese Zauberei riss die Heimat der Ashioi von der Erde los und schleuderte sie in den Äther.« »Was ist der Äther?«, fragte jemand. »Jener Teil des Universums, der im Bereich und jenseits der oberen Sphären liegt. Er ist eines der fünf Elemente. Die anderen sind Luft, Wasser, Feuer und Erde. Äther ist das seltenste und reinste. Im Gegensatz zu den anderen ist es unbefleckt von Dunkelheit. Jenseits der oberen Sphären, so lehren es die Gelehrten, gibt es nur noch Äther, sonst nichts.« Sie zögerte, aber als keine Frage mehr kam, sprach sie weiter. »Sämtliche Ashioi sind mit ihrem Land in den Äther geschleudert worden, abgesehen von denen, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht in ihrem Heimatland befanden. Diese anderen Ashioi sind nur zur Hälfte - und nicht vollständig - aus der Welt verschwunden. Seit Jahrhunderten haben ihre Schatten als Elfen die Wälder und Wege der Erde heimgesucht und Giftpfeile auf jeden Menschen abgeschossen, der das Pech hatte, ihnen über den Weg zu laufen.«
43 »Das sind doch nur Schauergeschichten für Kinder«, ertönte eine Stimme aus der Menge. Es war Vindicadus, Hughs ehemaliger Diener. Sanglant hatte nicht erwartet, so schnell eine Herausforderung zu hören.
Liath lächelte, blickte aber grimmig drein. »Ich bin diesen Schatten begegnet, als ich durch die Wildnis geritten bin. Es sind keine Schauergeschichten. Ihr Gift hat mein Pferd getötet. Und es hat Räuber vertrieben.« Unter den Feldwebeln kam Bewegung auf. Ein weißhaariger Mann drängte sich nach vorn in die Reihen der Hauptleute. »Lasst mich sprechen!«, rief er. »Ich habe unter Prinz Sanglant gedient. Er selbst hat mich und meine vier Männer aus den Händen von vier Kaufleuten aus Salavii befreit, die uns gefangen genommen hatten und in den Osten verkaufen wollten.« »Wie ist Euer Name?«, fragte Liath. »Das ist Gotfrid«, sagte Sanglant, bevor der alte Soldat antworten konnte. »Ich erinnere mich; es war in Machteburg. Was möchtest du sagen, Feldwebel?« »Nur dies.« Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen -den harten Blick eines Mannes, der genug gesehen hatte, um die Missbilligung anderer nicht mehr zu fürchten. »Ich und meine Männer - wir haben einen Angriff der Verlorenen überlebt. Wir haben unsere Kameraden durch ihre Pfeile verloren. Wenn Ihr dieser Frau nicht glaubt, bitte ich Euch, mir die Frage zu beantworten, wieso ich sie ebenfalls gesehen habe. Zwei meiner Männer sind noch bei mir. Sie werden ebenfalls bezeugen, was sie gesehen haben, wenn sie gefragt werden.« »Was ist mit den anderen beiden?«, fragte Sanglant. Erkannte die Antwort, denn er hatte die Geschichte bereits gehört. Der Mann machte eine schnelle, abrupte Geste mit der Hand. Seine Kehle und sein Kinn verkrampften sich. Die Leute flüsterten leise, aber es war schwer zu sagen, wem sie glaubten. »Gibt es noch jemanden hier, der etwas zur Existenz der Verlorenen sagen möchte?«, fragte Liath.
44 Niemand meldete sich. Der Zwischenrufer verschwand wieder in der Menge. Sanglant konnte beinahe riechen, dass Vindicadus noch da war, und er fragte sich, welche verdrehte Loyalität den Mann an Hugh von Austra band. Liath sprach bereits weiter. »Im Laufe der Jahrhunderte ging die Geschichte der großen Beschwörung verloren, bis sie nichts weiter als eine Legende war. Die Ashioi wurden zu den Aoi, den Verlorenen. Auch das Wissen darüber, wie der Zauberbann gewoben worden war, ging verloren, denn wie ich glaube, sind alle sieben Zauberer, die ihn gewoben haben, im Rückschlag des Bannes umgekommen.« Gemurmel folgte dieser Aussage, versiegte aber rasch wieder. »Vielleicht haben sie keine Schüler gehabt, die ihr Wissen weitergeben konnten, auch wenn mich das überraschen würde.« »Vielleicht haben sich jene, die zurückgeblieben sind, entschlossen, es zu vergessen«, sagte Schwester Elsebet. »Was die Kirche verdammt hat, muss unsittlich sein.« »Dies alles geschah vor der Zeit des heiligen Daisan«, erklärte Liath. »Die Regeln der Kirche konnten noch gar nicht befolgt werden.« »Aber vielleicht haben sie im Herzen gewusst, dass es falsch war«, gab die Geistliche zurück. Liath nickte freundlich. »Es gibt viele mögliche Antworten. Vielleicht waren ihre Schüler auch zu unerfahren, zu verschwiegen oder zu entsetzt, um das Wissen weiterzugeben. Vielleicht hatte man ihnen gesagt, dass sie es nicht tun sollen. Wir werden es niemals wissen, da wir sie nicht fragen können.« »Ich bitte Euch, Edelfrau Liathano«, sagte Herzogin Liutgard und lächelte zweifelnd. »Wie könnt Ihr sagen, dass dieses Wissen verloren ist, wo Euch doch vorgeworfen wird, selbst eine Mathematika zu sein? Die Heilige Mutter Anne hat sich
44 ihrer Zauberei gerühmt und diese Künste in den letzten zwei oder drei Jahren im Palast der Skopos offen gelehrt.« Liath nickte, womit sie die formelle Höflichkeit der Frau erwiderte. Sie kannten sich nicht. Liutgard wusste von Liath nur, dass sie der Adler war, der Henrys Lieblingskind der herrlichen Verbindung entrissen hatte, die der König ihm versprochen hatte. Aber Liath schien taub gegenüber den Schwingungen zu sein, die in der Gruppe der Edelleute zu spüren waren, während
sie sie abschätzig musterten. Sie war wie immer einfach nur bestrebt, die Wahrheit zu verstehen. »Eine gute Frage. Wenn Ihr mir gestattet, möchte ich meine Behauptung näher darlegen, damit alles klarer wird, wie ich hoffe.« Liutgard nickte. Sie fürchtete sich nicht davor, Liath die Möglichkeit zu geben, sich zu erklären. »Im Laufe der Zeit schufen einige Halb-Ashioi - halb-menschliche Nachkommen der ursprünglichen Ashioi - ein mächtiges Reich in den Südlichen Ländern, die an das Mittlere Meer grenzen. Sie nannten dieses Reich Dariya, und sich selbst bezeichneten sie als Dariyaner. Wie die Dichter sangen: Aus diesem Volk trat einer, der herrschte, als Kaiser über Menschen und auch Elfenart. schon bald beherrschte das Dariyanische Kaiserreich den nordwestlichen Kontinent und die Länder am nördlichen und südlichen Ufer des Mittleren Meeres. Wir reisen auf einer Straße, die von diesem Reich gebaut wurde. Schließlich wurde das Pferdevolk - die Dariyaner und die Geschichtsschreiber bezeichnen seine Angehörigen als die >Bwr<, mit einem Wort also, das, wie ich glaube, aus dem -« Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass sie abschweifte, und brachte sich wie ein Reiter, der sein Pferd lenk-e, auf den Hauptpfad zurück. »Das Pferdevolk wurde auf das Dariyanische Kaiserreich
45 aufmerksam. Es fürchtete und hasste die Dariyaner, weil sie teilweise von den verhassten Ashioi abstammten. Anfang des dritten Jahrhunderts drangen die Bwr mit einer Streitmacht ins Reich ein, plünderten die Stadt Dariya und brannten sie nieder. Wahrscheinlich haben sie sich bei der Eroberung eine Seuche zugezogen, die ihre Zahl verringerte. Sie zogen sich in die östliche Steppe ihre ursprüngliche Heimat - zurück, um sich vor weiteren Einfällen der Menschheit zu schützen, obwohl die Menschen einmal ihre wichtigsten Verbündeten gewesen waren.« Burchard hustete. »Ist dieses Pferdevolk, von dem Ihr sprecht, nicht das gleiche wie das, von dem uns jetzt einige als unsere Verbündeten begleiten? Heißt dies, dass sie immer noch unsere Feinde sind? Oder sind sie unsere Freunde?« Liutgard presste die Lippen fester zusammen und starrte an Sanglant vorbei zu der Ehrengarde hinter seinem Rücken. Ihre Streitkräfte hatten am meisten unter dem Angriff der Zentaurinnen gelitten, daher hatte sie keinen Grund, das Pferdevolk zu mögen. Sanglant blickte sich um. Hauptmann Fulk und Hauptmann Istvan standen hinter seinem Stuhl, und Capi'ra und ihre Feldwebel warteten im Schatten; sie wirkten auf den ersten Blick wie Frauen auf Pferden, aber er konnte ihr sanftes Wiehern hören - Bemerkungen, die er nicht verstand. Hinter ihnen ruhten die schlummernden Greifen, deren Flügelfedern gerade noch vom Schein des Feuers berührt wurden. Rauch brannte in seinem Gesicht, als der Wind drehte. Er wedelte ein paar Mal mit der Hand, um ihn zu vertreiben, obwohl er damit eigentlich gar nichts bewirkte. »Die Pferdemenschen sind unsere Verbündeten, Burchard«, sagte er. »Eure Verbündeten«, erwiderte Liutgard. »Meine«, pflichtete er ihr bei, »und daher zunächst auch Eure, Kusine. Ich bitte dich, Liath, sprich weiter.« »Ich bitte Euch!«, rief jemand laut von hinten. Es war wie
45 der der verfluchte Diener. »Ihr sprecht von den Ungläubigen, aber Ihr habt noch kein Wort über den heiligen Daisan gesagt! Glaubt Ihr überhaupt an Gott?« »Still!«, sagte jemand in der Menge. »Lasst sie sprechen!«, rief ein anderer, und noch andere beantworteten seine Worte mit verschiedenen Ausrufen: »Lasst sie sprechen« und »Ja« und »Haltet den Mund«. »Sonst stehen wir noch die ganze Nacht hier draußen in der verfluchten Kälte, und die Hände frieren uns da fest, wo wir gerade rumkratzen«, sagte schließlich ein besonders Schlauer. »Gut«, sagte Liath und hob die Stimme, während die anderen ihre senkten. Sie füllte das Schweigen mit Leichtigkeit aus. »Ihr alle kennt die Geschichte des heiligen Daisan und seiner wichtigsten Schülerin - Thekla, der Zeugin. Wir wissen und glauben, dass der heilige Daisan der
Menschheit die Wahrheit über den Kreis der Einigkeit gebracht hat, über die Mutter und den Vater des Lebens, und unseren Glauben an die Penitir.« Ihr Blick ging auf merkwürdige Art ins Leere, wenn sie aus dem Gedächtnis zitierte - als würde sie nach innen und nicht nach außen blicken. »>Der heilige Daisan hat sechs Tage in Ekstase gebetet und wurde am siebten zur Kammer des Lichts erhoben, um sich zu Gott zu gesellen.<« Ihr Blick suchte den Zwischenrufer, und vielleicht fand sie ihn auch, denn sie wartete einen Augenblick und lächelte dann leicht, wie ein Schläger, der sein Opfer zusammenzucken sah. Der Mann hatte sich inzwischen woanders hingestellt, so dass Sanglant ihn nicht mehr sehen konnte. »Wichtig für diese Geschichte ist, dass der Glaube an den Kreis der Einigkeit und die Botschaft des heiligen Daisan sich entlang der Strukturen des alten Dariyanischen Reiches verbreiteten.« »Das ist nicht alles!«, warf Schwester Elsebet entrüstet ein. »Oh Gott! Erspart uns diese Unterbrechungen! Ich kratze mich immer noch!«, rief der Schlauberger. Sanglant seufzte.
46 Schwester Elsebet trat vor und brachte die Zuhörerschaft mit ihrem finsteren Blick zum Schweigen. »Niemand darf so tun, als wäre dieser Krieg beendet!« »Welchen Krieg meint Ihr?«, fragte Liath. »Ich dachte, ich hätte sehr wohl von einem Krieg gesprochen.« Elsebet klopfte mit ihrem Stab zweimal auf den Boden. »Ich werde zuhören, aber ich werde nicht schweigen, was diese Angelegenheit betrifft. Ich bitte Euch, Eure Majestät!« Er saß in der Falle, und er wusste es genauso wie die Geistliche. »Sprecht weiter, Schwester.« »Ich erkenne, dass diese Frau Wissen über Zauberei und Geschichte besitzt, aber der Krieg, der jene von uns betrifft, die im Kreis der Einigkeit leben, hört niemals auf. Es ist unmöglich, vom heiligen Daisan zu sprechen, ohne auch von jenen zu sprechen, die versucht haben, seine heiligen Lehren zu verzerren und zu beschmutzen.« »Haben wir Zeit dafür?«, fragte Sanglant an Liath gewandt. Eine dumme Frage. Sie war interessiert und fühlte sich unterhalten. Sie konnte Stunden so weitermachen. »Ihr sprecht von Ketzerei, Schwester Elsebet, nicht wahr?« »Wie wir alle es tun müssen! Leider!« »Dann belehrt uns bitte.« Und damit war das Angebot angenommen. Schwester Elsebet wirkte auf Sanglant weder kleinlich noch lästig, und in der kurzen Zeit, die er sie kannte, hatte seiner Meinung nach nichts darauf hingedeutet, dass sie zu Hughs Anhängern zählte. »Sprecht weiter«, gab er also seine Erlaubnis. Sie trat vor. Liath machte ihr jedoch weder Platz, noch trat sie von dem Stein herunter, der dafür sorgte, dass sie ein wenig höher stand als alle anderen. Sie ließ allerdings das Kinn sinken, zog sich zwischen dem einen Atemzug und dem nächsten in sich selbst zurück. Die Veränderung war erstaunlich. Sanglant hatte sie nie zuvor so etwas tun sehen. Es war, als würde sie das Leuchten auslöschen, das sie vorher so zum Glühen ge
46 bracht hatte. Kurz zuvor hatte sie noch alle Blicke beherrscht -jetzt war sie nur noch eine Frau auf einem Stein, die einer Geistlichen zuhörte, während diese über die heilige Wahrheit sprach, die sie alle nährte. »Dies ist die Wahrheit! Hört mir zu! Viele ketzerische Gedanken haben der Kirche Verdruss bereitet, seit der lebende Körper des heiligen Daisan zur Kammer des Lichts aufgestiegen ist. Aber in diesen dunklen Tagen müssen wir uns besonders aufmerksam vor zwei von ihnen schützen. Der erste ist bekannt als die Erlösung. Darunter ist die Überzeugung zu verstehen, dass der heilige Daisan von Kaiserin Thaissania - Die-Mit-Der-Maske - gefoltert wurde, dass er erst zur Kammer des Lichts aufgestiegen ist, nachdem er gehäutet worden und wiederauferstanden war. Diese Ketzerei wurde schließlich ausgemerzt und verboten. Wie sie es verdient hat! Der zweite und größere ketzerische Gedanke betrifft die Natur des heiligen Daisan. Die Älteren der Kirche haben bestimmt, dass der heilige Daisan sich von anderen Menschen nicht unterscheidet, aber eine göttliche Seele aus reinem Licht besitzt, die in einem mit Dunkelheit
befleckten sterblichen Körper gefangen ist. Die Anhänger der größeren Ketzerei bestreiten das und behaupten, dass der heilige Daisan als einziger Mensch halb göttlich und halb sterblich war. Im Jahr 499 hat der Kaiser von Arethusa der Skopos von Darre den Rücken gekehrt und sich von der Wahrheit getrennt, weil er an diese halbe Göttlichkeit geglaubt hat. So wurde die heilige Botschaft des heiligen Daisan durch die scharfen Pfeile des Feindes verletzt.« Sie machte das Kreiszeichen über der Brust, drehte sich zu Sanglant um und verbeugte sich vor ihm. »Inwiefern hat das etwas mit der Geschichte zu tun?«, fragte er. »Ketzerei hat mit uns allen zu tun«, antwortete Schwester Elsebet. »Der rechte Glaube ist es, der uns nährt! Es wird ein noch viel gewaltigerer Sturm kommen als der, unter dem wir in Aosta gelitten haben, wenn diese ketzerischen Gedanken
47 sich festsetzen und das Fundament ertränken, auf dem unser aller Leben beruht! Das wir und die Kirchenmütter als wahr erkannt haben! Vielleicht ist dieser Sturm nicht nur ein Schauspiel uralter Zauberei, sondern eine Warnung, die uns von Gott geschickt wurde!« Er sah Liath an. Sie hob das Kinn und reckte die Schultern, machte sich wieder sichtbar und zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aber dies war nicht das Charisma, das es einem Befehlshaber ermöglichte, Männer in eine Schlacht zu führen, in der sie den Tod finden würden. Dies war nichts als die Beherrschung des unnatürlichen Feuers, das in ihrem Innern brannte. »Das mag sein, Schwester Elsebet«, pflichtete Liath ihr ohne jeden Hinweis auf Unaufrichtigkeit bei. »Aber ich weiß Folgendes. Das Land der Ashioi ist zur Erde zurückgekehrt, weil jene, die vor langer Zeit den Zauberbann woben, die Folgen dessen, was sie taten, nicht ganz verstanden haben. Das Land ist zurückgekehrt, weil es gar nicht anders konnte. Es war wie in einem großen Kreis gebunden und musste notwendigerweise an den Platz zurückkehren, von dem es ausgegangen war.« »In der Tat«, sagte die Geistliche mit fester Stimme. »Aus genau diesem Grund haben die Kirchenmütter Zauberei stets missbilligt.« »Ja, so war es. Zauberei wurde durch die Kirche in zwei verschiedenen Entscheidungen begrenzt. Bestimmte magische Künste waren unter der Aufsicht der Kirche gestattet, aber andere wurden verdammt, besonders jene, die sich auf das Sehen in die Zukunft bezogen oder darauf, das Wetter zu beherrschen, und auch auf das Wissen über die mathematischen Eigenschaften der Sterne und Planeten. Und tatsächlich waren es genau diese Künste - was allerdings den Kirchenkonzilen unbekannt war, die sie verdammt haben -, die vor langer Zeit dazu benutzt worden waren, den Zauberbann zu weben, der die Ashioi in die Verbannung geschleudert hat.«
47 Elsebet nickte, als wäre damit ihre Behauptung bewiesen. Sie trat nicht zur Seite. Liath sprach weiter. »>Die Eroberung durch die Bwr und die Unruhen im Innern der Kirche ließen das knirschende Gebäude des alten Reiches schließlich zusammenbrechen^« »So hat Taillefers Chronist Albert der Weise geschrieben.« »Ja, von ihm stammt dieses Zitat. Die Letzten, die im Osten jenseits von Arethusa an die Erlösung glaubten, verschwanden, als das Jinnische Reich diese Länder im Namen ihres Gottes eroberte.« »Feueranbeter«, murmelte der Schlaukopf. »Ich habe gehört, dass sie ihm nackt huldigen«, sagte Wich-man plötzlich. »Ich würde gerne einmal diese jinnischen Frauen sehen, die nackt um die Flammen herumtanzen!« »Genug!«, blaffte Sanglant. »Bitte, sprich weiter.« »Bitte«, sagte Liath und ließ ihren Blick über die Versammelten schweifen. »Ich bin fast fertig.« »Das hat sie schon zuvor gesagt«, fügte der Schlaukopf hinzu, und Gekicher erklang. Sie lächelte und wartete darauf, dass es wieder ruhiger wurde. »Die Jinnen eroberten auch das südliche Ufer des Mittleren Meeres. Die Länder um die alte kaiserliche Hauptstadt fielen viele Jahrzehnte lang dem Chaos anheim, aber schließlich entstanden verschiedene Fürsten- und Herzogtümer und Grafschaften. Dieses Volk nannte sein Land Aosta. Die Hauptstadt war Darre,
und dort - in der einstigen Hauptstadt des Dariyanischen Reiches - tat der eine oder andere Herrscher so, als würde er über Aosta herrschen.« Die abschätzige Bemerkung wurde zustimmend aufgenommen. Ein paar Soldaten jubelten. Sie hob die Hand. »Nur im nordwestlichen Königreich Salia errang ein Herrscher genug Macht, um seine Herrschaft auszudehnen. Der salianische König Taille gab sich den neuen Namen Taillefer und krönte sich mit einer Krone mit sieben Spitzen, die er >Sternenkrone< nannte, zum Kaiser. Als Teil seiner 48 kaiserlichen Politik schickte Taillefer Missionare der Daisanitischen Kirche in die Länder östlich von Salia. Ungläubige Stämme schlossen sich dem Kreis der Einigkeit an. Häuptlinge schickten ihre Söhne und Töchter noch weiter weg in die Wildnis, um weitere Völker zu bekehren. So gelangte auch das wendische Volk zum Kreis.« »Diese Geschichte des Kaiserreiches kennt jeder gute Gelehrte«, sagte Schwester Elsebet. »Die gute Schwester Rosvita hat an ihrer Geschichte der Taten der Großen Prinzen geschrieben. Aber auch sie ist -« Ihre Stimme brach, und sie begann zu weinen. »Eine überaus gelehrte Frau«, sagte Liath. »Ich glaube, sie hätte verstanden, dass es notwendig ist, das Gewebe als Ganzes zu sehen, um die Folgen der Beschwörung zu verstehen. Wenn Ihr nichts dagegen habt, werde ich jetzt weitererzählen. Nach dem Tod des Kaisers zerfiel Taillefers Reich. Zu dieser Zeit verleibte König Arnulf der Ältere von Wendar seinem Königreich Länder ein, die zuvor mit Salia verbündet gewesen waren, indem er die Erben von Varre mit seinen eigenen Kindern verheiratete. Als diese Erben ohne Nachkommen starben, ernannte er sich selbst zum König von Wendar und Varre. Im Laufe der Zeit ging die Herrschaft an Arnulf den Jüngeren über und danach an dessen Sohn Henry, den zweiten König mit diesem Namen. Das würden wir auch von Schwester Rosvita hören, wäre sie hier, um uns zu belehren! Henry heiratete eine arethusanische Prinzessin namens Sophia, die ihm drei Kinder gebar: Sapientia, Theophanu und Ekkehard. Der König musste gegen seine ältere Schwester Sabella kämpfen, aber er besiegte sie bei Kessal im Herzogtum Fes-se.« Sie nickte Liutgard zu, die eine Hand hob und ihre Stirn berührte, als erinnerte sie sich an jene, die in dieser Schlacht Bruder gegen Schwester gefallen waren. »Henrys Vetter Conrad hat ebenfalls darunter gelitten, dass er nur ein Herzog war, aber seine Ziele sind bisher unbekannt.
48 Einige Jahre nach dem Tod von Königin Sophia verheiratete Henry Prinzessin Sapientia mit Prinz Bayan, dem jüngeren Bruder des ungrianischen Königs Geza. Er hoffte, wie es schien, dass dieses Bündnis die östlichen Marklande vor Plünderern schützen würde. Schon bald danach heiratete Henry die aostanische Prinzessin Adelheid und reiste mit dem Ziel nach Aosta, sich zum Kaiser krönen zu lassen und alle jinnischen und arethusanischen Eindringlinge aus dem Land zu vertreiben, das der heiligen Kirche und dem kaiserlichen Oberhaupt gehört. Und dies ist ihm gelungen, wie Ihr wisst, denn Ihr seid mit ihm geritten. Ihr habt gesiegt, weil er gesiegt hat.« Jene, die dieses Unterfangen überlebt hatten, waren noch immer stolz darauf, dabei gewesen zu sein, als ihr König zum Kaiser gekrönt worden war. Sanglant sah die Erinnerung an diesen Triumph in ihren Gesichtern, aber er sah auch ihre Trauer. »In den Ländern jenseits von Wendar kam es zu Unruhen. Heftigen Unruhen. Von Osten strömten die qumanischen Barbaren heran, angeführt von ihrem Prinzen Bulkezu, und plünderten die Marklande und Avaria. Einige von euch werden sich an seine Niederlage erinnern.« Auch dies erzeugte Jubel, und Sanglant hörte seinen Namen in der Menge. Sie wartete, sprach weiter, als es wieder ruhiger war. »Im Norden plündern die wilden Aikha - unter einem einzigen Anführer vereint - die Küstengebiete. Berichte lassen vermuten, dass das Königreich Salia von einem Bürgerkrieg heimgesucht wird. In Arethusa hat es nie etwas anderes als Bestechung und Intrigen gegeben, wie die Dichter und Geschichtsschreiber sagen. Aber dies ist noch nicht alles. Seltsame Wesen, von
denen zuvor nur die Legenden erzählten, wanderten umher. Überall begannen die Menschen zu flüstern, dass das Ende der Welt bevorstehen würde.« »So ist es!«, rief eine Stimme aus der Menge, und viele äußerten ihre Zustimmung. 49 Liutgard erhob sich unerwartet. Sie wirkte verärgert. »Haben wir tatsächlich das Ende der Welt erlebt? Wir leben noch, auch wenn viele, die uns teuer waren, gestorben sind. Henry ist tot - möge er in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen. Aber das Ende der Welt ist nicht gekommen.« Liath hob eine Hand, um ihr zu zeigen, dass sie ihren Einwand gehört und verstanden hatte. »Die Erde unter uns ist immer noch fest, obwohl wir, wie ich glaube, erkennen werden, dass sich vieles im Land verändert hat. Bitte, Herzogin Liutgard, hört Euch an, was ich zu sagen habe. Wie ist es möglich, dass die Frau, die sich Anne nannte und als Skopos herrschte, von den Ashioi gewusst hat? Wie hat sie von der uralten Beschwörung wissen können, die in jener Nacht - in jener ganz bestimmten Nacht, da die Sternenkrone die Himmel krönte -zur Verwirklichung kommen würde? Um Mitternacht - am Scheitelpunkt zwischen dem zehnten und elften Oktumbre im Jahr 735, wie wir die Jahre nach der Verkündung der Heiligen Botschaft zählen. Wie ist es möglich, dass sie davon wusste?« Voll trauriger Genugtuung erinnerte sich Sanglant daran, wie er Henrys Hof gewarnt und niemand auf ihn gehört hatte. »Nach dem Tod von Kaiser Taillefer ist sein Reich zerfallen, denn es gab keinen männlichen Erben. Er hinterließ drei Töchter und ein paar uneheliche Söhne. Einer von ihnen beanspruchte den Thron und wurde später von seinen Rivalen getötet.« Sie sah Sanglant an. Er nickte, denn er kannte diese Geschichte bereits. Sie bedrohte nicht seinen Anspruch auf den Thron. »Zwei von Taillefers Töchtern wurden mit Fürsten des Reiches verheiratet und sind aus der Geschichte verschwunden. Aber seine Tochter Tallia wurde Bischöfin, trat in den Dienst der Kirche. Dort studierte sie die Künste der Mathematiki, zusammen mit ihrer vertrautesten und treuesten Dienerin, einer Frau namens Clothilde. Diese zwei und ihre Schüler fanden heraus, dass die uralte Geschichte der Ashioi eine wahre Geschichte war. Sie fanden heraus, dass es binnen weniger Jahr
49 zehnte eine zweite Umwälzung geben würde. Sie dachten, sie könnten diese Umwälzung mit einem zweiten Weben verhindern. Sie glaubten, dass die Ashioi in ihrer Verbannung planten, zur Erde zurückzukehren und die Menschheit zu unterwerfen. Doch die Wahrheit ist, dass es in der Beschwörung einen Fehler gab. Das Land der Ashioi wurde hinausgeschleudert - aber auf einem Pfad, der es unausweichlich wieder an die Stelle zurückführen würde, von der es losgerissen worden war. Wir alle kennen solche Pfade, denken manchmal, wir würden irgendwo hingehen, nur um am Ende dort anzukommen, von wo wir losgegangen sind!« Sie wartete auf ein Kichern, aber es kam keines. Ihre Zuhörer lauschten aufmerksam, aber sie glaubten nicht unbedingt, was sie sagte. Sanglant konnte bei allen an ihrer Haltung erkennen, wie viel sie glaubten: Schwester Elsebet neigte skeptisch den Kopf; Feldwebel Gotfrid kratzte sich verwundert den Bart; eine Frau im Überwurf einer Verwalterin starrte mit geöffnetem Mund selbstvergessen ins Leere, während sie an dem Knoten herumfingerte, der ihren Schal unter dem Kinn zusammenhielt. »Die anderen salianischen Geistlichen glaubten, dass Bischöfin Tallia in ihrem Studium der unheilvollen Künste der schwarzen Zauberei zu weit gegangen war. Das Konzil von Narvone trat zusammen, und sämtliche Zauberei, die mit den Mathematiki oder den Malefici zusammenhing, wurde verdammt. Und auch Bischöfin Tallia. Aber sie gab ihre Bemühungen nicht auf. Im Laufe der Zeit fand sie, was sie so lange gesucht hatte: ein Kind, das Königin Radegundis, Taillefers letzte Frau, geboren hatte. Dieses Kind wurde von der Kirche aufgezogen und hat als Mönch gelebt. Schon bald nach seiner Geburt ist Tallia gestorben, und es blieb ihrer Dienerin Clothilde überlassen, ihre Arbeit fortzuführen. Clothilde war geduldig. Taillefers Sohn wurde ziemlich spät in seinem Leben von einer sehr jungen Frau verführt, einer Novizin. Sie bekam ein Kind von ihm. Danach ist er geflüchtet.
50 Aber das Kind wurde der Mutter weggenommen und von Clothilde aufgezogen.« »Was ist aus dem Vater und der Mutter geworden?«, fragte Schwester Elsebet. Sie lauschte jetzt aufmerksam, als hätte sie Teile dieser Geschichte bereits gehört. »Taillefers Sohn? Ich glaube, dass er in der Kirche geblieben ist. Und die Frau, die sein Kind geboren hat? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Anne die Enkelin von Taillefer war, das Kind von Taillefers und Radegundis' verlorenem Sohn. Sie wurde von Schwester Clothilde als Mathematika erzogen und ist in einer Gruppe von Mathematiki aufgewachsen, die sich die Sieben Schläfer nannten. Sie schliefen, wie sie sagten, und warteten geduldig, bis die Zeit des Handelns gekommen war. Anne sollte die Anführerin bei dieser Tat sein: die Ashioi für immer und ewig von der Erde zu verstoßen.« »Wäre es nicht besser gewesen, sie hätte es getan?«, fragte Liutgard. Sie deutete auf das zerlumpte Heer um sie herum. »Hätte uns das nicht all das erspart?« Liath schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr habt gesehen, welche Zerstörung die Beschwörung mit sich gebracht hat. Sie wäre zehnmal so groß gewesen, hätte Annes Beschwörung Erfolg gehabt. Es wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Erde darf nicht von der Erde getrennt werden. Die Alten unsere Ahnen - wollten sich selbst retten. Aber durch ihre Tat haben sie uns verdammt. Ich vermute, dass sie unwissend waren. Sie wussten es nicht besser. Aber wir müssen trotzdem mit den Folgen ihrer Tat leben.«
Teil Zwei
In den Ruinen 1 Anna riss sich von einem schrecklichen Traum los. Sie hielt die Augen geschlossen, spürte das Auf und Ab ihrer Atemzüge, während die Fäden des furchtbaren Alptraums verblassten. Ein endloser Treck, der sich in scheußlicher Winterkälte durch eine Wildnis aus Gras bewegte. Ein Schneesturm, der sich in Blumen verwandelte. Bulkezus Hand an ihrer Kehle. Gnade schlaff wie eine Leiche, dahinsiechend und sterbend, lebendig begraben im Innern eines uralten Hügelgrabes. Würmer krochen über ihren Körper und verschluckten ihn. Mit jedem Ausatmen zerfaserten die Bilder mehr, bis sie schließlich in nichts zerfielen, und mit einem Seufzer der Erleichterung öffnete sie die Augen. Es war noch immer Nacht. Wolken verbargen die Sterne. Sie konnte nichts sehen, nicht einmal die Hand vor ihrem Gesicht. Selbst in einer mondlosen Nacht war es nicht so dunkel. Ihr Herz pochte. Sie hatte Angst, sich zu rühren oder gar zu sprechen, denn das hätte ihren Alptraum als wahr entlarven können. Wenn sie es sich stark genug wünschte, würde alles verschwinden, und sie würde wieder in Gent sein, in der Webhalle von Meistrin Suzanne behaglich beim Feuer sitzen.
50
V
Rettung Eine Stimme murmelte einen Fluch. Steine rieben gegen Feuerstein. Ein Funke blitzte auf, erlosch, dann ein zweiter -und dieser Funke entzündete einen Docht. Als das Licht sich in ihr Grab ergoss, schlugen die Erinnerungen über ihr zusammen. Prinz Sanglants Heer war auf der Suche nach Greifen und Zauberern nach Osten marschiert. Er hatte sie - und noch viel mehr - gefunden, aber Gnade war von einer ätherischen Krankheit befallen worden, und er hatte sie dem Tode nah zurücklassen müssen. Sechs Begleiter waren bei ihr geblieben. In der Hoffnung, dass der Zauberbann, den Prinzessin Liathano durch die Steinkrone gewoben hatte, Gnade auf wundersame Weise in einem unveränderlichen Zustand
bewahren würde, hatten sie sich in dieses Hügelgrab zwischen den Steinen begeben. Dort hatten sie gewartet, bis blaues Feuer sie umgeben hatte, und dann hatten sie gar nichts mehr gespürt. Anna ächzte und stützte sich auf die Ellbogen, sah sich erschreckt um. Bruder Heribert hatte die Lampe entzündet, und auch er schaute mit offenem Mund umher. Thiemo, Matto, die kerayitische Heilerin und der junge qumanische Soldat schliefen noch, jeder an seinem Platz in dem Kreis, den sie um Prinzessin Gnade gebildet hatten. Aber die niedrige, enge Kammer, in der sie sich hingelegt hatten, war verschwunden ... und Gnade auch. »Oh Gott! Möge der Herr uns beschützen! Möge die Herrin barmherzig sein!« Anna kämpfte sich auf die Beine. »Was ist passiert?« Heribert stand auf und verlor fast das Gleichgewicht, als eine Erschütterung die Erde erbeben ließ. Die Flamme zitterte. Ein Netz aus blauem Feuer erwachte rings um sie zum Leben, heiß und strahlend. »Da kommt etwas«, sagte Heribert. »Kannst du es spüren, Anna? Wie ein Gewicht, das sich senkt. Wir sind hier nicht sicher.« Sie starrte die Decke der Höhle an. Stalaktiten glitzerten unter dem Netz aus Feuer. Thiemo schnarchte leise, eine Hand an 51 der Kehle. Matto lag mit offenem Mund da, Augen und Hände fest geschlossen. Es war alles wahr. Sie waren in die uralte Grabkammer gegangen, um Gnade zu beschützen und möglicherweise zu sterben, aber sie waren nicht gestorben und waren auch nicht mehr dort, wo es begonnen hatte. Die Grabkammer war aus Erde gewesen; dieser Ort hier bestand aus Stein. In der Grabkammer hatte es kaum Platz genug gegeben, um in der Mitte aufrecht stehen zu können; an diesem Ort hier hätte man einen Rat von vierzig Edelleuten mitsamt Pferden unterbringen können. In der Grabkammer hatte es nur einen einzigen Eingang gegeben, einen Tunnel, der nach draußen führte. Hier verließen mindestens vier Gänge die Kammer in unterschiedlichen Richtungen. Auch sie spürte eine Veränderung in der Luft, eine Spannung in der Erde, als würde ein riesiges Ungeheuer kurz davor stehen, seine unglückselige Beute aus der Dunkelheit anzuspringen. »Komm schnell!«, erklang Gnades Stimme in der Stille, obwohl von ihr nichts zu sehen war. »Nein! Hierher! Du bist so langsam! Ich sagte, hierher« »Was für ein Gör!«, sagte eine zweite Stimme lachend. »Ich bin kein Gör! Das bin ich nicht!« »Bist du doch!« »Bin ich nicht!« Gnades Begleiter lachte fröhlich, und bevor Anna oder Heribert reagieren konnten, stolperten zwei Gestalten in die Höhle, wobei die kleinere die größere am Handgelenk gepackt hielt. Gnade ließ los und klatschte in die Hände, um ihren Sieg zu bejubeln. »Seht nur, was ich gefunden habe, Bruder Heribert! Und nicht nur das, wir haben auch noch einen richtigen Schatz!« Erneut erzitterte die Erde heftig. Das Netz aus blauem Feuer blitzte und begann zu pulsieren. »Möge der Herr barmherzig sein!«, sagte Heribert, den Blick auf Gnade gerichtet, die schrecklich dünn aussah, an
51 sonsten aber gesund und munter wirkte. Anna wusste nicht, ob sie vor Freude benommen oder verärgert sein sollte, weil Gnade sich kein bisschen geändert hatte und vermutlich keinen einzigen Gedanken an das Opfer verschwendete, das ihre Begleiter so bereitwillig für sie gebracht hatten. »Ich bin Berthold«, sagte Gnades Begleiter, ein nett aussehender Junge, der wahrscheinlich ein bisschen jünger war als Anna, fünfzehn oder sechzehn Jahre etwa. Er trug eine hübsche, hellblaue Tunika aus einem hervorragenden Stoff mit einer gelben Borte, einen hüftlangen, mit hellem Fuchsfell umsäumten Umhang und weiche Lederschuhe mit Riemen. Er hielt Handschuhe aus Kalbsleder lässig in der einen Hand, und an der Taille ruhte ein Schwert in einer schön gestalteten Scheide mit dem Zeichen des Silberbaums darauf.
»Möge der Herr barmherzig sein!«, wiederholte Heribert, während er den Blick von Gnade abwandte und auf den Jungen richtete. »Ihr müsst Villams Sohn sein.« »Der bin ich«, sagte der Junge, kein bisschen überrascht, dass er erkannt wurde. Das Kind aus einem so wichtigen Geschlecht wie dem von Edelmann Villam rechnete damit, erkannt zu werden. »Wir sind hier reingekrochen, um uns umzusehen, aber wir müssen eingeschlafen sein. Meine Kameraden schlafen noch. Ich konnte nur Jonas wecken. Er versucht, die anderen aufzuwecken. Ich weiß nicht, wo diese Kammer herkommt!« Er deutete auf die hohe Decke und die vier Schlafenden. »Sie war nicht hier, als wir uns gestern in diesem Hügelgrab umgesehen haben. Wie kommt Ihr hierher?« Wieder erzitterte die Erde. Das Licht pulsierte jetzt in einem anderen Rhythmus, bis Anna tatsächlich eine Melodie an- und abschwellen hörte, in die sich eine unirdische Harmonie mischte. Es wurde wärmer. »Ich will hier weg«, sagte Gnade. »Es wird etwas sehr, sehr Schlimmes passieren.« Sie wandte sich an Berthold. Er war einen Kopf größer als sie, aber nicht so groß wie ihr Vater. »Hilf mir, sie aufzuwecken!«
52 Bertholds Miene zuckte, die Augen weiteten sich in gespieltem Entsetzen, der Mund formte das »Oh« einer vorgetäuschten Furcht. »Natürlich, meine Herrin!« Er machte alles zunichte, indem er erneut lachte. »Wer hat dich zur Herrscherin ernannt?« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Mein Vater ist Prinz Sanglant. Ich bin die Urenkelin von Kaiser Taillefer. Du wirst tun, was ich dir sage!« Er schnaubte vor Erheiterung, warf Anna einen Blick zu, um ihren Rang und ihre Bedeutung abzuschätzen, und nickte dann Bruder Heribert zu. »Wer seid Ihr, Bruder?« »Ich bin Bruder Heribert. Ich bin ein Geistlicher in der Gelehrtenschule von Prinz Sanglant.« »Dann stimmt es also, dass dieses Gör Prinz Sanglants Tochter ist?« »Ich bin kein Gör!« »Ja, es stimmt.« »Wie kann sie die Urenkelin von Kaiser Taillefer sein? Henrys Vorfahren haben keine Verbindung zu diesem edlen Geschlecht.« Heribert zögerte lange genug, dass Berthold, dessen Gedanken ungeduldig voranstolperten, weitersprechen konnte. »Prinz Sanglant hat eine Schule? Wie ist das möglich? Er ist der Hauptmann der Drachen des Königs. Ich wusste nicht einmal, dass er eine Tochter in diesem Alter hat, aber ich nehme an, das ist keine Überraschung bei dem, was alle über ihn und die Frauen sagen. Ha! Ich frage mich, was Waltharia dazu zu sagen hat! Sie hat gedacht, sie hätte diese Straße als Erste beschritten!« »Welche Straße?«, wollte Gnade wissen. Heribert hob die Hand, als wollte er Berthold bitten, nicht weiterzureden. »Bitte, Edelmann Berthold. Wir sollten die Fragen des Stammbaums später klären. Prinzessin Gnade hat recht. Wir sollten fliehen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es gefällt mir nicht, hier drinnen gefangen zu sein.« 52
»Mir auch nicht«, gestand der Junge und sah sich um. »Obwohl es höchst erstaunlich ist! Wer mag solche Höhlen gegraben haben? Ihr solltet den Schatz dort hinten sehen! Goldene Helme und bergeweise Smaragde und Granate! Mit Edelsteinen verzierte Gürtel. Ketten. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nichts mitnehmen sollen, aber sie haben sich die Ärmel vollgepackt - bis auf Jonas, aber er ist auch der Einzige, der auf mich hört -« Eine Erschütterung ließ die Erde so heftig erzittern, dass Anna Schwierigkeiten hatte, stehen zu bleiben. Die kerayitische Heilerin stöhnte, kämpfte gegen den Schlaf, ohne dass es ihr gelang, wach zu werden. Thiemo und Matto rührten sich gar nicht. Das blaue Feuer strahlte jetzt so hell, dass sie blinzeln musste. Die Höhle leuchtete, die Wände glänzten. Der Stein schwitzte, während die Hitze zunahm. Es war, als wären sie im Innern eines Kastens gefangen, den man ins Feuer geworfen hatte.
»Niemand hört mir zu!«, schrie Gnade. Sie rüttelte an Thiemo. »Wach auf! Wach auf!« Ohne Vorwarnung sprang der qumanische Soldat hoch - das Messer in der Hand - und blickte sich um. Im Laufe der vergangenen Monate hatte Heribert die Grundlagen der qumanischen Sprache gelernt. Er sprach ihn an, und der junge Mann nickte knapp, ließ das Messer sinken und kniete sich neben Matto hin, schüttelte ihn. Die kerayitische Heilerin öffnete die Augen und mühte sich mit einem Ächzen auf die Beine. Sie deutete auf das blaue Netz, dessen Helligkeit mittlerweile fast unerträglich war. »Zauberei«, sagte sie in holprigem Wendisch. »Geht jetzt. Rasch.« »Wisst Ihr, wie man hier rauskommt?«, fragte Heribert. »Nein«, sagte Berthold. »Es ist alles verändert. Es war gestern nicht so, als wir hier reingekrochen sind -« »Ich kenne den Weg!«, rief Gnade. »Kümmere dich um sie«, sagte Heribert zu Anna. »Wir wer 53
den Thiemo und Matto tragen müssen, wenn wir sie nicht wecken können.« »Glaubt Ihr wirklich, dass sie etwas weiß?«, fragte Berthold eher ungläubig als verärgert. Er wirkte inzwischen unsicher. »Ich kenne ihn! Ich kenne ihn!« »Habt Ihr einen besseren Vorschlag?«, fragte Heribert sanft. »Ich nicht. Der eine Weg ist so gut wie der andere. Wir sollten uns beeilen.« Ein Donnerschlag ließ die Höhle erzittern, und einer der Stalaktiten löste sich von der Decke, krachte auf den Boden und zersplitterte in tausend Stücke. Eines davon traf Anna an der Wange. Blut lief über ihre Haut. »Edelmann Berthold!« Ein junger Mann, nicht älter als Villams Sohn, kam aus einem Gang getaumelt. Das blendende Netz aus Licht brachte ihn abrupt zum Stehen, und er beschattete seine Augen. Erneut ließ ein Beben die Höhle erzittern. Ein zweiter Stalaktit krachte herunter, und der arme Junge sprang zur Seite und stieß einen Schrei aus, während er die Arme hochriss, um sich zu schützen. Staub und kleine Steine rieselten von der Decke. »Wo sind die anderen?«, fragte Berthold. Auch er war jetzt blass. Auch er sah jetzt verängstigt aus. »Ich kann sie nicht aufwecken!«, sagte der arme Jonas; man konnte sehen, dass er geweint hatte. »Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist!« »Hierher!«, rief Gnade, die zu einem Gang gegenüber dem Tunnel gelaufen war, aus dem Bertholds Kamerad gerade gekommen war. »Ich sagte hierher! Wir müssen uns beeilen! Der Sturm kommt. Er wird uns zermalmen, wenn wir noch hier drin sind!« Sie gab einen knappen Befehl auf Qumanisch, was sowohl Heribert als auch Anna überraschte, die beide nicht gewusst hatten, dass das Mädchen irgendeine andere Sprache als Wendisch beherrschte. Der qumanische Soldat packte Matto unter den Armen und zerrte ihn mit sich.
53 »Komm her!« Aufgeschreckt rannte Anna vor und packte Matto an den Knöcheln, hob ihn hoch, aber nach zehn Schritten war sein schlaffes Gewicht zu viel für sie, und dabei war sie eigentlich nicht schwach. »Helft uns bitte, Edelmann Berthold«, sagte Heribert. »Lasst uns erst diese beiden wegschaffen und dann Eure Kameraden holen.« Berthold zögerte kurz, presste dann den Mund zu einer grimmigen Linie zusammen und lief zu Thiemo. »Er kommt mir vertraut vor«, sagte er und packte ihn unter den Armen. »Jonas, hilf mir.« Die kerayitische Heilerin kam Anna zu Hilfe, nahm Mattos Knöchel, während Anna schließlich Gnade folgte, die bereits den Gang entlang verschwunden war. Der Boden war fugenlos und frei von Schutt, Steinchen oder Erde. Fäden aus Licht durchdrangen den Stein, vollkommen eingewoben in das Labyrinth unter der Erde. Mit jeder Erschütterung, jedem Pulsieren erschienen mehr winzige Risse im Stein. Jeden Augenblick konnte alles bersten und zusammenbrechen. Dies war nicht das Schicksal, das sie erwartet hatte. Die Panik verlieh ihr Flügel, und sie raste hinter Gnade her - und wäre fast in den Tod gestürzt, hätte Gnade nicht rechtzeitig aufgeschrien, so dass Anna stolpernd am Rande eines Abgrunds neben dem Mädchen zum Stehen kam.
Der Gang endete vor einem breiten, tiefen Loch. Es war, als hätte ein Riese einen Speer weit in die Erde gerammt und ihn wieder herausgezogen, so dass nur dieser leere Schacht zurückgeblieben war. Das Netz aus Licht, das das Labyrinth beleuchtete, drang nicht in seine Tiefen vor. Es gab keine Möglichkeit, das Loch zu überwinden, und es schien auch keinen Weg nach unten oder nach oben zu geben. »Sieh nur«, sagte Gnade und deutete auf den gegenüberliegenden Rand. »Da drüben ist ein Sims ... und auch ein Gang.« »Es gibt keine Möglichkeit, ihn zu erreichen, Hoheit«, erwiderte Anna, die völlig außer Atem war und daher kaum spre
54 chen konnte. »Wir müssen zurückgehen und einen anderen Weg suchen.« »Nein, da ist ein Weg!« Gnade rannte zu der Stelle, wo die Wände des Ganges direkt an den riesigen Schacht stießen. Sie streckte die Hand aus, hielt sich fest, und einen Atemzug später kletterte sie bereits an der Wand entlang zur anderen Seite hinüber. Furcht erstickte Annas Stimme. Sie war hilflos, erschreckt, immer noch völlig verwirrt. Sie konnte nach wie vor nicht glauben, dass sie wach war und sich in dieser schrecklichen Lage befand. Oh Gott. Wenn sie nur aufwachen und sich in Gent wiederfinden würde! Die Erde erzitterte, und Anna schrie laut auf, doch Gnade stürzte nicht ab. Sie konnte sich gut festhalten, sie hatte keine Angst, dieses Mädchen. Unmöglich. Sie war schon halb drüben, klammerte sich wie eine Eidechse an die Felswand. »Anna? Anna! Oh Gott!« Heribert trat hinter sie; die anderen folgten ihm in einigem Abstand. »Ich muss ihr hinterher.« Ohne auf seine Antwort zu warten, weil sie dann den Mut verloren hätte, lief Anna zu der Stelle und strich mit der Hand über den Fels, fand mit Leichtigkeit kleine Vorsprünge, um sich festzuhalten. Jemand musste sie aus dem Stein gehauen haben, denn sie waren so praktisch und sinnvoll angebracht, dass sie unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnten. Anna schob sich vorsichtig an der Wand entlang, klug genug, nicht hinunterzusehen. Solange sie nicht nach unten blickte, konnte sie glauben, dass der Boden nur einen Schritt entfernt war. Das machte es leichter, sich am Fels entlangzuhangeln. Das machte es leichter, keine Angst zu haben. »Prinzessin Gnade, kommt zurück!«, rief Heribert. »Nein!« Gnade sprang auf den Sims auf der gegenüberliegenden Seite. In genau diesem Augenblick bebte die Erde erneut. Ein Stein fiel von oben herunter, und Anna schloss die Augen und hielt sich fest, lauschte, aber sie hörte ihn nicht un
54 ten aufkommen. Sie musste inzwischen so heftig atmen, dass sie schon ganz benommen war, und als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass Gnade im Gang verschwunden war. »Kletter weiter, Anna!«, rief Heribert. »Du musst sie zurückholen! Wir können die Bewusstlosen nicht hinübertragen!« Sie hörte die anderen ankommen, hörte ihre erschreckten Rufe und ihre Gespräche, aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, einzelne Worte auszumachen. Sie musste ihren Weg an dieser Felswand entlang finden, immer neue Vorsprünge suchen, um sich mit der Hand festzuhalten oder den Fuß aufzusetzen. Schließlich schwang sie sich auf den Sims, der jetzt einer großen, breiten Fläche ähnelte und einladend und sicher wirkte, obwohl er kaum mehr als eine Armeslänge breit war. Dort stand sie, keuchend und schwitzend und mit einem trockenen Mund, als ein schrecklich lautes Knirschen aus der Tiefe heraufdröhnte. Im Gang hinter Heribert und den anderen wallte eine Staubwolke auf, die ein fürchterlicher Steinschlag irgendwo auf dem Weg, den sie gekommen waren, aufgewirbelt hatte. »Geh, Anna! Geh!«, rief Heribert, ehe die Staubwolke ihn verschlang. Trotz des strahlenden Netzes aus Zauberei konnte sie Thiemo und Matto in dem Dunst nicht sehen. Was sie sah, waren verschwommene Bewegungen - und dann erhaschte sie einen kurzen Blick auf den qumanischen Bogenkasten und die Kopfbedeckung der Kerayitin, hörte Rufe und Schreie, aber sonst nichts. Sonst nichts.
Von irgendwo im dunklen Gang hinter ihr rief Gnade ungeduldig: »Kommt! Kommt! Beeilt euch!« Anna duckte sich, bekam erst ein Gefühl für die Höhe der Decke, nachdem sie sich einmal den Kopf angeschlagen hatte. Es war so dunkel wie in dem Grab. Kein Netz aus Zauberei wob Licht, um ihre Schritte zu lenken. Zweimal stolperte sie und stieß gegen irgendetwas, und beim dritten Mal sank sie auf Hände und Knie und schrie vor Schmerz auf.
55 Eine warme Hand schloss sich um ihre Schulter. »Beeil dich! Wo sind die anderen?« »Sie können nicht auf diese Seite gelangen, Hoheit.« Sie hustete. Der Staub war in ihre Lunge gekrochen. Der Kies hatte ihre Handflächen aufgeschürft. »Sie können Edelmann Thiemo und Matto nicht über den Abgrund schaffen. Wir müssen zurück.« »Ja, ich kann sie nicht zurücklassen!«, rief Gnade wild und drückte Annas Schulter dabei so fest, dass es schmerzte. Sie hätte schwach sein müssen nach ihrer Krankheit, aber das war sie nicht. »Papa hat gesagt, dass man seine Kameraden nie zurücklassen darf. Wir müssen sie retten.« »Ich glaube, es hat einen Steinschlag gegeben.« Anna hustete erneut. »Wir können den Weg nicht zurückgehen, den wir gekommen sind. Oh Gott. Was ist, wenn sie alle tot sind?« Die Erde ächzte und rumpelte unter ihnen, um sie herum, überall. Sie waren in einem Grab gefangen, und es war zu spät, um sich zu retten. Sie würden hier sterben Ein Körper prallte gegen Anna, und sie fiel um, riss Gnade mit zu Boden. »Hoheit!« Anna roch die kerayitische Heilerin, deren besonderer Geruch - eine Mischung aus saurer Milch und unvertrautem Moschus - ihr immer in der Nase kitzelte. Sie nieste. Die anderen reihten sich hinter ihnen auf, gefangen in dem niedrigen Tunnel. Eine Staubwolke wogte an ihnen vorbei, verstopfte den Gang. »Bewegung! Bewegung!«, rief Edelmann Berthold irgendwo in dem Staub. »Es stürzt alles ein.« Anna krabbelte weiter, packte Gnade am Arm und zog sie mit sich. Sie hetzten blind weiter, stolperten, taumelten und schwankten, aber der Gang verlief gerade, es gab keine Biegungen oder Abzweigungen, und schließlich stießen sie auf Steinstufen und stiegen sie hinauf. Als Anna gerade begriff, dass sie trotz ihrer brennenden Augen etwas sehen konnte, kamen sie in eine flache Höhle, die durch einen gewaltigen Erdrutsch ent
55 standen war; es sah aus, als wäre der halbe Berg weggebrochen. Staub wogte und wirbelte um sie herum. Weiter vorn war ein matter, grauer Lichtschimmer zu sehen. Anna kroch zur Höhlenmündung. Nacheinander kamen die anderen zu ihr. Prinzessin Gnade, Edelmann Berthold und sein Kamerad Jonas, die kerayitische Heilerin und als Letztes der junge qumanische Soldat, der Bruder Heribert stützte. Dieser sank auf die Knie und begann heftig und stoßweise zu husten. Sie alle hatten blutige Schrammen und Schnitte. Sie alle waren voller Staub und Dreck. Edelmann Berthold fluchte und murmelte, während Jonas ihn zu beruhigen versuchte. »Sie sind tot! Tot! Ich habe sie verlassen! Oh Gott, ich besitze keinerlei Ehre mehr! Ich bin um mein Leben gerannt. Es wäre besser, ich wäre gestorben -« »Seht nur!«, rief Gnade, und im gleichen Augenblick schrie die kerayitische Heilerin: »Runter!« Sie ließen sich auf den Boden fallen, aber Anna sah trotzdem hin, konnte den Blick einfach nicht abwenden. Sie hatten Ausblick auf ein Tal, das sich zwischen hohen Gipfeln befand. Einst waren die umliegenden Berghänge dicht bewaldet gewesen, aber jetzt waren die Bäume umgestürzt und abgebrochen, als wären sie von einer Riesensense gefällt worden. Eine riesige Kreatur hing in der Luft, füllte den dunstigen Himmel aus. Sie war nur einen kurzen Augenblick zu sehen - ein Aufblitzen von Goldschuppen -, bevor sie mit peitschenden Schwingen hinter den Gipfeln verschwand. In der Ferne polterte eine Lawine aus Schnee und Eis zu Tal. Das Dröhnen hallte nach und nach und nach ... Eine Staubwolke verhüllte den Himmel. Es war dämmrig, aber nicht dunkel; Zwielicht, aber nicht Tag. Hin und wieder zuckten Blitze im Dunst auf - ein geisterhaftes Schimmern, das rasch wieder erlosch. Und auch als das Dröhnen der Lawine verklungen war, hörten sie keinen Donner, der den Blitzen geantwortet hätte. Ein gewaltiges, orangerotes Glühen stieg am Horizont auf. Vielleicht war es der Vorbote der aufgehen
56 den Sonne, aber wenn dem so war, wollte sie diese Sonne überhaupt nicht sehen. »Ist es Tag oder Nacht?«, fragte Anna. Niemand antwortete ihr. Berthold weinte vor Wut und Scham, und sein Kamerad Jonas versuchte vergeblich, ihn zu trösten. Die Kerayitin und der Qumaner hockten geduckt da, bedeckten die Augen und murmelten Gebete in ihrer eigenen Sprache. Heribert versuchte, pfeifend zu atmen. Sogar Gnade stand vor Entsetzen schweigend da. Etwas sehr Schlimmes war geschehen, wie Gnade es vorhergesagt hatte. Während sie ins Tal starrten, begann ein leichter Regen zu fallen; es zischte, wo er auf den Boden fiel. Das war gar kein Regen, sondern heiße Asche, so fein, dass sie wie Regen fiel, aber brannte und zischte, wo sie die Erde berührte. Der Ascheregen verdunkelte den Himmel, bis das orangerote Glühen verblasste und Anna die schneebedeckten Gipfel nicht mehr sehen konnte. Kleine Klumpen Erde rieselten von oben auf sie herab. Ein gewaltiges Gewicht stürzte auf das Dach des Überhangs. Der Aufprall ließ den Berg erzittern, und der Überhang brach zusammen, während ein zweites Krachen einen Schauer aus Erdklumpen und Steinen über sie verteilte. Anna packte Gnades Handgelenk und riss sie aus dem Ascheregen. Sie rannten, stolperten über lockere Erde, rutschten, als der Boden unter ihnen nachgab, husteten, als die Asche in ihren Lungen brannte. Erst als sie auf einem Untergrund standen, der nicht zitterte, drehten sie sich um. Sie hatten Unterschlupf unter einem Hügelgrab gefunden, auf dem eine Steinkrone stand, und sowohl der Hügel als auch die Steine waren eingestürzt. Zwei der großen Menhire standen schräg, waren aber noch nicht umgefallen. Die anderen waren umgestürzt. Einer war auf den Überhang geprallt und hatte ihn zum Einsturz gebracht. »Wir ... müssen ... aus ... diesem ... Regen ... raus ...«, keuchte Berthold.
56 »Wo ist Bruder Heribert?« Gnade riss sich von Anna los und rannte über die rutschige Erde. »Bruder Heribert! Bruder Heribert !« Sie fand einen Arm, der aus der dunklen Erde ragte. Der Rest von ihm war begraben. Rutschend und fluchend kämpften sie sich über den unsicheren Boden und gruben ihn mit bloßen Händen aus, zogen ihn auf festen Boden. Sein Körper war schlaff. Er hatte bereits aufgehört zu atmen. Die Erde hatte ihn erstickt. Gnade heulte vor Wut auf. »Nein! Nein!« Sie warf sich neben ihm zu Boden. »Du bist nicht tot! Ich erlaube es nicht!« Eine Benommenheit bemächtigte sich Annas. Sie spürte auf einmal nicht mehr, dass sie hier war und bis zu den Knien in Erde, Wurzeln, krabbelnden Wesen und widerlicher, heißer Asche steckte, sondern sah sich und die anderen wie aus weiter Ferne. Thiemo und Matto waren verloren. Es gab eigentlich keine Möglichkeit, dass sie den Einsturz in den Tunneln überlebt hatten, und selbst wenn sie auf wundersame Weise verschont worden waren, konnten sie nicht ins Freie klettern, denn die Steinkrone war zerstört - und damit auch ihr Pfad in die äußere Welt. Was sie und die Übrigen betraf, hatten sie ohne es zu wissen eine große Entfernung zurückgelegt. Sie konnten überall sein. Und zu jeder Zeit, wenn das, was Hathui und die anderen gesagt hatten, stimmte. Wenn die Zeit innerhalb der Steinkronen sowohl rasch als auch langsam verstrich. Keuchend und weinend standen sie inmitten der trostlosen Umgebung. Der Ascheschleier machte es unmöglich, den Himmel oder die Berge oder überhaupt irgendetwas zu erkennen. Es wurde kalt. Eine Windböe strich seufzend über sie hinweg. Sie kam von oben, von den Gipfeln, die sie nicht sehen konnten. Ein schimmerndes Licht blitzte um sie herum auf. Eine Brise kräuselte sich um Annas Schultern, bevor sie sich -eine Staubfahne hinter sich herziehend - genau auf Gnade zu
56 bewegte, die noch immer neben Heribert hockte und schluchzte und mit den Fäusten auf seine Brust eintrommelte. Die anderen waren zu benommen und überwältigt, um sich zu rühren. Einen Augenblick dachte Anna, ein Lichtschimmer würde das schlaffe Gesicht des Fraters erhellen, würde über ihn hinwegströmen wie Wasser über die Steine in einem Bach. Gnade kreischte auf und kroch rückwärts. Heribert zuckte. Seine Augen öffneten sich. Er setzte sich auf,
beugte sich nach vorn und hustete, spuckte Erde aus. Er wischte sich Schmutz aus dem Gesicht und schüttelte ihn dann verwundert von den Händen. »Wo bin ich?«, fragte er heiser. »Wo ist er hin-derjenige, auf den ich gewartet habe ? Seine Hülle ist hier, aber er ist verloren.« Sie starrten ihn an. »Ihr wart tot«, sagte Jonas. »War ich das?«, fragte er. Er zog die Beine an den Körper, rutschte einmal aus, und dann schoss Gnade zu ihm und half ihm beim Aufstehen. »Ich habe gesagt, dass du nicht sterben darfst! Das habe ich! Das habe ich! Du bist nicht tot! Oder?« Er bedeckte die Augen mit einer Hand. Gnade klammerte sich an seinen anderen Arm, wischte das schmutzige Gesicht an seinem zerrissenen Ärmel ab. »Die anderen sind tot«, sagte Berthold plötzlich. »Oh Gott.« »Ihr hättet nichts dagegen tun können«, erwiderte Jonas verzweifelt. Berthold schüttelte den Kopf. »Ich weiß!«, sagte er verbittert, deutete auf die umgestürzten Steine und den eingesunkenen Berg. »Es lag in Gottes Händen, nicht in unseren. Wir werden sterben, wenn wir hierbleiben. Meine Lunge tut weh. Es gibt nichts zu trinken. Diese Asche bedeckt alles. Ich kann nicht erkennen, ob es Tag, Abend oder Morgen ist. Ich weiß nicht, wo wir sind, aber wir müssen dieses Tal verlassen und einen sicheren Ort suchen.« Bruder Heribert drehte sich um, immer noch unbeholfen;
57 anscheinend hatte er seine Gliedmaßen noch nicht wieder vollständig unter Kontrolle. Er starrte Berthold eine Weile an, als versuchte er herauszufinden, was die Worte bedeuten mochten. Anna war noch zu benommen, um etwas sagen zu können, aber ihr fiel auf, wie überaus blau seine Augen waren - bemerkenswert blau in seinem blassen, schmutzigen Gesicht. Vorher waren ihr seine Augen nie aufgefallen. »Ich weiß, wie wir dieses Tal verlassen können«, sagte er. Seine Stimme klang immer noch heiser, irgendwie gar nicht wie die von Bruder Heribert. »Folgt mir.«
2 Ivar hatte noch nie einen solchen Regen erlebt wie den, der sie jetzt förmlich ertränkte. Sobald er den Kopf hob, bekam er keine Luft mehr. Er und Erkanwulf kauerten unter den Ästen einer Eiche in dem großen Wald, der Bretwald genannt wurde, während der Sturm den Pfad erst in Matsch und dann in einen Sturzbach aus schäumendem Wasser verwandelte. Sie konnten nirgendwo Schutz suchen, konnten niemanden um Hilfe bitten und hatten große Mühe, ihre Pferde daran zu hindern, einfach davonzulaufen. »Sieh nur!«, rief Erkanwulf und deutete zitternd mit dem Finger auf etwas. Draußen im Wald waren schwankende Lichter zu sehen, die sich zwischen den kaum zu erkennenden Bäumen hindurchschlängelten. Der junge Soldat machte einen Schritt nach vorn, wollte ihnen etwas zurufen, aber Ivar hielt ihn am Umhang fest und riss ihn zurück, so dass er gegen den Baum prallte. »Still, du Idiot! Bei diesem Regen gibt es kein natürliches Feuer! Hast du schon vergessen, wer uns angegriffen hat?« »Oh Gott! Die Verlorenen! Das ist unser Ende!« »Still!«
57 Es war zu spät. Die Lichter bewegten sich bereits in ihre Richtung. »Komm mit!« Ivar stürzte auf den Pfad hinaus und wurde hart zurückgerissen, als sein Pferd sich weigerte, sich von der Stelle zu bewegen. Er packte die Zügel mit beiden Händen und riss, zerrte und fluchte, aber das Pferd gewann das Kräftemessen, weigerte sich, den Schutz des Baumes zu verlassen. »Was tun wir jetzt?«, keuchte Erkanwulf. »Wir lassen die Pferde zurück.«
»Das können wir nicht!« »Willst du lieber sterben?« Die Lichter woben ein neues Muster, kamen weit gefächert auf ihre Beute zu, und dann hörte Ivar einen Ruf - einen sehr menschlichen Ruf - und dann ein so schreckliches und eigenartiges und unmenschliches Geräusch, wie er es nie zuvor gehört hatte. »Was war das?«, flüsterte Erkanwulf. Der gewaltige Schrei eines Tieres rollte über sie hinweg. Das Geräusch ließ Ivars Herz erstarren, während Erkanwulfs Pferd sich aufbäumte, zur Seite rutschte und Erkanwulf mit sich den Hang hinunterzog. Der Sturm traf sie so heftig und unerwartet, dass Ivar umgeweht wurde. Nur die störrische Weigerung seines Pferdes, sich zu bewegen, bewahrte ihn davor, von dem schäumenden Bach mitgerissen zu werden, zu dem der Pfad geworden war. Eine Windböe fuhr peitschend durch den Wald, und überall barsten Bäume. Stämme krachten zu Boden wie Riesen, die auf die Erde fielen. Der Lärm hämmerte auf ihn ein, erzeugte unaufhörlich Echos, während er unter der Eiche kniete. Er konnte nur noch beten. Abgerissene Äste flogen umher. Blätter peitschten ihm ins Gesicht. Ein Krachen zersplitterte den heulenden Wind. Ein riesiger Ast brach von der Eiche ab und krachte donnernd zu Boden, traf Erkanwulfs Pferd am Kopf. Das Tier fiel wie vom Blitz getroffen um. Erkanwulf rutschte in den Matsch, als die Zügel
58 sich anspannten, und gelangte irgendwie unter die Schulter des Pferdes, als der Boden nachgab. Ivar kroch zu ihm, aber weil es so matschig und der Boden abschüssig war und weil überall Zweige und Blätter herumlagen, konnte er das Pferd nicht bewegen. Das Tier war tot, musste auf der Stelle tot gewesen sein. Die Sturmböe zog donnernd an ihnen vorbei und verwehte, obwohl die Baumwipfel immer noch zitterten und hin und her wippten. Aber es war doch kein Tier gewesen, nur ein unnatürlich starker Sturmwind. Der Regen ließ etwas nach. »Ah!« Erkanwulf brachte so etwas wie ein Grinsen zustande; sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum mehr als ein Schmutzfleck. »Es tut weh!« »Verdammt. Verdammt.« Ivar hatte das Gefühl, als würde jeder, der mit ihm reiste, schon nach kurzer Zeit in große Schwierigkeiten geraten. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte Erkanwulf mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich hatte einen Vetter, der in einem Sturm von einem herabfallenden Ast getötet wurde. Ah! Uh! Warte einen Augenblick!« Ivar erhob sich, wischte sich über die Stirn und versuchte seine Sicht zu klären. Seine Haare waren vollkommen nass. Seine Beinkleider tropften und rutschten, als sich die Stoffstreifen von der Haut lösten, und als er um den Baum herumging und in die Dunkelheit blinzelte, machten seine Stiefel bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch. Die Lichter waren keine zwanzig Schritt mehr von ihm entfernt. Er schrie auf, so überrascht war er, und drückte den Ring an die Lippen, den Baldwin ihm gegeben hatte. Er betete. »Wer seid Ihr?«, rief eine Stimme aus der Dunkelheit. Sie sprach Wendisch. »Ich bin nur ein Bote. Niemand, der irgendjemandem Schaden zufügt. Mein Kamerad ist verletzt. Ich glaube, sein Pferd ist tot. Ich kann es nicht wegziehen. Bitte, helft uns oder lasst uns in Ruhe.«
58 Die Lichter kamen wie argwöhnische Hunde näher, entpuppten sich dann als Laternen, die durch Bronzekappen und Seitenteile aus blasigem Glas vor dem Regen geschützt waren. Die Flammen tänzelten wild. Verhüllte Gestalten trugen die Laternen. Es waren vier, aber es war unmöglich zu erkennen, ob es Menschen oder Schatten waren, denn sie hatten die Umhänge eng um sich gezogen. Seltsamerweise gingen sie alle barfuß. »Habt Ihr Waffen?«, fragte der Anführer. »Legt sie bitte ab. Wir wollen Euch nichts tun. Wir sind keine Banditen wie diejenigen, die wir suchen.« »Ich kann nicht allein gegen vier kämpfen!«
»Wenn Ihr Eure Waffen nicht ablegt, werden wir Euch zwar in Ruhe lassen, aber wir werden auch Eurem Kameraden nicht helfen.« Eine Pause trat ein, als der Sprecher seine Laterne höher hob, um sich Erkanwulf und die beiden Pferde anzusehen, von denen eines auf dem Boden lag und das andere mit erhobenem Kopf dastand. Erkanwulf war entweder ohnmächtig geworden oder tat zumindest so. »Gute Pferde. Schade. Aber wenn es tot ist oder sich ein Bein gebrochen hat, gibt das immer noch einen guten Eintopf.« »Wer seid ihr?« Ivar wagte es nicht, den Banditen seine kostbaren Waffen zu übergeben. »Wir sind König Henrys Männer. Wir haben vor einigen Jahren den Auftrag bekommen, diese Straße durch den Bretwald frei zu halten. Er hat uns von jedem Dienst gegenüber einem Herrn oder einer Herrin entbunden. Wir haben unser Wort gehalten. Deshalb jagen wir Banditen. Letzten Monat hat es ein Problem gegeben. Ehrliche Leute wurden angegriffen. Es ist keine gute Zeit zum Reisen.« »He, Martin«, unterbrach ihn eine Kameradin. »Und es ist noch schlimmer, bei diesem Regen und Sturm draußen zu sein, du Narr! Was ist, wenn die Windböe zurückkommt und uns ebenso tötet wie dieses Pferd? Der Regen und der Sturm sind schlimm genug, aber das eben kam direkt aus dem Abgrund! *59 Ich bleibe nicht länger hier draußen! Denn diese beiden können wohl kaum die Bande von Banditen sein, die die Wagen der Kaufleute überfallen hat, oder?« Die Frau stellte ihre Laterne mit einem angewiderten Schnauben auf den Boden, ging dann zum Kopf des gestürzten Pferdes, kniete neben ihm nieder und schob ein Augenlid zurück. »Es ist tot. Ihr da!« Sie gestikulierte ungeduldig in Ivars Richtung. »Kommt her und helft mir, Euren Freund zu befreien.« Sie war stark. Zusammen hoben sie die Schultern des Pferdes weit genug an, dass Erkanwulf sich befreien konnte. Als ihre Kapuze zurückrutschte, sah Ivar, dass sie jung war. In ihrem Gesicht waren alte Narben, die sie sich in einer Schlacht oder bei einem Brand zugezogen haben musste. »Uhh!«, rief Erkanwulf, doch er konnte auf dem rechten Bein stehen, obwohl er blaue Flecken hatte und große Schmerzen litt. Er bewegte vorsichtig die Gelenke im linken Bein -Hüfte, Knie und Fuß -, obwohl sein Knöchel so sehr schmerzte, dass er auf diesem Bein nicht stehen konnte. Der abschüssige Grund hatte verhindert, dass das ganze Gewicht des Pferdes auf ihm gelastet hatte, und die dichte Schicht aus Laub und Dreck hatte wie ein Polster gewirkt, so dass er sich nichts gebrochen hatte. Das Pferd jedoch war ziemlich tot. »Wenn wir es hierlassen, werden die Wölfe es fressen, bevor wir zurückkehren können, um es zu zerteilen«, sagte der Mann namens Martin. »Es hat einigen Wert, dieses Pferd.« »Es ist mein Pferd!«, sagte Erkanwulf. »Ich habe es von Prinzessin Theophanus Verwalterin erhalten!« Martin hatte das selbstbewusste Auftreten eines jungen Mannes, der daran gewöhnt war, tagtäglich etwas zu tun, in dem er gut war. »Die Verwalterin einer Prinzessin, ja? Ist sie eines von König Henrys Kindern ? Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern. Wir werden Euch bei uns unterbringen, bis es Eurem Bein besser geht, und bieten Euch einen gerechten
59 Tausch für das an, was wir von dem Pferd nehmen. Wir können Pferdehaar gebrauchen. Niemand im Dorf besitzt ein Pferd. Die Innereien werden schlecht werden, wenn sie nicht sofort verarbeitet werden. Und die Wölfe werden sich ohnehin alles holen, wenn wir uns nicht beeilen. Wir werden es erst zerlegen und dann aufhängen müssen.« Obwohl auch er nicht älter als Ivar war, verhielt er sich wie ein Anführer, deutete auf seine beiden anderen Kameraden. »Bruno, du nimmst den Verwundeten. Leg ihn auf das Pferd und bring ihn ins Dorf. Sag Nan, dass wir kommen, und dann kehrst du zurück und bringst Säcke oder Netze mit - was immer du finden kannst. Nimm den Karren. Ich bin sicher, Ulf und Balt werden dir helfen.« »Es gefällt mir nicht, von meinem Kameraden getrennt zu werden«, sagte Ivar.
Martin zuckte mit den Schultern. Die Geste war nicht bedrohlich, nur ein Hinweis auf die Wirklichkeit. Im Licht der Laterne, das auf sein Gesicht fiel, war gut zu erkennen, dass er gesund war und klare Augen hatte, und er hatte eine Art, Ivar zu mustern, die ihn fast grinsen ließ, obwohl er nicht sicher war, wieso. »Wir brauchen hier Eure Hilfe. Zwei müssen die Laternen halten und auf die Wölfe achtgeben, und zwei müssen das Pferd zerlegen. Das werden Uta und ich tun, es sei denn, Ihr seid geschickt in so etwas.« »Ich kann besser mit dem Schwert umgehen.« »Das dachte ich mir«, erwiderte Martin. »Deshalb sind wir so vorsichtig näher gekommen. Ihr stammt aus einem edlen Geschlecht, wette ich, aber ich glaube, dieser Bursche hier nicht.« »Ah!«, fluchte Erkanwulf, der aus Versehen den linken Fuß belastet hatte. »Oh! Das tut weh!« Ivars Pferd musste zur Seite geführt und beruhigt werden, und als es bereit war, wurde Erkanwulf in den Sattel gehievt. Bruno scheute davor zurück, das Pferd zu führen. »Es ist so groß! Was ist, wenn es auf mich tritt?«
60 »Ich kann diesen Burschen ganz gut allein reiten«, sagte Erkanwulf zu Ivar, obwohl er offensichtlich große Schmerzen litt. »Er und ich kommen gut miteinander aus. Gehen wir also, bitte.« Bruno ging voraus, und seine Laterne schwankte im Regen und in der Dunkelheit hin und her. »Habt Ihr gar keine Angst, dass sie von Banditen angegriffen werden könnten?«, fragte Ivar, als sie in der stürmischen Nacht verschwunden waren. »Nicht in dieser Richtung. Die Schwierigkeiten hat es in dem Gebiet östlich von hier gegeben. Wie auch immer, ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll. So einen Sturm wie diesen habe ich noch nie erlebt. Er ist nicht natürlich. Nur ein Narr würde bei so einem Wetter draußen bleiben.« Ivar lachte, und Martin grinste, reichte ihm die Laterne. Der Vierte in ihrer Gruppe war ein stummer Bursche, den Uta und Martin niemals mit Namen anredeten. Während Ivar die Laterne so ruhig wie möglich hielt, machten die anderen sich an die Arbeit, wobei der stumme Bursche ihnen zeitweise half und dann wieder die Laterne hochhielt. »Glaubst du, wir können es aufhängen?«, fragte Uta. »Ich traue diesen Asten nicht«, sagte Martin, während er zu der raschelnden Masse aus Eichenästen hochblickte. Der Wind war immer noch beständig und stark, und der Regen prasselte unaufhörlich weiter herab. »Können wir es auf den Rücken drehen?« Am Ende benutzten sie ein Stück Seil, um die Hinterbeine zusammenzubinden. Uta durchtrennte das Fell vom After bis zur Kehle und an den Innenseiten der Beine, machte einen kreisförmigen Schnitt um die Fesseln, alles mit überraschender Schnelligkeit und Sanftheit. Es traten keine Gedärme aus. Mit Martins Hilfe zog sie das Fell ab und beendete den Schnitt im Nacken. Der namenlose Junge stellte seine Laterne ab und rollte das blutige Fell zusammen, so dass es leichter zu tragen sein würde.
60 »Da!«, sagte Uta und deutete mit dem tropfenden Messer den Weg entlang. Drei Laternen näherten sich, entpuppten sich als Bruno und drei Männer, von denen einer einen Handkarren zog, einer zwei mit Zeltstoff ausgeschlagene Körbe trug und der dritte ein Netz und eine Handsäge schleppte. »Was für Schäden gibt es im Dorf?«, fragte Martin. »Das Dach der neuen Webhütte wurde weggerissen«, sagte einer der älteren Männer, »aber alles andere hat gehalten. Dennoch wird sich bei Tageslicht zeigen, dass es das Werk des Feindes war.« Sie sahen Ivar an, als würden sie denken, dass er mit der Zerstörung zu tun hatte, dann machten sie sich an die Arbeit. Blut vermischte sich auf dem Boden mit dem Regen. Der strenge Geruch von Gedärmen, die durch einen tieferen Schnitt freigelegt worden waren, durchdrang die kühle Nachtluft und überlagerte den Geruch des Regens, als sie sie in einen der Körbe packten. Dann folgten die kostbaren Innereien. Sie arbeiteten rasch, während der Regen weiter fiel, zerteilten das Pferd in handhabbare Stücke.
»Ich bin froh, hier wegzukommen«, sagte Martin, als sie alles aufgeladen hatten. Sie ließen nichts zurück. Sie stapften auf eine seltsam fröhliche Weise dahin, obwohl es so kalt und unwirtlich war. Ivar konnte nicht reden, er war zu müde. Die anderen lachten und machten Witze, während sie durch den nassen Wald platschten, immer wieder im Matsch stecken blieben, fluchten, die Räder zum dritten Mal ausgruben, stolperten und einmal sogar die Nieren verloren, als dem namenlosen Jungen seine Seite des Korbes aus der Hand rutschte. Aber Uta tastete im Unterholz herum und fand sie beide, noch immer feucht glänzend, noch immer warm. Der Kadaver dampfte in der kalten Luft, seine Seele stieg hinauf, sofern Pferde eine Seele besaßen. Hatten die Gelehrten in Quedlingham jemals eine solche Frage erörtert? Ivar konnte sich nicht erinnern. Sein altes Leben schien unglaublich weit
61 weg zu sein. Alles, was er jetzt wusste, war, dass seine Füße taub waren und seine Nase lief und unermesslich viele Äste und Zweige herumlagen, wie im Licht der Laternen zu erkennen war, obwohl glücklicherweise kein großer Stamm auf die Straße gefallen war. Ein Dutzend Leute warteten am Tor einer Palisade, die in der dunklen Nacht kaum zu sehen war. In ihrem Schutz duckten sich ein paar Gebäude, aber es war zu dunkel, um mehr zu erkennen als Schatten, die sich auf einer Lichtung verteilten. Ivar wurde in die gesegnete Wärme einer Langhalle gedrängt, während seine Begleiter den Kadaver irgendwo hinbrachten, wo er aufgehängt werden konnte. Erkanwulf saß auf Fellen an einem Herdfeuer und sprach mit einem Kind, das offensichtlich nicht schlafen konnte und neben ihm hockte. »Mama!« Das Kind rief nach der Frau, die Ivar vom Tor aus mitgenommen hatte. Sie schob die Kapuze zurück und enthüllte ein Gesicht, das gut aussah, aber nicht wirklich hübsch war. Ein Säugling hing in einer Schlinge vor ihrer Brust. »Er sagt, dass er in Gent gewesen ist! So wie Papa!« »Ihr seid aus Gent?«, fragte die Frau überrascht. »Nein«, erwiderte Erkanwulf. »Ich bin nur einmal dort gewesen, als es eine große Schlacht gegeben hat. Aber das ist Jahre her. Damals war ich noch ein junger Bursche.« »Mein Mann ist ein Flüchtling aus Gent. Vielleicht ist er nach dieser großen Schlacht geflohen, von der Ihr sprecht. Die mit den Drachen.« »Sie sind alle gestorben!«, rief das Kind fröhlich. »Alle Drachen! Bis auf einen, das war der Hauptmann. Nichts kann ihn töten! Er ist ein großer Krieger, der beste, den es jemals gegeben hat.« Ivar fror zu sehr, und er war viel zu nass, als dass sich bei der Erwähnung von Prinz Sanglant, jenem edelsten und anziehendsten Wesen, auch nur ein schwelendes Feuer in seinem Innern entwickelte. Es schien einfach nicht wichtig zu sein. Erkanwulf lächelte das Kind an und nickte dann Ivar zu. »Du
61 siehst schlimm aus, Bruder«, sagte er und reckte spöttisch das Kinn in Ivars Richtung. Die Frau blieb abrupt stehen, drehte sich um und starrte Ivar mit offenem Mund an. Sie hatte noch alle Zähne und gute, klare und gesunde Augen. Als sie ihn am Ellbogen packte, war ihr Griff unangenehm hart. »Ihr seid ein Kirchenmann? Seit Jahren ist keine Diakonissin mehr hier gewesen, nicht einmal ein Frater. Wir würden gern -« Lachend betraten Martin und Bruno die Halle, blieben am Eingang stehen und zogen die Stiefel aus. »Martin!«, rief sie. Martin blickte beim Klang ihrer Stimme auf und grinste sie an. Ivar spürte, dass sie eine Fröhlichkeit verband, die wie der Duft der ersten Frühlingsblumen war, der selbst diese feuchte und stinkende Winterhalle durchdrang. Die Halle hatte den Sturm überstanden; die Fröhlichkeit in ihren Blicken hatte den Stürmen des Lebens widerstanden. »Einer von ihnen ist ein Geistlicher! Vielleicht kann er uns Gottes Segen für unsere Eheschließung geben.« »Sicher haben wir Gottes Segen bereits erhalten«, sagte Martin, während das Kind zu ihm rannte und in seine Arme sprang.
»Schsch!« Sie machte ein Zeichen mit den Händen und spuckte aus, blickte dann peinlich berührt drein. »Ich bitte um Vergebung, Bruder. Alte Angewohnheiten wird man schlecht los. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Aber etwas auszusprechen, das den bösen Blick anziehen könnte, bedeutet Unglück. Würdet Ihr es tun? Wir können Euch nichts bieten als einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen und zu trinken, bis Euer Kamerad wieder gesund ist und Ihr weiterziehen könnt. Und dieser unnatürliche Regen aufhört. Könnt Ihr Gottes Segen über uns sprechen? Wir sind seit sechs oder sieben Sommern verheiratet, aber niemals wurde Gottes Segen über uns gesprochen.« Das kann ich nicht. Aber als sie ihn mit großen Augen und einem hoffnungsvol le len Lächeln anstarrte, konnte er nicht nein sagen. Er wusste die Worte nicht. Er hatte das meiste vergessen und ohnehin nur wenig gelernt. Er hatte nicht aufgepasst, weil er es nicht gewollt hatte. Er hatte alles andere gewollt. Alles außerhalb seiner Reichweite hatte so strahlend und verlockend gewirkt wie der vollkommene Apfel an einem unmöglich zu erreichenden Zweig. »Ich werde Gottes Segen über Euch sprechen«, sagte er. »Morgen.« Ah! Sie war so glücklich. Die anderen kamen herein, zogen sich im Licht der Laternen bis auf die Unterwäsche aus und machten es sich dann auf den Pritschen und Absätzen unter den Dachvorsprüngen bequem, um dort zu schlafen - alle wegen der Wärme ganz eng nebeneinander. Ivar bekam einen Ehrenplatz dicht beim Herd neben Erkanwulf und dem kleinen Jungen, der eine Vorliebe für den Reiter entwickelt hatte, aber obwohl er die Augen schloss, konnte er nicht schlafen. Nach einer Weile rührte sich Erkanwulf. »Ich habe dich in all der Zeit nicht ein einziges Mal einen Segen sprechen hören. Du bist nur ein Ketzer, kein richtiger Kirchenmann, nicht wahr?« »Würde es denn irgendwelchen Schaden anrichten?«, murmelte Ivar. »Ich bin als Novize in Quedlingham gewesen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ein Frater oder eine Geistliche hierherkommt. Abgesehen davon haben sie uns einen großen Dienst erwiesen.« Erkanwulf grunzte leise. »Ich vermute, es wird keinen Schaden anrichten. Aber es ist seltsam. Der eine, der Martin heißt, ist vor vielen Jahren aus Gent gekommen. Er war als Junge dort und hat sich hier niedergelassen und ein Mädchen von hier geheiratet. Der Junge da ist ihr Sohn.« Das Kind schnarchte leise auf der anderen Seite von Erkanwulf. »Der kleine Kerl hat noch nie etwas von Autun oder Edelfrau Sabella oder Bischöfin Constanze gehört, aber er weiß alles über Gent und die Straßen im Osten.« Seine Stimme wurde rau, möglicherweise, weil sein Bein schmerzte. »Was sollen wir tun? Wir haben jetzt nur noch
62 ein einziges Pferd. Du weißt so gut wie ich, dass wir nichts als leere Versprechen für Bischöfin Constanze haben.« »Ich muss nachdenken. Es geht etwas Seltsames in der Welt vor, findest du nicht? Dieser Wind ... er hat wie der Schrei einer lebendigen Seele geklungen. Ich musste an einen Vers aus dem Heiligen Buch denken, aber ich weiß nicht, ob ich mich richtig erinnere, etwas über brodelnde Meere und Stürme, die die Bäume fällen.« Erkanwulf schnaubte. »Jede Diakonissin und jeder Frater, denen ich begegnet bin, hat ein besseres Gedächtnis als du, Edelmann Ivar, höchst edler Geistlicher.« Es lag Spott in seinen Worten, aber er traf Ivar nicht. Erkanwulf liebte es, ihn aufzuziehen. Ein Jahr zuvor, einen Monat zuvor, hätte Ivar sich darüber aufgeregt, es hätte in ihm gegärt und er hätte die Worte immer wieder herumgewälzt, aber nicht jetzt. »Die Verse haben ganz eindeutig vom Ende der Welt gesprochen«, sagte er stattdessen. »Ich habe das Gefühl, dass wir von einem schrecklichen, großen Schwert berührt worden sind, das von Gott geschwungen wurde oder von Menschen, die nicht das fürchten, was sie fürchten sollten. Hast du jemals Bäume so umstürzen sehen? Wie Stöckchen, die von einem Jungen umgetreten werden!« »Nein, das habe ich nicht. Noch nie im Leben - und ich habe in so mancher Winternacht in einem Wald gestanden, während der Wind geheult hat. Ich hatte so große Angst, dass ich mir fast in die Hose gemacht hätte.«
Regen trommelte auf das Strohdach der Halle, gleichmäßig und unheilvoll. »Ja«, sagte Ivar. »Es war nicht natürlich. Genau wie diese Schatten, die wir vorher gesehen haben. Wir müssen die Augen offen halten und zum Handeln bereit sein. Wir müssen auf jeden Fall zu Bischöfin Constanze zurückkehren. Und zwar schnell, sobald das Wetter besser wird.« Aber am nächsten Morgen regnete es. Am Nachmittag reg
63 nete es. Die ganze nächste Nacht regnete es. Fünf Tage regnete es ohne Unterlass. Die Dorfbewohner hielten sich mit Arbeiten in der Langhalle und dem Gewirr aus Hütten und Scheunen beschäftigt, die im Innern ihrer Palisade aus Baumstämmen standen. Sie aßen die Innereien des Pferdes in einer Reihe von Suppen, wodurch sie länger reichten und die etwa zwei Dutzend Dorfbewohner mehrere Tage ernährten. Jeden Abend, wenn das Licht verblich, versammelten sie sich um das Herdfeuer und forderten Erkanwulf auf, die Geschichte von Gent zu erzählen, oder Ivar musste sie mit der Geschichte des unglückseligen Feldzugs gen Osten - in die Marklande unterhalten, der unter dem Befehl von Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan von Ungria stattgefunden hatte. »Bitte, Bruder, seht Euch das einmal an«, sagte Martin spät am sechsten Tag, nachdem er von draußen hereingekommen war. Er stank nach Rauch, denn er hatte das Pferdefleisch geräuchert. Jetzt kramte er in einer Kiste herum, zog ein mit einem Lederband zusammengebundenes Pergament hervor und rollte es auf dem Tisch aus. Die Leute versammelten sich darum, starrten flüsternd die Schriftzeichen an, denn niemand von ihnen konnte lesen. »Dies ist unser Auftrag! Vom König persönlich, mögen Gott ihn und seine Familie segnen. Seht Ihr das Siegel hier?« Er berührte ehrfurchtsvoll das Wachssiegel. »Wir haben es nur einmal vorgelesen bekommen, von diesem Adler, der hier durchgeritten ist. Eine Frau mit dunklem Gesicht. Sie musste es mitnehmen, damit das Siegel des Königs darauf gesetzt werden konnte. Ein anderer Adler, ein rothaariger wie Ihr, ist ein Jahr später hierhergeritten und hat es uns zurückgebracht. Aber er konnte nicht lesen. Könnt Ihr es für uns lesen, damit wir es noch einmal hören?« Wie sie ihn alle mit hoffnungsvollen Mienen anstarrten! Sie waren ein entschlossenes Grüppchen, gesünder als viele andere, denn der Wald gab ihnen so viel. Nur Korn und Salz mussten sie, wie sie sagten, kaufen. Doch selbst in mageren Jahren konnten sie mit wenig Korn auskommen. Sie hatten keine
63 Pferde, aber drei Milchkühe. Sie hatten Futter für ihre Ziegen und Schafe, und im Wald gab es außerdem Pflanzen und Knollen, die Menschen in schweren Zeiten essen konnten, wenn sie auch nicht sehr schmackhaft waren. Sie aßen häufig Fleisch, und sie waren stolz darauf. Sie wussten, dass es jenen, die jenseits des Waldes lebten, nicht so gutging. Ivar beugte sich über das Pergament. Das Licht der Laterne ließ die Buchstaben zittern. Er hatte nie besonders gut gelesen oder es gemocht, aber die Monate in Königinnengruft und die unablässige Beaufsichtigung durch Bischöfin Constanze hatten ihn gezwungen, sich mit Dariyanisch zu beschäftigen, der Sprache, die sowohl von der Kirche als auch der Gelehrtenschule des Königs für alle Dekrete und Verträge benutzt wurde. Sie warteten so ruhig, dass das Geräusch des draußen von den Dachvorsprüngen tropfenden Regens ihn ganz nervös machte. Er rechnete damit, dass der Regen wieder stärker werden würde. Glücklicherweise war es kein langes Dokument. Er stolperte durch den Text, ohne sich vollkommen zu blamieren. König Henrys Versprechen war deutlich: Die Waldbewohner waren von jedem Dienst gegenüber einem Herrn oder einer Herrin befreit, solange sie die Königsstraße für ihn, seine Bediensteten, seine Boten und Heere passierbar hielten. »Der Adler konnte besser lesen«, murmelte Martins Frau ihrem Mann zu und errötete, als Ivar sie ansah. »Adler können nicht lesen«, sagte er. »Sie lernen die Worte auswendig und wiederholen sie. Das wird sie getan haben.« »Nein, sie hat richtig gelesen«, erwiderte einer der älteren Männer. »Ich erinnere mich sehr gut. Sie hat jedes Wort berührt, während sie gesprochen hat. Wie hätte sie das tun können, wenn sie nicht
wusste, welches sie sprach? Ein seltsam aussehendes Mädchen, nicht älter als meine Baltia hier.« Er legte die Hand auf den Kopf eines Mädchens von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren. »Ich weiß nicht, ob ich sie hübsch nennen würde, aber sie war gewiss ein Blickfang.«
H64 »Sie war auch in Gent«, sagte Martin. »Sie war diejenige, die uns gerettet hat - die von uns, die entkommen konnten.« »Ich weiß, wen Ihr meint!«, rief Erkanwulf, der immer noch auf der Bank neben dem Herdfeuer saß. »Wir sind mit ihr geritten, Hauptmann Ulrics Gruppe aus Autun, meine ich. Sie ist mit Graf Lavastins Heer geritten, aber sie war ein Adler des Königs. Ich wette, es war dieselbe.« Ivar setzte sich hin und rang die Hände. Er schloss die Augen, und sofort machten sie sich um ihn herum zu schaffen. Martins Frau Flora brachte ihm Bier, damit er seinen Kopf klären konnte. »Ich werde nie frei von ihr sein.« Er hatte es nicht laut sagen wollen. Er lachte, als er sah, wie sie ihn anstarrten. Erkanwulf blickte skeptisch drein. Martin sah verwirrt aus. Flora hatte den Mund leicht geöffnet, und ihr Blick war sanft, als hätte sie es die ganze Zeit vermutet. Sie berührte ihren jungen Mann an der Schulter, und er sah sie an, las etwas in ihrem Blick - Worte waren nicht die einzigen Zeichen, die man lesen konnte! -, rollte das Pergament zusammen und stopfte es wieder in die Kiste zu dem anderen kostbaren Gut der Gemeinschaft. »Ihr habt gesagt, dass Ihr uns Euren Segen geben würdet, Edelmann Ivar«, sagte Martin. »Werdet Ihr das tun?« »Ja, das werde ich.« Er erhob sich. Alte Erinnerungen tauchten auf. Sie waren wie ein Gestank, den er niemals loswerden würde. Liath war nie sein gewesen, und sie hätte ihn niemals erwählt. Sie war gewiss ein Blickfang. Er war nicht der einzige Mann, der das dachte. Aber es spielte keine Rolle mehr. Die Welt hatte sich auf eine Weise verändert, die er noch nicht verstand. »Stellt Euch bitte vor das Herdfeuer und gebt Euch die Hände«, sagte er zu Martin und Flora. Er hatte nie eine Hochzeit gewöhnlicher Leute erlebt. Sie wurde nur selten von einer Diakonissin durchgeführt, da das Gesetz von Bett und Tisch eine Ehe begründete. Er suchte nach den Versen, in denen Gottes Segen für die Fruchtbarkeit zum Ausdruck kam, die Hochzeit
64 der Kirche und der Menschheit als Braut und Bräutigam angesprochen wurde, die Notwendigkeit betont wurde, am Glauben festzuhalten. »Lasset uns beten, um gesunde Jahreszeiten, um eine Fülle von Früchten der Erde und um friedliche Zeiten. Möge Barmherzigkeit über uns walten, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« Flora weinte. Martin schluchzte. Ihr Sohn turnte fröhlich um sie herum, während der Säugling mit den rundlichen Armen wedelte. Balt und seine Tochter holten eine Flöte und eine Fiedel heraus, und die anderen stellten den Tisch beiseite und machten Platz zum Tanzen. Erkanwulf prüfte, wie gut sein Knöchel verheilt war, indem er Uta immer wieder herumschwang, und lachend kehrte er zurück, setzte sich hin und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Sei nicht so mürrisch«, sagte er zu Ivar. »Du stehst da mit gekreuzten Armen und einem Stirnrunzeln wie meine Großmutter! He! Sie hat nicht einen einzigen Tag in ihrem langen Leben gelächelt! Mein Vater pflegte zu sagen, dass ein Bann über sie gesprochen worden war, als sie noch jung war, demzufolge sie tot umfallen würde, wenn sie jemals glücklich sein sollte - und genauso siehst du aus. Sie war der älteste Mensch, den ich jemals gesehen habe, bis zu dem Tag, als sie tot umgefallen ist.« Die Geschichte entlockte ihm ein Grinsen. »Hat sie gelächelt?« »Nein! Es war nicht der Fluch, der sie getötet hat. Sie ist von einem Stück Holz am Kopf getroffen worden, das durch die Luft geflogen ist, als einer meiner Onkel Holz gespalten hat. So ähnlich wie mein armes Pferd, wenn ich darüber nachdenke.« »Erkanwulf! Wie kannst du so respektlos über die Toten sprechen?« »Sie war eine gemeine alte Hexe. Niemand war traurig, als sie nicht mehr da war, abgesehen von dem Hund.«
Genau wie bei mir. Aber er schüttelte sich. Es war eine Lüge, *65 sagte er sich - und er wusste nicht einmal, wieso. Er hatte sich diese Lüge jahrelang eingeredet, seit Hanna sich entschieden hatte, mit Liath wegzugehen. Aber er hatte erlebt, wie falsch diese Lüge war, an dem Tag, als Sigfrid, Ermanrich und Hathumod geweint hatten, weil er sein Leben für Bischöfin Constanze aufs Spiel gesetzt hatte. Er hatte gesehen, wie falsch sie war, als Baldwin seine Freiheit für die anderen aufgegeben hatte. Er hatte gesehen, wie falsch sie war, als Baldwin um ihn geweint hatte, weil er ihn für tot gehalten hatte. Vielleicht verachteten Hanna und Liath ihn, aber es gab andere, die ihn brauchten. Die auf ihn warteten. Er packte Erkanwulfs Schulter. »Sobald die Straße frei genug ist, dass wir das Pferd nicht gefährden, brechen wir auf.« »Wie du willst«, sagte Erkanwulf. »Du hast einen seltsamen Blick. Hat dich was gestochen?« »Es ist Zeit. Wir müssen etwas tun, solange wir die Chance dazu haben.« »Wofür ist es Zeit?« »Zeit für Hauptmann Ulric und alle, die ihm gegenüber loyal sind, sich zu entscheiden, ob sie etwas tun oder sich zurückziehen wollen. Prinzessin Theophanu kann uns nicht helfen. Es ist an uns, Bischöfin Constanze zu befreien. Und es gibt nur eine Möglichkeit, das zu tun.«
3 Der brennende Sturm schlug mit solcher Wucht zu, dass das gesamte Lager dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ein Hagel aus brennender Asche ging auf sie nieder, während sie Schutz suchten, wo es nur ging. Als das Grollen und Ächzen der Erde schließlich nachließ, wichen die schrecklichen grellen Blitze einem blassen Leuchten, in dem Hanna irgendwann die Morgendämmerung erkannte. Sie hatte zusammen mit Aurea, Teuda
65 und der armen, geplagten Petra unter einem Wagen Schutz gesucht; als sie jetzt ins Freie kroch, trat sie in das düstere Licht eines neuen Tages und stellte fest, dass sich alles verändert hatte. »Bleibt da«, flüsterte sie den anderen zu, die sie mit bleichen Gesichtern anstarrten. »Ist Schwester Rosvita zu sehen?« Aurea machte Anstalten, ebenfalls unter dem Wagen hervorzukriechen, aber Hanna winkte sie zurück. »Nein, bleibt da! Es ist unglaublich - bleibt einfach, wo ihr seid.« Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass ein solcher Tag jemals heraufdämmern würde, nie im Leben hätte sie sich eine Welt vorstellen können wie die, über die sie jetzt den Blick schweifen ließ. Das große Lager der vereinigten Heere von König Geza von Ungria und Edelfrau Eudokia von Arethusa sah aus wie ein Abfallhaufen. Hier und da bewegten sich taumelnd ein paar mutige Seelen durch die Dämmerung, die immer wieder sinnlose Schreie ausstießen. Wolken bedeckten den Himmel. Die Luft war - vor allem im Süden und Westen - mit einem trägen, gelblichen Dunst geschwängert, der es unmöglich machte, in irgendeine Richtung weiter als eine Bogenschussweite zu sehen. Nur im Osten war es etwas heller. Alles war mit Asche bedeckt, und es hatte den Anschein, als wären sämtliche Tiere, über die die Heere verfügt hatten, geflohen. Hanna hatte Sand auf den Lippen und in den Augen, und ihr ganzer Körper war mit einer Ascheschicht überzogen, sogar unter ihrer Kleidung und ihren Lidern. »Hanna!« Sie stolperte über einen abgebrochenen Zeltpfosten hinweg und packte Schwester Rosvita an den Armen. »Gott seien gepriesen, Schwester! Wo sind die anderen?« »Ich habe sie alle gefunden, abgesehen von Aurea, Teuda und der armen Schwester Petra.« »Sie sind bei mir. Was ist mit Mutter Obligatia?«
65 »Sie lebt.« Rosvita schloss die Augen, während sie ausatmete, und der Seufzer schien die Erde erzittern zu lassen. Hanna sah, dass Tränen in ihren Augen standen, als sie erfuhr, dass alle noch lebten. Vorläufig jedenfalls.
Ein Knäuel aus Zeltstoff streckte und bewegte sich wie ein lebendiges Wesen, und dann schob sich Fortunatus heraus, wischte sich über das schmutzige Gesicht. Hinter ihm stand kein einziges Zelt mehr. Jemand lag reglos auf dem Boden, aber Hanna konnte nicht erkennen, ob diese Person tot war. »Ich bete, dass wir das Schlimmste hinter uns haben«, sagte Rosvita, während sie die Hand sinken ließ. »Wir müssen Wasser und Nahrung finden.« »Wir müssen entscheiden, was wir als Nächstes tun werden, Schwester. Es wird Tage dauern, bis dieses Heer sich wieder erholt hat - wenn das überhaupt jemals der Fall sein wird. Eigentlich müssten doppelt so viele Menschen hier sein. Verstecken die sich alle, oder sind sie weggelaufen?« Oder gestorben? Rosvita sah zu dem eingestürzten Zelt, in dem sie Schutz gefunden hatte. Fortunatus hob den schweren Zeltstoff, und Ruoda und Gerwita krochen ins Freie. Als Gerwita das Lager sah, brach sie in Tränen aus. »Uns steht eine schwere Entscheidung bevor, Adler. Fliehen wir zu Fuß - wohl wissend, dass wir möglicherweise verhungern und verdursten?« Sie deutete auf den in Dunst gehüllten Süden und Westen. »Der Anblick gefällt mir nicht. Ich würde meine Schritte nur in diese Richtung lenken, wenn ich keine andere Wahl hätte. Aber wenn wir nach Norden oder Osten gehen, bleiben wir in Dalmiaka, das unter arethusanischer Oberhoheit steht. Wäre es unter solchen Umständen möglicherweise besser, Gefangene zu bleiben, mit der Gewissheit, dass wir wenigstens einmal am Tag eine Schüssel Haferschleim bekommen?« »Ich glaube nicht, dass es noch irgendwelche Gewissheiten gibt, Schwester. Ich würde gern das Lager erkunden, während
66 Ihr Euch zum Aufbruch bereitmacht. Vielleicht finde ich in diesen Trümmern etwas zu essen oder Wasser.« »Wer wird Euch begleiten?« »Allein falle ich in diesem Chaos vielleicht nicht auf. Ich möchte herausfinden, was aus den Königen und Königinnen und stattlichen Generälen geworden ist.« Rosvita nickte grimmig und küsste Hanna dann auf beide Wangen. »Seid vorsichtig, Adler. Wir werden bereit sein, wenn Ihr zurückkommt.« Hanna hatte die ganze Nacht auf ihrem Stab, dem Bogen und dem Köcher gelegen. Sie hatte Druckstellen an der Brust und am Bauch, aber sie hatte ihre Waffen auf keinen Fall an den Sturm verlieren wollen. Jetzt holte sie sie, während Aurea unter dem Wagen hervorgekrochen kam und dann der stummen Petra heraushalf. Sie schlang sich den Bogen und den Köcher über den Rücken und ging mit dem Stab in der Rechten durch das Lager, ließ ihren Blick hierhin und dorthin schweifen, aber die Leute, die sie sah, wühlten sich durch die Trümmer oder hielten sich benommen die Köpfe; niemand dachte daran, ihr irgendwelchen Schaden zuzufügen. Ein schlanker Hund lag jaulend auf dem Boden; seine Hüften waren blutverschmiert, und er konnte nicht mehr auf den Hinterbeinen stehen, obwohl er es immer wieder aufs Neue versuchte. Ein Mann kroch bei einem zerstörten Wagen herum, der vollständig umgestürzt war. »Hilfe!«, rief er verzweifelt. »Hilfe!« Sie trat zu ihm, und mit ihrer Unterstützung hob er den schweren Wagen hoch genug, um einen Blick darunter werfen zu können. »Nein! Nein! Nein!«, rief er auf Arethusanisch, wich einen Schritt zurück und ließ den Wagen los. Vollkommen unerwartet lastete das ganze Gewicht in Hannas Händen. Sie konnte gerade noch rechtzeitig loslassen und zurückspringen, schürfte sich dabei die Finger auf, als der Wagen wieder auf die Erde krachte.
66 »He!«, rief sie, aber der Mann lief durch das Lager davon, rief immer noch: »Nein! Nein!« Sie war nicht erpicht darauf, nachzusehen, was unter dem Wagen lag, und so ging sie weiter durch das Lager. Als sie sich seiner Mitte näherte, sah sie weitere Hinweise auf Leben, umhereilende Soldaten bei irgendwelchen Aufgaben, einige von ihnen mit Pferden, die sie an den Zügeln führten. Wagen wurden in Position gezogen, bildeten eine Reihe. Ein schöner Brauner, der so
verängstigt war, dass er bei jeder Bewegung scheute, wurde von einem unerschütterlichen Pferdeknecht beruhigt. Auch die königlichen Zelte waren zusammengebrochen, und darunter zeichneten sich die Umrisse von Pritschen, Tischen und Bänken ab. Ein Gestell mit Speeren war umgestürzt, und die Waffen hatten sich auf dem Boden verteilt. Sie vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, dann bückte sie sich und schnappte sich einen. Niemand hinderte sie daran. Etwa hundert Leute hatten sich an einem freien Platz zwischen den Zelten versammelt. Sie drängte sich zwischen diese Menschen, arbeitete sich weit genug nach vorn, um sehen zu können, was vor sich ging. Nichts Gutes: eine Gruppe sich streitender Edelleute. Das war ein schlechtes Zeichen. Sie schob sich unter Einsatz ihrer Hüfte an einem müden Soldaten vorbei, nutzte ihre Größe, um über die Köpfe der kleineren und stämmigeren Arethusaner hinwegzusehen. Niemand schien ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken; die Asche hatte ihr weizenblondes Haar so schmutzig gefärbt wie das der anderen. »Aber du hast es mir versprochen!«, sagte Prinzessin Sapientia. Sie hatte die Nacht besser überstanden als viele andere. Ihr Gesicht war sauber, und sie hatte keine dunklen Ringe unter den Augen. König Geza ging es nicht so gut. Händeringend schritt er auf und ab, und sein Blick streifte seine Frau nur gelegentlich. Er suchte nach etwas; Hanna hatte keine Ahnung, wonach. »Ich habe fünf erwachsene Söhne. Jeder von ihnen könnte
67 dieses Unheil als Zeichen Gottes dafür deuten, meinen Platz einzunehmen.« »Hätten sie das dann nicht schon zuvor getan, nachdem du aufgebrochen bist?« »Nein. Meine Verwalter haben achtgegeben. Wer weiß, was aus ihnen geworden ist? Dies war kein natürlicher Sturm. Die Priester werden mit verschiedenen Zungen sprechen und sich streiten. Die Arethusaner werden die Dariyaner beschuldigen. Die alten Frauen werden aus ihren Hütten kriechen und nach einem weißen Hengst Ausschau halten. Ich muss nach Hause zurückkehren und dafür sorgen, dass mein Königreich nicht zerfällt.« »Dieser Sturm hat Ungria vielleicht nicht einmal getroffen! Es ist so weit weg.« Geza blieb lange genug stehen, um Sapientia angewidert anzusehen. »Nur ein Narr würde diesen Sturm nicht als das erkennen, was er ist. Sobald meine Soldaten bereit sind, werden wir marschieren.« »Aber du hast mir versprochen -« Sie verschluckte sich an den Worten, konnte sie nicht herausbringen. »Ich habe dich geheiratet!« »Dann komm mit. Wenn Ungria erst sicher ist -« »Und was ist mit meinem Königreich?«, rief sie. »Im geheiligten Namen Gottes, Frau! Alles, was südlich von hier liegt, ist zerstört, sagen die Kundschafter. Im Westen, in Richtung Aosta - wer kann bei dem Rauch und Feuer etwas sehen? Stell dich nicht blind. Ich werde nicht nach Wendar reiten. Ich werde Aosta den Rücken kehren, so wie Gott auch.« »Du hast es mir versprochen!« Hanna hätte sie am liebsten geschüttelt, aber König Geza war schneller und offensichtlich weniger geduldig als Prinz Bayan. »Dann lasse ich mich von dir scheiden, Sapientia. Geh deiner Wege, wie es dir beliebt.« »Du lässt dich von mir scheiden?«
67 »Ich lasse mich von dir scheiden. Muss ich mich wiederholen? Oh, Hauptmann! Was gibt es für Neuigkeiten?« »Wir sind bereit, Eure Majestät.« »Dann brechen wir auf.« Er machte eine Geste. Der Hauptmann rief einen Befehl auf Ungrianisch, und die Hälfte der Männer um sie herum verteilte sich so schnell, dass Hanna das Gefühl hatte, im Kreis herumgedreht zu werden, obwohl sie sich nicht von der Stelle rührte. »Aber was ist mit mir?«, rief Sapientia wehleidig.
»Ich lasse mich von dir scheiden. Es ist geschehen. Ho!« Er schritt davon, sprach leise mit seinem Hauptmann, warf nicht einmal mehr einen Blick zurück, als der schöne Braune zu ihm gebracht wurde. Sapientia stand mit offenem Mund da, ihre Hände öffneten und schlossen sich, obwohl sie nichts hatte, was sie festhalten konnte. Hanna schnappte leise nach Luft und begann, sich aus den Reihen der gaffenden Arethusaner zurückzuziehen, sorgsam darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, wie ein ruhiger Hund, der seiner Wege ging und keines Blickes wert war. Rechts von sich hörte sie die Rufe von Männern und das Klirren von Harnischen, als ein großer Trupp losmarschierte. Möge der Herr sie beschützen! Geza hatte seine Frau und seine Verbündeten ohne zu zögern verlassen. Sie wusste, dass sie rasch zu Schwester Rosvita zurückkehren musste. Sie wusste jetzt, wie die Antwort auf ihre missliche Lage lautete. Sie mussten möglichst schnell verschwinden. »Da!« Sie wirbelte herum, aber es war zu spät. Feldwebel Bysantius trat von einem Dutzend Wachen begleitet zu ihr. »Adler! Folgt uns!« Sie hatten sie bereits umzingelt. Hinter ihnen strömte der gleichmäßige Zug von Truppen und Bediensteten auf ein fernes Ziel zu. Bysantius packte sie am Ellbogen und zog sie mit sich. »Sie wollen Euch bei sich haben«, fügte er hinzu.
68 »Was ist mit meinen Kameraden?« »Sie wollen Eure Kameraden nicht.« Edelfrau Eudokia saß auf einem Stuhl unter einer zerfetzten, an vier Stangen befestigten und von vier Männern gehaltenen blauen Seidenmarkise. Der Stoff täuschte einen klaren Himmel vor, den es so nicht mehr gab. Ihr junger Neffe klammerte sich an ihr Gewand, das Gesicht in ihrem Schoß vergraben. Sie trank aus einem Becher, während Edelmann Alexandras mit drei bleichen Hauptleuten sprach - was an der Ascheschicht in ihren Gesichtern lag -, die so mürrisch dreinblickten wie ein Bauer, der gerade festgestellt hatte, dass sein Roggenfeld von der schwarzen Fäulnis befallen war. Hinter ihnen wurden Wagen in Marschordnung aufgestellt. Eine Gruppe Soldaten ritt vorbei und zur Spitze der Reihe, die im Dunst nicht mehr zu sehen war. Das arethusanische Heer brach auf. »Erhabene Edelfrau.« Feldwebel Bysantius sank auf die Knie, neigte den Kopf und stand wieder auf. Er schob Hanna nach vorn. »Der Adler, wie Ihr gewünscht habt.« Sie stolperte und konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen, während der General, der dem Bericht eines Hauptmanns lauschte, plötzlich einen Pfiff ausstieß. »Geza ist bereits aufgebrochen? Ssst! Wir werden eine kleine Nachhut zurücklassen müssen, die nach Versprengten sucht. Bringt die Pferde!« Er sah Hanna, nickte dann dem Feldwebel zu. »Das ging schnell.« »Sie ist herumgelaufen, Eure Exzellenz.« »Wir sollten sie nicht verlieren, dafür ist sie zu wertvoll. Aber darüber waren wir uns ja einig. Ab jetzt seid Ihr für sie verantwortlich, Bysantius. Wenn sie entkommt, wird es Euch den Kopf kosten.« Er wandte sich ab und ging zu seinem Pferd. Es war seltsam, wie gut Hanna jetzt Arethusanisch verstand. Als hätte der Geruch des Kampfers, der in die Flamme geworfen worden war, um die Edelfrau und den General das sehen zu lassen, was sie sehen konnte, ihren Geist geöffnet, so dass sie den Sinn ihrer Worte erhaschen konnte. ±68 »Bitte, Eure Exzellenz«, rief sie, machte einen Schritt nach vorn. »Erhabene Edelfrau, ich bitte Euch ... meine Kameraden ... ich weiß, wo sie sind. Lasst mich zu ihnen gehen und sicherstellen, dass sie auf einen der Wagen kommen -« Er blieb stehen, drehte sich zu ihr um und sah sie stirnrunzelnd an. »Ihr habt uns missverstanden. Wir brauchen Eure Kameraden nicht mehr. Seit die Umstände sich geändert haben, sind sie für uns nicht mehr von Nutzen.« »Aber Ihr wollt sie doch gewiss nicht einfach hier zurücklassen !«
Er zuckte mit den Schultern und ging davon. »Feldwebel! Erhabene Edelfrau!« Edelfrau Eudokia nippte an ihrem Becher und achtete nicht auf Hannas Rufe. »Schon gut«, murmelte Bysantius und packte ihren Arm. »Seid ruhig und kommt einfach mit.« »Ich kann sie nicht zurücklassen! Sie werden sterben!« »Es liegt nicht in Eurer Macht, etwas daran zu ändern. Ihr seid jetzt die Gefangene von Edelmann Alexandras.« Sie riss sich los und wollte davonrennen, aber zwei der Wachen packten sie, und sie stürzte zu Boden. Sie wehrte sich wild, wurde aber schließlich überwältigt. Die Wachen nahmen ihr die Waffen ab, banden ihr Hände und Füße mit Seilen zusammen und warfen sie auf einen der Wagen im Zug von Edelmann Alexandros, der gerade vorbeiholperte. Ihre Haut war aufgeschürft, blutig und voller blauer Flecken, und sie weinte vor Wut, hasste sich wegen ihrer Hilflosigkeit.
4 Hanna kehrte nicht zurück. Rosvita und ihre Leute warteten viele Stunden am Rand des Lagers immer in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden -, und tatsächlich war es, als wären
69 sie unsichtbar geworden. Niemand schenkte ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Sie konnten nicht erkennen, welche Stunde des Tages es war oder welche Messe sie hätten singen sollen, denn die Wolken lösten sich niemals auf, und das Licht blieb ein rauchiges, mattes Glühen, das kaum ausreichte, um zu lesen. In bestimmten Abständen beobachteten sie verschwommene Schemen, die sich in der Ferne bewegten und Soldaten zu sein schienen. Möglicherweise eine Gruppe, die sich nach Nordosten zurückzog, aber der Dunst machte es unmöglich, etwas, das mehr als eine Bogenschussweite entfernt war, genauer zu erkennen. Ständig gereizt von der Asche, brannten ihre Augen, und ihre Nasen liefen. Immerhin ließ zumindest der Ascheregen irgendwann nach. Fortunatus seufzte und wandte sich an Rosvita. »Was ist, wenn sie nicht zurückkommt, Schwester? Sollte nicht jemand von uns losgehen und nach ihr suchen?« »Wir dürfen uns nicht trennen. Was einer geschieht, geschieht allen.« »Wir haben hier lange genug gewartet«, sagte Mutter Obligatia. Sie hatten sie mit der Trage auf den Wagen gelegt und ein Dach aus Zeltstoff gebaut, so dass die alte Nonne sich auf den Ellbogen stützen und die Umgebung betrachten konnte. »Wenn die Nacht hereinbricht, werden wir wie dumme Tiere auf dem Feld dastehen.« Rosvita lächelte, spürte, wie unnachgiebig ihr Herz geworden war. In den Nachwehen dieses Sturms hatte sich auch die Bedeutung eines Lächelns geändert: Es kündete nicht mehr von Glück oder Gelächter, sondern von Entschlossenheit. »Ihr habt recht. Wir müssen eine Entscheidung treffen, wenn wir nicht wollen, dass andere es für uns tun.« Sie waren abwechselnd herumgegangen, hatten sich immer nur so weit vorgewagt, dass sie die Gruppe noch sehen konnten, und in den Trümmern nach Nahrung und Wasser gesucht. Sie hatten fünf Leichen gefunden, einen grässlich verletzten
69 Hund von seinen Leiden erlöst, einen kleinen Vorrat an Nahrungsmitteln gesammelt und - was noch wichtiger war -zwanzig Beutel und Lederflaschen mit Wein, gesüßtem Essig und einer scheußlichen Flüssigkeit entdeckt, die nach Anissamen schmeckte, aber in der größten Not dennoch trinkbar sein würde. Der Wagen, unter dem Aurea Schutz gesucht hatte, war zu schwer zum Ziehen, aber Hilaria hatte einen Handkarren in einem einigermaßen guten Zustand entdeckt. Er musste nur ein wenig an der Achse repariert werden, denn er war umgestürzt und hatte seinen Inhalt - zusammengebundene Kräuter - auf dem Boden verstreut. »Er muss einem Hausierer gehört haben, der dem Heer gefolgt ist«, sagte Aurea, als sie den Mädchen half, möglichst viele Kräuter einzusammeln: hauptsächlich Lavendel, Salbei, Büschel mit
Lorbeer und Basilikum und Fieberwurz. »Ein Beutel Kastanien! Wieso lässt jemand solche Schätze zurück?« »Vielleicht ist der Hausierer ja tot«, sagte Ruoda schroff. Gerwita begann zu schniefen. »Wir bleiben zusammen«, sagte Rosvita, die begriff, dass sie alle vor Erschöpfung und Angst immer gereizter wurden. »Wir wechseln uns beim Ziehen des Karrens ab.« Sie machten sich auf den Weg, angeführt von Rosvita und Diocletia. Hinter ihnen folgten Fortunatus und Teuda mit Mutter Obligatias Trage. Dann kam Heriburg mit den kostbaren Büchern auf dem Rücken. Ruoda und Gerwita nahmen Petra in ihre Mitte, während Jerome und Jehan abwechselnd den Karren schoben. Die unermüdliche Hilaria schritt neben ihnen auf und ab, half jenen, die eine Pause benötigten, und Aurea bildete die Nachhut. Sie schlugen keine bestimmte Richtung ein, sondern bahnten sich ihren Weg zwischen zerrissenen Zeltstoffen hindurch, vorbei an Schuhen und zurückgelassenen Harnischen, einem Eisenkessel, einer roten Mütze und einem abgerissenen Lederband an einem bronzenen Kreis der Einigkeit im arethusanischen Stil, dessen Innenfläche von Stä
70 ben in vier Teile geteilt wurde. Mit dem Verschwinden der Heere war eine unheimliche Stille eingekehrt - bis auf den Wind, der zwischen Zeltstoffresten hindurchstrich, und einen Hund, der an einem umgestürzten Wagen herumschnüffelte und versuchte, zu dem zu gelangen, was darunter gefangen war. Abgesehen vom Wind und dem Hund rührte sich nichts in dem Dunst. Diejenigen, die von den Heeren nicht mitgenommen worden waren, waren offensichtlich aus Angst vor Schlimmerem geflohen. Es war schwer, sich etwas vorzustellen, das noch schlimmer sein konnte als das, was sie letzte Nacht erlebt hatten. »Seht nur!«, rief Diocletia. »Da ist jemand-da drüben!« Auf einer bemerkenswert freien Fläche, die bis auf ein einziges Stück dreckigen Zeltstoffs und ein paar auf dem Boden verstreute Speere von Trümmern und Schutt verschont geblieben war, kauerte eine Gestalt. Sie verbarg den Kopf in einem schmutzigen Reisegewand, umschlang die Knie mit den Armen wie ein Kind. Rosvita bedeutete den anderen, anzuhalten. Vorsichtig ging sie weiter, Diocletia an ihrer Seite. Die Nonne blieb einen Augenblick stehen, um einen der Speere aufzuheben, und Hilaria und Aurea sammelten eilig die restlichen ein. Sie bewegten sich leise voran, aber die Person schien ohnehin so sehr in sich versunken zu sein, dass sie sie nicht kommen hörte. Eine Körperlänge von ihr entfernt blieben sie stehen - es war jetzt offensichtlich, dass es sich um eine Frau handelte -, und Diocletia trat ein Stück zur Seite, damit sie nicht beide mit einem Schlag gefällt werden konnten, falls die Frau bewaffnet und gefährlich war. Wie war es möglich, dass eine heilige Nonne wie ein Soldat dachte und solche Taktiken erwog? War dies das Schicksal der gesamten Menschheit in den bevorstehenden Wochen und Monaten ? »Freundin«, sagte Rosvita so sanft wie möglich auf Arethusanisch. »Wir tun dir nichts.«
70 Zuerst bekam sie keine Antwort. Aber schließlich rührte sich der dunkle Kopf, und eine Frau starrte sie mit tränenverschmiertem Gesicht und einer so hoffnungslosen Miene an, dass die nackte Qual Rosvita ebenfalls Tränen in die Augen trieb. Benommenheit ergriff sie, als sie die Frau erkannte. »Eure Hoheit«, sagte sie auf Wendisch. »Ich bin Schwester Rosvita. Erinnert Ihr Euch an mich? Wo ist König Geza?« »Ich lasse mich von dir scheiden«, sagte die Prinzessin, sprach dabei jedes Wort so deutlich aus, als würde sie einen Satz wiederholen, den jemand anders gesprochen hatte. Ihr Blick war leer, ihre Hände schmutzig, als hätte sie mit ihnen im Boden gegraben. »Seid Ihr allein, Eure Hoheit?« Sapientia lachte auf. Es klang wie das Lachen einer Wahnsinnigen - und hörte abrupt wieder auf. »Eine Prinzessin ohne Gefolge ist keine Prinzessin!« »Wir sind Euer Gefolge, Eure Hoheit.«
Sapientia starrte sie lange Zeit an, ohne etwas zu sagen. Rosvita begann daran zu zweifeln, dass sie ihre Worte überhaupt gehört hatte. Fortunatus trat neben Rosvita und flüsterte ihr ins Ohr: »Es ist niemand mehr da, Schwester. Sie ist zurückgelassen worden wie wir.« Er klang so entsetzt, wie sie sich fühlte. »Sie ist König Henrys Tochter! Was sollen wir tun?« »Wir müssen sie mitnehmen.« Eine in ein langes Gewand gekleidete Person strich an ihnen vorbei und kniete sich neben die Prinzessin. »Kommt, kleines Lamm«, sagte sie auf Dariyanisch. »Ihr seid weit gewandert, aber wir werden jetzt auf Euch aufpassen.« Es war Schwester Petra. Ihre Miene war ruhig, fast ausdruckslos, aber ihre Stimme war unglaublich sanft. Falls Prinzessin Sapientia ihre Worte verstand, tat sie dies nicht kund, aber sie ließ sich aufhelfen und ohne Widerstand wegführen. Schwester Petra sprach kein einziges weiteres Wort, während
71 sie durch das zerstörte Lager wanderten, immer hügelan und weg von dem fernen Ozean. Schließlich kamen sie zu einem Kiefernwald, dessen spärliche Kronen ihnen ein gewisses Maß an Schutz gewährten, als das Licht sich veränderte und es noch dämmriger wurde. Die Nacht brach herein, auch wenn der Himmel stets von einem orangeroten Glühen überzogen war. Sie bauten sich einen notdürftigen Unterschlupf und verzehrten ein karges Mahl, einen Eintopf aus Lauch und Rüben, den sie mit Lorbeerblättern würzten und in dem Kessel kochten, den sie im verlassenen Lager gefunden hatten. »Wir sind gut ausgerüstet für einen Marsch durch den Wald«, sagte Fortunatus. Er versuchte, zuversichtlich zu klingen, obwohl es nicht viel Grund dafür gab. Rosvita lächelte ihm dankbar zu. Sie besaßen einen einzigen Löffel, den sie herumreichten, um aus dem Kessel zu essen. »Wir haben Nahrung und unsere Freiheit. Das ist mehr als das, was wir vorher hatten.« »Man sollte dankbar sein für jeden Segen, den Gott uns gewähren«, pflichtete Mutter Obligatia ihr bei. Sie war so dünn und zerbrechlich, dass die Kraft ihrer Stimme Rosvita jedes Mal verblüffte. Sie saß jetzt tatsächlich zum ersten Mal seit vielen Tagen aufrecht, als hätte die schreckliche Nacht ihr neue Kraft verliehen. Ihre Worte weckten jemand anderen. Sapientia hatte den Löffel an sich vorbeiwandern lassen, als würde er - oder irgendetwas anderes - überhaupt nicht existieren. Sie war wie in Trance vor sich hin gestapft, immer weitergedrängt von der ständig aufmerksamen Schwester Petra, die sich jetzt ganz und gar auf ihren hilflosen Schützling konzentrierte. Der Schein des kleinen Feuers malte Schatten in das Gesicht der Prinzessin, machte es zu einer Maske, die wegen ihrer Ausdruckslosigkeit unmöglich zu deuten war. Aber die Maske sprach. »Eine Prinzessin ohne Gefolge ist keine Prinzessin«, wiederholte sie.
71 Rosvita kniete sich neben sie. »Wir sind Euer Gefolge, Eure Hoheit.« Nach langem Schweigen drehte Sapientia sich zu ihr um und sah die Geistliche direkt an. Anfangs war Rosvita sich nicht sicher, ob die Prinzessin wusste, wer sie war. Hinter ihr schlürfte Jerome von dem Eintopf. »Ihr liebt meinen Vater, Schwester Rosvita«, sagte Sapientia. »Ich liebe ihn und ich diene ihm, Eure Hoheit.« »Liebt Ihr mich, Schwester?« »Nein, Kind, nicht auf die gleiche Weise. Ich kenne Euren Vater schon sehr lange. Er besitzt mein Herz, aber Ihr besitzt meine Treue. Ich werde Euch nicht verlassen.« Sapientia hämmerte mit den Fäusten auf den Boden. »Im Gegensatz zu allen anderen! Meinem Vater! Bayan! Sanglant! Die Pechanek-Mütter! Geza! Sie alle haben mich verlassen!« Sie fiel in sich zusammen, schluchzte heftig, zitterte am ganzen Leib. Petra strich ihr über die Schultern, murmelte Worte, die keinen Sinn ergaben, und nach einer Weile beruhigte sich die Prinzessin wieder.
Eine Windböe schüttelte die Äste. Irgendwo brach einer ab und fiel zu Boden. Ansonsten war es still. Zu still. Sie hatten den ganzen Tag keine Vögel gesehen. Kein Rascheln kündete vom Kommen und Gehen der kleinen Nachtgeschöpfe, die eigentlich ihre nächtlichen Runden hätten drehen müssen. Sapientias Verhalten war wie ein Fenster, das sich kurz geöffnet hatte. Es zeigte ein Licht im Innern, aber es würde sich vielleicht schon bald wieder schließen. Rosvita musste sie fragen, obwohl sie sich vor der Antwort fürchtete. »Eure Hoheit. Habt Ihr Hanna gesehen? Den Adler, der mit uns gereist ist?« Sapientia hielt den Kopf gesenkt. Ihre Stimme war rau und seltsam. »Sie ist tot.« »Oh Gott«, flüsterte Rosvita. »Ihr habt gesehen, dass sie tot ist? Habt Ihr ihre Leiche gesehen?«
72 Sapientia antwortete jedoch nicht, sondern starrte nur stumm zu Boden. »Was sollen wir tun?«, fragten alle bis auf Mutter Obligatia. »Ich hätte sie niemals allein weggehen lassen dürfen!«, rief Rosvita. »Nein, Schwester«, sagte Mutter Obligatia tadelnd. »Sie hat getan, was sie tun musste. Das war ihre Pflicht. Sie wusste, dass es gefährlich sein würde.« Die Schuld brannte in ihrem Innern. Während der langen Reise war Hanna zu einem Schützling geworden. Von Pflicht zu sprechen, machte Rosvitas Herz nicht leichter. Sie erhob sich und ging um das Feuer herum, musterte diejenigen, die ihr so weit gefolgt waren: Mutter Obligatia mit ihrem uralten Kummer und ihrer gefährlichen Vergangenheit; ihre drei zähen Bediensteten Diocletia, Hilaria und die Laienschwester Teuda; die arme Petra, die sich jetzt um die teilnahmslose Prinzessin Sapientia kümmerte; Rosvitas eigene treue Dienerin Aurea mit den starken Armen und dem klaren Verstand; die Schar junger Geistlicher, die sie allzu sehr bewunderten - die furchtsame Gerwita, die störrische Heriburg und die schlaue Ruoda, und die beiden jungen Männer Jerome und Jehan, die in so vielerlei Hinsicht noch Jugendliche waren. Als Letztes begegnete sie dem Blick desjenigen, der ihre heimliche Kraft war: Bruder Fortunatus. Er nickte ihr zu. Er würde niemals schwanken. »Wir ruhen uns so gut wie möglich aus, denn wir werden unsere Kräfte brauchen. Es scheint mir, dass das Licht im Osten besser war, aber dort liegt Arethusa. Sofern morgen nicht alles anders ist, müssen wir unser Glück im Nordwesten versuchen. Wir müssen versuchen, Wendar zu erreichen. Gott mögen uns beistehen.« Gott mögen mir beistehen, dachte sie, während alle es sich zum Schlafen auf dem Boden bequem machten, Umhänge, Zeltstoffe und Decken über sich ausbreiteten, ein Sammelsurium von Schätzen, die sie aus dem Lager gerettet hatten. Sie
72 hatten noch Vorräte für etwa fünf Tage. Gott mögen mir beistehen, ich bitte euch. Ich möchte nicht noch jemanden verlieren. Draußen im Wald knackte ein Zweig. Alle blickten auf, besorgt und verängstigt. Sie warteten, aber es kam kein weiteres Geräusch, abgesehen von dem Wind, der die Zweige zum Rascheln brachte und so die nächtliche Stille störte. »Was ist, wenn es Banditen sind, Schwester Rosvita?«, fragte Gerwita. Ihre Stimme war so leise, dass der Wind sie fast verschluckte. »Wir haben keine Waffen, um uns zu verteidigen. Wir können diese Speere nicht benutzen.« Das Mädchen wirkte verängstigt. Die anderen starrten Rosvita an, warteten auf ihre Antwort. Sie fing Fortunatus' Blick auf. Er lächelte tapfer. »Wir haben unseren Verstand, Kind. Beten wir, dass er als Waffe genügt.«
1 »Seht nur, Eure Exzellenz. Könnte das Darre sein?« Der Soldat bewegte sich ungeduldig, als sein Kamerad das Maultier mit Antonia die letzten Schritte zum Kamm hinaufführte. Von dieser Stelle aus konnte man gewöhnlich die ganze herrliche Dar-Ebene überblicken: den Fluss; die vom Palast aufragenden Türme; die Kuppeln der
beiden großen Kathedralen; die vielen Straßen, die so wirr waren wie die Günstlinge des Feindes; die westlichen Berge, die den Weg zum Meer versperrten; die zahllosen Felder, in denen die alte Stadt zuerst Wurzeln geschlagen hatte und dann zu einem Reich angewachsen war. Antonias Augen brannten vom Ascheregen, seit der Sturm in jener schrecklichen Nacht das Dach des Hauses weggerissen hatte, in dem sie Schutz gefunden hatte. Sie rieb sie, während sie stehen blieben. »Mögen Gott uns helfen«, fügte der Soldat mit erstickter Stimme hinzu. »Die Berge im Westen stehen alle in Flammen. Und die Ebene - seht!« »Ich sehe nichts«, sagte sein Kamerad. Die Luft roch so übel wie der geronnene Atem des Feindes: Rauch und Schwefel, der Gestank des Abgrunds. Für die Zeit
73
VI
Das Werk des Feindes eines Atemzugs drehte der Wind und wehte die schlimmsten Staubschleier beiseite, so dass Antonia einen Blick auf die fernen Türme und Mauern von Darre werfen konnte, ehe sie wieder in Nebel gehüllt wurden. »Wir müssen hinuntersteigen«, sagte sie und hörte, wie die beiden Wachen leise durch die Zähne pfiffen. Sie hatten Angst, weil sie schwach waren, aber sie hatten Antonia auf der Reise treu bewacht. Einer Reise, von der sie vergessen hatte, wie viele Tage sie schon dauerte. »Wer weiß, welche Kreaturen dort unten in dem Rauch lauern«, sagte der größere namens Focas. »Vielleicht haben sie Krallen, die so lang sind wie mein Arm. Sie könnten uns in Stücke reißen.« »Gott werden uns beschützen«, sagte Antonia. »Sind wir nicht schon anderen Gefahren begegnet? Haben wir nicht überlebt?« Pietro sprach weniger, aber was er sagte, hatte mehr Substanz. »Was ist, wenn wir diese üble Luft nicht atmen können?« »Wir müssen hinuntersteigen«, wiederholte Antonia. »Wir müssen nach Tivura gehen und nachsehen, ob die Prinzessinnen noch leben. Was die anderen betrifft, fürchte ich, dass Gott die Boshaften höchst entschieden bestraft haben.« Die Soldaten sahen einander an. Es war ein Blick, der sie ausschloss - so war es stets gewesen. Sie dienten ihr treu, das stimmte, aber ihre Treue galt eigentlich Kaiserin Adelheid. Dennoch, wie sehr es sie auch ärgerte, dass die beiden ihren Wert und Gottes Gunst nicht erkannten, sie ertrug es, denn es war nur eine weitere Prüfung, die ihr auferlegt wurde. Gott ehrten die Rechtschaffenen, aber Sie ersparten ihnen nicht immer Kummer und Undankbarkeit. »Die Prinzessinnen«, sagte Pietro. »Das würde die Kaiserin wünschen.« Focas nickte. »Die Prinzessinnen«, stimmte er ihm zu. »Wir müssen herausfinden, ob wir sie retten können, falls sie wirk
73 lieh dort unten gefangen sind, was ich nicht hoffe. Wenn ihre Verwalter auch nur ein Fünkchen Verstand haben - was ich allerdings bezweifle -, sind sie zu einem sichereren Ort geflüchtet.« »Niemand kann Gottes Zorn entfliehen«, sagte Antonia streng. »Es gibt jene, die getan haben, was sie nicht hätten tun sollen.« Sie deutete auf die dunstige Landschaft. »Und so werden sie dafür bestraft.« Focas rieb sich die Stirn; er blickte besorgt drein. Pietro hob den Speer. »Gehen wir. Es hat keinen Sinn, noch länger zu warten.« Sie gingen die Straße entlang, die vollkommen verlassen war, obwohl der Tag noch nicht weit fortgeschritten war. Es war schwer, die Tageszeit zu bestimmen, denn die Wolken lichteten sich nie, und das Licht war unveränderlich, so dass der Mittag wie Dämmerung wirkte und der Morgen nicht anders war als der Abend. Asche knirschte unter ihren Füßen. Kiesel rollten und klapperten, und mehr als einmal rutschten Focas oder Pietro aus und fluchten, fingen sich jedoch
jedes Mal, so dass sie nie wirklich stürzten. Glücklicherweise war das Maultier trittsicher, beharrlich und freundlich und auch nicht besonders störrisch. Als sie hinunterstiegen, änderte sich das Licht, wurde zu einem seltsamen gelblichen Nebel, der ihrer Haut das Aussehen von Pergament verlieh. Die Augenhöhlen wurden dunkler, bis die zwei Soldaten wie lebende Leichname aussahen. Sie gingen weiter und weiter, als würden sie in den Abgrund hinabsteigen. Die Welt war leer geworden. Sie sahen nichts und niemanden. Sogar das Gras war zu Stroh vertrocknet. Hin und wieder überquerten sie einen Bach, der von den Höhen herunterkam, aber das Wasser schmeckte bitter. Sie tranken es dennoch, und es lag schwer in ihren ausgedörrten Mägen. Antonia fühlte sich krank. Ihr Kopf pochte und ihre Kehle brannte. Jeder keuchende Atemzug schmerzte. Irgendwann wurde die Dämmerung zur Nacht. Sie errichte
74 ten ihr Lager ein Stück von der Straße entfernt, aber noch in Sichtweite, damit sie am nächsten Morgen noch wussten, wo sie waren. Das Maultier fraß sein spärliches Mahl; sie hatten nur noch für zwei Tage Korn, und hier gab es offensichtlich kaum etwas zum Grasen. Für sich selbst hatten sie Brot, Käse und Wein. Die Soldaten übernahmen abwechselnd die Wache. Antonia schlief auf ihrem Umhang unter einem behelfsmäßigen Schutzdach aus Zeltstoff. Es machte ihr nichts aus, obwohl ihre alten Knochen schmerzten und ihr Kopf nicht aufhörte wehzutun. Bei Morgendämmerung zischte Pietro: »Focas! Aufstehen! Hörst du das?« Antonia erhob sich und trat zu den beiden, fingerte an dem Amulett an ihrer Brust herum. Sie hörte das Klirren ebenfalls und berührte die beiden Männer am Ellbogen. »Bleibt reglos stehen wie Mäuse, wenn die Eule kommt. Sagt kein Wort.« Auch sie trugen Amulette, ebenso wie das Maultier. Antonia hatte sie mit ihren eigenen Händen aus Eisenhut und Sonnenwende gefertigt, und ihre Finger waren noch immer voller Blasen. Umrisse schälten sich aus dem Dunst: eine Reihe schluchzender und hustender aneinandergeketteter Männer und Frauen, die von einer Handvoll Männer bewacht wurden. In einem anderen Leben mochten sie so ehrbare Soldaten gewesen sein wie diejenigen, die neben ihr standen. Sie schützten sich mit Tüchern über Mund und Nase vor der Luft, aber die Gefangenen hatten nichts als Fetzen am Leib. Ein paar waren sogar nackt. Als sie vorbeischlichen, zählte sie sie: acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig. Etwas mehr als einhundert, alle zusammen, ein kläglicher Rest. Obwohl die Wachen aufmerksam nach rechts und links blickten und hier und da in die Düsternis deuteten, bemerkten sie die Zuschauer nicht, die nur einen Steinwurf von ihnen entfernt abseits der Straße standen. Als der letzte Mann - ein
74 kräftiger, großspuriger Bursche - im Nebel verschwunden war, stieß Pietro einen langen Seufzer aus, der mehr ein heiseres Krächzen war, und berührte das Amulett an seiner Brust. »Der Herr sei gepriesen«, sagte er. Focas schluckte ein hysterisches Lachen hinunter. »Hast du ihn nicht erkannt? Der Letzte, das war Feldwebel Hatto. Glaubst du, die Menschen, die sie weggetrieben haben, waren Sklaven?« »Zumindest sind sie jetzt Sklaven, was immer sie vorher waren.« Pietro kniete nieder, berührte die tote Erde mit der Hand und küsste seine Finger. »Ich bitte Euch, Eure Exzellenz, lasst uns schnell weitergehen.« »Dieses Land ist ein Schlachthaus«, sagte Focas. »Ich rieche es.« Sie gingen den ganzen Tag, und der Schwefelgestank wurde noch schlimmer. Auch Antonias Kopfschmerzen wurden schlimmer. Ihre Augen brannten und tränten. Nach einiger Zeit sahen sie beiderseits der Straße glühende Spalten, aus denen grässlicher, gelblicher Rauch aufstieg. Es war, als würde die Erde in Stücke zerbrechen. Einmal wurde Pietro fast ohnmächtig, als der Wind ihm die Mischung aus Gas und Wasserdampf, die den Erdspalten entwich, voll ins Gesicht blies, aber er taumelte weiter und keuchte und erbrach sich, bis er die Gefahr hinter sich gelassen hatte. Danach banden sie sich Tücher fest um Mund und Nase.
Sie gingen wie durch einen Tunnel, denn sie konnten in keine Richtung weit sehen. Der Dunstschleier verbarg alles, so dass die Welt einerseits sehr klein wirkte, andererseits aber wie eine riesige, unbekannte Ödnis, die sie niemals durchqueren konnten. Während sie auf diese Weise weiterzogen, verpassten sie die Kreuzung, an der sie nach Tivura hätten abbiegen können, und standen am Ende des zweiten Tages vor den Mauern von Darre. In der ganzen Zeit hatten sie nicht ein einziges Lebewesen gesehen, abgesehen von jenem traurigen Zug. Keinerlei Vögel flogen; kein Schaf blökte; keine Ziege auf der Suche
75 nach ein paar Brocken störte sie, wenn sie Rast machten. Dem Maultier ging es nicht sonderlich gut, aber es hatte einen starken Selbsterhaltungstrieb und weigerte sich, hinter ihnen zurückzubleiben. Dennoch ging Antonia lieber zu Fuß, denn sie fürchtete, dass es zusammenbrechen und sie auf den Boden werfen könnte. Wenn sie sich ein Bein brach, würde auch sie in dieser Vorhölle festsitzen. Denn genau das war es natürlich. Sie erkannte es, als die offen stehenden Tore vor ihnen aus dem Nebel auftauchten und sie die in sich zusammengefallenen Ruinen der schönsten und beeindruckendsten Stadt erblickte, die die Menschheit jemals erbaut hatte. Waren sie unabsichtlich durch eine Steinkrone in eine Welt geschritten, in der die Galla hausten? Hatte Annes Magie diese Zerstörung bewirkt? Oder waren die Verlorenen mit Pest und Feuer zurückgekehrt, um ihre alten Feinde zu besiegen? »Wir werden zum Palast gehen und heute Nacht dort schlafen, und danach nehmen wir die Straße nach Tivura.« »Es gefällt mir nicht, die Stadt zu betreten«, sagte Focas, während Pietro sich über den Bart strich. »Sie macht mir Angst. Ich gebe es offen zu. Sie macht mir Angst.« »Niemand wird uns sehen. Ich vermute, die Stadt ist ohnehin verlassen.« Pietro zögerte. Selbst nach all dieser Zeit traute er ihr nicht. Doch schließlich wandte er sich an Focas. Sein Atem pfiff, als er sprach. »Die Kaiserin würde es wollen, nicht wahr?« Die Kaiserin. Sie waren wirklich alle Adelheids treue Soldaten, jeder Einzelne von ihnen. Wütend folgte sie ihnen in die leere Stadt. Zweimal sahen sie Hunde um irgendwelche Ecken verschwinden, die Schwänze eingezogen, die Köpfe gesenkt. Es gab keine Leichen, aber sie sahen menschliche Knochen auf den Straßen und offenen Plätzen. Eingestürzte Wohnblöcke und Säulen lagen wie tote Tiere in den Trümmern. Jeder Eingang war ein dunkler, stiller Mund. Wind wirbelte Staub von den Straßen auf, der sich mit
75 dem Dunst vermischte. Einmal hörten sie weiter entfernt einen Ruf. Ihre Schritte hallten unheimlich von den Mauern wider. Aber sie sahen niemanden. »Wie viele Tage ist es her, seit dieser Sturmwind uns getroffen hat?«, flüsterte Focas, als sie die gepflasterte Rampe erreichten, die zu den zwei Palästen auf dem zentralen Hügel führte. »Das hier kommt davon, oder nicht? Der Sturm hat diese Zerstörung herbeigeführt. Ich konnte es riechen, es war, als wäre er krank gewesen.« Pietro kratzte sich an der Nase, dann nieste er. »Ich wünschte, wir wären bei der Kaiserin geblieben. Wir wissen nicht einmal, ob sie noch lebt.« Ein Hund knurrte in der Nähe, und die beiden Soldaten wirbelten herum, hoben ihre Speere. Aber sie fanden sich nur einer noch durchdringenderen Stille gegenüber. »Kommt«, sagte Antonia. »Es wird bald dunkel werden. Suchen wir uns einen guten Platz.« Sie gingen die Rampe hinauf, vorbei an eingestürzten Wagen, die in der Eile zurückgelassen worden waren. Bei einem hingen sogar noch die Überreste eines Pferdes, das von Hunden in Stücke gerissen worden war, im Geschirr. Focas zählte die Schwerter, und als sie oben angelangt waren, war er bei erstaunlichen fünfundfünfzig angelangt. »Wer würde gute Eisenschwerter wie diese wegwerfen?«, fragte er Pietro leise. Die beiden Männer standen einen Steinwurf von Antonia entfernt, aber sie hörte ihre Worte trotzdem. »Tote. Wir werden auch bald tot sein, wenn wir nicht von hier verschwinden. Das ist Wahnsinn.« »Still!«
Vom oberen Teil der Rampe aus konnten sie einen Blick über die Stadt werfen. Nichts rührte sich, abgesehen von einem Stoff fetzen, der in einiger Entfernung eine Straße entlangwehte. Der Nebel behinderte die Sicht auf die hoch aufragenden Mauern und die fernen Tore. Sie sah keine Kirchtürme. Vielleicht waren sie alle eingestürzt. An den Bergflanken im Wes
76 ten, die ans Meer grenzten, waren trotz der großen Entfernung und des Dunstes die feurigen Streifen roter Ströme zu sehen. Bestimmt roch selbst der Abgrund süßer und nährte mehr Leben! Bestimmt nicht. Dies war das Werk des Feindes. »Kommt«, sagte sie. Sie traten auf den großen Hof, der sich vor den beiden Palästen erstreckte. Der kaiserliche Palast war abgebrannt. Es roch immer noch nach verkohltem Holz, ein scharfer Geruch, der den Gestank nach Schwefel und Abfall überlagerte. Beim Palast der Skopos bestanden mehr Teile aus Stein, die weniger Schaden erlitten hatten. »Ich hatte vorgehabt, die Schule und die Bibliothek des Kaisers aufzusuchen«, sagte Antonia nachdenklich, während sie im Hof standen. »Aber es ist wohl zu gefährlich, dort hinzugehen.« Sie ging allerdings zu einem Alkoven, aus dem sie ein rußüberzogenes, aus Stein gemeißeltes Gesicht anstarrte: das Gesicht einer Frau mit einem Kranz aus Schlangen, die auch ihre Haare waren. Eine zähflüssige grüne Pfütze hatte sich in der Mulde unterhalb ihres offenen Mundes gebildet, aus dem einst Wasser gesprudelt war, mit dem Reisende ihre staubigen Gesichter säubern konnten, ehe sie die große Halle betraten, um den Herrscher zu treffen. Das Maultier versuchte, an das Wasser zu gelangen, aber Pietro zog es zurück. »Vielleicht gibt es noch etwas in den Unterkünften, sofern die Ratten nicht alles aufgefressen haben«, sagte Antonia. »Seid vorsichtig. Sucht Korn und Wasser für das Tier und Vorräte für uns selbst. Und auch einen guten Platz für die Nacht.« »Ja, Eure Exzellenz. Ich werde gehen, und Focas wird bei Euch bleiben.« »Nein, Ihr geht am besten zusammen. Ich werde den Palast der Skopos aufsuchen und Euch hier beim Brunnen wieder treffen.« »Und wenn Hunde dort sind, oder Wahnsinnige ... ?«
76 Sie nickte. »Tut, was ich gesagt habe.« »Ja, Eure Exzellenz.« Unverschämte Männer. Antonia ging unter dem Schatten eines riesigen Bogens hindurch und fand in der üblichen Nische zwei Laternen, an denen sich erstaunlicherweise niemand zu schaffen gemacht hatte. Auch Feuerstein und ein Stückchen Stoff lagen dabei, und sie nahm alles mit, während sie gelassen die alten, vertrauten Gänge entlangschritt. Es war vollkommen still. Hier konnte sie nicht einmal den Wind hören. Hin und wieder erhaschte sie durch offene Fenster und Türen einen Blick auf den vertrockneten Garten. Natürlich waren die Springbrunnen alle versiegt. Staub knirschte unter ihren Füßen. Sie erkannte die Doppeltür fast nicht wieder, die in den Audienzsaal führte. Das Blattgold, das einst das Relief der Tür geziert hatte, war von Dieben oder treuen Dienern entfernt und mitgenommen worden. Wer konnte das schon wissen? Eine Tür hing schräg in den Angeln; ihr fehlten zwei Scharniere. Antonia rührte sie nicht an, sondern nahm die andere, die sich mit lautem Ächzen in die leere Halle öffnete. Ihre Schritte hallten leise durch den Raum. Hoch über ihr, im Zwielicht kaum zu erkennen, wölbte sich die Decke. Die Wandgemälde an der gegenüberliegenden Wand, die den Aufstieg des heiligen Daisan darstellten, waren von tausend Rissen durchzogen, und die Erde unter seinen Füßen lag in unzähligen Stückchen auf dem Boden. Der Stuhl der Skopos auf dem Podest war zerbrochen, und sämtliche Edelsteine waren verschwunden. Nur ein einziger Amethyst war zurückgeblieben, der wahrscheinlich in der Eile auf den Boden gefallen war. Sie hob ihn auf, drehte ihn herum, aber es herrschte nicht genug Licht, um das Glitzern in seinem Innern zu sehen. Dennoch mochte er ihr im Notfall helfen. Sie steckte ihn in die Tasche, die in ihren Ärmel eingenäht war, dann schob sie den Vorhang nach rechts und betrat das persönliche Heiligtum der Skopos.
Ein weißgetünchter Raum, dessen Decke von den Gemälden
77 edler Heiliger geziert wurde. Es gab einen einzigen Tisch, eine beschädigte Truhe, deren Schloss aufgebrochen worden war, eine zerbrochene Keramikschüssel am Fußende der leeren Pritsche, auf der einmal die Skopos geschlafen hatte. Anne hatte Luxus nicht verachtet, aber auch nicht danach verlangt. Die Diebe hatten den einzigen verschlossenen und mit einem Amulett versiegelten Schrank umgeworfen. Sie musterte ihn, achtete darauf, den Knoten nicht zu berühren: Eisenhut, der für die Haut giftig war, für Unsichtbarkeit; Lavendel für Unschuld - um das Aufbrechen des Schlosses zu verhindern; Distel für Stärke. Gewiss, er war hervorragend gewoben, aber sie erkannte das Muster als eines, das sie selbst einigen von Annes Geistlichen beigebracht hatte. Ein kurzer, gemurmelter Spruch, ein Spritzer Öl aus dem Behälter der Lampe auf die trockenen Kräuter, und dann nahm sie den Feuerstein, schlug einen Funken und brachte einen Fetzen Leinen zum Brennen. Das Amulett brannte so hell, dass sie überrascht zurücktrat und die Augen beschattete. Nach so vielen Tagen unter einem bedeckten Himmel hatte sie vergessen, wie strahlend hell Licht sein konnte. Das Amulett verschwand in einem Aschewirbel. Sie durchtrennte das am Riegel befestigte Band mit ihrem Messer. Dampf zischte die Klinge entlang, die zunächst weiß zu glühen begann und dann Funken spuckte. Der Riegel löste sich, und die rechte Tür des Schrankes öffnete sich ächzend; es klang wie das Wehklagen der Verdammten. Anne hatte sich nur wenig aus irdischen Dingen gemacht. Dies zeigte sich jetzt mehr denn je. Ihr Wunsch, die Verlorenen zu vernichten, hatte Anne alles andere vernachlässigen lassen. Alles. Sie hatte die heiligen Gewänder zurückgelassen, den goldenen Becher, allerdings nicht den Amtsstab. Aber es gab noch weitere Kostbarkeiten: so auch einen uralten Speer, der in eine Schicht aus eingeöltem Leder gewickelt und darunter von weichem Lammfell umhüllt war und den Antonia als die heilige Lanze von St. Perpetua erkannte, die Kaiser Henry einst in der
77 Schlacht benutzt hatte. Henry hätte ein solches Relikt niemals willentlich zurückgelassen; sein Schutz war mehr wert als tausend Soldaten. Aber Henry war verzaubert gewesen; er hatte solche Dinge nicht benötigt oder haben wollen, hatte nicht bemerkt, dass sie fehlten, weil der Daemon nur den Befehlen gehorcht hatte, die sein Herr ihm gegeben hatte, während er alles andere nicht weiter beachtete. Er hatte sogar das mächtigste Symbol der kaiserlichen Macht unbeachtet gelassen, das so beiläufig in schlichtes Leinen gewickelt war, dass es leicht für nicht besonders wichtig gehalten werden konnte. Wie Anne daran gelangt war, wusste Antonia nicht, aber als sie es auswickelte, wusste sie, dass sie tatsächlich etwas äußerst Wichtiges errungen hatte: Kaiser Taillefers siebenspitzige goldene Krone, geschmückt mit sieben Juwelen. Die Sternenkrone.
2 Sie erreichten Tivura zwei Tage später, nachdem sie sich zweimal verirrt hatten, da es sehr schwierig war, sich in dem Dunst zurechtzufinden. Das Maultier marschierte weiter, ohne sich zu widersetzen, aber es war eindeutig krank. Seine Augen sonderten eine klebrige Flüssigkeit ab, und es atmete genauso angestrengt wie die beiden Soldaten und Antonia. Wenn sie diese Ebene nicht bald verließen, würden sie alle der verpesteten Luft zum Opfer fallen. »Ist dies der richtige Fluss?«, fragte Pietro zum vierten Mal und hustete wieder. Er hustete ununterbrochen. »Wir sind auf der richtigen Straße. Sie steigt an.« Da das Sprechen schmerzte, sagte Antonia nicht viel. Das Maultier zerrte an den Zügeln, versuchte zum Wasser zu gelangen. Focas kniete am Ufer; er schöpfte mit der Hand etwas Wasser und probierte es. Er spuckte aus und wischte sich
77 dann über die Lippen. »Nicht so schlimm wie bisher. Es dürfte für das Tier genügen. Immerhin schmeckt es nicht nach faulen Eiern wie weiter stromabwärts. Und es ist auch nicht warm.«
Die beiden Soldaten sahen Antonia an. Sie nickte. »Lasst es also trinken, aber nicht zu viel. Ich werde inzwischen weitergehen.« »Eure Exzellenz!« »Ich habe keine Angst vor Banditen.« »Aber das solltet Ihr, Eure Exzellenz!«, rief Focas. »Und auch vor Hunden solltet Ihr Euch in Acht nehmen. Wir mussten letzte Nacht ein ganzes Rudel vertreiben. Sie haben uns gerochen.« Sie zögerte. Sie hasste es, Furcht zu zeigen, aber die Hunde waren tatsächlich kurz vor dem Verhungern und daher gefährlich gewesen. Schließlich setzte sie sich auf den Boden und wartete, während das Maultier trank und Pietro sich die Hände und das Gesicht wusch. Das Wasser sah klar aus. Obwohl der ständige Staubregen es sicher verschmutzt hatte, stank es nicht so sehr wie weiter stromabwärts, wo es mit dem Größeren Tivur zusammenfloss, der durch Darre und von dort aus durch bergiges Gelände zum Meer führte. Diese Berge standen jetzt in Flammen. Dann und wann lichtete sich der Dunst, und da der Weg nach Nordosten langsam anstieg, erhaschte sie immer wieder einen Blick auf den roten Feuerrand, der den westlichen Horizont versengte. Am besten war er natürlich nachts zu sehen, aber auch am Tag war er sichtbar. Ihre Beine taten weh, und ein stechender Schmerz fuhr in ihre Hüfte, als sie sich erhob, aber sie presste die Lippen fest zusammen, als sie weitergingen. Nach hundert Schritten schälten sich die berühmten Säulen aus dem Nebel: Steinsäulen in der Gestalt von vier mürrischen Frauen, die in den Garten eines längst toten Kaisers einluden, der das schönste auf Erden bekannte Paradies erbaut hatte. Zumindest hieß es so. Einige bezeichneten es als steinerne Nachahmung des Gartens
78 am Eingang zur Kammer des Lichts, aber Antonia wusste es besser. Die dariyanischen Kaiser hatten die Wahrheit verachtet. Sie hatten Götzen und Dämonen angebetet. Deshalb war alles, was sie erbaut hatten, zwar fest und haltbar, aber unwiderruflich vom Kuss des Feindes befleckt. Dennoch hatte Kaiserin Adelheids Großvater die Halle mit der großen Kuppel erneuern lassen, und eine ihrer Großtanten hatte dort Stallungen erbauen lassen, wo einst der Kaiser seine Gäste untergebracht hatte. Die steinernen Edelfrauen starrten sie mit ihren nur halb erkennbaren Gesichtern finster an, aber sie waren nur aus Stein und konnten sie daher nicht aufhalten. »Da!«, rief Pietro und hustete. Wieder einmal. »Ein Licht!« Focas sah Pietro an. Ohne miteinander zu sprechen, nickten sie beide. »Ich werde vorausgehen, Eure Exzellenz. Für den Fall, dass es Banditen sind.« Ihre Brust schmerzte. Sie war zu müde, um Einwände zu erheben. Sie wollte einfach nur ihre Füße ausruhen. Focas ging voraus. Es war bemerkenswert, wie gut er sich hielt. Er war stark wie ein Bulle und weitaus fügsamer als sein Kamerad. Seine Umrisse verloren sich im Dunst, obwohl sie jetzt die geschwungene Fassade des großen Hofes erkennen konnte, der die Besucher empfing. Sie blieben an der Stelle stehen, an der die gepflasterte Straße in den breiten Vorhof überging. Antonia drehte sich um und warf einen Blick zurück auf die von Staub und Dunst verschleierte Ebene, aber es war unmöglich, etwas zu erkennen. An klaren Tagen konnte man in der Ferne Darre sehen, umgeben von Feldern. Sie hustete. Das Maultier atmete geräuschvoll. »Still!«, flüsterte Pietro. »Hört Ihr das?« »Wo ist das Licht geblieben?«, fragte sie, musterte den breiten Hof und den Halbkreis aus Säulen. Jetzt brannte dort keine Laterne oder Fackel mehr. »Still! Da!« Geister lösten sich aus dem Nebel, in Dunstschleier gehüllt, formlos und gesichtslos und menschengroß.
78 Sie war bereit. Sie war stets bereit gewesen, hatte stets gewusst, wie gefährlich es war, in einer so kleinen Gruppe zu reisen. Sie zog ihr kleines Messer und packte das Maultier, drückte die Spitze gegen eine Ader an seinem Hals. Ein bisschen Blut floss über ihre Finger, als sie die Worte sprach, die das Galla beschworen. Die Luft summte. Dort, wo sich Blutstropfen im Fell des Maultieres
bildeten, zog sich der Dunst zusammen, als würde er ein Seil aus Dunkelheit bilden. Der Geruch frisch geschmiedeten Eisens stieg von der Erde auf. »Eure Exzellenz! Seht, was ich gefunden habe!« Focas kam in Sicht, bewegte sich lässig zwischen den Geistern. »Wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben! Sie haben sich hier in den Katakomben versteckt. Dieser gute Hauptmann sagt, dass die Prinzessinnen leben und in seiner Obhut sind.« Zu spät! Die Zauberformel war bereits zu weit gediehen und musste in die Welt hinausgeschickt werden, denn sonst würde sie auf sie selbst zurückfallen. Der Gestank der Schmiede mischte sich in die Brise. Ein Schatten fiel neben dem Blutfleck auf den Boden. Das Maultier schrie und riss sich los, brach dann zusammen, während sein Blut auf den Boden tropfte. »Was -?«, rief Focas, während die Männer hinter ihm die Waffen zogen. Es war ein kleines Galla, dessen Appetit von dem Geschmack des Blutes geweckt worden war, aber es würde mehr verlangen, bevor sie es wieder loswerden konnte. Es würde sich auf sie stürzen oder auf jemand anderen. Seine Substanz waberte in der Luft, als es in dieser Welt Gestalt annahm. Seine gemurmelten Worte - Schmerz Schmerz Schmerz - trieben heran, geisterhaft wie der Klang läutender Glocken. Die Luft dieser Welt verbrannte es. Es war wütend und gefangen, und es hatte Angst. Sie musste rasch handeln. Sie besiegelte die Beschwörung mit einem Namen. »Pietro von Darre!«, flüsterte sie, ohne zu zögern. »Eure Exzellenz!«, rief Focas, während die anderen vor
79 Furcht laute Schreie ausstießen. »Was für ein übles Wesen ist das?« »Ein Verräter ist unter uns! Jemand, der nicht der Kaiserin dient, hat einen Dämon zu uns gerufen, um die Prinzessinnen zu töten!« Sie riss die Hände hoch; ihre Ärmel rutschten herunter, während sie laut rief: »St. Thekla rette uns! Matthias, Mark, Johanna, Lucia! Marianna und Peter! Befreit uns von dem Übel! Sucht denjenigen, dessen Geist dem Feind anheimgefallen ist! Sucht denjenigen, der uns vernichten will! Nehmt ihn! Nehmt ihn! Treibt seine Seele in den Abgrund! Und dann hinfort!« Der Schaft aus Dunkelheit, der in dieser Welt den Körper des Galla bildete, zuckte wie eine angekettete Seele, die sich loszureißen versuchte. Der Gestank ließ sie würgen, aber sie hielt die Arme erhoben; sie versagte nicht. Die Galla hatten die Gabe oder den Fluch der Sicht. Sie konnten in die Seele eines jeden Mannes und einer jeden Frau blicken. Die Dunkelheit taumelte, drehte sich zur Seite. Die Glockenstimme klang dumpf. »Pietro.« Pietro schrie. Er und die Dunkelheit verschwanden, und nur seine Knochen blieben zurück. Das Galla war in seine eigene Sphäre zurückgeflüchtet. Der Geruch von Eisen löste sich auf, wurde wieder vom Staub verschluckt. Männer riefen und weinten, scharten sich um sie herum, wie eine Herde Schafe um den Schäfer, wenn ein Wolf anzugreifen drohte. Focas sank schluchzend auf die Knie. Das Maultier versuchte, auf die Beine zu kommen, brach aber wieder zusammen. »Eure Exzellenz! Ich bin Hauptmann Falco.« »Ich kenne Euch, Hauptmann Falco. Ihr seid der treueste Hauptmann der Kaiserin.« Er nickte in Anerkennung von etwas, das für ihn kein Kompliment und keine Schmeichelei war, sondern der Atem, der es ihm gestattete zu existieren. Pietros Tod schien ihn nicht weiter zu berühren.
79 »Ihr habt die Prinzessinnen gut bewacht. Wo sind sie?« »Wohlbehalten in den Katakomben, Eure Exzellenz. Was für Neuigkeiten gibt es von der Kaiserin?« Immer die Kaiserin! Aber sie würde Zeit haben, diese Soldaten ihrem Willen gemäß zu formen, und jene, die sich verweigerten, würde sie loswerden, wie Gott es wünschten. Die Ungehorsamen waren schließlich ohnehin dem Abgrund geweiht.
»Ich kann Euch leider nicht sagen, was mit der Kaiserin geschehen ist. Sie hat mich vorausgeschickt, ist aber selbst an der Küste geblieben, in Estriana. Sie hatte dem Prinzen aus dem Norden einen Hinterhalt gelegt, dem Rebellen, der seinen eigenen Vater, Kaiser Henry, umbringen wollte.« »Vatermord!« Falco war ein kräftiger, fähiger Soldat von mittlerer Größe. Er hatte die breiten Schultern eines Mannes, der bereits als Junge ein Schwert geschwungen und einen Schild getragen hatte. »Ich hatte schon gehört, dass die Wendaner Barbaren sind. Jetzt weiß ich, dass es stimmt!« Für Antonia waren die Wendaner auf ihre eigene, unbeholfene Weise schlichte und ehrbare Menschen, die im Gegensatz zu den gebildeten Aostanern nicht allzu viel für Neid, Verrat und den Versuch, sich gegenseitig hinterrücks abzustechen, übrig hatten. Die Südländer plünderten und raubten einander aus, schnitten sich gegenseitig die Kehle durch und hurten mit ihren eigenen Söhnen und Töchtern. Aber es war besser, dies gegenüber Hauptmann Falco nicht zu erwähnen, der es als Beleidigung empfinden mochte, auch wenn es nur die Wahrheit war. Gott würden die Boshaften überwältigen und die Rechtschaffenen belohnen, und Antonia würde dafür sorgen, dass Gerechtigkeit waltete, während sie darauf wartete, dass Sie auf Erden handelten. Focas kam herangeschlichen und stocherte mit dem Speerschaft in den Knochen herum. »Ist es möglich?«, krächzte er. »Kann Pietro wirklich die ganze Zeit einen üblen Dämon in seiner Seele bewahrt haben? Ich habe es nicht gesehen! Ich habe es nicht gesehen!«
80 »In Zeiten der Not sind wir häufig blind«, erklärte sie freundlich. »Es ist gut, dass Ihr hier seid, um uns zu beschützen«, sagte Falco, aber seine Stimme klang ausdruckslos, und sein Blick war ohne jedes Gefühl. »In der Tat«, bestätigte sie. »Wir müssen rasch aufbrechen. Das Land hier wird vom Feind vergiftet. Wir gehen am besten so schnell wie möglich nach Norden.« Er zögerte. »Was ist, wenn die Kaiserin nach ihren Töchtern sucht, Eure Exzellenz? Sie sind ihr großer Schatz. Sie wird sie nicht im Stich lassen.« Sie nickte. »Wir müssen ein paar Männer hierlassen. Wählt sie aus, Hauptmann.« »Die Männer, die ich hier zurücklasse, werden wahrscheinlich sterben.« »Wir werden alle irgendwann sterben. Das ist Gottes Wille. Sie werden nur schneller zur Kammer des Lichts aufsteigen, wo die Rechtschaffenen Frieden finden.« Er runzelte die Stirn. Einige Männer husteten in der Stille, während er nachdachte. Die Klauen des Feindes waren tief eingedrungen. So viele hatten sich mit der Befleckung angesteckt, die auch Pietro ergriffen hatte und gegen die sie mit jedem Atemzug ankämpfte. »Darre ist verloren, Hauptmann. Wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht vom Feind eingeholt werden wollen, wie es ihm geschehen ist.« Sie deutete auf die Knochen. Sein Stirnrunzeln wurde stärker. Er versteifte sich, ballte die Hände zu Fäusten. »Also gut, Eure Exzellenz. Es ist längst Zeit, dass wir die Prinzessinnen wegbringen. Sie leiden beide unter der Grippe. Ich werde Terence und Petrus hierlassen - und den Mann, der Euch begleitet hat. Focas.« Er prüfte sie, aber sie nahm die Herausforderung an. »Nun gut. Kümmert Euch darum - und sorgt dafür, dass die Übrigen sich bereitmachen.« »Wohin gehen wir?«
80 »Über diese Frage habe ich auf meiner langen Reise häufig nachgedacht. Wir haben Flüchtlinge getroffen, die erklärt haben, dass die Küste überflutet ist und viele Städte zerstört sind. Im Westen brennt es, wie wir sehen können. Wir müssen nach Norden gehen.« »Wohin?« »Es gibt einen Menschen, auf dessen Treue wir zählen können, der uns aufnehmen wird. Wir müssen an Vennaci vorbei nach Norden marschieren und die Straße nach Novomo nehmen.«
VII
Unterwegs
1 Das Husten des Greifen weckte ihn. Er setzte sich auf, augenblicklich hellwach, erinnerte sich erst beim zweiten Atemzug daran, wo er war und was er vermisste. »Liath!«, sagte er mit scharfer Stimme. Sie war weg. Er sprang auf, nestelte an seiner Tunika herum und stürmte nach draußen. »Eure Majestät!« »Wo ist-? Oh. Alles in Ordnung, Benedict. Sibold.« »Eure Majestät.« Die Soldaten nickten, als Sanglant an ihnen vorbei zur Feuerstelle ging, die sich jenseits des Rings aus Zelten befand. Er hörte sie miteinander flüstern. »Ich habe gewonnen! Ich hab dir gesagt, dass er nicht die ganze Zeit weiterschlafen würde!« »Du hast nicht gewonnen! Wir haben nicht gewettet, ob, sondern wann«. Liath saß mit gekreuzten Beinen am Feuer, die Hände geöffnet und locker auf den Oberschenkeln, während sie in die Flammen starrte. Hathui schritt hinter ihr auf und ab; sie blickte hoch, als Sanglant hinzutrat, und gab mit einem Nicken
81 zu verstehen, dass sie ihn gesehen hatte. Er stellte sich hinter Liath und wartete. Die letzten paar Nächte waren wirklich kalt gewesen, die erste heftige Winterkälte nach den warmen Nächten und trüben Tagen im Gefolge des großen Sturms. Die Kälte bereitete ihm auf eine Weise Unbehagen, die er sich nicht erklären konnte. Seine Knochen schmerzten wie die Gelenke eines Menschen bei einem bevorstehenden Wetterumschwung, wenn sich Regen ankündigte. Der Boden fühlte sich kalt und trocken unter seinen bloßen Füßen an. Es war, wie jetzt immer, zu bewölkt, um die Sterne oder den Mond sehen zu können, aber der Himmel leuchtete in einem unnatürlichen rötlichen Licht, das fast so hell war, als würde ein blutiger Vollmond scheinen. »Wie lange seid Ihr schon hier?«, fragte er Hathui leise. »Zu lange, Eure Majestät.« »Immer noch nichts?« »Nichts. Wenn Liath in den Flammen nichts sehen kann, kann es niemand, denke ich.« Er und Hathui warteten in kameradschaftlichem Schweigen. Liath besaß eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich zu konzentrieren; sie rührte sich nicht ein einziges Mal, strich sich nicht einmal die Haare von der Wange, als der Wind sie dorthin wehte, obwohl es sie sicher ablenken musste. Er zuckte, wollte ihre Haare zurückstreichen, wollte sie berühren. Sie schien ihn und Hathui weder zu sehen noch zu hören, obwohl sie sich direkt hinter ihr befanden. Er wäre nie in der Lage, so nahe bei ihr zu sein und sie so ganz und gar nicht zu beachten. Sie war wie ein fauchendes Feuer für ihn, eine Kraft, gegen die er sich unmöglich verschließen konnte. Ihre Hitze plagte ihn, aber er bezweifelte, dass es irgendjemand sonst bemerkte. Er war derjenige, der brannte. »Ist ihr nicht kalt?«, fragte er, aber Hathui zuckte nur mit den Schultern. Weil er nicht einfach nur dastehen und gar nichts tun konnte, ging er zum Zelt zurück und holte einen Umhang, den er Liath über die Schultern legte. Sie bedankte
81 sich nicht dafür; wenn sie den dicken Umhang überhaupt wahrnahm, ließ sie es sich nicht anmerken. Er schritt hin und her. Zweimal legte Hathui neues Holz nach. Beide Male änderte sich nichts in Liaths Blick, als hätte sie die Bewegungen des Adlers und das heiße Züngeln der neuen Flammen gar nicht bemerkt. Nach einiger Zeit erhellte sich die Dunkelheit, kündigte sich der Morgen an, und als ein Wind vom Alfar-Gebirge heranwehte, das jetzt südlich von ihnen lag, seufzte sie schließlich, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. »Oh Gott. Wie gründlich ich auch gesucht habe -« Sie sah auf und bemerkte ihn. »Ist dir nicht kalt?«, fragte sie. »Du bist ja fast nackt!« Sie zitterte, zog den Umhang fester um die Schultern. »Ich friere.« Sie lachte. »Wo kommt der denn her?«
Er schüttelte den Kopf, ein ganz klein wenig entrüstet. Sich fügend. Erheitert. Sie war nicht die Frau, die er in ihr gesehen hatte, als er sie geheiratet hatte. »Irgendetwas Neues?«, fragte er stattdessen und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie und ließ sich hochziehen, wischte den Staub von der Tunika und den Beinkleidern und blies in die Hände, um sie zu wärmen. Ihre Finger waren rot vor Kälte. »Es spielt keine Rolle, wie gründlich ich suche. Es ist, als wäre meine Adlersicht verschwunden. Es gibt zwanzig Adler bei diesem Heer, und nicht einer von uns kann durch die Flammen sehen. Wir sind blind.« »Ich bin nicht blinder als zuvor.« »Nur zu wahr, mein Liebling, aber ich bin blind, und ich mag es nicht, denn ich weiß nicht, was es bedeutet.« »Was es bedeutet, blind zu sein? So wie jene von uns, die nicht so begnadet sind wie du?« Sie sah ihn scharf an, hörte die Spitze in seinen Worten. »Das meinte ich nicht! Die Adlersicht gibt uns einen Vorteil, nichts weiter. Sie gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, das vielleicht ein bisschen zu selbstbewusst macht. Es ist, als wäre ein
82 Vorhang über unsere Sicht gefallen, und wir könnten nur noch Bruchstücke und kurze Eindrücke durch einen Riss im Stoff sehen. Hat die Umwälzung uns blind gemacht? Oder der Dunst und die Wolken? Oder ist es Magie, die die Ashioi weben, um uns zu behindern? Ist die Adlersicht vor langer Zeit in die große Krone eingewoben worden und jetzt bewölkt, weil die Kronen gefallen sind? Ich weiß es nicht, und was ich nicht weiß, kann ich nicht beheben.« »Sind die Kronen gefallen?« Sie rieb sich die Augen und gähnte, und er stützte sie unter dem Arm. Sie lehnte sich gegen ihn, hielt die Augen geschlossen. »Anne ist tot. Das ist alles, was ich weiß. Anne und alle, die bei ihr waren, sind dahin.« Sie seufzte, und ihr Körper zitterte. »Ich habe diejenigen, die die anderen Kronen gewoben haben, gespürt - bis zu dem Augenblick, als Anne gestorben ist und ihre Krone zerstört wurde. Ich weiß nicht, ob die anderen das Feuer und den Sturm überlebt haben. Es kann sein, aber sie können auch tot sein.« »Du bist nicht sicher, ob die bei den anderen Kronen ebenfalls alle gestorben sind?«, fragte Hathui. »Du hast gesagt, dass du alles Leben innerhalb einer Wegstunde der Krone, bei der Anne war, vernichtet hast.« Liath löste sich von Sanglant, und als er die Hand nach ihr ausstreckte, schüttelte sie den Kopf. Sie wollte allein stehen. »Ich weiß nicht, ob das Feuer durch das Weben ausgegriffen und die anderen berührt hat. Ohne Adlersicht werde ich es vielleicht nie erfahren. Es tut mir leid um Meriam. Ich habe sie gemocht.« »Sie hat mich respektvoll behandelt«, murmelte Sanglant. »Im Gegensatz zu den anderen.« Ihr Blick wanderte zu ihm, und ein Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. »Es stimmt, mein Liebling, dass sie dich nicht so behandelt haben, wie du es verdient hättest. Aber bedenke, dass sie j etzt vermutlich tot sind, während wir überlebt haben.«
82 »Ich kann ihren Tod nicht bedauern, wenn ich daran denke, was wir alles erlitten haben.« »Nein, das meinte ich nicht. Nur, dass ich nie darüber nachgedacht habe, was danach passieren würde. Sind wir nicht alle auf diese Weise blind? Wir gehen auf das Tor zu, aber wir sehen nur dieses Tor - und nicht das Land dahinter. Wir können die Landschaft erst sehen, wenn das Tor geöffnet ist und wir hindurchgetreten sind. Aber dann ist es zu spät zur Umkehr.« Die Leute um sie herum begannen sich zu regen, standen auf und machten sich zum Weitermarsch bereit. Sie hatten den Brinne-Pass innerhalb von fünfzehn Tagen überquert. Die Luft im Norden hatte die Trägheit und die Erschöpfung aus den Menschen vertrieben, da sie jetzt erkennen konnten, wie nah sie bereits ihrer Heimat waren. Und natürlich belästigte sie auch weniger Staub. In den ersten Tagen war er beständig auf sie herabgeregnet, hatte Hände und Gesichter mit einer Schmutzschicht bedeckt, die sie nicht abwaschen konnten, weil sie weder die Zeit noch das Wasser dazu gehabt hatten.
Soldaten rollten ihre Decken zusammen. Wachen riefen Männern etwas zu, die mit Eimern voller Wasser aus einem nahen Bach ins Lager kamen, während andere die Pferde in Zwanzigergruppen zur Tränke führten. So zerlumpt und müde seine Männer auch aussahen, Sanglant wusste, dass die Pferde am wenigsten mit den Umständen zurechtkamen. Das Heer besaß fast kein Korn mehr, nur noch eine magere Ration, und es gab kaum eine Möglichkeit, sie grasen zu lassen. Immerhin war das Wasser hier, an den Nordhängen der Berge, klar und nicht von Dreck und Asche verschmutzt. Aber es hatte immer noch nicht geregnet, trotz der Wolken, und beide Dörfer, die sie beim Abstieg passiert hatten, waren verlassen gewesen. Der große Sturm hatte die Häuser und Hütten zerstört. »Ich kann nicht aufhören, sie zu sehen«, flüsterte sie. »Wie sie gebrannt haben. Ich höre immer noch ihre Schreie.« Er war klug genug, sie nicht zu berühren, wenn sie in dieser Stimmung war. »Sie waren deine Feinde.« Er hatte dies schon
83 hundertmal in den letzten fünfzehn Tagen gesagt. »Sie hätten dich getötet.« »Ich weiß. Trotzdem fühle ich mich schmutzig, als wäre ich vom Werk des Feindes befleckt.« Er wartete. Es wurde heller, und die Welt wurde sichtbar: Berge, Wald, vertrocknende Bäume. Die Dürre und der Mangel an Licht, die unzeitgemäße Hitze, gefolgt von dem plötzlichen Wintereinbruch, hatten ihre Auswirkungen auf die Pflanzenwelt gehabt. Im Norden war das Land zu gebirgig, um weit sehen zu können. Die Straße schlängelte sich zu einer Kammlinie hoch und verlor sich dann dahinter. Im Süden hätten sie an einem klaren Tag die Berggipfel sehen können, aber noch immer hing dort Dunst in der Luft. Selbst um die Mittagszeit mangelte es dem Tageslicht an Kraft. Es war unheimlich. Tatsächlich flößte ihm dies mehr Angst ein als alles andere. Er war kein Bauer, aber er wusste, was Bauern brauchten: Regen, Sonne und jahreszeitgemäßes Wetter. Nach Jahren der Bürgerkriege, Eroberungen, Dürre, Hungersnöte und Seuchen konnte er sich nicht vorstellen, dass irgendein wendischer Edelmann oder eine Bischöfin noch große Vorräte besaß. Sie hatten bereits harte Zeiten hinter sich. Wie lange würden diese Wolken bleiben? »Der Tod in der Schlacht ist vielleicht nicht das Schlimmste«, sagte er schließlich. »Vielleicht ist es am Ende sogar die barmherzigere Art zu sterben.« Sie hatte ein paar Tränen vergossen, aber sie wischte sie weg. Sie musterte ihn, wie sie ein Schriftstück mustern mochte, mit jenem verschlingenden Blick, den sie so selten auf ihn richtete. Er verstand sie immer noch nicht. Er war sich nicht einmal sicher, was sie wirklich von ihm hielt. Immerhin wusste er, dass sie bereit war, ihn leidenschaftlich zu lieben. Aber alles Übrige - all das, was jenseits des Verlangens lag - musste er Stück für Stück entfalten. »Ich werde es weiter versuchen«, sagte sie, und es dauerte einen Augenblick, ehe er begriff, dass sie von der Adlersicht
83 sprach. »Um die Kronen zu sehen. Wenn sie gefallen sind, sind wir unseren Feinden gegenüber nicht mehr im Vorteil. Aber auch nicht im Nachteil, denn sie haben nichts, was wir nicht auch hätten. Sofern es nicht welche gibt, die noch mit der Adlersicht sehen können, während sie uns verwehrt bleibt.« »Hältst du das für möglich?« Sie sah Hathui an. Hathui zuckte mit den Schultern, ohne die Miene zu verziehen. Die beiden Frauen vertrauten einander auf eine Weise, die ihn ärgerlicherweise ausschloss. »Ich glaube nicht, dass irgendein anderer Mensch überlebt hat, der sehen kann, wenn ich es nicht kann.« Liath sagte diese Worte ohne jede Eitelkeit oder Hochmut. »Die Adlersicht hat die Welt auf dem Ätherfluss durcheilt. Dieses Element ist in mein Wesen eingebunden, und so sollte ich seinen Strömungen gegenüber wahrnehmungsfähiger sein als die meisten Verwandten meines Vaters. Aber ein Zauberer, dessen Fähigkeiten aufs Höchste verfeinert worden sind, könnte in der Lage sein, Dinge zu erkennen, die ich nicht sehen kann. Und ich weiß nichts von den Alten, die zu mir gesprochen haben, oder von den Ashioi oder dem Pferdevolk. Sie besitzen die Sicht vielleicht immer noch, während wir blind geworden sind. Und abgesehen davon bin ich noch sehr jung und unwissend, verglichen mit jemandem wie Li'at'dano -«
»Seht mal, wer da kommt«, sagte Hathui und reckte das Kinn. Die Zentauren hatten sich als die kräftigsten seiner Soldaten erwiesen. Wie Ziegen schienen sie in der Lage zu sein, alles zu essen, obwohl er nie jemanden vom Pferdevolk hatte Fleisch essen sehen. Schmutz hatte Capi'ras schönes Fell matt werden lassen, aber sie sah aus, als könnte sie ihn auf der Stelle niedertrampeln, wenn er sie beleidigen sollte. Er nickte zur Begrüßung. Sie stampfte einmal auf. »Es ist so weit.« Sie deutete nach Osten. »Wir wenden uns nach Osten und folgen den Bergen auf unserem eigenen Weg. Von dort aus erreichen wir die nördlichen Ebenen von Ungria 84 und ziehen weiter nach Osten in unsere Heimat. Unser Bündnis ist beendet. Wir brechen jetzt auf.« »Ich lasse Euch und Eure Leute nur ungern ziehen«, sagte er. »Aber ich weiß, dass ich Euch nicht halten kann.« »Das ist wahr.« Er lächelte. Sie lächelte nicht zur Antwort, aber sie runzelte auch nicht die Stirn. »Was wird in Zukunft sein?«, fragte er. »Was ist mit unserem Bündnis?« »Ich werde dem Rat über alles, was wir gesehen haben, Bericht erstatten, wie Ihr es ausdrücken würdet. Die starken Köpfe werden entscheiden. Wir, die Übrigen, werden ihrer Entscheidung folgen.« »Was ist mit unserer Tochter?«, fragte Liath. »Ich habe Eure Tochter nicht vergessen, Strahlende. Seht, wer mit mir kommt.« Sie hob die Hand. Bei ihrem Dutzend Begleiterinnen befanden sich einige der in der Steppe lebenden Kerayiten, aber zu Sanglants Überraschung war auch Gyasi dabei, zusammen mit zwei Hauptleuten der Qumaner. Er hatte sie zuerst nicht bemerkt, weil sie nicht beritten waren und ihre Flügel noch nicht trugen, und ihre Gesichtszüge unterschieden sich nicht allzu sehr von denen der kerayitischen Stammeskrieger. Der Schamane und seine Kameraden knieten vor Sanglant nieder, berührten die Stirn mit den Fingerknöcheln. »Wir bitten Euch, Herr, lasst uns mit dem Pferdevolk in unsere Heimat zurückkehren«, sagte Gyasi. »Ich werde Euer Bote sein und nach Eurer Tochter suchen. Ich werde sie zu Euch zurückbringen, wenn sie noch lebt. Mein Clan schuldet ihr unseren Dienst, solange sie lebt.« Liath sah zur Seite, wischte eine Träne von der Wange. »Sie lebt«, murmelte sie. »Ich habe sie gesehen.« Sie drehte sich wieder zu Sanglant um. »Ich sollte mitgehen.« »Nein. Ich mache mir auch Sorgen um Gnade. Ich habe Angst um sie. Aber es nützt niemandem, wenn du dich nach Osten auf eine Reise begibst, die Jahre dauern kann. Ich weine
84 um meine Tochter. Ich vermisse sie. Aber wenn du gehst, wird sie das auch nicht schneller zurückbringen. Und wenn sie tot ist -« »Sie ist nicht tot!« »Wenn es nach unserem Willen geht, ist sie nicht tot, aber wir wissen es nicht. Ich vertraue darauf, dass Gyasi sie findet und nach Hause bringt. Heribert ist bei ihr. Das muss genügen. Es steht zu viel auf dem Spiel, und ich ... brauche ... dich.« Sie hob die Hand. Sie konnte auf keine andere Weise antworten. Es war keine Einwilligung, streng genommen. Sie war selbst zerrissen und unentschieden. »Nehmt an Vorräten, was Ihr braucht, Gyasi. Und nehmt auch mein Herz, denn meine Tochter ist mir teuer.« Gyasi nickte. »Sie hat mir und meinen Neffen das Leben gerettet, Eure Majestät. Deshalb stehe ich in ihrer Schuld. Ich bin kein Mann, solange diese Schuld nicht abgetragen ist.« Obwohl Sanglant wusste, dass er tat, was notwendig war, stellte er fest, dass er ebenso wenig sprechen konnte wie Liath. Kummer und Angst erstickten die Worte in seiner Kehle. Auch er hob die Hand. Die Geste musste sprechen, da er sonst zusammengebrochen wäre. So viele Verluste; Gnade mochte der schmerzlichste von ihnen sein.
Der Schamane erhob sich, aber er hielt noch einmal inne, ehe er sich abwandte. Die Zentauren und ihre Begleiter bewegten sich bereits auf den pfadlosen Wald zu, während Gyasi leise eine seltsame, kleine Melodie summte. Ein sich schlängelnder Pfad öffnete sich zwischen den Bäumen, nicht ganz sichtbar, nicht ganz spürbar, aber dennoch so gegenwärtig wie der Nebel, der in der Morgendämmerung von den Bergen aufstieg. Das Geräusch von Pferdehufen, das Rasseln von Harnischen, die leisen Gespräche verklangen allmählich, während die Gruppe den Pfad betrat und im Wald verschwand. Das Heer hinter Sanglant machte sich zum Aufbruch bereit, aber die Männer unterbrachen ihre Arbeiten, als sie die unheimliche Melodie hörten, und starrten auf den Wald, der die Zentauren
85 und ihre Kameraden verschluckte. Als Letzter betrat Gyasi den Pfad, und die Bäume schlossen sich hinter ihm. Sofort wirkte der Wald wieder wie ein undurchdringliches Gewirr aus umgestürzten Baumstämmen, Birken und Fichten inmitten von Brombeersträuchern und einem Dickicht aus Riedgras und Heidelbeeren. »Sie werden rasch vorankommen, da bin ich mir sicher«, murmelte Hathui. »Gehen wir«, sagte Liath; ihre Stimme klang zittrig. »Sonst fange ich noch an zu weinen.« Alle waren begierig darauf, weiterzumarschieren und nach Hause zu kommen. Herauszufinden, wie die Heimat den Sturm überstanden hatte. Viele, wie Liutgard und Burchard und diejenigen Soldaten, die noch von ihren Heeren übrig waren, hatten Wendar seit Jahren nicht mehr gesehen seit sie mit Henry in den Süden gegangen waren, um ihm bei seinem Versuch zu helfen, Taillefers untergegangenes Reich zu neuem Leben zu erwecken. Das alles war jetzt vorbei. So viel mehr war vorbei, dachte Sanglant grüblerisch, während sie in gleichmäßiger Geschwindigkeit die Straße entlangritten. Sie mussten häufig anhalten, während die Männer der Vorhut die Straße freiräumten. Der Sturm war durch dieses Gebiet gefegt und hatte überall Zerstörung hinterlassen. Niemand würde Schwierigkeiten haben, Feuerholz für den Winter zu finden, hätten sie nur irgendwelches Wild, das sie über den Flammen braten könnten. »Ihr seid still, Eure Majestät«, sagte Hathui, nachdem sie ihre Versuche aufgegeben hatte, Liath zum Sprechen zu bringen. »Was ist noch übrig?«, fragte er. »Was einmal ein Bündnis war, sind jetzt wieder nur loyale Wendaner und Markländer.« »Ist es nicht besser so?« »Ist es das? Lag unsere Stärke nicht in unserer Zahl? Hatten wir diese Stärke nicht deshalb, weil wir alte Grenzen überschritten haben? Mein Vater war nicht dumm, als er gedacht hat, dass das Kaiserreich ihn stärken würde.«
85 »Es hat ihn getötet.« Hathuis Tonfall überraschte ihn, aber als er ihr Gesicht musterte, sah er weder Ärger noch Unmut, sondern lediglich Trauer. »Hat es das? Dass er nach Aosta marschiert ist - möglicherweise. Aber jeder von uns kann jeden Tag sterben.« »Ihr möglicherweise nicht, Eure Majestät.« Das saß. »Möglicherweise ist das so, aber bedenkt bitte, dass mein Vater, statt sich in den Intrigen der Königin zu verstricken, ebenso leicht in seinem Bett hätte sterben können, oder im Kampf gegen seine Feinde in Wendar.« »Vergesst Hugh von Austra nicht, Eure Majestät.« Ah. Er warf einen Blick auf Liath, aber sie schien weit weg zu sein. Sie führte ihr Pferd am Zügel, eine gehorsame Stute, die zufrieden damit war, dorthin zu folgen, wohin die Übrigen gingen. Sie war weit hinter ihm, eine Welt entfernt, wie er an ihrem Stirnrunzeln und dem leeren Blick erkannte, der sich weder auf einen Baum noch den Boden oder den bewölkten Himmel richtete. »Ich habe ihn nicht vergessen, Hathui. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist.«
»Tot, hoffe ich«, murmelte Hathui. »Ich habe gesehen, wie er Villam mit seinen eigenen Händen umgebracht hat. Das werde ich ihm nie vergeben, auch wenn meine Vergebung nichts ist, was einen Mann seines Ranges interessiert. Wenn er lebt, wird er irgendwo Zuflucht gefunden haben. Ich hoffe, er ist tot.« »Ich würde es zu gerne wissen.« Er lachte. »Es ist besser, man weiß, ob es einen Mann im Dunkeln gibt, der einen mit dem Messer angreifen wird. Auch wenn man ihn nicht sehen kann. Aber was haltet Ihr davon, Hathui?« »Von Hughs Intrigen und Königin Adelheids Verrat?« »Nein. Von diesem neuen Bündnis.« »Welchem Bündnis, Eure Majestät?« Sie sah sich um, als erwartete sie, dass gleich ein Rudel Wölfe aus den Wäldern her
86 vorspringen würde. Als sie in den Talkessel abstiegen, wichen die Birken und Silberfichten Tannen. Deren dichte Zweige hatten die heftigen Winde besser überstanden als die meisten anderen Bäume. Obwohl die Straße dunkler war und oft im Schatten lag, behinderten nur wenige herabgefallene Äste und umgestürzte Bäume ihren Weg. »Das zwischen den Qumanern und dem Pferdevolk.« »Gibt es ein Bündnis zwischen ihnen?« Liath hatte also doch zugehört. Sie sprach, als wäre die Frage an sie gerichtet gewesen. »Das Pferdevolk ist nicht sehr zahlreich, heißt es. Wenn sie sich nicht mit den Qumanern verbünden, werden sie schließlich gegen sie kämpfen müssen. Das haben sie mit Hilfe der Zauberei gewiss seit Generationen getan.« »Das haben sie tatsächlich, aber es ist nicht klar, was jetzt aus der Zauberei werden wird oder wie sich das Gleichgewicht der Macht durch die Rückkehr des Volkes meiner Mutter verändern wird. Wenn ich eine Anführerin des Pferdevolkes wäre, würde ich Verbündete suchen. Vielleicht streben sie ein Bündnis mit den Qumanern an. Es kann sogar sein, dass sie eines mit den Ashioi suchen.« »Das Pferdevolk und die Ashioi sind Feinde gewesen.« »Vor langer Zeit.« »Ich bin Zuangua begegnet, genau wie du, Sanglant. Für ihn und all jene, die die ganze Zeit über in den Schatten lebten, war es nicht vor langer Zeit, sondern gestern. Selbst für diejenigen, die im Exil geboren sind, ist es Teil der lebendigen Erinnerungen deines Großvaters, der die Geschichte erzählen kann.« Sanglant konnte sich nur ganz schwach an den Vater seines Vaters, Arnulf den Jüngeren, erinnern. Aber Henrys Mutter, Königin Mathilda, hatte ihren kleinen Enkel derart leidenschaftlich getätschelt und verwöhnt, wie eine so zurückhaltende Frau wie sie es nur vermochte. All ihre Liebe galt Henry. Sie hatte Sanglant bewundert, aber seine Geburt war vor allem wichtig gewesen, vermutete er, weil sie Henrys Anspruch auf die Herrschaft gesichert hatte.
86 Die Vorstellung, einen Großvater zu haben, der so alt war, dass er die Welt schon vor fast dreitausend Jahren gesehen hatte, war seltsam. Er konnte eine solche Zeitspanne nicht ermessen. Er war nie jemand gewesen, der Groll bewahrte oder in der Vergangenheit verweilte. Er weigerte sich, für immer in Blutherz' Halle zu leben, dort mit den Hunden angekettet zu sein. »Das mag stimmen«, sagte er. »Aber Feinde können Verbündete werden, wenn eine größere Bedrohung auftaucht.« »Was für eine sollte das sein?«, fragte Hathui. »Wenn die Geschichten stimmen, haben die Menschen und das Pferdevolk tatsächlich Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um die Ashioi zu vertreiben. Ich weiß nicht, ob ich das vergeben könnte, wenn ich eine der Verlorenen wäre. Und wäre ich eine vom Pferdevolk, weiß ich nicht, ob ich erwarten würde, dass man mir vergibt.« Er lachte. »Wir sind nicht das Pferdevolk. Sie sind nicht wie wir. Li'at'dano hat es selbst gesagt. Sie sagte, dass die Menschen sie weit nach Osten vertrieben und Krankheiten und kriegerische Auseinandersetzungen ihre Herden verkleinert hätten.« »Das waren die Qumaner, die das Pferdevolk hassen und fürchten«, sagte Hathui.
»Und andere. Aber Capi'ra und ihre Truppe haben jetzt den Westen gesehen. Das wendische Volk hat die Qumaner besiegt. Anne und ihre Zauberer haben diesen großen Sturm heraufbeschworen. Wenn ich ein Anführer des Pferdevolkes wäre, würde ich Wendar fürchten.« »Es gibt noch eine andere Macht, die du vergessen hast«, sagte Liath plötzlich. »Anne hat den Sturm nicht heraufbeschworen. Die Alten haben es getan. Li'at'dano war es. Das Land der Ashioi wäre auf jeden Fall zurückgekehrt. Anne wollte sie wieder vertreiben, um sie für alle Zeiten zu vernichten. Dass sie es nicht getan hat, dass nicht noch schlimmere Zerstörung über uns gekommen ist, liegt an den Stimmen aus dem Norden. Dort ist eine Macht, die wir nicht übersehen dürfen.« »Die Aikha?«, fragte Hathui. »Das sind Barbaren. Ein An
87 führer mag die Küste verwüsten, aber ich erinnere mich, wie Graf Lavastin sie mit seinen Soldaten abgewehrt hat. Ein starker Widerstand aus Wendar und Varre wird sie zurücktreiben.« »Vielleicht«, sagte Sanglant. »Das bleibt abzuwarten.« »Es gibt noch so viel, was wir nicht wissen«, murmelte Liath. »Und seit wir blind sind, ist es noch schwieriger, es herauszufinden.«
2 Als sie bei Anbruch der Dunkelheit haltmachten, entfernte sich Hanna von ihren Wachen, während diese darüber stritten, ob sie ein Zelt für die Nacht errichten sollten. Stolpernd ging sie zu einem Bach, klatschte sich inmitten einer Gruppe aus schwitzenden und durstigen arethusanischen Soldaten Wasser ins Gesicht und trank so viel wie möglich davon. Schon bald wurde das zunächst klare Wasser trübe von den vielen Menschen, die darin herumtrampelten. Ein Mann prallte gegen ihre Schulter, als er zum Fluss drängte. Er murmelte einen Fluch, sah sie erst einmal und ein zweites Mal an und wandte sich dann an seine Kameraden. »Das wendische Miststück! Seht nur! Sie ist ihrer Leine entkommen !« Sofort kamen ein halbes Dutzend anderer Soldaten durch das Wasser zurück und umringten sie. Sie hatte sich zu weit vorgewagt, vom Durst getrieben. Sie drehte die Fäuste nach innen und packte die Kette, um sie als Waffe zu benutzen. Feldwebel Bysantius tauchte mit einer Reitpeitsche neben ihr auf. »Zurück! Zurück!«, rief er, während er nach links und rechts schlug und die Soldaten von ihr wegtrieb. Ihr Herz raste immer noch, und ihr Mund war trocken geworden. Sie täuschte eine Gelassenheit vor, die sie nicht empfand, während sie sich hinhockte und sich die Stirn so gut ab
87 wischte, wie es mit den gefesselten Handgelenken möglich war. »Danke, Feldwebel.« Er wölbte eine Braue, deutete dann mit der Peitsche an ihr vorbei. »Ich bin nicht Euretwegen hier. General Edelmann Alexandras möchte seine Pferde tränken.« Das Gelände, durch das sie seit Tagen marschierten, war trocken und bergig und vollkommen unbewohnt. Der Fluss kam aus einer Schlucht. Abgesehen von dieser Furt waren die Ufer zu steil, als dass Pferde an ihm hätten getränkt werden können. Murrend kehrten die Soldaten ins Lager zurück. »Auf!« Feldwebel Bysantius packte sie am Ellbogen und zog sie hoch. »Aus dem Weg!« Sie schüttelte seine Hand ab, bevor er sie wegführen konnte. Die Kette an ihren Knöcheln gestattete ihr zu gehen, aber nicht zu rennen, und sie konnte den vielen Pferden, die von den Knechten des Generals zum Fluss geführt wurden, nicht ausweichen. Alexandras ritt eine kastanienbraune Stute mit hellgoldenem Schimmer. Er zügelte sein Pferd, stieg ab und warf die Zügel einem seiner Pferdeknechte zu, ehe er zu Feldwebel Bysantius ging. »Feldwebel, bringt den Adler zu mir ins Zelt.« »Jawohl, General.« Begleitet von einem Dutzend Männern schritt er davon. »Er muss nicht um einen Schluck Wasser kämpfen wie wir«, sagte sie verbittert zu dem Feldwebel. »Er hat Wein zu trinken, während seine Soldaten verdursten.«
Bysantius kratzte sich an der Wange. »Er hat sich seinen Rang und seine Vorrechte verdient. Er ist von Geburt nichts Besseres als die Hälfte dieser Männer.« Sie lachte. »Wie kann das sein? Er ist ein Edelmann.« »Ein Mann, der ein Heer befehligt, wird wahrscheinlich fast immer als >Edelmann< angesprochen. Selbst von jenen, die unter einem Dach geboren wurden, das sich des kaiserlichen Sterns rühmt. Vor allem, wenn sie die Männer und Waffen brauchen, die er mitbringt.«
88 »Die erhabene Edelfrau Eudokia braucht ihn, um ihren Neffen zum Kaiser zu machen?« Er zuckte mit den Schultern. »Eine starke Hand herrscht, wo schwächere Hände Unruhe säen. Kommt.« Sie ging mit ihm über den staubigen Boden dem General hinterher, der mittlerweile in der Flut von Wagen, Pferden, herumlaufenden Soldaten und Zelten verschwunden war. Jede Nacht wurde das Lager auf die gleiche Weise in einem bestimmten Abstand zum Zelt des Herrschers errichtet, abhängig davon, welchen Rang oder was für eine Position der Zeltinhaber hatte - und welche Bedeutung er für das königliche Kind hatte. Diese Nacht hatten sie in der Mitte von etwas angehalten, das einmal ein Dorf gewesen war. Drei Ziegelhütten standen inmitten eines Dutzends alter Olivenbäume, aber der winzige Weiler war offensichtlich verlassen, vielleicht erst seit einem Tag, vielleicht auch schon seit hundert Jahren. Das Land war so trocken, dass das unmöglich zu erkennen war. Bysantius ging langsamer, damit er nicht zu weit vorausschritt. Im Laufe der letzten zehn Tage hatte Hanna sich an die Ketten gewöhnt, so dass sie jetzt nicht mehr stolperte. »Danke«, wiederholte sie. »Für welche Freundlichkeit?«, fragte er, lachte beinahe. »Dafür, dass Ihr mich vor jedweder Unfreundlichkeit bewahrt habt, die ich durch diese Soldaten möglicherweise erlitten hätte.« »Der General möchte nicht, dass Euch etwas zustößt. Tot nützt Ihr ihm nichts.« Sie nützte ihm offensichtlich auch lebendig nichts, aber das behielt sie lieber für sich. Es wäre dumm gewesen, diejenigen, die sie gefangen hielten, daran zu erinnern, dass es ihnen möglicherweise besser ginge, wenn sie die Nahrungsmittel für sich behielten, die sie ihr jeden Tag gaben. »Stimmt es, dass Ihr alle dem edlen General dient und nicht der erhabenen Edelfrau?« Jetzt lachte er richtig. »Die Priester lehren uns, dass wir Gott
88 dienen, oder nicht? Gott diente der Menschheit, indem Er eine Zeitlang unter uns wandelte, um uns ins Licht zu führen.« »Das ist Ketzerei.« »Nein, Ihr aus Darre seid die Ketzer. Ihr behauptet, dass der heilige Daisan ein Mensch wie jeder andere war.« Er sprach ohne jede Leidenschaft. Er war offenbar kein Mann, den Glaubensfragen übermäßig berührten. »Die Diakonissinnen meines Landes haben mir erklärt, dass der heilige Daisan sieben Tage und Nächte gebetet hat und dann von der Mutter und dem Vater des Lebens zur Kammer des Lichts emporgehoben wurde. Ihr glaubt die Geschichten über sein Martyrium nicht, oder?« »Nein.« Aber er runzelte die Stirn. »Der heilige Daisan vereinigt zweierlei Natur in sich, denn wie sonst hätte er zur Kammer des Lichts aufsteigen können, während er noch lebte? Dennoch reden die Leute von seinem Martyrium - davon, wie ihm die Haut vom Körper geschält wurde.« »Ich bin im Westen mehr als einem Menschen begegnet, der die Ketzerei der Erlösung weiterverbreitet. Ich wusste nicht, dass sie auch hier erzählt wird.« Er klatschte mit der Reitpeitsche gegen seinen Oberschenkel und warf erst einen Blick nach links, dann nach rechts, während sie weiter durch das Lager gingen. Erschöpfte Männer saßen auf dem Boden oder lagen auf Decken und Umhängen. »Es könnte jemand zuhören. Der Patriarch hat Spione unter den Soldaten.« Wenn das stimmte, bedeutete es, dass der Patriarch die Kraft der Ketzerei fürchtete. Wieso sollte man ausspionieren, was man nicht fürchtete? Sicherlich musste die Ketzerei, zu der Ivar sich bekannt hatte, irgendwo hergekommen sein. Wieso nicht aus dem Osten? Es klang sehr
wahrscheinlich. Was immer Bysantius auch sagte, mit ihrem Gerede von der »zweierlei Natur« des Daisan waren sie ohnehin Ketzer. War diese Tür erst einmal geöffnet, wie Diakonissin Fortensia in Friedleben zu sagen pflegte, konnte jeder schamlose Tagedieb hineinschleichen und sich als Heiliger ausgeben.
89 »Denkt Ihr jemals darüber nach, was Ihr Euch erhofft, falls der General Euch die Freiheit schenkt?«, fragte Bysantius, während sie sich dem großen Zelt des Generals näherten. Es nahm gerade erst Gestalt an, denn Soldaten und Bedienstete waren noch damit beschäftigt, den Zeltstoff über die Gestelle zu hängen und alles zu befestigen. »Was ich mir erhoffe? Ich hoffe, nach Hause gehen zu können! Ich diene Kaiser Henry.« »Die Kundschafter sagen, das Land westlich von hier wäre vernichtet. Dass Asche, Staub und Feuer die Luft verschmutzen. Ich glaube nicht, dass der wendische König noch ein Reich hat. Es wäre besser, Ihr würdet Euch an zivilisierte Gebiete halten.« Ihre Augen brannten. Sie wischte Tränen weg, während sie gegen ihre Bestürzung ankämpfte. »Von diesen Berichten habe ich noch nichts gehört.« In ihrem eigenen Land hätte sie sie gehört. Adler sprachen miteinander und wussten alles - so viel, wie irgendjemand nur wissen konnte. Sie wussten beinahe so viel wie der Herrscher, weil sie seine Augen und Ohren waren. »Ihr seid eine Gefangene«, erwiderte er, den Blick auf sie gerichtet. »Aber Ihr könntet etwas anderes sein.« »Etwas anderes?« Sie schluckte die Tränen hinunter, hasste es, ihre Schwäche zu zeigen. »Ich würde Euch heiraten, wenn Ihr bereit wärt.« »Mich heiraten?« Die widersinnige Bemerkung trocknete ihre Tränen und ihre Verärgerung, brachte sie dann zum Lachen. »Mich heiraten?« »Ihr seid stark, fähig und klug. Die erhabene Edelfrau Eudokia behauptet, dass Ihr noch Jungfrau wärt. Ihr würdet eine gute Frau abgeben. Ich mag Euch. Ihr habt nicht aufgegeben.« Jetzt brannten ihre Wangen. Wie konnte die erhabene Edelfrau das wissen? »Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe mich noch nicht an diese Ketten gewöhnt.« Sein Seitenblick war abschätzend, nicht verärgert. »Ich habe
89 eine aufrichtige Frage gestellt. Ich dachte, ich könnte bei der Antwort die gleiche Höflichkeit erwarten.« »Noch bin ich eine Gefangene. Fragt mich, wenn ich die Freiheit habe, zu gehen oder zu bleiben, wie es mir gefällt.« »Hach«, sagte er. Es war zur Hälfte ein Lachen, und den Rest konnte sie nicht deuten. Mit der Reitpeitsche wies er auf den Eingang zum Zelt. »Geht hinein.« »Kommt Ihr nicht mit?«, fragte sie. Sie musste sich zwingen, nicht seinen Arm zu packen, als wäre er eine Rettungsleine. Sie brachte es nicht über sich, den Gedanken auszusprechen, der ihr durch den Kopf geschossen war: Allein habe ich Angst vor der Wut des Generals, aber wenn Ihr da wärt, könnte ich hoffen, dass mich jemand beschützt. Er strich sich mit einer Hand durch seine dunklen Haare, wie es ein Mann tun mochte, der sich für den Besuch seiner Geliebten zurechtmacht. »Geht hinein«, wiederholte er und hob die Peitsche. »Ich muss mit ein paar Wachen sprechen. Sie sind zu nachlässig geworden.« Nachlässig ihr gegenüber. Er nickte, ließ sie dann allein und ging davon. General Edelmann Alexandras' Wachen zogen ihre Speere vom Eingang zurück und ließen sie eintreten. Im Innern rollte ein Diener einen Teppich aus, der die rotgraue Erde bedeckte, aber ansonsten verzichtete der General auf das reiche Mobiliar, das ihn vor dem großen Sturm umgeben hatte. Die Zeltwände waren kahl und nicht mit grüner Seide geschmückt. Stühle und kostbare Sofas waren verschwunden, ersetzt durch eine Bank, eine Pritsche und einen Wasserkrug, der in einer Kupferschüssel auf einem dreibeinigen Hocker stand. Der General saß auf der Bank, wischte sich den Staub mit einem Stück Leinen vom Gesicht, während ein Hauptmann in einem roten Überwurf ihm Bericht erstattete. Der Mann hatte einen ungewöhnlichen Akzent und sprach so schnell, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen.
»... einen Tag voraus ... Flüchtlinge ... die Stadt. Sie flüch 90
teten ... dem Meer. Diese Menschen sind diejenigen ... der Sturm am Himmel ...« Der General blickte auf und bemerkte sie, winkte einem Diener. »Ein Feuer«, sagte er leise zu dem Mann, der nach draußen ging, während der Hauptmann weitersprach. »... Sie flüchteten in die Berge ... das Meer ... die Stadt ... sie lügen ... es ist wahr ... wollt Ihr mit ihnen sprechen?« »Nein, noch nicht. Wenn ihre Geschichte stimmt, werden wir anderen begegnen, die das Gleiche sagen. Wenn sie nicht stimmt, werden wir es schon bald herausfinden. Verdoppelt die Wachen. Achtet auf Banditen und Diebe.« Als der Hauptmann ging, kehrte der Diener mit einer Kohlenpfanne voller glühender Kohlen zurück. Ein zweiter Mann kam hinterher, der eine Stoffschlinge mit Holzscheiten trug. Sie stellten ein Dreibein auf dem Boden auf und hängten die Kohlenpfanne ein. Alexandros deutete auf die Kohlenpfanne, sagte aber nichts. Sie kniete sich auf den Boden, denn sie hatte nicht die Erlaubnis erhalten, den Teppich zu berühren. Einer der Diener legte Holz auf die Kohlen. Einen Moment später richtete Hanna ihre Aufmerksamkeit auf die Flammen, suchte in ihnen nach jenen, die sie kannte: König Henry, Liath, Ivar, Prinz Sanglant, Wulfhere, Sorgatani, Schwester Rosvita und ihre Gefolgschaft, Hauptmann Thiadbold und sogar ihre Freunde bei den Löwen, einen nach dem anderen. Von ein paar flackernden Schemen abgesehen, sah sie nichts in den Flammen. Vielleicht waren all jene, die sie kannte, in dem Sturm gestorben. Vielleicht waren Ingo, Folquin, Leo und Stephen tatsächlich tot, vielleicht waren sie während der Umwälzung verloren gegangen - oder in einer Schlacht, von der sie nicht einmal wusste, dass sie stattgefunden hatte. Vielleicht waren Rosvita und die anderen Geistlichen verdurstet und verhungert oder von Banditen getötet worden. Die Zeltklappe hob sich. Der über den Boden wandernde Lichtfleck verwirrte sie so sehr, dass sie blinzeln musste. Zwei
90 Diener trugen die Sänfte herein, auf der Edelfrau Eudokia reiste. Drei Eunuchen stellten vier Stühle auf den Teppich und traten zurück, als die Diener die Sänfte auf dieses Gerüst stellten, die sich somit immer noch ein gutes Stück über dem Boden befand. Die Eunuchen wuschen das Gesicht und die Hände der Edelfrau mit Wasser, dann zogen sie sich zurück. »Was gibt es für Neuigkeiten?«, fragte die Edelfrau Alexandras. »Wie Ihr seht, keine anderen als in der letzten Nacht oder der vorigen oder jeder Nacht davor. Entweder sie lügt, oder sie sagt die Wahrheit und hat die Adlersicht verloren.« »Und wenn dem so ist, handelt es sich dann um eine vorübergehende Blindheit oder eine dauerhafte?« Er kratzte sich am Nacken und zog eine Grimasse, dann rieb er sich die Augen, als wäre er verzweifelt. »Was wisst Ihr sonst noch über diese Zauberei, erhabene Edelfrau?« »Nichts, was ich Euch nicht bereits gesagt hätte. Die Geheimnisse sind uns nicht bekannt. Ich werde den Kampfer wieder einsetzen, aber es ist der letzte, den ich habe.« »Seht!« Er richtete den Blick seines einen Auges auf Hanna. Ein Messer an ihrer Kehle hätte ihr nicht mehr Angst machen können. Wie konnte ein als Gewöhnlicher geborener Mann »Edelmann« genannt werden? Entweder er machte gemeinsame Sache mit dem Feind, oder die Arethusaner waren ein noch seltsameres Volk, als sie bisher gedacht hatte. Dass er unbarmherzig war, wusste sie; er hatte nichts getan, um Prinzessin Sapientia Beistand zu gewähren. Er hatte seine anderen Geiseln offensichtlich zurückgelassen, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden. Er trieb seine Männer in einem harten Tempo voran, ließ die Nachzügler einfach zurück. »Seht.« Edelfrau Eudokia warf drei winzige Zweige ins Feuer. Der erstickende Geruch des Kampfers erfüllte Hannas Lunge und brachte ihre Augen zum Tränen. Ihr Herz klopfte. Sie sah Flammen, die brannten und brannten, und obwohl der Rauch
90
ihr in den Augen schmerzte, starrte sie weiter den Tanz des Feuers an. Sollten sie glauben, dass sie nur einen Atemzug vom Erfolg entfernt war. »Nichts«, sagte Edelfrau Eudokia, aber sie klang eher neugierig als angewidert. »Wir könnten genauso gut nackt mit den Feueranbetern herumtanzen wie in diese Kohlen starren.« Der General hatte sich nicht gerührt, aber Hanna spürte seine Anwesenheit wie eine Bedrohung. »Lügt sie, erhabene Edelfrau?« »Ich glaube nicht, dass sie lügt. Ich sehe nur Flammen.« »Wenn wir sie nicht benötigen, dann ...« »Wir sollten nicht überstürzt handeln, General. Ihr denkt wie ein Soldat in der Schlacht. Aber denkt einmal daran, dass jene, die diesen Sturm über uns gebracht haben, überlebt haben könnten. Ich weiß nicht, über welche Macht sie verfügen. Wenn sie die Möglichkeit haben, die Adlersicht zu behindern, müssen wir darüber nachdenken, was das Beste für uns ist. Haltet den Adler bereit, für den Fall, dass sich die Lage ändert.« »Und was ist, wenn es Jahre dauert?« Sie hob die Hand und machte eine lässige Geste, die zeigte, wie unwichtig diese Frage war. »Ich habe eine Tante, die seit achtundzwanzig Jahren im Kloster von St. Marie von Gesythan lebt. Es ist besser für die Familie, dass sie dort weiterlebt, als dass sie getötet wird. Wer einmal an diesen Ort verbannt worden ist, verlässt ihn nie wieder. Die da kann ebenfalls dorthin gebracht werden.« »Sie kommt aus dem Westen und ist daher eine Ketzerin.« »Das ist wahr. Aber sie muss ja nicht jeden Luxus erhalten wie die anderen.« Er kratzte sich erneut am Nacken, und ein roter Striemen blieb zurück. »Der Plan ist gut. Aber ich stimme nur unter der Bedingung zu, dass sie bis dahin in meinem Gewahrsam bleibt und dass ich die Freiheit habe, sie zu besuchen, wann immer ich es möchte.«
91 »Wenn mein Neffe Kaiser wird, General, sind dies keine Hindernisse.« Er nickte. Sie klatschte in die Hände, und die Eunuchen wuschen ihr erneut das Gesicht und traten dann zurück, damit die Diener sie wegtragen konnten. Als die Zeltklappe sich hinter ihrem Gefolge schloss, wandte der General sich an die Soldaten, die respektvoll hinter ihm warteten. Er machte eine Geste mit der Hand. Ein Hauptmann in einem blauen Überwurf trat vor und erstattete Bericht, aber Hanna war vor Furcht zu benommen, um mehr als nur Bruchstücke aufzuschnappen. »... vielleicht die gleichen Banditen, die uns verfolgen ... die Kundschafter können sie einfach nicht finden ... nein, es gibt nie eine Spur ...« Sie sollte sich jede Äußerung merken, sie hüten wie die Schätze, die sie waren. Sie war ein Adler. Was sie hörte, an das erinnerte sie sich. An was sie sich erinnerte, das konnte sie ihrem Herrscher mitteilen, so wie dieser Mann seinem berichtete. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, denn sie konnte den Anblick weiß getünchter Mauern, die kein Tor hatten, durch das sie hätte entkommen können, und zu hoch waren, um darüber zu klettern, nicht aus ihrem Kopf verbannen. Zwei Diener trugen Eimer mit Wasser herein. Sie stellten sie ab und machten sich an dem Krug und der Schüssel zu schaffen. Hannas Augen schmerzten immer noch. So sehr sie auch schluckte, sie würde nie all ihre Furcht, Enttäuschung und Wut hinunterschlucken können. War es das, was ihr Leben ausmachte? Hatte sie Gott irgendwie so sehr erzürnt, dass sie nun von einer Hand zur nächsten als Gefangene weitergereicht wurde? Der General mochte sie einen Adler nennen, aber sie war keiner. Es wäre besser gewesen, sie wäre in Friedleben geblieben und hätte den jungen Johan geheiratet, auch wenn er Stinkfüße hatte und ein lautes, dummes Lachen. Eine Kuh oder eine Ziege war nicht wirklich frei, aber zumindest war sie nicht von engen Mauern einge
91 schlossen. Sie war klug genug, sich nicht von Selbstmitleid überwältigen zu lassen, aber die Verführung, sich einfach nur fallen und fallen zu lassen, war in diesem Augenblick sehr groß. Einer der beiden Diener goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel. Weil der Geruch des Wassers sie heftig traf, sah sie sie an. Beide waren Männer mittleren Alters, drahtig und stark, mit ernsten Mienen. Sie waren die Art Männer, die weit genug aufgestiegen waren, um als Gefolgsleute eines
mächtigen Edelmanns ein gewisses Maß an Wohlergehen und Sicherheit zu erlangen. Einer sah tatsächlich so gut aus, dass sie ihn zweimal angesehen hätte, wäre er nicht alt genug gewesen, um ihr Vater sein zu können. Bysantius' unerwünschtes, aber schmeichelhaftes Angebot hatte alte Gefühle in ihr geweckt. Es war nicht so schlecht, begehrt oder wenigstens geachtet zu werden. Ivar war für sie verloren. Sie hatte Hauptmann Thiadbold bewundert, sich aber an den Schwur der Adler gehalten. Rufus hatte sie zeitweise in Versuchung geführt, aber sie hatte sich schließlich für den einfacheren Pfad entschieden. Sie hatte sich zurückgehalten. Sie hatte sich nicht ergeben. Im Gegensatz zu Liath. In gewisser Weise war sie neidisch auf Liath, die die Leidenschaft angenommen hatte, ohne einen Blick zurückzuwerfen, trotz der Schwierigkeiten, die es ihr bereitet hatte. Ich bin nicht so spontan. Aber das stimmte nicht. Sie hatte Friedleben verlassen, um Liath zu folgen. Sie war ohne Furcht in den Osten gegangen. Sie war in Träumen ins ferne Grasland gewandert, um die kerayitische Schamanin zu suchen, die Hanna als ihr Glück bezeichnet hatte. Der gutaussehende Diener blinzelte ihr zu, rieb dann mit dem Stumpf seines rechten Arms über seine schmutzige Stirn. Die Hand war am Gelenk sauber abgetrennt worden, der Schnitt gut verheilt. Der Arm verbarg seinen Mund vor dem Blick seines Kameraden. Seine Lippen bildeten ein Wort, ein
92 mal, dann ein zweites Mal, ohne jeden Laut, aber eindeutig dazu gedacht, dass sie es verstand. Geduld. Sie zuckte zusammen. Hatte sie es sich eingebildet? Hatte er Wendisch gesprochen? Er und der andere Diener gingen jetzt mit den leeren Eimern zum Eingang, schweigend, während ein weiterer Hauptmann Bericht erstattete. Und während die beiden Diener das Zelt verließen, hörte sie ein schwaches Klimpern wie von winzigen Glocken, die von einer Brise bewegt wurden. Fünf Atemzüge später wusste sie Bescheid, und sie war überrascht, dass es so lange gedauert hatte. Aber jetzt trug er nicht mehr das Gewand eines Kirchenmannes, sondern die einfache Kleidung eines arethusanischen Bauern. Und er sah anders aus, irgendwie; härter und lebhafter und seltsamerweise mehr wie ein Mann, der geküsst werden wollte, nicht wie ein enthaltsamer Kirchenmann. Und doch hatte er einmal geliebt, und zwar leidenschaftlich. Wie Liath war er gesprungen und hatte es niemals bereut. Der ekelhafte Gestank des Kampfers verflog allmählich, aber die Luft in dem geschlossenen Zelt schien wie ein Strudel um sie herumzuströmen, als würde sie von den Flügeln eines Daemons bewegt. Wieso arbeitete Bruder Breschius als Diener im Lager des Heeres seines Feindes? Der Wespenstich in ihrem Herzen brannte.
3 Sanglants Heer ließ sich in einem weiteren verlassenen Dorf-und darum herum - nieder. Das, was zurückgelassen worden war, verriet jedoch nichts darüber, was hier geschehen war: Waren die Bewohner alle gestorben? Waren sie geflohen, als sie mitbekommen hatten, dass ein unbekanntes Heer im An
92 marsch war? Oder waren sie bereits gleich nach dem Sturm geflohen? Hatte irgendeine andere Kraft sie vertrieben oder zu Gefangenen gemacht? In diesen Grenzlanden erstreckte sich die unbewohnte Wildnis über weite Gebiete, und die Dörfer waren ausnahmslos von Holzpalisaden umgeben, die allerdings wohl eher dazu gedacht waren, Schutz vor wilden Tieren und herumstreunenden Banditen zu gewähren, denn ein richtiges Heer hätte mit so dürftigen Befestigungsanlagen kurzen Prozess gemacht. Diese hier war nicht niedergebrannt worden, aber die Tore standen weit offen, und die Vorhut war hineinmarschiert, ohne ein einziges Lebewesen zu erblicken, abgesehen von zwei Krähen, die laut krächzend zu den Bäumen geflüchtet waren.
»Ich vermisse Vogelgezwitscher«, sagte Liath. »Selbst im Winter sollte es welches geben.« Sanglant befand sich auf seiner abendlichen Runde durch das Lager. Hathui war mit ihm gegangen, während bei Liath drei Adler zurückgeblieben waren, die sie mit wachsamem Interesse ansahen. Sie fühlte sich bei Sanglants edlen Kameraden nicht besonders wohl, bevorzugte stattdessen die Gesellschaft der Boten des Königs. »Hanna hat von Euch gesprochen«, sagte der Rothaarige namens Rufus. »Hanna! Wann habt Ihr sie zuletzt gesehen?« »Vor Monaten. Vielleicht ist es auch noch länger her. Ein Jahr oder sogar mehr. Sie ist mit einer Nachricht von Prinzessin Theophanu in den Süden gekommen. Hathui sagt, dass sie und Hanna sich unterwegs getroffen hätten, auf einer Straße in Avaria oder Wayland, ich bin mir nicht ganz sicher. Sie sagt auch, dass Hanna die Wahrheit über das gewusst hat, was mit dem König passiert ist. Aber sie hat nie mit mir oder sonst jemandem darüber gesprochen.« »Wieso nicht?« »Sie war vorsichtig. Das ist alles, was ich weiß. Ich mochte sie.«
93 Liath stützte das Kinn auf die Faust und sah den Adler stirnrunzelnd an. Er war ein sympathischer, ausgeglichener junger Mann, der sie an Ivar erinnerte, aber das lag vielleicht nur an seinen roten Haaren. Ansonsten sahen sie sich gar nicht ähnlich, und er neigte im Gegensatz zu Ivar auch nicht zu lästigen und unpassenden Gefühlsausbrüchen. Sie seufzte. Friedleben schien unvorstellbar weit weg. Die Episode mit Hanna und Ivar, ihren unschuldigen Freunden, hätte in einer Welt, die so zerstört war wie diese, niemals stattfinden können. Wie blind sie damals gewesen war! Hanna hatte ihr aufrichtige Freundschaft entgegengebracht, aber sie hatte mit eigenen Widerständen zu kämpfen gehabt, die Liath unbekümmert übersehen hatte. Ivar war niemals ihr Freund gewesen; sie hatte sich etwas eingeredet, weil seine Vernarrtheit ihr Unbehagen bereitet hatte. Weil er so unerfahren gewirkt hatte, verglichen mit Hugh. So sehr sie Hugh auch gehasst hatte, hatte sie doch nie wirklich aufgehört, Ivar mit ihm zu vergleichen, und sie hatte stets festgestellt, dass es Ivar an etwas fehlte, auch wenn er ehrlich und aufrichtig war. »Hanna ist meine Freundin«, sagte sie schließlich, als sie sah, dass die anderen sie beobachteten Rufus, die dunkelhaarige Nan und ein älterer Mann namens Radamir, den alle anderen Adler jedoch Hastig nannten, weil er immer so bedächtig war. »Ich wünschte, wir wüssten, was aus ihr geworden ist.« »Ich weiß nicht, ob sie das Erdbeben überlebt hat«, sagte Rufus. »Das, bei dem die Kirche von St. Mark eingestürzt ist, meine ich. Ich habe gehört, dass sie und einige von der Gelehrtenschule des Königs während des Durcheinanders davongelaufen sind. Ich war zu der Zeit aber schon weg. Hanna war im Gefolge von Presbyter Hugh gelandet, allerdings war Herzogin Liutgard darüber nicht glücklich. Hugh hat Hanna nie erlaubt, dem König vollen Bericht zu erstatten - das heißt, dem Kaiser.« Liath stellte ihm weitere Fragen, aber er hatte nicht mehr viel zu erzählen, obwohl er alles bis in die kleinsten Einzelhei 93 ten erläuterte, da Adler ihre Fähigkeit geschärft hatten, sich Dinge einzuprägen und wieder in Erinnerung zu rufen. »Ich hoffe, dass sie noch lebt«, sagte Rufus zum Schluss. »Sie ist eine gute Frau.« »Wenn irgendwer so etwas überleben kann, dann Hanna.« Ein Aufruhr hinter ihnen kündete von der Ankunft Sanglants und seines Gefolges: Schritte, lautes Geplapper, Kichern, eine gemurmelte Wette. Es hörte niemals auf. An diesem Abend sprach er mit seiner Kusine Liutgard, der er zu vertrauen schien, während dieser Dreckskerl von Wichman hinter ihnen ging und dem ungrianischen Hauptmann Istvan geschmacklose Witze erzählte, was dieser ungerührt über sich ergehen ließ. Ein Schwärm von Edelleuten umgab sie; ein Verwalter wartete rechts von ihm, Soldaten hingen außerhalb des Feuerscheins herum, niemals weit von ihm entfernt.
Er stand aufrecht da und bildete den Mittelpunkt dieser Gruppe, mit der erstaunlichen Fähigkeit, genau zu wissen, wo sich jeder seiner Begleiter befand, ohne dass er wie ein ängstlicher Hund, der getätschelt werden wollte, ständig hin und her springen musste. Aber sie konnte an seinem Gesicht und seiner Haltung erkennen, dass die Reise und die neuen Verpflichtungen ihn erschöpften. Er war stark, aber selbst der Stärkste musste einmal ruhen. Soldaten hatten bereits das Reisezelt errichtet, in dem sie schliefen. Dank dem Herrn und der Herrin war es zu klein, um mehr als zwei Leute zu beherbergen. Sie suchte Hauptmann Fulks Blick, und er nickte und drängte den König zu seinem Lager, trennte ihn sanft von den anderen. Liath war sich nicht sicher, ob Fulk sie mochte oder wenigstens achtete, aber was diese Sache betraf, verstanden sie einander. Sie verabschiedete sich von den Adlern, und während Sanglants Begleiter sich zu ihren eigenen Zelten begaben oder sich für ihren Wachdienst bereitmachten, kroch sie in das Zelt und zog die Stiefel aus.
94 »Du musst mitkommen, wenn ich die Runde durch das Heer mache«, sagte er ungeduldig. »Man muss dich an meiner Seite sehen, als meine Frau. Als Mitherrscherin.« »Bitte, Sanglant, lass mir etwas Zeit. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt.« Sie bezweifelte, dass sie sich jemals daran gewöhnen würde. Sie brauchte Frieden und Ruhe und die Gesellschaft von Büchern, aber sie traute sich nicht, ihm das jetzt zu sagen. Noch nicht. Er schien etwas sagen zu wollen, unterließ es dann doch und zog stattdessen seine restlichen Sachen aus. Sofern kein unmittelbarer Angriff drohte, schlief er am liebsten nackt, und er war warm genug, um sie vor der Kälte zu schützen, die sie stets schwächte. »Ich werde mich nie an die Kälte gewöhnen«, sagte sie, während sie ihr Hemd auszog, sich zitternd an ihn drängte - Haut an Haut - und die Felle und Decken über sie beide zog. »Und doch brennst du!«, flüsterte er und küsste sie. »Hmm«, brummte sie. Aber dann lehnte er sich zurück, und sie legte den Kopf an seine Schulter und wartete. Sie kannte ihn immer besser. In solchen Augenblicken ging ihm etwas im Kopf herum, das er schließlich ausspucken würde. »Bist du noch wütend auf mich?«, fragte er. »Weil ich dir verboten habe, Gnade zu suchen?« Schuldgefühl pflegte einen anzustarren wie ein hungriger Hund. Liath hatte die ganze Zeit damit gelebt, bis es zu einem toten Gewicht in ihrem Magen geworden war. Sanglants Atemzüge gingen gleichmäßig, ihre nicht. »Oh, Liebling, hätte ich darauf bestanden zu gehen, wäre ich gegangen. Du hättest mich nicht aufhalten können.« Er hielt die Luft an, als wäre er geschlagen worden, aber er sagte nichts. Dann atmete er weiter, sagte jedoch immer noch nichts. Sie fuhr fort, denn sein Schweigen schmerzte zu sehr. »Ich
94 habe sie im Stich gelassen. Zuerst in Verna, auch wenn es damals nicht meine freie Entscheidung gewesen ist. Zum zweiten Mal dann draußen in der Steppe, als wir sie zurückgelassen haben, obwohl wir wussten, dass sie dem Tode nahe war. Und jetzt zum dritten Mal. So viele Stimmen jagen durch meinen Kopf. Welchen Sinn hat so eine lange Reise, wenn andere sie für mich machen können? Die die Reise besser ertragen werden. Die auf diese Weise dienen können, so wie ich es auf andere Weise kann.« Er antwortete noch immer nicht, strich nur über ihren Arm, von der Schulter bis zum Ellbogen, von der Schulter bis zum Ellbogen. Es war seine Art, hin und her zu gehen, wenn er lag. »Ich kenne Gnade nicht einmal. Ich lerne sie vielleicht auch nie kennen. Das ist die Entscheidung, mit der ich es zu tun habe. Die Entscheidung, die ich getroffen habe.« »Ich hätte gehen können«, sagte er verärgert und heiser -aber seine Stimme klang immer so. »Doch sie ist nur ein einzelnes Kind. Wendar und Varre und alle, die dort leben - alle, die die Umwälzung überstanden haben -, könnten im Chaos versinken. Ohne die Ordnung, die eine rechtmäßige
Herrschaft ihnen auferlegt, wird es Krieg zwischen den Edelleuten geben - zwischen Herzogtümern und Grafschaften. Das ist die Entscheidung, die ich getroffen habe. Die Verpflichtung, die ich angenommen habe, auch wenn ich sie niemals gewollt habe. Inwiefern ist deine Entscheidung anders?« »Ich bin nicht Henrys Erbin. Ich bin noch nicht einmal Taillefers Urenkelin. Ich bin die Tochter eines unbedeutenden edlen Geschlechts, nichts weiter.« »Das erinnert mich seltsamerweise an Hugh von Austra, der sich bestimmt keinen Deut um die Tochter eines unbedeutenden edlen Geschlechts geschert hätte, wenn das alles wäre, was du bist.« »Oh! Das war ein grausamer Hieb!« »Das sollte es auch sein. Ich trauere um Gnade. Niemand tut das mehr als ich. Ich gebe zu, dass mir mein süßes Mädchen 95
nicht immer gefallen hat, aber ich habe sie immer geliebt - liebe sie. Wenn sie tot ist, Liath, wenn sie bereits gestorben ist, haben wir die richtige Entscheidung getroffen.« »Ich habe sie gesehen.« »Du bist blind, wenn du die Adlersicht einsetzt. Was war deine Vision dann? Wahr oder falsch?« »Wahr, glaube ich. Ich habe Gnade gesehen. Ich habe Li'at'dano gesehen. Ich glaube, ich habe Wulfhere gesehen. Ich habe auch dich in einer Vision gesehen, als du die wendischen Flüchtlinge aufgenommen hast, die aus Darre geflohen sind. Henrys Gelehrtenschule, zumindest ein Teil davon.« »Das stimmt«, gab er zu. »So gesehen, könnte es tatsächlich eine wahre Vision gewesen sein.« »Oder auch ein Traum. Vielleicht habe ich sie einfach nur so schrecklich gern sehen wollen ... aber es kam mir alles so wirklich vor. Ich habe gesehen, wie sie mit einem jungen Mann gestritten hat -« »Thiemo? Matto?« »Ich habe ihn noch nie gesehen.« »Hast du vielleicht die Vergangenheit gesehen?« »Nein - sie war so alt wie zu dem Zeitpunkt, an dem wir sie verlassen haben.« Aber noch nicht so alt wie in der schrecklichen Vision, in der sie Gnade als Hughs Gefangene gesehen hatte. »Es war die Gegenwart oder die Zukunft. Dessen bin ich mir sicher. Es bedeutet, dass sie lebt.« »Wenn das so ist und Gyasi sie gesund und wohlbehalten zu uns zurückbringt, haben wir die richtige Entscheidung getroffen.« »Was ist, wenn sie stirbt, weil niemand von uns zu ihr gegangen ist?« »Dann werden wir dafür verantwortlich sein. Was sonst können wir tun? Jeden Tag muss ich Entscheidungen treffen, und als Folge davon sterben manche, während andere leben.« »Oh Gott. Es ist keine gute Aufgabe. So viele sind bereits tot.«
95 »Und doch wären noch mehr tot, wenn du dich nicht Anne entgegengestellt und sie getötet hättest. Du weißt, dass es so ist.« »Ja, das weiß ich«, gab sie zögernd zu. »Aber ich spüre keine Freude über diesen Sieg.« »Weil wir keinen Sieg errungen haben. Wir haben nur eine Niederlage verhindert, das ist alles.« »Ich bin in Aosta einer Gruppe von Bauern begegnet. Nachdem die Greifen mich vor Zuangua gerettet hatten. Diese Bauern hatten ihr Zuhause an den Sturm verloren. Soldaten hatten das gestohlen, was ihnen an Vorräten noch geblieben war. Zweifellos schien es diesem Edelmann und seinem Heer angemessen, das zu tun, denn er muss seine Leute ernähren, damit sie kämpfen können.« »Das muss er, aber er wird nächstes Jahr nichts zu essen haben, wenn all diejenigen, die für ihn die Äcker bestellen, verhungert sind.« Einer der Knoten in ihrem Magen löste sich. »Ich vermute, das ist nur eine kleine Ungerechtigkeit unter vielen großen. Und doch erinnert es mich an etwas, das Hathui einmal gesagt hat: >Der Herr und die Herrin lieben uns in ihrem Herzen alle auf die gleiche Weise.<« »Wenn das so ist«, murmelte Sanglant, »wieso haben Gott dann Wichman zum Sohn einer Herzogin gemacht - und Fulk, der ihm als Mensch in jeder Hinsicht überlegen ist, zum Sohn eines unbedeutenden Verwalters ohne jeden Rang, abgesehen von dem, den ich ihm verleihe? Wieso habe ich überlebt, während alle meine treuen Drachen gestorben sind?«
»Die Kirchenmütter haben eine Antwort auf all diese Fragen, damit wir vor lauter Grübeln nicht unablässig in den Abgrund stürzen.« »Und wie lautet ihre Antwort?« »Ich könnte dir Kapitel und Verse zitieren, aber alle ihre Antworten sind ähnlich: Die Menschheit kann den Geist Gottes nicht ergründen.«
96 »So wie Hunde den Geist ihres Herrn nicht ergründen können, obwohl sie sich bemühen, gehorsam zu sein?« Sie lachte. »Ich muss mir ein Rudel treuer Hunde zulegen, die mir zu Füßen sitzen und die Treulosen anknurren und mich daran erinnern, wie wenig vertrauenswürdig Höflinge sein können. Arme Dinger.« »Die Hunde oder die Höflinge?« »Erinnerst du dich an meine Aikha-Hunde? Was für schreckliche Wesen das waren, eigentlich gar keine Hunde! Und doch vermisse ich sie in gewisser Weise. Ich musste ihre Absichten niemals erraten. Ich konnte immer darauf vertrauen, dass sie mir an die Kehle gehen würden, sobald ich schwächer zu werden drohte.« Sie zögerte, und er spürte ihre Anspannung und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Sprich es aus. Du hast nichts zu fürchten - und du brauchst auch deine Zunge nicht im Zaum zu halten.« »Also schön. Musst du König sein? Ständig umkreist von Hunden?« »Ja, das muss ich«, sagte er, ohne sich von ihrer Frage beleidigt zu fühlen. »Denn mein Vater ist leider tot. Ich wünschte, es wäre nicht so.« »Er hat andere Kinder.« »Sie sind nicht geeignet. Du kennst Sapientia. Theophanu ist fähig, aber sie ist zu zurückhaltend und hat die Liebe und Unterstützung jener nicht errungen, die sie brauchte, um führen zu können. Ekkehard ist zu unbeständig. Die Kinder, die Henry von Adelheid hat, sind noch zu jung, und abgesehen davon werden sie im Norden wenig Unterstützung finden, falls Adelheid den wendischen Thron für sie beanspruchen sollte. Sie können hoffen, Aosta zu erben, wenn sie den Sturm überlebt haben. Nein, lass es gut sein. Henry hat sich dies seit vielen Jahren gewünscht. Jetzt geht es in Erfüllung. Ich bin sein gehorsamer Sohn.«
96 Aber weil sie so dicht bei ihm lag, konnte sie seine Tränen spüren.
4 Schon bald begegneten dem arethusanischen Heer bei seinem Rückzug Flüchtlinge auf der Straße. Hanna ging hinter dem Wagen her, an den ihre neuen Wachen sie gekettet hatten, und musterte die Leute am Straßenrand. Wie die meisten Arethusaner waren sie dunkelhäutig und klein, hatten breite Gesichter und hübsche, dunkle Augen. Die Frauen offenbarten eine sinnliche Schönheit, die selbst Furcht und Armut nicht ganz verbergen konnten. Sie trugen Bündel auf dem Rücken und jammernde Kinder in den Armen. Einige schoben Handkarren mit ihrem Hab und Gut vor sich her. Hin und wieder sah sie einen Mann, der das Halfter eines Esels in der Hand hielt. Oder Familien, die zwei, drei magere Ziegen an einer einzigen Leine führten. Einmal sah sie einen aufgeblähten Leichnam, aber es war nicht zu erkennen, woran der Mann gestorben war. Die Flüchtlinge blieben schweigend stehen, während das Heer vorbeimarschierte. Nach einiger Zeit begann Hanna, sie sich als die Mosaike vorzustellen, die sie in den Kirchen von Darre gesehen hatte - Figuren mit schwarz umrandeten Augen und in wunderschönen Gewändern, die für immer vor dem Hintergrund des offenen Waldlandes festgefroren waren. Nur einmal hörte sie jemanden sprechen. »Bitte, ich mache alles für ein Stück Brot für mich und mein Kind.« Eine dünne, junge Frau, die ein stumpfsinnig dreinblickendes, ausgezehrtes Kind auf der Hüfte trug, wackelte unbeholfen mit dem Gesäß, um die Aufmerksamkeit der Soldaten zu erringen. Bysantius war plötzlich da, ehe einer der Männer seinen Platz verlassen konnte, und schlug mit der Peitsche nach der
97 Frau. Sie schrie auf und rannte den Hang hinauf davon. Das trockene Gras knisterte unter ihren Füßen. Ein Mann kam aus dem Wald - genauer gesagt kam er hinter ein paar stacheligen Wacholderbüschen hervor. Während er sich wieder auf den Weg zu den anderen machte, zog er sich die Unterhosen unter der Tunika hoch. Er war noch keine drei Schritte weit gekommen, als eine Frau hinter ihm auftauchte. »Du hast versprochen, mir etwas zu geben!«, rief sie. Er sah sich nicht einmal um. »Ich habe nur genommen, was du geboten hast, Hure!« Die Männer kicherten, warfen aber nervöse Blicke auf ihren Feldwebel. Bysantius steckte seine Peitsche hinter den Gürtel und zog das Messer, ehe der Soldat auf den Pfad treten konnte. »Bezahl, was du ihr versprochen hast.« Der Soldat - er war jung und großspurig - blieb stehen und musterte das Messer. »Ich habe nichts, was ich ihr geben könnte. Ich esse das Gleiche wie die Übrigen, wenn es abends ausgeteilt wird. Ich habe keine Münzen, wie Ihr wissen müsstet, Feldwebel. Ich werde Land als Lohn erhalten.« »Dann bist du ein Dieb.« Die Soldaten stießen sich gegenseitig an und zupften sich an den Ärmeln, blieben schließlich stehen und verfolgten die Auseinandersetzung. »Diebe werden auf Anordnung des Generals mit dem Tod bestraft. Wer immer sich etwas nimmt, ohne dafür zu bezahlen, ist ein Dieb.« »Also schön«, sagte der Mann und zog einen Kanten Brot aus seinem Ärmel. »Nichts für ungut.« Er drehte sich um, warf der Frau das Brot zu und eilte dann in die Reihe zurück. Sein Gesicht wurde rot, während die anderen ihn verhöhnten. Die Frau klaubte das Brot vom Boden auf und lief in den Wald davon. »Weitergehen!« Bysantius fügte ein paar Flüche hinzu, schob sein Messer zurück und ging die Reihe entlang, wobei er drohend seine Peitsche schwang.
97 Auch Hanna hatte ein bisschen von der Mahlzeit des letzten Abends aufbewahrt, ein Stück trockenen Käse, das letzte Stück eines Laibes. Sie fischte es aus ihrem Ärmel und zischte. »He! Du da, hier!« Die junge Frau mit dem Kind kauerte weinend auf dem Hügel. Hanna warf ihr den Käse zu, aber der Wagen riss sie weiter, und sie stolperte und stürzte auf die Knie, mühte sich gerade rechtzeitig wieder hoch, bevor sie weitergezerrt wurde. Als sie wieder richtig stand, konnte sie die Mutter und das Kind nicht mehr sehen. Sie war an diesem Abend daher doppelt hungrig, aber als sie den dünnen Haferschleim aß, bedauerte sie dennoch nicht, was sie getan hatte. »Wie auch immer«, sagte Feldwebel Bysantius, als er sich neben sie hockte. »Das Kind wird lediglich einen Tag später sterben. Sein Leiden wurde nur verlängert.« »Vielleicht auch nicht. Ihr wisst nicht, was passieren wird. Wieso sind all diese Flüchtlinge auf der Straße?« Er kratzte sich am Nacken. Dass er den Befehl über die Nachhut hatte, war ein Hinweis auf den Respekt, den der General ihm zollte, aber die Trockenheit und der Staub, der ständig aufgewirbelt wurde, hatten ihm einen Hautausschlag beschert. »Nichts Gutes, schätze ich«, sagte er. »Nichts Gutes.« Viele Jahre zuvor war sie mit Liath, Hathui, Manfred und Wulfhere auf ihrem Weg nach Gent der aufgehenden Sonne entgegen geritten. Damals hatte sie Flüchtlingsströme gesehen, die vor den Aikha geflohen waren. Die Menschen waren auf Karren und zu Fuß gereist, hatten Esel am Halfter geführt oder Kisten mit kreischenden Hühnern getragen. Sie hatten Kinder bei sich gehabt und Kisten und Säcke mit verdorrten Rüben oder Körbe voller Roggen und Gerste mit sich geschleppt. Die Straße war vom Regen feucht gewesen und hatte sich unter dem Ansturm so vieler Leute in Matsch verwandelt. Die wendischen Flüchtlinge waren verzweifelt gewesen, aber sie hatten nicht den hoffnungslosen Blick der unglücklichen Arethusa
97 ner gehabt, die von einem Ort flohen, den alle im Heer immer nur als »die Stadt« bezeichneten.
Seit Tagen machten Geschichten die Runde, aber letztendlich vermochten Gerüchte und Augenzeugenberichte niemanden auf den Anblick der »herrlichsten Tochter des Meeres«, der »großen Hauptstadt des Arethusanischen Reiches« vorzubereiten. Hanna war an den Wagen gekettet und konnte daher nicht sehen, wie die Vorhut eine Anhöhe erklomm. Die ganze schwerfällige Kolonne kam stolpernd zum Stillstand, als die Männer in den vorderen Reihen stehen blieben und die in den hinteren aufrückten, um mitzubekommen, was es für Neuigkeiten gab. Neuigkeiten, die sich rasch wie der Wind unter ihnen verbreiteten. Hanna lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Rückwand des Wagens und ließ die Gesprächsfetzen über sich hinwegströmen. Es tat so gut, sich auszuruhen. »... nur die Mauern stehen noch ...« »Du bist ein Narr, wenn du das glaubst. Hast du es gesehen?« »Nein, aber alle sagen, dass es so ist!« »Wie diese armen Flüchtlinge. Das bedeutet nicht, dass sie recht haben. Eine riesige Welle! Tss! Gehen wir -« »Bleibt auf euren Plätzen!« Die Peitsche des Feldwebels knallte auf Wagen, Fleisch und den Boden. »Bleibt auf euren Plätzen! Behaltet die Marschordnung bei!« Sie öffnete die Augen. Die Soldaten beugten sich nach vorn wie an Ketten zerrende Jagdhunde, zitternd und begierig darauf, jeden Augenblick loszupreschen. Aber sie blieben, wo sie waren. Ein Reiter mit einem roten Überwurf, der ihn als kaiserlichen Kundschafter auswies, galoppierte die Reihen entlang und blieb schließlich vor Bysantius stehen. »General Edelmann Alexandros erwünscht Eure Anwesenheit bei einer Beratung«, sagte der Mann. »Ich soll während Eurer Abwesenheit die Nachhut befehligen. Und Ihr sollt den Adler mitbringen.«
98 Der Reiter blickte sich um, suchte sie, aber weil ihre hellen Haare vom vielen Staub stumpf waren, konnte er sie nicht entdecken. Daher stieg er ab und reichte Bysantius die Zügel, der grimmig lächelte und den Wachen den Befehl zurief, Hannas Fußeisen aufzuschließen. Ihre neuen Wachen wurden von den anderen Soldaten der große Niko und der kleine Niko genannt, obwohl sie gleich groß waren. Es waren schwerfällige Burschen, deren Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten ihre Schwächen im Gespräch und ihren Mangel an Verstand wettmachte. Sie banden sie von dem Seil los, das am Wagen befestigt war, und lösten dann die Fußfesseln. Es fühlte sich seltsam an, ohne das Gewicht an ihren Füßen zu gehen - und es war noch viel ungewohnter, dass keine Fesseln mehr an ihren Knöcheln scheuerten und es keine Kette mehr gab, die sie nur kleine Schritte machen ließ. Bysantius schwang sich auf das Pferd, dann reichte er ihr die Hand, damit sie hinter ihm aufsitzen konnte. Die Nähe gefiel ihr nicht. Er stank, aber zweifellos tat sie das auch. Angesichts der Bedingungen, unter denen sie marschiert waren, mussten sie alle stinken. Von daher war bemerkenswert, dass er nicht noch viel schlimmer stank. Er war zweifellos überaus kräftig gebaut. Sie versuchte, sich am Hinterzwiesel des Sattels festzuhalten, aber als sie losritten, war sie gezwungen, sich an seinen Gürtel zu klammern. Sie lehnte mit dem Kopf, den Schultern und den Brüsten an seinem Rücken. Barmherzigerweise äußerte er sich nicht zu der überaus vertraulichen körperlichen Nähe, die dadurch zwischen ihnen entstand. Er hatte genug damit zu tun, an den Soldaten vorbeizureiten, von denen immer wieder welche nach Neuigkeiten fragten. Hier, so dicht bei der Stadt, war die Straße breiter und in der Mitte gepflastert, während sich links und rechts an den Seiten breite, staubige Wege für zusätzlichen Verkehr befanden. Was an Wald noch übrig war, befand sich weit weg von der Straße, und das auch nur im Süden. Der Norden war vollständig abgeholzt; kleine Gruppen von armseligen Hütten spren
98 kelten hier und da das hügelige Land. Um die Hütten herum wimmelte es jetzt von Flüchtlingen. Die Menschen standen in den Eingängen, sahen stumm zu, wie das Heer vorbeizog. Falls sie irgendwelches Vieh besaßen, hatten sie die Tiere gut verborgen. Hanna hörte nicht ein einziges
Huhn kreischen, nicht eine Ziege meckern. Hinter jeder Ansammlung von Hütten und entlang der Straße gab es unzählige frische Gräber. Die Straße führte einen langen Hang hinauf. Schließlich erreichten sie die Kuppe der Anhöhe, wo Edelfrau Eudokia und der General mit ihren engsten Vertrauten warteten. Sie blickten alle nach Osten. Abgesehen von dem gelegentlichen Protest eines zu kurz gezügelten Pferdes gab es keine Geräusche, nur noch ein flüsterndes Rauschen, das vermutlich die Brandung war. Bysantius atmete zischend aus. Er saß aufrecht und steif auf dem Pferd, und seine breiten Schultern versperrten ihr zum Teil die Sicht. Als Hanna jedoch den Hals reckte, um an seinem Rücken vorbeizublicken, sah sie einen bewölkten Himmel, der sich mit dem Glitzern des fernen Meeres verband, und dahinter, auf der anderen Seite der schmalen Meerenge, die Konturen eines anderen Landes. Rechts von ihr senkte sich das Gelände sanft bis zur Küstenebene, aber die vielen Leute links von ihr verbargen den Anblick auf das, was sie alle anstarrten. »Feldwebel Bysantius!«, zerriss General Edelmann Alexandros' Stimme die Stille. Der Feldwebel zuckte zusammen, als er aus seiner Versunkenheit gerissen wurde. Er zog das Pferd herum, so dass es parallel zur Uferlinie stand, und jetzt sah sie alles. Das Land vor ihnen war ein Durcheinander aus gedämpften Farben, eine formlose Wildnis ohne Bäume und Häuser. Der General wartete genau dort, wo die Straße sich zu einer Halbinsel hinunterzuschlängeln begann, die ins wintergraue Meerwasser hinausragte. Die Landzunge glänzte, sie war mit hellem Stein eingefasst und dort, wo das Wasser gegen das Ufer brandete, von noch hellerem Schaum gesäumt. Die zerklüfteten Li
99 nien ihrer Höhenzüge und Täler verwirrten Hanna, während sie hinter sich auf der Straße das Stöhnen und Weinen der Menschen vernahm. Viele sanken auf die Knie und schlugen mit den Händen auf den Boden. »Was für eine Katastrophe ist über uns hereingebrochen?«, fragte der General. Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Die Vorhänge, die die Sänfte der erhabenen Edelfrau vor der Sonne und neugierigen Blicken schützten, waren beiseitegeschoben, so dass Edelfrau Eudokia alles sehen konnte. Sie presste die Lippen zusammen, aber sie weinte nicht. Ihr Neffe, der neben ihr saß, bohrte in der Nase und pfiff dabei leise vor sich hin, scharrte zur gleichen Zeit mit den Füßen und stieß die Knie aneinander, ja, er verhielt sich ganz so, als wünschte er sich, dass sie endlich weiterzogen, weil er sonst vor Langeweile umkommen würde. »Nur Zauberei kann so viel Zerstörung angerichtet haben«, sagte sie. »Aber seht. Die Mauern sind noch intakt.« »In gewisser Weise.« Er wischte sich Tränen aus dem Gesicht. »Das Herz eines Mannes mag intakt sein, wenn seine schöne Herrin sich mit einem anderen Mann zusammentut und ihm die Armbänder und den anderen Schmuck zurückschickt, die er ihr gegeben hat, aber er ist dennoch ruiniert.« »Männer sind Sklaven ihrer Begierden, das ist wahr. Er ist ruiniert, aber er ist nicht tot, und im Laufe der Zeit wird er sie vergessen. Das ist ein schlechter Vergleich, General. Denkt lieber nach wir müssen alles neu aufbauen, denn diejenigen, die aufbauen, werden über diejenigen herrschen, die dankbar dafür sind, dass das, was verloren war, wiederhergestellt wurde.« »Arethusa ist nicht an einem Tag erbaut worden, erhabene Edelfrau.« »Darum sollten wir nicht lange warten. Wir müssen eine Bestandsliste davon erstellen, was uns geblieben ist, welche Arbeitskräfte wir zur Verfügung haben, welche Vorratslager noch vorhanden sind, um unser Heer und die Menschen da
99 hinten zu ernähren. Wenn Gott barmherzig ist, wird es ein milder Winter werden.« »Wenn Gott barmherzig ist, wird es regnen, und die Sonne wird hinter diesen verfluchten Wolken hervorkommen! Wieso müsst Ihr nicht weinen?« »Sagt mir, dass meine Tränen einen Palast erbauen werden, und ich werde weinen. Lasst uns unsere Rache planen, selbst wenn erst die Kinder meines Neffen unsere Heere in den Krieg führen
werden. Wir müssen rasch handeln - für den Fall, dass ein paar Freischärler meines Vetters entkommen sind. Wir müssen die Stadt unter unsere Kontrolle bringen, solange noch niemand da ist, der sich uns widersetzen kann.« Dieses Mal brach der General fast zusammen, aber mit eiserner Willenskraft sorgte er dafür, dass er nicht die Kontrolle über seinen Körper, seine Miene, seine Stimme, ja sein ganzes Wesen verlor. »Das da ist keine Stadt. Das ist ein Trümmerhaufen. Oh Gott. Meine liebe Frau.« Seine Worte sorgten dafür, dass in Hannas Kopf ein paar Dinge an die richtige Stelle fielen. Was sie bisher verwirrt hatte, wurde jetzt klar. Die Halbinsel bestand keineswegs aus felsigem Gelände, auf dem umgestürzte Steine herumlagen, sondern sie war eine riesige Stadt - so groß, dass Hanna sie gar nicht als solche erkannt hatte. Ihre Mauern säumten das Ufer. Doppelte Wälle verliefen quer über die Landzunge. Es ließ sich nur erahnen, welchen Glanz diese Trümmer einmal besessen haben mochten. Das war alles viel zu groß, um es in sich aufnehmen zu können, und das Ausmaß der Zerstörung machte sie benommen, denn es schien so sinnlos. Hannas Blick folgte den fernen Linien auf dem Boden, aber sie konnte keine Paläste, Kirchen, Häuser und Ställe in dem Gewirr finden. Nichts erinnerte aus der Ferne an Dächer, und es gab keine außergewöhnlichen Kuppeln, nur Treppenstufen in unregelmäßigen Haufen von umgestürzten Steinen, die Hanna zunächst für natürliche Gebilde gehalten hatte. Es musste sich um eine uralte Ruinenstadt handeln. Nicht 100 einmal der Sturm konnte eine so grundlegende, alles umfassende Zerstörung angerichtet haben. Der Kummer der Leute war schwer zu verstehen. Es schien alles so weit weg zu sein, nichts weiter als eine Idee, an die sie sich alle zu lange geklammert hatten. »Eine Welle hat alles ertränkt, hat man uns gesagt«, erklärte Edelfrau Eudokia. »Wie kann eine Welle so groß sein, dass sie die Stadt überschwemmt? Es muss etwas anderes gewesen sein, ein Zauberspruch vielleicht, der sich aus den jinnischen Landen erhoben hat. Der aus dem Meer aufgestiegen ist.« »Seht da!«, rief Bysantius und deutete auf die Meerenge. Ein hauchdünner Nebelschleier war dort zu erkennen. Als die Brise vom Meer herankam, stiegen Nebelschwaden aus den Trümmern auf. Nebel erhob sich überall, wo Wasser war. Es sah aus, als würden die Trümmer unter Wasser stehen, denn der Nebel wurde dichter, quoll nach oben und bewegte sich in Richtung Landesinneres. Wie eine Wand aus Weiß kam er auf sie zu, eine sich auftürmende Welle. Er verschluckte den Boden, die Umgebung, den Himmel. »Gott schütze uns«, murmelte Bysantius, blieb aber, wo er war. General Edelmann Alexandras zog sein Schwert. »Lasst das«, blaffte Edelfrau Eudokia. »Setzt mich ab, Narren. Bringt mir meine Kiste. Ich werde versuchen, diesen unnatürlichen Nebel zu vertreiben.« Kein natürlicher Nebel konnte sich auf diese Weise fortbewegen. Hanna drehte sich um, warf einen Blick nach hinten. Die Männer zogen sich zurück, machten Gesten gegen das Böse. Es knackte in Hannas Ohren, und die wenigen Hunde, die noch beim Heer waren, begannen zu bellen. Während der Nebel getragen von einer kräftigen Meeresbrise heranrückte, zogen die Tiere die Schwänze ein und liefen davon. Ihre Furcht traf die Soldaten wie ein Pfeilhagel. »Bleibt standhaft!«, rief der General. »Verdammt!«, fluchte Bysantius.
100 »Ihr ungeschickten Narren!«, schrie Edelfrau Eudokia. Ihre Stimme überschlug sich vor Wut, als einer der Eunuchen die Kiste losließ und sich deren Inhalt auf dem Boden verteilte. Der Nebel waberte heran. Zwischen dem einen Atemzug und dem nächsten ertranken sie. Nicht in Wasser, aber in einem so dichten, undurchdringlichen Schleier, dass Hanna weder den General noch die erhabene Edelfrau sehen konnte. Sogar der Kopf von Bysantius' Pferd verschwand immer wieder in den Nebelschwaden. Glockengeläut erklang in ihren Ohren.
Jahre zuvor, als sie Bulkezus Gefangene gewesen war, hatte sie einmal eine Lücke gesehen und war weggelaufen, aber er hatte sie natürlich eingefangen. Natürlich. Aber warum sollte sie sich ebenso von der Furcht beherrschen lassen wie jene um sie herum, die brüllten und schrien? Sie sah ihre Chance. Sie rutschte über den Rumpf der Stute nach hinten und dann hinab auf den Boden. Als sie aufkam, rief Bysantius scharf: »Die Gefangene! Der Adler!« Sie wagte nicht, zum Meer zu laufen, denn sie wusste nicht, was die Stadt zerstört hatte - und ob es womöglich noch immer in den Wellen oder am anderen Ufer lauerte. Sie lief stattdessen nach Süden, prallte gegen Soldaten, die sie nicht rechtzeitig sehen konnte, machte sich wieder los und lief weiter, bevor sie begriffen, was sie getroffen hatte. Sie strauchelte einmal, dreimal, zehnmal, aber ihre von blauen Flecken übersäten Waden und Ellbogen trieben sie nur weiter. Diesmal würde sie entkommen. Diesmal würde es anders sein, und wenn sie in der Wildnis starb oder von wütenden arethusanischen Bauern in Stücke gehackt werden sollte. Bei diesem Gedanken blieb sie keuchend mitten im Nebel stehen, umgeben von einer Gruppe von Bäumen, knorrig und klein wie die allgegenwärtigen Olivenbäume. Sie hörte den Lärm des Heeres hinter sich; er brandete heran wie der Ozean in einem Sturm, wenn die Wellen gegen hohe Felsen schlugen und zu Gischt zerstoben.
101 »Formiert euch! Formiert euch!«, ertönte Feldwebel Bysantius' Stimme aus dem Nebel. Aber sie spürte keinen Körper in ihrer Nähe. Dass er so nah klang, war eine Sinnestäuschung, die mit dem seltsamen Nebel zu tun haben musste. Vielleicht war es nicht sonderlich klug, allein herumzulaufen, mit den Ketten an den Händen und noch dazu fremd in einem Land, das Fremden gegenüber bekanntermaßen unversöhnlich war. Hütet euch vor den Arethusanern, hieß es immerzu. Sie waren verräterisch und betrügerisch, Lügner und Ketzer. Aber sie hatten ihr zu essen gegeben, und der Feldwebel und die Wachen hatten sie vor jenen beschützt, die sie nur zu gern angegriffen hätten. Sie stolperte weiter, bis sie gegen einen Baum prallte und zu Boden sackte. Zweige und Blätter zeichneten die Konturen ihres Rückens nach, während sie versuchte, zu Atem zu kommen. Die feuchte Luft kühlte ihre Lunge. Sie hörte leise ein Glöckchen läuten, als würden ihre Ohren klingeln. Als würden ihr Geist und ihr Herz überwältigt und wären verwirrt. Es kam ihr unmöglich vor, eine solche Entscheidung zu treffen: ihre Freiheit aufzugeben und zu leben oder wegzulaufen und zu sterben. »Hanna!« Die Stimme schreckte sie auf. Obwohl sie wusste, dass es klüger gewesen wäre, konnte sie nicht einfach sitzen bleiben und sich wieder gefangen nehmen lassen. Sie schoss hoch und prallte geradewegs gegen einen Körper, stieß ihn um. »Ah! Oh! Ich bitte Euch, lauft nicht weg, Hanna. Kommt mit mir.« Es lag nur daran, dass die Worte wendisch waren, weshalb Hanna nicht einfach in den Nebel davonkrabbelte. »Schnell.« Er packte ihren Arm mit überraschender Kraft. Sie konnte sein Gesicht kaum sehen, aber Geräusche wurden in dieser Umgebung vom Wind gut weitergetragen. Ein Horn erklang. Männer riefen, und sie hörte Bysantius' Stimme. »... den Adler. Wenn sie entkommt, werde ich euch eigenhändig die Schwänze abschneiden ...«
101 »Kommt«, sagte ihr Retter. »Wir müssen uns beeilen. Hier entlang.« »Bruder Breschius? Wie ist das möglich?« »Lauft jetzt. Eure Antworten bekommt Ihr später. Und seid still. Sie können uns besser hören als sehen.« Er tastete ihren Arm entlang, bis er ihr Handgelenk hatte, packte es und ging mit raschen Schritten in den Wald davon, zog sie hinter sich her. Sie hatte so viele Fragen, dass sie das Gefühl hatte, sie würde gleich platzen, aber er war so darauf konzentriert, zwischen den nebelverhüllten Bäumen voranzukommen, dass sie schwieg. Hinter ihnen waren Rufe und Flüche zu hören und die
Geräusche von Männern, die sich durch das Unterholz schlugen. Dunstiges Flackern von Licht zeigte ihr, dass sie Fackeln hatten. »Sie folgen uns!« »Still. Habt keine Angst. Hört auf Euer Herz. Wenn Ihr das tut, werdet Ihr den Weg so gut sehen wie ich.« Was in diesem Augenblick in ihrem Herzen war, war das Jaulen von Hunden, die einem erschreckten Hasen hinterherjagten. Doch trotz ihrer Furcht lauschte sie dem Klang ihrer über den Boden stapfenden Füße, hörte die Entsprechung in Breschius' sichererem Schritt und dem beständigen, zarten Glockengeläut. Sie lauschte dem Rascheln der Blätter, die von dem Wind bewegt wurden, mit dem der Nebel vom fernen Ufer heranwehte. Der Ruf eines Mannes übertönte einmal das Geflüster, verklang aber, als der Frater plötzlich nach links abbog. Sie hatte die Orientierung verloren, wusste nur, dass sie noch immer durch den kleinen Wald liefen, den sie von der Straße aus gesehen hatte. Er war voller Dornen; jeder Busch und Baum stach nach ihr. Die Dornen zerkratzten ihr Gesicht, aber sie waren weich vom Nebel, der sich stumm fortbewegte. Nebel war nicht zu hören, nur zu sehen, zu schmecken und zu riechen. Seine feuchte Berührung ließ ihre Hände und ihr Gesicht steif vor Kälte werden. Ihre Zunge schmeckte das Wasser. Geisterhafte Gesichter tauchten aus dem Nebel auf, wurden
102 aber wieder weggeschwemmt, ehe sie sie berühren konnten. Sie stürzte in sie hinein. Sie sah mit ihren Augen, was sie gesehen hatten: Das Meer steigt ohne Vorwarnung an und überflutet die Küsten und die strahlende Stadt un d ihre unüberwindlichen Mauern. Eine Wasserwand rast durch die Meerenge, um ins Ketzermee r zu gelangen, aber in der Stadt wogt die Welle bis hinein in die Hügel, löst sich dort auf und strömt zurück in die Meerenge. So plötzlich, wie das Meer angeschwollen war, leert es sich jetzt, bis große Abschnitte des Ufers nackt und bloß unter dem Himmel liegen und schlammverschmierte Steine sichtbar werden, so wie hier und da die Überreste von Booten un d Schiffen, die in Ufernähe zerstört worden sind. Tatsächlich schreit ein mutiger - oder ein dummer - Ma nn, dass er zum anderen Ufer gehen kann, und er macht sich mit s einem Gehstock und einem Bündel mit Käse und Brot über der Schulter auf den Weg. Von jenen, die nicht bereit s ertrunken sind -und das sind einige, denn die erste Welle ist nicht die höchste—, greifen sich viele, was immer sie an Eigentum und Kindern erwischen können, und eilen zu den Bergen , aber andere durchstöbern die überfluteten Straßen auf der Suche nach Schätzen. All diejenigen, die nicht geflüchtet waren, ertranken, als die zweite Welle kam - und dann die dritte. Erst danach war es vorüber. Entlang der gesamten Küstenebene sammelten sich Reste der Flutwelle zwischen den Trümmern der Stadt, so wie in den Mulden und Senken des Landes. Es gab keine Sonne, die sie austrocknete, und die Erde war so von Wasser getränkt, dass sie nicht alles aufnehmen konnte. Und von diesen Überresten wurde der Nebel gerufen. Sein Wesen war fast zu schmecken. Eine, die die Wettermagie beherrschte, konnte das, was zurückgeblieben war, an ihren Willen binden und mittels der Zauberei, die sie von ihrem Lehrer gelernt hatte, zu einem Nebel verdampfen, der ihre Feinde verwirrte - diejenigen, die ihr Glück als Geisel genommen hatten. Die Tempestari hatte ihren
102 Sklaven ins Herz des Lagers ihrer Feinde geschickt und mit Zaubersprüchen gebunden, damit ihn niemand erkannte. Jetzt folgte er der Fackel ihrer Macht zurück an jenen Ort, an dem sie mit ihren Kameradinnen warteten. Auf allen Seiten verbarg der Nebel das Land, aber Breschius folgte einem Seidenstrang, der im Nebel verlief, einem silbrigen Pfad, der um jedes Hindernis herumführte und sich auf so labyrinthische Weise durch die Landschaft mit ihren leichten Hängen und Steigungen schlängelte, dass es ihre Verfolger völlig verwirren musste. Hanna sah ihn jetzt ebenso deutlich wie Breschius. Sie stolperte nicht mehr. Er ließ ihr Handgelenk los, und zusammen marschierten sie in zügigem
Tempo weiter, das weniger ermüdend war als das Laufen, sie aber dennoch rasch vom Heer wegführte. Sie hörte keine Rufe und kein Geschrei mehr, nur einmal das grollende Gebell eines Hundes. Und einmal das Wiehern eines Pferdes; und einmal das Schluchzen einer Frau. »Wie weit -?« Er hob die Hand, und sie verstummte. Ein Silberarmband mit winzigen Glöckchen glänzte an seinem Handgelenk. Sie legten eine Strecke zurück, die etwa so weit war wie der Weg von der Schenke ihrer Mutter bis zu Graf Harls Jagdhaus, das sie immer kurz nach der Mittagszeit erreicht hatte, wenn sie in der Morgendämmerung - mit einem Käserad, das für den Tisch des Grafen gedacht war aufgebrochen war. Breschius gab ihr eine Lederflasche mit widerlich riechendem Wasser. Sie trank, wann immer ihre Kehle zu trocken wurde. Der Nebel begleitete sie noch eine ganze Weile, aber dann wurde er allmählich dünner, so dass sich die Landschaft um sie herum herauszuschälen begann, zuerst schemenhaft, dann aber immer deutlicher. Hier oben in den Bergen von Arethusa war es weit trockener als in Friedleben. Wendar rühmte sich üppiger Wälder mit dichtem Unterholz, das in Hunderten verschiedener Grüntöne erstrahlte. Arethusa dagegen war ein goldfarbenes und brau
103 nes Land. Selbst die Blätter waren matt und häufig wächsern, oder es waren eher Dornen als Blätter. Manchmal knisterte es unter ihren Füßen, wenn sie auf wild wuchernde Rebranken trat. Das Gras war trocken und brüchig, und die von ihren Schritten aufgewirbelte Spreu reizte ihre Nase. Die Bäume boten nur spärlichen Schutz. Häufig traten sie aus ihrem Schatten auf eine mit hellem Gras oder Dornbüschen bestandene Wiese, wo sie das Licht spürten, das vom verhüllten Himmel fiel. Einmal deutete sie auf ein Leuchten in der Wolkendecke. »Glaubt Ihr, die Sonne bricht bald durch?«, fragte sie. »Beeilt Euch«, sagte er. »Wir verlieren den Faden, wenn der Nebel sich auflöst. Kommt, Hanna.« Es kam Hanna so vor, als hätte der Frater bessere Augen als sie. Obwohl noch immer Nebelschwaden zwischen den Bäumen dahintrieben und sich an einigen Stellen dicht über dem Boden sammelten, hatte sie den pulsierenden Lichtfaden aus dem Blick verloren. Aber sie war frei, sie war unverletzt, und obwohl sie ausgehungert war und sich benommen fühlte, war sie im Großen und Ganzen zufrieden. Es war ein seltsames Gefühl, das sie in den letzten Jahren nur selten erlebt hatte. Endlich, so schien es, marschierte sie in die richtige Richtung. Bruder Breschius folgte einem Hohlweg auf steinigem Boden und pfiff dabei die bekannte Melodie des Psalms »Verbirg nicht Dein Gesicht in Zeiten der Not vor mir«. Ein Wildpfad führte durch einen Hain aus Eichen - die ersten Eichen, die sie seit vielen Tagen sah. Sie kamen auf eine Lichtung, die durch hohe Steinwände geschützt war; die Luft war kühl von dem Wasser, das sich plätschernd von einer Klippe ergoss. Ein scharrendes Geräusch erklang hinter ihnen, und sie drehte sich um und sah eine Wache, die bisher unsichtbar gewesen war, zwischen den Bäumen den Pfad zurücklaufen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Lichtung zu, auf der sich ein Lager befand - gleich neben einem Teich, der sich unterhalb des Wasserfalls in den Fels gegraben hatte. Be
103 helfsmäßige Hütten aus Ästen und Ried ersetzten Zelte. Unter einem Überhang brannte ein Feuer. Zwei Dutzend oder noch mehr Pferde standen innerhalb eines Gatters aus Dornbüschen, und etwa zwanzig Leute arbeiteten oder ruhten sich an schattigen Plätzen aus. Sie roch gebratenes Fleisch. Der Geruch war so überwältigend - sie hatte seit Monaten kein Fleisch mehr gegessen und seit Tagen nichts weiter als täglich eine Portion Haferschleim erhalten -, dass sie zu taumeln begann, als ihr Hunger sich mit schmerzhafter Macht meldete. Breschius stützte sie. Leute blickten auf, deren Gesichter trotz einer Dreckschicht blass waren. »Hanna!«
Sie waren bei ihr, ehe sie sie erkannte. Sie wurde bereits umarmt, als sie dem Blick von Bruder Fortunatus begegnete. Er schaute über den dunklen Kopf der jungen, weinenden Gerwita hinweg. Fortunatus lächelte, als Gerwita sie losließ und zur Seite trat, um Rosvita zu ihr zu lassen. »Hanna!« Die Geistliche umarmte sie. »Gott seien gelobt. Wir fürchteten schon, Ihr wärt tot, aber die Zauberin hat uns erklärt, dass Ihr noch leben würdet.« »Die Arethusaner haben mich gefangen genommen«, sagte Hanna. Erstaunt stellte sie fest, dass sie ebenfalls weinte. »Oh, es ist so gut, Euch zu sehen, Schwester Rosvita. Sind alle hier?« »Ja, alle, dank der Gnade Gottes. Und noch jemand ...« Sie warf einen Blick über die Schulter auf eine Frau, die allein auf einem Stein beim Teich saß, als wäre sie eine Ausgestoßene. »Aber das ist Prinzessin Sapientia!« »So ist es.« »Oh Gott, was ist mit ihrem Gefolge passiert?« »Wir wissen es nicht genau. Sie spricht nur wenig, aber es sieht so aus, als hätte König Geza sich von ihr scheiden lassen und sie zurückgelassen.« »Ja, ja, natürlich hat er das. Ich habe gehört, wie er es gesagt hat, bevor die Arethusaner mich ergriffen haben.« »Wegen Eurer Adlersicht?« Rosvita ließ sie los, während die
104 anderen näher rückten. Sie sagten wenig, lächelten aber wie Narren. »Wegen meiner Adlersicht«, bestätigte Hanna verbittert. »Die mich genauso im Stich gelassen hat, wie König Geza es mit Prinzessin Sapientia getan hat. Wie seid Ihr hierhergekommen? Wer sind die anderen?« Sie musterte das Tal. Im östlichen Teil, der im Schatten lag, bemerkte sie jetzt einen ganz besonderen Wagen, der zu einem winzigen Haus umgebaut war. Obwohl er von den Schatten verhüllt war, leuchteten die Farben. Von allen Dingen, die sie in den letzten zehn oder zwölf Tagen gesehen hatte, war es das erste, das nicht mit einer Ascheschicht bedeckt war. Entweder war der Wagen gewaschen worden, oder der Staub konnte an ihm keinen Halt finden. Zauberei arbeitete auf seltsame Weise. »Es ist Sorgatani!« Ihre Zunge war trocken. Plötzlich sah sie alles nur noch verschwommen, und sie schwankte, als die Erschöpfung und eine Woge der Angst ihre Knie schwach und ihre Hände feucht werden ließen. Sie hatte sich danach gesehnt, diese geheimnisvolle Fremde wiederzusehen, und doch fürchtete sie sich auch davor, diejenige zu treffen, die ihr eine so beängstigende Verpflichtung auferlegt hatte. Was bedeutete es, das Glück einer kerayitischen Schamanin zu sein ? Es sah so aus, als würde sie es bald herausfinden. »Was die anderen betrifft, haust in dem Wagen da drüben die ungläubige Zauberin, die wir nicht sehen dürfen. Die Soldaten werden von Edelfrau Bertha angeführt, der zweiten Tochter von Markgräfin Judith. Sie haben Prinz Sanglants Frau zum Ufer des Mittleren Meeres begleitet, um gegen die Heilige Mutter Anne zu kämpfen. Sie sind offensichtlich aus der Krone mitten in Annes Lager aufgetaucht und angegriffen worden. In der Schlacht ist Liath von den anderen getrennt worden und verschwunden. Die Übrigen sind entkommen. Sie sind seit der Umwälzung umhergezogen, auf der Suche nach Hinweisen auf Liath, sofern sie noch lebt.«
104 Diese Worte strömten an Hanna vorbei, die wenig hörte und noch weniger verstand, während sie den Wagen und seine leuchtend bemalten Wände anstarrte. Löwen, Antilopen und Pferde sprangen in einem Panorama umher, das unsichtbar für das Sehvermögen sterblicher Menschen, aber gewiss vorhanden und nur jenen bekannt war, die zwischen den Welten gewandelt waren und den Stab des Weltenbaums gen Himmel gereckt hatten. Die Erwähnung von Liath riss sie mit Wucht in die Wirklichkeit zurück, wie ein Fisch, der an einem Haken aus dem Wasser gezerrt wird. »Liath ist hier gewesen? Was ist mit ihr geschehen?«
»Das müsst Ihr diejenige fragen, die Ihr Sorgatani nennt. Weniger als die Hälfte von Edelfrau Berthas Soldaten hat die Schlacht überlebt.« Eine kräftig gebaute Frau kam herangeschritten. Sie hatte die hochmütige Haltung einer Edelfrau, so dass Hanna augenblicklich wusste, es konnte sich nur um Markgräfin Judiths Tochter handeln. Sie hatte nur wenig Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und sogar noch weniger mit ihrem wunderschönen Halbbruder. »Dies ist der Adler?« »Ich bin Hanna. Ich diene Kaiser Henry.« »Ach, dem Kaiser! Nun, ich hoffe, seine Suche nach Taillefers Krone hat ihm gut gedient, aber ich fürchte, er hat höchstens den Intrigen und Plänen derjenigen gedient, die ihn verzaubert haben.« »Das fürchte ich auch.« Sie winkte, und zwei Soldaten brachten Hanna zu einem von Axthieben gezeichneten Baumstumpf, wo ein Waffenschmied seinem Geschäft nachging und Rüstungen reparierte. Edelfrau Bertha folgte ihnen und sah voller Interesse zu, wie Hanna ihre Kette über den Stamm legte und sich dann zurückbeugte. Sie zog eine Grimasse, als die Männer abwechselnd auf die Kettenglieder einhämmerten, bis eines zersprang. »Das genügt fürs Erste«, sagte die Edelfrau. »Geht jetzt. Sorgatani wartet darauf, Euch zu sehen.«
105 »Jawohl. Woher wusstet Ihr, wie Ihr mich finden würdet?« »Hanna«, sagte Breschius. Sie folgte ihm. Aber er führte sie nicht sofort zu dem abseits stehenden Wagen, sondern brachte sie zunächst zum Teich. Ein paar natürliche Treppenstufen aus Felsgestein, die man vom Hauptlager aus nicht sehen konnte, gewährten Zugang zum Wasser. »Ihr müsst Euch erst waschen«, sagte er. »So schmutzig könnt Ihr nicht zu ihr gehen. Ich werde Euch saubere Kleidung beschaffen.« »Wo wollt Ihr saubere Kleidung herbekommen?« Sie deutete zum Lager. »Hier sieht es so schlicht aus wie in einem Versteck von Banditen.« »Wascht Euch«, sagte er nur und ließ sie stehen. Sie zog sich aus und nahm die schmutzige Tunika und die Beinkleider mit ins Wasser. Es war ziemlich kalt, aber sie ertrug es mit klappernden Zähnen und brennenden Augen, schrubbte sich die Haare und die Kopfhaut mit den Fingern und rieb über ihre Haut, so gut es ging, weinte und lachte zugleich, weil es so wehtat, sauber zu werden. Die Fesseln an den Handgelenken und Knöcheln hatten ihr teilweise die Haut aufgescheuert, aber nach dem ersten scharfen Schmerz wirkte das eiskalte Wasser betäubend auf die Wunden. Breschius kehrte mit einem gefalteten Stück Stoff über dem linken Arm zurück. Er legte die Kleidung auf den Stein und setzte sich mit dem Rücken zu ihr auf den obersten Treppenabsatz. Seine kurz geschnittenen Haare waren sauber, die Kleidung gewaschen und geflickt. Nicht einmal seine Hand war so schmutzig wie die der Soldaten, die sie im Lager hatte arbeiten und herumschlendern sehen. »Wart Ihr bei Liath?«, fragte sie. »Ja. Sorgatani, Edelfrau Bertha und Ihre Hoheit Edelfrau Liathano sind aus dem fernen Osten gekommen, durch zwei Kronen gereist, bis wir das Ufer des Mittleren Meeres erreichten. Dort sind wir auf die Streitkräfte der Skopos gestoßen.
105 Viele von uns wurden getötet, aber wir konnten entkommen ... weil sie Feuer herbeigerufen hat.« Das Zittern in seiner Stimme bereitete ihr ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Als sie nichts sagte, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, sprach er weiter. »Wir wurden zwar verfolgt, aber Sorgatani hat ihre Wettermagie eingesetzt, um uns zu verbergen. So konnten wir in diese Berge entkommen. Und hier sind wir bisher geblieben.« »Wo ist Liath?« »Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie noch. Wir wissen es nicht.« Hanna zog sich zitternd auf die unterste Stufe. »Oh Gott, ich bete, dass sie nicht tot ist.« »Sorgatani glaubt es nicht. Sie glaubt, dass sie noch lebt, obwohl wir nicht wissen, wo sie ist.«
»Seid Ihr deshalb hiergeblieben? Sucht Ihr sie?« »Nein.« Sie nahm ein ausgefranstes, aber sauberes Stück Stoff und rieb so viel Wasser von ihrem Körper, wie der Stoff aufnehmen konnte. Trotz der kühlen Luft war es außerhalb des Wassers wärmer. Breschius schwieg, wandte ihr immer noch den Rücken zu, während sie ein Seidengewand ausbreitete, das kaum bis zu ihren Knien reichte, als ob es eigentlich für eine kleinere, kräftigere Frau gedacht war. Auf alle Fälle war es weit genug für ihre Schultern und ihre Hüften - und außerdem tiefrot und mit goldenen Drachen bestickt, die gegen goldene Phönixe kämpften. »Das ist keine wendische Tunika!« »Dies sind Kleidungsstücke, die einer ihrer Dienerinnen gehört haben.« »Einer Sklavin? Ich werde keine Sklavengewänder tragen, wie kostbar sie auch aussehen mögen!« »Ihr seid keine Sklavin, Hanna. Ihr seid Sorgatanis Glück. Dies sind die einzigen Kleider, die wir haben, bis Eure eigenen trocken sind und geflickt werden können.« 106 »Was ist mit der Frau, die sie getragen hat?« »Sie ist tot.« »Und wer dient dann Sorgatani ? Ich weiß, dass es heißt - Ihr habt es mir einmal gesagt - oh Gott! Es ist so lange her! Ihr habt mir gesagt, dass eine kerayitische Schamanin von niemandem gesehen werden darf, außer von ihren Blutsverwandten mütterlicherseits, ihren Sklaven, ihrem Glück und ihrem Pura, der auch ihr Sklave ist. Wie kommt Ihr zu diesen Kleidungsstücken?« Sie hatte inzwischen einen Gürtel gefunden und eine schwerere Wolltunika, die sie über das Seidengewand zog. Darunter kam eine bauschige Unterhose in einem schwachen Purpurrot zum Vorschein. Die weichen Lederstiefel mussten mit Strumpfbändern am Gürtel befestigt werden, der mit goldenen Plättchen verziert war, in die Greifenköpfe eingraviert waren. »Unglücklicherweise sind beide Sklaven während unserer Flucht gestorben, ebenso wie alle neun kerayitischen Wachen, die bis zum letzten Atemzug dagegen gekämpft haben, dass sie gefangen genommen wurde. Ohne jemanden, der ihr dient, wäre Sorgatani ebenfalls gestorben - wegen des Banns, der auf ihrer Art liegt.« »Und wer dient ihr dann jetzt?« Kaum hatte sie die Frage gestellt, kannte sie auch bereits die Antwort. Er drehte sich nicht um, rührte sich gar nicht, abgesehen davon, dass seine Schultern steifer wurden und er den Kopf leicht zur Seite neigte. »Ihr seid ihr Pura geworden?«, fragte sie vollkommen entsetzt. Er kicherte. »Sie ist gewiss sehr hübsch, aber so ein verführerisches Angebot hat sie mir leider nicht gemacht. Ich habe die Ketten angenommen, die mich zu ihrem Sklaven machen.« »Dient Ihr nicht Gott, Bruder? Wie könnt Ihr sowohl Gott als auch einem irdischen Herrn dienen?« »Ist es kein würdiger Dienst, einem anderen Menschen das Leben zu retten, auch wenn es sich um eine Ungläubige han
106 delt? Niemand sonst in Edelfrau Berthas Truppe war bereit, diese Pflicht auf sich zu nehmen. Abgesehen davon wären wir ohne Sorgatanis Schutz schon längst entdeckt und getötet worden, und wir hätten nicht so regelmäßig Fleisch zu essen bekommen.« »Seid Ihr zufrieden, Bruder?« »Ich habe mich damit abgefunden, Hanna. Gott befehlen mir zu dienen. Ich habe festgestellt, dass die Art dieses Dienstes häufig Überraschungen bereithält.« Sie konnte seinen Tonfall nicht deuten und stellte fest, dass sie gar nicht allzu gründlich darüber nachdenken wollte, was er möglicherweise geopfert hatte - und was es bedeuten mochte, dass sie gleich eine Frau treffen würde, die behauptete, mit ihr auf eine Weise verbunden zu sein, die Hanna nicht im Entferntesten verstand. »Was ist mit Schwester Rosvita und ihren Kameraden? Hat Sorgatani sie auch gefunden?« »In gewisser Weise. Sie hatten sich im Wald versteckt, und während wir Euren Spuren gefolgt sind, sind wir auf sie gestoßen. Daher haben wir sie zu uns genommen.« »Ihr seid meinen Spuren gefolgt? Denen des arethusanischen Heeres?«
»Nein, auch wenn es tatsächlich nicht schwer war, der Staubwolke zu folgen, die das Heer bei seinem Marsch aufgewirbelt hat. Ihr seid Sorgatanis Glück. Wie hätte sie da nicht wissen können, wo Ihr wart - so nah, wie sie Euch hier plötzlich gekommen war? Und so wurdet Ihr gefunden und befreit. Seid Ihr jetzt bereit?« Sie seufzte, während sie den Gürtel schloss und mit einer Hand über die Strukturen der Stickereien strich. Solch schöne Kleidung würde im Westen nur von den edelsten Fürsten getragen werden, aber die Kerayiten kleideten ihre Sklaven in so herrliche Stoffe. »Ja. So bereit, wie ich nur sein kann.« Ihre Haare waren durcheinander, und sie hatte keinen Kamm, aber sie waren sauberer als zuvor. Ihr Magen knurrte, und sie kämpfte gegen einen Anflug von Benommenheit an,
107 als der Wind sich drehte und den Geruch von fettem Fleisch zu ihnen trieb. »Lasst Eure alten Kleider liegen«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, dass man sich darum kümmert.« »Ich danke Euch.« Sie nahm das Lager kaum wahr, als sie zum Wagen von Sorgatani ging; dort angekommen, stieg sie die Stufen hinauf und berührte vorsichtig den Riegel. »Geht ruhig«, sagte Breschius sanft. »Aber tretet nicht auf die Türschwelle.« Sie öffnete die Tür und trat über die Schwelle, duckte sich, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Die Kerayiten waren entweder sehr viel kleiner als die Wendaner, oder aber sie weigerten sich, Raum zu verschwenden, nur um ihn ihrer Größe anzupassen. Sie stolperte, als sie ins Innere des Wagens trat, vollkommen überrascht von seinen Ausmaßen. Der Innenraum war größer, als er es eigentlich hätte sein dürfen. Sie fühlte sich benommen, aber das ging vorüber, als sie die Tür hinter sich schloss und in ein geräumiges, rundes Zimmer ging, das üppig möbliert und auf unheimliche Weise ruhig war. Es besaß ein rundes Filzdach, obwohl der Wagen von außen ganz und gar nicht diese Form gehabt hatte. In der Mitte ragte ein Pfosten durch das Rauchloch ins Freie, und der Himmel, der durch dieses Loch sichtbar war, schimmerte in einem silbrigen Glanz, in dem Lichter flackerten, die von fernen Blitzen stammen oder die Funken eines nahen Feuers sein konnten. »Was ist dies für ein Ort?« »Der Ort, an dem ich lebe, Hanna. Willkommen.« Sorgatani trat aus den Schatten. Sie war so schön, wie Hanna sie aus ihren Träumen in Erinnerung hatte, sofern man Gesichtszüge schön nennen konnte, die sich vollkommen von denen unterschieden, die in den Landen der Wendaner bekannt waren. Hanna konnte es. Sie hatte Bulkezu nicht vergessen. Sorgatanis schwarze Haare waren geflochten und auf dem
107 Kopf zusammengesteckt, und als Krone trug sie ein Netz aus zarten Goldkettchen, die über ihre Schultern fielen und das goldfarbene Seidengewand berührten. Die schlichte Schönheit des Stoffes ließ die Stickerei auf Hannas Tunika blass erscheinen, und sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, dass das, was in ihren unerfahrenen Augen wie ein kostbares Kleidungsstück gewirkt hatte, verglichen mit der Eleganz von Sorgatanis Gewand vielleicht gar nichts Besonderes war. Hanna näherte sich vorsichtig dem Pfosten in der Mitte. Dort empfing Sorgatani sie mit ausgebreiteten Armen, beide Hände mit den Handflächen nach oben gedreht. Sie berührte sie nicht. Sie hielt eine Handbreit Abstand zwischen ihnen - Luft, die sich auf Hannas Haut lebendig anfühlte, als besäße sie den gleichen Atem und die gleiche Seele, die alle Lebewesen belebte. »Nach einer langen Zeit der Trennung treffen wir uns nun also«, sagte die kerayitische Frau. »Mein Glück ist von anderen gefangen genommen worden, aber jetzt habe ich Euch zurückgeholt.« »Ich bin nicht Eure Sklavin!« Sorgatani zog die Hände zurück. »Habe ich das gesagt? Ich habe vergessen, dass Ihr die Bräuche der Kerayiten nicht kennt.«
»Vergebt mir. Ich wollte Euch nicht beleidigen. Aber ich muss Euch fragen - stimmt es, dass Ihr mit Liath gereist seid? Lebt sie? Wo habt Ihr sie getroffen?« »Wir sind uns weit im Osten begegnet, im Grasland. Ich habe sie begleitet, weil ich dachte, dass meine Zauberei ihr helfen könnte, aber es stellte sich heraus, dass dies nicht der Fall war.« Sie seufzte. »Ich habe sie gemocht.« Dieses Seufzen, ihre Miene, das Herabsinken ihrer Schultern: all das berührte Hanna mehr, als irgendetwas sonst es vermocht hätte. Spontan nahm sie Sorgatanis Hände, die voller Schwielen waren und deren Griff so stark war wie der Hannas. »Sie ist meine Freundin. Wenn sie auch Eure ist, sind wir Schwestern, nicht wahr? Zumindest in der Freundschaft.«
108 Sorgatanis dunkle Augen weiteten sich, und sie öffnete den Mund, brachte aber nur ein Keuchen zustande. Hanna ließ sie los. »Ich bitte um Entschuldigung.« »Nein. Das ist unnötig. Es ist nur - ich bin es nicht gewohnt, berührt zu werden.« »Das hat Bruder Breschius mir gesagt.« Tiefes Mitgefühl durchströmte sie. »Es muss schwer sein, so allein zu leben.« »Es stimmt, ich bin einsam, Hanna.« Sie lächelte zaghaft. »Wann bringt Ihr mir meinen Pura?« »Oh Gott! Ich bin nicht sicher, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin! Es gibt so viel, was ich nicht weiß. Ich bin ein Adler des Königs, aber auch Euer Glück. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Man kann nicht zwei Herren dienen.« »Ihr dient mir nicht! Ihr seid mein Glück, das ist alles.« Hanna griff sich an die Stirn. »Mir ist schwindlig. Kann ich mich irgendwo hinsetzen?« Sie wollte schon zu dem breiten Sofa gehen, das sich links von der Tür befand, aber Sorgatani führte sie zu einem ähnlichen Sofa rechts von der Tür. »Frauen sitzen oder schlafen auf dieser Seite. Hier.« Sie ließ sie auf einem bestickten Kissen Platz nehmen, dann klatschte sie in die Hände. Die Tür öffnete sich, und Breschius trat mit einem Tablett in der Hand ein, das er geschickt mit dem Stumpf hielt. Ein schöner Porzellanbecher mit einem duftenden Getränk sowie eine Schüssel mit einem Eintopf aus Lauch und Wild standen darauf. Er stellte das Tablett auf das Bett, zog sich zur anderen Seite zurück und kniete auf einem Teppich nieder. »Esst.« Sorgatani machte sich daran, die Schubladen einer großen Kiste neben dem Sofa zu öffnen und zu schließen. Hinter ihr auf einem Holzgestell ruhten ein mit Silberornamenten geschmückter Sattel und ebenso schönes Zaumzeug. Hanna versuchte, das Essen nicht hinunterzuschlingen. Sie wusste, dass es besser war, langsam zu essen und ihrem Magen den Schock von zu viel Nahrung zu ersparen. Die Kälte wich, als sie den Tee trank, und durch die behagliche Wärme in dem
108 Zimmer, die von einer Kohlenpfanne verströmt wurde. Während sie aß, musterte sie die Einrichtung. Sie bemerkte einen Altar mit einem goldenen Becher, einem Spiegel, einer Handglocke und einer Flasche. Auf dem Sofa hinter Breschius, das mehr einem eingepackten Bett ähnelte, lag eine Filzdecke, auf der leuchtende Tiere zu sehen waren: ein goldener Phönix, ein silberner Greif, ein roter Hirsch. Nichts, was sie sah, schien ihr vertraut, wie es in sämtlichen wendischen Hallen oder Häusern der Fall gewesen wäre, die sie betreten hatte, wenn sie mit Nachrichten für König Henry unterwegs gewesen war. Im Land der Kerayiten war sie eine Fremde. »Ich habe Euch manchmal in meinen Träumen gesehen«, sagte sie schließlich. Sie wusste nicht, wie sie mit jemandem sprechen sollte, deren Sprache sie nicht hätte beherrschen dürfen; sie wusste nicht, wie sie all die vielen Dinge zu verstehen hatte, die unvertraut für sie waren. »Ich habe im Feuer nach Euch gesucht, aber in all diesen Tagen habe ich Euch nicht sehen können, und auch sonst niemanden.« Sorgatani drehte sich zu ihr um. Offensichtlich hatte sie nur darauf gewartet, dass Hanna etwas sagte und damit kundtat, dass sie mit dem Essen fertig war.
»Ihr meint Eure Adlersicht?« Sorgatani sah Breschius an. Das Netz, das ihre Haare bedeckte, bimmelte wie ein Echo zu seinen Fußkettchen und Armbändern. Ihre Ohrringe schaukelten, ein Dutzend winziger Silberfische, die bei ihren Bewegungen hin und her zu schwimmen schienen. »Liath hat von dieser Gabe gesprochen. Sie hat mir einige Grundkenntnisse beigebracht.« »Sie hat es Euch beigebracht!« »Soll diese Gabe auf die Boten Eures Anführers beschränkt bleiben?« »So habe ich es bisher verstanden.« »Und wer hat diese Boten unterrichtet? Habt Ihr Euch das jemals gefragt? Und wieso?« »Wieso wir unterrichtet wurden? Damit wir über weite Ent
109 fernungen hinweg sehen und sprechen und uns so miteinander und mit dem Herrscher austauschen können. Auf diese Weise erlangt der Herrscher Stärke.« »Zu welchem Zweck? Nein, Ihr müsst nicht antworten. Alle Anführer wollen stark sein, damit sie jene besiegen können, die sich ihnen widersetzen. Doch bevor ich gelernt habe, durch das Feuer zu sehen, habe ich Wissen über die Beschaffenheit der Himmel und die Geheimnisse der Kronen erlangt. Mein ganzes Leben lang war ich in der Lage, durch den Schleier dieser Welt das Tor wahrzunehmen, das wir hier in der mittleren Welt als brennenden Stein sehen. In seinen Flammen können jene, die die Sicht besitzen, über weite Entfernungen sehen, und einige können sogar hören und Worte sagen. Die Geheiligte, deren Wissen uralt und schrecklich ist, kann die Vergangenheit und Zukunft erkennen.« »So war es, als wir durch die Kronen gereist sind! Ich habe viele Gänge entlang gesehen!« »Genau.« Breschius nahm das Tablett und ging hinaus. Als er verschwunden war, setzte Sorgatani sich neben Hanna auf das Bett und beugte sich näher zu ihr. Sie verströmte einen schweren, anziehenden Duft nach Moschus, der stärker als Lavendel war. »Hört, Hanna. Mein ganzes Leben lang war der brennende Stein ein Leuchtfeuer. Aber als die Ashioi zurückgekehrt sind, ist sein Licht erloschen. Ich kann es kaum noch berühren oder spüren, kaum noch sehen. Es ist, als wäre ich blind geworden.« »Blind?« Sorgatanis Geruch lenkte Hanna ab. Es fiel ihr schwer zu denken. »Ich glaube, Adler übten sich darin, durch viele Tore des brennenden Steins zu sehen, auch wenn sie eigentlich nicht wussten, was sie getan haben. Er flackerte so hell, dass viele durch seine Durchgänge sehen konnten.« »Glaubt Ihr, er ist im Gefolge der Umwälzung zerstört worden?«
109 Sorgatani schüttelte den Kopf. »Der brennende Stein ist kein Artefakt des großen Webens. In den alten Tagen - so heißt es -hatte die Geheiligte die Macht, durch das Tor zu sehen und zu sprechen. Das war, bevor das große Weben an den Webstühlen begonnen wurde. Aber nur sie hatte die Macht, das Tor ins Dasein zu rufen, heißt es. Das große Weben nährte die Macht des brennenden Steins, weil Erde und Himmel durch das Band des in den Äther verstoßenen Landes der Ashioi verbunden waren. Jetzt ist diese Verbindung getrennt worden.« »Und so sind wir blind. Was tun wir jetzt?« »Genau das müssen wir entscheiden.« Hanna zuckte zusammen. »Glaubt Ihr wirklich, dass Liath überlebt hat?«, fragte sie. Sorgatani blickte zum Bett des Pura. Eine gefaltete Decke lag auf der Kiste am Fußende, aber niemand schlief dort. »Liath hat bis zum Augenblick der Umwälzung gelebt. Sie ist von derjenigen, die Anne genannt wurde und gegen die wir gekämpft haben, gefangen genommen worden. Wir wären alle getötet worden, aber Edelfrau Bertha - eine hervorragende Kriegerin! brachte uns aus dem Lager heraus. Danach haben meine tapferen Kerayiten das Lager im Schutz eines von mir beschworenen Nebels überfallen, aber sie haben keine Spur von ihr gefunden. Wir warteten also in der Nähe, durch meine Künste verborgen, weil ich spürte, dass sie nicht tot war, sondern nur irgendwo wartete. Und so war es. Als die Nacht hereinbrach, als die Sternenkrone die Himmel krönte, rief sie Flüsse aus geschmolzenem Feuer aus den Tiefen der Erde herbei. Wir sind
geflohen, denn sonst wären wir ebenso wie Annes Stamm gestorben. Alle. Ob Liath diese Feuersbrunst überlebt hat, weiß ich nicht.« Einige Zeit saß Hanna nur stumm da, durch die Kraft von Sorgatanis Erzählung zum Schweigen gebracht. Schließlich fragte sie: »Wieso seid Ihr hier in diesem Land geblieben?« »Ich bin geblieben, weil ich Euch finden wollte, Hanna. Ich habe lange genug an der Seite meines Lehrers ausgeharrt, 110 während Ihr unter der Peitsche des qumanischen Ungeheuers gelitten habt. Ich wollte nicht, dass so etwas noch einmal geschieht. Ich wusste, dass Ihr am Leben wart. Als wir die heiligen Frauen und ihre Kameraden gefunden haben, haben wir die Spur derjenigen gekennzeichnet, die Euch mitgenommen hatten. Und nun sind wir hier. Was tun wir jetzt?« Nun endlich wich die Spannung von Hanna, und sie sackte nach vorn. Sorgatani fing sie auf, und Hanna ließ den Kopf an die Schulter der Kerayitin sinken. »Ich möchte nach Hause gehen«, flüsterte sie. »Aber was werdet Ihr tun?« »Ich werde natürlich dorthin gehen, wohin mein Glück mich führt.« Sie pfiff schrill, ein Geräusch, das Hanna veranlasste, sich das rechte Ohr zuzuhalten, das Sorgatanis Lippen am nächsten war. Die Tür öffnete sich, und Breschius trat ein. Das schwächer werdende Tageslicht zeichnete die Umrisse seiner Gestalt nach. »Lasst Edelfrau Bertha wissen, dass wir uns morgen gen Norden aufmachen. Wir werden die Berge überqueren und nach Wendar reisen.« Er schloss die Tür und war verschwunden. Nach einer Pause fragte Sorgatani: »Was werden wir in Wendar finden? Was für ein Ort ist das?« »Es wird für Euch so seltsam sein wie für mich dieser Wagen«, sagte Hanna halb lachend, halb weinend und vollkommen erschöpft, viel zu müde, um aufzustehen und sich einen Platz zum Schlafen zu suchen. »Und was wir dort finden werden, weiß ich nicht. Ich vermute, die Welt hat sich vollständig verändert. Ich habe ein Ausmaß an Zerstörung gesehen, das zunächst keinerlei Sinn für mich ergeben hat. Eine riesige Stadt, dem Erdboden gleichgemacht - als hätte die Hand eines Riesen zugeschlagen. Straßen voller Flüchtlinge, viele von ihnen kurz vorm Verhungern. Überall Staubwolken. Wie viel schlimmer mag es anderswo sein? Was, wenn uns noch Schlimmeres bevorsteht? Ich muss den Herrscher von Wendar
110 suchen, wer immer es jetzt ist, und Bericht erstatten. Das muss ich zuerst tun. Und danach ...« Aber »danach« war ein zu großes Gebiet, um es ermessen zu können.
VIII
Der Phönix
1 Das Anwesen, auf das Ivar und Erkanwulf zuritten, unterschied sich in vielerlei Hinsicht von dem Landhaus und den Ländereien von Ivars Vater. Es gab keine bedeutende Palisade, sondern nur eine Reihe von Pferchen, in denen Vieh gehalten und vor räuberischen Tieren aus dem Wald geschützt wurde, und dann war da noch ein Holzturm auf einem Hügel gleich neben der Straße, der in Zeiten der Not als Zuflucht diente. Eine Einfriedung umgab etwa zwanzig Obstbäume. Einige verdorrte Gärten lagen im Winterschlaf, durch einfache Zäune vor Hasen und anderem Getier geschützt. Vier Jungen kamen aus Richtung der Bäume heran gerannt; jeder von ihnen hielt einen plumpen Bogen in der Hand. Hunde bellten. Ein barfüßiges Kind saß in den Ästen eines Obstbaums und starrte sie an, sagte aber nichts. Drei Männer lungerten bei einem leeren Kuhstall herum und grüßten mit einem Nicken. In Friedleben hatte sich das Dorf um ein Stück Gemeindeland herum gebildet, und es befand sich außerdem einen Morgenspaziergang von Graf Harls Gut entfernt. Hier, in Varre, zogen sich die Häuser die Straße entlang wie ungeordnete Soldaten. Hinter ihnen lagen langgestreckte Felder, die schließlich
111 vom Wald begrenzt wurden. Dort, wo der Weg, auf dem sie ritten, einen breiten Wagenpfad kreuzte, stand eine winzige Kirche. Um sie herum lag der Friedhof, auf dem zwölf frische Gräber zu sehen waren. Hier und dort standen Hütten aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk, deren Dächer fast bis zum Boden reichten, aber Erkanwulf hielt auf das größte Gebäude im Dorf zu, ein zweistöckiges Steinhaus, das sich im Schatten des dreistöckigen Holzturms befand. »Wer lebt hier?«, fragte Ivar, während er das mächtige Gebäude und den einstöckigen Anbau dahinter staunend betrachtete. Es gab außerdem drei Scheunen und ein Dutzend kahle Obstbäume. »Meine Mutter.« Bevor sie das Haus erreichten, läutete die Kirchenglocke zweimal. Ivar warf einen Blick zurück und sah, dass zwei der Männer, die sie beim Kuhstall begrüßt hatten, verschwunden waren. »Sie ist die Kastellanin der hiesigen Verwalterin«, sagte Erkanwulf. »Die Verwalterin hat damals Hauptmann Ulric gebeten, mich als Soldat aufzunehmen. Sie sind entfernte Verwandte mütterlicherseits.« Es war kalt, und obwohl es fast Mittag war, war das Licht so fahl wie am späten Nachmittag. Sie hatten die Sonne schon seit Wochen nicht mehr gesehen; das letzte Mal war es etliche Tage vor der Nacht des großen Sturms und ihrer Rettung durch die Dorfbewohner der Fall gewesen, die tief im Bretwald lebten. Eine Frau kam aus der Scheune, die am weitesten entfernt war. Ihre Haare waren mit einem blauen Kopftuch bedeckt, und sie hatte die Hände voll ungekämmter Wolle. »Erkanwulf!« Sie drehte sich um und floh in die Scheune zurück. Als hätte ihr Schrei das Dorf aufgeweckt, tauchten Leute aus jeder Hütte und jeder Scheune und von den Feldern auf, um beim Steinhaus zusammenzuströmen. Es war ein wohlhabendes Dorf. Ivar hielt die Zügel kurz; er zog es vor, nicht abzusteigen - für den Fall, dass es Ärger geben 111 sollte. Er zählte vierzig Leute, angefangen von krabbelnden Kindern bis zu einem alten Weib, das sich auf einen Gehstock stützte. Es waren auch ältere Männer und ein paar Jungen da, aber keine jungen Männer, nicht ein einziger. Erkanwulf stieg ab und band sein Pferd an einem Pfosten an, ehe er den Pfad entlang auf ein blondes Mädchen von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren zulief. Er packte sie, wirbelte sie herum und küsste sie auf die Wange. Hand in Hand kehrten sie rasch zum Steinhaus zurück. Seine Mutter kam mit leeren Händen aus der Scheune und blickte grimmig drein. »Wer ist das ?«, rief das Mädchen, riss sich von Erkanwulf los und ging mutig zu Ivars Pferd. Sie hatte keine Angst vor dem Tier, sondern kramte in der Tasche herum, die an ihrem Kleid angenäht war, und zog schließlich einen verschrumpelten Apfel heraus, den das Tier freudig annahm. »Zu hoch für jemanden wie dich«, sagte Erkanwulf mit einem Schnauben. »Es sei denn, du willst dir einen edlen Bastard ins Hochzeitsbett holen.« »Du!«, sagte das Mädchen und verdrehte dabei die Augen. Sie grinste Ivar an. Sie war drall, gesund, sehr hübsch und sich ihrer Ausstrahlung nur zu bewusst. »Und obendrein ein Mönch«, fügte Erkanwulf hinzu. »Als hätte das jemals einen Mann abgehalten!« Sie lachte. Sie hatte schöne blaue Augen, tief genug, um darin zu versinken, wie die Dichter sagen würden, und sie heftete ihren Blick so eindringlich auf Ivar, dass dieser errötete. »Still jetzt, Tochter«, sagte Erkanwulfs Mutter. »Beschäme mich nicht vor diesem heiligen Mann. Ich bitte um Vergebung, Eure Exzellenz.« »Ist schon in Ordnung«, erwiderte Ivar unbeholfen. Die Mutter ließ ihren Blick von einem zum anderen schweifen. Es war schwer zu sagen, wer blasser wurde, die Schwester oder der Bruder. »Was machst du hier, Erkanwulf? Letzten Herbst sind die Reiter der Herrin hier gewesen und haben nach dir gesucht. Dein Ungehorsam hat uns ziemlich viel Ärger ein
112 gebracht. Ich hoffe, du kannst uns einen guten Grund dafür nennen, dass du ihren Zorn auf uns gelenkt hast.« »Was für Ärger?« Er sah die Dorfbewohner an, die sich versammelt hatten. Sie blickten mürrisch drein und machten nicht den Eindruck, als würden sie die Besucher willkommen heißen. Als sie nicht antwortete, sprach er weiter. »Wir können diesem Mann vertrauen. Ich schwöre es beim Grab meines Vaters.« Sie hob eine Hand und zählte jedes einzelne Ärgernis an ihren Fingern ab. »Die Verwalterin ist mit ihrem Sohn und ihrer Tochter nach Autun zurückgeschafft worden, damit wir uns angemessen verhalten. Bruno und Fritho sind ausgepeitscht worden, weil sie es nicht wortlos hingenommen haben. Dein Bruder und vier Vettern sind in die Wälder geflüchtet und verstecken sich dort immer noch wie gewöhnliche Banditen, weil die Reiter der Herrin gesagt haben, dass sie sie als Geiseln nehmen würden, bis du zurückkehrst. Die beiden Enkel von Margaret sind Gott wissen wohin gebracht worden, auch wenn sie gesagt haben, dass sie sie als Pferdeknechte in den Ställen der Herrin einsetzen wollen.« Das alte Weib nickte heftig mit dem Kopf. »Wie soll Margaret jetzt ihre Felder pflügen? Du solltest uns eine gute Entschuldigung bieten können, Sohn, denn so schlimm dies alles schon ist« - und jetzt ballte sie die Hand zur Faust und schüttelte sie in seine Richtung »haben wir auch noch unseren gesamten Vorrat an gepökeltem Wild verloren, der uns über den Winter bringen sollte. Sie haben ihn als Steuer genommen, eine Strafe für deine Desertion. Das neue Jahr steht kurz bevor. Unsere Vorratslager leeren sich. Vieles von dem, was wir noch haben, verfault. Und wenn ich mir dieses kalte Wetter, den vielen Regen und die sich seit Wochen versteckende Sonne ansehe, befürchte ich, dass uns weiterer Ärger bevorsteht. Was sagst du zu all dem?« »Er ist auf meinen Befehl weggegangen«, erklärte Ivar. »Und er steht im Dienst von Bischöfin Constanze.«
112 Die Leute begannen zu murmeln. Einige schlugen das Kreiszeichen vor der Brust, während andere das Zeichen machten, das den bösen Blick abwehren sollte. »Sie ist tot, mögen Gott barmherzig mit ihr sein«, sagte Erkanwulfs Mutter. »Sie ist nicht tot. Sie lebt in einem Kloster namens Königinnengruft.« »Genau das haben sie gesagt. Sie ist in Königinnengruft begraben worden.« »Es ist ein Ort, kein Friedhof«, sagte er geduldig, während er sah, wie das Misstrauen der Dorfbewohner etwas nachließ und ihre Gesichter offener wurden. »Es ist ein Kloster. Sie lebt noch. Edelfrau Sabella hat sie ihrer Ämter enthoben, obwohl sie kein Recht dazu hatte, da Bischöfin Constanze vom Herrscher persönlich als Bischöfin und Herzogin eingesetzt worden war.« »König Henry ist Wendaner«, sagte einer der Männer, der sie beim Kuhstall begrüßt hatte. »Wie die Bischöfin. Edelfrau Sabella ist mütterlicherseits immerhin die Tochter der alten königlichen Familie von Varre.« »Sie ist eine Ketzerin«, sagte Erkanwulfs Mutter. »Unsere Diakonissin ist weggeschafft worden, weil sie sich nicht zum Glauben der Edelfrau bekennen wollte.« »Tatsächlich? Ist die Wahrheit schon so weit vorgedrungen? Bis zu diesem Ort?«, fragte Ivar. »Er ist ebenfalls ein Ketzer«, bemerkte Erkanwulf trocken und deutete auf Ivar. »Schweig«, sagte seine Mutter, bevor sie sich wieder Ivar zuwandte. »Es stimmt, Eure Exzellenz. Die Herrin ist eines schönen Tages im letzten Frühjahr auf ihrer Rundreise hier gewesen.« »Es war Sommer«, unterbrach Erkanwulfs Schwester sie. »Ich erinnere mich, weil das Gurkenkraut geblüht hat und die gleiche Farbe hatte wie seine Augen.« »Tsss! Still, Mädchen! Wir haben damals schon genug darü
112 ber gehört. Ich bitte um Vergebung, Eure Exzellenz. Meine Kinder plappern einfach so drauflos. Die Herrin hat mit uns gebetet und gesagt, dass sie uns im Herbst Salz und Gewürze schicken würde, wenn wir uns zur Erlösung bekennen würden. Aber es ist nie etwas gekommen. Wegen deines Ungehorsams, Erkanwulf!«
»Trotzdem«, sagte die Tochter mit einem verträumten Lächeln. »Mir hat gefallen, was der Geistliche der Edelfrau gesagt hat.« »Weil er so blaue Augen hatte!«, erwiderte das alte Weib und lachte pfeifend. »Ach, diese Jugend!« »Ich bin von Narren umgeben!«, rief die Kastellanin, doch ihre Miene wurde sogleich wieder weicher, als sie sich sammelte. »Aber es ist wahr, er ist der bestaussehende Mann, den ich jemals gesehen habe. Eher ein Engel als ein Mensch. Und so freundlich, mit einem tief im Innern bekümmerten Herzen. Seine guten Ratschläge haben sogar das Herz des alten Marius beschwichtigt, und er hat den Streit mit seinem Vetter William aufgegeben, den die beiden seit zwanzig Jahren gepflegt haben!« »Das war ein Wunder!«, bemerkte das alte Weib trocken. »Und er hat vielleicht gut ausgesehen! Puh!« »Ihr seid die Narren!«, rief Erkanwulf, dem diese Schilderungen ganz offensichtlich plötzlich zu viel wurden. »Es kann nur einen einzigen jungen Herrn geben, auf den diese Beschreibung passt, und er ist kein Geistlicher. Er ist ein Gefangener der Edelfrau, ihr Galan. Sie holt ihn sich Nacht für Nacht ins Bett und stellt ihn tagsüber zur Schau, als wäre er ein Heiliger, der nichts anderes als einen Lichtschauer ersehnen würde, der ihn zur Kammer des Lichts befördert!« »Du bist nur neidisch, weil Nan sich nicht mit dir herumwälzen wollte!«, gab seine Schwester verärgert zurück. »Zumindest hat sie nicht jeden Mann in ihr Bett geholt, der ihr über den Weg läuft!« Alle begannen jetzt durcheinanderzureden, und es lachten
113 ebenso viele wie andere schimpften, aber Erkanwulfs Mutter schritt zu ihm und gab ihm eine Ohrfeige. »Sprich nicht so unhöflich, Junge! Und du hast dich immer noch nicht erklärt! Die Verwalterin hat sich für dich eingesetzt, weil sie dich gemocht hat und eine gute Meinung von dir hatte. Und wohin hat sie das gebracht? Sprich endlich! Und ihr anderen haltet den Mund und hört zu!« Kein Hauptmann hätte eine widerspenstige Gruppe von Soldaten besser beherrschen können. Sie schwiegen, husteten, verschränkten die Arme, brachten die Kinder zum Schweigen, scharrten mit den Füßen und warteten, dass Erkanwulf zu reden begann. Ivar hielt ihn mit erhobener Hand davon ab. »Ich werde sprechen.« »Ich bitte um Vergebung«, sagte die Kastellanin eilig, wie er es vorausgesehen hatte. Er war ein Kirchenmann, aber vor allem saß er auf einem schönen Pferd und trug ein Schwert. »Ich bin mit der Hilfe von Erkanwulf und seinem Hauptmann aus Königinnengruft entkommen.« »Still«, murmelte Erkanwulf. »Ich will nicht, dass er Schwierigkeiten bekommt.« »Er wird sowieso bald Schwierigkeiten bekommen«, sagte Ivar. »Was für Schwierigkeiten?«, fragte die Kastellanin. »Sprecht Ihr von Hauptmann Ulric? Er ist ein guter Mann, er kommt aus dieser Gegend. Ich möchte nicht, dass Ihr ihn in Schwierigkeiten bringt.« »Ihr werdet ihm keine Schwierigkeiten bereiten, wenn Ihr Euch still verhaltet, sobald wir wieder unterwegs sind, und niemandem von uns erzählt. Wir sind zu Prinzessin Theophanu geritten -« »Das ist eine der wendischen Prinzessinnen«, sagte einer der alten Männer schlau und bekam dafür von dem alten Weib einen Schlag auf den Rücken. »Still jetzt! Lass den Bruder sprechen!«
113 »Lebt Ihr unter der Herrschaft von Edelfrau Sabella besser als unter der von Bischof in Constanze?«, fragte Ivar. Sie runzelten nach und nach die Stirn, dachten darüber nach, bis die Kastellanin widerwillig das Wort ergriff. »Bischöfin Constanze hat gerecht geherrscht. Wenn sie etwas versprochen hat, ist es auch geschehen. Die Kameraden der Edelfrau nehmen sich, was sie haben wollen, und erlegen uns Steuern auf, wie es ihnen gerade passt.« »Wer herrscht in Wendar und Varre?«, fragte er.
»In Varre herrscht Sabellas Tochter«, antworteten sie. »Zusammen mit ihrem Mann, dem Herzog von Wayland. Conrad dem Schwarzen.« »Dann erkennt Ihr also die Herrschaft von Edelfrau Tallia an - und nicht die des rechtmäßigen Herrschers König Henry ?« »Welches Band verbindet uns mit Henry? Es ist seine ältere Schwester Sabella, die dem königlichen Geschlecht von Varre entstammt. Nicht Henry. Er ist von einer wendischen Mutter geboren worden und hat nichts mit uns zu tun. Er ist nicht ein einziges Mal hier gewesen. Einoder zweimal war er in Autun, mehr nicht. Er hat nichts mit uns zu tun.« »Mir gefällt diese Ketzerei nicht«, sagte die Kastellanin. Einige andere murmelten zustimmend. »Mir hat die Geschichte von der Erlösung ziemlich gut gefallen«, sagte Erkanwulfs Schwester, errötete dann. »Und nicht nur wegen dieses Geistlichen.« »Der hier ist auch ein Ketzer, sagt Wulf«, erklärte das alte Weib. »Also was gibt es da zu wählen? Sind alle vom Königshaus jetzt Ketzer?« »Nein, nicht alle«, sagte Ivar zögernd. Er sah an ihren Mienen, dass er diesen Kampf mit vorsichtigen Argumenten nicht gewinnen konnte. Sie waren keine Wendaner. Aber er war einer. Und so hatte er eigentlich bereits verloren. »Ich bin für Herzog Conrad«, sagte der alte Mann. »Er ist von gutem Blut, auch wenn dieses fremdländische Wesen ihn geboren hat. Aber der alte Herzog, Conrad der Ältere, war sein
114 Vater. Nein, ich sage, Schluss mit den Wendanern. Sollen sie ihre eigenen Felder pflügen und unsere denen überlassen, die auf varrenischem Boden geboren sind.« »So sei es«, sagte Ivar. »Komm, Erkanwulf. Wir reiten am besten weiter, solange es noch hell ist.« Er wandte sich der Kastellanin zu, die keinerlei Anstalten machte, sie zum Bleiben aufzufordern. »Ich bitte Euch, gebt uns etwas Brot und Käse. Wenn alles gutgeht und Ihr uns helft, indem Ihr Schweigen bewahrt, werden wir Euch von den Wendanern befreien, die jetzt noch auf varrenischem Boden sind.« »Wie hast du das vorhin gemeint?«, fragte Erkanwulf, als sie wenig später losritten. Er war mürrisch, nachdem er sich noch einmal mit seiner Schwester gestritten und von seiner Mutter nur einen flüchtigen Kuss bekommen hatte. »>Den varrenischen Boden von den Wendanern befreien.< Ich dachte, wir wollten Bischof in Constanze helfen? Ich fürchte, dass diese Narren da sie nicht als das erkennen, was sie wirklich ist - eine weit bessere Verwalterin als Edelfrau Sabella!« »Es hat keinen Sinn, mit ihnen zu streiten. Sie können uns ohnehin nicht helfen. Wenn viele in Varre so denken, müssen wir tatsächlich rasch handeln. Ich dachte, es würde Leute geben, die Edelfrau Sabellas Herrschaft ablehnen. Die Dorfbewohner bei Königinnengruft haben uns doch auch geholfen.« »Sie mussten die Wachen ernähren und unterbringen. Die sich dafür an mindestens zwei Mädchen aus dem Dorf vergangen haben, wenn es stimmt, was man sich erzählt hat. Die Leute hatten keinen Grund, Edelfrau Sabella zu lieben. Aber was die anderen betrifft - worin besteht für sie der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Herrscher? Sie zahlen so oder so ihren Zehnten. Sie sind dem Wetter und den Banditen ausgeliefert, den Wölfen und den Steuern, die die Verwalter jährlich im Auftrag der Edelleute erheben.« »Aber sie müssen doch gesehen haben, dass Bischöfin Constanze eine gerechte Herrscherin war!«
114 Erkanwulf zuckte mit den Schultern. »Wie viele Winter hat sie in Autun geherrscht? Die Leute hier haben nur mitbekommen, dass irgendeine wendische Edelfrau vom wendischen König eingesetzt wurde. Wir Varrener haben keinen Grund, die Wendaner zu lieben. Da herrscht viel alter Groll.« »Und doch warst du - genau wie dein Hauptmann und seine Männer - nur zu bereit, Bischöfin Constanze dabei zu helfen, einen Boten herauszuschaffen.« »Wir haben sie erlebt, als wir ihr in Autun gedient haben. Wir haben sie kennen gelernt. Aber jetzt herrscht Krieg in Salia. Unsere Grenzen sind in Gefahr. Hauptmann Ulric ist vielleicht gar nicht mehr in Autun stationiert. Möglicherweise wurde er nach Südwesten geschickt, um dort zu
kämpfen. Oder er hat sich inzwischen entschieden, uns doch nicht zu helfen. Vielleicht hat er bereits alles getan, was er tun konnte, um Bischöfin Constanze zu unterstützen. Ich weiß es nicht. Herzog Conrad ist gerecht zu seinen Soldaten. Er ist ein Mann, für den man kämpft.« »Aber du kennst Hauptmann Ulric sicher gut genug, um zu wissen, was in seinem Kopf vor sich geht! Er hat dich schließlich geschickt, um mir zu helfen!« »Wir sind seit Monaten unterwegs. Alles hat sich verändert.« Sie ritten eine Weile schweigend den Pfad entlang, der mitten durch den Wald führte. Eschen und Platanen schwankten leise zwischen Eichen, Birken und Weißbuchen. Es war bewölkt, wie immer in diesen Tagen, und kalt und trocken. Die Regenfälle des letzten Herbstes hatten offensichtlich ihre gesamte Nässe in nur einem einzigen Monat - in dem es unaufhörlich geregnet hatte - an den Boden abgegeben. Im Winter hatte es nur wenig geschneit, obwohl die Wolken sich nie aufgelöst hatten, und im Laufe der Zeit waren die Straßen trocken genug geworden, dass Ivar und Erkanwulf ihre Zuflucht im Bretwald wieder verlassen und sich auf den Weg machen konnten.
115 »Es ist mir schwergefallen, wegzugehen«, sagte Erkanwulf nach einer Weile. »Was? Von deinem Dorf? Sie haben dich nicht sehr freundlich behandelt.« »Nein, davon spreche ich nicht. Du siehst ja, wieso ich gegangen bin! Nein, mir hat die Siedlung im Bretwald gefallen. Das waren gute, anständige und freundliche Leute. An einem solchen Ort würde ich mich gerne niederlassen, auch wenn es nicht wahrscheinlich ist, dass ich das tue.« »Wie meinst du das?« Erkanwulf war etwa im gleichen Alter wie Ivar - aber nicht ganz so groß - und schlaksig wie manche jungen Männer, die während des Wachstums nie genug zu essen bekommen haben. Er war zäh, wie Ivar wusste, aber jetzt zuckte er mit den Schultern wie ein besiegter Mann. »Wenn ich Hauptmann Ulrics Kompanie verlasse, werde ich in mein Dorf zurückkehren müssen, und meine Mutter wird eine Heirat für mich arrangieren. Wer sollte mich sonst auch haben wollen? Ich wäre ein Geächteter, wenn ich den Platz verlassen würde, an den ich durch meine Geburt gebunden bin.« »Im Bretwald haben sie Fremde aufgenommen.« »Das stimmt. Flüchtlinge aus Gent. Mir hat es dort wirklich gefallen. Und es gibt weit und breit keinen Edelmann, der ihnen ein Schwert über den Kopf hält und ihnen erzählt, was sie zu tun haben.« »Bis die Banditen begreifen, wie lang diese Straße ist, und diejenigen angreifen, die keinen Edelmann haben, der sie beschützt.« »Dann brauchen sie weitere Hände, nicht wahr? Ein Mann, der sich im Kampf auskennt, könnte für sie von Nutzen sein.« Erkanwulf brütete vor sich hin, während sie sich durch den Wald bewegten. Kein einziger Vogel sang. Abgesehen vom Säuseln des Windes und dem leisen Klappern der Pferdehufe war es still, was Ivar nervös machte. Seit jener schrecklichen Nacht, als Wind und Regen ihnen so schlimm zugesetzt und
115 Erkanwulfs Pferd getötet hatten, hatte er sich nicht mehr richtig wohlgefühlt. Den alten Klepper, auf dem Erkanwulf jetzt ritt, hatten sie aus einem Dorf, dessen Name Ivar bereits wieder vergessen hatte. Die Leute dort hatten sie nicht sonderlich freundlich aufgenommen, aber sie hatten ihnen Unterkunft gewährt und ihnen im Tausch für ein paar von Prinzessin Theophanus Münzen die Stute überlassen. Jene Dorfbewohner hatten ebenfalls keinerlei Zuneigung für die Wendaner empfunden. Da König Henry auf seiner üblichen Rundreise schon lange nicht mehr durch diese Gegend gekommen war, sahen sie keinen Grund, sich den alten Geschichten über varrenische Königinnen und Könige nicht zuzuwenden, die einst diese Lande regiert hatten, ohne dass ein wendischer Herrscher ihnen gesagt hatte, was sie zu tun hatten. Vor langer Zeit, so kam es Ivar vor, war er jung und gedankenlos gewesen. Er lächelte, als er daran dachte. Vielleicht war es eigentlich gar nicht so lange her. Aber in der Zwischenzeit war so viel geschehen. Er war kopfüber in eine Welt gestürzt, deren Umrisse komplizierter waren als alles,
was er sich als vernachlässigtes jüngstes Kind des alten Grafen von Friedleben jemals hatte vorstellen können. »Vermutlich ist mein Vater inzwischen tot, und mein Bruder Gero ist an seiner Stelle Graf geworden.« Erkanwulf sah ihn an; seine Miene war nicht zu deuten. »Was hat das mit uns zu tun?« »Nichts, gar nichts. Ich habe nur gerade daran gedacht. Ich habe daran gedacht, wie die Welt sich verändert hat, wie du selbst gesagt hast. Nicht nur, weil es diesen Sturm gegeben hat, oder wegen Bischöfin Constanzes Gefangenschaft, sondern weil ich das Gut meines Vaters verlassen habe und weiter gereist bin, als ich jemals erwartet hatte. Ich kann nicht mehr der Junge sein, der ich einmal war. Wenn ich daran denke, wie ich damals war ... ich weiß nicht. Es ist jetzt einfach anders. Wir haben unseren Weg gewählt. Wir können nicht zurück.« »Nun. Wahre Worte.« 116 »Was glaubst du, was werden wir in Autun finden?«, fragte Ivar. Erkanwulf seufzte. »Ich hoffe, wir finden, was wir suchen. Was immer das sein mag.«
2 Es schneite an dem Morgen, als sie mit einer Fähre den Fluss überquerten und unweit des südlichen Tores von Autun ein Waldstück betraten. Sie stolperten über zwei Leichen, die halb verborgen unter Ästen und Zweigen lagen und bereits zum größten Teil verwest waren. Leere Augenhöhlen starrten sie an, und sie gingen rasch weiter. In der Ruine eines alten, verlassenen Bauernhauses brachten sie die Pferde unter, gaben ihnen Futter und Wasser und legten ihnen die fadenscheinigen Decken auf den Rücken. Danach marschierten sie der Stadtmauer entgegen. Auf den Feldern war nichts von frischem weißem Schnee zu sehen; alles war matschiges Grau. Sie kamen an einigen Hütten und Höfen vorbei, deren Läden und Türen gegen die Kälte geschlossen waren. Niemand war zu sehen. Einmal hörten sie eine Ziege meckern; ein anderes Mal verfolgte sie eine Zeitlang das Jammern eines Kindes. Erkanwulf führte ihn zuerst am Fluss entlang und dann zu einem Nebentor. Sie näherten sich vorsichtig, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Ivar blieb im Hintergrund, während Erkanwulf zu den beiden Männern ging, die dort Wache hielten. Er sprach mit ihnen, und nach ein paar Augenblicken winkte er Ivar zu sich, und ohne weitere Worte wurden sie durch das Tor gescheucht und in die Gassen der Stadt entlassen. Autun war eine große Stadt; Sigfrid hatte ihm gesagt, dass etwa zehntausend Leute hier dicht beieinander lebten, aber Ivar hatte es nicht glauben können. Es waren furchtbar viele Leute, viel zu viele. Noch nicht einmal die vereinigten Heere von Prinz Bay
116 an und Prinzessin Sapientia hatten so viele Soldaten gezählt -nicht mehr als zehn oder fünfzehn Hundertschaften, wozu dann noch die Hilfstruppen gekommen waren. An diesem späten Winternachmittag trauten sich nur wenige Menschen auf die Straße. Drei Bettler kauerten auf einem Platz an einem öffentlichen Brunnen, die Hände und Gesichter gegen die bittere Kälte in Lumpen gehüllt. Das Gesicht des Kindes war vom Hunger gezeichnet, und es flitzte wie ein Krüppel auf seinem Rumpf voran, ohne die Beine zu benutzen, und hob die Kupfermünze auf, die Ivar ihnen zugeworfen hatte. »Danke, Bruder!«, krächzte die Mutter überrascht. »Wo der Phönix fliegt, besteht Hoffnung auf Erlösung«, sagte er zu ihr. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix!«, antwortete sie siegesgewiss. »Danke! Danke!« Unwillig lief er hinter Erkanwulf her, der nicht auf ihn gewartet hatte. »Wir wollten versuchen, ungesehen zu bleiben«, schalt ihn der junge Soldat, als Ivar ihn eingeholt hatte. »Wir dürfen keine Spuren hinterlassen.« »Sie hatten Hunger.«
»Alle haben Hunger! Eine Münze wird ihnen heute Brot bescheren, sofern es welches gibt, aber morgen haben sie trotzdem nichts!« »Gott ermutigen uns, das Leiden zu lindern, wann immer es uns möglich ist. Was war das ... was sie über den Phönix gesagt hat?« »Still.« Sie überquerten eine breite Straße und blieben in der Mündung einer schmalen Gasse stehen, warteten darauf, dass zwanzig Soldaten vorbeiritten, auf deren Wappen der Hengst von Wayland prangte. Danach eilten sie einen matschigen Pfad zwischen zweistöckigen Holzhäusern entlang. Die Wände waren nach vorn geneigt und beschatteten ihren Weg, so dass fast 117 Zwielicht herrschte, was es schwieriger machte, nicht in einen der unzähligen Abfallhaufen zu treten, die den matschigen Boden sprenkelten. Weil es kalt war, stank er nicht - aber das würde sich ändern, sobald der Frühling wärmeres Wetter mit sich brachte. »Ich werde mich nie an Städte gewöhnen«, murmelte Ivar. »So schlimm ist es gar nicht«, sagte Erkanwulf. »Man lebt hier freier, losgelöst von seiner Vergangenheit. Und es ist auch sicherer innerhalb dieser Mauern.« »Nur, wenn diejenigen vertrauenswürdig sind, die einen bewachen.« Erkanwulf kicherte. »Das ist wahr. Warte hier.« Er ließ Ivar stehen. Die Seitenstraße führte zu einem Platz, in dessen Mitte ein Pfosten stand, an den Menschen zum Auspeitschen gebunden werden konnten. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich die Soldatenunterkünfte; Ivar erinnerte sich an sie, von seinem kurzen Besuch in Autun zwei Jahre zuvor. Es wurde langsam dunkel. Im Westen färbte sich der Himmel rot - zumindest der Teil, den er zwischen den Gebäuden und den Schatten der Wolken erkennen konnte. Als Erkanwulf zur Tür der Unterkünfte schlich und im Innern verschwand, war er kaum mehr als einer der Schemen, die sie im letzten Herbst in jener schrecklichen Nacht im Wald gesehen hatten. Ivar zitterte und zog den Umhang enger um sich, als die Nachtkälte in seine Knochen kroch. Niemand rührte sich auf dem verlassenen Platz. Hin und wieder bellten Hunde. Räder quietschten, als ein Wagen eine ferne Straße entlang gezogen wurde. Jemand hustete, und einen Augenblick später trat ein Mann aus einem Haus, hielt kurz inne und sah Ivar an, ging dann weiter, an den Unterkünften vorbei, und verlor sich, als die Nacht seine Spur verbarg. Dafür, dass so viele Menschen an diesem kleinen Ort waren, hätte es eigentlich lauter sein müssen, wie auf den Weiden, Feldern und in den Gehegen auf dem Gut seines Vaters. Außer
117 im strengsten Winter und der Zeit der Frühlingsstürme hatte dort ständig ein geschäftiges Kommen und Gehen geherrscht. Er zitterte und stampfte mit den Füßen. Sie waren übereingekommen, dass Ivar sich zu dem Bauernhaus zurückziehen sollte, wenn Erkanwulf zu lange wegblieb, aber als Ivar sich gerade Sorgen zu machen begann, öffnete sich die Seitentür der Unterkünfte, und eine Gestalt schlüpfte ins Freie. Ivar packte den Griff seines Kurzschwertes und zog es langsam aus der Scheide, entspannte sich jedoch, als er Erkanwulf mit dampfendem Atem auf sich zueilen sah. »Komm mit! Der Hauptmann ist da, er hat keinen Dienst und wird uns anhören. Beeil dich!« Sie liefen über den Platz und wurden zu einem von Lampenlicht erhellten Raum am Ende der großen Halle mit den Unterkünften geführt, in dem Hauptmann Ulric schlief und aß. Der Hauptmann saß neben zwei Feldwebeln auf einer Bank; alle drei waren damit beschäftigt, die Reste eines Hähnchens zu vertilgen. Ivars Augen wurden feucht, aber er zwang sich, den Hauptmann anzusehen, versuchte verzweifelt, das Tröpfeln des Bratensafts nicht zu beachten. Er hatte solchen Hunger. »Ich habe nicht erwartet, Euch wiederzusehen, Bruder Ivar«, sagte der Hauptmann, aber seine Stimme klang nicht unfreundlich. Er meinte, was er sagte. »Mit Eurer Hilfe konnten wir uns zu Prinzessin Theophanu durchschlagen, Hauptmann.« »Das hat Erkanwulf mir bereits zu verstehen gegeben. Was gibt es für Neuigkeiten?«
»Keine. Ihre Hoheit bedauert die Notlage ihrer Tante, aber sie hat kein Heer und keine Schätze, um gegen Edelfrau Sabella und Herzog Conrad vorgehen zu können. Sie hat uns Münzen gegeben, frische Pferde, gute Umhänge und Waffen, um uns zu verteidigen, aber nichts darüber hinaus. Sie lebt in Osterburg, dem Herrschaftssitz des Herzogtums Saony, und wartet ab. Das ist alles.«
118 »Der wendische König, Henry der Erste, war Herzog von Saony, bevor er König wurde.« Ulric schob das Hähnchen weg, ließ seine Hand aber auf der Holzplatte liegen, als er Ivars verzweifelten Blick bemerkte. »Ihr beiden seht hungrig aus.« Er schob ihnen die Reste zu und unterhielt sich mit seinen Feldwebeln, während die beiden jungen Männer die Knochen von den letzten Fleisch- und Fettresten befreiten. Bier wurde gebracht, und als sie die Becher geleert hatten, wurden sie erneut gefüllt. Das und die Wärme und der Rauch von den Lampen machten Ivar so müde, dass er seine eingeübten Sätze vergaß. »Wollt Ihr Bischöfin Constanze unterstützen oder nicht?«, fragte er. »Wenn Ihr es wollt, habe ich einen Plan, der es uns ermöglichen könnte, sie zu befreien. Wenn nicht, bitte ich darum, dass ich meiner Wege ziehen darf und Erkanwulf hierbleiben kann und nicht bestraft wird. Er ist ein loyaler Soldat.« »Oh, das weiß ich«, sagte Ulric, ohne Erkanwulf anzusehen, aber Erkanwulf grinste, als er die Worte hörte, und reckte die Schultern, während er sich selbstbewusst über die schmutzigen Stoppeln am Kinn strich. »Aber wenn Ihr Bischöfin Constanze befreit, was dann? Sie hat keine loyalen Soldaten und keinen Schatz. Ihre Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, unterscheiden sich nicht im Geringsten von denen ihrer Nichte in Saony. Es ist besser, wenn sie in Königinnengruft bleibt. Wenn sie flieht, wird Edelfrau Sabella sie so lange jagen lassen, bis sie ergriffen wird. Und dieses Mal wird sie sie töten lassen.« »Wir müssen rasch handeln. Ich werde Eure Hilfe brauchen, Pferde, Vorräte, Männer, die uns begleiten. Einen besonderen Sitz auf einem Sattel, damit die Bischöfin reiten kann, denn sie ist verkrüppelt.« »Und was ist, wenn all dies geschehen ist?« »Wir werden nach Wendar reiten, nach Kessal. Auf diese Weise hat Edelfrau Sabella keine adlige wendische Geisel in Varre. Wenn die Bischöfin erst das Herzogtum Fesse erreicht
118 hat, kann sie selbst entscheiden, ob sie nach Osterburg reiten will.« Ulric war ein vorsichtiger Mann. Sie sprachen beide leise. Seine Feldwebel, kühle, tapfere Männer, die kein Wort sagten, sondern nur zuhörten, saßen so still und wachsam da, dass sich nichts durch diese winzige Kammer hätte schleichen können, ohne gefangen genommen zu werden. Ivar wusste nicht genau, ob sie dem Gespräch lauschten oder den Geräuschen, die von draußen zu ihnen drangen - aus den Unterkünften, wo die letzten Gespräche der Soldaten, die sich zur Nachtruhe bereitmachten, leise vor sich hin plätscherten. »Eine große Anzahl Wachen beschützt die Palisade um Königinnengruft und die Tore. Wie sollen sie bestochen werden?« »Das sollen sie gar nicht. Die Männer werden glauben, dass sie nur Edelfrau Sabellas Befehle ausführen.« Zum ersten Mal wirkte Ulric überrascht. Einer der Feldwebel verdrehte die Augen und klopfte mit dem Fuß dreimal auf den Boden, als würde dieser Unsinn ihn ungeduldig machen. »Nein, hört mir zu.« Ivar hatte nicht gewusst, wie sehr er sich im Laufe der letzten paar Wochen für diese Idee erwärmt hatte. Er hatte eine doppelte Schuld abzutragen, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er ebenso sehr um seinetwillen wie um der Bischöfin willen erfolgreich sein wollte. »Ich kenne jemanden in Sabellas Gefolge. Ich möchte ihn überreden, das zu stehlen, was wir benötigen.« Nachdem Hauptmann Ulric den ganzen Plan gehört hatte, saß er eine Weile gedankenverloren da, das bärtige Kinn in die Hand gestützt. Dann stand er auf. »Also schön. Ich werde Euch bis zur Dämmerung Schutz gewähren. Danach müsst Ihr Autun - und Arconia - verlassen und dürft niemals zurückkehren. Oder Euch zumindest nicht gefangen nehmen lassen. Wenn Ihr in meinen
Gewahrsam kommt, werde ich gezwungen sein, Euch wie einen Verbrecher zu behandeln und Edelfrau Sabella zu übergeben. Ich kann Euch versichern, dass sie nicht barmherzig mit Euch umgehen wird.«
119
3 Letztendlich benötigte er keine besondere Verkleidung, nur eine tief ins Gesicht gezogene Mütze, um seine roten Haare zu verbergen. Jeder einfache Diener konnte so etwas tragen, um die Ohren vor der Winterkälte zu schützen. Seine Kleidung war zwar zum Reiten gedacht, aber sie war schmutzig und geflickt und würde als Arbeitskleidung durchgehen, und die monatelange Arbeit in Königinnengruft hatte dafür gesorgt, dass seine rissigen Hände aussahen wie die eines Mannes, der zur Arbeit geboren und erzogen worden war. Er schlug die Augen nieder und ließ die Schultern hängen, um kleiner zu wirken; die Söhne von Edelleuten neigten dazu, groß zu werden. Graf Harl hatte dies stets mit einem gewissen Hochmut erwähnt, denn er war davon überzeugt gewesen, dass sich in den geraden Gliedern und schönen Gesichtern seiner Kinder Gottes Gunst zeigte. Nachdem Ivar sich so lange auf der Straße aufgehalten hatte, neigte er zu der Ansicht, dass er als Kind vermutlich einfach nur seltener hungrig gewesen war als jemand wie Erkanwulf oder der zerbrechliche Sigfrid. Hauptmann Ulric hatte Freunde unter den Bediensteten. Eine davon war eine freundliche Frau mit dunklen Haaren und hellblauen Augen, die ihn mit auf die abendliche Runde nahm, bei der sie Eimer mit Kohle in die Gemächer der Edelfrau schleppte, um die Kohlenpfannen neu aufzufüllen. Er wankte ein wenig unter dem Stab auf seinen Schultern, als sie auf jeder Seite einen vollen Eimer in die dafür vorgesehene Einkerbung hängte. Die heißen Kohlen waren zwar zugedeckt, aber die bronzenen Eimer strahlten Hitze ab und wärmten ihn. »Kommt mit, aber schweigt«, sagte die Frau, die Johanna hieß. Sie trug nur die leeren Eimer, Zangen und Schaufeln, er hingegen war ins Schwitzen geraten, als er schließlich mit zittrigen Beinen die Stufen zu dem alten Palast erklomm, der einst der Wintersitz von Kaiser Taillefer gewesen war.
119 Sie gingen an dem breiten Vorbau der berühmten achteckigen Kapelle vorbei, in der sich auch das Grab des Kaisers befand. Zwei gelangweilte Wachen standen dort, plauderten miteinander, rieben sich die Hände und stapften mit den Füßen, um sich zu wärmen. »Ja, der Junge wäre zu Tode gepeitscht worden, schätze ich, und alles nur wegen einem Laib Brot. Aber dann ist der Geistliche eingeschritten und hat dafür gesorgt, dass er stattdessen als Diener in die Kirche eintreten kann. Er hat wirklich Glück gehabt.« »Vielleicht war es auch das Werk Gottes, das sich durch den Menschen offenbart.« »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix! Hast du eigentlich schon gehört, dass -« »Kommt schon!«, flüsterte die Frau, als sie sah, dass Ivar langsamer geworden war, um zuzuhören. Er eilte hinter ihr her. Im Innern des Hauptpalastes, der ganz aus Holz bestand, war es erschreckend kalt, und ihre Schritte hallten laut, als sie durch die große Halle zu einem Seitenflügel gingen, in dem die Edelfrau sich mit ihrem persönlichen Gefolge eingerichtet hatte. Wie Graf Harl - aber im Gegensatz zu ihrem herrschenden Bruder - hatte Sabella sich an einem bestimmten Ort niedergelassen und reiste nur durch das Land, wenn ihr danach war oder irgendwo Unruhen ausbrachen, die erstickt werden mussten. Hinter dem kleineren Audienzzimmer befand sich eine Reihe von Räumen, die von den Bediensteten, dem Gefolge und den Geistlichen bewohnt wurden. Sie gingen durch das kleine Zimmer, das von ihrer Schule benutzt wurde und jetzt dunkel und leer war. Die Schreibtische lagen im Schatten, und sämtliche Kisten und Schränke waren fest verschlossen, um ihren Inhalt vor Ungeziefer zu schützen. Dahinter lag eine ansehnliche Kapelle, die zu dieser Stunde von einem Dutzend Lampen in der Gestalt von Guivren erhellt wurde. Leise stellten sie die Eimer neben drei Kohlenpfannen ab. Eine Frau kniete auf dem
120 kalten Stein, obwohl es genügend Teppiche gab, um ihre Knie zu schonen. Ihr weizenblondes Haar war zurückgeflochten und mit einem Netz aus Golddrähten bedeckt, in das Perlen eingearbeitet waren. Ein goldenes Krönchen hielt alles an Ort und Stelle. Da die Frau ihnen den Rücken zuwandte, konnte Ivar ihr Gesicht nicht sehen, aber das brauchte er auch gar nicht. Er hatte sie damals in Quedlingham so oft durch das Loch im Zaun angestarrt - ihren Rücken, ihr Profil, die blassen, abgespannten Gesichtszüge -, dass er sie überall sofort erkannt hätte. Es lag nicht nur an ihrem kostbaren burgunderroten Gewand, dass sie als Frau von höchstem Rang zu erkennen war. Und es war nicht nur der schwere Goldreif an ihrem schlanken Hals, der ihren königlichen Status kundtat. Er erkannte auch die besondere Art, wie sie die Hände faltete. Sie hatte dies schon damals vervollkommnet - in der Zeit, als das Zusammenlegen der Hände geschmerzt hatte von all den nässenden Wunden, den Wundmalen, dem Zeichen ihrer Heiligkeit und Symbol für die Gunst der Herrin. Wunden, die sie sich selbst zugefügt hatte, indem sie sich Nägel ins Fleisch getrieben hatte, wie Hathumod behauptet hatte. Wenn Tallia bezüglich der Wunden log, war es dann möglich, dass sie auch bezüglich der Ketzerei log? Was war, wenn der Phönix eine Lüge war? Nein, Gott hatte Tallia geschickt, um ihren Glauben zu prüfen. Sie war das fehlerhafte Gefäß, aus dem Gottes Botschaft strömte, aber sie konnte sie nicht festhalten. Sie hatten die Wahrheit gesehen, als der Phönix sich erhoben und Sigfrid geheilt hatte. Sie betete hastig, stieß die Worte atemlos aneinandergedrängt aus. »Sollen sie wie Spreu im Wind sein. Soll ihr Pfad dunkel und steil sein. Soll der Tod die Unwürdigen ereilen. Sie verbargen ein Netz, um mich zu fangen.
120 Sie schaufelten eine Grube, um mich zu verschlucken. Soll dieses Netz sie fangen, soll diese Grube sie verschlucken!« In der Zwischenzeit schaufelte Johanna Asche in die leeren Eimer und heiße Kohlen in die Kohlenpfannen. »Sind wir fertig?«, fragte eine Kinderstimme. »Stör mich nicht!«, schrie Tallia. Sie lehnte sich zurück, und ein kleines Kind wurde sichtbar, das auf dem nackten Boden in einer Position kniete, durch die es bisher vor Ivars Blicken verborgen gewesen war. Tallia versetzte dem Kind eine Ohrfeige, das Gesicht vor Wut verzerrt. Als sie sich bewegte, verrieten die Umrisse ihres Körpers unter ihrem Gewand, dass sie hochschwanger war. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt!« »Ich will nicht so oft beten! Papa hat gesagt -« »Du wirst mit den anderen in den Abgrund stürzen! Du tust, was ich dir sage, Berengaria!« Das Mädchen hatte verkniffene, wenig anziehende Gesichtszüge. Ihre Haut war fleckig, weder dunkel noch hell, und alles wirkte, als würde es nicht recht zusammenpassen. Die Nase war zu klein, die Lippen waren zu groß, nichts war wirklich richtig bei ihr. Ihre verdrossene Miene verstärkte nur ihr mürrisches Aussehen. »Müsst ihr unbedingt so einen Lärm machen?«, schrie die Herrin und drehte sich um, starrte Ivar und Johanna finster an. »Seid ihr immer noch nicht fertig damit, wie Vieh herumzustolpern?« »Ich bitte um Vergebung, Eure Hoheit«, sagte Johanna mit sanfter Stimme. »Aber immer, wenn ich hier bin, ergreift mich das heilige Flüstern Gottes. Es ist, als würde ich Ihre Stimme hören, wenn Ihr betet.« Tallias Miene wurde weicher, aber sie ließ das winzige Handgelenk ihrer Tochter keineswegs los. Das Kind wimmerte, während die Prinzessin die Stirn runzelte. »Das stimmt. Ich habe dich schon einmal gesehen. Ich erinnere mich an dich. Wie heißt du?«
120 »Ich heiße Johanna, Eure Hoheit. Nach der Schülerin, die auf so grausame Weise den Märtyrertod starb und doch Gott liebte und Ihre Anbetung und Ihre Einigkeit verkündete, jetzt und für alle Zeiten.«
Erschreckenderweise richtete Tallia ihren inbrünstigen Blick nun auf Ivar, der rasch den Kopf senkte. Aber da hatte er bereits gesehen, wie ihre Augen sich verengt hatten und ein listiger Ausdruck in ihre Züge trat. »Wer ist das ? Er kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht genau ...« »Mein Vetter vom Land, Eure Hoheit. Er ist neu in der Stadt. Er war bereits vor einigen Monaten zum Arbeiten hier, aber dann musste er zurückkehren, um seiner kranken Mutter zu helfen, die nach vielen Monaten qualvoller Krankheit zur Kammer des Lichts aufgestiegen ist, möge Gott ihr Frieden gewähren, jetzt, da sie vor der Welt gut verwahrt ist.« Johanna war geschwätzig, und es war offensichtlich, dass sie schon vor einiger Zeit gelernt hatte, die schlechte Laune ihrer Herrin zu beschwichtigen. Ivar blieb gebeugt stehen und hielt den Blick weiter auf den Boden gerichtet; er hoffte, dass Tallia ihn nicht erkennen würde. »Glaubt er an die Erlösung? Ich dulde keinen Diener in meinem Haus, der ein Ketzer ist!« »Oh, er glaubt, in der Tat, Eure Hoheit!« »Er muss es selbst sagen! Er muss! Die Leute lügen mich an. Sie sagen, sie sind tot, und dann leben sie wieder. Sie sagen, dass ich herrschen werde, aber dann halten sie die Zügel in den eigenen Händen. Sie reden vom Phönix, wo der Phönix doch gar keine Rolle spielt, und alles nur, weil er so ein hübsches Gesicht und so eine nette Art -« Mitten in diese Tirade platzte der Herzog, der mit einer älteren und äußerst hübschen Tochter aus einer anderen Tür trat. Er war für den Ausritt gekleidet, genau wie das Mädchen, und er schlug klatschend die Handschuhe gegen die Oberschenkel, um sich bemerkbar zu machen.
121 Tallia verstummte unverzüglich, als hätte er sie geschlagen. »Wo ist Berry?«, brüllte er. Das Mädchen schrie auf, sprang von der Mutter weg und rannte quer durch den Raum, stürzte sich in die Arme ihres Vaters. In diesem Augenblick veränderte sich ihr Gesicht. »Ich will mit! Ich will mit!« »Um Gottes Wohl und Frieden, Tallia, du hast mir gesagt, dass sie zu krank ist, um auszureiten!« »Krank in der Seele, mein Herr«, erwiderte sie zitternd, eine Hand auf dem Bauch. »Zu krank! Das viele Trübsalblasen und Wimmern wird sie töten, nicht ihre Gesundheit erhalten! Willst du, dass sie ebenso stirbt wie die zwei anderen?« »So kannst du nicht mit mir sprechen!« Das ältere Mädchen verdrehte die Augen auf eine Weise, die Ivar verblüffend an den Feldwebel erinnerte, der bei Hauptmann Ulric gewesen war. Sie hatte tatsächlich eine soldatische Haltung, die darauf hindeutete, dass sie ritt und im Umgang mit Waffen unterrichtet wurde. »Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass du das Kind mit Beten verschonen sollst«, erklärte Conrad. »Dafür sind die Geistlichen da. Zweimal am Tag ist genug. Sie braucht frische Luft und einen gesunden Appetit.« Tallia war bleich vor Wut, aber das kleine Mädchen hielt sich mit unerschütterlichem Griff an ihrem Vater fest. »Ich will bei dir bleiben, Papa. Ich will bei dir bleiben!« »Natürlich bleibst du bei mir.« »Ich hasse dich!«, flüsterte Tallia. Er lachte. »Das hast du aber nicht gesagt, als du letztes Mal in mein Bett gekrochen kamst.« Tallia schluchzte, dann warf sie der älteren Tochter einen Blick voller Abscheu zu und unterdrückte ihre Tränen. Johanna zupfte Ivar am Ärmel. »Gehen wir.« Er schob den Nacken unter das Joch und hob die Eimer, glitt dann seitwärts durch die Tür und ging hinter Johanna her, die
121 einen Korridor entlangschritt, der vor einer doppelflügeligen Tür endete.
»Es ist wie Gift«, sagte sie leise. »Meistens bleiben sie - der Herrin sei Dank - in Wayland, wohin sie gehören, aber Edelfrau Sabella will, dass ihre Tochter das Kind in Autun zur Welt bringt, mit Hilfe ihrer eigenen Hebammen.« »Wieso? Gibt es in Wayland keine Hebammen?« »Sie haben entschieden, wenn die junge Königin einen Jungen auf die Welt bringt, soll Edelfrau Sabella ihn bekommen, um ihn großzuziehen. Wenn es ein Mädchen ist, nimmt es natürlich der Herzog. Die letzten beiden sind gestorben, bevor sie der Mutterbrust entwöhnt waren. Nur die Älteste hat bislang überlebt, und auch sie ist noch keine fünf Sommer alt.« »Will Edelfrau Tallia ihre Söhne nicht selbst aufziehen?« Johanna hatte die eine Hand bereits auf dem Riegel, hielt aber noch einmal inne. »Edelfrau Tallia hat in dieser Sache kein Mitspracherecht, obwohl sie der letzte Abkömmling des königlichen Geschlechts von Varre ist und als Königin bezeichnet wird. Sie ist ein verängstigtes, engstirniges und hartherziges Wesen. Dennoch bemitleide ich sie - so gefangen zwischen dem Hengst und dem Guivre.« Sie warf einen Blick auf die geschlossene Tür, als könnten sie belauscht werden. »Seid vorsichtig, Bruder Ivar. Der Hengst ist wild und hitzköpfig, aber ehrlich in seinen Leidenschaften, und er wird um sich treten und zubeißen, um seine Fohlen zu beschützen. Es ist der kalte Blick des Guivre, der Euch töten wird.« Sie hob den Riegel und öffnete die Tür, damit er hineingehen konnte. Er achtete darauf, den Stab auf seinen Schultern im Gleichgewicht zu halten, damit die Eimer nicht gegen die Wände knallten. In diesem prächtigen Zimmer spielte ein Mann mittleren Alters mit einem schönen Gesicht auf der Laute und sang ein fröhliches Lied über den Fuchs, der die Hühner verspeiste, obwohl der Bauer sich bemühte, ihn von ihnen fernzuhalten. Wandteppiche bedeckten die Wände, und ein Dutzend oder
122 noch mehr Lampen in Gestalt furchterregender Guivre, aus deren Augen Flammen schössen, versorgten die vergnügliche Gesellschaft, die sich um Edelfrau Sabella versammelt hatte, mit Licht. Ihre Haare waren halb ergraut, aber ansonsten wirkte sie kraftvoll und wachsam. Sie hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und sprach mit ihren Kameraden: einigen Edel-frauen, zwei Männern in den Gewändern von Geistlichen und einem blonden Mann, der mit dem Rücken zu Ivar saß. Zwei Verwalterinnen standen beim Herd neben einem Tisch voller Platten mit Fleisch und Schüsseln mit Süßigkeiten und Früchten. Niemand beachtete sie, während sie dort standen und auf irgendein Zeichen oder eine Geste ihrer Herrin warteten. Eine bemerkte die beiden Bediensteten und nickte kurz zum Einverständnis, dass sie ihrer Arbeit nachgehen sollten. Ein dritter Geistlicher saß an einem Schreibtisch und war eifrig damit beschäftigt, etwas niederzuschreiben. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine Feder kratzte leicht über das Pergament. Ivar kümmerte sich nicht weiter um ihn, ließ den Blick stattdessen zum Rücken des blonden Mannes weiterschweifen, der neben Sabella saß. Es war etwas Falsches an seinen Schultern. Sie waren zu mächtig, und die Hände, mit denen er gestikulierte, waren breit wie Paddel. Es waren die Hände eines Mannes, der mühelos ein großes Schwert schwingen konnte, ohne sich Sorgen um dessen Gewicht und die Dicke des Knaufes machen zu müssen. Es war eindeutig nicht Baldwin. »Schsch!« Johanna drängte Ivar zur Kohlenpfanne, die neben dem Schreibtisch stand. Offensichtlich hatte Sabella Baldwin irgendwo anders untergebracht. Vielleicht würden sie in die persönlichen Gemächer der Herzogin gehen, wenn sie hier fertig waren. Er stellte die Eimer ab und sah auf - und begegnete dem verwirrten Blick des Geistlichen, der kurz zuvor noch so sehr mit Schreiben beschäftigt gewesen war, dass er sein Gesicht nicht hatte erkennen können.
122 Er hatte geschrieben*. Seine Finger waren voller Tintenflecke. Das Pergament war neu; niemand hatte bisher darauf geschrieben. Ivar hatte genug Erfahrung mit dem Klosterleben, um zu erkennen, dass das Messer
nur wenige Fehler hatte wegschaben müssen - und das, obwohl die Seite zur Hälfte mit fließenden, schönen Buchstaben bedeckt war. Die helle Haut des Geistlichen lief rot an, und eine einzelne Träne schimmerte am Unterlid des rechten Auges. Er presste die Lippen zusammen, heftete den Blick wieder auf die Feder, prüfte die Spitze, tauchte sie in die Tinte und arbeitete weiter. Die Buchstaben flössen ihm geschmeidig aus der Hand. Und er schrieb nicht etwa einen Text ab, sondern ganz aus dem Gedächtnis. Selbst die Herren von Quedlingham, die ihn wegen seines hübschen Gesichts und seiner fügsamen Art verdorben hatten, waren sich einig gewesen, dass Baldwin zu dumm war, um lesen und schreiben zu lernen, abgesehen von den einfachsten Gesprächen, die Zehnjährigen beigebracht wurden. Johanna tauchte neben Ivar auf, stieß ihn mit dem Fuß an. Er zuckte zusammen, half ihr rasch, die Kohlenpfanne neu zu füllen, und ging dann mit ihr zu den Übrigen, die überall im Zimmer verteilt waren. »So trübselig dieser Winter auch war, wenigstens haben die Aikha keine Raubzüge durchgeführt«, sagte der blonde Krieger. »Nein, Amalfred, sie haben sich das ganze letzte Jahr auf Salia beschränkt«, bemerkte eine der Frauen. »Dort hatten sie es ziemlich leicht.« »Wenn Salia fällt, wieso sollten sie dann nicht zu uns kommen?«, erwiderte er. »Wir werden sehen. Die Kaufleute sagen, dass es noch zu früh zum Segeln ist und die Strömungen und Winde nicht günstig sind. Sie sagen, irgendeine Verzauberung würde die Meere aufwühlen. Wir sind in Sicherheit, wenn die Winde die Aikha von unseren Küsten fernhalten.«
123 »Möglicherweise.« Edelfrau Sabellas Blick schweifte gleichgültig über die beiden Bediensteten, die stumm ihrer Arbeit nachgingen. Sie warf dem Geistlichen einen Blick zu, der sich wieder über seine Schreibarbeit beugte. Ivar konnte die Gefühlsregung nicht deuten, die wohl der Grund dafür war, warum sie ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpresste; es konnte ebenso gut unterdrückte Leidenschaft wie Abscheu sein. Zwei Gefühle, die wahrscheinlich zusammenhingen, dachte Ivar, während er sorgsam darauf achtete, sie nicht sein Gesicht sehen zu lassen. Er hatte selbst zwischen beiden Gefühlen hin und her geschwankt, damals, in jenen Tagen, als Zurückhaltung das geringste seiner Probleme gewesen war, als er und Baldwin mit Prinz Ekkehard und seinen Kameraden weggelaufen waren. Jetzt jedoch war er so rot und atemlos, als wäre er gerannt. Wer hätte gedacht, dass er Baldwin so schrecklich vermisst hatte ? »Möglicherweise?«, fragte der Krieger. Der Mann war etwa dreißig Jahre alt. Er sprach mit dem Akzent des Westens und war vermutlich ein Edelmann aus den Grenzgebieten. »Bitte erhellt uns mit Eurer Weisheit, Eure Hoheit.« »Möglicherweise«, wiederholte sie, während ihr Blick geschmeidig von Baldwin wegglitt, als würde er keinerlei Bedeutung für sie haben. »Die Aikha sind nicht die einzige Bedrohung, auch wenn sie tatsächlich im letzten Sommer und Herbst die gesamte salianische Küste geplündert haben. Sofern die Berichte stimmen.« »In meinen Ländereien wimmelt es nur so von Salianern«, sagte eine der Frauen. »Da unsere Vorratskammern fast leer sind, stellt ihre Anwesenheit eine Bedrohung für uns dar«, erwiderte Sabella. »Wir müssen gemeinsam handeln, um sie in ihre Heimat zurückzutreiben.« »Was ist mit jenen, die die Wahrheit anerkennen?«, fragte der Edelmann. »Die abtrünnige Geistlichkeit in Salia erkennt immer noch die Ketzerei des Translatus an. Wenn die Flücht
123 linge, die sich zur Wahrheit bekannt haben, nach Hause zurückkehren, werden sie hingerichtet werden.« »Dann wird ihr Blut an den Händen ihrer Herren kleben. Gott wird darüber richten. Aber der Winter war kalt. Unsere Vorratslager sind fast leer. Seltsame Omen setzen uns zu. Nichts ist mehr so wie zuvor, seit im letzten Herbst dieser schreckliche Sturm zugeschlagen hat. Ich muss schon genug Flüchtlinge aus meinem eigenen Herzogtum ernähren. Da kann ich nicht auch noch für
Salianer sorgen. Sollen die Aikha sie unterwerfen - und sich um sie kümmern! Sie den Fischen übergeben, wenn es sein muss.« »Ha! Es heißt, dass es ein Volk im Meer gibt, das Menschenfleisch frisst.« »Es heißt, dass einige im Westen, die am Verhungern sind, Menschenfleisch essen, Edelmann Amalfred«, bemerkte Sabella. »Brixianer, möglicherweise. Das sind die einzigen Salianer, die sich auf solche Weise entwürdigen würden.« »Mein Herr«, sagte einer der Geistlichen ernst, »wenn solche Leute hungern, ermutigt Gott uns, ihnen zu helfen und Mitleid mit ihnen zu haben.« »Nun«, sprach Amalfred kühn weiter, »wenn Edelfrau Sabella mir diese Vorratslager zur Verfügung stellt, kann ich meine unruhigen Soldaten ernähren, die von Rebellion reden.« »Ich bitte Euch, Eure Hoheit«, sagte Baldwin, ohne von seinem Tisch aufzublicken. Wie angenehm seine Stimme war, verglichen mit den raueren Stimmen von Sabellas Kameraden. »Diese Kornvorräte sind für die Armen von Autun bestimmt, Eure Hoheit. Dort gibt es so viele, die nicht genug zu essen haben.« »Die Armen von Autun können mir nicht helfen«, sagte Sabella. »Aber Edelmann Amalfreds hungrige Soldaten können die Grenzen von Varre beschützen.« »Und in Salia ein bisschen Land für sich selbst erringen«, fügte eine ihrer Kameradinnen hinzu.
124 Sabella lachte, aber dann blickte sie stirnrunzelnd wieder zu den beiden Bediensteten. »Seid ihr denn immer noch nicht fertig? Was für zwei schwerfällige Narren hat man mir diesmal geschickt? Wie heißt ihr?« »Ich bitte Euch, Eure Hoheit«, sagte Baldwin mit lieblicher Stimme, den Blick nach wie vor auf den Tisch gerichtet. »Ich habe schon wieder vergessen, ob es das Kloster von Fiersbarg war oder das von Felden, das einen neuen Abt benötigt, nun, da der edle Vater so lange abwesend ist.« »Fiersbarg, Baldwin! Hast du nicht zugehört, als ich dir erzählt habe, dass Reginar, dieses nutzlose Hündchen meiner Schwester Rotrudis, seit letztem Jahr verschollen ist? Muss ich mir alles für dich merken?« Johanna zupfte Ivar am Ärmel, und er folgte ihr eilig durch eine Seitentür hinaus. Sie traten auf einen schmalen Hof, der an die Mauer grenzte. »Wartet bitte einen Augenblick«, sagte Johanna und bedeutete ihm, die Eimer abzustellen. »Ich muss den Abort aufsuchen. Dann machen wir weiter.« Sie hatte an einer der Kohlenpfannen eine dünne Wachskerze entzündet und huschte jetzt in ihrem Licht in eine der geschlossenen Hütten, die vor der Wand errichtet worden waren. Hier oben wehte ein schneidender Wind, und es war kalt. Ivar blies in seine Hände und blickte sich um, aber es gab nicht viel zu sehen. In einiger Entfernung war ein Tor, von zwei Fackeln beleuchtet. Er konnte die Stadt nicht sehen, aber er spürte ihre enormen Ausmaße. Alle anderen Leute schliefen. Nur Edelfrau Sabella war reich genug, um in der Nacht Öl brennen zu lassen. Er starrte zur Tür, und schließlich öffnete sie sich quietschend und schloss sich dann genauso quietschend wieder. Ein Licht erschien, und ein heller Kopf tauchte vor ihm auf. Ohne etwas zu sagen, packte der Neuankömmling die Mütze, die Ivars Kopf bedeckte, und riss sie herunter, dann hielt er die Lampe neben ihn, um die Farbe seiner Haare erkennen zu können. Mit einem leisen Fluch, der eher ein Stöhnen war als ge 124 sprochene Worte, packte er Ivars linke Hand, ließ sie los und packte seine rechte. Dort glänzte der Lapislazuli-Ring, strahlte im Lampenlicht. Baldwin schloss seine schönen Augen, und seine Beine gaben nach, als er in einer Gebetspose auf den Stein sank. Seine Hände zitterten, und Ivar nahm ihm die Lampe aus der Hand, damit er sie nicht fallen ließ. »Oh Gott. Wie ist das möglich? Du warst tot. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe dich berührt. Ich habe dir diesen Ring auf deine kalte Hand gelegt. Du warst tot.«
»Es war eine List, Baldwin. Es tut mir leid, dass du leiden musstest, weil du die Wahrheit nicht gekannt hast.« Er stellte die Lampe ab und legte Baldwin zögernd die Hand auf die Schulter. »Ich war nicht tot, nur betäubt. Ich bin aus Königinnengruft geflohen, um Prinzessin Theophanu eine Nachricht zu überbringen.« Baldwin sprang auf und umarmte Ivar heftig. Dann brach er in Tränen aus. Ivars Kehle war wie zugeschnürt, so dass er anfangs nichts sagen konnte, aber er wusste, wie wenig Zeit sie hatten. »Man wird bestimmt bald merken, dass du nicht da bist.« »Ja, ja«, murmelte Baldwin an seiner Schulter. »Ich bin rausgegangen, um den Abort zu benutzen, aber sie wird sich wundern und argwöhnisch werden. Sie hält mich gefangen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich sie ist. Immerzu beobachtet sie mich.« »Du hast uns das Leben gerettet.« »Ich weiß.« Er sprach die Worte ohne Wut oder Vorwurf, einfach nur als die Wahrheit, die sie waren. Er ließ Ivar los, nahm dann seine Hände und sah ihn eingehend an. Da war ein Ausdruck in Baldwins hübschem Gesicht, der früher nicht da gewesen war, aber Ivar konnte nicht erkennen, was es war. Das Licht der Lampe, das von unten schien, erhellte die vollkommene Form seiner Wangenknochen und brachte seine hübschen Augen zum Glitzern. Das Mitter
125 nachtsblau seines Gewandes verschmolz mit der Nacht, so dass er fast wie eine unirdische Erscheinung aussah und nicht wie ein menschliches Wesen. Er hatte nichts von seiner unglückseligen Schönheit verloren. »Wieso bist du hier, Ivar? Ich wusste, dass du mich nicht verlassen würdest.« »Willst du heute Nacht mit mir fliehen?« »Ja.« »Ich brauche etwas.« »Was?« »Pergament, Tinte und Feder, Edelfrau Sabellas herzogliches Siegel und jemanden, der schreiben kann wie jene in ihrer Schule. Wir brauchen einen Brief für die Wachen bei Königinnengruft, einen Befehl, Bischöfin Constanze und ihr Gefolge freizulassen.« »Ich kann diese Dinge bis Mitternacht beschaffen«, sagte Baldwin. »Auch das Siegel?« »Auch das Siegel. Ich kann dir schreiben, was immer du haben willst.« »Ich habe es gesehen - ich habe es gesehen, Baldwin. Wie hast du nur gelernt, so gut zu schreiben? Kannst du jetzt auch lesen?« Er zog eine Grimasse, als ihm bewusst wurde, wie er sich anhörte, aber Baldwin lächelte weder, noch runzelte er die Stirn. »Es gefällt ihr nicht, wenn ich bete und mich wie ein Geistlicher verhalte«, sagte er leise. »Es erinnert sie an ihre Tochter, und das empört sie. Deshalb habe ich so viel gebetet und das Schreiben so sehr geübt. Und dann habe ich gemerkt, dass ich gut darin war. Alle sagen, dass ich eine schöne Handschrift habe. Sie loben mich. Ich kenne jedes Wort in jedem Dekret, das aus ihrer Schule kommt. Ich habe das Siegel von Arconia, Ivar. Ich bin das Siegel. So nennt sie mich. Siehst du?« Er griff in die Falten seines Gewandes und zog einen kleinen Gegenstand hervor, der an seinem Gürtel befestigt war. Ivar betastete ihn, spürte die feinen Vertiefungen und Vorsprünge
125 eines in einen Stein eingearbeiteten Reliefs. Er hatte nicht genug Licht, um es genau anzusehen, aber es fühlte sich wie ein fürstliches Siegel an, mit dem Herzogin Sabella ihre Zustimmung unter sämtliche Briefe und Dokumente setzte, die ihre Schule verließen, und ihnen dadurch Autorität verlieh. »Ich komme, sobald alle zu Bett gegangen sind. Sie wird mich heute nicht zu sich rufen, denn sie hat ihre Blutung. Warte am Flusstor. Wir werden Pferde brauchen.« »Dafür ist gesorgt, Baldwin. Aber wenn du so leicht entkommen kannst, wieso hast du es dann nicht längst getan?«
»Wieso hätte ich es tun sollen? Wofür sollte ich leben, wenn ich allein bin? Hier hatte ich immerhin die Hoffnung, einen Weg zu finden, die anderen zu befreien. Ich habe sie gesehen.« Seine Stimme zitterte. Er weinte fast. »Ich habe sie in Königinnengruft gesehen, aber wir durften nicht miteinander sprechen. Ich muss jetzt gehen.« Er ließ Ivars Hand los, warf ihm einen letzten, eindringlichen Blick zu, dann nahm er die Lampe und eilte zurück nach drinnen. Die Tür schloss sich hinter ihm. Ivar stand einfach nur benommen da. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Er schnappte auf eine Weise nach Luft, dass es fast ein Schrei war. »Oh!« Johanna trat so leise neben ihn, dass Ivar ein überraschtes Zischen entschlüpfte. »Der war's! Manche sagen, er sei ein Heiliger.« »Ein Heiliger?« Ivar wurde rot, und er zitterte. Tatsächlich war er sogar ein bisschen gereizt. Seit wann sagte Baldwin ihm mit so viel kühler Selbstsicherheit, was er zu tun hatte? »Er ist so ausgeglichen, obwohl sie ihn schrecklich behandelt.« »Misshandelt sie ihn?« »Sie ist sehr reizbar. Sie verachtet diejenigen, vor denen sie keinen Respekt hat, und behandelt sie besonders schlecht. Sie hasst sich dafür, dass sie seine Schönheit so liebt. Herzog Conrad ist der bessere Herrscher. Alle wissen das. Aber Edelmann
126 Baldwin steckt hinter ihrem Rücken den Hungernden Essen zu und gewährt den Ermüdeten freundliche Worte. Kein normaler Mensch kann so schön sein. Gott muss ihn bevorzugen. Kommt jetzt. Wir haben noch ein Zimmer vor uns, und dann muss ich Euch zu den Unterkünften zurückbringen.« Er zog sich die Mütze wieder über die Haare und folgte ihr. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, in einem Wirrwarr, den er nicht ordnen konnte. Das war ihm auch noch nicht gelungen, als Johanna ihn an Hauptmann Ulric übergab und er ihm und seinen Kameraden Bericht erstattete. »Also gut«, sagte Ulric, der wie die meisten erfahrenen Soldaten gewohnt war, schnell zu handeln. »Erkanwulf, du wirst mit dem Geistlichen nach Süden reiten, wenn er uns das Siegel und den Befehl übergeben hat.« »Wird er nicht mit mir nach Königinnengruft reiten?«, fragte Ivar. »Sie wird hinter ihm her sein. Er wird sie ein wenig an der Nase herumführen müssen, während wir Bischöfin Constanze retten. Wenn sie entkommen, treffen wir sie später wieder. Sofern das Eure Zustimmung findet, Edelmann Ivar.« Als sie den Qumanern entkommen waren, hatten die anderen von Ivar erwartet, dass er sie führte, aber jetzt war es anders: er musste folgen, während der Hauptmann ihm sagte, was sie tun würden. Dass Ulric ihn um seine Zustimmung bat, war nichts als Höflichkeit angesichts ihres unterschiedlichen Ranges. Aber es gab Hoffnung. Er stimmte allem zu, was Hauptmann Ulric vorgeschlagen hatte. Ruhig und sich im Schatten haltend verließen die Soldaten einzeln oder zu zweit die Unterkünfte. Langsam leerten sich die Ställe. Ivar ging mit Erkanwulf durch die verlassenen Straßen, eine Kerze in der Hand, die ihnen den Weg wies. Sie führten vier Pferde mit sich, deren Hufe klackende Geräusche auf dem Steinpflaster machten. Sie warteten scheinbar für Stunden am Flusstor, obwohl es in Wirklichkeit kaum länger dauerte als die Morgenmesse. Der
126 plätschernde Fluss sang ihnen ein Ständchen. Der Wind trug den Geruch von Abfall herbei. Ansonsten war es still und dunkel. Ivar konnte kaum die Mauern von Autun hinter sich erkennen, während er auf dem breiten Geländestreifen zwischen dem Tor und dem Fluss stand. Etwa zwanzig Boote waren ans Ufer gezogen worden. Die Kais befanden sich weiter flussabwärts beim Nordtor. Eine Ratte huschte ins zitternde, rauchige Licht der Kerze, erstarrte und verschwand, als Erkanwulf ein Messer nach ihr warf. Die Klinge blieb im Boden stecken, und er beugte sich hinunter, um sie herauszuziehen. »Wo sind die anderen?«, fragte Ivar.
»Die meisten werden zurückbleiben und sich der Streitmacht anschließen, die uns verfolgen wird. Sie werden später zu uns stoßen. Einige Männer werden auf der anderen Seite des Flusses auf dich warten. Und da ist Hauptmann Ulric.« Der Hauptmann tauchte aus dem Schatten des Flusstores auf, sprach leise und kurz angebunden mit den zwei Wachen, die alle durchgelassen hatten, dann trat er zurück und ließ Baldwin passieren. Baldwin blieb stehen, reckte den Arm in die Luft, als würde er etwas berühren, das er seit Jahren nicht gesehen hatte. Er wandte sich um, suchte und fand Ivar. »Sie sagen, dass ich nach Süden reiten soll, damit sie mir folgen und keinen Verdacht schöpfen, was wirklich vor sich geht. Ist das richtig?« »Ja, das ist richtig, Baldwin. So lautet der Plan. Sie wird dem Licht folgen, das am hellsten scheint.« Baldwin griff in seinen Ärmel und holte ein gerolltes Pergament hervor, das mit einem Stück Leder zusammengebunden war. »Hier ist es. Ein Brief, der die Entlassung der Bischöfin verlangt und erklärt, dass sie frei ist, sofern sie Varre verlässt und niemals zurückkehrt. Ansonsten ist ihr Leben verwirkt. Ich hielt es für das Glaubwürdigste, es so zu formulieren. Sie ist nicht barmherzig.« Er reichte ihm das Pergament. Mit zittriger Hand nahm Ivar es an sich. Hitze und Kälte überkamen ihn gleichzeitig. Er fand
127 keine Worte, zog den Lapislazuli-Ring vom Finger und drückte ihn Baldwin in die warme Hand. Baldwin steckte ihn an einen Finger, hielt Ivars Blick einen Moment fest, dann wandte er sich an den Hauptmann. »Ich bin so weit.« »Erkanwulf wird Euch begleiten«, sagte der Hauptmann. Die beiden verschwanden in der Nacht, auch wenn das Licht der Kerze noch endlos lange zu sehen war, während die beiden am Ufer entlanggingen. Das Pergament, das Ivar in der Hand hielt, machte ihn benommen. So schnell war Baldwin schon wieder fort, ihm erneut entrissen. Und überhaupt war es so ungewohnt für ihn, erfolgreich zu sein, dass es ihm jetzt fast unmöglich vorkam, dass genau das der Fall war. »Ich reite mit Euch zur Fähre«, sagte der Hauptmann. »Feldwebel Hugo wird Euch nach Königinnengruft begleiten. Wir Übrigen werden Euch so bald wie möglich auf der Straße nach Kessal treffen. Geht jetzt. Geht mit Gott. Möge Sie über Euch wachen.« Erst später, als er längst den Fluss überquert und die Gischt auf seinem Gesicht gespürt hatte, begriff er, dass Hauptmann Ulric die letzten Worte völlig unbefangen gesagt hatte. Möge Sie über Euch wachen. In Autun zumindest hatte der Glaube an die Erlösung gesiegt, und Ivar fragte sich, wessen Beispiel wohl die meisten Bekehrten überzeugt hatte - das von Edelfrau Tallia oder das von Baldwin ? Ivars Haare waren unter einer schmutzigen Kappe und einem Helm aus gekochtem Leder verborgen. Er stand bei dem Dutzend Soldaten, die an dem Komplott beteiligt waren, und sah
127 zu, wie Feldwebel Hugo Hauptmann Tammus den falschen Befehl überbrachte. »Sie soll verbannt werden?«, fragte der mit Narben übersäte Hauptmann, nachdem die Diakonissin, die die Leitung über die Kapelle des Lagers innehatte, den Befehl vorgelesen hatte. »Ich tue nur, was man mir aufgetragen hat«, sagte Feldwebel Hugo mit einem Schulterzucken. »Die Unruhen an der salianischen Grenze sind schlimmer als je zuvor. Es ist von Hungersnöten die Rede. Edelfrau Sabella braucht all ihre Soldaten für andere Aufgaben. Sie will sie wohl loswerden. Sie können in Wendar genauso gut sterben wie hier.« »Es wäre einfacher, sie zu töten.« Tammus hatte eine Art zu blinzeln, bei der die Narben sich verzogen und kräuselten. Er sah unangenehm aus und war so gut wie immer übel gelaunt, aber er war nicht dumm. Ivar achtete darauf, den Kopf gesenkt zu halten. Es war möglich, dass Tammus sich an sein Gesicht erinnerte. Es hatten insgesamt nur drei junge Männer in Königinnengruft gelebt, und sein »Tod« war sehr öffentlich, unerwartet und dramatisch gewesen. Seine Hände waren feucht. Trotz der Kälte schwitzte er.
»Es gibt keinen Befehl, sie zu töten«, sagte Hugo, ohne eine Miene zu verziehen. »Wir sollen sie zur Grenze nach Fesse bringen. Von da an werden sie auf sich gestellt sein. Das ist alles, was ich weiß.« Tammus grunzte. Er nahm der Diakonissin das Pergament aus der Hand und schnüffelte an dem Siegel, leckte daran, spuckte aus und reichte es der Frau zurück. »Es ist echt«, sagte die Diakonissin. Sie war sich ihrer Sache sicher, das konnte man sehen, aber sie wirkte dennoch zögerlich und sah Tammus ängstlich an. Auf ihrer rechten Wange war ein roter Fleck, der fast verblasst war. »Es ist das persönliche Siegel der Herzogin. Die Schrift ist ausgesprochen schön. Es ist die gleiche Handschrift wie bei den anderen Briefen, die sie im letzten Jahr geschickt hat.« Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase, während er
128 die Soldaten, die zwei Karren und die Esel und Maultiere musterte. Es war nicht schwer gewesen, Hauptmann Tammus in dem Lager außerhalb der Palisade zu finden. Sein Haus war das größte, es bestand aus zwei ganzen Räumen und war das einzige, dessen Wände frisch getüncht waren. Das Lager wirkte unordentlich und halb verlassen. Alle Wege waren matschig. Ivar hörte keinerlei Hühner gackern, obwohl die Wachen einmal eine beachtliche Schar besessen hatten, die sie den umliegenden Dörfern abgenommen hatten. Gelangweilt und mürrisch dreinblickende Soldaten hatten sich versammelt, aber es waren nur zehn oder zwölf, von denen die Hälfte einen Ausschlag im Gesicht hatte und sich dauernd kratzte. Zwei humpelten. Sie wirkten ganz und gar nicht so, als könnten sie es mit Hugos Soldaten aufnehmen, die gesünder waren und außerdem eine Zielstrebigkeit besaßen, die ihnen eine eiserne Entschlusskraft verlieh. Wieso ist uns diese Idee nicht schon früher gekommen? Es war ein dummer Gedanke. Bis zu seiner Flucht hatte niemand in Königinnengruft die Möglichkeit gehabt, mit jenen außerhalb offen zu sprechen. »Ihr habt Zeit bis zum Anbruch der Dämmerung«, knurrte Tammus schließlich. Hugo zögerte, als wollte er Einwände erheben, aber er tat es nicht. Er schnippte mit den Fingern, und seine Männer stiegen auf und ritten forsch zu dem Tor, das sich jetzt auf Tammus' Befehl hin öffnete. Nachdem sie hindurchgeritten waren, schloss es sich hinter ihnen wieder. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte Ivar. Er stieg ab. Der Boden war mit einer Eisschicht bedeckt und knackte unter seinen Stiefeln, als er voranschritt. Er kannte diese Landschaft gut. Schließlich hatte er hier viele Monate verbracht und sich ihre Konturen eingeprägt. Er hatte vergessen, wie viel Zeit vergangen war, seit er geflohen war, aber es mussten neun oder zehn Monate sein. Damals war es Anfang Sommer gewesen, jetzt Ende des Winters. In dieser Zeit hatte
128 man sich, wie es aussah, nicht um die ehemals ordentlichen Gärten, die Felder und die Wiesen gekümmert. Noch schlimmer war allerdings das Dutzend neuer Gräber auf dem Friedhof nördlich des Hospitals. Sie waren nur an der aufgehäuften Erde zu erkennen, denn bei keinem einzigen fand sich ein Holzkreis oder ein behelfsmäßiger Kopfstein. Es war totenstill. Niemand kam, um nachzusehen, was der Lärm zu bedeuten hatte, das Wiehern der Pferde und das Rasseln und Klirren der bewaffneten Männer. Er ließ die Zügel los und rannte auf das Gebäude zu, vorbei an der verlassenen Schafweide und den wild wuchernden Brombeersträuchern, an denen einst die Ziegen geknabbert hatten. Die Vordertür steckte fest, hing zur Seite, da die Angeln gebrochen waren. Er riss sie auf, knurrte, fluchte und rief, stolperte in die leere Eingangshalle, lief rufend weiter ins Audienzzimmer der Bischöfin, aber es war ebenfalls leer. Selbst ihr Schreibtisch war verschwunden. Er schoss in den Innenhof. Schwester Bonas Grab war - abgesehen von einem einsamen Löwenzahn - kahl, ohne jeden Schmuck. Verlassen. Waren sie alle tot? Aber wenn dem so war, hätte Hauptmann Tammus es dann nicht wissen müssen? Oder hatte er einfach aufgehört, sich dafür zu interessieren? »Ivar?«
Er wirbelte herum, als er die sanfte Stimme hörte, aber er sah niemanden. »Hathumod? Oh Gott!« Er weinte vor Sorge und Angst. »Wo bist du? Wo seid ihr alle?« Vor ewigen Zeiten - zumindest kam es ihm so vor, denn es war ein Augenblick, an den er sich nicht erinnern wollte - war die hübsche junge Schwester Bona an einem lockeren Brett vorbeigekrochen und aus dem Hof verschwunden. Dieses Brett wackelte jetzt, und er packte es und riss es zur Seite - und dann fluchte er, denn ein Splitter hatte sich in seine Hand gebohrt. Hathumod starrte ihn verwundert aus den Schatten an. »Was tust du da?«, fragte er.
129 »Ivar! Oh, Ivar!« Sie weinte. »Ich dachte, du wärst tot!« »Ich bitte dich, Hathumod. Komm da raus! Was machst du da drin?« Sie schob das lockere Brett zur Seite und krabbelte heraus. Früher einmal wäre sie zu kräftig gewesen, um sich durch die Lücke zu quetschen, aber jetzt war sie so dünn - nur noch Haut und Knochen -, dass es wehtat, sie anzusehen. Sie hatte den ängstlichen Blick verloren, aber ihre Vorderzähne standen noch deutlicher vor, da ihr die vollen Wangen fehlten, die ihren Gesichtszügen etwas Harmonisches verliehen hatten. »Wir haben hier Vorräte versteckt, von denen die Wachen nichts wissen sollen.« »Wo sind die anderen?« »Wir mussten uns zum Amphitheater am oberen Ende des Tals zurückziehen. Es war zu gefährlich, hierzubleiben.« »Wieso?« Sie starrte ihn an, als hätte er etwas besonders Dummes gesagt. »Wegen der Krankheit natürlich!« Ihre Lippen zitterten. Sie brach in Tränen aus. »Es sind so viele gestorben, dass wir sie nicht richtig beerdigen konnten. Und wir hatten Angst, dass wir auch sterben würden.« »Wer lebt noch? Was ist mit Sigfrid und Ermanrich? Was ist mit der Bischöfin?« »S-sie leben. S-sie gehören nicht zu ihnen ... Es war so schrecklich.« Sie kämpfte gegen ihr Schluchzen an, versuchte es zu unterdrücken und rieb sich ärgerlich über das Gesicht, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen. Seine große Erleichterung darüber, dass einige noch am Leben waren, verlieh ihm Kraft. »Bring mich zu ihnen! Wir haben nur bis zum Anbruch der Dämmerung Zeit.« »W-wofür?« »Um euch zu befreien!« Sie jammerte und weinte weiter. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Hathumod! Wir müssen uns beeilen!«
129 »W-wärst du doch nur letzten Herbst gekommen! Die Hälfte von uns ist tot.« »Beeil dich!« Er packte ihr Handgelenk, und sie folgte ihm widerstandslos nach draußen. Hugos Männer hatten sich aufgeteilt, um das Gelände abzusuchen, aber Ivar rief sie zurück. »Hinter einem lockeren Brett im Hof sind ein paar Vorräte. Holt sie und lasst den Rest zurück. Es hat hier eine schreckliche Krankheit gegeben. Vielleicht lauern die Dämonen, die sie verursacht haben, hier immer noch irgendwo. Feldwebel, bleibt hier und haltet Euch bereit. Die Hälfte Eurer Männer und die Reittiere müssen mit uns kommen.« Sie ritten den Pfad entlang, der am Gemüsegarten und an den Kornfeldern vorbeiführte. Hathumod konnte immer noch nicht aufhören zu weinen. »Wer ernährt sie?«, fragte einer der Soldaten. »Der Boden ist nicht gepflügt.« »Die Wachen trauen sich nicht hereinzukommen«, schluchzte Hathumod. »Wegen der Krankheit.« Sie hatten zwei Hütten in der Mulde des Amphitheaters errichtet, wo sie durch den hohen Kamm etwas geschützt waren. Vier magere Ziegen grasten an den Brombeersträuchern, soweit ihre Stricke es zuließen. Sechs Schafe fraßen an den Hängen des Amphitheaters; keines davon hatte Junge oder war auch nur trächtig. Den Schafbock konnte Ivar nirgendwo sehen. Die Klosterbewohner hatten das Hufgetrappel gehört und sich um die sitzende Bischöfin versammelt. Wie alle anderen war auch Constanze dünn geworden, was sie alt, zerbrechlich und müde wirken ließ. Kaum ein Dutzend Menschen kauerten da furchtsam vor ihnen, den Wald im
Rücken. Den unglaublich kleinen Sigfrid erkannte Ivar sofort, aber Ermanrich schien zu fehlen. Nein, er stand direkt neben Sigfrid, aber er hatte abgenommen, sah aus wie ein Stock, was ihn keinesfalls gesünder wirken ließ. Er war blass, sein Kinn von einem noch nicht sehr
130 ausgeprägten Bart bedeckt, aber sein Gesicht hellte sich als Erstes auf. »Ivar! Es ist Ivar! Ich wusste, dass er zurückkommen würde!« Er kam zu ihm gehumpelt - mit seinem rechten Fuß schien etwas nicht zu stimmen. Kaum war Ivar abgestiegen, umarmte er ihn voller Wärme. »Wir haben nicht viel Zeit.« Ivar löste sich von ihm. Er sah zum Himmel und dem bereits schwindenden Tageslicht, das den verklingenden Nachmittag ankündigte. »Wir müssen sofort aufbrechen, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben. Wir haben einen Befehl von Edelfrau Sabella, der wegen ihres Siegels bindend ist. Ihr seid aus Varre verbannt und könnt gehen, solange ihr euch nach Wendar begebt und niemals zurückkehrt.« Einige weinten, aber Bischöfin Constanze stellte in ihrer ruhigen Art die erste und einzige Frage. »Wer hat diesen falschen Befehl geschrieben und sich dadurch als Rebell gegen Edelfrau Sabella ausgewiesen? Eine solche Tat ist Verrat und wird mit dem Tod bestraft. War es jemand von den Geistlichen, die ich ausgebildet habe? Ich dachte, sie wären alle von ihrem Hof verbannt worden.« »Es war Baldwin.« »Baldwin!«, rief Ermanrich. »Baldwin kann nicht schreiben«, wandte Hathumod ein. »Genug!«, sagte Constanze. »Ich werde Hilfe brauchen. Ich kann nicht reiten.« Ivar nickte. »Wir haben einen Karren mit zwei Maultieren sowie Reittiere für alle anderen. Wieso sind nur noch so wenige übrig?« »Drei sind gerade im Wald«, sagte Constanze. »Aber es stimmt, dass wir nur noch wenige sind. Schwester Nanthild ist als Erste an der Krankheit gestorben - kurz nach der Nacht des Windes. Insgesamt haben wir die Hälfte von uns verloren. Erst als wir das Gebäude verlassen haben und hierhergezogen sind, haben die Todesfälle aufgehört. Ich vermute, dass der Brunnen
130 vergiftet ist. Ihr seht, wie schwach wir sind. Wenn Ihr nicht gekommen wärt, Bruder Ivar, wären wir bis zum Sommer vermutlich alle verhungert. Die Wachen weigern sich, das Tor zu passieren oder uns auch nur Körbe mit Korn zu bringen. Der Schafbock ist gestorben, und das einzige Mutterschaf hatte eine Fehlgeburt. Wir haben die Sonne seit so vielen Monaten nicht mehr gesehen, dass wir vergessen haben, wie es sich anfühlt, ihr herrliches Licht zu genießen. Die Pflanzen können sich ohne Sonne nicht entwickeln. Auch die Niederschläge sind launisch. Gott ist wütend, davon bin ich überzeugt.« »Wir müssen uns beeilen.« Der Gedanke, dass alles umsonst gewesen sein könnte - dass er sie möglicherweise gerettet und doch versagt hatte -, gefiel ihm ganz und gar nicht. Die Welt hatte sich so sehr verändert, dass er sie kaum noch erkannte. Wie an einem bewölkten Tag war alles überschattet und düster. »Gehen wir.« Die drei, die in den Wald gegangen waren, um nach etwas Essbarem zu suchen, waren schnell gefunden. Die Übrigen mussten nun ihren wertvollen Besitz zusammenpacken, ihn in Satteltaschen und Kleidersäcken verstauen oder in den zweiten Karren oder über den Widerrist der Maultiere werfen: Decken, Umhänge, Tuniken, Unkrauthacken, Schaufeln, Sicheln und Sensen wie auch Ahlen, Messer, Küchenutensilien und einen Salzvorrat; einen Silberkrug und vier Kupferschüsseln, Nadeln, Garn, drei Spindeln, sechs Schaffelle, die auch zum Schlafen benutzt wurden, eine Lederkiste, die die Schreibutensilien der Bischöfin beinhaltete; zwei Bücher mit Psalmen, drei mit der Heiligen Botschaft und vier weitere Bücher, eines davon die Bekenntnisse von St. Augustina und ein anderes die Geschichte der Prinzen von Varre; die Reste der getrockneten Kräuter, die sie vom Krankenhaustrakt mitgenommen und in einem kleinen Holzkästchen verwahrt hatten; eine Reliquie aus Elfenbein und Gold mit den Knochen der linken Hand der Gründerin: Königin Gertruda. Es war noch etwas Tageslicht übrig, als sie sich am Tor wie
131 der mit Feldwebel Hugo trafen und anschließend stumm mit den zwei rumpelnden Karren in ihrer Mitte durch das Lager der Wachen zogen. Hauptmann Tammus starrte sie an. Er schien drauf und dran zu sein, sie anzuspucken, aber er sagte -wie auch sie - kein einziges Wort. Niemand wollte offensichtlich riskieren, sie anzufassen. Noch bevor sie außer Sichtweite waren, liefen mehrere Wachen durch das offene Tor, um herauszufinden, was sie plündern konnten. Das Letzte, was Ivar wahrnahm, waren mit leeren Händen wieder zurückkehrende Männer, die zweifellos beim Anblick der Gräber Angst bekommen hatten. Dann nahm ihm eine Biegung die Sicht, wie es immer der Fall war. Jeder Pfad erzeugte seine eigene Landschaft. Er verstand das jetzt. Man ließ immer etwas zurück, und manchmal war es sogar etwas, das man verlieren wollte, aber meistens blieben die Dinge, die man loswerden wollte, bei einem. Er lachte, und Sigfrid, der unbeholfen auf einem Esel ritt, sah ihn an. »Wie hast du es geschafft, zu uns zu kommen, Ivar?« »Lass uns bis zum Einbruch der Nacht weiterreiten. Dann werde ich die Geschichte erzählen.« Sie ritten schweigend dahin, trotz der Freude derjenigen, die befreit worden waren, denn offenbar waren die Mitglieder von Constanzes Schule zu erschöpft und zu müde, um zu singen. Sie kamen erschreckend langsam voran, wurden durch die zwei Karren und diejenigen behindert, die wie Sigfrid nie richtig Reiten gelernt hatten und sich kaum im Sattel halten konnten, aber zu schwach waren, um weit gehen zu können. Ihre Hartnäckigkeit und Gottes Wille führten sie schließlich in östlicher Richtung auf einem halb verborgenen Pfad tiefer in den Wald, bis sie zu der Lichtung gelangten, auf der Ivar im Sommer zuvor Erkanwulf begegnet war. Die alte Steinkapelle war immer noch da, und ihr strohgedecktes Dach hatte überraschenderweise alle Unbilden überstanden. Während Bischöfin Constanze und die schwächsten Nonnen in der Kapelle untergebracht
131 wurden, errichteten die Soldaten für die Übrigen ein halbes Dutzend Reisezelte, so dass alle geschützt waren, sollte es anfangen zu regnen. Der Feldwebel stellte Wachen auf und ließ vor der Kapelle ein großes Feuer entfachen. Abgestorbenes Holz war mehr als genug zu finden. Der Wind rauschte durch die Blätter der riesigen Eiche. »Erkanwulf und ich haben hier Schatten gesehen«, sagte Ivar, der am Feuer stand und sich die Hände rieb. »Sie haben einige der Männer getötet, die uns verfolgt haben, und die Übrigen vertrieben, aber uns haben sie nicht angerührt. Ich weiß nicht, warum.« »Davon haben wir nichts mitbekommen«, erwiderte Sigfrid. »Willst du damit sagen, dass Hauptmann Tammus von Anfang an Verdacht geschöpft hatte und Soldaten ausgeschickt hat, um dich zurückholen zu lassen?« »Ich muss es annehmen. Hat niemand die Bischöfin zur Rede gestellt?« Sie drehten sich um. Bischöfin Constanze war zu ihnen getreten, stützte sich auf ihren Stock und Schwester Eligia, eine der Überlebenden. »Wir haben seit neun Monaten nichts mehr - überhaupt nichts - von der Welt draußen gehört, Bruder Ivar«, sagte sie. Zwei Soldaten rollten einen Baumstamm hinter sie, damit sie sich setzen konnte, und sie ließ sich dankbar darauf nieder. »Am gleichen Tag, als Ihr uns verlassen habt, hat Sabella uns einen Besuch abgestattet, aber sie hat nur über Tallias jüngstes totgeborenes Kind gesprochen und über Gerüchte aus dem Süden, denen zufolge das wendische Heer im Osten vernichtet worden war und eine Gruppe von Malefici einen Bann weben wollte, um die Welt mit Wassermassen zu überschwemmen. Ich konnte ihren Worten nicht viel Sinn entnehmen. Schon bald danach kam die Nacht, in der unnatürliche Blitze den Himmel zerrissen und ein starker Sturm über uns hinwegbrauste. Ein herabstürzender Ast hat den armen Bruder Felix getötet, und Schwester Gregoria hat sich ein Bein so übel ge
131 brachen, dass es zu eitern begann. Nicht einmal Schwester Nanthilds Heilmittel konnten ihr helfen. Es war ein schlimmes Omen, denn bald danach ist die Krankheit ausgebrochen und hat uns
einen nach dem anderen niedergestreckt. Sagt uns, was Ihr wisst, Bruder Ivar. Seid Ihr bis zu meiner Nichte Theophanu durchgekommen? Hat sie Euch geschickt, um uns zu helfen?« Alle rückten näher, um besser hören zu können, bis auf die Wachen. »Prinzessin Theophanu hat erklärt, dass sie kein Heer und keinen Schatz besitzt und Euch nicht helfen kann, Euer Gnaden.« Schwester Eligia schrie auf, aber Constanze brachte sie mit einer Berührung am Arm zum Schweigen. »Sprecht weiter. Wie kommt es dann, dass Ihr mit Edelfrau Sabellas Siegel hier seid?« »Erkanwulf und ich haben die Angelegenheit selbst in die Hand genommen.« Und dann erzählte ihnen Ivar die ganze Geschichte, wurde allerdings immer wieder unterbrochen. Jene Soldaten, die mehr über die Angelegenheit wussten, gaben hin und wieder eigene Bemerkungen von sich. Der Feldwebel ließ Bier und Käse und tagealtes Brot herumreichen, und sie aßen und tranken nach Belieben und voller Dankbarkeit, denn sie waren alle hungrig. Als Ivar mit seiner Geschichte fertig war, nickte Constanze. Sie hob beide Hände in der Art, wie eine Bischöfin ihre Herde zum Gebet zu rufen pflegte. »Lasst uns ein Dankeslied singen, Brüder und Schwestern.« Sie hatte einen hellen, klar und aufrichtig klingenden Sopran, und die anderen aus ihrer Gruppe stimmten, an ihre Führung gewöhnt, mühelos ein. »Erhaben sei Gott, unsere Befreierin, Die mich vor meinen Feinden gerettet Und vor den Gesetzlosen beschützt hat.«
132 Ivar grübelte vor sich hin, während die anderen es sich auf den Decken und Fellen zum Schlafen bequem machten. In die Wildnis verstoßen, waren sie zufrieden damit, frei zu sein. Ivar hingegen blieb mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn sitzen. Ermanrich neben ihm schnarchte leise. »Du machst dir Sorgen, Ivar«, murmelte Sigfrid. »Wir müssen auf Hauptmann Ulric warten. Noch kann alles schiefgehen, wenn Edelfrau Sabella Verdacht schöpft und uns andere Soldaten hinterherschickt. Oder wenn Hauptmann Tammus sofort nach Autun reitet und die Wahrheit herausfindet.« »Eine Reise von einigen Tagen. Im Augenblick sind wir sicher. Das ist nicht alles, was dir Sorgen macht, oder?« Ivar runzelte die Stirn, aber es war Sigfrid, der diese Frage gestellt hatte: So zerbrechlich er auch körperlich wirkte, so stark war sein Geist - ein seltsames Gefäß für Gottes Gunst, aber dennoch ein kostbares und heiliges. »Ich frage mich, ob ich anders hätte handeln können. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass Hanna mit mir geht, als mein Vater mich nach Quedlingham geschickt hat. Ich hätte nicht so schroff mit ihr sprechen sollen, als wir uns das nächste Mal begegnet sind. Was ist, wenn Hanna mir nicht vergibt? Wieso war ich Liath gegenüber so ungerecht und dachte, dass sie mich auf die gleiche Weise lieben würde wie ich sie? War ich blind? Und was ist mit Baldwin?« »Hast du Angst vor Baldwin?« Er schüttelte die Frage ab, indem er sie verwandelte. »Wenn er sich nicht geopfert hätte, wären wir alle tot.« »Ja«, stimmte Sigfrid ihm auf seine ruhige Art zu. »Aber er ist nur dem Beispiel des heiligen Daisan gefolgt, nicht wahr? Nicht jedem Menschen wird die Gnade des Opfers zuteil, Ivar. Wir haben Grund zu hoffen, dass er entkommen wird und bald wieder zu uns stößt. Gott hat Baldwin dafür belohnt, dass er zunächst an andere und erst dann an sich denkt.« »Ist das ein Vorwurf an mich?«
132 »Nur, wenn du einen darin hören willst.« Sigfrid kicherte. »Ich habe dich vermisst, Ivar. Niemand grübelt so wie du.« Die Worte durchtrennten den Knoten, der Ivar seit vielen Tagen in der Kehle steckte. Ehe er sich's versah, begann er zu weinen. Die Tränen strömten ihm über die Wangen, während er dagegen ankämpfte, laut zu schluchzen, um Ermanrich und die beiden Soldaten nicht zu wecken, die im gleichen Zelt waren und tief und fest schliefen.
»Wovor hast du Angst, Ivar?«, fragte Sigfrid schließlich. »Davor, dass ich etwas verloren habe, von dem ich nicht weiß, was es ist. Dass ich es erst erkennen werde, wenn es zu spät ist.« »Zwei Tage«, sagte Feldwebel Hugo. So lange wollten sie auf der Lichtung warten, bevor sie weiter nach Osten durch den Wald marschierten. Der erste Tag verstrich ziemlich ruhig. Constanze ruhte sich aus, aber sie war niemals allein. Abwechselnd und wie durch Zufall trat jeder einzelne Soldat zu ihr, um allein mit ihr zu sprechen, wie es etwa geschah, wenn jemand der Diakonissin etwas zu beichten hatte. Einige sprachen lange mit ihr, andere nur kurz. Jäger kehrten mit zwei schwächlich und alt aussehenden Hirschen zurück, die sie trotzdem aßen, denn ihre Vorräte waren ziemlich knapp. Sie brachten auch ein Waldhuhn mit, das die Klosterbewohner unter sich aufteilten. Die Nonnen sammelten Morcheln und andere Pilze, und Hathumod fand auf einer nahen Lichtung mehrere alte Büschel Quecken und grub die jetzt bitteren Wurzeln aus. Mit diesen Nahrungsmitteln hatten sie gut zu essen, auch wenn sie das Wasser von einem nahen Bach holen mussten und viele von ihnen Durchfall bekamen. Feldwebel Hugo und seine Soldaten gingen ihre Ausrüstung durch, ölten sie ein und besserten sie aus. Sie schnitzten Pfeile aus festen Schösslingen für den Fall, dass ihnen die mit Metallspitzen irgendwann ausgingen. Die Nonnen suchten im Wald
133 nach Essbarem, das sie trocknen oder kochen und mitnehmen konnten. Den zweiten Tag verbrachte Ivar zum größten Teil mit Constanze, der er wieder und wieder von seiner Reise mit Erkanwulf berichtete. Er wiederholte Einzelheiten oder erinnerte sich gelegentlich an welche, die er vergessen oder übersehen hatte. Jede Äußerung von Theophanu, Rotrudis' Kindern oder ihren Höflingen musste überprüft werden. Wäre er Liath gewesen, hätte er sich an jedes Wort erinnern können, das er gehört hatte, aber er war nicht Liath. Er war das fehlerhafte Gefäß, und er machte sich Sorgen, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. »Noch einmal zu den Mauern. Wurde gebaut?« »Nein, aber es gab Gerüste. An der westlichen Mauer, glaube ich. Ich erinnere mich daran, dass das Licht darauf gefallen ist, als wir hinausgeritten sind. Aber niemand hat dort gearbeitet.« »Und innerhalb der Halle, gab es da irgendwelche neuen Arbeiten? War irgendetwas ausgebessert worden? Oder waren die Wände frisch getüncht?« Ein Pfeifen erklang aus dem Wald; es kam vom Pfad, an dem entlang die Wachen am weitesten vorgeschoben waren. Feldwebel Hugo sprang auf. Soldaten griffen nach Speeren, Schwertern und Bögen. Ein Vogelruf erklang, und einige Männer jauchzten und klatschten in die Hände. Hauptmann Ulric ritt an der Spitze seiner Truppe, und auf seinem normalerweise freundlichen Gesicht spiegelten sich Besorgnis und eine gewisse grimmige Erleichterung, als er sie sah. Die übrigen Soldaten verteilten sich, und schon bald waren etwa sechzig Menschen um die alte Kapelle versammelt: das Dutzend Männer, das Hugo befehligte, die fünfzehn Klostermitglieder und etwa dreißig berittene Soldaten mit ihrem Hauptmann. Letzteres war seltsam, denn Ivar hatte gedacht, dass der Hauptmann eine Hundertschaft befehligen würde. »Wir stehen zu Euren Diensten, Euer Gnaden«, sagte Ulric,
133 nachdem er abgestiegen und vor Bischöfin Constanze niedergekniet war. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er küsste den Ring. »Ich bitte um Entschuldigung, dass wir so spät kommen.« »Dass Ihr überhaupt so viel getan habt, geht weit über meine Erwartungen hinaus, Hauptmann. Ich weiß, dass Ihr alle Verwandte habt. Einige haben Frauen und Kinder. Was wird aus ihnen werden? Meine Halbschwester Sabella ist dafür bekannt, dass sie sich an den Hilflosen rächt, wenn sie jener nicht habhaft werden kann, die sie verärgert haben.« »Das wissen wir, Euer Gnaden. Deshalb haben wir so lange gewartet, bis wir gehandelt haben.« »Und wieso habt Ihr jetzt gehandelt?«, fragte sie, aber als die Worte verklangen und Ulric nicht sofort antwortete, sah sie Ivar an. »Hat Bruder Ivar Euch überzeugt?«
»Er hat mir die Mittel an die Hand gegeben, aber es waren nicht seine Ausführungen, die mich überzeugt haben. Um die Wahrheit zu sagen« - er machte eine Pause und grinste Ivar mit einem Blick an, der halb entschuldigend war - »gab es andere Hinweise und Omen. Unzufriedenheit und Ängste.« »Geschichten der Gnade«, sagte sie. »Wie ich sie in den letzten zwei Tagen gehört habe.« Er nickte. »Geschichten von Gottes Gnade. Vom Phönix. Wir alle kennen sie, Euer Gnaden. Wir wissen, dass sie stimmen. Aber die Herrin ist rücksichtslos. Sie bestraft jene, die das Land bearbeiten, und zeigt Barmherzigkeit gegenüber denen, die besonders grausam und gierig sind. Die Kriege im Westen haben zwanzig meiner Leute das Leben gekostet, aber ihre Familien haben keinerlei Belohnung für ihr Opfer erhalten, nicht einmal eine Bezahlung für jeden verlorenen Mann, wie es Brauch ist. Das Wetter ist falsch, Euer Gnaden. Ich bin kein Bauer, aber ich kenne die Jahreszeiten. Zuerst kam dieser unnatürliche Sturm, der Häuser umgerissen und Bäume entwurzelt hat. Wir haben seit Monaten keine Sonne gehabt, seit dem Herbst nicht mehr. Wir hatten unzeitgemäße Regenfälle im
134 letzten Sommer und sehr wenige in diesem Winter. Die Vorräte in Autun sind gering. Die Herrin hat sie nicht gut verwaltet, nicht so, wie sie es hätte tun sollen. Sie hätte dafür sorgen müssen, dass jede Familie wenigstens eine Ration erhält, die sie über die mageren Monate bringt, und Saatkorn, wenn sie ihre eigenen Vorräte an den Sturm und das schlechte Wetter verloren hat. Edelfrau Sabella hat Gottes Gunst verloren, glaube ich. Sie hat sich angeeignet, was ihr nicht gehört. Deshalb sind wir gekommen. Was ihn betrifft - Bruder Ivar.« Er nickte Ivar zu. »Ich habe seine Bitte als Zeichen genommen, dass es Zeit ist zu handeln. Wir haben unsere Familien geholt und unsere Häuser verlassen, um Euch zu folgen, Euer Gnaden.« »Wo ist Baldwin?«, fragte Ivar. »Habt Ihr ihn gefunden? Ist er umgekommen?« »Nein, nein, er ist bei den anderen, zusammen mit Erkanwulf. Sie sind ein paar Stunden hinter uns. Wir sind vorausgeritten, um Euch zu finden. Wir müssen rasch weiter, Euer Gnaden. Unsere Flucht wird nur zu bald bemerkt werden. Weil wir so viele sind und Karren und Kinder dabeihaben, werden wir nicht so schnell vorankommen wie Edelfrau Sabellas berittene Soldaten, wenn sie uns verfolgen. Wir haben unser Möglichstes getan, um unsere Spur zu verwischen, aber sie werden sie entdecken.« »Ich verstehe.« Die ganze Zeit über hatte Constanze seine Hand gehalten. Jetzt ließ sie sie los, und er berührte kurz seine Stirn, den Blick gesenkt. »Ihr habt Euch auf einen Weg begeben, auf dem es kein Zurück gibt.« »Ja, Euer Gnaden.« »Ihr habt Euch in meine Hände begeben.« »Ja, Euer Gnaden.« Sie war es gewohnt zu befehlen. Sie war in eine königliche Familie hineingeboren worden und noch jünger gewesen, als Ivar es jetzt war, als man ihr den Bischofsstab in die rechte Hand gedrückt hatte. »Ich muss Euch und jene, die Euch begleiten, bitten, mit mir
134 zusammen einen noch schwierigeren und dornigeren Weg zu beschreiten als den, den Ihr bereits eingeschlagen habt. Ich habe Bruder Ivar ausführlich befragt. Für mich ist es offensichtlich, dass meine Nichte Theophanu mir nicht helfen kann, vielleicht auch gar nicht helfen will. Vielleicht hat sie noch nicht einmal die Mittel, um mein wachsendes Gefolge zu ernähren und unterzubringen. Vielleicht betrachtet sie mich auch als Bedrohung, und ganz gewiss würde ich sie immer an ihre Schwäche erinnern. Avaria ist zu weit entfernt. Es stimmt zwar, dass ich in Fesse Zuflucht finden könnte, doch ich bin entschlossen, einen härteren Weg einzuschlagen.« Der Hauptmann erbleichte - wie ein Mann, der sich auf schlimmere Neuigkeiten gefasst machte als die, die er gerade gehört hatte. »Euer Gnaden.« Er neigte den Kopf und akzeptierte sein Schicksal. »Sabella hat sich meines Platzes bemächtigt und mich eingesperrt, weil sie berechtigterweise Angst davor hatte, mich auf der Stelle zu töten, obwohl ich sicher bin, dass sie gehofft hat, ich würde meinen Verletzungen erliegen. Aber das war nicht der Fall. Jetzt habe ich die Freiheit zu
tun, was ich zuvor nicht tun konnte. Ich werde nicht nach Wendar in die Verbannung reiten. Henry hat mich als Verwalterin des Herzogtums Arconia eingesetzt. Würde meine eigene Verwalterin in Zeiten der Unruhe fliehen, würde ich ihr nicht mehr trauen. Ich kann nicht auf eine Weise handeln, mit der ich mich verdammen würde. Wir müssen das Volk wachrütteln und versuchen wiederherzustellen, was uns gehört.« Ivar war zu benommen, um etwas zu sagen, aber sein Herz erschauerte, als er ihre leidenschaftlichen Worte hörte. Verletzungen hatten sie zum Krüppel gemacht, aber sie war nicht schwach. Und als er ihr stolzes Gesicht und die leuchtenden Augen musterte, sah er, dass sie in gewisser Weise stärker war als vor ihrem Sturz. »Euer Gnaden.« Ulric ballte eine Hand zur Faust. Die andere ruhte auf seinem Schwertgriff.
135 Die Männer murmelten, ihre Stimmen klangen wie das Rascheln des Laubes im Wind. Weiter entfernt schrie ein Falke, und als Ivar hochblickte, sah er ihn über den Wipfeln davon-gleiten. Das Feuer knackte, als ein Stock, der fast zu Asche verbrannt war, in Stücke zerbrach. Schwester Eligia hustete. »Ich habe nichts als Ungewissheit zu bieten«, sagte Constanze. »Aber dies verspreche ich: Wir werden Arconia zurückgewinnen.« Alle knieten jetzt nieder, einige seufzend und andere grinsend, wieder andere weinten oder zeigten den Ausdruck grimmiger Ergebenheit, als sie versprachen, ihr und ihrer Sache zu dienen. Auch Ivar kniete nieder. Wie hätte er es nicht tun können? Dennoch war er etwas verdrossen, dass er alles so gut eingefädelt hatte und jetzt zusehen musste, wie der Pfeil am Ziel vorbeiflog. »Wohin werden wir gehen?«, fragte er. Sie nickte. »Auch darüber habe ich nachgedacht. Wir müssen uns nach Norden begeben, um ihnen zu entkommen, und dann nach Westen an einen Ort, wo wir Unterstützung und Zuflucht finden werden. Wir werden nach Lavas reiten und Edelmann Jeoffrey um Hilfe bitten.« »Am besten reisen wir gemeinsam«, sagte Hauptmann Ulric, während sie auf die Ankunft des Trosses mit den Vorräten warteten. »Wir könnten uns zwar in kleinere Gruppen aufteilen und hoffen, Lavas unbemerkt zu erreichen, aber jede kleine Gruppe wird umso verwundbarer sein. Wenn wir zusammenbleiben, ist es zwar leichter, uns zu folgen, aber wir sind durch unsere größere Zahl auch besser geschützt. Edelfrau Sabella wird erst von unserer Reise und unserem Ziel erfahren und eine Streitmacht ausheben müssen, die groß genug ist, sich uns ohne Angst vor einer Niederlage entgegenstellen zu können. Aber wir sollten auch darüber nachdenken, Euer Gnaden, was wir tun werden, wenn wir Lavas erreicht haben. Wir können
135 mit Sicherheit davon ausgehen, dass Edelfrau Sabella oder Herzog Conrad ein Heer schicken wird, um uns von dort zu vertreiben.« »Wir werden während der Reise über unsere Möglichkeiten sprechen«, sagte Constanze. Sie drehte den Kopf, als suchte sie etwas. Das weiche Licht warf seinen matten Glanz über die Lichtung. Pferde fraßen vom spärlichen Gras. Sie wurden in Gruppen zum Wasser des nahen Baches geführt, dessen Murmeln zwischen dem ständigen Lärm der Männer zu hören war, die hin und her gingen, redeten und eine stärkere Achse in einen der Karren hämmerten. Hier und da wurde auch gesungen. »Ich erwachte um Mitternacht im tiefen Wald, Ich erwachte um Mitternacht, bei Neumond Dort sah ich ein glühendes Feuer, Ein so helles Feuer! Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix. So sprach der Heilige: Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix.« »Was ist das für ein Lied?«, flüsterte Ivar Sigfrid zu, der mit gekreuzten Beinen und im Schoß gefalteten Händen neben ihm saß. Sein schmales Gesicht war beherrscht und ruhig. »Ich habe diese Worte noch nie gehört«, sagte Sigfrid. »Aber ich kenne die Melodie.« Er summte mit, nahm den Refrain sofort auf.
»Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix«, wiederholte Ivar. Der Wind wurde stärker, brachte ein paar Regentropfen mit. Er wischte sich über die Augen, als der Sprühregen in die Bäume wehte. In den Lärm der Männer und das Rauschen der Zweige mischte sich das Rumpeln des näher kommenden Trosses. Natürlich ritt Baldwin an der Spitze, auf einer schönen, rotbraunen Stute. Seine Haltung war einzigartig. Sogar sein 136
geistliches Gewand, das zum Reiten geschnitten war, fiel in angenehmen Falten und Lagen über seine Knie, bedeckte die Flanken des Pferdes. Ein gut gekleidetes Mädchen von etwa vierzehn Jahren ritt auf einem robusten Wallach neben ihm. Sie war von der Aufmerksamkeit, die Baldwin ihr entgegenbrachte, so benommen, dass sie gar nicht bemerkte, wie der Hauptmann mit einem Stirnrunzeln zu ihnen trat. »Luisa! Komm sofort her und erweise der heiligen Bischof in deine Hochachtung!« Ihre Augen weiteten sich. Sie zuckte zusammen und berührte den Leinenschal, der ihre dunklen Haare zum größten Teil verbarg. »Ja, Vater. Bitte, Bruder Baldwin, entschuldigt mich.« Er lächelte sie an, und sie errötete. »Schamlos!«, murmelte Ivar. Sigfrid neben ihm kicherte. »Du bist nicht anders als wir. Armer Baldwin. Lieben wir wirklich ihn oder nur seine Schönheit?« Baldwins Blick schweifte besorgt über die Menge, bis er gefunden hatte, was er suchte, und dann lächelte er Ivar und Sigfrid so strahlend an, dass Ivar ein Gemurmel von denjenigen hörte, die mit ihren Karren, Eseln und Bündeln langsam auf die Lichtung strömten. Viele Gesichter sahen zu, wie der junge Geistliche abstieg und sich durch die Menge drängte. Hände streckten sich aus und berührten sein Gewand, und scheinbar unabsichtlich strichen seine Finger über die Stirnen der kleineren Kinder, die sich ihm in den Weg stellten. Ermanrich pfiff leise. »Man könnte denken, er wäre ein Heiliger, so wie sie ihn behandeln.« »Ivar!« Baldwin drängte sich zu ihm durch und umarmte ihn. Er weinte vor Glück. »Oh Gott! Sigfrid! Ermanrich! Hathumod!« Er küsste sie der Reihe nach, während ihm Freudentränen übers Gesicht strömten. »Du musst Bischöfin Constanze begrüßen«, sagte Ivar; er war auf unerklärliche Weise verärgert und seine Stimmung daher gedämpft.
136 »Hat es geklappt?«, fragte Baldwin so arglos, wie ein Kind sich nach den Geheimnissen Gottes erkundigen mochte. »Ist sie frei?« Bischöfin Constanze kam zu ihnen; sie stützte sich auf ihren Stab und wurde von Schwester Eligia begleitet. »Ich bin frei, Bruder Baldwin, was zu einem nicht unbedeutenden Teil dem Risiko zu verdanken ist, das Ihr an Sabellas Hof auf Euch genommen habt.« »Baldwin!« Ivar versuchte, seine Stimme zu einem Flüstern zu senken, aber seine Gereiztheit machte sie lauter. »Es ist nicht richtig, dass die heilige Bischöfin zu dir kommt. Du hättest zu ihr gehen müssen!« Baldwin sank vor der Bischöfin auf die Knie. Als sie die Hand ausstreckte, drückte er die Lippen an den Ring. Seine Tränen benetzten ihre Hand. Bemerkenswerterweise standen auch in ihren Augen Tränen. Auch sie war von seiner Schönheit geblendet. Ivar wischte sich Regen aus dem Gesicht, allerdings hatte es aufgehört zu regnen und er hatte das Gesicht bereits getrocknet. »Seid Ihr derjenige?«, fragte sie Baldwin. »Ich bin Edelfrau Sabellas Siegel. Ich gestehe, dass ich auch schlimmere Dinge getan habe. Ich war ihr Liebhaber, das ist wahr, aber ich bin nicht stolz auf meine Sünden, Euer Gnaden.« Sein Gesicht war so offen und unschuldig, dass es den Anschein hatte, dass alles, was er getan hatte, ohne jede Bösartigkeit geschehen war. »Wir haben alle etwas getan, das Gott missfällt.«
»Und Gottes Gnade hat uns gerettet. Ich habe Gott einen Eid geschworen, dass ich Ihr allein dienen werde für den Rest meiner Tage, als Buße für meine Sünden und in Diensten Ihres Ruhmes, der von den Himmeln zu uns herabgekommen ist und sein herrliches Licht auf die Erde verströmt.« Constanze musterte ihn genauer. »Seid Ihr derjenige, über den geflüstert wird? Die Rose inmitten der Dornen?«
137 Er schüttelte verwirrt den Kopf. Die Tochter des Hauptmanns hatte sich jetzt so nahe herangewagt, wie es ihr möglich war; sie starrte Baldwin an, aber ihr Vater zog sie mit einem Blick zurück, der fast hätte töten können. »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix«, sagte Constanze. Er errötete. »Oh. Das. Es stimmt, ich habe mir Worte ausgedacht, um mir die Zeit zu vertreiben, und dann habe ich sie mit einer Melodie versehen, die mir gefiel. Es war eine Möglichkeit, den Leuten zu helfen, sich an den Phönix zu erinnern.« »Dann ist es also wahr, denn gewiss ähnelt Eure Gestalt den Engeln.« Sie neigte den Kopf. Baldwin sah Ivar an und formte mit dem Mund die Worte: »Was ist also wahr?« Ivar konnte nur mit den Schultern zucken. Sie hob die Hand, brachte mit dieser Geste die rundum versammelte Menge zur Ruhe. »Großes Übel ist über uns gekommen. Hungersnöte, Krankheiten, Krieg und Zwietracht setzen uns zu. Gott ist wütend, aber Sie hat uns nicht im Stich gelassen, wie wir befürchtet haben. Viele hier haben die Geschichten von Gottes Barmherzigkeit gehört.« »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix!«, rief eine Frau von hinten, und andere Stimmen taten es ihr gleich. »Fürchtet nicht die Tage, die uns bevorstehen«, sagte die Bischöfin, während die Leute um sie herum niederknieten. »Ihr Ruhm ist aus den Himmeln zu uns herabgekommen und verströmt sein herrliches Licht über die Erde. Wenn wir nur glauben, werden wir in Sicherheit sein. Gott wird uns in unserer Not helfen, uns jeden Wunsch gewähren, uns jeden Plan erfüllen. Sie schickt uns Hilfe aus ihrem Heiligtum.« Sie zog Baldwin auf die Füße, der freundlich lächelte, mit jenem wunderschönen verständnislosen Blick, der schon in Quedlingham seine Lehrer bezaubert hatte. »Ein Heiliger wandelt unter uns.« Hathumod, die hinter Ivar stand, brach in Tränen aus.
137
5 »Eure Exzellenz! Bitte vergebt uns, dass wir Euch wecken müssen, aber kommt rasch!« Die Stimme der Dienerin, die Antonia aus ihrem geruhsamen Schlaf riss, klang schrill vor Panik. Ächzend bedeckte sie die Augen mit einer Hand, um das Flackern des Lampenlichts abzuwehren, als die ungeschickte Frau sich über sie beugte. Der Gestank des rauchigen Öls brachte sie zum Husten. »Eure Exzellenz!« »Ich bin wach.« Die Dienerin blieb wie eine dumme Kuh an Ort und Stelle stehen. »Kommt rasch.« Im angrenzenden Zimmer begann die kleine Berengaria zu weinen, während Mathildas Geschrei den Raum erfüllte. Die Dienerin stöhnte und flüchtete, überließ es Antonia, sich allein anzukleiden und durch den dunklen Raum zu der offen stehenden Tür zu gehen, die die beiden Zimmer miteinander verband. Dort leuchtete glücklicherweise eine Lampe, und drei Dienerinnen beeilten sich, einen schweren Tisch aus dem Weg zu schieben. Mathilda wirbelte herum, die Arme ausgestreckt und starr, die Hände zu Fäusten geballt. »Geh weg, du Ungeheuer! Es hat rote Augen! Wieso sieht es niemand außer mir?« Sie schluchzte heftig. »Eure Hoheit, wenn Ihr Euch bitte hinsetzen würdet -« »Nein! Ihr wollt mich umbringen! Genau wie Mama und Papa! Sie werden nie kommen! Ihr habt sie umgebracht! Ihr habt sie umgebracht!«
Sie wirbelte herum, schlug auf die Dienerinnen ein. Die Frauen wichen zurück, waren so unruhig wie eine Hundemeute, die darauf wartet, dass ihr ein Stein nachgeworfen wird. Eine der zum Hof führenden Doppeltüren öffnete sich quietschend, und Hauptmann Falco schlüpfte herein. Er war
3°3 angezogen und bewaffnet. Er schlief auf der anderen Seite der Tür auf dem Boden, aber obwohl er ständig und zuverlässig anwesend war und trotz der ruhigen Umgebung von Novomo, wo sie seit vielen Wochen wohnten, litt Mathilda noch immer unter Alpträumen. »Ich hasse euch! Ich hasse euch!«, schrie sie, aber es war nicht klar, wen sie hasste oder was sie fürchtete. »Eure Hoheit«, sagte Hauptmann Falco ruhig. »Weg! Geht! Geht!« Sie stampfte mehrmals mit dem Fuß auf, wedelte mit den Armen in der Luft herum, während sie schrie und schrie, als wäre sie von einem Dämon besessen. »Eure Hoheit!«, sagte Antonia ernst. Eine Zofe hatte Berengaria hochgenommen, deren Weinen schon bald in Husten überging. Sie bemühte sich, die Kleine zu beruhigen. »Bring sie in mein Zimmer«, sagte Antonia. »Schaff sie weg von ihrer Schwester! Das hättest du sofort tun sollen, als du gesehen hast, dass sie einen Anfall hat.« Die Zofe eilte wimmernd zur anderen Tür, aber Mathilda sprang vor und packte sie am Kleid. »Nein! Du darfst sie mir nicht wegnehmen! Sie gehört mir!« Berengaria stimmte ein Geheul an, das sofort in ein abgehacktes Husten überging, und das Kind keuchte und schnappte nach Luft, als Mathilda auf und ab sprang, bei jedem Hopser vollkommen unbeherrscht schrie. »Hauptmann Falco! Ihr müsst sie festhalten!« Er zögerte. Er hasste es, so etwas zu tun. Er wusste, dass die Prinzessin gegen ihn ankämpfte und ihn verachtete, obwohl er nie etwas getan hatte, das ihr hätte schaden können. Tatsächlich hatte gerade seine Sanftheit den größten Schaden angerichtet, daran bestand für Antonia kein Zweifel. Ein hysterisches Kind musste von einer festen Hand geführt werden. »Hauptmann!« Sie würde es nicht selbst tun. Beim letzten Mal hatte Mathilda sie gebissen.
138 Ein neues Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, und er drehte sich um. Draußen im Hof leuchtete Fackellicht. Antonia hörte eine Kakophonie von Stimmen und das Stampfen vieler näher kommender Schritte. Falco zog sein Schwert und trat in den Korridor, rief nach seinen Männern. Mathilda schrie noch immer. Die unglückliche Zofe eilte in den Schutz von Antonias Kammer. Dann war ein Klatschen zu hören, wie von einem Pfeil, der in einen hölzernen Gegenstand eindrang. Falco sank auf die Knie und rief etwas. Die zweite Tür wurde aufgerissen, und eine Frau tauchte im Türrahmen auf - hager, schmutzig und zerlumpt, aber lebendig. »Mama!« Mathilda stürzte vorwärts, prallte so heftig gegen ihre Mutter, dass die Königin umgefallen wäre, hätten sich nicht so viele andere Leute hinter ihr gedrängt. Schlagartig verwandelte sich die Hysterie der Prinzessin in lautes, bekümmertes, angstvolles Schluchzen. Sie klammerte sich eine Stunde lang an ihre Mutter - zumindest schien es so - und niemand sprach, während Adelheid mit trockenen Augen ihre Tochter umschlungen hielt, bis das Mädchen sich schließlich in den Schlaf geweint hatte. Zu dieser Zeit war die Zofe bereits mit offenem Mund und der stillen, schlaffen Berengaria auf dem Arm zurückgekehrt. »Hauptmann«, sagte Adelheid leise. Er hatte sich inzwischen von seinem Schock und der Freude erholt. Auf ihren Befehl hin nahm er ihr Prinzessin Mathilda ab und trug sie ins Bett. Das Kind schlief so fest, dass es sich nicht einmal rührte. Adelheid winkte die Zofe zu sich, die ihr Berengaria brachte. Das Kind war noch wach, aber es war vom Hustenanfall geschwächt und blinzelte seine Mutter nur an.
»Was ist mit ihr?« Adelheids heisere Stimme veränderte sich nicht. Sie weinte nicht, sie tobte nicht, sie zeigte überhaupt kein Zeichen der Wut oder der Freude. »Es ist der Husten, Eure Majestät«, erklärte die Zofe leicht
139 stotternd. »Sie hat diesen Husten, seit der Sturm über uns hereingebrochen ist.« »Dämonen sind in die Welt entlassen worden«, sagte Antonia rasch. »Sie haben einen Weg dorthin gefunden, wo Schwäche und Unschuld leichte Beute darstellen.« Adelheid sah sie an, aber Antonia konnte die Gefühle nicht deuten, die - sofern denn welche da waren - unter den angespannten Gesichtszügen tobten. Dabei war es keineswegs so, dass die junge Königin nicht mehr hübsch gewesen wäre, obwohl sie ihre Blütezeit natürlich hinter sich hatte. Es war eher, als wäre das Licht ausgeblasen worden, das sie belebt hatte. Sie wirkte kalt und hart, wie eine Frau, die niemals wieder lachen würde. »Habt ihr keinen Honig für ihre Kehle?«, fragte die Königin die Zofe mit strenger Stimme. »Mit Kastanienfleisch vermischt könnte es sie beruhigen. Sie hat diese Anfälle immer gehabt, wie ihr sicher nicht vergessen haben werdet.« Sie sah die Bediensteten der Reihe nach an. »Ich möchte ein Bad nehmen, auch wenn ich dadurch leider eure Nachtruhe stören muss.« Edelfrau Lavinia drängte sich nach vorn. »Seien wir einfach dankbar, dass Ihr überlebt habt, Eure Majestät. Was in meiner Macht steht, Euch zu geben, gehört Euch.« »Ihr habt den Sturm besser überstanden als viele andere«, bemerkte Adelheid. Während Bedienstete davoneilten, um heißes Wasser zu holen, ging sie weiter ins Zimmer und stellte sich neben das Bett, das ihre Töchter sich teilten. »Der Sturm hat viel Schaden verursacht, Eure Majestät«, sagte Lavinia. »Aber meine Leute haben sich bemüht, die Dächer, Zäune und Mauern vor Einbruch des Winters wieder instand zu setzen. Ein paar Tage danach hat es Asche geregnet, aber nicht sehr viel, so dass wir sie von den Straßen fegen und die wenigen Gräben und Löcher, die der Ascheregen verunreinigt hatte, wieder freilegen konnten. Aber schon seit vielen Monaten hat die Sonne nicht mehr geschienen. Es war ein harter Winter.«
139 Adelheid sah ihre Töchter lange an. Auch Berengaria war eingeschlafen, aber ihr schmales Gesicht war blass, und sie pfiff bei jedem Atemzug. Eine Verwalterin brachte geknackte Kastanien, und die Zofe setzte sich an den Tisch, um sie zu einem Brei zu zerstampfen, den sie mit Honig mischen konnte. Draußen im Hof wurden Fackeln und Lampen entfacht, und Bedienstete eilten hin und her. Hauptmann Falco war verschwunden, von zwei ernst dreinblickenden Wachen ersetzt. Lavinia gähnte stumm und rieb sich die Augen, wich jedoch nicht von Adelheids Seite. Die Edelfrau von Novomo war mitgenommen und besorgt, aber unerschütterlich. Sie hatte weniger verloren als die meisten: Ihre Tochter war schon bald nach Adelheids Aufbruch nach Dalmiaka in den Norden geschickt worden, wo sie den Sturm in der Halle ihrer Mutter überstanden hatte. Was ihre nahen Verwandten anging, wusste sie über deren Schicksal Bescheid; alle waren am Leben. Schon bald würde es dämmern, in der Art und Weise, wie die Dämmerung in diesen Tagen immer war, ohne jeden Hinweis auf die Sonne, die hätte verkünden können, dass das Licht von Gottes Wahrheit schon bald die Menschheit erleuchten würde. Gott hatten die Himmel als Zeichen Ihrer Missbilligung verhüllt. »Ich habe Dinge gesehen ...«, murmelte Adelheid. Sie hauchte die Worte mehr, als dass sie sie aussprach. Und sie weinte nicht, auch wenn ihre Stimme den Zuhörern zusetzte. »Was habt Ihr gesehen, Eure Majestät?«, fragte Lavinia, während sie sich eine Träne aus dem Gesicht wischte. »Gottes Zorn. Ich wurde nur verschont, weil ich zu Gott gebetet habe, dass ich meine Töchter noch einmal wiedersehen möchte. Dass sie in Sicherheit sind, ist das Wichtigste für mich. Henry ist tot, von seinem eigenen Sohn ermordet.« »Vatermord!«
Die Bediensteten flüsterten untereinander, und das Getuschel strömte hinaus in den Hof, von wo aus es sich zweifellos über den gesamten Palast und die Stadt ergießen würde.
3°7 Henry ist tot, von seinem eigenen Sohn ermordet. Adelheid drehte sich um. »Was soll ich tun, Schwester Venia? Ich habe den Bericht eines aostanischen Edelmanns gehört, der gesehen hat, wie Henry gefallen ist. Prinz Sanglant hat Anspruch auf den wendischen Thron erhoben, obwohl er nur ein Bastard ist und somit kein Recht auf ihn hat. Das wendische Volk hat uns verlassen. Die aostanischen Edelleute sind in ihre Burgen geflohen, jene, die überlebt haben. Die Dar-Ebene ist vom Feind verschluckt worden. Darre selbst liegt in Trümmern. Dort kann niemand leben. Die Westküste ist in Flammen aufgegangen. Die Berge haben Feuer gespuckt. So werden wir für unsere Sünden bestraft. Die Edelleute werden gegen mich vorgehen. Sie beschuldigen mich bereits der wendischen Narretei<, wie sie es nennen. Diejenigen, die einmal meine Verbündeten waren, haben mich verlassen.« Antonia lächelte. Endlich hatten Gott ihr geantwortet, wie sie es immer erwartet hatte. »Habt keine Angst, Eure Majestät. Gott prüfen uns. Durch unsere Handlungen werden wir unsere wahre Natur enthüllen. Dann werden Sie die Boshaften von den Rechtschaffenen trennen. Ernennt mich zur Skopos, und ich werde alles in Ordnung bringen.« »Wie kann ich Euch zur Skopos ernennen, Schwester«, fragte die Königin verbittert, »wenn ich keine Verbündeten und kein Heer habe und Ihr keinen Stuhl besitzt?« »Es stimmt, dass ich keinen Stuhl besitze, aber ich habe die Gewänder der Skopos und ihr Zepter, denn die Heilige Mutter Anne hat beides zurückgelassen. Sie hat Gott nicht so geachtet, wie sie es hätte tun sollen. Irdische Angelegenheiten haben sie befleckt, und so hat sie die Pflichten vergessen, die ihre Position als Gottes Hirtin auf Erden verlangte.« »Vielleicht. Aber alles ist so gekommen, wie sie vorausgesagt hat. Die Verlorenen haben ihre Rache gehabt, und wir überleben in den Trümmern ihres Sieges.« »Wir sind noch nicht vernichtet, Eure Majestät. Seid stark. Ich habe noch etwas anderes, das Anne zurückgelassen hat.«
140 Sie ging in ihr Zimmer. Nachdem eine Bedienstete ihr in ein Gewand geholfen hatte, schickte sie die Frau mit einer Handbewegung weg und wandte sich der Holztruhe zu. Sie hatte einen brennenden Zauberspruch in das Schloss gebunden, in Gestalt eines Amuletts - wie das, das Anne im Palast in Darre benutzt hatte: Eisenhut, Lavendel und Distel. Sie machte ein Zeichen und murmelte die Worte, die den Bann und den Schutz auflösten, bevor sie das Amulett wegriss und die Truhe aufschloss und öffnete. Sie zog etwas zwischen den Schichten aus Seide und Leinen hervor und kehrte damit in das andere Zimmer zurück. Adelheid hatte sich nicht gerührt, obwohl der Tag inzwischen angebrochen war und die Bediensteten die Lampen gelöscht hatten. Zwei Verwalterinnen traten ein; die zweite wartete, während die erste Edelfrau Lavinia etwas ins Ohr flüsterte, die daraufhin nickte. »Schön, Veralia. Die Wachen sollen die Gefangenen in den Hof bringen. Ich werde sofort kommen.« Als die erste Verwalterin hinauseilte, neigte Lavinia den Kopf, um die Nachricht der zweiten anzuhören, dann wandte sie sich an Adelheid. »Eure Majestät, wenn Ihr mir bitte folgen möchtet - es ist jetzt Wasser für ein Bad vorbereitet, und frische Gewänder liegen bereit. Außerdem gibt es etwas zu essen und Wein.« Adelheid rührte sich nicht. »Ich muss Euch einen Augenblick allein lassen, Eure Hoheit«, sprach Lavinia weiter; sie wirkte besorgt, als Adelheid nicht reagierte. »Meine Soldaten suchen jeden Tag nach Flüchtlingen. Oder Feinden. Verbündeten. Wir haben ein großes Netz ausgeworfen, und hin und wieder fangen wir einen guten Fisch. Wenige marschieren so kühn auf unsere Mauern zu wie Ihr.« Lavinia verstummte, als Antonia den Kopf schüttelte und sie zum Schweigen aufforderte. Mathildas Bedienstete hatten den großen Tisch aus dem Weg und vor ein Wandgemälde gescho 140
ben, auf dem die Prüfungen der heiligen Agnes dargestellt waren - der Jungfrau, die zu verbrennen das Feuer sich geweigert hatte. Antonia stellte den Gegenstand auf den Tisch und nahm den Stoff ab. Er leuchtete und erstrahlte im Licht der Lampe. »Das ist die Krone von Kaiser Taillefer«, sagte Adelheid. Ihre Miene veränderte sich. Das Feuer, das sich geweigert hatte, die heilige Agnes zu berühren - die an den Pfahl gebunden worden war, weil sie sich geweigert hatte, heidnischen Göttern Weihrauch darzubieten -, war auf Adelheids Herz übergesprungen und begann sich dort auszubreiten. »Henry mag tot sein, Eure Majestät, aber seine Töchter leben. Ihr seid immer noch die Kaiserin, gekrönt und gesalbt.« »Ich bin immer noch die Kaiserin«, flüsterte Adelheid und nickte. Manchen Menschen gewähren Gott ein besonderes Licht, das sie in die Lage versetzt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Antonia sah, wie Adelheid erneut zu brennen begann, so wie eine Flamme sich am Öl entzündet. Durch die Prüfungen, die sie erduldet hatte, war ihre weiche Schönheit verloren gegangen, aber der Kern ihres Seins, der aus Eisen bestand, war davon unberührt geblieben. »Wir müssen den richtigen Augenblick abwarten und unsere Pläne mit Bedacht schmieden«, sprach die Königin weiter. »Wir müssen jeden Vorteil suchen. Wir müssen rasch handeln, um uns eine feste Grundlage an Unterstützung zu sichern. Die Neuigkeit muss verbreitet werden, dass es eine neue Skopos gibt. Dann werden die Menschen zu uns kommen, um Euren Segen zu erhalten.« Vielleicht hatte sie Adelheid unterschätzt. Wut und Leiden hatten sie zu einer geeigneten Waffe geschmiedet. »Viele werden Gottes Führung suchen«, pflichtete Antonia ihr bei. »Ich verfüge sehr wohl noch über ein Heer, wenn Edelfrau Lavinia uns ernähren und unterbringen kann. Es gibt andere Verbündete, die sich in diesen unruhigen Zeiten nach Führung
141 sehnen - wie Ihr sagt. Verängstigte Menschen suchen einen starken Führer.« Sie berührte die Edelsteine, die an den sieben Spitzen der großen Krone befestigt waren: eine leuchtende Perle, ein Lapislázuli, ein heller Saphir, ein Karneol, ein Rubin, ein Smaragd und schließlich ein gestreifter, orangebrauner Sardonyx, der Gottes Hierarchie auf Erden darstellte: Gott, Edelleute, Gewöhnliche. »Herrin!« Die erste Verwalterin tauchte an der Tür auf. Veralia war stämmig und forsch, eine gute Frau. »Die Wachen haben die neuen Gefangenen gebracht, wie Ihr befohlen habt. Sie sind bewaffnet, aber sie haben keinen Widerstand geleistet, und daher hielt Hauptmann Oswalo es für das Beste, es nicht auf einen Kampf ankommen zu lassen. Sie werden gut bewacht.« Adelheid trat vor. »Wen habt Ihr gefunden, Lavinia?« »Eine kleine Gruppe von Wendanern, wie man mir sagte. Ich habe bereits Anweisungen gegeben, dass alle wendischen Flüchtlinge zu mir gebracht werden. Wir wissen nicht, was für Juwelen sich darunter befinden könnten. Veralia?« »Sie sind gestern von unseren Soldaten aufgegriffen worden, auf der Straße, die von Norden hierherführt.« »Wendische Flüchtlinge müssten eigentlich nach Norden fliehen und nicht von dort kommen«, sagte Adelheid. »Hauptmann Oswalo hat sich zuerst gefragt, ob es Spione sein könnten, aber - nun, Ihr werdet sehen, Herrin. Eure Majestät. Es handelt sich um einen jungen wendischen Edelmann und seinen Begleiter sowie einen Geistlichen, eine Dienerin, zwei Barbaren und ein Mädchen, das behauptet, die Nachfahrin von Kaiser Taillefer zu sein.« Tatsächlich erklang jetzt eine durchdringende, junge Stimme; die Worte waren wendisch und wurden mit der Kraft einer starken Lunge ausgesprochen. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht hierher will! Ich habe es gesagt! Wieso hört niemand auf mich?« »Vielleicht, weil Eure Stimme zu laut ist«, bemerkte eine 141
zweite Stimme. Es war die eines Jugendlichen. Ihr Klang brachte Antonias Herz zum Rasen; sie errötete, und Hitze flutete in ihre Haut. »Ich muss laut sein, wenn mich sonst niemand hört!« »Alle können Euch hören, Gör!« »Ich bin kein Gör! Bin ich nicht! Wir müssen nach Süden gehen, nach Darre. Ich muss meinen Vater finden, wie du weißt. Es heißt, dass er in Darre ist, also gehen wir nach Darre. Wenn wir gegen sie gekämpft hätten, wären wir jetzt keine Gefangenen !« »Das ist wahr. Wir wären nämlich alle tot. Sie waren uns drei zu eins überlegen.« »Das hat meinen Vater noch nie aufgehalten! Stimmt das nicht, Heribert?« Die Erwähnung dieses Namens machte sie benommen. Sie dachte, sie würde zusammenbrechen, aber sie zwang sich, Lavinia und Adelheid zu folgen, als sie durch die Tür verschwanden. Der Ausbruch des Kindes verstärkte ihre Neugier. Adelheid begann zu lachen, schluchzte beinahe. »Wie ist diese Beute zu mir gekommen?«, fragte sie Edelfrau Lavinia. »Kennt Ihr diese Leute?«, fragte Lavinia. Antonia hielt sich am Türrahmen fest, als sie an Adelheids Schulter vorbeisah. »Ich kenne diejenige, die für mich am wichtigsten ist«, sagte Adelheid. Sogar Antonia, die sie nur als Kind gesehen hatte, erkannte Sanglants Tochter in dem schlaksigen, wütenden Mädchen, das sich bemühte, sich von der sturen jungen Dienerin loszureißen, die sie an den Schultern festhielt. Antonia hätte nicht sagen können, ob das Mädchen den Jugendlichen treten wollte, der mit verschränkten Armen vor ihr stand, sie verärgert ansah und dann seine Gefangenenwärter maß, oder ob sie sich wie ein wildes Löwenjunges Lavinias Wachen entgegenstürzen wollte. Die Dienerin hatte eine seltsame Hautfarbe, sah aber
142 sonst normal aus. Es waren zwei Barbaren dabei, ein Mann und eine Frau mit dunkler Haut, schrägen Augen und fremdländischen Tuniken, die aus steifem Stoff bestanden, der nicht wie gewebte Wolle wirkte. Die Frau trug eine kunstvolle Kopfbedeckung. Der Mann hatte einen Köcher und einen gespannten Bogen; er schien nur auf ein Zeichen zu warten. Es gab auch einen jungen Diener, ein unerfahrenes Jüngelchen, wie sie sie in ihrer Zeit als Bischöfin in Mainni gesehen hatte, der jüngste Sohn irgendeines Edelmannes, der weggeschickt worden war, um einem Höhergeborenen zu dienen. Sie erkannte den Jugendlichen, der mit der Prinzessin stritt. Er hatte das Aussehen seines Vaters; niemand konnte ihn für jemand anderen halten. Aber weswegen sie rücklings gegen den Türrahmen prallte, war der siebte in ihrer Gruppe, ein Mann in dem abgetragenen Gewand eines Geistlichen. Ein genauer Beobachter mochte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem jungen Edelmann und dem Geistlichen feststellen, aber nur wenige machten sich die Mühe, an einer Stelle nach etwas zu suchen, an der keine Belohnung zu erwarten war. Die Prinzessin riss sich von ihrer Dienerin los und marschierte geradewegs auf Adelheid zu. »Wer seid Ihr?«, fragte sie, stemmte die Fäuste in die Hüften und reckte das Kinn. Sie sah aus, als wäre sie etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt, was eindeutig unmöglich war, aber ihr Verhalten zeugte von einem sehr viel jüngeren Kind. »Ihr seid schmutzige.« Die Kaiserin sah das Kind unfreundlich an. »Ich bin diejenige, die Euch gefangen hält.« »Das tut Ihr nicht!« Der Bogenschütze zuckte, seine Hand glitt an den Köcher. »Nimm ihn runter, Odei«, sagte der junge Villam. »Am besten finden wir erst einmal heraus, was sie wollen, ehe wir uns in einem aussichtslosen Kampf töten lassen.« Der Mann sah Prinzessin Gnade an, dann nickte er. Er dien
142 te dem Mädchen, aber er gehorchte dem Jungen, der bereits die gleiche ruhige Art zu befehlen hatte wie sein Vater. Aber war dieser Junge nicht vor Jahren gestorben? Sie hatte die vage Erinnerung, dass es hieß, Villams Sohn wäre unter einer Steinkrone verschwunden. Und war Sanglants und Liaths Kind nicht erst vor fünf Jahren geboren worden? Dies konnte nicht das gleiche Kind sein, an das sie sich erinnerte.
Es gab einen unter den Gefangenen, der ihre Fragen beantworten konnte. Einen, der mit ausdrucksloser Miene zusah, während die anderen alarmiert wirkten, wütend, rebellisch, verwirrt, nachdenklich oder verängstigt. »Jetzt haben wir etwas, das Henrys Bastardsohn haben will«, sagte Adelheid. »Schließt sie bitte ein, Lavinia, aber vernachlässigt sie nicht. Sie sind ein wunderbarer Schatz. Sie werden uns gut dienen.« »Ja, Eure Majestät. Hauptmann, bringt sie im Nordturm unter und stellt Wachen auf.« »Jawohl, Herrin.« »Werdet Ihr Lösegeld für uns verlangen?«, fragte der Jugendliche kühn. »Wenn es meinen Zielen nützt«, erwiderte Adelheid und betrachtete ihn. Sie nickte. »Ihr müsst Helmut Villams Sohn sein. Die Ähnlichkeit ist bemerkenswert. Seid Ihr einer seiner Seitensprünge? Soviel ich weiß, war kein rechtmäßiger Sohn mehr am Leben.« Der Junge lächelte, erinnerte Antonia noch mehr an Villam, der gewusst hatte, wie er seine Ausstrahlung zu seinem Vorteil einsetzen konnte. »Dieses Geheimnis muss unbeantwortet bleiben.« Die Pause, die er dann machte, war beinahe ein wenig unverschämt. »Eure Majestät.« Sie lachte erheitert. Sie mochte sein Gesicht und seine Art, obwohl er noch ein Jugendlicher war und sie schon lange eine Frau. Dennoch war der Unterschied an Jahren nicht sehr groß. Es hatte schon seltsamere Paare gegeben. »Nehmt sie mit. Ich würde jetzt gern das Bad nehmen, Lavinia.«
143 »Geht«, sagte Lavinia zu ihrem Hauptmann. Antonia stolperte nach vorn und packte den Geistlichen am Ärmel, der in der ausbrechenden Unruhe einen Moment zögerte, während die Wachen die anderen auf den Hof trieben. Er drehte sich um und sah sie an. Er wirkte ganz und gar nicht überrascht, sie zu sehen. In dem düsteren Licht des Morgens wirkten seine Augen eher blau als haselnussbraun. Drei Wachen warteten darauf, ihn hinauszubegleiten, während die Übrigen sich verteilten. Das Kind fing wieder an, sich mit gereizter Stimme zu beklagen. »Ich will nicht zum Turm! Ich will nach -« »Du hast mich verlassen«, sagte Antonia. Sie versuchte, leise zu sprechen, damit sie nicht gehört werden konnte. Es hatte lange an ihr genagt. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht gewusst, wie wütend er sie gemacht hatte. »Du hast mir nicht gehorcht! Ich habe dir nie die Erlaubnis gegeben, mich zu verlassen.« »Ich erinnere mich an dich«, sagte Heribert mit einer Stimme, die nicht seine eigene war. »Er hat dich nie gemocht.« »Was kümmert es mich, ob er mich gemocht hat oder nicht! Er ist ein Bastard, nicht besser als ein Hund! Gott wurden beleidigt, weil du dich von derjenigen abgewandt hast, der du die Treue geschworen hast!« »Ich habe getan, was mein Herz mir gesagt hat. Ich habe ihn geliebt, aber er ist für mich verloren, und ich kann niemanden sonst lieben.« Sie gab ihm eine Ohrfeige. Sein Gesicht, so schön und einst so vertraut, wirkte wie das eines Fremden, als er vorsichtig seinen Ärmel aus ihrem Griff wand und sich zu den Wachen umdrehte. »Ich möchte denen folgen, die ich kenne«, sagte er und kehrte ihr den Rücken, als wäre sie nichts weiter als eine Dienerin. Und nicht jemand, dem er die Treue geschworen hatte. Jemand, der ihm etwas bedeutete. Sie fiel und fiel und fiel in den Abgrund, wurde von einem
143 Anfall erstickender, Übelkeit erregender Wut überwältigt, aber er war bereits an ihr vorbei, und sie wollte keine Szene machen, während Bedienstete vorbeigingen und Hauptmann Falco sie von der Tür aus gleichermaßen tadelnd wie neugierig beobachtete. »Geht es Euch gut, Eure Exzellenz? Ich hoffe, Ihr seid nicht krank.« Falco hoffte das nicht. Er misstraute ihr. Nur wenige konnten die Rechtschaffenen lieben. Sie beneideten und hassten sie vielmehr. Aber ihr Sohn. Ihr eigener Sohn, für den sie so viel geopfert hatte!
Heribert würde natürlich bestraft werden. Stand es nicht in der Heiligen Botschaft, dass Kinder zu Tode gesteinigt werden sollten, wenn sie ihre Mütter und Väter nicht ehrten und achteten? Aber Heribert war schwach. Sie wusste das, denn sie hatte ihn dazu erzogen, schwach und willfährig zu sein. Es war der Bastard, der Falsche, der Feind - Prinz Sanglant -, der ihn verdorben hatte. Deshalb war es Sanglant, der fallen musste.
Teil Drei
Ankunft IX
Wiedersehen
1 Liath vermutete, dass der Einzug von Henrys Sohn Sanglant an der Spitze seines siegreichen Heeres in die uralte Zitadelle von Quedlingham in Gedichten und Liedern besungen werden würde. Allerdings würden die Barden zweifellos von schönen, in der Brise wehenden Seidenbannern singen, von fröhlich herausgeputzten Pferden, die unter den Zügeln ihrer wunderschön gekleideten Reiter dahinstolzierten, von einem herrlichen Heer, das auf unbeschreibliche Weise im Licht der Sonne erstrahlte. So war es nun mal bei Dichtern. Dieses zerlumpte Heer und dieser trübe Tag boten keinerlei Stoff für ein Lied, und so würde das Lied aus ihnen etwas machen, das sie nicht waren. Aber sie marschierten in der Tat die Straße entlang, stumm, müde und hungrig, aber nicht geschlagen. Und an diesem grauen, späten Wintertag sahen sie den Hügel und die alte Festung vor sich, in der sich jetzt das von Mutter Scholastika - Sanglants Tante - geführte Kloster befand. Die Felder auf der einen Seite der Straße waren gemäht, während der Winterweizen auf der anderen Seite fast vollständig von Unkraut überwuchert war. Kundschafter waren vorausgeritten, um der Äbtissin ihre Ankunft zu melden, und die weise Frau hatte ihre Novizinnen,
144 Nonnen und Mönche ausgeschickt, damit sie die Straße säumten, um den Mann zu begrüßen, der Anspruch auf die Herrschaft erhob und - was noch wichtiger war - die Leiche des toten Königs mitbrachte. Die Stadtbewohner standen etwas weiter hinten, sie jubelten kaum, sondern sahen eher stumm zu. Sie wirkten mager und bleich. Wie der Weizen hatten auch sie nicht viel, worauf sie hätten zurückgreifen können, um über den Winter zu kommen. Liath musterte die Novizen und Mönche, als sie mit dem Heer an ihnen vorbeizog, obwohl sie wusste, dass Ivar schon lange von Quedlingham weggegangen war. Bei jener anderen Ankunft, an die sie sich noch so gut erinnerte, hatten Henrys Soldaten und Geistliche Hymnen gesungen. Dass so viele von Sanglants Leuten noch am Leben waren, zeugte von seiner Fähigkeit zu führen, aber gewiss ließ ihre Ankunft keine feierliche Stimmung oder den Wunsch, Lieder zu singen, aufkommen. Noch nicht. Die Lieder würden später geschrieben werden. Niemand in Wendar hatte gehört, wie Henry mit seinem letzten Atemzug Sanglant zu seinem Erben ernannt hatte. Aus diesem Grund würde Sanglant in Wendar gegen Intrigen, diplomatische Winkelzüge und den Einfluss bestimmter Personen kämpfen und die Waffen am häufigsten einsetzen müssen, die er am wenigsten mochte. Es würde nicht einfach werden. Das wurde spätestens in dem Augenblick klar, als sie das Empfangskomitee sahen, das sich mitten auf der Straße aufgestellt hatte: zwei Männer und zwei Frauen in den Gewändern von Geistlichen und eine Frau mit dem Schlüssel und der Amtskette der Bürgermeisterin. Liath musterte die
Gesichter, wandte ihre Aufmerksamkeit dann nach innen, um durch ihren Palast des Gedächtnisses zu laufen und nach Namen zu suchen, die zu den Gesichtern passten. Sanglant war ihr in Gedanken voraus, obwohl er links von ihr auf seinem Wallach Fest ritt. Sie hörte ihn leise murmeln, konnte die Worte aber nicht verstehen. Er klang verbittert.
145 »Ha!«, sagte Herzogin Liutgard, die links von ihm ritt. »Es wird ernst. Wo ist Eure Tante? Sie stößt Euch vor den Kopf, indem sie nicht selbst herauskommt und Euch begrüßt.« »Richtet sich die Beleidigung gegen mich oder gegen meinen Vater?«, fragte Sanglant grimmig. »Er hat etwas Besseres verdient als dieses belanglose Willkommen.« Ein Mönch, dessen Gesicht Liath vertraut vorkam, löste sich aus der Gruppe und neigte den Kopf. »Eure Hoheit. Seid willkommen in Quedlingham, der Heimat Eures Urgroßvaters mütterlicherseits. Ich bitte Euch, Eure Hoheit, lasst mich Euer Pferd in die Stadt führen, wie es Eurem Rang gebührt.« »Seid Ihr der Prior?«, fragte Sanglant. »Der bin ich.« Sanglant sah seine Kusine Liutgard an, und einen Moment lang fühlte Liath sich zurückgesetzt, weil er zuerst diejenige hätte ansehen müssen, die seinem Herzen am nächsten stand. Aber Liutgard kannte sich mit der Politik am Hof viel besser aus als Liath, so wie Liaths Kenntnisse der Zauberei die von Liutgard übertrafen. Und Sanglant, der ein guter Befehlshaber war, rief nach Speeren, wenn er Speere brauchte, und nach Schwertern, wenn er Schwerter benötigte. »Wo ist Mutter Scholastika?«, fragte Liutgard. »Ich bin überrascht, dass sie nicht gekommen ist, um den Herrscher zu begrüßen, wie es angemessen wäre.« »Ist er gesalbt und gekrönt worden?« Der Prior machte nicht den Eindruck, als würden die vielen Soldaten ihn einschüchtern. »Was ist mit seinen Geschwistern, Henrys anderen Kindern? Was sich auf dem Schlachtfeld zugetragen hat - und wovon wir noch keinen vollständigen Bericht erhalten haben -, sollte von klareren Köpfen noch einmal überprüft werden.« »Als könntet Ihr auch nur annähernd ermessen, was wir erlebt haben!«, rief Liutgard und erhob sich halb im Sattel. Ihr Pferd, das ihre Stimmung aufnahm, tänzelte zur Seite. »Wir haben durch den Sturm ebenfalls hohe Verluste erlitten. Eure eigene Erbin -«
145 Es war ein grausamer Schlag. Sanglant packte Liutgards Pferd, als die Zügel ihren Händen entglitten. Sie war tief getroffen, sprachlos - er musste für sie sprechen. »Was ist mit Herzogin Liutgards Erbin?« »Sie wurde bei dem Sturm im letzten Herbst während eines Ausritts von einem herabfallenden Ast getötet«, sagte der Prior geziert, als trüge das Mädchen selbst die Schuld. »Da ist noch eine andere Tochter, Ermengard. Sie war für die Kirche bestimmt, wenn ich mich recht entsinne.« Der Prior nickte. »Mutter Scholastika hat alles Notwendige veranlasst, wie es sich ziemt. Das Kind ist nach Kessal gebracht worden, um den Platz ihrer Schwester einzunehmen.« Liutgard riss Sanglant die Zügel aus der Hand und trieb ihr Pferd nach vorn, bis es den Prior fast niedergetrampelt hätte, der einige Schritte zurückwich, während seine eigenen Leute sich vor ihn stellten, um ihn zu schützen. »Mutter Scholastika hätte mir diese Nachricht selbst überbringen können, wie es sich geziemt hätte. Stattdessen lässt sie zu, dass Ihr mir mit Eurem achtlosen Geschnatter solchen Kummer übermittelt!« Ihre Stimme war heiser vor Wut. Sanglant wandte sich an seinen Hauptmann. »Fulk. Wir werden das Lager aufschlagen«, sagte er leise. Fulk gab den entsprechenden Befehl, und einer der Feldwebel blies das Signal, mit dem das Ende des Marsches für diesen Tag verkündet wurde. Die Stadtbewohner machten eilig Platz, als Soldaten die Wagen zur Seite lenkten und von den Pferden stiegen. Ein Schrei hallte vom Himmel herab, als die Greifen zurückkehrten. Auf den ersten Blick mochten sie wie Adler aussehen. Innerhalb weniger Augenblicke jedoch wurde ihr wahres Wesen offenbar, und die Stadtbewohner, die noch geblieben waren, um sich zu unterhalten oder etwas mit den
Soldaten zu tauschen, schrien auf und rannten davon, um sich in den Schutz der Mauern zu begeben. Zu seiner Ehre blieb der Prior stehen, als die beiden Greifen mit schwirrenden Flügeln und
146 einer nachhaltenden Erschütterung auf dem Boden landeten. Die arme Bürgermeisterin jedoch war leichenblass geworden, rieb sich die Hände und begann zu weinen. Liutgard lenkte ihr Pferd zur Seite; ihr Gesicht war weiß, und ihre Hände zitterten. »Prior Methodius, über meinem Zelt weht der schwarze Drache.« Sanglant deutete beiläufig auf die Greifen. »Ihr werdet außerdem auch an meinen Begleitern erkennen, wo ich lagere.« »Haben wir Eure Erlaubnis, uns zurückzuziehen, Eure Hoheit?«, fragte Prior Methodius, dessen Stimme vor Furcht belegt war. »Ihr dürft gehen.« Sie zogen sich langsam zurück, wie Honig, der einen Hang hinunterfloss. Obwohl sie gewiss schrecklich gern gerannt wären, trauten sie sich nicht, es zu tun. Sanglant stieg vom Pferd. »Ich wünschte, die Greifen hätten sie in Stücke gerissen!«, rief Liutgard. »Sie fordert Eure Autorität heraus - und auch meine! Das war eine gute Antwort auf ihre Unverschämtheit.« Er lächelte, wenn auch ohne jedes Vergnügen. »Ich habe die Greifen nicht gerufen. Sie kehren jeden Tag um diese Zeit zurück.« »Aber es wird als Zeichen gewertet werden. Wir wissen nicht, welche Bündnisse Eure Tante in den letzten paar Jahren geschmiedet hat. König Henry ist viel zu lange aus Wendar weg gewesen. Die eine Hälfte der Bevölkerung bittet uns um Hilfe, und die andere verflucht uns, weil wir sie im Stich gelassen haben. Wir können ihr jetzt nicht mehr trauen. Sie verhöhnt uns - diejenigen, die Henry am besten gedient haben!« »Was sagt Ihr dazu, Burchard?«, fragte Sanglant, als er sah, dass Liutgard von ihren Gefühlen mitgerissen wurde. Herzog Burchard ritt links von Liutgard. Seine Hände zitterten von einer Lähmung, und er war stets erschöpft, vollkommen am Ende, wie die Dichter sagen würden. Er war kein warmherziger Mann, wie Liath herausgefunden hatte, aber sie achtete ihn.
146 Er richtete seinen müden Blick auf Liutgard. Die Herzogin war zäh genug, um sich an alle Veränderungen und Notwendigkeiten anzupassen. Sie hatte einen Ehemann verloren und war vermutlich in diesem Augenblick zu benommen, um wirklich zu begreifen, was der Prior ihr mitgeteilt hatte. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr gesalbt und anerkannt werdet, Eure Majestät. Dann würde ich gern nach Hause gehen, mein Herzogtum in Ordnung bringen und sterben. Ich habe zu viel gesehen.« Einer seiner Verwalter half ihm von seinem Pferd und führte ihn zu einem Zelt, dem ersten, das aufgebaut worden war, damit er sich hinlegen konnte. Und so gingen sie einige Zeit später in das königliche Zelt, das aus den Überresten von Henrys Heer gerettet worden war. Am mittleren Pfosten wehte das rote Seidenbanner mit dem in Gold gestickten Adler, Drachen und Löwen über dem schwarzen Drachen. Drinnen setzte sich Liath schweigend auf einen Stuhl, während Sanglant auf und ab schritt und seine Verwalter und Hauptleute kamen und gingen und sich um Dinge kümmerten, die sie nicht alle verfolgen konnte. Hin und wieder sah er sie an, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht geflohen war, aber er hörte zu, dachte nach, gab Befehle und nahm zwei von ihnen zurück, als ihm neue Informationen überbracht wurden. Er wusste, was zu tun war. Sie war überflüssig. Lampen wurden entzündet, und als sie nach draußen trat, um die kalte Winterluft einzuatmen, stellte sie fest, dass es fast dunkel war. Auf der Straße näherten sich langsam etwa zwanzig Leute mit Fackeln in den Händen. Sie blieben stehen, als Silber einen Warnschrei von sich gab und den Kamm aufrichtete. Sie ging zu ihm. Er neigte den Kopf und gestattete ihr, die Stelle zu kratzen, an der sein Oberarm an die Schulter stieß und die er selbst kaum mit dem Schnabel oder den Klauen erreichen konnte. Sein Atem roch nach Fleisch, und seine riesigen Augen blinzelten einmal, zweimal, dann klärten
sie sich, als die innere Membran zurückwich. Sie hätte Angst haben müssen, sie wusste das; aber seit Annes Tod, seit ihrem Wiedersehen mit Sanglant und dem Aufbruch des Pferdevolks schien ihr nichts mehr Angst machen zu können, auch dann nicht, wenn es so hätte sein sollen. Sie sah zu, und sie lauschte, aber sie sprach wenig und gab noch weniger Ratschläge. »In gewisser Weise«, sagte sie zu Silber, aus dessen Kehle ein leises Rumpeln erklang, »ist es, als würde Pas Ausbildung, mich unsichtbar zu machen, jetzt endlich Früchte tragen. Wissen Tiere, was ihr Daseinszweck ist? Oder existieren sie einfach nur?« Eine Stimme ertönte laut und protestierend. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter, geht nicht weiter. Das Tier könnte Euch in Stücke reißen.« »Gott werden über mich wachen.« Liath erinnerte sich nur zu gut an diese nüchterne Stimme; sie sah aus dem Schutz von Silbers Schulter zu, wie Mutter Scholastika von einem nervösen weißen Maultier abstieg. Das Fackellicht beleuchtete sie. Ihr ernstes Gesicht war hager geworden und hatte die Konturen einer Frau, die viele schwierige, schmerzhafte Entscheidungen treffen musste, aber ihr Rücken war noch immer gerade, ihr Schritt gemessen und zuversichtlich, als sie sich mit ihren Begleitern dem Zelt näherte. Sie würdigte die Greifen keines Blickes, während ihre Begleiter immer wieder zu den Tieren hinsahen. Die Zeltklappe öffnete sich, und Sanglant trat heraus. »Tante«, sagte er huldvoll. »Ihr ehrt mich.« »Wo ist Henry?« Er deutete ins Innere des Zeltes, aber natürlich drehte er sich als Erster um und ging hinein, und sie ließ ihm den Vortritt. Drei Geistliche eilten hinter ihr her. Die anderen blieben draußen, kauerten sich unter das Vordach, flüsterten miteinander und warfen den Greifen immer wieder Blicke zu. Nach einiger Zeit wurde Liath klar, dass sie natürlich nur Schatten sehen konnten; sie konnte sie sehen, weil brennende Lampen vom Vordach hingen und sie Salamanderaugen hatte.
147 Sie kratzte Silber ein letztes Mal, dann ging sie zum Zelt zurück. Die Geistlichen starrten sie an, aber die Wachen nickten lediglich, als sie an ihnen vorbei ins Innere schlüpfte. »Ich bringe unangenehme Neuigkeiten, Liutgard«, sagte Scholastika gerade. »Ihr bringt überhaupt keine Neuigkeiten«, erwiderte Liutgard scharf. »Ich habe es bereits vernommen.« Noch nicht einmal diese respektlose Begrüßung reichte aus, um Scholastika die Beherrschung verlieren zu lassen. Sanglant bedeutete der Äbtissin, sich auf den Stuhl zu setzen, der gewöhnlich für Liutgard gedacht war. Der Stuhl rechts von ihm war leer. Er gab Liath mit einem Blick zu verstehen, dass er sie hatte eintreten sehen, richtete seine Aufmerksamkeit aber rasch wieder auf seine Tante. »Wo hat Henry der Tod ereilt? Wie hast du ihn gefunden? Wie kannst du beweisen, dass er im Griff dieses Daemons war? Was ist mit Königin Adelheid? Wessen Hieb hat ihn getötet? Wo ist seine Leiche jetzt?« »Wir haben sein Herz und seine Gebeine aus dem Süden mitgebracht.« »Seine Überreste müssen neben seiner Mutter in Quedlingham bestattet werden.« »Natürlich. Wieso wäre ich sonst wohl hergekommen, Tante?« »Um zum Herrscher gesalbt zu werden. Spiel nicht mit mir, Sanglant. Liutgard und Burchard unterstützen dich. Aber es geht das Gerücht, dass du Sapientia in der Wildnis zurückgelassen hast.« »Nie hat irgendeine mürrische Seele dieses Schicksal mehr verdient!«, lachte Wichman aus der Ecke. »Schweig!« Es war verblüffend zu sehen, wie Wichman den Kopf einzog. »Ich bitte um Entschuldigung, Tante«, murmelte er. »Spotte nicht. Ich dulde so etwas nicht. Was ist mit Sapientia, Sanglant? Bist du verantwortlich für ihren Tod?«
147 »Wir wissen nicht, ob sie noch am Leben oder tot ist.«
»Wenn sie bei den qumanischen Wilden lebt, ist sie so gut wie tot. Wir sind nicht wie die Salianer oder Aostaner oder die Arethusaner. Wir Wendaner töten unsere Verwandten nicht, wenn wir nach Macht streben.« »Ich strebe nicht nach Macht, Tante. Ich strebe nach Ordnung, und es scheint, als würde es sonst niemanden geben, der sie schaffen kann. Ihr habt die Ereignisse im letzten Herbst erlebt. Wir haben die Auswirkungen noch viel stärker gespürt. Ich habe Soldaten, deren Narben von Verbrennungen stammen, die sie in jenem Sturm erlitten haben; andere sind an der Asche in ihrer Lunge erstickt. Ich habe getan, was getan werden musste. Dass es um Wendars Heer nicht schlimmer bestellt ist, ist meinen Bemühungen zu verdanken. Ich werde nicht zulassen, dass man es als etwas anderes bezeichnet.« »Ich war Zeuge dieser Geschehnisse.« Liutgard stand mit nach hinten gezogenen Schultern da, ihre Arme und der Nacken waren steif und angespannt. »Und das werde ich schwören, genau wie alle meine Soldaten und Begleiter.« »Und das werde auch ich schwören«, sagte Burchard müde. »Obwohl meine eigene Tochter gestorben ist.« Er hielt inne und berührte Liutgard am Arm, ehe er weitersprach. »Was aus Prinzessin Sapientia geworden ist, weiß ich nicht. Ich kenne nur das, was die Berichte sagen, aber ich weiß, dass sie das Heer nicht hätte zusammenhalten können. Henry hat Sanglant das Königreich mit seinem letzten Atemzug übergeben. Das habe ich miterlebt. Und das schwöre ich.« Liath hatte sich inzwischen an der Zeltwand entlang weiter nach vorn bewegt. Die Edelleute und Wachen hatten ihr Platz gemacht, sie jedoch nicht verraten, indem sie ihr mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, als sie es bei einem treuen Hund getan hätten, der auf der Suche nach seinem Herrn war. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Ehrerbietung ihr gefiel oder sie verärgerte. Sie würde sich niemals an dieses Leben gewöhnen. Niemals. Aber als Scholastika Burchards runzliges Ge
148 sieht musterte, glitt Liath auf den Stuhl neben Sanglant und hoffte, dass niemand ihr Auftauchen bemerken würde, was auch niemand tat. Es gab fünf kräftige Reiselampen auf Dreibeinen und vier weitere, die an den Querpfosten hingen. Das Licht verlieh jedem Gesicht etwas Wächsernes, so hell war es, aber an einer Wand leuchtete auch das kaiserliche Banner. Gold- und Silberfäden glänzten in der Sternenkrone, die auf den Stoff gestickt und voller Rußflecken war, die niemand hatte entfernen dürfen. Sogar die Risse und Löcher in dem Stoff waren noch vorhanden. Das wendische Banner war gewaschen und geflickt worden - das kaiserliche nicht. »Es ist nicht Bestandteil unserer Gesetze, dass das uneheliche Kind etwas erbt«, sagte Scholastika. »Aber ich habe bemerkt, dass in der Gegenwart von Waffen die Gesetze schweigen. Dass Liutgard und Burchard für dich sprechen, verleiht deinem Anliegen Kraft.« Sie sah die Herzogin und den Herzog nacheinander an, als könnte sie sie durch ihre Missbilligung dazu bringen, ihre Meinung zu ändern, aber Burchard seufzte nur, und Liutgard starrte finster zurück. »Wenn Theophanu und Ekkehard einverstanden sind, soll es so sein.« »Ich habe bereits Adler nach Osterburg geschickt.« »Ich habe ebenfalls Adler und Boten ausgesandt, als ich von deiner bevorstehenden Ankunft gehört habe. Während du auf sie wartest, musst du dein Heer auflösen. Ich kann so viele Menschen nicht länger als drei Tage ernähren. Unsere Vorratskammern sind bereits ziemlich leer. Das Wetter verheißt nichts Gutes für den Frühling.« »Ich werde mein Heer bei mir behalten.« »Willst du dir mit Gewalt nehmen, was du nur mit Gottes Gunst und der Zustimmung deiner Landsleute gewinnen kannst?« Sein Stirnrunzeln war kurz, aber es wurde bemerkt. Im Gegensatz zu seinem Vater geriet Sanglant nicht leicht in Wut, und einige Männer murmelten, als sie ihn so am Rande des Zorns sahen. »Ich habe nicht nach der Krone getrachtet. Ich bin 148 der gehorsame Sohn meines Vaters. Ich habe nur getan, was er gewünscht hat.« »Wenn ein Mann gerade gegessen hat, mag er sich leicht von der Platte mit Fleisch abwenden, nur um dann wieder nach ihr zu greifen, wenn er hungrig ist. Wir sind keine unveränderlichen Wesen,
Neffe. Wir nehmen ab und zu wie der Mond, und manchmal ändern wir unsere Meinungen über das, was wir möchten. Obwohl ich sehe, dass sich manche Dinge nicht geändert haben.« Sie deutete auf Liath. »Die Letzte, wenn nicht die Erste, wie deine Großmutter es vorausgesagt hat. Deine Konkubine?« »Meine Frau«, sagte er, und seine Gereiztheit war jetzt noch deutlicher zu hören. »Ein Adler ist deine Frau?«, fragte sie, als hätte er behauptet, eine Leprakranke geheiratet zu haben. »Liathano stammt aus einer edlen Familie aus Bodfeld.« »Eine unbedeutende Familie, die deine Position nicht nennenswert stärken kann. Sicher wäre es weiser, eine vorteilhaftere Partie zu suchen. Herzog Conrads Tochter oder Theucinda, die jüngste Schwester von Markgräfin Gerberga von Aust-ra. Oder gar Markgräfin Waltharia, wenn es stimmt, dass ihr Ehemann auf deinem Feldzug gestorben und sie frei ist. Ihr hattet einmal Interesse aneinander, wie ich mich zu erinnern glaube.« »Ich habe, was ich brauche.« Scholastika musterte Liath mit einem Blick, der sie in Furcht versetzen sollte. Seltsamerweise fühlte Liath sich hin- und hergerissen zwischen großer Langeweile angesichts der Aussicht, diese Auseinandersetzung noch länger über sich ergehen lassen zu müssen, und dem Gefühl, einem gewaltigen Druck ausgesetzt zu sein, so dass sie wie Sanglant nicht ruhig sitzen konnte und mit einem Fuß auf den Boden klopfte. »Deine Mutter war eine Ungläubige?«, fragte Scholastika schließlich. »Nein, eigentlich nicht, Heilige Mutter«, sagte Liath. Sie
149 war sich bewusst, wie respektlos sie klang, aber in diesem Augenblick kümmerte es sie nicht. »Dann hat dein Vater also eine dunkelhäutige Daisanitin geschwängert?« »Meine Mutter war eine Daemonin der oberen Sphären, die jene Frau, die sich später zur Skopos ernannt hat, gefangen genommen hatte. Mein Vater hat sie geliebt. Ich bin das Ergebnis dieser Leidenschaft.« Hatte da etwa ein Lächeln Scholastikas grimmige Miene verändert, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick? Liath konnte es nicht sagen, aber sie sah, dass ihre kühne Aussage die Äbtissin keineswegs verwirrte. Nur ihre drei Geistlichen gaben leise Geräusche des Erstaunens von sich. Manchmal ist ein Lächeln wie ein Schwert. »Hast du eine Seele?«, fragte die Äbtissin freundlich. Die Hälfte der Anwesenden schnappte nach Luft, während die andere Hälfte entsetzt dreinblickte. Sanglant bewegte sich; er schien sich erheben und dieser Herausforderung entgegentreten zu wollen, aber Liath legte ihm die Hand auf den Arm, und er hielt sich zurück. Sie spürte die Anspannung in seinen Muskeln, wie bei einem nur mit Mühe an der Leine gehaltenen Hund. »Sind nicht alle Kreaturen von Gott geschaffen? Ich bin nicht anders als Ihr, Mutter Scholastika.« Die Äbtissin kniff die Augen zusammen, und ihr Mund wurde zu einer dünnen Linie, aber es war unmöglich zu sagen, ob sie beleidigt oder beeindruckt war. »Das sagst du. Ich habe vernommen, dass du gebildet bist.« »Ja, ich habe eine gute Bildung genossen - so viel, wie mein Vater mir vermitteln konnte. Ich kann in drei Sprachen lesen und schreiben.« »Du bist als Malefica verdammt worden.« »Ich bin keine Malefica. Ich bin als Mathematika ausgebildet worden.« »Du gibst das öffentlich zu, obwohl du weißt, dass die Kirche
149 solche Zauberei beim Konzil von Narvone verboten hat? Dass du in Abwesenheit von einem Konzil in Autun exkommuniziert worden bist?« »Ich habe keine Angst vor der Kirche, Mutter Scholastika.« Sie war überrascht, wie müde sie sich fühlte, während sie sich verteidigte, und wie eigenartig es war, die Furcht abzustreifen, die sie so lange verfolgt hatte. Pa hatte ihr beigebracht, Angst zu haben; es war die einzige Verteidigung gewesen, die er gekannt hatte. »Ich glaube an Gott, genauso wie Ihr. Ich bete zu Gott wie Ihr. Ich
bin keine Ketzerin oder Ungläubige. Ihr könnt mir keinen Schaden zufügen, wenn meine Kameraden mich nicht meiden wollen, und die Skopos und ihre Zauberer sind tot.« Kaum hatte sie gesprochen, wusste sie, dass ihre Worte nicht gut waren. Die Äbtissin versteifte sich und wandte sich deutlich von ihr ab. »Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand auf diese Weise mit mir spricht, Sanglant«, sagte Mutter Scholastika. »Schon gar nicht eine, die exkommuniziert wurde. Ich habe Geschichten über diese Frau gehört. Sie ist dafür bekannt, dass sie Männer verführt und wegwirft.« »Das mögt Ihr glauben«, sagte Sanglant. »Ich weiß es besser.« »Nicht einmal dein Vater war dagegen gefeit.« »Mein Vater ist von seiner zweiten Frau betrogen worden, einer hübschen Frau von tadellosem, edlem Blut.« »Wird dein Schicksal ähnlich sein, Neffe?« Er lachte kurz angebunden. »Liathano hat ihre Wahl bereits getroffen, und ich hatte nichts dazu zu sagen. Ich werde sie nicht bitten zu bleiben, noch kann ich sie davon abhalten zu gehen.« »Warum bleibst du dann?«, fragte die Äbtissin Liath, achtete sorgfältig darauf, ihren Namen nicht auszusprechen, als wäre sie eine Kreatur, die gar keinen Namen und somit auch kein menschliches Wesen besitzen konnte. 150 »Weil ich ihn liebe.« »Liebe ist unbedeutend verglichen mit der Pflicht und dem Glauben. Leidenschaft kommt und geht wie der Mond, von dem wir gesprochen haben. Sie ist zerbrechlicher als ein Blütenblatt, das einer Rose entrissen wird. Vielleicht glaubst du ja tatsächlich, dass deine Beweggründe einer uneigennützigen Liebe entspringen, aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was willst du?« Liath hatte keine Antwort auf diese Frage.
2 »Ich bitte dich, Sanglant, vergib mir. Ich habe nicht die Geduld für das Leben am Hof.« »Nein, das hast du nicht«, pflichtete er ihr bei. Sie saß auf der Pritsche und sah ihn an; er hockte mit gekreuzten Beinen beim Zelteingang, schob die Zeltklappe ein Stück auf und blinzelte nach draußen ins Lager. Die Wachfeuer brannten gleichmäßig; ein paar Gestalten gingen herum, wie auch er es gern getan hätte. Im königlichen Zelt wäre Platz zum Gehen gewesen, aber er hatte sich schon vor Wochen Liaths Wunsch gefügt und ein kleineres Zelt aufstellen lassen, in dem sie allein schlafen konnten. Nicht einmal in Gent hatte er allein geschlafen, sondern mit einer Hundemeute als Aufpasser. Sie hustete, kratzte sich dann am Oberschenkel. Er sah sie an. Sie trug nur ein leichtes Leinengewand, das so abgetragen war, dass man hindurchsehen konnte. Eine Lampe hing vom Querpfosten des Zeltes, und im Schein der Flamme bewunderte er, wie der Stoff sich um ihre Brüste schmiegte, um die Oberschenkel und die Hüfte. »Nein, das hast du nicht«, wiederholte er. »Als du ein Adler warst, hattest du keinerlei Macht und musstest tun, was man 150 dir aufgetragen hat. Jetzt hast du Anne und ihre Schläfer besiegt. Hier hält dich nichts als die Erinnerung an Gnade - und deine Liebe zu mir. Ansonsten habe ich nichts, was du haben wollen könntest, auch wenn meine Tante etwas anderes vermutet.« »Tut sie das?« »Vielleicht. Sie ist das dritte Kind, nach Henry und Rotrudis. Sie ist früh ins Kloster gegangen und mit vierzehn Äbtissin geworden. Die Pflicht ist die Milch, die sie ihr ganzes Leben lang getrunken hat. Sie muss glauben, dass du Macht haben oder aufsteigen willst. Sie kann vielleicht gar nichts anderes glauben.« »Und was glaubst du?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe nichts, was du wollen könntest, Liath. Deshalb glaube ich dir.« Sie lächelte, so süß, dass er lachte, obwohl ihr Anblick ihn schmerzte, jetzt, da er so dicht davor stand, das ganze Gewicht der Bürde zu spüren, die sein Vater ihm auferlegt hatte. »Bei Pa habe ich gelernt, von einem Ort zum anderen zu laufen. Flüchtlingen geht es immer nur darum, nicht gefangen zu werden. Sie denken nie sehr viel weiter als bis zu ihrem nächsten Fluchtweg. Ich habe mich Anne widersetzt und sie besiegt -sofern man als Sieg bezeichnen kann, was wir in den letzten Monaten gesehen haben. Was ist mir geblieben? Ich bin jenen entkommen, die mich ergreifen wollten. Ich habe meine Tochter verloren.« »So wie Liutgard und Burchard.« Er seufzte. »Und ich werde Herrscher werden, wie mein Vater es gewünscht hat. Wirst du mich verlassen? Es stimmt, dass du nicht die Geduld für das Leben am Hof hast.« Von dieser Stelle aus konnte er den Hügel sehen, auf dem die Festung und das Kloster namens Quedlingham standen, der alte Sitz seiner Ururgroßmutter. Lucienna von Attomar hatte Henry dem Ersten Ländereien und Reichtümer gebracht, zusammen mit Verbündeten, die ihm ausreichend Unterstützung 151 gewährten, als er die Hände nach dem Thron von Wendar ausgestreckt hatte. Ohne Lucienna und ihre Familie wäre Henry der Erste niemals Herrscher geworden. Zu Ehren dieser Verbindung war die alte Festung zum am meisten bevorzugten und reichsten Kloster im ganzen Land geworden, das stets von einem Mädchen aus dem königlichen Geschlecht geleitet wurde. Einem Mädchen wie Richardis, die zu Scholastika geworden war, als sie drei Jahrzehnte zuvor als junge Äbtissin in die Kirche eingetreten war. Sie war daran gewöhnt, Macht auszuüben und Entscheidungen zu fällen. Henry hatte ihr vertraut. Aber sie vertraute weder Sanglant noch seiner halbmenschlichen Frau. Eine Fackel leuchtete auf der fernen Mauer, kennzeichnete das Tor. Ansonsten war es dunkel. Wie gewöhnlich bedeckten Wolken den Himmel. Er ließ die Zeltklappe los und drehte sich zu seiner Frau um. Sie wirkte äußerlich ruhig, so wie ein Teich, der weder vom Wind noch von irgendwelchen Steinchen gestört wurde. Wie die Sterne war auch sie verhüllt. Aber er glaubte nicht mehr, dass sie etwas vor ihm verbarg. Jegliche Verschlagenheit und Tarnung war weggebrannt worden, zuerst bei ihrer Reise in den Äther und schließlich in der Umwälzung selbst. »Du hast einmal gesagt -« Zu seiner Überraschung blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, aber er zwang sich, weiterzusprechen. »Du hast einmal gesagt, was du in den Himmelssphären bei dem Volk deiner Mutter gesehen und erlebt hast, hätte dir Frieden gegeben.« Sie nickte. »Frieden, ja. Mehr als das. Ich habe Freude gefunden.« Eifersucht nagte wie ein Wurm an ihm, wie die Dichter sagen würden, und Dichter hatten eine Begabung dafür, die Wahrheit zu sagen. »Freude«, murmelte er heiser, und er hasste den Klang des Wortes, hasste den Klang seiner Stimme, denn er wusste, dass er auf diesem Schlachtfeld hilflos war. Er hatte keine Waffen und keine Strategie. 151 Sie berührte seinen Ellbogen und zog ihn zu sich heran. »Ich bin nicht dort geblieben.« Sie berührte seine Halskuhle mit den Lippen. Früher einmal hätte diese Berührung bereits genügt, um alle beunruhigenden Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Jetzt gab es so viele Dinge, die er sagen wollte, aber er schwieg.
3 Drei Tage lagerten sie vor Quedlingham und warteten. Liutgard zog sich zurück. Am zweiten Tag kamen Leute aus der Stadt, um Handel mit den Soldaten zu treiben, aber die Soldaten hatten nicht viel, womit sie hätten handeln können. Die Männer reinigten und flickten ihre Ausrüstung, jagten - obwohl es kaum Wild gab - in den Wäldern und brachten die Pferde auf die Weiden, wo sie grasen und sich ausruhen konnten.
Angesichts so viel freier Zeit gesellte Liath sich zu den Adlern, obwohl sie nicht mehr zu ihnen gehörte. Zu den zwanzig, die den Marsch von Aosta in den Norden überlebt hatten, waren - als sie erst einmal Wendar erreicht hatten - nach und nach fünfzehn weitere gestoßen. Der Letzte war ein sehr junger Adler namens Ernst, der sich mehrere Monate in Quedlingham aufgehalten hatte; er war sehr froh, dass er diesen Käfig endlich hatte verlassen können. An diesem Nachmittag saßen mehrere Adler unter einem Vorzelt zusammen, das sie vor dem Nieselregen schützte. Der Himmel war noch grauer als sonst. Die Festung wirkte farblos vor dem düsteren Himmel. Das weiche Licht tauchte den Eichenwald in einen sanften Schimmer, während im Osten, wo der Regen aufgehört hatte und die Wolken sich lichteten, der Himmel hell wie eine Perle leuchtete. Die Sonne kam niemals durch. »Es lag nicht viel Schnee in den Bergen, als wir sie passiert 152 haben«, sagte Hathui zu Ernst. »Vielleicht ist später noch mehr gefallen, nachdem wir weg waren. Aber wenn es keinen Schnee gibt, werden die Flüsse im Frühjahr auch nicht anschwellen.« »Wenn das Frühjahr überhaupt kommt«, sagte Ernst. »Wir hatten gar keinen Schnee. Es war auf unheimliche Weise warm. Zuerst hat es so viel geregnet, dass die Felder überflutet waren. In Teilen von Osterburg standen Straßen und Häuser unter Wasser - es ging mir bis zu den Knien! Nein, warte, die Flut war im Askulavre. Die schlimmen Regenstürme waren früher, noch im Herbst. Mittlerweile regnet es nur noch so wenig wie jetzt gerade. Und es ist immerzu bewölkt.« »Mein Großvater hat erzählt, dass er als Junge einen Winter erlebt hat, in dem sie nie die Sonne gesehen haben, und auch den ganzen Frühling nicht«, sagte ein anderer Adler, der aus dem Süden von Avaria kam und dunkle Locken sowie große, schwielige Hände hatte. »Im darauffolgenden Winter hat er zwei seiner Brüder verloren. Und im nächsten Jahr war es noch schlimmer, denn sie hatten den größten Teil des Saatguts aufgebraucht. Er hat viel über diese Zeit geredet, als er blind und bettlägerig war. Ich habe oft bei ihm gesessen, nur um die Geschichte zu hören, denn er hat sie gern erzählt. Und doch wundere ich mich.« Er deutete zum Himmel. »Korn kann ohne das richtige Maß an Sonne und Regen nicht wachsen.« »Es war den ganzen Winter über zu warm«, sagte Hathui. »Und im Süden war es zu trocken, als wir letztes Jahr dort waren. Eine schreckliche Dürre - so schlimm, dass jeder Grashalm spröde war. Hier ist alles durchnässt. Ich habe Pilz an den Füßen!« Alle lachten, und eine Weile sprachen sie davon, wie ihre Füße juckten und ihre Kleidung und die Zelte nach Moder stanken. Alle hatten Pilz an den Füßen, abgesehen von Liath, die nie krank und nie von Flöhen, Läusen oder Ausschlag heimgesucht wurde. Sie saß wie gewöhnlich weiter hinten. Die anderen Adler hatten sich an ihre Anwesenheit gewöhnt, wie es sonst niemand konnte, und beachteten sie nicht weiter. Sie
152 flocht währenddessen Fasern zu einem Seil, wie Ältester Onkel es ihr beigebracht hatte. Zwischendurch spielte sie heimlich damit, Zweige zum Brennen zu bringen, schärfte ihre Fähigkeit, Feuer in kleinere und noch kleinere Ziele zu rufen. Meistens lauschte sie den Neuigkeiten und dem Getratsche sowie den Schlussfolgerungen, die gezogen wurden, ebenso wie den Informationen, die die Adler im Gespräch mit den Ortsansässigen aufschnappten. Jetzt lauschte sie Emsts ernsthaftem Bericht über die Zustände in Wendar in den letzten sechs oder mehr Monaten, seit der Sturm über das Land hinweggefegt war. Sogar die Menschen, die so weit im Norden lebten, hatten ihn zu spüren bekommen. Sie hatten den unnatürlichen Sturm bemerkt und sich vor ihm gefürchtet, obwohl sie keinerlei Möglichkeiten hatten, die Wahrheit über ihn herauszufinden. Die Adler in Henrys Heer hatten ihn gesehen und erlebt. Und doch kannten auch sie nicht die ganze Wahrheit. »Ich frage mich«, sagte sie laut und bemerkte, dass alle verstummten und zusammenzuckten und sich nach ihr umdrehten, darauf warteten, dass sie weitersprach. Sie lächelte, als ihr klar wurde, wie sehr sie sich getäuscht hatte, nur weil sie glauben wollte, dass ihre Bewegungen und Worte
nicht auf eine verborgene Bedeutung hin überprüft wurden. Sie war kein Adler mehr. Dieser Teil ihres Lebens war vorüber. »Ich frage mich gerade, ob das seltsame Wetter mit Annes Zauberspruch zusammenhängt«, sagte sie. »Es könnte sogar eine Folge des Zauberspruchs sein, der vor langer Zeit unter der Aufsicht der Schamanin des Bwr-Volkes gewebt wurde und auf uns zurückgefallen ist. Diese Schamanen sind Tempestari, wie die Legenden sagen.« »Das haben wir selbst erlebt«, sagte Hathui. »Ihre Magie hat den Sturm aufgehalten, der im Osten über uns hinweggefegt ist.« »Oder ihn erschaffen.« Weil sie Macht über das Wetter besaß. In einem ruhigen Wald vermag ein unerwarteter Windstoß 153 das Laub zu bewegen und verborgene Tiefen und Gegenstände freizulegen, die unter Schichten von Unrat verborgen sind. Sie stand auf, steckte die Fasern und das kurze Stück Seil in eine Tasche. Gedanken huschten herum wie Mäuse, die über einen plötzlich von einer Lampe beleuchteten Kirchenboden flitzten. Es gab da ein Muster, einen Plan, eine mögliche Handlung. Plötzlich war sie zu unruhig, um noch länger sitzen bleiben zu können, zu besorgt und angespornt durch Hunderte von Fäden, von denen jeder - wenn sie ihm bis an sein Ende folgte -ihr eine Antwort geben könnte. »Ich werde mit dir kommen«, sagte Hathui. Liath lachte, als sie in den Nieselregen traten. »Hat Sanglant dir aufgetragen, als meine Wache zu dienen?« »So in etwa.« »Dann komm mit. Lass mich nachdenken.« Sie gingen weiter. Die Zeit war für sie auf unnatürliche Weise verstrichen. Es war seltsam, durchs ländliche Wendar zu gehen, nachdem sie so viele ferne Länder bereist hatte. Eine feuchte Brise ließ ihre Hände steif werden, und sie schob sie in die Ärmel - und stolperte prompt auf dem unebenen Boden und musste die Hand ausstrecken, um zu verhindern, dass sie kopfüber in einen Morast aus schmutzigem Gras und Matsch stürzte. Sie fluchte, als sie ihre Hand abwischte. Hathui lachte. Sie hatten das Lager jenseits der Felder aufgeschlagen, die den Festungshügel umgaben, in einem buschbestandenen Gebiet, das manchmal als Ackerland und manchmal als Weideland benutzt wurde, manchmal aber einfach nur brachlag. Gruppen von jungen Birken bildeten kleine Wäldchen, die erst kürzlich von Waldfällern zurückgeschnitten worden waren. Junge Eschen standen in feuchten Niederungen, umgeben von Geißblatt und Schwingelgras. Sie kniete bei einem Himbeerstrauch nieder und strich mit der Hand über die dornenähnlichen Härchen. Zu winzig, um sie zu entzünden. So gut konnte sie sich nicht konzentrieren.
153 Noch nicht. Aus dem Wald drang ein Hornsignal zu ihnen. »Sie haben eine Spur aufgenommen«, sagte Hathui. »Warum bist du nicht mit ihm gegangen?« »Es erinnert mich zu sehr an mein Leben mit Pa. Sieh nur. Da sind die Greifen.« Sie flogen so hoch über ihnen, dass Liath sich einen Moment vorstellte, sie wären nicht größer als Adler. Die dunklen Flecken verschwanden in Richtung Süden, strebten auf die Berge und die Wildnis zu. Aus dem Wald ertönte ein Krachen, und gerade, als sie sich umdrehten, brach ein Dutzend Reiter lachend und laut rufend durchs Unterholz, ein Jagdtrupp, der sich von der Hauptgruppe getrennt hatte. Sanglant war dabei und kam zu ihnen geritten. In den letzten Monaten hatte er so oft müde von der Bürde des Herrschens gewirkt, aber in diesem Augenblick strahlte er jene Unbekümmertheit und Sorglosigkeit aus, die sie vor so vielen Jahren in Gent dazu gebracht hatte, sich in ihn zu verlieben. »Was jagst Aul«., fragte er. »Du machst wieder dieses eigenartige Gesicht.« Er nickte Hathui zu, teilte ihr mit, dass er ihre Anwesenheit bemerkt hatte, und sie neigte den Kopf als Antwort auf die unausgesprochenen Worte.
»Ich denke nach«, sagte Liath. »Über das Wetter.« Er musterte sie neugierig, drehte sich dann im Sattel um und gab seinem Gefolge ein Zeichen. Die anderen ritten zum Lager zurück. Er stieg ab und reichte Hathui die Zügel. »Was ist los?«, fragte er. »Noch nicht einmal die Weisen und Kirchenmütter verstehen die Launen des Wetters. Nur Gott wissen, wieso es Dürre gibt oder wieso wir schönes Wetter haben. Wieso Hungersnöte herrschen oder der Mond im Laufe des Jahres so oft ab- und zunimmt. Aber was ist, wenn dieses Wetter« sie deutete zum Himmel - »nicht natürlich ist, sondern ein Muster in dem unbekannten, von Gott gewebten Muster ? Was ist, wenn der Zauberspruch und die Umwälzung die Ursache für die unnatürli 154 chen Wolken sind? Oder die Rückkehr des Ashioi-Landes? Wenn ein Stein in den Himmel geworfen wird und auf die Erde zurückfällt, wird eine Staubwolke dort aufsteigen, wo er aufprallt. Vulkane spucken Rauch und Asche in die Luft. So viele Flüsse aus Feuer sind an jenem Tag tief in der Erde geflossen. So vieles hat sich gelöst. Was ist, wenn wir dieses Wetter selbst gemacht haben?« Er dachte darüber nach, dann zuckte er mit den Schultern. »Und wenn wir es getan hätten? Was dann?« »Es gibt Tempestari.« »Ah.« Er legte den Kopf in den Nacken und starrte eine ganze Weile zum Himmel hoch. Dann ging er auf und ab. »Wärst du nur nach Osten zu Gnade geritten. Li'at'dano hätte dir helfen können. Wenn sie noch lebt.« »Ich glaube, dass sie noch lebt. Ich bin mir sogar sicher. Es ist, als würde sie zu mir sprechen.« »Kannst du sie dann fragen?« »Ich weiß nicht, wie ich in Träumen sprechen soll.« Sie zuckte angesichts der neuen Richtung, die seine Gedanken genommen hatten, ungeduldig mit den Schultern. »Aber wenn ich nach Osten geritten wäre, hätte ich nicht unbedingt gemerkt, wie stark das Wetter hier in Wendar betroffen ist. Gott wissen, wie sehr ich es bedaure, dass Sorgatani nicht mehr bei mir ist. Sie hätte mir helfen können. Ohne Adlersicht kann ich nur Vermutungen anstellen und warten.« Fest neigte den Kopf und schnüffelte an den Himbeeren, aber er fand kein Futter, das ihm gefiel, und so zog es ihn zu grüneren Weiden. Nach einer Geste von Sanglant führte Hathui ihn weg. »Es ist möglich«, sagte er. »Ich habe selbst darüber nachgedacht, wie weit die Wellen dieses Zauberspruchs wohl reichen werden. Dass das Land der Ashioi zurückgekehrt ist, stellt -wie ich fürchte - noch unsere geringste Sorge dar.« »Ich denke ...« Sie führte den Satz nicht zu Ende. Er lächelte sie an, berührte ihre Wange, und ein paar Atem
154 züge lang spürte sie nur diese Berührung. Sie stellte sich vor, sie wäre an einem anderen Ort - frei von lästigen Sorgen, die so schwer auf ihnen allen lasteten. Sie stellte sich eine stille Kammer vor, die mit einem Orrery aus Andalla ausgestattet war. Sie stellte sich Wald und Felder vor und eine Himmels-kuppel, an der helle Sterne prangten, die so deutlich zu sehen waren wie die Blumen auf einer Frühlingswiese und so zahlreich waren wie die Sandkörner eines weißen Strandes. Wie durch ein Wunder rührte er sich nicht, schien zufrieden damit zu sein, mit ihr dazustehen, während sie träumte. Schließlich seufzte sie. »Schwester Rosvita hat mir einmal von einem Kloster erzählt, das der heiligen Valeria geweiht ist und unter der Leitung von Mutter Rothgard steht. An diesem Ort wurden bestimmte verbotene Berichte über die Zauberkünste aufbewahrt. Wenn ich dorthin ginge - es ist nicht sehr weit von hier -, könnten sich darin die Antworten finden lassen, die ich suche.« »Willst du aus dir eine Tempestari machen? Willst du die Winde lösen und die Himmel entschleiern?« Er zog die Hand zurück, aber er lachte sie mit solcher Zärtlichkeit und solchem Stolz an, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Wenn ich es muss. Wenn ich es kann. Es ist das, was ich tun kann.«
»Das ist es«, stimmte er ihr zu. »Wenn es überhaupt jemand kann.« »Ich bin nach ihr benannt - nach der größten Zauberin, die die Menschheit kennt.« »Die nicht menschlich ist.« »Vielleicht deshalb.« »Wann wirst du gehen? Soll ich dich begleiten?« »Ich weiß es nicht. So weit habe ich noch nicht gedacht.« »Dann tu mir einen Gefallen, Liath. Warte, bis sich die Angelegenheit mit meiner Tante erledigt hat. Warte, bis ich mit dir als meiner Königin zum König gekrönt und gesalbt worden bin. Danach wirst du ein eigenes Gefolge haben. Und dann 155 wird es leichter sein, dich mit deiner eigenen Rundreise zu diesem Kloster zu schicken.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »In dieser Hinsicht passen wir gut zusammen, Sanglant.« »In welcher Hinsicht?«, fragte er und neigte den Kopf zur Seite, wie ein Hund es tun mochte, der plötzlich seinem Herrn misstraut, wenn der ihn zu einem Fass mit Badewasser winkt. »Wo ich unwissend bin, bist du weise.« »Und gilt das auch umgekehrt?« Sie lachte und küsste ihn. Der Tag wirkte auf einmal sehr viel wärmer, heller und strahlender, aber sie wusste, wie zerbrechlich das Glück sein konnte, wie rasch es von Wolken verhüllt werden konnte.
4 Sie hörten das Hornsignal im Laufe des nächsten Morgens. Bald darauf kam ein Adler zum königlichen Zelt geritten, stieg ab und kniete vor Sanglant nieder, der auf einem Stuhl saß und sich die morgendlichen Berichte anhörte. Nun winkte er die anderen weg, und sie traten zur Seite, um dem Adler Platz zu machen. »Ihr seid Gilly, die nach Osterburg geschickt wurde.« Sie nickte. Sie war mindestens ein Dutzend Jahre älter als er und dünner als die meisten Frauen, die Adler geworden waren, aber sie war so zäh wie eine Peitschenschnur. »Ich bin im Gefolge von Prinzessin Theophanu zurückgekehrt, Eure Majestät. Ich bin vorausgeritten, um Euch diese Neuigkeit zu überbringen.« »Was gibt es für Nachrichten von meiner Schwester?« Sie sah Hathui an, dann wieder den König. »Sie schickt keine Nachricht, Eure Majestät. Sie kommt selbst nach Quedlingham. Sie wird noch heute hier eintreffen.«
155 Weil das Lager eine Wegstunde von der Stadtmauer entfernt lag und von Gebüsch und offenem Gelände umgeben war, hörten sie gegen Mittag zwar den Klang von Hörnern, sahen aber nichts. Bald danach bemerkte Lewenhardt jedoch auf dem Turm drei neue Banner neben der Standarte mit der Eule, die von der Anwesenheit von Mutter Scholastika kündete, allerdings waren sie zu weit weg, als dass er die Wappen hätte erkennen können. Kurz vor Anbruch der Dämmerung und von peitschenden Windböen aus Südosten begleitet, kam ein Wachposten angerannt und verkündete, dass sich aus Richtung Stadt eine Gruppe von Menschen näherte. »Die Männer sollen sich versammeln.« Sanglant nahm auf dem Stuhl Platz, den sein Vater immer benutzt hatte, wenn er unterwegs gewesen war. Er legte seine Hände auf die Lehnen, deren eine wie der scharfe Schnabel eines Adlers geschnitzt war, während die andere einer Löwenmähne nachempfunden war, die sich unter seinen Fingern glatt anfühlte. Er stellte die Füße gerade nebeneinander, konnte es aber nicht lassen, mit dem rechten Fuß auf den Boden zu klopfen. Angeführt wurde die Gruppe von Mutter Scholastika, die als Äbtissin einer so ehrwürdigen und heiligen Institution wie Quedlingham so mächtig war wie eine Herzogin. Sie ritt auf ihrem weißen Maultier; vier Mönche und vier Nonnen mit Lampen gingen neben ihr her und beleuchteten den Weg. Hinter ihr ritt Theophanu auf einer grauen Stute. Seine Schwester trug ein schönes Kleid, das mit Goldfäden bestickt war und im schwindenden Licht silbern wirkte. Bei ihr waren mehrere Frauen.
Eine erkannte er trotz des Zwielichts und der Entfernung sofort, und er errötete und warf Liath, die stirnrunzelnd neben ihm saß, einen Blick zu. Sie fühlte sich ganz offensichtlich unbehaglich, aber sie ertrug es tapfer. Sie blinzelte, den Kopf leicht zur Seite geneigt, um etwas sehen zu können. Ihre Hände verkrampften sich. Sie schnappte nach Luft. 156 Waltharia, Markgräfin der Villams, war nach Osterburg geritten und jetzt nach Quedlingham gekommen, zweifellos, weil sie von seiner Rückkehr erfahren hatte. Sie trug einen Umhang. Was sie darunter trug, konnte er nicht erkennen, aber er wusste nur zu gut, wie sie sich anfühlte - eine alte und angenehme Erinnerung. Verlangen regte sich in ihm, und er schloss kurz die Augen, um es zu bekämpfen. Es war ihm tatsächlich ein bisschen peinlich, denn er empfand immer noch Zuneigung für sie, und er wusste, dass es für Liath zwar in Ordnung sein mochte, die Existenz von Frauen hinzunehmen, die keine Möglichkeit mehr hatten, nahe an ihn heranzukommen, es aber natürlich etwas ganz anderes war, mit einer Frau essen und lachen zu müssen, die seine erste und bekannteste Geliebte gewesen war. Die er keine zwei Jahre zuvor - nun ja, besser, er dachte gar nicht erst daran. Vielleicht würde Waltharia ihn hassen, weil ihr Ehemann Druthmar im Süden gestorben war, als er in seinem Heer gekämpft hatte. Vielleicht würde sie das tun, aber er bezweifelte es. Sie würde trauern und dann einen anderen finden. So war der Lauf der Welt. Trotz allem konnte er nicht anders, als sich über ihren Anblick zu freuen, denn er wusste, dass sie ihn unterstützen würde. Er hoffte, dass sie ihn unterstützen würde. Er brauchte ihre Unterstützung. Theophanu hatte neben Waltharia noch mehr Edelleute dabei, um gewappnet zu sein: Wichmans Zwillingsschwestern Sophie und Imma, Bischöfin Suplicia von Gent, Bischöfin Alberada von Handelburg, zwei weitere Frauen in den Gewändern von Bischöfinnen, deren Namen er nicht kannte, und drei Äbtissinnen. Markgräfin Judiths Erbin Gerberga ritt rechts von Theophanu. Er kannte sie nicht sonderlich gut. Neben ihr ritt sein jüngerer Halbbruder Prinz Ekkehard, gekleidet wie ein Edelmann - und nicht wie ein Geistlicher - und auf jeden Fall inmitten der anderen leicht zu übersehen. Es waren gutaussehende Frauen, jede auf ihre Weise, gleichermaßen herrlich und schrecklich, eine Phalanx, die ihm 156 helfen oder schaden konnte, abhängig von ihren Wünschen und Launen. Dies waren die Mächte des Reiches, in deren Hände er die Leiche seines Vaters legen und in deren Augen er sich als würdig erweisen musste, um über sie alle zu herrschen. Hinter ihnen ritten noch drei Reihen unbedeutenderer Edelleute und Höflinge. Sie alle waren gekommen, um sich dem Mann entgegenzustellen - oder ihn zu beschwichtigen -, der Anspruch auf Henrys Thron erhob. Erst jetzt erkannte er, dass es jemand in der zweiten Reihe gewesen war, der Liaths Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie starrte den Mann unverwandt an, und ihre Miene war kalt und schwer zu deuten. »Das werde ich nicht tun«, flüsterte sie so leise, dass es offensichtlich niemand hören sollte, aber er hatte das Gehör eines Hundes, das schärfer war als das eines Menschen. »Ich bin die Leiter des Magiers emporgestiegen. Ich bin durch Feuer gegangen und habe es überlebt. Was mich einst verletzt hat, kann mich jetzt nur verletzen, wenn ich es zulasse, und das werde ich nicht tun.« Es überlief ihn eiskalt. Er hätte es bemerken müssen. Aber er hatte es nicht bemerkt. Liath hingegen schon. Sie hatte sein schönes Gesicht sofort gesehen: Hugh.
5 Es war ein Schock, aber sie ließ die Wut und die Furcht von sich abprallen. Ein Teil von ihr würde sich immer erinnern; ein Teil von ihr würde sich immer ducken. Aber nicht der größere Teil - jetzt nicht mehr. Sie konnte sich dem, was sie einst gefürchtet hatte, entgegenstellen, ohne vor dem erwarteten Schlag zurückzuschrecken. Dennoch war es anstrengend, neben Sanglant zu sitzen, denn sie fühlte sich gar nicht wohl dabei, als seine Frau zu han
157 dein, als jemand, deren Macht und Autorität jederzeit öffentlich sichtbar und wahrnehmbar sein mussten, da so viele Gesichter sie musterten, sie abschätzten, sie beurteilten. Die Reiter zugehen mitten auf der Straße ihre Pferde. Mutter Scholastika musterte Sanglant mit einer Miene, die Liath nicht deuten konnte. Schließlich stieg Prinzessin Theophanu von ihrem Pferd und half ihrer Tante, ebenfalls abzusteigen. Nachdem Mutter Scholastika mit beiden Füßen auf dem Boden stand, stiegen auch die anderen in der vordersten Reihe ab. Liath kannte sie nicht alle, aber ihre Haltung, ihr Stolz und ihre kostbaren Tuniken und Umhänge machten unzweifelhaft deutlich, dass sie überaus bedeutende Edelleute waren, deren Unterstützung der Herrscher brauchte, wenn er den Thron und die Krone von Wendar erringen wollte. Die Männer waren deutlich in der Unterzahl - so viele waren in den Kriegen gestorben -, und sie wurde an Sanglants Auseinandersetzung mit Li'at'dano und den Zentaurinnen erinnert. Er wirkte kein bisschen verunsichert, aber genau betrachtet bereiteten Frauen ihm nie Unbehagen. Er fürchtete sie nicht, aber er verherrlichte sie auch nicht, obwohl die Schamanin der Bwr ihn wegen ihres mangelnden Respekts zweifellos verärgert hatte. »Es ist schön, dich zu sehen, Bruder«, sagte Theophanu, als sie mit ihrer Tante vortrat. Sie wandte sich an Liutgard und sprach höfliche Worte des Bedauerns, die Liutgard mit einem verbitterten Seitenblick auf die Äbtissin entgegennahm. »Ich bitte euch, Theophanu, Tante, setzt euch zu mir.« Er erhob sich und lud sie ein, zu ihm unter das Vordach zu kommen, wo zwei Stühle rechts von ihm aufgestellt worden waren. Mutter Scholastika blieb jedoch am Rand des Teppichs stehen und kam nicht näher, und Theophanu musste notgedrungen neben ihr ausharren. Stille senkte sich herab. Sanglant setzte sich wieder, während die beiden immer noch dastanden. »Wir können uns überflüssige Höflichkeitsfloskeln wohl er
157 sparen«, sagte Mutter Scholastika. »Theophanu ist weit gereist. Lass sie offen sprechen.« »Das werde ich«, sagte Theophanu auf ihre kühle Art. »Denn ich bin müde von der langen Reise. Du erhebst Anspruch auf den Thron unseres Vaters. Du hast seinen Leichnam bei dir, der auf eine angemessene Bestattung wartet. Diese Dinge sind mir bewusst. Aber wisse auch: Ich habe kein Heer, um gegen dich zu kämpfen. Ich habe eine Hundertschaft tapferer Löwen, hundert Berittene meines eigenen Gefolges und die Truppen, die wir in Saony ausheben konnten. Fesse und Avaria stehen auf deiner Seite, wie ich sehe.« »Das tun wir«, sagte Liutgard. »Das tun wir«, sagte Burchard. »Und wir waren Zeugen, als Henry seine letzten Worte gesprochen hat, als er Prinz Sanglant zu seinem Erben ernannt hat. Wir haben noch viel mehr gesehen, aber es ist zu viel, um es jetzt hier zu berichten.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schwankte. Ein Verwalter stützte den alten Herzog mit einer Hand unter dem Ellbogen. »Andere haben vor, sich ebenfalls an deine Seite zu stellen«, sagte Theophanu, als sich eine der Edelfrauen aus dem Gefolge löste und zu Sanglant trat. Er stand auf und streckte die Hände aus, und die Frau legte ihre gefalteten Hände als Zeichen des Bündnisses hinein. Liath kannte die Frau nicht, aber sie hatte Geschichten gehört, und es gab nicht viele Frauen, die den Schlüssel einer Markgräfin trugen und einen so vertraulichen Blick mit Sanglant wechseln konnten. »Willkommen zurück in Wendar, Sanglant.« »Ich muss dich um Vergebung bitten, Waltharia. Du wirst es bereits gehört haben. Ich habe Druthmars Leiche noch nicht einmal gefunden.« Sie war ernst und bekümmert, wischte Tränen beiseite, aber sie war nicht wütend. Sie nahm die Neuigkeit nicht zu leicht auf, aber sie schlug sich auch nicht gegen die Brust und stöhn 157 te und jammerte. »Ich habe geweint, und ich werde wieder weinen«, sagte sie ernst. Sie und Liutgard tauschten einen wissenden Blick. »Er hat um die Gefahr gewusst, und er hat so gut gedient, wie es ihm möglich war.«
»Er war ein guter Mann«, sagte Sanglant. »Ja.« Sie sah an ihm vorbei zu Liath, lächelte und machte dabei gleichzeitig ein merkwürdiges Gesicht, und als sie dann sprach, schwangen Bedauern und aufrichtiges Interesse in ihren Worten mit. »Dies ist die Braut, von der du gesprochen hast?« »Ja.« »Willkommen, Liathano.« »Willkommen«, sagte auch Liath, aber sie fühlte sich elend und verunsichert, als sie Waltharias ehrlichem Blick begegnete. Ich werd e sie mögen. Waltharia lächelte leicht, zog ihre Hände dann zurück und stellte sich zu Liutgard und Burchard. Liath spürte die Anwesenheit der anderen Frau wie Feuer. Es ließ sie sogar fast Hugh vergessen, der mit offensichtlicher Bescheidenheit in der zweiten Reihe wartete. Wunderschöner Hugh. Er sah sie nicht an, und deshalb blickte sie immer wieder zu ihm, um zu sehen, ob er sie ansah. »Es ist keine Überraschung, dass das Geschlecht der Villams Sanglant gegenüber loyal ist«, sagte Theophanu. »Wo ist unsere Schwester Sapientia, Bruder?« Sanglant setzte sich. »Sie ist möglicherweise tot. Sicherlich ist sie verschollen.« »Es war dein Werk«, sagte Theophanu ruhig, während eine andere Frau gewütet oder angeklagt hätte. »Ich leugne nicht, dass ich ihr den Befehl über das Heer entzogen habe. Sie war nicht geeignet, es zu führen, Theophanu. Ich habe sie nicht getötet.« Liath musste an Helmut Villam denken, und vielleicht dach
158 te auch Sanglant an ihn, denn er nutzte diesen Augenblick, um Hugh anzusehen. Der andere Mann hielt den Blick bescheiden auf den Boden gesenkt. Zwei Edelfrauen neben Theophanu erhoben jetzt ihre Stimmen. »Der Verlust ist nicht groß. Sie ist schon immer dumm gewesen.« »Es war klar, dass du das sagen würdest! Du weißt ja, wie es ist, dumm zu sein!« »Ich bitte euch, Sophie. Imma.« Theophanu hatte ihre Stimme nicht erhoben, und doch schwiegen die beiden Frauen. »Versuchen wir, Streit und Leichtfertigkeiten zu vermeiden. Es ist eine ernste Sache, jemandem in der Familie den Vorwurf zu machen, für den Tod einer Schwester verantwortlich zu sein.« »Wir sind keine Salianer oder Aostaner, die ihre Verwandten umbringen, um sich Vorteile zu verschaffen«, bemerkte Mutter Scholastika. »Oder Arethusaner, die eine Schwester nur zu leicht in die Sklaverei oder den Tod schicken, wenn sie dafür deren Reichtümer und Titel erhalten können.« Wichmans Bemerkung kam unerwartet, denn er hatte bisher still links von Herzog Burchard gewartet. »Habt Ihr eine Klage vorzubringen, Wichman ?«, fragte Sanglant. »Keinesfalls. Sapientia war schwach und dumm. Wenn sie tot ist, ist sie tot besser dran. Henry hat sie erst zur Erbin ernannt, als er Euch für tot gehalten hat. Es kümmert mich nicht, dass Ihr ein Bastard seid. Obwohl ich natürlich weiß, dass Ihr einer seid!« Er lachte. »Mich interessiert vielmehr, ob Ihr den Krieg gewinnen und das Königreich zusammenhalten könnt. Wenn Ihr bereit seid, übergebt mir das Herzogtum Saony. Ich werde es ehrenhaft führen und Euch unterstützen.« Liath begriff, dass Sophie und Imma Schwestern waren, denn sie wurden beide rot und brachen in hässliches, leidenschaftliches Geschnatter aus. 158 »Und die Ältere übergehen -« »Du Schlange! Du bist eine Viper, so an unseren Fersen zu nagen!« »Ruhe bitte!«, sagte Sanglant. »Ich muss darüber nachdenken, Wichman. Ich muss mich mit meiner Schwester Theophanu beraten. Sie hat während meiner Abwesenheit höchst fähig dort geherrscht. Eure Schwestern haben ebenfalls einen rechtmäßigen Anspruch. Und ich muss auch die Ratschläge meiner Tante anhören.«
»Aber Ihr werdet es entscheiden«, sagte Wichman höhnisch grinsend. »Ihr habt das Heer und die Stärke zu tun, was Ihr wollt.« »So sei es«, sagte Theophanu. »Das sind harte Worte, aber sie sind wahr. Ich kann dich nicht davon abhalten, Herrscher zu werden, Sanglant, und ich bin auch nicht sicher, ob ich das möchte. Ich habe mich bemüht, die Ordnung in Saony aufrechtzuerhalten und das alte Land unserer Familie nicht zu verlieren. Auf diese Weise bin ich unserem Vater treu gewesen.« Sie machte eine Pause, und Liath dachte schon, sie würde so weitermachen und etwas Unbesonnenes sagen. Aber Theophanu besaß kein unbesonnenes Wesen. »Das ist wahr«, stimmte Sanglant ihr zu. »Du hast deine Sache gut gemacht.« »Ich habe getan, was ich konnte. Du wirst feststellen, dass wir schwach sind und die Anhänger der Feinde mächtig sind. Sie haben Furcht gebracht, Hungersnöte, Seuchen, Streit, Hunger und Ketzerei. Dies ist die Schlacht, die jetzt geschlagen werden muss, Majestät.« Ein Hauch von Gefühl kroch in ihre Stimme. Liath fand ihren Ton sarkastisch, aber es war schwer zu sagen, denn ihre Miene änderte sich nicht, und ihre Stimme blieb gelassen, abgesehen davon, dass jedes Wort eine gewisse Schärfe und Kälte besaß. »Du wirst feststellen, dass es nicht so leicht ist, wie einen Krieg zu gewinnen.« »Keine Schlacht ist leicht, Theophanu«, sagte Sanglant 35° müde. »Ich habe zu viele treue Kameraden sterben sehen. Unser Vater ist in meinen Armen gestorben. Wir haben viel bezahlt für das, was wir gewonnen haben. Nicht nur Soldaten. Die Zerstörung, die ich in Aosta gesehen habe, war ...« Er suchte nach Worten, zuckte schließlich mit den Schultern. »Aosta liegt in Trümmern. Ganze Wälder stehen in Flammen oder wurden vom Sturm niedergewalzt. In meinem Heer sind einige Geistliche, die aus Darre entkommen sind. Sie haben gesehen, wie im Westen ein Vulkan ausgebrochen ist. Der giftige Rauch, der Atem des Feindes, hat die Luft so verpestet, dass niemand dort leben kann. Solche Schrecknisse sind Wendar zumindest erspart geblieben.« »Glaubst du? Wir haben gelitten, während du und unser Vater uns anderer Abenteuer wegen verlassen habt, Sanglant. Erinnerst du dich nicht an den Einfall der Qumaner? An die endlosen zänkischen Auseinandersetzungen zwischen Sabella und Henry? Die Pest in Avaria? Den Angriff der Aikha auf Gent? Dürre und Hungersnot?« »Du siehst also«, pflichtete er ihr bei, »wenn wir keine Ordnung haben, werden wir alle untergehen.« »Bitte.« Mutter Scholastika hob ihren Stab, und sie hörten auf zu reden. »Wenn du bereit bist, mir Henrys Leichnam zu übergeben, Sanglant, werden meine Geistlichen ihn für die Beerdigung vorbereiten. Er soll jetzt in Frieden ruhen, da er nach Wendar zurückgekehrt ist. Danach werden wir uns in der Kirche beraten, wo Königin Mathilda beerdigt liegt. Beten wir, dass die Erinnerung an seine Weisheit uns darin leitet, was Recht ist.« »Also gut«, sagte Sanglant. »Es gibt viel zu erzählen, was ihr noch nicht gehört habt.« »Viel zu erzählen.« Theophanu sah ihren Bruder Ekkehard an, aber er stand untätig neben seiner Frau Gerberga, die jetzt Markgräfin von Austra und Olsatia war, denn sie war Judiths ältestes rechtmäßiges Kind. Es herrscht keine Liebe zwischen ihnen, dachte Liath, denn
159 Ekkehards Haltung zeugte von Kühle zwischen ihm und seiner älteren Frau. Hughs Schweigen sprach Bände, die Liath allerdings nicht lesen konnte. Wie war er hergekommen? Wo war er gewesen? Sie hatte ihn kurz in den Lücken des großen Webens gesehen, aber dann war er verschwunden. Im Gegensatz zu den anderen war er nicht gestorben. Natürlich nicht. Er verlagerte sein Gewicht so leicht, dass man es nur bemerken konnte, wenn man durch ein festes Band mit ihm verknüpft war. Sie bemerkte es. Er blickte auf und begegnete ihrem Blick wie eine
junge Frau, die die männliche Begierde durch das Aufblicken nicht entflammen wollte, unter halbgesenkten Lidern hervor, die sowohl Verlangen als auch Bescheidenheit verrieten. Es war alles zu sehen, alles, was er sich wünschte, was er in Erinnerung hatte. Er hatte sich nicht verändert. Aber sie hatte sich verändert. Sanglant murmelte leise einen Fluch. Seine Schwerthand schloss sich fester um die Armlehne des Stuhls. Er erhob sich, und Hugh wandte seinen Blick von Liath ab. »Wann kann die Beerdigung stattfinden?«, fragte Sanglant. »Wir werden einen Tag benötigen, um den Leichnam vorzubereiten«, sagte die Äbtissin. »Übermorgen ist das Fest von St. Johanna der Botin. Es wäre ein vielversprechender Tag, um seine Seele Gott anzuvertrauen.« »So sei es. Ich werde Euch seinen Leichnam bei Morgenanbruch bringen.« Er erhob sich vor dem Morgengrauen. Barfuß und nur mit einem schlichten Gewand bekleidet schritt er neben dem Wagen her, der quietschend die Straße zum Tor von Quedlingham
160 entlangrollte. Das Knirschen der Räder auf dem Boden erzeugte ein Gegengewicht zu den vielen Leuten, die sich entlang der Straße versammelt hatten, um das Dahinscheiden ihres Königs zu betrauern. Leute unterschiedlichen Ranges riefen laut, zerrten an ihren Haaren oder sprachen weinend Psalmen: zerlumpte Bettler und stämmige Bauern, Handwerker und Frauen mit schwieligen Händen, in Seidengewänder gehüllte Kaufleute und einfache Arbeiter. Sie schluchzten, als der Wagen an ihnen vorbeirollte, auch wenn es nichts zu sehen gab als eine Kiste, die von Kornsäcken umgeben war, damit sie nicht hin und her rutschte, wenn der Wagen über Löcher und Rillen fuhr. Auch er weinte, weil man es von ihm erwartete, aber auch, weil er um seinen Vater trauerte, den er geliebt hatte. Er hatte so viel verloren, darunter seine Gelehrtenschule, Heribert und Breschius, aber er hatte die restlichen Mitglieder von Henrys Schule bekommen, und sie waren es, die hinter dem Wagen hergingen und die wendische Krone und das wendische Banner trugen, um sie der Menge zu zeigen. Sie sangen mit ihren lieblichen Stimmen die Todesklage, obwohl das Wehklagen der Leute sie fast unhörbar machte. »Legt nicht euer Vertrauen in das Große. Nicht in die Menschheit, die sterblich ist. Der Atem eines Menschen vergeht. Er kehrt zum Staub zurück. An diesem Tag zerfall en seine Pläne zu nichts.« In Abständen warf er einen Blick zurück, um sicherzustellen, dass Hathui in der Nähe war, bewacht von Hauptmann Fulk und seinen treuesten Soldaten. Um die anderen machte er sich keine Sorgen, aber er wusste, dass Hathui in Gefahr sein könnte. Behaltet sie in meiner Nähe, hatte er Fulk aufgetragen, und Fulk hatte mit ernster Miene zugestimmt. Sie begaben sich den Hang hinauf und hielten vor dem 160 Stadttor an. Die Glocken läuteten zur Laudes, und mit einem Ruf der Wachen und dem Knirschen von Zahnrädern öffneten sich die Torflügel. Die Stadtbewohner von Quedlingham säumten die Straßen und wichen zurück, als Sanglant sich in all seinem bußfertigen Glanz näherte. Die Bürde wog schwer. Schon bald würde er gekrönt werden, und danach würde er nicht mehr frei sein. Die Pflicht würde ihn so fest binden, wie Blutherz es getan hatte, aber die Pflicht hatte ihn stets gebunden. Henry hatte ihn besser gekannt als jeder sonst. Er hatte gewusst, dass sein rebellischer Sohn am Ende dem gehorsamen weichen würde. Er wagte es nicht, seinem Vater Vorwürfe zu machen. Henry hatte ihn mehr als alle seine anderen Kinder geliebt, auch wenn es klüger gewesen wäre, kein Lieblingskind zu haben. Zweifellos hatten Sapientia, Theophanu und Ekkehard darunter gelitten, dass sie weniger erhalten hatten, auch wenn sie aufgrund ihrer Geburt und Rechtmäßigkeit mehr hätten haben müssen.
Während jeder Schritt ihn der Kirche und der königlichen Beerdigung näher brachte, fragte er sich, was aus Mathilda und Berengaria geworden war, seinen jüngsten Halbgeschwistern. War Adelheid tot, oder hatte sie auf nahezu unmögliche Weise irgendwie überlebt? Oh Gott. Was war aus Gnade geworden? Würde er es jemals erfahren? Die Menge schloss sich den Geistlichen an, machte den Soldaten und Hauptleuten, die ihn begleiteten, den Platz streitig, aber Fulk drängte sich mit Hathui zwischen ihnen hindurch. Hielt sie und sich in seiner Nähe. Bettler in den weißen Lumpen derjenigen, die das Trauern zum Beruf gemacht hatten, stimmten ein solches Geschrei und Gejammer an, dass er die süßen Lieder der Geistlichen nicht mehr hören konnte. Er sah nach vorn und kämpfte sich den Hügel zum Kloster hinauf, wo seine Tante, seine Schwester und seine edlen Kameraden vor dem breiten Portal der Kirche von Quedlingham warteten. Er wusste, wer sie waren: die Hunde, die nach seinen 161 Fersen schnappen würden, so wie Blutherz es ihm vor langer Zeit vorausgesagt hatte.
1 Spät in der Nacht, als die Trauernden und Höflinge längst gegangen waren, kniete Sanglant noch immer mitten in der Apsis auf dem kalten Steinboden der Kirche. Hin und wieder weinte er, oder er betete oder genoss einfach nur die Anwesenheit Gottes. Wieso lebte der eine Mensch - und ein anderer starb? Wieso ließen Gott Leiden zu? Wie war es möglich, dass die Boshaften erfolgreich und so verdammt hübsch waren und den Schutz ihrer mächtigen Verwandten genossen ? Aber genau wie sonst auch hatte er keine Antworten auf all diese Fragen. Er hörte die Tür knarren - und dann leise Schritte. Zuerst dachte er, es würde sich um die Wachablösung handeln, oder um Hauptmann Fulk, der nach ihm und Hathui sehen wollte, die zehn Schritt von ihm entfernt kniete. Theophanu kniete sich neben ihn. Ihre treue Kameradin Leoba begleitete sie, ließ sich ein kleines Stück vor dem Adler nieder und senkte den Kopf. Theophanu stellte einen Kerzenhalter mit einer brennenden Kerze auf den Boden. »Du betrauerst ihn lange«, sagte sie, und ihre Stimme klang so kühl wie immer.
161
X
Eine Nachtwache »Sollte ich das nicht?« Sie antwortete nicht, sondern legte den Kopf auf die gefalteten Hände und murmelte ein langes Gebet. Er schwieg, lauschte auf Gott, hörte aber nichts außer dem Wind, der seufzend durch die oberen Arkaden mit den Glocken strich. Schatten verhüllten die Seitenschiffe und die bemalte Decke. Selbst die Ornamente der Säulen wirkten in der Düsternis der Nacht farblos und grau. Hausten Gott in den Schatten genauso wie im Licht? »Dich hat er am meisten geliebt«, sagte sie plötzlich. »Ich weiß. Es tut mir leid für dich, Theo. Du hast es nicht verdient, von seiner Liebe weniger erhalten zu haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich daran gewöhnt.« Sie machte ihn nervös. Es war unmöglich zu wissen, was sie dachte. Deshalb trauten die Leute ihr nicht so recht. Eigentlich fehlte ihm jetzt die Geduld dazu, aber er hielt den Mund, wartete darauf, dass sie weitersprach. Sie sah ihn nicht an, richtete den Blick vielmehr auf den Sarg, der vor dem Altar stand. Das Banner von Wendar lag darüber. Die Messe war gehalten worden. Die Lobgesänge hatten Stunden gedauert. Bei Morgenanbruch würden Henrys Gebeine neben denen seiner geliebten Mutter, Königin Mathilda, in der Krypta zur letzten Ruhe gebettet werden. Nach einer Weile schob sie die Kerze zwei Fingerbreit nach rechts.
»Vergiss mich nicht, Sanglant. Unser Vater hat es getan, und ich war geduldig. Glaube nicht, dass ich bei dir genauso geduldig sein werde.« Manchmal tat sich in einer Schlacht eine Lücke auf, die man sofort nutzen musste, weil so eine Gelegenheit niemals wieder kommen würde. »Ich brauche dich jetzt dort, wo du Wendar am besten dienen kannst.« »Und wo ist das, Bruder?« »In Saony.«
162 »Als Regentin?« »Nein, als Rotrudis' Nachfolgerin. Als Herzogin aus eigenem Recht.« Da war sie, die winzige Lücke, nur erkennbar am leichten Heben ihres Kinns und einem Kräuseln um ihre Augen: Er hatte sie erheitert. »Das ist das Naheliegendste, Sanglant. Ihre Töchter sind Närrinnen, ihr Sohn eine brünftige Bestie. Wie könntest du mich, die dir den Thron unseres Vaters streitig machen könnte, auch besser beschwichtigen als dadurch, dass du mir ein Herzogtum anbietest?« »Du hast Saony in den letzten Jahren gut verwaltet.« »Das habe ich«, pflichtete sie ihm kühl bei. »Und daher ist es das Mindeste, was ich verdiene. Aber ich vermute, auch das Höchste, was ich zu erwarten habe.« »Ist das eine Warnung, oder bist du mit dem Herzogtum einverstanden?« Das schwache Licht enthüllte ganz unerwartet den Hauch eines Gefühls, als sie ihn mit aufgerissenen Augen ansah. Fast glaubte er, dass sie gleich kichern würde, aber sie tat es nicht. »Es würde mich reizen zuzusehen, wie Wichman es erhält, nur um zu erleben, wie die beiden Hexen sich vor Eifersucht gegenseitig zerfleischen.« Leoba unterdrückte ein Lachen. Er schnaubte. »Wichman ist nicht beherrscht und gelassen genug, um ein guter Verwalter zu sein. Saony ist das Herz Wendars und wird es immer bleiben.« »Aber was ist mit Sophie und Imma und Wichman? Du kannst sie nicht so einfach beiseiteschieben.« Er zuckte mit den Schultern. »Wichman wird wie immer Einwände erheben, aber er wird dein Recht auf den herzoglichen Thron oder mein Recht, ihn dir zu geben, nicht in Frage stellen. Was die anderen beiden betrifft - spielt es wirklich eine Rolle, was sie sagen, Theo?« »Sie werden zu Conrad laufen, um sich Unterstützung zu holen. Damit haben sie schon früher gedroht.«
162 »Sollen sie doch. Wie können die beiden Conrad helfen? Kannst du dir vorstellen, dass er ihr Gezänk und Gejammer erträgt?« »Wenn er dabei einen Vorteil für sich sieht, ja.« »Ein Fürst ohne Gefolge ist kein Fürst«, entgegnete Sanglant. »Sophie und Imma bringen ihm nichts.« »Nur die Möglichkeit - die Rechtfertigung -, sie auf den Platz zurückzubringen, von dem du sie vertrieben hast. Die Rechtfertigung, nach Wendar einzumarschieren.« »Ist Conrad tatsächlich so ehrgeizig?« »Ja. Er hat Tallia geheiratet. Sie hat sowohl einen Anspruch auf den Thron von Wendar wie auf den von Varre. Einen Anspruch, der mir so gewichtig wie deiner erscheint. Manche würden sogar sagen, noch gewichtiger.« »Ich kann schwachköpfige Narren und jammernde Feiglinge in mein Heer aufnehmen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich mit ihnen auch eine Schlacht gewinnen kann. Sollen Sophie und Imma doch zu Conrad laufen, wenn sie das wollen. Er kann sie gern behalten. Ich vermute, Wichman ist ein zu naher Verwandter, als dass die Kirche einer Heirat zwischen dir und ihm zustimmen würde.« »Wichman! Erspar mir das! Er ist ein Ungeheuer.«
Er war verblüfft über die Wut, die so unerwartet aus ihr herausbrach. »Es sollte nur ein Witz sein -« »Ich weiß. Aber du hast ohne es zu wissen etwas Wahres ausgesprochen. Die Kriege haben alle unsere Männer getötet, und die Übrigen sind verheiratet.« »Die Angelegenheit als solche ist sicherlich schwierig, aber es muss sich doch irgendwo ein Mann finden lassen, der deinen Bedürfnissen entspricht und von angemessener Geburt ist, so dass er als Ehemann taugt.« »Das ist ein ziemlich schwaches Versprechen«, bemerkte sie. »Eher ein Raunen als ein Ruf.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist ein realistisches Versprechen. Bist du einverstanden, Theophanu?«
163 Sie schwieg, presste die Lippen zusammen, senkte den Blick und schloss damit den Schleier wieder, der fast immer ihre Gefühle verbarg. Hinter dem Altar standen drei Lampen auf Dreibeinen und brannten gleichmäßig; eine in Gestalt eines Löwen, dem Flammen aus den Augen und der Mähne loderten; eine in Gestalt eines Adlers, bei dem das Feuer aus Löchern entlang der Flügel flackerte; die dritte in Gestalt eines Drachen, dessen Kopf zurückgeworfen war und dessen Rachen Feuer atmete. »Saony«, sagte sie, ließ das Wort langsam auf der Zunge zergehen. »Ja. Ich werde Herzogin von Saony sein. Das ist doch zumindest etwas.«
2 Liath wusste, dass Sanglant bis zur Morgendämmerung beten würde. Er hatte es ihr gesagt. Dennoch hatte sie nicht die Absicht, sich schlafen zu legen. Sie wollte nicht in das ferne Zelt zurückkehren, wo die Bäume die ganze Nacht knirschten und rauschten. Nicht einmal die Gesellschaft der Adler lockte sie. In dieser Nacht wollte Sanglant allein sein, während er für die Seele seines Vaters betete, und sie wollte sich nicht zu weit von ihm entfernen. Als sie die Kirche zusammen mit den Übrigen verließ, die aus gegebenem Anlass endlich einmal ein wenig leiser als sonst waren, stopfte sie sich zwei Kerzen in den Ärmel. Vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, sich so im Hintergrund zu halten, dass sie nicht bemerkt wurde. Geschmeidig glitt sie von einer Trauergruppe zur nächsten, bis sie am Abort vorbeikam und einen einsamen Pfad entdeckte, der zurück zum Gelände von Quedlingham führte. Sie erinnerte sich natürlich noch genau an den Grundriss der Anlage. Es war leicht, eine im Schatten liegende Stelle zu finden und dort eine Stunde oder länger zu warten, während die Leute zu Bett gingen und die Vorleser sich
163 zum nächtlichen Gebet in der Kapelle der Herrin einfanden. Als sie sicher war, dass sie allein war, entzündete sie eine Kerze - was nicht nötig gewesen wäre, wenn man wenigstens ein kleines Stück Mond gesehen hätte - und ging zur Bibliothek. Der Bibliothekssaal war so still wie das Hügelgrab, in dem sie Gnade zurückgelassen hatten. Nichts rührte sich. Schatten erfüllten die fernen Ecken, verbargen die Decke, verhüllten die aufgeräumten Lesenischen und die verschlossenen Schränke, die an den Wänden aufgestellt waren. Sie blieb beim Lesepult stehen und fuhr mit dem Finger über das Verzeichnis, während sie auf Geräusche aus der angrenzenden Schreibstube oder den Räumen hinter ihr lauschte, aber es war nichts zu hören. Das Verzeichnis war mit einem Schloss versehen, aber nicht abgeschlossen. Sie öffnete die Schnalle, drehte jede Seite um, während sie den Eintrag zu Isidora von Seviyas berühmter Etymologie suchte. In Isidoras enzyklopädischer Arbeit würde sie sicherlich etwas über die Tempestari finden. Das Buch ihres Vaters, das er im Laufe vieler Wanderjahre so sorgfältig zusammengestellt hatte, hatte kaum etwas über die Künste der Wetterwirker enthalten. Ihm war diese Zauberei zu unelegant gewesen - von drittklassigen Hexen und unwissenden Herdfrauen dilettantisch zusammengepantscht -, und er hatte sie verachtet. Stattdessen hatte er seine Aufmerksamkeit auf die Geheimnisse der Mathematiki und die Wissenschaften der Astronomie
und der Astrologie gerichtet. Allerdings war es sonderbar, dass er seine Tochter nach einer berühmten Wetterhexe benannt hatte, deren Macht er nicht im Geringsten verstanden hatte. Li'at'dano hatte keine unbedeutenden Beschwörungen gegen das Korn irgendeines Bauern gewoben, und sie hatte auch nicht auf einer Schneckenmuschel geblasen oder sich des Geschreis von Nachtschwärmern bedient, um einen Sturm zu vertreiben, der eine Hochzeit oder einen Festtag bedroht hätte. Sie war keine Fulgutara, die die Zukunft vorhersagte, indem sie die Blitzschläge zählte und den Klang und die Richtung des Donners bestimmte. Sie war etwas weit Mächtigeres und
164 Gefährlicheres. Anne hatte genug gelernt, um die Wolken dazu zu bringen, sich nach Norden zu bewegen, weg von den Steinkronen, so dass das Wetter ihren Zauberspruch nicht behindern konnte, und irgendein Abglanz dieses gewaltigen Spruches hatte immer noch Bestand, verhüllte die Sonne und ließ es auf der Erde kühl werden. Da. Der Eintrag verriet, in welchem Schrank sie die Etymologie finden würde. Sie wollte das Buch schon wieder schließen, als ihr Auge auf einen weiteren Eintrag fiel, dann auf einen dritten und noch weitere, als sie die Seite umblätterte. Das Pergament fühlte sich wunderbar an. Es stimmte sie froh zu sehen, dass jedes Buch, jede Rolle sauber und ordentlich aufgelistet und zugänglich war. So viel war im Laufe der Jahre zusammengekommen. Menschen hatten den Drang, herausfinden zu wollen, was sie nicht wussten. Sie stöberten in dunklen Geheimnissen herum und suchten nach Antworten und Erklärungen. Gott hatten die Menschheit neugierig gemacht, obwohl damit sowohl Gutes als auch Schlechtes verbunden war. Vielleicht war es das Geräusch gewesen, das sein Fuß auf dem Steinboden verursacht hatte. Vielleicht hatte der Wind, der kaum wahrnehmbar seufzend durch die Dachvorsprünge wehte, einen Herzschlag lang aufgehört. Vielleicht hatte er im falschen Augenblick eingeatmet, in der winzig kleinen Zeitspanne, in der sie unabsichtlich den Atem angehalten hatte. Vielleicht war es aber auch nur das Scharren einer hungrigen Maus gewesen, die keine Ahnung von den Gefahren hatte, die in der Bibliothek auf sie warteten. Sie war nicht allein in dem Saal, war nie allein gewesen. Er hatte die ganze Zeit in den Schatten gewartet. Sie blickte auf, und damit verriet sie sich. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte er. Sie zuckte zusammen. Sie hatte nach rechts gesehen, aber seine Stimme kam aus den Schatten links von ihr, wo sich die Eingänge zu den kleinen Räumen befanden, in denen die übrigen Bücher der Bibliothek in Wandschränken aufbewahrt wur
164 den. Sie hätte durch diesen Bogengang gehen und sich in seine Reichweite begeben können, ohne es zu wissen. Aber sie war immer in seiner Reichweite gewesen. Sie hatte ihn nie ganz abgeschüttelt. »Was suchst du?«, fragte er, und jetzt sah sie seine Umrisse vor dem Hintergrund der Wand. Er stand da und musterte sie. Wenn man überrascht wurde, war Ärger nicht die schlechteste Zuflucht. »Wo ist das Buch meines Vaters?«, fragte sie. »In Sicherheit.« Ich kann ihn vernichten. Ihr Herz schlug so heftig wie ein gegen Käfigstangen anrennendes wildes Tier. Sie musste tief in sein Inneres greifen und ihn verbrennen, bis er nichts weiter als Asche war, wie jene armen Soldaten, die sie getötet hatte, die geschrien und geschrien hatten, als die Qual sie von innen verzehrt hatte. »Nein. Dann lieber ein sauberer Tod«, sagte sie, hörte ihre Stimme zittern und wusste, dass er es als Furcht vor ihm deuten würde, auch wenn es Furcht vor ihr selbst war. Sie würde nicht zum Ungeheuer werden, nicht einmal dem gegenüber, der ihren Hass verdient hatte. »Es ist in Ordnung, dass du wütend auf mich bist«, sagte er mit seiner schönen Stimme. »Denn ich habe dir Unrecht getan.«
»Du hast mich missbraucht! Glaube nicht, du könntest mich jetzt umstimmen oder um Vergebung bitten.« »Du bist das Einzige, das eine Rolle spielt«, sagte er, und sie erkannte voller Entsetzen, dass das die Wahrheit war - seine Wahrheit. Manche Dinge waren wahr, ob man es wollte oder nicht. »Bisher war ich anderer Ansicht, aber ich habe Dinge gesehen, die ich nicht vergessen kann. Schreckliche Dinge. Ich bedauere, was ich in der Vergangenheit getan habe. Ich bitte dich, Liath, vergib mir.« »Ich bin keine Heilige.« »Nein, du bist Feuer!« Er machte eine Bewegung, lehnte sich
165 aber nur gegen einen Tisch, als wäre er sonst auf die Knie gesunken. »Kannst du es in diesem dunklen Raum nicht erkennen? Du stehst in Flammen.« Wie leicht es ihm fiel, sie zu verwirren. Dies war nicht der Kampf, mit dem sie gerechnet hatte. »Ich möchte Pas Buch«, sagte sie, während sie sich wieder auf die Waffen besann, die ihr zur Verfügung standen. »>Gott werden aus Gnade, was du bist.<« »Was?« Er versuchte nur, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen - als hätte er das nicht schon längst getan. Er straffte die Schultern. »Weißt du, was in Bernards Buch steht?« Nicht wütend werden. Keine lodernde Wut zulassen. Nicht die Bibliothek in Brand setzen! Sie holte tief Luft, ehe sie antwortete: »Ich weiß, was in Bernards Buch steht. Das, was er im Laufe vieler Jahre zusammengetragen hat - die ganzen Zitate und Ausschnitte, die sich um die Künste der Mathematiki drehen und die er abgeschrieben hat. Es befindet sich auch eine Abschrift von Al Haithans Über die Konfiguration der Welt darin, die Pa in Andalla erhalten hat.« »Und ein anderer Text.« »In einer Sprache, die ich nicht kenne, teilweise ins Arethusanische übersetzt, das ich ebenfalls nicht lesen kann.« »Ich kann Arethusanisch lesen. >Gott sind als Fleisch geboren, damit auch du als Geist geboren werden wirst.<« Sie hatte vieles erwartet, auch, dass sie Hugh eines Tages wiedersehen würde und sich an diesem Tag auf ihre Stärke besinnen müsste. Aber das erschütterte sie jetzt so sehr, dass sie zunächst keine Antwort fand. Er wartete, wie immer geduldig. »Das ist Ketzerei! Die Kirche hat den Glauben an die Erlösung verboten!« »Beim Großen Konzil von Addai. Aber was ist, wenn die Erlösung die Wahrheit ist? Wenn die heiligen Mütter gelogen haben?«
165 »Wieso hätten sie das tun sollen?« »Wer kann wissen, was in ihren Herzen war? Was ist, wenn der gesegnete Daisan zugelassen hat, dass er für die Auslöschung der Sünden der Menschheit gemartert wurde? Was ist, wenn der Bericht in Bernards Buch wahr ist und es sich um die Worte von St. Thekla, der Zeugin handelt? Ich habe nachgeforscht. Der Text, den dein Vater in diesem Buch verborgen hat, ist ein Bericht über die Erlösung des gesegneten Daisan, den Sohn Gottes. Es ist das Zeugnis von St.Thekla persönlich, von einer unbekannten Handschrift ins Arethusanische übersetzt - denn das Original ist in der Sprache von Sai's geschrieben, die vor langer Zeit gesprochen wurde. Auch vom gesegneten Daisan. Es war seine Muttersprache.« »Das ist unmöglich.« »Nicht unbedingt. Wo hat Bernard dieses Buch gefunden, und warum hat er es mit den anderen zusammengepackt?« »Ich weiß es nicht. Er hat nie darüber gesprochen. Er muss es im Osten gefunden haben. Es könnte eine Fälschung sein. Arethusa ist von Ketzerei durchsetzt.« »Das sagt die Dariyanische Kirche. Aber es könnte auch die Wahrheit sein. Hier.« Er trat vom Tisch zurück. »Sieh selbst.«
Sie konnte gar nicht anders, als die Kerze aufzunehmen und sich ihm zu nähern - und festzustellen, dass tatsächlich ein Buch auf dem Tisch lag. War es Pas altes, vertrautes, geliebtes Buch? Das Buch war das Einzige, was sie mit Pa verband, abgesehen von seiner Liebe und dem, was er sie gelehrt hatte, abgesehen von seinem Blut und seinem Verbrechen an dem Wesen, das ihre Mutter geworden war, die er unwissentlich und aus Liebe getötet hatte. Pas Buch. Sie blieb stehen, ehe sie in Reichweite eines Schwertes kam. »Was hast du vor?« »Es ist deins. Ich gebe es dir zurück.« Sie versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein heiseres »Ah« hervor. Sie kämpfte gegen Tränen an, gegen Wut, gegen
166 Trauer, gegen eine ganze Kaskade von Gefühlen, so dass er schon durch einen der Bogengänge davongeschritten und in den Schatten verschwunden war, ehe sie es richtig begriff. Sie schoss vor, überzeugt, dass auch das Buch verschwinden würde, dass es sich wie Nebel im Sonnenschein auflösen würde, aber als sie danach griff und es berührte, fühlte es sich fest an - und sie spürte, wie schrecklich lieb und teuer es ihr war. Sie konnte noch Pas Geruch wahrnehmen, obwohl sie wusste, dass der Duft nur eine Erinnerung war, die sie mit sich herumtrug. Sie nahm das Buch und wog es in der Hand. Metallschnallen hielten es zusammen. Der lederne Einband war vom Alter grau geworden, aber er war eingeölt und sorgfältig behandelt worden, und die Messingrosen auf den Metallschnallen waren poliert worden, so dass sie hell glänzten. Sie fuhr mit den Fingern über den Buchrücken, las dabei die eingravierten Buchstaben: Das Buch der Geheimnisse. Ein vers chleiernder Name, hatte Pa oft gesagt, um den wahren Namen des Buches zu verbergen. Sie drückte das Buch an ihre Brust und weinte.
3 Spät in der Nacht tauchte Ekkehard in der Kirche auf, schläfrig und mit zerzausten Haaren. Er trug lediglich eine schlichte Leinentunika über dem Hemd. Gähnend ließ er sich links neben Sanglant nieder. Zwei austranische Wachen warteten ein paar Augenblicke im Hintergrund, als wollten sie sich vergewissern, dass er nicht durch eine Seitentür davonrannte, bevor sie sich zum Portal der Kirche zurückzogen, um sich die Zeit mit Sanglants Soldaten zu vertreiben. »Woher kommst du?«, fragte Theophanu. »Aus dem Bett deiner Frau?« Ekkehard hatte eine Art, die Schultern zu krümmen, um
166 sein Unbehagen auszudrücken, die Sanglant schon immer verärgert hatte. Er zählte zu jenen voreiligen Menschen, die entweder blindlings drauflosstürmten oder einfach wegsahen und so taten, als gäbe es kein Problem. »Ich bitte dich, Theo«, sagte Sanglant. »Verspotte ihn nicht. Ehren wir das Andenken unseres Vaters in Frieden.« »Wenn Sapientia hier wäre, könnten wir wenigstens so gemütlich zusammen sein, wie Vater es sich immer gewünscht hatte«, sagte Theophanu. Sanglant lachte auf, überrascht über die scharfe Bemerkung. »So viel Verbitterung bin ich von dir gar nicht gewohnt, Theo.« »Vergib mir, Bruder. Ich habe mich vergessen.« »Du hast mich an die Austraner verkauft«, sagte Ekkehard plötzlich. »Als hättest du ein Pferd verkauft.« »Als Zuchthengst«, bemerkte Theophanu. »Das Einzige, wozu du taugst. Du hast Wendar verraten, indem du die Qumaner unterstützt hast. Du hast das Andenken deines Vaters respektlos behandelt, indem du Gent verlassen hast, das du als heiliger Verwalter hättest schützen sollen. Sanglant ist barmherzig gewesen. Dir gegenüber zumindest. Was Sapientia angeht, mag das vielleicht anders aussehen.«
»Sapientia hat mich in den Tod geschickt«, murmelte Ekkehard. »Es kümmert mich nicht, ob sie tot ist. Wie auch immer, Gerberga ist nicht so schlimm. Sie ist nicht wie ihre Mutter. Es ist besser, mit ihr verheiratet zu sein, als als Abt in Gent zu sitzen.« »Ich bin froh, dass du dich so in deine Ehe schickst«, sagte Sanglant trocken. »Da du ja keinerlei Mitspracherecht hattest. Wird Gerberga mich unterstützen?« »Ja.« Ekkehard kratzte sich den hellen Kinnbart und gähnte erneut. »Sie hat mich geschickt, damit ich dir das sage.« »Und um welchen Preis?«, fragte Theophanu. »Hat sie dir das nicht bereits gesagt?«, fragte Sanglant. »Du bist doch mit ihr von Osterburg hergeritten, oder nicht?« »Sie ist so schweigsam wie ihre Mutter, aber eine bessere
167 Kameradin. Ich mag sie sehr gern. Sie verwaltet Austra und Olsatia gut.« »Wieso hört ihr beide mir niemals zu?«, fragte Ekkehard. »Ich habe euch etwas mitzuteilen.« »Wieso ist Gerberga nicht selbst zu mir gekommen?«, fragte Sanglant. »Wieso schickt sie dich mitten in der Nacht?« »Weil wir uns hier ungestört unterhalten können, ohne dass es jemand bemerkt.« »Alle bemerken es«, sagte Sanglant. »Wie sonst wüsste Gerberga, dass ich hier bin?« »Ja, aber niemand ist überrascht, dass Henrys Kinder die ganze Nacht beten, um ihn zu betrauern. Er hat bei unserer Großmutter das Gleiche getan.« »Das stimmt«, sagte Theophanu. »Es überrascht mich, dass du nicht schon früher gekommen bist, Ekkehard. Es ist angemessen, dass ein Kind seinen geliebten Vater mit einer Nachtwache betrauert.« Ekkehard hatte noch keinen einzigen Blick auf den Sarg geworfen. Und - soweit Sanglant gesehen hatte - während der langen Messe und beim Vorlesen der Psalmen auch keine Tränen vergossen. »Wollt ihr es hören oder nicht?« »Ja. Was möchte Gerberga?« »Die Marklande von Westfall und Ostfall leiden, weil die Markgrafen in den Kriegen gestorben sind. Du musst neue ernennen, damit Ordnung einkehren kann. Sie möchte, dass du ihre Wünsche diesbezüglich beachtest, da sie geeignete Kandidaten im Sinn hat, aber sie wird jeden vernünftigen Edelmann aus guter Familie akzeptieren, der in Übereinstimmung mit ihr herrschen wird und bereit ist, Theucinda zu heiraten.« »Theucinda muss mittlerweile zwischen fünfzehn oder achtzehn Jahre alt sein.« »Sie ist nur wenig jünger als ich. Gerberga sagt auch dieses: Wenn Bertha lebt, könnte sie vielleicht Markgräfin von Ostfall werden, und du könntest Theucinda den neuen Markgrafen von Westfall heiraten lassen.«
167 »Oh!«, rief Theophanu mit ironischem Lächeln aus. »Dann fällt ein großes Gebiet in die Hände von Austra und seiner Abkömmlinge. Ich würde nicht dazu raten. Mach Wichman zum Herrscher von Ostfall und verheirate die arme Theucinda mit ihm! Er wird gegen die Barbaren kämpfen, die ortsansässigen Mädchen vergewaltigen und glücklich sein, auch wenn seine Frau das vielleicht nicht sein wird.« »Das ist nicht witzig!«, sagte Ekkehard heftig. »Wichman ist ein Ungeheuer! Theucinda hat es nicht verdient, zu einer Heirat mit jemandem wie ihm gezwungen zu werden!« Aha. Zum ersten Mal schwang in Ekkehards Stimme ein echtes Gefühl mit. »Wie viele Jahre ist Gerberga älter als du?«, fragte Sanglant. »Sie lässt dich vermutlich nie mit ihrer jüngeren Schwester allein.« »So etwas würde ich niemals tun!«, rief Ekkehard, doch seine Stimme verriet, dass er oft an das gedacht hatte, was er niemals tun würde. »Es ist nur ... sie ist ein drittes Kind - wie ich. Sie weiß, was es heißt ...« Er biss sich auf die Unterlippe und warf seinem Bruder und seiner Schwester einen Blick zu, schätzte ihre Reaktion ab. Wie alle Kinder Henrys war er ein gutaussehender junger
Mann, obwohl er noch besser hätte aussehen können, wenn er nicht ständig so mürrisch und verdrießlich dreingeblickt hätte. »... ein drittes Kind zu sein.« »Du bist ein viertes Kind«, sagte Theophanu. »Ein drittes, wenn man nur die rechtmäßigen zählt!«, entgegnete er. Trotz des schwachen Lichts konnte Sanglant sehen, dass die Wangen seines Bruders erröteten. Die Augen waren vor Verärgerung oder Unmut zusammengezogen; bei Ekkehard war es schwer, den Unterschied zu erkennen. »Vergiss nicht, dass dir Barmherzigkeit gewährt wurde, Ekkehard«, sagte Sanglant mit sanfter Stimme. »Du hast gegen deine eigenen Landsleute gekämpft.« »Wie du! Du bist gegen deinen eigenen Vater marschiert!
168 Einige sagen, du hättest ihn selbst getötet und würdest nun das Gegenteil behaupten.« Der verbale Hieb besaß keine Kraft, nicht für Sanglant. Daher war er völlig überrascht, als Theophanu Ekkehard eine so heftige Ohrfeige verpasste, dass dieser aufkeuchte und ihm Tränen in die Augen traten. Leoba schluckte einen Ausruf hinunter. »Ich werde nicht zulassen, dass hier gekämpft und so das Andenken unseres Vaters beschmutzt wird«, sagte Sanglant. »Hat Gerberga dich mit diesem Gift gefüttert?«, fragte Theophanu. »Wer hat das gesagt?« »Niemand.« Ekkehard wischte sich zitternd über die Augen. »Niemand. Gerberga glaubt es nicht. Sie hat es ihm gesagt. Sie sagte, nur ein Narr würde glauben, dass du Henry getötet hast. Außerdem würden Liutgard und Burchard dich nicht unterstützen, wenn du es getan hättest, und sie waren dabei und haben alles gesehen. Das mit dem Daemon ist wahr, ja?« »Es ist wahr«, sagte Sanglant und warf Hathui einen Blick zu, die zwar so aussah, als wäre sie tief ins Gebet versunken, aber zweifellos genau zuhörte. »Und da es wahr ist, frage ich mich, wieso die Markgräfin von Austra einen Mann bei sich aufnimmt, der Henry wirklich betrogen hat.« Ekkehard schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken. Während Sanglant darauf wartete, dass sein Bruder wieder sprach, begriff er, dass er ebenfalls zitterte, dass in ihm ein Hass steckte, von dem er nichts geahnt hatte. Blutherz war tot, und jede Macht, mit der er Sanglant noch verletzen konnte, ruhte in seinem eigenen Herzen, seinem eigenen Kopf. Natürlich hatte er auch andere Feinde, von denen einige sich noch nicht einmal deutlich erklärt hatten. Aber es gab nur einen einzigen Mann, den er wahrhaft hasste. »Das ist das andere, was sie will«, sagte Ekkehard mit zittriger Stimme. Er sah Theophanu an. Ihre Miene war kühl und verschlossen, zeigte nicht mehr die geringste Spur jener Wut, die so plötzlich in ihr aufgeflackert war.
168 »Das wer will?«, fragte Sanglant, der das Bild seines Feindes, dem Gott außergewöhnliche Schönheit verliehen hatten, nicht mehr aus dem Kopf bekam. Wieso waren die Boshaften erfolgreich, während die Unschuldigen litten? Wieso gestattete Gott, dass Schönheit in einem Bottich voller Gift gedieh? »Das Gerberga will«, antwortete Ekkehard gereizt. »Als Gegenleistung dafür, dass sie deinen Anspruch auf den Thron und die Krone von Wendar unterstützt.« »Natürlich. Ostfall und Westfall müssen in diesen Zeiten starke Markgrafen haben. Ich stimme dem zu, und ich sehe keinen Grund, weshalb Edelfrau Theucinda nicht einen würdigen Mann heiraten sollte, einen jüngeren Sohn vielleicht, der noch keiner anderen Frau als Ehemann versprochen wurde.« »Oder in Henrys Kriegen getötet wurde!« »Genug, Theo! Worum geht es bei der zweiten Bitte, Ekkehard?« Ekkehard lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. »Um etwas, das Gerberga sich sehr wünscht, das sie aber nicht haben kann, weil sie ihrer Mutter ein Versprechen gegeben hat, als sie zu Judiths Erbin ernannt wurde. Sie kann nicht einem Versprechen zuwiderhandeln, das sie ihrer Mutter gegeben hat, wie du sicher verstehen wirst.« »Das verstehe ich. Was will sie?«
Durch die geöffneten Türen fiel graues Licht, das die Morgendämmerung ankündigte. Vögel gurrten, ein Tier krabbelte in den Dachsparren herum. Dann war es wieder still. Sogar die Wachen hatten aufgehört, sich mit gedämpften Stimmen zu unterhalten. »Sie will Hugh loswerden«, flüsterte Ekkehard. »Sie hasst ihn, aber sie hat ihrer Mutter versprochen, ihm niemals Schaden zuzufügen - ganz gleich, was auch geschehen mag - und ihm Obdach zu gewähren, wenn er darum bittet. Markgräfin Judith hat ihn am meisten von allen geliebt. So wie unser Vater dich am meisten geliebt hat, das uneheliche Kind, das es am wenigsten verdient hat.« 37* Ein Schwärm Tauben löste sich von der Arkade, flog in den dämmerigen Himmel davon. Das Geräusch verklang rasch, als die Vögel der Stadt zustrebten und jenseits der Mauern verschwanden. Sanglants Sinne waren so angespannt, dass er geradezu sehen konnte, wie sie über die Felder flogen. Er hatte das Gefühl, als könnte er sogar hören, wie ihre Flügel die Luft peitschten, während sie immer weiter Richtung Süden flogen, zu dem unberührten Wald, in dem wilde Tiere hausten und Gesetzlose sich vor der Gerechtigkeit verbargen. Theophanu drückte seine Hand. »Sei vorsichtig. Hugh ist der Gefährlichste von allen.« Eine angenehme, bösartige Wärme erfüllte Sanglant. »>Und kein Wesen, sei es männlich oder weiblich, ist in der Lage, ihn tödlich zu verwundene Bin ich nicht derart verflucht worden? Hugh kann mich nicht töten.« »Schon möglich«, sagte Theophanu. »Aber er kann deine Verwandten treffen. Deinen Adler. Deine Frau.« Als wären ihre Worte eine Beschwörung gewesen, tauchte ein Schatten an der Tür auf, eingerahmt vom fahlen Licht der Morgendämmerung. Hathui war bereits auf den Beinen. »Liath!« Er ging auf sie zu, aber als er sah, was sie in der Hand trug, blieb er stehen, obwohl er das Hauptschiff noch nicht einmal zur Hälfte durchschritten hatte. Die Erinnerung traf ihn mit voller Wucht. Sie drückte ihm das Bündel in die Hände. »Pass für mich darauf auf, ich bitte dich«, flüsterte sie, bevor sie davonritt, um die Nachricht des Königs nach Weresham zu bringen, zu Ekkehard und der Königlichen Schule. Vor vielen fahren. Das Buch war der Talisman gewesen, der ihn mit ihr verbunden hatte - in jenen Tagen, als er an nichts anderes gedacht hatte als an sie. Nur die Erinnerung an sie hatte verhindert, dass er in jener Zeit als Blutherz' Gefangener in Gent wahnsinnig geworden war. Wegen des Buches war sie zu ihm zurückgekehrt. Er hatte es für sie aufbewahrt, und sie hatte ihn geheiratet, weil sie ihm vertraute, ihm allein.
169 Sie drückte es ihm in die Hände. »Sieh nur, Sanglant! Berühre es! Schau es an! Es ist Pas Buch.« »Wo hast du es her?«, fragte er heiser, und die Verärgerung in seiner Stimme ließ sogar Theophanu geräuschvoll einatmen. »Hugh hatte es. Hast du Hugh gesehen?« Ihre Miene war verwirrt, aber nicht verängstigt. Sie hätte verängstigt sein müssen, und wütend! »Nicht richtig. Er hat mir das Buch gegeben.« »Hat er mit dir gesprochen?« Sie zögerte, als sie sah, wie Theophanu und Ekkehard beim Klang seiner Stimme zusammenzuckten. Sie bemerkte Hathui, aber es gab keinerlei Hinweis darauf, dass sie begriff, in welcher Gefahr der Adler sich befand. »Ich muss mit deiner Tante sprechen, Sanglant.« »Hat er dir Schaden zugefügt?« »Mir? Er kann mir keinen Schaden zufügen. Ich hätte ihn getötet, wenn er versucht hätte, mich zu berühren.« Aber Hugh hatte sie berührt, irgendwie. Ihr Kopf war voll von ihm, oder von dem, was er gesagt hatte - von Worten, die sie nicht einmal ihrem geliebten Ehemann gegenüber wiederholen würde, der in diesem Augenblick das Gefühl hatte, als müsste er sich vor Eifersucht selbst blutig schlagen. »Wenn er dir das Buch zurückgegeben hat, dann nur, weil er einen Plan verfolgt.«
»Vielleicht hat er es abgeschrieben. Schließlich hatte er es lange genug. Ich hätte es getan.« Sie sprach die Worte geistesabwesend, hörte nicht richtig zu. Er wusste, wie es war, wenn sie sich von der Welt entfernte, sobald ihr Geist sich drehte und wendete, gefangen in den Rädern des Himmels und den Geheimnissen des Kosmos. »Er will etwas von dir, und er glaubt, er könnte es bekommen, indem er dich auf diese Weise entwaffnet.« »Er hat mich nicht entwaffnet!«, erwiderte sie. Dann runzelte sie die Stirn. »Nun ja. Es stimmt, er hat mich überrascht.« 170 »Zweifellos hofft er, dass wir uns jetzt deshalb streiten. Zwietracht säen, Zweifel pflanzen, die Ernte einholen. Ich vermute, er ist geschickter geworden.« Die Bemerkung brachte sie auf die Erde zurück, und jetzt sah sie ihn. Sie lehnte sich gegen ihn, ohne die Blicke von Theophanu und Ekkehard zu beachten, und mit dem Buch zwischen ihnen sah sie ihn mit einem so strahlenden Lächeln an, dass er ganz benommen wurde. »Ebenso wie du?«, fragte sie. Er lachte. »So leicht bin ich zu entwaffnen!« »Ich bitte dich, Sanglant«, sagte Theophanu. »Wenn du nicht willst, dass die Leute sagen, sie hätte dich mit einem Zauber umgarnt, solltest du dich in der Öffentlichkeit nicht wie ein verliebter Narr aufführen. Sogar dein Vater hat diese Frau einmal gebeten, seine Konkubine zu werden.« Ekkehard starrte ihn mit offenem Mund und aufgerissenen Augen an. »Ivar aus der Nordmark war ebenfalls in sie verliebt«, murmelte er. »Sie ist in Autun als Zauberin verurteilt worden, bei der Verhandlung über Hugh von Austra, erinnerst du dich nicht? Sie ist zur Malefica erklärt worden. Constanze und ein Rat aus Bischöfinnen und Presbytern haben sie exkommuniziert! Henry hat keine Einwände erhoben!« »Ich war nicht da«, erwiderte Sanglant. »Sonst wäre so etwas nicht passiert.« Liath löste sich von ihm, ließ das Buch aber in seinen Händen. »Es ist wahr, was sie sagen. Alles.« »Streiten wir nicht wieder darüber, Liath. Du bist meine Frau und wirst meine Königin sein.« »Ich bitte Euch, Majestät«, sagte Hathui. »Hört Ihr?« Schritte erklangen vor dem Portal, als mit der Morgendämmerung Nonnen und Mönche und Geistliche zur Morgenandacht kamen. Mutter Scholastika führte sie an, begleitet von den großen Edelleuten des Reiches: Herzogin Liutgard, Herzog Burchard mit seinem Stock, Markgräfin Gerberga, Markgräfin Waltharia, die Kinder von Herzogin Rotrudis, die vier Bischöfinnen, drei Äbte und viele weitere. Hugh war nicht dabei. 170 Am Tag zuvor hatte die Gemeinschaft die Messe gesungen, während unten in der Krypta ein Platz neben Königin Mathilda vorbereitet worden war. An diesem Morgen würde Henry zur Ruhe gebettet werden, und das Leben würde weitergehen. »Sanglant«, sagte seine Tante, als sie vor ihm stehen blieb. Er küsste ihren Ring. Sie wandte sich an seine Geschwister. »Theophanu. Ekkehard.« Sie küssten den Ring ebenfalls, während die Geistlichen mit gesenkten Köpfen und gefalteten Händen in die Seitenschiffe strömten. »Es gibt noch vieles zu besprechen«, sagte Mutter Scholastika. Sie sah Liath an, gab allerdings mit nichts zu erkennen, dass sie sie bemerkte. »Aber das muss warten. Wer wird Henrys Gebeine in die Krypta tragen?« »Die großen Fürsten«, antwortete Sanglant. »Wie es sich gehört.« Er trat zur Seite, um Mutter Scholastika die Möglichkeit zu geben, in die Apsis zu gelangen und zum Altar zu gehen. Hathui zog sich in den Schutz von Fulk und seinen Soldaten zurück. Die bedeutenden Fürsten versammelten sich hinter Sanglant, der auf der untersten Altarstufe niederkniete, Theophanu zu seiner Rechten und Ekkehard zu seiner Linken. Sie schwiegen, als Mutter Scholastika beide Hände hob und die Geistlichen die Morgenandacht sangen. »Beten und preisen wir Gott, die ewig sind.« Sanglant konnte seine Gedanken nicht dauerhaft auf die Psalmen richten, die wie Boote an ihm vorbeiströmten, unterwegs auf einem Fluss in Richtung des ewigen Meeres, das Gott ist.
Erinnerungen an seinen Vater kamen ihm in den Sinn und entschwanden wieder: wie er ihn zum ersten Mal auf ein Pferd gesetzt hatte, wie er ihm die ersten Waffen gegeben hatte, wie er ihm die Namen der Vögel beigebracht hatte, ihn wie ein Drache gerüstet in seine erste Schlacht geschickt hatte, wie er ihm nüchtern erklärt hatte, wieso er Waltharia nicht heiraten konnte, wie sie beim Honigwein gelacht hatten, wie er Wulf-here verstoßen und des Hofes verwiesen hatte, wie er über sei 171 ne verletzte Stimme geweint hatte, wie er verlangt hatte, dass er seinen Platz als Erbe annahm. Henry hatte oft gesagt, dass es für einen Herrscher notwendig war, für das, was er haben wollte, etwas zu geben; er hatte Sanglant alles gegeben, und am Ende hatte er alles bekommen, was er sich gewünscht hatte, obwohl er gestorben war, um es zu erhalten. Sein Reich lag in Trümmern, aber Wendar war nicht gefallen. Sein Sohn würde nicht zulassen, dass das geschah. Während die anderen aufstanden, begriff Sanglant, dass er noch immer das Buch in der Hand hielt. Er gab es Liath, sorgte dafür, dass alle es sahen und sich wunderten. Auch das würde seine Tante bemerken und später darüber sprechen. Gemeinsam mit seinen Geschwistern und Verwandten hob er den Sarg auf, und während Weihrauchschwaden um sie herumzogen und die Geräusche ihrer Schritte im gleichmäßigen Beten der Geistlichen untergingen, trugen sie den Sarg die Steinstufen in die Krypta hinunter. Hier unten hatten die Knochen seiner Drachen gelegen, waren so lange verwest, bis sie geglänzt hatten. Nein. Er schüttelte den Kopf, streifte die Erinnerung ab. Das war in Gent gewesen, und hier war Quedlingham. Die Last, die er trug, war die seines geliebten Vaters, nicht die seiner treuen Drachen. Aber auch sie waren allesamt gestorben, denn sie waren nicht durch den Fluch geschützt gewesen, der ihn am Ende vor einem Tod bewahrt hatte, der andere ereilen konnte, ihn selbst jedoch nicht. Lampen erhellten das offene Grab, in das sie den Sarg ließen, zusammen mit einem Glasfläschchen voller Weihwasser, der sorgfältig gefalteten, aber noch immer blutverschmierten Kleidung, in der Henry gestorben war, und einem getrockneten Strauß aus roten Heckenrosen, die Henrys Lieblingsblumen gewesen waren. In Mutter Scholastikas berühmtem Rosengarten blühten zurzeit keine Heckenrosen, daher hatten sie im Herbarium nach einem geeigneten Ersatz gesucht. Später würde ein Monument aus Stein gemeißelt und die marmorne To
171 tenbahre damit bedeckt werden, doch jetzt wurde nur eine Platte aus Zedernholz darübergeschoben, die mit Schnitzereien aus sich windendem Bärenklau und stilisierten Heckenrosen verziert war. Ein raues, scharrendes Geräusch erklang, als würde auch der Stein trauern. Weitere Gebete folgten, und dann wurden die Lampen eine nach der anderen gelöscht. Bevor die letzte Lampe ausging, merkte er sich - für den Fall, dass es Ärger geben sollte -, wo Hathui nicht weit von ihm entfernt stand. Eine ganze Weile atmeten sie schweigend in der Stille der Krypta. Sanglants Hände ruhten auf der Platte, aber sie war kalt und tot. Wie tief konnte Feuer in Marmor glimmen? Konnte Liaths gefährliche Gabe dieses tote Grab in Flammen aufgehen lassen? Er erschauerte einen Augenblick, spürte Angst vor ihr, die jeden hier töten und dann auch noch die gesamte Stadt um ihre Leichen herum niederbrennen könnte, wenn es ihr gefiel. Wenn sie wütend genug war. Wenn sie boshaft genug war und den Lügen des Feindes lauschte. In der Dunkelheit krochen Zweifel in ein jedes Herz. »Genug«, sagte er mit rauer Stimme und rückte dabei vom Grab ab. Jemand im hinteren Teil der Menge entzündete einen Docht. Er hoffte, dass das Feuer natürlichen Ursprungs und nicht durch Liaths Zauberei entstanden war, aber niemand murmelte überrascht oder machte ein Zeichen gegen den Feind. Er sah die Gesichter seiner Kameraden, die um ihn herumstanden. Liutgard von Fesse runzelte die Stirn und blickte nachdenklich drein; tiefe Linien zogen sich um ihren Mund, und er vermutete, dass sie an ihre Töchter dachte. Burchard von Avaria hatte die Augen geschlossen, während Waltharia Sanglant erwartungsvoll ansah. Theophanu wirkte, als wäre sie aus dem gleichen Marmor gemeißelt wie die Bildnisse um sie
herum, und Ekkehard blickte gelangweilt drein. Gerberga musterte Sanglant auf die gleiche Weise wie Waltharia, und als sie seinem Blick begegnete, nickte sie, um zu zeigen, dass sie die Antwort 172 von Ekkehard erhalten hatte. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, doch es fehlten die grausamen Linien um die Lippen, die Judiths wahren Charakter verraten hatten: dass jedes Geschöpf in ihrem Machtbereich genau das tun musste, was sie wünschte -oder wegen Ungehorsams hart bestraft wurde. Aber Henry hatte oft betont, dass Judith eine gute Verwalterin für Austra und Olsatia gewesen war; denjenigen, die ihr gehorcht hatten, war Wohlstand vergönnt gewesen. Wichman kratzte sich am Nacken und beäugte Leoba, die sich dicht an Theophanu und damit den Schutz, den sie bot, schmiegte. Wichmans Schwestern Imma und Sophie sprachen leise miteinander, aber das unerwartet aufflackernde Licht enthüllte ihre kleine Verschwörung. Die Kirchenleute standen als geschlossene Gruppe hinter seiner beeindruckenden Tante. Hathui nickte, als sie seinen musternden Blick bemerkte. Liath stand leicht links hinter ihm. Er konnte sie spüren, aber nicht sehen. Es war, als wollte sie nicht gesehen werden. »Neffe«, sagte Mutter Scholastika. »Hilf mir bitte.« Sie benötigte seine Hilfe nicht, um die Stufen hinaufzugehen, aber sie wollte der Versammlung zeigen, dass zwischen ihnen Einvernehmen herrschte. Sie blieben für die kurze Andacht der Terz in der Kirche, und als die Geistlichen gegangen waren, um sich ihren klösterlichen Pflichten zu widmen, zog er sich mit seiner Tante und den vertrautesten Kameraden und Verwandten - nicht mehr als etwa zwölf Personen - in Mutter Scholastikas Studierzimmer zurück. Sie ließ sich auf ihrem Stuhl nieder. Für Sanglant wurde der Reisestuhl aufgestellt, der königliche Sitz, der nach Aosta und zurück getragen worden war, und für die anderen gab es Bänke. Er war nur der Erste unter vielen, der Erste unter Gleichrangigen. Aber während sich alle setzten, blieb Liath hinter ihm stehen. Sie hielt immer noch das Buch in der Hand, und eine Ecke drückte sich in seinen Rücken. Hathui hatte an der Tür Position bezogen. Fulk und die übrigen Mitglieder der Leibgarde warteten draußen; sie bewachten die Eingänge. 37» Mutter Scholastika nahm eine Eulenfeder vom Schreibtisch, deren Spitze so bearbeitet worden war, dass sie als Schreibfeder dienen konnte. Sie trug ein schlichtes Gewand, das dennoch kostbar wirkte, weil es sorgfältig gefärbt und sehr fein gewoben war. An ihrem Hals schimmerte der Goldreif, das Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Königsfamilie, und außerdem hing dort an einer Goldkette der goldene Kreis der Einheit, der ihren Status als heilige Äbtissin kennzeichnete. Sie trug nur zwei Goldringe, brauchte keine größeren Schätze, um ihren hohen Rang als Tochter eines Herrschers und Gottes heilige Dienerin zu unterstreichen - die Hirtin des heiligsten und wichtigsten Klosters, das das wendische Königshaus gegründet und gestiftet hatte. Sie herrschte über so viele Besitztümer und weit verstreute Landgüter, dass man sagen konnte, halb Saony befand sich unter ihrer Herrschaft. »Also schön, Neffe«, sagte sie. »Du hast die Unterstützung, die du dir wünschst. Niemand hier wird sich gegen dich und dein Heer aussprechen. Du hast Henrys Gebeine zur Beerdigung nach Hause gebracht, was die Tat eines gehorsamen Sohnes ist, und vielleicht auch die eines rechtmäßigen Herrschers, der Gott und seinem König aufrichtig gedient hat. In drei Tagen werde ich dich salben. Dann wirst du deine königliche Rundreise durch Saony, Fesse und Avaria beginnen, damit die Edelleute, Geistlichen und das gewöhnliche Volk sehen können, dass wieder Ordnung in unser Land eingekehrt ist.« Er sagte nichts. Sie hatte noch nicht angegriffen. Er wartete auf den ersten Schlag. »Es gibt verlässliche Berichte, nach denen du deine Zeugungsfähigkeit mindestens zweimal bewiesen hast«, fuhr sie fort. »Obwohl wir wissen, dass das eine Kind gestorben ist und das andere vermutlich ebenfalls.« Das Buch in seinem Rücken verlagerte sich, so dass eine Ecke schmerzhaft gegen seine Schulter drückte. Er war sich nicht sicher, ob Liath nur verblüfft war oder ob sie es mit Absicht getan hatte. Zweimal. Er sah Waltharia nicht an.
173 »Und doch muss es Erben geben. Bei den Wendanern können nur jene Herrscher werden, die den Goldreif tragen.« Sie berührte den Reif an ihrem Hals. »Du trägst zwar den Goldreif, aber bisher hat noch kein uneheliches Kind die Herrschaft angestrebt. Viele erheben Einwände, dass ein uneheliches Kind keinen Anspruch auf den Thron hat. Unsere Gebräuche sprechen für sie. Aber ich habe in den letzten zwei Tagen verschiedene geschichtliche Werke studiert. Es gibt die Möglichkeit, dass du ermächtigt wirst zu herrschen, sofern du ein rechtmäßig geborenes Kind von einem deiner Geschwister zu deinem Erben ernennst.« Markgräfin Gerberga lächelte und warf ihrem jungen Ehemann einen Blick zu. »Ich habe keinen Ehemann«, sagte Theophanu. »Und Sapientia ist verschollen.« »Sapientia hat ein Kind«, sagte Gerberga. »Hippolyta. Ein Mädchen von inzwischen sechs oder sieben Jahren.« »Und mit Euch verwandt«, sagte Waltharia mit einem scharfen Lächeln. »Hippolyta ist ungeeignet«, sagte Mutter Scholastika. »Sie ist ein uneheliches Kind - genau wie Sanglant - und aus einem anderen Grund geboren. Sie wurde in einem Kloster untergebracht und wird dort bleiben. Verfolgt diese Möglichkeit bitte nicht weiter. Und was dich betrifft, Theophanu - Ehemänner lassen sich finden.« »So sagt man mir, aber ich habe bisher noch keinen Beweis dafür gesehen.« »Henrys Kinder sind nicht die einzigen, die von der königlichen Linie abstammen«, sagte Liutgard. »Ich habe noch eine Tochter. Ermengard ist ein eheliches Kind.« Scholastika nickte. »Darüber könnte man nachdenken. Es gibt eine andere Möglichkeit: Dass Sanglant eine Edelfrau heiratet, deren Rang und Herkunft diesem Hof Glanz und seiner Königsherrschaft Unterstützung bringt. Waltharia von Villam zum Beispiel.«
173 »Unmöglich«, sagte Gerberga. »Eine solche Verbindung würde den Villams zu viel Macht geben. Aber ich habe eine jüngere Schwester, noch unverheiratet, die von ihrem Rang und ihrer Herkunft sowohl mütterlicher- wie auch väterlicherseits her geeignet wäre.« »Ich würde dann den gleichen Einwand erheben«, sagte Waltharia. »Aber seid versichert, Gerberga, dass ich Sanglant nicht heiraten will.« »Ich würde beiden Verbindungen widersprechen«, erklärte Liutgard. »Ich bin bereits verheiratet«, sagte Sanglant, den dies alles ermüdete. Sie waren wie Hunde, die knurrend einen frischen Kadaver umkreisten. »Wenn du sie verlassen musst, um den Thron zu bekommen, nehme ich sie freudig in mein Bett«, sagte Wichman. Liath hustete, und irgendjemand im Zimmer kicherte. »War nur ein Witz«, sagte Wichman rasch. Er klang seltsam beunruhigt. Waltharia, deren Gesicht Sanglant sehen konnte, stand kurz davor zu lachen. »Ich bin bereits verheiratet«, wiederholte er. Seine Tante war noch nicht fertig. »Verheiratet gemäß dem alten Brauch des Teilens des Bettes, eine Verbindung, die nicht einmal von einer einfachen Diakonissin gesegnet wurde. Verheiratet mit einer Frau, die in eine Familie hineingeboren wurde, deren größter Ehrgeiz darin bestanden hat, einen Sohn bei den Drachen unterzubringen. Sie bringt nichts mit - keine vortrefflichen Beziehungen, keine Schätze, keine Mitgift, keine Ländereien -« »Sie -« »Ich bin noch nicht fertig, Neffe! Und sie ist exkommuniziert. Sie kann nicht Königin werden. Falls doch, wird ganz Wendar unter einen Kirchenbann geraten.« Die Bischöfinnen nickten. Scholastika hatte ihre Verbündeten sorgfältig aufgestellt.
173 »Ist es das, was du wünschst, Sanglant?«, fragte Henrys Halbschwester, Bischöfin Alberada. »Dass keine Messe gesungen wird? Dass keine Seele mehr in geweihtem Boden beerdigt wird? Alles nur wegen einer einzigen Frau?«
»Wer wird diesen Kirchenbann erzwingen?«, fragte Sanglant. Er wusste, dass seine Beherrschung nachließ und er leichtsinnig vorpreschte. »Die Skopos ist tot.« Scholastika legte die Eulenfeder auf den Tisch und faltete die Hände. Sie entspannte sich, wie er sah, denn sie glaubte bereits gewonnen zu haben. »Die Skopos ist niemals tot. St. Thekla lebt in jeder Skopos. Gott herrschen noch, Sanglant, oder hast du das vergessen? Es stimmt, dass ich hier Äbtissin bin, weil dein Großvater Arnulf der Jüngere mir dieses Amt gewährt hat, wie es meiner Abstammung entsprach. Diese guten Äbte führen ihre Häuser wegen ihrer guten Namen und ihrer Rechtschaffenheit. Aber jede dieser heiligen Bischof innen erhielt ihren Mantel mit dem Segen der Skopos in Darre. Sie sind ihre Stellvertreterinnen hier im Norden, und es gibt andere, die noch nicht die Zeit oder Gelegenheit hatten, sich mit dir zu treffen. Wir - wir alle -werden den Kirchenbann erzwingen, wenn du uns nicht gehorchst.« Er kochte innerlich, aber es fehlte ihm an den nötigen Waffen und an Mitstreitern, und wenn es auch zweifellos gut war, mit Liath zusammenzuleben und mit seinem Heer zu reiten und dabei nicht an die weit zurückliegende Exkommunizierung zu denken, die vor Jahren in Autun stattgefunden hatte, war es doch etwas ganz anderes, das gesamte Reich in eine geistige Verbannung zu zwingen. »Die Anschuldigungen und das Urteil waren ungerecht«, sagte er schließlich. »Sie ist unschuldig.« »Die Exkommunizierung ist gültig, bis sie aufgehoben wird.« »Dann hebt sie auf!« Sie musterten ihn. Eine Äbtissin, vier Bischöfinnen und drei
174 Äbte, die deutlich älter waren als er und in den höfischen Intrigen nur zu bewandert, waren eine entmutigende Macht. Und wie Mutter Scholastika so freundlich erklärt hatte, waren dies nur diejenigen, die rechtzeitig eingetroffen waren. Mehr würden kommen, und es stand zu erwarten, dass sie sich Mutter Scholastikas Autorität beugen würden und nicht seiner. »Es gibt noch eine zweite, größere Einwendung, die uns kürzlich vorgetragen wurde«, sprach Mutter Scholastika weiter. »Sie ist auch der Ketzerei angeklagt. Es heißt, dass sie geheime Texte besitzt, in denen die übelste Ketzerei über das Opfer und die Erlösung steht. Gerade jetzt kämpft die Kirche gegen die Anhänger des Feindes, die das Land und die Städte mit ihrem Geflüster verderben. Wir haben uns lange gefragt, wie die Pest der Ketzerei in unser Land gekommen ist. Und nun gibt es Hinweise, dass diese Frau ein Buch besitzt, ein Machwerk aus dem Osten, das die Quelle des Übels ist. Dies ist ein ernstzunehmender Vorwurf, wie du dir denken kannst.« »Hugh«, murmelte Liath. Sie bewegte das Buch, nicht um es zu verstecken, sondern um es gegen seinen Rücken zu pressen, für den Fall, dass irgendjemand versuchen sollte, es ihr wegzunehmen. »Wer hat so etwas gesagt?«, wollte Sanglant wissen. »Er soll vortreten und diese Vorwürfe öffentlich vorbringen. Der Feind benutzt Gerüchte, die in der Dunkelheit gesprochen werden, um Zweifel zu säen. Ich glaube, dass solche Angelegenheiten im Licht untersucht werden müssen.« Er zweifelte nicht daran, dass er Hughs Glaubwürdigkeit erschüttern konnte, aber er hatte seinen größten Fehler bereits begangen. Er begriff es erst, als Liath ohne jede Förmlichkeit oder ein anderes Zeichen des Respekts vor dem Rang und der Vorherrschaft der heiligen Äbtissin zu Mutter Scholastika an den Tisch trat. Sorge zuallererst dafür, dass jeder Befehlshaber seinen Teil in dem Plan kennt.
174 »Liath«, sagte er, um sie davon abzuhalten, aber sie legte das Buch bereits auf den Tisch und öffnete es. »Hier«, sagte sie auf die für sie so typische aufreizende Weise, vollkommen blind für das Loch, das sich zu ihren Füßen auftat, während sie zum Himmel hinaufstarrte. »Genau diese Frage wollte ich Euch stellen, Mutter Scholastika. Dieses Buch habe ich von meinem Vater geerbt, aber ich kann kein Arethusanisch. Ihr seht, dass die alte Sprache von Sais von einer zweiten Hand ins Arethusanische übersetzt worden ist.«
Die Bischöfinnen und Äbte rückten näher. Alberada kniff die Augen zusammen; Suplicia von Gent riss sie auf. Andere zogen Grimassen, und ein alter Kirchenmann presste die Lippen so fest zusammen, dass sich Falten an seinem glattrasierten Kinn bildeten. Scholastika öffnete ihre Hände, die sich plötzlich und schmerzhaft verkrampft hatten, und berührte das uralte Pergament, als würde es von Ungeziefer wimmeln. »>Krypte!<«, sagte sie im Ton einer Frau, die andere in den Abgrund verdammte, weil sie ungehorsam gewesen waren. »Verbergt es!<« Sie fuhr mit dem Finger die Worte nach, übersetzte langsam. Wie alle Kirchenleute ihrer Generation hatte sie bei Königin Sophia und ihrem fremdländischen Gefolge Arethusanisch gelernt. »Viele um uns haben sich erfüllt ... die geheimnisvollen Zeichen und Omen, all das, was von den Himmeln kommt. Ich verfasse für Euch einen ordentlichen Bericht, höchst vorzüglicher Theophilus, damit Ihr die Wahrheit hinsichtlich dieser Sache erfahrt, in die Ihr mündlich eingewiesen worden seid.<« »Wer ist Theophilus?«, fragte Liath. »Still!« Scholastika drehte die Seite um, suchte zwischen den Buchstaben, die keinerlei Bedeutung für Sanglant hatten. Einige davon konnte sie lesen, andere überflog sie. Er konnte den Unterschied nicht erkennen. »>Gott ist im Fleisch geboren ...< Das ist die Ketzerei von der Doppelnatur!« Ihr blasses Gesicht färbte sich rot, als sie eine weitere Seite umblätterte,
175 und dann noch eine. Niemand sprach oder rührte sich, abgesehen von Bischöfin Alberada, die sich erschauernd über die Stirn wischte. »>Dann kam der heilige Daisan vor das Gericht von Kaiserin Thaissania, Die-Mit-Der-Maske. Und als er nicht vor ihr niederknien wollte, sondern die Wahrheit über die Mutter des Lebens und den Göttlichen Logos, die Heilige Botschaft, sprach, verurteilte sie ihn zum Tode. Er nahm ihn freudig an, begrüßte die Verheißung der Kammer des Lichts. Aber seine Schüler weinten bitterlich. So wurde er weggeschafft und dem Messer übergeben, und das Herz wurde ihm aus der Brust geschnitten ...<« Ihre abgehackte, kühle Stimme wurde bei diesen Worten noch um einiges kühler, während sie gleichzeitig Sanglant -der vollkommen starr dasaß - einen verblüffend glühenden Blick zuwarf. Er wusste nicht, was er tun sollte, war vollkommen verloren, vom Schlachtfeld vertrieben. In ihr loderte eine brennende Wut, aber sie sprach weiter, und ihre Stimme klang wie eine Totenglocke. »>Und Dunkelheit senkte sich über das ganze Land .. .<« Sie brach ab und erhob sich. Selbst die Kirchenleute wichen vor ihrem rechtschaffenen Zorn zurück. Die großen Fürsten warteten angespannt. »Eine Dunkelheit, in der Tat! Dies ist der Ursprung des Sturms, der uns heimgesucht hat! Dies ist die Ketzerei der Erlösung und die der Doppelnatur! In unser Reich gebracht von einem abtrünnigen Mönch, wie wir jetzt sehen, der von der Kirche abgefallen ist, sein Gelübde vergessen und das Gift an seine Tochter weitergegeben hat!« Die Worte sanken schwer wie Eisen zu Boden, richteten mehr Schaden an als ein Speerstoß oder ein Schwerthieb. Nur Liath schien es nicht zu bemerken. Sie war zu sehr damit beschäftigt, erstaunt die aufgeschlagene Seite anzustarren. »Haltet Ihr es für eine Fälschung oder ist es echt? Wie könnte man das erkennen? Es sieht alt aus, aber das Pergament könnte leergekratzt und neu benutzt worden sein. Es
175 könnte gebleicht worden sein, damit es alt wirkt. Aber vielleicht ist es auch wirklich jahrhundertealt. Ist die arethusanische Übersetzung gleichzeitig mit dem Original entstanden oder später dazugekommen? Wie können wir die Wahrheit über etwas erkennen, das vor so langer Zeit geschehen ist? Man müsste Beweise aus vielen anderen Quellen zusammentragen ...« Sie blickte erwartungsvoll auf. Erst jetzt verstummte sie, und er sah ihre Verwirrung - und ein langsames, allmähliches Begreifen. Zu spät, wie ihm klar wurde. Hugh kennt sie besser als ich.
Hugh hatte geahnt, dass sie sich verraten würde, wenn die Existenz des Buches erst einmal enthüllt war, denn sie würde nicht aufhören, Fragen zu stellen. Weil sie die Wahrheit wissen wollte. Weil sie wissen wollte, ob sich die Erde drehte oder die Sonne, und ob die Winde in riesigen Blasebälgen entstanden oder von den Drehungen der Sphären hervorgerufen wurden, oder warum und wie zum Himmel hinaufgeschossene Pfeile an einer ganz bestimmten Stelle zur Erde zurückkehrten. Ob ein altes Manuskript die Wahrheit enthielt oder eine Lüge. Sie kümmerte sich nicht um Politik oder die Strenggläubigkeit der Kirche. In dieser Hinsicht war sie natürlich eine Ketzerin, nur nicht so, wie sie es sich vorstellten. »Ich weiß nicht, wie mein Vater an diesen Text gelangt ist«, erklärte sie. »Ich habe bereits gesagt, dass ich es nicht lesen kann. Ich kann nur sehr wenig Arethusanisch. Vater Hugh hat es mir beigebracht.« »Ihr habt Euch bereits verdammt«, sagte Mutter Scholastika. »Ihr habt zweimal zugegeben, dass dies das Buch Eures Vaters ist.« Sie blätterte ein paar Seiten um. »Hier befindet sich eine Ansammlung von Zauberei, die Künste der Mathematiki, die beim Konzil von Narvone verdammt worden sind. Und das hier - welche Sprache ist das?«
176 »Jinnisch. Es handelt sich um die Abschrift des astronomischen Textes Über die Ko nfiguration der Welt - « »Die schwarze Zauberei einer Ungläubigen!« »Nein, es ist nur die Beschreibung der Himmelssphären -wie sie sich zueinander verhalten und bewegen -, und zwar teilweise basierend auf Ptolomaias Tetrabiblos. Es steht nichts Ketzerisches darin!« »Das Buch muss verbrannt werden.« »Das Buch wird nicht verbrannt werden!« Liath riss es ihr aus der Hand, klappte es zu und drückte es an ihre Brust. Sanglant schloss einen Moment die Augen, unfähig, die Blicke zu ertragen, die auf ihn gerichtet waren: Einige der Anwesenden schnappten nach Luft, andere waren voller Häme, wieder andere aufrichtig entsetzt. Wichman amüsierte sich über das Schauspiel, während er sich im Schritt kratzte. Liath versuchte es mit Vernunft, obwohl sie inzwischen erkannt haben musste, dass Vernunft hier versagen würde. »Ich hatte gehofft, Mutter Scholastika, dass Ihr und Eure Schüler diesen Text untersuchen -« »Das Buch muss verbrannt werden.« »Aber wollt Ihr es denn gar nicht wissen!« Liath war entrüstet. »Wenn es echt ist, haben die Kirchenmütter uns angelogen. Wenn es eine Fälschung ist, gerät die Ketzerei in Verruf. Es ist niemals hilfreich, das zu verbrennen, was man fürchtet.« Wie leidenschaftlich sie sprach! Nur er von allen anderen Anwesenden in diesem Raum begriff, wie ernst sie diese Worte meinte. Mutter Scholastika wandte sich von ihr ab und sah Sanglant an. »Du kannst dich nicht verstecken, Neffe, vor dem Gift, das du an den Hof gebracht hast. Siehst du jetzt, wie sie dich verführt hat?« Es stimmte, dass er sich nicht verstecken konnte. Er öffnete die Augen und sah diejenigen an, die ihn erwartungsvoll anstarrten. Freute sich Theophanu, dass Liath so in Verruf gera
176 ten war, oder war sie nur verwirrt? Ekkehard blickte gelangweilt drein. Die Markgrafen und Herzöge warteten wie Soldaten in der Schlacht auf seine Befehle; danach würden sie seinen Wert bemessen. Dass Scholastika und die Kirchenleute ihre Position hielten, war allen offensichtlich. Er suchte sich ein neues Schlachtfeld. »Ich verlange, dass Hugh von Austra zu mir gebracht wird. Ich klage ihn an, gemeinsam mit Adelheid von Aosta Henry getötet zu haben. Ich klage ihn außerdem an, Helmut Villam getötet zu haben.« Er deutete zur Tür. »Dort drüben steht der Adler namens Hathui, vielen bekannt als Henrys treue Dienerin und besondere Vertraute meines Vaters. Sie ist meine Zeugin. Sie hat beide Taten mit eigenen Augen gesehen und wird schwören, dass Hugh der Mörder ist.«
Gerberga lächelte mit zusammengepressten Lippen, aber sie sagte nichts, machte weder den Versuch, ihn zu unterstützen, noch ihm die Stirn zu bieten. »Das ist ein schwer wiegender Vorwurf«, sagte Mutter Scholastika. »Besonders, da bekannt ist, dass du einen alten Groll gegen Hugh von Austra hegst, der zum Teil mit dem Verhalten dieser Frau zusammenhängt.« Sie deutete auf Liath, ohne sie anzusehen. »Das ist noch nicht alles.« Er war entschlossen, den Angriff über die einzige Flanke zu führen, die nicht zusammengebrochen war. »Hugh von Austra ist in Autun der Zauberei angeklagt und für schuldig befunden worden. In der gleichen Verhandlung ist Liathano exkommuniziert worden, obwohl sie nicht anwesend war, um sich verteidigen zu können, und obwohl auch sonst niemand zu ihren Gunsten ausgesagt hat. Ich verlange, dass jene, die bei dieser Beratung das Urteil gefällt haben, zusammentreten, um die Beweise ein zweites Mal zu sichten.« »Wie willst du das bewerkstelligen, Bruder?«, fragte Theophanu. »Constanze ist von Sabella eingesperrt worden. Sie ist eine Gefangene - in Arconia, an einem Ort namens Königin
177 nengruft, wie man mir gesagt hat. Du müsstest in Arconia einmarschieren, um sie zurückzuholen.« »Ich bin der Herrscher von Wendar und Varre, oder etwa nicht? Ich bin Henrys Erbe. Wenn mich die Rundreise des Königs nach Autun führt, weil ich meine Tante besuchen will, so kann man das doch wohl kaum als Einmarschieren bezeichnen.« Mutter Scholastika sah ihre Bischöfinnen der Reihe nach an, und diese nickten. »Es ist eine gerechtfertigte Bitte. Mit Ketzerei darf nicht leichtfertig umgegangen werden, da sie mit dem Tod bestraft wird. Aber eines muss klar sein. Ich werde keiner Seele den Segen der Kirche geben, die exkommuniziert wurde.« Er sah Liath an. Sie begegnete seinem Blick, wölbte eine Braue, als würde seine Miene sie überraschen oder beunruhigen. Dann nickte sie einmal. Der kurze Blickwechsel machte ihn ärgerlich. Sie wusste, was er tun musste, aber es kümmerte sie nicht. Sie hatte nie seine Königin sein wollen; sie hatte sich nur aus Gründen damit abgefunden, die er nicht verstand. Er würde sie nie so gut verstehen, dass er sie so leicht in die Falle locken könnte, wie Hugh es getan hatte. Nun gut. Liath hatte mehr aufgegeben, als irgendjemand hier wusste. Er vertraute ihr. »Mein Streit ist nicht mit Gott, deren Diener ich bin. Salbt und krönt mich hier in Quedlingham. Danach wird die Rundreise des Königs nach Gent reiten.« »Wieso nach Gent?«, fragte Ekkehard. »Ich will nicht nach Gent.« »Gent ist der Geburtsort des ersten Henry, des Herzogs von Saony und späteren Königs von Wendar. Es ist gut, den Gründer unseres königlichen Geschlechts zu ehren. In der Kathedrale von Gent hat Arnulf der Ältere die letzten Erben der königlichen Linie von Varre mit seinen Kindern vermählt. An diesem Tag gingen das Königshaus Varre und sein Recht, sich selbst zu regieren, in wendische Hände über. Die heilige Bi
177 schöfin von Gent kann mich in Gent erneut salben und krönen, vor den Leuten, die dort und in den umliegenden Grafschaften leben. Dann wird die Rundreise nach Westen reiten, nach Saony, Fesse und von dort nach Arconia. Nach Varre.« »Das ist eine kluge Entscheidung«, sagte Mutter Scholastika. »Ich unterstütze sie.« »Und es gibt noch einen anderen Grund«, fügte Sanglant hinzu. »Viele werden sich an das Wunder von St. Kristine erinnern, die an dem Tag, als die von Blutherz angeführten Aikha-Horden die Stadt überfallen haben, einem jungen Adler erschienen ist. Dass überhaupt irgendwelche Bewohner von Gent die Eroberung überlebt haben, ist diesem Wunder zu verdanken - und der Tatsache, dass jener Adler einen Teil der Bevölkerung über einen geheimen Pfad, der ihr von der Heiligen enthüllt wurde, in Sicherheit gebracht hat. Diese Tat sollte in Erinnerung gerufen werden. Ich weiß, dass es in Gent Zeugen gibt, die sich an diesen Tag erinnern.« Mutter Scholastika runzelte die Stirn. »Ich habe die Geschichte gehört, aber ich verstehe nicht -« Aber dann verstand sie doch. Sie lachte beinahe, zog die Mundwinkel auf eine Weise hoch, die doch kein Lachen war. »So sei es. Gott wünschen, dass Gerechtigkeit geschehe. Niemand soll
sagen, dass irgendeine Verhandlung entschieden worden wäre, ehe alle Beweise ausgewertet waren. Gibt es noch etwas, Sanglant?« »Das ist im Augenblick alles.« »Ich bin nicht dein Feind, Sanglant.« »In dieser Angelegenheit?« Er zuckte mit den Schultern. »Wir sind keine Feinde, Tante. Wir wünschen beide das Beste für Wendar und unser königliches Geschlecht. Ich bin der gehorsame Sohn meines Vaters, und Ihr seid die gehorsame Dienerin Gottes. So sei es.« »So sei es«, wiederholte sie. »Hugh von Austra soll gefunden werden. Was das Übrige betrifft, werden wir alles vorbereiten. In drei Tagen wird Prinz Sanglant zum König gekrönt und gesalbt werden.«
178
4 »Er hat dir das Buch gegeben, damit es so aussieht, als wärst du schuldig!«, sagte Sanglant später an diesem Tag, als sie zu ihrem Lager zurückgekehrt waren, wo sie ein wenig Ruhe hatten. Sie saß auf einer Bank, hatte das Buch ihres Vaters auf den Beinen. Es war beruhigend, über den Buchdeckel zu streichen, die Messingschnallen zu spüren, den kühlen Ledereinband, der an einer Ecke vom Alter rissig geworden war. Er musste geölt werden. »Das Buch verdammt dich aufgrund seiner bloßen Existenz. Deshalb wollen sie es verbrennen.« »Ich werde nicht zulassen, dass sie dieses Buch oder irgendein anderes verbrennen!« »Du bist starrsinnig!« Sie hielt seinem Blick gelassen stand. »Ich habe recht.« Er seufzte, rieb sich den Kopf. »Vielleicht hast du recht. Ich weiß es nicht.« »Aber sie haben damit recht, dass eine andere Frau - eine, die für den Hof ausgebildet ist - eine bessere Königin abgeben würde.« Er sah sie verärgert an und verließ das Zelt. Sie hörte draußen seine Stimme. »Fulk! Fulk! Gibt es bereits Neuigkeiten über den Flüchtigen?« Momente der Stille waren auf der Rundreise des Königs nicht leicht zu finden. Ausnahmsweise einmal war kein einziger Mensch bei ihr im Zelt. Nur ein Lichtstrahl fiel durch das Rauchloch in der Mitte des Gerüstes, über das der Zeltstoff gelegt war, aber weil sie Salamanderaugen hatte, genügte das, um die Worte zu lesen. Sie kannte sie natürlich alle auswendig, aber es verschaffte ihr ein ungeheures Vergnügen, die Buchstaben zu berühren, jedes Wort zu ertasten und die Bedeutung vor ihren Augen aufblühen zu lassen. Astronomie beschäftigt sich mit dem Kreislauf der Him
178 melssphären, dem Auf-und Absteigen der Konstellationen, ihren Bewegungen und Namen, den Wanderungen der Sterne und Planeten, der Sonne und des Mondes, und den Gesetzen, die di ese Bewegungen und alle ihre Abweichungen bestimmen. »Lest Ihr? Eure Lippen bewegen sich gar nicht.« Liath war so verblüfft, dass sie fast mitsamt der Bank umgekippt wäre. Und dann war es ihr so peinlich, dass sie unsicher lachte, als sie die große Frau erkannte, die lautlos in das Zelt geglitten war und interessiert das Mobiliar musterte: ein Bett, einen Tisch, zwei Stühle, zwei Truhen, zwei Bänke und ein halbes Dutzend Teppiche, deren Ränder sich überlappten. »Es stimmt also. Die Bediensteten müssen alle draußen schlafen. Ich habe gehört, dass der Kaiser von Arethusa allein an einem großen Tisch speist und sein Essen nicht mit seinen Kameraden gemeinsam genießt. Es muss ein östlicher Brauch sein.« »Markgräfin Waltharia.« Sie erhob sich. »Setzt Euch bitte.« »Danke.« Sie nahm auf der Bank Platz, dicht bei der Stelle, an der Liath zuvor gesessen hatte, und Liath musste sich nah zu ihr setzen, wenn sie nicht wollte, dass sie sie beleidigte, indem sie das Angebot der Vertraulichkeit ablehnte. Waltharia trug Reitkleidung und roch nach Pferd. »Nun, es scheint also so zu sein, dass Ihr nicht die Großenkelin von Kaiser Taillefer seid.«
»Ich bin irregeleitet worden«, sagte Liath vorsichtig. »Von der Frau, die behauptet hat, meine Mutter zu sein.« »Ihr hättet lügen können. Niemand hätte es gemerkt, da die Heilige Mutter Anne - die behauptet hat, Eure Mutter zu sein - den Berichten zufolge jetzt eindeutig tot ist.« »Es ist nicht die Wahrheit, also wäre es falsch gewesen. Wie auch immer, ich habe mir nie gewünscht, in eine solche Position geboren zu sein.« »Und doch habt Ihr ein Benehmen, als wärt Ihr es.« In den Worten schwang keinerlei Groll mit. Waltharia war nicht verärgert oder misstrauisch, nur direkt. »Ihr seid mir ein Rätsel. Und Ihr leuchtet ein bisschen in diesem schwachen Licht.«
179 »Tue ich das?«, fragte Liath aufrichtig überrascht. Sie sah ihre Hände an, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. »War das bisher nicht so?« »Das weiß ich nicht. Niemand hat etwas gesagt.« Niemand außer Hugh, aber das war ein zu persönliches Bekenntnis gegenüber einer Frau, die sie nicht kannte und die früher einmal die berühmteste Geliebte ihres Mannes gewesen war. »Würdet Ihr ihn heiraten, wenn Ihr könntet?«, fragte Liath. »Mutter Scholastika hat so etwas angedeutet.« Waltharia schüttelte den Kopf; die Frage schien sie nicht zu verärgern. »Sie ist eine geschickte Taktiererin. Sie hat es nur gesagt, um die Reaktionen der anderen zu sehen. Sie will genauso wenig, dass ich Sanglant heirate, wie Gerberga oder Theophanu es wünschen.« »Aber würdet Ihr es tun?« Waltharia lächelte. Sie war keine schöne Frau, nach der man sich umdrehen würde, aber sie war attraktiv, kräftig und gesund, und ihr Blick war rein und klar. Sie hatte Macht, und sie wusste, wie sie sie einsetzen konnte. »Nein, das würde ich nicht, obwohl es verständlich ist, dass Ihr Euch das fragt, denn ich fühle mich sehr von ihm angezogen. Ich hätte es getan, als ich jung war und mein teurer Vater noch gelebt hat - vor vielen Jahren -, aber meine Wünsche haben sich geändert. Ich bin Markgräfin der Lande der Villams. Für eine Familie, die sich in den Marklanden halten kann, gibt es viel zu erreichen. Ich sehe das langfristig. Eine Heirat mit Sanglant würde meinem Haus nicht nennenswert mehr helfen, als meine Loyalität gegenüber dem wendischen Thron es bereits tut. Sie würde vielmehr meine Macht beschränken. Nein, ich habe vor, Edelmann Wichman zu heiraten.« »Wichman! Das meint Ihr nicht ernst! Er ist ein Ungeheuer ...« Waltharia kicherte bereits. Liath lächelte unbeholfen. »Ah. Ihr habt nur einen Witz gemacht.«
179 »Es wäre verführerischer, wenn er nicht so grob wäre. Die Heirat mit dem Sohn eines Königshauses würde meiner Familie ein wichtiges Bündnis verschaffen. Ich habe jedoch vor, irgendeinen Edelmann aus Varre zu heiraten, der dankbar für die Entfernung ist, die zwischen ihm und seinen älteren Geschwistern liegt. Sanglant hat versprochen, mir einen mitzubringen, wenn die Rundreise aus Varre zurückkehrt.« »Weiß er denn, was Ihr Euch wünscht?« Liath verspürte einen Stich, als sie das sagte. Sie wunderte sich, dass Sanglant eine Frau wie Waltharia so gut verstand, dass sie es ihm überließ, einen Ehemann für sie zu finden. Waltharia wurde mit verblüffender Leichtigkeit ernst. Ihr Gesicht blieb ruhig, aber ihre Hände spielten mit dem Stoff ihrer Reitkleidung. »Druthmar war ein guter Mann. Mein Vater hat ihn für mich ausgesucht. Ich trauere um ihn. Sie haben seine Leiche nicht gefunden. Ich muss glauben, dass er tot ist, aber es ist schwer, nicht zu hoffen und zu beten, dass er noch lebt und irgendwie nach Hause zurückfindet.« »Es tut mir leid, dass Ihr ihn verloren habt.« Waltharia sah sie eine ganze Weile an, dann lächelte sie sanft und traurig. »Das glaube ich Euch, und ich danke Euch.« Liath fuhr zwanghaft über eine Kante des Buches; sie wusste nicht, was sie als Nächstes sagen sollte. Die Situation war so unwirklich. »Ich habe keine Ahnung, warum Ihr hier seid«, platzte sie schließlich heraus. »Was wollt Ihr von mir?«
»Euch einschätzen. Ihr seid mir ein Rätsel, und in gewisser Weise seid Ihr ein Hindernis. Ich glaube, dass Sanglant ein besserer Herrscher für Wendar sein wird als eines seiner rechtmäßig geborenen Geschwister. In diesen dunklen Zeiten braucht Wendar einen starken Herrscher.« »Das ist wahr. Ich weiß, wieso Ihr mich für ein Hindernis haltet.« »Ach ja? Sanglant ist so kameradschaftlich, liebenswürdig und fähig, dass man leicht vergisst, dass er auch wie ein Hund ist, der sich weigert, etwas aufzugeben, das er einmal in seinen 180 Pfoten hatte. Sein Vater hat ihn verdorben. Selbst Königin Sophia - eine sehr gute und willensstarke Frau, die besonderen Wert auf ihre Vorrechte gelegt hat - ließ den Jungen in ihren Gemächern herumtoben. Er will Herrscher werden, obwohl er ein uneheliches Kind ist. Er will Euch als Königin, obwohl die meisten Edelleute und Geistlichen in diesem Reich Einwände haben, die im Hinblick auf Euren mangelnden Rang, Eure verdächtige Herkunft und die offensichtliche Tatsache, dass Ihr Euch mit Zauberei auskennt, nur allzu berechtigt sind - ganz zu schweigen vom Vorwurf der Ketzerei und Eurer Exkommunikation. Die Frage ist: Wie können diese beiden Wünsche miteinander verbunden werden? Ich gebe zu, dass er in so manch schrecklicher Situation aus einer Niederlage einen Sieg gemacht hat, aber dieses Schlachtfeld ist keines, auf dem er sich auskennt. Wollt Ihr Königin werden und neben ihm herrschen?« »Nein, das will ich nicht. Aber ich werde ihn nicht verlassen.« »Ah. Und wenn eine willfährige junge Frau von geeignetem Rang gefunden werden könnte und Gott mögen ihr helfen! -sich einverstanden erklären würde, Königin zu werden und Euch als Konkubine zu akzeptieren ... würdet Ihr einem solchen Arrangement zustimmen?« Liath runzelte die Stirn, aber sie war es ihm schuldig, dass sie ernsthaft über einen solchen Vorschlag nachdachte. Waltharia wartete, blieb vollkommen entspannt, während das Licht draußen verblasste und es im Zelt dunkler wurde, bis jeder Umriss nur eine Art tieferer Schatten war, selbst ihr eigener. Jenseits der Zeltwände waren die vielen Geräusche des Lagerlebens zu hören, als die Dämmerung einsetzte: stampfende, wiehernde Pferde, singende und Befehle erteilende Männer, das knarrende Rumpeln eines Wagens, das Bellen eines Hundes, der ferne, durchdringende Schrei des goldenen Greifen, als er sich in die Lüfte erhob. Liath fühlte sich im inneren Herz des Lagers gefangen, unsichtbar, aber abgeschätzt, während die Außenwelt ihr öffentliches Leben pflegte. 180 »Nein, ich könnte mit einem solchen Arrangement nicht leben.« Waltharia nickte. »So sei es.« Nichts in ihrer Stimme verriet, ob sie Liaths Antwort guthieß oder missbilligte. »Es kann bewerkstelligt werden, aber es wird nicht einfach sein. Ihr müsst geduldig sein und einen Schritt nach dem anderen machen.« »Ich kann geduldig sein. Aber es gibt etwas, das ihm fehlt, Edelfrau Waltharia.« »Wirklich?«, fragte sie mit einem Lachen. »Dann habe ich es offenbar noch nicht bemerkt. Nein, bitte, es war nur ein Witz. Was braucht Ihr?« »Ihr seht, wie wir gekleidet sind. Sanglant hat einen harten Weg hinter sich. Er und sein Heer sind der Umwälzung mit wenig mehr entkommen als ihren Waffen, Pferden und dem, was sie am Leib trugen. Ein Herrscher kann nicht gesalbt und gekrönt werden, ohne dass er für eine solche Zeremonie angemessene Kleidung hätte.« »Ja, es ist gut, dass Ihr mich darauf hinweist. Ich werde dafür sorgen, dass er geeignete Gewänder erhält, auch wenn das bei seiner Größe etwas schwierig werden wird. Aber es wird möglich sein.« Sie streckte völlig unerwartet die Hand aus und nahm die von Liath. »Oh. Eure Haut ist warm. Habt Ihr Fieber?« »Nein. Ich habe nie solche Krankheiten.« »Ist es wahr?«, flüsterte Waltharia. »Dass Eure Mutter eine Daemonin der oberen Sphären war? Ein Wesen aus Feuer?« »Es ist wahr.« »Was bedeutet das? Habt Ihr eine Seele?« »Alle von Gott geschaffenen Wesen haben eine Seele.« »Könnt Ihr fliegen, wie man es von den Daemonen sagt?«
Schlagartig drohte die Trauer sie zu ersticken, als sie sich an das erinnerte, was sie verloren hatte. Sie war kaum in der Lage zu sprechen - und sie wusste noch nicht einmal, wieso sie etwas so Gefährliches, so Schreckliches und so Persönliches einer
181 Frau erzählen sollte, die sie kaum kannte. Ihrer Rivalin. Oder vielleicht auch ihrer Verbündeten. »Ich konnte es einmal, aber nicht auf der Erde. Nur in den Himmelssphären.« »Seid Ihr in den Himmelssphären gewandelt? Habt Ihr die Kammer des Lichts gesehen?« »Nein. Nur Seelen, die durch den Tod befreit sind, können dort wandeln. Aber ich bin die Sphären hinaufgestiegen, die Leiter der Himmel. Ich habe ... Dinge gesehen, die mich zum Weinen bringen, wenn ich sie mir in Erinnerung rufe. So viel Licht.« »Wie in der Vision der Prophetin. Und doch seid Ihr hier.« Sie nickte, unfähig zu sprechen. »Seid Ihr zur Rückkehr gezwungen worden?« Sie schüttelte den Kopf. »Seid Ihr dann aus freiem Willen zurückgekehrt, seinetwegen?« »Seinetwegen«, sagte sie heiser. »Und wegen des Kindes.« »Oh.« Waltharia drehte Liaths Hand herum und berührte die Mitte der Handfläche mit einem Finger, als versuchte sie, auf diese Weise etwas zu deuten. »Das war ein großes Opfer. Ich glaube, nicht einmal Mutter Scholastika versteht das.« »Wieso seid Ihr hier, Edelfrau Waltharia?« »Glaubt Ihr, ich will mich zugunsten meiner Familie bei Euch einschmeicheln, indem ich mich Eurer annehme?« »Ich gestehe ... ich weiß nicht, was ich denken soll.« »Ich habe es bereits gesagt. Wendar leidet, und Sanglant wird ein starker Herrscher sein. Um ihn zu unterstützen, werde ich auch Euch unterstützen. Aber Ihr müsst mir helfen. Keine weiteren Szenen mehr wie die heute in Mutter Scholastikas Studierzimmer. Reicht ihnen nicht die Waffen, mit denen sie Euch erstechen können.« »Ja, das verstehe ich. Ich dachte, sie würde meine Verbündete sein. Sie ist eine Gelehrte! Sie müsste die Wahrheit wissen wollen!«
181 »Sie ist die Tochter eines königlichen Geschlechts und die mächtigste Äbtissin im ganzen Land. Ihr geht es nicht in erster Linie um Gelehrsamkeit.« »Nein, vielleicht nicht.« »Habt Ihr darüber nachgedacht, was Ihr tun werdet, wenn Sanglant in die Kirche geht, um sich krönen und salben zu lassen?« »Noch nicht. Ein wenig.« Waltharia nickte. »Wenn es etwas gibt, das Ihr mich fragen möchtet, wenn Ihr meinen Rat benötigt, schickt den Adler mit einer Nachricht. Meine Verwalterinnen wissen, dass sie jederzeit zu mir kommen kann, Tag und Nacht.« »Der Adler?« Waltharia ließ ihre Hand los und stand auf. »Diejenige, die die Ermordung meines Vaters gesehen hat.« Sie ging so übereilt, wie sie gekommen war. Danach trat eine Frau mit einer Laterne in der Hand ein. Der Lichtschein enthüllte ein vertrautes Gesicht mit einem trockenen Lächeln. »Hathui! Warst du die ganze Zeit da draußen?« »Ich habe die Markgräfin hergebracht.« »Ah. Es ist verständlich, dass du mit ihr über ihren Vater gesprochen hast, darüber, was du gesehen hast.« »Ja, auch um meinetwillen. Was dich betrifft, ist sie jedoch nur die Erste.« »Die Erste?« Hathui hängte die Lampe an eine der waagerechten Stangen, die das Zeltdach trugen. Dann drehte sie sich lächelnd um und schüttelte den Kopf, wie sie es vielleicht auch einem Kind gegenüber, das
sich weigert, zu Bett zu gehen, getan hätte. »Von denen, die zu dir kommen wollen, um deine Gunst und deine Aufmerksamkeit zu erlangen.« »Es sind noch andere da?« »Oh ja«, sagte Hathui schalkhaft. »Aber ich habe sie auf morgen vertröstet.« Liath lachte in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Wut
182 und wischte sich Tränen aus den Augen. »Bücher sind einfacher zu verstehen.« »Für manche.« »Oh Gott, Hathui. Was soll ich tun?« »Rasch lernen.« Hathuis scharlachrot gesäumter Adlerumhang war fadenscheinig und abgetragen und an einem Dutzend Stellen geflickt. Ihr Adlerabzeichen aus Messing glühte im Lampenlicht. »Als Adler war es leichter«, sagte Liath. »Ich erinnere mich daran, wie ich dich und Manfred zum ersten Mal gesehen habe. Und Wulfhere.« »Ich erinnere mich auch«, sagte Hathui leise. Sie runzelte die Stirn. »Glaubst du, dass Wulfhere tot ist?« »Nein.« »Weißt du, wo er ist?« »Nein.« »Ich habe ihn in den Kronen nicht gesehen. Er war nicht bei denen, die die Beschwörung gewoben haben. Aber Hugh war dabei. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheint es mir seltsam. Es war nur eine Berührung, ganz am Schluss, aber er hat an dich gedacht.« »Hugh von Austra hat an mich gedacht?« Hathuis Stimme zitterte, und echte Furcht erzeugte kleine Falten um ihre Lippen und Augen. Ihre Miene rief Liath den Tag in Erinnerung, als Wulfhere sie in Friedleben vor Hugh gerettet hatte. Sie war damals so schwach gewesen, nicht unbedingt körperlich, aber im Geiste. Scheu wie ein Kalb, hatte Hanna einmal gesagt. Hathui hatte damals gar nicht verängstigt gewirkt. Tatsächlich hatte sie den Eindruck einer schlauen, starken Frau gemacht, die sich und ihre Macht und auch ihren Platz in der Welt kennt und die zufrieden mit all dem ist. »Derjenige, der an dich gedacht hat, war nicht Hugh; er war bei ihm. Hugh hat ihn benutzt, damit er die Macht des Rück 182 schlags abfängt, die am Ende eines so mächtigen Zauberspruches kommt. Hugh muss gewusst haben, dass die Menschen, die diese Beschwörung gewoben haben, sterben würden, und so hat er diesen anderen Mann an seiner Stelle geopfert.« »Von wem sprichst du ? Ich weiß bereits, dass Hugh ein zweifacher Mörder ist.« »Dann also ein dreifacher. Dieser andere Mann dachte, er würde dich niemals wiedersehen, bis ihr euch auf der anderen Seite begegnet.« »Auf der anderen Seite?« »Ich weiß nicht, wo das ist.« »Ich weiß es«, flüsterte Hathui heiser. Jedes Schwanken der Lampe ließ Schatten über ihr Gesicht wandern, aber auch so war leicht zu erkennen, dass jede Farbe daraus gewichen war. »Meine Großmutter war eine reuelose Ungläubige. Selbst als sie sich zum Kreis der Einigkeit bekannt hatte, hat sie noch Opfer für die Alten dargebracht. Du hast gesagt, dass Hugh ein dreifacher Mörder ist. Was meinst du damit?« »Es war jemand, den ich noch nie gesehen habe, aber ich habe eine gewisse Vertrautheit gespürt. Er hat das Gleiche gesucht, was ich suche. Das Herz des Universums. Sein Name ...« So viel war in so kurzer Zeit geschehen; der Zauberspruch hatte sie überwältigt. Sie hatte seinen Namen gehört, aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern. »Es muss Zacharias gewesen sein!«, murmelte Hathui weinend. »Dann ist er also tot? Wirklich tot?« »Ja. Ich habe gespürt, dass er gestorben ist, durch den Zauberspruch. Wer ist er?« Hathui sank auf den Teppich und schluchzte. Liath kniete sich neben sie, legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie war unfähig, sie zu trösten. »M-mein Bruder. Oh Gott. Wie? Wie?«
»Hugh von Austra hat an Annes Weben teilgenommen.« »Du hast den Zauberspruch zerstört, den die Heilige Mutter Anne gewoben hat.«
183 »Nein- Ich habe Anne getötet, das stimmt. Ich habe meinen Teil getan. Aber ich hatte Verbündete, deren Namen ich nicht kenne. Es war der Plan, den die Alten geschmiedet hatten. Ich war nur die letzte Waffe, die sie eingesetzt haben. Auch Zacharias hat das Seinige dazu beigetragen. Wie sie mit ihm Verbindung aufgenommen haben, weiß ich nicht, aber am Ende hat er sich in die Krone geworfen, die Hugh gewoben hat. Nordöstlich von hier, irgendwo jenseits der Marschlande. Und weil er das getan hat, ist der gesamte nördliche Teil des Webens durcheinandergeraten und unnütz geworden.« »Zacharias hat das getan?«, keuchte Hathui unter Tränen. Nicht allein, dachte Liath, aber sie zögerte. Es hatten noch andere daran teilgehabt. Blasse Geschöpfe, die sich aus noch blasserem Sand erhoben hatten, hatten Bruder Severus verzehrt. Ein Aikha-Prinz hatte die zwei Geistlichen getötet, die die Krone in Alba gewoben hatten. »Zacharias hat den Tod akzeptiert, um diejenigen zu retten, die er am meisten liebte.« Eine lange Zeit rührte sich keine von ihnen. Hathui weinte neben Liath, die sich wünschte, Worte des Trostes sprechen zu können, um Hathuis Kummer zu lindern, aber sie schwieg, denn Schweigen war das Einzige, was sie ihr bieten konnte. Ein Windstoß erschütterte das Zelt, und noch lange danach quietschte der metallene Henkel der Laterne leise, während er auf dem Holzpfosten hin und her schwankte, hin und her. Der Lichtschein wogte in die Ecken und wich wieder zurück, bis die Bewegung aufhörte. »Oh Gott«, flüsterte Hathui. »Er ist also gegangen. Wirklich gegangen. Oh, Zacharias. Er hat wahrscheinlich Angst gehabt.« »Wir haben alle Angst. Was in unserem Innern ist, kann genauso furchterregend sein wie die Schrecken draußen. Er hatte Mut, als es nötig war.« »Das ist genug«, sagte Hathui, der noch immer Tränen über die Wangen strömten. Sie hockte sich auf die Fersen und legte 183 eine Hand auf die von Liath. »Ich werde an deiner Seite bleiben, Liath, was immer auch passiert.« »Wirst du bei Sanglant bleiben?« »Er besitzt meine Loyalität bereits.« »Dann nehme ich dein Angebot gern an, Hathui, und ich sage dir, dass ich nichts höher schätze.« Hathuis Augen verengten sich, als sie Liaths Gesicht musterte. »Wusstest du, dass deine Augen leuchten, wenn es dunkel ist? Ich habe es bisher nie bemerkt. Es sieht aus wie blaues Feuer. Was ist wirklich in deinem Innern, Liath?« »Große Macht«, sagte Liath leise. »Und ich habe Angst davor, was sie bewirken kann, wenn sie frei wird.« »Nein!«, erklang draußen Sanglants deutlich verärgerte Stimme. »Aber benachrichtigt mich, sobald es Neuigkeiten gibt.« Liath erhob sich. Sanglant trat ein; er wirkte tatsächlich sehr verärgert. Dann sah er Hathui. Er kniete sofort neben ihr nieder und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Was ist los? Habt Ihr Euch irgendwie verletzt?« »Nein, Eure Majestät. Liath hat sich an eine Vision erinnert. Sie weiß, was aus meinem Bruder geworden ist.« »Bruder Zacharias?« »Ja. Er ist tot.« »Oh.« Er warf Liath einen Blick zu. Sie nickte und erzählte ihm kurz die Geschichte. »Es tut mir leid. Bruder Zacharias war ein geplagter, aber auch ein mutiger Mann. Auf seine eigene Weise. Dies ist nur ein weiteres Verbrechen auf der Liste von Hugh von Austra.« »Es gibt keinen Hinweis auf ihn, vermute ich«, sagte Liath. »Nein. Ich habe inzwischen mehr erfahren. Er ist von Osten her in Austra aufgetaucht, hat sich aber geweigert zu verraten, woher er gekommen ist, und nur gesagt, dass er Obdach suchte.
Gerberga hat ihn mitgenommen, als sie nach Westen gereist ist, um Theophanu in Osterburg zu besuchen. Jetzt ist Hugh verschwunden. Er muss dies lange im Voraus geplant haben
184 dir das verfluchte Buch zu geben und dann wegzulaufen, damit die Verderbnis ihn nicht treffen kann.« »Wohin kann er gehen?«, fragte Liath. »Das Land seiner Schwester ist ihm jetzt verschlossen. Er wird sich denken können, dass sie sich gegen ihn gewandt hat. Burchard und Liutgard werden ihn dir übergeben, wenn sie ihn in Fesse oder Avaria finden. Auch in der Nordmark wird ihm niemand vertrauen, selbst wenn er zu einem derart rückständigen Ort zurückkehren sollte. Wohin könnte er also gehen? Wer wird ihn aufnehmen?« »Ich habe Kundschafter nach Süden und Westen ausgeschickt. Er könnte nach Varre gehen, um Sabella oder Conrad seine Dienste anzubieten, aber Conrad hat ihn nie gemocht, und Sabella hat ihm nichts anzubieten. Wohin könnte er sonst gehen, abgesehen von dem vergifteten Nest, in dem er so viel Macht errungen hat?« »Er wird deinen Kundschaftern entkommen«, sagte Liath kopfschüttelnd. »Sei's drum. Wenn er nach Varre flieht, werden wir ihn finden. Wenn er nach Aosta flieht, kann er uns hier in Wendar keinen Schaden zufügen, oder?« »Das können wir nur hoffen«, sagte Hathui grimmig. »Ich würde nämlich gern gut schlafen können. Ich habe eine Bitte, Eure Majestät.« »Was für eine?« »Wenn er ergriffen wird, möchte ich eine Entschädigung für den Schaden, den er mir und meiner Familie zugefügt hat. Ein Stück Land vielleicht, zusätzlich zu dem, das sie bereits beanspruchen darf.« Sanglant lächelte. »Das schwöre ich, Hathui. Ihr werdet Genugtuung erfahren.« »Eure Majestät«, sagte sie, neigte den Kopf und küsste den königlichen Siegelring an seiner rechten Hand, den er dem Leichnam seines Vaters abgenommen hatte. Er stand lange Zeit ungewöhnlich reglos da, wollte ihre
184 Trauer nicht unterbrechen, aber schließlich schüttelte sie den Kopf und erhob sich. »Es gibt Wein«, sagte er. »Hauptmann Fulk wird dafür sorgen, dass Ihr alles erhaltet, was Ihr benötigt. Wir werden die Wachen beibehalten, aber ich gehe davon aus, dass Hugh gegangen ist und Ihr zunächst einmal in Sicherheit seid. Dennoch sollten wir vorsichtig sein.« »Eure Majestät.« Dann nickte sie Liath zu und verließ das Zelt. Er blieb weiterhin reglos, entsetzlich lange, und Liath musterte ihn, neugierig und noch nicht richtig erholt von der unerwarteten Erinnerung an das Weben, das wie eine Flut angestiegen war und sie verschlungen hatte. Es hatte sie beunruhigt. Es hatte die Wasser aufgewühlt. »Was ist?«, fragte sie ihn schließlich. »Hast du ihn berührt? In der Bibliothek?« Seine Stimme war heiser, aber eigentlich klang sie immer so. »Bist du eifersüchtig auf ihn, Sanglant?« »Natürlich bin ich eifersüchtig auf ihn! Ich weiß, dass er -« Er verstummte, zog eine Grimasse. »Ich weiß, dass er ... deinen Körper besessen hat.« »Er hat sich genommen, was er gewollt hat. Ich bin nicht freiwillig zu ihm gegangen.« »Ich weiß! Ich weiß! Aber ... mich quält der Gedanke, dass er dich berührt haben könnte. Das ist aber noch nicht alles. Er besitzt all die Fähigkeiten, die du so schätzt. Er kann lesen und schreiben und über die Geheimnisse der Himmel rätseln, so wie du.« Er machte eine Handbewegung, die die Zeltwände und die Laterne einschloss. »Er kennt die Zauberei. Er ist dir ähnlicher, als ich es bin.« »Das ist wahr«, stimmte sie ihm zu und lächelte dabei, während er immer aufgewühlter wirkte. »Was für eine schreckliche Vorstellung, dass ein so bösartiger Mann wie Hugh auf so vielerlei Weise mit mir verglichen werden kann.« »Das habe ich nicht gemeint!«, entgegnete er. Er lachte, ob
184
wohl er sich immer noch Sorgen machte. »Er ist einfach so verdammt schön!« »Das ist wahr«, stimmte sie ihm zu. »Wie kann der äußere Anschein so schlecht zum Innern ... zum Herzen passen?« »Ich weiß es nicht. Aber am Ende hat ihm seine Schönheit nichts genützt. Seine eigenen Halbgeschwister müssten ihm vertrauen und ihn lieben, aber sie hassen ihn und misstrauen ihm. Er hat jene verraten, die ihm vertraut haben. Er ist ein Flüchtling, ein Mann ohne Familie oder Gefolge. Vielleicht haben Gott ihn geschickt, um uns eine Lehre zu erteilen.« »Was für eine Lehre? Ich bin in diesen geistlichen Rätseln nicht sehr bewandert.« Er war erheitert und zweifellos auch ein wenig erleichtert, aber in ihrem eigenen Innern war das Lachen verschwunden. »>Das Chaos in der Welt ist die Folge der Unordnung in der menschlichen Seele.< Ich habe das nicht gesagt«, fügte sie hinzu. »Ich habe es in einem Buch gelesen.« »Wodurch es nicht weniger wahr wird. Hast du ihn berührt?« Sie dachte an Waltharia, eine ziemlich nette Frau, jemand, den sie gemocht hatte. Jemand, der ihr einen Augenblick lang unerwartete und aufrichtige Anteilnahme gezeigt hatte. »Wieso sollte ich es dir sagen?«, fragte sie ihn, und als er zusammenzuckte, freute sie sich über seinen Schmerz. Sie hatte nicht gewusst, dass sie einen so scharfen Stachel in ihrem Innern trug. Die Flamme zitterte. Sie hatte gelernt, sie zu bewahren, aber vielleicht ähnelte sie Hugh mehr, als sie ahnte, vielleicht wollte sie zerstören, was sie nicht beherrschen konnte. »Nein«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich habe weiß Gott kein Recht, in diesen Dingen an dir zu zweifeln. Ich vertraue dir. Belassen wir es dabei.« »Ich würde Hugh ebenso gern berühren wie mich in ein Bett aus Würmern legen«, sagte sie reuevoll. »Belassen wir es dabei. Es gibt allerhand zu bedenken in den nächsten zwei Ta
185 gen - und dazu gehört vor allem, was für ein königliches Gewand für deine Krönung gefunden werden kann. Waltharia hat gesagt, dass sie mir dabei helfen wird.« »Waltharia?« »Oh ja. Wir sind uns nahe gekommen, wir beide.« Sie war hochzufrieden und schämte sich gleichzeitig für den Genuss, den sie daraus zog, dass er sie verblüfft anstarrte, die Stirn runzelte und sich die Schulter auf eine Weise kratzte, die sein Unbehagen über diese Entwicklung verriet. Er fragte sich, was es zu bedeuten hatte und was die beiden Frauen einander wohl zu sagen hatten. Er suchte Zuflucht im Auf-und-Ab-Schreiten, und sie ließ ihn gewähren, während sie dem Aufruhr in ihrem Innern gestattete, auf bedrohlich selbstgefällige Weise zu köcheln. Nach einer Weile trat er zu der Bank. Er nahm das Buch, öffnete es mit der übertriebenen Vorsicht eines Mannes, der selten solche Dinge berührte, und schüttelte den Kopf, als er auf eine der Seiten starrte. Sie konnte nicht sehen, welche es war. »Ich habe keine Geduld für so etwas«, murmelte er schließlich, klappte es wieder zu und legte es angemessen ehrfürchtig zurück auf die Bank. »Ich habe keine Geduld für das Hofleben.« »Nein«, pflichtete er ihr bei. »Du wirst immer die falschen Dinge zur falschen Zeit sagen.« »Sogar, wenn ich recht habe!« »Vor allem, wenn du recht hast«, erwiderte er lachend. »Aber der Hof ist ein Schlachtfeld. Man muss sich nicht nur entscheiden, wie man seine Streitkräfte aufstellt, sondern auch, wann und in welcher Reihenfolge man angreift, wann man einen strategischen Rückzug macht, wann man über die Flanke kommt, wann man sich behauptet.« »Es ist eine eigene Form der Gelehrsamkeit.« »Vielleicht. Ich würde es nicht so ausdrücken.« »Wir haben beide unsere Ausbildung erhalten, als wir jung waren. Daran lässt sich nichts ändern. Ich hätte es auch gar
185 nicht anders haben wollen. Deshalb können wir aber auch vieles voneinander lernen. Ich habe über Gent nachgedacht, über Strategien und die Exkommunikation.«
»Die Edelleute unterstützen mich. Solange sie das tun, ist die Kirche auf den Einfluss beschränkt, den sie besitzt.« »Das mag sein, aber ich will noch nicht einmal in den Augen der Kirche eine Exkommunizierte bleiben. Natürlich hat es mich in Verna nicht getroffen, oder als ich bei den Ashioi war, denn da wusste ich ja noch gar nichts davon. Es hat nur eine geringe Rolle im Kampf gegen Anne gespielt. Aber jetzt spielt es eine große Rolle. Ich weiß, was ich tun muss.« »Und was ist das?« »Es wird dir nicht gefallen.« »Soll mich das davon abbringen zu versuchen, dir abzuraten?« »Ich werde es tun, denn ich weiß, dass es richtig ist.« »Du willst mir also drohen! Ich bitte dich, wenn wir Verbündete sein wollen, müssen wir unsere jeweiligen Ziele kennen.« »Also schön«, sagte sie. »Du bist nicht der Einzige, der eine Nachtwache halten muss.«
XI
Schatten und Licht
1 »Ich mag Euch nicht«, sagte Gnade. »Geht weg.« Obwohl in Edelfrau Lavinias eingezäuntem Garten noch nichts blühte, fand Antonia dort ein gewisses Maß an Frieden, wenn sie nicht gerade Prinzessin Mathilda unterrichtete oder in der großen Halle an der Seite von Königin Adelheid Bittsteller und Bußfertige empfing. Sie hatte sich auf einer Steinbank niedergelassen und über die Natur des Bösen nachgedacht, über die Strafen und die Arten der Buße, die für Eidbrecher angemessen waren. Als sie die schrille Stimme des Kindes vernahm, das die Tochter ihrer Feinde war, beugte sie sich vor und blinzelte durch das Blattwerk, das ihr Schutz vor neugierigen Blicken gewährte. Waldreben umrankten die malerische Ruine einer kleinen, achteckigen Kapelle - ein Überbleibsel des alten dariyanischen Palastes, der hier gestanden hatte. Zu ihren Füßen befand sich ein sauber gefegter Mosaikboden, der eine alte Geschichte erzählte, in der zwei Hunde, eine Jägerin und ein halbnackter Mann eine Rolle spielten. Sie hatte häufig versucht, Edelfrau Lavinia dazu zu bringen, den Boden zu zerstören, aber so liebenswürdig die Edelfrau auch ansonsten war, in dieser Angelegenheit blieb sie hart.
186 »Ihr könnt mich nicht wegschicken. Ihr seid die Gefangene meiner Mutter.« »Ich kann Euch ins Gesicht schlagen.« »Bastard eines Bastards!« »Bin ich nicht!« »Seid Ihr doch!« »Gör! Hört auf!« Eine Männerstimme fuhr dazwischen. Antonia schob die Zweige auseinander, um besser sehen zu können. Früher einmal hatte sie sich einem Mann dieser Familie hingegeben. Es war ein bitteres Eingeständnis ihrer Schwäche, dass sie erleben musste, wie ein junges Gesicht mit lachenden, edelmütigen Gesichtszügen noch immer Wärme in ihr erzeugen konnte, obwohl er jung genug war, um ihr Enkel zu sein. Berthold Villam kam vom anderen Ende des Gartens über den gepflasterten Weg herbeigeschlendert, der parallel zur Bewässerungsrinne verlief. Er unterhielt sich kameradschaftlich mit seinen aostanischen Wachen. Die beiden Mädchen starrten sich wie zwei junge Furien an, obwohl Gnade älter wirkte. Aber die Mienen und die Haltung der beiden ähnelten sich bemerkenswert. Die blühende Frau, die sich bereits aus dem Mädchen herauszuschälen schien, machte es schwer, nicht zu vergessen, dass Gnade trotz ihres älteren Körpers noch sehr jung war. Sie sah aus, als wollte sie jeden Augenblick spucken oder beißen, aber auf einen Befehl von Berthold hin hielt sie sich zurück. Sie kochte, wurde rot und weiß vor Wut. Prinzessin Mathilda spuckte Gnade vor die Füße, ehe sie in den Schutz der Veranda davonschoss, in deren Schatten zwei Dienerinnen warteten. Ihr Geplauder verklang allmählich, während sie das Mädchen wegführten.
»... und was hat Meto gesagt? Bitte, Eure Hoheit, Eure Mutter hat gesagt, dass Ihr nicht mit dem Kind sprechen sollt, denn sie ist nicht von Eurem Rang und tatsächlich eine Wilde. Gehen wir hinein. Was hat Meto gesagt, als er herausgefunden hat, dass sie Liutbold heiraten will?« 187 »Liutbold heiraten! Darum ist es also gegangen? Das höre ich zum ersten Mal. Was denkt sie sich nur dabei?« »Sie ist dumm«, sagte Gnade. Berthold blieb neben dem Mädchen stehen, kratzte sich an dem Flaum, der ihm in den letzten drei Monaten gewachsen war. »Prinzessin Mathilda ist eine königliche Prinzessin, Eure Hoheit, genauso wie Ihr. Ihr solltet sie zu Eurer Verbündeten machen und nicht zu Eurer Feindin.« Er sprach jetzt Wendisch, das die Wachen - vielleicht - nicht verstanden. »Sie ist ein Feind.« »Vielleicht. Aber sie kommt immer wieder zu Euch, obwohl sie Euch eigentlich gar nicht sehen darf.« »Weil sie mich hasst.« »Möglicherweise. Aber vielleicht möchte sie auch nur mit einem anderen Kind in ihrem Alter spielen. Sie möchte Euch vielleicht mögen und verhält sich nur deshalb so, weil sie nicht weiß, wie sie sonst Eure Aufmerksamkeit erringen soll.« Wie war es möglich, dass dieser Jugendliche so weise war? »Sie ist nicht so alt wie ich! Ich bin älter!« »Ihr seht älter aus, Gör. Aber Ihr verhaltet Euch nicht so!« »Tu ich doch!« Sie biss sich auf die Unterlippe. Zog einen Schmollmund. Aber sie schwieg und sah Berthold mit einem Blick an, der einen anderen Menschen bei lebendigem Leib gefressen hätte. »Kommt, Gör«, sagte er freundlicher und streckte ihr die Hand entgegen. Sie lehnte ihren Kopf gegen seinen Arm, wie es ein Hund tun mochte, der seine Schnauze liebevoll an die Wade seines Herrn drückte. »Da ist Bruder Heribert. Er hat für Euch einen grünen Apfel gefunden, der noch vom letzten Herbst stammt. Ist das nicht erstaunlich?« »Ich werde mich übergeben!« »Anna kann ihn mit Kräutern kochen, damit er gut schmeckt. Er hat auch einige Blumen gefunden, die ich vorher
187 noch nie gesehen habe. Vielleicht könnt Ihr sie trocknen und daraus etwas Hübsches machen.« »Ich will nicht. Papa hat mich mit Schwertern kämpfen lassen. Ich will mit Schwertern kämpfen!« Eine der Wachen gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Schluckauf und einem Husten war. »Ich kann das! Ich kann das!« »Gnade!« Sie schloss die Augen und brach zu Antonias Überraschung nicht in Tränen aus, wie sie es noch zwei Monate zuvor getan hätte. Sie kämpfte mit sich; in dem überaus lebhaften, dunklen Gesicht blitzte unterdrückte Wut auf, gefolgt von unschuldiger Verblüffung und schließlich einer Entschlossenheit, die sich in einem vorgereckten Kinn äußerte. »Eure Hoheit, ich habe einen Apfel für Euch gefunden.« Antonia wandte den Blick ab und ließ die Zweige los, so dass sie sich wieder schlossen. Es war schlimm genug, seine Stimme zu hören, sie konnte es nicht ertragen, ihn auch noch zu sehen. »Danke, Bruder Heribert.« »Das war eine gute Antwort, Gör«, sagte Berthold mit einem Lachen. »Wir werden Euch noch Manieren beibringen.« »Ich hasse dich«, sagte Gnade in einem Tonfall, der genau das Gegenteil verriet. »Kommt, Bruder Heribert«, fügte sie großtuerisch hinzu. »Gehen wir zu Anna. Wir brauchen ihn nicht mehr.« »Es ist Zeit für Euren Unterricht«, sagte er; seine Stimme klang wie die von Heribert, aber sie klang dennoch nicht wie er. »Ich hasse Bücher!« »Ihr müsst lernen. Er hat es gewollt.«
»Geht schon, Gör. Lernen ist eine Waffe, die so scharf ist wie Stahl.« »Kommst du mit, Berthold?«, fragte sie wehleidig. »Gleich.«
188 Ihr Seufzen schien laut genug zu sein, um die Blätter zum Rascheln zu bringen. Antonia sah von ihrem Versteck aus zu, wie die beiden die Stufen zu der langgestreckten Veranda hinaufgingen, die an den Garten grenzte. Drei gelangweilte Wachen folgten ihnen dicht auf den Fersen. Einer der Männer hielt die Kette, die an Gnades linkem Handgelenk befestigt war, eine notwendige Sicherheitsmaßnahme nach zwei Ausbruchsversuchen. Auf der dritten Stufe drehte Heribert sich um und ließ seinen Blick über den Garten schweifen, und einen Moment lang hatte Antonia den Eindruck, als würde er sie direkt ansehen, obwohl sie sicher war, dass sie in der Laube geschützt war. »Dieses Kind hat eine schreckliche Zuneigung zu Euch gefasst«, sagte der ältere der beiden Soldaten, die bei Berthold waren. Er sprach Dariyanisch. »Glaubt Ihr?« Berthold hatte so schnell Dariyanisch gelernt, dass er bereits Vorkenntnisse gehabt haben musste, auch wenn nichts, was Antonia über die Villams wusste, auf eine frühere Verbindung zu Aosta hindeutete. »Ganz sicher, denn ich habe zwei Töchter in ihrem Alter. Ich kenne den Blick, den sie den Jungen zuwerfen, die sie mögen.« »Armes Ding«, sagte Berthold. »Findet Ihr?«, fragte der Jüngere. »Sie ist ein Gör. Prinzessin Mathilda ist ein edleres Kind.« »Ich bitte dich, Philo, ich möchte nicht, dass auf diese Weise über Prinzessin Gnade gesprochen wird.« Der Tonfall war sanft genug, dass der ältere Soldat kicherte und der jüngere die Schultern zuckte. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte nicht respektlos erscheinen. Aber ihr Vater hat unseren Herrn getötet, den Ehemann der Königin. Seinen eigenen Vater! Sicher ist sie durch diesen Vatermord befleckt. Sie sieht nicht so aus wie normale Menschen. Was ist, wenn das der Einfluss des Feindes ist?« »Ich bin kein Geistlicher und kann daher so beunruhigende Fragen nicht beantworten. Prinzessin Mathilda ist eine schöne,
188 junge Dame, in der Tat, was sie bei solchen königlichen Eltern auch sein muss. Was habt ihr gesagt, wo wir dieses Gebäck finden können, von dem ihr gesprochen habt?« »Wollt ihr jungen Burschen euch tatsächlich das Gebäck ansehen - oder die Helferinnen der Köchin?«, fragte der ältere Mann, und die beiden jüngeren glucksten. Sie gingen in guter Stimmung weg. Königin Adelheid hatte keine Ahnung, wie gründlich Edelmann Berthold seine Wachen täuschte und welche Freiheiten sie ihm gewährten, ohne dafür ihre Einwilligung erhalten zu haben. Er konnte in der Burg herumlaufen, solange er sich von jenen fernhielt, durch die seine Wachen in Schwierigkeiten geraten würden. Antonia sah den drei Männern nach, die zwischen den dicht geschlossenen Reihen von Obstbäumen hindurchgingen. Dank der Frühlingswärme, die sich bemühte, die Wolkenschicht zu durchdringen, hatten die Bäume inzwischen Blätter und Knospen hervorgebracht. Der Himmel war an diesem Tag hell, was ihr Hoffnung gab, dass die Sonne bald durchbrechen würde. Wenn nicht jetzt, wann dann? Berthold hätte in den letzten drei Monaten hundertmal fliehen können, aber er hatte es nicht getan, weil Gnade es nicht konnte. Wie Villam war er gegenüber Wendar loyal und hatte eindeutig - trotz Mathildas größerem Anspruch - seine Wahl bereits getroffen. Adelheid mochte sich etwas anderes einreden, geblendet von seinem jugendlichen Charme. Nein, Heribert war die Ursache von allem. Er hatte Bertholds Herz verwandelt, auch wenn nicht klar war, mit welchen Anreizen. Auch Gnade hatte ihre Hand im Spiel, wie unabsichtlich auch immer. Mathilda besaß viele gute Eigenschaften, darunter Henrys Gemüt und Großzügigkeit sowie Adelheids Verschlagenheit, aber sie strahlte nicht - nicht so wie Gnade. Das Kind war zweifellos ein Gräuel, eine Mischung aus dem Blut dreier Rassen, aber sie hatte Macht, die sich formen und als Waffe benutzen ließ, sei es vom Feind oder von den Rechtschaffenen.
189 Adelheid wusste das. Es war der einzige Grund, weshalb sie Gnade nicht aus Rache für Henrys Tod getötet hatte. Antonia setzte sich auf die Bank, um ihre Meditationen wieder aufzunehmen, aber der Friede war verflogen. Es war trocken und kühl, und die Luft roch ein bisschen staubig. Keinerlei Windhauch bewegte die Blätter. Sogar die Pappeln an der Mauer, die sonst immer in einer leichten Brise flüsterten, blieben vollkommen reglos. Es hatte seit einem Monat nicht geregnet, obwohl die Trockenzeit eigentlich erst viel später im Jahr begann. Diese Zeichen schienen schlechte Omen zu sein. Schlimmeres stand bevor, wie die heiligen Propheten sagten, obwohl Antonia sich das angesichts dessen, was sie gesehen hatte, und in Anbetracht der Berichte, die aus den Provinzen von Adelheids zerstörtem Reich hereinkamen, kaum vorstellen konnte. Als sie sich erhob, knackte es in ihren Kniegelenken, und ihr Rücken schmerzte. In den letzten Tagen war sie ständig atemlos und kämpfte gegen einen hartnäckigen Husten. Zwei Geistliche und eine Bedienstete warteten bei dem versiegten Brunnen. Nur wenige hatten die Zerstörung in Darre überlebt, aber das war vielleicht auch gut so. »Euer Gnaden«, sagte der junge John. »Eure Heiligkeit«, sagte die ältliche Johanna. Die Dienerin Felicita fasste sie am Arm und half ihr die Stufen hinauf, die im letzten Monat steiler geworden waren. »Wir werden zuerst zur Königin gehen und dann in meine Audienzhalle zu den nachmittäglichen Bittstellern.« »Jawohl, Eure Heiligkeit.« Gegen Mittag nahm Adelheid sich gewöhnlich eine Stunde Zeit für Berengaria, aber heute war sie nicht in dem Zimmer. Antonia sank auf das Sofa neben dem Bett, in dem das winzige Kind sich in unruhigem Schlaf wand. Ihr sonst blasses Gesicht wurde rot, wenn sie hustete. Sie hatte seit drei Wochen kein Wort mehr gesprochen, und es war allen außer Adelheid klar, dass sie sterben würde.
189 War Berengaria unschuldig gewesen oder schuldig? Allem Anschein nach war sie schuldig gewesen, aber es war schwer zu begreifen, wie ein so kleines Kind Gott beleidigt haben sollte. Vielleicht wurde sie für die Sünden ihrer Mutter bestraft, wie in den alten Zeiten der Propheten, als Gott die Sündigen für ihre Fehler gequält hatten, sowohl Große als auch Kleine, Alte und Junge, Frauen und Männer, sogar das Vieh. So sei es. »Armes Ding«, murmelte Felicita. Antonia strich dem Kind die schweißnassen Haare aus der Stirn, während die Dienerin hilflos zusah. »Hat die Königin ihre Tochter heute schon gesehen?«, fragte Antonia. »Nein, Eure Heiligkeit«, sagte die Amme. »Ich habe gehört, wie sie auf dem Flur mit ihren Dienerinnen gesprochen hat, aber dann ist Hauptmann Falco mit Neuigkeiten gekommen, und sie sind weggegangen.« »Was für Neuigkeiten?« »Ich bin nicht sicher, Eure Heiligkeit. Es ging um Gefangene, aber Ihr wisst, dass die Wachen heutzutage alle möglichen Leute herschaffen, meistens Bettler, die einen Laib Brot und nichts weiter wollen.« Antonia ging in den Wohnraum, in dem Mathilda an einem Tisch saß und sorgfältig Buchstaben übte. Das Mädchen blickte auf, als sie Schritte hörte, und lächelte. »Eure Heiligkeit! Kommt bitte! Ich kenne sie alle!« Sie war ein kluges Mädchen und darauf erpicht, ihre Fähigkeiten auf der Wachstafel zu zeigen, obwohl die Novizen in der Kirche gewöhnlich nicht schon in diesem Alter die Buchstaben lernten. Nachdem sich Antonia jeden einzelnen Buchstaben genau angesehen hatte, warf das Mädchen ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte große Augen und lange Wimpern, aber sie war nicht mehr
reizend, nicht so wie in den Tagen zuvor. Genau wie in der größeren Welt hatte die Umwälzung die vielen
190 geringeren Übel freigesetzt, die an einer Seele nagten und dabei jene Furchen schufen, die den Anhängern des Feindes einen Ansatzpunkt boten, sich ins Innere zu graben. »Ich kann die Buchstaben besser als sie, oder?« »Ihr könnt sie sehr gut, Eure Hoheit.« »Besser als sie?« »Mein Kind, versucht nicht, Euch mit jemandem zu vergleichen, der Ihr nicht sein wollt.« »Sie mag mich nicht.« »Sie mag sich selbst nicht. Sie ist sehr jung.« »Sie ist älter als ich. Sie kann keine Buchstaben machen wie ich. Wird Berengaria sterben?« »Wir werden alle sterben, Kind. Wir werden alle eines Tages zu Staub werden.« »Aber unsere Seelen werden weiterleben.« »Jene, die nicht in den Abgrund stürzen.« Sie zitterte. »Ich habe ihn gesehen.« »Was habt Ihr gesehen?« »Den Abgrund. Da war ein großer Sturm. Und Feuer. Die Erde ist aufgeplatzt. Sie hat Menschen verschluckt. All das Gift ist aus ihr herausgeströmt. Ist das nicht aus dem Abgrund gekommen? Es hat gestunken.« »Vielleicht, Kind. Macht Euch keine Sorgen. Ihr seid nicht bestraft worden.« Mathilda biss sich auf die Unterlippe und starrte auf die Buchstaben, wischte dann mit einer heftigen Bewegung die Tafel sauber. »Ich mache sie noch einmal«, sagte sie. »Ich will vollkommen sein, damit Gott mich nicht bestrafen.«
190
2 Antonia hatte vorgehabt, in ihrem Audienzzimmer zu bleiben - es gab so viel zu tun -, aber dann führten ihre Schritte sie zum Nordturm. Um diese Tageszeit würden die Gefangenen sich alle im Innern befinden. Gnade durfte nur am Morgen und in der Obhut der Wachen in den Innenhof, während ihre Begleiter nur am Nachmittag hinaus durften, damit sie nicht gemeinsam einen Fluchtversuch wagen konnten. »Heilige Mutter.« Die Wachen sanken auf die Knie und senkten die Köpfe, dann erhoben sie sich wieder und öffneten die Tür. Der unterste Raum des Nordturms diente jetzt als Unterkunft für die Wachen, und er war mit Pritschen, Bänken und drei Tischen vollgestellt. Männer knieten nieder, als sie eintrat. Mindestens zwei Dutzend Wachen waren hier untergebracht. »Heilige Mutter.« Ein Feldwebel, dessen Namen sie vergessen hatte, trat vor. »Die Königin ist oben, mit Hauptmann Falco. Wollt Ihr die neuen Gefangenen sehen? Sie sind in der Morgendämmerung hergebracht worden.« »Ja, ich werde hinaufgehen.« Eine Steintreppe wand sich an der Außenmauer des Turms empor, führte zum nächsten Stock hinauf. Hier schliefen die drei Bediensteten auf Pritschen. Im Augenblick saßen die beiden Barbaren dort. Der junge Bursche flocht Hanf zu einem Seil; er sah sie mit gleichmütiger Miene an, während er mit seiner Arbeit fortfuhr. Ihr Rang und ihr hoher Status schienen ihn nicht zu kümmern. Die Frau hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen, obwohl sie saß. Was für grobe Hände sie hatte! Sie waren groß und voller Schwielen, und sie besaß die unschönen, flachen Gesichtszüge der Qumaner, obwohl Antonia erfahren hatte, dass sie in einem ganz anderen Stamm geboren worden war. Es machte keinen Unterschied. Sie waren
190 beide zum Abgrund verdammt, denn sie waren Ungläubige, die sich dem Kreis der Einigkeit verweigerten. Abgesehen von einer Kiste war der runde Raum leer, die Läden waren geschlossen.
Zwei Wachen saßen auf den Holzstufen, die von oben heruntergelassen und an Seilen und einem Flaschenzug befestigt waren. Holzlatten versperrten die Steintreppe, die weiter hinaufführte. »Heilige Mutter! Wollt Ihr nach oben zu den Gefangenen? Wir helfen Euch, wenn Ihr wollt.« Ein kräftiger und überaus höflicher junger Soldat reichte ihr die Hand, um sie zu stützen. Es war nicht so leicht wie früher, Stufen hinaufzusteigen, die fast so steil waren wie eine Leiter, aber sie gelangte ohne Zwischenfall zum zweiten Stock. In dieser Kammer schliefen Edelmann Berthold und sein Diener in richtigen Betten, und schöne Wandteppiche bedeckten die Mauern. Außerdem gab es zwei im Augenblick erkaltete Kohlenpfannen, einen Tisch, umgeben von geschnitzten Bänken -und sogar einen Stuhl, der unter einem offenen Fenster stand. Er saß da, ließ den Blick mit einer Miene über Novomo schweifen, die sie zum Zittern brachte, denn sie war so ohne jedes Gefühl, dass es unmenschlich wirkte. »Bruder Heribert«, sagte sie, spürte eine Woge von Wut und hilfloser Erwartung durch ihre müden Knochen strömen. Sollte ein Kind nicht seine Eltern lieben? Forderte das Heilige Buch nicht Gehorsam? Er drehte sich nicht um, ließ durch nichts erkennen, dass er sie gehört hatte. Sie hätte unsichtbar sein können, oder stumm. »Heribert!« Er erwachte, zuckte zusammen und starrte sie an, aber er stand nicht auf, um sie zu begrüßen, wie jedes gewöhnliche Kind es getan hätte. Er hätte sie lieben und ihr dankbar sein müssen. Schließlich war er eine große Bürde gewesen, da man von ihr Enthaltsamkeit erwartet hatte. Dass sein Vater sie verführt hatte - nun, das war das Werk des Feindes gewesen, und zweifellos war die Saat aufgegangen und hatte Heribert auf
191 höchst ungehörige Weise befleckt, so dass er nun so rebellisch und undankbar war. Bevor sie sprechen konnte, um ihm das zu sagen, erklang Hauptmann Falcos Stimme durch die offene Falltür. »Ich frage Euch noch einmal: Woher kommt Ihr? Wer ist die junge Frau, die Euch begleitet?« Er bekam keine Antwort. Sie stellte sich unter die Falltür. Die Steintreppe war auch hier abgesperrt, aber an einer der Bänke lehnte eine Leiter, die Zugang zum dritten Stock gewährte. »Darf ich Euch helfen, Heilige Mutter?«, fragte der Soldat, der ihr nach oben gefolgt war. »Könnt Ihr die Leiter hochklettern?« »Das kann ich«, sagte sie grimmig. Der Mann schob die Leiter durch das offene Loch. Heribert erhob sich. Stimmen waren von unten zu hören. »Lasst mich hoch, bitte!« »Herr, Ihr hättet nicht weggehen dürfen! Die Königin war sehr wütend. Wir haben ihr gesagt, dass Ihr einen schrecklichen Durchfall hattet. Edelmann Jonas hat eine Kapuze über den Kopf gezogen und sich für Euch ausgegeben. Er hat sich von Paulinus und Tedwin zu den Gruben begleiten lassen, wo er wie eine Katze geknurrt hat, die an einem Haken hängt.« Bertholds Lachen klang fröhlich. »Nach all dem Gebäck wünschte ich mir fast, ich wäre diese Katze ...« Von oben kamen die Worte der Königin. »Schlagt ihn. Bringt ihn zum Sprechen.« Ein Klatschen, als ein kräftiger Schlag auf Haut traf. »Aufhören! Aufhören, Miststück!« »Verdammt!«, fluchte Berthold von unten. »Wer ist das?« »Die andere Gefangene, Herr. Sie ist dunkel wie Honig, und ich bin sicher, sie schmeckt auch so süß. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass wendische Frauen so dunkelhäutig sein können, als wäre sie Jinnen. Aber sie hat das Benehmen einer Herzogin und ist tatsächlich eine Wendanerin, dieses Miststück.«
191 Ein zweiter Schlag ertönte von oben. Unten scharrten Füße auf den Stufen. Heribert runzelte die Stirn, während er Antonias Gesicht musterte, oder den leuchtenden Wandteppich oder die
Staubteilchen, die in den Sonnenstrahlen dahintrieben. Sein Blick war auf nichts Bestimmtes gerichtet. Sie stellte einen Fuß auf die unterste Sprosse, als Bertholds Kopf in der Bodenklappe auftauchte. Über ihr brach eine Rauferei aus. Dann kamen ein neuer Schlag, ein gedämpfter Schrei und der knappe Fluch einer Frau. Gnade schrie. »Setz dich!«, brüllte Hauptmann Falco. »Niemand behandelt mich auf diese Weise! Hände weg, du Schwein!« »Bitte, Kind«, sagte eine andere Stimme, eine Männerstimme. »Setz dich.« Diese Stimme erkannte Antonia sofort. Sie kletterte hoch, während Berthold quer durch den Raum schoss. Als er sie auf der Leiter sah, trat er unruhig von einem Bein aufs andere, denn er war zu gut erzogen, um sie zu bitten, sich zu beeilen. Sie hatte Schwierigkeiten, oben auf den Boden zu gelangen. Als sie wieder auf die Beine gekommen war, hatte Berthold die Leiter bereits erklommen. Mit gerötetem Gesicht, weit aufgerissenen Augen und offenem Mund stand er da und starrte auf den Anblick, der sich ihm bot. Die Königin war wütend; rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Diese Art von unbeherrschter Wut machte sie nie hübscher. Anna, die Dienerin, hielt Gnade fest. Die Prinzessin sah aus, als wollte sie um sich treten, aber sie tat es nicht. Ein weißhaariger Mann war an einen Stuhl gebunden. Zwei Wachen standen hinter ihm. Hauptmann Falco, der so wütend war, wie Antonia ihn noch nie zuvor gesehen hatte, und in dessen Gesicht ein frischer Kratzer war, hielt mit seinen großen Händen die Handgelenke einer dunkelhäutigen, jungen Frau fest, die im gleichen Alter wie Berthold zu sein schien.
192 »Elene!«, rief der junge Villam, betonte dabei nach Art der Wendaner jede Silbe: Eh-leh-neh. »Elene von Wayland!« Hauptmann Falco ließ sie los. Das Mädchen sah den älteren Mann an, der ihr zunickte und dann Berthold ansah. »Ihr seht aus wie Berthold, Villams jüngster Sohn«, sagte das Mädchen namens Elene. »Ich erinnere mich an Euch von der Königlichen Schule, wo ich als Geisel war.« »Ihr erinnert Euch an mich?«, fragte Berthold mit der Stimme eines Mannes, der sich gerade Hals über Kopf verliebt hatte. »Natürlich. Die anderen waren nicht nett zu mir, nicht so wie Ihr. Sie haben mir Spitznamen gegeben. Sie waren natürlich eifersüchtig wegen meines Vaters.« »Elene von Wayland«, sagte Adelheid. Sie faltete die Hände und presste sie an ihren Bauch, wie ein Kind es tun mochte, dem man eingeschärft hatte, bloß kein Stück Kuchen zu stibitzen, das es besonders gern haben wollte. »Ihr seid Conrads Tochter?« Das Mädchen sah sie einfach nur an, dann wandte es ihr auf höchst beleidigende Weise den Rücken zu und kniete sich neben den älteren Mann. »Haben sie Euch wehgetan, Wulfhere?« »Still!«, zischte Anna etwas zu laut, als Gnade sich in ihren Armen wehrte. »Still!« »Ich will zu Berthold!« Anna ließ sie los, und Gnade schoss durch den Raum und stürzte sich so heftig auf Berthold, dass er taumelte und fast rücklings die Falltür hinuntergefallen wäre. »Gör! Passt auf! Ich kriege keine Luft!« Aber er sah sie nicht an. Er hatte noch nicht einmal einen Herzschlag lang den Blick von Herzog Conrads wunderschöner Tochter abgewandt, die völlig unerwartet unter dem Schutz von Bruder Lupus, bekannt als Wulfhere, dem Letzten aus Annes geheimem Zirkel, in Aosta aufgetaucht war. Wie interessant. »Genug!« Adelheid zupfte sinnlos an ihren Ärmeln, während sie sich bemühte, Haltung zu bewahren. »Der Adler soll
192
im Loch schmoren, bis er bereit ist, uns zu erzählen, wieso er ohne Gefolge und mit der Erbin eines Herzogs in den Krallen durch Aosta nach Norden gereist ist. Conrads Tochter kann erst einmal bei ihrer königlichen Verwandten bleiben.« »Ich will sie nicht!«, entgegnete Gnade, die sich immer noch an Berthold klammerte. »Ich mag sie nicht!« »Ich werde es Euch zeigen, kleines Biest!«, sagte Elene, während sie mit schadenfroh blitzenden Augen herumwirbelte und Gnade anstarrte. »Glaubt Ihr, ich weiß nicht, wie man mit ekligen kleinen Schwestern umgeht?« »Still, Gnade«, schalt Berthold. »Herzog Conrad ist ein Verwandter Eures Vaters. Ihr müsst Edelfrau Elene mit Respekt behandeln.« »Ich will nicht!« Wulfhere sprach jetzt zum zweiten Mal. »Prinzessin Gnade. Seid nett, wie Euer Vater - und Bruder Heribert - es von Euch wünschen.« Die Worte brachten sie zum Schweigen. Sie schniefte, hielt aber den Mund. Elene lächelte. Sie sah Wulfhere an, und er sah sie an, und eine Botschaft wanderte zwischen ihnen hin und her, die Antonia nicht lesen konnte, aber sie verstand ihre Bedeutung auch so. Obwohl sie in die Hände ihrer Feinde gefallen und Gefangene waren, waren sie nicht im Mindesten verängstigt. Sie haben bereits einen Plan. »Hauptmann, bringt sie rasch weg, ehe ich die Beherrschung verliere«, sagte Adelheid. Sie wandte sich der Falltür zu. »Heilige Mutter! Wieso seid Ihr gekommen?« »Ich wollte die Gefangenen sehen, Eure Majestät. Wie sind sie in diesen schrecklichen Tagen hierhergekommen?« »Sie sind Richtung Norden gewandert. Wie können zwei Reisende mit nur einer erbärmlichen Stute die Reise durch den Süden von Aosta überlebt haben? Aber sie weigern sich zu sprechen. Wir werden den Adler foltern müssen, um ein Geständnis zu erhalten. Hauptmann!«
193 Falco band Wulfhere vom Stuhl los. Die Hände des alten Mannes waren noch immer gefesselt, und er wurde die Leiter hinuntergeschoben, während Elene ihm nachstarrte. Adelheid folgte ihnen. »Kommt schon, Gör«, sagte Berthold. »Lasst los.« »Nein.« »Wie seid Ihr hierhergekommen, Edelmann Berthold?«, fragte Elene. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter«, sagte Berthold mit liebenswürdiger Stimme. »Wollt Ihr uns nicht in ein Gebet führen?« Das Mädchen zuckte zusammen, reckte dann das Kinn als Hinweis, dass sie den Schlag erkannt hatte. Sie war nicht feinsinnig, aber es war offensichtlich, dass sie genau wie ihr berüchtigter Vater störrisch und stark war. Und sie verbarg etwas. Da war der Hauch eines Geruchs um sie herum, der Antonia an Anne und den Turm in Verna erinnerte: der Gestank der Zauberei, den sie selbst so gut kannte. »Ihr seid Meriams Enkelin«, sagte Antonia. Das Mädchen sah sie überrascht an. Es lag viel Stolz in dem jungen Gesicht, aber sie war auch wachsam, argwöhnisch und aufmerksam. Sie dachte nach und schmiedete Pläne. »Wer seid Ihr?«, fragte sie gebieterisch. »Ich bin die Heilige Mutter der Gläubigen, Kind.« »Ihr seid die Skopos? Die Nachfolgerin der Heiligen Mutter Anne?«, fragte sie. »Aber Ihr sprecht Wendisch. Ihr seid keine Dariyanerin. Hat die Heilige Mutter Anne Euch zu ihrer Nachfolgerin erwählt?« »Gott haben mich erwählt, um ihr Werk auf Erden zu tun.« Elene kicherte. In ihrer Miene lag eine so leichte Hysterie, dass sie Antonia fast entgangen wäre. Sie war zerbrechlich unter dem Hochmut, den sie von ihrem Vater geerbt hatte. Die Stärke, die sie vor Wulfhere gezeigt hatte, war nicht in ihrem Innern verwurzelt. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter,
haltet die Königin zurück. Lasst nicht zu, dass sie Wulfhere etwas tut. Er hat mir das Leben gerettet!«
194 Da war ein Geheimnis, aber sie würde vorsichtig zu Werke gehen müssen, um es aufzudecken. »Wie hat er Euch gerettet, Kind?« »Das kann ich Euch nicht sagen.« »Ich bitte Euch, Heilige Mutter«, mischte Berthold sich ein, »seht Ihr nicht, dass sie erschöpft ist? Lasst sie sich ausruhen. Ihr könnt sie gewiss später noch befragen.« »Wulfhere darf nichts geschehen!« Elene sank weinend auf die Knie. »Lasst los, Gör!« Berthold schüttelte Gnade ab. Er trat zu Elene, nahm ihre Hände und kniete neben ihr nieder. »Ich bitte Euch, Edelfrau Elene, verzweifelt nicht. Ich werde nicht zulassen, dass Wulfhere etwas geschieht.« Sie hob das Gesicht und starrte ihn mit Tränen in den Augen an. Was für ein hübsches Paar! So jung und gefühlvoll, wie junge Leute nun einmal waren. »Aufhören!«, rief Gnade wütend. Sie stapfte zu ihnen und versuchte, sich zwischen Berthold und Elene zu drängen. »Das reicht, Gör!«, sagte Berthold streng. »Selber aufhören!« Elene kniff das Mädchen so kräftig ins Hinterteil, dass Gnade aufschrie und von ihr wegsprang, sich in Annas Arme stürzte und laut losschluchzte. »Niemand liebt mich! Ich hasse euch alle!« Elenes Tränen waren versiegt. Sie sah Berthold an, musterte ihn abschätzend, und er starrte sie mit all der Intelligenz eines jungen Mannes an, der heftig und hilflos in die Falle der Vernarrtheit gestürzt war. Sie zog ihre Hand nicht aus seiner zurück. Lächelte ihn bebend an. »Nein! Nein! Nein! Er liebt mich, nicht sie!« »Eure Hoheit«, sagte die Dienerin, drückte das zappelnde Kind so fest an sich, dass sich die Anstrengung auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Ich bitte Euch, macht keine Szene. Natürlich liebt Edelmann Berthold Euch. Wir alle tun das.« »Sogar Papa hat mich weggeschickt! Niemand liebt mich! Niemand! Niemand! Niemand!« Sie stürzte in einen heftigen,
194 von Schluchzern geschüttelten Wutanfall, und es kostete die Dienerin all ihre Kraft, sie zu bändigen. Antonia lächelte. »Edelfrau Elene. Was wollt Ihr?« Elene ließ Bertholds Hände los und stand auf. Seine Unterstützung hatte ihr neue Kraft verliehen. »Ich möchte, dass Wulfhere freigelassen wird, damit er und ich nach Norden reisen können. Ich will nach Hause!« »Königin Adelheid wird nicht so leicht zu überzeugen sein.« »Ich habe andere -« Sie unterbrach sich, besann sich eines Besseren. »Ich vermute, dass Eure Großmutter Euch einige Künste beigebracht hat, Kind. Ich bin nicht unwissend, was Anne und ihre Zauberei betraf. Ich kenne Meriam. Ist sie tot?« Elene ließ die Schultern sinken. Ihr ganzer Körper erschlaffte. »Ja«, flüsterte sie. »Sie ist tot. Anne wusste, dass es sie alle umbringen würde - und sie hat sich nicht darum geschert! Das hat Wulfhere gesagt.« »Und Wulfhere muss es ja wissen, nicht wahr? Immerhin war er Annes treuester Diener.« Elene neigte den Kopf zur Seite, während ein abschätzendes Lächeln ihre Lippen kräuselte. »Das stimmt«, sagte sie spöttisch. Unverschämtes Kind! »Ich weiß nicht, was Wulfhere Euch erzählt hat, um Euch dazu zu bringen, mit ihm zu reisen. Ich habe einmal zu ihnen gehört, bevor Anne versucht hat, mich zu betrügen. Ich habe vorhergesehen, was geschehen würde. Ich habe gesehen, wer Anne unterstützt hat, aber ich habe auch gesehen, dass ich geopfert werden würde, und daher habe ich einen anderen Weg gewählt. Deshalb habe ich überlebt.«
»Wovon sprecht Ihr?«, fragte Berthold. Gnade schluchzte immer noch. »Niemand! Niemand!« Das Kind hatte eine bemerkenswerte Ausdauer und Kraft, zweifellos ein unnatürliches Erbe ihrer Eltern. »Natürlich habt Ihr recht«, sagte Elene ruhig. »Ich bitte
195 Euch, Heilige Mutter, lasst nicht zu, dass Wulfhere Schaden zugefügt wird.« »Ich bin dem Dienst an Gott verpflichtet, nicht den belanglosen Streitereien der Menschen. Aber ich hasse es, Leiden zu sehen. Es ist möglich, dass Ihr und Wulfhere Informationen besitzt, die für mich von Wert sein könnten.« »Wenn Ihr uns gehen lasst, werde ich Euch alles sagen.« »Habt Ihr die Flucht nicht bereits geplant? Welche Zauberei hat Eure Großmutter Euch beigebracht?« Elene legte die eine Hand in die andere. Sie biss sich auf die Lippe. »Ich kenne mich aus mit Zauberei, Edelfrau Elene. Ich verfüge ebenfalls über Waffen - und sie sind grausamer und viel gefährlicher, als Ihr es Euch vorstellen könnt. Sie reichen weiter als Pfeile oder Speere. Ihre Berührung ist tödlich, und ihr Herz lässt sich nicht erweichen, weder durch Flehen noch durch Bestechung. Meine Diener sind nicht von dieser Welt, und nichts auf dieser Welt nichts, über das Ihr verfügt - kann sie aufhalten.« Gnade hörte auf zu weinen, lehnte sich aber zitternd an ihre Dienerin. Elene verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich weiß, wer Ihr seid. Meine Großmutter hat über Euch gesprochen. Ihr seid diejenige, die die Galla beherrscht.« »Die bin ich. Versteht Ihr jetzt, dass es besser ist, mit mir zusammenzuarbeiten ? Selbst wenn Ihr Magie benutzt, um zu fliehen, können meine Diener Euch jagen, wohin Ihr auch geht.« »Was sind Galla?«, fragte Berthold. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Unruhe und Verwirrung und ein Hauch jener stolzen Wut, die den Villams eigen war. »Etwas sehr Schlimmes«, sagte Elene so leise, dass ihre Stimme fast nicht zu hören war, als unten eine Bank über den Boden schrammte und vom untersten Stock der Ruf einer Wache heraufdrang. Sie ließ die Hände sinken. »Was wollt Ihr von uns, Heilige Mutter?«
195 »Die Wahrheit. Sagt mir alles, was Ihr wisst, Edelfrau Elene. Ich kann Euch und Wulfhere nicht gehen lassen, aber ich werde dafür sorgen, dass Ihr gut behandelt werdet und Königin Adelheid Euch keinen Schaden zufügt.« »Ja.« Elene griff nach einem Stuhl und ließ sich mit Bertholds Hilfe auf ihm nieder. Als sie saß, legte er eine Hand beschützend auf ihre Schulter, während sie mit stockender Stimme ihre Geschichte erzählte und sie zweifellos vernebelte, wo es ihr möglich war. Sie war verängstigt, das war leicht zu erkennen, und gedemütigt, weil sie wusste, dass sie Angst hatte. Sie machte Fehler und enthüllte mehr, als sie vorhatte: wie Meriam gefordert hatte, dass ihr Sohn seine älteste Tochter Annes Zirkel opferte; wie sie zu Schiffbrüchigen geworden und von Bruder Marcus gerettet worden waren; wie Wulfhere in Qurtubah in der Nähe von Kartiako verschwunden war, weil die anderen vermuteten, dass er sich gegen sie gewandt hatte; wie ein einfacher, ungebildeter Bruder namens Zacharias sie vor dem monströsen Akreva gerettet und das Gift aufgenommen hatte, das für sie gedacht gewesen war; wie sie und Meriam und ihr winziges Gefolge durch die Kronen in die Wüste von Sai's gereist waren, in ein unwegsames Ödland, in dem nichts lebte oder atmete; wie Meriam in jener schrecklichen Nacht mit Elenes Hilfe die große Beschwörung gewoben hatte. »Sie ist gestorben.« Elenes Stimme war mehr ein Krächzen als ein menschliches Geräusch, und ihr Körper zitterte, als Berthold ihre Schulter tätschelte. Sie weinte nicht. »Sie hat meine Kraft benötigt, aber sie hat mich im letzten Augenblick zurückgeschickt. Sie hatte es die ganze Zeit mit Wulfhere geplant.« »Mit Wulfhere? Was hatten sie geplant?«
»Dass er uns folgen und mich zu meinem Vater zurückbringen würde. Sie hat ihren Schwur Anne gegenüber gehalten. Sie wusste, dass das, was sie getan haben, richtig war. Aber die Sieben Schläfer haben versagt. Die Verlorenen sind zurückge
196 kehrt. Sie werden die Menschheit töten, wenn es ihnen möglich ist. In Jinna werden immer noch Geschichten vom alten Krieg gegen die Aoi erzählt. Meine Großmutter hat diese Geschichten als Kind gehört. Ihr wisst, was Anne vorhatte - sie wollte die Verlorenen für immer verjagen, damit sie uns nie wieder zusetzen können. Wieso habt Ihr Mutter Anne verlassen, wenn Ihr wisst, dass ihr Unterfangen richtig und notwendig war?« »Ich habe keinen Grund gesehen, mich zu opfern, wenn ich Gott besser dienen kann, indem ich überlebe. Hat Anne gewusst, dass sie und die anderen sterben würden? Dass das Weben seinen Preis haben würde? Hat Schwester Meriam gewusst, dass sie verdammt war? Sind sie alle gestorben?« Die Art und Weise, in der Elene die Lider senkte und sich an Berthold lehnte, brachte Antonia zu der Vermutung, dass sie lügen würde. »Ich habe nicht in das Weben sehen können. Ich weiß nur ...« Sie weinte. Berthold warf Antonia einen aufgebrachten Blick zu. »Ist das nötig?« Er wirkte so sehr wie sein Vater, dass Antonia einen Moment die Orientierung verlor. Es war, als wäre sie durch irgendeinen Zauber in die Tage ihrer Jugend versetzt worden. Aber sie musste weitermachen. »Was wisst Ihr, Edelfrau Elene?« »Etwas Schreckliches ist passiert. Ich weiß nicht, wer gegen die Beschwörung gekämpft hat, aber sie ist im Norden zusammengebrochen, und dann ist etwas Schreckliches passiert. Weißes Feuer und ein Fluss aus brennendem Stein. Meine Großmutter ...« Ihre Lippen zuckten, als sie sich bemühte, nicht laut zu schluchzen. »Sie ist verschwunden ... hat sich in einem Wirbel aus weißem Licht vollständig aufgelöst. Später hat dann ein Sturm unser Lager verwüstet. Unsere Bediensteten sind getötet worden, erstickt im Sand. Und dann ist ein ... Geschöpf aus dem Sand aufgetaucht.« Sie bedeckte die Augen mit einer Hand. »Ein riesiger Löwe, aber er hatte Flügel und das Gesicht einer Frau. Er wollte mich töten. Dann ist Wulfhere gekommen, und wir sind geflohen.«
196 »Die alten Boten Gottes.« Wie Feuer brannte die Aufregung in Antonias Herz. Das, was sie da hörte, machte sie benommen. »Die ältesten Geschichten erwachen zum Leben! Ist es wirklich wahr, dass Ihr sie gesehen habt? Eine der Löwenköniginnen, einen der heiligen Boten Gottes?« »Ich habe sie gesehen.« »Was hat Wulfhere getan, dass sie Euch gestattet hat, ihrem gerechten Zorn zu entgehen?« Elene zog eine Grimasse und wischte sich über die Wangen, während sie ruhiger wurde. »Fragt ihn. Ich bin durch den Blutverlust ohnmächtig geworden.« »Heißt das, sie hat Euch getroffen, und Ihr habt dennoch überlebt?« »Glaubt Ihr mir nicht?« Elene zog ihre Tunika hoch, entblößte ihren nackten Oberschenkel, der schlank und schön war. Berthold wurde rot und blickte zur Seite, aber Antonia sah die weißen Narben von drei tiefen, aber sauber verheilten Kratzern. Eine Katze mochte eine solche Narbe hinterlassen, wenn sie sehr, sehr groß war. »Also schön«, sagte Antonia. »Ich glaube Euch, Edelfrau Elene. Ihr werdet hier im Gewahrsam von Königin Adelheid bleiben. Vergesst die Galla nicht.« Sie ging, aber es war schwierig, sich auf die einzelnen Sprossen der Leiter zu konzentrieren, während ihre Gedanken so aufgewühlt waren. Welche Macht hatte Wulfhere? Er hatte immer wie der am wenigsten Mächtige von Annes Zirkel gewirkt - derjenige, der durch die Welt wanderte, um Berichte hin und her zu bringen, weil es das Einzige war, was er tun konnte. Und doch waren er und Antonia offenbar die Einzigen aus Annes Zirkel, die überlebt hatten. Es mochte andere aus Annes Gelehrtenschule geben, die in den Künsten der Zauberei ausgebildet worden waren, aber die waren wahrscheinlich in Darre gestorben oder versteckten sich irgendwo voller Angst. Ohne eine starke Anführerin waren sie nichts weiter als Boote, die ohne Ruder oder Steuer dahintrieben.
197 Heribert stand immer noch am Fenster. Dem Anschein nach hatte er sich nicht gerührt, seit sie nach oben gegangen war. Sein Blick berührte sie, flackerte dann zur Seite. Seine Gleichgültigkeit erzürnte sie. Sie schlug mit der einzigen Waffe zu, die sie besaß. »Wenn Prinz Sanglant dich geliebt hätte, hätte er dich nicht verlassen.« Dies errang seine Aufmerksamkeit. Er sah sie zum ersten Mal verblüfft an, dann mit einem Hauch von Verständnis. »Das hat der andere auch gesagt. Wenn er mich geliebt hätte, hätte er mich nicht verlassen.« Er zwang die Worte heraus, dachte über den Gedanken nach. Und dabei war Heribert sonst alles andere als langsam. »Wohin ist er gegangen? Ich habe gesucht und gesucht, aber ich kann ihn nicht finden.« »Nach Norden, heißt es! Zurück nach Wendar, auf der Suche nach jenen, die er mehr liebt als dich. Er hat dich nie geliebt.« Er schüttelte den Kopf, wie ein Kind es tun mochte, das einen Schmerz loswerden wollte, der doch nie vergehen würde. »Das ist unmöglich. Er hat mich geliebt. Aber er hat mich verlassen, um dem anderen zu folgen. Es ist der andere, der ihn gestohlen hat.« Sein schwerfälliges Gefasel verärgerte sie. Sie hatte so viel für ihn getan, und so wurde es ihr nun vergolten. Sie ging zum Raum der Wachen weiter, wollte den Nordturm so rasch wie möglich verlassen, da sie über vieles nachdenken musste. Wie weit reichten Elenes Fähigkeiten im Umgang mit der Zauberei? Sie konnte es nicht erkennen. »Achtet darauf, dass niemand von ihnen den Turm verlässt, bis ich weitere Anordnungen gebe«, sagte sie zu dem Feldwebel. »Nicht einmal Edelmann Berthold. Ich weiß, dass er wegen seiner Freundlichkeit besonders beliebt ist, aber er muss zunächst einmal im Turm bleiben.« »Jawohl, Heilige Mutter. Aber es gibt bestimmte Aufgaben und Arbeiten, mit denen meine Männer nichts zu tun haben wollen. Wer wird sie erledigen?«
197 »Die Dienerin kann Besorgungen machen. Sie wird nicht zu fliehen versuchen. Wohin ist der alte Mann gebracht worden ?« »In den Kerker, Heilige Mutter.« »Sorgt dafür, dass er angekettet wird, damit er keine Möglichkeit hat zu fliehen. Er ist gefährlich, auch wenn er friedfertig und schwach wirkt.« »Jawohl, Heilige Mutter.« Als Zeichen ihrer Gunst gestattete sie ihm, ihren Ring zu küssen. Ihre Dienerinnen begleiteten sie durch Novomos Gärten und offene Korridore zu ihrem Audienzsaal. Die Bittsteller dieses Tages warteten vor der Tür. Als Antonia den Saal betreten hatte, breitete sie die Arme aus, damit ihre Dienerinnen ihr die heiligen Gewänder anlegen konnten. Sie ließ sich auf den Stuhl mit der hohen Rückenlehne sinken; neben ihr ruhte die heilige Lanze von St. Perpetua auf einem Tisch. Der goldene Becher war mit Wein gefüllt und stand auf einem bestickten Tuch auf dem Tisch hinter ihr. Ein Dutzend Schreiber saßen rechts von ihr an einem Tisch, darauf vorbereitet, die Petitionen, Streitereien und ihre Entscheidungen niederzuschreiben. Geistliche öffneten die Tür. Die Bittsteller krochen auf den Knien herein; nacheinander baten und bettelten sie und trugen Entschuldigungen vor. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter, ich habe einen Brief bei mir, der mir das Lehen von St. Asklepia in Noria überträgt, aber ohne eine Eskorte von zwanzig bewaffneten Männern kann ich die Reise nach Süden nicht antreten. Und wenn ich nicht dort bin, kann ich nichts tun, sollte es zum Aufruhr kommen oder dem Land sonst ein Schaden drohen. Und ich kann auch keine Steuern in Eure Schatzkammer zahlen, wenn ich dort nicht die Aufsicht führe. Bitte stellt Soldaten für diese Aufgabe ab ...« »Edelmann Atto hat seinen eigenen unehelichen Sohn als Abt unseres Klosters eingesetzt, Heilige Mutter, und dieser Schurke hält sich drei Konkubinen in seinem Zimmer und ein
197 Rudel Hunde in der Kapelle. Wir bitten Euch, erhebt unseren guten Bruder Sylvester zum Abt des Klosters St. Justinian. Verjagt diesen üblen Mann, wie er es verdient hat...«
»Ich bitte Euch, Heilige Mutter, im letzten Herbst ist unser reifes Korn bis auf den letzten Halm verbrannt, und alle unsere Reben sind zerstört worden. Ich habe keine Vorräte mehr, und die Leute in meiner Gemeinde verhungern ...« »Es stimmt, dass wir verpflichtet sind, dem Palast der Skopos dreißig bewaffnete Soldaten mitsamt Reittieren und Verpflegung zur Verfügung zu stellen. Aber in diesen Zeiten herrscht in unserem eigenen Land große Not, wir brauchen alle Männer, um Banditen und Gesetzlose abzuwehren ...« »Unsere Bischöfin ist im letzten Herbst gestorben, Heilige Mutter. Wir bitten Euch, ernennt eine würdige Nachfolgerin ...« Jeden Tag außer Herrintag hörte sie solche oder ähnliche Fälle, so dass sie ohne die Niederschriften der Geistlichen hätte durcheinandergeraten können. Eine weitere Gruppe von Brüdern traf ein, die ebenfalls aus dem Kloster St. Justinian stammten. Sie unterstützten den Anspruch des unehelichen Sohnes, von dem sie sagten, dass er von üblen Männern verleumdet worden wäre und in Wirklichkeit ein höchst frommer und fähiger Hirte sei. Er würde der Schatzkammer der Skopos freudig ein Geschenk machen, um seinen Wert zu beweisen. Die Leute drückten sich vor dem Zehnten, und dann drehten sie sich um und baten darum, dass verschiedene Findelkinder und Herumtreiber in Stiftungen übernommen wurden, über die sie herrschte. Antonia wusste jedoch, dass es nur der Versuch war, zusätzliche Mäuler an andere loszuwerden, die bereitwilliger waren, sie zu füllen. Dennoch wies sie die Unerwünschten nicht ab. Sie konnten immerhin arbeiten, und sie würden dankbar sein, dass sie noch am Leben waren. Die Schlauesten unter ihnen konnten als Bedienstete in ihrer wachsenden Gelehrtenschule arbeiten, die Dümmsten konnten die Ställe säubern und die Straßen fegen. Die Königin hat43 2 te immer Bedarf an Gottlosen, die sich in den Minen plagten. Die Starken würden überleben, die Übrigen von der Last ihrer Sünden erstickt werden. Im Augenblick mussten sie und Adelheid vorsichtig herrschen, um jene Autorität zu erlangen, die es ihnen erlauben würde, ihren Einflussbereich zu vergrößern. Den meisten Menschen hatte die Tatsache, dass Darre zerstört worden war, vollkommen die Fassung geraubt. Täglich kamen Flüchtlinge aus dem Süden und brachten Geschichten mit, die einem die Haare zu Berge stehen ließen - sie erzählten von Plünderungen und Zerstörungen, von bis auf die Grundmauern abgetragenen Gebäuden, weil Verzweifelte alles noch Brauchbare raubten, um woanders etwas Neues aufzubauen, von Piraterie an den Küsten, Überfällen auf den Straßen und sterbenden Kindern, deren Augen und Münder von Fliegen wimmelten. Es musste hart durchgegriffen werden, um sich angesichts der vielen Kräfte, die sich im heimgesuchten Aosta austobten und wüteten, die Vorherrschaft zu sichern. Antonia besaß keine andere Autorität als die von Gott, aber natürlich war die von Gottes Willen übertragene Autorität stärker als alle anderen. Wenn also die letzten Bittsteller angehört worden waren und sich alle in der Halle versammelt hatten, um vor der Rückreise in ihre Heimat ihren Segen zu erhalten, wenn dann auch Königin Adelheid aus ihren Gemächern hinzugekommen war, um an dieser Segnung und einem letzten Gebet teilzunehmen, verlas sie eine Erklärung. Antonia hatte sie mit Hilfe der Schriften, die aus dem Palast der Skopos in Darre gerettet worden waren, und auf der Grundlage ihres Verständnisses von Notwendigkeit und Wahrheit selbst zusammengestellt. Die versammelten Gläubigen hörten sie und nahmen die Neuigkeit mit zurück in ihre Heimat. Die Skopos kann von niemandem beurteilt werden. Die Dariyanische Kirche war unfehlbar und wird bis ans Ende der Zeit unfehlbar bleiben.
198 Die Dariyanische Kirche wurde allein vom heiligen Daisan gegründet. St. Thekla, die Zeugin, war die erste Skopos. Die Skopos allein darf Bischöfinnen absetzen und ernennen. Sie allein darf Konzile einberufen und heilige Gesetze verabschieden. Sie allein darf ihre Urteile zurücknehmen. Sie allein darf Kaiser absetzen. Sie allein darf Untertanen vo n ihrer Treuepflicht entbinden. Alle Fürsten und edlen Vasallen müssen ihr die Füße küssen.
Ihre Legaten, wie demütig sie auch sein mögen, haben Vorrang vor allen Bischöfinnen. Eine Anrufung des Gerichtshofes der Skopos hat Vorrang vor jeder anderen Beschwerde. Die Skopos wird ohne jeden Zweifel durch die Verdienste St. Theklas zu einer Heiligen. Jeden Tag neigte Adelheid, Königin und Kaiserin, den Kopf und lauschte den Worten in augenscheinlicher Demut. Wie Antonia wusste sie, dass sie nichts als Gottes Autorität besaßen, um das wiederaufzubauen, was verloren war. Deshalb würden Gott ihnen beistehen, und sie würden tun, was Gott zufolge richtig war. Gottlose Menschen würden Antonia ihrer Treue zu Gott wegen hassen, aber sie wusste, dass der Herr und die Herrin sie in diese Position gebracht hatten, weil sie wünschten, dass all jene, die im Kreis der Einigkeit standen, ihr gehorchten. St. Thekla hatte alles riskiert, als sie bezeugt hatte. Antonia konnte nicht weniger tun. »Morgen werden es noch mehr sein«, sagte Adelheid, als der Audienzsaal sich geleert hatte und sie in angenehmer Stille beisammensaßen, nur leicht gestört vom Kratzen der Federn und dem Getuschel von Adelheids Bediensteten. Lampen wurden entfacht. Edelfrau Lavinia entschuldigte sich, um sich um 199 vier Verwandte zu kümmern - von denen einer ein heiliger Presbyter war —, die noch vor der Abendmahlzeit untergebracht werden mussten. »Es werden ständig mehr werden, Eure Majestät.« Antonia bedachte ihre Geistlichen, die eifrig an Bewilligungen und Briefen arbeiteten, mit einem wohlwollenden Blick. »Wenn wir weise herrschen, wird unser Einfluss zunehmen.« »Ja. Jede Woche kommen mehr.« »Sie fürchten den Feind. Deshalb kommen sie zu uns, um gerettet zu werden. Es wird bald zu Abend gegessen werden, Eure Majestät. Wir müssen über Herzog Conrads Tochter und den Adler sprechen. Das Mädchen ist eine Zauberin, die von ihrer Großmutter ausgebildet wurde. Sie ist gefährlich.« »Weil sie eine Zauberin ist, oder weil sie uns gegenüber nicht loyal ist?« »Ich rate Euch, sie sofort zu töten. Schlagt zu, wenn sie am wenigsten damit rechnet, oder wenn sie schläft. Sie verfügt möglicherweise über Waffen, die es erschweren, sie zu töten.« Adelheid betrachtete sie schweigend. Eine Lampe nach der anderen wurde angezündet; ganz wie es dem Willen Gottes entsprach, erzeugten sie Licht und Schatten: Die Skopos und die Kaiserin tauchten sie in Teiche aus Licht, den Rest in zunehmende Schatten, abhängig von ihrer jeweiligen Natur. »Was ist mit dem Adler? Henry hat ihm nie getraut.« »Tötet ihn ebenfalls, wenn Ihr wollt, aber er könnte sich noch als nützlich erweisen. Er kennt die Geheimnisse von Annes Macht. Er hat sie länger gekannt als irgendjemand sonst. Und er verfügt über eigene Macht, die ich noch nicht verstehe.« »Wo sind sie hergekommen? Wieso sind sie hier? Ist es nicht wichtig, dass wir das erfahren?« »Ich kenne ihre Geschichte. Anne ist tot.« »Wie kann das Mädchen das so sicher wissen? Wo sind sie hergekommen?« »Aus der Wüste von Sai's. Ich werde Euch später die ganze Geschichte erzählen, wenn wir gegessen haben.« 199 »Wie konnten sie das Mittlere Meer überqueren, wenn riesige Wellen sämtliche Ufer zerstört haben?« »Wie und wo sie es überquert haben, weiß ich nicht. Darüber kann uns nur der Adler Auskunft geben.« Adelheids Blick glitt durch den Audienzsaal; sie musterte jede Person, was sie tat und mit wem sie sprach, welche Soldaten die Tür bewachten und welche Fensterläden geöffnet und welche geschlossen waren. »Welche Macht habe ich hier, Heilige Mutter? Ich habe Eure Macht als Skopos. Sie hat uns gut gedient. Bisher.« »Vertraut Ihr Gott nicht, Adelheid?«
Ihre Miene war wachsam, ihre Stimme scharf. »Es sind die Menschen, denen ich nicht vertraue. Ein mächtiger Edelmann - von denen es in Aosta noch einige gibt, besonders im Westen, wo die Umwälzung nicht so viel Schaden angerichtet hat - könnte auf die Idee kommen, eine andere Bischöfin oder heilige Diakonissin in das hohe Amt zu erheben. Wenn eine solche Frau Anspruch auf den Thron der Skopos erhebt, wird die Familie des Adligen von vielen Seiten Unterstützung erhalten.« »Ein solcher Anspruch wäre falsch.« »Das würden wir behaupten.« »Ihr habt Gottes Hände hier auf Erden wirken sehen. Wie könnt Ihr Ihre Macht anzweifeln?« »Ich habe große Zerstörungen gesehen, die durch das Wirken menschlicher Hände herbeigeführt wurden. Alles, was ich über Gottes Macht weiß, ist, dass Sie mich verschont haben, während Sie Henry getötet haben. Ich habe ein Kind, das lebt, und ein anderes, das bald sterben wird.« Die Schatten hatten sie berührt, aber sie sprach ohne Unterbrechung weiter. »Von den Edelleuten, die nach Süden und Osten geritten sind und für Henrys Reich eintreten, unterstützen mich nur sehr wenige. Darre liegt in Schutt und Asche und ist unbewohnbar. Was vom südlichen Aosta übrig ist, weiß ich nicht. Ich bin selbst durch die östlichen Lande gereist. Sie sind zerstört. Muss ich
200 bei den Arethusanern um Hilfe suchen? Sanglant wird mich nicht unterstützen. Er will an Henrys Stelle Herrscher werden. Aber jetzt ist Elene von Wayland in meine Hände gefallen. Mit ihr könnte ich mir die Zusammenarbeit mit Herzog Conrad erkaufen. Er verfolgt eigene Ziele. Lebend ist sie für mich wertvoller als tot.« »Sie ist gefährlich.« »Seid Ihr nicht noch gefährlicher, Heilige Mutter? >Die Skopos kann von niemandem beurteilt werden.< Das ist ein mächtiger Spruch.« »Das ist kein Spruch! Die Skopos ist verpflichtet, über alle Menschen zu herrschen, die im Kreis der Einigkeit leben.« »Dann ist der Kaiser, oder die Kaiserin, Euer Diener?« Antonia nickte. »Wie daroben, so hienieden.« »Ihr habt andere Bedienstete. Geißeln, deren Berührung tödlich ist.« »Ich habe das Werkzeug, das ich benötige.« »Ihr seid gut gerüstet für den bevorstehenden Krieg. Lasst mich Edelfrau Elene als Geisel halten, als Kameradin für Prinzessin Gnade. Was den Adler betrifft, kümmert er mich nicht. Macht mit ihm, was Ihr wollt. Wenn sein Tod meiner Tochter das Leben retten könnte, würde ich ihm mit eigenen Händen das Herz herausreißen!« »Ein ungläubiger Wunsch, Eure Majestät«, sagte Antonia. Dann, als sie sah, wie Adelheid die Zähne zusammenbiss und die Armlehnen ihres königlichen Sitzes umklammerte, fügte sie freundlich hinzu: »Aber er entspringt der Verzweiflung einer Mutter. Ich verfüge nicht über entsprechende Heilfähigkeiten. Meine Gabe besteht darin, Gottes Reich auf dieser Erde wiederherzustellen.« »Das hoffe ich«, murmelte Adelheid. Antonia lächelte. Sie wusste, dass sie ihre erste Schlacht gewonnen hatte.
1 Es hatte ihm in Quedlingham nicht gefallen, und es gefiel ihm viele Tage später in Gent noch weniger, als sie zum zweiten Mal vor der Morgendämmerung aufstand und ein Büßergewand anzog. »Es entehrt dich«, sagte er, während er ihr zusah. »Es entehrt mich nicht zu beten. Es entehrt mich nicht, um Vergebung für meine Sünden zu bitten. Ich bin mit dem Blut vieler Menschen befleckt.« »So wie ich!« Sie trug das raue, ungefärbte Gewand demütiger Pilger, bei dem der Kopf und die Füße trotz des kühlen Frühlingswetters und des feuchten Bodens bloß blieben. »Du hast sie auf saubere Weise getötet, ich nicht.«
»Wir können alle in der Kirche um Vergebung bitten, Liath. Dies ...« »Dies zeigt den Kirchenmüttern, dass ich keine Angst habe, barfuß vor Gott zu stehen, auch wenn ich eine Mathematika bin und ... jenes Geschöpf, das ich bin. Ich bin keine Ketzerin. Ich habe keine Angst, mich vor Ihnen demütig zu zeigen. Es sind die Stolzen, die vor Gottes Wahrheit nicht niederknien
201
XII
Wohin die Reise geht wollen. Es sind die, die Angst haben, Fragen zu stellen, die nicht wahrhaft glauben. Gott fürchten unsere Fragen nicht. Hätten Sie die Welt sonst mit so vielen Geheimnissen ausgestattet?« »Ich kann mit dir nicht streiten!« »Nicht in dieser Angelegenheit.« Er schritt unruhig auf und ab, aber seine Einwände und sein Unbehagen hatten keinen Einfluss auf ihre Vorbereitungen. Sie würde gehen, wie sie es in Quedlingham zur großen Überraschung von Mutter Scholastika getan hatte. Tatsächlich hatte er ihren Schritt als eine gute Taktik bewundert, so unerwartet und wirksam wie ein Gegenschlag. »Wie lange wird das so gehen?«, fragte er. »Willst du in jeder Kirche, bei der wir auf der Reise durch Wendar und Varre haltmachen, auf den Stufen knien?« »Wenn es sein muss. Bis die Exkommunikation aufgehoben wird.« Sein herrliches Gewand war noch nicht aus der Truhe geholt worden. Er würde erst nach der Mittagsstunde zur Kathedrale von Gent gehen. Es dauerte, bis sein Gefolge bereit war. »Du wirst mich weiterhin auf der Rundreise begleiten! Du wirst dich nicht verstecken! Oder in ein Kloster gehen!« Liath lächelte, ohne ihre ernste Stimmung aufzugeben. »Sei versichert, dass jeder Mensch in deinem Heer nur zu gut weiß, dass du jede Nacht ohne den Segen der Kirche bei mir schläfst. Dass du mich geheiratet hast, obwohl dein Vater sich der Verbindung widersetzt hat.« »Dass du deine Zauberei anwendest, um mich zu verführen und als deinen Gefangenen zu halten. Ich weiß. Ich weiß.« »Ich habe keine Angst vor dem, was andere über mich sagen oder denken mögen. Sie können mir keinen Schaden zufügen. Lass mich das hier tun, ohne dass ich auch noch gegen dich kämpfen muss, Sanglant.« Sie wartete nicht auf seine Antwort. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, sah er sich um. Als er vor etwa zwei Jah 201 ren zuletzt in Gent gewesen war, hatte er mehrere Wochen in diesem Raum gewohnt. Es war schwer, sich den Lauf der Zeit zu merken, doch er erinnerte sich, dass es ein kalter Winter gewesen war, als er mit seinem Gefolge angekommen war. Die Wandbehänge zeigten die gleichen Szenen wie damals: eine Jagd, ein Festmahl und eine Versammlung von mürrisch drein-blickenden Geistlichen und Bischöfinnen. Auf dem fein gewobenen arethusanischen Teppich, der den Fußboden bedeckte, prangten die gleichen leuchtend rotgelben Blumen und grünen Reben. Es gab für die Bürgermeisterin auch keinen Grund, ihn auszutauschen, da arethusanische Teppiche wegen ihrer Seltenheit und Qualität geschätzt wurden. Eine Kupferschüssel und ein Krug standen auf einem Seitentisch. Die Truhen, die sich sonst möglicherweise an der Wand befanden, waren gegen seine eigenen ausgetauscht worden. Jahre zuvor war Liath in genau diesem Zimmer durch ein ätherisches Tor erschienen, hatte ihm Jerna geraubt und war wieder verschwunden. Gott, war er wütend gewesen. Er begann erneut auf und ab zu schreiten. Es rüttelte am Riegel. Die Tür öffnete sich eine Handbreit. »Eure Majestät?« »Kommt rein, Hathui.« Sie trat ein, gefolgt von seinen engsten Vertrauten. Hauptmann Fulk und Hauptmann Istvan von Ungria vertraten seine persönliche Wache. Um zwischen den bedeutenden Edelleuten des Reiches und seiner Leibwache ein Band der Vertrautheit zu knüpfen, hatte er fünf junge Edelleute hinzugenommen, die jeweils aus dem Gefolge von Liutgard, Burchard, Gerberga, Waltharia und
einem Verwandten stammten, der mit der verstorbenen Herzogin Rotrudis verheiratet gewesen war. Drei Geistliche seiner Gelehrtenschule wurden von Schwester Elsebet angeführt; bei ihr war ein junger Mönch namens Bruder Ernoul, den Mutter Scholastika seinem Haushalt übergeben hatte, damit Sanglant es dem würdigen, schlauen und freundlichen Jungen ermöglichte, in der Welt voranzukommen. Er
202 hatte außerdem vier redliche Bedienstete zu sich genommen, Söhne von Verwaltern oder Kastellaninnen, die alle mit einem seiner verstorbenen Soldaten verwandt waren. Dens jüngerer Bruder wischte Staub von den Kohlenpfannen und füllte heiße Kohlen nach, während Malberts Vetter und Johannes' Onkel seine Gewänder auslegten, damit der Schneider noch letzte Risse oder Löcher flicken konnte. Chustaffus' älterer Bruder brachte einen Krug heißes Wasser, den er neben die Schüssel stellte. Dann wartete er darauf, dass seine Dienste benötigt wurden. »Eure Majestät«, sagte Hathui. »Es gibt hier eine Kusine von Edelmann Hrodik, und Bischöfin Supplicia möchte, dass Ihr mit ihr sprecht. Sie glaubt, dass diese Frau - eine Witwe ohne noch lebende Kinder - Euch auf der Rundreise als Kastellanin dienen könnte.« »Die Bischöfin entstammt der gleichen Familie, nicht wahr?« »So habe ich es gehört, Eure Majestät.« »Sie möchte ihre eigene Verwandte einbringen, um ihren Einfluss zu mehren.« »Natürlich, Eure Majestät. Dennoch braucht Ihr eine Kastellanin und Verwalterinnen, so wie ein Heer Soldaten und Hauptleute braucht. Herzogin Liutgard wird Euch in Fesse verlassen. Herzog Burchard ist bereits fort. Die fähigen Bediensteten der beiden können Euch nicht ewig dienen.« »Dann werde ich also mit ihr sprechen. Aber bitte, Hathui, seht Euch weiter unter den Edelleuten nach möglichen Kandidaten um. Leider sind so viele von Henrys Hof in Aosta gestorben.« Die Anwesenden murmelten leise Gebete. Irgendwo vor der Kammer, ohne dass er die Richtung ausmachen konnte, erklang ein schwaches Geräusch. »Wo ist Edelmann Wichman?«, fragte er. Sie sahen sich um. Hathui antwortete. »Er war eben noch bei uns, Eure Majestät.«
202 Er ging zur Tür, die Fulk öffnete. »Bleibt hier.« Der Palast von Gent war für seine weitschweifigen Gänge bekannt, die durch unzählige Umbauten im Laufe der letzten hundert Jahre noch verwirrender geworden waren. Der letzte Umbau war nach König Henrys Sieg über Blutherz' Heer erfolgt, und abgesehen von dem unzeitgemäß kühlen und bewölkten Wetter hatte Gent in den letzten Jahren ganz offensichtlich weniger gelitten als die meisten anderen Teile des Landes. Es gab keine bettelnden Kinder auf den Straßen. Das Umland war gut bevölkert und angemessen befestigt, und die Straße, die durch Stelesham und hinunter zum Flusstal führte, war in einem sehr guten Zustand. Viele Alkoven boten Platz, um sich an einem offenen Fensterladen niederzulassen. Hier und da war ein ausgebrannter Gang mit einer Wand aus Ziegeln oder Brettern in eine Sackgasse verwandelt worden. Aber was jemand, der zufällig vorbeikam, nicht sehen konnte, war doch zu hören, sofern man auf die Geräusche eines Kampfes achtete. »Nein ... oh ... mein Herr ... ich bitte Euch, lasst mich los! Ich werde schreien!« »Das bezweifle ich, du kleine Hexe! Komm schon ...« »Wichman.« Sanglant blieb vor einer dieser dunklen Ecken stehen, sah zwei in enger Umarmung verbundene Schatten. Der eine drückte den anderen gegen eine quer über den Gang gezogene Bretterwand. »Oh Herr, Sanglant! Könnt Ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?« »Ich werde weitergehen, wenn ich die Frau sagen höre, dass sie aus freiem Willen hierbleiben will.« Sie war atemlos, wehrte sich gegen zupackende Hände - und war verzweifelt. »Ich bitte Euch, Eure Majestät. Gewährt mir Euren Schutz. Er will mich vergewaltigen.« Wichman versetzte ihr einen Schlag. Sanglant packte ihn an der Schulter und riss ihn zurück. Da
203 raufhin wirbelte Wichman herum und versetzte ihm einen Kinnhaken, der ihn gegen die andere Wand schleuderte. Wichman schäumte vor Wut, und er setzte nach, schlug mit hämmernden Fäusten fluchend auf ihn ein. Gott, war er stark. Jeder Schlag ließ Sanglant taumeln. Die meisten fing er mit den Armen ab, aber einer traf seine Rippen, und er schnappte nach Luft. Sanglant hakte ein Bein hinter das von Wichman, drängte mit der Hüfte gegen ihn und brachte ihn zu Fall, kniete sich dann auf seine Brust. Wichman hustete und fluchte. »Eine genügt Euch wohl nicht? Müsst Ihr sie wirklich alle haben?« Drei Bedienstete und zwei Wachen tauchten auf, blickten besorgt drein. »Geht weiter«, sagte Sanglant, und nach einem Blick in sein Gesicht eilten sie davon. »Vielleicht müsst Ihr die Frauen zwingen, mit Euch ins Bett zu kommen, Wichman, und vielleicht kümmert es Euch nicht, dass sie Euch dafür hassen und fürchten, vielleicht genießt Ihr es sogar, aber ich werde es auf keinen Fall dulden.« »Was wollt Ihr mit mir machen, Eure Majestät?«, fragte er höhnisch grinsend. »Was könnt Ihr tun?« Sanglant wischte sich Blut von der Lippe. Sie würde anschwellen. »Euch mit Bertha von Austra verheiraten.« »Sie ist tot! Eure Frau hat sie verloren!« »Vielleicht ist sie doch nicht tot. Und wenn sie lebt, wird sie irgendwie nach Wendar zurückkehren. Was würdet Ihr davon halten?« »Ihr könnt mir keine Angst einjagen, Vetter. Ich nehme die wimmernde Jungfrau, Berthas kleine Schwester. Ich habe gehört, dass sie ziemlich hübsch sein soll. Und Westfall gibt's dazu. Oder macht mich zum Herzog von Saony. Ha, was werden meine Schwestern kreischen und bellen! Aber dafür ist es zu spät, nicht wahr? Ihr habt Saony Eurer Schwester gegeben, wie man einer Hündin einen Knochen hinwirft, weil sie nie 203 den Thron erhalten wird. Was bleibt da noch für mich, hä? Ich habe als Trost eine gute Scheide für mein Schwert gefunden, also lasst mich in Ruhe, verdammter Scheißkerl.« Er war wütend und erregt, nicht besser als ein Hund, der die Fährte einer läufigen Hündin aufgenommen hatte. Es war unmöglich, vernünftig mit ihm zu reden. »Rührt diese Frau nie wieder an.« Sanglant erhob sich, und er riss sich zusammen, als Wichman aufstand, sich die Kleidung glattstrich und lachte. »Wollt Ihr sie für Euch haben? Sie ist ziemlich hübsch, wenn auch kein so strahlendes Juwel wie Eure seelenlose Frau.« Sanglant schlug so hart zu, dass Wichman wieder zu Boden ging. Dieses Mal erhob er sich vorsichtiger, rieb sich das Kinn. »Ich bin nicht wütend, Wichman. Nichts, was Ihr über meine Frau sagt, könnte ihr schaden, aber es ist wichtig, dass Ihr begreift, dass Ihr auf meiner Rundreise Eure Zunge zügeln müsst.« »Ich wollte meine Zunge im Mund dieses warmen Geschöpfes zügeln. Wieso seid Ihr so kleinlich?« Er machte einen halben Schritt auf Sanglant zu, überlegte es sich dann aber anders. »Könige sollten großzügig sein und nicht alles Gold für sich selbst horten.« Er ging davon. »Mein Herr«, sagte sie aus der Dunkelheit, wo sie sich immer noch verbarg. »Eure Majestät. Ich danke Euch.« Er wusste, wer sie war. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. »Hast du einen Wunsch, Frederun?«, fragte er. »Keinen, den Ihr mir erfüllen könntet, Eure Majestät.« Sie trat jetzt näher, so weit, dass er ihr im Schatten liegendes Gesicht und die Rundungen ihrer Brüste unter dem Leinengewand sehen konnte, aber nicht so nah, dass er sie hätte berühren können, ohne einen Schritt auf sie zuzugehen. »Was ich mir am meisten wünsche, werde ich niemals haben.« »Brauchst du eine Aussteuer, um deinen Weg zu gehen? Vielleicht für eine Heirat? Um aus dem Dienst im Palast entlassen zu werden?« 203
»Ich brauche nichts, Eure Majestät. Ich möchte nur in Ruhe gelassen werden. Die Arbeit hier gefällt mir gut, genau wie die Gemeinschaft mit den anderen Frauen - meinen Kameradinnen. Es sind die Männer, die mir Ärger machen.« Ihre Stimme zitterte leicht, und er wusste, dass er zum Teil der Grund dafür war, aber das würde sie niemals sagen. »Bist du zufrieden?« Sie antwortete nicht, aber dann hörte er sie weinen. »Wenn es etwas gibt, wende dich an meine Verwalter.« Ihre Stimme war heiser und kaum zu hören. »Ja, Eure Majestät.« Müde kehrte er zu seiner Kammer zurück, in der Hathui mit den anderen gewartet hatte. »Alles in Ordnung, Eure Majestät?«, fragte sie, als er eintrat. Sie kniff auf eine ganz bestimmte Art die Augen zusammen, während sie sein Gesicht musterte, und er fühlte sich plötzlich ziemlich nackt, nicht körperlich, aber seelisch. »Ich habe nur über meine Sünden nachgedacht. Gehen wir zur Morgenandacht in die Kapelle. Danach machen wir uns bereit.« Sie nickte. Er hatte keine Ahnung, wie viel sie oder die anderen mitbekommen hatten, aber er wusste nur zu gut, dass es auf der königlichen Rundreise wenige Geheimnisse und noch weniger Ungestörtheit gab. Er hatte es sein ganzes Leben lang gewusst. Dies war das erste Mal, dass es ihn ärgerte.
2 Am ersten Tag des neuen Jahres 736 näherte sich König Sanglant von Wendar und Varre, Sohn von Henry, der Kathedrale auf dem Rücken eines Pferdes, begleitet von einem großartigen Gefolge aus Männern und Frauen, die in herrliche, kostbare Gewänder gekleidet waren und je nach Rang Diademe aus Gold 204 oder Silber trugen. Hinter ihnen ritten die vierzig Soldaten seiner Leibwache, die die Umwälzung in Aosta überlebt hatten, sowie zwanzig weitere, die erst vor kurzem in seinen Dienst getreten waren. Sie ritten in Viererreihen die breiteste Allee von ganz Gent entlang, so dass an den Rändern gerade noch genug Platz für die Menschen war, sich an die Gebäude zu drücken und von dort aus zuzusehen, laut zu rufen, Loblieder zu singen und zu weinen. Als sie den Platz erreichten, stellte Sanglant fest, dass dort eine riesige Menschenmenge versammelt war, zum Teil Leute, die in Gent lebten, aber auch jene, die einen oder gar drei Tage marschiert waren, um die Salbung und Krönung des neuen Königs mitzuerleben und um das Brot zu erhalten, das im Anschluss an die Zeremonie verteilt werden würde. Er ritt bis zu den Stufen, machte dort halt und reichte Wichman die Zügel. Als seinem Vetter gebührte ihm das Recht, als Pferdeknecht des Königs zu handeln, und er bestand darauf, seinen Platz rechts von Sanglant einzunehmen. Sibold trat hinzu. Er würde Fest während der Zeremonie festhalten. Sanglant stieg ab. Wie seltsam es war, diese kalten Stufen zu betreten, auf denen er gestorben war obwohl er natürlich nicht sterben konnte. Hier waren Adela und Sturm gefallen. Hier hatten die Letzten seiner treuen, kühnen Drachen den Tod gefunden. Oben bei der Tür war der mutige Adler Manfred getötet worden. Dies zumindest schuldete er ihnen: dass er sie dort, wo sie gefallen waren, durch seinen eigenen Sieg ehrte -sofern Ehre darin lag, zu überleben, wenn alle um ihn herum gestorben waren. Er hätte auch sterben sollen, aber er hatte keine Macht über den Zauberbann, der ihm bei seiner Geburt auferlegt worden war. Eine Gruppe von Bettlern kniete auf den ersten paar Stufen; sie würden an diesem Abend an einem eigenen Tisch speisen. Oberhalb von ihnen warteten die bedeutenden Fürsten des Reiches in ihren kostbarsten Gewändern - die ihm Ebenbürti
204 gen, die sich seiner Erhebung gefügt hatten, weil es niemanden gab, der stärker und geeigneter gewesen wäre, um nach Henry zu herrschen. Er betrachtete sie: Theophanu und Ekkehard, Herzogin Liutgard, Rotrudis' mürrische Töchter, die mächtigen Markgrafen und eine Handvoll
wichtiger Grafen und anderer Edelleute. Neben ihnen stand eine einschüchternde Gruppe von Bischöfinnen, Äbtissinnen, Äbten, Presbytern und edlen Geistlichen. Sie alle würden die Krönung und Salbung bezeugen. Sie alle würden das tun, aber es gab noch eine, die erstaunlicherweise in mittlerer Höhe der Stufen einen Platz für sich allein gefunden hatte. Liath kniete mit gesenktem Kopf. Ihre dunkelgoldenen Haare ergossen sich unbedeckt und ungebunden bis zu ihrem Gesäß. Sie lockten sich wild, waren feucht vom nebligen Regen, der gegen Mittag aufgehört hatte. Sie hatte sich offensichtlich Asche darüber gestrichen, obwohl nur noch ein paar Spuren davon geblieben waren. Blumensträuße - Veilchen, weiße Orchideen, Schlüsselblumen und Unmengen von sternförmigem Waldmeister - lagen zu ihren bloßen Füßen, Geschenke von unbekannten Menschen. Es gab sogar zwei Kränze aus hellgrünem Farnkraut. Niemand sah sie an, aber alle wussten, dass sie dort war. Er trat ein, zwei Schritte zur Seite, und ohne mit ihr zu sprechen, hob er einen der zerbrechlichen Waldmeistersträuße auf und nahm ihn mit die Stufen hinauf. Die Menge hinter ihm wurde still. Mutter Scholastika trat vor, um ihn zu begrüßen, und geleitete ihn zusammen mit den edelsten Bischöfinnen in die Kathedrale. In den Jahren, die seit dem Sieg über Blutherz vergangen waren, war Gent erblüht. Der steinernen Kathedrale war es besser ergangen als vielen hölzernen Gebäuden. Die zerbrochenen Fenster waren repariert, der Innenraum war ausgebessert und alles neu bemalt worden, außerdem hatte man den Herd mit neuen Gefäßen ausgestattet. Nur die Steinsäulen 205 trugen noch die Narben der Besetzung durch die Aikha. Steinengeln fehlte ein Flügel; Wasserspeier blickten höhnisch aus nur einem Auge; schnabellose Adler flogen stumm dahin. Er blieb vor dem Altar neben der Kette stehen, die mit einem Eisenhaken im Boden befestigt war. An dieser Stelle war er angekettet gewesen. Während die anderen sich um ihn herum versammelten, starrte er auf die schweren Metallglieder hinunter, aber sie hatten nicht mehr die Macht, ihn zu beunruhigen. Er legte den zerbrechlichen Strauß auf die Kette, um an Graf Lavastin zu erinnern, der ihn aus diesem Gefängnis befreit hatte, und an den namenlosen Aikha-Prinzen, der ihn ohne Kampf hatte ziehen lassen. Als alle an Ort und Stelle waren und sich so weit beruhigt hatten, wie man es bei einer solchen Versammlung erwarten konnte, kniete er nieder. Das Geräusch, als die anderen sich ebenfalls hinknieten, klang wie das Donnern von Flügelschlägen und hallte von dem Gewölbe wider. Mutter Scholastika zog aus ihrem Ärmel einen mit Gold und Edelsteinen besetzten Elfenbeinkamm, fuhr ihm damit durch die frisch geschnittenen Haare. Die Bischöfin von Gent holte ein Fläschchen mit heiligem Öl hervor. Mit einer Berührung salbte seine Tante ihn: am rechten Ohr, von der Stirn bis zum linken Ohr und auf dem Scheitel. Der Geruch des Öls überschwemmte ihn. Das bescheidene Olivenöl war reichlich mit Weihrauch und Myrrhe gemischt worden, um ein schweres Aroma zu erzeugen. »Mögen Unser Herr und Unsere Herrin Euch mit der Krone des Ruhmes krönen«, sagte seine Tante feierlich, »mögen Sie Euch mit dem Öl Ihrer Gunst salben.« Theophanu und Ekkehard legten ihm einen mit Hermelinpelz gesäumten Umhang über die Schultern, auf dem der Drache von Saony, der Adler von Fesse und der Löwe von Avaria mit Goldfäden aufgestickt waren. Diesen Umhang hatte Henry der Erste getragen, dann war er von Arnulf beiseitegelegt worden, als er die varrenische Königsfamilie in sein Haus auf
205 genommen hatte. Der Stoff roch noch immer nach den Nelken, mit denen er in all den Jahren sorgfältig aufbewahrt worden war. Henrys königlicher Umhang war im Süden verschwunden. »Möge der über den Boden schleifende Saum dieses Umhangs Euch daran erinnern, eifrig im Glauben zu sein und Frieden zu bewahren. Möge er Euch an das königliche Geschlecht erinnern, dem Ihr entstammt.«
Sie reichte ihm Henrys mitgenommenes und zerkratztes Zepter. »Nehmt diesen Stab der Tugend. Möget Ihr weise und gut herrschen. Krönt ihn, Gott, mit Gerechtigkeit, Ruhm, Ehre und starken Taten.« Wie Wind, der durch einen Wald strich, antwortete Gemurmel auf diese Erklärung. Von irgendwo bei den Türen erscholl die Stimme eines Mannes. »Möge der König ewig leben!« Der Hauch einer düsteren Vorahnung trieb Sanglant Tränen in die Augen, aber die Menge hatte bereits ihre Stimme erhoben, um ihm zuzujubeln. Jene, die draußen auf dem Platz und auf den Straßen standen, riefen und sangen ebenfalls; sie waren als schwaches Echo zu hören. Gleich hinter ihm hustete jemand. »Meine Füße tun weh. Ich stehe schon seit Stunden«, murmelte Ekkehard. Psalmen mussten gesungen werden. Alle Bischöfinnen, Prinzen und Edelleute mussten vortreten und ihm den Ring küssen, mussten verkünden, dass sie seine Herrschaft anerkannten. So würde es in jeder wichtigen Stadt sein, in der seine Rundreise auf dem Weg nach Varre haltmachte. So würde es den Rest seines Lebens sein. Die Zeit zumindest war weder männlich noch weiblich. Er wünschte sich den Tod nicht. Er konnte warten, ja, tatsächlich, eine lange Zeit, ehe er ihn umarmen würde, wie jeder Sterbliche es tun musste. Aber er hoffte, dass die Zeit ihn nicht vergessen würde. Doch wenn es der Wille des Herrn und der Herrin war, dass jede Seele eine bestimm
206 te Fadenlänge auf der Erde umspannte, würde der Fluch seiner Mutter ihn dann auch vor Ihrer Berührung schützen? Sicherlich nicht. Seine Mutter war nicht so mächtig wie Gottes Wille, selbst wenn sie nicht an Sie glaubte. Er staunte über diesen Gedanken, während er ein paar Worte sprach und grüßte und nickte und jedem einzelnen Menschen in die Augen sah, um die Aufrichtigkeit seines Blickes zu prüfen. Woran glaubte seine Mutter? Wie erklärten sich die Ashioi die Existenz der Welt? Wem huldigten sie? Sicherlich wusste Liath es. »Eure Majestät.« Waltharia kniete mit ernster Miene vor ihm nieder. Sie nickte, um ihre Zustimmung zu zeigen. Die Geste erinnerte ihn auf unheimliche Weise an ihren Vater, der auf die gleiche Weise - mit einem leichten Wegdrehen des Kinns - genickt hatte. Rufe und verzweifelte Schreie drangen von draußen herein. Sie wurden lauter und gellender, wogten in die Kirche. »Eure Majestät! Kommt rasch!« »Rettet uns, Eure Majestät!« Er sprang auf. Das Gewand um die Schultern, die Krone auf dem Kopf und den Stab in der Hand schritt er das Hauptschiff entlang. Der Umhang schleifte hinter ihm über den Boden. Die Menge teilte sich, um ihn durchzulassen, obwohl sich vor der Tür ein Engpass gebildet hatte, da verängstigte Menschen versuchten, von draußen in den Schutz der Kirche zu gelangen. »Macht Platz! Macht Platz!«, riefen seine Soldaten. Er kannte ihre Stimmen. Sie klangen nicht verängstigt. Er hatte die Greifen auf dem Weg nach Osten hin und wieder gesehen. Sie hatten die meiste Zeit mit Jagen verbracht. Jetzt zogen sie tiefe Kreise, warteten darauf, dass der Platz sich leerte und sie sich bei den Stufen niederlassen konnten. Liath hatte sich erhoben. Die Menschen rannten in die Alleen und breiten Straßen von Gent, flohen vor den Ungeheuern. Ein paar verwegene Jugendliche waren am Rand des Platzes stehen geblieben und musterten seine Soldaten, die nicht geflohen,
206 sondern nur zurückgewichen waren, damit die Greifen Platz hatten. Andere versammelten sich vor dem Portal der Kirche. Viele warteten drinnen. Er trat hinaus auf die Stufen. Die Greifen landeten hart und nicht besonders anmutig. Silber schnaubte und breitete unzufrieden die Schwingen aus. Eine Handvoll scharfkantiger Flügelfedern wehte zu Boden. Domina hob und
senkte den leuchtenden Kopf, bewegte ihn ruckartig auf und ab, hin und her. Ihre Bewegungen wirkten wie ein Tanz. In Abständen schrie sie, und als sie fertig war, kauerte sie sich hin und sprang dann mit einem Satz in die Höhe. Der Luftzug brachte sein Gewand zum Flattern. Liaths Haare wurden zurückgeweht, sanken dann wieder hinab, als die zwei Greifen einmal, zweimal kreisten und dabei allmählich höher stiegen, bis sie einen Aufwind erwischten und sich in schwindelnde Höhen schraubten. Schon bald waren sie nur noch zwei kleine Punkte, die den Wolken zustrebten. »Sie werden nicht aufhören, darüber zu reden«, bemerkte Waltharia, die neben ihn getreten war. Ihre Stimme zitterte. Wie alle anderen hatte sie sich in der Nähe der Greifen nie wohlgefühlt, auch wenn diese sich gewöhnlich von allen größeren Menschenbehausungen ferngehalten hatten. Hinter ihr drängten sich die anderen ins Freie, redeten miteinander, während sie in die Luft starrten und mit den Fingern zeigten. Weil er auf den Stufen stand, kamen die Zuschauer wieder auf den Platz zurück, um ihn in der Kleidung der Königsherrschaft zu sehen. »Du hast mächtige Verbündete«, sagte Mutter Scholastika, die sich von keinem irdischen Geschöpf ängstigen ließ. »Der Greif ist ein himmlisches Geschöpf, das aus dem Wesen eines Adlers, eines Löwen und einer Schlange besteht und manchmal auch als Drache bezeichnet wird. Auf diese Weise erinnert er an Wendar. Aber ich frage mich, was dieser Auftritt zu bedeuten hat.« Sie sah zum Himmel hoch, blinzelte, als sie versuchte, die dahinschwindenden Umrisse zu verfolgen.
207 »Was glaubt Ihr, was es bedeutet, Tante?« Sie betrachtete ihn abschätzend. »Einige werden sagen, dass es ein Zeichen für Gottes Gunst ist.« »Und was werden andere sagen?« »Dass du von Zauberei beherrscht wirst. Die Rechtmäßigkeit deiner Herrschaft wird stets in Frage stehen, Sanglant. Vergiss das niemals.« »Ihr habt mich gekrönt und gesalbt.« »Daran erinnern mich die Greifen. Und doch werden sie möglicherweise nicht immer bei dir bleiben.« Sie sah zu Liath. »Wähle deine Verbündeten weise.« Gents Bischöfin Suplicia trat zu ihnen, schüttelte verwundert den Kopf. »Greifen! Das ist ein Zeichen für Gottes Gunst.« Eine Frau löste sich aus der Menge, stieg die Stufen hoch und kniete vor Bischöfin Suplicia nieder. »Ich bitte Euch, Euer Gnaden, lasst mich sprechen. Ich bin eine ehrliche und treue Händlerin dieser Stadt.« »Ich weiß, wer Ihr seid, Webermeistrin«, sagte die Bischöfin freundlich. »Ihr seid kühn, dass Ihr Euch in einem so feierlichen Augenblick vorwagt. Vergesst nicht, dass das der König ist.« Das Gewand und die Krone hatten auch ihr Gutes, denn sie gestatteten ihm, zu schweigen und sich fernzuhalten, da die Aura des Herrschers ihn schützte. Sie sah ihn an, nickte aber nur. Was zwischen ihnen gewesen war, hatte nichts weiter zurückgelassen als eine flüchtige Erinnerung. Tatsächlich blickte sie sogar ungehalten drein, als sie den Kopf demütig neigte und mit der Geistlichen sprach. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter. Euer Gnaden. Eure Majestät. Viele von uns haben sich an diesem Tag gefragt, wieso eine Frau, die Gott so gut gedient hat, als Büßerin vor diesem heiligen Ort knien muss. Ich spreche von dieser Frau, dem Adler. Wisset, dass viele hier sind, die selbst gerettet worden sind oder Kinder haben oder Vettern und Kusinen oder andere Verwand
207 te, die gerettet worden sind, weil St. Kristine von den Messern sich entschieden hat, vor ihr zu erscheinen. Die Heilige hat diese Frau erwählt, um die Kinder von Gent an einen sicheren Ort zu führen. Wieso wird sie auf diese Weise entehrt und gedemütigt?« »Eure kühnen Worte betrüben mich, Meistrin«, sagte Mutter Scholastika ernst. »Was hat das zu bedeuten?« »Nein, es ist wahr, auch wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen habe«, sagte Bischöfin Suplicia. »Die Geschichte wird in der ganzen Stadt von jenen erzählt, die die Aikha überlebt haben. Wenn dies derselbe Adler ist, wird es hier viele geben, die bereit sind, ihre Stimme zu erheben. Wenn Ihr es gestattet, Eure Majestät.«
»Ich fange an, die Strategie zu erkennen«, sagte Mutter Scholastika, warf ihrem Neffen einen Blick zu und sah dann wieder zu Liath, die sich seit dem Verschwinden der Greifen nicht gerührt hatte. »Du wusstest, dass so etwas geschehen würde.« »Ich hatte es gehofft«, erwiderte er. Die hübsche Suzanne hielt ihren Blick gesenkt, aber sie hatte ihn gehört. »Viele möchten sprechen, wenn Ihr es gestattet, Eure Majestät«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Eure Heiligkeit, ich bitte Euch.« Sie hob die rechte Hand. Ein Dutzend würdiger und wohlhabend aussehender Leute traten aus der Menge vor und knieten auf den Stufen unterhalb von ihr nieder. »Ich bin Gerhard von den Gerbern, Eure Heiligkeit. Ich kenne vierzehn junge Menschen, die von dieser Frau gerettet wurden.« »Ich bin Gisela von Stelesham, Eure Heiligkeit. Ich bezeuge, dass viele auf meinem Besitz Zuflucht gesucht haben, die gerettet wurden, weil die Heilige durch diese Frau gehandelt hat.« »Ich bin Karl, Eure Heiligkeit. Ich bin ein Schmied, der ...« Und so ging es weiter, eine feierliche Prozession von ernsten, 208 verantwortungsbewussten Menschen, die durch ihrer Hände Arbeit dafür gesorgt hatten, dass Gent in den Jahren nach der Eroberung durch die Aikha wieder erblüht war. Die edelsten Äbtissinnen, Bischöfinnen und Kirchenleute hörten sie an. Während sie nacheinander sprachen, traten andere vor, legten demütig Blumenkränze und Sträuße zu Liaths Füßen nieder, ehe sie wieder davonhuschten, als fürchteten sie, der Blitz könnte einschlagen. Sie sprachen ganz leise mit ihr, aber er konnte es dennoch hören, denn sein Gehör war so scharf wie das eines Hundes. »Erinnert Ihr Euch an mich?«, flüsterten sie. »Dies ist mein Bruder. Er und ich - wir erinnern uns an Euch, Adler.« »Gott mögen Euch preisen, Adler.« »Ich bin Euch durch die Krypta gefolgt. Die Herrin schütze Euch, Adler.« Es war eher diese Menge als die wohlhabenden Kaufleute und Handwerker, die Sanglants Aufmerksamkeit erregte, eine Flut von gewöhnlichen Arbeitern, von denen die meisten noch sehr jung waren. Die Hälfte von ihnen trug grobe Halsketten, an denen zwei Amulette hingen: der Kreis der Einigkeit und ein prächtiger Vogel. Er kannte das Symbol. Er hatte es an anderen Orten gesehen, in ähnlicher Ausprägung. Es war ein Phönix.
3 Es war spät. Das Festmahl hatte sich ewig in die Länge gezogen, obwohl es sehr angenehm gewesen war. Die Bettler hatten eine recht ansehnliche Portion gegessen. Brot war an die Menge verteilt worden, die vor dem Palast der Bürgermeisterin gewartet hatte. Sanglant hatte sich nach den Gesängen zurückgezogen, aber er konnte nicht schlafen, und so warf er sich die Tu 208 nika über, band sich die Sandalen und schlich gefolgt von Hathui und Fulk in die große Halle zurück. Hunde schliefen auf den Binsen. Bettler schnarchten unter den Tischen. Er machte sich nicht die Mühe herauszufinden, woher der restliche Gestank in der Halle kam. Im Morgengrauen würde er als Teil der Vorbereitungen für das zweite Festmahl ohnehin hinausgefegt werden. »Wohin wollt Ihr gehen, Eure Majestät?« Er warf sich den Umhang über die Schultern. Hathui fragte nicht nach, als er nicht antwortete, aber sie tauschte einen Blick mit dem Hauptmann. Vier Soldaten erschienen, zwei davon mit Lampen in der Hand, und folgten ihm nach draußen. Wie immer war der Himmel dunkel, schienen weder Mond noch Sterne. Das Licht der Lampen tanzte über den Hof, als er zum Palasttor ging, das damals zerstört und nun wieder neu aufgebaut worden war. Gent würde ihn immer verfolgen. Er hatte hier zu sehr gelitten. Wie die Gebäude trug er Narben, war aber dennoch erblüht.
Er schritt durch die kalten Straßen jenseits des Palasttors. Es war dunkel und feucht, und unter seinen Sohlen spritzte der Matsch zur Seite. In den paar Jahren seit Blutherz' Niederlage war zwar Zeit gewesen, die Mauern und Wohngebäude neu zu errichten, aber offensichtlich noch nicht die Lattenwege, die früher einmal die Füße der Menschen vor dem Schlamm bewahrt hatten. Der Wind strich ächzend an den Dachvorsprüngen entlang. Regen prasselte in sein Gesicht. Sämtliche Gerüche der Stadt trieben in der Nachtluft: Abfall und Abwasser, gärende Gerste und ranzige Hühnerbrühe, der Gestank der Gerberei und der schlummernde Eisengeruch der Schmiede. Der alte Marktplatz war als Ansammlung von Handwerksstätten neu gestaltet worden. Die alte Münzanstalt war noch immer eine Ruine, ein Gewirr aus verkohlten Haufen und Stücken von Gerumpel, das zu schlimm verbrannt und zerstört war, um für andere Gebäude nützlich zu sein. Augen glänzten im Lampenlicht, und wil 209 de Hunde knurrten, als er und seine Eskorte vorbeigingen. Er knurrte zurück. Sie wichen in den Schutz der Überhänge und eingestürzten Mauern zurück. »Erstaunlich, dass sie nicht getötet worden sind«, sagte Fulk. »Ich hätte gedacht, dass die Burschen hier sich einen Spaß daraus machen, sie zu jagen.« »Zweifellos haben sie es versucht«, erwiderte Hathui. »Es ist schwer, sie alle zu töten.« Vor ihnen breitete sich der zentrale Platz von Gent aus. Die Soldaten hoben die Laternen und schwenkten sie, so dass der Lichtschein über die Steine glitt, aber der Platz war leer. Alle waren nach Hause gegangen oder hatten eine Unterkunft gefunden. Sie stiegen die Stufen hoch, aber auch die waren verlassen. Ein einzelnes Blütenblatt lag noch da. Ansonsten waren sämtliche Blumensträuße verschwunden. »Wo ist Liath?« Er nahm eine Laterne. »Wartet hier.« »Jawohl, Eure Majestät«, sagte Fulk, aber er sah Hathui dabei fragend an. Sie nickte zurück, und plötzlich fragte sich Sanglant, ob zwischen den beiden mehr als nur Kameradschaft herrschte. Es war unwichtig. Es war nicht an ihm, darüber zu urteilen. Menschen schliefen unruhig im Mittelschiff. Vor Jahren hatten sich hier Flüchtlinge versammelt. Jetzt waren es gewöhnliche Menschen, die aus dem Umland hergekommen waren, um die Krönung und Salbung ihres Herrschers zu sehen, und die keinen anderen Platz zum Übernachten gefunden hatten; am Morgen würden sie sich wieder auf den Heimweg machen. Er hielt die Laterne niedrig, damit niemand ihn bemerkte, und ging zu den Stufen, die zur Krypta hinunterführten. Die Stufen machten eine scharfe Biegung, da, an die er sich noch so genau erinnerte, als wäre es gestern gewesen. Ein Spinnennetz glänzte in einer Lücke zwischen den Steinen. Am Fuß der Treppe blieb er stehen. Eine Reihe von Gräbern setzte sich bis in die Dunkelheit fort. Jenseits des Lichtscheins war es vollkommen schwarz.
209 »Liath?«, fragte er leise, aber es kam keine Antwort. Er wartete, lauschte, aber er hörte nichts. Er konnte den Geruch von Lehm und Kalk wahrnehmen, aber keinen Hafer. Stattdessen wehte ihm der Duft von trocknenden Blumen entgegen. Die Gebeine seiner Drachen waren in diesen heiligen Ort hinabgeworfen worden. In gewisser Weise war sein altes Leben - das als Drache des Königs, als Henrys gehorsamer Sohn - ebenfalls hier gestorben. Der alte Sanglant hätte sich den Mantel des Herrschers nicht umgelegt, trotz Henrys Wunsch, ihn in diese Position zu bringen. Es war seine Zeit als Blutherz' Gefangener gewesen, die ihn verändert hatte. Wie seltsam Gottes Wege waren! »>Seid wie ich durch das Schicksal gebunden, das andere für Euch bestimmt haben<«, sagte sie. »Liath!« Er schwenkte die Laterne herum, konnte sie aber immer noch nicht sehen. Die Dunkelheit verschluckte sie. »Erinnerst du dich?«, fragte sie. »Das hast du an jenem Tag zu mir gesagt.« »Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich, dass ich dir hierhergefolgt bin. Gott wissen, dass ich mich nur zu gut an diesen Tag erinnere. Ich bin damals gestorben, oder wäre es, wenn meine Mutter mich nicht verflucht hätte. Und du hast überlebt.«
»Ich erinnere mich noch an etwas, das du gesagt hast«, fügte sie hinzu, und er hörte Erheiterung in ihrer Stimme. Sie lachte. »Und was ist das?« »>Diese Straße wage ich nicht entlangzuschreiten.<« Er lachte. »Zumindest nicht hier zwischen den heiligen Toten. Aber es wartet ein kaltes Bett darauf, dass du es wärmst, wenn du mit mir kommen möchtest.« »Nicht heute Nacht, Liebster. Es wäre nicht richtig.« »Das sagst du. Ich werde dich nicht noch einmal fragen, wenn es dir missfällt.« »Nein, schimpf nicht mit mir, Sanglant. Ich denke über mei 210 ne Sünden nach. Was glaubst du, ist mit Wulfhere geschehen?« »Was hat das mit deinen Sünden zu tun?« »Ich bin nicht sicher, aber ich spüre, dass es da eine Verbindung gibt. Glaubst du, er ist tot?« »Wenn er es ist, werde ich ihn angesichts der Tatsache, dass er versucht hat, mich zu töten, als ich ein Kind war, nicht übermäßig betrauern. Allerdings hatte er eine Schwäche für Gnade. So sehr, dass er versucht hat, sie zu entführen.« •. »Gnade hat etwas anderes behauptet, das hast du auch gesagt.« »Dass er sich dagegen gewehrt hat, dass sie ergriffen werden sollte? Sie hat vermutlich die Gesamtzusammenhänge nicht verstanden.« »Bruder Zacharias ist bei Hugh gelandet. Muss ich mich dann nicht fragen, wo Wulfhere gelandet ist? Werden wir es jemals erfahren?« »Es ist ein Rätsel«, pflichtete er ihr bei, aber er wurde wieder unruhig. Seine Beine begannen zu jucken, wie immer, wenn der Drang, sich zu bewegen, stärker wurde. »Willst du die ganze Nacht hier unten bleiben?« »Die Greifen sind weggeflogen.« »Was?« »Ich glaube es zumindest. Sie haben sich verabschiedet und sind nach Osten geflogen.« »Wieso sollten sie mich jetzt verlassen?«, fragte er und dachte an Mutter Scholastikas Worte. »Der Frühling steht bevor. Sie werden ein neues Nest bauen und sich paaren wollen.« »Das wollen alle Geschöpfe! Und dieses hier nicht minder.« Sie lachte, aber ärgerlicherweise trat sie nicht dorthin, wo er sie sehen konnte. Er glaubte, er hätte ihren Geruch aufgefangen. Er roch die Blumensträuße, die sie zuvor umgeben hatten: einen Hauch Veilchen, das erdige Aroma des Farns, den Trost des Waldmeisters und der Orchidee. Sie wusch ihre Haare gern
210 mit Wasser, das mit Lavendel versetzt war, um sie glänzender zu machen, und sie roch immer sauber und trocken - ein Geruch, der ihn an Steine erinnerte, die einen ganzen heißen Sommertag lang im Sonnenlicht gelegen hatten. Es war ein guter Geruch, ein erregender Geruch. »Geh ruhig, Sanglant«, sagte sie, als könnte sie seine Begierde in der Luft spüren, was sie vielleicht tatsächlich konnte. »Ich möchte das Grab von St. Kristine von den Messern finden. Ich möchte die Gaben dort hinlegen als Dankeschön.« »Es war ein Wunder. Sie hat sich in einer Zeit großer Not gezeigt. Du wirst ihr Grab heute Nacht nicht finden.« »Mag sein. Aber ich muss es versuchen.« Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht umstimmen lassen würde, und er achtete sie genug, um es dabei zu belassen. Obwohl es ihn ein bisschen ärgerte. Obwohl es ihn nachdenklich machte. »Mögen Gott bei deiner Suche bei dir sein«, sagte er, dann drehte er sich um und ging wieder hinauf. Draußen wartete seine Eskorte. Einige von ihnen gähnten. »Eure Majestät!«
»Ich möchte gern das Flusstor sehen.« Er bot ihnen nicht an, zu ihren Schlafstätten zurückzukehren. Er wusste, dass sie ohne ihn nicht zum Palast zurückgehen würden. »Jawohl, Eure Majestät«, sagte Fulk, der erheitert wirkte. Hathui verbarg ein weiteres Gähnen hinter der Hand. Die Soldaten - in dieser Nacht Sibold, Bärbeiß und Lewenhardt sowie einer der Neuen, Maurits - setzten sich in Bewegung, die Laternen erhoben, um den Weg zu beleuchten. Auf diesem Platz war er mit seinen Drachen zum letzten Ritt aufgesessen. Jetzt ging er wie ein Büßer zu Fuß den gleichen Weg entlang, den er und seine Soldaten genommen hatten. Damals hatten Hufe geklappert. Jetzt waren nur Schritte zu hören. Die zum Tor führende Hauptstraße war vollkommen gepflastert und unversehrt. Damals hatte die ganze Stadt nach Angst gerochen. Heute Nacht rührte sich nur der Wind. Alle
211 schliefen, satt vom Festmahl oder erschöpft vom stundenlangen Stehen auf den Straßen, um den König und seine schöne Prozession und die mächtigen Edelleute und ihr Gefolge zu sehen. So viele von ihnen hatten Gent aufgesucht, dass es für das gewöhnliche Volk wie eine Plage von Edelleuten aussehen musste, für deren Versorgung sie ihre Speisekammern zu öffnen hatten. Würde das Korn wachsen, wenn es keine Sonne gab? Konnte Liath die Kunst der Tempestari erlernen, um das Königreich zu retten? Wenn Zauberei dieses Unheil hervorgerufen hatte, war es dann nicht notwendig, dass Zauberei angewandt wurde, um es zu berichtigen? Sicherlich würde das keine Sünde sein. Sicherlich wäre es besser für die Kirche, das Verbot gegen die Kunst des Wettermachens aufzuheben, statt zuzulassen, dass die Menschen litten und starben. Und doch, wenn man damit einmal begann - wo würde es enden? Die Allee endete vor einem offenen Platz beim östlichen Tor. Als der Wehrgang neu erbaut worden war, hatte man die steilen Stufen an neuen Stellen angebracht, und so brauchten sie eine Weile, um den Weg hinauf zu finden. Ein Beobachtungsposten war über dem Tor errichtet worden. Zwei Soldaten der Stadtwache von Gent drehten sich herausfordernd zu ihm um, doch als sie ihn erkannten, wichen sie zurück. »Eure Majestät!« »Ich bitte um Entschuldigung, Eure Majestät!« »Es ist in Ordnung. Es ist gut, dass ihr wachsam seid.« Sie machten Platz, damit er über den Fluss zum östlichen Ufer blicken konnte, obwohl er nichts als Dunkelheit sah. »Das ist die Zukunft«, sagte er leise. »Das, was wir nicht erkennen können.« Hätte er an jenem Tag, als Blutherz' Heer zugeschlagen hatte, auf Liath gehört, wäre das alles nicht passiert. Es war schwierig zu erkennen, welche Entscheidungen Gottes Wille
211 waren und welche nur die Entscheidungen von Menschen. In diesem Fall hatte er einen Fehler gemacht, weil er zu wenig von ihr gewusst hatte, um ihr zu glauben, dass sie in der Lage war, etwas zu sehen, das andere nicht sehen konnten: nämlich den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge. In gewisser Weise sah er jetzt so wenig wie damals, als die Aikha Magie angewandt hatten, um ihre menschlichen Feinde dazu zu bringen, das Tor zu öffnen und so ihre eigene Vernichtung herbeizurufen. Er fragte sich manchmal, ob Li'at'dano gewusst hatte, wie riesig die Umwälzung des großen Webens sein würde. Ob sie gewusst hatte, dass es der Menschheit genauso großen Schaden zufügen würde wie den Ashioi. Hatte sie vor langer Zeit die Zauberer auch dazu gebracht, selbst das Tor zu öffnen und die Zerstörung hereinzulassen? Um das zu weben, was sie überwältigen würde ? Er schmeckte die Feuchtigkeit des Flusses, der unter ihnen plätscherte. Der Geruch kitzelte ihn in der Nase. »Es ist mehr Salz im Wasser«, sagte er. »Ich kann die Flut riechen.« »Habt Ihr Euch das Umland denn nicht angesehen, Eure Majestät?«, fragte der ältere Soldat. »Nein. Was würde ich sehen?« »Schreckliche Dinge«, murmelte der Jüngere. »Still, Junge. Ich bitte
um Vergebung, Eure Majestät.« »Nein, sagt mir, was ihr wisst und gesehen habt.« »Jawohl, Eure Majestät.« »Es war schrecklich!«, rief der Junge. Er verlagerte unruhig das Gewicht, und sein Kettenhemd raschelte wie trockene Blätter im Wind. »Eine große Welle hat das Ufer getroffen. Zwanzig Fischerdörfer sind ausgelöscht worden; sie sind einfach so ins Meer gerissen worden und nie wieder aufgetaucht! Ich hatte dort keine Verwandten, aber einer von den Jungen, die ich kenne der hat seine ganze Familie verloren! Er hat sie nie wiedergesehen! Sieben Tage nach dem Sturm ist der Fluss
212 rückwärts geflossen. Er hat sämtliche Felder um die Stadt herum überflutet.« »Mit Meerwasser?« »Mit schrecklichen Dingen! Au!« Der ältere Mann hatte dem jüngeren einen Schlag gegen den Kopf versetzt, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Nein, Eure Majestät. Er wird Euch alle möglichen wilden Geschichten erzählen. Folgendes ist geschehen. Der Sturm hat das Land erzittern lassen, und das Ufer ist weggebrochen. Oder das Meer ist gesunken. Ich weiß nicht, was es war. Ihr werdet bei Tageslicht sehen, dass keine seetüchtigen Boote auf dem Strand liegen, wie es sonst der Fall wäre.« »In der Tat. Gent ist bekannt für seinen Handel und die vielen Handwerker. Der Fluss schien gutes Wasser zu führen.« »So sieht es aus, aber der Flusslauf hat sich geändert.« »Es ist jetzt eine Wegstunde weiter bis zum Meer als früher!«, sagte der Junge. »Wie ist das möglich?« »Nicht eine Wegstunde, Eure Majestät, aber ein gutes Stück. Früher hat es zwei Kanäle gegeben. Der eine war schon vorher nicht tief genug für seetüchtige Boote. Jetzt ist sogar der tiefere ausgetrocknet. Nicht verschlammt, einfach nur ausgetrocknet. Die Boote konnten nicht durchkommen, es war ein Sumpf, nicht mehr als einen Ellbogen tief. Nach dem Winter hat sich der Fluss einen neuen Weg zum Meer gesucht, in Gestalt vieler Finger, aber keiner davon ist tief genug. Es geht das Gerücht, dass ein neuer Hafen gebaut werden soll - draußen an der Küste, wo die Schiffe anlegen können - und dass die Waren dann vielleicht auf Karren nach Gent geschafft werden sollen. Oder dass ein Kanal gebaut werden soll. Wenn wir den Handel verlieren, weiß ich nicht, wie es dieser Stadt ergehen wird.« »Es gibt sowieso keine Schiffe«, sagte der Junge. »Überhaupt keine, und der Winter ist vorbei und eigentlich hätte man längst schon wieder Segelschiffe sehen müssen. Die Fischer -diejenigen, die überlebt haben - sagen, dass die Gezeiten sich 212 verändert haben und dass die Winde da draußen stürmisch sind. Dass es nicht sicher auf dem Wasser ist. Dass Wesen dort schwimmen, die die Boote mit ihren Klauen in Stücke reißen und Menschen fressen, die ins Wasser fallen.« »Schscht! Hör auf, Geschichten zu erzählen, Junge!« »Nein, lass ihn sprechen, Großvater. In allen Geschichten steckt ein Körnchen Wahrheit. Dennoch wirkt Gent wohlhabend.« »Solange die Vorräte reichen, Eure Majestät. Bischof in Suplicia und Edelfrau Leoba sind gute Verwalterinnen. Ich hoffe, dass Edelfrau Leoba nicht wieder mit der Prinzessin reitet, Gott mögen sie schützen, denn sie hat gut über uns gewacht und mit Hilfe der Bischöfin Korn für magere Zeiten beiseitegelegt. Das hat uns am Leben erhalten. Aber wenn es dieses Jahr keine Ernte gibt... und keinen Handel ...« Er konnte nicht weitersprechen. »Es würde Gottes Wille sein«, murmelte der Junge. »Die Strafe für die Abwendung von der Wahrheit des Phönix.« »Still!« Der alte Mann versetzte ihm erneut einen Schlag gegen den Kopf. »Das habe ich nicht gewusst«, murmelte Sanglant.
Wind kam plötzlich aus dem Norden auf, wehte über die Brustwehr und rüttelte an den Dachbalken. »So wie das da«, sagte der alte Soldat. »Ein Nordwind wie der eben ist nicht üblich für diese Jahreszeit. Das Wetter hat sich verändert. Die Winde sind nicht mehr die gleichen wie zuvor. « »Alles hat sich verändert«, flüsterte der Junge und zog den Kopf ein, wartete auf einen Schlag, der nicht kam. »Ich habe nicht gewusst, dass die Wogen der Zerstörung sich so weit ausgebreitet haben.« Sanglant beugte sich über die Mauer, atmete die Luft ein. Die Nacht umfing ihn. Die ganze weite Welt lag dahinter. Sie erstreckte sich in alle Richtungen, in Dunkelheit gehüllt, unsichtbar, ohne Mond und Sterne, die das Land beleuchteten.
213 Eine Schlacht mochte an einem Tag geschlagen und gewonnen werden, aber Ebbe und Flut des Meeres und der Himmel hörten niemals auf. Was in Bewegung gesetzt worden war, mochte für Wochen, Monate oder gar Jahre weder Wellental noch Wellenkamm werden. Die Rückströmung zog sie möglicherweise bereits nach unten, während sie nie erfuhren, dass sie am Ertrinken waren. Irgendwo im Dunkeln schrie eine Eule. Kies knirschte unter seinen Sandalen, als er sich umdrehte, um herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. »Schscht!«, sagte der alte Soldat. »Das ist eine Eule! Habt Ihr gehört?« »Ist das ein gutes Zeichen?«, fragte der Junge kläglich. »Oder ein schlechtes?« »Ich habe in den letzten Monaten weder die Feder noch den Schnabel eines Vogels gesehen«, sagte der alte Mann, dann schrie er auf und duckte sich, als eine riesige Eule aus der Dunkelheit herangeschwebt kam, knapp über ihre Köpfe hinwegschoss und sich mit einer anmutigen Bewegung auf dem Wehrgang niederließ. Die riesigen Klauen gruben sich in das Holz. Die bernsteinfarbenen Augen glänzten unerschrocken im Laternenlicht. Das Licht offenbarte weiße Streifen auf der Brust und den büscheligen Ohren. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Sanglant. Sie blinzelte. »Wo ist deine Herrin?«, fragte er. Aber alles, was er hörte, war der Wind.
Teil Vier
Der Berg des Weltenanfangs XIII Blut 1 Als der Winter sich in den Frühling verwandelte und die Diakonissin des Dorfes zu Ehren des Tages, da St. Thekla die Verzückung und den Aufstieg des heiligen Daisan bezeugt hatte, eine Messe gehalten hatte, versammelten sich die Dorfbewohner, um über die für den Sommer anstehenden Reisen zu anderen Häfen zu sprechen. Monatelang war Alain krank, schwach und müde gewesen, unfähig, mehr zu tun, als einfach nur zu schlafen, den Brei zu essen, den Tante Bei ihm kochte, und dösend beim Herd zu sitzen, umgeben von Kummer und Rage. Er hatte unter einem Lungenfieber gelitten; eine schreckliche Entzündung hatte sich seines rechten Fußes bemächtigt; er hatte gegen wiederkehrende Kopfschmerzen gekämpft. Am Ende hatte Tante Bels Pflege all diese Beschwerden besiegt. Und an diesem Nachmittag begleitete er Henri nur noch leicht humpelnd zur Kirche. Es war kalt und wie üblich bewölkt. »Wir haben die Sonne seit Monaten nicht mehr gesehen«, sagte Henri. »Die Saat des Winterweizens ist nie aufgegangen. Ich fürchte, wenn das Wetter sich nicht ändert, wird die Früh
213
lingssaat nicht genug Sonne und Wärme bekommen, um zu wachsen. Es wird Hungersnöte geben.« »Es gibt sie bereits.« Henri sah ihn an, sagte aber nichts. Kummer und Rage waren vorausgelaufen. Jetzt kamen sie zurück, schnappten nacheinander und liefen im Kreis um sie herum. Tante Bei und ihre Tochter Stancy gingen ein Stück voraus. Bels andere noch lebende Kinder, Julien, Bruno und Agnes, folgten ihnen und lachten über die Mätzchen von Juliens jüngstem Kind, das Conrad hieß, aber wegen seiner Vorliebe für Schlamm von allen nur Schwein genannt wurde. »Uuuh!«, kreischte Blanche, Schweins ältere Schwester, die jetzt neun oder zehn Jahre alt war. »Uuuh! Schwein hat schon wieder was auf mich geworfen, Papa! Sag ihm, er soll aufhören! Ich hasse ihn! Er ist schrecklich!« »Rühr ihn bloß nicht an!«, rief die Mutter des Kindes. »Wenn du ihn herausforderst, darfst du dich nicht wundern, dass er dich mit Matsch bewirft!« »Hör auf, Blanche«, pflichtete Agnes ihr bei. »Er ist noch ein Kind.« »Komm, geh mit mir, Blanche.« Alain streckte die Hand aus, und sie kam zu ihm gelaufen und nahm sie. Sie war ein blasses, verängstigtes und reizbares Kind, von Geburt an mutterlos. Die Frau, die Julien von Varingia mitgebracht hatte, mochte sie nicht, und Blanche ging es ihr gegenüber ebenso. »Ich hasse dieses stinkende Schwein«, murmelte sie und beäugte Alain von der Seite, um zu sehen, wie er reagierte. »Und sie auch. Ich hasse sie alle, und sie hassen mich.« Er antwortete nicht, obwohl ihr Unglücklich sein ihn schmerzte. Tatsächlich war sie ein unsympathisches Mädchen, das andere schlug und jüngere Kinder ärgerte. Es schien der einzige Weg zu sein, wie sie ihr verwundetes Herz schützen konnte. Er seufzte, und sie schniefte; aber sie schwieg, denn sie wollte sich nicht mit dem einzigen Menschen anlegen, der ihr mehr
214 als oberflächliche Freundlichkeit entgegenbrachte. Und dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Tante Bei schlang den Knoten ihres Schals immer noch mit dem besonderen Dreh, der ihn sich ein bisschen nach links neigen ließ. Stancy war wieder schwanger, müde, aber gesund. Ihr Ehemann Artald war bereits an der Kirchentür und sprach mit einigen Männern aus dem Dorf. Ihre aufgeregten Stimmen wurden lauter, als ein ortsansässiger Waldarbeiter sie mit einer Geschichte unterhielt. »Den ganzen Herbst und Winter war es so ruhig, dass ich dachte, wir hätten endlich Ruhe vor diesen Flüchtlingen«, unterbrach der alte Gilles Fisher den anderen Mann. »Und jetzt kommen sie doch noch. Wir haben nicht genug zu essen für sie. Ich bin dafür, dass wir unsere Stöcke holen und sie vertreiben.« »Fotho sagt, dass es hauptsächlich Frauen und Kinder und alte Leute sind«, wandte Artald ein. »Es kommt mir nicht richtig vor.« »Es waren auch letztes Jahr Frauen und Kinder und alte Leute, und auch im Jahr davor, als der salianische Krieg war, vor den Aikha-Überfällen.« »Nein, letztes Jahr war es besser«, sagte Artald. »Es sind nicht so viele nach Norden gekommen, und außerdem erst im Frühsommer. Sie sind im Grenzland aufgegriffen worden.« Agnes unterdrückte ein Schluchzen. »Was ist los?«, fragte Tante Bei. »Ich rieche Regen. Gehen wir rein, damit wir nicht nass werden.« Sie gingen hinein. Schwester Corinthia leitete die Messe, denn die alte Diakonissin war vor zwei Jahren gestorben, und der Vater des Grafen hatte niemanden geschickt, um sie zu ersetzen. Dass Tante Bei in weiser Voraussicht eine Geistliche in ihrem Haushalt hatte, um ihre Enkel unterrichten zu lassen, hatte ihr Ansehen in Osna beträchtlich erhöht, seit Schwester Corinthia alle Messen hielt. Die Geistliche hatte sogar zwei Dorfkinder ausgewählt, die klug genug waren, um im Kloster St.Thierry ausgebildet zu werden.
214
Die junge Geistliche sang ein Dutzend Psalmen mit ihnen, bevor sie zur Seite trat, so dass Bei aufstehen konnte. »Gibt es Neuigkeiten für uns, Fotho? Bitte, sprich laut und deutlich, damit wir sie alle hören können. Hilde, bring die Kinder nach draußen und pass auf sie auf.« Hilde war Stancys Älteste, ein kräftiges, gut gewachsenes Mädchen etwa in dem gleichen Alter wie Blanche, aber von ganz anderem Wesen. Sie trieb zwanzig wimmernde, kichernde, unruhige Kinder nach draußen, von denen einige sogar älter waren als sie selbst. Stille kehrte ein, als die zwanzig Erwachsenen erst einander und dann den ruhigen Waldarbeiter ansahen, der auf die erste Stufe des Podestes trat, wo er von allen gesehen und gehört werden konnte. Alle saßen auf schönen Bänken, die in Tante Bels Werkstatt hergestellt worden waren. Blanche klammerte sich an Alain, und er ließ sie auf seinen Schoß klettern, das einzige Kind, das nicht nach draußen gegangen war. »Flüchtlinge«, sagte Fotho. »Sie kommen die Küstenstraße entlang. Kein einziger Mann über zwölf oder unter vierzig ist bei ihnen. Sie tragen nichts als Fetzen - wenn sie überhaupt Kleidung haben, was bei den meisten Kindern nicht der Fall ist. Sie hungern. Sie kommen aus Salia. Sie sagen, dass an der Grenze wieder gekämpft wird. Dass es nichts zu essen gibt.« »Sind es die Aikha?«, fragte Agnes mit zitternder Stimme. »Sie sind nicht aus Medemelacha, wenn es das ist, was du wissen willst, Mädchen«, sagte Fotho freundlich und mit einiger Wärme in der Stimme. Er war ein ziemlich gutaussehender junger Mann und nur wenige Jahre älter als Agnes. Er empfand Zuneigung für sie, wie jeder in Osna wusste, aber es war hoffnungslos, obwohl Agnes nach nur einem Jahr Ehe verwitwet war. »Ist es denn ungefährlich, nach Medemelacha zu segeln?«, fragte Gilles Fisher. Er litt zu sehr unter Gelenkentzündung, um selbst zu segeln oder Schiffe zu bauen, aber sein scharfer Verstand und sein reichhaltiges Wissen waren für die Gemeinschaft von großem Wert.
215 »Das ist eine der Fragen, die wir klären müssen«, sagte Henri. »Letztes Jahr war es ungefährlich, obwohl das Handelszentrum unter der Herrschaft des Aikha-Lords stand.« Agnes wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, blickte Fotho an und senkte dann den Blick. »Es klingt nicht so, als würden diese Flüchtlinge uns Ärger machen«, sagte Artald. »Ich bin dafür, dass wir sie weiterziehen lassen. Sie können bei Lavas betteln.« »Ha! Als hätte Edelmann Jeoffrey etwas, das er ihnen geben könnte, oder als würde er ihnen etwas geben!« Diese Worte waren von Meistrin Garias aufsässigem Sohn gekommen, der jedoch immerhin genug Schamgefühl besaß, um zu erröten, als alle kurz Alain ansahen. »Wir haben seit Monaten nichts mehr von Lavas gehört. Der Herr hat uns zum Trocknen aufgehängt !« »Was schlagt ihr also vor?«, fragte Stancy. »Wir haben nicht genug, um alle zu ernähren, die etwas haben wollen.« »Wenn man niemanden abweist, wird für alle genug da sein«, sagte Alain. Sie schwiegen. Blanche lutschte mit weit aufgerissenen Augen und grimmigem Gesicht an einem schmutzigen Daumen. Das Licht, das durch das Glasfenster fiel, tauchte den Boden in fünf den Fensterflächen entsprechende Farben: Es gab Rot, ein helles Grün, ebenso wie Gelb, Blau und ein rauchiges Violett. Weil der Erker der Kirche nach Osten gewandt war, schien die Sonne am Morgen durch das Glasfenster. Jetzt am Nachmittag gab es kein direktes Licht, aber die Tür stand weit offen, und so war es immer noch hell genug, um die Wandgemälde an beiden Seiten des Hauptschiffes erkennen zu können. Auf einem war der heilige Daisan am Feuer zu sehen, wo das erste Mal die Vision vom Kreis der Einigkeit über ihn gekommen war. Ein anderes zeigte den heiligen Daisan mit seinen Anhängern, wie er sich weigerte, vor der dariyanischen Kaiserin Thaissania - Die-mit-der-Maske - niederzuknien und ihr zu huldigen. Dann waren da die sieben Wunder, alle liebevoll mit vielen Einzel
215 heiten dargestellt. Und schließlich war der Leichnam des heiligen Daisan am Herdfeuer zu sehen, von wo aus sein Geist die sieben Sphären empor bis in die Kammer des Lichts gehoben wurde, während die Tränen seiner großen Schülerin St.Thekla den heiligen Kelch füllten.
Einst hatte er in den Wandmalereien kühne Schlachten gesehen, aber jetzt sah er nur Leiden, und es machte ihn wütend, es machte ihn traurig. Schwester Corinthia räusperte sich. »In geistlicher Hinsicht sprichst du nur aus, was wir alle als wahr erkennen, Freund Alain. Die Kirchenmütter lehren, dass jedes Herz eine Rose ist und dass sie verwelkt, wenn man sich in Zeiten der Not von denen abwendet, denen man helfen könnte. Auf die gleiche Weise brauchen Pflanzen Wasser zum Leben, und wir müssen atmen. Aber tatsächlich ...« Sie verstummte und sah Tante Bei hilfesuchend an. »Ein Laib Brot kann keine hundert hungernden Bettler ernähren«, sagte Tante Bei. »Auch wenn wir uns das wünschen.« »Wen von ihnen willst du abweisen?«, fragte er Bei. »Es soll deine Entscheidung sein. Und wenn nicht deine, wessen dann? Wer wird vortreten und entscheiden, welche Bittsteller leben dürfen und welche sterben müssen?« Niemand antwortete ihm. »Deine Tante Bei hat trotzdem recht«, sagte Henri später, als sie die Boote zum Segeln bereitmachten. »Wenn wir alle unsere Vorräte abgeben, werden auch wir verhungern. Das wäre nicht nur dumm, sondern auch eigensinnig.« Unterhalb des Hauses, der Werkstätten und der Gärten befand sich ein schmaler Pfad, der zum Bootsschuppen führte, der vor zwei Jahren erbaut worden war. Sie rollten das neue Boot den kleinen Strand entlang und schoben es ins Wasser. Julien und Bruno setzten das Segel und fuhren hinaus in die Bucht, um es auszuprobieren, während Henri und Alain am 216 Ufer zurückblieben und sich um das alte Boot kümmerten, das wie immer repariert werden musste. Es war auf Baumstämmen aufgebockt worden, und Alain rutschte unter den Bootsboden. Die Arbeit ging ihm leicht von der Hand. Der Geruch von mit Teer getränkter Schafswolle lockte Erinnerungen an jene längst vergangene Zeit hervor, als Henri ihm beigebracht hatte, wie man mit Booten umgehen musste. Als Henri seine Arbeit begutachtete, nickte er. »Gut, Sohn. Du hast nicht vergessen, wie man eine lockere Planke befestigt. Sieh mal da, da ist noch eine andere Stelle.« Sie arbeiteten in freundschaftlichem Schweigen. Alain tastete jeden Fingerbreit der Hülle ab, während Henri die lederne Einfassung und das Hanfseil erneuerte, mit denen das Ruder befestigt war. Eine Möwe kreischte. Wasser platschte über die Steine. Vom Bootsschuppen aus konnte man nach Norden auf die Meerenge hinausblicken. Die östlichen Inseln trieben im grauen Wasser. Die ferne Landzunge, die Osna schützte, glänzte dunkel, und dahinter, im Nordwesten, befand sich das zerklüftete Ufer mit den weißen Brechern, wo sich einst der riesige Drachenrücken erhoben hatte. Ein Segel glitt im Norden über die Bucht. »Regen«, sagte Henri, verharrte einen Augenblick und starrte übers Wasser. Der Geruch nach Salz, Teer und nasser Wolle blieb in Alains Kopf hängen, und dann wurde er wie von einer Flutwelle mitgerissen, verlor sich in Erinnerungen. Zwei flache Boote werden an Land gezogen. Schuppenhäutige Wesen strömen aus ihnen heraus. Sie können nicht als Menschen bezeichnet werden, und ihre wilden, schrecklichen Hunde kann man auch nicht Hunde nennen, aber es gibt keine anderen Worte, um sie zu beschreiben. Diese Wesen brennen alles nieder, während sie marschieren, zerstören das Kloster und töten die unglückseligen Mönche. 216 Da ist eine, die mit ihm zusieht, und ihr Blick ist scharf und unbarmherzig. »Es ist zu spät für sie«, sagt sie. »Nein!« Er zuckte zurück, stieß sich den Kopf am Boot. »Alain?« »Sie ist der Feind«, sagte er abgehackt. Sein Kopf pochte. Ein stechender Schmerz zuckte in ihm auf, weckte den alten Kopfschmerz, der die Blindheit und Taubheit verursacht hatte. »Wer ist der Feind?« »Diejenige, die gesagt hat: >Es ist so, wie es sein muss, wir können nichts dagegen tun, selbst wenn wir es wollen.<« »Sprichst du von deiner Tante?« »Nein, nein.« Er rieb sich den Kopf. Flecken und Lichtblitze tanzten vor seinen Augen. »Ich spreche von derjenigen, der ich auf der Straße begegnet bin.«
»Wen meinst du?« »Die Herrin der Schlachten.« »Wer ist die Herrin der Schlachten? Geht es dir gut, Alain? Hast du wieder Kopfschmerzen? Vielleicht sollten wir zurückgehen, damit du dich ausruhen kannst.« »Wie war meine Mutter?« Henri schwieg; nur das Land um sie herum antwortete: mit dem Zischen der Brandung, dem Rauschen des Windes in den Blättern, dem Knacken eines Zweiges unter dem Gewicht von Rages Pfote, einem entfernten Lachen, dem Trällern eines Vogels, das rasch verklang. Der Kopfschmerz verging, während er still atmend wartete. Nach einer Weile spürte Alain, wie Henri sich rührte, dann hörte er das Geräusch einer Feile, als Henri sich daranmachte, einen Holzpflock so zuzuteilen, dass er genau in das Ruderloch auf der Backbordseite passte, um den alten zu ersetzen, der verfault war. Alain lehnte sich gegen das Boot, erinnerte sich an die vertraute Behaglichkeit vertrauter Gewohnheiten. Henri hatte immer die Angewohnheit gehabt, nachzudenken, wenn er arbeitete, oder vielleicht war es eher so, dass das Arbeiten 217 ihm beim Nachdenken half, dass die Bewegungen seiner Hände seine Gedanken ordneten. Die Hunde schnüffelten zwischen den Bäumen herum. Das Meer seufzte. »Ist es das, was dich angetrieben hat?«, fragte Henri schließlich. »Die Suche nach deiner Mutter?« »Ich gestehe, dass ich immer darüber nachgedacht habe.« Die Feile schabte über das Holz. »Nicht so sehr über meine Mutter«, sprach Alain weiter. »Natürlich habe ich mich stets gefragt, wie sie wohl gewesen ist. Aber wenn eine Geburt bezeugt wird und wenn die Zeugen die Wahrheit sagen, gibt es keine Zweifel, was die Identität der Mutter angeht. Es waren Gedanken über meinen Vater, die mich angetrieben haben.« Die Feile verharrte. »Machst du dir diese Gedanken immer noch?« Alain veränderte seine Haltung ein wenig, um Henri ins Gesicht sehen zu können. Er nahm Henris rissige, schwielige Hand und hielt sie fest. »Nein. Ich weiß, wer mein Vater ist. Derjenige, der mich aufgezogen und für mich gesorgt hat.« Tränen fielen, obwohl Henri stumm weinte. Eine lief seine Wange entlang und fiel sanft auf Alains Handrücken, ein warmer, salziger Tropfen. »Über einen Verräter wird niemals ein gutes Lied gesungen«, sagt er zu Diakonissin Ursuline. »Es ist kein Verrat. Es ist ein Bündnis«, wendet sie ein. Sie befinden sich in der Halle, die seine albischen Zimmerleute als Ersatz für jene erbaut haben, die beim Angriff auf Hefenfelthe im Jahr zuvor abgebrannt war; er sitzt und sie steht. Der größte Teil seines Hofes hat sich zum Schlafen zurückgezogen, aber er ist wie immer wach, und Diakonissin Ursuline ist hartnäckig. Lackeln brennen in Leuchtern, die im Abstand von drei Schritten an der Mauer angebracht sind. Der Qualm leckt an 217 ihm, erinnert ihn an verbranntes Holz und sterbende Männer. Seine Hunde jaulen in der Ecke. Zweifellos träumen sie von dem Gemetzel, das sie ernährt. »Deshalb ist es wichtig, das alte Königsgeschlecht am Leben zu erhalten, jetzt, da die Übrigen tot sind«, spricht sie unbarmherzig weiter. »Wenn Ihr die älteste Prinzessin heiratet, werdet Ihr das albische Volk enger an Euch binden.« »Wenn sie einer solchen Verbindung zustimmt, wird sie sich ihren Ahnen entgegenstellen, den Königinnen. Sie war für den Tod bestimmt, nicht für das Leben.« »Die Königinnen haben viele solcher Bündnisse geschlossen, als sie geherrscht haben. Bei edlen Familien ist es Brauch, diese Tochter mit jenem Sohn, diese Witwe mit jenem unverheirateten Bruder eines einflussreichen Herrn zu verheiraten, um so Frieden zu schließen, den Einfluss zu mehren oder das Glück zu festigen. Die Menschen nennen es nicht Verrat, sondern Weisheit und Zweckdienlichkeit.« Es ist eine kalte Nacht, bewölkt und dunkel. Durch die offenen Türen und Läden hört er die Schritte von Wachen auf der Mauer, die die wieder aufgebaute Halle und den instand gesetzten Turm - das Herz von Hefenfelthe - umgibt. Im Licht der Fackeln würfeln zwei Aikha-Krieger, spielen ein Spiel, das sie von ihren menschlichen Kameraden gelernt haben. Ihre menschlichen Brüder schlafen unruhig neben ihnen, zucken hin
und wieder und stöhnen, wenn sie von Träumen belästigt werden. Andere Aikha-Wachen befinden sich in jenem seltsamen Zustand zwischen halb träumerischer und halb wacher Benommenheit, den die Menschen irrtümlich für Schlaf halten. Sogar Aufrecht, der die Standarte hält, schwankt im Stehen. Den langen Herbst, den endlosen Winter und den ähnlich endlos erscheinenden Frühling hindurch haben die Stürme und Strömungen sich gegen ihn verschworen und ihn an das Ufer Albas gefesselt. Doch wenn die Launenhaftigkeit des Meeres ihn auch ärgert, hat sie ihm doch Zeit gegeben, seinen
218 Sieg in Alba zu festigen. In den mittleren und südlichen Ebenen ist es jetzt ruhig. Der letzte Widerstand ist ins nördliche und westliche Hügelland gezwungen worden, das zu zerklüftet ist, um leicht befriedet zu werden. Aber es lässt sich durchaus bändigen - durch umsichtige Nutzung von Festungen, durch Überfälle, Bestechungsgelder und die Wiederansiedlung ehemaliger Sklaven auf jenen Ländereien, die sich in der Nähe der Rebellen befinden. »Bei den Menschen führen solche Verbindungen zu Nachkommen«, fügt er hinzu. »Wenn ich die albische Prinzessin heirate, können wir uns nicht paaren.« »Nein, vermutlich nicht. Es wäre nur eine politische Verbindung. Aber auch dies solltet Ihr bedenken, Edelmann Starkhand. Wenn Ihr nicht für Eure Nachfolge sorgt, wird Euer Reich mit Eurem Tod zerfallen.« »Das ist wahr, Diakonissin Ursuline. Ich habe während dieses langen Winters mehr als einmal darüber nachgedacht. Alle Dinge sterben am Ende. Wir sind nur Fliegen verglichen mit dem Leben des Steins. Die Söhne von AltMutter sind sogar noch kurzlebiger als die Menschheit. Aber diese Halle« -er deutet auf die Dachsparren, den Holzboden und die zum Turm hochführenden Stufen - »wird mich überleben, und sie wird sogar Euch überleben.« »Solange kein Krieg oder Sturm sie zerstört. Ihr müsst ein Gebäude errichten, das Krieg und Sturm überdauert.« »Aus welchen Materialien? Ich habe Stein, Stahl und Fleisch.« »Ihr habt Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.« »Ich habe meinen Verstand.« »Bei allem Respekt, Edelmann Starkhand, Euer Verstand wird Euch nicht überleben.« »Was ist, wenn ich mir nichts daraus mache, was in der Welt geschieht, wenn ich nicht mehr da bin?« »Ist das so?« Er lacht. »Wenn es so wäre, würde ich nicht hier sitzen.« 218 In der Ferne - zu leise, als dass die Diakonissin es hören könnte - rufen die Wachen jemandem etwas zu. Er legt den Kopf schräg, lauscht und erkennt am singenden Tonfall und den eiligen Schritten, dass es sich um Edelmann Erling handelt. Es ist seltsam, dass Erling hier in Hefenfelthe ist, statt sich um seine eigene Grafschaft zu kümmern. Aufrecht schüttelt sich wach. »Ist jemand gekommen?«, fragt die Diakonissin und dreht sich um. »Es ist schon spät...« Der junge Albe rauscht durch die Tür, als würde er auf dem Wind reiten. Seine Haare sind in Unordnung, sein Umhang weht hinter ihm her, als er sich dem Podest nähert. Vier Soldaten, zwei Aikha und zwei Alben, folgen ihm. Starkhands Aikha-Wachen packen ihre Äxte und Speere fester, aber Erling bleibt stehen und sinkt auf ein Knie. Starkhand hebt die Hand, und der junge Mann erhebt sich, als er durch diese Geste die Erlaubnis dazu erhält. »Ich habe nicht erwartet, dich zu sehen«, sagt Starkhand. »Ich bringe Neuigkeiten!« Sein Gesicht ist vor Aufregung gerötet. »Wie sieht es im Mittelland aus?« »Einigermaßen gut angesichts der Tatsache, dass es in diesem Jahr noch keinen Sonnenschein gegeben hat. Die Leute fürchten, dass es ein Zeichen für Gottes Missfallen ist.« »Glaubst du das auch?« Erling trägt inzwischen einen Kreis der Einigkeit - ein silbernes, sehr schönes Exemplar mit eingravierten Blättern, als sollte es ihm die alte Religion in Erinnerung rufen, die er hinter sich gelassen hat. Er berührt ihn jetzt. »Es könnte sein. Ich bin kein Priester, um Gottes Wille erkennen zu können. Aber die Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben, haben vielleicht Grund zu glauben, dass Gott mit ihnen unzufrieden sind. Ich mache mir Sorgen, was den Sommer betrifft, wenn das Wetter so feucht und bewölkt bleibt.« »Das tun wir alle«, sagt Diakonissin Ursuline.
218
»Was führt dich hierher in den Süden, Erling?«, fragt Starkhand. Der junge Mann nickt. »Ich wollte des Todestages meiner Mutter bei Gut Braiden gedenken, südlich des Flusses. Ich bin nach Süden geritten, um auf ihrem Grab einen Baum zu pflanzen.« »Wie die Baumpriester es verlangen«, schimpft die Diakonissin, aber ihre Stimme klingt gütig, nicht schroff. »Ihr würdet besser für ihre Seele beten und zu ihrem Gedenken ein Kloster stiften.« »Kann ich das tun?« »Natürlich könnt Ihr das tun. Und dann könnt Ihr es mit einem Dutzend Novizen ausstatten, die jeden Tag im Jahr für die Seele Eurer Mutter beten.« »Die Idee gefällt mir! Aber ich würde eine Priesterin brauchen - eine Mutter-, die über sie wacht und sie leitet.« »Ich kann dafür sorgen, dass Euch eine solche Frau, die wir Äbtissin nennen, zur Verfügung gestellt wird, Edelmann Erling. Ihr müsst nur danach fragen.« »Was ich auch tun muss«, sagt Starkhand und tippt mit einem Fuß auf den Boden. »Was für Neuigkeiten führen dich um diese späte Stunde und in solcher Eile wie auf den Flügeln des Sturms zu mir?« »Oh! Nur das, Herr! Im Süden ist ein Zeichen gesichtet worden. Ein Drache! Er ist über das Meer geflogen.« Die Aikha murmeln leise, als sie diese erstaunlichen Neuigkeiten vernehmen. Drachen! Haben sich im Gefolge der Zauberei, die die Welt verändert hat, die ErstMütter erhoben? Haben sich die Dinge so sehr verändert? »Kommt mit.« Starkhand steht auf. Er führt sie die Treppen zum Turm hinauf und über Leitern und steile Stufen aufs Dach. Es ist eine sehr kalte Nacht, und der Wind weht ihnen schneidend ins Gesicht. Die Menschen zittern und reiben sich die klammen Hände, aber er lehnt sich in den Wind und lauscht.
219 Nach einer Weile spricht er. »Lange Zeit hat es bei meinem Volk geheißen, dass sich die ErstMütter in den alten Tagen mit den lebenden Geistern der Erde gepaart und in dieser Zeit die FelsenKinder geboren hätten. Es heißt, dass man sie zur Zeit der Winterflut im Westlichen Meer rufen hören kann ...« »Hört!«, schreit Erling. Ja! Sie neigen sich alle nach Süden, viele drücken sich gegen die Steinzinnen, als wollten sie sich hinüberstürzen, wenn sie das nur dem näherbringen würde, was sie suchen. Der Ruf dröhnt durch die Luft, der Ton ist so tief, dass er ihn durch den Stein spüren kann. Eine Sonne geht im Südosten auf. »Seht nur!«, ruft Aufrecht. Es sind zwei von ihnen, die anfangs nur als gekrümmter, verdrehter Lichtschimmer in der Ferne sichtbar sind, der sich rasch nähert. Ihre Bäuche glänzen. Ihre Schwänze zucken wie Blitze. Sie kommen den Fluss entlang, folgen dem Wasserlauf, während sie landeinwärts fliegen, einem Ziel entgegen, das er nicht erraten kann. Warnglocken erklingen, und er hört Lärm, als Leute aus ihren Hallen und Hütten stürzen. Sie werden größer. Kommen näher. Sie sind riesig, unvorstellbar groß. Ein heißer Strom brennenden Windes schwappt über Hefenfelthe hinweg, und in ihrem Gefolge wirbeln die Wolken auf und der Wald braust. »Seht nur!«, ruft Erling. »Die Sterne!« Die Wolken über ihnen haben sich geteilt und enthüllen jene nadelstichgroßen Punkte, die die ältesten, die ewigen Sterne sind. Aber als die Drachen weiter nach Nordwesten fliegen, als die Hitze und der Wind nachlassen und die kalte Nachtluft wieder zurückkehrt, verhüllt erneut Nebel diesen Schimmer des Himmels, und bald ist alles wieder verborgen. »Es ist Zeit«, sagt Starkhand, als alle schweigen. Sie starren nach Nordwesten, aber es gibt nichts zu sehen. Die Nacht ver
219 hüllt alles. »Das ist in der Tat ein Omen, Edelmann Erling. Es war richtig, mir diese Nachricht so rasch zu überbringen.« »jawohl, mein Herr«, sagt der junge Mann, aber er atmet kaum. Er steht noch immer unter Schock, blickt nach Nordwesten, als wäre er zu Stein erstarrt. »Wir müssen uns bereitmachen«, spricht Starkhand weiter. »Aufrecht, du wirst als mein Stellvertreter hierbleiben. Es müssen Vorräte für den nächsten Winter angelegt werden. Saatkorn muss gesammelt werden,
so viel wie möglich. Felder müssen bepflanzt werden, jagt und stellt Fallen auf, überfallt unsere Feinde im Norden und Westen und nehmt ihr Korn und ihr Saatkorn für uns und unsere treuen Diener. Wenn sie verhungern, umso besser. Edelmann Erling, du und die anderen Edelleute, die ich erhoben habe, ihr werdet in Sicherheit sein, solange eure Leute genug zu essen haben. Ihr müsst euch für alles bereitmachen.« »Das haben wir gesehen'.«, flüstert Erling, starrt immer noch den verschwundenen Drachen nach. »In sechs Monaten werde ich zurückkehren und mir ansehen, was geschehen ist.« »Wohin willst du gehen, Starkhand?«, fragt Aufrecht. »Willst du wieder in Salia kämpfen?« Er sieht Diakonissin Ursuline an. Sie nickt. »Ich muss mich mit den WeisMüttern beraten. Ich glaube, dass sie mir viel zu sagen haben.« »Sollten sie sich entscheiden, das zu tun«, sagt sie. »Sollten sie sich entscheiden, das zu tun. Es gibt vieles, was ich wissen möchte. Dieser Krieg hat gerade erst begonnen.« Eine weitere Träne. Und es sollten noch mehr kommen. Benommen beschattete er die Augen mit der Hand, aber er musste sich konzentrieren, um die Aufmerksamkeit auf diesen Moment zu richten, auf diese Erde, diesen Ort - nicht auf den anderen -, denn Henri sprach noch immer.
220 »Sie war willensstark, aber schwach im Herzen. Verzweifelt und wunderschön. Sie hat ihre Schönheit benutzt, um sich zu ernähren, um das zu bekommen, was sie brauchte. Es war der einzige Weg, den sie gekannt hat, Alain. Wäre sie nicht so hoffnungslos arm gewesen, hätte sie sich vielleicht anders verhalten. Ich weiß nicht, was sie erlebt hat, ehe sie nach Lavas kam. Sie hat nie darüber gesprochen. Die Schwangerschaft hat sie getötet. Es ist der Krieg, den die Frauen kämpfen. So, wie die Männer in der Schlacht sterben, sind einige Frauen dazu verdammt, im Kindbett zu sterben, während sie mit dem Leben ringen. Du hast es überlebt. Sie nicht, obwohl sie leben wollte. Obwohl sie ums Überleben gekämpft hat. Manchmal ist Schönheit wie eine Kerzenflamme - sie scheint, weil sie brennt. Ich hätte sie geheiratet, aber sie wollte etwas anderes.« »Was hat sie gewollt?« Henri zuckte mit einer Schulter, eine so beherrschte Bewegung, dass Alain sie übersehen hätte, wenn er nicht genau in diesem Augenblick seine Hand gesenkt hätte. »Ich weiß es nicht. Sie wollte etwas sein, das sie nicht war.« »Genau wie ich.« »Nein, Sohn. Nein. Nun, vielleicht.« Er lachte schwach. »Das kommt von ihr, vermute ich.« Er legte die Feile weg, kratzte am Bart, fuhr sich durch die Haare und nahm die Feile wieder auf. »Nach all dem, was du gehört hast, was glaubst du, wer dein Vater ist? Ich meine, derjenige, der ihren Garten mit seinem Samen bewässert hat.« »Es spielt keine Rolle«, sagte er. »Ich weiß, wer ich bin, weil ich weiß, was ich tun muss.« Henri runzelte die Stirn. »Du wirst uns verlassen.« »Ich muss es tun.« Kummer bellte, und er hörte die Hunde durch das Unterholz zurückkehren. Er erhob sich, ging um das Boot herum und sah den Pfad hinauf. »Artald kommt.« Stancys Ehemann winkte, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen, und trat zu ihnen. Er war hier geboren und aufgewachsen, ein Mann ohne sonderlich viel Phantasie, aber vernünftig
220 und großzügig, und ein Mann, der hart arbeiten konnte, der viel dazu beigetragen hatte, dass Tante Bels Werkstatt gedieh. Obwohl er eilig gegangen war, keuchte er nicht. »Wo sind Jul und Bruno?«, fragte er, während sein Blick über die Meerenge glitt und ihr Segel suchte. »Nun, es ist nicht sinnvoll, auf sie zu warten.« »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Henri. »Ein Bote aus dem Dorf. Es heißt, dass Kastellanin Dhuoda mit einer kleinen Gruppe vorbeikommt.« »Ist Edelmann Jeoffrey bei ihr?« »Nein, aber sie sucht nach Alain. Am besten, er geht zu ihr, nicht wahr?«
»Am besten, ich gehe zu ihr«, pflichtete Alain ihm bei. Er sah Henri an. Henri runzelte die Stirn und tätschelte geistesabwesend Kummers Kopf, während er nickte. »Ja, wenn sie eigens nach ihm gefragt hat. Ist sie gekommen, um junge Leute nach Lavas mitzunehmen, damit sie dort Dienst tun können?« Artald zuckte mit den Schultern. »Davon hat der Bote nichts gesagt, Onkel. Ich werde Alain begleiten.« »Am besten gehen wir alle mit ihm«, sagte Henri. »Angesichts des Zustands, in dem wir ihn gefunden haben.« »Oh!« Artald strich sich über den Bart. »Daran hatte ich gar nicht gedacht. Nach allem, was gesagt wurde und geschehen ist, wollen sie ihm vielleicht etwas antun.« »Sie werden mir nichts tun«, sagte Alain. Er pfiff, und Rage kam aus dem Gehölz, schonte die eine Pfote. »Trotzdem«, sagte Henri. »Wir kommen alle mit. Und wir sollten das Horn blasen und Julien zurückrufen, falls er es hören kann. Er ist der Einzige von uns, der eine echte Ausbildung an den Waffen erhalten hat.« Das Horn hing unter den Dachsparren des Bootsschuppens. Artald holte es und ging damit zum Ufer, setzte es an die Lippen. Ein tiefes Stöhnen klang zitternd über das Wasser. Alain befahl Rage, sich hinzusetzen, dann zog er ihr drei Dornen aus
221 der Pfote. Danach packte er Werkzeug und Vorräte zusammen und stapfte den Pfad hinauf, gefolgt von den hechelnden Hunden. Ein zweiter Hornruf folgte ihm, verklang dann, und er blieb auf dem Pfad stehen, damit Henri ihn einholen konnte. »Bist du so begierig darauf, uns zu verlassen?«, fragte Henri. »Bitte, Vater, vergib mir. Es ist nur, dass ich mit so etwas gerechnet habe.« »Dass die Grafen von Lavas dich suchen würden?« »Nein. Aber dass es ein Zeichen geben würde, dass diese Zeit des Friedens vorbei ist.« An diesem Abend packte er die Dinge ein, von denen er glaubte, dass er sie benötigen würde: eine zusätzliche Tunika; ein Paar weiche Stiefel, die Tante Bei ihm förmlich aufgedrängt hatte; ein von Bruno geflochtenes Seil; einen Beutel mit Silber-Skeattas aus Medemelacha; eine Sammlung kleinerer Werkzeuge aus der Werkstatt, die in einem Lederbeutel zusammengerollt waren und von denen Artald glaubte, dass sie für einen Mann, der seinen Weg in der Welt machen wollte, unersetzlich waren; einen kräftigen, von Julien geschnitzten Stab; von Stan-cy aus Kalbsleder genähte Handschuhe; einen schweren, von Agnes gewebten Wollumhang; und eine Schüssel, einen Becher und einen Löffel, die Henri geschnitzt und jeweils mit einem Hundekopf verziert hatte. Der Haushalt hatte seine eigenen Abgaben zu sammeln und sich darauf vorzubereiten, sie der Kastellanin zu übergeben, aber Bei sorgte dafür, dass sie an diesem Abend gut aßen und tranken. Er schlief gut, auch wenn andere sich wegen seines Abschieds Sorgen machten. Das Lager, auf dem er in der Halle schlief, war nicht dasjenige, auf dem er früher geschlafen hatte, als er im Dorf groß geworden war. Und so schön dieser Besitz auch sein mochte - er würde ihn nicht halten können, denn diese Umgebung war nur eine Zwischenstation. Er hatte Osna
221 schon vor Jahren verlassen. Ein solcher Abschied konnte kein zweites Mal stattfinden. Am Morgen begleiteten ihn ein Dutzend Leute nach Osna: Henri, Bei, Stancy, Artald, Agnes, Julien mit seinem varingianischen Speer, fünf mit Stöcken und Schaufeln bewaffnete Arbeiter und die kleine Blanche, die sich weigerte zurückzubleiben. Bruno blieb mit den übrigen Mitgliedern des Haushalts in der Werkstatt, für den Fall, dass irgendein gerissener Mensch vorhatte, den Besitz zu plündern, während er nicht verteidigt wurde. Tante Bei war bekannt für ihre umsichtige, vorausschauende Art; viele mochten vermuten, dass ihre Vorratskammern gut gefüllt waren, was tatsächlich der Fall war. »Wir sollten eine Palisade errichten«, sagte Artald, der neben Stancy herging. Er stützte sie am Ellbogen, als sie sich einen Weg durch die Wagenspuren suchte, die sich an dieser Stelle besonders
tief in den Pfad eingegraben hatten. »Ich rede seit drei Jahren davon. Höchste Zeit, dass wir es tun.« »Achtung!«, rief Julien von vorn. Sie holten eine Gruppe von etwa zwanzig zerlumpten Leuten ein, die zur Seite wichen und sich zwischen die Bäume drückten, als sie sie sahen. Ein Kind jammerte und wurde rasch zum Schweigen gebracht. Alle Kinder hatten tief in den Höhlen liegende Augen und geschwollene Bäuche. Die Erwachsenen - bis auf zwei zahnlose alte Männer nur Frauen zogen die Kleinen nach hinten und senkten die Köpfe. »Ich bitte Euch, gute Leute«, sagte eine der Frauen und kroch dabei auf den Knien vorwärts. »Ein Stück Brot, wenn Ihr etwas erübrigen könnt. Dank sei Gott.« Eines ihrer Augen war mit einer Kruste aus getrocknetem Eiter überzogen. Die anderen hinter ihr husteten oder kratzten an Wunden und Pusteln. Die rechte Gesichtshälfte einer Frau war mit einem schuppigen Ausschlag bedeckt, der sich weiter um den Hals zog, als wäre er ein Würgeseil. Alain trat zu ihr, immer noch Blanches Hand haltend. »Sie sind schmutzig!«, rief sie. »Ich hasse sie!«
222 Er zog zwei Brotlaibe aus dem Beutel auf seinem Rücken und gab dem Kind einen. »Hier.« »Das ist dein Proviant, Alain!«, wandte Tante Bei ein. »Du wirst hungrig werden!« »Sorge dich nicht um mich, Tante.« Er drehte sich wieder zu Blanche um. »Es ist an dir, diese Gabe zu übergeben. Du musst es tun.« »Ich kann nicht! Ich habe Angst!«, jammerte sie. »Ich hasse sie.« »Blanche«, sagte er freundlich und sah ihr dabei ins Gesicht. Weinend schlurfte sie vorwärts, drückte der kriechenden Frau das Brot in die Hand und schoss dann gleich wieder in den Schutz der Hunde zurück. Sie zupfte an deren Ohren, bis Rage sanft nach ihr schnappte, damit sie losließ. »Kämpft nicht gegeneinander«, sagte Alain, als die anderen Flüchtlinge sich um die Frau versammelten, die das Brot an ihre Brust drückte. Er bemerkte ein Mädchen, dessen Wangen so hohl waren, dass die Knochen sich unter der Haut abzeichneten. Er gab ihr den anderen Laib. »Hört zu! Alle müssen etwas davon abbekommen, ihr müsst gerecht miteinander umgehen. Ansonsten werdet ihr niemals Frieden finden.« Schweigend gingen sie weiter, und die Bettler blieben hinter ihnen zurück. Als schließlich der Wald von Feldern und Lichtungen abgelöst wurde, die das Dorf ankündigten, fragte Agnes: »Wieso hast du sie verstanden, Alain?« »Es waren Salianer«, sagte Henri. »Ich kenne die Sprache genug, um in Medemelacha zu handeln.« Er warf dem Mädchen einen Blick zu, das bleich wurde, als er den Namen sagte. »Nun, nun, Mädchen. Vielleicht lebt er ja noch. Diese Nachricht, die ich gehört habe, war vielleicht falsch.« »Es wäre leichter, wenn ich es wüsste«, murmelte sie, während sie sich über die Augen wischte. »Das stimmt«, gab Henri ihr recht. »Armes Kind.« »Gott müssen sie auch hassen«, sagte Blanche. »Wieso hätten sie sie sonst krank gemacht? Nur schlechte Menschen lei
222 den. Wenn sie etwas Schlimmes getan haben, werden sie bestraft.« »Wenn das so ist«, blaffte Agnes, »wieso bist du dann nicht mit nässenden Wunden und weißen Narben übersät? Wieso ist deine Nase noch nicht abgefallen?« Ihr Gesicht wurde rot, und sie begann zu weinen. »Genug!«, sagte Tante Bei. »Ich werde nicht in dieses Dorf gehen, während ihr beiden euch streitet wie zwei knurrende Hunde, die sich um einen Knochen balgen! Schämt euch!« »Es ist ein langer Weg«, sagte Artald. »Von der salianischen Grenze bis hierher. Da muss man Tag um Tag marschieren, vielleicht einen ganzen Monat lang. Sie müssen wirklich verzweifelt gewesen sein, dass sie ihre Heimat verlassen haben.«
»Sie wirkten ziemlich verzweifelt auf mich«, sagte Stancy. »Was für bedauernswerte Leute. Wer weiß, wie viele losgezogen sind und wie viele sie unterwegs verloren haben. Diese Aikha-Plünderer sind schuld.« »Nicht unbedingt«, sagte Henri. »Ich hatte den Eindruck, als würde in Medemelacha Frieden herrschen - und Ordnung. Ich habe keine Bettler auf den Straßen gesehen.« »Weil sie vertrieben oder umgebracht wurden«, erwiderte Tante Bei. »Damit sie diejenigen nicht stören, die nichts abgeben wollen. Die alle guten Dinge für sich selbst haben wollen.« »Vielleicht«, sagte Henri. »Aber ich habe Aikha und Menschen Seite an Seite arbeiten sehen. Sie haben nicht so ausgesehen, als würden sie hungern. Ich weiß es nicht. Was denkst du, Alain?« Alain hatte zu den dichten Wolken gesehen und sich gefragt, ob das Licht sich verändert hatte und vielleicht Sonnenschein versprach. Das Gespräch war an ihm vorbeigeströmt, obwohl er alles gehört hatte. »Der Krieg zieht Hungersnöte nach sich. Was sind diese Wolken, diese kranken Felder, diese Furcht und diese Omen, wenn nicht der Widerhall eines uralten Krieges?« »Es ist Gottes Wille, wenn die Sonne nicht scheint oder kein Regen fällt«, erwiderte Artald. »Das sagt die Diakonissin.«
223 »Der Sturm im letzten Herbst wurde nicht von Gott erschaffen«, erklärte Alain. »Er wurde von Menschenhand gemacht, vor langer, langer Zeit.« Sie sahen ihn an, wie sie es immer taten, als wüssten sie nicht, ob er ein Wahnsinniger war oder ein Prophet, und dann sahen sie einander an und wieder weg, zu den Bäumen, zu den Wolken, zu einem verblüffenderweise auftauchenden Rotkehlchen, das unter den knöchernen Ästen einer Eiche auf dem Boden umherhüpfte. »Seht nur!«, rief Stancy. »Seht euch das an!« »Vielleicht kommt der Frühling doch noch«, sagte Henri. Die anderen gingen weiter, aber Alain blieb stehen und bedeutete den Hunden mit einer Geste, ein Stück die Straße entlangzulaufen. Blanche blieb dicht hinter ihm, während er sich langsam vorwärtsbewegte, bis er nah genug war, um sich hinknien und die Hand ausstrecken zu können. Er atmete, fand den Rhythmus des Windes in den Weiden und das Atmen des Baumes. Der Vogel hüpfte zu ihm, dann auf seine Hand, drehte den Kopf und starrte ihn erst mit dem rechten, dann mit dem linken Auge an. Sein Blick war schwarz und strahlend und schimmerte. »Komm ganz ruhig und langsam her, Blanche. Knie dich neben mich. Nur keine schnellen Bewegungen.« Sie kroch neben ihn, wagte kaum zu atmen und streckte die Hand aus. Nach einem kurzen Augenblick hüpfte das Rotkehlchen auf ihre Finger, und sie starrten einander an, dann breitete es plötzlich die Flügel aus und flog davon. Sie brach in Tränen aus. »Wie machst du das?« »Nur Geduld, Kleines. Wenn du die ruhende Stelle in dir selbst findest, werden dir sogar die wilden Tiere vertrauen.« »Niemand vertraut mir.« »Das Rotkehlchen hat dir vertraut.« Sie schniefte, wischte sich über die Augen und die Nase. »Komm jetzt«, sagte er. »Hoffen wir, dass wir in diesem Frühjahr noch weitere Vögel sehen, denn es ist ein schlechtes
223 Zeichen, wenn sie alle verschwinden.« Er neigte den Kopf nach hinten, um zu den nackten Bäumen hochzusehen. »Denn so war es damals. Ein schlechtes Zeichen.« »Nun, Junge, hast du wieder Kopfschmerzen?« Henri war zurückgekehrt, ließ die anderen an der Straße warten. »Ich helfe dir, wenn es dir nicht gutgeht. Es ist nicht nötig, dass du heute noch weitergehst. Wenn du lieber umkehren willst...« »Nein, nein, Vater. Es geht mir gut. Ich habe mich nur an einen Wald erinnert, aus dem einmal alle Vögel geflohen waren. Aber an jenem Ort hat es ein schreckliches schwarzes, lebendiges Herz gegeben. Deshalb sind sie geflohen. Sie haben das Böse gefürchtet.«
Henri sah sich beunruhigt um, während Blanche jammerte. »Glaubst du, man verfolgt uns?« »Hier?« Er tätschelte Blanche zärtlich den Kopf. »Nein, ich glaube, der Sturm hat diese armen Wesen sehr weit weggeweht. Diejenigen, die überlebt haben, haben einfach nur sehr lange gebraucht, um den Weg zurückzufinden.« »Das mag sein«, sagte Henri, der immer noch seinen Arm hielt und ihn anstarrte. »Das mag sein. Ein armes Wesen mag in der Tat weit weggeweht werden, bevor es seinen Blick wieder auf die Heimat richtet.« Sie holten die anderen ein, die ihren Weg fortsetzten, ohne etwas zu sagen oder nachzufragen. Lange bevor sie die Gerberei sahen, konnten sie sie riechen, und dann war auch schon der rechteckige Turm der Dorfkirche zu sehen, der über die Bäume ragte. Auf dem Gemeindeland vor der Kirche hatte sich eine Gruppe von Dorfbewohnern um den Tisch versammelt, an dem die Kastellanin des Grafen Hof hielt. Sie würde die jungen Leute auswählen, die ein Jahr lang auf Lavas dienen würden, und die Zehnten und Steuern in Empfang nehmen, die das Dorf als Gegenleistung für den Schutz zahlte, den es in Kriegszeiten erhielt. Alain erkannte die alte Frau, die am Tisch saß, nicht sofort. Erst als sie aufblickte, ihn kommen sah und beschämt das Gesicht abwandte, begriff er, dass es Kastellanin
224 Dhuoda war. Sie war gealtert, hatte weiße Haare und ein faltiges Gesicht, so dass man sie gut und gerne für zwanzig Jahre älter hätte halten können. Sie erhob sich und kam dann auf einen Stock gestützt um den Tisch herum. Als die Menge Platz machte, um ihn durchzulassen, sank sie auf die Knie. »Ich bitte Euch, mein Herr, kehrt nach Lavas zurück. Vergebt uns unsere Sünden. Kommt zurück.« Henri pfiff leise. Kummer bellte. Die Kastellanin, die die zwei schwarzen Hunde bemerkte, weinte leise. »Weiß Edelmann Jeoffrey, dass Ihr hier seid?«, fragte Alain. »Nein, Herr. Er ist der Falsche. Er hat gelogen, um die Grafschaft für seine Tochter zu gewinnen.« »Hat er das? Stammt er nicht rechtmäßig vom Bruder der alten Gräfin Lavastina ab, die die Mutter des ersten Charles Lavastin und die Urgroßmutter von Lavastin war?« »Das stimmt, Herr.« »Wie kann er dann gelogen haben?« »Wenn er nicht gelogen hat, wieso müssen wir dann leiden ? Er hat Euch misshandelt, weil er Angst vor Euch hatte. Wieso sollte er Angst vor Euch haben, wenn er nicht davon ausgegangen ist, dass Ihr tatsächlich Lavastins rechtmäßiger Erbe seid?« Er nickte. »Ich werde mitkommen, Meistrin Dhuoda.« »Nach Lavas?« »Ja, weil ich muss. Aber ich bitte Euch, sprecht mich nicht als >Herr< an. Es ist nicht recht. Ich bin nicht der Erbe von Lavas.« »Aber die Hunde, Herr!« Verärgert machte sie eine Geste zu den Hunden, die rechts und links von ihm saßen. »Die Hunde sind der Beweis! Sie haben niemals jemand anderem gehorcht als dem Erben von Lavas!« »Ist das wahr?«, fragte er. »Oder betrachtet Ihr es nur von der falschen Seite? Haben sie nie jemand anderem als dem Erben von Lavas gehorcht - oder nie jemand anderem als dem Erben von Charles, dem Älteren?« »Ich verstehe Euch nicht, Herr. Die Hunde sind der Beweis.«
224 »Wir können aufbrechen«, sagte er. »Sobald Ihr so weit seid.« Es dauerte bis Mittag, das einzusammeln, was das kleine Dorf in diesem Jahr an Abgaben aufbringen konnte, und da Lavas nicht die Mittel hatte, noch mehr Bäuche zu füllen, nahm sie keine jungen Leute aus dem Dorf auf, die dem Grafen das übliche Jahr hätten dienen können. Der Geistliche, der sie begleitete, trug Zahlungen und Rückstände in das Rechnungsbuch ein, und von Letzteren gab es weit mehr als von Ersteren.
»Es scheint, als würdest du uns wieder verlassen«, sagte Tante Bei zu Alain. »Und es macht mich traurig, dass du gehst. Ich weiß nicht, wann wir dich wiedersehen werden.« »Ich weiß es auch nicht«, erwiderte er. »Mein Pfad ist seltsam. Ich weiß nur, dass unsere Wege sich hier trennen müssen.« Sie weinte, aber nicht sehr. »Es gibt immer einen Platz für dich bei uns, Alain, auch wenn ich nicht glaube, dass du wirklich unser bist.« Er küsste sie, und sie umarmte ihn. Auch die anderen verabschiedeten sich mit einem Kuss oder einer Umarmung von ihm, je nachdem, was ihrem Wesen entsprach. »Ich bitte euch«, sagte er zu Stancy und Artald. »Bleibt stark und passt auf die anderen auf. Lasst nicht zu, dass die Familie zerbricht.« »Beherrsche dich«, sagte er zu Julien, und dann zu Agnes: »Warte nicht ewig. Heirate in einem Jahr wieder, wenn du keine Nachricht von deinem verschollenen Mann hast.« »Ich sollte selbst nach Medemelacha gehen!«, sagte sie mit aufgebrachter, aber gedämpfter Stimme, damit die anderen es nicht hörten. »Aber Onkel lässt mich nicht. Er sagt, dass die Frau den Herd bewachen muss und es Sache der Männer ist, sich auf die gefährlichen Reisen zu begeben, wie es in der Heiligen Botschaft steht. Alle sagen, dass ich einfach Fotho heiraten soll, aber ich will nicht! Ich will nach Medemelacha gehen und herausfinden, ob es Nachrichten von Guy gibt.« »Dann schließe mit ihnen ein Abkommen. Wenn sie dich dieses Frühjahr gehen lassen, sofern das Meer befahrbar ist,
225 und du keinen Hinweis auf ihn findest, wirst du keine Einwände mehr dagegen erheben, wieder zu heiraten, wie es Tante Bels Wunsch ist.« Die ganze Zeit über hing Blanche an seinem Arm, mit zusammengepressten Lippen und einer so finsteren Miene, dass Milch davon hätte sauer werden können. Als Letzter kam Henri an die Reihe. »Es tut mir leid, dich weggehen zu sehen, Sohn. Aber ich weiß, dass du gehen musst. Du hast uns niemals gehört, du warst nur ein Geschenk, das wir eine bestimmte Zeit besessen haben, bis es zurückgefordert wurde.« Und in diesem Augenblick zerbrach schließlich die Ruhe, die ihn bisher getragen hatte. Alain konnte nicht sprechen, als er den Mann umarmte, der ihn aufgezogen hatte. Blanche begann zu weinen. »Nein! Nein! Ich lasse dich nicht gehen!« Henri wirkte sowohl erheitert als auch verärgert, wie es bei allen der Fall war, wenn sie mit Blanche zu tun hatten. »Es wird schwer sein, diese Klette loszuwerden.« »Vielleicht.« Alain versuchte nicht, sie abzuschütteln, obwohl die anderen herankamen und mit ihr schimpften und an ihr zerrten. »Vielleicht sollte ich es auch gar nicht erst versuchen«, sagte er, und sie starrten ihn alle überrascht an. »Was meinst du damit?«, fragte Tante Bei. Julien errötete und blickte beschämt drein, und Agnes verdrehte angewidert die Augen. »Sie gedeiht hier nicht«, sagte Alain. »Sie ist wie ein Baum, der verkrüppelt wächst und nicht gerade. Ich möchte sie mit nach Lavas nehmen.« »Wer wird für sie sorgen?«, fragte Agnes. »Wer sollte einem so unsympathischen Wesen wie ihr Freundlichkeit entgegenbringen?« »Sie werden sie vermutlich zu den Hühnern stecken, statt sie in ihr Haus zu lassen«, sagte Stancy. »Armes Ding.« Sie sah Julien an, der den Kopf senkte. »Wenn du dich mehr für sie ein
225 setzen würdest, Jul, und sie schelten würdest, wenn sie es verdient hat, wäre sie vielleicht nicht so.« »Nein! Ich lasse dich nicht gehen!«, schrie Blanche, die nicht zugehört hatte, da ihr Wutanfall sie vollkommen beherrschte. »Ich kann dafür sorgen, dass man sich um sie kümmert.«
»Es gefällt mir nicht«, erwiderte Tante Bei. »Die Kastellanin hat selbst gesagt, dass Lavas nicht genug besitzt, um dieses Jahr junge Menschen aufzunehmen. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, dass ich meine eigene Enkelin rausgeworfen hätte, damit sie bei den Hühnern scharren kann.« »Vertraust du mir, Tante Bei?« »Natürlich, Junge.« »Lass mich sehen, was aus ihr in frischem Boden wird.« Weil niemand von ihnen das Kind mochte, waren sie zu beschämt, um zuzustimmen. »Blanche! Still!« Sie beruhigte sich, hielt sich aber nach wie vor an seiner Taille fest. Tränen verschmierten ihr schmutziges Gesicht, als sie erst ihn und dann die anderen ansah. Tante Bei musterte jedes einzelne Familienmitglied, aber sie alle runzelten nur die Stirn oder zuckten mit den Schultern. »Also gut, Alain. Vielleicht ist es am besten so.« »Was ist am besten so?«, murmelte Blanche und schniefte argwöhnisch. »Dass du mit mir nach Lavas gehst«, sagte er zu ihr. »Solange du dich benimmst und genau das tust, was ich dir sage.« Die Worte machten sie benommen. Sie steckte den Daumen in den Mund und verzog das Gesicht. »Aber sie hat keine Kleidung, gar nichts. Ich werde keine arme -« »Es wird alles gut werden, Tante Bei. Am besten gehen wir jetzt, und zwar rasch. Die Kastellanin ist fertig.« Sie weinten, ebenso wie er. Blanche weinte nicht, nicht einmal, als ihr Vater sie küsste, nicht einmal, als Agnes ihren schönen, blauen Umhang abnahm, der zu ihrer Hochzeitskleidung gehört hatte, und ihn ihr reichte.
226 Am schwersten fiel es Alain, Henri loszulassen, und am Ende war es Henri, der ihre Umarmung löste, ihm die Hand auf die Schulter legte und ihm in die Augen sah. »Geh jetzt, Sohn. Du wirst das Richtige tun.« Er strich mit einem Finger über die Narbe. »Vergiss uns nicht.« »Du wirst immer bei mir sein, Vater.« Alain küsste ihn ein letztes Mal. Er warf sich sein Bündel über den Rücken, nahm Blanche an die linke Hand und folgte Kastellanin Dhuoda und ihrem kleinen Gefolge aus Osna heraus und wieder in die Welt dahinter.
2 Im ersten Moment wusste Anna nicht, was für ein Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Gnade lag neben ihr, still wie eine Maus und ganz eng zusammengerollt, den Kopf fast auf den Knien. Eine Dienerin namens Julia, eine Spionin der Königin, schlief auf einer Pritsche über der geschlossenen Falltür. Sie schnarchte gleichmäßig weiter. Dann erklang das Schlurfen erneut, und danach war einmal zu hören, wie Holz über Stein scharrte. Anna stützte sich auf einem Ellbogen auf und sah, wie Edelfrau Elene sich aus dem Fenster lehnte. Es sah so aus, als wäre sie kurz davor, sich in den Tod zu stürzen. Anna rappelte sich auf und stolperte zu ihr, stieß sich einen Zeh an der Bank und fluchte. »Sieh nur!«, sagte Elene. Ihre Haare berührten Annas Haut so leicht wie eine Feder, als sie neben sie trat. Anna zitterte und schluckte ein Schluchzen hinunter, als sie an Thiemo und Matto denken musste, deren Haare sie auf diese Weise hätten berühren können. »Was ist da drüben?« Elene deutete mit dem Finger auf etwas. »Siehst du die Lichter?«
226 Von dieser Stelle aus konnte man bei Tageslicht nach Süden sehen, auf eine allmählich hügeliger werdende Landschaft. Nicht eine einzige Kerze brannte in Novomo. Die Stadt war so dunkel wie der Abgrund. Der strenge Geruch von Pisse drang ganz aus der Nähe zu ihnen herauf, kam von jener Stelle am Fuß des Turms, wo die Soldaten sich erleichterten. Aber in der Ferne sah sie einen Schauer aus Blitzen und einen Lichtbogen, als würde sich eine Sturmfront nähern. Das Licht dort war so hell, dass sie den Atem anhielt. »Was ist das, Herrin?«
»Es muss eine Krone da draußen sein, obwohl Wulfhere sie nie erwähnt hat. Jemand webt in dieser Krone. Aber wie kann man das tun, wenn keine Sterne da sind?« »Wieso braucht man Sterne, Herrin?« »Das ist das Geheimnis der Mathematiki, Anna. Ich kann es dir nicht erklären. Aber ich sage dir, dass es ein Weben ist, in gewisser Weise. Man muss Sterne sehen können, um die Hand und das Auge zu führen.« Anna gefiel es, dass Edelfrau Elene so ungezwungen mit ihr sprach. Elene war stolz, aber nicht dumm, und so hatte sie Anna eingeschätzt und ihre Loyalität bedacht, und wenn sich die Tochter eines Herzogs auch nie einer gewöhnlichen Dienerin anvertrauen würde, so begegnete sie ihr auch nicht mit Verachtung. Tatsächlich erwies Edelfrau Elene ihr ihre Gunst umso mehr, je mehr Gnade sich darüber ärgerte, dass sie ihrer eigenen Dienerin so viel Aufmerksamkeit schenkte. Anna fand das nicht sehr nett von ihr, aber es war schön, eine erwachsene Kameradin zu haben, die keinen Schmollmund zog und schrie und bei der geringsten Kleinigkeit Wutanfälle bekam. Es war angenehm, mit einem Menschen sprechen zu können, der Verstand besaß - einen Verstand, den sie jenen, denen sie nicht traute, nicht immer offenbarte. »Aber sieh doch!« Sie war mehr als Schatten zu erkennen denn als Gestalt, die sich jetzt jedoch mit einem scharfen Atemzug verlagerte. Anna spürte Elenes Hüfte an ihrem Kör 227 per, als die Edelfrau die Hand wieder ausstreckte. »Irgendjemand kommt von irgendwoher durch die Krone. Wer könnte das sein? Wer könnte überlebt haben?« Anna zitterte erneut, hauptsächlich wegen der Kälte. »Wer kennt sonst noch die Geheimnisse der Kronen?« »Marcus und die Heilige Mutter Anne und meine Großmutter sind tot, wie auch diese andere Frau aus dem Süden, die sie Schwester Abelia genannt haben.« »Woher wisst Ihr, dass sie tot sind?« »Ich wünschte bei Gott, dass ich es nicht miterlebt hätte, aber ich habe es. Sie sind tot. Aber jemand von den anderen könnte überlebt haben. Die im Norden konnte ich nicht sehen, nachdem das Weben verzerrt wurde.« »Wenn das stimmt, könnt Ihr ihnen dann trauen?« »Niemandem von ihnen, wie Wulfhere sagt.« »Könnt Ihr Wulfhere trauen?« »Das fragst du nicht zum ersten Mal!« Elene lachte, aber ihre Erheiterung klang verbittert. »Er ist der Einzige, dem ich trauen kann. Nun, ihm und meiner Großmutter, und meiner armen toten Mutter, möge sie in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen, aber sie kann mir jetzt nicht helfen.« »Was ist mit Eurem Vater, dem Herzog?« Sie zuckte mit den Schultern, berührte dabei Annas Arm. »Er hat mich aufgegeben, in dem Wissen, dass ich sterben würde. Er hat getan, was seine Mutter verlangt hat, und ich habe gehorcht.« Mutig legte Anna eine Hand auf die von Elene, um sie zu trösten. Elene zog ihre Hand nicht weg. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Lichtblitze verschwanden, sahen dann noch eine ganze Weile länger hin, obwohl es gar nichts mehr zu sehen gab. »Heilige Mutter! Wacht auf, ich bitte Euch.« Antonia hatte die Angewohnheit, rasch aufzuwachen. »Was ist, Schwester Mara?«
227 »Kommt rasch, ich bitte Euch, Heilige Mutter. Die Königin hat nach Euch geschickt.« Sie ließ sich von ihren Dienerinnen in ein leichtes Gewand und einen Umhang kleiden. Noch immer war es so kühl wie im Winter, obgleich es schon einige Zeit Frühling war; und dabei hätte es eigentlich ständig wärmer werden müssen, da jeder Tag sie dem Sommer näher brachte. Lampen beleuchteten ihren Weg, obwohl das schwache Licht der Morgendämmerung die Bögen und Winkel des Palastes bereits erkennen ließ. Zwanzig Leute befanden sich auf der offenen Veranda vor den Gemächern der Königin. Sie traten zur Seite, um sie durchzulassen, und als sie im Zimmer war, fand sie weitere zwanzig Leute, die
vollkommen still waren, sogar jene, die weinten. Mathilda schlief. Adelheid saß auf ihrem Bett und hielt die schlaffe Berengaria in den Armen. Nur die Toten kannten solchen Frieden. Adelheid blickte auf. »So ist es also geschehen, Heilige Mutter. Sie hat ihren letzten Atemzug getan.« Ihre Augen waren trocken, ihre Miene beherrscht, aber starr vor unterdrückter, gebändigter Wut. »Armes Kind.« Antonia legte ihre Hand auf die kalte Stirn des winzigen Kindes und sprach ein Gebet. Es war während der langen Krankheit fast völlig abgemagert. Da die Seele geflohen war, schien es kaum mehr als eine skelettartige Puppe zu sein, mit grauer Haut und Haaren, die noch vom letzten Schweißausbruch verklebt waren. »Sie klettert in diesem Augenblick die Leiter hoch, die zur Kammer des Lichts führt, Eure Majestät. Ihr müsst Euch für sie freuen, denn ihr Leiden hat ein Ende.« »Mathilda ist alles, was ich habe.« Antonia fand diese Verlagerung beunruhigend, obwohl sie eine Frau bewunderte, die bereits die praktische Seite ihrer Situation bedachte. »Ihr seid noch jung, Eure Majestät. Ihr könnt Euch neu verheiraten.« »Mit welchem Mann? Es gibt niemanden, dem ich trauen kann, und niemanden, dessen Rang meiner würdig ist.«
228 »Das mag sein, aber Ihr werdet wieder heiraten müssen.« »Ich muss. Oder Mathilda muss verlobt werden, um ein vorteilhaftes Bündnis zu schließen.« »Mathilda!« »Still, ich bitte Euch, Heilige Mutter. Ich möchte sie nicht aufwecken.« »Wenn es für Euch selbst keine geeignete Verbindung gibt, wie sollte es sie dann für Mathilda geben, Eure Majestät?« Sie antwortete nicht. Aus dem anderen Zimmer erklangen die Schritte eines Soldaten. Eine Frau trat ein. »Hauptmann Falco hat dringende Nachrichten, Eure Majestät.« »Ich komme.« Adelheid reichte das tote Kind der Zofe, die die Bürde ernst und ohne Tränen in den Augen annahm. Die Übrigen weinten, aber ihre Augen kündeten lediglich von ihrer Erschöpfung, das war alles. Adelheid stand auf und zog ihr Gewand zurecht. Seltsam, dass sie um diese Stunde, da sie eigentlich hätte schlafen sollen, angezogen war. Aber in den letzten Tagen hatte sie häufig nachts bei dem Kind gewacht, denn alle wussten, dass der Engel Gottes oft in der Stunde vor dem Morgengrauen kam, um die Seelen der Unschuldigen mitzunehmen. Hauptmann Falco wartete vor dem Zimmer. Er war wachsam, sein breites Gesicht bemerkenswert lebhaft. »Ihr werdet es nicht glauben, Eure Majestät! Kommt bitte rasch mit.« Nur ein einziger Springbrunnen im Palast von Novomo war noch unversehrt, und durch seinen raffinierten Mechanismus rann plätschernd Wasser. In diesem Hof gab es auch eine schattige Laube, ein Beet mit Lavendel und einen einst herrlichen Garten mit Salbei und Chrysanthemen. Unter der Arkade hockte Edelfrau Lavinia und rieb sich die Hände. Sie wirkte aufgeregt, während sie den Mann anstarrte, der sich im Wasser Gesicht und Hände wusch. Antonia blieb abrupt stehen, verblüfft und atemlos, aber Adelheid ließ sich nichts anmerken. Sie schritt zu ihm wie zu
228 einem Liebhaber, und als er sich erhob und umdrehte, offensichtlich überrascht, sie zu sehen, versetzte sie ihm eine Ohrfeige. Die Hälfte ihres Gefolges schnappte nach Luft. Die Übrigen unterdrückten Ausrufe. Adelheid achtete nicht darauf. Zorn loderte in ihr. Sie sah aus, als wollte sie ihn anspucken. »Ihr habt Henry getötet!« Er berührte seine Wange. Er verbeugte sich nicht und machte auch keine ehrerbietige Geste, ließ aber auch keine Verachtung erkennen. »Wir waren einmal Verbündete, Eure Majestät.« »Nein! Ihr habt mich mit Euren vergifteten Aussagen verführt. Es ist Eure Schuld, dass Henry tot ist!«
»Ganz bestimmt ist es die Schuld seines Sohnes, der ihn getötet hat. Und, wenn wir schon dabei sind, außerdem Annes Schuld, die Henry hätte töten lassen, hätten wir beide ihn nicht durch unser Einschreiten davor bewahrt.« Er sprach ruhig, ohne zu schreien, und doch so klar und deutlich, dass alle im Hof seine vernünftigen Worte und seine wohlklingende Stimme hören konnten. »Ich flehe Euch an, Eure Majestät! Ich bitte Euch! Vergesst nicht, dass wir beide wegen der Dinge, die getan werden mussten, geweint und getrauert haben. Aber wir haben es zusammen beschlossen. Wir haben ihn gerettet. Sein Sohn war derjenige, der ihn getötet hat.« »Wenn Ihr nicht bis Einbruch der Nacht aus Novomo verschwunden seid, lasse ich Euch als Verräter hinrichten.« Sie raffte ihr Gewand zusammen, so dass der Stoff ihn nicht berühren konnte, und stapfte davon. Ihr Gefolge eilte hinter ihr her, ließ Antonia und eine verzweifelte Edelfrau Lavinia und ein Dutzend Bedienstete zurück, die ihrem Gemurmel und Gescharre zufolge nicht wussten, was sie tun sollten. »Geht es Eurer Tochter gut, Edelfrau Lavinia?«, fragte Hugh freundlich. Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Ja, Edelmann Hugh«, sagte sie nur. »Sie hat den Sturm überlebt, was mehr ist, als man von vielen anderen sagen kann.«
229 »Gott waren Euch also wohlgesonnen. Ich bin froh, das zu hören.« Sie schluchzte jetzt doch, unterdrückte es dann und schwankte, wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht liebte sie ihn mehr, als sie Adelheid liebte. »Bitte, Edelfrau Lavinia«, sagte Antonia. »Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Die Königin ist außer sich vor Kummer.« »Ja! Das arme Würmchen. Ja, in der Tat.« »Dann beruhigt Euch und tut, was Ihr tun müsst. Edelmann Hugh, wenn Ihr bitte mit mir kommen wollt.« Er neigte demütig und mit jener Anmut, die so typisch für ihn war, den Kopf und folgte ihr dann mit noch staubigen Stiefeln in ihre Gemächer. Dort hieß sie ihn, sich auf eine Bank zu setzen, und trug den Bediensteten auf, gewürzten Wein zu bringen. Eine Geistliche öffnete die Schnalle an seinem Umhang und legte ihn beiseite. »Was bedeutet das?«, fragte er, während er den Raum musterte. »Dort hängen die Gewänder der Skopos.« »Ich bin jetzt die Mutter der Kirche, Edelmann Hugh. Merkt es Euch.« Die Neuigkeit verblüffte ihn, aber er nahm sie hin, nippte nicht gierig, sondern nachdenklich an dem Wein. »Vieles hat sich verändert. Ich habe in diesen Stunden beängstigende Geschichten gehört. Die Wachen am Tor von Novomo haben mir erzählt, dass Darre eine Ödnis ist.« »So ist es, schrecklich wie der Abgrund. Darre stinkt nach Schwefel und ist vollkommen unbewohnbar. Jetzt hört zu. Ihr habt mir in der Vergangenheit einen Gefallen getan, und ich werde ihn erwidern, obwohl ich nicht sicher bin, ob Ihr das seid, was ich mir erhofft hatte.« Er lächelte, aber sie konnte nicht erkennen, was er dachte. Er war tatsächlich wunderschön - und müde -, und sie wusste noch nicht, woher er gekommen war und was für eine Geschichte er zu erzählen hatte. Doch ihre Augen schmerzten 229 nicht, als sie ihn anblickte und ihm dabei von dem erzählte, was in den letzten sechs Monaten geschehen war, und den bedauernswerten Zustand beschrieb, in dem sich der Rest von Aostas Hof befand. Er zuckte nicht ein einziges Mal zusammen, machte keine Bemerkungen und weinte nicht vor Entsetzen. Es schien wenig zu geben, was ihn überraschen konnte - außer, als sie erzählte, welche Gefangenen sie besaßen. »Wirklich?«, fragte er. »Die Tochter von Sanglant und Liath? Wirklich?« Er errötete. »Seid vorsichtig, Edelmann Hugh, sonst verratet Ihr Euch noch zu sehr.« »Wie meint Ihr das?« »Glaubt nicht, dass ich es nicht wüsste.« Das überraschte ihn nun doch, weil die Erschöpfung ihn verletzbar machte.
»Ich habe eine Idee«, fügte sie hinzu. »Aber sie umzusetzen wird einige Zeit dauern - und sie bedarf einer Menge Planung und Geduld.« Er hob elegant eine Hand, um zu zeigen, dass er sie gehört hatte und dass er bereit war, sie weitersprechen zu lassen. »Was für Aussichten habt Ihr, Edelmann Hugh ? Wieso seid Ihr hier in Aosta, wenn Ihr von Anne nach Norden in das Land Eurer Ahnen geschickt worden seid, um dort Euren Teil zum Weben beizutragen?« Er lächelte, aber er sagte nichts. »Woher kommt Ihr?« »Aus Wendar. Ich habe Annes Zauberei überstanden, wie Ihr sicherlich bereits begriffen habt. Ich habe jemanden an meinen Platz gestellt und bin auf diese Weise am Leben geblieben, während er tot ist.« »Auf diese Weise hat Schwester Meriam sich geopfert, um ihrer Enkelin das Leben zu retten«, bemerkte sie trocken. »Ich bin nicht Schwester Meriam.« »Nein, das seid Ihr allerdings nicht, Edelmann Hugh.« »Was wollt Ihr von mir?«
230 »Königin Adelheid braucht einen Ehemann. Wieso solltet Ihr es nicht sein?« Er zuckte zurück, so dass er fast rücklings von der Bank gestürzt wäre. »Ich bin ein Presbyter, wie Ihr wisst, Heilige Mutter. Es ist unmöglich. Ich kann nicht heiraten.« »Wenn ich Euch die Erlaubnis gebe, die Kirche zu verlassen, könnt Ihr heiraten. Es ist in der Dienerschaft und Bevölkerung oft darüber geredet worden, welch schönes Paar Ihr und Adelheid abgebt. Zumal Henry so viel älter war und Ihr so jung und hübsch seid und von den Aostanern in Darre geliebt wurdet.« »Ich bin Gott treu, Eure Heiligkeit. Ich suche die Ehe nicht.« »Ihr seid voller Begierde. Wollt Ihr das leugnen?« Seine Lippen wurden dünner. Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine Augen zeigten ein kaltes Blau, so spröde wie Eis. »Ich bin treu, Eure Heiligkeit.« »Wem? Gott?« Er schloss die Augen. »Einer Frau, die Ihr niemals haben könnt.« Der wilde Blick verblüffte sie, als er die Augen abrupt wieder öffnete. »Ich hatte sie einmal!« Er schlug mit der Faust auf die Bank, dann biss er die Zähne zusammen und schloss die Augen wieder, machte drei zitternde Atemzüge, bevor er sich beruhigte. »Ich bin ihr treu. Niemandem außer ihr. Und danach Gott. Und nach Gott Henry.« »Der tot ist.« »Ich habe mein Bestes getan, um ihn zu retten!« »Daran zweifle ich nicht«, sagte sie, um ihn zu besänftigen. »Was ist mit Henrys Sohn? Ist er bei Prinz Sanglant?« Er konnte nicht sprechen. Er war erschüttert und müde und so von Eifersucht zerfressen, dass er davon zerbrechlich geworden war, kurz davor, in Stücke zu zerfallen, aber noch nicht zerbrochen. »Es ist alles zu viel und geht zu schnell«, sagte sie freundlicher. »Ihr seid gerade erst nach einer langen und zweifellos mühsamen Reise hier eingetroffen. Wie seid Ihr hergelangt?«
230 »Ich bin von Quedlingham nach Südwesten geritten, bis ich eine Krone gefunden habe. Mit meinem Astrolabium war es leicht, meinen Weg nach Novomo genau zu bestimmen. Das habe ich mir selbst beigebracht. Anne wusste nichts davon und hat es nicht beherrscht. Ich kann überall hingehen, wenn ich das Ziel kenne und es abschätzen kann. Ich habe nur zwei Wochen beim Durchschreiten der Krone verloren. Schon bald werde ich die Zeit auf ein paar Tage mindern können.« »Und ganz allein, ohne Gefolge.«
»Nur mit meinem Pferd, das jetzt in den Stallungen der Edelfrau ist. Ich bin vor denen weggelaufen, die mir nicht trauen. Selbst meine Verwandten haben sich durch vergiftete Worte dazu bringen lassen, sich gegen mich zu wenden.« Er musste in der Tat sehr müde sein, dass er so viel enthüllte. »Ich traue Euch nicht, Edelmann Hugh. Wieso sollte ich auch?« »Vertraut mir, dass ich - abgesehen von meinem Wissen über die Künste der Mathematiki - keine Macht habe. Meine Mutter ist tot, meine Schwestern hassen mich. Königin Adelheid möchte mich wegschicken. Dieser Bastard, der sich König nennt, hat die Macht, mich zu verbannen.« »Und er besitzt die Frau, die Ihr begehrt.« »Verflucht soll er sein!« Er vergoss Tränen vor Wut. Der Anblick erstaunte sie so sehr, dass sie sich nicht rühren konnte, abgesehen davon, dass sie die Bediensteten wegwinkte, die ins Zimmer gekommen waren, als sie Geräusche gehört hatten. Ihre Verblüffung gewährte ihr die Zeit, abzuwarten und die Züge seiner Wut zu erkunden, die sich in seiner zur Faust geballten Hand zeigten, in der Anspannung seines Kiefers, in der Art und Weise, wie seine Unterlippe wie bei einem Kind zitterte, das sich ungerecht behandelt fühlte. Sie hatte ihn noch nie so offen die Beherrschung verlieren sehen. So mochte ein Engel weinen, der von einer Beleidigung Gottes hörte, aber nicht die Macht hatte, Sie zu rächen.
5°3 Als er sich etwas beruhigt hatte, berührte sie seine Hand. »Ich werde mit der Königin sprechen. Ruht Euch aus. Wir unterhalten uns später weiter. Im Vorzimmer befindet sich eine Pritsche. Niemand wird Euch stören. Bittet um Essen und Trinken, was immer Ihr wünscht.« »Ihr könnt mir nicht geben, was ich mir wünsche«, sagte er. Seine Stimme klang noch immer heiser. »Ihr solltet Euch Gottes Gunst wünschen, Edelmann Hugh, nicht einfach nur eine Frau. Einfach nur Fleisch.« »Ihr wisst nicht, was sie ist.« »Aber ja doch, ich weiß es. Ich habe gesehen, was sie ist, und es war beängstigend. Ihr vergesst, dass ich in Verna war. Ich glaube, sogar meine Galla würden zögern, jemanden wie sie zu berühren. Sie ist sehr gefährlich, und zweifellos macht sie das in Euren Augen süßer und strahlender. Ich glaube, sie ist zu gefährlich, um sie am Leben zu lassen.« »Nein!« »Dann angekettet. Tot oder angekettet.« Er hatte seine Augen nicht getrocknet, aber die Tränen schadeten seiner Schönheit nicht. »Ich werde alles tun, um sie zurückzubekommen.« »Werdet Ihr das? Würdet Ihr dafür sogar Adelheid heiraten?« Er hatte den Kopf gesenkt, und der Blick, den er jetzt nach oben richtete, war beinahe kokett. »Wie soll das Adelheids Sache dienen - oder meiner? Oder Eurer, Eure Heiligkeit?« »Gar nicht, wenn Adelheid Euch nicht verzeiht und in ihren Rat zurückholt. Was das Übrige betrifft - bedenkt, wer Adelheids Erbin ist, bei weitem jünger und leichter zu lenken.« Das gab ihm zu denken. Er saß schweigend da, den Blick nach innen gerichtet, als würde er ein Bild ansehen, das sie nicht berühren konnte. Aber sie ahnte, was er sah: Antonia als Skopos und Hugh als Ehemann der verstorbenen Königin, die gemeinsam als Mathildas Regenten herrschten. »Ruht Euch jetzt am besten aus, Edelmann Hugh«, sagte sie
231 freundlich. »Vielleicht werden Schlaf und Essen die Unruhe lindern, die Euren Geist bedrückt.« »Niemals«, flüsterte er kaum hörbar. Sie nickte, um ihn zu besänftigen, aber er war schon zu weit weg von ihr, und als er zu der Pritsche geführt wurde, die sich hinter einem Vorhang befand, schlief er tatsächlich sofort tief ein. Er war tot für die Welt, wie die Dichter sagten, die aus eigenen schmutzigen Erfahrungen wussten, wie
heftiges Verlangen einen Mann, der ansonsten mit Gelassenheit gewappnet war, einnehmbar machte. Er schlief den ganzen Tag und die ganze Nacht, während die Königin sich ihrem Kummer überließ. Ihre jüngste Tochter wurde in ein Leichentuch gehüllt und in einer Kiste zur Krypta von Novomos schöner Kirche gebracht, dem einzigen angemessenen Ort, um eine Prinzessin zur Ruhe zu betten. Die Glocke schlug sieben Mal, um die Seele des toten Kindes durch die Sphären hinaufzuführen. Ein Getränk mit Baldrian half der Königin in dieser Nacht zu schlafen. Der nächste Morgen brach friedlich an, wie Edelfrau Lavinia bemerkte, als sie Antonia nach der Prim beim Springbrunnen traf. »Ich habe gehört, dass ein Zug von Kaufleuten gegen Mittag in Novomo eintreffen wird. Sie sind von den östlichen Provinzen bis hierher geritten. Einer soll sogar aus Arethusa kommen! Trotz ihres Kummers ist sich die Königin bewusst, dass diese Menschen eine lange Reise hinter sich haben, und möchte, dass sie heute Nachmittag ein angemessenes Festmahl erhalten.« »Sie ist weise. Wenn es keine Unterhaltung gibt, wird ein besonnenes Festmahl nicht als unangemessen erscheinen. Schließlich ist das Kind noch nicht einmal zwei Jahre alt gewesen. Wir dürfen nicht überrascht sein, wenn kleine Kinder sterben, wie es so oft der Fall ist. Ich habe keine Einwände.« Lavinia hielt eine Hand ins Wasser und blickte nach einer Weile auf. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter. Wird die Königin 5°5 ihm vergeben? Er war ihr immer treu ergeben, und ganz besonders Henry. Ich habe nie ein schlechtes Wort über ihn gehört, nicht einmal ein Flüstern.« »Was meint Ihr damit, Edelfrau Lavinia?« »Ich halte es nicht für richtig, ihn zu verbannen, aber ich kann nicht gegen die Wünsche der Königin vorgehen.« »Was wäre, wenn er die Königin heiraten würde?« »Er ist ein heiliger Presbyter! Er ist an Gottes Dienst gebunden. Eine Heirat würde ihn vergiften!« Sie verstummte. Ihre Wangen waren gerötet, als hätte die Sonne sie gefärbt, aber es gab natürlich keine Sonne, nur die Eintönigkeit eines weiteren bewölkten Tages. »Es wäre eine Schande, die Schönheit eines solch schönen Mannes zu beflecken.« »Ich weiß nicht, ob es richtig wäre, Heilige Mutter.« »Es ist nicht an Euch, Gottes Wünsche zu deuten.« »Nein, Heilige Mutter.« »Nun ja, vielleicht ist er doch nicht der Richtige. Aber die Königin muss wieder heiraten.« »Sie trauert um ihren toten Ehemann, Heilige Mutter.« »Um Henry?« »Allerdings, Heilige Mutter. Sie hat ihm gegenüber eine große Zuneigung empfunden.« Dann hatte Adelheid einen seltsamen Weg eingeschlagen, um ihre Zuneigung zu zeigen, dachte Antonia, aber vielleicht hatte sie wirklich geglaubt oder sich eingeredet, dass sie keine andere Wahl hatte. Hugh hätte natürlich bei jedem Plan mitgemacht, der ihm Macht bot, aber es war Antonia nicht so ganz klar, was er zu gewinnen geglaubt hatte, indem er diese bösartige Zauberei eingesetzt hatte. Besessen von einem Daemon Dennoch ... vielleicht hatte auch er es nur aus Loyalität gegenüber Henry und Wendar getan. Sie bezweifelte es allerdings. Mit Hilfe des Daemons hätte Henry ihm alles gegeben, was er wollte. Alles. War es tatsächlich möglich, dass ein so schöner und kluger
232 Mann wie Hugh so ... klein war, wenn man alles in Betracht zog? Dass er sich selbst fesselte, indem er sich an eine einzige Sache band? Wer war dann Sklave und wer Herr? Der eine war entkommen, während der andere noch seine Fesseln polierte. »Ihr seid eine praktisch denkende Frau, Edelfrau Lavinia. Habt Ihr eine Empfehlung?« Sie seufzte und sah zum Springbrunnen. Wasser floss in den unteren, runden Teich. »Ich habe viele Nächte über solche Dinge nachgedacht, Heilige Mutter. Ich bin Witwe und habe nicht wieder
geheiratet. Ich habe festgestellt, dass es einen Mangel an Männern gibt, deren Herkunft und Wesen mir gefällt. In dieser harten Zeit muss die Königin weise wählen oder gar nicht.« »Hat sie mit Euch über diese Dinge gesprochen?« Lavinias Zögern war Antwort genug. »Was zwischen Euch und der Königin vorgeht, will ich gar nicht wissen, aber vergesst nicht, dass Gott all Eure Geheimnisse kennen, Edelfrau Lavinia. Wenn Ihr Euch von einer Bürde befreien müsst, tut es mir gegenüber.« »Ich bin Eure gehorsame Dienerin, Heilige Mutter.« Vielleicht. Es war schwer zu erkennen, wem Lavinia diente. Sie war eine gewöhnliche Frau, die sich ihrem Land - das sie klug regierte - und ihren Kindern und Verwandten widmete, die sie so gut wie möglich beschützte. Sie hielt Adelheid zum Teil wahrscheinlich auch deshalb die Treue, weil sie glaubte, dass Adelheids Herrschaft ihr und ihren Besitztümern mehr zugutekommen würde als die irgendeines anderen Adligen. Aber Herzklopfen - Herzklopfen bekam sie nur, wenn sie Edelmann Hugh verteidigte. Nachdenklich kehrte Antonia in ihre Gemächer zurück, um festzustellen, dass die Bediensteten ihm eine kräftige Mahlzeit aus Käse und Brot gereicht hatten, nachdem er aufgewacht war, und ihm dann seinen Umhang gebracht hatten. »Wohin ist er gegangen?« »Heilige Mutter!« Sie starrten auf den Boden. »Haben wir
233 falsch gehandelt, Heilige Mutter? Er hat uns nichts gesagt. Es war kurz nachdem Ihr diese Räume verlassen habt, um die Morgenandacht zu halten. Hättet Ihr es anders gewünscht? Wäre es besser gewesen, wir hätten ihn hier behalten?« »Nein. Nein. Ich bin nicht verärgert. Habt ihr irgendeine Idee, wohin er gegangen sein könnte?« Seine Taten würden seine Gedanken enthüllen. Nun, dorthin, wo er beten konnte, versicherten sie ihr, und sie glaubte ihnen. Das heißt, sie glaubte ihnen, dass sie es glaubten. Wieso hätte er ihnen auch die Wahrheit sagen sollen ? Sie wusste, wohin er wollte. Was ihn mehr als alles andere anzog. Er brauchte Macht, um zu bekommen, was er wollte. Antonia hatte ihm lediglich den Weg gezeigt. »Komm, Felicita. Gib mir mein Audienzgewand ... nein, nicht das schwere, denn ich werde danach noch eine Weile herumgehen. Schick nach Bruder Petrus. Er ist weggegangen? Nun gut. Dann werdet Ihr mir helfen, Schwester Mara. Nein, keine Eile. Lasst mich erst meine Füße einen Augenblick ausruhen. Ich muss die Königin aufsuchen. Ihr großer Kummer wird sie vermutlich erst spät aufwachen lassen.« Und da sie spät aufstand, würde Hugh, der gekommen war, um sie um Vergebung zu bitten, in ihrem Vorzimmer warten müssen. Es bestand keine Notwendigkeit, ihm rasch zu folgen und ihn bei seiner Bitte um Verzeihung zu unterbrechen. Immerhin würde er es auf wundervolle Weise tun. Nicht einmal Adelheid würde in der Lage sein, ihm zu widerstehen. Aber wie sich herausstellte, verbrachte Adelheid den ganzen Morgen in betäubtem Schlummer. Um die Mittagszeit wurde Alarm gegeben, während Antonia gerade zum Turm der Gefangenen eilte, um sicherzustellen, dass sie nicht gestört worden waren. Der Feldwebel erklärte ihr, dass der heilige Presbyter tatsächlich vorbeigekommen war. Aber als er gehört hatte, dass die Prinzessin an einer Magenverstimmung litt, hatte er nur das Verlies aufgesucht. Es war ein kalter, unangenehmer und schmutziger Ort. Sie
233 stützte sich auf den Arm des Wächters, um nicht auf den Stufen auszurutschen, die kein Geländer besaßen. Von der großen, offenen Kammer waren drei kleinere Zellen mittels Backsteinmauern abgetrennt worden. In der dunkelsten saß Wulfhere auf dem strohbedeckten Boden; die Hände ruhten im Schoß, die Handfesseln lagen auf den Beinen. Er blinzelte, als der Lichtschein der Lampe auf ihn fiel, und sah sie mit gelangweilter Ergebenheit an, die sie verärgerte. Trotz der Brandwunden, die man ihm im Gesicht und am Hals beigebracht hatte, hatte er nie irgendein Geheimnis verraten, sondern nur allgemeine Geschichten von sich gegeben, die ihr nicht sehr geholfen hatten. Im Laufe der Zeit würde er reden. Sie musste nur Geduld haben. Irgendwann
würden die Einsamkeit und die Ratten ihn wahnsinnig machen, und er würde ihr alles sagen, nur um ein Stück Himmel zu sehen. »Eure Heiligkeit«, sagte er so gleichgültig, dass sie zusammenzuckte und ihn am liebsten geschlagen hätte. »Was wollte er?«, fragte sie. »Wissen, wer der Vater des geschätzten Geistlichen Heribert sein mag.« Sie hätte ihm eine weitere Brandwunde verpasst, wenn sie die notwendigen Utensilien zur Hand gehabt hätte. So musste sie sich mit einem freundlichen Lächeln begnügen. »Seltsam, einem geringen Adler eine solche Frage zu stellen.« Er zuckte mit den Schultern. Seine Nägel waren so lang, dass sie sich krümmten, und der Bart war verfilzt und schmutzig. Er stank. »Es ist vielleicht nicht ganz so seltsam, wenn es sich um einen Mann handelt, der den wendischen Hof sehr gut kennt.« Sie hätte ihn fast geschlagen, aber dann zerrte sie mit erstarrtem Lächeln am Ärmel ihres Gewandes. »Was versprecht Ihr Euch davon, mich zu verärgern? Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.« »Er hat mich auch gefragt, wie ich hergekommen und wo ich gewesen bin, also vermute ich, dass er selbst erst vor kurzem in Novomo eingetroffen ist.« 234 »Was habt Ihr ihm gesagt?« »Nicht mehr als das, was ich Euch gesagt habe, Eure Heiligkeit. Ich glaube, er ist vor allem gekommen, um sich über mein Unglück zu freuen. Aber Ihr könnt ihn selbst fragen. Ich bin sicher, er wird es Euch sagen, da er und ich alte Feinde sind.« »Seid Ihr das? Und aus welchem Grund?« Sein Lächeln war verwegen, und es erinnerte sie daran, wie stark dieser Mann war, der nach so langer Gefangenschaft noch mit solcher Kraft lächeln konnte. »Ich hatte zweimal das Vergnügen, eine junge Frau vor ihm zu retten. Ich schätze, er wird es mir nie vergeben.« »Liathano. Eine alte Geschichte.« »Es ist eine Geschichte, die für Hugh von Austra niemals alt werden wird.« Seine Worte verblüfften sie. »Ist es möglich, dass Ihr gerissener seid, als Ihr wirkt, Wulfhere?« »Was für eine Antwort könnte ich Euch geben, die Euch zufriedenstellt? Gott sind mein Zeuge, dass ich nur ich selbst bin, weiter nichts.« »So sagt Ihr. Ich bin noch nicht fertig mit Euch, Wulfhere.« Er zuckte zusammen, das erste Zeichen von Schwäche, das sie ihm entlockt hatte. »Ich bin der gehorsame Diener Gottes und des Herrschers, Eure Heiligkeit.« »Der Diener Annes.« »Gottes und des Herrschers, Eure Heiligkeit. Damals, jetzt und für alle Zeiten. Nichts weiter.« Er sprach mit einer Endgültigkeit, dass sie ihm in diesem Augenblick glaubte. Sie fand Hugh in Lavinias Garten bei den Pappeln, wo er herumging und sich freundlich mit Bruder Petrus unterhielt, den er vom Palast der Skopos kannte. »Heilige Mutter«, sagte er und verbeugte sich nach Art der Presbyter, als sie sich näherte. »Ich bitte um Vergebung, Eure Heiligkeit. Ich war unruhig, denn ich musste über das nachdenken, worüber wir gestern gesprochen haben.«
234 Ihr Gesicht war gerötet vor Verärgerung darüber, dass sie sich Sorgen gemacht hatte, wohin er gegangen sein könnte. Möglicherweise war das der Grund, weshalb Bruder Petrus sich verneigte und sich dann hastig zurückzog, um sie allein zu lassen. »Ich hatte einige Mühe, Euch zu finden, Edelmann Hugh.« »Gärten spenden mir Trost, Eure Heiligkeit. Vergebt mir.« »Hattet Ihr keine Angst, dass Königin Adelheid ihre Drohung wahr machen und dafür sorgen könnte, dass Ihr hingerichtet werdet?« »Man sagte mir, dass sie schlafen würde, Eure Heiligkeit. Edelfrau Lavinia hat mir die Erlaubnis gegeben, in ihrem Garten umherzugehen.«
»Und die Erlaubnis, den Turm der Gefangenen aufzusuchen und mit dem Adler zu sprechen?« »Ich gestehe, dass ich sehr überrascht war, Wulfhere in Novomo zu finden. Weshalb ist er wohl hier?« »Was wolltet Ihr von ihm wissen?« »Ich weiß es selbst nicht genau«, gab er zu. »Er war Annes Diener. Bestimmt weiß er etwas von Anne - von ihren Plänen, ihrer Zauberei, ihrer Geschichte, ihren Büchern. Alles Dinge, die von Wert für uns sein könnten.« »Wenn das so ist, habe ich davon noch nichts herausgefunden! Trotz all meiner Bemühungen. Er ist ein hartnäckiger Mann.« »Er hat irgendeinen Pakt mit Schwester Meriam geschlossen, wie es scheint«, sagte er. »Wieso?« »Dieses Rätsel muss erst einmal unbeantwortet bleiben. Wir können später noch darüber sprechen, Edelmann Hugh. Ich muss jetzt in meinen Audienzsaal gehen. So viele Bittsteller treten vor mich hin. So viele Probleme, die einer Lösung bedürfen, gibt es auf der Welt, seit Gottes Zorn auf uns gekommen ist.« »Ja«, pflichtete er ihr bei. »Ich spüre selbst die Last dieser Probleme, als hätte der Feind eine Klaue in mein Herz gegraben.«
235 »Tut, was ich sage, Edelmann Hugh, und Ihr werdet das erhalten, was Ihr sucht.« Es war wie immer bewölkt, aber in dieser Ecke des Gartens, in der er umherging, schien es heller zu sein. Er blieb bei einem sorgfältig gepflegten Beet mit Eisenkraut stehen und fuhr mit der Hand über die hellen Triebe. »Es ist so schwierig, das zu erhalten, was man erstrebt«, murmelte er. »Habt Ihr Euch jemals mit den Geschichten über diese Ketzerei auseinandergesetzt, die sich in den westlichen Ländern verbreiten, Eure Heiligkeit? Habt Ihr von der Geschichte des Phönix gehört?« »Lügen, die von den Günstlingen des Feindes verbreitet werden !« »Viele reden, die nichts wissen, das ist wahr. Aber man fragt sich doch, woher solche Geschichten kommen und wieso sie aufgetaucht sind.« »Ich frage mich das nicht! Die Arethusaner haben sie zu uns gebracht, in der Hoffnung, dass sie sich wie die Pest bei uns verbreiten würden. Sollen zehntausend der Seuche zum Opfer fallen! Auf diese Weise wollen sie uns schwächen, aber das wird nicht geschehen. Wir werden stark bleiben, solange wir in Gottes Gunst stehen.« »Und wenn ich meinen Eid widerrufe und mit Adelheid verheiratet werde, was dann? Soll sie getötet werden, Eure Heiligkeit, damit an ihrer Stelle Mathilda herrscht - und wir als ihre Regenten über sie?« »Selbst die Mauern könnten Ohren haben, Edelmann Hugh! Seid etwas vorsichtiger!« »Ich bitte um Entschuldigung, Eure Heiligkeit. Aber ich bin verwirrt, was den Plan betrifft. Wie er ausgeführt werden und wie er sich entfalten soll. Muss ich sie anlügen?« »Ist sie nicht begehrenswert? Andere Männer würden das so sehen. Sie gilt als sehr hübsch.« »Wie ein vom Fluss polierter Stein, bis er neben einen Saphir gelegt wird.« »Ihr werdet an Eurer Besessenheit festhalten.«
235 »Wie soll meine Heirat mit Adelheid mir dabei helfen, das zu bekommen, was ich begehre?« »Ist das Euer einziger Einwand? Ich kann Euch nicht das versprechen, was Ihr begehrt, aber irdische Macht kann Euch Waffen gewähren, die Ihr gegenwärtig nicht besitzt. Welche Familie wird Euch helfen?« »Keine.« »Welche Fürsten werden Euch unterstützen?« »Keine.« »Ihr habt nur mich. Ich kann Euch benutzen, und wenn Ihr mir helft, werde ich Euch belohnen. So fordern es Gott von uns. Jene, die dienen, werden erhalten, was sie verdienen.« Er nickte, war inzwischen bei einem Büschel Helmkraut angekommen. Er riss ein Blatt ab. »Die Königin hat mir einmal vertraut. Sie tut das möglicherweise nicht mehr, obwohl ich ihr keinen Grund gegeben habe, mir zu misstrauen. Aber wenn sie sich weigert, mir zu vertrauen, gibt es Wege, sie zu ermutigen.«
Der Garten lag still in seinem zerlumpten Frühlingskleid; ein paar Veilchen blühten spät; tiefes Blau blinzelte zwischen Rosmarinhalmen hervor. »So ist es, aber seid vorsichtig, Hugh. Seid vorsichtig.« »Wie stets«, pflichtete er ihr demütig bei, den Blick auf den Boden gesenkt. Zufrieden winkte sie ihren Bediensteten. »Ich werde später nach Euch rufen lassen. Haltet Euch von dem Fest heute Abend fern. Wir werden morgen damit beginnen, die Königin zu überreden.« Edelfrau Elene wachte stets vor der Morgendämmerung auf, um zu beten. Weil sie eine Zuneigung zu Bruder Heribert und seinem seltsamen Verhalten entwickelt hatte, bestand sie
236 darauf, dass er jeden Morgen die Leiter heraufstieg, um neben ihr zu beten. Wenn Elene betete, pflegte natürlich mit Heribert auch Edelmann Berthold heraufzukommen, um zu beten, dem wiederum Edelmann Jonas auf den Fersen folgte. Gnade blieb schmollend auf ihrer Pritsche liegen. Anna zog sich stets an und kniete hinter den Edelleuten nieder. Weil sie die Verse und Psalmen nicht auswendig kannte, musste sie sie wiederholen, nachdem die anderen fertig waren. Elene dachte stets daran, den Geistlichen, der sie begleitete, als Ausdruck ihrer Höflichkeit darum zu bitten, Anna mehr Zeit für die Erwiderung zu lassen. Das galt allerdings auch für Bruder Heribert, der nicht mehr ganz richtig im Kopf war, seit der Berg über ihm eingestürzt war. Er konnte sich kaum noch an seine eigenen Verse und Gebete erinnern, obwohl er sie einmal besser als jeder andere gekannt hatte. Die anderen knieten auf dem weichen Teppich. Anna kniete auf dem harten Holzboden, bedeckte das Gesicht mit den Händen, um sich besser auf Gottes Willen zu konzentrieren. Um ihre Worte besser zu verbergen, wenn sie von »Ihr« sprach statt von »Ihnen«. Niemand wusste, dass der Phönix ihr Herz berührt hatte. Niemand außer Gnade, die gelernt hatte, den Mund zu halten, was das betraf, seit Prinz Sanglant die Bediensteten seiner Tochter dafür bestraft hatte, dass sie sie ketzerischen Worten ausgesetzt hatten. Gnade hasste es, wenn ihre Bediensteten bestraft wurden, denn wie sie wusste, würde sie selbst nie bestraft werden. Ein Wesenszug, der Anna Hoffnung gab. »Gesegnet seid Ihr, Mutter und Vater des Lebens«, sagte Edelfrau Elene. »Gesegnet seist du, Heilige Mutter«, flüsterte Anna in die Hände hinein. »Gesegnet seid Ihr«, wiederholte Bruder Heribert mit seiner unbeholfenen Stimme. Edelmann Berthold gähnte. Edelmann Jonas gab keinen Laut von sich. Häufig schlief er mit offenen Augen im Knien ein.
236 Gnade schluckte ein vorgetäuschtes Schluchzen hinunter, erstickte es in ihren Kissen. Krachend öffnete sich im Stockwerk unter ihnen die Falltür, knallte hart auf den Boden. Anna zuckte zusammen, nahm die Hände herunter. Berthold erhob sich, und Gnade hörte auf zu schniefen. »Gesegnet sei das Land der Mutter und des Vaters des Lebens und die Heilige Botschaft, die sich im Kreis der Einigkeit offenbart«, sprach Elene störrisch weiter, ohne auf die Schritte unten zu achten. »Jetzt und für immer und bis in alle Ewigkeit.« Die Kapuze einer Geistlichen tauchte in der offenen Bodenluke auf. Es handelte sich um Schwester Mara, eine der treuen Bediensteten der Heiligen Mutter. Sie schaute sich um. Dann kam sie ganz hochgeklettert und sprach leise mit Julia, die den Kopf schüttelte. Sie gingen im Raum herum und öffneten beide Truhen, während Edelfrau Elene weiterbetete, als wären sie gar nicht da. Schließlich ging Schwester Mara wieder. Als die Gebete zu Ende waren, fragte Berthold: »Was hatte das zu bedeuten?« »Ich bitte um Vergebung, Herrin. Herr.« Julia rieb sich mit einer Hand die Stirn. Gewöhnlich war sie voller unerschütterlicher Zuversicht, aber seit sie mit Schwester Mara gesprochen hatte, wirkte sie beunruhigt. »Ihr müsst heute hier drinbleiben. Den ganzen Tag. Kein Rundgang im Garten.« Elene wölbte eine Braue und sah Berthold an, der mit den Schultern zuckte.
Gnade tauchte aus ihren Laken auf; sie war sich ihrer Nacktheit nicht bewusst, besaß allerdings auch nicht das geringste Schamgefühl, obwohl die Zeichen ihrer erblühenden Weiblichkeit unübersehbar waren. »Ich will nicht hier drin-bleiben!« »Still, Gör«, sagte Berthold sanft. »Bedeckt Euch bitte.« »Ich will nicht -« »Ruhe!«, blaffte Elene. 5*5 »Ich hasse Euch!« »Ich hasse Euch, übles Geschöpf! Ich werde Euch in die Ohren zwicken, wenn Ihr nicht mit dem Gejammer aufhört!« Gnade legte die Hände über die Ohren und kroch zurück unter die Laken, bis Anna sie irgendwann später, nachdem die anderen sich zum Schachspielen und Lesen in das Stockwerk darunter begeben hatten, wieder herauslocken konnte. »Ich fühle mich nicht gut«, wimmerte das Mädchen. »Ich habe mich am Bein geschnitten.« »Wie könnt Ihr Euch -« Aber es war natürlich kein Schnitt. »Prinzessin Gnade. Eure Hoheit. Oje.« »Stimmt etwas nicht, Anna?«, fragte Julia von ihrem Platz beim Fenster, wo sie saß und nähte. »Setzt Euch«, sagte Anna ernst, und Gnade setzte sich mit gekreuzten Beinen hin. Ein paar Tropfen Blut befleckten das Laken, aber es war nicht allzu schlimm. »Bitte, Julia, Prinzessin Gnade fühlt sich nicht gut. Würdest du vielleicht nach unten gehen und den Feldwebel fragen, ob wir ein wenig Brot bekommen können, um ihren Magen zu beruhigen? Es muss an dem liegen, was sie gestern gegessen hat.« Julia sah sie scharf an. Vielleicht hatte sie einen Verdacht. Vielleicht hatte sie etwas mitbekommen, obwohl Gnade nur geflüstert hatte. Aber sie ging, ließ Anna und das Kind allein. »Also gut, Eure Hoheit, hört mir genau zu.« »Mein Bauch tut weh.« »Ich weiß. Und so wird es ab jetzt jeden Monat einmal sein, eine ganze Weile lang.« »Wieso?« »Ihr kennt den Lebensweg einer Frau.« »Dass man empfängt?« »Ja, wie Ihr wisst, begünstigt die Herrin Frauen, indem sie ihnen die Macht über das Leben gibt, während Männer nur die Macht über den Tod besitzen. Deshalb können wir jeden Monat bluten und es überleben. Und jetzt habt Ihr zu bluten begonnen.«
237 »Was heißt das?« Sie biss sich besorgt auf die Lippe, machte dann tapfer weiter. »Es bedeutet, dass Ihr es verbergen müsst, Gnade.« Wie schwer war es, dies einem Kind zu sagen, das den Verstand einer Fünf- oder Sechsjährigen besaß, aber den Körper einer Heranwachsenden! »Bei meinen Leuten wird ein Mädchen nicht verheiratet, solange es nicht älter ist und das Mädchen und ihr Verlobter nicht die Mittel haben, um einen Haushalt zu gründen. Aber die Mädchen edler Familien werden manchmal verheiratet, sobald sie zu bluten beginnen.« »Wieso?« »Wieso sie verheiratet werden? Um Bündnisse zu schließen. Um Verträge zu machen. Um ein Erbe zu sichern.« »Wieso tun sie es nicht, wenn sie so klein sind wie ich?« »Mädchen werden durchaus bereits verlobt, wenn sie noch Kinder sind. Aber kein Mann wird mit einer Verlobten schlafen, solange dieses Mädchen nicht eine Frau ist und ein Kind austragen kann.« »Ist Edelfrau Elene alt genug? Wieso kann sie nicht verheiratet werden und uns verlassen? Ich hasse sie!« »Wir sind alle Gefangene, Eure Hoheit. Unsere Häscher können mit uns tun, was sie wollen, uns sogar töten. Deshalb müsst Ihr still sein und es geheim halten.« Eine ganze Weile runzelte das Kind die Stirn und dachte nach - es dauerte länger, als Anna es jemals zuvor bei Gnade erlebt hatte. Sie war ein hübsches Kind mit einer Hautfarbe, die weder hell noch dunkel war, und glänzenden, dichten schwarzen Haaren, die ihr bis halb über den Rücken fielen und gekämmt und geflochten und aufgesteckt werden mussten. Ihre Augen wirkten manchmal grün und manchmal blau, manchmal auch haselnussbraun oder tiefbraun, eine Mi-
schung aus denen ihres Vaters und ihrer Mutter. Und genau wie ihr Vater und ihre Mutter zog sie die Blicke auf sich. Die Leute sahen sie an, sogar die Soldaten versuchten, einen Blick auf sie zu erhaschen, auch wenn sie so taten, als wäre das nicht
238 so. Schönheit war etwas Gefährliches bei den Unschuldigen, sie mochte verwüstet werden, wenn man es am wenigsten erwartete. »Wenn ich Königin Adelheid wäre«; sagte Anna schließlich, »würde ich Euch benutzen, Eure Hoheit, wie eine Figur beim Schachspiel.« »Ich bin die Urenkelin von Kaiser Taillefer! Sie kann ohne meine Einwilligung nichts tun!« »Sie kann alles tun, was sie will, Eure Hoheit! Wie wollt Ihr sie daran hindern? Wenn Königin Adelheid weiß, dass Ihr blutet, könnte sie es für sinnvoll halten, Euch zu verheiraten und auf diese Weise loszuwerden. Im Augenblick hält sie Euch noch für ein Kind.« Gnade starrte ihre Hände an, dann fuhr sie mit einem Finger an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang und starrte auf das Blut an ihrem Nagel. »Denkt daran, was für eine Kostbarkeit Ihr seid, Eure Hoheit. Viele Männer könnten Euch wegen Eurer Eltern zur Frau haben wollen. Einige hoffen vielleicht, sich damit selbst zu belohnen. Andere hoffen möglicherweise, auf diese Weise Euren Vater oder Eure Mutter zu bestrafen.« Tränen liefen dem Mädchen übers Gesicht. »Wieso kommt mein Vater nie, Anna?« »Er weiß nicht, dass Ihr hier seid. Wir haben keine Möglichkeit, ihn zu benachrichtigen. Wenn irgendjemand von uns entkommt, wird die Heilige Mutter Antonia es erfahren und schreckliche Dämonen losschicken, die uns bei lebendigem Leib fressen. Das hat Edelfrau Elene gesagt.« »Ich glaube ihr nicht! Ich hasse sie!« »Aber Ihr solltet ihr glauben! Ihr müsst es tun! Und Ihr werdet es tun! Sie ist wie Eure Mutter als Zauberin ausgebildet. Sie weiß Bescheid. Wir sind gefangen, Eure Hoheit. Und Ihr seid jetzt verletzbarer als jemals zuvor! Versteht Ihr das? Edelfrau Elene ist ebenso wie Edelmann Berthold und Bruder Heribert unser Freund. Und Edelmann Jonas. Und unsere Be
238 diensteten Berda und Odei. Aber sonst niemand. Außer ihnen können wir niemandem vertrauen.« Schritte erklangen auf der Leiter. Gnade faltete die Hände über ihren Lenden, als Julias Kopf auftauchte. Sie setzte sich störrisch hin und rührte sich nicht von der Stelle, bis Anna dem Mädchen ein Hemd überzog. Kurz darauf tauchte die Heilerin auf. »Berda, komm her!«, sagte Anna. »Ist die kleine Königin krank im Bauch?« Die Heilerin kniete bei der Pritsche nieder. Anna drehte Julia den Rücken zu und legte zwei Finger an die Lippen. Die Heilerin nickte. Gnade, die immer noch mit gekreuzten Beinen dasaß, zog das Hemd hoch, um die blutigen Streifen am Oberschenkel zu zeigen. Berda nickte. »Ein Trank wird den Magen beruhigen«, sagte sie mit ihrer eigenartigen Stimme. Ihre breiten Hände strichen das Hemd wieder über die Beine des Mädchens. Sie berührte Gnades Stirn, den Hals und auch beide Schlüsselbeine. »Es muss das Essen gewesen sein«, sagte sie. »Habt Ihr heute Morgen schon gepinkelt?« Gnade schüttelte den Kopf. »Kommt, kleine Königin.« Sie gingen zu der Ecke, wo der Zimmertopf unter einer Bank stand, und Gnade erledigte ihr Geschäft. Julia kam, um nachzusehen, aber nachdem Gnade sich erhoben hatte, hockte Berda sich rasch mit ihrem schweren Filzkleid darüber, das das etwas komplizierte Unterfangen verbarg, denn wie Anna gesehen hatte, trugen die Steppenfrauen sowohl Kleider als auch Hosen. Sie pinkelte jetzt ebenfalls und erhob sich mit einer Grimasse. »Der Mond wechselt«, sagte sie. »Ich blute. Muss mein Bett nach oben bringen.« Die kerayitische Heilerin hatte die Angewohnheit, den größten Teil des Monats unten bei den Männern zu schlafen und während der Zeit der Blutung oben bei den Frauen, obwohl es
238
Anna so vorkam, als wären kaum zwei Wochen vergangen seit ihrem letzten Aufenthalt bei ihnen. Egal. Sie würden diese Brücke verbrennen, wenn sie sie überquert hatten. Sie sah Ber-da an, und die Heilerin nickte, bedeckte den Topf und gab ihn Julia, damit sie ihn entsorgen konnte, wie es ihre Pflicht war. »Ich bringe einen Kräutertrank für die kleine Königin. Sie soll sich heute ausruhen.« Und sie ruhte sich tatsächlich aus. Berda besorgte ihr saubere Lappen, um das Blut aufzufangen, und tat so, als wären es ihre eigenen. Es war gar nicht so schwierig, seit sie mit der List einmal begonnen hatte; wie die meisten Aostaner empfand Julia die Heilerin als so eigenartig, dass sie ihr gar nicht nahe kommen wollte. Danach gingen sie zum gewöhnlichen Alltag über. Wasser musste zum Waschen hergeschafft werden, die Eimer mussten nach unten gebracht, geleert und ausgespült werden. Die morgendlichen Arbeiten unterbrachen die Gleichförmigkeit des Tages, und Anna übernahm jede noch so kleine Aufgabe, trödelte, wo sie nur konnte. Es störte sie nicht, dass sie nach dem Waschen und Säubern des oberen Stockwerks nach unten geschickt wurde, um den Eimer aus dem Verlies zu holen. Der alte Mann machte ihr keine Angst, obwohl der Gestank schlimm war. Nach den ersten Wochen waren die Soldaten einfach nicht mehr mit ihr hinuntergegangen, denn sie hassten das Loch. Immerhin hatte Anna so Gelegenheit, mit dem Adler zu sprechen, gab ihm meistens einen ausführlichen Bericht über die Vorgänge des Vortages, übermittelte ihm gelegentlich aber auch eine Botschaft von Edelfrau Elene. An diesem Morgen jedoch lungerten die Soldaten unruhig bei der Tür herum, die nach draußen führte, als würden sie nach jemandem Ausschau halten, von dem sie erwarteten, dass er jeden Augenblick vorbeikam. Anna - einen sauberen Eimer in einer Hand - setzte gerade den Fuß auf die oberste Stufe der Treppe, die in die Düsternis hinunterführte, als der wachhabende Feldwebel einen Blick zurück in den Raum warf und sie sah.
239 »Komm her«, sagte er und hob eine Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Aber sie stieg bereits die Wendeltreppe hinunter, stieß sich immer wieder die Schulter an der kalten Steinmauer. Es war sehr dunkel, aber inzwischen kannte sie die Neigung jeder einzelnen Stufe. Sie hätte mit geschlossenen Augen hinuntergehen können, und tatsächlich blieb sie unterwegs im Schatten stehen und schloss die Augen, denn sie hörte Stimmen. Das unterste Stockwerk des Turmes war in die Erde gegraben worden, wodurch es deutlich kühler war als das Erdgeschoss und die anderen Räume darüber. Dieser untere Raum wurde genutzt, um Bohnen und Zwiebeln zu lagern, aber es gab auch drei kleine, gemauerte Zellen. Von oben drangen nur gedämpfte Geräusche an ihr Ohr - aber keinerlei Schritte -, so dass sie hören konnte, was die Stimmen sagten. Eine davon war ihr vertraut; die andere hatte einen seltsamen, bezaubernden Klang, der ihre Füße an Ort und Stelle bannte, so dass sie sich weder traute noch den Wunsch verspürte, sich zu bewegen. »Ihr könnt nicht entkommen, denn Antonia hat Macht über die Galla.« »Ich fürchte die Galla nicht.« »Das solltet Ihr aber.« »Vielleicht.« »Warum flieht Ihr dann nicht?« »Ist das nicht offensichtlich? Es gibt welche, für die ich verantwortlich bin. Wenn sie nicht weglaufen können, kann ich es auch nicht.« »Was bedeutet, dass Ihr sie nicht vor den Galla beschützen könnt. Welche von den beiden hält Euch hier fest: Prinzessin Gnade oder Conrads Tochter?« »Wieso können es nicht beide sein?« »Ich habe gehört, dass Ihr versucht habt, Prinz Sanglant zu ertränken, als er ein Säugling war.« »Diese Geschichte ist schon oft erzählt worden, gelegentlich sogar in meiner Hörweite.«
239 »Eine interessante Geschichte, und es ist ein Jammer - sofern sie stimmt -, dass Ihr nicht erfolgreich wart. Obwohl sie andererseits die Frage aufwerfen könnte, welches Band Euch mit Prinzessin
Gnade verbindet. Ist es ihr Vater, dem Ihr zu dienen versucht? Ihre Mutter? Annes verworrenes Weben, dem noch immer gehorcht werden muss? Oder habt Ihr einfach nur eine Schwäche für gefangene Vögel?« »Ich sehe es tatsächlich nicht gern, dass so strahlende Geschöpfe von grausamen Herren eingesperrt werden.« Wulfhere klang überaus gelangweilt, des Spiels überdrüssig. »Was wollt Ihr, Edelmann Hugh?« »Woher kommt Ihr? Wie seid Ihr hergekommen?« Wulfhere seufzte. »Ihr seid zuletzt in Gesellschaft von Bruder Marcus und Schwester Meriam gesehen worden. Dann seid Ihr weggelaufen. Und doch taucht Ihr jetzt hier auf, mit Meriams Enkelin in Eurer Obhut. Wo wart Ihr? Wie seid Ihr der Umwälzung entkommen?« »Das Glück war uns hold«, sagte der alte Mann trocken. »Ihr wart der Geringste der Sieben Schläfer. Cauda Draconis, der Schwanz des Drachen. Sie haben mir gesagt, dass Ihr zu unwissend wärt, um die Kronen zu weben. Ist das wahr?« »Ja, das ist wahr. Man hat mich nie in den Künsten der Mathematiki unterrichtet. Ich verfüge über die Adlersicht - und über jene Fähigkeiten, die ein Bote besitzen muss, der sein Leben auf der Straße verbringt. Daher bin ich besonders geeignet, lange Reisen durch feindselige Gebiete zu überleben.« »Wieso sollte ich Euch glauben?« »Es spielt für mich keine große Rolle, ob Ihr mir glaubt oder nicht, Edelmann Hugh. Wieso auch? Die Schlacht ist verloren, Anne ist tot.« »Und daher auch der Zweck Eures Daseins.« »Und daher auch der Zweck meines Daseins«, sagte Wulfhere tonlos. »Was wollt Ihr? Oder seid Ihr nur gekommen, um Eure Schadenfreude auszuleben?«
240 »Es ist wahr, dass ich Euch nicht mag, Adler. Ihr habt mir etwas genommen, das rechtmäßig mir gehört. Ich will es zurückhaben.« »Wie wollt Ihr das machen ? Liath ist tot, oder nicht? Wie die anderen.« Anna hörte den anderen Mann abrupt Luft holen, scharf und lieblich. »Sie ist nicht tot. Nein, sie ist nicht tot.« Plötzlich wurde die Stimme des alten Mannes härter. »Wo habt Ihr sie gesehen? Woher wisst Ihr das?« »Wo ich sie gesehen habe? In Wendar, mein Freund. Neben dem Bastard, der sich König nennt.« »Ich habe von Henrys Tod gehört. Aber ich war mir nicht sicher, ob es stimmt.« »Oh, es stimmt, und der Prinz der Hunde ist von Mutter Scholastika persönlich gekrönt und gesalbt worden, obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie nicht sehr glücklich darüber war, es zu tun.« »Dann stimmt es also wirklich. Und Liath hat überlebt, wie Ihr sagt.« Zweifellos war er begierig, diese Neuigkeiten zu erfahren, aber seine Stimme klang immer noch leise und ruhig. »Könnt Ihr sie denn nicht sehen, mit Eurer wunderbaren Adlersicht? Habt Ihr nicht mit Eurer Schülerin Hathui gesprochen, die den Schutz des neuen Königs genießt und in seinem Schatten steht?« Es trat eine lange Pause ein, und in der Stille hörte Anna über sich Füße scharren. Sie warf einen Blick nach oben, sah, wie jemand sich über die Falltür beugte und zu ihr heruntersah, aber es war offensichtlich, dass seine Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Ihr könnt ruhig erfahren, dass ich blind bin«, sagte Wulfhere. »Seit der Umwälzung.« »Blind? Also nutzlos und hilflos. Ein Meister von gar nichts, Diener von niemandem. Aber warum erzählt Ihr mir das? Wieso gesteht Ihr mir so viel, Adler?« »Weil ich Schmerzen habe, Edelmann Hugh. Wenn ich Euch
240 sage, dass Ihr durch Folter nichts von mir erfahren werdet, seht Ihr vielleicht davon ab.«
»Ah. Ich vermute, es war die Heilige Mutter - oder die Königin -, die Euch das zugefügt hat. Was wollen sie wissen?« »Nichts, was ich Euch sagen würde, wenn ich es nicht auch ihnen sagen würde. Lasst uns in Ruhe, Edelmann Hugh. Ich weiß nicht, wieso Ihr hier seid. Ich bitte Euch nur um diesen einen Gefallen: lasst uns in Ruhe.« »Was bietet Ihr mir als Gegenleistung?« »Als Gegenleistung wofür?« »Dass ich Euch in Ruhe lasse.« »So kehren wir also zu meiner ersten Frage zurück: Was wollt Ihr?« »Wer ist Liaths Vater?« »Bernard.« »Und ihre Mutter?« »Eine Daemonin der oberen Sphären. Ich bin überrascht, Euch das fragen zu hören.« »Es war einmal ein gut gehütetes Geheimnis.« »Ja, das war es einmal. Als wir noch ein gewisses Maß an Kontrolle über sie hatten. Anne hat Euch zu den Sieben Schläfern geholt. Ich bin nicht überrascht, dass Ihr noch lebt, während andere gestorben sind, aber es überrascht mich, dass Ihr Fragen stellt, deren Antworten Ihr bereits gehört haben müsst.« »Die Leute könnten lügen.« »Ich bin entsetzt, das zu hören.« Edelmann Hugh kicherte. »Ist es sicher, Euch leben zu lassen, Adler?« »Oh, allerdings. Ich würde es sogar als Notwendigkeit betrachten.« »Glaubt Ihr das?« »Natürlich. Lasst uns in Ruhe, Edelmann Hugh. Wir haben nichts, was Ihr brauchen könntet.« »Nein, nein«, sagte der andere Mann nachdenklich. »Ich bin nicht sicher, ob Ihr irgendetwas habt, das ich brauchen könnte.«
241 Anna spürte warmen Atem in ihrem Nacken und hörte das schwache Quietschen der Stufe über der, auf der sie stand. »Schscht!«, flüsterte der Feldwebel ihr ins Ohr. »Hoch und raus hier, Mädchen, sonst sind wir gleich alle in ernsten Schwierigkeiten.« Sie flohen nach oben - gerade noch rechtzeitig, denn kaum hatte der Feldwebel Anna durch die Tür geschoben und hinüber zu den Gruben geschickt, wo sie mit gesenktem Kopf so tat, als wäre sie mit irgendeiner schmutzigen Arbeit beschäftigt, hörte sie die Soldaten tuscheln, während irgendeine erhabene Gestalt den Turm verließ und wegging. »Närrin!«, sagte der Feldwebel, der zu ihr gekommen war, und riss ihr den Eimer aus der Hand. »Niemand sollte sie stören! Heute werde ich mich um den Gefangenen kümmern. Du gehst nach oben und hältst den Mund. Und lass deine Füße da, wo sie hingehören.« »Wie hätte ich das wissen sollen?«, fragte sie, und er gab ihr eine Ohrfeige. Die Stunden, in denen sie eingesperrt waren, vergingen ohne Zwischenfall, und irgendwann wurde der Feldwebel weich und kam herauf, um mit Edelmann Berthold, seinem bevorzugten Gefangenen, zu plaudern. Die jüngere Tochter der Königin war am Tag zuvor gestorben, was das Läuten der Glocke erklärte. Es gab dennoch ein Festmahl in dieser Nacht, wenn auch ein eher ernstes, denn eine Gesandtschaft war aus einem fernen Land gekommen - Arethusa vielleicht, er wusste es nicht genau -, um mit der trauernden Königin zu verhandeln. Dies war der Grund, warum Berthold und seine Begleiter die oberen Räume nicht verlassen durften. So rechneten sie auch später am Nachmittag nicht mit Besuchern, als es im Hof ruhig geworden war und Gemurmel aus der großen Halle drang, deren Dach vom Ostfenster aus zu sehen war. Dort hatten sich die meisten Bewohner des Palastes zum Essen eingefunden - oder um zu bedienen. Die Gerüche
241 aus den Küchen sorgten dafür, dass Annas Bauch wehtat, und machten ihren Mund wässrig.
Berthold und Elene spielten beim Fenster eine neue Partie Schach. Sie sahen sich auf eine Weise an, die - wie Anna wusste - gefährlich war, was Gnade glücklicherweise nicht erkannte. Zwei hübsche junge Leute, die endlose Stunden, Tage und Wochen zusammen verbringen mussten. Wie gut wusste Anna, wohin solche Vertrautheiten führten! Sie wischte sich über die Augen, aber es waren keine Tränen mehr übrig für Thiemo und Matto. Sie waren unter dem Berg verschwunden -zusammen mit Bertholds Kameraden, mit ihrem alten Leben, mit allem, was vor dem Sturm gewesen war. Heribert saß bei Gnade, die ausnahmsweise mit einem Stift in der Hand über einer Tafel grübelte und mit unbeholfenen Strichen versuchte, einige Buchstaben richtig zu schreiben. Anna setzte sich auf den Teppich zu Gnades Füßen und machte sich daran, einen Riss in ihrem anderen Hemd zu flicken. Julia saß auf der Bank und stickte. Edelmann Jonas war unten und würfelte mit Odei; die beiden konnten das stundenlang tun, und das Kullern der Würfel auf dem Boden war, wie die Dichter beim Festmahl singen würden, eine stetige Begleitmusik zu anderer Leute Arbeit. Berda saß in einer dunklen Ecke und mahlte eine Wurzel zu Pulver. Das Licht fiel dämmrig durch das offene Fenster, und es war kühl, aber niemand wollte die Läden schließen. Elene schnüffelte, wischte sich die Nase und sah auf. Sie hielt einen Löwen in der Hand. »Riecht Ihr das?« Berthold unterdrückte ein Gähnen. »Was? Ich hasse es, den ganzen Tag im Haus zu sein.« Berda blickte ebenfalls auf. »Es ist scharf«, sagte sie, berührte ihre Nase. Die Edelfrau runzelte die Stirn. Sie stellte den Löwen nicht ab. »Jetzt ist es weg. Ich dachte ...« Sie gähnte ebenfalls, riss sich aber zusammen. Sogar Anna gähnte und stach sich fast mit der Nadel. Ihr
242 entrüstetes Schnauben setzte eine wahre Gähn-Lawine bei allen in Gang, abgesehen von Heribert. »Dieser Bogen hier, Eure Hoheit. Er ist ungleichmäßig.« »Ich bin einfach nur müde! Ich kann das besser!« »Ja«, pflichtete er ihr bei. »Das scheint so zu sein, wenn man Euch gähnen sieht. Es liegt etwas in der Luft. Es kitzelt in den Knochen.« Berthold schob die Schachfiguren beiseite und bettete den Kopf auf die Arme. »Nur ein Nickerchen, dann können wir von vorn anfangen.« Elenes Kopf sackte nach hinten. Der Löwe fiel ihr aus der Hand, und als er auf den Boden prallte, schreckte sie auf. »Was ist das?«, fragte sie. »Ein Glanz ... ein Bann ...« Anna war so müde. Die Wände flüsterten, erinnerten sie an den friedlichen Schlaf, den jede Seele erwartete, die in den Tod überging ... Leise Schritte kamen die Leiter hoch. Ein Mann mittleren Alters tauchte in der offenen Falltür auf. Er hieß Bruder Petrus und war einer der Geistlichen, die der Heiligen Mutter dienten. »Hier oben, Herr«, sagte er, während er von der Leiter auf den Fußboden trat. Sie stach sich mit der Nadel, und der Schmerz weckte sie auf. Ein Tropfen Blut quoll aus ihrem Finger. Gnade war eingeschlafen, ihr Kopf gegen Heriberts Schulter gesunken. Berthold rührte sich benommen, hob seinen Kopf. Elene kämpfte, griff nach dem Löwen, den sie auf den Boden hatte fallen lassen. Berda schnarchte leise, ihr Kopf war gegen die Wand gesackt, ihre Kehle entblößt. Ein Engel kletterte aus der Falltür und blieb stehen. Er betrachtete den Tisch mit dem Schachspiel und die zwei jungen Edelleute, die dort gegen den Schlaf ankämpften. »Nun«, sagte er mit einer melodiösen Stimme, die so beruhigend war, dass Anna sicher war, er zähme wilde Tiere mit ihr. Sie erkannte sofort, dass es die Stimme des Mannes war, der
242 mit Wulfhere gesprochen hatte. »Conrads dem Untergang geweihte Tochter und Villams verlorener Sohn. Wie unerwartet! Wie hübsch beide zusammen aussehen, dunkel und hell!« Elene ächzte, bekam den Löwen zu packen und vergrub ihn in ihrer Hand. Ihre Augen blitzten. »Wer seid Ihr? Welche Zauberei ...?«
Die Schachfigur entglitt ihr wieder, landete auf dem Rand des Teppichs und fiel auf den Holzboden. Ihre Lider flatterten, während sie sich bemühte, wach zu bleiben. »Ihr kennt Tricks, Edelfrau Elene, aber Ihr seid unerfahren.« Anna stach sich erneut in die Hand, und der Schmerz brannte wie Feuer und weckte ihren Verstand, aber es war so schwer. Es war so viel leichter zu schlafen. Er drehte sich um und sah Gnade. »Ah«, sagte er mit fesselnder Stimme. »Schon so alt. Wie ich gehofft hatte ...« Von ihrem Platz aus - etwas schräg hinter Gnade - konnte Anna sehen, wie seine Miene sich verdüsterte. »Wie ist es möglich, dass du noch wach bist?«, fragte er. Bevor sie antworten konnte, fragte Bruder Heribert ganz deutlich: »Wer seid Ihr?« »Das sollte ich besser Euch fragen: Wer seid Ihr? Ihr seid Bruder Heribert, ein enger Vertrauter des Prinzen, Beschützer seiner Tochter. Vorher wart Ihr ein Geistlicher in der Gelehrtenschule der Bischöfin von Mainni und den Gerüchten zufolge ihr -« Er lachte. Anna zog den Kopf ein, und als sie spürte, wie die Erschöpfung sie wieder benommen machte, stach sie sich erneut. »Gott im Himmel! Seht nur Eure Augen an! Wie ist das möglich ? Ich dachte, ich wäre der Einzige, der dieses Geheimnis kennt. Wieso seid Ihr hier?« »Ich suche nach demjenigen, den ich liebe. Sie sagen, der andere hat ihn gestohlen. Der mit Namen Sanglant.« »Hat ihn gestohlen?« Der Engel verlagerte das Gewicht auf die Fersen, wie es jemand tun mochte, der geschlagen worden war, rollte dann wieder nach vorn auf die Zehenspitzen und gewann das Gleichgewicht zurück. »Wer hat wen gestohlen?«
243 »Edelmann Hugh?«, fragte Bruder Petrus, der an einem Amulett um seinen Hals herumfingerte. »Sollten wir uns nicht beeilen? Es wird bald dunkel.« »Ja.« Der Engel nickte, aber er sah nur Heribert an. »Wer ist verloren, und wer ist blind?«, sagte er zu sich selbst. »Ist es möglich ? Sagt mir, Freund, wenn der andere ihn gestohlen hat, wollt Ihr dann den zurückbekommen, den Ihr sucht?« »Ich weiß nicht, wer er ist.« »Ganz und gar weg, fürchte ich, wenn das wahr ist, was meine Augen mir sagen, und ich glaube, dass es so ist. Aber ich kenne den, der ihn getötet hat.« »Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass seine Seele von der Erde geflohen ist.« »Wie finde ich ihn?« »Sucht seinen Mörder und rächt Euch. Tötet denjenigen, der ihn getötet hat.« »Wird es ihn zurückbringen, wenn ich den töte, der ihn getötet hat?« Das Lächeln des Engels hätte eine dunkle Halle in strahlende Helligkeit tauchen können. »Oh ja. Sicherlich. Taucht tief und sucht sein Herz. Vertreibt die Seele, die Ihr dort findet. Das wird denjenigen töten, der ihn getötet hat. Denjenigen mit Namen Sanglant.« »Aber er hat ihn geliebt! Er hat ihm vertraut!« »Leider«, sagte der Engel mit so sanfter Stimme, als würde eine Mutter ein weinendes Kind trösten. »So ist es bei den Menschen, dass diejenigen, die wir lieben, die sind, die uns am schnellsten verraten.« »Wo muss ich hingehen?« »Kommt mit mir. Ich werde Euch auf den Weg bringen. Bruder Petrus, da ist eine Dienerin der Prinzessin. Findet sie und legt ihr ein Amulett um ... Oh!« Elene ächzte, kämpfte gegen den Bann an, bewegte die Lippen, als sie eine Beschwörung sprach. »Petrus, das Messer.«
243 »Eure Hände, Herr. Lasst mich es tun, wenn es getan werden muss.« »Ich werde nicht zulassen, dass andere ihre Hände beflecken, damit meine sauber bleiben. Dies ist meine Entscheidung, nicht Eure.« Er nahm das gewöhnliche Küchenmesser -gutes, scharfes Eisen -
aus Petrus' zitternden Händen und ging zum Tisch. Dann packte er Elene bei den Haaren, legte das Messer an ihre pulsierende Kehle. Elene versuchte sich zu wehren, aber sie schaffte es nicht. Anna schrie, aber der einzige Laut, der sich ihr entrang, war ein Stöhnen. Sie kam taumelnd auf die Beine, aber sie war zu langsam, da die Schlafsucht sie niederdrückte. Sie war zu langsam, und es war bereits zu spät. Er führte den Schnitt aus. Elenes Blut spritzte über das Schachbrett und auf Bertholds Ärmel und Haare, aber er schlief zu tief, um sich zu rühren. Blut strömte aus ihrem Hals. Ein Drache und eine Königin fielen im ersten Schwall. Die Übrigen waren schon bald nass, Inseln in einem roten Meer. Hugh drückte ihren Körper auf den Stuhl und ließ das blutverschmierte Messer auf den Teppich fallen. Dann ging er zu Anna und packte sie. Sie sackte gegen ihn, ohne dass sie es verhindern konnte. »Ist die hier ebenfalls heimgesucht?« Er hob ihre Hand, fuhr mit einem Finger über die drei Blutstropfen und nahm ihr die Nadel weg. Sie konnte nichts dagegen tun. Nur sein starker Arm hielt sie aufrecht. »Rasch, Bruder Petrus!« Eine Bewegung, ein Arm, der über ihr Gesicht strich, und dann drang ihr ein süßer Geruch in die Nase. Sie wurde wach, sah durch einen rauchigen Nebel die anderen schlafen und hörte, wie sich eine unheimliche Stille über dem Palastgelände ausbreitete, als wären sämtliche Lebewesen geknebelt und in Wolle gepackt worden. Seine Augen waren so blau, dass sie glaubte, sie würde in ih 53° nen ertrinken. »Ich nehme Prinzessin Gnade mit. Du hast die Wahl. Entweder du kommst mit und kümmerst dich um sie, oder du bleibst hier.« Ihr Mund zuckte, aber sie bekam die Worte nicht heraus. Er lächelte traurig. Oh, dieses Lächeln. Sie hätte sterben können in der Hoffnung auf ein weiteres solches Lächeln. Sie hatte noch nie einen so schönen Mann gesehen wie ihn. »Wie ist dein Name?« »Anna, Euer Gnaden«, flüsterte sie. »Anna«, sagte er, machte Musik aus ihrem Namen. »Trag die Prinzessin. Wir müssen uns beeilen.« »Und wenn nicht, Euer Gnaden? Wenn ich mich weigere mitzugehen?« »Dann wird ein treuerer Diener sie tragen«, sagte er mit einer Stimme, die über alle Maßen freundlich klang; es fröstelte sie, als sie das hörte, denn er hob seine Stimme nicht und sah auch nicht verärgert aus. Er war kein Bulkezu, der heulte und wütete. Er wirkte nicht wie ein Mann, der gerade einer wehrlosen jungen Frau die Kehle durchtrennt hatte. »Und du wirst später aufwachen und hoffen, dass gut für sie gesorgt wird, aber du wirst es niemals wissen.« Weinend nahm sie Gnade auf, obwohl das Mädchen so groß geworden war, dass es schwer in ihren Armen hing. Anna musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihn wieder anzusehen und um Worte zu sprechen, die er möglicherweise nicht hören wollte. »Es gibt ein paar Dinge, die wir brauchen werden, Euer Gnaden -« »Alles, was gebraucht werden könnte, ist bereits vorbereitet. Wir haben in der Stadt besorgt, was wir benötigen. Bruder Petrus, gehen wir rasch, wie Ihr geraten habt.« »Ja, Edelmann Hugh.« Und so gingen sie, ließen die Kammer und das tote Mädchen und ihre schlafenden Kameraden zurück. Unten warteten vier Soldaten; sie trugen ebenfalls Amulette. Edelmann Jonas und 244 Odei lagen ausgestreckt auf dem Boden, zwischen ihnen die Würfel. Bruder Heribert folgte ihnen wie ein Hund, stockend, zuckend, aber entschlossen. »Bindet den Adler los«, sagte Edelmann Hugh zu zwei von den Soldaten. »Sorgt dafür, dass Blut an seinen Händen ist und er das Messer hat. Dann stoßt am verabredeten Ort zu uns.«
Die Soldaten in den Unterkünften im Erdgeschoss schliefen, lagen auf den Bänken oder schnarchten auf den Pritschen. Zwei saßen beiderseits der Tür, lehnten an der steinernen Mauer. Einer hatte den Mund offen, und es jagte Anna Angst ein, wie der Speichel herauslief. Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie rasch einen Flügel des Palastes durchquerten. Wachen schliefen auf Bänken und Pflastersteinen. Ein Soldat hatte einen Arm um eine Säule geschlungen, als wollte er sie umarmen. Im Hof vor der großen Halle hatten mehrere Bedienstete die Platten mit Speisen und Flaschen fallen gelassen. Zwei Hunde waren eingeschlafen, während sie versucht hatten, ein Fleischstück zu zerreißen, das für den Tisch der Königin gedacht gewesen war. Aus der Halle selbst drang auch durch die offenen Türen nichts als Stille. Einer der Soldaten grapschte sich zwei gebratene Hühner und band sie in ein Tuch, das er an seinem Gürtel befestigte. Der Geruch des guten, warmen Essens brachte Annas Magen zum Knurren. Sie hasste sich dafür, dass sie einen Hunger verspürte, den Edelfrau Elene nie wieder kennen lernen würde. Gnade rührte sich und wimmerte, aber sie wachte nicht auf. Fünf weitere Soldaten warteten bei den Unterkünften, hielten die Zügel von vierzehn Pferden fest, von denen vier mit Gepäck beladen waren. Wer immer wach war, trug ein Amulett um den Nacken wie das, was Anna um den Hals hatte. Edelmann Hugh trat zu den Pferden und nickte Bruder Petrus zu. »Alles Übrige ist so geschehen, wie ich befohlen hatte?« »Alles ist vorbereitet, Edelmann Hugh. Alles wird geschehen, wie Ihr es befohlen habt. Aber ich bin mir nicht sicher, Herr - habt Ihr Edelmann Berthold ein anderes Schicksal zu 245 gedacht? Villams Sohn ist mit Villams Verrat an Kaiser Henry befleckt, möge er in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen.« »Villams Sohn spielt keine Rolle, obwohl es da ein Geheimnis gibt, was sein Verschwinden und Wiederauftauchen betrifft. Lasst es, wie es ist. Findet sein Geheimnis heraus, wenn Ihr könnt. Vielleicht vertraut er Euch, wenn Ihr versucht, Euch mit ihm zu befreunden, nachdem wir weg sind.« Petrus zögerte. »Sprecht, Bruder. Ihr braucht keine Angst zu haben, frei mit mir zu reden.« »Wieso die junge Edelfrau, Euer Gnaden? Sie war wunderschön. Stolz, das ist wahr, aber lieblich. Es ist, als würde man eine blühende Blume zertreten.« »Manche Blumen werden zertreten, wenn ein Heer marschiert, um eine Belagerung aufzuheben, Bruder. Niemand erfreut sich an der Zerstörung, aber manchmal gibt es keine andere Möglichkeit. Ihre Großmutter hat ihr Dinge beigebracht, die sie nicht anwenden darf. Wir können ein solches Risiko nicht eingehen. Ich werde die Buße für die Tat übernehmen.« »Ja, Euer Gnaden. Dennoch ... wenn Ihr sie als Risiko empfindet, wieso wollt Ihr dann den alten Mann am Leben lassen?« »Er ist zu schwach und weiß zu wenig, um eine Bedrohung für uns zu sein. Er dient uns besser, indem er den Verdacht von uns ablenkt. Zweifellos war ihr Tod barmherziger, als seiner es sein wird.« »Ja, Euer Gnaden.« »Löscht das Schlaffeuer erst, wenn die Lichter auf dem Berg verschwunden sind. Tut alles so, wie ich es gesagt habe. Achtet darauf, dass niemand Euch in der Gruft beobachtet. Alles hängt vom richtigen Zeitpunkt ab und davon, wo Ihr den Köder platziert.« »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Edelmann Hugh.« »Ich vertraue Euch. Und dann wartet auf meine Rückkehr.« »Ja, Edelmann Hugh. Mögen Gott mit Euch gehen, Edelmann Hugh.« 245 Es lag Ironie im Lächeln des Engels. »Das hoffen wir.« Er winkte. Ein Soldat nahm Anna Gnade ab und reichte sie einem seiner Kameraden, der bereits auf einem Pferd saß. Ein anderer hob Anna hinter sich auf sein Reittier. Die Übrigen machten sich bereit, und gemeinsam verließen sie den Palast durch das Spähertor, ein dreifach bewachtes Tor,
das sich in der äußeren Wand des Palastes befand und zu einem Steilabbruch und einem Pfad führte, der die nordöstliche Flanke des Hügels entlang verlief, auf dem die Stadt Novomo erbaut worden war. Schiefer bedeckte den Berghang. Sie arbeiteten sich bergab. Niemand sprach; nur das Klappern von Steinen störte die Stille. Wie weit reichte der Bann? Hatte er sein Netz der Zauberei über die ganze Stadt ausgeworfen? Wie konnte irgendjemand so schön und so bösartig sein? Am Fuß des Hügels machten sie bei einem Weinberg halt, der still unter dem späten Nachmittagshimmel lag. Nichts rührte sich, abgesehen von einer einzelnen Honigbiene, die auf der Suche nach Nektar war. »Bruder Heribert«, sagte Edelmann Hugh. »Nehmt so viele Vorräte, wie Ihr tragen könnt. Geht nach Norden, über den St-Barnaria-Pass. Kennt Ihr den Weg?« »Den wir genommen haben, als wir nach Süden gekommen sind?« »Es geht das Gerücht, Ihr wärt von den Bergen gekommen. Kehrt dorthin zurück und folgt dem Pfad nördlich nach Wendar.« »Wer wird mich führen?« »Ihr müsst Euch selbst führen. Ihr sucht Sanglant, der sich als König bezeichnet. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er in Quedlingham. Sucht ihn und tut, was Ihr tun müsst.« Ohne zu antworten, nahm der Geistliche einen Sack Nahrungsvorräte, den ihm einer der Soldaten reichte. Er blieb kurz bei Gnades erschlafftem Körper stehen und berührte ihr Knie, dann ging er durch die Reben davon und geriet rasch außer Sicht. Die Übrigen wandten sich nach Süden zur Hauptstraße, 246 die aus der Stadt herausführte. Zweimal sah Anna Leute in der Ferne, Arbeiter oder Bauern. Einmal sah sie einen Wagen hinter einem Baum stehen, aber sie erhaschte keinen Hinweis darauf, wer in ihm war; nur ein Maultier graste mit gesenktem Kopf. Zweimal hörte sie einen Hund bellen. Eine große Gruppe war vor ihnen diesen Weg entlang gezogen; sie sah ihre Staubwolke weiter vorn auf der Straße Richtung Süden. Als die Dämmerung sich senkte, hielten sie bei einem kalkigen Pfad an, der von der Hauptstraße abbog und einen nahen Berg hochführte. »Zwei Leute kommen hinter uns her«, sagte der Soldat, der die Nachhut bildete. »Es werden Liutbold und Theodore sein. Sie kommen spät.« »Wir warten hier«, sagte Hugh, und schon bald trafen die zwei Soldaten ein, die beim Turm zurückgeblieben waren. , »Theodore. Liutbold.« Hugh musterte sie. »Wie lautet Euer Bericht? Ich habe früher mit Euch gerechnet.« »Ich bitte um Vergebung, mein Herr«, sagte der Soldat namens Theodore. »Es war schwieriger, als wir gedacht hatten. Der alte Mann war wachsam und hat sich gewehrt, er hat Liudbold einen Kinnhaken versetzt.« Einige der anderen Soldaten husteten und kicherten, als Liudbold mit der Hand den blauen Fleck berührte, der sich in seinem Gesicht abzuzeichnen begann. Als Hugh die Hand hob, schwiegen sie. »Ja, er hat gegen den Bann gekämpft, und wohl mit einigem Erfolg. Das sollte mich nicht überraschen. Was habt Ihr getan?« »Nun, zuerst dachten wir daran, ihn festzubinden, aber dann erinnerten wir uns, dass es so aussehen sollte, als hätte er sich befreit. Also haben wir ihn bewusstlos geschlagen, die Treppe hochgeschafft, ihn in dem Blut gewälzt und mit dem Messer in der Hand liegen lassen.« »Das wird genügen«, sagte Edelmann Hugh freundlich. »Ihr habt einen kühlen Kopf bewahrt. Gut gemacht.« Solch ein Lob konnte Steine erweichen! Die Soldaten mur 246 melten, aber Edelmann Hugh lenkte sein Pferd auf den Pfad und führte die anderen von der Straße herunter. Hinter ihnen verwischten die beiden Männer der Nachhut ihre Spuren. Weiter vorn warteten andere Gestalten: stehende Steine, die einen Kreis bildeten.
Sie sagte nichts, aber gerade das machte Edelmann Hugh auf sie aufmerksam. »Wie seid ihr nach Novomo gekommen, Anna? Wie hat Prinzessin Gnade mh> ihrer Gruppe Aosta erreicht, und warum? Woher kommt ihr? Wieso habt ihr ihren Vater und ihre Mutter verloren?« Sie zuckte mit den Schultern, tat so, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, während er sie musterte. Sie hatte Angst. Es schien, als würde er trotz seines sanften Blickes alles sehen und alles wissen. »Presbyter«, sagte einer der Soldaten, ein Mann mit einer Narbe am Kinn. »Ich kann sie zum Reden bringen, wenn Ihr wollt.« Er wandte sich ab. »Kommt nicht in Frage, John. Ich weiß bereits genug von der Geschichte. Wenn ich mehr wissen will, werde ich es herausbekommen.« »Es gefällt mir nur nicht zu sehen, wie Ihr so respektlos behandelt werdet, Presbyter. Es bedrückt mich, dass die Königin sich geweigert hat, Euch zu sehen, nach allem, was Ihr für sie und die Menschen in Darre getan habt.« »Die Königin ist wegen des Verlustes ihrer Tochter bekümmert. Es stand zu erwarten.« »Wenn Ihr nur nicht so leicht vergeben würdet, Herr.« Die anderen Soldaten murmelten zustimmend. »Wie dem Geistlichen, den Ihr nach Norden geschickt habt. Ich glaube, dass er den Verstand verloren hat!« Hugh nickte, ohne zu lächeln. »Das hat er auch, die arme Seele.« Sie erreichten eine ebene Fläche, die sich gleich vor den Menhiren befand und auf der keinerlei Pflanzen wuchsen.
247 »Steigt rasch ab, alle - bis auf den mit der Dienerin und Euch, Frigo«, sagte Hugh und deutete dabei auf den Mann, der Gnade trug. »Bewegt Euch, wenn ich den Befehl gebe. Zögert nicht.« Gnade schlief. Anna konnte nicht zu ihr gelangen, denn sie befand sich im Griff eines Mannes, der sehr viel größer und stärker war als sie, aber sie sah, dass Gnade ebenfalls ein Amulett trug, nur dass ihres mit Lavendelzweigen und einem verdrehten Knoten versehen war, der aussah, als würde er jeden ahnungslosen Nacken würgen, der sich in seinem Griff befand. Hugh reichte einem der Männer seine Zügel. Er stellte sich auf einen Kreis aus hellem Boden - er war weiß vom Staub -und zog ein seltsames goldenes Gerät aus dem Ärmel, das wie ein Rad in einem Rad aussah. Er richtete es auf den Horizont. Dann wandte er seinen Blick nach Novomo, das im schwächer werdenden Licht dunstig wirkte. »Wir müssen bereit sein«, sagte er zu seinen Soldaten. »Sorgt dafür, dass die erwähnten Dinge griffbereit sind. Ihre Teufel können uns folgen, wie weit wir auch reisen. Wenn ich spreche, müsst ihr also genau tun, was ich sage.« Sie murmelten ihre Zustimmung. Anna lachte. »Wir können nicht gehen!«, frohlockte sie. »Ihr könnt keine Beschwörung vom Himmel weben, wenn es bewölkt ist! Ihr seid hier gefangen!« Er sah sie an. Sie schlug die Hand vor den Mund. War das ein Messer, das da in der Hand eines Soldaten blinkte? »Und noch dazu klug«, sagte Edelmann Hugh. »Aber ich besitze ein Instrument, das mir sagt, wo jeder Stern aufgehen und untergehen wird. Die Musik der Sphären gelangt durch die Wolken. Es ist nur unser schwaches Augenlicht, das uns behindert, denn im Gegensatz zu den Engeln und Daemonen können wir nicht hinter das sehen, was blendet. Mit diesem Instrument muss ich nicht sehen, was ich bereits berechnet habe, um zu wissen, dass es da ist. Ich kann weben, auch wenn die Wolken den Himmel verbergen. Ich kann sogar bei Tageslicht 247 weben, obwohl meine Feinde nicht erfahren dürfen, dass ich das kann.« Während die Nacht hereinbrach, wob er, zog Licht vom Himmel, obwohl kein einziger Stern zu sehen war, so weit das menschliche Auge reichte. Er wob einen Bogen aus Licht, und auf seinen Befehl - denn wer wollte sich ihm widersetzen? -traten sie hindurch zu einem anderen Ort.
XIV
Der Blick des Guivre
1 Normalerweise dauerte die Reise von Osna nach Lavas fünf bis sechs Tage. Als Alain vor vielen Jahren mit Kastellanin Dhuoda dorthin gereist war, hatten sie fünfzehn Tage benötigt, weil sie in jedem Dorf und bei jedem Gehöft angehalten hatten, um Steuern und Pacht einzutreiben oder junge Leute in Dienst zu nehmen. Obwohl sie jetzt nur nachts anhielten, um zu schlafen, reisten sie zehn Tage, weil die Straßen im vergangenen Herbst vom Sturm ziemlich stark beschädigt worden waren. Umgestürzte Bäume versperrten den Weg. An zwei Stellen hatten sich Flussläufe geändert, und eine Rinne zog sich quer über den festgetretenen Pfad, über den einst Wagen gerollt waren. »Mögen Gott uns helfen«, sagte die Kastellanin am späten Nachmittag des siebten Tages. Sie ritt als Einzige auf einem Pferd, während die Übrigen zu Fuß gingen. »Was ist das?« Alain ging mit fünf bewaffneten Männern voraus; sie fanden einen Wagen, der umgestürzt war und auf der Seite lag. Auf dem Weg sowie im Wald rechts und links davon lagen Leichen, an denen sich Tiere zu schaffen gemacht hatten. »Wie lange mögen sie hier schon liegen?«, fragte einer der Burschen, der von seinen Kameraden Hol genannt wurde. 248 Es waren fast nur noch Knochen übrig, an denen hier und da kleine Hautfetzen voller Haare oder die Reste einer gewebten Tunika hingen. Es war unmöglich zu sagen, wie viele hier gestorben waren oder wie weit weg Wölfe und Füchse die Leichenreste geschleppt hatten. »Monate.« Alain zog aus den Speichen eines Wagenrads einen Pfeil. »Räuber. Seht euch diese Befiederung an.« Die Soldaten waren jung; er kannte keinen von ihnen aus der Zeit, als er Lavastins Erbe gewesen war, obwohl es ihm seltsam schien, dass so viele neue Soldaten in so kurzer Zeit den Dienst angetreten haben sollten. Es waren alles Jungen aus den Dörfern, die Edelfrau Aldegunds Familie die Treue geschworen hatten. Sie musterten beunruhigt den Wald beiderseits des Weges. Plötzlich schrie einer von ihnen auf. »Was ist das? Was ist das?« Es war nur ein weißer Schädel, der sich in einem Brombeerstrauch verfangen hatte und sie anstarrte. »Bring ihn her, Hol«, sagte der Älteste. »Nein. Er ist vielleicht verflucht.« »Haben wir eine Schaufel oder etwas anderes zum Graben?«, fragte Alain. »Wir sollten ein Grab ausheben und diese Toten zur Ruhe betten. Mehr können wir nicht tun.« Er sah seine Kameraden der Reihe nach an und schüttelte den Kopf. »Kommt schon. Ihre Seelen sind zur Kammer des Lichts aufgestiegen. Sie können euch nichts tun. Wenn euer eigener Bruder hier liegen würde, würdet ihr dann nicht wollen, dass er zur Ruhe gebettet wird, damit keine Tiere mehr an seinen Knochen nagen können?« Sie hatten nur eine einzige Schaufel dabei, aber ein Mann hatte ein Stück von einem Geweih, das er als Pickel benutzte, und die anderen spitzten Stöcke zu. Mit diesen Hilfsmitteln und mit ihren bloßen Händen gruben sie rasch ein tiefes Grab. Blanche sah stumm zu, lutschte an ihrem Daumen. Sie war die Erste, die in die Büsche gezerrte Knochen herbeischaffte, und
248 sie holte auch den Schädel und legte ihn auf den Haufen in dem Loch. Sie wischte sich die Hand an ihrem Kleid ab und seufzte. »Werde ich eines Tages auch aus solchen Knochen bestehen?«, fragte sie. »Der Teil von dir, der Fleisch ist, wird sterben, ja, und er wird bis auf die Knochen verwesen, aber sieh nur, wie weiß und stark sie sind. Sie erinnern uns an die Stärke unserer Seelen, die ebenfalls verborgen unter dem Fleisch liegen.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an, sagte aber nichts. Die Geistliche der Kastellanin sprach ein Gebet über die Toten, und dann füllten sie das Loch wieder mit Erde auf. »Es wird spät«, sagte Alain zu der Kastellanin. »Wir sollten an ein Lager für die Nacht denken.«
»Ich möchte nicht an einem Ort des Todes lagern«, erwiderte sie. »Wir werden noch etwas weiterziehen.« »Ob hier wohl noch Räuber rumlungern?«, fragte Hol Alain, während sie an der Spitze der Gruppe gingen. »Das könnte sein.« Ein Zweig knackte zwischen den Bäumen, und die Soldaten zuckten zusammen und wirbelten herum, aber es war nur ein Reh, das in den Wald davonlief. Sie lachten und bezeichneten einander als Feiglinge, marschierten aber eilends weiter, um rasch dorthin zu gelangen, wo der Wald in freies Gelände überging; der Boden war sumpfig und zum Ackerbau ungeeignet, und die wenigen Hügel waren mit dichtem Buschwerk bewachsen. Die Straße war etwas erhöht angelegt worden, um diesen Sumpf durchqueren zu können, und als schließlich die Dämmerung einsetzte, fanden sie sich irgendwo mitten auf dieser Straße, und um sie herum gab es nichts als Mücken, Sumpffliegen und Stechmücken. »Entzündet Feuer«, sagte die Kastellanin. »Dann können wir in beide Richtungen sehen, falls Diebe uns angreifen sollten. Außerdem wird der Rauch die Insekten vertreiben.« Es war schwer, trockenes Holz zu finden, doch schließlich hatten sie genug, um die halbe Nacht Rauch einzuatmen, aber
249 gestochen wurden sie trotzdem. Der Wind wehte gleichmäßig aus Nordosten. Spät, sehr spät, erwachte Alain, starrte verwirrt gen Himmel. Blanche schnarchte leise neben ihm. Sterne blinkten, wurden wieder von Wolken verhüllt. »Oh!«, sagte er, obwohl er gar nicht vorgehabt hatte zu sprechen. »Seht Ihr?« »Bitte, Kastellanin. Könnt Ihr nicht schlafen?« »Ich kann nicht schlafen, Herr. Aber ich habe gesehen, dass es einen Funken Hoffnung gibt. Gott blicken lächelnd auf meine Reise herab. Es war richtig, dass ich Euch gesucht habe. Monatelang haben wir den Himmel nicht gesehen. Aber jetzt ... jetzt habe ich es.« »Jeder Zauberbann muss im Laufe der Zeit nachlassen.« »Ihr besteht darauf, dass diese Wolken die Reste eines gewaltigen Zauberbannes sind, der von Menschen gewebt wurde?« »Ich weiß, dass es so ist.« »Nicht ein Ausdruck von Gottes Missfallen?« »Es ist wahr, dass manches Übel uns ohne Warnung oder Grund überfällt. Aber so viele Übel, die uns plagen, erschaffen wir durch unsere eigenen Taten. Wieso sollten wir Gott die Schuld geben? Sicherlich weinen Gott, wenn sie sehen, dass ihre Kinder gegen das handeln, was natürlich und richtig ist. Das würde der heilige Daisan sagen. Und das hat Graf Lavastin gesagt. Wir sind nicht schuldig aufgrund von Dingen, die außerhalb unserer Macht liegen, aber es entschuldigt nicht unser Handeln. Das Übel ist das Werk des Feindes. Es ist leichter, das zu tun, was richtig ist.« »Glaubt Ihr das? Es scheint mir, dass die Menschen die unterschwellige Neigung haben, das Falsche zu tun.« »Aber niemand behauptet, dass das richtig wäre. Jene, die Falsches tun, machen Ausflüchte und erzählen Geschichten, um sich zu rechtfertigen oder die Schuld auf Gott zu schieben, aber in ihren Herzen sind sie nicht frei von Schuld. Und diese Schuld treibt einen Menschen zu noch schlimmeren Taten, aus
249 Schmerz und Furcht heraus. Es ist eine mühsame Straße, und es ist noch schwieriger, umzukehren, wenn man diese Reise erst einmal begonnen hat.« Sie kicherte spöttisch. »Viele Leute sagen, dass sie recht handeln, und glauben daran. Der Feind täuscht sie.« »Sie täuschen sich selbst.« »Wer entscheidet darüber, dass oft die Boshaften gedeihen und die Unschuldigen auf der Strecke bleiben? Wo ist Gottes Gerechtigkeit, wenn sie gebraucht wird?«
Er blinzelte sie an, aber es war schwer, in der Düsternis ihr Gesicht zu erkennen. »Es liegt in Euren Händen, Meistrin Dhuoda. Wir haben die Freiheit, über unsere Taten selbst zu bestimmen.« »Und was ist, wenn wir falsch wählen?« Er seufzte, dachte an Adica. Der Wind seufzte ebenfalls, ein Echo seiner Atemzüge. Schilf raschelte im Sumpf. Ein Mann drehte sich geräuschvoll im Schlaf auf die andere Seite. Blanche schnarchte, schien kurz davor aufzuwachen und schlief dann doch weiter. »Wieso haben Gott uns nicht so erschaffen, dass wir nur das Richtige tun können und niemals das, was falsch ist?«, sprach sie weiter. »Dann wären wir nicht viel anders als die Werkzeuge, die wir benutzen. Wenn wir dann das Richtige täten, wäre es kein Verdienst, weil wir gar keine andere Wahl hätten. Wir wären Sklaven und keine Menschen.« »Es wäre möglicherweise besser«, murmelte sie. »Glaubt Ihr das?« »Manchmal tue ich das«, sagte sie, und dann schwieg sie. Schließlich schlief er ein. 250 Sie erreichten Burg Lavas am Festtag von St. Abraames. Aus der Ferne wirkte sie nicht viel anders als vor sieben Jahren, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte - oder waren es acht? Es war schwer, den Lauf der Zeit zu verfolgen. Die hohe Palisade umgab die Burg mit der Holzhalle und dem steinernen Burghof. Dahinter erstreckte sich das Dorf entlang des sich gemächlich neigenden Flussufers. Jetzt jedoch umgaben ein Graben und ein Erdwall das Dorf und die inneren Felder, Obstwiesen und Weiden, die an zwei Stellen vom Fluss durchtrennt wurden. Viele der Ortsansässigen kamen Alain vertraut vor, aber alle Soldaten waren neu, stammten dem Klang ihrer Worte nach nicht aus Lavas, sondern aus dem Osten. »Wo ist Feldwebel Fell?«, fragte Alain die Kastellanin, als die Leute neugierig näher kamen. »Er wurde verabschiedet, um sich in sein Heimatdorf zurückzuziehen, mit gerade mal zehn Skeattas für seinen jahrelangen Dienst. Auch viele andere haben sich mit wenig genug oder gar nichts abgewandt, weil Edelmann Jeoffrey sich beschützt von Soldaten aus dem Land seiner Frau sicherer fühlt. Es hat zu einigem Gemurre geführt, und zwar zu Recht.« »Wer ist das, Meistrin Dhuoda?«, fragte ein Soldat, der mit einem Speer in der einen Hand und einem Becher Bier in der anderen aus der Halle trat. »Hauptmann, wo ist Edelmann Jeoffrey?« »Er ist mit dem Bruder der Edelfrau ausgeritten, um sich einen Bullen anzusehen.« »Den, der Meister Schmitt von Ferhold gehört? Er hat bereits gesagt, dass er ihn auch für noch so viel Skeattas nicht abgeben will.« »Er wird ihn abgeben, wenn Edelmann Jeoffrey ihn für seine Herde haben will«, erwiderte der Hauptmann spöttisch. 250 »Wer ist das?« Er blinzelte in die helle Sonne und deutete mit seinem Speer auf Alain. Bedienstete kamen näher, flüsterten dabei und starrten ihn an. Da war Alma, die dünner und älter wirkte, und ein verblüffter Meister Rodlin mit zwei geschmeidigen Windhunden auf den Fersen. Die Windhunde senkten die Köpfe und jaulten, versteckten sich hinter dem Stallmeister, aber Kummer und Rage setzten sich friedlich hin und wandten ihre treuen Blicke Alain zu, warteten auf seinen Befehl. »Das sind große Hunde«, sagte der Hauptmann, und in seinem Blick und in dem unterdrückten Getuschel und Gemurmel lag eine Anspannung, als würde ein Sturm kurz bevorstehen. Alain sah Alma an, nahm Blanche und brachte das Mädchen zu der alten Frau. »Herr«, murmelte die Köchin mit einem Blick zu dem argwöhnischen Hauptmann. Ihre Hände waren vom Alter aufgesprungen und fleckig, und die Linke war gelähmt, aber ihre Augen waren noch scharf. »Ich bitte dich, Alma«, sagte er ruhig, »sprich mich nicht mit einem Titel an, der mir nicht länger zusteht. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
Sie nickte benommen. Der Hauptmann hustete und sah sich um, wollte wissen, wo seine Soldaten waren, aber es waren nur fünf oder sechs in Sicht, die bei den Ställen herumhingen oder an der Ecke der Halle standen. »Pass bitte für mich auf dieses Kind auf. Sie ist die Tochter eines Mannes, den ich meinen Bruder nannte.« Alma sah ihn an, nickte und streckte die Hand aus. »Geh, Blanche. Tu, was ich sage.« Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihn stirnrunzelnd an, aber dann legte sie ihre schmutzige Hand in die von Alma, ohne Einwände zu erheben. »Bitte, Edelmann Alain«, sagte Dhuoda und trat zu ihm. »Wir sollten hier nicht wie Bittsteller im Hof stehen bleiben, 251 sonst wird er irgendetwas veranlassen.« Sie deutete auf den ruhelosen Hauptmann. »Ich warte in der Kirche.« »Nein, Herr! Ihr wartet im Audienzzimmer des Grafen, wie es angemessen ist!« »Bitte, Meistrin Dhuoda«, sagte er sanft. »Bringt diese unschuldigen Seelen nicht in Schwierigkeiten. Ich ziehe es vor, in der Kirche zu warten, wenn Ihr nichts dagegen habt. Ich möchte beim Grab des Grafen beten.« »Natürlich.« Sie errötete. »Natürlich, Edelmann!« »Wer ist dieser Mann?«, fragte der Hauptmann, verließ jetzt den Vorbau der Halle. »Er ist hier nicht willkommen!« Auf die eine oder andere Weise setzten die Bediensteten sich plötzlich in Bewegung und behinderten seinen Weg, und Alain und Dhuoda gingen allein zu der Steinkirche, die abseits der anderen Gebäude hinter der Palisade stand. »Wovor hat Edelmann Jeoffrey Angst?«, fragte Alain und deutete dabei auf die neuen Erdwälle. »Vor der Gerechtigkeit, Herr. Er hat Angst vor Edelfrau Sabella.« »Wieso sollte er sie fürchten ? Ist sie nicht in der Obhut von Bischof in Constanze in Autun?« »Seit vielen Jahren nicht mehr, Herr. Edelfrau Sabella hat sich ihres alten Herrscherstuhls wieder bemächtigt. Sie hält Bischöfin Constanze gefangen und herrscht aufs Neue über Arconia. Edelmann Jeoffrey hat Bischöfin Constanze die Treue geschworen, aber es ist unwahrscheinlich, dass die edle Bischöfin uns helfen kann. Räuber ziehen durch das Land. Habt Ihr nicht von unseren Schwierigkeiten gehört?« »Was für Schäden hat Lavas erlitten?« »Gut Ravnholt wurde im letzten Herbst - wenige Wochen nach dem großen Sturm - bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Acht Menschen wurden ermordet, vielleicht auch mehr. Es war schwer, in den Trümmern der Halle noch irgendwelche Überreste zu finden. Ein Dutzend oder mehr Überle
251 bende haben wir später im Wald gefunden, wo sie sich versteckt hatten, aber vier Mädchen sind nie gefunden worden, obwohl Zeugen sie gesehen haben, als sie vor dem Brand weggelaufen sind. Sie waren noch jung - aber keine kleinen Mädchen mehr; eine von ihnen hatte erst kurz zuvor geheiratet. Es gibt wohl keinen Zweifel daran, was die Räuber mit diesen armen Wesen vorhatten.« »Hat denn niemand nach ihnen gesucht? Was ist mit den Räubern passiert?« »Es hat nur ein kurzes Gefecht gegeben, zwei Tage später. Dann sind die Räuber verschwunden jedenfalls haben Edelmann Jeoffreys Kundschafter das behauptet. Ich weiß nicht, ob es stimmt.« »Ihr glaubt ihnen nicht?« Sie zuckte mit den Schultern, zögerte, wollte nicht mehr dazu sagen. Als das Schweigen unangenehm wurde, sprach sie weiter. »Die Mädchen, die geraubt wurden, waren nur die Töchter von Bediensteten. Zwei waren Sklaven - ihre Eltern hatten sie in den Dienst verkauft, um ihre Schulden gegenüber Ravnholts Verwalter zu begleichen.« »Hat Ravnholts Verwalter nicht versucht, diese verlorenen Seelen zurückzubekommen?«
»Der Verwalter ist bei dem Überfall getötet worden.« »Und wer hat jetzt dort das Sagen?« Ihr dunkler Blick passte zu dem trüben Tag und dem unheilvollen Wind in den fernen Bäumen. »Edelmann Jeoffrey hat das Land brachliegen lassen. Er sagte, er würde sich später darum kümmern. Aber wir müssen dringend pflanzen. Sicherlich wisst Ihr ... es ist schwer, ans Pflanzen zu denken, wenn es immer noch jede Nacht Frost gibt. Die Apfelbäume sind von Schädlingen befallen. Möglicherweise gibt es dieses Jahr gar keine Apfelernte. Im Süden hat eine schwarze Fäulnis den Roggen erwischt...« Sie sah ihn von der Seite an, errötete dann wieder. »Aber das müsst Ihr eigentlich wissen, nicht wahr? Denn dort hat man Euch gefunden, im Süden, bei einer Mühle.« 252 »Wahnsinnig, wie man mir erzählt hat«, sagte er, als sie zu der Kirche mit dem schmalen Portal kamen. Er trat in den Schatten und drehte sich zu der Kastellanin um, die noch im gedämpften Tageslicht stand. »Nicht wahnsinnig«, sagte sie vorsichtig. »Es war die Tanzwut, Herr.« »Nicht nur, nehme ich an. Ich hatte eine Kopfverletzung. Lange Zeit bin ich ohne meine treuen Hunde umhergewandert. Ich war verloren und blind.« Er schnippte mit den Fingern, und die Hunde kamen schwanzwedelnd zu ihm und leckten ihm die Hände. Er tätschelte sie liebevoll und rieb seine Knöchel an ihren großen Köpfen, wie sie es mochten, und kratzte sie hinter den Ohren. Sie rang die Hände, den Blick auf den Boden gerichtet. »Und jetzt seid Ihr zu uns zurückgekehrt, Herr.« »Nein«, erwiderte er freundlich. »Ich bin nur auf der Durchreise. Ich werde nicht bleiben.« Sie weinte, sagte aber nichts. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Verzweifelt nicht«, sagte er. »Der Mensch, den Ihr sucht, wird kommen.« Er begab sich ins Hauptschiff, das so düster war, dass er nach vier Schritten stehen blieb und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Hunde hechelten neben ihm. »Kommt«, sagte er schließlich. Sie gingen zu der Bahre, die in der Mitte des Hauptschiffes aufgestellt war; Bänke standen beiderseits davon. Rage und Kummer ließen sich am Fuß der Bahre nieder, unterhalb von Schrecken, und Alain kniete sich neben Lavastins rechter Hand hin. Die Statue war mit einem langen weißen Leinenhemd und darüber mit einer Wolltunika in Blau bekleidet, der Lieblingsfarbe von Lavastin. Das Kleidungsstück wirkte gut gebürstet, wenn auch etwas staubig. Der Saum bestand zur Hälfte aus einer bestickten Borte mit springenden schwarzen Hunden
252 eine mühsame Arbeit, die jemand mit sehr viel Erfahrung ausgeführt hatte. Er fragte sich, ob die Stickerei erst kürzlich begonnen worden und noch nicht beendet war oder ob die aufrichtige Arbeit der Frau unterbrochen worden war. Lavastins Füße waren auf verletzliche Weise nackt, und seine scharfen Gesichtszüge waren so vertraut wie immer, der Bart ordentlich gestutzt und die Augen geschlossen. Zweifellos hielten die Menschen, die neu nach Lavas kamen, dies für eine meisterhafte Bildhauerarbeit. Wer würde glauben, dass dies Lavastin selbst war? Alain neigte den Kopf, legte seine Stirn an die kühle Wange. »Ich bitte dich«, flüsterte er. »Vergib mir, dass ich gelogen habe. Ich habe diese Lüge aufgegeben, um das Land der Blumenwiesen betreten zu können, aber jetzt, da ich zu dieser Erde zurückgekehrt bin, muss ich sie dir gegenüber bekennen. Ich habe gesagt, dass Tallia schwanger war, um dir Kummer zu ersparen, da ich wusste, dass du fortgehen würdest. Ich bedauere nicht, dass ich dir auf deinem Sterbebett Schmerz ersparen wollte. Ich bedauere nur, dass ich bei der Aufgabe versagt habe, die du mir gestellt hast. Aber es sollte nicht sein. Gott haben es so gemacht. Sie wussten, dass ich nicht dein rechtmäßiger Erbe bin. Wenn Tallia schwanger geworden wäre, hätten sich die Fäden nur noch mehr verwickelt. Aus einer Lüge kann keine gute Herrschaft entstehen. Und, Gott mögen mir helfen, Vater, hätte Tallia mich nicht verraten, hätte ich Adica nie
getroffen. Es tut mir leid, dass ich nicht der Sohn sein konnte, den du dir gewünscht hast, aber das ändert nichts an der Liebe, die ich für dich empfinde.« Als er zu sprechen aufhörte, breitete sich eine so durchdringende Stille in der Kirche aus, dass er glaubte, den leisen Atem der Erde hören zu können, den Atem des Steins. Schwaches Tageslicht fiel auf den Altar, das goldene Gefäß und das Buch der Botschaft, das aufgeschlagen dalag, als wäre die Diakonissin mitten in ihren Gebeten unterbrochen worden. Hinter ihm befand sich die Seitenkapelle, die St. Lavrentius geweiht war, der 253 vor der Zeit von Kaiser Taillefer gestorben war, als er den Kreis der Einigkeit zu den varrenischen Stämmen gebracht hatte. Hier hat es begonnen, dachte er. Er hatte die Herrin der Schlachten auf dem Drachenrückenkamm gesehen, aber er fragte sich jetzt, ob es Zufall oder Schicksal oder freier Wille gewesen war. Entsprach es ihrem Wesen, bei Sturm über diesen Pfad zu reiten? War es nur Zufall gewesen, dass sie sich dort getroffen hatten? Oder war sie absichtlich diesen Weg entlang geritten, weil sie gewusst hatte, dass sie ihn treffen und er keine andere Wahl haben würde, als jene zu retten, die er liebte, indem er sich ihrer Sache verschwor? Hier lag die Antwort, in diesem düsteren Hauptschiff. Darunter befand sich die Krypta, in der die Grafen von Lavas ihren Todesschlaf hielten, obwohl ihre Seelen sicherlich zur Kammer des Lichts aufgestiegen waren. Hier im Seitenschiff lag der Letzte vom Geschlecht Charles' des Älteren. Was hatte er verborgen ? Kummer bellte leise, und als Antwort hörte Alain, wie in der Nähe des Altars von St. Lavrentius Mäuse in ihre Verstecke zurückhuschten. Einst - vor langer Zeit - hatten etwa um die gleiche Jahreszeit er und Simplizius in dieser Kapelle gekniet; Simplizius hatte geweint, als ein zutrauliches kleines Wesen in seine Hand gekrochen war und sich von ihm das weiche Fell hatte streicheln lassen. Jetzt hörte das Rascheln und Scharren auf. Die Tür öffnete sich, und ein einzelner Mann trat ein, dessen Gesicht im Schatten lag und nicht zu erkennen war. »Ihr seid gekommen«, sagte der Mann eher traurig als wütend, aber da war durchaus auch von Angst gedämpfte Wut. Die Tür schloss sich hinter ihm, und er blieb stehen. »Nehmt es! Nehmt es zurück! Es ist in meinen Händen verrottet!« »Bitte, Edelmann Jeoffrey. Setzt Euch. Ich bin nicht gekommen, um Euch irgendetwas wegzunehmen, das Euch gehört.« Jeoffrey schluckte ein wütendes Schluchzen hinunter, aber er rührte sich nicht. »Ständig habt Ihr mich überlistet! War es 55° nur eine dumme Vorstellung, als Ihr stammelnd und tanzend hier aufgetaucht seid? Habt Ihr es darauf angelegt, dass ich tue, was ich getan habe, damit es so aussieht, als sei ich ein grausamer, harter Mann? Als sei ich jemand, der Angst vor Euch hat?« »Habt Ihr denn Angst?« »Ich habe immer Angst!«, brüllte er. Die Hunde bellten, zuerst Kummer, dann Rage, und er wich einen Schritt zurück. »Sie bewachen Euch also immer noch, diese Tiere.« »Kummer und Rage sind meine treuen Kameraden.« »Was wollt Ihr? Weshalb seid Ihr zurückgekommen?« »Ich bin hier, weil Kastellanin Dhuoda mich gebeten hat, nach Lavas zurückzukehren. Den Winter zuvor habe ich in Osna verbracht, wo ich mich von den Verletzungen meines Körpers und der Wunde in meinem Herzen erholt habe.« »Dhuoda ist eine Verräterin!« »Ist sie das?« »Nein! Nein!« Er schritt vor dem Eingang auf und ab, verschwand hinter einer Säule und tauchte an der Wand wieder auf, drehte sich dort um und ging zurück. Die Mauern hielten ihn gefangen. Er konnte sich nur immer wieder umdrehen und weitergehen. »Sie hat mir gesagt, was sie vorhatte. Sie ist meine Verwandte. Sie hat das Recht, mir zu widersprechen.«
Er blieb vor dem Seitenschiff stehen. Sein Gesicht wirkte blass und gequält, seine Hände waren ineinander verschränkt. »Ist Lavastin Euer Vater gewesen?« Sein Stimme klang rau, als er diese Frage stellte. Er neigte den Kopf einen Augenblick, dann hob er ihn trotzig. Rage wandte ihm das Gesicht zu, rührte sich ansonsten aber nicht. Kummer blieb sitzen, schnüffelte an Schreckens steinernem Hinterteil, als suchte er nach einer Spur. Alain erhob sich. Er ließ eine Hand auf Lavastins regloser Hand liegen, spürte die Ausformungen der Knöchel, den verschlungenen Rand eines versteinerten Rings, der für immer auf dem rechten Zeigefinger gefangen sein würde. Auch der 55* Edelstein hatte sich in Stein verwandelt. Alain konnte sich nicht mehr erinnern, welche Farbe er gehabt hatte. Jeoffrey sprach weiter, die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. »Die Köchin hat gesagt, dass Eure Mutter ihren Körper verkauft hat, um Essen zu bekommen. Sie wurde >Rose< genannt, weil sie so schön war. Sie war so hübsch, dass jeder Mann sie begehrt hat. Die Köchin hat gesagt, dass jeder, der hier gelebt hat und alt genug war, seinen Eimer in ihren Brunnen zu tauchen, Euer Vater hätte sein können, denn viele haben es getan. Sie hat niemanden abgewiesen. Lavastin war der Einzige, der sie nicht haben wollte. Er wollte nichts, was andere Männer benutzt hatten. Er hat nie mit ihr geschlafen, so sehr sie auch versucht hat, ihn zu verführen. Das hat Alma mir gesagt. Als mein Vetter Euch erhoben hat, hat sie geschwiegen, weil sie Angst hatte, ihn zu beleidigen. Weil sie Angst hatte, zum Schweigen gebracht zu werden!« Er keuchte wie jemand, der zu schnell gelaufen war. »Was sagt Ihr dazu?«, fragte er. »Tatsächlich glaube ich«, sagte Alain, »dass der schwachsinnige Simplizius Lavastins unehelicher Sohn war.« Jeoffrey atmete zischend aus, sagte aber nichts. »Ich glaube nicht, dass ich entsprechend der Gesetze der Nachfolge, des Blutes also, Lavastins Sohn war. Aber ich habe >Vater< zu ihm gesagt, und er hat mich >Sohn< genannt. Ich kann jetzt nicht zu Euch sagen, dass diese Worte mir nichts bedeutet hätten.« »Sie bedeuten nichts Rechtmäßiges!« »Was sie bedeuten, ist nur für mich wichtig, und es war wichtig für ihn. Das ist alles.« »Was wollt Ihr, verflucht?« »Lasst mich Euch ansehen«, sagte Alain. Nach einigem Zögern trat Jeoffrey näher. Im Licht des Herdfeuers konnte Alain das Gesicht des anderen Mannes erkennen. Jeoffrey hatte sich verändert. Er hatte einmal sehr viel jünger und unbekümmerter ausgesehen, war ein ziemlich gut 254 aussehender Mann gewesen, aber jetzt war sein Gesicht von Furcht gezeichnet. Der Mund war auf eine Art und Weise verzogen, dass er dem ganzen Gesicht einen finsteren Ausdruck verlieh, der so tief eingegraben war, als wäre er in Stein gemeißelt. Mehrere tiefe Falten auf der Stirn zeugten von Verzweiflung. »Etwas plagt Euch, Edelmann Jeoffrey.« »Dieses Land ist geplagt! Die Gesetze verstummen in Anwesenheit von Waffen, so sagen die Kirchenmütter. Diejenigen, die eigentlich herrschen sollten, werden beiseitegeschoben, und diejenigen, die herrschen, wenden ihren Blick von den Plagen ab, die uns heimsuchen, kümmern sich nur um ihr eigenes Fortkommen, ihre Bereicherung und ihr Vergnügen.« Er schüttelte eine Faust, wenn auch nicht gegen Alain, wie es schien, sondern eher gegen das Schicksal, oder gegen Gott, oder gegen einen unbekannten Menschen, den Alain nicht sehen konnte und nicht kannte. Rage knurrte, und Jeoffrey ließ die Hand sinken, aber er öffnete sie nicht. »So erhalte ich also einen kleinen Teil von dem, was ich Euch gegeben habe, zurück. Seid Ihr gekommen, um Euch daran zu weiden?«
»Ich bin aus einem anderen Grund hier«, sagte Alain und lächelte schwach. »Es ist seltsam, dass ich so lange gebraucht habe und eine solche Straße entlanggehen musste, um es zu erkennen. Bitte, Edelmann Jeoffrey, setzt Euch.« »Nein!« Alain seufzte. Einen flüchtigen Augenblick lang hatte er das heftige Gefühl, als würde sich Lavastins steinerne Haut unter seiner Hand erwärmen. Er atmete in diesem Moment den Pulsschlag eines anderen - so langsam wie der Pulsschlag der Erde, aber nicht weniger gleichmäßig. Tief unten in der Erde strömten die Flüsse aus Feuer, die im Herzen der irdischen Welt brannten, mächtig dahin, und hinter ihnen, so weit weg, dass es war, als wollte man die Sterne berühren, hauste eine alte Intelligenz, gewichtig, aber nicht schwach. Er stürzte hi 255 nunter, erinnerte sich daran, wie die uralten Geister ihn berührt hatten - an jenem Tag, als die Räuber ihn zu Vater Benignus' üblem Lager gebracht hatten. An jenem Tag hatte Alain Vater Benignus getötet, indem er seinen Anhängern enthüllt hatte, dass er nichts weiter war als eine Hülle, die sich am Leben hielt, indem sie sich von den Seelen derer nährte, die er ermordet hatte. Nur sein Skelett blieb übrig, wurde dunkel, wo das Sonnenlicht in die Knochen drang. Der Gestank der Versteinerung verschwand, als Wut hochkochte, und Männer rückten schnauben d und schreiend näher. Rage sprang auf, knurrte wütend. Ein scharfer Schlag krachte gegen seine n Kopf. Keuchend und nach Luft schnappend fuhr er auf, fand sich in der stillen Kirche wieder. Jeoffrey stand steif und überheblich vor ihm. Die Hunde waren reglos, ihre Ohren hingen schlaff herab. Er stützte sich auf Lavastins kalten Arm. »Ich bitte Euch um einen Gefallen, Edelmann Jeoffrey.« »Was wollt Ihr?« »Ich habe ein Kind bei mir, ein Mädchen von sieben oder acht Jahren. Sie ist das älteste Kind von jemandem, den ich meinen Bruder genannt habe, einem guten Mann, der jetzt eine Frau und ein anderes Kind hat. Obwohl er mit der Mutter dieses Mädchens verlobt war, haben sie nie geheiratet. Lasst sie in Eurem Gefolge dienen. Ehrt sie als die Enkelin einer treuen Hausherrin bei Osna. Behandelt sie gut. Lasst sie Kastellanin Dhuoda dienen. Wenn sie genug Verstand hat, um mit Zahlen umgehen und Schreiben und Lesen lernen zu können, lasst sie es tun. Wenn sie diesen Verstand nicht besitzt, lasst sie in der Küche unter Almas Anleitung arbeiten.« Eine Weile sagte Jeoffrey nichts. Schließlich kratzte er sich am Bart, als wäre er verwirrt. »Was bedeutet Euch dieses Mädchen? Wieso habt Ihr sie hergebracht?«
255 »Es wird nichts Gutes dabei herauskommen, wenn sie dort bleibt, wo sie ist. Sie sollte einen neuen Anfang machen, wenn das möglich ist.« »Ist das alles? Ist sie hübsch? Soll sie mich verführen oder einen anderen Mann? Ist sie Euer uneheliches Kind, das das Herz und die Loyalität meiner Tochter verrenken soll, wenn sie mit ihr aufwächst?« »Nichts von alledem. Ein Baum wächst verzerrt, wenn der Wind unaufhörlich an ihm rüttelt. Es wäre besser, wenn sie gerade wachsen kann. Ich hoffe, dass dies hier auf Lavas möglich ist, weit weg von einer ansonsten guten Familie, die sie nicht mag. Das ist alles.« »Ihr habt Euch schon immer um die Unglückseligen gekümmert !« »Spottet nicht über die Unglückseligen, Edelmann Jeoffrey. Sie leiden mehr als wir Übrigen.« »Wegen ihrer Sünden!« »Glaubt Ihr das? Sie leiden wohl eher wegen unserer Sünden. Oder ist es nicht eine Sünde, wegzusehen, wenn man einem Ertrinkenden die Hand reichen könnte? Ist es nicht eine Sünde, zwei Laibe Brot zu essen, wenn man einen davon mit Hungernden teilen könnte? Leiden ist die Aufgabe, die Gott uns gestellt haben. Wir entscheiden, ob wir handeln oder wegsehen wollen. Und so werden wir beurteilt.« Jeoffrey brach zusammen und weinte. »Es ist alles schiefgegangen! Meine Tochter - sie hinkt, seit sie von ihrem Pony gestürzt ist! Meine teure Frau ist kurz nach dem schrecklichen Sturm bei einer Geburt gestorben. Unsere Söhne werden als Geiseln in Autun festgehalten. Im Wald hausen
Räuber und fallen über die Bauern her. Die Pest frisst an unseren Grenzen. Huffäulnis befällt unsere Schafe und unser Vieh. Die Vögel sind geflohen, als würden wir in einer Wüste leben. Und so geht es weiter, immer weiter! Es ist zu viel, um alles aufzuzählen! Wie habe ich Gott beleidigt?« »Ihr kennt die Antwort besser als ich, Edelmann Jeoffrey. 256 Fragt besser danach, wie Ihr die Dinge wieder in Ordnung bringen könnt. Glaubt Ihr, dass Eure Tochter die rechtmäßige Erbin von Lavas ist?« »Es gibt niemanden sonst, von dem ich wüsste.« »Wenn so jemand auftauchen würde, würdet Ihr diesem Menschen die Treue schwören?« »Es kann niemand anderen geben, der einen Anspruch besitzt! Gräfin Lavastina hatte nur zwei Söhne, nämlich Charles und - achtzehn Jahre später - Jeoffrey den Ersten, meinen Großvater. Dort liegt mein Vetter.« Er deutete auf die Bahre. »Er ist der Letzte des älteren Geschlechts. Ich bin der einzige überlebende Nachkomme des jüngeren. Wen könnte es sonst noch geben?« »Habt Ihr Euch nie gefragt, wie der ältere Charles an die furchterregenden Hunde gekommen ist?« Jeoffrey zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die Antwort nicht«, sprach Alain weiter. »Aber ich mache mir Gedanken. Furcht hat mich verlassen, um einen anderen zu suchen. Und es hat jemanden gegeben, den die Hunde gefürchtet haben. Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen ?« »Ihr sprecht in Rätseln, um mich zu quälen!« »Vergebt mir. Etwas ist schon vor langer Zeit in Lavas schiefgelaufen. Wenn wir es in Ordnung bringen, könnte es so sein, als würde man einen Stein in einen stillen Teich werfen. Die Wellen könnten sich bis an den Rand ausbreiten.« »Das sind Geheimnisse! Mutmaßungen! Wenn Ihr Lavas nicht beansprucht, was spielt es für Euch dann für eine Rolle, wer es tut?« »Die Gerechtigkeit spielt eine Rolle.« Jeoffrey zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Da ist noch mehr! Wer ist Euer Vater?« Alain schüttelte den Kopf, als er derart von seinen Gedanken abgelenkt wurde, und tatsächlich war er auch etwas verärgert, aber er schüttelte die Gereiztheit ab. »Mein Vater? Henri aus Osna ist mein Vater. Ebenso wie Graf Lavastin. Wie vielleicht
256 auch der Schatten des verlorenen Prinzen in der Ruine auf dem Hügel. Es könnte auch der Mann gewesen sein, der mein Großvater war, sofern er mit seiner eigenen Tochter beisammen gewesen ist. Oder ein anderer Mann, dessen Namen ich niemals gehört und den ich niemals kennengelernt habe. Dies ist die Wahrheit.« Er nahm die Hand von Lavastins Arm und trat zwischen die Hunde, so nah vor Jeoffrey, dass er ihn hätte berühren können. »Mein Weg ist von dem Tag an vorgezeichnet gewesen, als die Herrin der Schlachten mich herausgefordert hat. Ich weiß, wem ich die Sohnesliebe schulde. Abgesehen davon kümmert es mich nicht, weil es keine Rolle spielt.« »Das ergibt keinen Sinn für mich. Ihr sagt, dass Ihr meine Herrschaft als Regent für meine Tochter nicht herausfordern wollt, oder ihren Anspruch, es sei denn, es käme jemand, der einen besseren Anspruch auf Lavas hat als wir. Ihr sagt das, obwohl Ihr wisst, dass es keine anderen überlebenden Nachkommen von Charles dem Älteren und Jeoffrey dem Ersten gibt.« »Ich habe keinen Grund zu glauben, dass es von jenen Männern andere Nachkommen gibt als Euch, Eure Tochter und Eure Söhne.« »Aber wie soll dann -? Was -? Ihr glaubt also, es gibt andere Nachkommen von meiner Urgroßmutter Gräfin Lavastina. Sie hatte keine überlebenden Geschwister, keine Nichten und Neffen, die Charles dem Älteren seinen Erbteil hätten streitig machen können. Die Familiengeschichte ist von Lavas' Geistlichen sorgfältig niedergeschrieben worden, und nichts deutet auf so etwas hin!« Er lächelte, aber es war ein von Spott verzerrtes Lächeln. »Wenn bewiesen werden könnte, dass es einen rechtmäßigen Anwärter gibt, würdet Ihr beiseitetreten?« »Meine Tochter erbt nichts außer der Grafschaft Lavas.«
»Wenn bewiesen werden könnte, dass es eine Person gibt, deren Anspruch ihren übertrifft, würdet Ihr ihren Anspruch zurückziehen?« Jeoffrey machte eine weit ausholende, unbekümmerte Ges 257 te mit der Hand. Kummer bellte angesichts der plötzlichen Bewegung, beruhigte sich aber auf ein Wort von Alain wieder. »Wieso nicht? Ihr seid ein Narr, so etwas zu sagen! Wenn Ihr mir versprecht, keinen eigenen Anspruch zu erheben und den Anspruch zurückzugeben, den Lavastin in Eurem Sinne erhoben hat, werde ich versprechen, dass ich einen Anspruch anerkenne, der den meiner Tochter übertrifft. Aber er muss einer eingehenden Betrachtung standhalten! Bischof in Constanze oder ein Rat von Kirchenleuten von ähnlicher Autorität muss die Echtheit dieses Anspruchs bezeugen. Ihr könnt mir nicht einfach irgendein Mädchen unterschieben - ist es das? Ist das die Geschichte dieses Mädchens, das Ihr bei mir lassen wollt?« »Nein. Sie ist die unerwünschte Enkelin einer Hausherrin aus Osna, weiter nichts.« »Also schön! Wir werden diese Versprechen öffentlich abgeben und niederschreiben lassen. Ihr werdet gehen und mich und meine Tochter in Frieden lassen!« Alain lächelte traurig. »Ihr solltet Euer Versprechen nicht leichtfertig abgeben, Edelmann Jeoffrey, und schon gar nicht, weil Ihr glaubt, dass es nicht auf Euch zurückfallen kann.« »Ich möchte, dass Ihr noch vor Sonnenuntergang von hier verschwunden seid!« »So sei es.«
3 Draußen wartete ein Wachtrupp auf Jeoffrey, ein Dutzend mürrisch dreinblickender Männer, die den Grafen und Alain gemeinsam mit Meistrin Dhuoda zur Halle begleiteten. Die Kastellanin rang gereizt die Hände, während sie gingen. »Wartet hier, bis genügend Leute versammelt sind, die bezeugen können, was sie sehen und hören«, sagte Jeoffrey schroff zu Alain, nachdem sie die Halle betreten hatten. Er
257 nahm seinen Hauptmann beiseite und gab ihm Befehle, dann schickte er Dhuoda los, um seine Tochter aus dem oberen Stockwerk zu holen. Alain setzte sich auf eine Bank in der Ecke der Halle. Die Hunde lagen zu seinen Füßen. Er saß vollkommen ruhig da, und als die meisten Wachen weggegangen waren, um die Leute zusammenzuholen, wirkte es, als wäre er vergessen worden. An diesem kalten Frühlingsnachmittag hielt sich niemand in der Halle auf. So, wie die Tische standen, schien seit geraumer Zeit kein Festmahl mehr abgehalten worden zu sein. Der Hohe Tisch war an die Wand des Podestes geschoben worden, doch ohne Stühle oder Bänke. Zwei Tische und Bänke standen nebeneinander bei der großen Herdstelle, in der ein Feuer brannte, auch wenn es die Ecke nicht zu wärmen vermochte, in der Alain wartete. In den guten Tagen unter Lavastin hatten achtzig bis hundert Leute bei einem großen Festmahl in der Halle Platz gefunden. Jetzt sah es so aus, als würde - an wärmeren Tagen - ein Dutzend beim Feuer essen, während die Leute ansonsten in ihren eigenen Räumen oder Häusern aßen oder in den Unterkünften und Küchen. Der Boden war erst kürzlich gefegt worden; nur gleich links neben der doppelflügeligen Eingangstür lag ein bisschen Vogeldreck. Alain starrte zu den Dachsparren bei der Tür. Zwei Schwalben hatten dort immer ihr Nest gebaut, waren geduldet worden, weil es hieß, dass Schwalben Glück brachten, aber er sah von ihnen keine Spur. Von draußen erklang Stimmengemurmel, aber es kam niemand an den zwei Wachen vorbei, die vor dem Eingang standen und deren Rücken Alain sehen konnte. Einst, vor langer Zeit, hatte er auf dem Hohen Sitz gesessen und über Lavas -über Land und Leute - geherrscht. Er trauerte dem, was er verloren hatte, nicht nach. Diese Zeit kam ihm wie ein Traum vor, wie etwas, auf das er einen Blick erhascht, das er aber niemals richtig in Händen gehalten hatte. Einst hatte Tallia als seine Frau neben ihm gesessen. Wie er sie geliebt hatte! Aber was 257
hatte er wirklich geliebt? Einen Traum. Einen Wunsch. Eine Illusion. Sie war nicht die Frau, die er in seinem Geist aus ihr gemacht hatte. Vielleicht kann man nur dort betrogen werden, wo man sich blenden lässt. Wenn man weiß, dass ein bestimmter Mensch schlecht oder nicht vertrauenswürdig ist, darf man nicht überrascht sein, wenn er unehrlich ist oder auf eine Weise handelt, die anderen Schaden zufügt. Wenn man richtig hinsieht, kann man nicht überrascht werden. Es war leicht, sich an jene Zeit zu erinnern und Tallia als das zu sehen, was sie wirklich war: ein schwacher Charakter, kleinlich, verängstigt, auf engstirnige Weise grausam - und immer bestrebt, ihren Willen zu bekommen, ohne dabei an andere Menschen zu denken. Das zerbrochene Gefäß, so hatte Hathumod sie genannt, zu zerbrechlich, um das Gewicht der Ketzerei zu bewahren, das sie mit der Autorität derjenigen beanspruchte, die bezeugt hatte. Sie hatte gelogen, was den Nagel betraf, aber wenn er jetzt an seine traurige Ehe zurückdachte, musste er zugeben, dass sie nicht gelogen hatte, was ihren »Wunsch« betraf, ihn zu heiraten. Ihr Onkel hatte sie zu dieser Heirat gezwungen. Sie hatte von Anfang an offen gesagt, dass sie jeden Tag und jede Nacht für eine keusche Ehe und ewige Jungfräulichkeit betete. Er hatte so sehr etwas anderes glauben wollen, dass er am Ende Lavastin verraten hatte. Er hatte einen Mann angelogen, den er geachtet und geliebt hatte. Nun gut. Es war geschehen und konnte nicht rückgängig gemacht werden. Staub sank um ihn herum langsam herab. Kummers Schwanz klopfte auf den Boden. Draußen wieherte ein Pferd, als wollte es ein anderes herausfordern. Hinter ihm öffnete sich knarrend eine Tür. Er fragte sich, ob er den zweiten Verrat, den Tallia bei den Minen an ihm begangen hatte, nur geträumt hatte. Jene Monate kamen ihm so zersplittert und bruchstückhaft vor, als würde er nur einzelne Fetzen kennen, die nicht wieder zu einem ganzen Wandteppich zusammengesetzt werden konnten.
258 Tallia war schwanger gewesen, und sie hatte ihrem Verwalter befohlen, ihn in das Loch zu werfen, weil sie ihn erkannt und gefürchtet hatte, dass er sie erkennen und ihr schaden würde. Welcher Verrat war schlimmer gewesen ? Dass sie versucht hatte, ihn zu töten, oder dass sie einem anderen Mann das gegeben hatte, was sie ihm verweigert hatte? Begierde ist ein Dämon, der seine Opfer verschlingt, während sie noch leben und atmen. Und dennoch. Was sie ihm verweigert hatte, hatte Adica ihm bereitwillig und mit der Süße von Wiesenblumen gegeben. Wer konnte sagen, welche Frau sich mehr achtete? Diejenige, die ihm gab, was ihr kostbar war - oder diejenige, die log, um alles für sich zu behalten? »Ich bitte um Vergebung, Herr. Verzeiht mir.« Er warf fast die Bank um, so verblüfft war er, als er die vertraute Stimme hörte. Die Hunde blieben still. Rages Schwanz klopfte einmal auf den Boden. Alma verbeugte sich unbeholfen, da ihr Rücken steif war. Er wischte sich über die Stirn und schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu vertreiben. Dann nahm er ihre Hand, während er aufstand. »Verbeug dich nicht, Alma. Bitte. Oh, da ist ja Blanche!« Das Mädchen drängte sich an ihn, umarmte ihn. »Ich muss sprechen, bevor die anderen kommen«, sagte die Köchin. »Sie lassen sie noch nicht herein. Ich bin durch den Hintereingang reingekommen.« »Setz dich bitte.« »Ich stehe lieber, Herr, das ist mit meinen schmerzenden Knochen leichter. Ich möchte nur sagen, was ich zu sagen habe, dann werde ich Euch nicht mehr belästigen.« »Also sprich.« Sie hatte einige Zähne verloren, weshalb ihre Wangen eingefallen wirkten, aber ihr Blick war immer noch fest und klug. »Ich bitte um Vergebung, Herr. Ich wollte nicht, dass Edelmann Jeoffrey Euch in Verruf bringt. Letztes Jahr habe ich ihm
56a erzählt, was ich wusste, weil er die Wahrheit von mir wissen wollte.« »Du hast nichts gesagt, was du nicht für wahr gehalten hast. Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Trotzdem tut es mir leid. Ich hätte nie gedacht, dass er Euch so grausam behandeln würde. So würde ich ja nicht einmal einen Hund behandeln, wie er Euch angekettet und eingesperrt hat! Und das habe ich ihm auch gesagt.« »Dann hast du mir einen Dienst erwiesen, denn du hast gesprochen, als du hättest schweigen können. Es ist in Ordnung.« Er tätschelte Blanches Kopf. »Was ist mit dem Mädchen?« »Oh, mit ihr?« Der gequälte Blick verschwand. Sie lächelte breit und zupfte liebevoll am Ohr des Mädchens. »Was für ein arbeitsames kleines Wesen sie doch ist! Sie ist die ganze Zeit bei mir geblieben und hat alles gemacht, was ich von ihr verlangt habe. Sie ist gut mit dem Messer! Sehr geschickt, was man bei einem Kind in ihrem Alter nicht oft sieht. Ich kann längst nicht alle Mädchen zum Schälen und Schneiden einsetzen. Sie hat Rüben und Pastinaken gewaschen und die weichen Stellen rausgeschnitten, von denen es viele gibt, denn dies ist der Rest unserer Wintervorräte, und einige von ihnen sind fast nur noch Matsch.« Blanche errötete, verbarg ihr Gesicht halb in Alains Gewand, aber sie lächelte stolz. »Wirst du sie dann in der Küche als Hilfe behalten? Und dich um sie kümmern? Kannst du das tun?« »Für Euch, Herr? Gern. Ich schwöre Euch, dass ich für sie sorgen werde wie für meine eigene Enkelin.« »Du bleibst hier, Blanche.« »Ich möchte mit dir gehen, Onkel«, sagte sie in den Stoff hinein. »Das geht nicht.« Er musste es nur ein einziges Mal sagen. »Du bleibst hier. Sag mir, dass du das verstanden hast.« Sie sprach mit gedämpfter Stimme, während ihre Arme ihn umschlangen. »Ich bleibe bei Alma.«
259 Mehrere Soldaten betraten die Halle, bezogen beiderseits des Podestes Position. Zwei Bedienstete trugen den Stuhl des Grafen aus einem anderen Raum herein und stellten ihn vor dem Hohen Tisch ab. Hinter den Soldaten traten andere Burgund Dorfbewohner vorsichtig in die Halle, strömten herein wie das wirbelnde Wasser eines Flusses in einen Seitenarm. Ein paar kamen zu ihm geschlichen, knieten heimlich nieder und flüsterten Worte, die er bei dem ganzen Geschlurfe und Gemurmel nicht verstehen konnte. Eine Tür knallte - sie war entweder aufgerissen oder geschlossen worden. Die Versammlung beruhigte sich, als Edelmann Jeoffrey mit seiner jungen Tochter eintrat. Sie hatte ein kindliches Gesicht und war klein und schlank und humpelte deutlich, aber trotz ihrer Blässe reckte sie das Kinn, und ihr Blick war fest, als sie erst Alain und dann die versammelten Soldaten und die anderen Menschen musterte, für die sie als Gräfin von Lavas verantwortlich war. Die Hunde knurrten, aber das Geräusch war zu leise, als dass jemand außer ihm es hören konnte, höchstens vielleicht noch Blanche. Lavrentia war die Einzige, die sich setzte. Selbst ihr Vater blieb stehen. »Lasst mich Euren Schwur hören«, sagte sie mit heller, klarer Stimme. Sie hob die Hand, um ihm die Erlaubnis zu geben, näher zu treten, und Alain lächelte, als er die Geste sah, denn sie hatte etwas von Lavastins Entschlossenheit. Er löste sich von Blanche, reichte sie an Alma weiter und ging die beiden Stufen hinauf, um auf gleicher Höhe mit dem Mädchen zu stehen. Doch er trat nicht an den Stuhl heran und kniete auch nicht vor ihr nieder. Stattdessen wandte er sich der Menge zu. Die Hunde standen nebeneinander auf der ersten Stufe, und die Soldaten wichen vor ihnen zurück. »Bitte, hört zu!« Als hätte sich ein Bann über die Menge gelegt, wurden alle ruhig und lauschten. Nicht ein einziges Murmeln störte die Stille, wenngleich jemand hustete.
259 »Ich gebe diese Erklärung aus freiem Willen ab und nicht etwa, weil ich irgendwie unter Druck gesetzt worden wäre. Ich bin auf eigene Veranlassung in Begleitung von Kastellanin Dhuoda hierhergekommen. Ihr kennt mich. Ich heiße Alain. Ich bin hier auf Lavas geboren und bei Zieheltern in Osna aufgewachsen. Graf Lavastin, gesegnet sei sein Andenken, hat geglaubt, dass
ich sein unehelicher Sohn wäre, und mich zu seinem Erben ernannt. Ich habe einige Monate auf dem Stuhl des Grafen gesessen, ehe König Henry persönlich die Grafschaft in die Hände von Lavrentia gelegt hat, der Tochter von Jeoffrey. Das alles wisst ihr.« Jeoffrey war weiß und zitterte, und seltsamerweise war es seine junge Tochter, die ihre kleinen Finger auf die geballte Faust ihres Vaters legte, um ihn zu beruhigen. »Dies muss ich jetzt sagen, damit alle es hören und sich merken können, um es an andere weiterzugeben, die heute nicht hier sind. Ich bin nicht Lavastins Erbe. Ich bin nicht der rechtmäßige Graf von Lavas.« »Nein! Nein! Sagt das nicht, Herr!« »Wir werden solche Lügen nicht glauben!« »Ich wusste, dass er ein habgieriger Gauner ist.« »Was ist mit den Hunden?« »Bitte!«, sagte Alain. »Gewährt mir bitte etwas Ruhe.« Das taten sie. Irgendjemand hustete, ein paar Leute scharrten mit den Füßen, als sie sich bewegten, während andere zu murmeln anfingen, aber von zischenden Nachbarn schnell zum Schweigen gebracht wurden. Draußen auf dem Hof ertönte Hundegebell, doch auch das erstarb wieder. »Ich werde diesen Ort bei Sonnenuntergang verlassen, mit nichts weiter als dem, was ich schon vorher bei mir hatte - bis auf eines: das Versprechen von Edelmann Jeoffrey, dass seine Tochter Lavrentia als Gräfin von Lavas herrschen wird, aber beiseitetreten wird, wenn jemand mit einem Anspruch vortreten sollte, der ihren übertrifft und den ein Rat von Kirchenleuten oder Bischöfin Constanze von Autun bestätigt hat.«
260 »Ich schwöre es«, knurrte Jeoffrey. Die Hunde knurrten gemeinsam, als Antwort oder als Herausforderung. Jeoffrey wischte sich über die Stirn. Das Mädchen biss sich auf die Lippe, aber sie rührte sich nicht und zeigte auch sonst keinerlei Angst vor den furchterregenden schwarzen Hunden. Eine Feder kratzte auf Pergament, als ein Geistlicher beim Feuer einen Bericht verfasste. Alain trat vom Podest und ging zu der Bank, wo seine Sachen lagen. Er hob sie auf, pfiff die Hunde zu sich, und bevor irgendjemand etwas tun konnte, küsste er Blanche, verabschiedete sich von Alma und ging zur Tür. Er trat an den Wachen vorbei ins Freie und hatte bereits den Hof überquert, war fast schon beim Tor, als er ein Rauschen vernahm - wie ein langes Ausatmen -, als die Menschen aus der Halle nach draußen eilten, um zu sehen, wohin er ging. Sie strömten zum Tor, und einige gingen ihm zu der Öffnung im Wallgraben nach, wo er auf die nach Osten führende Straße stieß. Eine Handvoll Menschen folgte ihm weiterhin, den ganzen Weg bis zum Wald, ehe es fast dunkel war und er sich schließlich umdrehte und sie freundlich bat, umzukehren, bevor es so dunkel wurde, dass sie nichts mehr würden erkennen können. Ein Junge war dabei; er weinte und trat zu ihm, nahm seine Hand und küsste sie. »Bitte«, sagte Alain. »Weine nicht.« Meister Rodlin war dabei, ohne seine Windhunde, starrte ihn an und fragte: »Was ist mit den Hunden? Sie folgen Euch immer noch. Ist das nicht das Zeichen für das Blut von Lavas? Und wenn nicht, was ist es dann?« »Sie können nicht antworten, denn sie sprechen unsere Sprache nicht«, erwiderte Alain. »Sie haben sich vor langer Zeit entschieden, mir auf meinem Weg zu helfen. Dient dem rechtmäßigen Erben so treu wie Graf Lavastin, Meister Rodlin.« »Wann wird er kommen?«, fragte er.
260 »Wie die Hunde, kann ich darauf nicht antworten. Wenn Lavrentia die rechtmäßige Erbin ist, müsst Ihr ihr mit der gleichen Treue dienen, die Ihr Graf Lavastin erwiesen habt.« Rodlin runzelte die Stirn, nahm aber den Jungen bei der Hand und führte ihn weg. Das Anwesen war von Bäumen verborgen, und der Steinturm versank in einem Zwielicht, in dem die Farben sich mit dem matten Hintergrund vermischten.
Eine war noch da, rieb sich die Hände. »Erinnert Ihr Euch an mich?«, fragte sie. »Werdet Ihr mich verfluchen, weil ich Euch belästigt habe, als Ihr zu uns gekommen seid? Hasst Ihr mich deswegen?« Ihre Augen waren immer noch verblüffend blau, so wie vor Jahren, als er sie kennen gelernt hatte. Sie wirkte wohlgenährt, und ihr Bauch wölbte sich unter ihrem Kleid auf eine Weise, die vermuten ließ, dass sie in der Mitte einer Schwangerschaft war. »Hast du jemals den Prinzen in der Ruine getroffen?«, fragte er. Um ihre Lippen zuckte ein ergebenes Lächeln. »Habt Ihr mich angelogen in jener Nacht, als wir zur Ruine hochgegangen sind?« »Nein, das habe ich nicht. Ich habe ihn gesehen.« »Dann habt Ihr mehr gesehen als ich! Ich habe gesucht, aber nichts gesehen. Vielleicht ist das auch normal für ein Mädchen, das jung und dumm ist. Ich habe einen guten Mann geheiratet, der hart arbeitet und mich, meine jüngeren Schwestern und unser Kind ernähren kann. Es sind jetzt nur noch Schatten in der Ruine.« »Bist du seither noch einmal hingegangen?« »Ich war zur Wintersonnenwende dort, vor ein paar Monaten. Weil ich an Euch gedacht habe, um ehrlich zu sein. Weil wir Euch in dem Käfig gesehen haben. Ich habe es nicht für richtig gehalten. Herik hat es getan, und ich habe ihn dafür verflucht.« Sie machte eine Pause, wartete.
261 »Was willst du?«, fragte er. »Du hast mir kein Unrecht getan und ich dir auch nicht, denke ich.« »Ich wollte Euch nur in der Dämmerung sehen«, sagte sie. »Um herauszufinden, ob Ihr in den Schatten so ausseht, wie der Prinz ausgesehen haben soll. Um zu sehen, ob Ihr sein uneheliches Kind seid, wie einige flüstern. Schattengeboren. Dämonenbrut.« »Glaubst du das?« Sie verwirrte ihn. Sie war sauberer und hübscher als damals und auch gepflegter - sowohl ihre Kleidung als auch ihr Benehmen. Und sie war zwar nicht gerade freundlich, aber auch nicht verächtlich. »Ihr seid nicht, was Ihr zu sein scheint«, sagte sie und wandte sich ab. Sie machte drei Schritte, ehe sie sich noch einmal umdrehte und ihn ansah. »Es war nichts in dieser Ruine, nicht einmal Schatten waren da, denn es hat kein Mond geschienen. Aber wenn Ihr das Weinen von Geistern hören wollt, geht nach Ravnholt.« Das kalte Wetter und die Wolkendecke hatten verhindert, dass der verlassene Pfad, der nach Ravnholt führte, übermäßig zugewachsen war, und auch die paar heruntergefallenen Zweige und die dicke Laubschicht machten ihn kaum weniger begehbar. Gegen Mittag des zweiten Tages nach seinem Aufbruch von Lavas stieß Alain auf die Lichtung. Er fand acht Gräber neben einer Kapelle, die gerade groß genug war, um neben dem kleinen Herdfeuer ein halbes Dutzend Betende aufzunehmen. Aus der Ferne sahen die Gräber frisch aus, aber das lag nur daran, dass so wenig Unkraut auf ihnen gewachsen war. Erst als er näher kam, sah Alain, dass die Erde sich gesetzt hatte und hart geworden war. An der Ecke eines Grabhügels befand sich eine Rehspur, die an den Rändern bröckelte. Eine Ratte huschte in das zerfallene Haupthaus davon, ihr Schwanz verschwand in einem Loch zwischen den Trümmern. Ansonsten war es still. Nein. Da. Er hörte einen schwachen Schrei, und als er aufsah, bemerkte er das in die Länge gezogene »V« eines nach Nor
261 den fliegenden Gänseschwarms. Es konnten nicht mehr als ein Dutzend sein. Er führte eine Hand zum Gesicht, spürte Freudentränen aufsteigen und lächelte. Rage und Kummer schnüffelten in den zerfallenen Gebäuden. Es gab eine Webscheune, einen Abort, zwei niedrige Vorratshütten und drei Bauernhäuser. Der Kuhstall war nicht abgebrannt, aber das strohgedeckte Dach war eingestürzt. Alain stocherte mit seinem Stab in den Trümmern des Langhauses herum, aber er fand nichts, abgesehen von zerbrochenen Schüsseln, zwei halb zerfressenen Körben und den Überresten zweier Strohbetten, die auf dem aschebedeckten Boden zerfielen. Ein Zweig knackte.
»Was wollt Ihr?«, fragte eine Stimme vom Wald her. Sie kam Alain vertraut vor, aber er konnte sie nicht einordnen. »Ich suche nur nach den vier Frauen, die hier gelebt haben und von Räubern verschleppt wurden.« Er spürte einen Atemzug, einen Luftzug, und warf sich auf den Boden. Ein Pfeil zischte über seinen Kopf hinweg und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in den verkohlten Pfosten hinter ihm. Die Hunde rannten laut bellend in den Wald. Als Alain sich wieder aufgerappelt hatte, hörte er einen Mann entsetzt schreien. »Nein! Nein! Ruft sie zurück! Bitte! Was immer Ihr wollt, ruft sie zurück!« Alain eilte durch das Gebüsch und fand einen Mann, der auf dem Boden lag; Kummer stand über ihm. Sein rechtes Handgelenk blutete, wo Rage ihn gebissen hatte. Ein Eichenbogen und ein Pfeil lagen neben ihm. Der Mann zuckte, stöhnte und jammerte, während Kummer seine Kehle anstupste. Eine zerrissene Wolltunika bedeckte seinen Oberkörper. Sie war mit den übergroßen Stichen zusammengenäht worden, die von einer ungeübten Hand zeugten. Seine Hände waren rot vor Kälte. Er war barfuß; die Füße waren rissig und voller Schwielen. Der große Zeh des rechten Fußes war geschwollen, aufgeplatzt, und Eiter und Blut traten aus.
262 Alain hob den Pfeil auf und zerbrach ihn über seinem Knie, dann hängte er die Sehne aus und band den Bogen an sein Bündel. »Gnade! Gnade! Es war meine Sünde! Ich bin der Schuldige!« »Kummer! Sitz!« Kummer setzte sich auf den linken Arm des Mannes und hielt ihn am Boden fest; er knurrte, und Speichel tropfte von seiner Schnauze, während Alain vortrat und dem Mann ins Gesicht sah. »Ich kenne dich. Du bist Herik. Du warst vor sieben oder acht Jahren Soldat auf Lavas.« Der Mann musste sich benässt haben, denn plötzlich stank es beißend nach Urin. »Es tut mir leid! Es tut mir leid! Bitte, vergebt mir!« »Dass du mich gerade töten wolltest?« Herik quasselte weiter. »Es war meine Sünde! Meine!« Alain erinnerte sich - obwohl die Erinnerung mit leichtem Kopfweh einherging. »Du warst derjenige, der mich in den Käfig gesteckt hat.« »Tötet mich nicht! Tötet mich nicht!« »Was ist mit der Belohnung, die du dafür erhalten hast, dass du mich zu Jeoffrey gebracht hast? Sicher hat er dir etwas dafür gegeben ? Wie kommt es, dass du dich nach all dem hier im Wald versteckst und solche Fetzen trägst?« »Sie dürfen mir nicht die Hand abschlagen! Ich habe nichts gestohlen!« »Nur meine Freiheit.« Herik schrie, und sein Bein zuckte, aber Rage leckte nur an dem geschwollenen Zeh. »Ich musste es tun! Ihr wart ein Gesetzloser! Ein Dieb, der schlimmste von allen! Ihr habt Euch genommen, was Euch nicht gehört hat! Alle haben das gesagt!« »Dreh dich auf den Bauch.« »Das Tier wird mich beißen!« Aber er tat es dennoch, zog
262 seinen Arm unter Kummer weg, während der Hund Alain erwartungsvoll ansah. Herik war einmal ein großer Mann gewesen, aber der Hunger hatte ihn verändert. Seine Tunika hatte keinen Gürtel, und ein grobes Band aus Schilf band seine widerspenstigen Haare zurück. Dieser Mann hatte ihn verraten. Aber Alain spürte in sich keine Empörung gegenüber dieser erbärmlichen Kreatur, die keine Schuhe hatte, keine Handschuhe und nur zwei Pfeile - von denen einer jetzt zerbrochen war -, um sich etwas zum Essen zu schießen. Der Mann hatte nicht einmal ein Messer. »Was tust du hier auf Ravnholt?« »Ich habe gehört, dass es hier Wild und Ratten gibt«, sagte Herik. Er hatte den Kopf zur Seite gewandt, um beim Sprechen nicht an der Erde zu ersticken. »Ich habe Hunger.«
»Weißt du, was mit den vier Frauen geschehen ist?« »Nein.« »Ach.« Jahrhunderte zuvor, nach dem Maß, mit dem die Menschheit die Zeit berechnete, war Alain von einer blinden Schlange gebissen worden, die im Bau eines Phönix gelegen hatte. Die Folgen dieses Bisses kreisten immer noch in seinem Blut, und wo das Gift brannte, brannte es voller Wut. »Du lügst, Herik. Ich bitte dich, lüge nicht. Gott wissen die Wahrheit. Wie kannst du sie vor Ihnen verbergen?« »Ich habe niemanden getötet! Das waren die anderen. Sie sind schuldig! Auch hier, auf Ravnholt. Ich habe nur Wache gestanden, ich habe nie jemandem Schaden zugefügt! Nachdem Ihr dem Käfig entkommen seid, nach dem Sturm und diesem Ungeheuer - oh Gott! Damals haben sich alle, die vorher so freundlich zu mir gewesen sind, gegen mich gewandt und mich verjagt! Was konnte ich tun? Diese Waldleute - so nennen sie sich - sind nicht sehr wählerisch!« »Obwohl ein ehrlicher Waldmann etwas dagegen haben könnte, dass ein Haufen von Räubern diesen ehrlichen Namen benutzt.«
263 »Wir hatten Hunger, genau wie die anderen. Wir haben nur dafür gesorgt, dass wir etwas zu essen bekommen haben.« »Indem ihr die Leute von Ravnholt umgebracht habt? Wohin sind die vier Mädchen gebracht worden?« Herik schluchzte hilflos in die Erde. Seine Nase lief. Er stank vor Angst. »Ich bin weggegangen, nachdem sie es getan haben. Ich bin nicht schuldig. Ich habe es nicht getan!« »Nachdem sie was getan haben?« »Sie getötet haben! Nachdem sie sie vergewaltigt und getötet haben. Sie haben gesagt, sie könnten versuchen wegzulaufen. Ich habe gesagt, dass sie sie verschonen sollen. Aber das wollten sie nicht.« »Und du hast keines der Mädchen angerührt?« »Ich habe sie nicht getötet!« »Aber du hast sie vergewaltigt! Ist das nicht schlimm genug? Und du hast daneben gestanden und sie sterben lassen! Befleckt das deine Hände nicht mit ihrem Blut? Wer nicht handelt, um Unschuldige zu retten, ist ebenso schuldig wie derjenige, dessen Hand den Schlag führt!« Diese Worte veranlassten Herik, sich auf der Erde zu winden, als hätte er einen Anfall. »Dreh dich um und setz dich auf.« Herik hörte auf zu schluchzen und drehte sich vorsichtig auf den Rücken, dann setzte er sich auf und strich sich Laub, Erde und Zweige von den Lumpen. Er sah zuerst Rage an, die wieder an seinem entzündeten Zeh lecken wollte, dann Kummer, der mit weit geöffneter Schnauze gähnte und seine Zähne zeigte. Alain musste ein paar Mal tief durchatmen, um seine Wut im Zaum zu halten. »Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst, was diese vier Mädchen betrifft, aber ich möchte ihre Gräber sehen.« »Es gibt keine Gräber! Die anderen haben ihnen die Kehlen durchtrennt und sie in das Gebüsch geworfen, das ist alles!« »Dann wirst du ihre Leichen begraben. Führe mich zu ihnen.«
263 »Nein! Es ist in der Nähe des Schlupfwinkels. Wir werden getötet werden, wir beide. Zwanzig von ihnen gegen uns zwei. Ich habe keine Waffe mehr, seit Ihr sie mir weggenommen habt... es sei denn, Ihr wollt mir meinen Bogen zurückgeben.« »Nein, das will ich nicht. Los, komm.« »Wir gehen nicht dorthin, oder?« Seine Stimme wurde vor Angst schrill. »Ich will nicht sterben.« »Wollten diese Mädchen sterben? Haben sie geweint und gefleht, Herik? Hast du ihre Bitten gehört, während du daneben gestanden und zugesehen hast?« »Ich habe mich umgedreht!«, sagte er entrüstet. »Ich bin kein Ungeheuer, das zusieht, wie jemand umgebracht wird!«
»Wenn das Umdrehen nicht bereits die Tat eines Ungeheuers ist, was ist es dann?« Alain machte eine Geste mit der Hand. Die Hunde wedelten mit den Schwänzen, warteten auf seinen Befehl. »Wohin gehen wir?« »Nach Lavas.« »Nein, nicht dorthin, bitte! Sie werden mich hängen! Sie werden mir erst die Hände abhacken und dann den Kopf!« »Wenn du nicht schuldig bist, wieso fürchtest du dann ihre Gerechtigkeit?« Herik spuckte auf den Boden. Rage knurrte. »Seid Ihr so weise?«, schnaubte er höhnisch. »Welche Gerechtigkeit gibt es dort wohl für einen Mann wie mich? Ich habe dem alten Grafen treu gedient, und was habe ich für meinen guten Dienst bekommen? Ich bin von dem neuen Herrn ohne ein Wort des Dankes hinausgeworfen worden! Ein alter Jagdhund wird besser behandelt, als sie mich behandelt haben! Edelmann Jeoffrey wird mich hängen lassen, schon um nicht noch einen Esser mehr zu haben. Er war glücklich damit, mir Stiefel und Kleidung und eine Handvoll Skeattas zu geben, als ich Euch zu ihm gebracht habe, so dass er Euch überall in der Grafschaft zur Schau stellen konnte! Weil er dachte, dass die Leute dann aufhören würden zu flüstern! Und danach -« Er 264 spuckte erneut aus. »Nach dem Sturm, nachdem Ihr entkommen seid, haben diejenigen, die am meisten gejubelt haben, als sie Euch so wahnsinnig und angekettet gesehen haben, mich geschlagen und angespuckt und als bösen Mann bezeichnet. Weil sie fürchteten, dass Gott den Sturm geschickt hatten, um Euch zu befreien. Wieso sollte ich ihre Gerechtigkeit nicht fürchten? Sie werden froh sein, mich hängen zu sehen, um die Schande von ihren eigenen sündigen Herzen zu nehmen.« »Ich werde dafür sorgen, dass dir Gerechtigkeit widerfährt.« Herik lachte hysterisch. »Wie könnt Ihr das tun? Wie? Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr? Was ist mit dem Wahnsinn passiert, der an Euch gezehrt hat?« Alain stellte fest, dass noch immer Groll in seinem Herzen war. »Es ist ein bisschen spät, solche Fragen zu stellen, nicht wahr?«, sagte er mit einem verbitterten Grinsen. Dann drehte er sich um und ging davon. Es raschelte - und dann waren ein dumpfes Geräusch und ein Schmerzensschrei zu hören. Alain drehte sich um und sah Kummer wieder auf Heriks Brust sitzen. Mit einem Knurren öffnete der Hund die Schnauze und schloss die Kiefer sanft direkt über Heriks Gesicht. »Komm«, sagte Alain energisch. Kummer wich zurück, kratzte sich an einem Ohr, als wüsste er nicht, wofür sie da waren, und folgte Alain. Schluchzend stand Herik auf und humpelte hinter ihnen her. Rage bildete den Abschluss. »Einer ist immer wach«, sagte Alain. »Der eine oder der andere.« »Ich komme! Ich komme!« Herik stolperte vorwärts wie jemand, der seinem Tod entgegenging. Und so musste es ihm auch vorkommen, dachte Alain. Es mochte sogar wahr sein. Doch wie wenig Gnade Herik aufgrund seiner Feigheit und der Vergewaltigungen auch verdiente, er durfte letztendlich nur für die Sünden verurteilt werden, die er begangen hatte. Er durfte nicht zu einem Opfer für die 264 jenigen werden, die sich mit dem Blut eines anderen von ihrer eigenen Schande reinwaschen wollten. Sie gingen schweigend, und nur das Säuseln des Windes, der durch die Zweige wehte, die noch immer bar jeder Knospe waren, durchbrach die Stille. Abgesehen von den Stellen, an denen Immergrün wuchs, konnte man immer wieder in den Wald hineinsehen, der ein Ort gedämpfter Farben und durchdringender Einsamkeit war. Sie kamen an einer alten Kohlengrube vorbei, die zwei oder drei Jahreszeiten nicht benutzt worden war. Blätter und Erde bildeten feuchte Haufen, und ein halb verbranntes Stück Holz war von Reben überwuchert. Eine Lichtung bei einem Fluss war von Menschenhänden in einen kleinen Obstgarten mit einem Dutzend Bäumen verwandelt
worden. Weiter vorn gab es eine breite Wiese mit einem robusten Unterschlupf für eine Schafherde. »Dies war einmal ein friedlicher Ort«, sagte Alain. »Gepflegt und geliebt.« »Möglicherweise«, murmelte Herik. »Aber sie haben sich dennoch ein Mädchen aus Salia gehalten, das dem Sohn des Verwalters in jeder Hinsicht gedient hat.« »Woher weißt du das?« »Sie konnte sich befreien und ist zu den Räubern gekommen, deshalb. Sie hat den Plan ausgeheckt und das Signal gegeben. Sie kannte die Abläufe und die Zeiten des Haushalts, deshalb. Die anderen sagten, dass sie denjenigen selbst getötet hat, der sie missbraucht hat, aber das habe ich nicht gesehen.« »Hat sie keine Einwände erhoben, als die vier Mädchen auf die gleiche brutale Weise behandelt wurden wie sie? Sogar noch schlimmer, da sie danach ja getötet wurden?« »Was hätte sie es kümmern sollen? Sie wollte Rache, und sie hat ihre Rache bekommen. Sie hat am lautesten davon gesprochen, dass sie nur stören würden und weg sollten. Ich vermute, dass sie eifersüchtig war. Sie hat die Männer gerne an der Leine gehalten, wenn Ihr wisst, was ich meine. Dieses Mädchen aus Lavas, Witti, die ich gemocht habe, hat das auch mit 265 mir gemacht, verflucht sei sie. Und dann ist sie zu jemandem gegangen, der sie ernähren konnte.« Seine Stimme war voller Selbstmitleid. »Das salianische Mädchen hat auch gesagt, dass die anderen Mädchen ihr mit Worten und Schlägen zugesetzt hätten, als sie noch als Konkubine gehalten wurde. So war es also eine doppelte Rache.« »Könnte sie gelogen haben?« »Inwiefern? Dass sie jede Nacht mit jemandem ins Bett gegangen ist, den sie gehasst hat? Dass die anderen Mädchen sie geschlagen und als salianische Hure beschimpft haben? Woher soll ich das wissen?« Alain marschierte weiter; er konnte nicht sprechen, da Bitterkeit ihm die Kehle zuschnürte. Es schien, dass die Ungerechtigkeit in unerklärlichen Mustern in die Welt eingewoben war, so dass es unmöglich war, sie zu zerreißen, ohne das ganze Netz zu entwirren. »Es scheint so, als wären Gott blind, taub und stumm«, sprach Herik weiter, dessen Klagesegel nun von gutem Wind gefüllt wurden. »Aber ich habe eine Geschichte über den Phönix gehört. Kennt Ihr sie? Es heißt, dass ein Phönix vom Himmel herabgestiegen wäre und dem heiligen Daisan das Herz herausgerissen hätte, um ihn so leiden zu lassen wie uns Übrige. Ich frage mich, ob das wahr ist.« »Ich glaube, dass diese Geschichte beim Erzählen verzerrt wurde.« »Oh. >Die Wahrheit fliegt mit dem Phönix.< Das hat eins von den Mädchen gerufen, als sie ihr die Kehle durchgeschnitten haben. Nun, sie ist auf jeden Fall geflogen, entweder direkt zum Licht oder in den Abgrund.« »Spotte nicht!« Rage bellte, und Kummer knurrte. Herik verlegte sich auf ein mürrisches Gemurmel, das nicht laut genug war, um es verstehen zu können. Sie gingen weiter, und schon bald drangen andere leise Geräusche an Alains Ohren. Er hob die Hand und blieb auf dem 265 Pfad stehen, an einer Stelle, wo er eine Biegung nach links machte. Er erkannte sie wieder, denn er war erst heute Morgen hier vorbeigekommen. Nach etwa vierzig Schritten würden sie auf die Hauptstraße stoßen. Während sie lauschten, hörten sie die Geräusche einer Truppe von Berittenen, die sich den bislang noch nicht sichtbaren Pfad entlang bewegten: klirrendes Geschirr, knirschende Räder, Stimmen und Hundegebell. Kummer jaulte, antwortete aber nicht. Herik wimmerte. Alain drehte sich um und sah, dass Rage den Mann an den Beinen festhielt. Er hatte offenbar versucht, den Weg zurückzuschleichen, den sie gekommen waren. »Das ist eine große Gruppe«, jammerte er. »Hört nur! Mindestens hundert Leute. Edelmann Jeoffrey, der in den Krieg zieht. Vielleicht ist er gekommen, um Euch töten zu lassen!«
Alain schüttelte den Kopf. »Sie reiten nicht von Lavas weg, sondern dorthin.« Er drehte sich zu den Hunden um. »Rage. Kummer. Bleibt. Wacht.« Er bahnte sich einen Weg über herabgefallene Zweige hinweg, die hier viel zahlreicher auf dem Boden lagen, als hätten die Räuber ihre Spuren verwischen wollen. Schon bald hörte er die Geräusche deutlicher, aber es war auch das Kichern von Kindern zu hören und - völlig unerwartet - ein Teil einer Hymne, gesungen von einer Stimme, die er schon einmal gehört hatte, aber nicht recht einordnen konnte. »... die einen Weg zum Meer schufen Und einen Pfad durch das machtvolle Gewässer.« Er kam zur letzten Biegung, wo der Pfad um eine riesige Eiche herumführte, die als Grenzmarke diente. Er erinnerte sich aus früheren Jahren an sie. Der Herbststurm hatte sie halb aus dem Boden gerissen. Ihr riesiger Stamm war in westliche Richtung gefallen, und die Wurzeln ragten wie Dolche auf den Weg hinaus. Er versteckte sich hinter ihnen, musterte von dort aus die Straße.
266 Soldaten ritten zu zweit nebeneinander oder marschierten in Viererreihen. Zwischen ihnen rollten Wagen und Karren mit Haushaltsgegenständen und Kindern, Alten und Hühnerkäfigen. Junge, kräftig wirkende Frauen gingen neben ihnen her, trugen fast alle ein oder zwei Bündel. Zwei Geistliche marschierten neben einem Wagen, auf dem sich einige schöne Kisten befanden. Er sah Hathumod! Sie saß auf einem Wagen bei einer weißhaarigen Frau, die auf Kissen gebettet war, und einer weiteren älteren Frau in den Gewändern einer Geistlichen. Letztere wandte Alain den Rücken zu, aber den Bewegungen ihrer Schultern und Hände zufolge sprach sie auf lebhafte Weise, während die anderen ihr lauschten. Die weißhaarige Frau lächelte mit geduldigem Interesse, obwohl sich Schmerz in ihr Gesicht gegraben hatte. In Hathumods Miene stand kaum verhohlene Langeweile. Der Wagen fuhr vorbei und war kaum hinter den Bäumen außer Sicht, als Alain begriff, wen er da gerade gesehen hatte. Und wohin sie offenbar unterwegs war: Bis Lavas war es eine Reise von drei Tagen in westlicher Richtung, und nicht eine einzige Kreuzung querte die Straße vor der Burg. Schon bald würde es dunkel werden. Die Gruppe musste ein Lager für die Nacht aufschlagen, höchstwahrscheinlich auf der Straße. Die Soldaten musterten den Wald, als rechneten sie mit einem Angriff, aber die umgestürzte Eiche verbarg ihn, weil er sich nicht bewegte. Was war das für eine seltsame Gruppe? Der Tross wirkte nicht wie die königliche Rundreise einer Edelfrau, sondern eher, als wäre ein ganzes Dorf unterwegs. Auch als die letzten Reihen der Fußsoldaten verschwunden waren, blieb er noch in seinem Versteck, und tatsächlich kamen schließlich drei Berittene vorbei. Er wartete weiterhin, ließ noch einmal zwei Männer vorbeireiten, die die Zügel locker in der Hand hielten. Ihre Blicke waren scharf und durchdringend, und der eine hatte einen Bogen auf den Oberschenkeln liegen, der andere ein Schwert. 266 Und einer von diesen beiden sah ihn schließlich, obwohl Alain genau das hatte vermeiden wollen. »Sssst!« Der junge Mann riss den Kopf herum. Ehe Alain auch nur zum zweiten Mal Luft holen konnte, zielte er mit einem angelegten Pfeil auf ihn, hielt das Pferd mit den Knien ruhig. Der andere Mann wendete sein Pferd und sah mit erhobenem Schwert in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Ich komme raus«, sagte Alain mit ruhiger Stimme. »Ich habe auf Euch gewartet. Was will Bischof in Constanze hier? Ich dachte, sie wäre eine Gefangene von Edelfrau Sabella in Autun.« »Kommt raus«, sagte der Bogenschütze. »Was glaubt Ihr, Hauptmann? Sind da noch mehr? Sollen wir ihn töten?« Das Pferd des anderen Mannes machte einen Schritt zur Seite. »Lass ihn herkommen, aber er soll sich langsam bewegen. Finden wir erst mal raus, was er weiß. Es ist besser, die Schlacht früher zu schlagen, wenn wir bereit dafür sind, als später, wenn wir es nicht sind.« Alain hielt die Hände hoch und trat auf die Straße.
Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und beäugte ihn. »Ich habe Euch schon einmal gesehen.« »Gent!«, sagte der jüngere Soldat. »In Graf Lavastins Kompanie. War er nicht -?« Der Hauptmann stieß zischend die Luft aus. »Ihr seid Lavastins Erbe - ja, genau. Euer Anspruch ist zugunsten von Edelmann Jeoffreys Tochter abgewiesen worden.« Er reckte drohend das Schwert. »Was führt Euch hierher? Ich habe gehört, Ihr wärt als Löwe nach Osten marschiert.« »Das stimmt. Jetzt bin ich zurückgekehrt.« »Um Edelmann Jeoffrey herauszufordern?« »Nein. Ich habe ein anderes Ziel.« »Und was könnte das für eins sein?«, fragte der Hauptmann mit freundlicher Stimme, die dennoch keinen Zweifel daran ließ, dass er eine Erklärung verlangte.
267 In diesem Wald drangen die Geräusche weit. Der Tross war in Richtung Westen verschwunden. Nun, da die Nacht bald hereinbrechen würde, ließ der Wind nach. Aus östlicher Richtung erklang deutlich das Klirren von Waffen und Zaumzeug. »Verdammt«, sagte der Hauptmann. Sie hatten es alle gehört. »Wie ich es befürchtet habe.« »Was sollen wir tun, Hauptmann?«, fragte der junge Mann. Er wirkte äußerst unruhig, aber auch entschlossen und wütend. »Wenn sie uns kriegen ...« »Wer folgt Euch?«, fragte Alain. »Edelfrau Sabellas Soldaten«, antwortete der Hauptmann. »Wenn ich sie zur Umkehr bewegen kann«, sagte Alain, »bringt Ihr mich dann zu Bischöfin Constanze? Ich möchte nur kurz mit ihr sprechen. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.« »Sie zur Umkehr bewegen!«, spottete der junge Mann. »Still, Erkanwulf! Die Bischöfin muss unbedingt nach Lavas gelangen. Reite voraus und warne die Übrigen. Die Soldaten sollen sich hinten und an den Flanken aufstellen, auch ein Stück in den Wald hinein. Ich bleibe hier.« »Nein, Hauptmann. Ich bitte um Entschuldigung, Hauptmann. Sie brauchen Euch und nicht mich. Ich kann hier warten und nachkommen. Und wenn ich nicht komme, bin ich tot.« Der Hauptmann überlegte. Er war ein nachdenklicher Mann, wie Alain sah, nicht zu eifrig, aber auch nicht zu vorsichtig, ein guter Befehlshaber. Sein Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber wenn er diesen Mann in Gent gesehen hatte -was er nicht bezweifelte -, war es allenfalls flüchtig gewesen. Viele Männer ritten in den Kriegstrupps der Edelleute. Ein Edelmann mochte Gesichter sehen und weiterziehen, ohne sie sich zu merken, weil sie nicht zu seinen Untergebenen gehörten. Der Hauptmann nickte bedauernd. »So sei es.« Er richtete 267 den Blick auf Alain, musterte ihn noch einmal. »Wenn Erkanwulf mir die Nachricht bringt, dass diejenigen, die uns folgen, umgekehrt sind, werde ich dafür sorgen, dass Ihr eine Audienz bei der Bischof in erhaltet.« Er schob sein Schwert zurück in die Scheide, sah Erkanwulf eindringlich an und ritt davon. Er blickte sich noch zweimal um, ehe er hinter der nächsten Biegung verschwand. »Ich mache das am besten allein«, sagte Alain. »Eher sterbe ich, als dass ich meinen Hauptmann verrate!« »Wenn Ihr das Pferd den Pfad entlangführt, könnt Ihr es festbinden und zusehen, ohne gesehen zu werden.« »Und ohne etwas zu hören! Ihr könnt ihnen alles erzählen, könnt die Aufstellung unserer Streitkräfte verraten, die Größe unserer Gruppe, unser Ziel, wenn sie das nicht bereits erraten haben. Möglicherweise seid Ihr ja ein Spion, der mit Edelfrau Sabella gemeinsame Sache macht!« »Möglicherweise, aber so ist es nicht.« Erkanwulf kratzte sich am Kopf. »Ich neige dazu, Euch zu glauben, obwohl ich nicht weiß, warum. Wie wollt Ihr sie aufhalten?« Ein zweites Mal erklangen Geräusche, dieses Mal näher. Und sie hörten nicht mehr auf, wurden stattdessen ständig lauter.
»Geht«, sagte Alain. Erkanwulf zögerte nur einen Augenblick, dann biss er sich auf die Lippe und stieg ab, führte sein Pferd den Weg entlang, der nach Ravnholt führte. Alain stellte sich mitten auf die Straße; in der einen Hand hielt er seinen Stab, während er die andere locker herabhängen ließ. Er atmete die nach Lehm riechende Luft ein. Die festgetretene Straße gab unter seinem rechten Fuß etwas nach; ein kleines Rinnsal floss dort und machte das Leder seiner Stiefel feucht, drang durch die Nähte. Eine Fliege summte an seinem linken Ohr. Eine Biene schwebte in den Schatten eines Gestrüpps aus verwelktem Geißblatt, das am Straßenrand wuchs.
268 Er wartete, zufrieden damit, die Zeit verstreichen zu lassen. Er spürte das schwache Schimmern der Sonne über sich, wie einen Kuss durch ein Stück Stoff hindurch. Wenn das Wetter sich nicht änderte, würde das Korn gar nicht wachsen oder nur schlecht. Der Gedanke blieb bei ihm hängen und gab ihm Mut. Schließlich tauchten im Osten die ersten Vorreiter als langgezogene Schatten auf der Straße auf, die an dieser Stelle ziemlich lange fast gerade war, so dass er den größten Teil der Kompanie sehen konnte. Knapp sechzig Soldaten kamen auf ihn zu. Die Hälfte von ihnen war beritten, trug Überwürfe mit dem Wappen des Guivre von Arconia. Ein Dutzend der Fußsoldaten führte ein Wappen mit einem Turm, das er nicht kannte. Die Übrigen trugen irgendeinen Lederumhang oder eine feste Jacke; Männer, die rasch in Dienst genommen worden waren, um eine besondere Aufgabe zu erfüllen, die aber nicht auf Dauer als Soldaten des Herzogs Dienst taten. Ihr Hauptmann ritt in der dritten Reihe hinter besorgt drein-blickenden jüngeren Männern, die kleine Schilde und Kurzspeere in den Händen hielten. Er war ein furchterregender Mann, grimmig vor Wut und mit schrecklichen Narben. Ein Auge fehlte, war nur noch ein Klumpen aus weißem Narbengewebe. Auf seiner Stirn und an seinem Kinn waren die Spuren alter Verletzungen zu sehen. Hin und wieder hob ein Mann in der ersten Reihe den Arm und deutete auf etwas, das davon zeugte, dass hier vor kurzem eine nicht ganz kleine Gruppe durchgekommen war. Sie wussten, wem sie folgten. Sie hatten Alain bereits gesehen und schickten jetzt Kundschafter ins Gebüsch, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Schwerter glitten zischend aus Scheiden. Schilde wurden gehoben, Speere geschwenkt. Einige Männer hatten Bögen, und die legten jetzt Pfeile an die Sehnen und suchten den Wald nach Bewegungen ab. »Tammus!«, rief Alain. »Hüter!« Der Hauptmann zuckte zusammen, und die Männer um ihn herum murmelten. Langsam näherten sie sich Alain, als würden sie auf eine Falle zugehen, die bald zuschnappen musste.
58i »Ich bin allein, abgesehen von einem Zeugen, der sich zwischen den Bäumen verbirgt«, sprach Alain weiter, »und zwei Hunden ein Stück weiter weg, die einen Verbrecher bewachen, der mit Räubern gemeinsame Sache gemacht hat.« »Das soll glauben, wer mag«, sagte der Hauptmann. »Woher kennt Ihr meinen Namen? Gehört Ihr zu den Männern der Bischöfin?« »Nein, das tue ich nicht.« »Welchem Herrn oder welcher Herrin schuldet Ihr dann die Treue?« »Ich diene Gott, Hauptmann Tammus. Wem dient Ihr, Gott oder dem Feind?« Sie murmelten verärgert, wie durch Rauch aufgescheuchte Bienen, und ein voreiliger Soldat löste sich aus der ersten Reihe und schwang sein Schwert. »Zurück!«, bellte der Hauptmann. Der Mann gehorchte. Die Übrigen blieben eine knappe Speerwurflänge von Alain entfernt stehen. Ein Zweig knackte im Wald. »Was wollt Ihr?«, fragte der Hauptmann. »Ich habe keine Zeit. Wir sind dicht an unserer Beute, und Ihr steht uns im Weg.«
Alain war nah genug, um erkennen zu können, dass Tammus' Auge zu flackern begann, als es seinem festen Blick begegnete. Der Hauptmann hatte nur eine Hand. Der andere Arm endete in einem ausgebrannten Stumpf am Handgelenk. »Um an mir vorbeizugejangen, müsst Ihr mich töten, Hüter.« Einer der Soldaten kicherte. »Still! Wieso nennt Ihr mich so? Woher kennt Ihr meinen Namen?« »Ihr habt das Guivre für Edelfrau Sabella gehalten. Ich habe gesehen, wie Ihr ihm einmal einen lebenden Mann zum Fressen gegeben habt. So habt Ihr es am Leben erhalten. Ich glaube, Ihr habt Euch damals noch anders genannt.« Tammus' Blick flackerte erneut, als er ihn von Alain löste
269 und prüfend über seine Soldaten schweifen ließ. Die Soldaten sahen einander an; Hände bewegten sich in einer Zeichensprache, Gemurmel wanderte die Reihen entlang nach hinten. »Still!«, sagte der Hüter. »Ich bin Edelfrau Sabellas Diener. Ich tue, was sie mir aufträgt. Ihr steht mir im Weg. Wir werden Euch niederreiten. Ihr habt keine Waffe.« Alain fing seinen Blick wieder ein und hielt ihn herausfordernd fest. »Ihr müsst mich mit eigener Hand töten«, sagte er, »oder Ihr müsst einem Eurer Männer mit eigenen Worten den Befehl geben, mich zu töten, weil Ihr Euch weigert, mein Blut mit Eurer Waffe zu vergießen. Wie auch immer, Eure Hand wird befleckt sein.« »Ich bin der Diener der Edelfrau«, knurrte Tammus. »Ich tue, was sie mir befiehlt.« Er konnte jetzt nicht wegsehen, ohne das Gesicht zu verlieren, nicht angesichts der Tatsache, dass sämtliche Männer seiner Kompanie zusahen. Alain sagte nichts, hielt nur seinen Blick fest mit dem des Hauptmanns verschränkt. Er erinnerte sich an die Nacht, als er über den Käfig des Guivre gestolpert war, der mit Zeltstoff verhangen gewesen war, um das Ungeheuer darin zu verbergen. Er erinnerte sich an den schlaffen Körper des betäubten Mannes, der zu spät aufgewacht war, um das Schicksal zu erkennen, das ihn verschlingen würde. Er wusste in seinem Herzen und in seinen Gliedern, wie es war, vom Blick des Guivre berührt zu werden, der wie das Schwert Gottes traf, denn er hatte ihn in jener Nacht gespürt. So lehrten die Kreaturen Gottes die Menschen, was sie wissen mussten. »Ich habe viele Männer auf schlimmere Weise getötet, als sie auf der Straße niederzustrecken«, murmelte Tammus heiser. »Ich weiß«, sagte Alain, erinnerte sich an das große Auge und seine Macht. »Denn ich bin derjenige, der Bruder Agius bei Kessal dabei geholfen hat, das arme Tier zu töten. Mit einem Schwert habe ich es getötet, und Edelfrau Sabellas Heer ist in die Flucht geschlagen worden. Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet mich töten?«
269 Ein Atemzug war das einzige Zeichen; Lippen öffneten sich. Wind bewegte kahle Zweige. Tammus verlor die Nerven. Alle Männer dort fühlten es, wussten es mit dem gleichen Instinkt, mit dem Hunde eine Schwäche erkannten. Es dauerte nur einen Atemzug, um den Vorteil zu verlagern, um die Schlacht zu verlieren. Alain rührte sich nicht. Sie waren es, die den Weg zurückflohen, den sie gekommen waren.
4 »Euer Gnaden.« Alain kniete an der Stelle, die Hauptmann Ulric ihm gezeigt hatte. »Ich weiß nicht, wie er es getan hat!«, sagte Erkanwulf neben ihm. Seine zunehmende Aufregung ließ seine Stimme lauter werden. »Er hat sie einfach nur angesehen. Sie haben sich umgedreht und sind weggelaufen. Das war, noch bevor ich diese riesigen schwarzen Hunde gesehen habe!« »Ich weiß, wer Ihr seid oder einst gewesen seid.« Bischöfin Constanze war furchtbar alt geworden. Ihr Gesicht war ebenso sehr von Falten gezeichnet wie Tammus' von Narben, und sie schonte die linke Seite, als würde es schon schmerzen, die Hüfte zu verlagern. Aber ihr Blick war ruhig und ihre Stimme sanft. »Abgesehen von dem, was ich selbst bezeugt und erfahren habe, als ich über
Arconia geherrscht habe, habe ich gerade in den letzten Augenblicken Geschichten vernommen, bei denen mir schwindlig wird. Ihr seid der uneheliche Sohn eines Grafen. Selbst ein Graf. Ein Betrüger, Lügner und Dieb. Der Sohn einer Hure. Ein treuer Löwe, der im Osten in der Schlacht gestorben ist. Ihr seid, so scheint es, ein Mann, der über wilde Tiere herrscht. Der einen Kriegstrupp auf einer Waldstraße allein mit seinem Blick zurückschicken kann.«
270 »Ich bin der Sohn eines salianischen Flüchtlings. Ich bin in Osna in einem ehrlichen Haushalt von Kaufleuten aufgezogen worden. Das allein zählt.« »Vielleicht. Wieso seid Ihr gekommen, Alain aus Osna? Was wollt Ihr von mir?« »Ich möchte Euch bitten, den Menschen von Ravnholt, die ermordet wurden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wozu auch vier junge Frauen gehören, die vergewaltigt und getötet wurden. Lasst ihre Leichen bergen und begraben. Bringt die Räuber, die sie getötet haben, vor Gericht.« So viele, wie irgendwie Platz finden konnten, hatten sich um sie herum versammelt; sie alle hatten inzwischen sicherlich von der Begegnung auf der Straße erfahren. Sie schwiegen, aber ihre Blicke hatten eine unerwartete Kraft, waren so mächtig wie der des Guivre. »Ist das alles? Ich glaube, da ist noch etwas.« »Ich suche nach einer Frau.« Sie lächelte, missverstand ihn. Hathumod fuhr mit dem Handrücken zum Mund, unterdrückte einen Schrei. Sie starrte Alain reuevoll an. Hinter ihr waren andere, die Alain von der Zeit bei Hofe und von seinem Aufenthalt im Kloster Herford wiedererkannte. Auch ein gutaussehender junger Mann war dabei, der einmal der Ehemann von Markgräfin Judith gewesen war. Wie lange es zurücklag, seit er auf die Veranda getreten war, um einen Kampf zwischen Prior Ratbold und einer zerlumpten Gruppe von fünf Geistlichen und zwei Löwen zu verhindern! Wie diese Ketzer in Bischof in Constanzes Tross geraten waren, wusste er nicht. »Die Frau, nach der ich suche, war einmal ein Adler«, sprach er weiter. »Dann habe ich gehört, dass sie mit Prinz Sanglant weggelaufen ist.« »Liath!« Ein rothaariger junger Mann trat so wütend vor, als wollte er zuschlagen. »Bruder Ivar!«, tadelte Constanze ihn. Ivar zuckte mit den Schultern und bewegte die Füße, aber er kehrte nicht an seinen
270 alten Platz neben Judiths Bräutigam zurück, der Baldwin hieß, wie Alain sich plötzlich erinnerte. Dieser schöne Jüngling war jetzt seltsamerweise wie ein Geistlicher gekleidet. Seine Augen waren weit geöffnet, und mit der rechten Hand fingerte er an einem goldenen Kreis der Einigkeit herum, dessen Oberfläche fein ziseliert war. Er trug einen Ring aus leuchtendem Lapislázuli. Alain schnappte nach Luft; die Worte entschwanden ihm. Er kannte den Ring. Er war einmal sehr wertvoll für ihn gewesen. »Sprecht weiter«, sagte die Bischöfin. »Ich bitte Euch«, sagte Alain, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Woher habt Ihr diesen Ring, Bruder?« Einen Moment herrschte Verwirrung. Dann sah Baldwin den rothaarigen Bruder Ivar an, der für ihn antwortete. »Er stammt aus einem Grab tief in einem Hügel, einem Grab der Ungläubigen weit östlich von hier. Was spielt das für Euch für eine Rolle?« »Ivar«, sagte die Bischöfin sanft. »Ich dulde keine Missachtung gegenüber jenen, die aufrichtig zu mir gekommen sind.« »An dem gleichen Ort haben wir den Nagel gefunden«, sagte Hathumod. »Und den Überwurf und die Waffen des Löwen. Wie sind diese Dinge dorthin gekommen, in dieses uralte Grab?« Das Geschenk noch einmal zu berühren, das sie ihm gegeben hatte! Der Gedanke fiel mit dem neugierigen Blick des gutaussehenden Geistlichen zusammen, und der Mann schloss die andere Hand besitzergreifend um die mit dem Ring.
Finger mochten sich berühren, und dennoch war es möglich, dass zwei Menschen durch eine Kluft getrennt waren, die niemals überbrückt werden konnte. »Egal«, murmelte Alain. Adi-ca war fort. Den Ring einem Mann wegzunehmen, der ihn schätzte, würde sie nicht zurückbringen. Aber es war schwer, angesichts all der Pein in seinem Herzen zu sprechen. »Ja, ich suche tatsächlich Liathano. Wisst Ihr, wo sie sich aufhält?«
271 »Wieso wollt Ihr das wissen? Was habt Ihr mit ihr zu schaffen?«, fragte der Rotschopf. »Still, Ivar!« Hathumod warf ihr einen durchdringenden Blick zu, aber sie schnitt nur eine Grimasse. »Die Antworten auf diese Fragen wüsste ich selbst gern«, erklärte Constanze. »Aber ich muss Euch sagen, Alain aus Osna, dass ich nicht weiß, was aus dem Adler geworden ist. Ich bin mehr als fünf Jahre von meiner Halbschwester Sabella gefangen gehalten worden. Wir wissen nur das Wenige, was Bruder Ivar und der junge Erkanwulf herausgefunden haben. König Henry hat viele Jahre in Aosta verbracht, um die Kaiserkrone zu erringen. Sabella und Conrad haben gemeinsam die Herrschaft über Varre an sich gerissen. Wer kann es ihnen verübeln, da Henry sein Volk verlassen hat? Prinzessin Theophanu ist in Osterburg und beschützt Saony, den uralten Sitz der Macht meiner Familie. Prinz Sanglant hat bei der Veser ein qumanisches Heer geschlagen und ist danach nach Osten gezogen, um Greifen und Zauberer zu finden und mit ihrer Hilfe einen geheimnisvollen Zirkel von Zauberern zu bekämpfen, die - wie er behauptet hat - die Welt zerstören wollten. Danach, so heißt es, sei er nach Aosta geritten, um seinen Vater und die Zauberer zu finden. Mehr weiß ich nicht.« »Oh«, sagte Alain. »Dann wussten also einige von dem bevorstehenden Sturm. Es war nicht vergebens, dass die Alten mit mir gesprochen haben.« »Von dem Sturm? Demjenigen, der im letzten Herbst über uns hinweggefegt ist?« »Er war das Ende einer Beschwörung, die vor vielen Jahrhunderten in Gang gesetzt worden war.« Er hatte sie überrascht, diese Frau, die sich nicht leicht verblüffen ließ. Sie berührte ihr linkes Ohr, als wäre sie nicht ganz sicher, ob sie die Worte wirklich gehört hatte. »Von welchem Geheimnis sprecht Ihr? Verfügt Ihr über verborgenes Wissen von Ereignissen, die in der Vergangenheit, in der Zeit des heiligen Daisan, verloren gegangen sind?«
271 »Sie haben lange vor der Zeit des heiligen Daisan stattgefunden, und was sie vor uns verbirgt, ist nur der Lauf der Jahre. Nur der Tod, der uns am Ende alle verbirgt. Ich bitte Euch, habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten über Liathano?« »Nein. Sie ist in einem Schleier aus Feuer verloren gegangen.« »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix«, murmelte der schöne Jüngling, und Alain spürte die Worte wie Stiche in seinem Herzen, als würde eine unbeachtete Hand versuchen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Was habt Ihr gesagt?«, fragte er ihn. »>Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix<«, wiederholte der junge Mann geduldig, und sein Lächeln veranlasste die Leute zu murmeln und Gesten zu machen, als hätte er gerade etwas Außergewöhnliches getan. »Wir, die wir an die Wahrheit und die Botschaft glauben, sprechen so, um das Opfer des heiligen Daisan anzuerkennen, der gestorben ist, damit uns unsere Sünden vergeben werden.« »Agius' Worte sind Samen, die auf fruchtbaren Boden gefallen sind«, sagte Alain. Constanze schloss die Augen, führte einen Finger an die Lippen, als würde sie den Mund eines Geliebten berühren. »>Sein Herzensblut fiel zu Boden und erblühte als Rosen<«, fügte Alain hinzu. Sie sah ihn an, warf ihm einen einzigen Blick zu, mehr nicht. Dieser Blick, den er lediglich erwiderte, bis ihre Miene sich veränderte, wurde verwirrter, beinahe vertraulich, und sie streckte die Hand aus und winkte ihn näher. Sie saß auf einem Stuhl im hinteren Teil des Wagens, in dem sie zuvor gefahren worden war. Ihr Atem war als Dunst in der kalten Luft zu sehen. Als er sich zu ihr stellte, berührte sie seine Wange.
»Ihr tragt das Zeichen der Rose«, sagte sie. »Ein seltsames Geburtsmal. Ich habe so etwas noch nie gesehen.« »Es ist kein Geburtsmal, sondern die Erinnerung an einen falschen Eid«, erwiderte er. »Es erinnert mich an meine Ver
272 pflichtung, die ich nur in den Gesichtern der Menschen sehen kann.« »Wer seid Ihr?«, fragte sie und sah dann Baldwin an, als erhoffte sie sich eine Antwort von ihm, aber Baldwin sagte nichts. Er starrte zum Himmel, hob eine Hand und deutete nach oben. »Ist das die Sonne? Seht nur. Sie ist fast hinter den Bäumen verschwunden, aber sie hat einen bläulichen Ton. Als würde sie von Dunst verborgen und nicht von Wolken.« Zuerst drehte sich ein Soldat um, dann eine ältere Frau. Andere, die wie die Bischöfin und Edelmann Baldwin nach Westen sahen, hoben die Hände zum Gebet. Eine Flut von Rufen und Freudenschreien stieg von der Gruppe auf, als würde ein Schwärm Wachteln aus einem Gebüsch emporfliegen. »Die Sonne! Sie scheint!« Es war mehr ein Schimmer als die eigentliche Sonnenscheibe. Niemand konnte in die Sonne sehen, ohne blind zu werden. Alle wussten das. Aber am westlichen Himmel hatte die Wolkendecke sich verändert und enthüllte die lange verborgenen Umrisse der Sonne, als wäre sie jetzt nur hinter einer einzigen Schicht aus Gaze verborgen und nicht hinter zehn. »Ein Wunder!« »Das ist das Werk des Geheiligten!« »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix!« Sie riefen und deuteten und starrten gen Westen, alle in so heller Aufregung, dass Alain wegging, durch eine Lücke nach der anderen in der Menge schlüpfte, ohne dass man auf ihn achtete. Sie starrten zum westlichen Horizont. Er ging nach Osten, zum Rand des Lagers, das sich an der Straße entlang und zwischen den Bäumen erstreckte. Ganz am östlichen Ende des Lagers waren drei Soldaten abgestellt worden, um Herik zu bewachen. Alain pfiff leise, aber niemand beachtete ihn. Die Nachricht hatte sich schneller verbreitet, als er gehen konnte, und alle starrten gen Westen. Einige begannen, ein Lied zu singen, das er noch nie zuvor gehört hatte.
272 »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix, Die Wahrheit erhebt sich wie die Sonne.« Kummer und Rage sprangen auf und trotteten neben ihm her, als er mit langen Schritten in Richtung Osten davonging. Ihm blieb nicht mehr viel Tageslicht. Er musste rasch vorankommen, um so weit weg zu sein, dass niemand ihm folgen würde. Aber als er gerade außer Sichtweite des Lagers geraten war, hörte er ungleichmäßige Schritte und schwere Atemzüge. »Edelmann Alain! Edelmann Alain!« Er blieb stehen und drehte sich halb um, wartete. Kummer jaulte. Rage gähnte und zeigte die Zähne. Sie rannte nicht, zumindest nicht richtig, aber sie sprang auf eine unbeholfene, entschlossene Weise, bis sie wenige Schritte entfernt stehen blieb. Die Hunde machten sie nervös, aber sie war mutig genug, um trotz ihrer Angst näher zu kommen. »Wohin geht Ihr?«, fragte sie. »Nach Osten, um Prinz Sanglant zu suchen. Wenn jemand weiß, wo sie ist, dann er.« »Liebt Ihr sie, mein Herr?« Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich hoffe, dass Gott mich gelehrt haben, die ganze Menschheit zu lieben. Aber die Liebe, von der Ihr sprecht - nein.« »Wenn ich mit Euch gehen könnte ... Nehmt Ihr mich mit?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bitte Euch, Schwester. Dient dort, wo Ihr am meisten benötigt werdet. Jeder Sturm lässt eine Spur der Zerstörung zurück. Es gibt viel zu tun.« »Ja«, erwiderte sie und neigte gehorsam den Kopf. »Ich werde tun, was Ihr sagt.« Die Worte, von Tränen halb erstickt, klangen dünn.
»Ihr seid mutig und gut, Hathumod. Eure Hände werden Gottes Werk tun, wenn Ihr sie lasst.« Sie schluckte ein Schluchzen hinunter und nickte. Sie war sprachlos und konnte ihn nur anstarren, als er die Hand zum Abschiedsgruß hob und dann weiter die Straße entlangging. Bei der nächsten Biegung blieb er stehen und warf einen Blick
273 zurück. Die Hunde wedelten mit den Schwänzen, begierig darauf, weiterzugehen. Sie stand noch da, war im Zwielicht kaum zu erkennen. Sie hatte sich nicht gerührt, als wäre sie gefangen im Blick des Guivre.
1 Weil sie Federkleid war, bestanden die Blutmesser darauf, dass sie in einer Sänfte getragen wurde, wenn sie reiste. Die heilige Energie in ihrem Körper durfte nicht durch ihre Fußsohlen entkommen, und deshalb durfte sie die Erde nicht berühren. Sie mochte die Blutmesser nicht. Sie waren aufdringlich und habgierig, entschlossen und voller Dünkel. Es war ihr klar, dass sie von ihnen genauso wenig gemocht wurde. Sie befolgte die alten Gesetze nicht auf die Weise, wie sie es gewohnt waren. Aber sie war Federkleid. Sie war gewählt worden, wie es dem Brauch des Landes entsprach. Sollten sie doch an dem Knorpel kauen! Im Augenblick jedoch hielt sie es für das Beste, sie zu besänftigen, indem sie sich bestimmten alten Gewohnheiten fügte. Und daher fand sie sich nun auf einer ruckelnden Sänfte wieder, die von vier Männern getragen wurde, während acht vor und hinter ihr gingen, um sich mit den Trägern abzuwechseln. Sie reisten in einem feierlichen Zug von Herz-Des-Weltenanfangs zu der Stadt am See, die von den Verbannten Wir-Haben-Keine-Tränen-Mehr genannt wurde, aber von jenen, die in den Schatten gelebt hatten, Bauch-Des-Landes, der beim
273
XV
Die Ungeduldige Goldsee ruht, denn das war der Name der Stadt vor der Zeit der Verbannung gewesen. An der Spitze der Prozession drehte sich das Rad und verkündete so ihre Ankunft. Ihr Sohn war ebenfalls bei ihr. Er war bereit für ein Abenteuer, aber noch nicht alt genug, um »die Maske anzulegen«. Er trug den einen Säugling in einer Schlinge, aber er hatte sich zurückfallen lassen, um mit einer jungen Maskenkriegerin zu sprechen, von der er gern für älter gehalten worden wäre, als er tatsächlich war. Außerdem wurde Federkleid von Maskenkriegern begleitet, von Kaufleuten und Richtern, die bei der Eröffnung des Marktes zugegen sein sollten, sowie einer Horde von Blutmessern in scharlachroten Tuniken und mit den leuchtend blauen Federn des Todesvogels in den Haaren. Zwanzig Blutmesser auf einem Haufen waren eine ganze Menge. »Ich bin an das hier nicht gewöhnt«, sagte Federkleid zu ihrer Kameradin Weißfeder, die neben der Sänfte herging und den anderen Säugling in einer Schlinge trug. »Ich auch nicht«, erwiderte Weißfeder. »Zu der Zeit, da ich geboren wurde, waren sämtliche Blutmesser verschwunden.« »Ja«, pflichtete Weißfeder ihr bei. Ihre Lippen zuckten auf eine Weise, die einem grimmigen Lächeln ähnelte. Es war alles, was sie jemals zu dieser Angelegenheit sagte. »Das waren sie.« Die vergangenen zwei Tage waren sie durch ein Gebiet gereist, in dem überall verstreut Siedlungen lagen, die sich meist abseits der Hauptstraße befanden. Als die erhöhte Straße jetzt um ein Feld mit Saftkakteen bog, stießen sie auf eine Siedlung, die während der Verbannung verlassen, aber im Laufe des Winters von jenen, die aus den Schatten zurückgekehrt waren, wieder bevölkert worden war. Ein großes Wohnhaus war auf einer Plattform aus Erde errichtet worden. Gruppen von kleinen Häusern umgaben zentrale Innenhöfe. Eine beachtliche Menge kam nach draußen, um sie zu begrüßen, mehr Leute, als sie auf den ersten Blick abschätzen konnte. Sie hatte sich 273
immer noch nicht an große Mengen gewöhnt. Zweifellos waren diese Leute von den Läufern herbeigerufen worden, die sie vorausgeschickt hatte. Diejenigen, die weiter hinten in der Menge standen, reckten die Hälse, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Diese Leute waren alle aus den Schatten zurückgekehrt. Sie standen anders, trugen ihre Haare anders, neigten das Kinn anders, und sie hatten auch nicht die stockdünne Drahtigkeit, die jenen eigen war, die die Verbannung überlebt hatten, die nie in ihrem Leben genug zu essen bekommen hatten, abgesehen von der Zeit seit der Rückkehr, da die Verbannten sich in Reichtümern suhlten, die von jenen, die aus den Schatten zurückgekehrt waren, als Mangel bezeichnet wurden. »Wir bleiben heute Nacht hier«, sagte sie, denn sie verspürte plötzlich den Wunsch, mit denjenigen zu sprechen, die sich hier versammelt hatten und sie schweigend anstarrten, weil sie Angst hatten, dass sie sie mit ihren Stimmen vergiften könnten. Die Blutmesser wandten ein, dass sie nicht einmal mehr ein Drittel einer Tagesreise von der Stadt am See entfernt waren, es somit noch bis zum Einbruch der Nacht schaffen konnten. Die Männer jedoch, die sie trugen, befolgten ihren Befehl bereits und brachten sie zu dem großen Wohnhaus, während die Menge sich teilte, um Platz zu machen. Das Oberhaupt dieser Stadt bildeten ein Mann und eine Frau. Obwohl sie mittleren Alters waren, hatten sie erst kürzlich geheiratet, wie an den geschwärzten Überresten der Hochzeitsfackeln beiderseits des Torwegs zu ihrer Wohnstatt zu erkennen war. Sie empfingen sie ungezwungen, auf eine durch häufige Übung tüchtige Weise. Eine Matte wurde gebracht und auf den Platz des Anführers gelegt. Hier ließ sie sich nieder, erleichtert, die schwankende und ruckelnde Sänfte verlassen zu können. Die Blutmesser schwärmten um sie herum, wollten auch ihre geringste Bewegung kontrollieren, aber Weißfeder scheuchte sie unbarmherzig davon, damit sie die Kinder stillen konnte. 274 Danach brachte der Anführer herbes Bier und süße Kakteenfrüchte, Haferschleim, geröstete Larven und mit wilden Kräutern gewürztes und mit Saft gesüßtes Geflügel. Sie hatte sich immer noch nicht an den Anblick so vieler Speisen gewöhnt. Als sie sich schließlich beim Anführer für das Essen bedankte, entschuldigte er sich für das karge Festmahl, das verglichen mit dem, was ihrem Rang entsprach, nichts war. »Ich möchte mit eurem Rat sprechen, um zu erfahren, wie ihr hier lebt«, sagte sie. Hastig wurde der Rat einberufen. Älteste, Leute, die sich ausgezeichnet hatten, je ein Vertreter eines jeden Clans. »Es gibt in unserer Stadt keinen Hasenclan«, sagte der Anführer. »Und keinen Echsenclan.« Die Blutmesser rührten sich. »Niemand vom Hasenclan hat in der Verbannung überlebt«, sagten sie. »Niemand hat ihr Haus erhalten, wie es hätte sein müssen.« Die Leute flüsterten, blickten verängstigt drein. Es war gefährlich, die Welt das Gleichgewicht verlieren zu lassen. »Aber es gab vorher so viele«, sagte die Anführerin. »Wir, die wir in die Länder der Barbaren gegangen sind, waren die Wenigen. Die große Masse ist zurückgeblieben, um sich um das Land zu kümmern. Aber jetzt sind wir die Vielen, und ihr, die ihr aus der Verbannung kommt, seid die Wenigen.« Weißfeder machte Anstalten, ihrer Verärgerung Ausdruck zu verleihen, also hob Federkleid die Hand, und alle schwiegen. »Die Geschichte unserer Zeit in der Verbannung ist bereits erzählt worden.« Sie sah die Blutmesser direkt an. »Ist bereits ein Almanach gemalt worden, um die Geschichte unseres Kampfes zu verkünden?« »Wir haben viel zu erledigen. Die Häuser müssen wieder aufgebaut und die Richtlinien und das geeignete Maß der Tributzahlungen festgelegt werden. Wir müssen uns erholen und zuerst die rituellen Almanache wiederherstellen.« »Ich möchte nicht, dass die Geschichte verloren geht«, sagte sie sanft, aber als Warnung. Sollten sie daran kauen! Sie nick
275 te den Ratsmitgliedern zu, forderte sie zum Sprechen auf. »Ist dies die Stadt, aus der ihr ursprünglich kommt?« Sie erzählten ihre Geschichten. Der Anführer war hier geboren, aber im Land der Barbaren aufgewachsen. Er war hierhergekommen, weil es der einzige Ort war, den er kannte. Ein paar vereinzelte Leute mit einem Anspruch, der es ihnen gestattete, das umliegende Land zu bearbeiten, hatten andere Leute ohne Land mitgebracht. Meistens arbeiteten die Leute auf den Feldern, aber trotzdem war die Gemeinschaft nur spärlich bevölkert, verglichen mit der Zeit vor der Verbannung. »Es gibt nicht genug Männer, um die Felder zu bestellen«, beklagte sich die Anführerin. »Wir Frauen sind im Rückstand, was unsere Tributzahlungen an Bekleidung betrifft. Wir können die Fasern nicht schnell genug ernten. Die Felder sind noch grün. Wir haben kein Garn zum Weben.« »Wie sieht eure Tributzahlung aus?«, fragte Federkleid. Die Liste, aus dem Gedächtnis wiedergegeben, klang schwindelerregend: Federn, Papier, Bekleidung in Form von kurzen Umhängen, Weihrauch vom Perückenbaum und eine Reihe von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für den Tempel und den Palast der nahe gelegenen Stadt. Aber natürlich waren die Vögel weg, die Bäume tot, jedes neue Gewächs kaum mehr als ein Schössling, und auf den Feldern keimte das bisschen Saat, das jene, die die Schatten überlebt hatten, dabeigehabt hatten. »Es muss eine neue Tributliste verfasst werden«, sagte Federkleid wie jeden Tag. »Bis alle wieder gesund und die Vorratskammern gefüllt sind. Bis es reichlich Korn gibt, müssen wir alle unsere Anstrengungen darauf richten, unsere Felder und unsere Bevölkerung wiederherzustellen.« »Tributzahlungen sind nötig, um das Universum zu erhalten«, sagten die Blutmesser wie jeden Tag. »Um das Gleichgewicht zu halten, müssen wir beten, müssen wir bluten, unsere Eide halten, Weihrauch verbrennen und Opfer darbieten.« »So muss es geschehen«, stimmte sie ihnen zu. »Aber nicht
275 in dem Maße wie in der Zeit vor der Verbannung, denn ansonsten sind wir schon bald wieder ausgelaugt!« »Alle eure Blutmesser sind tot«, sagten sie, wiesen damit auf den gleichen Sachverhalt hin wie jeden Tag. »Es ist kein Wunder, dass das Land ausgelaugt war, dass das Gleichgewicht verloren gegangen ist.« »Ihr wisst nichts!«, rief Weißfeder. »Still!«, sagte Federkleid, und sie befolgten ihren Befehl. Die Ratsmitglieder fühlten sich angesichts dieses Streits unbehaglich. Sie fürchteten die Blutmesser. Sie beteten zu den Göttern. Sie folgten dem Beispiel derjenigen, die von den Besten auserwählt war, um Federkleid zu werden - eine reife Frau, die fromm war, tugendhaft und großherzig, die einen unbesiegbaren Geist besaß und auch über die unauslöschbare Macht des Lebens verfügte, die ihr von den Göttern gewährt worden war. »Ich werde die Höhe der diesjährigen Tributzahlung festsetzen, und auch die des nächsten Jahres. Im Jahr danach wird eine Volkszählung vorgenommen werden und eine neue Festsetzung stattfinden.« Es erstaunte sie immer wieder, dass manche in den Gemeinschaften diese Erleichterung willkommen hießen, während andere dadurch verunsichert wurden. Als sie das Ende der Ratsversammlung verkündete, sah sie die Blutmesser flüsternd und Intrigen spinnend mit den Ratsleuten hinausströmen. Alle gingen weg, und so war sie allein im Zimmer, mit einer Matte zum Schlafen und vier Stoffstreifen, die vom Türrahmen hingen, um ihr etwas Ungestörtheit zu gewähren. Die Wände waren erst kürzlich verputzt worden, aber an der einen Wand hatte jemand bereits mit einem Gemälde begonnen, auf dem der lange Marsch durch die Schatten mit den heiligen Tieren als Wachen zu sehen war. »Du musst dich ausruhen«, sagte Weißfeder, die die Kinder zum Stillen brachte. Federkleids Sohn spielte friedlich die Flöte. Draußen im Hof
276 mahlte eine Frau in einem beruhigenden Rhythmus Korn zu Mehl, aber Federkleid konnte in ihrem Herzen keine Ruhe finden. »Die meisten Blutmesser sind wohl im Land zurückgeblieben, während diese wenigen hier in die Welt hinausgegangen sind«, mutmaßte sie. »Dennoch habe ich nie welche kennengelernt. Sie waren alle verschwunden, als ich ein Kind war. Und ihr, die Älteren, sprecht nie von ihnen.« Weißfeder sah das Wandgemälde an; die Bildnisse waren mit Kohle voneinander abgesetzt worden, aber nur einige wenige waren mit Farbe ausgemalt. Im Zimmer war es düster, weil die Nacht hereinbrach. »Sie waren schwächer als unsere Feinde. Sie konnten uns nicht helfen. Sie haben die Götter angerufen und wollten auch in der Verbannung noch den alten Bräuchen frönen, obwohl längst für alle offensichtlich war, dass diese Bräuche uns töten würden.« Ihre Stimme klang gepresst, und ihr Mund wurde hart. »Dass diese Bräuche uns getötet haben.« »Wir leben nicht mehr in der Verbannung«, sagte Federkleid. »Es ist schwer, die Verbannung zu verlassen. Selbst dann, wenn man nach Hause zurückgekehrt ist. Vor allem, wenn man nach Hause zurückgekehrt ist.« Federkleids ganzes Leben lang war die Stadt am See verlassen gewesen, wenngleich sie in der Zeit vor der Verbannung die größte Stadt im Land gewesen war. Damals hatte man sie Überfluss-Ist-Unser-Wenn-Die-Götter-Nicht-Ihre-Meinung-Ändern genannt. Als sie ein Kind gewesen war, hatte es sogar noch einige wenige Sumpfgebiete gegeben, in denen ein Mädchen mit ihren Kameradinnen nach Fröschen und Insekten suchen konnte. Als sie jedoch ihr erstes Kind geboren hatte, waren sogar diese feuchten Niederungen ausgetrocknet, und der See war zu einer Oase für nichts weiter als ungenießbares Unkraut und kostbare Gruppen von zähen Saftkakteen geworden. Inzwischen jedoch, nach den Niederschlägen im Winter und
276 im Frühling, hatte der See einen Teil des zurückkehrenden Wassers wieder abgegeben. Sie bat die Träger, auf dem Damm anzuhalten. Von ihrer Sänfte aus blickte sie über den See, dessen Ufer von leuchtend grünen Streifen aus Schilf und Gräsern gesäumt waren. Riesige Vogelschwärme hielten sich auf dem Wasser auf, und die verschiedenen Vogelarten - von denen sie kaum eine kannte schnalzten und schmatzten und krächzten und pfiffen in ihren eigenen Sprachen, und Insekten summten und zirpten und gingen sich selbst auf die Nerven. Sie-Die-Er-schafft war tüchtig! Die Bauern hatten Kanäle hinter dem Ufer ausgehoben, da sie vermuteten, dass der See weiter wachsen würde - aber natürlich wusste niemand, ob er jemals das alte Becken wieder füllen oder sich sogar noch weiter ausbreiten würde. Die meisten Erwachsenen hielten sich an diesem Tag draußen auf, um weitere Felder aus Erde und Schlamm zu errichten oder sich um die jungen Pflanzen zu kümmern, die im Laufe der letzten paar Monate angepflanzt worden waren. Hin und wieder ließ Er-Der-Brennt sich blicken. Jene, die in den Schatten gewandelt waren, erzählten ihr, dass es früher bestimmte Monate gab, in denen es geregnet hatte, und danach eine Zeit, in der Er-Der-Brennt die Erde mit seinem glühenden Feuer hart gebrannt hatte. Es hatte zwei Jahreszeiten gegeben und die Übergänge, die an die Tagundnachtgleichen gebunden waren. Es war immer noch früh im Jahr. Es war die Zeit des Regens, da alle Dinge wuchsen und sowohl das Innere wie auch das Äußere jenes Feldes gewässert wurde, das die Erde darstellte. Obwohl die Stadt während der Zeit der Verbannung ihren Überfluss verloren hatte, schienen die Götter, nachdem sie zur Erde zurückgekehrt waren, ihre Meinung ihnen gegenüber nicht geändert zu haben. Sie wollten noch immer, dass ihre Kinder gediehen, dass sie sich ein neues Heim schufen. »Federkleid! Du bist zu kühn!« »Federkleid! Du darfst dich nicht von der Mittagssonne berühren lassen!« 276 »Federkleid! Du musst über den östlichen Damm kommen. Dies ist der Damm für Kaufleute und Handwerker!« »Federkleid! Bist du gekommen, um mit der Wiederherstellung der Tempel zu beginnen? Nichts ist wirklich von Bedeutung, solange die richtigen Rituale nicht beachtet werden!«
»Wie kommt es, dass du den heiligen Bezirk in Herz-Des-Weltenanfangs verlassen hast? Wer hat dies zugelassen, in diesem Monat? Es ist nicht die richtige Zeit!« Die Blutmesser, die sich im Tempel im Zentrum der Stadt am See niedergelassen hatten, hatten sie kommen sehen. Sie schwärmten wie Wespen den Damm entlang, um sie zu empfangen - und um sie zu rügen. Sie wedelte mit einem Fächer aus grüngoldenen Federn, die von jenem Vogel stammten, der Sie-Die-Erschafft am heiligsten war, und aufgrund dieser Geste schwiegen sie, wie es ihre Gesetze und Bräuche verlangten. »Es ist Zeit, den Markt zu eröffnen«, sagte sie zu ihnen, dann wandte sie sich an ihre Träger. »Wir gehen weiter.« Der Damm war noch nicht von Wasser umgeben, und es gab einige Kinder auf der einen Seite, die im Schlamm nach Wurzeln gruben oder nach Kaulquappen suchten, nach jungen Fröschen, Larven, Grillen oder ähnlichem Getier. Sie gafften mit offenen Mündern, als die Sänfte vorbeigetragen wurde, und die Blutmesser schrien sie wegen ihres Mangels an Respekt und Demut an. »Wieso sind sie nicht in ihrem Arbeitszimmer im Haus der Jugend?«, fragte Federkleid, und danach dachten sie aufmerksamer über ihre Worte nach. Die Prozession betrat die Stadt durch das Schädeltor und bewegte sich auf den mittleren Bezirk zu. Viele Leute waren zur Stadt zurückgekehrt, aber dennoch war nur eines von zwanzig Häusern bewohnt. In den früheren Tagen war die Stadt gemäß einer Volkszählung, die damals von den Blutmessern durchgeführt worden war, in fünf »Bündel« von Bezirken eingeteilt gewesen, und jeder Bezirk hatte aus einem Bündel von verschiedenen Nachbarschaften bestanden, die jeweils von vierzig
277 Haushalten von zehn bis zwanzig Personen gebildet worden waren. Es fiel ihr schwer, sich so viele Personen vorzustellen, aber die leeren Viertel erzählten ihre eigene Geschichte. Selbst der Palast, in dem sie bleiben musste, erinnerte sie mit seinen verlassenen Räumen und den hallenden Sälen daran, wie viele gestorben, wie viele verloren gegangen waren. Eine Reihe von Gemächern war eilends für ihren Besuch vorbereitet worden. Die Blutmesser beklagten die armselige Möblierung, den Verfall der Wandmalereien, die in den Jahren der Verbannung verblasst waren, das fehlende üppige Festmahl. Nichts war gut genug. Das Gleichgewicht war in der Verbannung verloren gegangen. »Genug!«, sagte sie. »Bringt die Richter und die Schreiber zu mir. Auf meinen Befehl hin hat sich die Nachricht im ganzen Land verbreitet. So wie Bauch-Des-Landes in der Mitte des Landes liegt, wird der zentrale Markt durch eine formelle Erklärung eröffnet werden, damit alle wissen, dass wir Verfluchten unser ganzes Land wieder in Besitz genommen haben. Wie es früher war, so wird es wieder sein.« Ab dem Nachmittag strömten die Leute herbei. Als Federkleid am nächsten Morgen in ihrer Sänfte zum Marktplatz getragen wurde, hörte sie ein nie versiegendes Summen, das von unzähligen Stimmen stammte; das Geräusch schien die gesamte Stadt zu durchdringen. Die Prozession kam an dem Tempelplatz vorbei, der von Mauern und wogenden Steinschlangen abgegrenzt wurde. Rauch erhob sich vom Haus von Er-Der-Brennt, das sich an der Spitze des großen Tempels mitten im Herzen der Stadt befand. Als sie einen Blick durch das breite Tor warf, sah sie eine Gruppe von jungen Frauen in ihren Schlangenkleidern vor dem Altar von Sie-Die-Keinen-Mann-Haben-Wird tanzen; sie riefen und klatschten und kennzeichneten mit stampfenden Füßen den Lauf der Zeit. Läufer passierten das Tor zum Tempelplatz; sie trugen Käfige mit Wachteln. »Die Opferung muss bei Sonnenuntergang stattfinden«,
277 sagten die Blutmesser. »Der erste Tag des Monats der Winde muss durch Blut geweiht werden.« Sie hörten nie auf. »Es wäre am besten, wenn du in Herz-Des-Weltenanfangs bleiben würdest«, sagten sie. »Unsere Läufer können dich über alles benachrichtigen, was im Land geschieht.«
Aber konnte sie dem trauen, was sie ihr mitteilen würden? Sie äußerte diese Zweifel nicht laut, und sie machten weiter. »Wir beleidigen die Götter, wenn wir nicht bald Gruppen einsetzen, die das Haus der Götter tünchen und bemalen und in neuem Glanz erstrahlen lassen.« »Zuerst müssen die Felder bestellt werden«, sagte sie. Der Älteste von ihnen beugte sich vor, und sie roch seinen Atem, der scharf nach Pfeffer stank. »Hättet ihr, die ihr verurteilt gewesen seid, in der Verbannung zu sterben, nicht die Opferungen ausgesetzt, hättet ihr die Gunst der Götter nicht verloren.« Sie neigte den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen - mit einem Blick, der bei ihrem eigenen Volk jede Meinungsverschiedenheit ausgelöscht hätte, aber er kam aus einer anderen Welt. Er fürchtete Federkleid, aber er achtete sie nicht. »Wie wollt ihr wissen, was wir in der Verbannung erlitten haben?«, fragte sie. »Ihr seid die Zeitspanne eines Großen Jahres, zweiundfünfzig Zyklen von zweiundfünfzig Jahren, zwischen den Welten gewandelt, und doch scheint es den Berichten zufolge, die ich gehört habe, für euch so gewesen zu sein, als wärt ihr nur einige wenige Monate in den Schatten gewandelt. Wir haben viele Generationen in der Verbannung verbracht. Die Welt, in der ihr - in eurem Herzen - lebt, hat sich nicht verändert, aber die Welt, in die ihr kommt, ist nicht diejenige, die ihr verlassen habt.« »Was wir den Göttern schulden, ändert sich nicht«, sagte er. »Wenn wir die Opferungen einhalten, wird der Regen zur richtigen Zeit fallen und die Sonne zum richtigen Zeitpunkt scheinen.«
278 Man konnte nicht mit einem Mann streiten, der die Welt um sich herum nicht so sehen konnte, wie sie war. Menschliche Zauberer hatten die Beschwörung gewoben, die sie verbannt hatte, und menschliche Zauberei hatte darüber hinaus die Lande vergiftet. Sie schwieg, und er murmelte leise seine Klagen, ging seine Liste durch. Aber sie konnte nicht ewig grübeln. In der Verbannung war ein Markt einfach ein Fleckchen Erde gewesen, auf dem ein paar Leute ihre Waren auf einer Decke ausgebreitet hatten -eine Handvoll kostbarer Nüsse, verbeulte Waschzuber, Schilfmatten oder einen Holzstab mit einer geschnitzten Speerspitze. Dieser Platz hier war nur der Eingang; der Markt fand im gesamten Bezirk statt, und obwohl er sicher nicht vollständig besetzt war, war es wahrlich überwältigend. Es waren mehr Leute hier, als sie jemals zuvor auf einem Haufen erlebt hatte. Jenseits der Arkaden, die aus Stein und Ziegel errichtet waren, befanden sich Straßen und schmale Gassen, in denen alle möglichen Waren verkauft wurden. Es gab Mühlsteine, Ziegel, Holzarbeiten, Schildpatt, Knochen und Federn. Es gab Kupfer und Zinn, Werkzeuge und Waffen aus Bronze und alle möglichen Schmuckstücke aus Gold und Silber. Es gab Stacheln vom Saftkaktus, die als Werkzeug, aber auch zur Opferung benutzt wurden. Es gab Mäntel und Tuniken aus den Fäden dieser Pflanze wie auch feste Stricke und Seile, und auch den süßen Saft als Sirup und einen vergorenen Trunk, der stark genug war, um einen zu Boden zu strecken. Es gab Pfeilspitzen aus Holz, Stein und Bronze, und sogar einige aus den Landen der Menschen, die aus Eisen waren. Es gab zu viel. Und von den Straßen, auf denen Nahrungsmittel verkauft wurden, erhaschte sie nur kurze Blicke: Kakteenfrüchte und schmackhafte Kürbisse, gerupfte, aufgehängte Vögel, während andere in Käfigen flatterten, Hasen, Hunde, Bienen, Eier und so viele verschiedene Arten von Fisch, dass sie verblüfft war. Und all das sah sie, bevor sie zum zentralen Platz mit dem 278 Markthaus gebracht wurde, wo ein Bündel von Richtern das Handeln beaufsichtigte, die jeweils in einem eigenen Alkoven saßen. Tatsächlich stand der Markt unter der Gerichtsbarkeit einer örtlichen Autorität, aber ihre Gegenwart wurde mit einer Reihe von Reden und Gedichten gewürdigt, die man als angemessen empfand. Die Opfer würden später kommen. Allerdings wünschte sie sich, die Füße auf die Erde setzen und einfach durch den Markt gehen zu können, sich Zeit zu lassen und die Gerüche und Geräusche in sich aufzunehmen. Sie weinte ein bisschen, als sie all diese Dinge sah, obwohl die Richter ihr mit allergrößter Verlegenheit versicherten, dass die schreckliche Armut dieses neuen Marktes in ein paar Jahren sicherlich von
einer anständigen Auswahl - wie in früheren Zeiten - ersetzt werden würde, sofern die Götter ihnen nur wohlgesonnen waren. Dann würden die Leute Kakaobohnen und gebördelte Stoffe haben, mit denen sie richtig handeln könnten. Wieso konnten sie nicht erkennen, wie das Leben hier erblühte, selbst wenn es ihnen so armselig erschien? Es gab so viele Leute. Es gab so viele Kinder! Es war schwer, sich zu konzentrieren, erst recht, als eine Herde Schafe und Ziegen von einer Gruppe Maskenkrieger in ihr Blickfeld getrieben wurde. Das war zu viel! Sie sank auf die Knie, brachte die Sänfte zum Schaukeln, so dass die Träger schwankten. Während die Blutmesser sich lauthals beklagten, schwang sie sich herunter, ließ sich fallen und ging hinüber zu den Tieren, die in einem notdürftigen Pferch blökten und mähten. Viele Leute hatten sich dort versammelt und starrten die Tiere an, und ihr fielen die ausgemergelten Körper und schmalen Gesichter derjenigen auf, die die Verbannung überlebt hatten. Aber es waren nur wenige, verglichen mit den anderen, die aus den Schatten gekommen waren. Weißfeder begleitete sie, beschützte sie vor den schwatzenden Blutmessern. Zwei Richter kamen rasch herbei, um herauszufinden, was für ein Handel da vor sich ging.
279 Katzenmaske war der Anführer der Gruppe. Er hatte eine frische Narbe auf dem linken Oberschenkel, wirkte aber ansonsten sehr zufrieden. »Wir waren jenseits der Weißstraße«, erklärte er den Marktrichtern, »und haben die hier - unsere Beute - für den Markt mitgebracht.« »Als Opfer!«, riefen die Blutmesser. »Zwei von ihnen«, sagte Federkleid. »Zwei müssen genügen, zwei männliche. Die übrigen müssen verkauft werden, um neue Herden zu züchten.« Oh, sie hörten das nicht gern, und einige der Umstehenden bekundeten den Blutmessern leise murmelnd ihre Zustimmung, während andere sich anerkennend über Federkleids Entscheidung äußerten. »Wenn wir das Gleichgewicht nicht erhalten, wird Er-Der-Brennt sich verfinstern.« »Wolken bedecken die Sonne im Norden«, sagte Katzenmaske. »Aber Er-Der-Brennt scheint auf unser Land. Es ist der Fehler der menschlichen Zauberer. Alle wissen, dass sie die Beschwörung gewoben haben. Jetzt ist sie auf sie zurückgefallen.« »Du redest wie ein Bleichhund«, riefen die Blutmesser. »Wie lang wird das andauern, was du als unser Glück bezeichnest, wenn wir die Ordnung nicht wiederherstellen? Wie bald wird Er-Der-Brennt sein strahlendes Gesicht vor Wut und Verzweiflung abwenden?« »Zwei müssen genügen, bis es mehr gibt«, sagte Federkleid, aber sie murmelten und zogen finstere Gesichter. Sie kämpften jetzt nur noch aus einem einzigen Grund gegen sie: weil sie ihre Autorität prüfen wollten. Sie wusste nicht, was sie ihnen entgegensetzen sollte. »Seht, was wir noch mitgebracht haben«, sagte Katzenmaske und ging dabei mit einer Lässigkeit über die ganze Sache hinweg, als würde er eine Mücke beiseitewischen. Wie alle jungen Erwachsenen, die in der Verbannung groß geworden wa
279 ren, hatte er niemals mit einem Blutmesser gesprochen oder auch nur eines gesehen. »Seht nur, was wir aus den jenseitigen Landen mitgebracht haben!« Er und seine Maskenkrieger blickten stolz drein. »Diese Herde ist nicht die einzige, die wir gefangen haben.« Ein Bündel Kinder kam in einer Reihe herbei; sie trugen hölzerne Sklavenhalsbänder. Vier waren noch Kleinkinder, acht im Krabbelalter, sieben sehr jung, und schließlich war da noch ein etwa neun oder zehn Jahre altes Mädchen. Ihre Augen waren vor Entsetzen glasig, und sie starrte stur geradeaus. Sie sahen ganz und gar nicht so aus wie die Strahlende, hatten einen anderen Teint, breitere Gesichter und schwarze Haare, die eher denen der Ashioi ähnelten als Liathanos vollen, feuergoldenen Haaren. Es waren keine hübschen Kinder, nicht wie die ihres Volkes, aber sie waren sehr jung - und allein in dieser Gruppe so viele. Nach der langen Zeit in der Verbannung war Federkleid immer noch erstaunt, wenn sie Kinder sah.
»Habt ihr keine Gefangenen mitgebracht?«, fragten die Blutmesser. »Keine Krieger, die in ehrenvollen Kämpfen ergriffen wurden?« Katzenmaske zuckte mit den Schultern. »Die Erwachsenen, die wir getötet haben, waren keine Krieger. Es wäre zu viel Aufwand gewesen, sie herzubringen, deshalb haben wir sie getötet.« Er sah seine Kameraden an, und sie nickten. »Und wir waren sehr hungrig, also haben wir sie gegessen.« Alle lachten, denn es war eklig, sich vorzustellen, einen Fremden zu essen, noch dazu einen mit saurem Fleisch. »Wir hielten es für richtig, diese Kinder herzubringen. Ein Bündel und zwei.« »Ich zähle nur ein Bündel«, sagte der Älteste der Blutmesser. »Oh, das stimmt«, bemerkte Katzenmaske. Er kratzte sich am Kinn. »Als wir durch Hochhügel kamen, sind wir Echsenmaskes Schwester begegnet, die sich dort niedergelassen hat. Ihr kleiner Sohn war gerade an der Hustenkrankheit gestorben,
280 deshalb hat sie zwei kleine Jungen behalten. Sie glaubt, wenn sie sie aufzieht, kann sie vielleicht ihren Kummer vergessen.« »Also schön«, sagten die Blutmesser. »Ein Bündel wird genügen. Aber ihr, die ihr in den Landen jenseits der Weißstraße jagt und plündert, müsst uns kräftige Gefangene als Gabe an die Götter bringen.« »Wenn wir welche finden!«, sagte Katzenmaske und lachte. »Sie wirkten ziemlich mager und schwach. Wir mussten die Kleinen hier mit Ziegenmilch fett machen.« »Wir brauchen ihr Blut«, sagten die Blutmesser. »Nicht ihr Fleisch.« Sie traten vor, um die Kinder zu nehmen, aber bevor sie Hand an sie legen konnten, drängte Weißfeder an ihnen vorbei und packte eines der Krabbelkinder. »Ich beanspruche dieses für mich, um es wie mein eigenes aufzuziehen!« Ihre Stimme klang laut, der Ton war schroff, und das Kind bekam einen Schluckauf und schniefte in der zunehmenden Stille, während die Blutmesser ihre Hände öffneten und wieder schlossen und die Leute näher kamen, um herauszufinden, was da vor sich ging. Ehe drei Atemzüge vergangen waren, trat ein Mann, dessen zerbrechliche Gestalt ihn als Verbannten kennzeichnete, aus der Menge und zog ein Kind aus den Armen eines Maskenkriegers. »Und ich beanspruche dieses hier, um das Kind zu ersetzen, das meine Frau nie haben konnte.« »Und ich auch!«, sagte eine Frau, trat vor und legte ihre Hände auf ein kleines Kind, das schon gehen konnte. »Denn ich habe mein Kind und meinen Mann verloren, als die Bleichhunde unsere Siedlung überfallen haben, kurz bevor die Schatten über uns gekommen sind. Ich möchte dieses Kind aufziehen.« Noch mehr Leute - sowohl Männer als auch Frauen - schoben sich nach vorn und beanspruchten Kinder, bis nur noch das älteste Mädchen mit dem leeren Blick und der erschreckten Miene übrig blieb.
280 Die Blutmesser waren wütend, aber sie waren wenige, und die Menge bestand aus vielen. Die Leute, die die Kinder festhielten, wirkten sehr entschlossen. »Dies sind die Kinder von Hunden! Sie sind nicht wie wir!«, wandten die Blutmesser ein. »Wie sollen sie etwas anderes kennen, wenn sie bei uns aufwachsen?«, fragte Weißfeder kühn. »Es ist gegen unsere Gesetze.« »Das stimmt nicht!«, entgegnete sie. »In früheren Zeiten sind einige der Menschen bei uns gewesen und haben sich die Clanzeichen auf ihre Körper gemalt. Auf diese Weise sind sie ein Teil des Clans geworden, und ihr Blut hat sich mit unserem vermischt.« »Ja! Ja!«, riefen die Blutmesser siegesgewiss. »Und dadurch ist das Gleichgewicht aus den Fugen geraten! Du weißt, was daraus geworden ist!« Weißfeder glühte jetzt vor Wut. Sie leuchtete wie die Sonne. »Ich werde euch nicht zuhören!«, sagte sie mit einer Stimme, die wie das Sonnenlicht jeden Winkel des Marktplatzes erreichte;
mittlerweile war jeglicher Handel zum Erliegen gekommen. »Ich habe einst zugehört, als der Letzte von euch in der Verbannung noch über uns geherrscht hat. Was für Narren wir gewesen sind!« »Ihr wart Narren, dass ihr euren Blutmessern gestattet habt zu sterben, ohne jene auszubilden, die ihnen hätten nachfolgen können.« »Ihr wisst gar nichts, ihr, die ihr in den Schatten gewandelt seid, während wir gekämpft haben, als das Land um uns herum gestorben ist! Hu-ah! Hu-ah! Mögen meine Worte Sie-Die-Erschafft erfreuen, die uns erhält!« Jetzt durfte sie niemand mehr unterbrechen. »Die Blutmesser haben noch geherrscht in jenen Tagen, als das Land gestorben ist und wir gestorben sind. Viele waren bereits tot, weil es nicht genug zu essen gab. Aber als ich ein Kind war, gab es eine große Krankheit, und die meisten von denen,
281 die noch übrig waren, sind daran gestorben. Hunde haben sich von den Leichen ernährt, denn es war niemand da, um die Todesriten zu vollziehen. Geier mästeten sich an magerem Fleisch. Überall lagen Knochen herum. Und noch immer starben wir. Danach haben wir die Städte verlassen. Die wenigen, die noch lebten, zogen in die Dörfer. Dort lebten wir, während die Felder verdorrten und die Vögel immer weniger und weniger Eier legten. Die Seen trockneten aus, es gab keine Fische mehr, und die Flüsse versiegten, bis nur noch Rinnsale vorhanden waren. Und noch immer starben wir. Schließlich beschlossen die letzten Blutmesser, dass wir, um das Gleichgewicht wiederherzustellen und die verärgerten Götter zu beschwichtigen, den Göttern das anbieten mussten, was wir am höchsten schätzten. Ich war damals jung und gerade erst verheiratet. Ich hatte mein erstes Kind geboren, eine Tochter. Die Blutmesser haben sie mir genommen und geopfert. Sie sagten, dass ich jung wäre und ein anderes Kind haben würde und dass ihr Blut uns retten würde. Aber mein Leib war vertrocknet. Er starb wie das Land. Ich hatte kein anderes Kind. Sie haben das einzige Kind geopfert, das ich jemals ausgetragen habe, und das Opfer war umsonst. Das Land starb, weil es durch die Magie der menschlichen Hunde von der Erde getrennt worden war. Aus diesem Grund, keinem anderen. Wir starben, und wir hatten keine Kinder mehr. Versteht ihr nicht? Die Blutmesser haben sich geirrt. Und am Ende sind auch sie gestorben.« Sie setzte sich das erste Kind auf ihre magere Hüfte und packte das ältere Mädchen am Handgelenk, zog es zu sich heran. »Ich werde diese beiden Mädchen zu mir nehmen, um das zu ersetzen, was ich verloren habe. Sie gehören jetzt mir. Ich beanspruche sie, wie es nach dem Gesetz mein Recht ist. Und ich werde nicht zulassen, dass die Blutmesser eines meiner Kinder opfern. Nicht noch einmal.« Die Blutmesser wandten sich an Federkleid, die auf der staubigen Erde des Marktplatzes stand.
281 »Es muss ein Opfer geben«, sagten sie. »Zwei Ziegen aus der Herde«, erwiderte Federkleid. »Und Kriegsgefangene, starke Krieger. Aber nicht diese Kinder.« Der Älteste beugte sich vor. Sein Atem war scharf vom Pfeffer. »Das wirst du bereuen«, flüsterte er.
2 In Herz-der-Welt schien Frieden zu herrschen. Im ganzen Land südlich der großen Pyramide, die Berg des Weltenanfangs genannt wurde, hatten sich die Verlorenen wieder eingefunden und machten sich auf hunderterlei Weise nützlich: Sie bauten, wischten, tratschten, paarten sich, pflanzten, fischten, jagten, handelten, gruben, badeten, schnitzten, flochten, webten, mahlten, nähten, kümmerten sich um die Kinder und taten noch vieles mehr. Aber in der Ratskammer der Verbannten stritten zwei Brüder miteinander, während Federkleid und ein halbes Bündel vertrauter Ratsleute zusahen.
»Wie hast du es bloß geschafft, die Priester nach nur einem halben Jahr so wütend zu machen?«, fragte Zuangua. »Du warst doch derjenige, der sich am meisten über die Macht der Himmelsdeuter beklagt hat«, sagte Ältester Onkel mit einem schiefen Lächeln. »Ja, aber das habe ich dort getan, wo sie mich nicht hören konnten! Federkleid musste stattdessen zum Marktplatz gehen, und du hast ihr nicht einmal geraten, dabei die Autorität der Priester auf angemessene Weise zu achten! Jetzt haben sich ihre Messer gegen dich erhoben! Sie machen kein Hehl daraus.« »Bist du nur gekommen, um uns Vorwürfe zu machen?«, fragte Ältester Onkel. Federkleid seufzte. Die Rückreise von der Stadt am See hat
282 te sie erschöpft, weil sie vorausgesehen hatte, was kommen würde. Sie hatte auf eine Verschnaufpause gehofft, aber Zuangua war ihr voller hochmütiger Wut dicht auf den Fersen gefolgt. Sie hatte sich geweigert, allein mit ihm zu sprechen, hatte darauf gewartet, dass Ältester Onkel vom Wachturm an der Grenze geholt worden war, wo er sich niedergelassen hatte. Jetzt lauschte sie, als er ungeduldig über die Worte seines Zwillingsbruders den Kopf schüttelte. »Ich bin hergekommen, um euch zu warnen! Ich setze mich so gut ich es kann für euch Verbannte ein, weil wir in unseren Herzen verbunden sind, aber jene, die in den Schatten überlebt haben, haben viele Beschwerden!« »Beschwerden!«, rief Weißfeder. Die anderen - Grünkleid, Schädelohrring und sieben weitere, die die Verbannung gemeinsam überstanden hatten - teilten ihre Wut. »Wie kannst du Beschwerden haben?«, fragte Ältester Onkel etwas sanfter. Er wirkte halb erheitert und halb verzweifelt. Zuangua reckte die Faust, zeigte seinem gealterten Bruder den Handrücken. »Der erste Punkt.« Er hob den kleinen Finger. »Wieso sind so viele gestorben? So viele! Wir, die jenseits der Weißstraße gewandelt sind, um gegen die Bleichhunde zu kämpfen und unsere Heimat zu beschützen, waren weniger als ein Viertel unseres Volkes. Und nun, da wir zurückgekehrt sind, stellen wir fest, dass wir zwanzig Mal so viele sind wie ihr! Wieso sind so viele gestorben? Wieso ist das Land in einer Zeitspanne, die kaum größer ist als die deines Lebens, so leer geworden?« »Nur sehr wenige von uns haben ihre Urgroßkinder kennengelernt«, sagte Ältester Onkel mit der Geduld der Alten. »Das ist eine lange Zeit.« Er war nicht verärgert, obwohl der Vorwurf beleidigend war. Sogar Federkleid, die gewöhnlich gelassen war, errötete. Sie drückte das Kind fester an sich. Jene, die aus den Schatten zurückgekehrt waren, konnten möglicherweise nicht verstehen,
282 wie kostbar jedes Kind geworden war. Grünkleid hielt den anderen Säugling mit der liebevollen Aufmerksamkeit einer verzückten Tante, obwohl die zwei Frauen nicht durch Blutsbande miteinander verbunden waren. Weißfeder hatte ihre eigenen Kinder, um die sie sich kümmern musste; das Krabbelkind schlief in einer Schlinge, die die ältere Frau sich um den Körper gebunden hatte, und das Mädchen kauerte an der Mauer, hatte die Arme um die Knie geschlungen und wippte mit geschlossenen Augen leicht auf den Füßen. »Wie lang?«, fragte Zuangua. »Wie viele Jahre?« »Wir haben den Lauf der Jahre nicht genau verfolgen können. Wir hatten keine Sonne und keine Sterne, um den Kalender zu berechnen.« Zuangua hatte zwei Kameraden mitgebracht, eine kräftig aussehende Frau, die eine Fuchsmaske trug, und einen älteren Mann mit der Schärpe eines Kaufmanns. Fuchsmaske stand mit verschränkten Armen herausfordernd da. Der Kaufmann hatte sich mit gekreuzten Beinen hingesetzt und musterte mit kaltem Blick Federkleids Ratsmitglieder, als würde er sie am liebsten anspucken. »Also schön«, sagte er widerwillig. »Es ist vielleicht unmöglich zu bestimmen.«
»Wie wir es den Himmelsdeutern erklärt haben«, murmelte Ältester Onkel. »Viele Male schon. Aber offensichtlich glauben sie uns nicht.« »Offensichtlich. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt.« Zuangua hob den Finger neben dem kleinen Finger. »Was ist mit den Priestern? Kein Land kann ohne Ordnung überleben, wie wir hier sehen können. Aber wie ist es möglich, dass sämtliche Blutmesser gestorben sind?« Keiner der Älteren sagte etwas darauf; die meisten blickten zu Boden. Weißfeders Säugling wurde unruhig, als er die Anspannung spürte, und das Kind, das Grünkleid hielt, gab einen einzigen, aufgeregten Schrei von sich, ehe die alte Frau es sanft zum Schweigen brachte.
283 Dies war etwas, worüber niemand gesprochen hatte, nicht einmal während der Verbannung. »Ich warte«, sagte Zuangua. Ältester Onkel rieb sich das Kinn. Er sah die anderen nicht an. »Als während der ersten Generation die Hungersnot über uns gekommen ist und wir in großer Zahl gestorben sind, haben uns die Blutmesser keinerlei Lösung angeboten, nur Probleme. Und als die große Krankheit kam, weigerten sie sich immer noch, Veränderungen zuzulassen. Sie konnten an diesem Ort den Himmel nicht deuten, aber alles, wovon sie sprachen, war die Art und Weise, wie die Dinge früher gehandhabt worden waren. Wir haben die Götter immer noch geehrt, auf angemessene Weise, haben ihnen unser eigenes Blut als Tribut gegeben, aber jene, die die Macht der Blutmesser eingesetzt haben, um sich über die anderen zu erheben, sind alle fort. Das ist wahr. Sie sind alle fort.« Der Kaufmann hustete, denn etwas in Ältester Onkels Stimme bereitete allen Unbehagen. Zuangua runzelte die Stirn. »Es fällt mir schwer zu erkennen, welche dieser Worte ich am wenigsten mag und welche ich am meisten hasse.« Er hielt immer noch die Hand hoch, streckte jetzt den Mittelfinger. »Drei. Zwei der zwanzig Clans sind bei den Verbannten verschwunden.« »Und zehn der verbleibenden Clans zählen weniger als fünf Bündel. Ja. Wir wissen, wie viele wir verloren haben.« »Wie ist das möglich?« Der Kaufmann klopfte sich dreimal gegen die Brust. »Ich bin in den Hasenclan hineingeboren worden. Hier in diesem Land finde ich kein Haus, das mich willkommen heißt!« »Es gibt noch andere vom Hasenclan, die in den Schatten überlebt haben«, sagte Ältester Onkel. »Wenigstens habe ich das gehört.« »Wie konntet ihr die Clans sterben lassen?«, brüllte der Mann. Ältester Onkel lächelte traurig. »Wie könnt ihr wissen, wie es war, zusehen zu müssen, wie die Leute verhungert und verdurstet sind, als das Land versiegt ist? Den Gestank der Krankheit zu riechen, die uns befallen hat? Zuzusehen, wie Väter die Todesriten über ihr einziges Kind gesprochen haben und dann selbst gestorben sind, als ihre Kraft sie verlassen hat? Was wisst ihr von Gebeinen, die auf den Hängen der Berge liegen geblieben sind? Hu-ah! Was hättet ihr besser machen können als wir?« Das Alter verlieh einem Mann Macht. Ältester Onkel war außerdem als Zauberer bekannt. Er suchte nach den Körnern der Wahrheit in dem Mantel, der über das Universum geworfen worden war, das die Leute die Welt nannten, denn was die meisten Leute Welt nannten, bestand eigentlich nur aus dem, was man berühren und riechen, schmecken, hören und sehen konnte. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Kaufmann. Er legte die Hände auf die Knie und neigte den Kopf ein kleines bisschen in Richtung des alten Mannes. »Du musst verstehen, wie es für uns aussieht, die wir so lange in den Schatten gewandelt sind und zugesehen haben, wie die Bleichhunde über die von uns geliebte Erde geschwärmt sind. Um schließlich zurückzukehren und unsere Heimat vorzufinden als ...« Er wischte eine Träne beiseite, und diese Gefühlsäußerung wirkte so ungezwungen und aufrichtig, dass Federkleids Kehle sich zusammenzog und ihre eigenen Augen sich mit Tränen füllten. »Es ist ein Land der Gebeine.« »Das ist es geworden«, sagte Ältester Onkel. »So viele sind gestorben. Wir haben gekämpft, um am Leben zu bleiben.«
»Ich bin noch nicht fertig.« Zuangua streckte den Zeigefinger aus, deutete mit dem Handrücken, von dem jetzt nur noch der Daumen nach innen gebogen war, auf seinen Bruder, auf sie alle. »Vier. In der Zeit, an die ich mich erinnere, ist das Gefiederte Kleid aus hohen Geschlechtern aufgestiegen, die von den Göttern aus den Erben von Obsidianschlange ausgewählt worden waren, der uns über das Meer geführt hat.«
284 Zum ersten Mal sah er Federkleid direkt an. Seine Aufmerksamkeit lenkte sie einen Augenblick ab, wie immer. Seine Gesichtszüge waren hübsch, und er hatte einen schönen, bronzefarbenen Teint. Er trug die langen schwarzen Haare ungebunden, so dass die glänzende Haarpracht eine Frau durchaus blenden mochte. Dennoch konnte man auf die gleiche Weise Katzenmaske und andere Krieger bewundern, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte. Es gab einen Unterschied: Zuangua hatte das Aussehen eines gut gemachten Schwertes, das bereits im Kampf erprobt worden war. Verglichen mit ihm besaßen die Übrigen keinerlei Glanz und Schärfe. Sein Lächeln war eine Herausforderung. Sie hob eine Braue als Antwort, weigerte sich, in eine der beiden Fallen zu gehen -die seiner Herausforderung oder die seiner Geschlechtlichkeit. Dennoch schadete es ihr nicht, ihn merken zu lassen, dass sie ihn attraktiv fand. Einige Männer ließen sich so sehr von ihrem Stolz mitreißen, wenn sie erst einmal die Aufmerksamkeit einer Frau errungen hatten, dass ihre Eitelkeit sie töricht machte. Es würde interessant sein herauszufinden, ob Zuangua auch unter dieser Schwäche litt. »Er glaubt, dass ich des Adlersitzes unwürdig bin«, sagte sie, ohne den Blick zu senken. Aber ihre Worte waren nicht an Zuangua gerichtet, sondern an Ältester Onkel und ihre treuen Berater. In Zuangua gab es keinen Platz für Zweifel, aber sie erkannte an seinen flackernden Augen, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass sie seine Herausforderung annahm. »Bist du fertig?«, fragte sie. Das Kind rührte sich, schmatzte und suchte, und ohne den Blick abzuwenden, half sie ihm, die Brustwarze zu finden. Das Saugen des Kindes beruhigte sie. Er sagte nichts. »Krieg wird bald kommen«, sprach sie weiter, sah immer noch Zuangua an. »Er kommt heute.« »Hast du dies in einer Vision gesehen, Federkleid?«, fragte Ältester Onkel.
284 »Ich brauche keine Zauberei, um zu erkennen, was sich vor meinen Augen befindet. Entscheidet jetzt, Ratsmitglieder. Ich kann nur für eine Handlungsweise eintreten, aber schon bald wird meine Stimme übertönt werden.« »Fünf«, sagte Zuangua. Abrupt löste er den Blick von ihr, winkte seinen beiden Kameraden und verschwand mit ihnen durch den Tunnel, der zum Eingang führte. »Fünf Einwände«, bemerkte Grünkleid mit dem hämischen Unterton, über den nur Frauen verfügten, die ein bestimmtes Alter erreicht hatten. »Hat er >fünf< gesagt? Und die Worte ungesagt gelassen? Oder sollen wir ihn durch seine Taten verstehen?« Weißfeder seufzte, während sie ihr Kind in den Armen wiegte. Das Kind rührte sich nervös, wurde hungrig. »Ich erinnere mich nicht an die früheren Zeiten, nur an die Geschichten der Großeltern. Jetzt habe ich den Verdacht, dass ich es leid bin, sie zu hören. Das Land in der Verbannung ist dasjenige, das ich kenne. Aber ich bin froh, dass wir nach Hause zurückgekehrt sind.« Sie tätschelte dem Kind den Rücken, und es gab Laute von sich, zufrieden damit, gehalten zu werden. Das ältere Mädchen hatte die Augen geöffnet und sah die Frau an, die jetzt ihre Mutter war. »Alles hat sich geändert«, sagte Federkleid. »Das muss so sein, und das wird so sein. Aber die Eigenschaften und die Dinge, die wir in der Verbannung geschätzt haben, werden hier auf der Erde nicht geschätzt. Während ein Strang sich strafft, verdreht sich der andere. Das ist der Lauf der Welt.« Sie nickten. Ältester Onkel sah sie liebevoll an, Grünkleid voller Bedauern. Weißfeder runzelte leicht verärgert die Stirn, und Schädelohrring wirkte müde. Seine Wangen hingen herab, wie es häufig bei Männern der Fall war, die ihre beste Zeit bereits überschritten hatten. Die anderen
seufzten und murmelten leise Worte, um sie aufzuheitern, aber niemand klang erheitert. Der Wind strich ächzend durch das Loch über
285 ihnen, und Wurzeln rührten sich, als Staub in dem unbeständigen Licht tanzte. »Ich habe noch eine Frage«, sagte sie, als die anderen sie ansahen. »Was ist mit den letzten Blutmessern geschehen?« Zunächst wurde es ganz still, aber ihre Blicke sprachen eine eigene Sprache, die über Worte hinausging. Schließlich zuckten Weißfeders Lippen in dem aufflackernden Lächeln, das ein grimmiges Lachen andeuten mochte. »Wir waren sehr hungrig«, sagte sie. »Also haben wir sie gegessen.«
3 Fünf Tage nur, also blieb kaum Zeit. Das Horn erklang, um einen Rat einzuberufen, dem Federkleid vorstehen musste. Kansi-a-lari betrat die unter der Erde liegende Kammer zum Klang von Glocken und begleitet von Zuangua und einem Dutzend seiner Anhänger. Hinter ihnen gingen - erstaunlicherweise - die vereinigten Streitkräfte von Katzenmaske und Echsenmaske. Viele Krieger und Handwerker, Frauen und Männer gleichermaßen kamen durch den Tunnel und bevölkerten den Boden der Ratskammer vor dem Adlersitz, auf dem Federkleid den Vorsitz führte. Blutmesser kauerten in Grüppchen beieinander. Draußen warteten weitere Leute, die den ganzen Weg von ihren zerstreuten Siedlungen und neu bewohnten Städten hergekommen waren. Die Höhle war voll und konnte niemanden mehr aufnehmen, da die Anwesenden ohnehin bereits Schulter an Schulter standen. Alle hatten ihre Waffen natürlich draußen gelassen, wie es dem Gesetz entsprach. Alle bis auf eine. Kansi-a-lari trat mit einem Speer in der rechten Hand vor, an dessen Ende sich eine Steinspitze befand. Sie blieb fünf Schritte vor dem Adlersitz stehen, stellte den Schaft auf den
285 Boden und deutete mit der linken Hand hinauf zum Dach und zum fernen Himmel, der durch das Loch zu sehen war. Staub verlieh der Luft einen rotgoldenen Schimmer. »Sag, was du zu sagen hast«, sagte Federkleid, indem sie die rituellen Worte sprach. »Ich fordere dein Recht heraus, auf dem Adlersitz zu sitzen und den Vorsitz über den Rat unseres Volkes zu führen«, sagte die Ungeduldige. »In den vergangenen sechs Mondwechseln haben wir uns ausgeruht und Opfergaben unseres eigenen Blutes gebracht. Wir haben die Felder bestellt. Wir haben unsere Häuser gebaut und wiederhergestellt. Wir haben unsere Handwerker und Krieger gezählt und uns einen Überblick über unsere Speere und Schwerter verschafft. Wir müssen zuschlagen, solange die Menschheit ums Überleben kämpft.« »Sie sind in der Überzahl«, sagte Federkleid. »Ja! Wir müssen zuerst zuschlagen, und zwar rasch.« »So, wie du es heute getan hast.« Kansi warf einen Blick zurück auf Zuangua, der ungeduldig und gelangweilt dreinblickte und den Kopf schüttelte. »Wir haben lange genug gewartet!«, sagte Kansi-a-lari. »Wir haben zu lange gewartet!« Wie ihr Onkel lenkte auch die Ungeduldige die Blicke auf sich. Sie hatte die tödliche und faszinierende Schönheit eines Jaguars. Sie stolzierte zwischen den Männern herum, und nur wenige besaßen die Willenskraft, ihr zu widerstehen. Frauen gegenüber verhielt Kansi-a-lari sich allerdings anders, denn sie wusste, dass ein harter Blick oder eine herausfordernde Hand auf der Hüfte bei ihnen nicht die gleiche Wirkung erzielte. Sie bevorzugte Männer, denn sie war der Ansicht, dass sie leichter zu beherrschen waren. »Wenn wir zuschlagen«, fragte Federkleid, »zu welchem Zweck werden unsere Krieger dann kämpfen und sterben?« »Um die Kraft der Menschheit zu testen. Ich habe Kundschafter nach Osten und Westen ausgesandt. Im Westen befindet sich Ödland, aber nordöstlich von hier gibt es eine große
286 Stadt, wo wir erfolgreich zuschlagen können. Sie sind dabei, sie wiederaufzubauen. Sie werden nicht vorbereitet sein.« »Das hast du bereits gesagt, aber welche Absicht verfolgst du mit diesem Angriff?« »Jene zu töten, die sich widersetzen. Wertvolle Gefangene nach Hause zu bringen, um sie den Göttern zu opfern. Unsere Vorratskammern mit ihrem Korn und ihren Schätzen zu füllen. Einen Statthalter einzusetzen, der über ihre Bauern und Kaufleute herrscht. Auf diese Weise werden ihre Steuern uns und nicht unseren Feinden nützen.« Federkleid wartete, während die Versammelten diesen Vorschlag leise untereinander besprachen. Die Blutmesser blieben still, als hätten sie vorher gewusst, was sie sagen würde. In der Höhle gab es keinen Wind, und trotz des kühlen Wetters war es stickig. Das große goldene Rad der Versammlung, das hinter ihr stand, bewegte sich nicht. Nur der Wind drehte es. Auf diese Weise stellte es das Volk dar: Jede einzelne Feder war bei Ruhe sichtbar, aber wenn es in Bewegung war, vermischten sich die einzelnen Teile für das Auge untrennbar zu einem strahlenden Ganzen. Sie seufzte. Sie wusste, dass sie sprechen musste, auch wenn es zu nichts Gutem führen würde. »So schnell willst du jenseits der Weißstraße marschieren? Es wäre besser, unsere eigenen Städte aufzubauen und unsere eigenen Felder zu bestellen, bis unsere Füße fest in dieser Erde verwurzelt sind.« Kansi-a-lari zuckte mit den Schultern. »Die Menschensklaven können für uns pflanzen und bauen. Wenn sie für uns arbeiten, stehen uns mehr von unseren eigenen Leuten zum Kämpfen zur Verfügung. So war es auch in früheren Zeiten.« »In früheren Zeiten«, sagte Federkleid und wusste, dass ihre Stimme abgehackt und gereizt klang und diese Tatsache ihren Standpunkt schwächen würde, »haben wir uns Feinde gemacht, die gemeinsam daran gearbeitet haben, uns von der Erde zu vertreiben! Haben wir nichts aus der Vergangenheit gelernt?« »Doch!« Kansi zeigte jenes Jaguarlächeln, das Männer zum
286 Staunen und Schwitzen brachte. »Sie hassen uns. Sie fürchten uns. Aber wir müssen lernen zuzuschlagen, während sie geschwächt sind, damit sie uns nicht wieder angreifen können! Es ist an der Zeit, die Bräuche der Verbannung hinter uns zu lassen und das zu ergreifen, was unser ist diese Welt, von der wir so lange getrennt waren!« »Nein. Es ist zu früh. Lassen wir die Jungen aufwachsen. Lasst uns erst alles wieder aufbauen und wieder stark werden.« Kansi drehte sich im Kreis, musterte alle, die in der Ratskammer anwesend waren: die Älteren und die jüngeren Anführer, die Krieger und die Handwerker, jene, die in der Verbannung geboren worden waren, und die anderen, die erst kürzlich aus den Schatten gekommen waren. Die Blutmesser beobachteten sie hungrig. »Ich bin unter den Menschen gewandelt, jenen, die in diesen Tagen leben, nicht jenen, die du von früher kennst. Ich bin in der Verbannung geboren, aber ich habe nicht in der Verbannung gewartet und meinen Mut und meine Wut verloren.« Ältester Onkel zupfte sich an einem Ohr, vielleicht wollte er seinen Ärger über sein einziges Kind verbergen. »Beleidigst du uns, die wir mit dir die Verbannung erduldet haben?«, fragte Weißfeder. »Ich sage, was ich zu sagen habe. Hört zu! Ich habe erlebt, dass man der Menschheit nicht trauen kann. Besonders jenen nicht, die sich Mathematiki nennen. Sie sind diejenigen, die die Geheimnisse der Kronen kennen. Sie sind diejenigen, die uns wieder schaden können. Deshalb: Lasst uns jetzt zuschlagen! Wenn diejenige, die als Federkleid herrscht, uns nicht anführen wird, werde ich es tun.« Die Krieger stampften kräftig mit den Füßen und trommelten mit den Speerschäften auf dem Boden, aber Federkleid machte dem Lärm ein Ende, indem sie die Hand hob. Weißfeder trat vor. Sie hatten sich auf diese Situation vorbereitet. »Ich sage, was ich zu sagen habe!« Weißfeder zeigte Feder
287 kleids Zwillinge, eines auf jedem Arm. Ihre schwarzen Haare lugten aus dem gestreiften Stoff hervor, der um die unförmigen kleinen Körper geschlungen war. Die Kleinen waren wachsam, aufmerksam und ruhig. »Diejenigen von euch, die in den Schatten gewandelt sind, verstehen nicht in vollem Umfang, was während der Verbannung aus diesem Land geworden ist. Wir haben eine große Dürre erlitten. Mangel an Wasser. Mangel an Leben. Wir sind gestorben! Die Leichen unserer Mütter und Tanten, Väter und Onkel lagen überall, weil niemand die Kraft hatte, sie zu den Göttern zu schicken!« Sie ließ ihren Blick durch die Kammer schweifen, forderte sie auf, sie zu unterbrechen. Niemand tat es. »Wisset! Federkleid hat einen Sohn geboren und jetzt zwei Mädchen - Zwillinge, obwohl die meisten unseres Volkes unfruchtbar geworden sind. Selbst die Ungeduldige musste sich mit einem Mann aus der Menschheit paaren, um einen Sohn zu empfangen!« »Das geschah auf Drängen des Rates!«, rief Katzenmaske. »Und nicht, weil es sie nach Macht gelüstet hat!« »Schleudere mir keine scharfen Worte entgegen, Junge!«, sagte Weißfeder. Sie war alt genug, um seine Tante sein zu können, und er runzelte die Stirn, bewegte den Kopf einmal kurz zur Seite, als er seine Verärgerung unterdrückte. »Wir dürfen nicht vergessen, wie mächtig Federkleids Magie ist, dass sie ihre Fruchtbarkeit erhalten hat, während wir Übrigen ausgetrocknet sind. Es liegt Weisheit darin, die Anführer unter jenen zu wählen, die das Leben suchen und nicht den Tod.« Sie trat einen Schritt zurück. »Ich bin fertig.« Kansi-a-lari lächelte. Federkleid spürte eine kalte Strömung in ihrem Blut, als würde Eis in einen Sommerbach entlassen. Es war das Lächeln einer Raubkatze, die ihre Beute gestellt hat. »Ich habe Weißfeder nichts zu entgegnen. Federkleids Magie und Macht haben uns in der Verbannung gut gedient. Aber wir befinden uns nicht mehr in der Verbannung. Ich sage, was ich zu sagen habe: Ich bin in beiden Welten gewandelt. Die
287 Menschen sind eine Bedrohung. Sie sind in der Überzahl. Wir müssen rasch handeln, oder wir werden überrannt werden. Unsere Zauberei ist stärker als ihre. Ich habe gegen ihren stärksten Krieger gekämpft, und ich habe ihn geschlagen, weil ich über Magie verfügte und er nur über Körperkraft. Unsere Kundschafter vermuten, dass ihr Land große Zerstörungen erlitten hat. Wenn sie in Unordnung sind, wenn sie ohne Führung und damit beschäftigt sind, alles wieder aufzubauen oder auch nur zu überleben, dann ist jetzt unsere größte Chance. Wir bekommen möglicherweise keine zweite.« Federkleid erhob sich. Der schwere Federumhang, der über ihren Schultern befestigt war, fiel über ihren Körper, flüsterte mit den Stimmen der Verschwörer. Seit der Geburt ihrer Töchter hatte sie zwar ihre körperliche Kraft wiedererlangt, aber als sie nun ihrer Rivalin gegenüberstand, wusste sie, dass die Ungeduldige den richtigen Zeitpunkt zum Angriff gewählt hatte. Ihr selbst mangelte es noch an Entschlossenheit. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, was es bedeutete, zu Hause zu sein, auf der Erde, an einem Ort, den sie nur aus Geschichten kannte. Sie hob beide Handflächen. Die Versammlung wurde still, nicht einmal ein Fuß scharrte auf dem Boden, nicht eine einzige Hand kratzte über einen Arm. Diese Macht hatte sie noch immer. »So soll es denn eine Abstimmung darüber geben«, sagte sie kühl. »Jeder Haushalt soll einen Sprecher wählen, der einen Stein in den schwarzen oder den weißen Korb wirft, wie die Götter es beim Anbeginn der Zeit beschlossen haben. Die Versammlung wird an einem günstigen Tag, den die Blutmesser festlegen, bei Herz-des-Weltenanfangs erneut zusammentreten. Ich habe gesprochen.«
287
4 Als Anna mit den anderen durch einen Bogengang aus Licht in die Dämmerung trat, nahm sie den Geruch von trockenem Gras wahr. An ihren feuchten Lippen klebte Spreu. Ein roter Schimmer
erhellte die Berge, und sie starrte ihn verwundert an und fragte sich, was das Licht zu bedeuten hatte. »Die Sonne!«, murmelte Narben-John, der vor ihr herritt. Während ihre Ohren wieder aufgingen, hörte sie die anderen Soldaten beim ersten Blick auf die Sonne seit Monaten laut rufen. Über ihr verhüllten Wolken noch den Nachthimmel, aber im Osten zog die Morgendämmerung mit einem verblüffenden Glühen herauf, als würden die Berge in Flammen stehen. Gnade schnaubte und wachte mit den Füßen um sich tretend auf. »Ich will runter!« Anna drehte sich zu ihr um. »Eure Hoheit! Ich bitte Euch! Seid ruhig, Eure Hoheit! Ich bin bei Euch.« »Wehr dich nicht so«, sagte derjenige namens Frigo, packte das Mädchen am Ohr und zog daran. Gnade schrie so laut, dass sie Tote hätte aufwecken können, und sicherlich hielten sich alle die Ohren zu, als sie für einen zweiten Schrei Luft holte. Ohne das leiseste Anzeichen von Wut oder Vergnügen drehte Frigo ihr Ohr weiter herum, und sie begann zu husten und zu jammern. Er ließ los, und sie verstummte. Der Bogengang aus Licht versprühte Funken, als Edelmann Hugh aus dem Steinkreis trat. Zwielicht umhüllte ihn, aber es hellte sich rasch auf. Er zählte die Gruppenmitglieder, neun Soldaten und zwei Gefangene, bevor er sich umdrehte und die Krone musterte. Die zehn Menhire standen auf unheimliche Weise ordentlich, als wären sie erst kürzlich errichtet worden. »Wo sind wir, Edelmann?«, fragte Frigo, während Gnade an ihrem kleinen Finger lutschte und Hugh mit einem Blick ansah, als wollte sie ihn umbringen.
288 »Gemäß meiner Karte sind wir viele Tage östlich und ein Stück nördlich von Darre, aber noch nicht auf der Höhe des Breitengrades von Novomo.« Er zog sein Gedächtnis zurate; Anna erkannte es an der Art, wie sein Blick leer wurde, als suchte er etwas in seinem Innern. »Vier Wegstunden hinter Siliga, elf Steine.« Er musterte jeden Stein und deutete dann auf ein riesiges Gestrüpp aus Brombeersträuchern, das sich einen Steinwurf östlich des Kreises befand, gleich da, wo die Bergflanke abgerutscht war. Das Land dahinter fiel zur Küstenebene ab. Anna glaubte, weit im Süden - jenseits des ausgetrockneten Landstrichs aus bleichem, dürrem Gras und noch bleicheren Büschen, die fast weiß waren und wie Halme aus schlanken Fingerknochen wirkten - Wasser glitzern zu sehen. »Da muss ein Stein sein«, sagte Hugh. Narben-John stieg ab, um nachzusehen. Der Presbyter hob die goldene Scheibe. Er hantierte mit ihr herum, bewegte einen Kreis über dem anderen, drehte einen gekrümmten Riegel auf der Rückseite, sah zum östlichen Horizont, las - mit sich bewegenden Lippen - auf der Rückseite und schüttelte dann den Kopf. Danach zog er ein Stück gewachsten Zeltstoff aus dem Packen, den er bei sich trug, wickelte die Scheibe darin ein und schob sie in den Beutel zurück. »Haben wir uns verirrt, Edelmann?«, fragte Frigo. »Ich hoffe es!«, murmelte Gnade. »Edelmann! Unter diesen Brombeersträuchern ist ein Stein!«, rief John und zog seinen Speer aus dem Gewirr aus Ranken und Dornen. »Wir haben uns nicht verirrt«, sagte Hugh. »Wir sind genau dort, wo ich hinzugelangen gehofft habe. Ich wünschte nur, ich wüsste, welcher Tag heute ist. Meinen früheren Berechnungen zufolge müssten wir drei Tage verloren haben. Aber ich weiß es nicht genau. Also schön. Wir reiten von hier aus nach Osten.« Sie nickten.
288 »Wohin gehen wir?«, wollte Gnade wissen. Hugh sah sie an, sagte aber nichts. Anna zitterte; sie mochte seinen Blick nicht. Er war zu allem fähig. Gnade hatte nicht gesehen, wie er Elene getötet hatte, und es war auch besser, es dem Mädchen im Augenblick nicht zu sagen. Es war unmöglich vorherzusehen, wie Gnade reagieren würde.
»Hört bitte gut zu«, sagte Hugh und wartete, bis er ihrer aller Aufmerksamkeit hatte. »Wir werden verfolgt werden.« »Edelmann Hugh«, sagte John. »Wenn wir so weit gekommen sind, wie Ihr gesagt habt, wie könnte uns dann irgendjemand verfolgen?« »Ich spreche nicht von menschlichen Verfolgern.« Hugh lächelte geduldig, als hätte er diese Frage schon hundertmal gehört und würde sie auch weitere hundertmal bereitwillig beantworten, ohne die Geduld zu verlieren. Sein liebenswürdiges Benehmen machte Anna am meisten Angst. »Wenn ich es sage, müssen sich alle sofort in den Kreis zurückziehen. Ich kann niemanden beschützen, der sich nicht innerhalb des Kreises befindet.« Er nickte einem der Männer zu, einem kräftigen Burschen mit breiten Schultern und Händen wie Schaufeln. »Und dann verlassen wir uns auf Euch, Theodore. Es gibt für jeden hier nur einen einzigen Pfeil.« Theodore nickte. »Elf insgesamt, genau wie die Steine, Edelmann.« »Aber wir sind zwölf!«, sagte Anna. Hughs Blick war kalt wie Eis, obwohl er nach wie vor lächelte. »Du bist entbehrlich, Anna. Wenn du gekennzeichnet wirst, wirst du getötet werden. Du kannst nur hoffen, dass Antonia nicht an dich denkt, wenn sie ihre Verfolger ausschickt.« Sein Blick wanderte weiter. Sie war nicht so wichtig, dass er sich länger mit ihr beschäftigt hätte. Das rötliche Licht der Dämmerung verblasste, als die Sonne am Himmel höher stieg; sie war jedoch keine Scheibe, sondern nur ein bläuliches Glühen hinter einer Dunstschicht. »Theodore? Ihr wisst, was Ihr zu tun habt?«
289 »Ja«, sagte der Mann tapfer. »Ich werde Euch nicht enttäuschen.« »Oh ja«, sagte Hugh und nickte, was den Bogenschützen veranlasste, sich aufrechter hinzusetzen. »Davon bin ich überzeugt.« Jenseits der Menhire befand sich ein Dorf, eine nicht ganz kleine Siedlung, deren zwanzig Dächer von einer Viehpalisade und einem Graben umgeben waren. Es gab keine Wachen auf dem Wachturm. Sie ritten über die Brücke, die den Graben überspannte, und blieben vor dem geschlossenen Tor stehen. Theodore rief ein paarmal, aber es kam keine Antwort. Die Stille beunruhigte Anna. Die Pferde legten die Ohren an und bewegten sich unruhig. Sie hörte nichts als den Wind, nicht einmal Hundegebell. Schließlich erklärte Narben-John sich bereit, hineinzugehen. Er stieg ab und reichte Liutbold seine Zügel, drückte dann prüfend gegen das Tor. Es war in der Tat von innen verriegelt. Er versuchte es an der Palisade, ging an ihr entlang, bis er einen vorstehenden Pfosten gefunden hatte, an dem man ein Seil befestigen konnte. Dann kletterte er hinauf, stützte sich mit bloßen Füßen am Holz ab, während er sich mit den Händen am Seil hochzog. Sie beobachteten ihn aufmerksam. Sein leises Ächzen war gut zu hören, weil es so still war. Früher einmal waren die seltsam geformten Felder von Bauern bestellt worden. Es gab Reben und eine Gruppe von vierzig Olivenbäumen, die sich über den nahen Hang zogen. Die Straße östlich davon führte in einen Hohlweg und geriet rasch außer Sicht. Von hier aus war die Küstenebene nicht zu sehen. John kam oben an und legte sich auf den Bauch, musterte das Dorf. Er öffnete den Mund. Dann zuckte er zusammen, wie unter einem Hieb, und rutschte zurück. Anna schrie auf; sie dachte, er würde fallen, aber er fing sich unbeholfen wieder und ließ sich weiter herunter, riss das Seil mit einem Ruck los und kam zurückgerannt. Er hatte sie noch nicht erreicht, als er
289 auf ein Knie sank und sich erbrach, obwohl er nicht viel im Magen haben konnte. »Führt die Leute zurück, Hauptmann«, sagte Hugh zu Frigo. Er nahm Liutbold die Zügel ab und wartete, während die Übrigen ihre Pferde wendeten. »Die Pest«, sagte John, als er mit Edelmann Hugh zu den anderen trat. »Es hat auch die Hunde erwischt, die die Leichen auf der Straße gefressen haben. Nur gut, dass das Tor zu ist.« »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Hugh. »Verlassen wir diesen unheilvollen Ort. Frigo, schickt Kundschafter aus. Wir können nicht sicher sein, dass wir nicht auf Räuber stoßen. Wir sind so
wenige, dass schon eine kleine Gruppe uns großen Schaden zufügen kann, wenn man uns überrascht.« »Jawohl, Edelmann.« Sie ritten nach Osten durch ein so trockenes Land, dass die Pflanzen unter den Pferdehufen knisternd zerbrachen. Es gab kaum Gras für die Pferde. Das Korn schwand schneller, als Edelmann Hugh es geplant hatte, und so teilte er die Rationen neu ein. Sie kamen an den Überresten von Wacholder- und Olivenhainen vorbei; die Bäume waren vom Sturm alle in die gleiche Richtung umgerissen worden. An Frühlingspflanzen waren lediglich Disteln und kriechende Reben zu sehen. Es war ein raues Land, auf dem so viele Büsche und Sträucher wuchsen, dass man es in Wendar den Schäfern als Sommerweide überlassen hätte. Bis zum Mittag kamen sie an drei weiteren stummen Dörfern vorbei. Früher einmal hatten hier Menschen gelebt und Handel getrieben. Anna fragte sich, ob sie alle gestorben waren oder ob einige hatten entkommen können. Sie stellte sich vor, wie Kinder Ziegen und Schafe auf den Hängen hüteten. Sie stellte sich vor, wie Frauen mit Säuglingen auf dem Rücken und Schubkarren voller Zwiebeln und Pastinaken zum Markt gingen - oder vielleicht auch mit anderen merkwürdigen Nahrungsmitteln, die die Leute hier essen mochten. Merkwürdig - aber bestimmt nicht schmackhaft, wie sie vermutete.
290 Es war so ruhig, als hätte der Tod diese Welt gefressen und wäre dann weitergewandert, hätte dabei nur Steine, leere Gebäude und das verwitterte Gras zurückgelassen. Hin und wieder, wenn sie einen schmalen Weg zwischen steilen Hängen entlangritten, stellte sie sich vor, dass vielleicht Flüchtlinge hinter den Steinen oben auf den Kämmen hockten und auf sie herabblinzelten, aber tatsächlich spürte sie nichts. Sie hatte das Gefühl, dass sogar die Tiere geflohen waren, dass hier nichts mehr lebte, dass die Wolken sich nie teilten und Staub ihr einziger ständiger Begleiter sein würde. Ihre Zunge klebte am Gaumen, aber sie wagte nicht, nach mehr Wasser zu fragen. Deshalb war es eine Überraschung für sie, als Narben-John, der als Kundschafter vorausgeritten war, mit der Nachricht zurückkam, dass er eine Reihe bewaffneter Reiter gesichtet hätte. »Mindestens achtzig Mann«, berichtete er. »Keine Aostaner, dem Aussehen nach.« »Sind das diejenigen, mit denen Ihr gerechnet habt?«, fragte Hauptmann Frigo. Gnade saß hinter ihm, die Handgelenke zusammengebunden, die Finger am hinteren Rand seines Sattels. Sie versuchte, an ihm vorbeizusehen, als hoffte sie, einen Heiligen zu finden, der sie retten würde. »Das ist schwer zu sagen, ohne sie gesehen zu haben«, erklärte Hugh. Er nickte John zu. »Ein Stück voraus ist ein verlassenes Dorf. Wenn wir uns dort verstecken, sehen wir sie vielleicht vorbeireiten, ohne selbst gesehen zu werden.« »Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Hugh. »Ich würde lieber nicht in aller Eile in ein Dorf reiten, in dem möglicherweise die Pest haust.« »Die Berge sind bewaldet«, sagte Theodore, der einen Teil des Morgens damit verbracht hatte, die Gegend zu erkunden, und erst kürzlich zurückgekehrt war. »Aber die Bäume sind umgestürzt, wie wir es auch sonst überall gesehen haben.« »Es gibt ein paar Felsen auf dieser Seite des Dorfes«, sagte John. »Sie sind ziemlich zerklüftet. Die Chance, dass sie einem
290 die Hände zerschneiden, ist wahrscheinlich genauso groß wie die, dass sie uns Schutz bieten. Aber sie würden wohl reichen, um uns dahinter zu verstecken. Sie befinden sich in Sichtweite der Straße.« »Dann werden wir dorthin gehen. Beeilung.« »Sie werden unsere Spuren sehen«, sagte Frigo. »Zieht Stöcke hinter uns her, wenn es sein muss, aber wir haben wohl keine andere Wahl, da wir nur so wenige sind. Wir sind bisher in einer Reihe hintereinander geritten. Wir müssen hoffen, dass sie uns nur für zwei oder drei Reiter halten.« Schon bald sahen sie ein ganzes Stück entfernt im Osten die Staubwolke aufsteigen, die auf einen größeren Trupp Berittener hindeutete. Da Anna sich in der Mitte ihrer eigenen Gruppe befand,
konnte sie nicht sagen, wie viel sie selbst aufwirbelten. Sie hatte jetzt ein eigenes Pferd, ein kräftiges Tier, das hin und wieder am Hinterteil eines anderen Pferdes schnüffelte, aber ansonsten nicht sehr neugierig und unternehmungslustig war. Nicht die Art von Pferd, um zu entkommen, selbst wenn sie gewusst hätte, wohin sie reiten sollte, und Nahrung und Wasser gehabt hätte. Selbst wenn sie gehofft hätte, bei einer Gruppe unbekannter Soldaten Schutz zu finden. Die Felsengruppe ragte mitten aus der trockenen Ebene auf. Der Boden fiel schräg ab und verbarg so das Dorf, aber Narben-John versicherte, dass es sich gleich hinter dem Kamm befand und so gelegen war, dass man von dort aus die Straße beobachten konnte, die die Hauptverbindung von Osten nach Westen war. Die rotbraunen Felsen zogen sich wie zerrissene Bänder über den Hang, bildeten Hügel, die hoch genug waren, um Pferde und Männer zu verbergen. Sobald sie zwischen den Felsen waren, mussten sie sich vorsichtig bewegen. Zwei Männer schnitten sich an den Händen. Eines der Pferde riss sich das rechte Vorderbein auf. Der Fels war gerieft und sehr zerklüftet, seltsam warm trotz des Mangels an direktem Sonnenlicht. Er wirkte, als wäre er erst kürzlich dort aufgeschichtet worden, aber das war natürlich unmöglich.
291 Theodore trabte zurück zur Straße, um den Blick über die Felsen schweifen zu lassen; kurz darauf kehrte er zurück und erklärte, dass sie gut verborgen waren. Zwei Männer waren zu Fuß gegangen, verwischten mit Stöcken die Spuren. Die Übrigen tranken warmes, herbes Bier, während sie warteten. Niemand sprach. »Knebelt das Mädchen«, sagte Edelmann Hugh plötzlich. Gnade wehrte sich nicht, als Frigo ihr einen Streifen Stoff über den Mund legte und ihr vorsorglich die Füße zusammenband. Hugh musterte auch Anna, dann nickte er, und der Hauptmann griff nach einem anderen Stück Stoff und einem Seil. Gnade sah mit brennendem Blick zu, wie Anna geknebelt wurde. Der Stoff schnitt ihr in die Mundwinkel, und sie würgte, doch dann beruhigte sich ihre Atmung. Er band ihr die Hände auf den Rücken und machte dabei einen Knoten, den er leicht lösen konnte, sollten sie sich rasch bewegen müssen. Danach beachtete er sie nicht weiter. Sie setzte sich hin, aber das zerklüftete Felsgestein drückte sich schmerzhaft in ihr Gesäß, und so stand sie wieder auf, sehnte sich nach festeren Schuhen. Der Hauptmann fingerte an seinem Schwertgriff herum. Ein paar Soldaten beruhigten die Pferde. Hugh kletterte neben Narben-John auf einen Sims, von dem aus sie einen Blick über die Landschaft werfen konnten. Er neigte den Kopf, als würde er beten. Sie warteten. Nach einer Weile kamen auch die beiden letzten Soldaten, hockten sich zu den anderen und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Ein Spinnennetz zitterte zwischen zwei Steinen. In einer schattigen Spalte, wo feuchte, heiße Luft, die nach faulen Eiern stank, aus einem Riss im Boden aufstieg, wuchs ein wenig Moos. Gelegentlich wirbelte der Wind Staub auf, erstarb aber rasch wieder. Ein brauner Riss tauchte am östlichen Himmel oberhalb der Felsen auf. Hughs Schultern spannten sich an; er beugte sich vor und deutete auf etwas, das Anna nicht sehen konnte. Aber andere Männer, die in Spalten und Lücken zwi
291 sehen den Felsen warteten, sahen es ebenfalls, und sie tauschten Gesten aus. Theodore legte einen Pfeil an die Sehne. Frigo reichte Gnades Seil Liutbold und kletterte zu Edelmann Hugh. Anna beugte sich vor, um zuzuhören. »Das ist das Banner eines Generals«, murmelte Narben-John. »Warum reitet ein General mit einer Hundertschaft durch Aosta?« »Dann stimmt es also«, sagte Hugh. »Adelheid hofft, eine Hochzeit mit einem Arethusaner für Prinzessin Mathilda zu arrangieren. Wieso sonst sollte ein arethusanischer Edelmann und General in diesen Zeiten mit einer so geringen Streitkraft durch das Land seines Feindes reiten, wenn nicht, um über ein Bündnis zu verhandeln?« »Sie will denen da ihre eigene Tochter geben?« Hauptmann Frigo spuckte aus. »Ihre Mütter sind Säue und ihre Väter Esel.«
»So heißt es. Aber ein Bündnis mit dem Norden ist unmöglich, oder zumindest glaubt sie das. Ihr Land ist zerstört. Ich weiß nicht, wie es in Arethusa aussieht. Es könnte eine praktische Erwägung sein.« »Aber ... Arethusaner, Edelmann!«, sagte Frigo. »Verzweifelt nicht, Hauptmann. Vielleicht wollen sie auch Adelheid einen jungen Prinzen geben, der dann Mathildas Gemahl werden kann. Wer ist kühn, und wer ist verzweifelt?« »Man kann ihnen nicht trauen. Sie haben nicht einmal den wahren Glauben!« Er zögerte. »Aber vielleicht wisst Ihr etwas anderes. Sind sie diejenigen, derentwegen wir hierhergeritten sind?« Anna gähnte, streckte das Gesicht, versuchte, den Druck des Knebels zu lindern. Frigo hatte ihr nicht die Füße zusammengebunden. Wenn sie davonlief, würde die Gruppe des Generals ihr dann Schutz gewähren? Oder würde Theodore ihr einen Pfeil in den Rücken schießen, bevor sie sie erreichen konnte? Wollte sie zu Königin Adelheid zurückkehren? Und woher sollte sie wissen, dass Edelmann Hugh recht hatte? Die Are
292 thusaner konnten überall hingehen - vielleicht waren sie ja auch nur auf einem Erkundungszug. Vielleicht ritten sie einfach nur nach Westen, um irgendwelche Fremden zu töten, die ihnen über den Weg liefen. »Seht nur«, sagte Narben-John und grunzte. »Der in dem goldenen Überwurf. Er hat nur ein Auge. Seht Ihr? Ich wette, er hat Bekanntschaft mit einem aostanischen Hauptmann gemacht!« Seine Kameraden kicherten. »Wie kannst du das wissen, John?«, fragte Theodore. »Er ist zu weit weg, als dass man seine Augen sehen könnte.« »Ich bin nicht so blind wie du! Du, der Bogenschütze!« »Still jetzt.« Hugh hob die Hand, um den Männern hinter sich ein Zeichen zu geben. »Lasst sie vorbeireiten.« »Was haltet Ihr davon?«, fragte Frigo. »Was ist, wenn sie unsere Spuren sehen?« Hugh antwortete nicht. Er murmelte leise. Ein seltsamer, scharfer Geruch stieg in die Luft, brachte Anna dazu, niesen zu wollen. Ein Wind kam wie aus dem Nichts auf, blies Staub über die Ebene, der die Sicht nahm. Hughs Männer bedeckten ihre Gesichter mit Tüchern. Sand prickelte auf Annas Haut, aber sie konnte nichts anderes tun, als das Gesicht abzuwenden und die Augen zu schließen. Und dann erstarb der Wind so plötzlich, wie er gekommen war. Sie erhoben sich und schüttelten den Staub aus ihrer Kleidung, nahmen den Gefangenen die Fesseln ab und ritten weiter. Alle schauten nach vorn, nur Edelmann Hugh warf immer wieder einen Blick zurück, wartete und lauschte, als erwartete er, dass im Westen ein Sturm aufkam und auf sie niederfuhr.
292
5 In früheren Zeiten - vor weniger als vier Generationen gemäß den Schätzungen der Verbannten, aber mehr als zweitausendsiebenhundert Jahren nach dem Kalender der Erde - hatte sich die erste Stadt, die jene errichtet hatten, die aus dem Westen hierhergesegelt waren, über Herz-Des-Weltenanfangs befunden. Letzteres war eine riesige, heilige Höhle, deren Geheimnisse von niemandem ergründet werden konnten, außer von den Akolythen Gottes, den Himmelsdeutern, die auch als die Blutmesser bekannt waren. In jener Zeit, so besagte die Legende, hatte ein Platz auf die heilige Kammer verwiesen, der mit Skulpturen in Gestalt von Schlangenköpfen geschmückt war. Später erhob sich eine Pyramide auf eben diesem zentralen Platz - eine Pyramide, die Sie-Die-Erschafft geweiht war, die als Einzige das Geheimnis des Universums verstand. Von diesem Zentrum aus erstreckte sich die Stadt entlang zweier breiter Alleen. Die Sonnenallee erwachte gen Osten und legte sich im Westen schlafen, an beiden Enden durch einen Tempel verankert, der Er-Der-Brennt in seinen aufsteigenden und absteigenden Aspekten gewidmet war.
Die Sonnenallee wurde von einer zweiten großen Straße gekreuzt, die von Norden nach Süden führte und Sie-Die-Keinen-Mann-Haben-Wird gewidmet war. Auf diese Weise vierteilten die Straßen die Stadt entsprechend den Anweisungen der Ältesten, die es unternommen hatten, die Stadt gemäß den Forderungen der Götter zu gestalten. So war es gewesen, bis zu dem Tag, als das große Weben die Stadt zerteilt hatte, sie - und mit ihr die riesige Pyramide, die Sie-Die-Erschafft geweiht war - entlang einer messerscharfen Linie durchtrennt hatte. Jetzt, bei Morgendämmerung, stieg Federkleid die Treppe der großen Pyramide empor. Als sie ein Viertel des Weges hinter sich gebracht hatte, blieb sie auf einer breiten Terrasse stehen. Hier standen zwei Steinbänke, von erst
293 kürzlich errichteten Strohdächern beschattet. Von diesem abseits liegenden Ruheplatz aus musterte sie die Stadt und die Menge. Die Ungeduldige folgte ihr und nahm ihren Platz auf der anderen Bank ein. Sie sagten beide nichts. Von dieser Höhe aus war die Kluft deutlich zu erkennen, die jenen Teil, der verbannt worden war, von dem trennte, der die Erde nie verlassen hatte. Strahlend bemalte Schlangenmasken säumten die steilen Stufen. Unten überfluteten Farben die langen Mauern, die die an der südlichen und der östlichen Allee gelegenen Plätze voneinander abgrenzten. Ganz wie es Brauch war, bedeckten Wandmalereien sämtliche Mauern, die die Leute an ihre Herkunft erinnern sollten: schwarze Adler, goldene Phönixe, rote Schlangen mit Pfeilen im Maul, heulende rote Hunde, weiße Spinnenweibchen mit ihren Weisheitsnetzen, Falken und Luchse und gelbbraun gefleckte Katzen. Echsen und Hasen und der anmutige, tödliche Jaguar, und alle anderen, die es sonst noch gab. Doch an der nordwestlichen Seite - vom Rest durch eine unsichtbare Linie scharf abgegrenzt - lag der Teil der Stadt, der nach dem großen Weben zurückgelassen worden war. Es war eine Stadt der Gebeine; der Stein war grau vom Alter, die Dächer von der Zeit und Wind und Wetter besiegt, so dass die Häuser nur noch leere Hüllen waren, während Sand die alte Straße bedeckte. Der Gegensatz verwirrte sie jedes Mal, wenn sie die Stadt als Ganzes sehen wollte. Es war unmöglich, den Blick rasch von der uralten Vergangenheit zur lebenssprühenden Gegenwart wechseln zu lassen. Es war eine seltsame Vorstellung, dass sie in gewisser Weise hier oben nicht nur zwischen dem Gipfel und dem Boden stand, sondern gleichzeitig auch zwischen einer uralten Vergangenheit und einer unerwarteten Gegenwart. Unterhalb von ihr hatten sich all die Leute eingefunden, die die Reise hatten unternehmen können. Es waren unvorstellbar viele: zwanzig mal zwanzig mal zwanzig mal zwanzig.
293 Sie hatte ihr ganzes Leben lang in einer trockenen und staubigen Welt gelebt, die von einem ausgetrockneten und verstaubten Volk nur dünn besiedelt gewesen war - von dünnen, erschöpften und verwelkten Leuten. Aber die Verbannten machten von der Menge dort unten nicht mehr als ein Zwanzigstel aus. So viele waren aus den Zwischenräumen der Zeit zurückgekehrt, noch immer rundlich und leidenschaftlich, vor Wut entflammt über einen alten Krieg, von dem sie selbst nur aus den Geschichten von Ältester Onkel und ihren inzwischen toten Großeltern, Großtanten und Großonkeln wusste. Ihre Wut war wie das Summen von Bienen - es war in der Luft zu spüren, durch den Stein und in den Bewegungen der Körper, die wild gestikulierten, sich einander zuneigten oder vollkommen still dastanden. Sie waren zweiundfünfzig Umläufe von zweiundfünfzig Jahren in den Schatten gewandelt, gefangen zwischen hier und dort, nicht lebendes Geschöpf und noch kein Geist. Sie hatten nicht verziehen, und warum sollten sie auch? Es fehlte ihnen an der gelassenen Klarheit, die den Leuten gestattete, gute Entscheidungen zu fällen, wie Federkleid wusste, aber gleichzeitig ermutigte sie die Tatsache, dass ihr Volk wohlbehalten, stark und lebendig war. Es gab so viele Kinder, die kichernd umherliefen oder hochgehalten wurden, als die Zeremonie begann.
Die Blutmesser sangen die Götter als Zeugen herab, wie es dem Gesetz entsprach. Die aus den Clans ausgewählten Älteren, darunter auch Ältester Onkel, traten vor, um darauf zu achten, dass die Steine richtig geworfen wurden und niemand zweimal warf. In Fünfergruppen traten die Haushaltsvorstände vor und warfen ihre Stimme in den schwarzen Korb oder den weißen. Schwarz stand für das dunkle Gesicht von Sie-Die-Keinen-Mann-Haben-Wird. Auf diese Weise wandte sie ihren Bittstellern den Rücken zu. Weiß stand für ihr helles Gesicht - aber ihre Aufmerksamkeit war nichts, was man sich wünschen würde. Sollte der weiße Korb am Ende voll sein, wäre Kansi-a-laris
294 Antrag angenommen und der Adlersitz und der Federumhang würden auf eine neue Anführerin übergehen. Krieger kamen mit den Masken ihrer Familien: ein Falke, eine Echse, eine gefleckte Katze, eine langschnäuzige Paka. Oder Handwerker, die eine gefiederte Kopfbedeckung, einen Kurzmantel oder eine Schärpe trugen, die auf ihre Meisterschaft bei der Lederbearbeitung oder im Behauen von Obsidian, im Weben, Schöpfen von Papier oder Schnitzen, im Herstellen von Keramik oder bei der Landvermessung oder der Anfertigung von Wandgemälden oder im Weihrauchmahlen verwiesen. Bauern wählten ebenso wie die Schreiber, die den Göttern dienten, und die Kaufleute, die das Blut des Handels zwischen den Städten in Bewegung hielten. All jene, die zum Leben des Volkes beitrugen, hatten eine Stimme, wie die Götter es beabsichtigt hatten, aber nur eine konnte anführen - ansonsten würde Chaos herrschen, wie in den Zeiten der Legende, bevor die Götter alle Dinge geordnet hatten, um den Frieden zwischen den Stämmen zu fördern. Vor der Zeit der Verbannung war es nicht so gewesen, oder zumindest nicht genau so. Gemäß den Aussagen von Ältester Onkel hatten die Priester, zu denen die Blutmesser gehörten, in jenen Tagen mehr Macht besessen, als sie hätten haben sollen, und es schien, dass sie sich während der Zeit in den Schatten nicht verändert hatten. Sie waren nicht wagemutig genug, um Federkleid den Umhang einfach wegzunehmen, aber es war offensichtlich, dass sie nur den geeigneten Augenblick abgewartet hatten. Der Tag schritt voran, auch wenn die Sonne nie stark und strahlend wurde, wie es in früheren Zeiten wohl gewesen war. Der Brauch verlangte, dass sie nichts essen durfte, aber sie konnte Saftwein und Quellwasser trinken. Die steinernen Weiten an der nördlichen Allee und ein Abschnitt der westlichen Straße blieben zum größten Teil verlassen. Niemand wollte sich dort aufhalten, wo die Zeit zu große Spuren hinterlassen hatte, wie auch niemand neben dem Ge
294 rippe eines Vorfahren schlafen würde. Es war besser, sie hinter herrlichen Malereien des Lebens zu verbergen. Der Wind glitt spielerisch durch die verlassene Allee, wehte leise ächzend um die Steine herum, und ein dünner Schleier aus Sand hob und senkte sich. Dann strich der Wind über die versammelten Leute hinweg, fuhr durch Federn, zupfte an den Enden von Umhängen und Tuniken, verfing sich in den wirren Haaren von Kindern. Sie schmeckte den sauren, verbrannten Geruch, der aus dem Nordwesten herangetragen wurde, wo geschmolzenes Feuer ein großes Stück Land und alles, was dort gelebt hatte, versengt hatte. Durch dieses Ödland würden ihre Feinde reiten müssen, um zu ihnen zu gelangen; durch dieses Ödland würden ihre eigenen Soldaten reisen müssen, um gegen die Menschheit zu kämpfen. Das Land selbst beschützte sie oder sperrte sie ein. Das Landesinnere war immer noch praktisch unpassierbar, und es war fast unmöglich, an der Küste entlangzumarschieren. Die Wahl dauerte den ganzen Tag und ging auch in der Nacht weiter, die durch Fackellicht erhellt wurde. Ihre Beine schmerzten. Hin und wieder setzte sie sich. Gelegentlich schlief sie. Der Morgen dämmerte; ein neuer Tag brach an. In früheren Zeiten hatte die Zeremonie gewöhnlich drei Tage gedauert, aber gegen Mittag hoben die Ältesten ihre Stäbe, um zu verkünden, dass die Wahl beendet war.
Zwanzig Körbe waren für jede Farbe aufgestellt worden, und jetzt mussten ihre Inhalte zusammengeworfen und irrtümlich eingeworfene Steine entfernt werden. Sie wusste, wie das Ergebnis lauten würde, aber sie wartete gemeinsam mit den anderen. In der Nähe der Treppe sah sie Regen stehen, den Kunsthandwerker, der ihre Zwillinge gezeugt hatte, wenn auch nicht ihren Sohn. Er war ein schlanker Mann, ganz und gar nicht beeindruckend, was die Breite seiner Schultern betraf, und ihm fehlte auch das streitlustig vorgereckte Kinn. Er war wie alle Kinder
295 an den Waffen ausgebildet worden, hatte dann aber einen anderen Weg eingeschlagen, und wenn man einen klaren Blick hatte, konnte man den Humor sehen, der seine Mundwinkel hob, die Klugheit in seinen Augen, die drahtige Stärke seiner Arme und die Geschicklichkeit seiner Hände. Er trug eines der Kinder in einer Schlinge an seinem Körper. Aus dieser Entfernung konnte sie nicht sagen, welches es war, ob das ältere oder das jüngere, und sie konnte sich auch nicht erinnern, wer das andere Kind hatte. Irgendjemand von den zehn oder zwanzig Tanten oder Onkeln mochte das kostbare Bündel an sich genommen haben. Sie hielt es für möglich, dass sie in den sechs Monaten seit ihrer Geburt niemals abgesetzt worden waren. Regen sprach mit einem Flüchtling, einem Neuankömmling, wie Federkleid diese Leute bezeichnete, obwohl sie so alt waren, dass während ihres Schattendaseins die leuchtenden Wandgemälde auf den Steinen der Stadt verblasst waren. Es war eine junge Frau, wie sie sah, eine Maskenkriegerin, und eine aufkeimende Eifersucht versetzte ihr einen Stich. Dann blickte er zufällig zu ihr hoch, und als er merkte, dass sie ihn ansah, machte er mit der freien Hand eine Geste, um ihr zu bedeuten, dass er im Geiste bei ihr war. Die junge Frau drehte sich um und sprach mit jemandem, der bis zu diesem Zeitpunkt hinter einer Gruppe von Zuschauern verborgen gewesen war, und sie erkannte ihren Sohn. Er war ein aufrechter Junge, höflich und gescheit, aber ein Blick in sein Gesicht verriet ihr, dass er es war, der sich danach sehnte, mit der Frau zu sprechen. Er lächelte, hatte ganz das Verhalten junger Leute, die von einem Fieber erfasst waren, das sie noch nicht ganz verstanden, für das sie auch noch nicht alt genug waren, um entsprechend zu handeln. Er wurde erwachsen. Zumindest was dies betraf, hatte sich die Welt nicht geändert. Sie sah schließlich zur Seite und musterte ihre Rivalin. Die Ungeduldige hatte die Augen geschlossen, aber ihr rechter Fuß klopfte in einem raschen Rhythmus auf den Stein, wie ein rasendes Herz.
295 Die Körbe wurden auf der untersten Stufe der Pyramide abgestellt. Drei von ihnen waren bis zum Rand mit weißen Steinen gefüllt, und in einem vierten befand sich der Rest. Nur ein einziger schwarzer Korb stand dort, und der war noch nicht einmal halb voll. Es gab keine Verkündigung. Alle wussten es, selbst jene, die trotz allem für sie, für ihre Herrschaft gestimmt hatten, die in der Verbannung ausgereicht hatte, aber jetzt nicht mehr. Die Ungeduldige öffnete die Augen und deutete mit der Hand zur Spitze der Pyramide. Federkleid legte den Handrücken an die Stirn, um Kraft zu sammeln, und begann ohne etwas zu sagen mit dem Aufstieg. Es war anstrengend. Die Stufen waren schmal und hoch, und als sie die Plattform auf der Spitze erreichte, war sie benommen. Sturmwolken brauten sich zusammen. Sie glaubte ein Donnergrollen zu hören, aber das Geräusch verklang. Die Ungeduldige wartete mit einem Stirnrunzeln darauf, dass sie mit dem Ritual begann. Sie machte sich an den Gang um die Plattform herum, von Westen nach Norden, nach Osten und nach Süden. Sie weinte, als sie unter sich die Stadt in ihrer Gesamtheit liegen sah, ein so lang ersehnter und endlich erfüllter Wunsch. Die unteren Stufen der westlichen Seite der Pyramide waren zu einer rutschigen Schräge aus Tonscherben und verwitterten, zerbrochenen Gesteinsresten zerbröckelt. Es war tatsächlich möglich, die Stelle zu sehen, an der Neu auf Alt traf, aber es war verwirrend. Sie hatte das Gefühl, zu fallen und zu fallen, die Schräge hinunter in die vergessene Vergangenheit, die so unerwartet auf die Ebene der Gegenwart gerissen worden war.
Weiter unten, an der nordwestlichen Ecke am Fuß der Pyramide, befand sich ein mit beeindruckenden Trümmern übersä-tes Areal, unter denen das verborgen lag, was einmal der heilige Eingang zum Herz-Des-Universums gewesen war, der Höhle unter dem Tempel. Als sie schließlich ihre Runde beendete und zur Mitte der
296 Plattform schritt, leckte sie sich eine Träne aus dem Mundwinkel. Sie blieb neben dem Blutstein stehen und zog zwei Saftkaktusstacheln aus dem Saum des Federumhangs. Einen davon reichte sie Kansi-a-lari. »Wirst du die Arbeit am Trümmerfeld einstellen?«, fragte sie die andere Frau. »Wenn wir den Eingang zum Herz-Des Universums freilegen könnten ...« Die Ungeduldige wischte sich über den schweißnassen Nacken. »Was wäre dann? Werden die Götter unsere Feinde dann wegblasen? Wird die Erde sich öffnen und sie verschlucken? Werden wir wieder die Fähigkeit erlangen, zu sehen, was sie tun, ohne dass sie es wissen, oder uns schneller zu bewegen als sie mit ihren Kronen?« »Achte die Götter«, sagte Federkleid erschüttert; solche Worte hatte sie noch nicht einmal von der Ungeduldigen erwartet. »Wir haben überlebt und gelitten. Suchen wir Frieden und nicht den Streit.« »Wie du es mit den Blutmessern getan hast?«, spöttelte die Ungeduldige. »Glaubst du, sie sind deine Verbündeten? Glaubst du, du kannst über sie herrschen?« Die Ungeduldige lächelte grausam. »Blut wird sie zufriedenstellen.« Sie streckte die Zunge heraus und hielt die Spitze mit dem Daumen und zwei Fingern fest. Dann hob sie den Stachel und führte ihn an das rosafarbene Fleisch. Federkleid seufzte. »Mit diesem Blut gebe ich die Autorität aus meinen Händen und lege sie in die Hände derjenigen, die erwählt wurde«, sagte sie. Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen vor den Blutstein, beugte sich über das flache Becken in seiner Mitte. Sie streckte die eigene Zunge heraus und durchstach sie zügig. Der Schmerz brannte wie Feuer und verwandelte sich dann in ein Pochen, aber hellrotes Blut tropfte in die Vertiefung im Blutstein. Kansi-a-lari tat das Gleiche. Es rauchte, wo das Blut sich ver
296 mischte, und einen Atemzug lang waren Blasen zu sehen, bevor es sich mit einem so beißenden Gestank in Luft auflöste, dass sie beide niesen mussten. »Mit diesem Blut nehme ich die Autorität von derjenigen, die vor mir war, in meine Hände.« Kansi breitete die Arme mit den Handflächen nach oben aus und wartete. Immerhin strahlte sie keine Häme aus, aber der langsame Ablauf des Rituals machte sie ganz offensichtlich ungeduldig. Sie wollte weitermachen, Entscheidungen treffen, vorwärtsdrängen. Die Zeit für vorsichtige Schritte ist vorüber. Die Welt, die sie kannte und verstand, strömte aus ihren Händen. Floh wie ein Kuss, den ein Mann gestohlen hatte, der einen nicht einmal wirklich haben wollte. Die Kopfbedeckung. Der raschelnde Umhang. Die Stacheln. All diese Dinge wurden übergeben. Die Zeichen der Autorität verließen sie, und sie war nur noch die, die sie zuvor gewesen war, von ihrer Familie Secha genannt und als Kind mit dem Namen Die-Die-Scharf-Aufs-Herz-Sieht versehen, weil sie die Angewohnheit gehabt hatte, ihre Spielkameradinnen mit einem ruhigen Blick anzusehen, wenn sie deren Mätzchen unangenehm oder schäbig gefunden hatte. Sie-Die-Auf-Dem-Adlersitz-Sitzt erhob sich, streckte die Hände dem Himmel entgegen, um den Göttern, die durch sie hindurch in ihr Herz sehen konnten, die Handflächen zu zeigen. Sie hätte einen Tag oder ein Jahr auf der Höhe des Tempels, der Sie-Die-Erschafft geweiht war, stehen und darauf warten können, dass die Götter zu ihr sprachen, obwohl Secha bezweifelte, dass die Ungeduldige mehr als zwanzig Atemzüge lang still stehen konnte. Und tatsächlich gab Federkleid keine zwanzig Atemzüge später ein leises Grunzen von sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte sich daran, die Stufen hinabzusteigen. In diesem Augenblick des Alleinseins, der Secha vergönnt
297 war, berührte sie das Kinn und die Stirn, um sich bei den Göttern zu bedanken. Der Himmel hatte sich erhellt. Die Wolken schienen wie die Unterseite einer Perle, und sie erhaschte einen Blick auf die schimmernde Scheibe der Sonne hoch über ihr, schmeckte die Hitze auf ihrer blutigen Zunge. Schließlich stand sie auf und folgte Federkleid die Stufen hinunter. Federkleid wurde auf der unteren Terrasse von einem Schwärm Leute empfangen, die Rangabzeichen trugen, die Secha ihr Leben lang nicht gesehen hatte: die Kennzeichen, die von hohem Geschlecht kündeten, von Vorrechten, priesterlicher Billigung und dem Ansehen eines Kriegers. Schärpen; ein Banner mit einem Blutmesser; ein mit Perlen besetztes Halstuch; Kopfbedeckungen aus leuchtenden Federn; lange, lehmrote Umhänge; Handschuhe aus kostbarem Perlmutt, das auf einem Netz aufgezogen war. Secha wandelte wie ein Schatten unter ihnen, vergessen und unsichtbar. Sie war frei, auch wenn die Wunde in ihrer Zunge brannte und der Geschmack von Blut sie an die Bitterkeit ihrer Niederlage erinnerte. Kein Gewicht lastete jetzt mehr auf ihren Schultern. Sie war nur sie selbst, eine Frau mit gewissen Fähigkeiten, die ihren Weg in der neuen Welt finden musste, deren Landschaft noch unerschlossen war. Die Verbannten und diejenigen, die in den Schatten gewandelt waren, mussten zusammenarbeiten. Es würde nicht leicht werden.
XVI
Ein verlockendes Angebot
1 »Seid Ihr sicher, dass er tot ist?«, fragte Adelheid. »Vor den Galla gibt es kein Entkommen.« »Seid Ihr ganz sicher?« Antonias Eingeweide brannten, als sie an Hugh von Austra dachte, und ihr Herz hämmerte. Sie sprach leise ein paar Psalmen, um sich zu beruhigen. »Die Galla sind nicht sterblich wie wir. Sie wollen nur in den Abgrund zurückkehren, dem sie entsprungen sind. Daher werden sie diejenigen verfolgen, deren Namen sie tragen, weil ihre Verbindung zur Erde unterbrochen wird, wenn sie deren Seelen auslöschen.« »Die Welt ist groß!« »Sie suchen nicht so, wie ein menschlicher Späher es zu tun pflegt, sondern mit anderen Mitteln als den fünf Sinnen. Wäre Hugh von der Erde verschwunden, würden sie zu mir zurückkehren und auf Erlösung hoffen. Nur ich oder der Tod dieser Seele kann sie erlösen. Sie sind nicht gekommen. Also muss er tot sein.« Sie ging mit Adelheid durch den abgeschirmten Garten, der an die Waldreben angrenzte. Zwischen den Blättern waren ein paar kühne Knospen zu sehen, aber bisher hatte sich noch kei
297 ne geöffnet. Wie ihre Wut blieben sie fest verschlossen, warteten auf günstigere Zeiten. »Was ist, wenn er eine Möglichkeit gefunden hat, sich vor ihnen zu schützen?« Adelheid hielt an ihren Sorgen fest wie ein Hund an einem Knochen, der längst frei von allem Fleisch und Fett war und an dem er dennoch weiternagte. »Prinz Sanglant ist es mit Greifenfedern gelungen.« »Prinz Sanglant ist im Norden. Er ist Hughs geschworener Feind. Glaubt Ihr, Sanglant würde dem Mann, den er so verachtet, ein Dutzend Greifenfedern zur Verfügung stellen?« »Hugh könnte die Federn gestohlen haben. Wie er sagte, war er am wendischen Hof, ehe er verbannt wurde.« »Möglicherweise war er tatsächlich am wendischen Hof. Aber vielleicht hat er auch gelogen. Glaubt Ihr, Hugh hat Prinzessin Gnade geraubt, um sie ihrem Vater zurückzugeben und so mit ihm Frieden zu schließen? Oder dass der alte Adler Edelfrau Elene ermordet hat?« »Er war mit ihrem Blut beschmiert. Und er wurde im Stall aufgegriffen, als er versuchte, ein Pferd zu satteln und zu fliehen.«
»Ein nicht sehr eleganter Versuch von Edelmann Hugh, um uns abzulenken. Der alte Mann hatte keinen Grund, das Mädchen zu töten.« »Wieso hätte Edelmann Hugh ihren Tod wünschen sollen?« »Sie ist seine Rivalin. Sie wurde von einer vorzüglichen Mathematika unterrichtet.« »Wieso hat er den alten Mann dann nicht auch umgebracht?« »Er verfügt über keinerlei bedeutsames Wissen. Das hat Anne gesagt. Seine Fähigkeiten waren unbedeutend, verglichen mit denen der Übrigen. Er ist keine Bedrohung.« »Und doch habt Ihr ihn wieder in den Kerker werfen und in Ketten legen lassen. Wenn wir ihn nicht töten wollen und er keine Bedrohung ist, wieso lassen wir ihn dann nicht in den Turm zu Edelmann Berthold?«
298 »Wie Berthold es gern hätte? Nein, das ist keine gute Idee. Die Soldaten hassen ihn, sie glauben, dass er die junge Frau ermordet hat. Sie würden sich schlecht behandelt fühlen, wenn er nicht leidet. Es ist auf jeden Fall besser, ihn im Verlies zu lassen. Ich habe noch etwas mit ihm vor.« Adelheid schüttelte den Kopf; ihr Gesicht war blass, und verärgert schnippte sie die winzigen Knospen eines Zweiges weg. »Ein kompliziertes Räderwerk, wie bei einem Spielzeug aus Arethusa. Sehr zerbrechlich. Und schwer zu reparieren. Wie könnt Ihr sicher sein, dass Hugh tot ist?« Adelheid hatte Angst vor Hugh! Das war die Ursache ihres Unbehagens. »Verzweifelt nicht, Eure Majestät«, sagte Antonia beschwichtigend. »Wenn die Galla ausschwärmen, muss ein Mann mit Greifenfedern sich rasch bewegen, um sich zu retten. Er kann unmöglich sämtliche Mitglieder seiner Gruppe retten. Es gibt keine Methode, sich vor ihrer Macht zu schützen, es gibt keinen noch so alten Schutzbann. Es ist unmöglich - unwahrscheinlich - nein, es ist unmöglich.« »Ihr könnt nicht sicher sein! Auch, was das Kind betrifft! Wenn Gnade tot ist, hat Mathilda keine Rivalen in der zweiten Generation. Ich hätte ihr selbst die Kehle durchschneiden sollen. Jetzt werde ich nie erfahren, ob sie tot ist.« Antonia war kurz davor, die Geduld zu verlieren, aber glücklicherweise tauchten Soldaten unter dem Bogengang auf, der zum Palast führte. »Eure Majestät! Heilige Mutter!« Hauptmann Falco kam rasch zu ihnen geeilt, und Adelheid blieb bei dem Mosaikboden stehen und wartete auf ihn. Er kniete vor ihr nieder. Die Königin legte einen Finger an die Lippen, atmete geräuschvoll aus. »Was gibt es für Neuigkeiten, Hauptmann?« »Eure Majestät«, sagte er, denn er wandte sich immer zuerst an Adelheid, obwohl es falsch war. Danach neigte er den Kopf in Antonias Richtung. »Heilige Mutter. Wir haben noch ein
298 mal sorgfältig gesucht - und wir haben die Stelle gefunden, an der sie die Straße verlassen haben.« »Sind sie zur Krone gegangen?«, fragte Antonia. »Es muss einige Unruhe beim Pfad gegeben haben, aber es sieht so aus, als hätten sie sich entschieden, nicht dorthin zu gehen.« »Die Wolken haben das Weben verhindert«, sagte Antonia. »Gott haben ihren Plan zunichtegemacht.« »Sprecht weiter«, sagte Adelheid ungeduldig. »Was habt Ihr gefunden?« »Zwei Tagesritte die Straße entlang haben wir die Stelle gefunden, an der sie in den Wald abgebogen sind. Sie müssen geflohen sein ... vor den - « Er brach ab, warf einen unruhigen Blick auf Antonia. Es war gut, dass er sie fürchtete. »Wir haben die Überreste mitgebracht, Eure Majestät. Allerdings haben wir keine lebenden oder toten Pferde gefunden.« »Was für Überreste?«, fragte Antonia. »Ein Haufen Knochen, die schwer zuzuordnen sind, weil sie überall auf dem Boden und zwischen den Büschen verstreut waren. Wir haben zwölf Schädel gefunden, zwei von ihnen waren etwas
kleiner als die anderen. Gürtel, Metallstücke und ähnliche Dinge. Auch das hier befand sich dort.« Er reichte ihr eine Silberbrosche in Gestalt eines Panthers, der mit einer Antilope kämpfte. »Austras Wappen«, sagte Antonia. »Er hat sie getragen, als er angekommen ist«, sagte Adelheid atemlos. Ihre Wangen wurden rot, als sie dem Hauptmann die Brosche abnahm und sie in der Hand wog. »Aber wieso sind sie nach Süden geritten? Wieso nicht nach Norden?« »Er hat gesagt, dass er aus Wendar verbannt wurde«, erklärte Antonia. »Er konnte also nicht damit rechnen, dort Zuflucht zu finden. Doch ich frage mich ebenfalls, was sie im Süden zu finden hofften.« »Zwölf Schädel«, murmelte Adelheid. »Aber es werden dreizehn Personen vermisst.«
299 Sie sah Antonia herausfordernd an, aber die weigerte sich, den Blick zu senken. Es hatte keinen Grund gegeben, ein Galla auf Heribert anzusetzen. »Ich habe Männer zurückgelassen, die weitersuchen, Eure Majestät«, sagte der Hauptmann. »Was ist, wenn Hugh überlebt hat?«, fragte Adelheid, die immer noch die Brosche musterte. »Wie können wir es wissen? Knochen sprechen nicht.« »Wollt Ihr, dass Edelmann Hugh tot ist oder lebendig? Eure Majestät.« Sie hatte es schroff gesagt, aber Antonia war diese Unterhaltungen leid, die sie bereits ein Dutzend Mal mit ihr geführt hatte seit dem Morgen vor vier Tagen, als Edelfrau Elene tot aufgefunden worden war und sich herausgestellt hatte, dass Hugh, Prinzessin Gnade, Bruder Heribert und die Dienerin zusammen mit acht Soldaten sowie einem treuen Hauptmann aus Adelheids Heer verschwunden waren. »Ich wünschte, Henry würde noch leben«, sagte Adelheid. Sie wischte sich über ein Auge, als würde es brennen. »Er war ein guter Mann. Der beste.« Sie sank auf die Steinbank, stützte den Ellbogen auf das Knie und legte die Stirn in die Handfläche. Sie sah aus wie eine Frau, die um ihren Liebhaber trauerte. Ihr Blick schweifte über das uralte Mosaik, und in ihren Augen schimmerten Tränen. »So war es in der alten Geschichte«, sagte sie und deutete auf das Mosaik, auf dem Antonia stand. Der Mann trug lediglich ein Stück Stoff, das seinen wohlgeformten Körper nur mühsam bedeckte. Die Haare der Jägerin waren so dunkel wie die von Adelheid, geflochten und im alten Stil auf dem Scheitel in Schleifen gelegt, wie es bei den Dariyanern üblich gewesen war und sich in Mosaiken, auf bemalten Wänden und Vasen und Skulpturen fand. Sie hatte eine kühne Nase, schwarze, glänzende Augen und gelbbraune Gesichtszüge, die an Prinz Sanglant erinnerten. »Ich kenne die Geschichte nicht«, sagte Antonia ungeduldig, »und ich bin auch nicht sicher, ob ich sie wissen will.«
299 Adelheid warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Aber Ihr kennt sie bestimmt! Es ist die erste Geschichte, die ich als Kind erzählt bekommen habe!« »Die Geschichte des heiligen Daisan?« Die Aostaner waren durch ihre Vergangenheit befleckt, wie alle wussten. Trotz der liebenden und sicheren Hand Gottes, durch die sie zu allem geführt wurden, was richtig und angemessen war, beharrten sie darauf, sich an die unwürdigen Geschichten lang vergangener Zeiten zu erinnern und sie zu lobpreisen. »Helens Geschichte. Als sie am Ufer von Kartiako Schiffbruch erlitten hatte, ging sie auf die Jagd und fand diesen Mann.« Sie deutete auf den Mann, der einen Stab in der Hand hielt und neben einem unschuldigen Lamm stand. Das Bild des Lammes war am Kopf beschädigt, Mosaiksteine waren abgesprungen. »Sie hielt ihn für einen gewöhnlichen Hirten, aber er war der Prinz von Kartiako, der Sohn des Herrschers. Sie bemerkte seinen Wert erst, als es zu spät war. So werden wir jedes Mal, wenn wir in diesem Garten wandeln, ermahnt, uns nicht vom äußeren Schein täuschen zu lassen. Nicht voreilig etwas zurückzuweisen.« »Sprecht Ihr von Edelmann Hughs Rückkehr nach Novomo, Eure Majestät? Zweifellos habt Ihr ihn ziemlich rasch zurückgewiesen.«
Adelheid sah sie an, ohne zu antworten. Ihre Miene offenbarte Verärgerung, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen traten, und sie wandte den Blick ab, brach einen Zweig Waldreben ab. Sie rollte die Blätter zwischen den Fingern, bis sie Brei waren. »Ich habe an Conrads Tochter gedacht«, sagte sie zögernd. »Ich bedauere, dass sie auf so feige Weise getötet wurde. Das hat sie nicht verdient.« »Eure Majestät!« Bruder Petrus kam die Stufen herabgeeilt, gefolgt von zwei Verwaltern. »Die Gesandten kommen, Eure Majestät! Sie werden gegen Ende des Tages hier sein.«
300 Adelheid erhob sich und wischte die letzte Träne weg. »Wir müssen ihnen einen prächtigen Empfang bereiten. Hauptmann Falco, ruft alle Wachen und Soldaten zusammen. Lasst sie die Straßen säumen und im Palast Aufstellung beziehen. Bruder Petrus, meine Gelehrtenschule soll sich versammeln. Schickt Veralia zu mir. Sie wird meine Verwalter beaufsichtigen und muss sich mit Edelfrau Lavinia beraten. Ich werde die Krone und mein kaiserliches Gewand tragen. Danach muss ein großes Festmahl stattfinden, so gut, wie es in dieser kurzen Zeit bereitet werden kann.« Dann fiel ihr Antonia ein, und sie sah sie an. »Was wünscht Ihr, Heilige Mutter?« Antonia verbarg ihre Gereiztheit. Es war gut, Adelheid so lebhaft zu sehen, auch wenn der Grund verabscheuungswürdig war. »Ihr habt das doch gewiss nicht ernsthaft vor, Eure Majestät?« »Welche Wahl habe ich denn noch?« »Aber Eure eigene Tochter!« »Welche Wahl habe ich denn noch?« So weit war es also gekommen. Hugh war zu ihnen gekommen, und Adelheid hatte ihn närrischerweise vertrieben. Jetzt war seine Macht für immer verloren, zusammen mit zwei hervorragenden Geiseln. Schlimmer noch, er hatte ihr Heribert weggenommen, diese treulose Hure. Aber Adelheid durfte nicht wissen, wie grausam sie dies getroffen hatte. Sie durfte keine Schwäche zeigen. Sie musste Heribert vergessen, ihn als tot ansehen, das Band zerschneiden. Sie hätte es an dem Tag tun sollen, als er auf Sanglants Befehl weggelaufen war. Was dies betraf, war Hugh schuldlos. Es war Sanglant, der Heribert verdorben hatte. Aber wie auch immer, wenn er gefunden und nach Novomo zurückgebracht werden sollte, würde sie ihm eine angemessene Strafe verordnen können. »Heilige Mutter? Geht es Euch nicht gut?« »Nein, es ist nichts. Ich denke nur darüber nach, dass Ihr recht habt. Welche Wahl haben wir noch?«
300 Aber letztendlich war Hugh der Verräter, auf doppelte Weise, und er hatte Absichten verfolgt, die sie nicht ergründen konnte. Antonia wusste, dass sie die Delegation beeindrucken mussten, um von ihrer Schwäche abzulenken. Sie ging daher zu der mit Zauberei verschlossenen Kiste, um Taillefers herrliche Reichskrone herauszunehmen, die sie später Adelheid aufsetzen würde. Das Amulett war ordentlich verschlossen, aber als sie die Kiste öffnete, fand sie nur den Seidenstoff vor. Hugh hatte die Krone gestohlen - zweifellos, um Sanglants Tochter als Marionettenkönigin zu krönen. Und jetzt befand sie sich irgendwo in den Wäldern, auf dem Rücken eines zu Tode erschreckten Pferdes. Sie kochte vor Wut, während ihre Bediensteten sich zusammenkauerten.
2 Am Nachmittag des dritten Tages verließen Edelmann Hugh und seine Gruppe die Berge und näherten sich dem Meer. Sie stießen auf eine verlassene Stadt, die aussah, als wäre sie von einer hohen Welle weggefegt worden. John wagte sich als Erster durch das zerbrochene Tor und schaute sich dahinter vorsichtig um, danach folgten ihm die anderen. In den Ruinen eines Hauses fanden sie das Gerippe eines Hundes unter einem herabgestürzten Balken, das war alles. Nirgends gab es einen Hinweis, aus dem man hätte schließen können, dass hier vor kurzem noch jemand gelebt
hatte. Ein Bach floss zum Meer und trat dort, wo er auf das offene Gewässer stieß, über die Ufer. Das Wasser hatte einen brackigen, öligen Geschmack, aber sie tranken es trotzdem und füllten ihre Lederhäute damit, um nicht das Fass Bier aufmachen zu müssen.
301 Edelmann Hugh sah sich in der Stadt um, suchte nach Hinweisen. »Seht«, sagte er, als sie an eine Stelle kamen, wo Rundhölzer in den Lücken der zerstörten Palisade stecken geblieben waren. »Das da hat eine Welle verursacht. Aber im Landesinnern deutet die Art der Zerstörung auf einen Sturm aus Ost-Südost hin. Es muss zwei Stürme gegeben haben, kurz hintereinander. Der zweite ist dem ersten gefolgt wie Wellen, die über einen Teich laufen.« Die Stadt war nicht groß gewesen, aber den Trümmern zufolge hatte sie einst einen Kai besessen. Ein Stück weiter den Strand entlang waren Fische verrottet, deren Gräten wie Zweige am Ufer verstreut lagen. Das Meer schwappte ruhig an den Strand. John versuchte, Fische zu fangen, aber ohne Erfolg. Gnade versuchte wegzulaufen, bekam danach ein Seil um die Taille gebunden und musste wie ein angeleinter Hund hinter Frigo herlaufen. Er war weder grausam noch nett zu ihr, einfach nur auf gleichgültige Weise erheitert. Hugh sah das Mädchen kaum an, und wenn doch, runzelte er die Stirn und presste die Lippen auf eine Weise zusammen, die Anna nicht deuten konnte. So mochte ein Mann ein zweiköpfiges Kalb ansehen -oder das Kind, das der Vereinigung seines schlimmsten Rivalen und jener Frau entstammte, die er sich am meisten von allem auf der Welt ersehnte, aber nie haben würde. »Sollen wir in der Stadt lagern, Edelmann?«, fragte Hauptmann Frigo. »Was sagen die Männer?«, fragte Hugh. »Ich glaube, der Schutz hier wird uns guttun, aber wenn sie offeneres Gelände bevorzugen, weil sie die Pest fürchten, ist das in Ordnung für mich.« Frigo nickte, kratzte sich am Bart. »Sie sagen, dass es kein Problem ist, sich tagsüber in einer solchen Stadt aufzuhalten, wohingegen die Nacht Geister hervorbringen könnte - und Wesen, die Krankheiten mitbringen. Ich sehe das anders. Wir sind weder auf Hunde noch auf Leichen gestoßen. Da wir hier
65i
vollkommen verlassen sind, ist es vielleicht am besten, eine Position zu haben, die wir gut verteidigen können. Sie werden sehen, dass es klug ist, innerhalb der Mauern zu sein, wenn uns in der Nacht irgendetwas angreift. Wölfe oder Räuber. Oder diese anderen Dinge.« »Kluge Worte, Hauptmann. Schlagt das Lager auf.« John und Theodore fanden eine Stelle, die den beunruhigten Männern gefiel: den Innenhof eines Grundstücks, das einmal einem Kaufmann gehört haben musste. Mit der halb zerfallenen Außenmauer im Rücken, einem langen Lagerhaus auf der einen Seite und einem Stall auf der anderen konnten sie sich einigermaßen sicher fühlen. Der Hof bot genug Platz, um ein paar behelfsmäßige Unterkünfte zu errichten, so dass sie nicht in den eingestürzten Gebäuden lagern mussten, wo womöglich Skorpione umherhuschten und Geister einem ihre Krallen in die Rippen bohren mochten, während man schlief. Narben-John faltete einen dreibeinigen Stuhl aus Leder und Holz auseinander. Edelmann Hugh entrollte eine Karte auf der kleinen Reisetruhe. Er beschwerte die Ecken mit einer Öllampe, einer schweren Silberkette mit einem silbernen Kreis der Einigkeit, seinem Messer und der linken Hand. Er musterte die Karte, drehte einen Docht zwischen Daumen und Mittelfinger, entzündete ihn aber noch nicht. »Wir fliehen heute Nacht«, sagte Gnade flüsternd zu Anna, während das Mädchen hinter Hauptmann Frigo herging. Der große Mann warf ihr einen Blick zu. Anna war sich nicht sicher, wie viel Wendisch er verstand, aber sie vermutete, dass er ihrer Unterhaltung so wenig folgen konnte wie sie den Gesprächen auf Dariyanisch zwischen ihm und den Soldaten. Im Schutz des schrägen Zeltstoffes rollte sie die Decken für sie und Gnade auseinander und setzte sich hin. Sie blickte zu Edelmann Hugh, der das Pergament anstarrte. Der Zeltstoff hob und senkte sich, als in der Dämmerung ein böiger Wind aus Osten aufkam. Die Männer unterhielten sich kameradschaftlich, während
301
sie die Pferde in die Ställe schafften und Wachen auf den Mauern aufstellten. Liutbold und Narben-John machten sich daran, Holz aus den verlassenen Häusern zu holen und zu spalten, um damit ein Feuer zu entfachen. Frigo saß auf seinem Sattel, die gefesselte Gnade dicht bei sich, und bearbeitete einen saftigen Schössling mit einem Breitbeil. Edelmann Hugh besaß die Fähigkeit, Vertrauen zwischen sich und jenen zu schaffen, die ihm dienten. Auf diese Weise führte auch Prinz Sanglant seine Männer, indem er all ihre Namen kannte, ihre Heimatdörfer, ihre Stimmungen. Er wusste, welcher Mann zur Aufmunterung einen groben Witz brauchte und welcher ein freundliches Wort. In dieser Wildnis war Hughs Gefolge beunruhigt und wachsam, aber nicht erschreckt, denn die Männer vertrauten ihm. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Elenes Blut über das Schachbrett strömen und um Bertholds schlaffe Finger fließen. Sie konnte die Erinnerung nicht abschütteln. Er sah auf, bemerkte ihren Blick und wandte sich ab. Narben-John brachte ihm einen Becher Bier. Er bedankte sich, leerte ihn und gab ihm den Becher zurück. Dann holte er Feuerstein und Zunder hervor und machte sich daran, den Docht zu entzünden. Ein seltsames Geräusch ertönte, überlagerte einen Moment lang das Ächzen des Windes, der über die verlassenen Mauern strich. Die Männer wurden sofort still und erstarrten, als wären sie von einem Bann ergriffen. Sie wirkten wie willkürlich verstreute Säulen, die jedes Ebenmaß vermissen ließen. Mindestens zehn Atemzüge lang sprach und rührte sich niemand. Dann plötzlich drehte sich der Wind, wurde so kalt wie ein von Nordwesten kommender Wintersturm. Er brachte das Geräusch mit. »Klingt wie Glocken«, sagte Theodore leise. Ein Pferd schnaubte und machte einen Schritt zur Seite. Ein Mann schrie auf und fluchte. »Au! Au! Das war mein Fuß!«
302 »Warum stehst du auch da!«, entgegnete sein Kamerad. Edelmann Hugh setzte seinen rechten Fuß auf den Boden, stellte die Öllampe daneben und hängte sich die Kette mit dem Kreis um den Hals. Als er die Karte zusammenrollte und in der Truhe verstaute, sprach er. »Alle müssen sich in den Kreis zurückziehen, den ich ziehe. Bringt auch die Pferde her.« Er holte einen prall gefüllten Beutel aus der Truhe, klappte den Deckel wieder zu und schob den Riegel vor. Seine Hände waren ruhig, als er einen Kreis aus Mehl zog, der groß genug war, um alle Männer und Pferde darin unterzubringen. Ein Gestank wie der Atem der Schmiede strich über sie hinweg. Pferde scheuten. Männer stießen Warnrufe aus, und die drei, die sich noch nicht im Kreis befanden, eilten aus der Dämmerung herbei, um sich zu ihnen zu gesellen. Hinter ihnen wogte ein dunkler Sturm am Himmel heran. Ein nervöses Pferd schoss davon. »Lasst es laufen!«, rief Edelmann Hugh. »Kommt. Kommt. Sind alle hier?« Sein Blick fiel auf Anna, und sie keuchte auf, als wäre sie geschlagen worden, bedeckte den Mund mit der Hand. »Du nicht. Du musst dein Glück draußen versuchen.« Narben-John zog sein Schwert. Gnade schrie auf und trat Hauptmann Frigo. »Nein! Nein! Nein! Ich tu dir weh! Sie muss hierbleiben!« Er schlug sie, aber der Schmerz hatte keinerlei Auswirkung. John stupste mit dem Schwert gegen Annas Hüfte. Sie wich zur Seite, sah eine Krümmung in dem Kreis, die von dem Mehl nicht versiegelt war. Er stupste sie erneut an. Die Schneide grub sich in ihr Fleisch, und sie schluchzte und glitt außer Reichweite des Schwertes. »Nein! Nein!« »Aufhören!«, rief der Hauptmann. »Nein! Lasst sie zurückkommen!« Gnade wand sich in seinem Griff. Sie trat ihn wieder, stieß ihm fast ein Knie in die Lenden.
302
Frigo griff nach seiner Reitgerte und schlug fluchend zu, zog ihr die Qerte über die Brust, aber der Schmerz schüchterte sie nicht ein. Anna begann vor Entsetzen zu schreien, als ein brennender Wind sich über sie alle ergoss. Es war nicht ganz dunkel; die Grenze zur Nacht, von der es keine Rückkehr gab, war noch nicht überschritten. Aber was da vom Himmel kam, war schwärzer als die Nacht, Türme der Dunkelheit, die nach Eisen stanken und wie Glocken flüsterten, die aus großer Entfernung zu hören waren. Sie hörte sie sprechen. Sie hörte Namen. Hugh von Austra. John von Vennaci. Frigo von Darre. Theodore von Darre. Liutbold von Tivura. Sie alle wurden genannt und gezeichnet. Gnade von Wendar und Varre, Tochter von Sanglant. Der einzige Name, der fehlte, war der von Anna. »Lasst sie zurückkommen! Lasst sie zu mir!«, rief Gnade. Sie wehrte sich, hieb mit ihren Fäusten in die Luft, während Frigo ihren Schlägen auswich. Er versetzte ihr einen Kinnhaken, und sie erschlaffte. »Genau wie ich gedacht habe«, sagte Hugh im Plauderton, während er sich bückte, um die letzte Lücke im Kreis zu schließen. »Man hat dich nicht für wichtig genug erachtet, dass sich irgendjemand deinen Namen und Geburtsort gemerkt hätte, falls ihn überhaupt jemand weiß. Du wirst eher überleben, wenn du von uns weggehst. Folge dem Pferd.« Mehl rieselte auf die Erde. Hugh sprach Worte, die sie weder erkannte noch verstand, und während die Nacht und die Ungeheuer über sie hereinbrachen, traf der Kreis aus Mehl auf sich selbst, und zwischen dem einen Herzschlag und dem nächsten verschwanden die Männer und Pferde in seinem Innern. Sie schrie, würgte, weinte. Stöhnte. Eine Woge aus stinkender, kalter, schrecklicher Luft strich an ihr vorbei, hüllte sie in eine Kühle, die bis in ihre Knochen drang. Tod! Tod! Sie benässte sich, aber der heiße Urin an ihren Beinen weckte ihre Lebensgeister. Dunkelheit wogte wie
303 auf einem Sturmwind herab, und sie floh, lief weg wie zuvor das Pferd, aber sie stolperte über ihre eigenen Füße und schlug der Länge nach hin. Ihre Ellbogen bluteten. Sie kroch vorwärts, während ein dunkler Schatten über sie hinwegstrich. Das Pferd hatte sich selbst in die Klemme gebracht. Es keilte aus, trat nach der Kreatur. Anna konnte nur noch verschwommen sehen. Das Pferd wieherte, als eine schwarze Säule es umhüllte. Funken ergossen sich golden über sie. Ein Pfeil mit schimmernder Befiederung bohrte sich in die Kreatur, und sie verschwand mit einem lauten Knacken. Wo zuvor das Pferd gestanden hatte, fielen klappernd Knochen zu Boden. Haut und Fleisch waren abgezogen und verzehrt. Sie krabbelte vorwärts - da tauchte plötzlich ein zweites Ding über ihr auf. Seine kalte Anwesenheit verbrannte sie. Sie schluchzte. Ein zweiter Pfeil erblühte wie ein aufblitzendes Strahlen im Herz des Schattens. Mit einem Zischen verschwand auch diese Kreatur. In genau diesem Moment einen Blick über die Schulter zu werfen, erwies sich als das Schwierigste, was sie jemals getan hatte. Es war besser, nicht zu sehen, was sie gleich verschlingen würde, aber sie musste es wissen. Ein Dunstschleier kennzeichnete den Zauberbann, in dem Hugh seine Gefolgschaft verborgen hatte. Die meisten Galla schwärmten um ihn herum, als wären sie verwirrt. Glocken bimmelten in ihren Ohren. Sie würgte, als Galle in ihr aufstieg. Sie kam auf die Knie und kroch weiter, in der Hoffnung, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich zog, wenn sie dicht am Boden blieb. Ein drittes Zischen folgte, dann, in gleichmäßigem Abstand, zwei weitere. Da gab es nichts Unbedachtes, nicht, wenn Theodore seine Ziele aussuchte. Sie erreichte die verstreut umherliegenden, dampfenden Knochen und fiel mitten hinein. Das Klappern hallte bis zum Himmel hinauf. Ein sechster leuchtender Pfeil brannte, und dann ein siebter. »Acht. Neun«, flüsterte sie, drückte sich gegen die Knochen und hoffte, dass der Tod sie verbergen würde.
303
Hugh von Austra. So murmelte es, als es über der versiegelten Erde kreiste - nach seiner Beute suchend, aber verwirrt von dem Nebel, der ihn verbarg. Ein Pfeil erblühte in der Dunkelheit rechts von Anna. Von einem Knacken und einem hellen Aufflackern begleitet, verschwand das Zehnte. Eine Linie wie Silberdraht drehte sich in einem Luftwirbel, bevor sie zu Boden sank. Wenn die Galla mehr Verstand besaßen als Jagdhunde, war das nicht zu erkennen. Elf. Der letzte Schatten drängte sich gegen den Dunstschleier. Gnade. Das Feuer, das in seiner körperlosen schwarzen Gestalt aufleuchtete, blendete sie, als hätte sie in die grelle Sonne gesehen. Trotz der Stille läuteten Glocken in ihren Ohren, und nach einer Weile hörte sie sich weinen. Sie stank nach Pisse. Die Knochen, zwischen denen sie lag, stanken nach heißem Eisen. Ihre Augen brannten, während sie weinte. Sie konnte nicht aufhören. Sie konnte einfach nicht aufhören, nicht einmal, als sich der Zauberbann, den Hugh beschworen hatte, auflöste und die Soldaten in lauten Jubel ausbrachen. Nicht einmal, als die Öllampe entfacht wurde und sie sich wieder ins Lager aufmachten, jeder von ihnen so glücklich, als wäre er seinem eigenen Tod begegnet und entkommen. Sie konnte nicht aufhören, und schon gar nicht, als Edelmann Hugh mit der brennenden Lampe in Sicht kam. Er blieb stehen und betrachtete die Knochen mit mehr Aufmerksamkeit als sie, mit jenem eisblauen Blick, der ihm eigen war. Die Berührung eines Wintersturms wäre willkommener gewesen. Er war ein Ungeheuer, nicht anders als die Ungeheuer, die ihn verfolgt hatten. Hass flackerte in ihr auf, aber sie senkte den Blick, um sich nicht zu verraten. »Einen Becher Bier zur Feier, Edelmann Hugh?«, fragte Narben-John. Sie sah auf und bemerkte, dass der Soldat mit einem Becher Bier in jeder Hand zu ihm trat. Hugh lächelte. Es war seltsam, darüber nachzudenken, wie
304 schön er war. Unmöglich, nicht von seiner Schönheit angezogen zu werden, von dem Licht, von einem Hochmut, der beinahe wie Güte wirkte. Alles eine Täuschung. So mochte der Feind lächeln, wenn er eine Seele fand, die reif für den Abgrund war. So mochte der Feind mit sanften Worten und einem freundlichen Auftreten beschwichtigen. Komm her. Nur noch ein bisschen näher. Sie tranken. »Seht nur«, sagte Narben-John überrascht. »Das Mädchen hat überlebt! Aber - ist das das Pferd?« Er gab ein würgendes Geräusch von sich, schüttelte sich unter der Gefühlsaufwallung, die einen immer dann überkam, wenn das Schlimmste vorüber war. »Das hätten wir sein sollen! An den Knochen ist kein bisschen Fleisch mehr!« Er hielt sich den Bauch und machte ein Gesicht, als wäre ihm schlecht. »So wäre es uns allen ergangen«, stimmte Hugh ihm zu. »Die Heilige Mutter Antonia herrscht über viele üble Kreaturen. Sie ist eine Dienerin des Feindes. Jetzt seht Ihr, warum wir uns ihr und Königin Adelheid, die sie an einer festen Leine führt, entgegenstellen müssen.« Die anderen versammelten sich da, wo Anna gedemütigt und erniedrigt lag. Sie wusste nicht, was sie anderes tun sollte, als sich von ihnen anstarren zu lassen und sich durch die Knochen zu wühlen, als wäre sie taub und stumm. Schließlich kroch sie seitlich davon. Niemand hielt sie auf oder reichte ihr eine Hand. Ihre Beinlinge waren durchnässt, und ein paar Männer wedelten mit den Händen vor der Nase und machten Bemerkungen über den Gestank. »Sind wir jetzt sicher?«, fragten sie Hugh, traten gegen die Überreste des Pferdes. »Können wir schlafen?« »Ja, wir sind jetzt in Sicherheit. Bevor wir aufgebrochen sind, habe ich Bruder Petrus angewiesen, einen Tagesritt südlich von Novomo Schädel und Gebeine im Wald zu verteilen. Nach einiger Zeit fruchtlosen Suchens wird ein treuer Soldat
304 die Sucher scheinbar zufällig zu den Gebeinen führen, und Mutter Antonia wird glauben, dass wir alle tot sind, getötet von diesen schwarzen Dämonen, ihren Galla.« Sie starrten ihn alle an.
Er nickte, nahm ihre Verblüffung zur Kenntnis. »Ich wusste, dass der Plan funktionieren würde, weil Antonia nicht von dem Ausmaß meines Wissens weiß. Ich kenne einen Schild -diesen Zauberbann, den ich beschworen habe -, der uns vor dem Anblick der Galla schützt. Und ich hatte Greifenfedern, um sie in ihr übles Loch zurückzuschicken.« »Wie seid Ihr an diese Dinge gekommen, Edelmann?«, fragte Narben-John, der stets neugierig war. »Es heißt, dass der wendische Prinz, derjenige, der Kaiser Henry getötet hat, zwei Greifen wie Pferde mit sich geführt hat. Aber ich habe das nie geglaubt.« Hauptmann Frigo hatte sich Prinzessin Gnade wie einen Sack Weizen über die Schultern gelegt, aber sie atmete. »Still! Es ist nicht an uns, Edelmann Hugh zu befragen.« Hughs Lächeln war das Herrlichste auf der Welt, zweifellos. Wenn er nur anstelle des armen Pferdes gehäutet worden wäre. »Hinter Fragen verbirgt sich ein aufmerksamer Geist, Hauptmann. Tadelt ihn nicht.« Er nickte John zu, der im Licht der Lampe strahlte, zufrieden über das Lob seines Herrn. Am Himmel über ihnen schienen keinerlei Sterne. In der grauen Dunkelheit machten die Männer es sich im Lager bequem, doch sie waren noch immer beunruhigt über ihre Begegnung mit Tod und Zauberei. »Ich bin als ein Geistlicher aufgewachsen, John, und habe gelernt, Gott zu lieben und jene Dinge zu lesen, die von den heiligen Kirchenleuten niedergeschrieben wurden, die vor uns gelebt haben. Ich hatte ein Buch ... ich habe es immer noch, denn ich habe es auf Papier und in meinem Geist abgeschrieben. In diesem Buch stehen viele Geheimnisse. Was die Greifenfedern betrifft - hm.« Anna presste die Lippen aufeinander, um nichts zu sagen. Prinz Sanglant hatte Greifenfedern erbeutet. Hatte Edelmann
305 Hugh es ebenfalls getan? Hatte er, ebenso wie Bulkezu, eines dieser Tiere gejagt und getötet? Er wandte den Kopf leicht ruckartig ab, als würde ihn ein Gedanke erheitern, den nur er kannte. »Heißt es nicht in der Heiligen Botschaft: >Er, der im Sommer Vorräte anlegt, ist ein fähiger Sohn
305 Grenze, und ich bin seit fünfzehn Jahren Soldat und habe mit Kaiser Henry und der guten Königin in Dalmiaka gekämpft.« Er warf Hugh einen Blick zu. »Die sie damals war.« Hugh hatte ihn nicht gehört. Auch er starrte - mit dem Anflug eines Lächelns - auf die Wildnis. »Das ist die Macht, die Anne getötet hat«, sagte er. »Was ist das, Edelmann?«, fragte der Hauptmann. »Ist es das Werk des Feindes?«
»>Und über euch wird großes Unglück kommen. Die Flüsse werden bergauf fließen und der Wind wird zum Wirbelsturm werden. Die Berge werden zu Meeren werden und die Meere zu Bergen. Die Sonne wird sich in Dunkelheit verwandeln und der Mond in Blut.<« Die Männer starrten zum bewölkten Himmel hinauf, als suchten sie nach der verborgenen Sonne. »>Alles, was verloren ist, wird auf dieser Erde wiedergeboren werden<«, fügte er hinzu. Sie starrten immer noch das fremde Land an, zögerten weiterzureiten. Theodore sprach als Erster. »Was war das, Edelmann?«, fragte er und deutete nach Osten auf die Felslandschaft. »Ich dachte, ich hätte ein Tier gesehen.« Hugh schüttelte den Kopf. »Wie sollte irgendein Geschöpf dieses Land durchqueren können? Wir werden zum Meer hinuntergehen müssen.« Obwohl sie dies taten, obwohl es nur möglich war, nach Osten zu marschieren, indem sie sich an den Strand hielten, richteten sie dennoch stets ein Auge auf das Ödland. Es war so freudlos, kahl und furchterregend, dass Anna weinte.
306
3 Er traf ein und brachte sein Gefolge aus verräterischen Arethusanern mit, von deren Lippen Lügen kamen, die allesamt falsche Juwelen waren, da ihre Ohren niemals etwas anderes vernommen hatten als die Lehren des Patriarchen, der ein Abtrünniger war und dessen hartnäckige Gier die Wahre Kirche entzweit hatte. Adelheids Soldaten warteten beim Tor und säumten die Alleen. Bedienstete schwärmten wie Galla umher, in die beste Kleidung gehüllt, die sie finden konnten. Alle mussten eindrucksvoll erscheinen, schließlich war dies der Hof der Königin und Kaiserin. Der Hof der Skopos, der einzig wahren Vermittlerin zwischen Gott und der Menschheit. Adelheid erhob sich nicht zur Begrüßung, als sein Gefolge den Hof vor dem Audienzsaal erreichte. Sie schickte Edelfrau Lavinia nach draußen, um ihn hereinzuführen, während Hauptmann Falco zu ihr eilte und Bericht erstattete. »Es muss sich tatsächlich um den berühmten einäugigen General Edelmann Alexandros handeln.« »Derjenige, über den wir Geschichten gehört haben, als wir in Dalmiaka waren?« »Ja, so sieht es aus. Es heißt, er wäre mit einer Edelfrau und einem Titel als Edelmann dafür belohnt worden, dass er so viele Siege für den Kaiser errungen hat. Er reitet einen wundervollen Wallach und besitzt weitere sehr schöne Reittiere, alles Wallache. Das deutet auf einen Mann mit einem Hang zur Eitelkeit hin.« »Gut beobachtet, Hauptmann.« Adelheid trug eine schöne Goldkrone, aber verglichen mit der kaiserlichen Krone, die sie eigentlich hätte tragen sollen, kam sie Antonia armselig vor. Dennoch wirkte Adelheid in ihrem Hermelingewand und mit ihrem strahlenden Gesicht beeindruckend genug, dass jeder Mann abrupt stehen bleiben
306 und sich sicherlich nicht von belanglosen Einzelheiten wie kostbarem Schmuck ablenken lassen würde. Der Blick der Königin wurde schärfer, als ein Schatten auf die geöffnete Doppeltür fiel, die zur Säulenhalle vor dem Audienzsaal führte. Antonia saß rechts von ihr, aber in gleicher Höhe mit ihr auf dem Podest. Von der Tür aus würden sie Seite an Seite gesehen werden, ohne dass jemand den Vorrang hatte: die weltliche Macht Hand in Hand mit der heiligen, wie Gott es für die Welt hienieden angeordnet hatten. General Edelmann Alexandros trat ein, begleitet von jeweils zwei Männern zu seiner Rechten und seiner Linken. Drei trugen verzierte Kisten; der vierte einen langen, runden, in Stoff gehüllten Gegenstand. Alle waren in rote Überwürfe gekleidet, die über ihren Rüstungen gegürtet waren. Der General selbst trug ein goldenes Seidengewand, das gegürtet und zum Reiten geschnitten war; am Nacken, unter den Armen und um die Hüften hatte die Rüstung, die er darüber getragen hatte, die Farbe abgescheuert. Er kam geradewegs aus dem Sattel, hatte sich lediglich die Zeit
genommen, die Rüstung abzulegen, aber das war genau das, was Adelheid sich gewünscht hatte: dass er keinerlei Zeit haben würde, sich vorzubereiten, sondern kopfüber in all seinem Reisestaub in dieses Gewühl geworfen werden würde. Die Kaiserin erhob sich nicht. Und Antonia natürlich auch nicht. Er blieb stehen und musterte den Saal und die dort versammelten Menschen. Zur Hälfte handelte es sich um Bedienstete und Gewöhnliche, was ihnen aber nicht anzusehen war; sie waren allesamt gut gekleidet, und natürlich standen die ebenfalls anwesenden Edelleute in den vorderen Reihen. Alexandros hatte tatsächlich nur ein Auge, und zwar ein verblüffend blaues. Das andere war mit einer schwarzen Klappe bedeckt. Er war dunkelhäutig wie alle Arethusaner, nicht besonders groß, aber mit kräftigen Schultern und einem ebensolchen Brustkorb -ein Mann, der von seinen Fähigkeiten überzeugt war.
307 »Jetzt werden wir herausfinden, ob sein Verstand genauso scharf ist, wie sein Schwert es dem Vernehmen nach sein soll«, murmelte Adelheid. Sie hob die Hand. Er trat vor, gefolgt von seinen vier Begleitern. Nur er war bewaffnet, trug ein Schwert in einer schlichten Lederscheide. Keiner seiner übrigen Männer betrat den Audienzsaal. Alexandras blieb vor dem Podest stehen, schnippte mit den Fingern und stieg die Stufen hinauf, während der Mann mit dem langen Gegenstand das Tuch wegnahm und einen stabilen Stuhl auseinanderfaltete. Als der General die zweite Stufe erreichte, stellte der Mann den Stuhl links von Adelheids Thron auf und eilte zurück, um mit den anderen niederzuknien. General Edelmann Alexandras setzte sich. Welche Verwegenheit! Antonia war sprachlos. Welche Frechheit! Die Anwesenden hielten den Atem an. Alle Blicke wandten sich der jungen Kaiserin zu. Adelheid hob eine Braue und musterte ihn abschätzend. Er schnippte erneut mit den Fingern. Die Männer traten einer nach dem anderen vor, setzten die Kisten vor ihren Füßen ab und öffneten die raffinierten Verschlüsse, die in die Verzierung eingelassen waren. Aus der ersten tauchte ein Singvogel auf, leuchtend golden bemalt. Er sang eine hübsche Melodie und ruckte vor und zurück, auf und ab, als wäre er lebendig. Adelheid vergaß sich so sehr, dass sie vor Freude in die Hände klatschte. Die zweite Kiste offenbarte eine Perlenschnur von unbeschreiblicher Schönheit. Jede einzelne Perle war unbezahlbar, und hier hingen tausend davon aneinander, schimmerten sanft im Licht. Adelheid hob die Kette mit einiger Mühe hoch und ließ sie auf ihren Schoß gleiten. General Edelmann Alexandros hob zwei Finger, und der dritte Mann öffnete eine juwelenbesetzte Kiste und zeigte Antonia den Inhalt.
307 Auf einer Unterlage aus grauer Seide lagen die vollständigen Knochen einer Hand, mit Golddraht zusammengebunden. »Ein Lied zur Unterhaltung«, sagte er auf Dariyanisch und deutete auf den niedlichen Vogel. Er hatte einen rauen Akzent, aber von einem verlogenen Arethusaner erwartete Antonia ohnehin keine schönen Worte. »Perlen von großer Schönheit und Kostbarkeit. Und ein kostbares Relikt für die Heilige Mutter Eures Volkes.« Er deutete auf die Knochenhand. »Ein Relikt?« Antonia musterte die Knochen. Sie glänzten nicht, und es war auch sonst nichts zu sehen, was auf eine besondere Heiligkeit hingewiesen hätte. »Jeder könnte einen Fingerknochen verkaufen und behaupten, dass es sich um das Relikt eines Heiligen handelt.« Er zuckte mit den Schultern, und es verärgerte Antonia, als sie sah, dass ihre Bemerkung ihn amüsierte. »Das denke ich auch. Vielleicht ist es nur die Hand eines Kuhhirten. Aber sie kommt von der heiligsten Stätte des Patriarchen der Wahren Kirche. Dies ist die Hand von St. Johanna der Botin, einer heiligen Schülerin des gesegneten Daisan. Wenn Ihr sie allerdings für eine Fälschung haltet, werde ich sie wieder mitnehmen.«
Adelheid riss die Augen auf. Sie hielt noch immer die Perlen in der Hand, aber ihr Blick war auf die Knochenhand gerichtet. »Ein kostbares Relikt, allerdings!«, sagte sie atemlos. »Wie seid Ihr daran gekommen, General? Wieso bringt Ihr es uns?« Er machte eine Geste. Seine vier Begleiter berührten in der unterwürfigen Art der Völker des Ostens mit der Stirn den Boden, zogen sich zurück und knieten am Fuß des Podestes nieder. »Eure Majestät«, sagte er. »Heilige Mutter. Ich bin kein Mann schöner Worte. Ich bin nur ein Soldat. Also werde ich geradeheraus sprechen, wenn Ihr nichts dagegen habt.« Antonia wollte etwas sagen; sie fand ihn unhöflich und stolz, aber Adelheid hielt sie davon ab. Die junge Kaiserin war eine jener Frauen, die anfällig für die Ausstrahlung von körperlicher Kraft bei einem Mann waren, als wären starke Arme ei
308 nem starken Glauben und einem rechtschaffenen Herzen vorzuziehen. »Sprecht weiter, General. Ich höre.« Als er Antonias Blick begegnete, wurde ihr klar, dass er um ihre Abneigung wusste. Er beurteilte sie, wie ein Mann seinen Gegner abschätzte, ehe er die Schlacht eröffnete und angriff. »Ich reite einen langen Weg nach Aosta. Ich sehe viele schlimme Dinge. Ich sehe Ödland, ein Land aus rauchendem Fels. Ich sehe Dürre, trockenes Land, Krankheiten. Es ist ein leeres Land, alle Menschen laufen weg. Es gibt Hunger. Es sind keine Vögel am Himmel über uns, aber einmal sehen wir ein großes Tier, das so strahlt, als wäre es aus Gold. Wir werden dreimal von Kreaturen angegriffen, die die Gestalt von Menschen und die Gesichter von Tieren haben. Sie tragen Rüstungen, die ich von den alten Malereien in den Hallen von Arethusa kenne. Die Verfluchten sind zur Erde zurückgekehrt. Jetzt jagen sie uns.« »Dies sind üble Entwicklungen«, pflichtete Adelheid ihm bei. »Aber vieles davon erleben wir auch hier in Aosta.« »Dies erleiden wir zusammen.« Er nickte. »Was wollt Ihr?«, fragte Antonia. »Ihr seid ein Ketzer, ein Abtrünniger, ein Arethusaner, der so schnell lügt, wie er atmet, der wie der Fuchs die Eier aus dem Nest einer Henne stiehlt, um seine eigenen Jungen zu füttern.« Adelheid umklammerte die Perlen ganz fest und wandte sich an Antonia. »Ich bitte Euch! Heilige Mutter, lasst ihn sprechen. Ich habe Gesandte ausgeschickt, um ein Bündnis in Erwägung zu ziehen. Ich hätte nicht erwartet, dass der General Edelmann meinen Ruf selbst beantwortet.« »Was für ein Edelmann ist er?«, fragte Antonia mit freundlicher Stimme. »Euer stolzes Geschlecht ist allen bekannt, Eure Majestät. Ich bin eine Tochter des Königshauses von Karrone. Wer ist er?« Er beugte leicht die Arme. Angesichts der Größe seiner Hände konnte man seine Herkunft erahnen: Er war ein Mann 308 des Schwertes, aufgewachsen mit dem Schwert, erzogen mit dem Schwert, ein General, der sein ganzes Leben lang gekämpft hatte. »Ich habe eine Edelfrau geheiratet«, sagte er. »Sie stammt aus dem Haus von Theophanes Dasenia. Sie ist eine Kusine des letzten Kaisers. Sie ist auch eine Kusine zweiten Grades von Prinzessin Sophia, die Euren König Henry vor langer Zeit geheiratet hat. Eine kluge, emsige Frau, stolz und barmherzig. In jeder Hinsicht eine Edelfrau.« Er hielt den Atem an. Die Versammlung war still, hörte in seiner Stimme eine Trauer, die Antonia einen Moment lang einen unbehaglichen Anflug von Sympathie entlockte. Rasch vertrieben. »Sie ist tot.« Er war blass. Auch Adelheid war die Farbe aus dem Gesicht gewichen, und doch hatte sich ihr Aussehen in jeder Hinsicht geändert, seit der General die Halle betreten hatte. Seine Aufmerksamkeit ließ sie jünger erscheinen. Er sah die Kaiserin an, aber was er sah, konnte Antonia in seiner Miene nicht erkennen. »Arethusa ist gefallen, Eure Majestät. Die Stadt ist zerstört. Diejenigen ihrer Bewohner, die noch leben, sind Verbannte. Viele andere sind tot. Sogar die große Kirche liegt in Trümmern.« Adelheid nickte, als würde sie dies nicht überraschen. Wie sollte es auch? Sie hatte Darre gesehen. »Was ist mit dem jungen Kaiser, General Edelmann Alexandras?«, fragte Antonia. »Lebt Edelmann Niko?«
Er nickte, heftete seinen Blick aber weiter auf die Königin, als würde er den Speer seines Feindes mustern, der ihn in einem unbewachten Augenblick durchbohren könnte. »Der Kaiser lebt unter dem Rockzipfel seiner Tante, Edelfrau Eudokia. Sie und ich waren einst Verbündete.« »Einst?«, fragte Adelheid rasch. »Jetzt nicht mehr?« Er lächelte, als würde ihre Frage von einem besonders scharfsinnigen Geist künden. Wie leicht Männer eines bestimmten Alters sich doch von jungen, hübschen Frauen blenden ließen! Henry war ihr auf die gleiche Weise verfallen, wie es hieß.
309 »Ich sage Folgendes«, sprach er weiter. »Edelfrau Eudokia zieht die Blindheit vor. Sie geht in den Trümmern umher und nennt sie einen Palast. Ich kann nicht blind gegenüber dem sein, was ich sehe.« »Was wollt Ihr, General?«, fragte Antonia, die erkannt hatte, dass sie die Unterhaltung unterbrechen musste, ehe sie ihr entglitt. »Ich glaube, dass die Kaiserin - Königin Adelheid - etwas vorschnell den Vorschlag gemacht hat, dass ihre Tochter den Jungen heiraten könnte, der jetzt Kaiser von Arethusa ist. Seid Ihr deshalb hier? Wenn das so ist, sollten wir jetzt offen darüber sprechen.« Das gute Auge heftete sich kurz und beunruhigt auf sie, und sie sah Anerkennung darin aufblitzen, aber dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Adelheid zu. Das taten sie immer! Männer waren Narren, die nicht sahen, wo die wahre Macht lag. Sie waren Ungläubige, die ihr Vertrauen nicht als Erstes in Gottes Diener legten. Die nicht erst nach Glauben strebten, ehe sie sich den irdischen Genüssen zuwandten. Die Menschheit versagte immer, und das ärgerte sie maßlos! »Auch dies höre ich auf meiner Reise«, sagte er. »Darre, diese große Stadt, liegt ebenfalls in Trümmern. Giftiger Rauch tötet die Menschen, die dort leben. Alle Menschen müssen fliehen. Die Stadt ist tot.« Adelheid rührte sich nicht, nickte nicht und schüttelte auch nicht den Kopf. Sie war plötzlich angespannt. Die Perlen lagen in ihrem Schoß, aber sie berührte sie nicht mehr, sondern umklammerte die Armlehnen ihres Throns, während sie ihn anstarrte. »Was wollt Ihr, General? Seid Ihr gekommen, um mich zu verspotten?« »Ich möchte leben.« Er klopfte sich auf die Brust. »Ich - und Ihr, Eure Majestät - wir stehen auf diesen Trümmern. Zwei große Städte. Zwei große, uralte Reiche. Alles in Trümmern.« Sie nickte, aber sie wagte nicht zu sprechen. Tränen füllten 309 ihre Augen. Sie hatte so viel gesehen und so viel verloren, und seine Worte berührten sie zutiefst. Alle, die hier versammelt waren, lauschten angestrengt. Er besaß diese Fähigkeit ebenso wie Adelheid: die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zu ziehen, die ihm folgten. Wie die Perlen besaß er einen Glanz, der schwer zu erkennen war, wenn man ihn das erste Mal sah - seinen stämmigen Körper, den buschigen schwarzen Bart und das schrecklich vernarbte Gesicht. »Alles in Trümmern, Euer Reich und meins. Im Norden sind die Ungrianer und Wendaner, die es vielleicht nicht so schwer getroffen hat. Im Osten die ungläubigen Jinnen und ihr Feuergott. Auch sie haben vielleicht nicht so schwer gelitten wie wir, aber das ist schwer zu sagen. Hört mich an. Hört gut zu. Im Süden sind die Verfluchten zurückgekehrt. Dort, wo einmal das Meer war, ist jetzt Land. Sie plündern bereits im Norden. Wenn sie ein Heer aufstellen und losmarschieren ... sind wir hilflos.« Es war so still in der Halle, dass Antonia die Pferde draußen stampfen hörte. Es war so still, dass ein halbes Dutzend Höflinge zusammenzuckte wie bei einem Donnerschlag, als jemand hustete. Es war jetzt fast dunkel, und in dieser Stille begannen zwanzig Bedienstete, die Lampen anzuzünden. »Das weiß ich alles«, sagte Adelheid schließlich. »Es besteht eine lange Feindschaft zwischen Eurem Volk und meinem, General. Da ist die Frage der Kirchenlehre, die nicht so einfach beiseitegeschoben werden kann. Aber dies sind Dinge, die jetzt weniger zählen als die Übel, die uns zusetzen. Deshalb habe ich meine Gesandten mit der Bitte um ein Bündnis ausgeschickt.«
Er nickte wieder, als würde er einen Handel besiegeln. »Was mich betrifft, kümmert es mich wenig, was die Priester und Diakonissinnen singen. Es interessiert mich nicht sehr, ob der heilige Daisan ein Mensch ist wie ich oder zum Teil aus der Substanz Gottes besteht.« Bevor Antonia etwas sagen konnte, legte Adelheid der Skopos ihre Finger aufs Handgelenk. Dass eine so kleine Hand ei
310 nen so eisernen Griff haben konnte! Antonia mochte diesen Mann nicht, aber sie wusste, dass jeder Einwand ihre mühsame Verbindung mit Adelheid zerstören konnte. Wie bitter es war, auf irdische Macht angewiesen zu sein! Wenn Gott ihr nur die Mittel gegeben hätten, ihre Feinde umfassender heimzusuchen als mit den einzelnen Galla, hätte sie sich längst ans Werk gemacht. Der General nickte, als wollte er zeigen, dass er Antonias Abscheu begriffen hatte. Er deutete mit einer offenen Handfläche auf sie, erwies ihr Respekt in einer Weise, die ihr widerwillig Bewunderung entlockte. »Hier sind jene, die für Gott kämpfen. Lasst sie dort kämpfen, wo sie Gutes tun können. Was mich betrifft, werde ich mein Schwert benutzen, wo ich es kann, und meinen Verstand, wo ich es muss. Seid Ihr mit einer Heirat einverstanden?« Der Vorstoß war rasch erfolgt, aber er überraschte Adelheid nicht. »Meine Tochter Mathilda verlobt sich mit dem jungen Kaiser Niko. Ja. Sie ist noch jung, gerade fünf Jahre alt, aber sie wird älter werden.« Er kniff das gute Auge zusammen. Wo die Narbe sein Gesicht verunstaltete, war es ausdruckslos, als wären die Muskeln gelähmt. »Eure Tochter nutzt mir nichts. Sie ist ein Kind. Ihr seid eine Frau.« So schnell konnte sich alles ändern. Wie der Wind die vorsichtigen Vorbereitungen eines Bauern umstieß, der sein Heu noch nicht gebündelt hatte, verwehten die Pläne, auf die Antonia und Adelheid sich geeinigt hatten. Die Kaiserin lachte. Die Höflinge, die die ungesprochenen Worte sahen und hörten, legten die Hände ans Gesicht, verbargen ihre Augen, glucksten oder riefen leise, ganz nach ihrer Wesensart. Antonia kochte. Aber sie musste schweigen, wenn sie nicht alles verlieren wollte. Sie sah ihre eigene Macht so rasch verfliegen, dass sie wusste, sie musste sich ans Ufer klammern, bevor die sandige Klippe unter ihr zusammenbrach. Es hatte kei
310 nen Sinn, einzuwenden, dass die Königin den Arethusanern nicht glauben durfte oder dass ihre geliebten Aostaner ihr nie wieder glauben würden, wenn sie einen Arethusaner heiratete, denn sie hatte bereits in Erwägung gezogen, ihre junge Tochter mit einem von ihnen zu verheiraten - und die Idee befürwortet. Mit einem Fremden! Einem Ketzer! Der dasaß, als würde er bereits an Adelheids Seite herrschen. »Verlobt Eure Tochter mit dem jungen Kaiser, wenn es nötig ist«, sagte er. »Das ist ebenfalls gut. Aber Eure und meine Macht, die Macht, unsere Reiche am Leben zu halten, muss sich verbinden. Ansonsten werden wir sterben, und unsere Reiche werden sterben. Wollt Ihr das, Eure Majestät?« In Antonias Innerem brodelte eine Wut, die sie nie würde äußern können. »Nein«, sagte die Kaiserin. »Ich will nicht, dass mein Reich stirbt. Aber wenn ich einen Arethusaner zum König neben mir mache, wird mein Volk mir möglicherweise den Rücken kehren.« »>König< ist nur ein Titel. Ich werde Euer Gemahl sein, ein einfacher Edelmann. Nennt mich, wie Ihr wollt. Wie Ihr müsst. Aber nur Ihr und ich - nur wir beide können gemeinsam unsere Reiche retten.« Sie nahm seine schwielige Hand. Ihre war so zart und seine so groß, aber überraschend sanft, als er ihre kleinen Finger berührte und lächelte. Durch diese einfache Geste waren sie vor dem Angesicht der Menschheit verlobt. Aber nicht vor Gott. Er erhob sich, und Adelheid erhob sich mit ihm. Niemand sprach. Der Hof war zu benommen, um etwas zu sagen, als er etwas erlebte, das niemand erwartet hatte: Die Kaiserin von Aosta verband
sich mit einem listigen Arethusaner, der durch Täuschung und Schläue und zweifellos noch schlimmere Mittel zum General und Edelmann seines ketzerischen Volkes aufgestiegen war. 311 »Heilige Mutter«, sagte er. »Ich bitte Euch, wir übergeben uns Eurer Gnade. Ohne Euren Segen ist alles vergebens. Ohne Euren Segen werden unsere Reiche zerfallen - diese beiden Reiche, die die uralten und wahren Wege wie ein Licht für die Menschheit hochhalten.« Sie war still und störrisch. Sie hatte Zeit. Er war noch nicht fertig. »Ihr besitzt die größte Macht von allen, Heilige Mutter. Ihr besitzt das Recht, zuerst zuzuschlagen.« Sie war immer noch wütend, obwohl sie eine ruhige Miene zur Schau stellte, aber jetzt wurde sie von Neugier gepackt. »Was meint Ihr damit?« »Wir sind denen gegenüber, die im Norden leben, verletzlich, wenn sie sich entscheiden sollten, uns erobern zu wollen, solange wir schwach sind. Ihr könnt sie schwächen. Nur Ihr allein besitzt diese Macht.« Er war ein schlauer Mann, aber das musste er natürlich sein, denn alle Arethusaner waren schlaue, verlogene, skrupellose Geschöpfe, die Badewasser tranken und zu viel Knoblauch und Zwiebeln aßen und sich unschicklich kleideten - Männer wie Frauen und Frauen wie Männer - und die eine falsche Menschlichkeit vorgaben, die in Wirklichkeit nichts als Stolz war. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass er ihr Interesse geweckt hatte. »Was meint Ihr damit?« »Ihr seid die Heilige Mutter. Sie gebietet über den Gehorsam aller Kinder Gottes. Ist das nicht so?« »Das ist so. Ich bin erfreut, dass Ihr, ein Ketzer, meine Autorität anerkennt.« Er nickte, aber er neigte den Kopf nicht ganz vor ihr. Er war ein gefährlicher Mann, wie er selbst zugegeben hatte. Er glaubte nicht wirklich; für ihn war die Kirche nur ein Werkzeug. Eine Waffe. »Was geschieht mit jenen, die ungehorsam sind?« »Sie werden getadelt. Sie müssen Buße tun.«
311 »Und danach? Wenn sie immer noch ungehorsam sind? Ich denke, Ihr habt die Macht, sie mit einem Bann zu belegen.« »Oh!«, hauchte Adelheid. Ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen begannen zu strahlen, als sie begriff, worauf er hinauswollte. Auch Antonia hatte ihn verstanden. »Ich könnte sie mit einem Kirchenbann belegen, wenn sie eine solche Exkommunikation verdienen. Aber wie sollte das Aosta helfen? Wie sollte es Arethusa helfen? Wie sollte es der heiligen Kirche helfen, der allein meine Sorge gelten muss?« Weil er ein gefährlicher Mann war, lächelte er. Und zuckte mit den Schultern. »Als ich jung bin, stehe ich einmal in der Nacht Wache. Ich höre ein Geräusch in einem Busch. Es kann alles sein, aber ich stoße mit meinem Speer zu. Ich treffe einen Mann ins Bein. So finden wir heraus, dass er ein Spion ist. Er sagt uns, wo das Lager der Feinde ist und was sie vorhaben. Wir überraschen den Feind. Dies ist mein erster Sieg. Es kommt manchmal vor, dass ein Mann mit seinem Speer im Dunkeln zustoßen muss, auch wenn dort nichts als eine Ratte sein mag. Auf diese Weise treffen wir, auch wenn wir nicht wissen, was es sein wird. Es ist besser als nichts. Es ist besser, etwas zu tun, als dazustehen und zu warten.« »Ich bin es leid, hilflos zu sein«, sagte Adelheid. »Ich bin es leid, dazustehen und zu warten, während andere handeln.« »Ihr glaubt, ich sollte ganz Wendar und Varre mit einem Kirchenbann belegen. Wenn ich das tue, wird niemand bei der Geburt oder bei einer Eheschließung gesegnet. Niemand wird die Sterbesakramente erhalten. Die Diakonissinnen können keine Messen halten, und die Bischöfinnen können keine Diakonissinnen weihen. Es ist eine schreckliche Sache, General.« »Sie haben einen Mann zum Herrscher ernannt, der seinen eigenen Vater umgebracht hat«, sagte Adelheid. »Ist das etwa keine schreckliche Sache? Verstößt es nicht gegen Gottes Wort? Wenn wir
auf der Erde unsere Mutter und unseren Vater nicht lieben und achten und ihnen gehorchen, wie können 6/3 wir dann die Mutter und den Vater des Lebens lieben und achten und ihnen gehorchen?« »Ich verstehe«, murmelte Antonia, und sie verstand tatsächlich. »Der Plan hat einiges für sich. Wenn sie die Nachricht schicken, dass ein würdigerer Bewerber auf den Thron erhoben worden ist, werde ich darüber nachdenken, den Bann aufzuheben. Wenn sie darauf bestehen, ihre Loyalität diesem unehelichen Mischling zu schenken, der seinen eigenen Vater ermordet hat, kann ich es nicht tun.« »Seht Ihr«, sagte Adelheid triumphierend. »Es gibt tatsächlich mehr als einen Grund, wieso Edelmann Hugh Edelfrau Elene umgebracht hat. Sie ist Conrads Tochter. Sie hatte einen Anspruch auf den Thron, ebenso wie ihr Vater. Einen größeren als jeden, den Edelmann Hugh für Prinzessin Gnade hätte vorbringen können.« Alexandras lauschte ihren Worten, aber er sagte nichts. »Gehen wir einen Schritt weiter«, fügte Antonia hinzu. »Alle außer dem Herzogtum Wayland werden unter den Bann fallen. Conrad könnte überredet werden, sich mit uns zu verbünden. Er ist ehrgeizig. Er hat andere Kinder.« »Söhne?«, fragte Adelheid, dann hielt sie plötzlich inne und warf dem General einen Blick zu. Wie wankelmütig sie war! Mit der einen Hand hatte sie Mathilda gerade erst versprochen und plante mit der anderen schon ein neues Bündnis. Der General schien ihre Frage entweder nicht gehört oder nicht verstanden zu haben, oder er hatte beschlossen, die Sache nicht weiter zu beachten. Antonia überlegte. Hatte Conrad Söhne? Konnte Mathilda in das wendische Königshaus einheiraten, oder waren sie und Conrads Kinder zu nah verwandt? Und da war auch noch Berthold, Villams Sohn, der sich als nützlich erweisen mochte. Während sie darüber nachdachte, stellte sie fest, dass er und Wulfhere tatsächlich genau die richtigen Leute waren, um ihr bei dieser Sache von Nutzen zu sein. Hugh von Austra war ein Narr, aber ein toter Narr, dessen
312 Gebeine im Wald lagen, ganz wie er es verdient hatte. Man sollte niemals die Kinder aus edlen Häusern töten. Sie waren lebendig immer von größerem Nutzen als tot. »So sei es«, sagte sie und hob den Stab, damit die Anwesenden aufmerkten und lauschten. Es gab mehr als eine Weise, einen Krieg zu führen. Es gab mehr als eine Weise, eine Schlacht zu gewinnen.
4 Wenn man Steine brauchte, musste man zu einem Steinbruch gehen, der sich hoffentlich in der Nähe befand, und so viele von ihnen, wie man tragen konnte, in eine Schlinge aus festem Material packen; das Gewicht wurde vom Band dieser Schlinge getragen, das quer über die Stirn verlief. Die Männer, die mit Spitzhacken, Keilen und Holzhämmern an dem Felsen arbeiteten, trugen nichts außer einem Schurz, der kaum ihre Lenden bedeckte. Die Luft war staubgeschwängert. Alle schwitzten, obwohl die Sonne immer noch hinter einer hochgelegenen Wolkendecke verborgen war. Secha blieb stehen, um die Kehle mit einem Schluck Wasser zu reinigen, dann packte sie drei Steine in ihre Schlinge, hob sie hoch und legte sie über Stirn und Rücken. Sie ging den Pfad entlang, der den Berghang hinunter und zur Weißstraße führte. Dort wandte sie sich nach Westen und kehrte über den breiten Pfad zum Wachturm zurück. Sie trug eines der Kinder an ihrer Brust, während sich das andere bei Regen befand, der eine behelfsmäßige Werkstatt eingerichtet hatte, um mit einem Bautrupp den Wachturm wieder aufzubauen. Überall entlang der Weißstraße bauten und reparierten die Leute die eingestürzten Wachtürme. Sie war jetzt seit fünf Tagen mit dieser Arbeit beschäftigt. Auf diese Weise gewöhnte sie sich an ihr neues Leben.
6/5 Sie kam an einem älteren Mann vorbei, der mit einer leeren Schlinge zurückkehrte. Er grüßte sie, ohne ihr richtig in die Augen zu sehen. Wie alle, die in den Schatten gewandelt waren, wollte er sich von ihr fernhalten und ging so rasch wie möglich weiter. Sie fürchteten sich vor ihr, denn sie hatte den gefiederten Umhang getragen. Sie fürchteten ihre Nähe, denn sie hatte sich die Blutmesser zu Feinden gemacht. Ein weiterer dünner, alter Mann kam jetzt den Pfad entlang, und sie strahlte, als sie ihn und die beiden jungen Maskenkrieger sah, die ein paar Schritt hinter ihm gingen. »Da bist du ja«, sagte Ältester Onkel, drehte sich um und ging neben ihr her wieder zurück. Er trug nichts als eine Haut mit Flüssigkeit. Sie grüßte die Jungen mit einem Nicken, und sie ließen sich zurückfallen, damit die Älteren sich in Ruhe unterhalten konnten. »Das ist ein neuer Umhang«, bemerkte sie. »Ein schönes Geschenk meiner Tochter, wie man mir zu verstehen gegeben hat.« Er schob die Ecken des hüftlangen Umhangs zurück, so dass sie den kurzen Schurz um seine Hüften sah. »Und auch neue Kleidung und neue Sandalen.« »Man kümmert sich gut um mich«, sagte er mit einem Kichern. »Es ist, als würde man einen Hund füttern, damit er nicht zur Unzeit bellt.« Sie lachte. Das Kind rührte sich, und sie blieb stehen, half ihm aus der Schlinge und setzte es dem alten Mann auf die Hüfte. Das Kind war wach und musterte neugierig die Gesichter und Bäume, obwohl das Ödland im Norden einen zu wirren Anblick bot, um die Aufmerksamkeit eines Kleinkindes erregen zu können. Sie gingen in schwungvollem Tempo weiter. »Du hast Neuigkeiten«, sagte sie nach einiger Zeit. »Ja.«
313 Sie gingen wieder eine Weile, ohne etwas zu sagen, kamen an zwei weiteren Personen vorbei, die mit leeren Schlingen zurückkehrten. Die beiden grüßten Ältester Onkel mit einem offenen Lächeln und Secha mit einem argwöhnischen. »Sie haben Angst vor mir«, sagte sie. »In früheren Zeiten war es Brauch, dass diejenige, die sich um den gefiederten Umhang bewirbt und ihn nicht bekommt, sich den Göttern opfert.« »Was ist mit einer, die herausgefordert wurde und verloren hat?« Er zuckte mit den Schultern. »Solche Herausforderungen hat es selten gegeben. Gewöhnlich fand eine Wahl nur statt, wenn Federkleid starb und eine neue Anführerin gewählt werden musste. Dann wurden zwei Kandidatinnen von den Kriegern und Blutmessern ausgewählt und vor die Körbe gestellt. Aber die Entscheidung war gewöhnlich bereits vorher gefallen.« Sie schnaubte. »Dann hat sich also wenig geändert.« »Du hast nicht hart genug gekämpft, Secha«, schalt Ältester Onkel. »Wo ist dieser Blick, den du als Kind immer gehabt hast, wenn meine Tochter die anderen Kinder geärgert hat? Du warst jünger als sie, aber weiser und klüger!« »Ich bin nicht die richtige Anführerin, Onkel. Nicht für diese Zeit. Nicht für diesen Krieg. Es ist besser, dass ich anderen Platz gemacht habe.« Er runzelte die Stirn. »Auch wenn sie unrecht haben?« »Haben sie unrecht? Ich weiß es nicht.« »Ah!« Einen solchen Laut mochte ein Mann von sich geben, wenn er erfuhr, dass seine Geliebte ihn verlassen hatte. »Sie hat sogar dich mit ihren Argumenten überzeugt.« »Nein, aber ich bin von meinen eigenen nicht überzeugt. Ich bin eine gute Verwalterin, Onkel. Ich kann Streitigkeiten schlichten und Arbeiten und die Verteilung von Gütern überwachen. Ich kann erkennen, wer mich anlügt und wer die Wahrheit sagt, wer selbstsüchtig nach einer Bevorzugung trachtet und wer tun wird, was für den Clan das Beste ist. In der 6/7
Verbannung konnte ich meine Hände heben und wusste, dass meine Entscheidungen allen Mitgliedern der Stämme die Möglichkeit gegeben haben zu leben, ohne dass jemand ihnen diese Möglichkeit durch seine Gier oder seine Wut rauben konnte. Aber dies macht mich nicht zur richtigen Person, um an der Spitze eines Heeres zu stehen. Dies macht mich nicht zur richtigen Person, um jetzt, da wir nach Hause zurückgekehrt sind, die Hände zu den Göttern zu erheben.« Er schnaubte. Das Kind brabbelte und versuchte, das Kinn von Ältester Onkel zu berühren, was ihn etwas ablenkte. Sie sagte nichts, sondern schonte ihren Atem zum Gehen, obwohl sie an das Gewicht gewöhnt war. »Federkleid möchte, dass ich ihr bei einer wichtigen Angelegenheit zur Seite stehe«, sagte er nach einer Weile. »Ich möchte dich bitten, mich zu begleiten.« Zwei Maskenkrieger, die ihre Runde machten, kamen auf sie zugeschritten. »Onkel!« Beinahe gleichzeitig berührten die jungen Männer ihre rechte Schulter mit den Fingerspitzen der linken Hand. »Brauchst du Hilfe, Onkel? Tante?« »Es geht uns gut«, sagte Ältester Onkel, und die Männer berührten ihre Schulter erneut und gingen dann rasch weiter, wechselten ein paar fröhliche Worte mit den Kriegern hinter Ältester Onkel. »Ich habe das Gefühl, als wäre ich entzweigerissen«, sagte Ältester Onkel und warf einen Blick zurück. »So haben wir in meiner Jugend Ältere begrüßt. Wie kommt es, dass uns solch einfache Zeichen der Achtung verloren gegangen sind?« »So viele sind gestorben«, sagte sie. »Auch wenn ich selbst mich nicht an die Zeit erinnern kann, als Leichen die Straßen gefüllt haben. Viele Dinge, die einst geschätzt wurden, sind verloren gegangen.« Das Kind regte sich, und Ältester Onkel wiegte es im Rhythmus seiner Schritte auf der Hüfte, um es zu beruhigen. »Wir hätten es nicht zulassen dürfen.«
314 »Das ist jetzt Vergangenheit. Wir müssen loslassen, was wir in der Verbannung hatten, und uns dem stellen, was jetzt kommen wird.« Lachfalten erschienen um seine Augen, als wäre er erheitert, aber seine Lippen verrieten eine entschlossene, zurückhaltende Stimmung. »Ich fürchte ...« »Was fürchtest du?« »Ich fürchte, dass du recht hast. Secha, wirst du mit mir kommen? Ich vertraue darauf, dass du mit deinen guten Augen sehen wirst, was mir entgeht.« »Ich werde mitkommen.« Sie lachte. »Aber ich werde Begleiter finden müssen, damit ich die Kinder mitnehmen kann.« »Du fragst nicht, in welcher Angelegenheit wir gerufen werden?« »Es genügt mir, dass du mich bittest.« Der Wachturm und das Gerüst kamen oben auf dem steilen Hang in Sichtweite. Hier wohnte Ältester Onkel seit vielen Monaten. Während der Verbannung hatte er mehr Zeit auf einer nahen Lichtung verbracht, wo der brennende Stein das Tor zwischen dem Äther und der verlorenen Welt gekennzeichnet hatte, das in Abständen zum Leben erwacht war. Sie hatte nie ergründen können, worauf er gewartet hatte. Vielleicht einfach nur darauf, nach Hause zurückkehren zu können. »Wie auch immer«, fügte sie hinzu. »Ich bin es jetzt schon leid, Steine zu schleppen. Und ich bin bereit herauszufinden, was als Nächstes kommt.« Viele Tage lang mussten sie ihr Lager am Rand eines Ödlands aufschlagen, in dem es immer noch aus Spalten und Löchern dampfte. Es war so vollständig verwüstet, dass nichts Lebendiges hier wuchs, nicht einmal ein winziger Grashalm oder ir
314 gendwelche Flechten. Weiter südwestlich schwappte das Meer seufzend und schluchzend gegen ein unsichtbares Ufer, was hauptsächlich nachts zu hören war, wenn der Wind erstarb. In dieser Richtung befand sich offenes Gelände mit Gras und niedrigen Büschen, die dem Feuer erstaunlicherweise entgangen waren.
Hier, innerhalb eines Rings aus kopfgroßen Steinen, die von ihren Wächtern an Ort und Stelle gerückt worden waren, durften sie die Zelte aufschlagen. Wasser wurde ihnen während der Nacht gebracht, von unsichtbaren Händen in Ledereimern herangeschafft. Edelmann Hugh teilte die Vorräte vorsichtig ein, aber er war bereits gezwungen gewesen, zwei Pferde zu schlachten, und schon bald - in zehn Tagen etwa - würden sie keinerlei Korn mehr besitzen. Entlang der südöstlichen Grenze des Lagers verlief eine kalkige Straße mehr oder weniger von Westen nach Osten. Südlich der Straße lag eine Landschaft, die in Annas Augen üppig wirkte, verglichen mit den Feldern und dem Waldland um Gent allerdings staubig und ausgedörrt aussah, mit trockenen Kiefern und dornigem Wacholder, wachsartiger Myrthe und dem allgegenwärtigen hellen Gras. Sie war überhaupt nicht üppig; sie wirkte nur so, weil sie so viele Tage durch eine Felsenlandschaft geritten waren, so dass alles, was von der Zerstörung unberührt geblieben war, im Vergleich dazu wunderschön erschien. Und doch gab es winzige gelbe Blumen, die an flach über dem Boden wachsenden Reben blühten. Ein paar Dutzend Kornblumen brachten eine offene Wiese zum Leuchten. Sie hatte so lange keine Blumen gesehen. Es war schwer zu glauben, dass es Frühling sein sollte. »Wenn sie uns noch nicht getötet haben«, sagte Hugh zum hundertsten Mal zu einem der Männer, »dann deshalb, weil sie auf jemanden warten.« »Gut, dass Ihr wusstet, was man sagt, wenn man einen Waffenstillstand anstrebt«, sagte Hauptmann Frigo. »Und den Namen von diesem Talisman. Ansonsten wären wir alle tot.«
315 Hugh nickte gedankenvoll. »Man sollte niemals irgendwelche Informationen geringschätzen, Hauptmann. Was wie grober Fels aussieht, könnte dennoch Gold in sich bergen, das in tieferen Adern verborgen ist. Wer hätte gedacht, dass jener unglückselige Frater so gute Kenntnisse über die Edelfrau besitzt, mit der wir verhandeln wollen?« Ihre Wächter blieben verborgen. Anna war nicht sicher, ob es Menschen waren. Sie kamen nur bei Nacht herbei, um die leeren Wassereimer mitzunehmen und gefüllt zurückzubringen. Sie hatten Tiergesichter, keine menschlichen. Aber Edelmann Hugh sagte, dass es sich um Masken handelte und dass die Verlorenen unter den Masken genauso aussahen wie Prinz Sanglant, mit bronzefarbener Haut, dunklen Augen und stolzen Gesichtern. Vielleicht war das so. Prinzessin Gnade saß mitten auf der Lichtung, die Hände und Füße zusammengebunden. Sie starrte Tag und Nacht auf das Blätterwerk, wenn sie nicht schlief. Sie hatte seit Tagen kein Wort mehr gesprochen, aber hin und wieder bemerkte Anna, dass sie leise vor sich hin murmelte, so wie die Geistlichen und Diakonissinnen Verse aufsagten, um ihren Geist zu beruhigen. Eines Tages spät am Nachmittag saß Anna neben ihr und wischte ihr die Stirn ab. Sand blieb an ihren Fingern hängen. Die Brise vom Ödland trug Staub herbei, der in jede Spalte ihres Gepäcks gekrochen war. Ganz egal, wie oft sie ihre oder Gnades Haare kämmte, der herbe Staub ging niemals heraus. Ein Zweig knackte. »He!« Theodore, der Wache stand, hob den Bogen mit an die Sehne gelegtem Pfeil. Menschenähnliche Gestalten verteilten sich zwischen den Bäumen. Anna mühte sich auf die Beine und starrte sie an, aber sie verschwanden bereits wieder in der Landschaft, so wie Tiere vor dem Lärm und dem Geruch der Menschen geflohen wären. »Halt!«, sagte Hugh. »Ganz ruhig, Theodore!«
315 In der Ferne erklang ein Hornruf, hing in der Luft, lange und immer noch länger, ehe er wieder der Stille Platz machte. Zwischen dem Blattwerk kam etwas Grünes und Goldenes in Sicht, verschwand dann wieder hinter einer dicht stehenden Gruppe aus Kiefern. Anna stellte sich zwischen Gnade und die drohende Gefahr, aber das Mädchen protestierte. »Ich will was sehen!«, flüsterte sie.
»Legt die Waffen nieder«, sagte Hugh zu den Soldaten. »Sie sind in der Überzahl. Diese Felsen sind zu niedrig, um eine Verteidigungsmöglichkeit zu bieten. Stattdessen werden wir unseren besten und einzigen Schild benutzen.« Er trat zu Gnade, packte sie am Arm und forderte sie mit einer Geste auf, sich hinzustellen. Sie schaute von der Seite zu ihm auf, warf dann einen Blick zu der Gruppe, die sich durch den Wald näherte, und erhob sich tatsächlich. Anna traute ihr nicht, als sie den störrisch zusammengepressten Mund sah, aber sie machte zwei Schritte zur Seite und ballte für alle Fälle die Fäuste. Die Fremden tauchten an der Biegung auf, hinter der die kalkweiße Straße außer Sicht geriet. Die Schatten der Bäume fielen quer über den weißen Pfad. Zumindest diese furchterregenden Kreaturen waren nicht mit Tierköpfen verflucht. Ein paar trugen bemalte Masken: Da waren eine fuchsgesichtige Frau, ein Mann mit dem fleckigen Gesicht eines Leoparden, eine grüne und schuppige Echse. Es gab auch ein halbes Dutzend, die keine Maske trugen. Einer von ihnen war ein Mann, der so alt und verhutzelt aussah, dass er hundert Jahre gesehen haben mochte. Er trug nur einen kurzen Umhang, einen Schurz und Sandalen. Eine jüngere Frau, kaum besser gekleidet, stand neben ihm, stützte ihn unauffällig mit einer Hand unter dem Ellbogen. Andere Gestalten blieben halb verdeckt zwischen den Bäumen. Anna glaubte das Rülpsen eines Kleinkindes zu hören, aber wenn da ein Kind war, konnte sie es nicht sehen. In der ersten Reihe schritt ein Mann, dessen stolzes, hoch
316 mutiges Antlitz Anna unwillkürlich an Prinz Sanglant erinnerte, obwohl er einen kalten Blick hatte, der sie nervös machte. Er musterte die Menschen auf die gleiche Weise, wie eine hübsche Katze ein Nest hilfloser Mäusejungen untersuchen mochte, das sie gerade entdeckt hatte. Aber auch er konnte es nicht mit der Frau aufnehmen, die sie führte. Sie war klein und stämmig, aber weder fett noch schlank: geschmeidig und wohlgenährt, ein Leopard, mit einem üppigen Jagdrevier. Ihre Haare waren heller als die ihrer Verwandten, aber sie hatte die gleiche bronzefarbene, beinahe glänzende Haut. Sie trug einen bemerkenswerten Umhang, der vollkommen aus leuchtenden Federn bestand. Zwei junge Leute hinter ihr schleppten ein riesiges goldenes Rad, das mit grünen Federn geschmückt war. Dieses Rad hatte Anna zwischen den Bäumen wirbeln und aufblitzen gesehen. Das viele Gold verblüffte Anna. Tatsächlich trugen alle Neuankömmlinge goldene Ketten, mit Goldperlen versehene Armbänder und Fußketten und dünne Goldplatten, die das Brustbein bedeckten - alles so kostbar, wie edle Fürsten sich für ein Fest am Hof kleiden würden. Aber ihre eigentliche Kleidung war die von Barbaren, schlichte Leinenschurze, die oberhalb des Knies abgeschnitten worden waren, gefiederte und perlenbesetzte Schutzschienen an Armen und Beinen. Einige der Männer trugen genau wie der Alte kaum mehr als einen weißen Lendenschurz, wie die Bauern und Fischer es in der Sommerhitze taten, wenn sie im Marschland und im Schlamm arbeiteten. Alle trugen kurze Umhänge. Stille herrschte, als die Fremden auf der anderen Seite der Steine stehen blieben und die beiden Gruppen einander musterten. Hugh rührte sich als Erster, zerrte Gnade nach vorn. »Ich suche diejenige, die als Uapeani-kazonkansi-a-lari bekannt ist. Dies ist ihre Enkelin.« Die fuchsmaskige Frau bellte Worte, die Anna nicht verstand. Die halbe Gruppe lachte. Der alte Mann runzelte die Stirn. Die Frau in dem gefiederten Umhang hob die Hand, um
316 sie zum Schweigen zu bringen, aber sie wirkte weder zufrieden noch beleidigt. Immer noch antwortete niemand, und so sprach Hugh weiter. »Dies ist das Kind von Prinz Sanglant, Eurem Verwandten. Ich bin Hugh, geboren in Austra, Edelmann und Presbyter kraft meiner edlen Herkunft und Gottes Segen. Ich beanspruche das Recht, mit Eurer Anführerin zu sprechen.« »Ich werde sprechen«, sagte diejenige mit dem gefiederten Umhang. Sie sprach verständliches Wendisch mit einem leichten salianischen Akzent. »Wenige Menschen kennen den Namen von Uapeani-kazonkansi-a-lari. Das sagte ich den Kundschaftern, die zu mir kamen und berichteten,
dass eine Gruppe von Kriegern, die von einem Mann mit der Haarfarbe der Sonne angeführt wird, an unsere Grenze gekommen wäre und darum bitten würde, mit der Frau zu sprechen, die diesen Namen gewählt hat. Die Priester möchten, dass Ihr sofort zur Opferung gebracht werdet. Aber ich habe Einwände erhoben. Ich habe ihnen gesagt, dass es besser ist, denjenigen mit der Haarfarbe der Sonne anzuhören und später zu töten, als ihn erst zu töten und seine Worte nie zu hören.« »In der Tat«, pflichtete Hugh ihr freundlich bei. »Es wäre dumm, aus Gehässigkeit hervorragendes Wissen zu verwerfen.« Ihre Hand bewegte sich in einer Geste, die wegwerfend sein sollte. »Sagt, was Ihr zu sagen habt.« »Ich spreche mit der Mutter von Prinz Sanglant.« Es war keine Frage. Jetzt sah Anna die Ähnlichkeit, nicht so sehr in den Gesichtszügen als vielmehr in der Art und Weise, wie sich dieses Gesicht in Falten legte. Das Lächeln des Prinzen war stets von aufrichtiger Erheiterung geprägt gewesen, ihres dagegen war kalt, aber die Miene war die gleiche. Hugh nickte wie zur Bestätigung dieses Lächelns. »Ich bin gekommen, um Euch ein Bündnis anzubieten, Uapeani-kazonkansi-a-lari.«
317 Das verblüffte die Fremden. Augenblicklich begannen alle durcheinanderzureden, aber als sie die Hand hob, beruhigten sie sich wieder. »Woher kennt Ihr diesen Namen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang weniger neugierig als vielmehr wie eine Drohung. »Hat mein Sohn ihn Euch gesagt?« »Nein. Ich habe einen Mann kennengelernt, der über diejenige Bescheid wusste, die er Kansi-a-lari nannte. Er hieß Zacharias.« Jetzt war das Lächeln weicher und aufrichtiger. »Derjenige-Der-Klüger-Ist-Als-Er-Scheint. Eure Aussprache ist fast so gut wie seine. Wo ist er jetzt?« »Er ist tot - er wurde ein Opfer des Zaubers in jener Nacht, als die Sternenkrone die Himmel krönte. In der Nacht, als Euer Volk und dieses Land zur Erde zurückgekehrt sind.« »Dann war er vielleicht doch nicht so klug, wie ich dachte«, sagte sie unbekümmert. Tot! Dies war das erste Mal, dass Anna etwas von Bruder Zacharias hörte, seit er das Gefolge des Prinzen bei Sordaia verlassen hatte. Also war er doch ein Verräter! Er war schnurstracks zu Edelmann Hugh geflohen! Ihr Herz brannte vor Wut, und sie war froh -froh -, dass er tot war. Er hatte es verdient, dafür, dass er sie verraten hatte! »Klug genug«, sagte Hugh mit einem trockenen Lächeln. »Wieso wollt Ihr, unser Feind, uns ein Bündnis anbieten?« »In welcher Hinsicht bin ich Euer Feind?«, fragte er liebenswürdig. »Der Krieg, von dem Ihr sprecht, hat vor so langer Zeit stattgefunden, dass er aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden ist. Ich weiß nichts von den Verbannten. Ich liege nicht im Krieg mit Euch. Und auch mein Volk tut es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Onkel sagt, dass Euer Volk in das Waldland eingedrungen ist, in dem sein Volk so lange gewohnt hat.« »Wie ist das möglich? Auf der Erde haben keine Ashioi überlebt.«
317 »Sie haben in den Schatten überlebt.« »In den Schatten?« Er dachte darüber nach, hielt die Augen dabei fast geschlossen. Mit einem leichten Nicken sprach er dann weiter. »Ich möchte Euch trotzdem ein Bündnis anbieten, auch wenn die Erinnerung für Euch noch frisch ist.« »Was habt Ihr uns zu bieten?« Hugh hielt immer noch Gnade fest, die sich nicht bewegt hatte. Seltsamerweise hatte die Frau, die Sanglants Mutter war, das Kind nur ein einziges Mal angesehen und auch sonst keinerlei Interesse an ihm gezeigt. Im Unterschied zu den übrigen. Anna war es gewohnt, andere zu beobachten, ohne selbst beachtet zu werden, denn sie war nicht wichtig genug, dass Edelleute Notiz von ihr genommen hätten. Sowohl der gutaussehende als auch der alte Mann musterten Gnade mit lebhaftem Interesse. Die Frau neben dem alten Mann musterte die Menschen in Hughs Gruppe.
Tatsächlich fing sie Annas Blick auf und betrachtete sie einen Moment so eingehend, dass Anna Furcht in ihrem Bauch aufflackern spürte. Sie hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, dass die Fremden sie verschlingen und bei lebendigem Leib auffressen würden, wenn ihre Schatten lang genug wären, um sie und die anderen Menschen zu berühren. Sie verschränkte die Hände ineinander, um sie vom Zittern abzuhalten. »Ich kann Euch eine Waffe anbieten, wenn Ihr immer noch auf Krieg aus seid.« Sie lachte. »Eure Worte ergeben keinen Sinn, Goldener. Zuerst sagt Ihr, es könne keinen Krieg geben zwischen Eurer Art und meiner, weil zu viele Generationen vergangen sind. Dann sagt Ihr, dass Ihr uns ein Schwert anbietet, mit dem wir einen Vorteil über unsere Feinde erlangen können. Was nun also?« »Ihr seid vor ein paar Jahren an Henrys Hof gekommen und habt ihn vor einer großen Umwälzung gewarnt. Ist es nicht so, dass Ihr ihm damals ein Bündnis angeboten habt, als er noch eine Position der Stärke innehatte?« »Jetzt ist er tot«, bemerkte sie. »Ihr wisst sehr viel, Bleiche Sonne. Ihr gefallt mir.« 318 Gnade schnaubte. Das Geräusch war so leise, dass nur Anna es hörte. »Es stimmt, dass ich Henry dieses Angebot gemacht habe«, sprach sie weiter. »Weil das der Wille des Rates war. Aber jene, die ein Bündnis wollten, führen das Volk nicht mehr an.« »Und wer führt es an?« »Ich führe es an. Ich bin Federkleid.« »Ist dies die gleiche Position, die Euer Sohn bei den Wendanern beansprucht? Er nennt sich König.« »Tut er das?«, fragte sie. Ihre Miene verriet jedoch eindeutig, dass sie es bereits wusste. »Es ist eine ähnliche Position, aus Eurer Sicht. Was bietet Ihr an? Welches Schwert bringt Ihr mir?« Er zuckte mit den Schultern, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. »Vor allem habe ich Informationen. Die Aostaner sind schwach und uneins.« »Die Aostaner?« »Diejenigen, die im Süden leben. Auch die Arethusaner haben schwer gelitten und sind geschwächt.« »Die Arethusaner?« »Lasst mich auf andere Weise fortfahren. Ich habe eine Karte bei mir, die ich lesen kann. Sie zeigt die Lage des Landes.« »Eine solche Karte würde uns Zeit und Mühe sparen, das ist wahr. Falls wir tatsächlich in den Krieg ziehen sollten. Aber es ist eine lange Reise von diesen südlichen Landen bis zu jenen im Osten, im Westen und im Norden. Es gibt viel Ödland zu durchqueren. Und nach Wendar ist es noch viel weiter.« »Das ist es. Aber es gibt kürzere Wege.« »Ah.« Sie lächelte auf die Weise, wie es ein Krieger tat, der seinen schlimmsten Feind gedemütigt hatte. »Ihr sprecht von den Kronen. Ich kenne das Geheimnis der Kronen.« »Das tut Ihr, wie Bruder Zacharias gesagt hat. Dennoch wart Ihr gezwungen, große Gebiete im Sommer und im Winter zu durchqueren, durch viele Lande hindurch. Ich muss das nicht tun. Ich kann gehen, wohin ich will. Ich kann von einer belie
318 bigen Krone in einer Zeitspanne von nicht mehr als drei Tagen zu einer anderen reisen. Ich kann in kürzester Zeit große Entfernungen überbrücken. Wer sonst hat diese Macht? Ihr, Uapeani-kazonkansi-a-lari ?« Anna hatte das Gefühl, als würden ihre Beine nachgeben, aber sie blieb stehen. Ungläubiges Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, und das war gut so, denn sonst hätte sie aufgeschrien. Verräter! So das eigene Volk an den Feind zu verkaufen! »Das Angebot ist verführerisch«, sagte die Frau kühl. Ihre Zunge zuckte zwischen den Lippen hin und her, als würde sie sie im Vorgeschmack auf etwas lecken, das sie sich ersehnte, aber dann hörte sie damit auf. »Und so frage ich mich: Was wollt Ihr? Auf dem Marktplatz handelt niemand, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.«
Er nickte, aber er war jetzt angespannt - und begierig. Er nagte leicht an seiner Unterlippe, hörte dann damit auf, als er es bemerkte, und leckte sich stattdessen die Lippen - eine Nachahmung ihrer Geste. Er blinzelte rasch und holte tief Luft. »Ich möchte nur eines. Nur eine einzige Sache als Gegenleistung.« Die Gesichter der Ashioi waren Masken, ihre Mienen undurchdringlich - selbst diejenigen, die nicht hinter bemalten Tiergesichtern verborgen waren. »Ich möchte die Halbdaemonin namens Liathano.« Gnade wand sich halb aus seinem Griff und biss ihn in die Hand. Er schrie vor Schmerz auf, riss seine Hand los und schlug sie so kräftig mit dem Handrücken, dass der Schlag sie zu Boden schleuderte. »Kleines Biest!« Sie lag da und atmete mühsam. Anna zögerte, hasste sich wegen ihrer Furcht, bevor sie sich vorsichtig ein Stück nach vorn bewegte und sich neben sie kniete. Gnades Gesicht wurde von ihren Haaren verborgen, aber Anna strich sie zurück und sah den Abdruck von Hughs Ring, der die Haut hatte aufplat
319 zen lassen. Ein tiefroter Striemen war zu sehen, der sich ausbreiten und schmerzen würde. Gnade grinste sie durch Tränen hindurch an. »Ich habe darauf gewartet, das tun zu können«, sagte sie triumphierend. Überall um sie herum lachten die Ashioi.
6 Die Bleichen besaßen nicht viel, das sie gemäß den Maßstäben der zivilisierten Völker anziehend gemacht hätte. Sie waren keine schöne Rasse; sie waren zu haarig, zu blass, zu groß. Natürlich rochen sie schlecht. Aber ihr Reichtum an Metall war überwältigend. Jeder Krieger trug einen Speer mit Metallspitze und ein schweres Metallschwert. Alle waren mit solchen Reichtümern bewaffnet. Sie stanken nach kaltem Eisen. Sogar die Gefangene war mit Eisenketten gebunden. Sie starrte Zuangua mit ihrem Adlerblick an, als würde sie ihn wiedererkennen. Mit der einen Hand stützte sie sich auf, mit der anderen fuhr sie sanft über den Schnitt und den Striemen in ihrem Gesicht. Ihre Miene war ein Spiegel ihrer Gefühle, und man musste nicht sehr schlau sein, um ihre Gedanken an der Art zu erkennen, wie sie die Stirn runzelte, dann einseitig lächelte, um die verletzte Wange zu schonen, dann zusammenzuckte und eine Schulter hochzog, als wollte sie eine nörgelnde Stimme ausschalten. Secha wusste, dass man Reichtum jenseits jeder Vorstellung besitzen musste, um Gefangene in Eisen zu kleiden. Es würde schwierig sein, einen Feind zu besiegen, dessen Soldaten mit solchen Waffen kämpften. Die Ashioi besaßen nur Stein und Bronze, aber sie hatten in den letzten Monaten ein paar Eisenwerkzeuge erbeutet. Sie wussten, welche Macht das Eisen in sich bewahrte und wie schwer es war, es nach Art der Menschen zu schmieden. Es lag eine Art Magie darin.
319 Niemand gab bereitwillig solche Geheimnisse auf, nicht, wenn man nicht ganz dringend etwas als Gegenleistung haben wollte. Nachdem das Mädchen den Anführer gebissen hatte und ihr Lachen verklungen war, wandte Federkleid sich an ihr Volk. »Genug!«, sagte sie. »Wir werden uns im Rat unterhalten und entscheiden, was wir nun, da wir wissen, welcher Handel uns vorgeschlagen wurde, tun werden.« Die Leute zerstreuten sich, um eine Feuergrube auszuheben und trockenes Gras von ihrem Rand wegzuharken, während zusätzliche Maskenkrieger als Wachen um den Felsenpferch mit den Gefangenen Position bezogen. Fuchsmaske stolzierte am Zaun hin und her, belustigte sich mit ihren Kameraden über den Anführer. »Diese Haut hat die Farbe von Wurzelpaste! Man könnte genauso gut einen Mehlwurm heiraten! Und die Haare sind so dünn wie Spinnenseide! Stellt euch nur vor, wie unangenehm sich das anfühlen muss!«
Secha konnte darüber nicht lachen. Der Anführer im Innern des Zauns gab seinen Männern Befehle. Sie machten sich an ihren Zelten zu schaffen, wärmten Haferbrei über einem kleinen Feuer auf, fütterten und tränkten die Pferde, verteilten Speisen und Getränke und gingen zu den Gruben, wo Exkremente und Pisse sofort mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt wurden. Also doch nicht ganz unzivilisiert. Die Dienerin kümmerte sich um das Mädchen, wischte ihr das Blut vom Gesicht und machte es ihr auf den Laken bequem. Während die Dämmerung sich herabsenkte, ließen die Krieger sich in einem Verteidigungsring nieder, der es einigen gestattete zu schlafen, während andere Wache hielten. Fuchsmaske konnte sagen, was sie wollte, aber der Anführer der Menschen hatte ein Verhalten wie diejenigen, die an Bewunderung gewohnt waren. Er hatte ein sicheres Auftreten, etwas, das Secha achtete. Obwohl er wusste, dass er einer überlegenen Streitmacht gegenüberstand, die ihn und seine Krieger
320 mit Leichtigkeit töten konnte, zeigte er nicht das geringste Anzeichen von Furcht, brüstete sich aber auch nicht auf die Weise, auf die Krieger wie Katzenmaske und Echsenmaske es taten, die sich mehr auf ihre Muskeln als auf ihren Verstand verließen, um ihre Streitigkeiten auszutragen. Hinter ihr prasselten Flammen, fraßen sich durch das Gitterwerk aus Anmachholz, und größere Zweige wurden ins Feuer gelegt, um es auflodern zu lassen. Federkleid nahm ihren Platz inmitten der Aura des Lichts ein, während der Rat sich in einem Ring mit Blick auf das Licht versammelte. »Sprecht«, sagte Federkleid. »Lasst mich eure Worte hören.« »Nehmen wir sie als Opfer und bringen wir es hinter uns«, sagten die Blutmesser. »Nein«, erwiderte Federkleid. »Es ist dumm, eine solch mächtige Waffe wegzuwerfen.« »Wie kann dieser Zauber, von dem er spricht, als Waffe benutzt werden?«, fragten die Blutmesser. »Wieso überhaupt kämpfen?«, fragte Ältester Onkel. »Wenn die Menschheit so geschwächt ist, ist es am besten zu verhandeln. Wir können alles wiederaufbauen, wenn wir in Frieden leben. Wenn wir Krieg führen, können wir das nicht.« Zuangua grinste und musterte seinen Zwillingsbruder. Zwischen ihnen herrschte eine alte Rivalität, verbunden mit langer Zuneigung. »Du hast vergessen, Bruder, dass der größte Teil unseres Volkes aus jenen besteht, die in den Schatten gelebt haben, hin und her gerissen. Für uns war der Krieg erst gestern, nicht vor drei oder vier Generationen. Für uns kann es keinen Frieden geben!« »Krieg ist besser.« Fuchsmaskes Bemerkung lief wie ein Echo durch die Versammelten. Nur in den Bäumen hinter Secha herrschte Ruhe, wo ihr Gefährte, ihr Sohn und ihre kleinen Töchter warteten. »Krieg«, sagten die anderen. »Krieg!«, riefen sie. Sie sah zum Zaun, fühlte, dass sie beobachtet wurden. Tat
320 sächlich war der Mann mit den Sonnenhaaren ohne Furcht bis zur Felsmauer gegangen. Er stand da, lauschte und sah zu und verstand vermutlich das Wesentliche ihrer Unterhaltung. Secha bewunderte ihn wegen seiner exotischen Schönheit, aber auch wegen seiner Selbstbeherrschung, die von keiner auch noch so geringen Unsicherheit getrübt war. Angesichts des Ungewissen entschlossen zu bleiben, war eine ganze Menge. Aus diesem Grund, so wusste sie, musste sie sprechen, wie es ihr Recht war. »Hört zu«, erklärte sie. »Ich habe etwas zu sagen. Wieso sollten wir diesem Goldenen trauen? Er hat vor, seine eigene Art zu betrügen. Wieso sollte er nicht auch uns betrügen? Er ist mutig und kühn, das ist wahr. Ist er mutig und kühn genug, um sich als unser Verbündeter auszugeben, während er uns in den Tod führt?« »Es ist wahr, dass er offenbar nichts weiter will als diese Frau«, sagte Federkleid. Sie machte sich nicht die Mühe, ihren Abscheu zu verbergen. »Das scheint nicht sehr viel zu sein.« »>Diese< Frau ist sehr viel«, sagte Ältester Onkel. »Sie wird schwer zu besiegen sein, und es wird schwierig werden, sie zu fangen und festzuhalten.«
»Aber dafür soll man sie gut in den Armen halten können, wie es heißt!«, sagte Zuangua mit einem Lachen. Federkleid zog eine Grimasse. Ihre Entrüstung brachte ihren jungen Onkel erneut zum Lachen. »Eifersucht ist ein scharfer Speer«, erklärte Zuangua, und Secha vermutete, dass es stimmte. Er war schlauer, als er handelte. »Ich bin nicht eifersüchtig!« »Möglicherweise nicht, wenn du das sagst, aber dieser Bleiche Sonnenhund ist es. Er ist eifersüchtig auf deinen Sohn, weil er etwas hat, das er selbst haben will.« Federkleid sah aus, als würde sie vor Wut gleich platzen, also mischte Secha sich ein. »Welcher Mann kann sich zurückhalten, wenn er einem Geschöpf gegenübersteht, das zur Hälfte
321 aus Feuer geboren ist? Motten sterben in den Flammen. Das können auch Männer, unfähig, diesem Strahlen zu widerstehen.« »Das zumindest ist wahr«, sagte Federkleid besänftigt. »Denn ich bin eine Zeit mit meinem Sohn durch die Lande der Menschen gereist. Es gab einige Hahnenkämpfe um diese Frau. Aber auch so bleibt die Frage, wie Secha sagt, wieso wir diesem Bleichen Hund trauen sollten? Selbst mein Sohn hat sich gegen uns gewandt und dem Volk seines Vaters seine Loyalität geschenkt.« »Ist es gewiss, dass dein Sohn gegen uns kämpfen will?«, fragte Secha. »Wann ist diese Neuigkeit bekannt geworden? Die Strahlende hat uns nichts getan. Sie hat uns geholfen.« »Wenn jemand ihn überzeugen kann, dann seine Frau«, sagte Ältester Onkel und nahm damit den Faden von Secha auf. »Sie ist nicht gegen uns. Sie ist nicht unser Feind.« Federkleid schüttelte entschieden den Kopf. »Sie ist zu mächtig und muss getötet werden. Dieses Urteil ist während der Verbannung gefällt worden, nicht wahr? Von derjenigen, die vor mir das Federkleid getragen hat.« »Da deine Worte wahr sind, gibt es keine Antwort auf sie«, sagte Ältester Onkel. »Aber wir leben nicht mehr in der Verbannung. Alles hat sich geändert. Unsere Strategie muss sich ebenfalls ändern.« »Sie ist in den Sphären gewandelt!« »So wie auch du, Tochter! Denk daran: Das Seil, das uns mit dem Äther verbunden hat, ist durchtrennt worden. Niemand kann die Leiter noch einmal emporsteigen. Sie ist nicht unser Feind.« »Und wer wird jetzt von dem Strahlen geblendet?«, fragte Federkleid. »Ich sage, wir nehmen sie gefangen und übergeben sie den Blutmessern.« Die Priester nickten eifrig. »Vernichten wir die ganze Menschheit, und dann werde ich den Bleichen Sonnenhund zum Abendessen verspeisen«, sag
321 te Fuchsmaske mit einem rauen Lachen, das die Hälfte ihrer Kameraden veranlasste, zu glucksen und die Handrücken gegeneinander zu schlagen, um ihre Zustimmung zu äußern. Secha fand sie nicht erheiternd. »Rache und Eifersucht machen Sklaven aus jenen, die sich daran klammern.« Zuangua trat vor, um die Gespräche zu unterbrechen. »Worüber verhandeln wir dann, wenn sie das Einzige ist, was dieser Bleiche Hund will?« »Ist es nötig, überhaupt zu verhandeln?«, fragten die Blutmesser. »Wie kann diese Beschwörung, von der er gesprochen hat, als Waffe benutzt werden?« Die Krieger lachten. Sie wussten es bereits. Zuangua schüttelte den Kopf, runzelte die Stirn, als könnte er die Unwissenheit der Blutmesser nicht verstehen. »Wenn es stimmt, dass er dorthin gehen kann, wohin er will und wann er will, ist dies ein Schwert, das so mächtig ist wie das Geheimnis des Eisens.« Katzenmaske trat vor. »Schlagen wir rasch und entschlossen zu! Das sage ich schon lange!« »Schlagen wir in kleinen Gruppen zu!«, sagte Echsenmaske und trat neben seinen Rivalen. »Das sage ich schon lange!«
»Meine Frage ist noch nicht beantwortet«, sagte Secha, während sie zusah, wie der bleiche Mann seine Feinde beobachtete und dabei etwas über sie erfuhr. Sie vermutete, dass er mehr über sie erfuhr, als sie bisher über ihn erfahren hatten. »Wie können wir ihm vertrauen? Er könnte unsere Kriegstruppen auf den Grund des Meeres oder ins Herz eines Berges schicken, so dass sie im Fels begraben sind.« »Ist das möglich?«, fragte Zuangua interessiert. »Eine gute Taktik!« »Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, sagte Federkleid. »Das Weben verbindet Steinkronen miteinander, sonst nichts.« Secha blieb stur. »Er könnte uns so weben, dass wir uns in den Tagen und Monaten verirren, die in den Kronen verstrei
322 chen. Der Strom der Zeit könnte um unsere Krieger herumströmen, und sie wären verloren, so wie wir alle in der Verbannung verloren waren.« »Du kannst die Kronen weben, Federkleid«, sagte Katzenmaske. »Wieso brauchen wir ihn?« Kansi schüttelte den Kopf. Jedes Mal sah Secha sie auf andere Weise sprechen, und auch dieses Mal enthüllten die Neigung ihres Kopfes, das Verdrehen ihres Halses und der Zug um ihren Mund ein neues Gefühl. »Ich konnte zwischen der Erde und der Verbannung hin- und hergehen, weil ich den brennenden Stein aufrufen konnte, der ein Tor war. Aber seit wir zur Erde zurückgekehrt sind, habe ich den brennenden Stein noch nicht gesehen. Mein Vater hat recht. Diese Leiter ist zerbrochen, soweit ich weiß. Was die andere betrifft, kenne ich das Geheimnis des Webens zwischen den Kronen auf der Erde nicht.« »Prüfen wir seine Fähigkeiten, ehe wir irgendeinen Handel abschließen«, sagte Zuangua. »Ich werde gehen, mit ein paar von meinen Kriegern. Ihr könnt das Kind und die anderen Bediensteten als Geiseln für unsere sichere Rückkehr hierbehalten.« Über ihnen teilte sich die dünne Wolkenschicht, die den Himmel verdeckt hatte. Hier und da flimmerte ein Stern. Wind wehte Spreu in die Flammen, wo sie aufflackerte und erstarb. Ältester Onkel schloss die Augen und neigte den Kopf. »Es ist gefährlich«, sagte Federkleid. »Ja«, erwiderte Zuangua und bleckte die Zähne. Seine Krieger, angeführt von Fuchsmaske, versammelten sich hinter ihm; alle grinsten unbesorgt. Sie waren unruhig, ihre Schultern und Fersen zuckten, ihre Ellbogen bewegten sich, als würden sie kurz davor stehen loszulaufen. »Wir haben lange genug gewartet. Wir sind bereit, in den Krieg zu ziehen.«
322
7 Unter Bewachung marschierte Edelmann Hughs Gruppe in das Land der Verfluchten. Anna hielt sich dicht bei Gnade, für den Fall, dass Edelmann Hugh sie wieder schlagen wollte. Sie tat es auch deshalb, weil die Art, wie das Mädchen hungrig und bewundernd die Ashioi anstarrte, ihr Angst einjagte. »Hörst du, worüber sie sprechen?«, fragte das Mädchen sie, aber was da aus den fremden Mündern strömte, kam Anna nicht anders vor als das Zwitschern von Vögeln und das Heulen von Hunden. Gnade verstand es. Es schien, als hätte das Blut ihres Vaters, die Zauberei ihrer Mutter oder die ätherische Milch, die sie als Kind getrunken hatte - oder alles zusammen -, ihre Ohren der Sprache der Ashioi geöffnet. Anna beneidete sie. Das Kind hatte seit der Entführung dazugelernt. Sie schwieg über ihre unverhoffte Fähigkeit. Sie ließ es niemanden außer Anna wissen, weil sie nicht sicher war, wer ihr Freund und wer ihr Feind war. Nach mehreren Tagen wurden sie in ein Gefängnis gebracht. Es hatte eine hohe Steinmauer und aufragende Türme, auf denen Wachen standen. Jenseits des Tors befanden sich ein staubiger Hof und ein Dutzend Unterkünfte, die nichts weiter waren als Steinplattformen, die höher als der Erdboden waren. Im Boden eingelassene Pfosten stützten die schlichten Dächer. Es gab keine
Mauern. Es war ein schrecklicher Ort. Sie hätte am liebsten geweint, aber das konnte sie nicht, denn sie musste sich um Gnade kümmern. Beim Tor wartete Federkleid mit ihrem Gefolge. Drinnen rief Edelmann Hugh alle zusammen. »Ich muss weggehen«, sagte er zu ihnen. Ihre Mienen waren besorgt, aber sie lauschten gehorsam. »Ich habe diesen Ashioi geschworen, dass ich ihnen nichts beibringen und ihnen auch nicht helfen werde, wenn irgendjemandem von Euch etwas geschieht. Ich halte dieses Versprechen. Ihr werdet beschützt werden.« Er lächelte
323 freundlich. »Aber macht Euch nützlich. Wenn Ihr verhandelbare Fähigkeiten habt, handelt mit ihnen.« »Irgendeine Möglichkeit, dass wir mit den Frauen handeln können?«, fragte Theodore. »Sie sehen sehr einladend aus, wenn ich das so sagen darf.« »Und sie tragen fast nichts als die Haut, mit der sie geboren wurden«, fügte Narben-John anerkennend hinzu. Die anderen kicherten, dann senkten sie den Blick. »Würde es gegen Gott verstoßen, Edelmann?«, fragte Theodore. »Sie sind Ungläubige. Es ist vielleicht falsch.« »Ja, sie sind Ungläubige. Deshalb sind wir aufgefordert, ihnen den Kreis der Einigkeit zu bringen. Fürchtet Euch nicht davor, Euch mit ihnen zu verbinden. Aber erst, wenn sie danach fragen, damit Ihr nicht unwissentlich ihre Gesetze brecht.« Dieser Befehl gefiel den Soldaten gut, aber Anna drückte Gnades Arm und wünschte, sie könnte sich in den Schatten setzen. Die Hitze machte sie benommen. Edelmann Hugh ging weg, und als die Männer sich zerstreuten, um den Hof auszukundschaften, tauchte der hübsche Mann am Tor auf. Anna hatte herausgefunden, dass er Gnades Urgroßonkel war. Wie Prinz Sanglant war er unruhig, regelrecht ungeduldig. Sein Blick schweifte umher, bis er Gnade gefunden hatte. »Komm!«, rief er. Anna kannte dieses Wort gut genug. »Was will er?«, fragte sie Gnade. Das Mädchen musterte ihren Onkel mit dem brütenden Blick eines Adlers. Sie biss sich auf die Lippe, packte Annas Handgelenk und zog sie mit zum Tor. Er machte Anna Angst. Er war grimmig und sah unfreundlich aus, aber Gnade ging direkt auf ihn zu und redete in der Sprache der Ashioi mit ihm. Er lachte, und es war selbst für Anna offensichtlich, dass die fließend gesprochenen Worte ihn nicht überraschten; er hatte es die ganze Zeit vermutet. Als er antwortete, keuchte Gnade laut auf. Sie jauchzte vor Freude, ließ Annas Arm los und hüpfte im Kreis herum.
323 »Er sagt, er wird mich mitnehmen und an den Waffen ausbilden, um eine Maskenkriegerin aus mir zu machen wie die anderen. Jetzt gleich! So kann ich böse Leute töten. Er will mich nicht warten lassen wie mein Vater.« »Ihr könnt nicht mit ihm gehen, Eure Hoheit.« »Wieso nicht? Ich kann gehen! Ich hasse es hier. Er hat mir einen neuen Namen gegeben, und der gefällt mir besser!« »Was für einen Namen?«, fragte Anna. Furcht erstickte ihre Stimme. Der Onkel würdigte sie keines Blickes, weil sie keine Rolle für ihn spielte. Er sah nur Gnade mit einem grausamen Lächeln an. »Er nennt mich >Kleines Biest<. Mir gefällt dieser Name!« Sie tanzte an seine Seite, und er war so erfreut, dass er ihr die dunklen Haare zerzauste, wie als Zeichen seiner Zuneigung. »Ihr seid zu jung!«, rief Anna. Das Mädchen nahm die Hand ihres Onkels und ging mit ihm durch das Tor, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. »Dann lasst mich mitkommen!« Aber Gnade war bereits verschwunden, und die Maskenkrieger schoben Anna in ihr Gefängnis zurück und schlossen das Tor wieder.
8
»Wir haben lange genug gewartet«, sagten die Blutmesser. »Wir sind in diese Wildnis marschiert, Federkleid, wo wir ungeschützt sind. Wir könnten angegriffen werden, und es besteht die Gefahr, dass wir uns durch den Kontakt mit den Leichen der Bleichhunde anstecken. Jetzt haben wir sechs Nächte und einen Tag gewartet. Jene, die durch den Webstuhl gegangen sind, sind nicht zurückgekehrt.« Federkleid malte mit einem Stock auf dem Boden, wie sie es die letzten sechs Tage getan hatte, und versuchte dabei, die
324 Wege und Winkel zu verstehen, mit denen der Bleiche Sonnenhund ein Tor durch die Menhire gewebt hatte. Die Blutmesser zogen sich auf eine Seite zurück und flüsterten miteinander. Secha kauerte sich neben Federkleid nieder. »Die Himmelsdeuter sind unzufrieden mit dir, Federkleid.« »Was glaubst du?« Die andere Frau hielt den Stock knapp über dem Boden in die Luft. »Ist der Winkel hier spitz genug?« Secha hatte das Muster bereits gezeichnet; sie hatte es sofort erkannt, als sie den Zauberer dabei beobachtet hatte, wie er die strahlenden Fäden vom Himmel herabgewoben hatte. Es erheiterte sie, dass Federkleid solche Mühe hatte, obwohl sie sich in den tiefen magischen Künsten, die jenen bekannt waren, die in den Sphären wandelten, als machtvoll erwiesen hatte. Federkleid konnte in etwas hineingreifen und ihm seine Eigenschaften entlocken, sie verändern und umkehren. Sie konnte den Nebel dazu bringen, vom Boden aufzusteigen, die Erde dazu, aufzuplatzen, oder Reben dazu, sich um die Glieder eines Feindes zu schlingen. Als sie in der Verbannung gelebt hatten, hatte sie den brennenden Stein aus dem Äther gerufen und war durch ihn auf die Erde gelangt. Aber Winkel und Zahlen besiegten sie. Sie wirkte sehr verärgert. »Weshalb bist du gekommen?«, fragte sie, als Secha nicht antwortete. »Um dir zu sagen, dass die Arbeitsgruppe die Leichen der Dorfbewohner weggeschafft und gereinigt hat. Die Grube mit dem toten Fleisch ist von Todessteinen umgeben. Ihre Geister können nicht weggehen, um uns zuzusetzen.« Sie hatten das Lager auf ebenem Boden neben dem Graben aufgeschlagen, der das verlassene Dorf der Menschen umgab. Es war eine karge Landschaft, die sie an die Verbannung erinnerte und aus nichts als bleichem Gras, trockenem Gebüsch und langgestreckten Hügeln bestand. Während des siebentägigen Marsches hierher hatten sie keinen Hinweis auf menschliches Leben gesehen, aber Vögel schwärmten in großer Zahl
324 aus dem Süden heran, wo sie Zuflucht gesucht hatten. Es wimmelte von kleinen Tieren, und sie ernährten sich jede Nacht von den kleinen, fauchenden Wesen. Sie erhob sich. Das Grabgelände befand sich ganz am westlichen Rand des Lagers, gleich neben dem Pfad, der weiter in das Land des Feindes hineinführte. Einige Maskenkrieger legten noch immer Steine auf den Grabhügel, aber er war dem alten Brauch entsprechend gut versiegelt. »Ich glaube, die Steine sind unnötig«, bemerkte Secha. Federkleid stand auf. Sie trug das Federkleid nicht; auf dem Marsch hierher hatte sie es trotz der Einwände der Himmelsdeuter abgelegt, da es zu hinderlich war. »Lass ihnen ihre Zeremonien«, sagte sie abweisend. »Wenn du ihnen keinen Respekt entgegenbringst, werden sie dich hassen.« Federkleid sah sie von der Seite an, und ihr eindringlicher Blick wurde schärfer. Sie hatte eine Art und Weise, den Kiefer anzuspannen, die sie sehr bedrohlich aussehen ließ. »Wieso diese Besorgnis, Secha? Du hast mich nie gemocht. Nicht einmal, als wir noch Kinder waren.« »Du kennst mich nicht sehr gut.« »Das ist also deine Antwort. Die Blutmesser kennen mich nicht sehr gut.« Sie strich mit dem staubigen Fuß über den Boden, um die unbeholfenen, krummen Linien wegzuwischen, die sie gemalt hatte. »Die Priester haben zu mir gesagt, dass die Fußsohlen niemals den Boden berühren dürfen, damit die heilige Energie, die sich darin befindet, nicht in die Erde entlassen wird.«
»Meine Macht ist größer als die Unwissenheit der Priester. Sie wissen das, deshalb fordern sie mich nicht heraus.« »Noch nicht.« »Wenn du mir nicht helfen willst, lass mich allein.« »Wie du befiehlst, Federkleid.« Sie ging den Pfad zum Dorf entlang, überquerte die Brücke aus Stämmen, die über den Graben führte, und schritt durch
325 das offene Tor. Ein Drittel der Kompanie ruhte sich im Lager aus, ein weiteres Drittel war auf Wache, und die Übrigen streiften durch die verlassenen Häuser und Hütten, suchten nach irgendwelchen wertvollen Dingen. Die meisten hatten sich um ein langes Steingebäude versammelt, das etwas abseits von den anderen lag und in dessen hinterem Teil sich ein gewaltiger steinerner Herd befand. Hier entdeckte sie ihre Töchter; die eine wurde von ihrem Sohn getragen, die andere vom Vater. Ihr Sohn sah sie sofort und lief zu ihr. Er war ein sehr gutaussehender Junge, der zwar wegen der jahrelangen Entbehrungen klein und schlank war, aber auch schlau, und inzwischen aß er viel und nahm zu. Das Kind war wach. Das Mädchen streckte die Hände nach seiner Mutter aus, sobald sie sich näherte. Secha nahm sie und setzte sie auf ihrer Hüfte ab, während der Junge - unfähig stillzustehen - hin und her ging. »Die Maskenkrieger sagen, dass ich gemäß dem alten Brauch alt genug bin, um jetzt Schildträger sein zu können.« »Ist es das, was du willst?«, fragte sie ihn, obwohl sie seine Antwort kannte. Und er grinste nur, wusste, dass sie es wusste. »Es ist wichtig, sich sorgsam zu überlegen, an wen man sich als Lehrling bindet«, fügte sie hinzu. »Du willst die beste Ausbildung und eine Chance, dich zu beweisen, wenn du bereit bist, aber nicht früher.« Aber er schoss bereits davon, zweifellos, um die gute Nachricht der jungen Maskenkriegerin mitzuteilen, der er überallhin folgte. Also schön. Sie würde dafür sorgen, dass er nicht in jene Einheit kam. Er würde einen vertrauenswürdigen Mentor benötigen, jemanden, der gelassen und erfahren war. Die Krieger teilten sich respektvoll und ließen sie in das Steingebäude hinein. Es hatte einen Steinboden und ein Ziegeldach, das an einer Ecke eingestürzt war. Die Läden sämtlicher Fenster fehlten. Die Steine waren an der einen Wand geschwärzt, die schweren Dachsparren versengt. Kohle und alle möglichen anderen Trümmer lagen auf dem Boden. Es sah aus,
325 als hätte es an diesem Ort gebrannt. Auf der anderen Seite gegenüber dem riesigen Herd lagen eingestürzte Regale, und zerbrochene Tonwaren machten das Gehen schwierig. Zwei Maskenkrieger arbeiteten sich dort durch die Trümmer, aber sie hatte keine Ahnung, was sie zu finden hofften. Regen trug das andere Kind in einer Schlinge auf dem Rücken. Er stöberte durch die Werkzeuge beim Steinherd, der fast die Form eines kleinen Hauses hatte und an einer Seite offen war. Die Werkzeuge bestanden teilweise nur noch aus Metallstreifen, während ihre aus Holz bestehende, eigentliche Substanz weggebrannt war. Aber es gab einen riesigen Hammerkopf mit einem Loch für den Stiel, zwei schwarze Eisenspeere, die nicht länger als sein Arm waren, Zangen und Ringe, eine Reihe von Speerspitzen, eine Axt und Breitbeilblätter, die auf dem Steinboden neben den Schlackehaufen und dem zerbröckelnden Kohlestaub lagen. Als er sie sah, lächelte er. »Dies ist eine Schmiede gewesen«, sagte er und zeigte ihr ein Stück geschmolzener Bronze. Er legte es zurück und hob stattdessen zwei Keile auf, von denen der eine größer als der andere war. »Sieh dir nur dieses harte Metall an. Es muss Eisen sein! Mein Meister hat immer gesagt, dass Eisen unmöglich zu bearbeiten ist, aber hier wird es offenbar getan. Es gibt einen Steinbruch, ein kurzes Stück von hier entfernt, und ich glaube, sie haben dort in den Bergen gegraben. Wir könnten hier einen Außenposten errichten und selbst mit dem Bergbau beginnen. Es gibt Bäume genug für
Kohle. Wenn wir nur die Magie des Schmiedens kennen würden.« Er wog den schweren Hammerkopf in den Händen. »In der Lage zu sein, Eisen so zu bearbeiten ... nun, es heißt, die Plünderer im Osten würden nach Schmieden suchen.« Sie setzte sich mit überkreuzten Beinen hin und stillte die Kinder in diesen Trümmern, während er weiterredete, ihr jedes Werkzeug zeigte und über seinen Zweck sinnierte, auf diese Weise in Erinnerungen an den Mann verfiel, bei dem er ge
326 lernt hatte, als er jung gewesen war. Er hatte ein paar Dinge erfahren, genug, um das Handwerk und die Zauberei zu lernen, aber der alte Schmied war zu früh gestorben, und das Wissen war verloren gegangen. Das war, als Regen sich dem Zuhauen von Feuerstein zugewandt und sich Respekt durch die Erfahrung verschafft hatte, die er in langen Jahren erworben hatte. So viele waren gestorben. Aber die Tage in der Verbannung waren vorüber, auch wenn sie noch immer den Geschmack des Staubes in ihrem Mund spürte. Der Sog des Lebens war kraftvoll. Die Kinder waren stark und kräftig, dunkelhäutig und fett. Sie waren schön, und das war auch diese Welt mit den versengten Bergen und den unerforschlichen Winden, mit dem wechselhaften Himmel und dem unruhigen Meer. Selbst der Atem uralter Brände hatte neues Leben in diesen Winkel gebracht, in dem Käfer in Spalten krabbelten und eine staubige, grüne Weinranke durch das offene Fenster hereingewachsen war und ihre Anwesenheit mit zwei vollkommen weißen Blüten verkündete. Jedes Fenster war ein Tor zu einem anderen Ort. Sie dachte an das Tor, das der Bleiche Sonnenhund gewoben hatte, und weinte ein bisschen, als sie sich an die Schönheit der glitzernden Fäden erinnerte. »Es wird schon bald dämmrig werden«, sagte er schließlich. »Du willst vermutlich zu den Steinen zurückgehen.« Er nahm ihr die schlafenden Kinder ab und ließ sie gehen. Morgendämmerung und Abenddämmerung waren Tore, eine Verbindung zwischen Nacht und Tag. Genau wie jeder Schritt, der einen weiter von dem einen Ort wegführte, an dem man begonnen hatte, und näher hin zu demjenigen, den man zu erreichen hoffte. Das jüngste Blutmesser lungerte am Stadttor herum; sie schloss sich Secha an, sah sich auf die unsinnige, verstohlene Weise eines Kindes um, das Verstecken spielte. Sie war nicht viel älter als Sechas Sohn, aber sie war eine geschmeidige und schöne junge Frau, die Jahre älter wirkte und zu einer scharfen
326 Klinge geschliffen war, die die Blicke junger Männer anzog. Sie war ganz und gar nicht die Art Frau, von der sich Secha wünschte, dass ein süßer Junge wie ihr Sohn sich in sie verliebte, aber ansonsten gefiel sie ihr besser als die anderen, älteren Blutmesser. »Sie sind mürrisch und verbittert«, sagte das Mädchen mit einem Grinsen, als hätte sie Sechas Gedanken erraten. »Sie wollen zu den Tempeln zurückkehren und Blut von ihren Zungen lecken. Aber du hast die Magie des Webens begriffen, nicht wahr?« »Nein. Aber ich könnte es. Wenn mir jemand seine Geheimnisse beibringen würde.« Sie überquerten schweigend den Graben; die Planken quietschten unter ihren Füßen. »Im Haus der Jugend war ich im Rechnen die Beste in meiner Kohorte«, bekannte das Mädchen ohne große Bescheidenheit. »Es war eine große Ehre für meinen Haushalt, als die Himmelsdeuter ein Schlangenkleid zum Oberhaupt unseres Dorfes brachten. Sie legten mir die Lehrlingsschärpe über die Schulter und schickten mich weg, um beim Heer zu dienen. Aber jetzt sehe ich etwas, das ich noch mehr will.« Secha nickte, und das Mädchen sah sie an und nickte, und das war alles, was gesagt werden musste. Zwei muskulöse Maskenkrieger gingen vorbei, in Richtung des Dorfes, und die junge Frau schob das Kinn vor und wackelte mit den Hüften, so dass sie tiefrot wurden, sich an den Ohren zupften und weitereilten, zu eingeschüchtert, um sich umzusehen. »Warum tust du das?«, fragte Secha.
»Weil ich es kann.« Dann zuckte sie zusammen wie ein junger Hase. »Sie sollten mich besser nicht mit dir sehen«, murmelte sie und lief so rasch, wie es möglich war, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, ins Lager davon. Die Blutmesser bereiteten sich darauf vor, mit Federkleid und mehreren Maskenkriegern aus dem Lager aufzubrechen,
327 und so schloss Secha sich dem Zug am Ende an, unbemerkt und ungestört. Gleich jenseits des Lagers bog ein Pfad von der Hauptstraße ab und wand sich einen Hang hinauf. Umgeben von flachen Hügeln standen hier die elf Steine, die diesen Kreis markierten. Zehn standen so, als wären sie erst neulich aufgerichtet worden, während der elfte umgefallen war, als der Hügelhang hinter ihm abgerutscht war. Die Brombeersträucher und Reben, die ihn überwuchert hatten, waren in den letzten Tagen beseitigt worden. Sie warteten ein Stück vom Kreis entfernt, da niemand zu nahe herangehen wollte. Niemand wusste genau, was geschehen würde, obwohl Morgen- und Abenddämmerung an den letzten sechs Tagen ereignislos verstrichen waren. Das junge Schlangenkleid schlüpfte aus den sich sammelnden Schatten und gesellte sich zu den anderen Himmelsdeutern. Sie sah Secha nicht ein einziges Mal an; ihr Blick war ganz und gar auf die dunklen Steine geheftet. Der Wind erstarb. Die Dämmerung senkte sich herab. Hier draußen jenseits der Weißstraße war die Sonne kaum zu sehen, und in dieser Nacht war der gesamte Himmel von einer Schicht heller Wolken bedeckt. Es war kalt. Zwei Krieger bliesen sich in die Hände. Federkleid klopfte mit dem einen Fuß auf den Boden, wirkte gereizt und ungeduldig. Sie hatte Kleines Biest mitgebracht; die übrigen Geiseln waren in einem Pferch zurückgelassen worden. Ihre Enkelin stand vollkommen reglos da. Der Kontrast zwischen ihnen war fast erheiternd. Sie wartete. Alle warteten. Jeder auf seine Weise. Ferne Geräusche trieben mit dem Wind heran: das Meckern einer Ziege, glockenhelles Gelächter, ein Lied. Eine schwache Melodie wie von den Himmeln summte durch sie hindurch, sickerte durch Fleisch und Knochen. Sie schnappte nach Luft. Die Krone erblühte zu strahlendem Licht, Fäden, die ineinander verwoben wurden und sich kreuzten, gefangen in den Kettfäden unsichtbarer Sterne und den Schussfäden, die durch
327 die Steine führten. Angeführt von Fuchsmaske stürzten die Maskenkrieger aus dem Tor. Sie lachten und heulten, redeten und sangen, beladen mit Werkzeugen und Säcken, einem Eisenkessel und zwei Kühen, vier Pferden und einer Herde erschreckter Schafe sowie einem aufmerksamen Hund, den niemand zu beachten schien, obwohl das Tier damit beschäftigt war, die Schafe zusammenzuhalten. Die Blutmesser schrien ein kurzes Gebet heraus, ein Loblied, weil es auch sechs Gefangene gab, die gefesselt waren und streng bewacht wurden. Es handelte sich um eine Frau in einem langen Gewand und fünf Männer, die an den Seilen zerrten, mit denen sie gefesselt waren. Als Letzter kam Zuangua. Er hielt ein Eisenschwert an den Rücken von Bleicher Sonnenhund, dessen Gesicht blass vor Erschöpfung war. Fäden lösten sich in einem Funkenregen auf. Das Flackern erstarb, und plötzlich war es dunkel. »Ruhe!«, rief Federkleid. »Erfolg!«, brüllte Fuchsmaske zur Antwort, und dann hörten sie das Weinen und Fluchen der Gefangenen. Funken wurden geschlagen, und Öllampen und Schilfkerzen wurden entzündet. Licht und Schatten woben sich durch die Anwesenden. »Wo ist mein Kleines Biest?«, fragte Zuangua. Kleines Biest sprang zu ihm. Er tätschelte ihren Kopf, als wäre sie sein Lieblingshund. »Kann ich nächstes Mal mitgehen, Onkel?«, fragte sie. »Ich bin alt genug, um ein Schildträger sein zu können.«
Sie sprach ihre Sprache fließend, erschreckenderweise, aber sie hatten sich daran gewöhnt; alle waren sich darüber einig, dass es eine Gabe des Blutes oder der Einfluss der von ihrer Mutter ererbten Zauberei war. Vielleicht war sie von Schlangen gebissen worden. »Alt genug«, stimmte er ihr unbekümmert zu, und dann sah er die Blutmesser an, als wollte er sie dazu auffordern zu versuchen, sie ihm zu entreißen.
328 Aber die Priester starrten begeistert die Gefangenen an. Die Frau in dem langen Gewand war in einen Singsang verfallen, der Secha an die Gebete der Himmelsdeuter erinnerte. Sie schien Macht zu besitzen, denn die anderen Gefangenen beruhigten sich und schwiegen, aber ihre flackernden Augen und die zusammengebissenen Zähne verrieten, dass sie noch immer so verängstigt wie blökende Schafe waren. Da war ein kleiner Mann mit dicken Armen und gewaltigen Schultern; da war ein Junge, der kaum älter als ihr eigener Sohn war; da war ein Mann mit Blut auf seiner Tunika und ein anderer, der aufgrund einer Verletzung humpelte, und der letzte hatte ein vor Entsetzen weißes Gesicht, obwohl er der größte und rundlichste von ihnen war. »Ihr könnt sie nicht alle haben«, sagte Zuangua zu den Priestern. »Die beiden da« - er deutete auf den stämmigen Mann und den Jungen - »haben wir aus ihrer Schmiede geholt.« Die Priesterin in dem langen Gewand sah zum Steinkreis. Der Bleiche Hund lehnte an einem der Steine, als wäre er erschöpft. Er hatte die Augen geschlossen und atmete flach. Sein Mund war leicht geöffnet, das Kinn, die Kiefer und die Lippen bewegten sich ganz leicht, als würde er leise mit sich selbst sprechen. Alles war blass an ihm, die hellen Haare, die helle Haut, die ungefärbte Leinentunika, die sich farblos vor der Nacht abzeichnete, und ein Goldkreis, der an einer Kette um seinen hellen Hals hing. Der dunkle Stein umrahmte ihn, hob seine Schönheit und listige Macht hervor, seine Stärke und seinen Glanz. Die Priesterin verfluchte ihn. Man musste die Worte nicht verstehen, um die Macht ihrer Rede zu erfassen. Aber sofern er sie hörte, zeigte er es nicht. Seine Augen blieben geschlossen. Er hätte schlafen können, murmelnd, wie Träumer es zu tun pflegen, abgesehen vom Zucken eines kleinen Fingers. Zuangua trug jetzt auch eine Maske. Er hatte sie hochge
328 schoben: sie hatte das Antlitz eines Drachen, stolz und golden, so wie er selbst. »Ich habe etwas zu sagen«, begann er, und Federkleid hob die Hand, um ihm die Erlaubnis zum Weitersprechen zu geben. »Er ist ein sehr böser Mann«, erklärte Zuangua, während seine Krieger zustimmend mit den Händen wedelten. »Er hat sogar die Liebe und Loyalität seiner Verwandten verloren, die jeder Mensch besitzen sollte! Er hat sie alle betrogen, ohne jede Gnade!« »Auf diese Weise wird die Menschheit stürzen«, sagte Federkleid. »Sie gehen treulos miteinander um.« Secha erwiderte: »Nicht alle. Liathano hat deinem Sohn Sanglant die Treue gehalten.« Bei der Erwähnung dieser Namen zuckte der Kiefer von Bleicher Hund, aber er öffnete die Augen nicht. Er hatte ein sehr gutes Gehör. »Dein Sohn hat seinem Vater die Treue gehalten«, sagte Zuangua zu Federkleid. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Er lächelte verschlagen. »Selbst dieses >Kleine Biest<, das hier neben mir steht, scheint mich zu lieben.« Das Mädchen sah ihn an, überrascht über seine Worte, und grinste. »Du wirst mir beibringen, wie man kämpft!«, rief sie. »Pass auf, dass das Biest dich nicht irgendwann beißt!«, sagte Federkleid. »Ich werde ihn nie beißen! Ich mag ihn, und ich hasse dich!« Federkleid musterte das Mädchen. Tatsächlich, dachte Secha, war ihr Nicht-Interesse an ihrer einzigen Enkelin nicht ungewöhnlicher als die Ablehnung, die das bleiche Sonnenhaar durch seine Familie erfuhr. »Ich dachte, du würdest denjenigen hassen, den man >Edelmann Hugh< nennt.« »Ich hasse ihn! Er ist ein sehr böser Mann. Er wird euch betrügen, wenn er kann. Er wird euch töten.«
Federkleid lächelte, möglicherweise erheitert durch die pfeifende Stimme und die Leidenschaftlichkeit des Mädchens. »Eine deutliche Warnung, Kleines Biest. Er wird es vielleicht
329 versuchen. Er ist nicht so stark oder klug, wie er denkt. Was ist mit den Plünderungen, Onkel?« Er deutete auf all das, was sie mitgebracht hatten. »Wir sind zwischen dieser und einer anderen Krone gewandelt, die weit im Norden liegt, wie Sonnenhaar gesagt hat. Er hat den Ort Thersa genannt. Wir haben die Dorfbewohner überrascht. Sie konnten nicht gegen uns kämpfen. Es stimmt, dass es viele Bleichhunde gibt, Massen von ihnen, und wir sind nur wenige. Aber ich sage dir, dass es schwierig für sie sein wird, sich gegen diese Art Krieg zu schützen.« Sie hob beide Hände. In diesem Augenblick kam Wind auf, als hätte sie ihn gerufen, und vielleicht hatte sie das auch getan. Vielleicht war es aber auch nur der Nachtwind, der vom kühlenden Boden aufstieg. Es lag ein Hauch Salz in der Luft, eine schwache Gischt, die vom Meer hereingetragen wurde. Noch ein anderer Geruch war dabei, ein berückender Duft, der ihre Ohren zum Jucken brachte. Die Gefangenen verstummten. Die Blutmesser bedeckten ihre Gesichter und beteten. Mit verwirrter Miene senkte Federkleid die Hände. Der Bleiche Sonnenhund öffnete die Augen, und ohne seinen Blick auch nur einen Moment lang auf die anderen Bleichhunde zu richten, musterte er den Himmel und die umgebenden Hänge, das Gras in seinem blassen Glanz und die Dornenbüsche, die sich entlang der Hänge als dunkle Streifen erstreckten. Ein Ziegenmelker surrte. Eine Eule schrie. Die Nachtbrise war kühl und zupfte an ihren Haaren, berührte ihre Wangen. Der salzige Atem des Meeres verwehte, und jetzt war es nur noch eine gewöhnliche Nacht, bewölkt, kühl und erfüllt von den Geräuschen der nächtlichen Insekten. Federkleid sprach. »Beim wendischen Volk gibt es den Spruch vom >Glück des Königs<. Wenn das Glück den König verlässt, wird kein Krieger ihm mehr folgen. Ein >Prinz ohne Gefolge ist kein Prinz<, was bedeutet, dass er ohne Anhänger
329 nicht herrschen kann. Wenn wir nicht stark genug sind, Sanglant zu besiegen und sein Heer zu zerschmettern, brauchen wir nur so viel Zerstörung in seinem Land anzurichten, dass sein Volk nach einem neuen gefiederten Kleid, nach einem neuen Herrscher schreit, der es retten soll. Es gibt andere, die das Recht beanspruchen, zu führen. Dabei spielt keine Rolle, wer es tut oder wer den Anspruch erhebt. Es ist ohnehin am besten, wenn sie gegeneinander kämpfen, denn das wird sie schwächen. Zerstört Sanglants Unterstützung, zerstört das Vertrauen der Leute in ihn, und ihr habt ihn zerstört, ohne dass ihr ihn getötet habt.« »Er ist dein Sohn«, sagte Zuangua. Er wirkte leicht angewidert. »Er hat dem Volk seiner Mutter den Rücken gekehrt. Er hat den Bleichhunden die Treue geschworen. Wir dürfen ihm nicht trauen.« Zuangua zuckte mit den Schultern. »Niemand misstraut den Bleichhunden mehr als ich. Aber wenn wir deinem Sohn nicht trauen dürfen, dann auch ihm hier nicht. Denn es scheint mir, als hätte er noch weit Schlimmeres getan, als seiner Familie und seinem Volk den Rücken zu kehren. Immerhin hält dein Sohn jenen die Treue, mit denen er sich umgibt. Der hier ist kein vertrauenswürdiger Verbündeter.« »Ich habe nicht gesagt, dass ich ihm vertraue. Aber wir können das benutzen, was er uns bietet. Wir werden von ihm so viel erfahren wie möglich, und wenn wir das getan haben, werden wir ihn töten. Wir lassen es die Blutmesser tun, wenn sie ihn binden können. Wir töten sämtliche menschlichen Zauberer, die die Geheimnisse der Kronen kennen. Dann wird die Zauberei der Webstühle nie wieder gegen uns verwendet werden. Aus diesem Grund werde ich sein Bündnisangebot annehmen.« Die Blutmesser nickten eifrig. Die Maskenkrieger stampften mit den Füßen und brüllten, heulten und schrien ihre Zustimmung heraus. Die Gefangenen kauerten bei der Priesterfrau in
329
dem langen Gewand, und sogar sie, die über Worte der Macht verfügte, sah verängstigt aus. Das flackernde Licht verwandelte Federkleids Gesicht in eine goldene Maske. Zuangua nickte gedankenvoll. »Ja. Wir müssen alle menschlichen Zauberer töten. Sie sind die gefährlichsten von allen.« Federkleid hob beide Handflächen gen Himmel, um den Göttern einen Blick auf ihre Seele zu gewähren. »Ich nehme sein Bündnisangebot an. Ich biete ihm als Gegenleistung die Frau namens Liathano.« »Was ist mit einem machtvollen Opfer an die Götter?«, wollten die Blutmesser wissen. »Was ist mit dem Versprechen uns gegenüber?« »Ihr könnt sie hinterher haben«, sagte Federkleid, lächelte sie spöttisch an. »Wenn ihr sie binden könnt.« »Das ist nicht gut«, murmelte Secha. »Uns zu schützen ist nicht gut?« »Eine Vereinbarung mit einer Lüge zu besiegeln ist nicht gut.« Aber Kansi-a-lari, die Ungeduldige, war jetzt Federkleid. »Ich habe gesprochen«, sagte sie verärgert. Sie winkte Sonnenhaar zu, ließ ihn zu sich kommen. Die Gefangenen sahen voller Furcht und Zorn zu, und ihre eigene Gruppe beobachtete es mit so greifbarer Aufregung, dass es Secha vorkam, als würde der Boden unter ihren Fußsohlen zittern, erregt von ihrem Eifer. Dies waren die Zeichen, die sie austauschten: Er gab Federkleid eine Eisenfeder, deren Essenz so rein war, dass sie mit einem ganz eigenen Licht leuchtete. Sie gab ihm einen gefalteten Mantel, ein einfaches Stück, aber er drückte den Stoff an sein Gesicht, als wäre er das Ziel seiner Begierde. Auf diese Weise wurde der Handel besiegelt - und der Pfad gewählt.
330
9 Es war Mitternacht - oder jedenfalls so kurz davor, wie Antonia es vermuten konnte, da keinerlei Sterne zu sehen waren, um die Zeit bestimmen zu können. Sie bestimmten den Lauf der Zeit stattdessen mit Psalmen, und als sie mit Singen fertig waren - »Bindet mich, Gott, denn ich bin ohne Schuld« —>kehrte Stille ein. Die Kirche von Novomo war in den letzten Jahren des Dariyanischen Kaiserreiches errichtet worden, weshalb sie sich eines beeindruckenden Frieses rühmen konnte, der oberhalb der doppelten Säulenreihen, die die Abgrenzung zu den Seitenschiffen darstellten, in die beiden Wände des Hauptschiffs eingearbeitet worden war. In den schattigen Seitenschiffen warteten die Höflinge und Bediensteten, deren Gesichter umgeben von dem dunklen Mauerwerk unsichtbar waren, abgesehen von den hellen Flecken, die ihre Augen waren, und dem gelegentlichen Aufblitzen eines Rings oder einer Goldkette im Kerzenlicht. Der Fries zeigte den Aufstieg der Heiligen und Märtyrer zum Herdfeuer. Jeder hielt eine Krone in der Hand, um sie vor Gott niederzulegen. Die bunten Mosaiksteine schimmerten, ließen die heiligen Gewänder und die heiligen Kronen deutlich hervortreten. Sogar die Augen der Personen leuchteten; auf diese Weise unterschieden sich die Heiligen von den Schuldigen, die auf der Erde lebten und litten und deren Augen lediglich Löcher waren, in deren Tiefen die Rechtschaffenen die finstere Befleckung des Feindes erkennen konnten. Nur Kerzenlicht erhellte die Kirche, abgesehen von einer einzelnen Öllampe auf dem Herdfeuer selbst, die mit der Zuversicht und Beständigkeit der Gerechten brannte. Im Licht der rauchigen Flammen der sechzig schlanken Kerzen beobachteten und beurteilten die uralten Gesichter der Heiligen und Märtyrer das Geschehen. Ihre ernsten Mienen waren auf ewig
330 von so raffiniert gearbeiteten Mosaiken eingerahmt, dass sie fast wie ein Gemälde wirkten. Im Hauptschiff standen sechzig Geistliche in zwei Reihen, die jeweils eine Wachskerze in den gefalteten Händen hielten. Hinten beim Portikus warteten Kaiserin Adelheid und ihr Mann unter einem Mosaik, das den alten Palast zeigte, der einst in Novomo gestanden hatte; dieses Gebäude war jetzt zum Teil in dem neuen Palast aufgegangen, der vor über einhundert Jahren errichtet und seither mehrmals verändert worden war.
Die Skopos war Gott am nächsten, gleich neben dem Altar. Ihr gegenüber standen ihre Geistlichen mit dem Licht der Wahrheit in den Händen. Die weltliche Macht musste an der Kirchentür warten, denn sie konnte nicht vollständig eintreten. Was die Übrigen betraf, mussten sie in den Schatten kauern und beten. Antonia hob die Hände, obwohl sie bereits um Ruhe gebeten hatte. Rechts von ihr kniete Edelmann Berthold auf einem Knie, ein Arm ruhte auf dem Oberschenkel. Sein Kamerad Edelmann Jonas starrte eingeschüchtert und verängstigt auf den Boden, aber Berthold musterte die Szene mit der Miene eines Mannes, der gesehen hatte, wie seine lieblichste Rose zertrampelt und vor seinen Augen in Fetzen gerissen worden war. Er war im Schutz der Liebe und Zuneigung seines Vaters sowie seines hohen Ranges aufgewachsen. Zweifellos hatte der Junge bisher nie erfahren, wie grausam und hässlich die Welt in Wirklichkeit war. Jetzt wusste er es. Man konnte es an der Art und Weise erkennen, in der er vor sich hin starrte, ohne zu sehen, in der er hörte und sah, ohne das geringste Anzeichen eines Gefühls zu zeigen, als wäre jede Gefühlsregung durch einen scharfen, tiefen Schnitt aus ihm herausgesickert. Was auch so gewesen war, denn drei Wochen zuvor war er aufgewacht und hatte Edelfrau Elene tot neben sich gefunden, ihr Blut an seinen Fingern, den Ärmeln und in seinen Haarspitzen. Das war die Wahrheit der Welt. Es war höchste Zeit, dass er es bemerkte, obwohl es ihn unglücklicherweise nicht dazu 7*3 brachte, häufiger den Messen beizuwohnen, wie es hätte sein sollen. Sie hatte ihm eine Position in ihrer Gelehrtenschule angeboten - im Laufe der Zeit konnte ein Junge seiner Herkunft hoffen, Presbyter zu werden -, aber er hatte so ausdruckslos abgelehnt, dass sie sofort gewusst hatte, dass seine Seele bereits dem Abgrund anheimgefallen war und sich wirbelnd und taumelnd durch die Dunkelheit bewegte. »Es steht in der Heiligen Botschaft geschrieben, dass wir Gott lieben sollen, die Mutter und Vater des Lebens für uns sind und im Kreis der Einigkeit ruhen, der uns bindet. Wie also kann die heilige Kirche einen Herrscher anerkennen, der seinen eigenen Vater ermordet hat? Wie kann die heilige Kirche jene segnen, die einem solchen Mann gestattet haben, sich nach einer derart ungerechten Tat zur Macht zu erheben ? Wie kann sie jene segnen, die sich gegen die Kirche und die Skopos gewandt haben?« Der Nimbus des Lichts berührte Adelheid kaum, aber Antonia kannte sie gut genug, um an der Haltung ihrer Schultern und der Neigung des blassen Kinns zu erkennen, dass die Kaiserin lächelte. Der General verlagerte unruhig das Gewicht. Er konnte Dariyanisch sprechen, aber nicht so gut, dass er die Worte der Geistlichen und Gelehrten mühelos verstand, die Worte der Kirche, deren Lehrsätze sein Volk zurückwies. Es ärgerte sie immer noch, aber sie wusste, dass selbst ein schlichtes Werkzeug genügen konnte. Genügen musste. General Edelmann Alexandros hatte tatsächlich recht: Wenn Arethusa und Aosta überleben wollten, mussten sie einander vor Angriffen von allen Seiten schützen. Deshalb. »Jene, die diesem Vatermörder helfen, sollen verflucht sein. Sie sollen in ihren Städten und auf ihren Feldern verflucht sein. Sie sollen in ihrem Vieh und in ihren Herden verflucht sein. Sie sollen in ihren Kindern und ihren Friedhöfen verflucht sein, in ihren Kornkammern und in ihrer Hände Werk. Jene, die dieser Verfügung nicht gehorchen, die ihnen Hilfe
331 und Trost spenden, werden von der Erde verschwinden. Sie werden von Feuer verschluckt und vom Meer weggeschwemmt werden. Wach und schlafend, essend und trinkend, in Brot und Wein werden sie verflucht sein. Sie sind gebunden an die Ketten des Kirchenbanns. Sie sind aus dem Kreis der Einigkeit verstoßen.« Sie streckte eine Hand aus. Bruder Petrus, der links von ihr stand, gab ihr die drei Rollen, auf denen jeweils der Bann geschrieben stand. Sie reichte sie Edelmann Berthold, der sie ohne Bemerkung und ohne Veränderung seiner steinernen Miene annahm.
»Wie diese Wachskerzen ausgelöscht werden, so soll das Licht jener, die uns nicht gehorchen, ausgelöscht und in die Dunkelheit geworfen werden.« Die Geistlichen knieten nieder und drückten die Flammen auf dem Boden aus. Die Kirche ertrank in Dunkelheit, bis auf die eine Lampe, die hinter der Heiligen Mutter brannte, die über alle herrschte, Skopos und Wächterin von Gottes Wahrheit. So dunkel musste der Abgrund sein. Schwarz und leer für das Auge, aber angefüllt vom bemitleidenswerten Atem der Seelen, die sich ohne jede Hoffnung fragen, was als Nächstes kommt. Weil natürlich nichts als Nächstes kommen wird. Sie sind dazu verdammt, für immer zu fallen. Das ist die wahre Bedeutung des Fluchs. Sie genoss die Stille. Alle hier Anwesenden waren eingeschüchtert, wie es sein sollte, und fragten sich, über welche Macht sie verfügte, die sie heraufbeschwören könnte. Die Skopos war die Mächtigste von allen, und es war notwendig, dass sie sich daran erinnerten. »Komm, Jonas«, sagte Berthold leise hinter ihr. »Wulfhere und die anderen sind bestimmt schon mit den Pferden von den Ställen herübergekommen. Gehen wir.« Etwas in seiner Stimme beunruhigte sie. »Ihr werdet die Verfügung überreichen, Edelmann Berthold«, sagte sie leise, 7*5 da sie nicht wollte, dass andere ihre Worte hörten. »Andere werden Eurem Pfad folgen, für den Fall, dass Ihr die Reise nicht überlebt. Glaubt nicht, dass Ihr Euch vor Eurer Pflicht gegenüber der Skopos drücken könnt.« Im Hauptschiff und in den Seitenschiffen hatte niemand genug Mut, um etwas zu tun oder zu sprechen. »Ich werde die Reise überleben. Der Adler wird uns führen.« »Das wird er. Er ist zu diesem Zweck verschont worden. Genau wie Ihr.« »Glaubt Ihr das?«, fragte er trotzig, und sie hätte ihn wegen seiner Respektlosigkeit am liebsten geißeln lassen, aber dann hätte sie alles noch einmal tun müssen. Niemand hatte es gehört. Dieses Mal würde sie es hinnehmen müssen. Er erhob sich, schritt gefolgt von Jonas das Hauptschiff entlang, bis er in der Düsternis in den Reihen der Geistlichen verschwand. Sie hörte, wie die Tür sich öffnete, aber nicht, wie sie sich schloss. Während sie warteten, vernahmen sie leise Bemerkungen, das fröhliche Klirren von Geschirr, und sie erhaschten einen Blick auf das Licht einer Laterne, die hochgehalten wurde und sich außer Sichtweite bewegte, während die Reiter den Hof zur ersten Etappe ihrer langen Reise verließen. Sämtliche Fremden waren inzwischen gegangen. Sogar die verbrannten Überreste und das eingelegte Herz von Edelfrau Elene waren in eine Kiste verpackt und Berthold mitgegeben worden. Die Schädel von Hughs Gruppe waren jedoch schon vor einiger Zeit auf dem Müllhaufen gelandet. Nach langem Schweigen erklang das helle Knirschen von Feuerstein auf Metall, und dann flackerte ein Docht auf, als eine von Adelheids Bediensteten eine Lampe entfachte. Am Ende des Hauptschiffs sah Antonia die andere Flamme, hinter der Kaiserin und ihrem Ehemann. Was heilig und was weltlich war, musste immer im Widerspruch stehen, und doch mussten beide zusammenarbeiten, weil die Welt unvollkommen war, befleckt von der Dunkelheit. »Kommt, Heilige Mutter«, sagte die Kaiserin. »Wir haben
7i6 uns endlich von den Wendanern befreit. Morgen früh werden wir uns erheben, ohne durch die Nordländer befleckt zu sein. Lassen wir sie ohne Gottes Segen verrotten.« Da so viele Soldaten den General begleiteten, konnte Antonia nicht erwähnen, dass sie noch immer von den Ostländern geplagt wurden. Und dennoch. Immerhin kannten die Arethusaner eine Art Zivilisation, anders als die rohen Barbaren aus dem Norden, die erst vor hundert Jahren gelernt hatten, sich ordentlich zu kleiden, und aufgehört hatten, Flickwerk aus Pelzen zu tragen. Die Arethusaner waren Ketzer, gewiss, aber sie kannten
den Namen des heiligen Daisan genau wie die Aostaner seit vielen Jahrhunderten. Die Nordländer hatten noch eine Generation zuvor Berge und Steine, Gräber und Bäume angebetet, und einige taten es im Geheimen immer noch, hüteten ihre ungläubigen Bräuche, obwohl sie wussten, dass sie mit diesen Falschheiten Unglück auf sich herabbeschwören würden. Nun gut. Ihre Knie schmerzten, und es zwickte in ihrem Rücken. Die Gewänder lasteten schwer auf ihren Schultern, und sie würde am nächsten Tag wunde Füße vom langen Stehen haben. Sie machte ein Zeichen, und die Leute eilten in unziemlicher Hast aus der Kirche, als hätte die Zeremonie sie beunruhigt, während sie doch ihre Entschlossenheit hätte stärken sollen. Ihre Begleiter eilten herbei, um ihr zu helfen, brachten ihr einen Stuhl. Sie trugen sie unter der Kuppel hindurch, die mit Sternen und himmlischen Geschöpfen geschmückt war: einem Drachen, einem Greifen, einer Schlange mit dem Körper und dem Gesicht einer Frau und einer Sphinx. Hinter einem Vorhang befand sich eine Tür, die zu einem kleinen Raum auf der einen Seite der Apsis führte. Hier, wo sie etwas Abgeschiedenheit genossen, halfen sie ihr aus dem Umhang und den Kleidern. Sie führten sie zu einem Sofa und reichten ihr Wein. Hier nahmen die Kaiserin und der General Seite an Seite auf einem zweiten Sofa Platz, nippten an goldenen Bechern mit Wein. 7*333 »Können wir sonst noch etwas tun?«, fragte Adelheid. »Was ist mit den Galla, Heilige Mutter? Sicherlich könnte man sie ausschicken. Eine wendische Bischöfin hier, ein varrenischer Edelmann dort. Es würde sie in Angst versetzen, oder nicht?« »Es könnte eine Rebellion gegen uns in Gang bringen, wenn man uns anklagt, dass wir Malefici verbergen, Eure Majestät.« »Zauberei ist eine Waffe, wie ein Schwert eine Waffe ist«, sagte Alexandras. »Wenn Ihr zustoßen könnt, stoßt zu.« »Die Entscheidungen des Konzils von Narvone sind niemals aufgehoben worden«, sagte Antonia geduldig. »In westlichen Ländern ist es ausdrücklich verboten, schwarze Zauberei anzuwenden.« »Was ist dieses Konzil von Narvone?«, fragte der General. »Im Osten gibt es nur ein Konzil, das sich über Zauberei geäußert hat. Im heiligen Jahr der Botschaft, im Jahr 327, hat das Konzil in Kellai die Magie nicht verboten. Magie ist gestattet, wenn sie von der Kirche überwacht wird. Diese Entscheidung befolgen wir in Arethusa. Wann ist - war - dieses Konzil von Narvone?« Antonia musterte ihn nachdenklich. »Ich wusste nicht, dass Ihr die Kirchenangelegenheiten so genau verfolgt habt, Edelmann Alexandros. Das Konzil von Narvone hat erst nach dem Tod von Kaiser Taillefer stattgefunden. Im Königreich Salia ist es Frauen nicht gestattet, den Thron zu besteigen. Da Taillefer keine Söhne, sondern nur Töchter hinterlassen hatte, fürchteten die Edelleute und Kirchenleute, dass eine seiner Töchter die Macht ergreifen würde, obwohl sie nicht das Recht dazu hatte. Sie fürchteten besonders Tallia, die Bischöfin von Autun war. Sie bestätigten die Entscheidung des Konzils von Kellai, aber sie verdammten die Künste der Mathematiki, Tempestari, Auguren, Haroli, Sortelegi und der Malefici ebenso wie jede andere Zauberei, die außerhalb der Kirche stattfindet.« »Ihr herrscht über die Kirche, Heilige Mutter.« Adelheid stellte ihren Becher ab. Sie hatte ihren Wein kaum angerührt, während der General bereits um einen zweiten Becher bat. 7i333 Bruder Petrus schenkte ihm neuen ein, dann zog er sich zu den anderen Bediensteten zurück. Edelfrau Lavinia wies einen Diener an, eine dritte Lampe zu entzünden. »Gott herrschen über die Kirche, Eure Majestät. Vergesst das bitte nicht. Wenn wir Zauberei einsetzen, müssen wir vorsichtig vorgehen. Anne war unvorsichtig, und sie ist tot. Meine Macht ist nicht so groß, wie ihre es war.« Adelheid zuckte mit den Schultern. »Das sagt Ihr, aber ich habe sie niemals mehr als Illusionen wirken sehen. Es war Hughs Magie, die den Daemon in Henry gebunden hat. Alle sagen, dass sie mächtig war, aber wenn das stimmt - wieso ist sie dann tot, wieso hat sie versagt?« »Ich verfüge über keine Fähigkeiten in den Künsten der Tempestari«, erwiderte Antonia. »Ich kann die Zukunft nicht aus den Bewegungen der Vögel und der Lage der Eingeweide erkennen,
eine Macht, über die einige zu verfügen behaupten. Ich bin auch keine Mathematika, die zwischen den Kronen weben kann. Diese Fähigkeiten beherrsche ich nicht.« »Was könnt Ihr dann tun?«, fragte Adelheid. »Ich beherrsche die Kunst des Bindens und Wirkens.« »>Binden und Wirken<«, wiederholte Alexandros, sprach jede Silbe genau aus, weil er nicht ganz verstand, was sie damit meinte. »Dieses >Binden und Wirken< wird bei Eurem Konzil von Taillefer nicht erwähnt, ja?« »Nein, das wird es in der Tat nicht.« Sie saßen in einem schlichten Raum, der verglichen mit der außergewöhnlich reich geschmückten Kirche irgendwie seltsam wirkte. Hier waren die Wände lediglich weiß getüncht, und es gab keine Mosaike. Zwei mit weinfarbenem Stoff bezogene und mit Goldfäden bestickte Sofas standen sich in der Mitte des Raums gegenüber. Ein nicht außergewöhnlicher Tisch stand an der einen Wand; darauf befanden sich eine brennende Lampe, eine Vase mit Lavendelhalmen und eine einzelne rote Rose, zwei Lektionare und eine vergessene Gänsefeder, die in die schmale Lücke zwischen der Tischkante und der
7*334 Wand gerutscht war. Es gab keine Wandbehänge. Die Wände waren so unschuldig wie ein unbeflecktes Kalb, das zur Schlachtbank geführt wurde. Eine Lampe in der Gestalt eines Greifen hing von einem Haken in dem dunklen Balken über ihnen. Eine Messinglampe in der Gestalt eines Drachen blieb un-angezündet. Eine Lampe brannte über der Tür, die Flamme zuckte hinter Glas wie die Seele eines Daemons, der im Körper eines sterblichen Mannes gebunden war. So hatte Henry gelebt, so war er gestorben. Hugh und Anne hatten sie natürlich beide benutzt. Sie hatten versucht, sie dazu zu bringen, für sie die schmutzige Arbeit zu tun, ohne ihr die Zauberei beizubringen, die sie selbst beherrschten. Mit Wissen kam Macht. Aber sie hatte sie beide überlebt - falls Hugh wirklich tot war. Annes Ableben bezweifelte sie kaum, aber sie machte sich immer noch Gedanken um Hugh. Der dreizehnte Schädel war nie gefunden worden. Sanglant war dem Tod entkommen, den sie ihm durch die Galla geschickt hatte, was bedeutete, dass man sie überleben konnte. »Er ist tot«, murmelte sie, ließ die Worte auf der Zunge zergehen und schmeckte sie, empfand sie aber dann als bitter und unzuverlässig. Alexandros musterte sie mit seinem guten Auge, dann ließ er seinen Blick durch die Kammer schweifen, sah die Bediensteten an, die Wände, die Lampen, als wollte er sich die Position eines Feindes merken, bevor er sich in die Schlacht stürzte. Sein Blick blieb schließlich an der Kaiserin hängen. Der feste Zug um seinen Mund lockerte sich. Adelheids Krone glitzerte im Lampenlicht. Der schwache Glanz des Lichts ließ sie wieder jünger aussehen, in dieser Nacht sogar besonders hübsch. Sie wirkte wie eine sanfte, wunderschöne Frau, die einen starken Arm brauchte, der sie im Sturm aufrecht hielt. Genau wie Henry war auch Alexandros ein Narr. Wie alle Männer. Alle bis auf Hugh, wie ihr plötzlich klar wurde. Hugh hatte
334 Adelheid nie begehrt. Aber Hugh war dennoch genauso ein Narr wie alle anderen - er hatte seine Aufmerksamkeit nur auf eine andere Beute gerichtet. Wie auch sie es tun musste. Alexandros ergriff das Wort. »Wer ist im Norden am gefährlichsten für uns? Es muss Sanglant sein, der König. Wenn Wendar stark ist, bedroht Wendar uns. Wenn Wendar schwach ist, wird es uns nicht angreifen. Wir müssen die Grenze im Süden bereits gegen die Verfluchten verteidigen. Und im Osten gegen die Jinnen. Ich sage: Töten wir Sanglant, und wir sind eine Weile vor Wendar sicher.« »Es heißt, er kann nicht getötet werden«, erwiderte Antonia. »Obwohl ich es nie geglaubt habe.« »Henry hat es geglaubt«, sagte Adelheid. »Er hat oft davon gesprochen. Er hat damit geprahlt. Wie konnte er nur diesen einen mehr lieben als alle anderen? Nun gut. Vielleicht stimmt es, aber wir
müssen es versuchen. Und was ist mit seiner Frau? Der Zauberin Liathano? Ist sie nicht gefährlich?« »Liathano!« Alexandros nickte energisch. »Die Konkubine des Königs. Die nach der Pferdefrau benannt ist, die nicht sterben kann.« »Wie kommt es, dass Ihr von ihr gehört habt?«, fragte Antonia. Er lächelte, ließ sich Zeit und sagte schließlich: »Wir sind einige Zeit Verbündete mit König Geza von Ungria. Er nahm Prinzessin Sapientia zur Frau.« »Sie war mit Gezas Bruder, Prinz Bayan, verheiratet!«, rief Adelheid. »Das hätte Henry nicht gewollt! Das ist der nackte Griff nach der Macht!« Alexandros kicherte. »Wir sind alle nackt, Eure Majestät«, sagte er auf eine Weise, dass Antonia sich fragte, ob sie ihm jetzt mehr oder weniger vertrauen sollte. Die Worte brachten Adelheid zum Lachen. Sie trank ihren Wein. »Diejenige namens Liathano«, sprach Alexandros weiter.
335 »Sie müssen wir treffen, wenn der Mann außerhalb unserer Reichweite ist.« »Verführerisch«, grübelte Antonia. »Sie ist mächtig. Und vermutlich nicht zu verletzen.« »Welchen Schaden bedeutet es, es zu versuchen?«, fragte Adelheid. »Schlagt dort zu, und Ihr werdet Sanglant schwächen. Es sind nur ein paar Galla.« »Welchen Schaden, abgesehen von den Männern, deren Blut vergossen werden muss, um die Kreaturen aus dem Abgrund zu rufen«, sagte Antonia stirnrunzelnd. Ihr gefiel die Leichtfertigkeit der Kaiserin nicht. »Wenn wir achtlos töten, könnten unsere Leute sich gegen uns wenden.« »Es gibt viele Schuldige, die den Tod verdient haben«, sagte Adelheid. »Und viele Unschuldige, die das Leben verdient haben«, sagte Alexandros. »Aber tot sind.« Der Narr glaubte an Unschuld, zweifellos, weil er seine Frau und seine Kinder für unbefleckt halten musste, obwohl alle Arethusaner durch ihren ketzerischen Glauben befleckt waren. Es war bemerkenswert, dass Gott so lange damit gewartet hatte, sie zu züchtigen. »Eure Majestät. General. Ich bin bereit, gegen jene namens Liathano vorzugehen. Aber was nützt es uns, sie zu töten, abgesehen von der Genugtuung, die die Rache bringt?« Adelheid schüttelte den Kopf. »Rache ist Genugtuung genug! Grund genug! Wenn Sanglant nicht getötet werden kann, dann tötet, was er am meisten liebt. Schickt Galla. Schickt Spione. Schickt, was immer Ihr wollt. Aber wenn sie tot ist, wird er leiden, wie ich gelitten habe. Das ist gut genug für mich.«
Epilog Nachdem sie Gent verlassen hatten, ritt der König mit seinem Gefolge zum Nördlichen Meer. Die Küste hatte sich tatsächlich deutlich verändert, wie es der junge Soldat gesagt hatte. Der Fluss hatte das Bett, durch das er bisher zum Meer geflossen war, aufgegeben und ergoss sich jetzt in ein riesiges Marschland. Die Küste hatte sich zurückgezogen, wie die zwei Ortsansässigen erklärten, die sie begleiteten. Der Meeresboden war freigelegt worden und wurde von Winterwinden heimgesucht, die Sand in gewaltigen, schneidenden Stürmen ins Inland trugen. »Nach dem Sturm ist der Fluss stromauf geflossen, und zwei Wochen lang waren überall Wirbel«, sagte die lebhafte Alte, deren Bemerkungen Sanglant höchst vertrauenswürdig fand. »Flussaufwärts hat es eine Überschwemmung gegeben. Dennoch fließt das Wasser aus den südlichen Bergen nach Norden. Hier, seht.« Sie deutete auf die feuchte Erde, die von unzähligen Rinnsalen durchzogen war. »Es ist, als hätten hundert Finger Furchen zum Meer hin gezogen.« Sie standen auf einer Klippe und sahen auf das hinab, was einmal der tiefere, westliche Arm des Flussbetts gewesen war. Die freigelegten Rinnen führten kaum Wasser. Der übrige Boden war matschig und voller Steine und Wasserunkraut und mit den Überresten von einem halben Dutzend versunkener und zu Bruch gegangener Schiffe übersät. Hier und dort erhaschte er einen Blick auf etwas, das kreuz und quer liegende Gebeine sein mochten. Eine riesige verrostete Kette schlängelte sich durch den alten Kanal.
Liath erkundete unten mit Sibold und Lewenhardt den Matsch. Sie lachten über etwas, das Sibold aus einem schlammigen Loch hervorgezogen hatte, aber Sanglant konnte nicht 336 erkennen, was es war. Liath richtete sich auf und sah zu ihm hin, hob eine Hand und widmete sich wieder ihren Ausgrabungen. Sanglant wanderte die Klippe entlang, fand eine Stelle, an der unbekannte Leute zwei Wurfgeschütze errichtet und später zurückgelassen hatten. »Ich frage mich«, bemerkte Hathui, die ihm nie von der Seite wich, »ob dies wohl die Katapulte sind, mit denen Graf Lavastin die Flotte der Aikha vernichten wollte, als sie aufs offene Meer entkommen wollten.« »Lavastin? Dies ist nicht sein Land.« »Er war bei König Henry, Eure Majestät, als der König ein Heer brauchte, um Gent zurückzuerobern.« »Natürlich. Jetzt erinnere ich mich. Sein Erbe ...« Er hielt inne, erinnerte sich mit unerwarteter Klarheit an diesen schrecklichen Augenblick beim Fest, mit dem König Henrys Sieg bei Gent über den Anführer der Aikha, Blutherz, gefeiert worden war. Nachdem er gierig das Essen verschlungen hatte, das vor ihm ausgebreitet worden war, hatte er in die Dunkelheit davonlaufen müssen, um seinen Magen zu entleeren. Er war in jenen Tagen kaum besser gewesen als ein Prinz unter Hunden, halb wild, sich des menschlichen Geistes kaum bewusst. Lavastins Sohn war zu ihm an den Rand des Lagers gekommen. Edelmann Alain hatte ihn höflich behandelt, voller Achtung und Freundlichkeit, so dass er sich seines Zustands nicht hatte schämen müssen. Er berührte den Goldreif an seinem Nacken, wo einmal ein Eisenband gescheuert hatte. »So-Zange Ihr dieses Halsband tragt, werdet Ihr Euch niemals von Blutherz befreien«, hatte der junge Mann zu ihm gesagt. Wahre Worte, aber er hatte sie damals nicht verstanden. »Was ist mit ihm geschehen?«, fragte er. »Lavastins Erben? Es hat sich herausgestellt, dass er gar nicht Lavastins Sohn war, auch kein unehelicher. Edelmann Jeoffreys Tochter wurde zur Erbin ernannt. Derjenige namens Alain hätte schlimm bestraft werden können, aber es war un
336 möglich zu beweisen, dass er bei der Täuschung seine Hand im Spiel hatte. Einige erklärten, dass Lavastin den Jungen gezwungen hätte, seine Position als Sohn anzunehmen. Die meisten Menschen in der Grafschaft lobten ihn. Der König entschloss sich, barmherzig zu sein, und gestattete dem Jungen, ihm auf andere Weise zu dienen. Er marschierte als Löwe in den Osten. Was danach aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.« »Er war freundlich zu mir. Das werde ich ihm nicht vergessen.« Er kehrte zu den Ortsansässigen zurück, die dieses Gebiet offensichtlich bereits zuvor ausgekundschaftet und in den vergangenen Jahren aus Wrackteilen erbeutet hatten, was irgendwie brauchbar war. Er stand auf der höchsten Stelle der windgepeitschten Klippe knietief im wehenden Gras und musterte das Land. Liath und ihre Kameraden waren den alten Kanal entlanggegangen, folgten der gewaltigen Kette. Im Osten - hinter dem Flussbett - war das Gelände felsiger, und dahinter befand sich ein Delta aus Schilf und Feuchtgras. In der anderen Richtung, im Westen, waren einst Weideland und Wäldchen gewesen, aber jetzt hatte sich alles in Marschland verwandelt, und die Büsche und Bäume standen im Wasser. Im Norden glitzerte die alte Gezeitenfläche, die sich früher nur bei Ebbe gezeigt hatte, in ihrem kahlen Glanz, vollständig freigelegt. Das Meer schimmerte in der Ferne, ein silbrig glänzender Streifen unterhalb des blassen, bewölkten Horizonts. »Schneeschmelze«, sagte die Alte. »Wasser von der Schmelze gräbt diese kleinen Kanäle durch die Ebene. Es gab viel Schnee im letzten Winter und zu viel Regen im Herbst vor dem großen Sturm. Aber wir hatten keinerlei Regen für die Saatzeit.« »Es ist, als hätte der Himmel sich verschlossen«, sagte ihr Verwandter, der stiller war, aber zu fantasievollen Ausschmückungen neigte. »Als wäre eine Weinhaut ausgetrocknet.« Er
337 nickte sich selbst zu und grinste, offenbar mochte er den Vergleich. »Ganz der Dichter!«, sagte seine skeptische Verwandte. Sie war die Verwalterin eines königlichen Gutes und hatte als Kind einmal mit König Arnulf dem Jüngeren gesprochen, daher hatte sie keine Scheu, mit einem neuen König zu sprechen, der jung genug war, um ihr Enkel sein zu können. »Für uns bedeutet das, Eure Majestät, dass wir keine Saatzeit hatten, bei all dem Frost und den kalten Nächten. Werden diese Wolken uns jemals verlassen?« Darauf wusste Sanglant keine Antwort. Die Gezeiten der Zerstörung hatten weiter gereicht, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Er konnte die Veränderungen im Land nur erahnen, war aber entschlossen, seine Rundreise durch eine veränderte Welt fortzusetzen.