Über dieses Buch: Leben die glücklichsten Frauen in Pakistan, in Indien, in China in Japan oder in den Vereinigten Staa...
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Über dieses Buch: Leben die glücklichsten Frauen in Pakistan, in Indien, in China in Japan oder in den Vereinigten Staaten? Und wenn diese Frauen wirklich glücklich sind: warum sind sie es und woran läßt sich ihr Glück erkennen oder gar messen? Oriana Fallaci ist diesen Fragen auf einer Reise rund um die Welt nachgegangen. Ihr Bericht über die Frauen der verschiedensten Hautschattierungen und der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Stellungen ist kein soziologischer oder ethnologischer Essay. Er bietet vielmehr eine brillant formulierte und faszinierende Schilderung der Frauen, denen sie begegnete und mit denen sie eingehend gesprochen hat. Eine Antwort auf die Frage, wo die Frau am glücklichsten lebt, ist freilich schwer zu finden. Vielleicht hat sie die alte Inderin am besten formuliert, die zu Oriana Fallaci sagte: »Meine Liebe, die Frauen auf der ganzen Welt sind gleich, zu welcher Rasse, welchem Klima, welcher Religion sie auch gehören; denn es ist die menschliche Natur, die die gleiche ist.« Und die kluge Schriftstellerin meint, die Rajkumari Amrit Kaur sei die weiseste Frau, die sie je kennengelernt habe.
Oriana Fallaci: Das unnütze Geschlecht Wo lebt die Frau am glücklichsten?
Deutscher Taschenbuch Verlag
Meiner Schwester Neera
Sonderausgabe der Dr. Karl Thomae GmbH, Biberach a. d. Riss Ungekürzte Ausgabe Januar 1971 (dtv 599) Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München ©1965 by Econ Verlag GmbH, Düsseldorf und Wien Titel der im Verlag Rizzoli, Mailand, erschienenen Originalausgabe: ›Il Sesso Inutile‹ © by Rizzoli Editore, Milano Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Winterberg Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Fotos: Interfoto Friedrich Rauch Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany
Vorwort
Es war Sommer, als der Direktor der Zeitung mich fragte, ob ich Lust hätte, eine Weltreise zu machen und mich dabei vor allem im Orient umzusehen. Natürlich, erklärte er, müßte man warten, bis die Große Regenzeit vorüber wäre, kurz, ich würde im Winter reisen müssen. Der Ausdruck Große Regenzeit hat immer eine ganz eigene Wirkung, ähnlich, wie wenn man sagt »der Herzog von Norfolk hat mir erzählt …« oder »ich weiß nicht, ob du das kleine Restaurant an der Tschechow-Straße in Leningrad kennst …«. Selbst ein Journalist, der es gewöhnt ist, sich in ferne Länder zu begeben, und sich keinerlei Illusionen über die Außergewöhnlichkeit gewisser Reisen macht, läßt sich schließlich davon beeindrucken und beginnt, sich für die Sache zu interessieren. »Warum nicht?« entgegnete ich. »Was hätte ich denn im Orient zu tun?« Ich hätte, setzte er hinzu, eine Reportage über die Frauen zu machen. Und an diesem Punkt verlor der Ausdruck Große Regenzeit seinen Reiz. Soweit es nur möglich ist, vermeide ich es stets, über Frauen oder Frauenprobleme zu schreiben. Es ist mir, ich weiß nicht warum, einfach unbehaglich, es kommt mir lächerlich vor. Die Frauen sind doch keine Sonderfauna, und ich sehe nicht ein, aus welchem Grunde sie, hauptsächlich in den Zeitungen, einen Gegenstand für sich bilden sollen – wie der Sport, die Politik und die Wettervorhersage. Der Vater im Himmel schuf Mann und Frau, damit sie beisammen seien, und nachdem das etwas sehr Vergnügliches sein 5
kann, was auch immer gewisse Andersdenkende dazu sagen mögen, erscheint es mir sinnlos, die Frauen zu behandeln, als lebten sie auf einem anderen Planeten, wo sie sich durch Jungfernzeugung fortpflanzen. Was die Männer interessiert, interessiert die Frauen; ich kenne Männer (völlig normale, wohlgemerkt), die ›Harper’s Bazaar‹ lesen, und Frauen (völlig normale, wohlgemerkt), die den Leitartikel der ›Times‹ lesen; sie sind deswegen nicht dümmer als andere. Darum werde ich, wenn jemand mich fragt: »Schreiben Sie für die Frauen?« oder »Schreiben Sie über die Frauen?« ernstlich böse. In diesem Falle, in Anbetracht der Großen Regenzeit, hütete ich mich allerdings wohl, böse zu werden. Ich antwortete, ich würde es mir überlegen. Und ich überlegte es mir. Ich war geneigt, lieber auf die Große Regenzeit zu verzichten, als ohne Glauben an diese Reportage zu reisen. Monatelang sah es tatsächlich so aus, als würde ich verzichten. Dann geschah etwas Unerwartetes. Ein Mädchen, das ich seit langer Zeit kenne, lud mich zum Abendessen ein, und mitten im Abendessen brach sie in Tränen aus und sagte, sie sei todunglücklich. Sie ist ein sehr erfolgreiches Mädchen; unabhängig, hübsch, mit einer Wohnung, in der sie tun und lassen kann, was sie will, mit einem Beruf, in dem sie sich besser bewährt als ein Mann, kurzum, eines jener Mädchen, von denen die Leute sagen, sie seien vom Glück begünstigt, sie hätten alles, was eine Frau sich nur wünschen könne. Den Leuten, und allen voran mir, kam es gar nicht in den Sinn, sie könnte sich unglücklich fühlen. Um sie zu trösten, rief ich ihr denn auch in Erinnerung, was sie alles besaß. »Wie dumm du bist«, schluchzte sie und schnaubte sich die Nase, »ich beklage 6
mich ja gerade über das, was ich habe. Bist du glücklicher beim Gedanken, daß du alles tun kannst, was die Männer tun, und vielleicht sogar Staatspräsidentin werden? Ach Gott, ich wollte, ich wäre in einem jener Länder geboren, wo die Frauen nichts gelten. Es ist ja doch ein unnützes Geschlecht, das unsere.« Das Gespräch beunruhigte mich ein wenig. So, wie einer, der nicht mehr daran denkt, daß er Ohren hat, weil er sie jeden Morgen am alten Platz findet, ihre Anwesenheit erst bemerkt, wenn er eine Mittelohrentzündung bekommt, besann ich mich darauf, daß die Grundprobleme der Menschen zwar von wirtschaftlichen, rassischen, sozialen Fragen herrühren, daß aber die Grundprobleme der Frauen auch und vor allem davon herrühren, daß sie Frauen sind. Ich meine damit nicht nur den gewissen anatomischen Unterschied. Ich meine die Tabus, die mit diesem Unterschied verbunden sind und das Leben der Frauen in aller Welt bedingen. In den muselmanischen Ländern, beispielsweise, hat kein Mann je sein Gesicht unter einem Laken versteckt, um auf die Straße zu gehen. In China wurden keinem Manne je die Füße eingebunden und auf sieben Zentimeter lange abgestorbene Muskeln und gebrochene Knochen verstümmelt. In Japan wurde kein Mann je gesteinigt, weil die Gattin entdeckte, daß er nicht mehr jungfräulich war. (Heißt es so bei einem Mann? Sehen Sie: nicht einmal das Wort dafür existiert.) All diese Dinge aber geschahen, und geschehen noch, den Frauen. So ging mir auf, daß die Idee meines Direktors keineswegs ausgefallen war und wie interessant es sein würde, den Frauen anderer Länder nahezukommen und herauszufinden, ob sie glückli7
cher oder unglücklicher sind als meine Freundin, die da so entmutigt ihre Nase schnaubte. Als der Winter kam und die Große Regenzeit zu Ende ging, antwortete ich meinem Direktor, ich sei bereit zu reisen. Dann studierten wir den Reiseplan. Denn, nicht wahr, was bedeutet das: eine Weltreise machen? Wörtlich genommen bedeutet es, daß man in jedes Winkelchen der Erde dringt, von Lappland bis Südafrika, von Neukaledonien bis Alaska; offen gestanden, das war ein bißchen zu viel. Ehe wir eine solche Reise beendet hätten, wären die sowjetischen Astronauten auf der Venus angelangt und hätten die Venusianerinnen entdeckt, und das Interesse an den Frauen unseres Planeten wäre bereits erloschen. Im übrigen wollte ich ja kein Völkerkundebuch verfassen und beschreiben, wie die Eskimofrauen Robbenfleisch kochen oder wie die Gemahlinnen der Kopfjäger das Haupt eines unvorsichtigen Forschers auf Eigröße einschrumpfen. Ich wollte lediglich eine weite Erdenstrecke durchstreifen, die es mir erlauben würde, alle möglichen Situationen zu studieren, in denen Frauen sich durch eigene Schuld oder wegen gewisser Tabus befinden. So kamen wir überein, es werde am besten sein, ungefähr die Reise des Phileas Fogg zu wiederholen. Von Italien aus würde ich mich nach Pakistan begeben, dann nach Indien, dann nach Indonesien, dann nach China, falls man mir ein Visum erteilte (man erteilte es mir jedoch nicht, und wir mußten uns mit Hongkong begnügen), dann nach Japan, nach Hawaii, in die Vereinigten Staaten von Amerika und zurück nach Italien. Wie Phileas Fogg würde auch ich einen Reisegefährten haben, und damit will ich nun nicht sagen, daß es sich um einen Passe8
partout handelte: mein Reisegefährte war Duilio Pallottelli, Photograph, und angesichts der Gleichberechtigung der Geschlechter würde er nicht wie ein Passepartout meine Koffer tragen. Wir gingen also ins Hygieneamt, wo man uns von allen Seiten durchlöcherte, damit wir nicht Typhus, Gelbfieber, Pocken oder Cholera auflesen sollten. Wir verlangten jene stupiden Stempel, die man Visa nennt und die von den Priestern der Formulare für Grenzübertritte als unentbehrlich erachtet werden. Wir hörten dem Direktor zu, der uns ans Herz legte, uns ja nicht etwa in der Folklore zu verlieren, sondern sachliche Berichte zu schreiben. Und dann reisten wir ab. Wir hatten rund zehn Photoapparate, eine Schreibmaschine, einen Flugschein, der wie eine Handharmonika aussah, so lang war er, und schließlich eine riesengroße, ehrliche Neugier bei uns. Ach, natürlich weiß ich, daß heutzutage die Warenhausangestellten ebenso leicht nach Bombay reisen wie seinerzeit unsere Großeltern nach Wien und Paris; ich selber bin ohne weiteres im Verlauf einer Woche in Teheran oder New York und wieder zurück, um hier einen Artikel zu schreiben, der tags darauf schon alt ist. Und doch entzieht man sich nur schwer dem Bann, der von einer Reise dieser Art ausgeht, und sogar Leute, die an die gleichmütige Sachlichkeit unseres modernen Lebens gewöhnt sind, betrachteten mich mit leisem Neid und gaben mir Ratschläge: »Paß auf, daß du nicht zu weit in verbotene Quartiere eindringst.« »Denk daran, daß es am Äquator Schlangen gibt.« »Hast du’s schön, du kommst in die Wärme!« Duilio, der als echter Römer sich durch nichts aus der Ruhe bringen läßt und der, wenn er auf einen Mars9
bewohner stieße, ihn gähnend betrachten würde, war ganz aufgeregt. Er bestürmte mich mit dem Problem der Kühltaschen, in denen er die Filme aufbewahren wollte, um sie vor der großen Hitze zu schützen. Er fragte mich, wie viele Wolljacken er durch Leinenjacken ersetzen sollte. Und: »Sag, ist es wahr, daß die Japanerinnen einen waschen, indem sie nackt mit einem in die Wanne steigen? Ist es wahr, daß man sie in Hongkong ganz leicht mit ins Bett nehmen kann? Ist es wahr, daß die Inderinnen hundertsechsundvierzig Arten von Liebesspielen kennen?« Sein Interesse war, geben wir es zu, nicht ausschließlich journalistischer Natur; beim Abflug in Ciampino gab er sich bereits dem Vorgenuß jenes Augenblicks hin, in dem er zurückkehren würde, um seinen Freunden von dem Abenteuer mit einer gewissen Chinesin, einer gewissen Japanerin, einer gewissen Inderin zu erzählen, und sein junges Gesicht lächelte in seliger Erwartung. Auf dieselbe Weise aber, wie er diese banale Sünde beging, beging ich eine andere, nicht minder banale (die allerdings nichts mit der Erwartung eines gewissen Chinesen, Inders oder Japaners zu tun hatte – Abenteuer, denen ich leichten Herzens ausweichen würde). Ich schwamm, das war es, in einer Phantasie von Großem Regen, Buddhastatuen, Schiwatempeln und polynesischen Kanus. Als das Flugzeug vom Boden abhob, dachte ich voller Dankbarkeit an die Tränen meiner unglücklichen Freundin. Und erst in diesem Moment kam mir wieder zum Bewußtsein, daß ich ja nicht ein Phileas Fogg bei der Erfüllung einer heiteren Wette war, sondern vielmehr eine Frau bei der Erfüllung einer schwierigen Aufgabe. Der Gedanke daran nahm einen guten Teil der Reise 10
zwischen Rom und Karachi in Anspruch. In Ankara landeten wir zum Auftanken von Treibstoff, und das Warten in dieser Stadt, dem letzten Stück Europa vor den Toren Asiens, schien mir geradezu symbolisch zu sein. Ankara lag im Schnee, von den Glasscheiben des Flughafens aus sah man nichts als dieses kalte, weiße Flimmern. Und auch die Türkinnen erschienen mir in der Erinnerung, die ich an sie hatte, kalt und weiß. Sie sind so sehr fortgeschritten, die Türkinnen. Das hatten wir während einer früheren Reise nach Ankara wohl gesehen, Duilio und ich. »Erinnerst du dich an Ihre Exzellenz Adilé Aylà?« fragte ich Duilio. »Ach du lieber Gott!« gab Duilio zurück. Und er erschauerte bei der Vorstellung Ihrer Exzellenz, die wie eine Bienenkönigin inmitten von Drohnen in einem Büro des Außenministeriums saß. Die Drohnen waren ihre Sekretäre, die sie umschwirrten und honigsüß Lächeln verstreuten, während sie ihr zitternd gehorchten. Denn Ihre Exzellenz, in grünem Hut und mit einem Korsett, das sie zwang, sich so gerade zu halten, wie es sich für eine Bienenkönigin gehört, flößte Furcht ein. Jene Furcht, die nur Frauen einflößen können, die, wenn sie zur Macht gelangen, mächtiger sind als ein Mann. »Erinnerst du dich an Oberleutnant Turkan Gulver?« »Ach du lieber Gott!« gab Duilio zurück. Und er schüttelte sich von neuem bei der Vorstellung von dem häßlichen jungen Mädchen, das sich, in eine khakifarbene Uniform gepreßt, mit seinem General in einer Kaserne von Ankara interviewen ließ. Oberleutnant Gulver war vierundzwanzig Jahre alt und hatte die untersetzte Gestalt der Frauen von 11
Kars, jener Gegend nahe der russischen Grenze, wo sie geboren war. Sie hatte ein breites Bauerngesicht und zentimeterkurzes Haar unter dem großen Hut mit dem Visier. Ihr General berichtete, was für ein wundervoller Soldat sie sei, gehorsam, unnachahmlich im Ertragen von Fußmärschen, unschlagbar bei den Schießwettkämpfen, und sie hörte zu, die Arme steif, die Füße nebeneinandergesteift, nur den Hals bewegend, denn die Krawatte war etwas zu eng, und bei jeder Frage wurde sie von purpurner Röte übergossen, bis ihr die Ohren bläulich brannten. In ihr war die Angst einer Eidechse, die man in eine Schachtel gesperrt hat, und auch ihre kleinen, tatsächlich fast wimpernlosen Augen erinnerten an eine Eidechse. Wir waren eigentlich gemein zu ihr, wie Kinder, die sich damit vergnügen, einer Eidechse den Schwanz abzureißen, aber ihre Angst versetzte mich in Wut, und während ich ihr Fragen stellte, überlegte ich mir, was sie wohl dazu bewogen haben mochte, das Gebiet von Kars zu verlassen, das man mir als eine Gegend voller Rosen und grüner Matten schildert, wo es lieblich ist, Kinder und Hühner aufzuziehen, um die Gefangene einer Kaserne zu werden. »Erinnerst du dich an Ihre Gnaden Muazzez Turner?« »Ach du lieber Gott!« gab Duilio zurück. Und diesmal lachten wir bei der Vorstellung von jener kleinen Frau mit dem welken Gesicht, die sich in eine Toga mit goldenen Quasten eingehüllt hatte und auf einen hohen Sitz geklettert war, um die gewichtigste Funktion auszuüben, die einem zivilen Wesen obliegen kann. Wir lachten nicht etwa deshalb, weil Männer würdiger erscheinen als Frauen, wenn sie über die Verfehlungen anderer zu Gericht sitzen – sie 12
sind es manchmal sogar sehr viel weniger –, sondern weil Ihre Gnaden Muazzez Turner an jenem Tage so völlig verkehrt aussah. Dann hatten wir sie in einem Klub wiedergesehen, mit einer Kollegin zusammen, die Präsidentin des Kassationsgerichtshofes war, und vor lauter Angst, jede könnte der anderen die Schau stehlen, versetzten sie sich gegenseitig Fußtritte unter dem Tisch, bis schließlich Ihre Gnaden Muazzez Turner den Sieg davontrug, indem sie ausrief: »Ich habe drei Männer zum Tode verurteilt!« »Alle miteinander?« hatte ich starr vor Schrecken gefragt. »Alle miteinander«, bestätigte sie zufrieden. »Und was taten Sie, nachdem Sie einen derartigen Richterspruch verlesen hatten?« »Ich zerbrach die Feder, mit der ich ihn geschrieben hatte.« »Das verstehe ich. Sie müssen sehr erschüttert gewesen sein.« »Aber nein, was für Dummheiten. Ich zerbrach die Feder, weil es so Brauch ist.« Ach ja: wir verließen eine Welt im Schnee von Ankara. Als der Aufenthalt vorbei war, bestiegen wir das Flugzeug und wärmten uns an einer Illusion von Sommer, von Kamelen, die langsam durch die Hitze schreiten und ihre Halsketten aus Gips klirren lassen, von Frauen, die uns ein Beispiel uralter Weisheit bieten würden. Was hier folgt, ist die Schilderung dessen, was sich von dem Augenblick an, da wir in Karachi landeten, bis zu dem Augenblick, da wir New York verließen, zutrug: dessen, was ich sah, was ich hörte und was ich glaube, verstanden zu haben.
I
Ein Rabe schrie im Dunkel wie ein wildgewordenes Kind. Ich trat mit einem Ruck vom Fenster zurück. Im übrigen sah man vom Fenster des Beach Luxury Hotels aus ohnehin nicht viel. Irgendwo mußte das Meer sein, aber man hörte es nicht einmal, weil die Klimaanlage alle Geräusche übertönte, ausgenommen das Geschrei der Raben. Am Fenster war ein dichtes Gitternetz angebracht, um die Fliegen abzuhalten. Außerhalb des Gitters nahm man undeutlich den Garten wahr mit den von gelben, roten und blauen Lampen angestrahlten Bäumen, den Europäern, die matt in Korbsesseln lehnten und mit Taschentüchern, deren Feuchtigkeit man erriet, sich den Schweiß abwischten. Von der Terrasse über dem Eingang des Beach Luxury Hotels aus, das vor fünfzig Jahren von den Engländern in pompösem Kolonialstil erbaut wurde, sah man hingegen die Straße, wo glänzende Autos mit wütenden Rucken den Kamelen auswichen, weiter hinten sah man eine steinige Fläche, dann eine Sandwüste, und dann einen blassen Lichtschein: das Zentrum von Karachi um zehn Uhr abends. Ich verließ das Zimmer und ging den Korridor entlang, um die Verwirrung zu vergessen, die einen in einem Lande überkommt, wo nichts vertraut ist, weder die Luft, noch die Gesichter, noch der Himmel, der sich abends mit tiefdunklem Lack und einem messerscharfen Mond bemalt. Ein schwarzer, knochiger Diener hockte am Boden und sah 15
mit unbeweglichem, geduldigem Blick zu mir auf. Von der halboffenen Tür seines Zimmers her hörte ich Duilio leise vor sich hinpfeifen. Ich wollte ihn rufen, besann mich jedoch gleich wieder anders. Es war zu heiß, ich war zu müde, morgen erwartete mich eine Reihe lästiger Verabredungen; ich wollte lieber schlafen gehen. Statt dessen – wie immer, wenn man spürt, daß etwas in der Luft liegt,’ ohne zu wissen, was – ertappte ich mich dabei, daß ich in den Garten hinunterging, mich wie die anderen in einen Korbsessel fallen ließ und einen Whisky bestellte. Und da, als ich zerstreut den Blick hob, sah ich sie. Allerdings erkannte ich vorerst nicht, daß es eine Frau war, denn von weitem sah sie gar nicht wie eine Frau aus, ich meine, wie etwas, das ein Gesicht, einen Körper, zwei Arme und zwei Beine hat. Sie erschien vielmehr wie ein lebloser Gegenstand oder ein zerbrechliches, unförmiges Paket, das weißgekleidete Männer mit enormer Behutsamkeit zum Ausgang führten. Das Paket war, gleich den Statuen, die man bei uns auf öffentlichen Plätzen einweiht, von einem Wasserfall aus Stoff bedeckt, und der Stoff war rot, ein grelles, blutiges Rot, durchsetzt von Gold-und Silberornamenten, die im Licht der Lampen fast düster aufblitzten. Man sah wirklich nichts außer diesem Rot und Gold und Silber. Man sah weder Hände noch Füße, noch irgendeine Form, die der Form eines Lebewesens geglichen hätte, und doch bewegte sich das Ding, langsam, ganz langsam, wie eine Larve, die sich zu einem Schlupfwinkel schleppt und nicht weiß, was sie dort erwartet. Dahinter folgte ein junger, schlanker Mann in langer Jacke aus Golddamast und gol16
denen, nach pakistanischer Mode schmalen Beinkleidern, mit einem glatten, rundlichen Gesicht und einem Blütenkranz auf dem Haupt. Dann kamen weitere Männer, die einen so wie er gekleidet, nur in Weiß, andere nach europäischer Manier. Dann kamen ein paar verschleierte Frauen und ein paar im Sari, und der Zug bewegte sich ohne einen Laut, ein Wort oder ein Lachen vorwärts, still wie ein Grabgeleit. Das einzige, was mich davon überzeugte, daß es sich nicht um einen Traum handelte, war das Krächzen der Raben, die jetzt flügelschlagend das Paket umflatterten. Das Paket aber kümmerte sich nicht um sie – genau wie ein Gegenstand, der weder sieht noch hört. Eilig holte ich Duilio herbei, um ihn zu fragen, ob er von alledem etwas verstehe. Duilio kam, verstand aber nichts. Dann fragte ich einen Europäer, und der zuckte die Achseln: es interessierte ihn nicht. Dann fragte ich einen Pakistaner, der den Zug beschloß, und die Frage belustigte ihn. »Was ist das?« »Nichts«, antwortete er. »Eine Frau.« »Was macht sie?« »Nichts«, antwortete er. »Sie heiratet.« »Wohin geht sie?« »Nach Hause«, antwortete er. »Lassen Sie mich mitkommen, ich bitte Sie!« »Warum? Die muselmanische Hochzeit ist eine Privatangelegenheit.« Ich sagte ihm, warum. Er lächelte und versprach, mir zu helfen, doch unter einer Bedingung: daß wir den andern die Wahrheit über dieses Eindringen nicht sagen und daß ich 17
nicht nach dem Namen des Bräutigams fragen, geschweige denn ihn veröffentlichen würde. »Auch den der Braut nicht«, versprach ich. »Ach, der zählt nicht. Die Braut zählt nicht.« Immer noch langsam, ganz langsam, mit diesem Schritt einer verängstigten Larve, war das rote Paket am Ende des Parks angelangt. »Warum geht sie so?« fragte ich. »Ist sie blind?« »Nein. Sie hält die Augen geschlossen«, antwortete er. »Warum hält sie die Augen geschlossen?« »Weil sie den Gatten nicht sehen darf«, antwortete er. »Hat sie ihn denn schon gesehen?« »Nein. Sie hat ihn noch nie gesehen«, antwortete er. Der Bräutigam bestieg ein blumengeschmücktes Automobil. Er hatte den Blumenkranz abgenommen, sah zufrieden aus, und mein Pakistaner sagte, daß auch er die Braut nicht kannte, aber ihre Photographie gesehen hatte, die ihm gefiel. Und wenn ihm die Braut nicht gefallen sollte, wäre es weiter auch nicht schlimm, er würde sich dann eben eine neue Frau aussuchen: mit dem Segen Allahs fehlte es ihm nicht an Geld. Das rote Paket wurde im zweiten Automobil untergebracht, das ohne Blumenschmuck war, und einige der Frauen setzten sich daneben mit einem Gehaben, als wollten sie es vor jemandem beschützen, der es zu stehlen beabsichtigte. Die Eingeladenen, samt Duilio und mir, stiegen in weitere Wagen. Duilio fühlte sich unbehaglich und meinte, wir könnten uns auf diese Weise arg in die Nesseln setzen. Wie sollte er die Tasche mit den Photoapparaten rechtfertigen und die Aufnahmen, die er machen würde? »Sie werden sagen, daß Sie ein Ehepaar 18
auf der Hochzeitsreise sind und die Manie haben, alle Leute zu photographieren«, vermittelte mein Pakistaner. Er war sehr freundlich, der Herr Zarabi Ahmed Hussan. Er hatte in Cambridge studiert und sprach ein blendendes Englisch. Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Wir fuhren ungefähr eine halbe Stunde lang durch die Dunkelheit, und da sich in Karachi alle Straßen gleichen, wußten wir nicht, wohin die Fahrt ging. Später in der Nacht brachte uns Herr Zarabi Ahmed Hussan selbst ins Hotel zurück; als wir nachher versuchten, das Haus wiederzufinden, um der Braut einen Blumenstrauß zu bringen, irrten wir deshalb einen halben Tag lang vergeblich herum, bis wir uns entschlossen, die Suche aufzugeben, und der inzwischen verwelkte Strauß endete auf dem Gehsteig, wo er von den Passanten zertreten wurde. Das Haus war modern, noch frisch von Kalk. Das Auto des Bräutigams war vor fünf Minuten eingetroffen, und jetzt trieb jemand eine Ziege um ihn herum, um ihm Wohlergehen zu wünschen. Die Braut war ebenfalls angekommen, aber man hatte sie alsbald versteckt – die Ziege brachte also nur dem Ehemann Wohlergehen. Wir traten ein, die Zimmer waren sozusagen ohne Möbel, wie die typischen muselmanischen Zimmer. Im Erdgeschoß befand sich eine Art Speisesaal mit einem Tisch, auf dem die Erfrischungen in Form von Reis mit Curry, Hammelfleisch und frischem Wasser bereitstanden. Die Männer gingen sofort dort hinein, auch der Bräutigam, und begannen zu essen, ohne Löffel oder Gabel, sich alle Hände beschmutzend. Die Frauen hingegen begaben sich in den ersten Stock, wo in einem Raum ein großer Baldachin war und sonst nichts. Auf dem Boden lag 19
eine Strohmatte. Darauf saßen ein paar Kinder und weitere Frauen, von denen einige den Schleier abgenommen hatten und lachten. In ihrer Mitte, zusammengekauert wie ein Häuflein Elend, saß das Paket, will sagen die Braut. Sie hatte den Kopf auf die Knie gelegt, und jetzt endlich sah man, daß es eine Frau war, weil aus all diesem gold- und silberdurchwirkten Rot zwei winzige Füße hervorguckten, mit rotbemalten Nägeln und rotbemalter Sohle. Überdies hing zwischen den Knien eine Hand herunter, und auch die Hand war winzig, mit rotbemalten Nägeln und rotbemalter Handfläche. Die Braut weinte. Und bei jedem Schluchzen hoben und senkten sich die Schultern, es war wie das Zucken eines verwundeten Tieres. Sie war sehr klein, wie sie da auf dem Boden kauerte. So klein, daß einen der Wunsch ankam, etwas für sie zu tun, wie etwa: ihr ausreißen zu helfen. »Wollen Sie sie sehen?« fragte mein Pakistaner. »Ja, gern«, erwiderte ich. »Wenn ich nicht störe.« »Was heißt stören! Sie ist ja nur eine Frau.« »Auch ich bin eine Frau.« »Das ist etwas anderes. Sie reisen zum Beispiel mit einem Mann, der nicht Ihr Gatte ist.« »Er ist mein Kollege«, protestierte ich. »Ich kann ihn doch nicht heiraten, bloß weil wir zufällig zusammen arbeiten!« »Das ist Ihre Angelegenheit«, sagte der Pakistaner, und es war nicht klar, ob er scherzte oder im Ernst sprach. Dann befahl er den Frauen, das Gesicht der Braut zu entschleiern, damit ich es sehen könne. Die Frauen hoben den Schleier, aber ich sah das Gesicht noch nicht, weil sie es zwischen 20
den Knien barg. Dann griff eine Frau zwischen ihren Kopf und ihre Knie, gewaltsam, faßte sie unterm Kinn und hob dieses Gesicht, bis ich es sah. Es war das Gesicht eines kleinen Mädchens: olivenfarbig, übermäßig geschminkt und so unreif, daß es aussah, als hätte ein Kind sich angemalt, um ein bißchen große Dame zu spielen. Sie war vierzehn, sagte man mir; ihre Lider waren gesenkt und mit Silberstaub bestrichen. Zwischen den langen Wimpern drang still eine Träne hervor. »Sagen Sie ihr, daß sie keine Ursache hat zu weinen«, forderte mich mein Pakistaner auf. »Sie hat das Lyzeum besucht und versteht Englisch.« Ich kniete auf die Matte nieder und sagte ihr, sie habe keine Ursache zu weinen; ich hätte den Bräutigam gesehen, er sei schön und habe ein freundliches Gesicht. Sie bewegte ein bißchen die mit sehr dunklem Rot dick bestrichenen Lippen und schien etwas sagen zu wollen, sagte es aber nicht. Nach einer Weile wendete sie sich einer der Frauen zu und flüsterte einen Satz auf Pakistanisch. »Was hat sie gesagt?« wollte ich wissen. »Sie hat gefragt, ob der Bräutigam wirklich ein freundliches Gesicht habe«, übersetzte die Frau. »Er hat ein sehr freundliches Gesicht«, beteuerte ich. »Ich bin gewiß, daß er sich sehr in Sie verlieben und Sie sehr gernhaben wird.« Wiederum flüsterte die Braut etwas ins Ohr der Frau. »Was hat sie gesagt?« wollte ich wissen. »Sie hat gefragt, was das bedeuten soll«, gab sie Auskunft. Und sie lachte, als hätte ich etwas sehr Komisches 21
gesagt. Ich sah etwas verwirrt zu meinem Pakistaner auf. Auch er lachte und murmelte der Braut zu: »Sie wollte sagen, daß er dir viele Kinder geben wird.« Dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr und sagte, es sei nun Zeit, sie zu Bett zu bringen. Das Schlafzimmer war der einzige vollständig eingerichtete Raum des ganzen Hauses. Der Bräutigam hatte als moderner Mann Möbel in europäischem Stil gekauft, aus glänzendem Mahagoni, mit Spiegeln und Messinggriffen. Das Bett hatte himmelblaue Leintücher und eine Decke aus gesteppter rosa Atlasseide. In der Mitte saß eine amerikanische Puppe, eine von jenen, die man im Warenhaus Macy in New York für fünfzehn Dollar kauft. Die Braut wurde hinübergetragen und neben die Puppe gesetzt, als sollte sie mit ihr spielen. Der schwere Schleier wurde ihr abgenommen, und sie blieb im Brautkleid: rotseidenen Beinkleidern und blauer Tunika mit langen Ärmeln. Ich fand sie schön, und als sie endlich die verweinten Lider hob, fand ich auch ihre Augen schön, so voller Furcht und Ergebung. Sie hatte zu weinen aufgehört und lächelte ein bißchen. Nun aber befahl die Schwiegermutter allen, hinauszugehen; sie blieb allein im Dunkeln zurück, um auf einen Mann zu warten, den sie noch nie gesehen hatte, und das Schluchzen setzte von neuem ein, unterdrückt, hoffnungslos, wie das Schluchzen von jemandem, der bestraft worden ist und nicht versteht, warum. Auf einer Matte kauernd, wo sie Reis und Curry mit den Händen aßen, schienen die Frauen sich nicht im geringsten darum zu kümmern. »Sie ist sehr unglücklich«, wagte ich mich vor. »Vielleicht sollte man ihr etwas sagen.« 22
»Wieso?« erwiderte die Schwiegermutter. »Ich habe ihr schon alles gesagt. Und überhaupt sind Bräute immer unglücklich. Ich weinte drei Tage und drei Nächte lang, als ich meinen Mann heiratete. Weinen sie im Abendland denn nicht?« »Es kommt darauf an«, erklärte ich. »Es kann vorkommen, daß sie weinen, obwohl sie zufrieden, und daß sie lachen, obwohl sie unzufrieden sind. Im Abendland ist es eben anders als hier.« »Warum ist es anders?« fragten sie im Chor. »Weil sie sich, gut oder schlecht, den Gatten selber aussuchen. Würdet ihr nicht auch gern den Gatten selber aussuchen?« Sie waren sehr unbefangene, fortschrittliche Frauen. So fortschrittlich, daß sie sich ohne Schleier hatten photographieren lassen. Bei dieser Frage aber sahen sie mich geradezu entsetzt an, als hätte die Überraschung ihnen die Stimmbänder durchgeschnitten. Dann antworteten sie im Chor: »Nein!« »Warum nicht?« beharrte ich. Sie schienen nach Worten zu suchen. »Vor allem bringt es eine Frau in eine demütigende Situation, sich den eigenen Mann auszuwählen«, rief die Jüngste aus. »Um einen Mann zu kriegen, muß eine Frau sich schöner, interessanter machen, muß ihn mit Blicken und Geplauder verführen. Das ist unwürdig, und außerdem unaufrichtig.« Sie schwieg einen Augenblick, während die andern zustimmend nickten. »Eine Freundin aus London hat mir eines Tages erklärt, wie die europäischen Mädchen einen 23
Mann suchen, und wie ich es verstanden habe, ist das eine schrecklich mühsame und oft recht dumme Sache. Um von den Männern beachtet zu werden, sagt sie, tun die Mädchen immer so, als wären sie besser, als sie wirklich sind, und wenn die Männer sie dann bemerken, verstellen sie sich weiterhin, um geheiratet zu werden. Schließlich heiraten sie. Dann aber haben sie genug davon, Theater zu spielen, die Wahrheit kommt an den Tag, und die Ehe geht in Brüche. Geht es wirklich so vor sich?« »Ungefähr«, gab ich zu. »Wenigstens ziemlich oft. Aber nicht immer gelingt es ihnen, geheiratet zu werden.« »Wirklich?« sagten sie im Chor. »Und was geschieht dann?« »Nichts«, sagte ich. »Sie fangen bei einem andern von neuem an.« »Oh!« riefen sie ungläubig. »Ich brächte es gar nicht fertig, einen Mann zu suchen«, meinte die Jüngste. »Wenn wir jung sind, haben wir doch keinen Verstand. Meine Eltern hingegen haben ihn, und sie werden einen passenden Mann für mich suchen. Das wird nächstes Jahr der Fall sein, wenn ich aus der Schule entlassen bin. Gibt es denn im Abendland keine arrangierten Heiraten?« »Hie und da«, räumte ich ein. »Es gibt Leute, die sogar ein Inserat in die Zeitung setzen oder sich an eine Agentur wenden.« »Wie unfein«, rief das Mädchen. »Manchmal aber kommen zwei von selber zusammen. Und das pflegt man dann eine Liebesheirat zu nennen«, erklärte ich. 24
»Und die Liebe hält das ganze Leben lang an?« fragte die Schwiegermutter. »Hie und da«, sagte ich. »Eher selten. Oft bekommen sie einander satt, und schließlich können sie sich nicht mehr ausstehen.« »Was für ein Unsinn«, meinte die Schwiegermutter. »Wozu sollen sich Ehepaare lieben oder hassen?« Das Schluchzen der Braut war noch kläglicher geworden, und jetzt hörte man hinter der angelehnten Tür hervor ein leises Jammern. »Vielleicht wäre sie lieber ledig geblieben«, bemerkte ich. »Was bedeutet das?« fragten sie verständnislos. »Ledig«, wiederholte ich in zwei oder drei Sprachen. »Ohne Mann.« »Was soll das heißen?« fragten sie im Chor. Ich begab mich in den Eßraum der Männer hinunter: Herr Zarabi Ahmed Hussan hatte mich rufen lassen, um mir zu sagen, daß ich als Europäerin dort Zutritt hätte. Herr Zarabi Ahmed Hussan stand neben dem Bräutigam, und der Bräutigam zeigte nicht die geringste Eile, zu seiner kleinen Frau zu kommen, die im Dunkeln weinte. Im Gegenteil, er schöpfte mir Reis mit Curry in ein Schüsselchen und sah mich nachdrücklich an, fast als wollte er mir bedeuten, er hätte nichts dagegen, wenn ich ihm ins Nebenzimmer oder in den Garten folgte. Zuletzt zwinkerte er mir sogar zu und stieß mich mit dem Fuß an. Ich wandte mich deshalb meinem Pakistaner zu. Der schien harmloser zu sein. »Sie haben also Ihre Schwätzchen gehalten«, stellte mein Pakistaner fest. 25
»Tja.« »Und Sie sehen ganz danach aus, als hätten Sie eine gute Lektion erhalten.« »Ich weiß nicht«, gab ich zurück. »Ich bin gar nicht sicher, eine gute Lektion erhalten zu haben. Sagen Sie mir lieber: Warum sagten Sie der Braut, er würde ihr viele Kinder schenken? Ich hatte doch von Liebe gesprochen, nicht von Kindern.« »Weil sie, wenn sie viele Kinder zur Welt bringt, nicht verstoßen wird«, gab er zur Antwort. »Warum sollte er sie verstoßen, wenn sie keine bekommt? Sie ist so jung und schön.« »Was nützt eine junge und schöne Frau, wenn sie keine Kinder gebärt?« entgegnete er. »Man heiratet eine Frau, damit sie gebäre. Eine Familie ohne Kinder ist keine Familie.« »Ich würde zu gern«, rief ich aus, »das Gesicht eines Mannes sehen, der seine Frau verstoßen hat – abgesehen vom Schah von Persien.« »Was für ein Getue«, meinte er, »mit diesem armen Schah. Als ob man im Abendland nicht auch Frauen verstieße!« »Ich habe meine Frau verstoßen«, sagte ein weißgekleideter Herr. Er hatte ein mildes Gesicht und eine Sanfte Stimme. »Und jetzt sind Sie ohne Gattin?« erkundigte ich mich. »Nein, nein«, sagte er. »Ich habe drei. Zwei in Karachi und eine in Lahore. Sie haben mir bis jetzt fünf Kinder geboren.« 26
»Mein Kompliment«, anerkannte ich. »Neun Personen sind eine schöne Familie.« »Nicht neun, nur vier«, verbesserte der Herr. »Ich und meine drei Söhne. Die Frauen zählen nicht.« Dieser Streifen Erde, wo es keine ledigen Frauen und keine Liebesheiraten gibt und die Mathematik zur Ansichtssache wird, umfaßt ganze 600 Millionen Menschen, von denen, grob gerechnet, die Hälfte Frauen sind, die hinter dem dichten Nebel eines Schleiers leben; eigentlich ist es weniger ein Schleier als vielmehr ein Laken, das sie von Kopf bis Fuß wie ein Schweißtuch verhüllt: um sie vor jedermanns Blicken zu schützen, der nicht ihr Gatte, ein Kind oder ein zeugungsunfähiger Sklave ist. Dieses Laken, ob es nun Purdah oder Burka oder Pushi oder Kulle oder Djellabah heißt, hat in Augenhöhe zwei Löcher oder ein dichtes Gittergewebe von zwei Zentimeter Höhe und sechs Zentimeter Breite; hinter diesen Löchern oder diesem Netzstück hervor betrachten sie den Himmel und die Menschen wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses. Das Gefängnis reicht vom Atlantischen Ozean bis zum Indischen Ozean, es erstreckt sich über Marokko, Algerien, Nigeria, Libyen, Ägypten, Syrien, den Libanon, Irak, Iran, Jordanien, Saudiarabien, Afghanistan, Pakistan, Indonesien – das endlose Reich des Islam. Der Islam ist gewaltig; Pakistan ist ein winziger Teil davon, und gewiß einer der fortgeschrittensten. Man kann deshalb nicht behaupten, man kenne die Realität der muselmanischen Frauen, wenn man sich lediglich in Karachi aufhält: in Saudiarabien ist diese Realität noch viel bestürzender. Dort gibt es 27
Harems, wie jene des Königs von Jemen mit seinen zweihundert Konkubinen und seinen zweiunddreißig Ehefrauen. Dort verenden Frauen wie räudige Hunde, weil es nicht erlaubt ist, sie von einem Arzt untersuchen zu lassen. Dort wissen die Frauen nicht, was außerhalb ihrer von Eunuchen bewachten Korridore geschieht; denn wenn sie dort eintreten, ist es, um nie wieder herauszukommen. Sie sind so unnütze Geschöpfe, daß sie bei ihrer Geburt nicht einmal amtlich registriert werden. Sie haben oft keinen Familiennamen und auch keine Identitätskarte, da es ja ohnehin verboten ist, sie zu photographieren, und keine von ihnen kennt die Bedeutung des merkwürdigen Wortes, das im Abendland Liebe heißt. Der Mann ist ihr Herr und Gebieter, und sicher nicht nur das. Ich selber war nicht in Saudiarabien, wo man Touristen, Journalisten und Frauen das Visum verweigert und wo jedermann, der mit einem Photoapparat in der Hand erwischt wird, ein Messer in den Rücken riskiert. Hingegen war ich mehr als einmal im Iran, im Irak, in Marokko, und das Bild, das sich meinen Augen bot, war stets das gleiche. Der erste Eindruck, den eine westliche Frau gewinnt, wenn sie in streng muselmanischen Ländern wie Pakistan ankommt, ist der, die einzige Überlebende einer Sintflut zu sein, in der alle andern Frauen der Welt ertrunken sind. Nicht eine einzige Frau ist in dem Autobus, der dich um acht Uhr abends vom Flughafen zum Hotel bringt. Nicht eine einzige Frau ist in der Hotelhalle, noch im Treppenaufgang, noch im Fahrstuhl, noch im Korridor bis zu dem Zimmer, in dem du schläfst. Der Dienstbote, der dein Zimmer in Ordnung hält, ist ein Mann. Jener, der deine Kleider 28
bügelt und dir behilflich ist, die Knöpfe im Rücken deines Kleides zu schließen, ist ein Mann. Jener, der dich im Restaurant bedient, ist ein Mann. Die Stimme in der Telephonzentrale ist eine Männerstimme, kurz, du begegnest keiner Frau, außer du gehst auf die Straße. Auf der Straße schreiten sie dahin, im Gefängnis ihres Purdah, wie Phantome eines Alptraums. Und der Alptraum dieser Stoff pakete ohne Gesicht, ohne Körper und ohne Stimme verfolgt dich überall, bis du als europäische Frau mit deinem unbedeckten Gesicht, deinen unbedeckten Armen und Beinen dich wie von tausend Augen ausgezogen und tausend Gefahren ausgesetzt fühlst. Es sind Gefahren, die nicht existieren: Wer es wagt, eine Frau zu berühren, ihr zu folgen oder eine galante Schmeichelei zu sagen, wird aufs schwerste bestraft. In den Gefängnissen von Karachi, wie in fast allen Gefängnissen muselmanischer Länder, übt sich der Henker täglich in einem Peitschenhieb auf eine winzige Scheibe; sie entspricht einem bestimmten menschlichen Rückenwirbel; über einen Mann, der im Verbrechen der Aggression oder der Belästigung einer Frau rückfällig wird, verhängt man nämlich keine Gefängnisstrafe. Man bestraft ihn mit eben jenem Peitschenhieb: ein trockener Schlag auf diesen bestimmten Rükkenwirbel, und der Rückfällige wird impotent. Es gibt auch keinen »Pappagallismus«, keine Aufdringlichkeit Frauen gegenüber, im Islam; der förmliche Respekt vor der Frau ist ein unbedingter. Und doch können sich Frauen weder in einer Moschee, noch in einer Straßenbahn, noch in einem Kino, noch bei einem Empfang unter die Männer mischen. Zu Empfängen nehmen die modernsten unter den Män29
nern zwar ihre Frauen mit, aber kaum am Tore angekommen, gehen sie in die Räume der Männer und die Frauen in die Frauengemächer. Einmal wollte ich in eine Straßenbahn einsteigen, wurde aber entrüstet zurückgewiesen: ich war ins Männerabteil eingedrungen. Ich mußte aussteigen und im Frauenabteil Platz nehmen, das eine einzige Bank hinter dem Rücken des Wagenführers umfaßt und von den Bänken der Männer durch ein dichtes Gitter getrennt ist und wo die Frauen im Purdah dich durch die kleinen Löcher ihres Leintuches mit vorwurfsvollen Blicken betrachten, weil dein Gesicht nackt ist und deine Beine nackt sind und das die Männer und Allah beleidigt. Vor allem betrachten sie dich dann mit diesem Vorwurf in den Augen, wenn du allein durch die Straßen gehst; auf der Straße gehen Muselmaninnen nur sehr selten einzeln. Im allgemeinen sind sie in Gruppen, mit Kindern, mit dem Ehemann, der drei Schritte vorausgeht, damit man deutlich sehe, daß er der Herr ist und sie ihm zu folgen hat. Manchmal entziehen sich selbst die studierenden Mädchen, die aufgeschlossensten, dieser Regel nicht. Da kommen sie aus dem Lyzeum, wie Nonnen anzusehen, und es sind Mädchen, die alles wissen über Einstein oder Leonardo da Vinci, aber sobald du dich ihnen näherst oder sie zu photographieren versuchst, drängen sie sich gleich in Gruppen zusammen und senken die Köpfe, wie die Schafe, wenn sie sich fürchten. In einem Lande, das sich dafür einsetzt, die Frauen zum Ablegen des Schleiers zu bewegen, indem es erklärt, er hindere die Haut am Atmen, er übertrage Krankheiten und schade der Sehkraft, ist der Anachronismus grausam. Noch 30
immer sieht man auf der Straße Autos mit Vorhängen: die Autos der reichsten Muselmaninnen, denen es nicht genügt, den Kopf im Purdah zu verbergen. In den Häusern, zu denen man übrigens äußerst schwer Zutritt bekommt, stößt man selten auf Frauen; denn im Hause tragen sie den Schleier nicht, und wenn man zufällig oder absichtlich eine falsche Tür aufmacht und die Frauengemächer betritt, wird man von einem Konzert schrillen Gekreisches empfangen. Eine Bekannte von mir in Karachi, deren Gärtner seit drei Jahren in ihrem Dienste steht, bestätigte mir, seine Frau noch nie ohne Schleier gesehen zu haben. »Ich glaube«, sagte sie, »diese Frau wurde überhaupt noch niemals von der Sonne beschienen.« Es ist viel Sonne über den islamischen Ländern: eine weiße, heftige, blendende Sonne. Doch die muselmanischen Frauen sehen sie nie; ihre Augen sind ans Dunkel gewöhnt wie die Augen der Maulwürfe. Aus dem Dunkel des mütterlichen Schoßes gelangen sie ins Dunkel des väterlichen Hauses, von dort ins Dunkel des ehelichen Heims, von dort ins Dunkel des Grabes. Und in diesem Dunkel werden sie von niemandem beachtet. Einen Muselman über seine Frau zu befragen, ist fast, als befragte man ihn über ein heimliches Laster, und als ich eines Tages zum Chefredakteur einer pakistanischen Zeitung sagte: »Ich bin gekommen, um Ihnen einige Fragen über das Problem der muselmanischen Frauen zu stellen«, brauste er auf: »Was für ein Problem? Es gibt kein Problem der muselmanischen Frauen.« Dann drückte er mir einen Packen maschinenbeschriebener Blätter in die Hand, auf denen von den Kleidern der muselmanischen Frauen, dem Schmuck der mu31
selmanischen Frauen, dem Schminken der muselmanischen Frauen die Rede war, davon, wie sie Kokosöl anwenden, um die Haare zu glänzen, Henna, um Handflächen und Fußsohlen rot zu bemalen, Antimon mit Rosenwasser vermischen, um die Wimpern zu färben. »Hier«, sagte er, »hier steht alles über die muselmanischen Frauen.« Nun fragte ich ihn, wie hoch der Prozentsatz des Analphabetentums unter den islamischen Frauen sei, und er gab wütend zurück: »Wozu sollten die Frauen lesen und schreiben lernen? Und wem sollten sie schreiben? Der einzige Mensch, dem sie schreiben könnten, ist ihr Mann. Und wenn doch der Mann mit ihnen zusammenlebt, was brauchen sie ihm dann einen Brief zu schicken?« Es sind tausenddreihundert Jahre vergangen, seit Mohammed in der heißen Wüste Arabiens sprach, und wiewohl sich unter den Frauen des Islam etwas Neues tut, respektiert der Großteil dieser Frauen doch immer noch seine Gesetze, als hätte die Zeit stillgestanden. Es stimmt zwar, daß in Tunesien Präsident Bourgiba Männer, die mehr als eine Frau haben, zu Gefängnisstrafen verurteilt und die jungen Frauen ermuntert, den Schleier abzulegen, aber, wie die Wochenzeitschrift ›L’Action‹ schreibt, »die Eltern schämen sich ihrer«. Es stimmt zwar, daß an der American University von Beirut und im Beirut College for Women die Mädchen Blue Jeans tragen, Wasserski fahren und Rock ’n’ Roll tanzen, aber, wie das ›Time Magazine‹ schreibt, es kann ohne weiteres vorkommen, daß man ein Gespräch folgender Art zwischen zwei Studenten belauscht: »Würdest du ein Mädchen heiraten, das schon mit einem andern im Kino war?« »Nein, ich glaube wirklich nicht.« Es stimmt 32
zwar, daß in Nigeria eine extravagante Frau namens Zeinab Wali im Radio eine wöchentliche Sendung durchführt, in der sie die Frauen auffordert, aus den Häusern zu gehen, um die Bäume, die Berge, die Schmetterlinge kennenzulernen. Aber als die Frau eines Ministers aus Kaduna ihren Mann um die Erlaubnis bat, auszugehen, um die Bäume, die Berge, die Schmetterlinge kennenzulernen, berief der Mann einen Familienrat ein, in dem beschlossen wurde, sie dürfe erst nach fünf Uhr abends ausgehen: wenn es noch hell genug ist, um Lebewesen und Gegenstände zu erkennen, aber das sündige Sonnenlicht sich der Dämmerung zuwendet. Es stimmt zwar, daß es in Ägypten weibliche Hilfssoldaten gibt, aber Nasser hatte bisher noch nicht den Mut, die Vielweiberei abzuschaffen, weil er nur zu gut weiß, daß sich dann die Männer gegen ihn wenden würden. Wenn die Polygamie verschwindet, wird es bestimmt nicht seinetwegen sein, sondern weil der Unterhalt von mehreren Frauen zu kostspielig wird. Nicht einmal so einflußreichen Frauen wie der Prinzessin Aisha in Marokko gelingt es, diese seit Jahrhunderten unerschütterten Gesetze umzustoßen. Einmal, in Tanger, habe ich Aisha gesehen. Sie saß, keck in Rock und Bluse, am Steuer eines offenen Wagens, und die Marokkanerinnen gerieten vor Begeisterung außer sich: einige warfen ihren Umhang weg, andere drängten sich so nahe heran, daß sie beinahe überfahren wurden, und ein französischer Journalist erzählte mir, das sei noch gar nichts im Vergleich zu dem, was sich vor ein paar Jahren abgespielt habe, als Aisha im Innenhof der Kasba von Tanger in einem blauen Kleid von Lanvin auf einen Balkon getreten war und folgende Anspra33
che gehalten hatte: »Ich weiß, welche Sitten und Vorurteile auf uns lasten; wir müssen sie abschütteln. Die moderne Kultur ruft uns, und es ist unerläßlich für das Leben unserer Nation, daß wir es unseren abendländischen Schwestern nachtun, die sich am Fortschritt ihrer Länder beteiligen.« Am folgenden Tage aber, erzählte der französische Journalist, hatte Sidi Mohammed Tazi, der Mandub von Tanger, befohlen, daß alle Marokkanerinnen, die europäische Kleider trügen, verhaftet würden: »Was sich für Prinzessinnen schickt, schickt sich nicht auch für die andern Frauen. Wenn unsere Frauen abendländische Kleider anziehen, werden sie bald auch zu trinken anfangen und dann zu tanzen, und schließlich gehen sie noch nachts mit den Männern im Küstensand schlafen.« Als Photographien von Aisha im Badekostüm am Strand von Rabat veröffentlicht wurden, bezeichnete El Glaoui von Marrakesch sie als beleidigend, und Aisha trug mit ihren Reithosen, ihren kurzen Tennisröckchen und ihren Benny-Goodman-Platten sicher nicht wenig zum Exil des Sultans in Korsika und später in Madagaskar bei. Als Aisha zurückkehrte, von Tausenden von Frauen stürmisch gefeiert, von denen die mutigsten sich zwei Jahre lang ihren Männern verweigert hatten, »um keine Kinder der Demütigung zu gebären«, mußte sie in ihren Reden sehr viel vorsichtiger sein. »Die Emanzipation der Frauen«, sagte sie und trug dabei einen schweren Umhang, »darf nicht so brüsk geschehen wie ein chirurgischer Eingriff. Der Schleier an sich ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß es einer Frau freisteht, ihn zu tragen oder nicht.« Ja, sie sind die unglücklichsten Frauen der Welt, diese Frauen mit dem Schleier, und das Paradoxe daran ist, daß 34
sie es meist gar nicht wissen, weil sie nicht wissen, was außerhalb des Lakens existiert, das sie gefangenhält. Sie leiden bloß einfach, wie zum Beispiel die »Mutter des Abwesenden«, die ich eines Vormittags in Karachi kennenlernte. Und sie wagen es nicht einmal, sich dagegen aufzulehnen. An jenem Vormittag hatte ich die Begum Tazeen Faridi aufgesucht, die in Karachi die All Pakistan Women Association leitet. Tazeen Faridi ist eine fröhliche Dame, goldbraun wie ein Renettenapfel, und sie pflegt von sich selber zu sagen, sie sei »eine Muselmanin, die keinen Schleier trägt und einen Familiennamen besitzt«. Sie gehört zu jener kleinen Gruppe von Frauen, die in diesem Lande etwas gelten, wie die Begum Liaquat Ali Khan, Botschafterin in Holland, und die Prinzessin Abida Sultan, Botschafterin in Brasilien. Sie ist mit einem Mann verheiratet, der sie schätzt und bewundert, und hat ein Büro, wo klugerweise weder Aufschriften noch Aktenmappen sichtbar sind, an dem aber die Muselmanen, die Bescheid wissen, mit derselben Grimasse des Abscheus vorübergehen, die sie als Verächter des Alkohols einem Glas Whisky zollen würden. Das Hauptziel in Tazeen Faridis Leben ist der Fortschritt der muselmanischen Frauen: mit Gesetzbuch und Koran in der Hand kämpft sie wie eine wütende Katze gegen die Vielweiberei und ist so aufgeschlossen, daß sie vor längerer Zeit einmal sogar versuchte, eine Miss Pakistan zur Wahl der Miss Universum nach Long Beach zu schikken. Die Geschichte dieser Wahl verdient es, erzählt zu werden: Die kühnen jungen Mädchen, die sich bereiterklärten, am Wettbewerb teilzunehmen, defilierten zuerst im Badekostüm vor zwölf muselmanischen Damen und dann 35
im Purdah vor zwölf muselmanischen Herren. Was diese zwölf muselmanischen Herren gesehen haben, wird ewig ein Geheimnis bleiben: der Purdah läßt nicht einmal erraten, ob seine Trägerin dick oder mager ist. Doch sie verließen sich auf Tazeen Faridi, die darauf schwor, daß die im Leintuch verborgene Auserwählte wunderschön sei und nach Long Beach reisen könne. Allein, sie reiste nicht. Die ›Times‹ von Karachi deckte auf, daß die Begum eine wichtige Kleinigkeit verschwiegen hatte, daß nämlich Miss Pakistan in Long Beach nicht im Purdah, sondern im Badekostüm defilieren würde – um ein Haar wäre die Begum gelyncht worden. Ich saß also im Gespräch mit Tazeen Faridi in deren kleinem, mit keinerlei unnötigen Kennzeichen versehenem Büro, als die »Mutter des Abwesenden« hereinkam. Beim Eintreten blickte sie mißtrauisch über die Schulter zurück, als fürchtete sie, von einer Horde Mullahs, die sie rauben wollten, verfolgt zu werden, und ihr schwarzer Burka hatte nicht einmal Augenlöcher; wie sie es anstellte, ohne Stolpern voranzukommen, weiß ich nicht. »Fort mit diesem Fetzen«, sagte Tazeen Faridi, und da die andere zaudernd zurückwich, riß sie ihn mit einer entschlossenen Bewegung weg. Ich hielt den Atem an wegen des Gestanks, der darunter hervorquoll, und schaute hin. Unter dem Tuch kam eine Frau um die vierzig zum Vorschein, dunkel und verschwitzt, bedeckt mit Schmuck und blauen Flecken. Der größte blaue Fleck war über ihrem linken Auge, und die eine Lippe war aufgeschwollen. Mit einem Seidentuch tupfte sie sich diese Lippe und wagte nicht, etwas zu sagen. Dann, ich weiß nicht wie, sprach sie doch. 36
Und hier gebe ich Wort für Wort das Gesagte wieder. Ich habe auch nicht ein Komma von dem geändert, was Tazeen Faridi mir langsam auf Englisch diktierte. Und Tazeen ist viel zu aufrichtig, so etwas zu erfinden. »Ich war vierzehn Jahre alt und er zweiunddreißig. Die Tanten und Cousinen sagten mir, seine Nase sei von den Pocken abgefressen, aber er nahm mich für dreitausend Rupien, und häßlich, wie ich war, konnte ich nicht mehr verlangen. Sie tauschten Süßigkeiten und Geschenke aus, unterschrieben den Vertrag, und er nahm mich mit nach Hause. Er gab mir einen dreizehnjährigen Jungen zu meiner Bewachung, doch schloß er sich immer mit dem Jungen ins Zimmer ein, und mir schenkte er keine Beachtung. Schließlich nahm er mich doch, aber als der Moment der Geburt kam, ging es mir nicht gut. Die Tanten und Cousinen suchten eine Ärztin, aber die war nicht da. Es gab nur einen Arzt, aber er wollte nicht, daß ich mich vor dem Arzt auszog, und das Kind starb: ich wurde die ›Mutter des Abwesenden‹, und er war großmütig, denn er jagte mich nicht fort. Doch nahm er sich eine andere Frau, eine jüngere, und als sie ein Kind gebar, mußte ich ihr helfen. Er sorgte für mich ebenso wie für sie und schenkte mir die gleichen Schmuckstücke, genau die gleichen, aber er schlug mich. Die Ärztin kam und sagte, ich müßte die Scheidung verlangen. Ich sagte, ›gut, aber ich habe kein Geld, einen Prozeß zu führen, und dann, was soll eine geschiedene Frau machen?‹ Jetzt hat er ein anderes Mädchen auserwählt. Sie kostet dreißigtausend Rupien, denn sie ist schön, und er will meine dreitausend Rupien zurückhaben, aber die Tanten und Cousinen haben sie nicht mehr. Er sagt auch, 37
er habe nicht genug Geld, um für drei Frauen aufzukommen, und überhaupt sei ich alt. So hat er gesagt: ›Talàk, Talàk, Talàk‹ und hat mich verstoßen. Die Ärztin hat gesagt, ich soll hierherkommen. Ich bin gekommen. Aber wo soll ich jetzt hingehen, was soll ich tun?« Wie ein Arzt, der sich vom Bauchweh seiner Patienten nicht erschüttern läßt, zeigte Tazeen Faridi keinerlei Gemütsbewegung bei dieser Erzählung, sondern versprach der Frau, sie würde versuchen, sie in einem Institut unterzubringen oder in einer Familie, wo man Dienstboten benötigte. Das beste würde natürlich ein Witwenheim sein, aber sie war ja keine Witwe und durfte nicht darauf hoffen. Dann schickte sie sie fort und sagte, sie sollte, wenn nötig, wiederkommen, und mir erklärte sie, sie habe sie fortgeschickt, weil in der muselmanischen Welt eine Frau nicht allein leben kann, auch nicht, wenn sie arbeitet. Wenn sie allein lebt, ist sie eine Verworfene. »Deshalb gibt es keine ledigen Frauen, und das Verstoßenwerden bedeutet den zivilen Tod. Nach dem neuen Gesetz kann die Frau zwar die Scheidung verlangen, aber das heißt, daß sie einen Prozeß und damit einen Skandal auf sich nehmen muß. Der Mann dagegen kann ›Talàk, Talàk, Talàk‹ sagen, ohne Prozeß, und ist wieder frei wie ein Sperling. Er ist nicht einmal verpflichtet, Alimente zu zahlen. Verstehen Sie?« »Nein. Das verstehe ich nicht«, entgegnete ich. »Ist es denn möglich, daß diese Leute einander überhaupt nicht gernhaben?« »Manchmal schon«, sagte Tazeen Faridi, »aber sie schämen sich, es zu sagen, als wäre es eine Schuld. Sehen Sie, es gibt bei uns keine Liebesgeschichten.« 38
»Das glaube ich nicht«, rief ich aus. »Versuchen Sie doch, sich an eine Liebesgeschichte zu erinnern.« »Raiza«, rief Tazeen Faridi ihre Sekretärin. »Kennst du eine Liebesgeschichte?« »Tausendundeine Nacht«, versetzte Raiza lachend. »Nein. Erzählen Sie mir eine wahre Liebesgeschichte«, beharrte ich. »Raiza«, sagte Tazeen Faridi, »meine italienische Freundin will eine wahre Liebesgeschichte.« Und sie lachte. »Das ist viel verlangt«, sagte Raiza. Und sie lachte. »Lassen Sie mich nachdenken.« »Ich hab’s!« rief Tazeen Faridi. »Da gibt es doch die Geschichte von dem Sik.« »Ich will nicht die Geschichte von einem Sik. Ich will die Geschichte eines Muselmanen und einer Muselmanin. Eine wahre Liebesgeschichte«, wiederholte ich. »Aber der Sik wurde Muselman«, sagte Tazeen Faridi, »soviel ich weiß.« Sie konnte sich nicht genau an die Geschichte erinnern, und so mußte sie zwei oder drei Freundinnen anrufen, denen es schließlich unter Scherzen und Lachen, als handelte es sich um einen Witz, gelang, sie zusammenzuflicken und mir zu erzählen, wobei sie aber unterstrichen, daß der Held ein Mann namens Boota Singh war und nicht etwa eine Frau. Und die Geschichte läuft, kurz zusammengefaßt, so: Boota Singh war ein Sik von dreiunddreißig Jahren und lebte in Kalkutta. Er verliebte sich in Mohinder, eine Muselmanin von elf Jahren, und heiratete sie um einen Preis von tausendfünfhundert Rupien. Boota Singh und Mohinder lebten sechs Jahre lang zusammen und hat39
ten auch zwei Kinder. Dann kam das unter dem Namen The Recovery of Abducted Women Act bekannte pakistanische Gesetz heraus, und Mohinder mußte ohne ihren Boota Singh nach Pakistan zurückkehren. Boota Singh liebte Mohinder; er wurde Muselman und suchte ein Jahr später Mohinder in Lahore auf. In der Zwischenzeit aber war Mohinder um ganze zehntausend Rupien an einen andern verheiratet worden und wollte ihren Boota Singh nicht sehen. Da ging Boota Singh zum Bahnhof und warf sich unter einen Zug. Ich sagte, das sei eine wunderschöne Geschichte, aber Tazeen schüttelte den Köpf und erwiderte, es sei eine alberne Geschichte. Raiza setzte hinzu: »Nur ein Sik kann so dumm sein, sich wegen einer Frau unter den Zug zu werfen. Es gibt eine Menge Frauen auf der Welt, er hätte doch einfach eine andere suchen können.« Ich machte nachher den Versuch, allen Muselmaninnen, die ich in Karachi kannte, die Geschichte zu erzählen, und alle fanden, es sei eine alberne Geschichte: nicht umsonst hatten die Engländer sie unter dem Titel ›Boota Singh, die Liebesgeschichte des Jahrhunderts‹ verfilmen wollen. Dann hatten sie es aber wegen der Hitze bleiben lassen. Ja, die Luft wurde einem knapp in Karachi, wo die Frauen über eine tragische Liebesgeschichte lachen. Und noch manches andere begann mich zu ärgern: die Geier, der Herr Zarabi Ahmed Hussan. Die Geier wurden immer anmaßender; es hatte eine Epidemie geherrscht, und nachdem sie die Leichen der Parsen auf den »Türmen des Schweigens« bis auf die Knochen abgefressen hatten, kamen sie nun auf die Bäume des Beach Luxury Hotels geflogen, um 40
darüber zu diskutieren. Herr Zarabi Ahmed Hussan, der bei der Hochzeit der namenlosen Braut so freundlich gewesen war, suchte ein Entgelt für seine Freundlichkeit und klopfte fast jede Nacht an meine Zimmertür. Da es mir nicht gelang, ein anderes Hotel oder wenigstens ein anderes Zimmer zu finden, war ich gezwungen, mit Duilio zu tauschen. Duilio öff nete die Tür, gab einen entsetzlichen Schrei von sich, Herr Zarabi Ahmed Hussan nahm Reißaus. Dann aber durchschaute er den Tausch, und in der folgenden Nacht klopfte er beim richtigen Zimmer an, und ich mußte wieder wechseln. Der Direktor des Beach Luxury Hotels lehnte es ab, einzugreifen; eines Morgens, nachdem ich vor Angst und Wut in Schweiß geraten war, lief ich zur Bank, um unser Geld abzuheben, und bereitete eine Abreise vor, die schon eher einer Flucht gleichkam. Der Bankbeamte war ein Muselman, der Frauen nicht berücksichtigte, von welcher Farbe sie auch seien. Ehe er sich dazu entschließen konnte, mir die Anweisung auszuhändigen, wollte er alles mögliche von mir wissen und ließ mich drei Stunden und fünfunddreißig Minuten warten. Nach der dritten Stunde und fünfunddreißigsten Minute kam Duilio, um nachzusehen, ob man mich etwa verhaftet habe, der Beamte sprang auf die Füße, sagte »Guten Morgen, Sir« und händigte ihm die Anweisung aus, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Was sich nachher im Hotel zutrug, war noch ärger, aber wenigstens dazu angetan, uns die verlorene gute Laune wiederzugeben. Unser Gepäck bestand aus einer Tasche, vier Koffern, den Photogeräten und der Schreibmaschine, einem Pelzmantel, den ich später in Japan brauchen würde, und Duilios Kriminalroman. 41
In Anbetracht dessen, daß Duilio seine Photoapparate und seine kostbare Kühltasche und ich meine Schreibmaschine stets selber trugen, waren drei Dienstmänner mehr als genug, um unser Gepäck aus den Zimmern zum Taxi zu bringen. Es kamen ihrer zwölf, einer hinter dem andern wie Lebensmittelträger bei einer Safari. Wie sie es fertigbrachten, die vier Koffer so zu verteilen, daß jeder so tun konnte, als trüge er etwas und sei infolgedessen unentbehrlich, das ist ein mathematisches Problem, dessen Lösung mir nicht gelang. Ich weiß nur, daß jeder aussah, als trage er einen Koffer, der elfte trug den Pelzmantel, und der zwölfte trug, als wär’s ein silbernes Tablett, den Kriminalroman. Sie luden die Koffer so auf den Gepäckträger des Taxis, daß sie eine halbe Stunde dafür brauchten, dann stellten sie sich wieder in einer Reihe auf zur Entgegennahme des Trinkgeldes. Wir hatten zuwenig Kleingeld: der zwölfte ging leer aus. Dieser warf in dem Augenblick, als wir den Taxifahrer anwiesen, zum Flughafen zu fahren, alles wieder herunter, was die andern in einer halben Stunde hinaufgehievt hatten, sagte: »Look«, seht, was ich gemacht habe, spuckte noch drauf und ging.
II
Ein Geruch von Jasmin und verbrannten Exkrementen lag schwer in der Luft, der seltsame Geruch Indiens; von einem Tempel klang der Klagegesang der Priester herüber, die heute ihre Gebete mit dem Mikrophon am Munde zu singen pflegen, während ein Lautsprecher ihre Stimmen draußen wiedergibt. Die Frauen mit den unverschleierten Gesichtern waren in grellbunte Farben gekleidet und sahen aus wie Schmetterlinge mit nur einem Flügel. Der Flügel, das war der lose Zipfel des Sari, der ihre soliden Gestalten umwand wie ein Kokon die Raupe. Die Männer waren alle weißgekleidet, und ihre schönen Augen begegneten einem freundlich und sanft – der Alpdruck war vorüber. In New Delhi konnte man atmen. Es kam einem alles so beruhigend vor. Abends, im Night Club des Ashoha-Hotels, erschienen die reichen Inderinnen mit ihren Männern zum Tanzen. Sie waren selbstverständlich im Sari, aber an der Seite ihrer Männer mit Turban und Bart trugen sie eine schon fast vergessene Sorglosigkeit zur Schau. Manchmal zupften sie sie scherzend am Bart, und nach einem Tanz setzten sie sich plaudernd zu einer Orangeade. In New Delhi ist Prohibition, und wenn man etwas Alkoholisches trinken will, muß man sich im Zimmer einschließen, zusammen mit dem Gecko, der einem von der Decke herab mit sanftem Vorwurf zuschaut. Der Gecko im Zimmer erspart das DDT, denn er stürzt sich wie ein Pfeil auf Stechmük43
ken und Fliegen; zuerst fühlt man sich dadurch ein wenig gestört, dann gewöhnt man sich so sehr daran, daß man, wenn man ihn einmal aus den Augen verliert, ihn besorgt hinter jedem Möbelstück suchen geht, als hätte man einen Freund verloren. Gleichzeitig mit den Menschen, die einem hier nicht mehr feindlich gegenüberstehen, lernt man in Indien auch die Tiere lieben, denn Tiere gibt es überall, wie Frauen auch, und Tiere wie Frauen werden geachtet. Nicht einmal die Geier fallen einem hier zur Last. Man gewöhnt sich nach und nach an ihre Schreie, wie man sich an die Trägheit gewöhnt, die alles einschläfert, an das ständige Verschieben alles dessen, was man heute tun könnte, auf morgen, an das langsame Vertropfen der Zeit, die dich einfach ignoriert, sobald du Eile hast und von andern Eile verlangst. Seit sieben Tagen wartete ich darauf, der bedeutendsten Frau Indiens zu begegnen, und der Brahmane, der mir dieses Zusammentreffen versprochen hatte, mahnte unerschütterlich, man müsse eben Geduld haben: es gebe angesehene Politiker, die manchmal, nur um ihr guten Tag zu sagen, sogar einen Monat warten müßten. Doch eines Nachmittags sagte er mir, sie erwarte mich in einer halben Stunde in ihrem Haus auf dem Hügel. Wir riefen also Rabindah, unseren Sikchauffeur, und eilten aller Langsamkeit zum Trotz zu ihr. Rabindah besaß ein Gesicht wie aus Holz geschnitzt, mit einem großen Bart, der so grau war wie sein Turban, und ein Taxi, das ungefähr soviel Ähnlichkeit mit einem Taxi aufwies, wie ein Fahrrad mit einem Flugzeug. Tatsächlich fehlten ihm die Motorhaube, ein halber Sitz und die Fenster, und um es in Gang zu bringen, 44
mußte man an einer Schnur ziehen. Aber Rabindah war unser Freund seit dem Tage, da er uns eine ganze Reihe echter, sauberer Taxis vor der Nase weggeschnappt hatte, und vor allem fuhr er wirklich rasch. Er flitzte wie ein Aal zwischen Straßenbahnen und Fahrrädern, heiligen Kühen und Kindern hindurch, und bald waren wir auf dem Hügel, wo ein bewaff netes Pikett das Haus der bedeutendsten Frau Indiens bewachte, die da auf einem Atlassessel saß und mich an meine Großmutter erinnerte, wenn diese, um ans Meer zu gehen, weiße Kleider anzog und den Kopf mit einem weißen Tuch vor der Sonne schützte. Sie trug nämlich einen Sari aus weißem Leinen, dessen Ende über den Kopf mit den bereits weißen Haaren gezogen war, und während des Gespräches streichelte sie mir die Wange, wie meine Großmutter es tat, wenn sie mir zeigen wollte, daß sie mir gut war. Alles an ihr war anmutig: die tiefen Falten, die ihr gütiges Gesicht durchzogen, die von der Finsternis der Gefängnisse und vom Mangel an roten Blutkörperchen gebleichten Lippen, die Hände mit den dicken bläulichen Adern und schließlich auch das Haus, in dem sie lebte, mit den Blumen, die sie in der Nacht pflegt, weil sie tagsüber nie Zeit hat, den Vögeln, die in nächster Nähe ihres Bettes nisten, den Porträts von Gandhi, dem sie sechzehn Jahre lang als die bescheidenste aller Sekretärinnen diente, obwohl sie die Rajkumari Amrit Kaur war, die einzige Tochter des Radschas von Kapurthala, in dessen Marmorpalast sie geboren und unter den Ergebenheitsbezeugungen von dreihundert Dienern aufgewachsen war. Ihr Anblick war so wohltuend wie das Schlafen in sauberen, lavendel45
duftenden Leintüchern; es schien fast unmöglich, daß das die gleiche zweiundsiebzigjährige Frau sein sollte, von der man mir so viel erzählt und großartige Dinge berichtet hatte: daß sie 1928 für Indien an der »Konferenz am Runden Tisch« teilgenommen hatte, daß sie 1935 von den Engländern als öffentliche Gefahr betrachtet und für fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt worden war, daß sie bis 1947 Gesundheits- und Transportminister gewesen und jetzt Senatorin auf Lebenszeit und Präsidentin von mindestens dreißig nationalen und internationalen Gesellschaften war, und daß, wenn sie im Senat erschien, alle aufstanden und die Hand aufs Herz legten, denn indem man ihr Ehre erwies, ehrte man zugleich das Andenken Gandhis, dessen Asche sie nach dem Verbrennen gesammelt und unter Tränen in den Ganges gestreut hatte. Alle hatten geweint an jenem Tage, aber die Rajkumari noch etwas mehr als die andern, weil sie in dem Moment, als die Kugel eines Wahnsinnigen das Herz des Mannes durchbohrte, den sie verehrt hatte wie die Jünger Christus, nicht in der Nähe war, um ihn zu beschützen: sie hatte in einer anderen Stadt eine politische Versammlung abgehalten. Sie kam nie darüber hinweg, und auch dafür liebten die Inder sie; als ich Rabindah erklärt hatte, zu wem er uns führen sollte, war er noch schneller gefahren als sonst und hatte sogar beinahe eine heilige Kuh totgefahren, die unter Mißachtung des grünen Ampellichtes die Straße versperrte. »Mach daß du wegkommst, du Satansbraten von einer Kuh, wo uns doch die Rajkumari erwartet!« Ich erzählte ihr das, und sie lachte leise. »Sehen Sie, liebes Kind, ich bin Inderin und darüber hinaus Christin. 46
Deshalb betrachte ich alle Kühe als Geschöpfe Gottes. Ich bin außerdem Vegetarierin. Man kann mir also gewiß nicht nachsagen, ich hätte keine Liebe zu den Tieren. Aber an dem Tag, an dem die Inder es lernen werden, den Kühen einen Fußtritt zu versetzen, wenn sie sich mitten auf der Straße niederlassen, werde ich ruhig meine Augen schließen können. Das Schlimme bei uns ist, daß wir zu viele Tabus haben, und zwar nicht nur in bezug auf die Heiligkeit der Kühe. Gerade heute war ich zum Beispiel mit einer Gruppe junger Mädchen zusammen, die im Sari Tennis spielten. Sie wissen doch, nicht wahr, daß ich Präsidentin der All India Tennis Association bin? Darauf lege ich nämlich großen Wert: ich bin ein sportlicher Typ, was glauben Sie denn? Ich spreche also mit diesen Mädchen, und dann fangen sie an, mich um Autogramme zu bestürmen. Ah, nein, sage ich. Autogramme gibt’s nicht, solange ihr im Sari Tennis spielt. Tennis spielt man doch in kurzen Hosen. ›Aber unsere Eltern sind dagegen‹, jammern sie. So seid eben ungehorsam, entgegne ich. Wie wollte man Revolutionen durchführen, wenn man nicht ungehorsam ist?« Sie hatte eine belegte und gleichzeitig entschiedene Stimme. Was hatte man mir denn da erzählt über die Inderin, die als Symbol der Unterwerfung und des Gehorsams gilt und sich in der großen Kraft, Recht und Unrecht hinzunehmen, mit keiner anderen Frau der Welt vergleichen läßt?, fragte ich sie. Die Rajkumari gab mir einen kleinen Nasenstüber: »O nein, liebes Kind. Erwarten Sie von mir nicht, daß ich über diese Albernheiten spreche. Indien hat sich verändert, und die Inderinnen sind nicht mehr so, wie ihr in Europa sie euch vorstellt. Sie sind es seit mindestens 47
zwanzig Jahren nicht mehr, seit der Revolution Gandhis. Sie wissen doch, nicht wahr, was Gandhis Inderinnen 1930 machten? Wenn Sie es nämlich nicht wissen, können Sie gar nicht über dieses Land schreiben.« Und ob ich es wußte! Betraf es doch die Rajkumari selber unmittelbar. Eine Inderin namens Kamaladevi Chattopadhyay hatte es mir erzählt, und es war eine ungewöhnliche und schreckliche Geschichte, wie alle Heldengeschichten, die die Welt befreien. 1930 gab es die Salzsteuer, und eines Morgens beschloß Gandhi, die Revolution auszulösen, indem er den Salz-Satyagraha proklamierte. Satyagraha heißt offiziell: passiver Widerstand, Kampf ohne Blutvergießen. In der Praxis bedeutete es Rebellion bis aufs Blut. Gandhi hatte die Frauen nicht offen aufgefordert, daran teilzunehmen, aber als am 6. April der Satyagraha ausbrach, stiegen Millionen von Frauen in die Straßen der indischen Dörfer herab, jede trug einen bronzenen oder tönernen Salzkrug in der Hand und rief: »Wir haben das Gesetz des Salzes zerschlagen und sind frei. Wer kauft das Salz der Freiheit?« Sie gingen überall hin, in die Gaststätten und in die Tempel, in Bombay drangen sie in den Hohen Gerichtshof ein, wo gerade der Prozeß gegen einen Rebellen stattfand, und streckten den englischen Richtern mit diesem poetischen Ruf: »Wer kauft das Salz der Freiheit?« ihre Krüge entgegen. Es war sehr heiß an jenem Tage; die Regenzeit hatte eingesetzt. Die Inder blieben stehen und kauften das Salz der Freiheit, der eine gab einen Anna für eine Prise Salz, der andere zehntausend Rupien, und bei jeder verkauften Prise legten die Frauen zum Dank die Finger an die Lippen. Auf 48
diese Weise begann sie bald der Durst zu quälen, und die Polizisten bemerkten das, und um die Frauen noch mehr zu quälen, mischten sie sich mit Flaschen voll Eiswasser unter sie und schütteten das Wasser auf die Erde. Die Rajkumari Amrit Kaur konnte vor Durst die Lippen nicht mehr bewegen; in ihrem Marmorpalast in Kapurthala hatte es nie an Wasser gemangelt, denn er ist über einer Quelle erbaut. Die Rajkumari besaß auch nicht die Widerstandskraft der armen Frauen, die in ihren Dörfern aus Mist und Stroh aufgewachsen waren. Sie starrte die Eiswasserflaschen an, schluckte leer und röchelte: »Wer will das Salz der Freiheit?« Als die Polizisten sie verhafteten, merkte sie es nicht einmal mehr; sie war ohnmächtig geworden. Die Polizei verhaftete viele Frauen an jenem Tag: dreißigtausend allein in Madras. Dann sperrten sie sie in eingezäunte Lagerplätze, weil die Gefängnisse nicht ausreichten; aber eines Tages ging die Sonne über diesen Lagern und über Indien auf, und die Salzsteuer war aufgehoben. »Ja, Rajkumari. Ich weiß, was geschah«, antwortete ich. »Ich weiß auch, was Gandhi damals sagte. Er sagte: ›Die größte Revolution in einem Lande ist jene, die die Frauen und ihre Lebensbedingungen verändert. Man kann keine Revolution machen ohne die Frauen. Die Frauen mögen körperlich das schwächere Geschlecht sein, moralisch haben sie hundertmal mehr Kraft. Wenn ich ein Freiheitsheer allein aus Frauen bilden könnte, wäre ich sicher, den Krieg in einem Jahr zu gewinnen.‹« »Dann gab es den Satyagraha des Sari«, nickte die Rajkumari. »Ich wette, Sie wissen eine Menge über den Sari: daß er ein fünf Meter langer und 90 Zentimeter breiter Streifen 49
Stoff ist, den man in vierzehn Falten drapiert, ohne einen einzigen Knopf zu verwenden; aber ich wette, Sie wissen nicht, wie die Inderinnen den Sari gegen die Invasion der europäischen Kleider verteidigten und warum.« Sie schüttelte den Kopf, wie jeweils meine Großmutter, wenn von Dummköpfen die Rede war. »Wer behauptet, die Inderinnen trügen den Sari, um die häßlichen Beine zu verdecken, die sie haben, sagt eine dumme Lüge. Gehen Sie nur einmal in unsere Schwimmbäder und werfen Sie einen Blick auf die Inderinnen im Badekostüm; Sie werden sehen, daß sie tadellose Beine besitzen. Haben Sie je die Beine von Dolly Nazir, unserer Meisterschwimmerin, gesehen? Gut. Einmal war ich in Hollywood zu Gast, und jemand fragte mich, ob ich eine gewisse Miss Jane Russell kennenlernen möchte, die, wie man sagte, die schönsten Beine der Welt besitze. ›O. K.‹, sagte ich. Aber als ich die Beine der Miss Jane Russell gesehen hatte, rief ich nur: ›Tut mir leid, meine Herren. Sie haben die Beine von Dolly Nazir nicht gesehen.‹ Nein, liebes Kind. Die Inderinnen führten den Sari-Satyagraha nicht deshalb durch, weil sie Angst hatten, ihre Fesseln zu zeigen. Es ging vielmehr darum, daß die Fabriken in Manchester und in Lancashire die Baumwoll- und Seidefabriken unseres Landes erdrückten. So gingen sie eines Vormittags wieder auf die Straßen, wie damals beim Salz-Satyagraha, blockierten die Eingänge der Verkaufsläden, die europäische Kleider feilboten, und sagten mit ihren sanften Stimmchen: ›Bitte schön, tragen Sie keine europäischen Kleider. Bitte schön, tragen Sie unsere Saris.‹ Es gab Demonstrationsmärsche, wie beim Salz-Satyagraha, in Bombay versuchten sie uns 50
aufzuhalten, indem sie uns mit Pfeffer und Senf bewarfen. Und es gab Verhaftungen. Viele dieser Frauen waren in anderen Umständen, ihre Kinder kamen im Gefängnis zur Welt, vielen gaben sie ganz unglaubliche Namen, wie ›Herr der Schlacht‹, ›Siegen oder Sterben‹, ›Ungehorsam‹, ›Aufruhr‹, ›Kühnheit‹. Können Sie sich das vorstellen, daß eine ansehnliche Zahl junger Inder ›Ungehorsam‹, ›Aufruhr‹ oder ›Kühnheit‹ heißt?« Die Rajkumari erhob sich, führte mich in den Garten, und während sie den Steinen auswich, wie meine Großmutter, stieg sie auf eine Terrasse, wo sie stehenblieb, um auf die Stadt im Licht des Sonnenuntergangs hinabzusehen, und nun sah sie nicht mehr wie eine Großmutter aus, sondern wie eine feierliche Statue, bei der man Kränze niederlegt. »Ach ja, liebes Kind. Die Gefängnisse Indiens waren nie ein Muster an Sauberkeit und Bequemlichkeit, außerdem war es verboten zu lesen, zu schreiben oder irgend etwas zu arbeiten. Und doch bin ich froh, daß ich dort war. Sehen Sie, wenn man weder liest noch schreibt und doch stillsitzt, ist man zum Nachdenken gezwungen. Und wenn man nachdenkt, begreift man schließlich manches.« »Und was haben Sie im Gefängnis begriffen, Rajkumari?« »Ich habe begriffen«, sagte sie, indem sie den mageren, bräunlichen Zeigefinger hob, »ich habe begriffen, daß alle Frauen in der Welt gleich sind und die gleichen Dinge begehren: eine Familie, ein Haus, etwas Geld, um zu leben, die Freiheit. Ich habe begriffen, daß die Inderinnen auf der Suche nach diesen Dingen die dramatischste Veränderung erlebt haben, die je die Frauen eines Landes erlebten. Ich weiß nicht, ob das sie glücklicher oder unglücklicher macht, aber dessen bin 51
ich sicher: sie sind keine harmlosen Schmetterlinge mehr. Sie sind Schmetterlinge aus Stahl.« So sprach die bedeutendste Frau Indiens, und da ich ihr glauben will, sage ich mir immer wieder vor, wie sehr die Inderinnen verändert sind und wie sehr sie recht hat. Wenn ich indessen durch Städte wie New Delhi und Kalkutta streifte, kamen mir doch oft Zweifel. Eine Revolution, sei sie friedlich oder radikal, genügt nicht, das Herz der Menschen zu ändern oder die Ungerechtigkeiten von Jahrhunderten auszulöschen. In den Straßen von Kalkutta, wo des Nachts die Armen auf dem Asphalt schlafen, eng aneinandergedrängt wie Schafe, sterben Frauen noch immer an Hunger und Cholera, brechen ohne einen Klagelaut auf den glühendheißen Gehsteigen zusammen. An den Ufern des Ganges setzen sie noch immer die Leichen ihrer Kinder aus, die die Strömung zu den Fischen auf dem Meeresgrund trägt. In den Tempeln, die geltungssüchtige Milliardäre zur Verherrlichung ihres Familiennamens zu errichten lieben, wie zum Beispiel Herr Birla mit dem Birlatempel in New Delhi, geben die Frauen noch immer die letzten Annas her, um den zweihundertachtzig Millionen Göttern, die Indien terrorisieren, Blumenkränze darzubieten; und gleich darauf eilen sie zum Fluß und tauchen samt den Kleidern hinein, trinken in langen Zügen das faulige Wasser, um nichtexistierende Sünden abzuwaschen. Im Tempel der Göttin Kali, wo ein trockener Baum ohne Blüten oder Blätter steht, hängen sie noch immer das Steinchen auf, mit dem sie um das Gnadengeschenk eines Kindes flehen. 52
Die Bevölkerung Indiens beträgt ungefähr vierhundert Millionen Menschen. Wenn man in Betracht zieht, daß die Frauen in diesem Lande um etwa 10 weniger zahlreich sind als die Männer, gibt es in Indien rund hundertsechzig Millionen Frauen. Wollte man sie verstehen, indem man nur an die »stählernen Schmetterlinge« denkt, so könnte man ebensogut die indischen Männer verstehen wollen, indem man einzig an die Fakire denkt. Der weitaus größte Teil von ihnen sind keine stählernen Schmetterlinge. Sie sind sanfte, melancholische Geschöpfe mit dem bebenden Blick jener, die sich vor einer unverdienten Strafe fürchten; mit Säuglingen, die so klein wie ganz billige Püppchen sind, so ausgemergelt und klein, daß man sie nicht wie andere Säuglinge im Arm trägt, sondern wie eine Tasse in der Hand hält. In der Bahn reisen die Mütter dieser irgendwie monströsen Püppchen noch immer in reservierten Frauenabteilen. In den Bars, sofern sie sie überhaupt betreten, sitzen sie noch immer in der für weibliche Gäste reservierten Ecke. Ihre Sanftmut ist grenzenlos, in keinem Teil der Erde besitzen die Frauen solche Sanftmut, Grazie und Bescheidenheit; nur gelingt es einem nie, zu erraten, ob das alles natürlich ist oder der Angst entspringt. Beobachten Sie sie in der Eisenbahn oder in den Bars: einem Mann gegenüber halten sie stets die Augen gesenkt, und Sie werden bald genug herausfinden, daß eine Frau, die einen Mann mit abendländischer Unbefangenheit mustert, keine Frau ist, sondern ein verkleideter Jüngling. Solche geschminkten und in Saris gehüllte junge Männer gibt es außerordentlich viele in den Großstädten, die Prostitution wird von ihnen genährt. Und wenn die kecken Blicke nicht 53
wären, ließe man sich leicht täuschen; so aber tragen auch sie zu meiner Überzeugung bei, daß das Indien jener ungewöhnlichen Frau, die meiner Großmutter gleicht, nicht das Indien aller Inderinnen ist. Es ist das Indien der Inderinnen, die in Europa studieren, denen der zweifelhafte Vorzug der Zivilisation zugeschrieben wird. Es ist das Indien der Inderinnen, die den Kühen Fußtritte versetzen und im Night Club des AshohaHotels Cha-cha-cha tanzen. Es ist das Indien von Vijiayalaksmi Pandit, Nehrus Schwester, die als Botschafterin in London, Moskau, New York und São Paulo tätig war. Es ist das Indien von Indira Gandhi, der Tochter Nehrus, die Deputierte im Parlament und Sekretärin ihres Vaters war und später die Präsidentschaft der Partei mit den Worten annahm: »Das öffentliche Leben ist unbequem, aber nicht unsympathisch für jemanden, der politisch ehrgeizig ist.« Es ist das Indien von Sarjini Naidu, Gouverneurin von Kalkutta, die seit Jahren in jenem Fort St. George lebt, wo früher ein Engländer als Vizekönig von Indien residierte. Bei der großen Staatsparade ist sie es, vor der die bengalischen Krieger defilieren und sich nicht im geringsten genieren, ihre Standarten vor dieser Matrone im Sari und mit der behäbigen, von Medaillen glitzernden Brust zu senken. Paradoxerweise ist das heutige Indien voll bedeutender Frauen. Nicht einmal die Vereinigten Staaten, ja nicht einmal Rußland haben eine so überaus große Zahl weiblicher Gouverneure, Bürgermeister, Botschafter, Deputierter aufzuweisen. Es sitzen mehr Frauen im indischen Parlament als in den Parlamenten von Schweden, Dänemark und Nor54
wegen zusammengenommen; es gibt mehr Ärztinnen in den Spitälern von Bombay und New Delhi als in den Spitälern von Peking und Schanghai. Und wenn man sich darüber wundert, erwidern sie: »Warum? In der Hindu-Gesellschaft hatte die Frau schon immer eine gleichberechtigte Stellung, und in der Religion ebenfalls. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, daß ein großer Teil unserer Gottheiten weiblich ist: Saraswati, Göttin der Weisheit, Durga, Göttin der Barmherzigkeit, Luksmi, Göttin des Reichtums, Sasfati, Göttin der Musik, Kali, Göttin der Rache. Von den andern sind viele halb männlich, halb weiblich. Und obwohl in den letzten Jahrhunderten der muselmanische Einfluß die Einstellung verbreitet hat, wir seien Geschöpfe zweiten Ranges, haben wir doch nie die Achtung der Männer verloren. Manu, unser großer Gesetzgeber der Vergangenheit, sagte, wo die Frauen geehrt würden, sei die Erde fruchtbar und gut, wo die Frauen nicht geehrt würden, sei die Erde dürr und ohne Früchte.« Sie sprechen mit feinen, lieblichen Stimmen und sehen genauso harmlos aus wie andere. Sie haben einen Ehemann und Kinder, denn es kommt recht selten vor, daß eine Inderin auf das Heiraten verzichtet, und was ihr Mann bei Tisch nicht ißt, das ißt sie auch nicht. Sie bewegen sich mit sanfter Grazie, tragen Blumen im Haar, sind schokkiert, wenn irgendein Flegel eine Miss Indien im Badekostüm wählt. Im übrigen wurde erst ein einziges Mal eine Miss India gewählt, und zwar in der Person von Indrani Rehman, einer geweihten Tänzerin. »Und das«, sagte Indrani mit Tränen in den Augen zu mir, »bleibt die unangenehmste Episode meines Lebens. Ich bereue sie und hoffe 55
nur, sie eines Tages vergessen zu können.« Wenn man jedoch das Gespräch auf die Dinge bringt, die ihnen am Herzen liegen, bemerkt man bald, daß sie wirklich aus Stahl sind. »Ein ansehnlicher Teil des neuen Hindugesetzbuches«, sagen sie, »wurde von Frauen bewirkt.« Und dann rechnen sie dir an den Fingern die Gesetze vor, die dank ihnen das Gesicht Indiens verändern: den Hindu Marriage Act von 1955, der die Polygamie untersagt; den Widow Remarriage Act von 1956, der den Witwen die Wiederverheiratung ermöglicht; den Child Marriage Restraint Act, der den Eltern verbietet, ihre Kinder im zarten Alter zu vermählen. Früher wurden die Töchter manchmal schon mit fünf oder sechs Jahren verheiratet, heute darf sich niemand unter fünfzehn Jahren verehelichen. »Und sagen Sie, wann war es, daß die Frauen in Frankreich und Italien das Wahlrecht erlangten?« »1944 in Frankreich, 1945 in Italien«, gebe ich zur Antwort. »Schön – wir erhielten es schon 1935.« Natürlich gibt es noch immer blutjunge Mädchen, die Kinder zur Welt bringen, bevor sie überhaupt wissen, was das bedeutet, Witwen, die sich nicht wieder verheiraten, und Frauen, die es auf sich nehmen, mit den andern Gattinnen ihres Mannes zusammenzuleben: die Zeit gleitet langsamer als anderswo über die antike Schläfrigkeit Indiens hinweg, und die neuen Gesetze mit ihr. Doch die stählernen Schmetterlinge kennen den Wert der Geduld und bekommen zum Schluß immer, was sie wollen. Sogar die Geburtenregelung haben sie durchgesetzt, und das in einem Lande, wo Unfruchtbarkeit als Todsünde gilt. Indien ist vielleicht die einzige Nation der Welt, wo die Ge56
burtenkontrolle von Regierungsbeamtinnen ausgeübt wird, die die Frauen lehren, keine Kinder zu haben, so wie man bei uns die Kleinen das Beten lehrt. Ich lernte eine von ihnen im Hause von Jamila Verghese kennen. Oft, wenn ich an all das Seltsame zurückdenke, das ich in Indien erlebte, frage ich mich, was verwirrender war, die Begegnung mit der Maharani von Jaipur, dieser Gestalt aus einem zu Ende gegangenen Märchen, oder jener Abend im Hause von Jamila Verghese, und ich vermag es nicht zu sagen. Die beiden Ereignisse trugen sich im Abstand von wenigen Stunden, aber in zwei völlig verschiedenen Welten zu. Und so sehr ich mich bemühe, gelingt es mir doch nicht, zwischen ihnen auch nur den dünnsten Faden einer Verbindung zu finden. Indien ist wie ein Kaleidoskop, das die Bilder wechselt und nur die Farben intakt läßt, und es ist nutzlos, nach den Gründen dafür zu forschen. Die einzige Möglichkeit, in das Geheimnis einzudringen, besteht darin, daß man sieht und hört und das Gesehene und Gehörte wiedergibt. Ich beginne demnach mit dem Abend bei Jamila Verghese, die ich in Florenz, wo sie an der Ausländeruniversität studierte, kennengelernt hatte und jetzt in New Delhi aufsuchte, wo sie mit ihrem Mann, einem Journalisten der ›Times‹, und zwei Kindern lebt und als Malerin, Schriftstellerin und Schauspielerin tätig ist. Das will aber nicht heißen, Jamila sei einer der stählernen Schmetterlinge. Sie ist eine antike Inderin, so wie die Europäer sich eine Inderin vorstellen, wenn sie von roten Sonnenuntergängen hinter dem weißen Mausoleum des Tadsch Mahal träumen. Sie ist klein und mager, sehr 57
schön, mit einem langen schwarzen Zopf, der ihr bis zu den Knien reicht und mit orangeroten Blüten durchsetzt ist, und mit einem Lächeln, das selbst einen blinden Wüterich beschwichtigen müßte. Sie wollte mir aber einige stählerne Schmetterlinge zeigen und lud sie ein, indem sie eine Liste zusammenstellte, auf der alle Regionen Indiens, vom Kerola bis zum Punjab, sowie verschiedene Berufe vertreten waren. Sie wählte eine Journalistin, einen weiblichen Stationsvorstand, eine Verlegerin, eine Hausfrau, eine Haarkunststudentin und eine Ärztin aus. Und zur Stunde des Abendessens erschienen sie, in einem Geflatter von Gelb und Rot, Grün und Orange, Schwarz und Violett, einige mit ihren Gatten, andere allein, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß Inderinnen abends ausgehen können, ohne sich von einem Mann eskortieren zu lassen. Sie waren alle hübsch und munter, trugen Schmuck und Blumen und mitten auf der Stirn den roten Tupfen, die nackten Füße steckten in Gold- und Silbersandalen. Und alle hatten mir etwas zu sagen, während die Ehemänner stumm und geduldig in einer Ecke saßen und verlegen lächelten – wie in Europa auch, wenn unsere eigenen stählernen Schmetterlinge sich entschließen, sie links liegen zu lassen. Amita Malik, die Journalistin, erzählte, daß ihr Beruf unter den Frauen der Großstädte nichts Ungewöhnliches mehr sei, und wenn ich mich um vier Uhr früh zum Gebäudeeingang einer Tageszeitung begäbe, könne ich sie zu Dutzenden sehen, wie sie nach Hause gehen, den Kopf mit dem Zipfel des Sari vor der Morgenkühle geschützt. Anjani Mehta, der Stationsvorstand, berichtete, bei den Eisenbahnen seien zahlreiche Frauen beschäftigt, und erst 58
seit dieser Zeit werden die Plakate respektiert, die das Ministerium auf ihren Wunsch in jedes Abteil hängt: »Bitte, spucken Sie Ihren Nachbar nicht an. – Bitte, ziehen Sie die Schuhe nicht aus, wenn Sie Ihre Füße seit mehr als einem Tag nicht gewaschen haben. – Bitte, essen Sie keinen Knoblauch, wenn das Fenster geschlossen ist. – Bitte, pissen Sie nicht auf den Boden«. »Und Sie arbeiten als Stationsvorstand im Sari?« »Gewiß. Aber ich trage eine Mütze.« Veena Shroff, die angehende Haarkünstlerin, erklärte mir, ihre Arbeit habe nichts mit dem Beruf einer Friseuse zu tun; Friseusen gibt es in Indien ebensowenig wie Damenschneiderinnen. Jede Inderin muß sich selber frisieren können, wie sie auch ihren Sari selber wickeln können muß. Sie versuche lediglich, antike Haartrachten Wiederaufleben zu lassen. Dann wandte sich das Gespräch, wie immer, wenn Inderinnen und Europäerinnen einander begegnen, dem Sari zu, diesem herrlichen Kleidungsstück, das seit Jahrhunderten ihre Uniform bildet und neben dem jedes Modellkleid von Chanel oder Dior lächerlich, plump und reizlos wirkt. Leela Shukla, die Verlegerin, regte an, Jamila solle mir einen ihrer Saris leihen und ich ihr mein Kleid geben – wir hatten die gleiche Größe. Lachend vollzogen wir den Tausch, und es zeigte sich, daß der Sari auch Europäerinnen ausgezeichnet steht, während das europäische Kleid auch an Inderinnen schlecht aussieht. Eingehüllt in diesen weichen Streifen blaugoldener Seide, kam ich mir gar kein bißchen komisch vor, während sogar Jamila in meinem kurzen und blödsinnig ausgeschnittenen Kleid lächerlich wirkte. Ihre Figur sah aus wie in zwei Stücke geschnitten 59
und verkürzt, die Nacktheit ihrer Beine störte, und auf ihrem schönen Gesicht lag ein kläglicher Ausdruck, der ihre Züge verunschönte. Alle hatten mir etwas über den Sari zu sagen. Iris David, die Hausfrau, die darüber seit Jahren eine richtige kleine Studie macht, bestand darauf, der Sari sei nicht monoton und unpersönlich, wie oft behauptet wird; die Frauen seien nicht alle gleich im Sari. Es gibt mindestens vierzehn Arten, den Sari zu tragen: mit dem Faltenbündel rechts oder dem Faltenbündel links, den äußeren Zipfel auf der rechten oder auf der linken Schulter umgeschlungen oder wie eine Schleppe über den Rücken hinunterfallend oder wie einen Schleier um den Kopf gelegt, mit dem Choli (Bluse), der die Magengegend frei läßt, oder mit dem Choli, der bis zur Taille reicht. Die Frauen von Kerola beispielsweise ziehen das Ende des Sari zwischen den Beinen durch und formen so eine Art Hosenrock. Die Fischerinnen von Bombay knüpfen den Zipfel so im Nacken, daß der Rücken entblößt ist. »Es ist nicht so, daß die Frau sich dem Sari anpaßt; vielmehr paßt der Sari sich der Frau an«, sagte Amita Malik. »Der Sari ist bloß ein Streifen Stoff ohne Form; es ist Sache der Trägerin, ihm eine Form zu verleihen.« »Der Sari ist nicht sexy«, führte Leela Shukla aus, »aber vom ästhetischen Gesichtspunkt her ist er das schönste Kleidungsstück der Welt, und außerdem das logischste.« »Logisch nicht, nein. Und bequem auch nicht«, widersprach ich, um sie herauszufordern. »Ich habe schon einen Kimono anprobiert, und der ist leicht zu tragen und bequem. Ich habe einen Sarong anprobiert, und der ist leicht zu tragen und bequem. Mit dem Sari hingegen habt ihr mir 60
helfen müssen, und beim Gehen stolpere ich drüber. Der Sari ist ein Galakleid, kein Kleid für die Arbeit.« »Das ist mir neu, daß man zum Arbeiten eine Uniform braucht«, versetzte Anjani Mehta leicht verärgert. »Mit Uniform hat das nichts zu tun«, vermittelte Jamila. »Und im übrigen hat meine Freundin recht: der Sari ist alles andere als bequem. Ich zum Beispiel fühle mich darin behindert, wenn ich das Auto lenken oder Korbball spielen soll.« Warum sie ihn denn trotzdem die ganze Zeit trügen, wollte ich wissen. Auch mir gefiel der Sari besser als irgendein anderes Kleid; aber darin etwa auf dem Fahrrad zu sitzen, wie ich es täglich in den Straßen von New Delhi sah, kam mir doch etwas seltsam vor. Alle Frauen der ganzen Welt nahmen europäische Kleidung an, sogar die Japanerinnen. Die Inderinnen waren die einzigen Frauen der Welt, die sogar lieber Kerkerstrafen in Kauf genommen hatten, als daß sie europäische Kleidung anzogen. Seither waren allerdings dreißig Jahre vergangen. War es möglich, daß soviel Hartnäckigkeit lediglich eine ästhetische Ursache hatte? Darauf antwortete eine feine, ruhige Stimme: »Nein, es ist nicht wegen der Ästhetik und auch nicht wegen der Bequemlichkeit. Wir tragen den Sari, weil wir erst in zweiter Linie Frauen, in erster Linie aber Inderinnen sind. Der Sari ist unsere Flagge. Auf ihn zu verzichten wäre ein Verrat – es wäre beinahe so, als verzichteten wir auf unsere Staatsangehörigkeit.« Diese Worte wirkten überzeugender als alle anderen. Aufmerksam betrachtete ich die Frau, die sie gesprochen 61
hatte. Und ich stellte mit Verwunderung fest, daß es Dr. Jaishree Katju war, die bisher den ganzen Abend still und schweigsam in einer Ecke gesessen hatte, als wüßte sie nichts zu sagen. Und weil sie so still und schweigsam war und so wenig einem stählernen Schmetterling glich, hatte auch ich geglaubt, sie wüßte nichts zu sagen. Nun fragte ich sie, ob sie in bezug auf den Sari eine Sachverständige sei. »Nein, nein«, wehrte Jaishree Katju ab, »ich bin Ärztin und sonst nichts. Ich arbeite für die Regierung.« »Inwiefern arbeiten Sie für die Regierung?« »Ich«, antwortete sie, »helfe Indien, weniger Kinder in die Welt zu setzen.« Es wurde still. Sie waren alle offensichtlich stolz darauf, eine Inderin in ihrer Mitte zu haben, die eine so entscheidende Aufgabe erfüllte, und mit den Augen schienen sie sie zum Reden auffordern zu wollen – was sie denn auch in aller Schlichtheit tat, nachdem sie ihren grün-violetten Sari über den Knien zurechtgezupft hatten. »Das Hauptproblem Indiens«, sagte sie, »ist die Armut. Und die Armut herrscht, weil wir unser zu viele sind. Mit den Chinesen, ja vielleicht sogar vor den Chinesen, sind wir das fruchtbarste Volk der Erde, die gewaltigste Menschenfabrik der Welt. Kinder werden in Indien in der gleichen Überzahl geboren wie Fische und Fliegen. Alljährlich wächst die Bevölkerung um rund fünf Millionen. Solange Überschwemmungen und Seuchen die Armen dezimierten, war dieser Zuwachs nicht schlimm. Es wurden viele Inder geboren, und viele starben. Seitdem man aber gelernt hat, den Überschwemmungen zu begegnen und die Seuchen mit Penicillin zu heilen, übersteigen die Gebur62
ten die Todesfälle bei weitem. Das machte eine Geburtenkontrolle unerläßlich.« Dr. Katju hob den roten Tupfen auf, der ihr in den Schoß hinabgefallen war; mit langsamer, umständlicher Geste klebte sie ihn wieder auf die Stirn und fuhr dann fort: »Alles begann im Jahre 1952, als die Vereinten Nationen Abram Stone, den Family Planning-Spezialisten, nach Indien sandten. Ich hatte in Amerika doktoriert und kannte Mr. Stone. Seine Anregung erschien mir interessant, und ich bat die Regierung, mich der Sache annehmen zu dürfen. In der Folge schufen wir einige Versuchszentren in New Delhi, in Bombay, in Provinzen wie Vindhya Pradesh und Bangalore, doch hatten wir damit keinen Erfolg. Sie dürfen nicht vergessen, daß die Inder, wie alle Asiaten, nicht aus Liebe heiraten, sondern um der Fortpflanzung willen. Je mehr Kinder sie haben, desto zufriedener sind sie, wie ein Bauer über eine reiche Ernte. Aus diesem Grunde waren viele erbost, verprügelten unsere Abgesandten und riefen, man wolle sie des einzigen Luxus berauben, den ein Inder sich leisten könne: eine große Nachkommenschaft zu zeugen. Andere verstanden uns nicht, das heißt, sie verstanden nicht, wie sie die Verhütungsmittel anwenden sollten: sie aßen sie auf.« Die Haarkunststudentin kicherte, aber Dr. Katju ging nicht darauf ein. Sie ‚fand nichts Komisches dabei, daß die unwissenden Inder Empfängnisverhütungsmittel aufaßen. »Bitte«, sagte sie knapp. Und fuhr fort: »Da beschloß ich, mich ausschließlich an die Frauen zu wenden, mit jeder einzeln zu sprechen, ihr klarzumachen, wie die Sachen anzuwenden waren, und ich hielt Versammlungen ab, um die Notwendigkeit der Birth Control zu er63
läutern. Die erste Versammlung fand in Ramanagram statt, einer Ortschaft im Süden. Ich stieg auf einen Tisch und setzte den Frauen auseinander, daß sie arm seien, weil sie zu viele Kinder haben, und ob es denn nicht ein Verbrechen sei, Kinder in die Welt zu setzen und dann zusehen zu müssen, wie sie verhungern? Siebzig Prozent der Frauen von Ramanagram gaben mir überraschenderweise recht und unterzogen sich dem Experiment für ein Jahr, und es war sehr erfolgreich. Dann wiederholte ich den Versuch in New Delhi, und auch dort gelang es. Heute ist in jeder der siebenhundertdreiundfünfzig Ortschaften Indiens eine Klinik. Weitere vierhundertzweiundvierzig Kliniken befinden sich in den Städten. Die Regierung arbeitet nach Fünfjahresplänen: der erste kostete sechseinhalb Millionen Rupien, der zweite vierzig Millionen, der dritte wird eine Milliarde Rupien verschlingen. Die kostspieligsten Kliniken sind jene für Sterilisation.« Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben. Sie fügte hinzu: »Die Sterilisation ist gratis. Im Jahre 1959 haben wir schon 19 766 Frauen steril gemacht, und seitdem ist diese Zahl alljährlich sprunghaft gestiegen. Für die Armen ist auch die Abgabe der Empfängnisverhütungsmittel gratis. Billig sind sie in jedem Fall, und die Verkaufszahlen steigen. Wenn Sie einen Blick in die Schaufenster der Apotheken werfen, werden Sie die Mittel dort ausgestellt sehen wie Aspirin oder Hustensaft. Wir haben gegenwärtig dreizehn Millionen Frauen in Behandlung. Sie sollten sehen, wie diszipliniert und beflissen sie sich in die Reihe stellen, um zu fragen, was sie tun müssen. Nein, keine schämt sich. Keine nimmt Anstoß.« 64
»Und Sie«, fragte ich, »wie beurteilen Sie eine solche Verantwortung?« »Abends«, entgegnete sie, »kann ich mich ruhigen Gewissens schlafen legen.« Die stählernen Schmetterlinge gaben ihr alle recht. Ich schwieg bestürzt, und auch Jamila schwieg bestürzt. Dann sagte sie, sie sei einmal in einer solchen Klinik gewesen, in der Frauen steril gemacht werden, und mehr als eine habe beim Herauskommen geweint: Was nützt es, ein Baum zu sein, wenn ein Baum keine Blätter mehr hervorbringen darf? »Ich weiß es nicht«, schloß Jamila. »Ich weiß es nicht. Wir haben uns alle so schnell verändert. Wir sind alle ein wenig verwirrt.« Am folgenden Morgen erwartete uns die Maharani von Jaipur. Wir nahmen das Siebenuhrflugzeug: Jaipur ist eine Flugstunde von New Delhi entfernt, und wir mußten früh dort sein, weil wir vielleicht unverzüglich vorgelassen würden. Das Flugzeug war alt und klein. Man mußte hineinklettern wie in jene Maschinen, die während des Krieges Soldaten transportierten. Mit uns reiste einzig noch eine Gruppe Tennisspieler, die für irgendein Turnier zur Maharani eingeladen waren. Einer von den Spielern war blond und fröhlich und kam aus Sydney. Die andern waren dunkel, traurig und Inder. Und wer, außer zwei Journalisten und einer eingeladenen Tennismannschaft, hätte schon nach Jaipur gehen wollen, in diese einsame Oase inmitten einer Wüste von Staub und Sand? Es heißt, Jaipur sei das Florenz Indiens. Aber während der Landung sah ich bloß diese Wüste aus goldfarbenem Sand, mit einem 65
Häuflein rosa Häuser in der Mitte und einem weißen Palast, dem Palast des Maharadscha. Wir waren schlaftrunken und noch halb betäubt von den Gesprächen im Hause Jamila Vergheses, die bis zwei Uhr früh gedauert hatten. Die Vorstellung von den Inderinnen, die beim Verlassen der Klinik weinen, weil sie in Bäume verwandelt wurden, die keine Blätter mehr hervorbringen können, quälte mich wie ein verschrobener Traum. Duilio meinte, die Sache an sich sei schauderhaft, und bei diesen geschwätzigen Frauen habe er sich gelangweilt, und dies sei eine Hundereise, und er wolle nach Rom zurück. In anderen Ländern habe er wenigstens flirten können. In Indien hingegen, welch ein Hohn! Die merkten es nicht einmal, wenn man sie ein bißchen begehrlich anschaute. Dann stiegen wir aus, und der Autobus brachte uns direkt zum Hotel, auf einer schmalen Straße, wo er einem faltigen Elefanten mit Ohrringen und einer beängstigenden Reihe von vierundzwanzig Kamelen ausweichen mußte. Sonst weit und breit nichts. Man glaubte auf einem unbekannten Planeten ausgesetzt zu sein, nur daß das Hotel einen voll und ganz für das verwirrende Gefühl der Verlassenheit entschädigte. Welch ein Hotel! Im Zimmer angekommen, beeilte ich mich, Ihre Hoheit anzurufen: mit einem Telephonapparat aus reinstem Elfenbein. Prinz Pat, ihr Stiefsohn, meldete sich sogleich. Ihre Hoheit habe Heufieber, berichtete er, sie werde aber trotzdem aufstehen und mich zur Teestunde empfangen. Ob es mir recht sei zur Teestunde? Es sei mir recht, stimmte ich zu, angenehm überrascht, daß eine so sehr im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehende Frau, die durch ihre 66
Schönheit, ihre Juwelen und ihren Namen auch in Europa bekannt war, trotz Krankheit das Bett verlassen wollte, eigens um zwei Unbekannte zu empfangen, und erst noch fragen ließ, ob ihnen der Zeitpunkt auch passe. Und ob mir das Hotel genehm sei, fragte Prinz Pat. Selbstverständlich, antwortete ich. Es könne doch auf der ganzen Welt kein schöneres Hotel geben. »Very well«, meinte Prinz Pat. »Very well.« Und das Zimmer? Ob ich zufrieden sei mit meinem Zimmer? Selbstverständlich, antwortete ich. Auch das Zimmer war außerordentlich. Und auf meine Lippen stahl sich ein Lächeln. Auf meinem Schreibtisch, neben dem Telephon aus reinstem Elfenbein, stand eine Karte mit der Photographie eines königlichen Palastes und der Aufschrift: »Wenn Sie Jaipur besuchen, wohnen Sie im Rambagh Palace! Seine Hoheit der Maharadscha von Jaipur hat seinen Palast zur Bequemlichkeit der geschätzten Touristen in ein Hotel umgewandelt. Schwimmbad, Tennisplatz, Golfgelände zur Verfügung der geschätzten Touristen. Jagdpartien werden auf Voranmeldung organisiert«. Ich wohnte im Palast des Maharadscha, und mein Appartement, betonte der Portier, war jenes, in dem bis vor drei Jahren die Maharani von Jaipur geschlafen hatte. Es kostete aber auch ganze zweihundert Rupien. Das Appartement des Maharadscha dagegen kostete zweihundertfünfzig Rupien, und dort wohnte ein reicher Amerikaner aus Texas in kurzen Khakihosen und Hawaiihemd. Einmal ließ dieser mich hineinschauen und zeigte mir mit besonderem Vergnügen das Bad mit der Wanne aus schwarzem Marmor inmitten von Spiegelwänden, die 67
sie samt dem planschenden Insassen ins Unendliche vervielfachten. »Very nice, eh? Very nice.« Die Kranen der Waschtoilette, in der er seine Havannazigarren ausdrückte, waren aus echtem Münzgold. Das Appartement der zweiten Maharani indessen kostete hundertsiebzig Rupien und jenes der ersten gar nur hundertfünfzig. Der Preis nahm entsprechend dem Prestige der Persönlichkeit, die früher darin geschlafen hatte, ab. Die erste Maharani hatte schon immer wenig gegolten, alt und häßlich wie sie war, die zweite etwas mehr. Die dritte galt sehr viel. Ich wußte bereits aus dem Reiseführer, daß der Maharadscha drei Frauen hatte, zeitweise nebeneinander. Die erste, 1941 verstorben, war eine Prinzessin von Jodpur, dem angrenzenden Staat – eine Staatsheirat. Die zweite, 1958 verstorben, war eine Nichte der ersten und ihm von dieser empfohlen, weil er sich langweilte – eine Vernunftheirat. Die dritte, Prinzessin Gayatridevi von Coochbehar, genannt Aesha, war im Mai 1940 seine Frau geworden – eine Liebesheirat. Als ich sie kennenlernte, begriff ich sehr gut, daß Seine Hoheit der Maharadscha sich während eines Poloturniers in Coochbehar in sie verliebt hatte. Eine entzükkende, moderne Frau: im Gegensatz zu den andern beiden, die überzeugte Muselmaninnen waren, trug sie den Schleier nie. Sie hielt auch die Frauen von Jaipur dazu an, ihn abzulegen. Ich hätte sie sehen mögen, als sie noch im Palast wohnte und als in den Zimmern, die jetzt für rund achtzig Rupien – was dem Preis eines Zimmers in irgendeinem Luxushotel entspricht – vermietet werden, die Gäste untergebracht waren, die aus allen Teilen der Welt zu ihren berühmten Tigerjagden kamen. 68
Die Maharani hatte damals sechshundert Diener, und die Fontänen im Park sprudelten immerwährend duftend frisches Wasser. Junge Elefanten mit schimmernd weißen Stoßzähnen trugen die Gäste unter blumengeschmückten Baldachinen. Geweihte Tänzerinnen entfalteten ihre anmutige Kunst auf dem grünen Rasen. Es war für die Maharani begreiflicherweise ein großer Schmerz, auf dieses Märchenschloß verzichten zu müssen. An dem Tage, als sie es verließ, um in die Villa des Gouverneurs überzusiedeln, standen ihre großen schwarzen Augen voll Tränen. »Very well«, sagte nun also Prinz Pat. »Very well. Wenn etwas nicht klappt, rufen Sie mich an. Ich bin es, der das Hotel leitet.« Ich dankte ihm und betrachtete mit plötzlichem Unbehagen das schöne französische Bett, die kostbaren Damastvorhänge, die lange Fensterwand, von der aus man fast den ganzen Palast im weißgoldenen Lichte liegen sah: seine zarten Säulen, die breiten, in dünne Spitzen auslaufenden Kuppeln, die marmornen Treppenfluchten, die Terrassen mit den Säulenhallen, die geheimen Durchgänge, die nunmehr leeren Wege der Palastwachen. Ich verließ das Zimmer: obwohl es widersinnig war, kam ich mir darin als Eindringling vor. Ich ging die Halle mit den wie Spitzenschals verzierten Säulen entlang, mein Unbehagen schwand, und wieder mußte ich unwillkürlich lächeln: In der Säulenhalle hatte Prinz Pat, zur Bequemlichkeit der geschätzten Kunden, eine rote Telephonkabine aufgestellt, eine von jenen, die, mit Automaten darin, in den Straßen Londons stehen. Neben der Kabine erbot sich ein Wahrsager mit Turban und einem vom Reisebüro ausgestellten Diplom, mir für 69
fünf Rupien die Zukunft vorherzusagen. Beim Verkaufsladen mit den in Deutschland hergestellten Souvenirs riet mir ein hartnäckiger Verkäufer dringend zum Kauf eines Aschenbechers, auf dem zu lesen stand: »Oh, Jaipur, Traum des Orients!« Und auf dem englischen Rasen, wo die Fontänen aus Sparsamkeitsgründen keinen Tropfen Wasser mehr hervorsprudeln, faulenzten die Tennisspieler unter rot und blau gemusterten Sonnenschirmen – genau denselben, die man an den italienischen Stränden sieht. »Wie langweilig!« murrte der aus Sydney; »man kann in diesem Palast nichts anfangen. Nicht einmal eine Juke Box gibt’s. Gehen wir spazieren?« Wir schlenderten dem Ausgang zu, während seine indischen Kollegen mich mißbilligend musterten. Was war das für eine Frau, die mit dem Erstbesten bummeln ging? Gräßlich, diese Europäerinnen. Am Tor, wo einst in roten Uniformen und mit Krummsäbeln stocksteif die Leibwache der Maharani gestanden hatte, feilschten zwei Touristen aus Los Angeles um den Mietpreis für einen gelangweilten Elefanten mit vergilbten Stoßzähnen und einem verwaschenen Teppich, der ihm den mächtigen Bauch kitzelte. Der Elefant kostete für den eine Stunde dauernden Rundgang vierzig Rupien. Die beiden Touristen, ein Ehepaar vom Schlage derer, die nur reisen, um Ansichtskarten zu verschicken, protestierten, das sei ein wenig zu teuer. Man einigte sich also auf dreißig Rupien, und sie kraxelten freudejuchzend hinauf. »Er ist alt«, sagte der Portier, »und schon halb blind; für den Zoo wollten sie die besseren haben. So benützt Seine Hoheit ihn, um die Touristen spazierenzuführen. Auf 70
diese Weise verdient er wenigstens sein Leben: Sie werden verstehen, bei dem, was der zusammenfrißt.« Nun erklärte er mir, daß Seine Hoheit früher fünfundsiebzig Elefanten allein für die Tigerjagd besaß, dazu hundertfünfzig Pferde für das Polospiel. 1949 aber, als die Herrschaft der Maharadschas durch die Republik aufgelöst wurde, mußte Seine Hoheit die Pferde auf vierzig und die Elefanten auf fünfzehn reduzieren. Schließlich erwiesen sich auch diese fünfzehn noch als zu kostspielig: jeden Monat für etwa zwölftausend Mark Futter! »Jetzt hat er drei. Und das ist eigentlich nicht wenig, wenn man bedenkt, daß der Maharadscha von Mysore einmal sechshundert Elefanten hielt und jetzt bloß noch einen einzigen halbverhungerten im Stall stehen hat.« »Aber Seine Hoheit ist doch noch immer reich.« »Oh, Sie werden verstehen. Bei den Steuern, die er zu bezahlen hat. Jährlich fast anderthalb Millionen Mark. Darum mußte er den Palast räumen.« »Kommt er hie und da wieder?« »O ja. Ihm macht es nichts aus. Aber die Maharani hat keinen Fuß mehr hierher gesetzt. Sie fährt im offenen Wagen am Tor vorbei, bremst ein wenig, als möchte sie eintreten, dann fährt sie schnell weiter. Dies hier war ihr Lieblingspalast. Sie hatte sechs Paläste in Jaipur, wissen Sie. Übrigens – wollen Sie den Elefanten haben, wenn Sie nach Jaipur gehen? Ihnen gebe ich Rabatt.« Wir fuhren mit dem Taxi, obwohl Duilio und der Tennisspieler aus Sydney unbedingt den Elefanten nehmen wollten: was hat man schon davon, in Indien zu sein, wenn man nicht wenigstens einmal einen Elefanten reitet? Der 71
Taxifahrer war der einstige Chauffeur der Maharani, und er trug noch immer die Uniform mit den vergoldeten Epauletten. »Ich verstehe Ihre Hoheit nicht«, sagte er. »Das Hotel bringt doch viel Geld ein, die paar Touristen, die nach Jaipur kommen, steigen alle hier ab. Ihre Hoheit besitzt noch immer die größte Perlen- und Smaragdesammlung der Welt, und dabei steuert sie ihren Wagen selber. Vielleicht ist sie so verbittert über das, was geschehen ist. Früher gehörte Jaipur ihr: sechzehntausend Quadratmeilen – der Boden, die Ernte und die Menschen, und diese mit Leib und Seele. Nicht, daß sie das ausgenützt hätte, bewahre. Meines Wissens hat sie nie jemanden töten lassen, nicht einmal eine unbotmäßige Dienerin. Im Gegenteil, sie hat Gutes getan. Sie hat eine Mädchenschule eingerichtet, und sie hat einen Klub für Frauen gegründet, die den Schleier nicht tragen. Was den Maharadscha anbelangt, so ist er ein feiner Mann. Wenn er sich bei den Wahlen aufstellen ließe, gäbe ich ihm meine Stimme. Aber die politische Karriere interessiert ihn nicht. Er hoff t, Botschafter zu werden.« Das Taxi glitt durch das Meer aus Sand, und Jaipur war ein rosa Fleck inmitten dieses Meeres aus Sand. Man sah keine Taxis außer dem unseren, nur Kamele oder von ausgemergelten nackten Männern gezogene Rikschas, weil Prinz Pat behauptet, Autos seien dem Tourismus abträglich. Auf dem Hauptplatz banden schwarzverschleierte Frauen im Schatten von Regenschirmen Blumenkränze aus gelben und orangeroten Blüten. Auf den Gehsteigen, wo Wasserverkäufer in Bechern eine dunkle Flüssigkeit verkaufen, die sie als Wasser ausgeben, und auf verzierten 72
Dächern spannten Sarifärber die langen Bahnen grüner, rosafarbener, karmesinroter Seide aus, daß sie wie riesige Luftschlangen aufleuchteten. Auf einem Dach stand eine Kuh, wer weiß, wie sie dort hinaufgelangt war. Das also war das einstige Reich von Aesha, der Maharani von Jaipur, der Persönlichkeit eines dahingegangenen, begrabenen Indien. Um ihren zum Museum umgestalteten Stadtpalast zu betreten, mußte man eine Eintrittskarte lösen. Ich bezahlte und ging hinein. Man zeigte mir die Waffensammlung des Maharadscha mit juwelenbesetzten Gewehren, mit den Säbeln, deren Klingen biegsam wie Rasierklingen sind, und den gebogenen Dolchen, die Aesha so an der Wand angeordnet hat, daß sie die Worte »Willkommen, Besucher« bilden. Man zeigte mir die Perserteppiche, die Aesha aus dem Rambaghpalast fortgebracht hatte, damit nicht die Touristen darauf ihre Schuhe abstreiften. Man zeigte mir ihre Sammlung von Saris, von denen einige fünfhundert Jahre alt sind und aus der Zeit der Herrschaft der Moguln stammen, und schließlich den Thronsaal, wo am Vormittag des 30. März 1949 der Staat Jaipur aus der Geschichte Indiens verschwand, um ein Teil der Union des Rajastan zu werden, die vierzehn Feudalstaaten mit 121 000 Quadratmeilen umfaßt. An jenem Tage, wurde mir erzählt, lehnte Aesha es ab, zum letztenmal auf dem Doppelthron aus karmesinrotem Samt und Gold neben ihrem Gemahl zu sitzen. Sie blieb in ihren Gemächern im Rambaghpalast im Bett liegen, für das ich jetzt zweihundert Rupien bezahlte, und überließ ihren Platz dem Premierminister Sardar Patel, der eine weiße Tunika trug, einen ziemlich langen Bart und staubige San73
dalen an den bloßen Füßen hatte. Die Männer des neuen Indien trugen alle die einfache weiße Tunika, etwas lange Bärte und staubige Sandalen an den bloßen Füßen. Der Maharadscha hingegen hatte die reiche Graustarkianuniform mit dem Turban aus Goldbrokat angelegt, und seine Füße staken in kostbaren Pantoffeln. Sein edles braunes Antlitz, sagte man mir, war sorgfältig rasiert, und er zuckte nicht mit der Wimper, als Sardar Patel sich erhob und das Wort ergriff; dann streifte sein ruhiger Blick die Krieger mit den gezwirbelten Schnurrbärten und den Sardar, und er deklamierte: »Der Tag des Schwertes ist zu Ende. Der Tag der Atombombe ist angebrochen. Der Wind trägt eine neue Ära über den Sand des Rajastan.« Am Nachmittag gab es eine Polopartie, zum letztenmal mit den hundertfünfzig Pferden des Maharadscha, bei der er drei zu eins verlor. Und auch hier war Aesha nicht dabei. Am Abend gab es einen Umzug zu Ehren von Gansgor, der Göttin des Reichtums, und vor dem Maharadscha defilierten seine fünfundsiebzig Elefanten, von denen bereits ein großer Teil an den Zoo verkauft war, die geweihten Tänzerinnen tanzten zum letztenmal in ihren silbernen Saris: fast alle hatten bereits Stellen als Hostessen bei den Indian Airlines. Aber auch hier war Aesha nicht dabei, um zum Ausdruck zu bringen, daß sie nunmehr nur noch die Frau des Gouverneurs war. Als Zeichen seiner Achtung und Dankbarkeit für das Gute, das sie in Jaipur getan, hatte nämlich Nehru dem Maharadscha die Würde eines Rajapromuk, Gouverneur von Rajastan, verliehen, mit einem jährlichen Einkommen und der Nutznießung der Villa, die bisher die britische Botschaft beherbergt hatte. 74
Die Villa, die bis zum Dezember 1957 leer blieb, ist zehn Minuten vom Rambaghpalast entfernt. Sie ist zweistöckig, als einstiger Botschaftssitz selbstverständlich hübsch, und weist sieben Schlafzimmer, ein Eßzimmer, zwei Wohnzimmer, fünfzehn Gästezimmer und einen Park mit einem von der Maharani benützten Schwimmbad auf. Hier lebt die Maharani mit ihrem Gatten, dem neunjährigen Sohn Javat und dem Stiefsohn Prithviraj, eben Pat, der vierundzwanzig und ein Sohn der zweiten Frau des Maharadscha ist. Prinz Jai, Pats Bruder, lebt in Kalkutta, wo er demokratisch als Teehändler arbeitet. Der Älteste, Bhawani, der dreißigjährige Sohn der ersten Frau, wohnt in New Delhi, wo er ritterlich als Hauptmann in Nehrus Leibwache Dienst tut. Die Dienerschaft in der Villa zählt knapp dreißig Leute. Pat hat sie größtenteils für sein Hotel requiriert. Pat erwartete mich im Wohnzimmer zu ebener Erde, einem anständigen, wenn auch nicht großen Zimmer mit Radio und Plattenspieler, Büchern in den Regalen, Porträts mit Widmung in silbernen Rahmen: Prinz Philipp von Edinburgh, die verstorbene Lady Mountbatten, Pandit Nehru, dem niemand im Hause böse ist. Pat trug eine Leinenhose, ein offenes Hemd und italienische Mokassins. Er war jung, sorglos, sympathisch, mit weißem Lächeln und brauner Haut: jener Typ, dem man in Cannes oder Nizza begegnet und der zum Barman sagt: »Einen Bloody Mary, mein Bester.« Er sagte, Ihre Hoheit stehe eben auf, und führte mich in den Garten; dort waren zwei Sessel, eine Gartenschaukel, ein englischer Herr mit rotem Haar und eine englische Dame mit violettem Haar, beides Gäste Ihrer Hoheit. Ihre Hoheit erschien unmittel75
bar darauf in einem Wirbel von rosa geblümtem Chiffon – sehr ungewöhnliches Material für einen Sari. Das tief schwarze Haar fiel ihr auf die Schultern, und sie trug nicht ein einziges Schmuckstück ihrer Sammlung. Auf ihrem milchkaffeefarbenen Gesicht mit den übergroßen Augen, die wie bei den Statuen von Benares leicht vorstehen, war keine Spur von Schminke. Auch der rote Tupfen mitten auf der Stirn fehlte, und sie sah überhaupt nicht wie eine Inderin aus. Sie sah aus wie irgendeine Millionärin, die von der Rivierasonne gebräunt ist und, einem Einfall der Reporter der amerikanischen Zeitschrift ›Vogue‹ zuliebe, sich in einen ausgefallenen Sari gehüllt hat; in der Hand trug sie einen Photoapparat. »Pleeease«, klagte sie und drückte den Mund ins Taschentuch, um das Niesen zu unterdrücken. Dann ließ sie sich, hochgewachsen, zerstreut und schlank, auf der Gartenschaukel nieder und bat Duilio, ihr, bitte schön, den Apparat nachzusehen: er funktionierte nicht mehr, und sie wußte nicht warum. Sie sprach das äußerst gepflegte Englisch, das sie in Oxford und an der Universität von Rabindranath Tagore studiert hatte, nur leicht entstellt durch das R des Französischen, das sie in der Schweiz gelernt hatte. Und dabei musterten mich diese vorstehenden Augen aufmerksam, als wollte sie herausfinden, welche Art Neugier mich zu ihr getrieben habe, und gleichzeitig den Wunsch zurückhalten, mich etwas zu fragen. Sie fragte nicht sogleich. Sie erzählte mir, gleich einer Dame der europäischen Gesellschaft, von der Schule, die ihren Namen trägt und an der ihr sehr viel liegt, so viel, daß sie jedesmal, wenn jemand ihr ein Geschenk machen 76
will, um ein Stück Land zu deren Ausbau bittet. Sie erzählte mir ferner von ihren Reisen: zur Regenzeit kommt sie jedesmal nach Europa und macht zuerst einen kleinen Sprung nach Paris, um bei Dior die Jagdanzüge zu bestellen, dann reist sie nach England, wo sie in Sussex ein Haus und in London, am Cadogan Place, eine Wohnung besitzt. »Ich könnte nicht sagen, ob ich in Indien oder in Europa lieber lebe. Vielleicht fühle ich mich in Europa freier. Ich bin in Europa eine andere.« Ihr Blick hatte sich von mir gelöst und ruhte auf den hellen Umrissen des Rambaghpalastes, liebkoste die breiten Kuppeln und die zarten Säulen mit fast finsterer Zärtlichkeit. Doch ihre Lippen hielten die Lust, mich etwas zu fragen, noch immer im Zaum, bis sie auf einmal das Kinn hob und fragte. »Sie wohnen im Palast, nicht wahr?« »Ja, Hoheit.« »Und Sie haben ein gutes Zimmer, ja?« Ich sah ratsuchend zu Pat hinüber. Was sollte ich antworten? Daß ich in ihrem Zimmer wohnte? Pat fing meinen Blick verlegen auf, dann erhob er sich und sagte, er gehe auf die Jagd. Es gebe einen Panther im Walde. Die Schläger hätten den Platz herausgefunden, an dem er bei Sonnenuntergang zur Tränke kam, und er wolle ihn nicht verfehlen. Er würde mich später im Hotel wiedersehen. »Ja, Hoheit«, sagte ich. »Ich habe ein gutes Zimmer, danke.« »Auf welcher Seite? Im rechten oder im linken Flügel?« »Ich weiß nicht, Hoheit. Der Palast ist so groß.« »Sehr groß und sehr schön. Hat man Ihnen etwa mein Zimmer gegeben?« 77
»Nein, Hoheit. Ich glaube nicht. Es ist ein kleines Zimmer.« »Und wer ist im Zimmer meines Mannes?« »Niemand, Hoheit. Niemand.« »Es ist ein wunderbares Zimmer.« »Wunderbar, in der Tat.« »Sie haben es also gesehen?« »Ja, ich habe den ganzen Palast besichtigt. Aber im Zimmer des Maharadscha war niemand. Im Zimmer Ihrer Hoheit auch nicht, glaube ich. Niemand.« Die Maharani unterdrückte ein Niesen. »Für Pat und meinen Mann ist es etwas anderes. Sie gehen mit der Zeit und verstehen etwas von Geschäften. Ich aber habe mein Herz in meinem Hause zurückgelassen. Es ist so ein bequemes Haus, finden Sie nicht auch?« »Auch dieses hier ist bequem.« Sie tat, als hätte sie es gar nicht gehört. »Haben Sie gesehen, wie entzückend der Springbrunnen im Rauchsalon ist?« Ich hatte ihn gesehen, den Springbrunnen, aber der Salon war kein Rauchsalon mehr. Pat hatte ihn in eine Bar umgewandelt, und diese war dauernd von einer Schar runzeliger Amerikanerinnen besetzt, die Scotch on the rocks tranken und quäkten: »Very nice, uh, very nice.« »Wir haben die Möbel im Palast zurücklassen müssen. Pat behauptete, ohne die Möbel könne man das Hotel nicht einrichten. Auf welcher Seite, sagten Sie, ist Ihr Zimmer?« Diesmal flehte ich die zweihundertachtzig Millionen Götter, die Indien behüten, um Hilfe an, und die Hilfe 78
erschien in Gestalt eines Herrn in himmelblauem Trainingsanzug und weißen Turnschuhen, der, die Ellbogen an die Seiten gedrückt und die Fäuste geballt, von der Veranda her in den Garten hüpfte. Es war ein hochgewachsener, ein bißchen dicker Herr mit großer Nase, und hüpfend lief er rund um den Garten, dann noch einmal, um schließlich hüpfend vor mir und der Maharani stehenzubleiben. »Hallo. Wie geht’s, meine guten Alten? Ich turne, um zu sehen, ob mein Bauch zurückgeht«, keuchte er mit gutmütigem Lächeln und reichte mir hüpfend die Hand, die ich ebenfalls mit leichtem Hüpfen ergriff, um ihn nicht aus dem Rhythmus zu bringen. »Das ist Jai, mein Mann«, stellte Ihre Hoheit zerstreut vor. »Hallo«, sagte Jai hüpfend. Dann schlug er ein bißchen seitwärts ins Gras aus, nahm seinen Lauf wieder auf und verschwand hinter den Blättern, indem er zu sich selber sagte: »Eins, zwei. Eins, zwei. Hopp-la!« »Da sehen Sie’s«, murmelte Ihre Hoheit und schüttelte tieftraurig den Kopf. »Er hat sich verändert und ich nicht. Er lebt mit der Zeit, er stimmt mit den Uhren unseres Jahrhunderts überein. Ich lebe mit der Vergangenheit und stimme mit gar keiner Uhr überein. Ich will sagen, ich gehöre weder hierhin noch dorthin, ich bin nicht mehr altvaterisch und noch nicht modern, weder abendländisch noch orientalisch. Verstehen Sie das? Ach, niemand versteht es. Ich will sagen, ich spreche Englisch und denke Hindi. Ich fahre Auto und trage den Sari. Ich höre Jazzmusik, und dann leide ich beim Gedanken daran, daß jemand in meinem einstigen Zimmer schläft. Aufhören, Javat!« Sie stand 79
auf, ihr rosageblümter Chiffonsari flatterte wie eine Fahne im Wind, und führte mich ins Haus. Im Korridor, der von Wachs glänzte, fuhr ein kleiner Junge mit einem Dreirad seine Rennen. »Javat!« rief Ihre Hoheit entrüstet. »Die Lektion, Javat!« »Come on, mammy. Laß mich Dreirad fahren.« »Javat! Heute abend wirst du zur Strafe zehn lateinische Verben konjugieren.« »Zum Teufel, mammy, du weißt doch, daß mir Latein zuwider ist.« Aber er übergab das Dreirad einem Diener. Die Maharani streichelte einen ausgestopften bengalischen Tiger. »Den habe ich erlegt«, sagte sie und lächelte. »Sie sehen, wir sind ein Volk voller Widersprüche. Wir haben fünfzig Millionen Affen, die wie Kinder essen, während die Menschen verhungern. Wir haben ich weiß nicht wie viele Kühe, die den Verkehr behindern, aber niemand ißt sie, weil sie heilig sind. Die Tiger hingegen, die niemandem etwas zuleide tun, bringen wir um. Die indischen Frauen sind widerspruchsvoll wie das Land, das sie hervorbringt. Sie machen Gesetze, die eine Scheidung ermöglichen, zum Beispiel, und dann feiern sie das Fest der Sita. Sie wissen doch, nicht wahr, was das Fest der Sita ist?« Nein, das wußte ich nicht. Sie lehnte sich müde an den Tiger. Ihr Fieber stieg, und es war höchste Zeit, daß sie ins Bett zurückkehrte. »Es ist ein Fest«, sagte sie, »das in den Oktober fällt. Bei Sonnenaufgang kommen die Frauen eines Stadtteils oder Dorfes zusammen, bilden einen Kreis, fasten und singen die Geschichte von Sita, bis der Mond aufgeht. Sita ist die Göttin der Treue. Wenn der Mond am Himmel erscheint, sagt 80
der Ehemann zu seiner Gattin: ›Frau, der Mond ist aufgegangen.‹ Dann wirft die Frau eine Handvoll Wasser gegen den Mond und betet zu Sita, daß sie sie in den nächsten sieben Leben wieder denselben Mann heiraten lasse.« »Auch wenn es ein Mann ist, den sie haßt?« »Auch wenn es ein Mann ist, den sie haßt.« »Und alle beten darum?« »Alle beten darum.« »Und niemand lacht darüber?« »Nein, niemand lacht darüber.« »Und Sie, Hoheit, gehen Sie auch in den Kreis, um die Geschichte von Sita zu singen?« »Oh, nein«, lachte sie. Ich überließ sie ihrem Heufieber und kehrte nachdenklich ins Hotel zurück, aber da war ein so herrlicher, roter Sonnenuntergang über Jaipur, daß ich mich dem Zentrum der Stadt zuwandte, ich weiß nicht einmal recht warum. Vielleicht fühlte ich, daß irgend etwas geschehen würde, wie an jenem Abend in Karachi, als ich die kindliche Braut gesehen hatte. Und tatsächlich: Über den Platz bewegte sich ein Trauerzug, einer von denen, die den Touristen so sehr gefallen. Es war ein Armeleute-Begräbnis, der Tote lag auf einer Tragbahre aus Bambusstangen, einer trommelte, und sieben Personen folgten mit der Witwe der Bahre. Die Witwe war blutjung und sehr anmutig. Sie trug einen Sari mit goldenen Blumen auf apfelgrünem Grunde, Armbänder um die Fußgelenke und Ringe an den Zehen, Halsketten um den zarten Nacken. Sie fiel mir, ich erinnere mich, vor allem deshalb auf, weil keinerlei Trauer auf ihrem braunen Gesicht lag und ihr Schritt rasch und sicher 81
war, als käme sie vom Einkauf auf dem Markt. Ich folgte dem Zug, bis er in dem engen Hof eintraf, in dem die Toten verbrannt werden. Es war ein quadratischer Hof, in dem sich ein kleiner, mit Luftschlangen geschmückter Altar mit einer Pappestatue der Göttin Shiva befand. Ein Albino mit weißem Haar und roten Augen zündete rings um die Statue Kerzen an. Im Zentrum des Hofes lagen zwei Häuflein Kohlenglut – alles, was von zwei Kreaturen wie du und ich übrigblieb. Ein Mann stocherte mit einem Draht in der Glut herum, um sie eilig zu löschen und die Asche zu teilen. Mechanisch sagte er zu mir: »Big man, three hours. Small man, two hours. Baby, one hour.« Er wollte mir damit erklären, daß ein großer Mann drei Stunden braucht, um zu verbrennen, ein kleiner zwei Stunden und ein Kind nur eine Stunde. Die Bahre wurde abgestellt, die Verwandten feilschten um den Preis des Sandelholzes. Das Holz wurde zu einem Stoß aufgeschichtet, dann der Verstorbene aus dem Laken genommen, in das er eingehüllt war, und auf den Scheiterhaufen gelegt. Er war klein und dunkel, mit kahlem Schädel und weit offenen Augen. Sie deckten weiteres Holz über ihn, doch sein kahler Kopf hing heraus. Nun ergriff einer der Verwandten einen Stock, und mit einem kurzen, raschen Hieb schlug er ihm den Schädel ein: damit er im Feuer nicht berste. Ein anderer legte Feuer, das sich rasch ausbreitete, knatterte und den schon dunkel gewordenen Hof mit rötlichem Licht erhellte. Ich sah wieder zur Witwe hin. Sie stand unbeweglich, die Hände auf der Brust zusammengelegt, und noch im82
mer war keine Trauer auf ihrem Gesicht, fast als ginge das Schauspiel sie überhaupt nichts an. Die Flammen verschlangen den Körper und lösten einen öligen Rauch aus, und sie stand dort, als ginge es sie überhaupt nichts an. Dann – ich weiß nicht, wie es geschah. Ich betrachtete die Augen des Toten, die mich anstarrten, und weiß nicht, wie es geschah. Ich sah lediglich, wie die Frau nach vorne stürzte, den Flammen entgegen, aber sogleich von zupackenden Armen zurückgehalten wurde, während sie sich stumm und verbissen wehrte. Alles ging sehr schnell und in absoluter Stille vor sich; weder sie noch die Verwandten sprachen ein Wort, und während sie sie wegführten, mußte ich mir selber sagen: es ist unmöglich, ich habe eine Halluzination gehabt, wir sind doch, zum Kuckuck, im 20. Jahrhundert: nur in den Erzählungen von Salgari werfen sich die Frauen auf den Scheiterhaufen des eigenen Mannes. Ungläubig näherte ich mich einem der Verwandten, der seelenruhig in einer Ecke stand und etwas kaute. Ich fragte ihn, was geschehen sei, und er antwortete, ich hätte richtig gesehen. »Sie muß ihn sehr geliebt haben«, rief ich aus. »Wieso?« sagte er. »Weil sie das getan hat.« »Wieso?« sagte er. Und kaute weiter. Später, im Hotel, erzählte ich es Pat. Pat hatte seinen Panther erlegt und war guter Laune. »Das«, sagte er, »sind die Dinge, die mammy, ich meine, Ihre Hoheit, so verdrießen. Sie kommen in der Gegend oft vor. Im Staate Jodpur warf sich 1954 die Witwe des Unteroffiziers Jabur Singh, ei83
nes Freundes von Papa, ich meine, Seiner Hoheit, auf den Scheiterhaufen, und die Verwandten rührten keinen Finger.« »Aber es ist doch verboten«, stieß ich hervor. »Jedermann weiß doch, daß es seit 1927 verboten ist.« Pat hob eine Augenbraue. »Es ist auch verboten, sich in Benares unter den Karren von Vischnu zu werfen. Es ist überall angeschlagen in Benares, auf Hindi und auf Englisch: ›Es ist strengstens verboten, sich vor die Räder des Karrens zu werfen. Und doch tun sie es. Sehen Sie, wenn eine Inderin heiratet, ist es für immer; infolgedessen ist das Schlimmste, was einer Inderin zustoßen kann, Witwe zu sein. Das wird man Ihnen vermutlich erklärt haben.« Man hatte es mir erklärt, und wie, und ich hatte auch die städtischen Asyle gesehen, in denen Witwen, die von ihren Angehörigen gequält werden, Aufnahme finden. Es waren schäbige Asyle, ähnlich wie bei uns in Europa die Heime für die Alten, die niemand mehr haben will. Es gab da Schlafsäle, wie in allen Asylen, Werkstätten und Aufenthaltsräume. Diese Witwen aber waren nicht alt, es gab sogar fünfzehnjährige darunter. Die Leiterin eines dieser Heime hatte mir berichtet, daß diese Fünfzehnjährigen gerade die stursten waren: jeden Samstagnachmittag und jeden Sonntag gab es für die Frauen freien Ausgang, und die Heimleiterin ermunterte besonders die jungen, das zu benützen und auszugehen, sie aber weigerten sich, als wäre es eine Schande oder eine Sünde. Sie blieben lieber in den Kammern, um ihre langweiligen Klagelieder zu singen, wie lebenslänglich Eingekerkerte, die keine Hoffnung mehr haben. 84
»Andererseits – was kann eine Witwe schon anfangen?« sagte Pat. »Sie kann sich wieder verheiraten«, erwiderte ich. »Es gibt ein Gesetz.« »Ja, ja«, sagte Pat. »Das Gesetz gibt es schon seit Jahren. Es nennt sich Special Remarriage Act. Ich habe indessen noch nie eine indische Witwe gesehen, die nochmals geheiratet hätte. Bitte, Madame?« Er hatte sich zeremoniös erhoben, weil eine Touristin etwas von ihm wollte. Die Touristin war eine Witwe aus Baltimore und reiste mit der Hinterlassenschaft ihres Gatten, der infolge Überarbeitung an einem Herzinfarkt verschieden war. Sie begehrte zu wissen, ob die Maharani ihr wohl ein Autogramm gewähren würde. »Ich habe auch das von Frank Sinatra, wissen Sie.« Pat versprach ihr das Autogramm. Wir bereiteten uns auf die Abreise vor. Wir fuhren nach Kalkutta: eine braungraue Masse aus Körpern, die bei Sonnenuntergang sich mitten auf der Straße zum Schlafen niederlegen, weil sie weder ein Haus noch eine Hütte noch überhaupt irgendein Dach über dem Kopf besitzen. Und hier erlebte ich das quälendste Schauspiel, das einem auf einer Weltreise begegnet: die Armut. Um am Abend bestimmte Straßen zu überqueren, muß man über diese auf dem Asphalt zusammengekauerten Leiber hinwegsteigen, die sich aneinanderdrängen wie Schafe im Stall. In der Morgenfrühe kam dann jeweils ein städtischer Karren vorbei, um jene Schläfer einzusammeln, die nie mehr erwachen würden; sie wurden auf einem gemeinsamen Scheiterhaufen verbrannt und ihre Asche schaufel85
weise in den Ganges gestreut. Der Ganges war ein schmutziges, gelbes Schlammwasser; Typhus und Cholera mähen täglich Tausende von Opfern nieder. Die Frauen sterben aus irgendeinem Grunde noch eher als die Männer. Neben dem Ganges steht der Tempel der Göttin Kali, der noch vor einem Jahrhundert in hellen Mondscheinnächten Menschenopfer dargebracht wurden. Wir besuchten diesen Tempel, einen schäbigen, übelriechenden Tempel mit vielen Altärchen, vor denen die Armen kauerten gleich Fötussen im Mutterschoß, um Schutz vor der Sonne zu suchen. Der Oberpriester geleitete uns, nachdem er ein Trinkgeld verlangt hatte, zur Göttin Kali, die durch eine ewige Flamme dargestellt wird. Es war ein Oberpriester im Unterleibchen, und das Unterleibchen stak in dem langen weißen Unterrock, der seine Beine bedeckte. Anstatt Kali anzubeten, betete er Chruschtschow an, der ihm zwei Wochen zuvor anläßlich seiner Propagandareise durch den Orient die Hand gedrückt hatte. »Was für ein Mann!« schwärmte er. »Was für ein Händedruck!« Durch schmutzige Korridore voller Unrat, welker Blumen und Gläubigen, die uns feindselig anstarrten, führte er uns zu dem trockenen Baum, an den die unfruchtbaren Frauen kleine Steinchen binden, um das Gnadengeschenk eines Kindes zu erbitten, und dann in den Hof, wo früher Menschen und heute Ziegenböcklein abgeschlachtet werden. Der Hof war schwärzlich, gesättigt von dem Blut, das vergossen wurde, um die Göttin milde zu stimmen. Für einen Augenblick vergaß ich das Unterleibchen des Oberpriesters, das Trinkgeld und Chruschtschow. Dann aber fiel mein Blick auf eine Bank, auf der eine Reihe von Koteletten und Keu86
lenstücken lag, jedes mit einem Preisschild versehen, und der Oberpriester sagte: »Natürlich ist der Ritus streng formell. Nach der Zeremonie aber verkaufen wir das Zicklein. Wollen Sie auch kaufen? Es kostet nur fünf Rupien das Pfund, weniger als beim Fleischer.« Abends erzählte ich die Episode einigen Engländern, die eine Party gaben. Sie wunderten sich nicht im geringsten darüber, bewies es doch, wie sie erklärten, die große Lektion in Kultur, die die Engländer den Indern erteilt hatten. »Würde die Schlachtung des Böckleins nur um ihrer selbst willen vorgenommen, hätten wir über den Tierschutzverein eingegriffen. Sie dient aber vielmehr der menschlichen Ernährung.« Von den Ausführungen des Oberpriesters über Chruschtschow dagegen schienen sie sehr beeindruckt zu sein: es entbrannte augenblicklich eine heftige Diskussion über den Kommunismus und über die Gefahr, die er für ein seit Jahrhunderten von Trägheit und Hunger geplagtes Volk darstellt. Irgendwer meinte schaudernd, der Kommunismus würde sich auch in Indien durchsetzen. Jemand anders sagte, nein, dafür sei Indien ein zu religiöses Land – als wäre nicht auch Rußland ein religiöses Land gewesen. Dann berichteten wir über unsere nächste Etappe, Sumatra. Warum Sumatra? fragten sie. In Sumatra wollte ich die Mutterrechtsstämme suchen, erklärte ich. Ob es denn nicht viel vergnüglicher wäre, nach Bali zu reisen, wo die Tänzerinnen busenfrei tanzten?, versuchten sie mich zu überreden. Ich mache aber keine Vergnügungsreise, erklärte ich. Und da sie eine überaus fade Gesellschaft waren, fügte ich hinzu, wir müßten schleunigst aufbrechen: unser Flugzeug nach Djakarta, via Singapore, starte nachts, 87
wir dürften es nicht verpassen. Die Nacht war warm, und nach meinem fluchtartigen Aufbruch dachte ich wieder an Jamila, an die stählernen Schmetterlinge, an die Frau, die auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes brennen wollte, an die Maharani von Jaipur, die der Gedanke quälte, ich könnte in ihrem Zweihundertrupienbett schlafen. Und das war das Indien, das uns im Gedächtnis und im Herzen bleiben würde – so ganz anders als jenes, von dem wir als Kinder geträumt hatten, und so verdorben. Aber die ganze Welt ist ja bereits verdorben. Mit dem Fortschritt haben wir unser einziges Instrument gegen die Langeweile zerstört; jenen köstlichen Defekt, der Phantasie heißt.
III
Man fliegt von Kalkutta nach Singapore in knapp vier, von Singapore nach Djakarta in anderthalb Stunden. Und was sieht man beim Fliegen, außer einer lebenden Landkarte unter sich und dem Glase Whisky, das einem die Luftstewardeß reicht? Wir haben nicht nur die Phantasie zerstört. Wir haben auch den Reiz des Schlenderns und des Wartens zerstört, die Entdeckerlust, die einst mit dem Reisen verbunden war, ja, selbst die Gefahr, die zuweilen der unerwartete Reisebegleiter war. Die Fluggesellschaften betreuen dich von dem Moment, da du aus dem Jet steigst, bis zu dem Moment, da du den nächsten Jet betrittst, als wärst du ein nicht recht gescheites Kind. Schon bei der Ankunft kennst du fast alles, selbst die Enttäuschung kennst du, die dabei oft Besitz von dir ergreift. Wenn nicht die Neugier auf alles Menschliche dich stützt und bewahrt, siehst du nichts als die Dinge, die du bereits vom Kino oder vom Fernsehen her kennst: sanfte Landschaften, durch Zementhäuser verunstaltet, grüne Wälder, halb niedergehauen für den Bau von Autostraßen, Zivilisation in Form von Coca-Cola-Reklame. Die einzigen Überraschungen ergeben sich fast stets aus der dümmsten aller bürokratischen Einrichtungen, die wir den vom Kolonialismus unterdrückten Völkern zusammen mit der Unabhängigkeit bescherten. Djakarta war ein Dorf mit Flugplatz. Mitten auf dem Flugplatz stand, gleißend wie ein monströser Silberfisch, Chruschtschows Düsenflugzeug: der war in jenen Tagen 89
bei Präsident Sukarno zu Gast. Er verhieß nichts Gutes, dieser Silberfisch. Und in der Tat, im Polizeibüro begehrte der junge Mann in Uniform eine Menge zu wissen: ob wir Waffen oder Messer hätten, aus welchem Grunde uns das Visum erteilt worden sei; dann durchstöberte er meine Handtasche und bemächtigte sich mit einem spitzen Schrei des Bündels Travellerschecks. Die Summe war beträchtlich, er sah mich an, als hätte ich sie Sukarno gestohlen, und fragte kampfeslustig, ob ich all dies Geld in Djakarta ausgeben wolle. Nein, sagte ich, ich brauchte es für meine Weltreise. Er wollte wissen, warum ich es dann nach Djakarta brächte. Ich antwortete, ich brächte es darum nach Djakarta, weil ich es ja nicht vor der Landung aus dem Flugzeugfenster werfen und nachher wieder aus dem Meer fischen konnte; immerhin sei ich bereit, wenn dies das Verfahren zu beschleunigen vermöchte, das Geld dem Polizeichef in Verwahrung zu geben. Zur Bezahlung der Hotelrechnung würde ich dann eben etwas von der Bank holen. Das brachte ihn aus der Fassung. Ah ja? Ich hatte also noch mehr Geld in Djakarta? Aber nein, es sei doch nur ein kleiner Betrag, den meine Zeitung für alle Fälle telegraphisch der Bank anwies – und zwar in jeder Stadt. Er rief einen weiteren Polizisten herbei, dann noch einen, und sie unterhielten sich eifrig miteinander, musterten mich mit schiefen Blicken und wollten dann wissen, was ich in Djakarta zu tun hätte. »Ich werde über die Frauen eures Landes schreiben«, gab ich Auskunft. Ah ja? Ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet! Und was würde ich über die Frauen ihres Landes schreiben? Ich antwortete, das wisse ich nicht – wenn ich es schon wüßte, wäre ich ja nicht nach 90
Djakarta gekommen. Auf alle Fälle würde ich schreiben, was ich zu sehen und zu hören bekäme. Wir wurden von einem Angestellten der Pan American gerettet, einem Amerikaner aus Boston. Gott segne alle Amerikaner aus Boston und aus New York und San Francisco, die einem Orientreisenden auf den Weg plumpsen! Wenn alles um dich herum zusammenzubrechen scheint, wenn du von Verzweiflung übermannt wirst, wenn man dir auf der Botschaft deines Heimatlandes mitteilt, der Herr Botschafter sei nicht da, er sei Forellen fischen gegangen, und der Erste Botschaftssekretär sei nicht da, er habe zu einem Cocktail gehen müssen, und der Kulturattache sei nicht da, er sei mit seiner Frau ein Hütchen kaufen gegangen, und der Handelsdelegierte sei nicht da, er habe Scharlach – siehe da, plötzlich taucht in der Finsternis deiner Wut irgendein Amerikaner auf, der dich kaugummikauend dem Unheil entreißt. Meiner hieß Jack und war ein blonder Melancholiker, dem es vorerst einmal gelang, uns in einen mit Bänken ausgestatteten großen Raum zu führen, den er Zoll nannte und wo ein sehr gewissenhafter Zöllner den Inhalt unserer Koffer auf eine Bank ausleerte und mit unendlicher Sorgfalt jedes Wäschestück, jede Zahnpastatube untersuchte. Dann wühlte er in den Schlafpillen, ob vielleicht irgendein Gift dabei wäre, das ich in die Teetasse Chruschtschows oder Sukarnos zu werfen gedachte. Und dann wandte er seine widerwärtige Aufmerksamkeit Duilio zu. Wozu dienten diese Apparate? Um Photographien zu machen. Ah, ja! Und was war das, diese Röllchen in der Kühltasche? Das waren benützte Filme. 91
»Ah, ah! Aufmachen, sehen!« »Um Gottes willen, nein! Nein!« heulte Duilio auf, totenblaß vor Angst, die Arbeit eines Monats zugrundegerichtet zu sehen. »Wenn ich sie öff ne, kommt Licht herein. Sie sind doch nicht entwickelt.« »Sehen, sehen!« Jack intervenierte, und die Rollen wurden gerettet. Nun aber kam der Zöllner auf die Apparate zurück. Ob wir diese Maschinen in Djakarta verkaufen wollten? Aber nein doch, diese Maschinen seien notwendig für unsere Arbeit. Ob wir die Bewilligung hätten? Natürlich hatten wir die Bewilligung. Dann müßte er sie aber alle registrieren. Nun gut, so solle er sie eben alle registrieren. Er registrierte die Apparate, einen nach dem andern. Im Reglement stand, die Nummern müßten aufgeschrieben werden, also schrieb er die Nummern auf – einschließlich jeder einzelnen Ziffer, die bei den Blenden, den Zeit- und Belichtungsmessern stand. Sein zweifelhaft sauberes Blatt sah der Doktorarbeit eines Mathematikers ähnlich, es dauerte zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten, bis er alles notiert hatte. Dann waren wir frei und konnten auf einen Platz hinaustreten, der zu Ehren Chruschtschows von roten Fahnen flammte. Jack erklärte, es sei unmöglich, ein Hotel zu finden, alle drei Hotels von Djakarta seien überfüllt, wir müßten mit seiner Wohnung vorlieb nehmen. »Aber wir müssen doch gleich weiter nach Sumatra«, sagten wir. »Nach Sumatra?« fragte Jack und sah uns sehr sonderbar an. Dann brachte er uns zu den Indonesian Airlines, wo wir unsere Flugscheine vorwiesen, aus denen hervorging, daß der Flug von Djakarta nach Sumatra bereits gebucht 92
und mit dem »O. K.« versehen war, und der Angestellte betrachtete uns, als hätte er zwei Trottel vor sich. »Unmöglich. Alle Flüge nach Sumatra sind aufgehoben, niemand kann nach Sumatra.« »Wieso? Ist dort Krieg?« »Nein, nein. Man kann nicht hin und damit basta.« »Aber in Singapore hat man uns doch das O. K. gegeben.« »Bedaure. Der Flugplatz ist geschlossen.« »Warum?« »Einfach so.« »Gehen wir nach Bali«, regte Duilio an, ganz zufrieden bei der Aussicht, die Matriarchen durch Tänzerinnen mit unverhülltem Busen ersetzen zu können. »Unmöglich. Alle Flüge nach Bali sind bis 1965 vorgebucht«, sagte der Angestellte. »Bali ist eine Ferieninsel geworden, wissen Sie.« Jack war traurig. Diesmal konnte nicht einmal er etwas für uns tun. Wir setzten uns alle drei ratlos in eine Bar voller Fliegen und fanden keinen vernünftigen Ausweg. Auf dem Wasserwege nach Sumatra gelangen? Das würde mindestens acht Tage dauern, und dann ließe man uns womöglich nicht einmal an Land. Die Matriarchen in Java suchen? In Java gab es keine. Im übrigen hätte man uns, solange Chruschtschow hier herumgondelte, bei jedem Schritt unter Spionageverdacht blockiert. »Was tun wir bloß, Jack?« Jack schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ihr habt ja keine Ahnung, was es bedeutet, hier unten zu leben. Eine Katastrophe – und nicht nur wegen der Hitze 93
und der Fliegen. Als ich herkam, freute ich mich, ich dachte an Bali, an das Paradies auf Erden und ähnliche Torheiten. Jetzt bin ich seit drei Jahren hier, und wenn die Pan American mich nicht bald ablösen läßt, brenne ich durch, das schwöre ich euch.« Dann hatte er eine Erleuchtung: »He! Matriarchen findet ihr aber in Malaya. Warum haut ihr nicht ab? Haut doch ab, verflixt nochmal!« Die Idee ließ seine Augen aufblitzen, als vermöchte er durch unsere Flucht selber ein wenig zu fliehen. Es tat mir leid, so abzureisen, kaum daß wir die kleine Zehe auf dem gefeiertsten Archipel der Welt aufgesetzt und nichts davon gesehen hatten als ein häßliches Dorf namens Djakarta mit Sowjetflaggen und einem Dummkopf von Zöllner. Und doch war das die einzige annehmbare Lösung. Also liefen wir zum Flugplatz zurück, und während man uns mit verdoppeltem Argwohn musterte, erkundigten wir uns, ob ein Flugzeug nach Singapore hier sei. Ja, es war eines da. Gleich würde es starten. Aber es war nur noch ein Platz frei. »Los, los!« drängte Jack. »Und ich? Was mache ich?« jammerte Duilio. Gemein zuckte ich die Achseln und überwand die Polizeisperre mit meiner Flugkarte. Ich überquerte die Piste, ohne den monströsen Silberfisch auch nur anzusehen, der Chruschtschow gehörte, und bestieg das Flugzeug, als sie eben dabei waren, die Gangway wegzuziehen. Beim Pistenausgang winkte Jack eifrig mit dem Taschentuch, Duilio hingegen hielt die Hände in den Taschen und starrte mich böse an. Das Flugzeug hob sich in die Luft, flog dem kornblumenblauen Meer entgegen, dröhnte über die grünen In94
seln hinweg, über die Buchten, wo das Wasser eine phosphoreszierende weiße Tönung annimmt, und eine leise Wehmut drückte mir die Kehle zusammen bei dem Gedanken, daß ich nun ziemlich sicher niemals in diesem Wasser schwimmen, niemals diese grünen Inseln durchstreifen würde. Und das alles nur, weil die Menschen töricht sind, erst recht töricht dann, wenn sie die Spielregeln dessen lernen, was sie »die zivilisierte Welt« nennen – die Welt der Formulare und der sinnlosen Vorschriften. Dann landete die Maschine in Singapore, dieser prachtvollen, zauberhaften Stadt der Palmen und feurigen Sonnenuntergänge, und meine Wehmut schwand. Nichts stand meinem Plan, die Mutterrechtsstämme in Malaya zu suchen, entgegen: wir brauchten uns lediglich nach Kuala Lumpur zu begeben und dann der Straße zu folgen, die durch den Dschungel führt. Ich wartete also, bis Duilio eintraf, und als er da war, feucht vor Schweiß und Wut, und schrie, er würde dem ersten, der noch ein Wort von Bali oder Sumatra sagte, die Knochen entzweischlagen, da machten wir uns auf den Weg nach Kuala Lumpur, einer Stadt mitten im Dschungel, zusammen mit dem Chauffeur Ming Sen, der den Dolmetscher spielte. Und unser Abenteuer begann. Der Kautschukwald verschluckte uns, schweigsam und unbeweglich, kurz nachdem wir die Stadt verlassen hatten, und Ming Sen betrachtete uns im Rückspiegel seines Wagens, als wollte er herausfinden, welcher Spleen uns von einem Land, in dem es kühl ist, fortgetrieben und mitten an den Äquator geführt haben mochte, wo die Hitze sich 95
einem eisernen Helm gleich um Kopf und Augen preßt, bis man ganz blind und krank wird. Sein gelbliches, rundes Gesicht mit den schweren, nur zu einem Schlitz geöffneten Lidern verriet heftige Ironie. Wir waren hergekommen, so hatte ich ihm erklärt, um jene Frauen zu suchen, die den Männern nicht einmal die Bedeutung eines Reiskorns beimessen, und Ming Sen, der zwei Frauen und zwei Nebenfrauen besitzt, kam immer wieder lachend darauf zurück: »Wie nennst du sie, Tuan?« Tuan ist das malaiische Wort für »Herr«, und Ming Sen spricht mit diesem Namen sowohl Männer als Frauen an, sofern sie Europäer sind. Diese unterscheiden sich, sagt er, sowieso nicht sehr voneinander. »Matriarchen, Ming Sen«, antwortete ich zum soundsovielten Male. »Nicht ich nenne sie so. Sie heißen so in der ganzen Welt.« »Gibt es in Europa Matriarchen, Tuan?« »Es gibt sie. Bloß glaubt’s niemand, Ming Sen.« »Ein Freund von mir aus Kuala Lumpur hat einmal eine von ihnen geheiratet, Tuan. Sie hatte ihn im Walde verführt, aber da sie nicht häßlich war und fünf Reisfelder besaß, heiratete er sie. Gibt es das in Europa auch, Tuan?« »Und ob, Ming Sen.« »Anfangs war sie eine gute Frau, Tuan. Sie verrichtete die schwere Arbeit und hatte nur den einen Fehler, daß sie meinem Freund seinen Lohn als Gummieinsammler wegnahm. Gibt es das in Europa auch, Tuan?« »Und ob, Ming Sen.« »Dann änderte sie sich und verlangte die Scheidung und behielt das Geld und das Land. So mußte er zu seiner Mut96
ter zurück, und jetzt zieht er die Rikscha. Gibt es das in Europa auch, Tuan?« »Und ob, Ming Sen.« »Warum suchst du sie dann hier, Tuan?« »Weil das hier wirkliche Matriarchen sind, Ming Sen. Nicht verlogen wie die in Europa, Ming Sen. Kurzum, achtbare Matriarchen.« Das Auto rollte die asphaltierte Straße entlang, die die Amerikaner angelegt haben, um Krieg zu führen. Die Kautschukbäume drängten sich in ihrer quälenden Gleichheit, wie ein Traum, der nichts als Bäume enthält: Tausende und Abertausende von silbrigen Bäumen, alle von gleichem Umfang und gleicher Höhe, alle mit einem spiralförmigen Einschnitt versehen, an dessen unterem Ende die mit einem Eisendraht befestigte Tasse hängt, die den milchigen Saft auffängt. Ganz gerade standen sie, wie Säulen einer Kathedrale ohne Anfang und ohne Ende. Und ihre Blätter, die erst in sechzig Meter Höhe sich entfalten, woben ein grünes Dach, durch das, wie von der gläsernen Kuppel einer Kathedrale, schmale Sonnenstreifen drangen. In diesen Sonnenstreifen leerten die Einsammler den Inhalt der Tassen, der sahnig wie frischgemolkene Milch aussah, flink in die Eimer. Es waren kleine, muskulöse Männer mit nacktem Oberkörper, die unterhalb bis zu den Knöcheln in jenem Wickelrock steckten, den man Sarong nennt. Sie leerten die Tassen mit unglaublicher Fixigkeit und hüpften dabei wie Heuschrecken von Baum zu Baum, und Ming Sen sagte, die meisten von ihnen seien Söhne oder Ehemänner der Frauen, die ich Matriarchen nenne – es würde ihnen also ebenso ergehen wie seinem Freund in Kuala Lumpur. 97
Ming Sen lachte, wie nur Malayen zu lachen verstehen, die hinter ihrem Lachen alles verbergen: Haß, Entrüstung, Überraschung. Und er wollte mir nicht glauben, als ich sagte, die Matriarchen brauchten nicht unbedingt bösartig zu sein, sie lebten einfach auf andere Art als seine Nebenfrauen: sie geboten den Männern, so wie er seinen Nebenfrauen gebot; das war alles. »Aber das ist doch absurd, Tuan.« »Und du bist nicht absurd, Ming Sen?« »Ich bin ein Mann, Tuan.« Es hätte schwergehalten, dem Muselmanen zu erklären, was ich über die Matriarchen wußte: zum Beispiel, daß ihre Autorität in erster Linie auf wirtschaftlichen Gründen beruht. In der Tat sind sie es, die das Land besitzen, nicht die Männer, und sie übertragen es von der Mutter zur Tochter, als existierten die Männer gar nicht. Sie verheiraten sich nur mit einem einzigen Mann und halten ihm die Treue, doch nehmen sie seinen Namen nicht an und geben ihn nicht an seine Kinder weiter. Sie leben auch nicht mit ihren Ehemännern zusammen; wenn nicht besondere Abmachungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter, die stets zwei verschiedenen Stämmen angehören, getroffen werden, leben die Männer nach der Hochzeit weiterhin bei ihren Müttern, und die Kinder räumen ihnen keine Autorität ein, denn die einzig gültige Autorität ist die mütterliche. Sie sind selten geworden, die Matriarchen. Aber es gibt sie noch, wie die Zigeuner auch, in einzelnen Teilen der Welt, so in Japan und in Australien, an der Goldund an der Elfenbeinküste, in Nordrhodesien, im Ashanti und im Dahomey, an der Küste von Malabar, in gewissen 98
Zonen Südindiens wie Assam und Garos, in Mikronesien, in Melanesien, und ihr System ist vielleicht das älteste der Welt. Juristen wie der Schweizer Jakob Bachofen und Ethnologen wieder Amerikaner Lewis Morgan bestätigen in der Tat, daß das Mutterrecht in prähistorische Zeiten zurückgeht, als Männer und Frauen noch vermischt lebten und die einzig unzweifelhafte Verwandtschaft diejenige zwischen Mutter und Kind war. Auch Herodot schreibt, daß die Lykier und andere Völker Kleinasiens nach Mutterrecht und Mutterlinie geordnet waren, weil die Frauen, wenn die Männer auf die Jagd oder in den Krieg zogen, Herrinnen der Felder wurden; und der Schritt von der wirtschaftlichen zur sozialen Macht ist, wie man weiß, sehr kurz. Das war auch der Fall bei den Matriarchen, die wir hier im Negri Sembilan aufsuchen wollten, die vor sechs Jahrhunderten Sumatra verlassen hatten, um neues Land zu erobern, und in zerbrechlichen Booten die Meerenge von Malakka durchquert hatten. Das Land hier war Dschungel. Und sie hatten es genommen, als wäre es das sanfteste Tal, sie hatten es fertiggebracht, den Wald zu roden und Terrassen für ihre Reisfelder anzulegen, Landgüter, auf denen Bananen und Kokospalmen wuchsen. Es gibt keinen Malayen, der sich nicht im Grunde seines Herzens vor dem Dschungel fürchtete, diesem Inferno aus Blättern und Stämmen, das sich vermehrt und in unstillbarem Hunger das Land verschlingt; die Matriarchen aber haben keine Angst vor ihm und verlassen ihn nie. Sie verließen ihn auch während des Krieges nicht, als alles sich in weniger unsichere Gegenden flüchtete. Die Japaner brannten ihre Hütten nieder, und sie bauten sie wieder auf. Die 99
Japaner verwüsteten ihre Reisfelder, und sie pflanzten sie von neuem an. Nach dem Kriege, als der Dschungel in den Händen der Kommunisten war, wurde es noch unsicherer, darin zu leben; die Guerillas gaben keine Ruhe. Und doch gingen die Matriarchen auch dann nicht weg, und so geschah es, daß eines Tages Polizisten auf der Jagd nach Rebellen in den Dschungel drangen, um die Männer der Matriarchen zu verhaften. Sie umstellten ganze Stämme, fielen mit Bazookas und Gewehren über die Hütten her und fanden nichts als die Matriarchen, die ihre Bazookas und Gewehre verlachten. Die Männer waren nicht mehr da. Nun verhafteten die Polizisten die Frauen mitsamt ihren Kindern und brachten sie ins Hauptquartier. Im Hauptquartier verhörte man sie: »Wo ist dein Mann?« Und die Matriarchen lachten: »Laki t’ada. Kein Mann.« »Es ist doch nicht möglich, daß ihr allesamt Witwen oder Unverheiratete seid?« schrien die Polizisten und wiesen mit ausgestrecktem Arm auf die nur wenige Monate alten Kinder. »Laki t’ada. Kein Mann.« »Wir werden euch erschießen«, schrien die Polizisten, in ihrer Würde als Polizisten und als Weiße verletzt. Und die Matriarchen, mit noch frecherem Lachen: »Laki t’ada. T’ada Laki.« Ihre Männer waren entflohen oder hielten sich in den Reisfeldern, im Wasser versteckt. Die Matriarchen aber hätten sich eher erschießen lassen, als sich zu verstecken oder zu fliehen und dieses Land, das Symbol ihrer Herrschaft, im Stich zu lassen. Nach dem Krieg, so hatte mir der Franzose Pierre Martin erzählt, der in Singapore lebt und die Matriarchen seit Jahren studiert, sind Dörfer und Städte rund um den Dschungel erstanden, mit Kaufläden, Lichtspieltheatern 100
und allem. Sie aber kommen nur einmal im Jahr dort hin: um zum Zahnarzt zu gehen. »Warum gerade zum Zahnarzt?« »Sie werden noch draufkommen.« »Und sind sie glücklich?« »O ja. Ich glaube, es sind die glücklichsten Frauen der Welt.« Natürlich war es sehr schwierig, wie Ming Sen lachend meinte, die glücklichsten Frauen der Welt zu finden. In Kuala Lumpur wußte niemand, wo sie lebten. Ebensowenig wußte man es in Kuala Pila oder in Rembau, den Gebieten, die zu durchforschen mir Pierre Martin geraten hatte. Die glücklichsten Frauen der Welt hatten weder eine Adresse noch eine genau bekannte Wohnzone. Und wenn Ming Sen die Leute danach fragte, zuckten sie die Achseln oder antworteten, indem sie mit dem Finger auf einen recht unbestimmten Punkt zeigten: »Dort hinten.« Wir fuhren schon seit mindestens zwei Stunden durch die Bäume, die glücklichsten Frauen der Welt erschienen mir immer ferner und unwirklicher, und wir waren schon fast überzeugt, daß es sie gar nicht gebe, als in Serembau der Herr Mohammed Reza uns sagte, o doch, es gebe sie, nur müßte man sie innen im Dschungel suchen. Also ließen wir Ming Sen und sein Automobil auf der Asphaltstraße und rückten mit Fahrrädern und mit Mohammed Reza in den Dschungel vor. Die Fahrräder hüpften den immer schmaler werdenden Pfad entlang, der Dschungel wurde finsterer: mit seinen mächtigen, gewundenen Bäumen, seinen Lianen, so stark wie Stahlkabel, seinen üppigen, riesigen Blättern, dem ewi101
gen, klebrigen Grün. Mohammed Reza erzählte, daß der Pfad von der Polizei zur Zeit der Guerillakriege gegen die Kommunisten angelegt worden war; damals war es allerdings kein Pfad, sondern eine Straße, die mit Jeeps befahren wurde. Der Dschungel hatte die Straße nahezu verschlungen, bald würde nichts mehr davon übrig sein. Ein schrecklicher Ort, meinte Mohammed Reza; nur sehr starke oder sehr glückliche Geschöpfe könnten hier leben. Er jedenfalls vermöchte es ganz bestimmt nicht, halb und halb bereue er bereits, mit uns gekommen zu sein: im Dschungel lebten nicht nur Affen und Fasanen, sondern manchmal auch Tiger. Dann öff nete sich unvermittelt der Dschungel und gab jenseits einer hölzernen Brücke den Blick frei auf eine Lichtung. Und inmitten der Lichtung, umschmeichelt von den weißen Blütenblättern eines Brotbaumes, erhob sich ein Matriarchenhaus. Es war ein schwarzes Holzhaus mit einem Dach aus Palmblättern und Reisstroh und stand auf Pfahlwerk drei Meter über der Erde, mit einer einzigen Tür, zu der man über eine kleine Leiter gelangte. Das Haus war, wie Mohammed Reza sagte, auf Pfählen errichtet wegen der wilden Tiere und wegen der Überschwemmungen; wenn aber die wilden Tiere und die Überschwemmungen wirklich kamen, nützte diese Vorsichtsmaßnahme auch nicht eben viel. Aus dem Fenster drang ein Geräusch wie von einer Nähmaschine, und die Musik eines Grammophons, das englisch sang: »Oh, baby! How I miss you, baby!« In der Nähe, unter einem geflochtenen Dach, stampften zwei Frauen im Sarong mit einem hölzernen Pfahl eine Schale Reis zu Mehl. Die Szene unterschied sich gar nicht sehr von dem, was 102
man bei uns auf dem Lande sieht, wenn die Männer auf die Felder gehen und die Frauen zu Hause zurücklassen. Als Mohammed Reza auf Malaiisch etwas hinüberrief, hoben die beiden Frauen, die den Reis stampften, argwöhnisch die Köpfe, das Grammophon hörte auf, »Oh, baby! How I miss you, baby!« zu singen, und auch das seltsame Nähmaschinengeräusch verstummte. Dann begannen die Frauen sich gegenseitig zuzurufen und mit den Händen zu fuchteln, ganz wie die Bauern in Italien, wenn sie einen Fremden erblicken, dem man vorerst besser nicht traut, und hinter den Bäumen kamen rasch weitere Frauen hervor, eine rutschte mit der Behendigkeit eines Affen von einer Kokospalme herab, eine andere trat verstohlen aus dem Haus, bis sie schließlich alle in einer Reihe standen und uns betrachteten. Ecco – so viel Mühe hatten wir ausgestanden, um herzukommen und sie zu finden, und jetzt waren sie da: gelb, rot, lila gekleidet, mit einem kurzen Jäckchen, das den fast busenlosen Oberkörper umschloß, und dem Sarong, der die Beine bis zu den Knöcheln verhüllte. Sie waren klein, schlank, mit rundlichen, goldbraunen Gesichtern, die Augen leicht mandelförmig, die Nase stumpf – jene etwas unbestimmbare Rasse der Malayen, die sich mit Einwanderern aus Java, Sumatra, China, Indien und sogar Arabien vermischt hat. Sie standen nach dem Alter geordnet: zuvorderst eine Greisin, so uralt und verrunzelt, daß sie hundert Jahre alt zu sein schien, dann eine, die siebzig sein mochte, dann eine um die fünfzig, eine Junge von etwa dreißig, schließlich die jungen Mädchen. Und bei allen, außer den ältesten und den Mädchen, war mindestens ein Zahn mit 103
einer Goldplatte umschlossen, in der vorn eine Art herzförmiges Fensterchen ausgeschnitten war. Durch dieses Fensterchen blinkte weiß der Zahnschmelz, nach jener Mode, die den Asiatinnen vor dreißig Jahren so sehr gefiel. Sie wirkten schüchtern, nur die Alte nicht, die uns angrinste, als wären wir sehr komisch. Und sie fragten nichts. Dann sagte Mohammed Reza etwas, und nun luden sie uns durch Gesten ein, in die Hütte heraufzukommen, die groß und sauber war, mit Matten aus Palmblättern ausgelegt, und auf den Matten standen ein Grammophon zum Aufziehen und eine Tretnähmaschine. Das Grammophon war noch eins von jenen mit großem Trichter und aufgemalten Blümchen. Die Nähmaschine hingegen war jüngeren Datums mit einem Deckel und allem, was dazugehört. Ich blieb verwirrt stehen und sah mich um, fest enttäuscht, möchte ich sagen. Da reist man so viele Kilometer weit, um mitten in den Dschungel zu gelangen, und kommt man endlich dort an, was findet man? Eine Nähmaschine und ein Grammophon. Ich bedeutete Mohammed Reza, zu fragen, wem die Dinge gehörten. »Das ist die Mitgift meines Mannes«, gab die jüngste Frau, die Jamila hieß, zur Antwort. »Er brachte sie mit, als ich ihn heiratete.« »Wo ist dein Mann?« fragte Mohammed Reza. »Bei seiner Mutter«, sagte Jamila. »Was, bei seiner Mutter?« »Gewiß. Ich habe ihn zu ihr zurückgeschickt. Er hatte keine Lust zum Arbeiten, nicht einmal das Gummieinsammeln paßte ihm, und das ist doch eine leichte Arbeit. Er verstand weder einen Baum zu fällen noch Holz zu hacken 104
noch Reis zu kochen. So habe ich ihn eben fortgejagt. Es wird höchste Zeit, daß auch die Männer lernen, sich ein bißchen selber durchzuhelfen. Die Zeiten haben sich geändert, findest du nicht auch?« »Und wo sind die Männer der andern?« Man sah in dieser Hütte nicht einmal die Spur eines Mannes. Den einzigen Beweis, daß es sie geben mußte, bildeten die Kinder. »Bei ihren Müttern. Oder bei der Arbeit in der Stadt.« Jamila schien über die Frage erstaunt zu sein. »Und kommen sie nie her?« »Natürlich kommen sie: einmal im Monat, oder einmal in der Woche. Dann nämlich, wenn wir Lust haben, mit ihnen zusammen zu sein. Wozu brauchen sie in der übrigen Zeit hier herumzustehen?« Sie war sehr modern, diese Jamila. Sie konnte sogar lesen und schreiben und war sich bewußt, daß Italien in Europa und jedenfalls sehr weit von hier lag. Ihre Mutter hatte ihr das Lesen und das Schreiben beigebracht, und einmal war sie bis nach Kuala Lumpur gekommen, um dort Prüfungen abzulegen. Ob ihr Kuala Lumpur gefallen habe? »Nein, wirklich nicht, ich fühle mich wohl auf dem Lande.« Nun setzte Mohammed Reza ihnen den Grund unseres Kommens auseinander, und die Matriarchen ließen sich, nachdem sie miteinander verhandelt hatten, auf den Matten nieder, bereit, unsere Fragen zu beantworten, und sehr liebenswürdig. Sie wußten genau, was eine Zeitung ist; Jamila hatte in Kuala Lumpur viele Zeitungen gesehen. »Waren schon andere Journalisten hier?« fragte ich. »Nein. Was ist das, Journalisten?« »Leute, die für Zeitungen schreiben.« 105
»Oh!« In der Mitte saß die Älteste, die, wie Jamila sagte, zweiundneunzig Jahre alt und die Urgroßmutter war. Rund um sie gruppierten sich die andern, und während sie auf den Beginn der Unterhaltung warteten, flochten sie Palmblätter zu Matten. Die Urgroßmutter hieß Norpah. Die Großmutter hieß Hawa. Die Mutter hieß Zinah. Das Wort wurde Großmutter Hawa erteilt, die im Auftrage von Norpah das Amt des Familienvorstandes ausübte. Wir begannen das Gespräch: ich wollte wissen, auf welche Weise bei ihnen die Frauen regieren. »Wieso?« fragte Hawa und hielt im Flechten inne. »Regieren in Europa nicht die Frauen?« »Nein«, sagte ich. »In Europa regieren die Männer.« »Das versteh ich nicht«, äußerte Hawa. Sie war eine schlichte alte Frau mit zerstreutem Ausdruck. »Alles ist ganz anders«, erklärte ich. »Bei uns ist das Familienoberhaupt ein Mann, und der Mann gibt der Ehefrau und den Kindern den Familiennamen.« »Heißt das, die Braut nimmt den Namen des Bräutigams an, anstatt der Bräutigam den der Braut, und eine Frau kriegt, wenn sie zur Welt kommt, den Namen des Vaters anstatt den der Mutter?« erkundigte sich Hawa. »Gewiß«, antwortete ich. »Oh!« rief Hawa überrascht aus. »Aber der Mann gehorcht doch der Frau, oder nicht?« »Nein«, erwiderte ich. »Im allgemeinen nicht. Jedenfalls ist es nicht die Regel.« Mohammed Reza übersetzte, und ein gewaltiges Gelächter brach in der Hütte aus. Die Matriarchen lachten, als 106
hätte ich den Witz des Jahres erzählt, die einen hielten sich den Bauch, die andern schlugen sich mit den Händen auf die Knie, und auch die Urgroßmutter lachte und entblößte ihre schwarzen Zahnstümpfe, bis sie schließlich die Arme hob, als wollte sie sagen: »Ruhe! Hier stimmt etwas nicht«, und sich über mich beugte. »Wer hält bei euch um den Bräutigam an?« Ich bat Mohammed Reza, ihr zu sagen, daß in der Regel der Bräutigam um die Braut anhält; wenn das Gegenteil geschieht, dann schreiben die Leute dies der Verderbtheit der Zeiten zu. »Bedeutet das, eine Frau kann sich keinen Mann auslesen?« »So ungefähr.« »Und wenn eine Frau einen Mann im Walde verführt?« »In der Regel sind es die Männer, die die Frauen im Walde verführen.« Norpah schaute Hawa an, die schaute Zinah an, die schaute Jamila an, die schaute die andern an, und dann schauten alle mich an, mit forschender Miene, als sei ich ein bißchen verrückt. »Bedeutet das, daß die Frau in das Haus des Mannes zieht?« fragte Norpah. »Gewiß«, bestätigte ich. Von neuem schaute Norpah Hawa an, und diese Zinah, und diese Jamila, und wieder schauten sie alle mich an, als sei ich verrückt geworden. »Und wenn eine Frau nicht für ihren Mann sorgt, kann er dann die Scheidung verlangen?« fragte Norpah. 107
»In Wirklichkeit ist es der Mann, der für die Frau zu sorgen hat«, erklärte ich. »Aber das ist ja nicht nur in Europa so. Es ist in Singapore und in Kuala Lumpur ebenso.« »Dort ist es eine Ausnahme.« Mohammed Reza antwortete etwas, während er wütend errötete. Ich fragte ihn, was er geantwortet habe, und er berichtete, er habe gesagt, das sei keinesfalls eine Ausnahme, sondern die Regel. »Und ihr beugt euch einer solchen Regel?« forschte Norpah, indem sie Mohammed keines Blickes würdigte, ihn jedoch mit einem schnellen Wink ihres Fingers aufforderte, zu übersetzen. Dann, ohne die Antwort abzuwarten, die sie im voraus als skandalös oder unglaubhaft zu betrachten schien, und mit dem Befehl an Mohammed, Silbe für Silbe zu übersetzen, rezitierte sie: »Als die Erde nicht Erde genannt wurde, sondern Nabel der Welt, und der Himmel nicht Himmel, sondern Schirm der Welt, und die Erde klein war wie eine Schale und der Himmel klein wie der Schatten der Sonne, da war der Mann Sklave und die Frau Herrin. Dann wurde die Erde Erde genannt, und der Himmel wurde Himmel genannt, und die Frau machte den Mann zu ihresgleichen. Die Erde aber gehört noch immer der Frau; wie auch die Kinder und die Mitgift, die der Mann ihr bringt.« Sie wartete, bis Mohammed alles übersetzt hatte, wiederholte ihren Psalm, sobald er steckenzubleiben drohte, und ging dann ganz beleidigt weg. »Achten Sie nicht auf sie«, beschwichtigte Hawa. »Sie ist alt, sie sieht die Dinge nach alter Art. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Und sie stieg in das hinunter, was sie Garten nannte, schüttelte eine Kokospalme, 108
die dicht mit gelben Früchten behangen war. Zwei oder drei Nüsse plumpsten zu Boden. Hawa nahm die größte und gelbste auf, schnitt sie an der Spitze mit einem sicheren Beilhieb ab und reichte sie mir, damit ich den milchigen Saft trinke. »Darf ich ihm auch etwas geben?« fragte sie dann, indem sie eine kleinere Nuß aufhob und auf Duilio deutete. »Wenn Sie wollen, gern.« »Nein, nein. Es kommt auf Sie an. Er ist ein Mann. Und ihm auch?« Sie meinte Mohammed. »Ihm auch, natürlich.« Mohammed übersetzte geduldig, aber seine Lippen zitterten ein wenig, und er war jetzt nicht mehr rot vor Zorn. Er war blaß. Schweigend tranken wir die Kokosmilch, die frisch und leicht süß und durststillend war. Dann pflückten wir Bananen, klein wie Datteln und steinhart, und Hawa zeigte uns die Reisfelder und die andern, auf denen Kartoffeln und Tapioka angebaut wurden; sie machte uns auch vor, wie sie einen Baum umlegen konnte, obwohl ihre Arme dünn und ohne Muskeln waren. Sie haute mit geschickten Beilhieben eine Kerbe hinein, dann fing sie mit einer gedrehten, lassoförmigen Liane den stärksten Ast ein und zog und zog, bis der Baum in einem Aufrauschen von Blättern zu Boden fiel. Hawa sah zufrieden aus, und auch Jamila sah zufrieden aus, und nur, wenn sie von dem verfluchten Kautschuk sprachen, wurden ihre Gesichter ein wenig traurig. »Die Weißen kaufen den ganzen Dschungel zusammen, um Kau109
tschuk zu pflanzen, eines Tages werden wir gezwungen sein, anderes Land zu suchen. Und wenn nicht irgendeine von uns den Mut hat, von vorn zu beginnen, wie sollen dann unsere Söhne heiraten können? Sie werden Frauen ohne Land heiraten müssen. Ich sehe schwarz für meinen armen Junos«, sagte Hawa. Junos, erläuterte sie mir, war das einzige männliche Wesen der Familie. »Der Herr ließ ihn als Jungen zur Welt kommen, den armen Junos, und die Welt ist so hart für die Männer. So lasse ich ihn einen Beruf erlernen, der es ihm ermöglicht, eine Mitgift zusammenzubringen und ein Mädchen zu heiraten, dem noch ein wenig Land verblieben ist. Ich habe schon drei Zähne dafür ausgegeben«, sagte Hawa glücklich. »Was?« »Drei Zähne.« Und sie sperrte, noch glücklicher, ihren Mund auf. Von drei Schneidezähnen war das Gold entfernt worden, und nun starrten die Zähne gelblich hervor, mit dem Abdruck eines kleinen weißen Herzchens in der Mitte. »Die Zähne sind meine Bank«, erklärte Hawa und klopfte mit dem Zeigefinger dagegen. »Meine Töchter haben das Land, aber mein Sohn hat meine Zähne. Wenn ich Geld brauche, gehe ich nach Kuala Lumpur und lasse das Gold wegnehmen. Es tut weh, aber was macht das? Mit diesem Zahn habe ich Junos eine Brille gekauft. Die größte Brille von Kuala Lumpur.« »Haben die Matriarchen dir gefallen, Tuan?« fragte Ming Sen, als wir wieder bei ihm auf der Asphaltstraße waren. 110
»Ja, Ming Sen. Sie haben mir sehr gefallen.« »Dann sind sie also nicht bösartig, Tuan?« »Nein, sie sind nicht bösartig, Ming Sen.« Der Wagen rollte Kuala Lumpur entgegen, entfernte sich mehr und mehr von diesem apokalyptischen Grün, das von Jahrhundert zu Jahrhundert immer grüner wird, ohne im Winter abzusterben und ohne im Frühling aufzuerstehen. Und mir war, als nähme ich von einem glücklichen Erdenfleck für immer Abschied. Dann waren wir in Kuala Lumpur, wo ein sehr unsympathischer Beamter sich beklagte, daß wir von Malaya bloß die Matriarchen von Negri Sembilan gesehen hatten. Glücklicherweise, hob er hervor, gab es von ihnen nur noch zehn Stämme, und auch diese sterben allmählich aus. Der unsympathische Beamte war ein Weißer mit einer Hakennase und kam aus Tasmanien. Er erklärte mir auch, daß die Regierung versuchte, die Matriarchen einem zivilisierten Leben zuzuführen, weil es doch skandalös sei, daß es im unabhängigen Malaya noch solche wilden Frauen gebe. »Stellen Sie sich vor, die üben nicht einmal das Stimmrecht aus. Sie sagen, es sei ein Blödsinn und diene nur dazu, anmaßende Männer zu wählen.« Der Beamte saß in einem Büro mit Klimaanlage, vielleicht rührte es daher, daß seine Worte einen so kühl anwehten. Jedenfalls verabschiedeten wir uns, und durch den Kautschukdschungel und anschließend über den »Causeway«, der bis zum Meer führt, brachte Ming Sen uns nach Singapore zurück, wo reiche Chinesen mit ihren Konkubinen in prunkvollen Night-clubs tanzten und wo Lastwagen, beladen mit Jutensäcken voll Gummi, ihre Ware auf Schiffe verluden, diese Ware, die Hawa alle Zahne kosten 111
wird, die sie im Munde trägt. Die Fahrt dauerte fast eine Nacht lang, in einem Regen, der dicht wie Nebel war. Ming Sen hatte uns Reis besorgt, in Bananenblätter verpackt. Im Dunkel aß ich diesen Reis und dachte dabei an Hawa, die zum Zahnarzt ging und sich das Gold von den Zähnen reißen ließ, um ihrem Sohn eine Brille zu kaufen, die größte Brille von Kuala Lumpur. Und auf den Zähnen blieb ein weißes Herzchen zurück, klein wie ein Reiskorn.
IV
Das Haus von Han Suyin liegt auf einem Hügel in Johore Bahru, eine halbe Stunde Taxifahrt von Singapore entfernt. In Singapore sagten alle, jedermann würde mir den Weg zu ihr weisen können. Jetzt aber fragte ich: »Han Suyin?«, und die Leute starrten mich an, als fragte ich nach einem Geist. »Han Suyin wer?« »Die Schriftstellerin.« »Es gibt keine Schriftstellerin in Johore Bahru.« »Aber ihr wißt doch, wer Han Suyin ist?« »Nein. Wer ist das?« Da zitierte ich ›A many splendored thing‹ (Alle Herrlichkeit auf Erden), das erfolgreichste Buch, das sie geschrieben hat, und erklärte, daß die Amerikaner daraus auch einen Film machten, mit Jennifer Jones und William Holden, dann erinnerte ich an das Lied ›Love is a many splendored thing‹ – doch noch immer starrten mich die Leute an, als redete ich von einem Geist, und schließlich wurde mir klar, daß in Johore Bahru niemand Han Suyin kennt, noch ihr Buch, noch den Film nach diesem Buch, noch das Lied aus diesem Film. Man kennt dort eben nur Frau Doktor Elisabeth Comber, Spezialärztin für Tropenmedizin und Kinderkrankheiten, die täglich von zehn bis zwölf und fünfzehn bis siebzehn Uhr in ihrem Haus auf dem Hügel Sprechstunde hat. Elisabeth ist ihr wirklicher Name, den ihre flämische Mutter für sie aussuchte. Com113
ber hingegen ist der Familienname ihres zweiten Mannes, eines Polizeibeamten, den Han Suyin nach dem Tode von Mark Elliott heiratete, jenes Journalisten der ›Times‹, mit dem sie die in ihrem Roman geschilderte Liebesgeschichte erlebte. Ein Roman, in dem nichts erfunden ist, weder die Namen, noch die Umstände, noch die Orte. Sie hat mir immer Eindruck gemacht, diese Frau, die so mutig ist, ohne heuchlerische Skrupel oder literarische Umschweife ihre eigene Liebesgeschichte zu erzählen. Und es war schon lange mein Wunsch gewesen, sie kennenzulernen; mehr aus persönlicher Neugier, ich gebe es zu, als um sie recht eigentlich zu interviewen. Zum Beispiel: War sie wohl schöner oder häßlicher als Jennifer Jones, die Schauspielerin, die im Film ihre Rolle spielte? War sie aufrichtig oder exhibitionistisch? War sie glücklich oder unglücklich? Mir war, als müßte von ihrem Aussehen und ihrer Haltung die Wahrhaftigkeit dessen abhängen, was sie erzählt hatte, die Antwort auf eine Frage in bezug auf Frauen, denen es gelungen ist, eine Persönlichkeit zu werden. Daß der Gewinn einer solchen Begegnung weit größer sein würde, ahnte ich nicht im geringsten. Ich hätte nämlich (das weiß ich jetzt) die chinesischen Frauen gar nicht verstanden, wenn ich Han Suyin nicht kennengelernt hätte – diese Chinesin, die in sich das China von gestern und das China von heute, das kommunistische und das nichtkommunistische China, den rückständigen und den sich emanzipierenden Orient vereinigt und zum Ausdruck bringt. Ich sage Chinesin, und eigentlich müßte ich Eurasierin sagen: ihre Mutter war blond und stammte aus Brüssel. Von diesem Blond jedoch findet man 114
keine Spur in Frau Dr. Elisabeth Comber, will sagen Han Suyin. Jahrhunderte von Vorfahren mit schwarzem Haar und Mandelaugen haben es einfach aufgeschluckt; als Chinesin lebt, denkt, liebt, rebelliert und kleidet sich Han Suyin. In China ist sie geboren, in China hat sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht. In China heiratete sie ihren ersten Mann, den General Tang, von dem sie eine Tochter hat, Mei Ling. In China doktorierte sie in Medizin und schrieb ihr erstes Buch, ›Destination Chungking‹. Nach China schließlich kehrt sie jedes Jahr zurück, um Heimatluft zu atmen und gewisse Besitztümer zu verwalten. »Besitztümer?« »Ach ja. Ich besitze in Peking ein paar Häuser, und die kosten mich einen Haufen Geld. Ich gehe deshalb jedesmal zum Funktionär und sage: ›Wollen Sie nicht die Güte haben, ehrenwerter Funktionär, und sie konfiszieren?‹ Und er sagt drauf: ›Unmöglich, ehrenwerte Bürgerin. Die Häuser gehören Ihnen.‹ Es ist nun einmal so, daß Chinesen, ob sie Kommunisten oder irgend etwas anderes sind, in erster Linie immer Chinesen bleiben.« Das Taxi hielt vor einem weißen Bungalow an, wo eine Kolonne von Frauen und Kindern wartete, bis sie an die Reihe kamen. Der Bungalow war von einem Gemüsegarten umgeben, und das Sprechzimmer ging auf diesen Garten hinaus, in dem ein Gardenienbaum stand sowie ein Schirm, der die Gardenien vor der Sonne schützte. Ich stellte mir Han Suyin drinnen vor, und zwar dachte ich sie mir, ich weiß nicht warum, kleingewachsen wie viele Chinesinnen, rundlich, mit breitem, häßlichem Gesicht und einer Brille. Im selben Augenblick erschien Han Suyin unter der Tür und war eine junge, schöne Frau, viel schöner als Jenni115
fer Jones, mit einem schmalen, fröhlichen Gesicht, einem zarten Körper und den verführerischsten Beinen, die ich je aus einem Cheong-sam hervorgucken sah, diesem engen Kleid, das ohne Scham bis weit auf die Oberschenkel hinauf geschlitzt ist. »Kommen Sie nur herein. Macht es Ihnen nichts aus, wenn ich die Sprechstunde zu Ende führe? Es herrscht gerade eine Epidemie, desinfizieren Sie sich die Hände.« In dem mit chirurgischen Instrumenten und chinesisch beschrifteten Anschlägen angefüllten Sprechzimmer stand ein Tisch mit der Schreibmaschine und einem Packen in englischer Sprache beschriebener Blätter. »Ja, ich schreibe immer Englisch. Ich schreibe zwischen einer Sprechstunde und der nächsten. Das ist mein neuestes Buch, ›Winter Solstice‹ (Eine Winterliebe).« Als die Patienten gegangen waren, sank sie in einen Sessel und begann zu schwatzen. Sie schwatzte ohne Atempause, während ihre Augen wie Streichhölzer aufflammten, die Hände in wildem Tanz flatterten, die Füße ausschlugen. »Überrascht? Ah, ah! Sie glaubten wohl, alle Chinesen seien untersetzt und ruhig? Ah, ah! Die Chinesen von Kanton sind klein, dunkel und laut wie Neapolitaner. Die Chinesen von Schanghai sind groß, ruhig und diszipliniert wie Schweizer. Die Chinesen von Peking sind sehr groß, unberechenbar, zeremoniell wie Engländer. Kennen Sie das Geschichtchen mit dem Fahrstuhl? Hier haben Sie’s: In Kanton, wenn der Fahrstuhl kommt, stoßen und puffen sich alle, und er geht vollgestopft wie eine Sardinenbüchse ab. In Schanghai stellen sich alle schön in die Reihe, und der Fahrstuhl geht mit der vorgeschriebenen Personenzahl ab. In Peking unter116
halten sich alle oder bekomplimentieren sich gegenseitig: ›Nach Ihnen, nein, bitte, nach Ihnen‹, und der Fahrstuhl geht leer ab. Ich bin aus Peking. Mein Fahrstuhl geht immer leer ab.« Ihre Augen wurden traurig, die Hände hörten auf zu flattern, die Füße bewegten sich nicht mehr. Dachte sie wohl an den Fluch, der ihre Liebesbeziehungen immer zerstört, an General Tang, der im Guerillakrieg ums Leben kam, an Mark Elliott, der in Korea starb, an Leonard Comber, von dem sie getrennt lebt? Half es ihr also nichts, Han Suyin zu sein: schön, berühmt, reich? »Und so wird mein neues Haus ohne Fahrstuhl sein«, scherzte sie. Und sie zeigte dabei auf einen Bungalow, der jenseits des Gartens im Bau war. »Als Mark noch lebte, wollten wir uns in Peking niederlassen; er wäre Chinakorrespondent gewesen, und ich hätte in einem Spital gearbeitet. Jetzt, da Mark nicht mehr ist, bleibe ich lieber in Malaya. Und Singapore gefällt mir. Auch Mark gefiel es. Haben Sie mein Buch gelesen?« »Natürlich«, antwortete ich. »Und, Sie, haben Sie den Film gesehen?« »Nein«, wehrte sie ab. »Ich will ihn nicht sehen. Dieser Film geht mich nichts an. Als sie mir den Stoff abkauften, luden sie mich für die Drehbuchbearbeitung nach Hollywood ein. Ich ging nicht. Sie haben mich auch für die Verfilmung eines anderen Buches eingeladen, das ich nach meiner Reise nach Nepal schrieb, ›The Mountain is young‹ (Wo die Berge jung sind). Aber ich gehe nicht. Ich schreibe nicht für Hollywood, ich schreibe auch nicht, um Erfolg zu haben. Ich schreibe für mich. Wenn ich schreibe, fühle ich mich weniger unglücklich, und auch wenn ich Kranke 117
behandle. Siehst du, sage ich mir, du bist Han Suyin, Enkelin jener Frauen, die sich die Füße schnürten und weder lesen noch schreiben konnten, und du schreibst Bücher und heilst Kranke. Du bist eine tüchtige chinesische Frau.« Sie stand plötzlich auf und streckte mir ihren Zeigefinger entgegen. »Sie werden über die chinesischen Frauen schreiben, nicht wahr?« »Ja, ich werde über die chinesischen Frauen schreiben.« »Und man hat Ihnen keine Erlaubnis gegeben, nach Rotchina zu gehen, nicht wahr?« »Nein, man hat sie mir nicht gegeben.« »Aber nach Hongkong gehen Sie.« »Ja, nach Hongkong gehe ich.« »Oh, dann bitte ich Sie aber: Schreiben Sie ohne vorgefaßte Meinungen! Hören Sie nicht auf das, was die Nationalisten in Hongkong Ihnen vorschwatzen werden! Die haben keinen Begriff von dem, was jenseits der Grenze vor sich geht. Ich hingegen weiß es, und ich sage Ihnen, die Metamorphose der chinesischen Frauen ist das überwältigendste Wunder Asiens. Es ist ein Wunder, sage ich, und der Kommunismus hat damit nichts zu tun. Oder wenn er doch etwas damit zu tun hat, muß man es trotzdem anerkennen.« Sie begann auf und ab zu gehen, als suchte sie nach Worten. Dann wies sie erneut mit dem ausgestreckten Finger auf mich: »Stellen Sie sich vor, 1941 mußte ich in Schanghai, als ich schon Ärztin war, zusehen, wie eine Braut von den Verwandten gesteinigt wurde, weil man ihr vorwarf, nicht mehr Jungfrau zu sein. Sie war Jungfrau, das wußte 118
ich, denn ich hatte sie untersucht. Aber es nützte nichts, daß ich es bestätigte – sie erschlugen sie wie einen räudigen Hund, mit Steinen, und wurden deswegen nicht einmal angezeigt. Stellen Sie sich vor, 1945 gab es allein in Schanghai 800 Bordelle mit 46 000 Prostituierten zwischen zwölf und vierzig Jahren, die von den Eltern um einen Sack Reis verkauft wurden, und jedes Jahr starben mindestens tausend von ihnen an den Folgen von Schlägen. Und niemand wurde deswegen angezeigt. Stellen Sie sich vor, 1947, als ich meinen ersten Mann verlor, wollten meine Eltern durchsetzen, daß ich mich freiwillig dem Hungertod preisgebe – der Sitte gemäß. ›Wir werden dir einen schönen Bogen erstellen‹, versicherten sie. ›Und wir werden darauf schreiben: ,Der treuen Gattin‘.‹ Und sie wurden sehr böse, als ich erwiderte, ich machte mir nichts aus dem Bogen, ich hätte eine Tochter und würde für sie leben. Heute geschehen solche Dinge nicht mehr, und ein Gesetz hat die Bordelle abgeschaff t, die Mädchen, die darin eingeschlossen waren, lernen lesen und schreiben und gründen Familien. Ein Chinese, der eine Exprostituierte heiratet, wird höher geschätzt als ein ehrenwerter Bürger: man nennt ihn ›Verdienter der Nation‹. Ein anderes Gesetz hat das Nebenfrauenwesen verboten und festgelegt, daß der Mann der Ehefrau nicht übergeordnet ist, daß sie beide dasselbe Recht haben. Ein weiteres Gesetz untersagt, die neugeborenen Mädchen lebendig zu begraben, wie das früher geschah, und die Frauen dürfen alle Männerberufe ausüben. Oh, ich weiß, die Leute erwarten keine solchen Worte von mir, und wenn ich sie ausspreche, schimpft man mich eine Kommunistin. Ich bin keine Kommunistin, vor allem bin ich katholisch und gehe 119
in die Messe. Aber ich bin Ärztin, und wie die andern Ärzte sehe auch ich nur die Wahrheit, die chirurgischen Messern gleicht: sie tut weh, aber sie heilt.« Es war schön, sie mit solcher Begeisterung von Dingen reden zu hören, über die man so wenig weiß und die ich durch die Schuld der Formularepriester nicht mit eigenen Augen würde sehen können. Ich kehrte darum in diesen Tagen mehr als einmal in das Haus auf dem Hügel zurück, und jedesmal vernahm ich von Han Suyin etwas, das zu diesem Kapitel beitrug. Ich ging zur Mittagszeit, wenn sie die Praxis schloß, und blieb bis zum Abend – zur großen Freude Duilios, der heimlich ein wenig in sie verliebt war. Die alte Amah kochte uns Fischflossensuppe oder Sojasprossen, die sie dann in Porzellantassen mit Elfenbeinstäbchen servierte. Wir aßen im Garten, in der Nähe des Gardenienbaumes, und dann plauderten wir. Oder besser gesagt, Han Suyin plauderte, und ich lauschte. Sobald Duilio seine Aufnahmen gemacht hatte, beschränkte er sich darauf, sie anzusehen. Und wenn ich auch in der Folge ihre großzügige Begeisterung nicht in allen Punkten teilte, da Han Suyin eben erst in zweiter Linie kommunistisch oder antikommunistisch oder katholisch, in erster Linie aber so chinesisch wie nur ein Chinese ist, halfen mir diese Nachmittage doch, die Dinge, die ich später in Hongkong sah oder merkte, ohne die kühle Einseitigkeit dessen zu beurteilen, der die Menschheit bloß als ein politisches Spiel betrachtet. Als wir fortgingen, nahm ich nicht nur von einer großen Frau, sondern von einer Freundin Abschied. »Ich gebe dir einen Rat«, sagte Han Suyin. »Bleibe nicht in Hongkong. Geh an die Grenze.« 120
»Gut. Ich werde an die Grenze gehen.« »Und wenn der Augenblick kommt, da du schreibst, dann denk an das da.« Und sie klopfte mit den Fingern auf meinen Notizblock. »Gut. Ich werde daran denken.« Sie sah Jennifer Jones so wenig ähnlich, auch jetzt, da sie von der Piste des Flugplatzes aus mit dem Taschentuch winkte. Das Flugzeug stieg auf, dreieinhalb Stunden später überflog es das Meer von Hongkong, wo Dschunken mit strohgeflochtenen Segeln zwischen britischen Kreuzern und schwedischen Frachtdampfern schaukelten. Hongkong war schön wie ein seidener Gobelin. Das Flugzeug schlüpfte zwischen den spitzen Inseln durch und landete auf der Halbinsel Kaulun. Das eigentliche Hongkong liegt auf der Insel Victoria, zu der man mit der Fähre gelangt. Wir aber zogen Kaulun vor, um in jenem Hotel zu wohnen, wo Han Suyin mit Mark gelebt und nachher ihr Buch geschrieben hatte. Duilio, den seine heimliche Verliebtheit immer mehr bedrückte, erklärte wiederholt, er sehe sie hinter jeder Säule hervortreten. Um ihn zu trösten, mußte ich die Einladung zu einem typischen chinesischen Abendessen annehmen, das eine reiche chinesische Dame an jenem Abend in ihrer Villa auf Victoria Island in Anwesenheit der Miss Hongkong veranstaltete. Das typische chinesische Abendessen sieht pro Gast zwei Gänge plus einen zusätzlichen Gang vor. Wir waren zwölf Gäste, also gab es fünfundzwanzig Gänge, in deren Verlauf uns einzig Affenhirn erspart blieb, ein Gericht, das etwas in Hongkong Unauffindbares voraussetzt: einen Affen, der bereit ist, sich den Schädel einschlagen zu lassen, während er 121
noch atmet. Abgesehen von diesem Glücksfall aßen wir an jenem gräßlichen Abend alles, was es auf der Welt an Eßbarem gibt, von fünf Sorten Fisch über vier Arten Schweinefleisch, sechs Hühnerspezialitäten, eine von den Knochen befreite, wieder zusammengesetzte und wie eine Nippfigur rotlackierte Ente, Algen, Meerpilze, gebackene Spaghetti bis zu den berühmten faulen Eiern, die mindestens hundert Tage alt sind und in Kalk gelagert werden, bis sie innen schwarz und außen grün sind und einen beißenden Gorgonzolageschmack haben. Nur stinken sie viel ärger. Ein Gericht zurückweisen bedeutet eine arge Unhöflichkeit, und die Hausherrin war so freigebig, daß sie, sobald sie uns zögern sah, herüberkam und uns fütterte. Zwischen den Gerichten trank man Reiswein aus silbernen Bechern; vor dem Trinken aber mußte man jeweils warten, bis jemand sich erhob und eine Rede zu Ehren eines Anwesenden hielt. Die Rede war lang, die Ahnen des Geehrten wurden herbeibemüht, bis zum Urgroßvater des Großvaters, die Vorzüge und Tugenden eines jeden aufgezählt, woraus sich ergab, daß an diesem Tische niemand saß, der von einem Schurken abstammte. Die Becher waren klein und immer gleich leergetrunken, und das war schlimm, denn sobald ein Becher leer war, stand gleich jemand auf und begann eine neue Litanei auf abgeschiedene Vorfahren. Um sieben Uhr hatten wir uns zum Essen begeben, um ein Uhr früh waren wir noch nicht damit fertig; es verblieb noch eine Hühnerbrühe, die anstelle von Kaffee diesen Aufmarsch à la Pantagruel abschloß. Duilio hatte einen roten Kopf und glasige Augen und kümmerte sich überhaupt nicht um Miss Hongkong, die hübsch und dumm war wie die meisten Mis122
sen. Ich stand eine Heidenangst aus, jemand könnte dahinterkommen, was ich trieb: ich vertauschte heimlich meine vollen Schüsselchen mit den leeren meines betrunkenen Tischnachbarn. Die andern Frauen dagegen aßen mühelos, als wäre das alles normal. Es waren sehr reiche Frauen, gewohnt, sich an der Côte d’Azur und in Biarritz aufzuhalten, und fast alle waren sie aus Peking oder Schanghai ausgerissen, wo ihre Ehemänner Tschiang Kai-schek unterstützten. Sie trugen Kleider, die aus Rom oder Paris kamen, und waren durchaus nicht die Art von Chinesinnen, die ich kennenlernen wollte. So erfand ich nach der Hühnerbrühe entsetzliche Kopfschmerzen und kehrte ins Hotel zurück, wo ich mich nach dem Fahrplan der Züge zur Grenze von Lowu und Shu Chun erkundigte. Wie sind die chinesischen Frauen? Ich beobachte sie von diesem winzigen Flecken Erde aus, der, sechzig Kilometer weit aus Gemüsegärten und Reisfeldern, grün und glänzend wie Jadeblöcke, bestehend, an das große, unzugängliche China grenzt. Die Fahne Elisabeths II. flattert über Hongkong, dem letzten Bollwerk des Abendlandes in Asien, und über diese sechzig Kilometer zieht sich finster der Eisendraht jener Grenze, die man den Bambusvorhang nennt. Im englischen Bahnhof von Lowu stirbt das Geleise der Bahn, die einst direkt nach Schanghai fuhr, und fünfhundert Meter weiter drüben, im chinesischen Bahnhof von Shu Chun, stirbt das Geleise derselben Bahn, die einst direkt nach Hongkong fuhr. Zwischen den beiden Bahnhöfen, wo zwei Reiche voreinander stehenbleiben, gibt es einen Fluß mit Namen Sham Chan, und dar123
in fließt der Haß, zusammen mit dem gelblichen Wasser. Doch führt eine Brücke über den Fluß, und über diese Brücke gehen die Frauen von Hongkong nach Rotchina und jene von Rotchina nach Hongkong, um ihre Familien zu besuchen. Nur ganz wenige Männer überqueren die Brücke von Sham Chan; die Chinesen, die Tschiang Kaischek ergeben sind, sowie die Chinesen, die Mao Tse-tung ergeben sind, überqueren sie ungern; entweder bekommen sie keine behördliche Bewilligung, oder sie haben Angst davor. Die Frauen aber kommen und gehen ohne Unterlaß. Wenn im Januar oder Februar das chinesische Neujahrsfest gefeiert wird, bilden sich auf der Brücke zwei lange, lange Schlangen, die sich mit kleinen sanften Schritten in einander entgegengesetzter Richtung vorwärtsbewegen. Es sind die Mütter oder Schwestern oder Geliebten, die in Lowu ausgestiegen sind, um in Shu Chun wieder einzusteigen, oder die in Shu Chun ausgestiegen sind, um in Lowu wieder einzusteigen – mit dem weißen Zettel, der für ihre Rückkehr bürgt. Es sind in mancher Hinsicht recht verschiedene Frauen, wenn man sie mit den Augen des Hasses betrachtet, der von der einen wie von der andern Seite her die Bahnlinie unterbrochen hat. Jene aus Honkong gelten als die verführerischsten Frauen Asiens und tragen fast durchweg ihr Haar vom Friseur in Wellen gelegt, die Lippen geschminkt, die Nägel lackiert, tragen hohe Absätze und das Kleid, das so »sexy« ist wie kein anderes auf der Welt: diesen Cheong-sam mit dem Seitenschlitz, der das Bein bis zum Oberschenkel sehen läßt. Jene aus Rotchina tragen fast durchweg das Haar in zwei Zöpfe geflochten oder als kurzen Schopf, ihre Lip124
pen sind blaß, die Nägel ohne Lack, das Kleid ist so wenig »sexy« wie kaum ein anderes: dieser Chi-pao mit den weiten Beinkleidern und der losen Überbluse, der jede Körperform verbirgt. Sie haben den Ruf, die am wenigsten verführerischen Frauen Asiens zu sein, und, was noch schlimmer ist, sie bedauern das nicht einmal: Als sich am 8. März 1960 zehntausend ordengeschmückte Frauen zum Internationalen Tag der Frau in Peking zusammenfanden, rief ihre Präsidentin am Mikrophon aus: »Hoch! Die schlanken, zarten und sentimentalen Mädchen, die von den Reaktionären als müßig und anmutig betrachtet wurden, sind heute häßlich und arbeiten.« (Worauf die andern im Chor zurückgaben: »Hoch! was früher häßlich war, ist heute schön. Was früher schön war, ist heute häßlich.«) Jene aus Hongkong folgen noch heute den Gesetzen des Konfuzius, nach denen ein Mann sich von seiner Frau scheiden lassen kann, wenn diese den Schwiegereltern nicht gehorcht, unfruchtbar, geschwätzig oder eifersüchtig ist, und sich Nebenfrauen anschaffen kann, so viel er will. Jene aus Rotchina halten sich an das »Neue Ehegesetz«, das den Ehegatten »absolute Monogamie« vorschreibt, »die Pflicht, sich gegenseitig zu lieben, zu beschützen und beim Aufbau einer neuen Gesellschaft zu helfen«; außerdem gestattet es den Frauen, den eigenen Familiennamen beizubehalten. Demzufolge tragen die Kinder Rotchinas den Familiennamen der Mutter und den des Vaters, oder die Söhne den des Vaters und die Töchter den der Mutter. Schließlich rühmen die Frauen von Hongkong eine Frau namens Sung Mei Ling, die Gattin Tschiang Kai-scheks. Die Frauen in Rotchina rühmen eine Frau namens Sung Ching Ling, Vizepräsidentin der 125
Republik und rechte Hand Mao Tse-tungs. Sung Mei Ling und Sung Ching Ling sind Schwestern. Es ist ein Paradox, das wie eine Mahnung wirkt und die nicht allein rassische Verwandtschaft zwischen den Chinesinnen diesseits und jenseits der Brücke von Sham Chan zu erklären scheint. In der Tat, betrachtet man sie ohne den Haß, der durch die Wellen des Flusses zieht, so bemerkt man bald, daß sie eigentlich gar nicht so sehr verschieden sind: genau so wie die beiden feindlichen Schwestern. Ihre Art, sich die kleinen Kinder mit einem Schal einem Tornister gleich auf den Rücken zu binden, ist dieselbe. Der ruhige Schritt von Menschen, die nie Eile haben und ohne Klage unmenschliche Mühen ertragen, ist derselbe. Die eifersüchtige Abgeschlossenheit, die sie, mit schmal zusammengekniffenen Augen, jeder Annäherung entgegensetzen, ist dieselbe. Und schließlich ist noch eine Kleinigkeit dieselbe: die Machart des Kragens, der sowohl den koketten Cheong-sam als auch den strengen Chi-pao schließt. Es ist ein harter, mit Roßhaar verstärkter Kragen, der den Hals vom Ansatz bis fast unter die Ohren versteift und lang macht wie den Stiel einer Blume und den Kopf zwingt, sich in einer Haltung beständigen Stolzes zu recken. Keine Frau in Asien, ja in der ganzen Welt trägt einen solch hohen, harten und stolzen Kragen wie die Chinesin, die ihn sich im Jahre 1911 zulegte, als sie begann, sich gegen die barbarische Sitte der eingebundenen Füße aufzulehnen – gleichsam als müsse sie nun, da sie sich auf normalen Füßen bewegte, das Haupt und den Blick erheben. Die chinesischen Kommunisten behaupten, ihre Frauen hätten sich seit dem Sieg Mao Tse-tungs verändert. Und be126
stimmt ist die Metamorphose, die sich in all diesen letzten Jahren an ihnen vollzog, außerordentlich; aber es stimmt nicht, daß sie sich wegen Mao Tse-tung veränderten. Ihre Metamorphose reifte vielmehr, wie Han Suyin sagt, schon viel früher, um 1911 nämlich, als man den aberwitzigsten Sexualfetisch, der je in der Geschichte der Kultur von den Menschen erfunden wurde, abschaff te – die eingebundenen Füße. Man kann die Chinesinnen von heute nicht verstehen, wenn man nicht bei diesen eingebundenen Füßen beginnt, die man noch heute in Rotchina wie in Hongkong sehen kann. Das heftigste Mitleid während dieser ganzen Reise empfand ich nicht für die Muselmaninnen, die im Gefängnis des Purdah leben, ja nicht einmal für die Inderinnen, die sich auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes zu verbrennen trachten. Ich empfand es vielmehr für die alte Chinesin, der ich an jenem Morgen, als ich zur Grenze fuhr, in der Eisenbahn begegnete. Es gibt recht wenig zu sehen an der Grenze außer diesem Kommen und Gehen von Frauen, die sich so ähnlich sind. So stieg ich wieder in den Zug, der mich nach Hongkong zurückbrachte, und sie saß mir gegenüber, winzig klein in schwarzseidener Hose und weißseidener Überbluse, das Gesichtchen von leichten Fältchen durchzogen wie ein Seidenpapier, das man benützt hat, um etwas zu verpacken, das Kinn hochgereckt über dem Stehkragen. Da sie unbeweglich saß und die Beinkleider die untere Hälfte ihres Körpers ganz verdeckten, gewahrte ich im ersten Moment gar nicht, daß ihre Füße widernatürlich klein waren. Ich bemerkte es erst, als sie aufstand, um sich zur Toilette zu begeben, und ich sie hüpfen statt gehen sah: wie die Spatzen, die zu uns 127
auf den Balkon kommen, um Brösel zu picken. Wirklich, sie hüpfte mit geschlossenen Füßen, steifen Knien und steifen Schultern, und nur wenn sie sich zwei oder drei Zentimeter hoch in der Luft befand, schien sie sicher. Sobald sie den Fußboden wieder berührte, schwankte ihr Körper vor- und rückwärts, ohne Halt und Gleichgewicht, und sie mußte sich festhalten, um nicht zu fallen. Dadurch kam sie nur sehr langsam vorwärts. Nach zwei oder drei Sprüngen mußte sie jeweils innehalten, sich irgendwo anklammern und Luft schöpfen. Dann wieder erschwerte das Schaukeln des Zuges ihr Manöver, und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse zorniger Resignation, was ihrem Blick eine gewisse Härte verlieh. Sie brauchte mindestens zehn Minuten, um zur Toilette zu gelangen, und ebensoviel für den Rückweg. Dann setzte sie sich mit hochmütigem Gebaren, wie um jedem Gespräch auszuweichen. Wer von der Brücke von Sham Chan kommt und den weißen Zettel bei sich trägt, der die Rückkehr garantiert, will nicht mit Fremden sprechen – das wußte ich. Darum versuchte ich gar nicht erst, sie über meinen Dolmetscher etwas zu fragen, und tat, als wäre ich sehr damit beschäftigt, aus dem Fenster den Mädchen zuzusehen, die in den Reisfeldern arbeiteten, mit den Knien im Wasser wie unsere italienischen Reisleserinnen, und den Kopf von einem Pagodenhut bedeckt. Von Zeit zu Zeit aber drehte ich mich um, um diese dreieckigen Füßchen zu betrachten, und bei einem dieser verstohlenen Blicke geschah es, daß die alte Frau ihr Mißtrauen ablegte und meinem Dolmetscher auf Kantonesisch zurief: »Sowas hat sie noch nie gesehen, he?« Dann wollte sie wissen, wer ich sei und woher 128
ich komme, stellte sich als Frau Lam Chou vor, wohnhaft in Kanton, siebenundsechzig Jahre alt und auf dem Weg, ihren Sohn in Hongkong zu besuchen. Und dann erzählte sie. Ich gebe wieder, was sie sagte, ohne irgend etwas daran zu ändern, erlaubten mir doch die langsame Übersetzung meines Dolmetschers und auch Frau Lam Chou selber, alles aufzuschreiben. »Zu meiner Zeit mußten wir möglichst kurze Füße haben, nicht länger als neun Zentimeter. Meine sind länger, weil ich sie schon seit vierzig Jahren nicht mehr schnüre. Man begann sie im Alter von fünf Jahren einzubinden und verwendete dazu Baumwollstreifen von anderthalb Zentimeter Breite und zwei Meter Länge. Man fing so früh an, weil in diesem Alter die Knochen noch weich sind. Man band alle Zehen zurück, außer der großen Zehe, und zog jeden Tag etwas mehr an, bis die Knochen brachen und die Zehen sich mit Leichtigkeit unter die Fußsohlen zurückschieben ließen. Bis die Knochen wieder verheilten, mußte man im Bett bleiben und stand große Schmerzen aus. Mir tat es eines Nachts so weh, daß ich die Binden wegnahm, aber meine Mutter verprügelte mich, und da getraute ich mich nicht mehr. Meine Mutter sagte, die Mädchen mit großen Füßen bekämen keinen Mann, und nur die Bäuerinnen und Mägde hätten große Füße. Tatsächlich fragte ein Mann der oberen Gesellschaftsklassen, der eine Frau der oberen Gesellschaftsklassen heiraten wollte: ›Wie kurz sind deine Füße?‹ Waren sie nicht kurz genug, durfte er die Hochzeit annullieren. Kurz und gut, fünfzehn Jahre lang wurde mir nie erlaubt, meine Füße auszuwickeln, weil sie sonst wieder gewachsen wären, und darum wuchs 129
bloß mein Körper, während die Füße immer kleiner wurden und meine Mutter mir immer kleinere Schuhe kaufen oder die alten mit Watte ausstopfen mußte. Es gibt in China ein Sprichwort: ›Ein Krug Tränen für jedes Paar eingebundener Füße.‹ Ich allerdings, ich habe mehr als einen Krug Tränen vergossen, denn meine Mutter schnürte mir auch die Brust ein. Um schön zu sein, durften wir keine Kurven haben. Der Busen mußte flach und unsichtbar sein. Auch das tat sehr weh.« Sie lachte glucksend über meine Miene, mit der ich ihrer Erzählung folgte, und klatschte in die Hände vor Vergnügen, mich verblüff t zu haben. »Jetzt ist alles anders, und die Mädchen benehmen sich sehr unverfroren den Burschen gegenüber. Zu meiner Zeit jedoch konnte kein Unglück größer sein, denn als Frau geboren zu werden. Wenn ein Mädchen zur Welt kam, war die Familie in Trauer, und das Mädchen mußte sogleich Gehorsam lernen dem Vater und den Brüdern gegenüber. Heiratete es, so mußte es Gehorsam lernen dem Mann und der Schwiegermutter gegenüber. Und man lernte den Mann erst bei der Hochzeit kennen. Oft war er viel jünger als die Braut. Meine Schwester heiratete mit achtzehn Jahren einen Siebenjährigen. Sie ersetzte ihm die Mutter, bis er das richtige Alter erreicht haben würde, sie in andere Umstände zu bringen; doch der Junge starb mit zwölf Jahren, und so wurde meine Schwester Witwe, ohne je eine echte Gattin oder eine echte Mutter gewesen zu sein. Natürlich konnte eine Witwe sich nicht wieder verheiraten, und viele Verwandte verlangten von ihr, sie sollte freiwillig verhungern. Sie wäre dann der Familie nicht zur 130
Last gefallen. Manche verhungerten freiwillig, weil sie als Tote endlich etwas galten und die Familie für eine schöne Bestattung Geld ausgab und ihnen nachher im Garten einen Bogen errichtete mit der Aufschrift: ›Der treuen Gattin‹. Wenn sie nicht verwitweten, träumten sie davon, wenigstens bald alt zu werden: im Alter wurden die Frauen angesehen und wichtig. Damit man das erreichte, mußte man allerdings die Erste Frau sein. Meine Mutter war Erste Frau; als sie alt war, nannten alle sie Lao Tai Tai, was ›Erlauchte Mutter der Familie‹ heißt, und die Kinder der andern Frauen gehörten ihr. Wenn sie ausging, versammelten sich Söhne, Töchter, Schwiegertöchter und Enkelkinder rund um den Hof, um sich vor ihr zu verneigen, und sie entschied für alle. Aber jetzt ist alles anders«, wiederholte Lam Chou. Der Zug war in Kaulun eingefahren, ihr Blick wurde wieder argwöhnisch und zerstreut – wie um zu zeigen, daß die Unterredung beendet war und die kurze Freundschaft ebenfalls. Als der Sohn mit den Fingerknöcheln ans Fenster klopfte, stand sie auf und entfernte sich, ohne mir einen Gruß zu gönnen, hüpfend wie ein Spatz den Bahnsteig entlang. Dafür hinterließ sie mir eine Zeitung. Und ich möchte wirklich zu gern wissen, ob sie das aus Zerstreutheit oder Absicht tat, denn es war eine propagandistische Zeitung, eine von denen, die die Kommunisten in der Überzeugung zirkulieren lassen, großen Nutzen daraus zu ziehen, die Antikommunisten dagegen in der Überzeugung, Lächerlichkeit zu säen. Sie heißt ›Chinas Frauen‹, und der Dolmetscher sagte, sie enthalte eine sehr interessante Geschichte. Ob er sie übersetzen solle? 131
Natürlich, antwortete ich und ging auf die Fähre zu. Die Geschichte war die Geschichte einer modernen chinesischen Ehefrau, Hsiu Ying, deren Mann Kuo Ying-chen für zwei Jahre nach Rußland gegangen war, um zu studieren. Hsiu Ying hatte zum abreisenden Kuo Ying-chen gesagt: »Zwei Jahre sind lang, und ich bin eine arme unwissende Frau. Wirst du mich noch wollen, wenn du zurückkommst?« Kuo Ying-chen hatte zur Antwort gegeben: »Wir werden sehen. Studiere du auch.« Und Hsiu Ying hatte studiert und war bald Leiterin einer Abteilung des Straßenkomitees, dann Abteilungsvorsteherin in einer Fabrik geworden. Bei seiner Rückkehr hatte Kuo Ying-chen, der in Rußland ein anhänglicher und treuer Gatte geblieben war, gefragt: »Was wäre geschehen, wenn ich dich vergessen hätte?« Und Hsiu Ying gab zurück: »Ich hätte gelacht. Es gibt so vieles auf der Welt, das wichtiger ist als du.« Kommentar Kuo Ying-chens: »Ich Armer. Jetzt bist du es, die mich für altmodisch hält und mich loswerden will.« Der Dolmetscher übersetzte mir die Geschichte auf der Fähre, und die Fähre war voller Frauen im Cheong-sam, der ihre Beine so weit hinauf entblößte, daß man beinahe den Saum der Höschen sah, und mit aggressivem Busen nach der neuen Mode, die den Gebrauch von lastexgepolsterten Büstenhaltern vorschreibt. Ich betrachtete diese Kunststoff busen, dann dachte ich an Lam Chou, und es dünkte mich unvorstellbar, daß dies die Töchter jener Frauen sein sollten, von denen mir die alte Dame mit den eingebundenen Füßen erzählt hatte. Ihre Welt hatte überhaupt keine Verbindung mehr zu der Welt der Alten, es war eine Welt, die nichts von Tränenkrügen wußte. Die Mäd132
chen mit dem herausfordernden Busen lachen bei den Erzählungen ihrer Großmütter, die gezwungen waren, sich die Brust zu schnüren, bis sie flach war, das wußte ich; der Fabrikant von Lastexbüstenhaltern hatte in Hongkong ein Vermögen gemacht. Den meisten Absatz fanden indessen Büstenhalter zum Aufblasen, und die Mode breitete sich eben nach Peking und Schanghai aus, wo man heutzutage Ehemänner triff t, die in den Supermarkets Einkäufe machen oder ihrer Frau das Geschirr spülen – genau wie in New York oder Stockholm. In dieser Welt der künstlichen Busen hatte der Begriff »Nebenfrauen« keinen Sinn mehr. Es gab zwar noch die eine oder andere Konkubine in Hongkong, wo die Traditionen sich zäher halten, aber es handelte sich dabei um alte Weiblein, diejenigen mittleren Alters hatten sich scheiden lassen. Eine sehr berühmte unter ihnen nützte ihr Wissen, indem sie eine Schule leitete, wo man die Frauen »Die Kunst, sich den Ehemann zu erhalten« lehrte: richtiggehende Lektionen in Liebeskünsten. Diese hochangesehene Schule hatte einen Hörsaal mit Bänken. Die Lehrerin saß am Katheder, zeichnete bei Gelegenheit etwas an die Wandtafel und nannte die Dinge bei ihrem Namen. Die Schülerinnen saßen aufmerksam in den Bänken, und es kam nie vor, daß eine errötete. War nicht auch das eine Art, wie die Kommunistin Hsiu Ying auf die Vergangenheit zu reagieren? »Ich würde gern«, sagte ich zu meinem Dolmetscher, »einen Menschen wie Hsiu Ying kennenlernen. Gibt es keine kommunistischen Frauen in Hongkong?« »Freilich«, erwiderte er. »Es gibt sie im China Store. Es gibt sie in den kommunistischen Buchhandlungen und bei 133
der kommunistischen Zeitung. Man kann es immerhin versuchen.« Die Fähre war in Victoria Island angekommen. Sie näherte sich der Mole, die Seitenausleger schlugen an und bildeten einen breiten Landungssteg, und wir stiegen alle aus, während die Kulis uns anflehten, die Rikscha zu benützen. Hongkong ist vielleicht die einzige Stadt des Fernen Ostens, in der es noch von Männern gezogene Rikschas gibt. Im kommunistischen China beispielsweise ist es unmöglich, eine Rikscha zu finden; man hat sie alle abgeschaff t. In Japan sind sie, abgesehen von gewissen ländlichen Gegenden, aus der Mode gekommen. In Singapore finden sich noch ein paar für die Touristen, die etwas Spaßiges geboten haben wollen. In Pakistan werden sie von einem Mann mit Fahrrad gezogen, doch eine Verordnung schreibt vor, daß die Fahrräder durch Mopeds ersetzt werden müssen. Hongkong dagegen ist noch voll von Rikschas, und die Kulis stehen wie Kutschpferde längs der Gehsteige. Endlose Reihen von Pferden mit dem Körper und dem Herzen eines Menschen: barfuß, halbnackt und gedemütigt. Den Europäern gefällt es, sich von diesen Pferden mit Menschenkörper und Menschenherz ziehen zu lassen, und sie finden es recht lächerlich, wenn man angesichts der schweißbedeckten Rücken mit den von übergroßer Anstrengung gespannten Muskeln erschüttert ist. Mir aber gefiel es nicht. In Karachi hatte ich einmal eine Fahrradrikscha genommen und war vor Verlegenheit sogleich wieder ausgestiegen. So gingen wir denn jetzt zu Fuß zum China Store, einem großen Warenhaus, wo man zu Konkurrenzpreisen die Produk134
te aus Rotchina erhält: Seidenstoffe, Porzellan, Briefpapier und Branntwein. Man arbeitet nicht im China Store, wenn man nicht eingeschriebenes Parteimitglied ist, und fast alle Verkäuferinnen sind Mädchen aus Peking oder Schanghai, die sich in der englischen Sprache weiterbilden wollen. Sie verblüff ten mich vor allem durch ihre in Hongkong so ungewohnten europäischen Kleider sowie durch ihr weltentrücktes, strenges Aussehen: wie Klosterfrauen. Keine war geschminkt, viele trugen Brillen, und ihre Gesten hatten wirklich die Sammlung und Unnahbarkeit von Klosterfrauen, die allen indiskreten Fragen ihr Schweigen entgegenstellen. Gesprächig, solange es sich darum handelte, mir einen Seidenstoff oder ein Briefpapier zu verkaufen, hielten sie hartnäckig ihre Lippen verschlossen, wenn ich fragte: »Leben Sie gern in Hongkong? Wo haben Sie dieses perfekte Englisch gelernt?« Es war, als richte man Fragen an ein Heer von Taubstummen. Daraufhin gingen wir, mit einer glaubwürdigen Ausrede, in die kommunistische Buchhandlung. Ich hatte in der letzten Nummer des ›Time Magazine‹ eine kuriose Notiz gefunden und wollte ihr nachgehen. Eine Ehefrau aus Peking hatte, wie das ›Time Magazine‹ meldete, an die Wochenzeitung ›Chinas Frauen‹ den folgenden Brief geschrieben: »Mein Mann zeigt reaktionäre Tendenzen. Er kritisiert die Partei und unseren glorreichen Genossen Mao Tse-tung. Muß ich ihn anzeigen? Wir sind seit vielen Jahren verheiratet, und er war immer gut zu mir.« Die Schriftleiterin der Zeitung hatte geantwortet: »In einem sozialistischen Staat ist die Liebe zwischen Ehegatten an ihre Begeisterung für die Errungenschaften des Sozialis135
mus gebunden. Wenn die Leserin ihren Mann nicht anzeigt, wird ihre eheliche Liebe in der politischen Grundlage, auf der sie aufgebaut ist, einen Riß bekommen, und sie wird den Frieden in der Familie verlieren.« »Ich möchte die Wochenzeitung ›Chinas Frauen‹, sagte ich zu der Verkäuferin, einem Mädchen von etwa achtzehn Jahren mit einem undurchdringlichen Gesicht und einem Plisseerock. »Aber die Nummer, die ich suche, ist älteren Datums. Haben Sie die vorhergehenden Nummern auch?« »Was suchen Sie?« fragte das Mädchen. »Eine Notiz. Ich möchte sie kontrollieren.« »Was für eine Notiz?« »Es ist eigentlich nicht eine Notiz«, erklärte ich. »Es ist ein Brief einer Leserin aus Peking, die um einen Ratschlag bittet.« »Was für einen Ratschlag?« Ich reichte ihr das ›Time Magazine‹ mit dem Titel ›Red China‹ auf der aufgeschlagenen Seite. Das Mädchen las mit undurchdringlichem Gesicht, dann gab sie mir die Zeitschrift zurück. »Unsinn. Propaganda. Unsinn.« »Schön. Ich möchte aber trotzdem die betreffende Nummer ausfindig machen. Kann ich die zurückliegenden Nummern sehen?« »Unsinn. Propaganda. Unsinn.« »Schön. Darf ich die Nummer suchen?« »Es nützt nichts. In wenigen Minuten wird geschlossen. This is lunch time, you know.« Sie begleitete mich liebenswürdig zur Tür, um mir un136
mißverständlich klar zu machen, daß jedes Beharren nutzlos sei, und es erschien mir deshalb geradezu grotesk, sie um eine Unterredung zu bitten. Es war auch tatsächlich grotesk: während der ganzen Zeit, die ich in Hongkong verbrachte, gelang es mir nie, mit einer chinesischen Kommunistin zu reden. Ich telephonierte auch mit den Redakteurinnen der Tageszeitung ›Red China‹, und sie antworteten mir, sie würden sich hochgeehrt fühlen, mich zu treffen, falls der Direktor ihnen die Bewilligung erteilte. Doch die erbetene Bewilligung kam nie, noch konnte ich je den Grund der Ablehnung erfahren. In Hongkong, wo die Spionage üppiger blüht als der Schmuggel von Opium und Edelsteinen, rechtfertigt niemand die eigene Vorsicht. So verzichtete ich denn darauf, von ihnen zu erfahren, was ich ohnehin schon gut genug wußte, und setzte meine Untersuchung mit weniger vorsichtigen Frauen fort. Es gab Hunderte von Frauen zu ergründen auf dieser Insel, auf der nichts unmöglich ist, und mein Dolmetscher brachte mir bei, ich müßte unbedingt nach Shau Ki Wan gehen, einer Bucht der Insel, denn die Frauen, die in Shau Ki Wan lebten, seien nicht sehr verschieden von jenen auf dem Perlenfluß in Kanton. Und eines Morgens ging ich hin. Es war ein himmelblauer Morgen. Die Dschunken mit ihren Fledermausflügeln ähnlichen Segeln glitten sanft über das grünste Meer der Welt. Längs der Straße nach Shau Ki Wan lag ein Duft von Algen und von Gras in der Luft. Die Wasser von Shau Ki Wan dagegen sind nicht grün. Sie sind pechfarben von all dem Schmutz, der unter Verbreitung von fürchterlichem Gestank seit Jahrhunderten dort stagniert. In diesem Pech und in diesem Gestank, der ei137
nem den Atem verschlägt wie eine Gaswolke, liegen die Wohnboote, am Ufer beginnend bis hinaus, so weit das Auge reicht, eines dicht am andern wie Körbe auf dem Markt, klein wie einschläfige Betten, mit weiter nichts als einem Ruder, einem Zeltdach, einem Kochherd und einer Schlafmatte ausgestattet. Und hier werden die Frauen, die man vereinzelt noch immer Tan-Ka, die Unberührbaren, nennt, geboren, hier leben und sterben sie, ohne je an Land zu gehen, und das seit zweitausend Jahren. Männer sieht man keine in Shau Ki Wan, so wenig wie auf dem Perlenfluß in Kanton. Die Männer gehen auf Fischfang, und wenn sie nach monatelanger Abwesenheit zurückkommen, ziehen sie es vor, sich an Land zu begeben. So herrscht auf diesem gleichmäßigen, unbeweglichen Teppich von Booten, der sich über Hunderte und aber Hunderte Meter erstreckt, ein Gewimmel von Frauen, die in Kanistern mit frischem Wasser, welche von Land kommen, die Wäsche reicher Leute waschen oder auf den Matten Fische trocknen oder etwas, das sie an eine Bambusstange gebunden haben, von einem Boot zum andern hinüberreichen, während weitere Frauen in Booten durch die schmalen Kanäle schlüpfen und Reis, Gemüse und Trinkwasser feilbieten. Sie benützen, um vorwärtszukommen, denselben Stock wie die Gondolieri in Venedig, sind unermüdliche, sonnverbrannte Wesen mit aufgekrempelten Hosenbeinen über harten Muskeln und tragen ein Kind auf den Rücken gebunden. Die chinesischen Kinder sind dick und schwer, und es ist mir ein Rätsel, wie die Frauen es fertigbringen, sie während der Arbeit zu tragen, ohne sich das Rückgrat zu brechen. Freilich sind die Chinesinnen, wie Han Suyin 138
sagt, die stärksten Frauen der Welt und halten Strapazen aus wie niemand sonst. »Ich habe Frauen ganz allein Kinder gebären und gleich darauf wieder auf die Felder zur Arbeit gehen gesehen. Ich habe Frauen Gewichte schleppen gesehen, die zweifellos selbst die Widerstandskraft eines Maulesels gebrochen hätten. 1958 wurde von Frauen in Nordchina ein ganzer Berg abgetragen – für den Bau eines Dammes. Zweihunderttausend Frauen, von denen die Hälfte neben dem Korb voll Erde und Steine ein Kind auf dem Rücken trugen.« Auch Pek Ling trug ein Kind auf dem Rücken, und ein weiteres war mit einer Schnur an ihrem linken Fußknöchel angebunden wie ein junger Hund. Gleichzeitig ruderte sie, wobei es ihr unerklärlicherweise gelang, in diese kaum wahrnehmbaren Kanäle zwischen den Booten einzudringen, um mich ein wenig weiter aufs Meer hinauszubringen, wo der Gestank weniger penetrant war. Ich hatte Glück, belehrte mich mein Dolmetscher, weil ihr Boot beweglich war: Die Boote in der Nähe des Ufers stekken nämlich im Sande fest. Und sie, ging sie denn nie an Land? »Ach nein! Was soll eine arme Tan-Ka an Land?« Die Frau, die sich Pek Ling nannte und die wir, von Boot zu Boot gehend, dreihundert Meter vom Ufer entfernt getroffen hatten, war noch nie in Hongkong gewesen. Einmal nur war sie bis auf den Hauptplatz von Shau Ki Wan vorgedrungen, wo es Automobile, Kaufläden und Touristen gab; all das aber hatte sie erschreckt, und so war sie auf das Meer zurückgekehrt und hatte für immer darauf verzichtet zu erfahren, wie ein Reisfeld oder eine Straße oder ein Autobus aussah. Sie wußte nicht einmal, wie die 139
Bäume wachsen. Rechnen aber konnte sie, wie sie mir sagte, denn die Steuereinnehmer kamen alljährlich an Bord, und da mußte man rechnen können, wollte man nicht von ihnen übers Ohr gehauen werden. Um mir zu beweisen, wie tüchtig sie im Rechnen war, kalkulierte sie mir vor, ich sei ungefähr achtzig Jahre alt; man hatte ihr nämlich gesagt, auf der andern Seite der Welt, wo die weißen Menschen lebten, kämen die Kinder hundertjährig zur Welt und nähmen beim Heranwachsen ein Jahr ums andere ab statt zu. Ich hätte zu gerne gewußt, wer ihr diesen Bären aufgebunden hatte. Aber dann tat es mir leid, sie zu enttäuschen, und ich dankte ihr bloß für ihre Freundlichkeit: ich sei nicht achtzig. Ich sei älter. Und sie? Sie sei alt, erklärte sie. Sie sei vierzig. Auf einem dieser Boote war sie zur Welt gekommen und hatte mit vierzehn Jahren geheiratet. Auf diesem Boot hatte sie ihre Hochzeitsnacht verbracht, ihre fünf Kinder geboren, hier würde sie bis zu ihrem Tode bleiben, und dann würde sie in ein Laken gewickelt und weit draußen ins Meer versenkt. Von ihren Kindern waren zwei hier bei ihr, ein drittes war mit dem Vater beim Fischen, die beiden ältesten Töchter lebten in Hongkong. Stolz lag auf ihrem breiten braunen Gesicht, als sie das sagte. »Ich selber bestand darauf, sie nach Hongkong zu schikken. Ich wollte nicht, daß auch sie auf einem Boot sterben. Vor drei Jahren gingen sie fort. Vor einem Jahr sind sie gekommen, mich zu grüßen. Sie hätten sehen sollen, wie schön sie waren! Sie hatten gewelltes Haar und schöne orangefarbene Kleider und merkwürdige Schuhe, bei denen ich nicht begreife, wie man damit gehen kann. Sie sagten mir, 140
sie hätten viel zu tun, an einem Ort, wo man nachts arbeitet. Was gibt es für Arbeiten, die man nachts macht?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht sind sie in einer Fabrik.« »Und was ist das, eine Fabrik?« »Ein Ort, wo etwas gebaut wird. Automobile zum Beispiel.« »O nein! Meine Töchter bauen keine Automobile. Ich kenne Automobile. Sie haben eine feinere Arbeit, etwas wie Leute unterhalten. Ich erinnere mich bloß nicht, was es ist. Haben Sie eine Ahnung?« Sie hatte zu rudern aufgehört und starrte mich ein bißchen ängstlich an. »Nein«, log ich. »Ich habe gar keine Ahnung.« »Hören Sie«, sagte Pek Ling. »Sie müssen mir einen Gefallen tun, wenn Sie doch so viel in Hongkong herumkommen. Wenn Sie sie antreffen, grüßen Sie sie von mir. Viele Grüße von eurer Mutter Pek Ling.« »Gut.« Sie brachte mich in die Nähe des Ufers, von Boot zu Boot erreichte ich die Straße, und der Gedanke quälte mich ein wenig: Natürlich konnten sie überall sein, die Töchter von Pek Ling: in einem Restaurant als Bedienerinnen, in einem Büro als Angestellte, sogar in einem so strengen Hause wie dem China Store. Und trotzdem war ich überzeugt, daß sie an einem ganz und gar nicht strengen Ort waren; am selben Abend noch ging ich ins Metropol, das Nachtlokal mit den gesuchtesten Taxi-Girls von Hongkong. Es ist verwirrend, das Metropol. Man betritt es durch eine harmlose Tür mit einem großen Drachen in der Mitte und steht gleich vor einem mit rötlichem Licht übergos141
senen Tanzparkett mit angrenzenden Separees. Auf jedem Tisch befindet sich außer der Karte mit den Cold Drinks, Hot Drinks, Fruchtsäften, Eissorten (Liköre sind so streng verboten wie der Eintritt für Jugendliche unter sechzehn Jahren) ein gelbliches Blatt Papier, auf dem in chinesischer und in englischer Sprache steht: »All beautiful girls for your choice«. Es folgt, ebenfalls auf Chinesisch und Englisch, die Liste der »Ladies«: Name, Alter, Brustumfang. Es sind etwa siebzig an der Zahl, und viele ihrer erfundenen Namen sind italienisch: Gina, Rosetta, Teresa, Sophia. Das Wählen ist nicht kompliziert: Man zeichnet mit Bleistift den Namen oder den Brustumfang an, der einem am besten zusagt, und ein dienstfertiger Kellner sagt einem, ob die Betreffende frei ist. Um mit dem gewünschten Mädchen tanzen oder plaudern zu können, bezahlt man für zwanzig Minuten fünf Dollar; sind die zwanzig Minuten abgelaufen, kann man für weitere fünf Dollar eine andere aussuchen oder das Abkommen mit derselben erneuern. Ab einer bestimmten Nachtstunde kann man sie auch mitnehmen, wenn man will; in diesem Falle aber bezahlt man den Preis für elfmal zwanzig Minuten. Es wird keine Ausnahme gemacht, ob der Kunde ein Mann oder eine Frau ist. Natürlich besteht die große Mehrheit der Kunden aus Männern, aber es gibt doch auch ein paar Europäerinnen und Amerikanerinnen, die hier ihren abwegigen Vorlieben frönen wollen. An jenem Abend beispielsweise waren solche Europäerinnen anwesend. Und der Direktor, ein schlauer, öliger junger Mann, schien recht ungehalten, als ich ihm erklärte, ich suchte ganz und gar keine abwegigen Ausschwei142
fungen, sondern ich sei Journalistin und gekommen, um die Mädchen zu photographieren und mit ihnen zu sprechen. Das könnte ihm vielleicht als Reklame für sein Lokal nützlich sein. Das Wort Journalistin schien ihn unsicher zu machen, das Wort Reklame ließ ihn interessiert aufhorchen. Er zeigte mir die Mädchen, die mit übergeschlagenen Beinen in den Separées oder entlang der Tanzfläche saßen, und antwortete, ich könne mit ihnen machen, was ich wolle, die Hauptsache sei, daß ich die Herren Kunden nicht photographiere, von denen ein jeder anonym zu bleiben wünsche. Die Mädchen folgten unserem Gespräch teilnahmslos, als ginge sie die Sache nichts an. Dann erhoben sie sich müde und gaben sich Mühe, höflich zu sein. Was ich wissen wolle? Und wie ich sie zu photographieren wünsche? Und mit resignierter Fügsamkeit reckten sie die korsettierte Büste, strichen den Cheong-sam aus grüner, orangefarbener oder violetter Glanzseide glatt und versuchten, die Fragen zu beantworten. Sie kannten keine anderen Worte in englischer Sprache als jene, die für ihren Beruf unentbehrlich waren: »I love you«; »I like you«; »I am your pussy-cat«; »Could I have a drink?« Fast alle behaupteten, aus Peking oder Schanghai zu kommen, von wo ihre Eltern aus politischen Gründen geflohen seien. Und fast alle schwindelten dabei, waren sie doch in Hongkong geboren und aufgewachsen. Die Schönste, die auch die Intelligenteste zu sein schien, fragte ich, ob sie sich in ihrem Beruf wohlfühle, und sie erwiderte: »Nein, natürlich nicht.« Ich fragte weiter, ob sie gern heiraten würde, und sie gab zurück: »Wer würde denn eine wie mich heiraten?« 143
Sie waren sehr hübsch mit diesen lastexgepolsterten Büsten und dem Rockschlitz, aus dem der Höschensaum hervorblitzte, und sehr wohlerzogen. Ich fragte jede einzelne, ob sie eine Tan-Ka namens Pek Ling kenne, und natürlich verneinte jede. Nur Teresa, ein robustes Mädchen ohne Schönheit, mit Haaren, die durch Dauerwellen allzusehr gekräuselt waren, schien leicht zu erröten, als ich sie danach fragte, und sagte dann in patzigem Ton, sie habe nichts mit den Tan-Ka zu schaffen. Da kam eine Amerikanerin mit knochigen Hüften und ungepudertem Gesicht herbei, fragte sie, ob sie einen Cha-cha-cha tanzen wolle, und wies ein Billett vor, das sie für elfmal zwanzig Minuten mit Beschlag belegte. Teresa starrte mich verwirrt an, schien von neuem zu erröten, dann sagte sie mit einem Achselzucken: »O. K.« Und mir war es lieber, zu denken, sie habe die Wahrheit gesagt. Es gibt viele chinesische Prostituierte in Hongkong, wo der Mädchenhandel blüht wie nirgends sonst in Asien. Und dabei sind die Chinesinnen noch immer die puritanischsten Frauen des Ostens. Für eine Chinesin, die etwas auf sich hält, ist es eine Schande, mit einem Mann, und wäre es der eigene Gatte, auf der Straße Arm in Arm zu gehen. Ihn in der Öffentlichkeit zu küssen, ist völlig undenkbar, ihn zu heiraten ohne die Absicht, Kinder zu zeugen, geradezu eine Ungeheuerlichkeit. Die Chinesen waren nie ein sehr religiöses Volk, doch stets ein puritanisches, das beweist auch ihre gänzliche Unfähigkeit, den Körper einer Frau in der Kunst darzustellen. Für sie war der Frauenkörper nie Quelle der Inspiration, immer nahmen sie, um ihn zu beschreiben, Zuflucht zu den Rhythmen der Natur. Die 144
Biegung der Schultern oder des Halses rief stets den Vergleich mit Trauerweiden auf den Plan, die Augen wurden mit Aprikosen verglichen, die Wimpern mit dem wachsenden Mond, der Blick mit dem schweigenden Wasser eines herbstlichen Sees, die Zähne mit Granatapfelkernen, die Finger mit Bambussprossen im Frühjahr; substantiellere Einzelheiten wurden erst gar nicht erwähnt. Die Achtung vor der Keuschheit wuchs sich mit dem Konfuzianismus geradezu zu einer Besessenheit aus; da ist zum Beispiel die Doktrin der keuschen Witwenschaft, der übertriebene Respekt vor der Familie, die einzig als Mittel der Fortpflanzung aufgefaßte Ehe. Die Gewohnheit, junge Mädchen, die vor der Ehe ihre Jungfräulichkeit verloren, mit dem Tode zu bestrafen, war nichts weiter als eine unmittelbare Folge des Puritanismus – eine solche Bestrafung wurde auch nie als Verbrechen betrachtet. 1935 wurde in einem Vorort von Schanghai ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen lebendig begraben, weil es bei Sonnenuntergang mit dem Verlobten ausgegangen war, und obwohl die schuldigen Eltern rechtmäßig der für Mord zuständigen Gerichtsinstanz angezeigt wurden, bestand deren einzige Strafe in einer Buße für das Begraben eines Leichnams auf öffentlichem Wege, das der Hygienevorschrift widerspricht. Eine andere Frau ließ man an Hunger und Durst sterben, weil sie es gewagt hatte, an einem heißen Nachmittag im Garten zu schlafen, wo jeder sie betrachten konnte. Das Wort Liebe war immer tabu. In gewissem Sinne ist es das heute noch, in Rotchina wie in Hongkong. Man hört es nie in einem Salon, noch auf der Straße oder im Kino: Eines Abends sah ich mir in Hongkong einen chi145
nesischen Film an, der eine Liebesgeschichte schilderte. In einem gewissen Moment näherte sich der Hauptdarsteller der Hauptdarstellerin, und es war klar, daß er ihr gleich etwas Zärtliches sagen würde. Er sagte aber nichts. Nachdem er ihr lange in die Augen gesehen hatte, entfernte er sich und begann ein Liedchen zu singen, aus dem hervorging, daß er sie sehr gern hatte und sie heiraten wollte, Zustimmung der Eltern vorausgesetzt natürlich. Das Liedchen paßte ganz und gar nicht, war der Film doch überhaupt kein Musikfilm. Ich mußte lachen und blickte um mich, ob auch die andern lachten. Doch niemand lachte. Später erkundigte ich mich, ob in jedem in China gedrehten Film der Held zu singen anhebe, sobald er einem Mädchen »ich liebe dich« sagen möchte, und die Antwort war: ja. Ich hätte doch sicher bemerkt, wie in diesem Film kein einziger unfeiner Satz, keine Andeutung von Nacktheit vorkomme. – Und im Alltag, wie benahmen sie sich denn da? Liebten die Chinesen vielleicht nicht? – O doch, aber fern von allen Blicken und nur wenn sie ordnungsgemäß verheiratet waren. Die Ehe war seit jeher das einzige unveräußerliche Recht der chinesischen Frau, aus diesem Grunde wurden ledige Frauen wie arbeitslose Männer behandelt. – Ja, und dann die Nebenfrauen? – Was für eine Frage! War ihre Ehe nicht auch eine Ehe? Han Suyin sagt: »Wer glaubt, die kommunistische Disziplin hätte die Mode der freien Liebe lanciert, täuscht sich gewaltig; sie hat höchstens bei den Chinesen und erst recht bei den Chinesinnen das Grauen vor fleischlicher Sünde und vor Erotik noch verstärkt. Es waren nicht allein soziale und wirtschaftliche Gründe, die zur Aufhebung der vier146
zigtausend Freudenhäuser führten, es waren vielmehr vor allem moralische Gründe. Es gibt heute wohl kaum eine Liebesbeziehung in China, die nicht durch die Ehe sanktioniert wäre. Ein Mann und eine Frau, die zusammenleben wollen, ohne verheiratet zu sein, gelten als verabscheuungswürdige Sünder; Ehebruch stellt eine Schuld dar, die zu den schwersten gehört, die gegenüber der Gesellschaft begangen werden können. Gar nicht zu reden von den Ehebrechern, die der Partei angehören: sie werden vor den politischen Gerichten zur Rechenschaft gezogen. Wer sich verliebt, heiratet. Scheidungen sind selten und schwer zu erlangen. Um sie zu provozieren, genügt Ehebruch nicht. Wie die katholische Kirche, predigt auch die kommunistische Regierung bis zum Überdruß die Einheit der Familie und die Ergebenheit der Kinder den Eltern gegenüber, was zusammen eines der »fünf guten Dinge« bildet, die die Mütter ihre Kinder lehren. Sie sind dermaßen puritanisch, die modernen Chinesinnen, daß sie sogar das Wort Liebe moralisiert haben. Früher sagte man statt Gatte oder Gattin ›Nui Jan‹: Die Person im Hause. Heute sagt man ›Ai Yen‹: Die Person, die ich liebe. Durch diesen sprachlichen Scherz ist es unmöglich geworden, jemanden ›Die Person, die ich liebe‹ zu nennen, ohne daß man mit dieser Person gesetzlich getraut wäre: nicht legalisierte Liebe kann keine echte Liebe sein. So weit haben es die Katholiken bis heute nicht gebracht.« Andere behaupten, die neue Festigung des Puritanismus habe in den chinesischen Frauen jegliche Freude an Koketterie getötet, und das sei mit ein Grund, warum sie vorzugsweise Uniformen oder Überkleider tragen, weil es 147
die Kameradschaft zwischen den Geschlechtern erleichtert. Auf der Straße ist kein Unterschied zwischen der Kleidung junger Männer und junger Mädchen zu sehen, sie alle tragen die gleichen blauen Jacken und blauen Beinkleider; wären nicht die Zöpfe der Mädchen, könnte man glauben, sich inmitten einer Bevölkerung von Zwitterwesen zu bewegen. Aus ihren Gesprächen ist jede Andeutung von Sex verbannt, außer es handle sich um wissenschaftliche Diskussionen. »Die Revolution«, sagte eine chinesische Dame einmal zu Simone de Beauvoir, »hat uns von der Liebe befreit.« Ein Schweizer Kaufmann, den ich in einem Restaurant in Hongkong kennenlernte, sagte mir: »Das Visum für China habe ich, und ab und zu verbringe ich drei Monate drüben. Eine Qual! Sie sind Südländerin, Sie müßten das verstehen: Ein Mann hat doch gewisse Bedürfnisse. Mit jenen Mädchen aber ist nichts anzufangen; sie erzählen einem höchstens, wenn es gelingt, sie zum Abendessen einzuladen, von der Stahlschlacht. Mich nimmt nur wunder, wo die vielen Kinder herkommen. Sind die denn überhaupt noch fähig, Kinderchen zu gebären, diese Nonnen in Zivil? Das habe ich eines Tages eine Werkmeisterin gefragt, und sie antwortete: ›Einen Moment Zeit findet man immer. Und ist es nicht das einzige Ziel der Ehe, Kinder zu zeugen?‹« Man begreift daher, daß es viele katholische Priester fertigbringen, mit dem Regime Mao Tse-tungs auszukommen, wie auch immer man zu ihm stehen mag, und warum bei offiziellen Feierlichkeiten oftmals der zuständige Bischof anwesend ist. China ist in der Tat das einzige Land des Ostens, in dem die Geburtenkontrolle nie angewandt wur148
de. Sie versuchten es, unter vielen Vorsichtsmaßnahmen, im Jahre 1956. Sie mußten gleich wieder aufhören damit, sonst hätte von Seiten der Frauen eine Gegenrevolution gedroht. »Warum«, schrien sie, »übt ihr nicht gleich auch eine Kontrolle über den Verkauf von Kosmetika aus? Ist der Wunsch nach Mutterschaft nicht der Anlaß zum Gebrauch von Schönheitsmitteln?« Und doch sind es gerade diese Frauen mit dem entrückten und strengen Aussehen, diese Todfeindinnen der Sünde und der Koketterie, die imstande waren, beim Anblick eines Bidets aufzuschreien, gerade sie sind es, die diesseits und jenseits des Flusses Sham Chan die offene Revolution weiterführen, die von den Frauen mit eingebundenen Füßen begonnen wurde und die in jenen Etappen, an die sich viele chinesische Kommunisten heute nur ungern erinnern, heranreifte. Ich denke an die Adventszeit der Republik, 1911, als die Gleichberechtigung der Geschlechter angenommen wurde; an die Bewegung des 4. Mai 1919, als unmittelbar nach der Konferenz von Versailles die Studentinnen sich mit den Studenten zusammen in die Straßen ergossen; an die erste Zulassung der Mädchen zur Universität von Peking und die Einrichtung gemischter Klassen in allen Schulen, ebenfalls 1919; an die nationale Revolution von 1926, als sowohl der Kuomintang wie auch die kommunistische Partei Frauen aufboten; an die Bekanntgabe des Gesetzes, das die Rechte von Männern und Frauen in Erbschaftsangelegenheiten einander gleichsetzte; und schließlich an die Mode der Ballsäle, der hohen Absätze, der Seidenstrümpfe, der normalen Büstenhalter, des Kleides, das Cheong-sam heißt. 149
In China waren bis vor zwanzig Jahren die Achtung vor der Frau, die Zärtlichkeit für das weibliche Geschlecht, die Anerkennung der Frauenarbeit unbekannte Gefühle. Die Männer waren stets und in allen Berufen überlegen, auch in den weiblichen: man darf nicht vergessen, daß die besten Schneider und die besten Köche in China immer Männer, nicht Frauen waren. Die Geringschätzung, die sich daraus ergab, war vollständig: »Nichts ist verletzender für einen Chinesen, als zu sehen, daß eine Frauenstatue im Hafen von New York aufgestellt ist«, schrieb 1940 der Schriftsteller Lin Yutang. »Und wenn der Chinese erfährt, daß diese Frauenstatue nicht die Weiblichkeit, sondern die Idee der Freiheit darstellt, verletzt ihn das erst recht. Weiter verletzt ihn der Gedanke, daß für die Abendländer sowohl Victoria, als auch Pax und Justitia stets in Frauengestalt dargestellt werden.« Dabei waren die chinesischen Frauen nicht etwa schwache und ergebene Weibchen wie die Muselmaninnen, sondern stets starke, stolze Frauen, bewährt im Ertragen von Schmerzen und Mühen, fähig zur Autorität. Die Metamorphose konnte demnach nicht anders als paradox sein. Ohne Zweifel: es trägt sich Unglaubliches zu auf der andern Seite der Brücke, wo zweiundzwanzigkommafünf Prozent der Abgeordneten Frauen sind, wo drei von zehn Richtern Frauen sind, wo die Minister der Gesundheit, der Justiz, der Textilindustrie, des Auswärtigen und des Innern Frauen sind, wo Madame Sung Ching Ling Mao Tse-tung bei öffentlichen Zeremonien vertritt, und auch bei Entscheidungen, falls er gerade Magenschmerzen hat oder erkältet ist, wo zweitausendfünfhundert Frauen allein in den Schulen und Universitäten von Peking unter150
richten, um sich selber und die Welt vergessen zu machen, daß sie bis vor zehn Jahren weder lesen noch schreiben konnten. Jenseits des Flusses Sham Chan gibt es vierzehnjährige Mädchen, die als Bürgermeister ganze Dörfer von sechshundert Einwohnern regieren: den modernen Chinesinnen wird nicht nur das »Aufbauen einer sozialistischen Gesellschaft« beigebracht, sondern auch das »Ausüben einer leitenden Stellung darin«. Jenseits des Flusses Sham Chan leiten die Töchter und Enkelinnen jener Frauen, die lebendig begraben wurden, wenn sie es wagten, mit ihrem Verlobten auszugehen, kalten Auges die kalten Organisationen, die unter dem Namen »Straßenkomitee« die Aufgabe haben, »das Wohlergehen, die Hygiene und die Familienstreitigkeiten der Bürger zu überwachen«. Mindestens vierzig Prozent der Frauen arbeiten in der chinesischen Schwerindustrie, und zwar bei gleicher Entlohnung wie die Männer. Wer auch immer von der Grenze kommt, betont, man müsse die Parade der Oktoberrevolution gesehen haben, um zu begreifen, wie sehr verändert die Frauen sind: Die Soldatinnen defilieren mit den Soldaten Seite an Seite und tragen auf ihren zarten Schultern Maschinengewehre oder Bazookas, und ihre Gesichter tragen den gleichen finsteren Ausdruck wie die der weiblichen Soldaten, die in Quemoy für Tschiang Kai-schek kämpften. Gewiß sind es ihrer viele, die einsehen, daß der nicht genügend abgestufte Übergang vom Zustand einstiger Sklaverei zur völligen Gleichberechtigung in einigen Frauen geistige Gleichgewichtsstörungen und Unsicherheiten hervorgerufen hat. »Unsere hauptsächliche Aufgabe«, sagt Frau Chou, Präsidentin der Panchinesischen Frauenallianz, 151
»ist die, die Frauen von einem neuen Minderwertigkeitskomplex zu befreien, dem nämlich, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Wer diese Metamorphose nicht miterlebt hat, kann unsere Verwirrung, unsere Erleichterung und unsere Furcht nicht verstehen. Wie Mao Tse-tung erläuterte, ist die Revolution keine Banketteinladung, und für die chinesischen Frauen gibt es keine Orchideen. Es gibt nur häßliche Medaillen, und wir haben ständig Angst, diese nicht zu verdienen.« Das Drama triff t unweigerlich die Ältesten hart: Als die chinesische Regierung den Kampf gegen das Analphabetentum aufnahm, erwuchsen ihr die größten Hindernisse durch die Frauen; denn es stellte sich heraus, daß siebzig Prozent von ihnen unfähig waren, die dreizehntausend idiomatischen Zeichen auswendig zu lernen, die notwendig sind, um eine Zeitung lesen zu können. Als die Vielweiberei abgeschaff t wurde, mußte man die Annullierung der bereits geschlossenen Ehen vermeiden: ein Großteil der befreiten Konkubinen wäre nicht in der Lage gewesen, allein zu leben. Die neue Generation von Puritanerinnen dagegen kann sehr gut allein leben, und in dieser Einsamkeit werden viele zu angesehenen Frauen; dadurch nähren sie ein soziales Matriarchat, das jenem der Vereinigten Staaten ähnlich ist. Leiterinnen von Firmen, von Spitälern, von Kriegsschulen bilden das matriarchalische Virus, dessen Anstekkung die Brücke über den Fluß Sham Chan passiert und die Frauen bis nach Hongkong hinein infiziert. Besitzer und Chefredakteur der meistverkauften Zeitung Hongkongs, des ›Hongkong Standard‹, der in zwei englischen und einer chinesischen Ausgabe gedruckt wird, die mächtige Persön152
lichkeit, die allein die öffentliche Meinung von fünf Millionen Chinesen »macht«, ist eine Frau: Aw Sian. Die Art und Weise, wie ich Aw Sian kennenlernte, ist einzigartig: durch eine Perücke. Ich war im Hotel, als der Leiter der Frauenseite des ›Hongkong Standard‹ anrief, um einen Artikel über die ehrenwerte Journalistin zusammenzustellen, die über die Frauen der Welt schreibe. Die Sache überraschte mich einigermaßen, hatte ich doch nie geglaubt, daß eine mehr oder weniger ehrenwerte ausländische Journalistin den Gegenstand eines ehrenwerten Artikels in einer ehrenwerten Zeitung bilden könnte; wie ich indessen später in Japan feststellte, ist eine gewisse Sorte Interviews im Fernen Osten sehr gebräuchlich. Also bat ich ihn, ins Hotel zu kommen, und er kam, von einem Photographen begleitet, und fragte mich sogleich, welche Frauen der Welt mir am besten gefallen hätten. Die Frage war mir nicht neu: in allen Ländern hatte man sie mir gestellt, mit einem Gesicht, als erwarte man eine aufrichtige Antwort; ich wußte also nachgerade, was ich darauf antworten mußte. Und wie ich in Indien gesagt hatte, ich zöge die Inderinnen vor, in Pakistan, ich zöge die Pakistanerinnen vor, und in Japan sagen würde, ich zöge die Japanerinnen vor, so sagte ich, daß ich den chinesischen Frauen vor allen anderen den Vorzug gebe. Das machte ihn glücklich und führte zu einem Maschinengewehrfeuer noch überflüssigerer Fragen: wie alt ich sei, wie viele Zigaretten ich rauche, ob ich meine Artikel mit der Schreibmaschine oder mit der Hand schreibe. Der Mann war ein äußerst pedantischer Reporter, und es war sehr heiß; die 153
Perücke, die ich aufgesetzt hatte, um meine in Unordnung geratenen Haare zu verdecken, wurde mir immer lästiger. Kurz entschlossen nahm ich sie ab und warf sie achtlos in eine Schublade, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Im selben Augenblick blendete mich ein Photoblitz des Pressephotographen, während der Reporter selbst völlig verdutzt auf die Füße gesprungen war. »Was ist das?« »Eine Perücke.« »Warum tragen Sie eine Perücke, wo Sie doch genug eigene Haare besitzen?« »Weil sie mir gefällt, und weil ich mit ihr besser frisiert aussehe.« »Unglaublich!« Anderntags kaufte ich, aufgestachelt durch jenen unfeinen Schuß Eitelkeit, der sich in den schlimmsten von uns verbirgt, den ›Hongkong Standard‹, und die Photos von mir, mit Perücke und ohne Perücke, nahmen unter einem vierspaltigen Titel eine ganze Viertelseite ein: »Oriana, living paradox.« Überwältigt von so viel Schmeichelei, schickte ich mich an, zu lesen, was denn so Außerordentliches an mir sei, und erfuhr dabei, daß das Außerordentliche nicht in dem bestand, was ich gesagt hatte, sondern in der Tatsache, daß ich eine Perücke trug: »weil ich mir so die Haare nicht zu waschen brauche, eine Arbeit, die ich nicht ausstehen kann«. Gewiß, wäre ich eine ehrenwerte Journalistin, würde ich mich sogleich auf alle Ungenauigkeiten besonnen haben, die ich selber auf Kosten anderer in meinen Artikeln verbrochen hatte, und hätte nicht protestiert. Da ich es aber 154
nicht bin, ärgerte ich mich bis zum Wutanfall über diese Ungenauigkeit, rief die Sekretärin des Chefredakteurs an und verlangte eine Unterredung. Und jetzt sehen Sie wieder einmal, wie wenig es braucht, um populär zu werden: eine Photographie in der Zeitung, ein Sensationstitel, weil ein Trottel berichtet, Ihre Haare seien schmutzig, und binnen weniger Minuten öff nen sich alle Türen vor Ihnen! Es gibt sonst nämlich nichts Schwierigeres in Hongkong, als ein Rendezvous mit dem Chefredakteur des ›Hongkong Standard‹ zu erlangen. Aber kaum nannte ich meinen Namen, da antwortete die Sekretärin, Aw Sian werde glücklich sein, mich zu empfangen, wann immer es mir recht sei. Ich wußte natürlich nicht, daß Aw Sian ein Frauenname ist: die chinesische Schrift ist mir fremd, und das englische Wort »editor« ist ein Neutrum. Also lief ich zum Friseur und klopfte gleich darauf, mit der schönsten frischgelegten Frisur des Orients, an die Tür des Büros von Aw Sian. Aw Sian saß zwischen Stößen von Papieren, Büchern und Zeitungen und war eine kleine Frau von nicht einmal dreißig Jahren, mit grazilem, von einem bläulichen Cheong-sam umschlossenen Körper und dem gleichen strengen Ausdruck wie die Verkäuferinnen in der kommunistischen Buchhandlung. Sie sah aus wie eine eingefleischte Junggesellin, und ihre Stimme erinnerte an das Piepsen eines Kükens, als sie am Telefon mit jemandem sprach, doch waren ihre Anweisungen so autoritär, daß ich blitzartig vergaß, weshalb ich hergekommen war, und den Protest in ein Interview umwandelte. Nein, sagte Aw Sian, die Tatsache, daß sie eine Frau sei und dabei fünfzig Personen befehlige, sei ihr gar keine Last. »Als mein Vater Aw Boon Haw Tiger, 155
auch ›der große Tiger‹ genannt, starb, da erschreckte mich die Verantwortung, eine dreifache Zeitung zu erben. Deshalb begab ich mich nach Amerika und blieb sechs Monate lang in New York, um mich im Journalismus auszubilden. Dann ging ich nach Deutschland und hielt mich weitere sechs Monate in München auf, um jeden neuen Maschinentyp zu studieren und Zeitungsrotationsmaschinen des neuesten Modells zu kaufen. Als ich schließlich das Gefühl hatte, genug zu wissen, kehrte ich nach Hause zurück. Die Arbeit ist hart, aber ich könnte nicht leben, ohne etwas zu tun. Ich gehöre nicht zu jenen Kapitalistinnen, die an der Côte d’Azur ihre Zeit verplempern. Ich mache mich gern nützlich. Ja, ich habe in der Redaktion viele Frauen angestellt; die Zeiten sind längst vorbei, da Konfuzius sagte, Unwissenheit sei bei einer Frau ein Zeichen von großer Tugend. Unsere Welt endet nicht mehr an der Schwelle des Hauses.« Dann fragte mich Aw Sian, ob ich die »Erlauchte Mutter der Familie« und die ehrenwerte Enkelin, die eines Tages die Zeitung erben würde, kennenlernen möchte. Und am andern Tag besuchte ich sie in ihrem Hause, dem prunkvollsten Hause von Hongkong, mit Türen aus massivem Silber und jadebesetzten Wänden, vom »großen Tiger« in streng chinesischem Stil erbaut. Tan Kyi Kyi, die erlauchte Mutter der Familie, wartete, mit der Enkelin in kariertem Sporthemd und Blue jeans zusammen, inmitten des Saales: eine Greisin, weiß wie eine Wachsfigur, mit Jade übersät wie ein Exvoto, mit kleinen Füßchen, die ein kostspieliger Chirurg wenigstens soweit hatte strecken können, daß sie in normale Schuhe paßten. Sie bewegte sich mit geheimnisvoll hüpfenden Schritten 156
vorwärts, und neben ihren Füßen wirkten diejenigen von Aw Sian mit Schuhnummer siebenunddreißig riesig. Auch die Füßchen der Enkelin, die in Tennisschuhen steckten, sahen riesig aus. Aber beim Anblick der alten Dame merkte man sofort, daß sie die wirkliche Hausherrin war: Hüterin der Traditionen und des Ansehens der Familie. Bei jedem ihrer Worte neigten Aw Sian und die Enkelin den Kopf, als hätte sie ein Orakel gesprochen, und als Aw Sian mir die Zimmer zeigte, wurde mir klar, warum Han Suyin mir nahegelegt hatte, nicht an die politischen Differenzen zu denken, wenn ich die Frauen auf der einen und auf der andern Seite des Flusses beobachtete. Aw Sian, die mächtigste Frau Hongkongs, schläft mit der erlauchten Mutter der Familie im selben Zimmer, welche auf diese Weise ihren Schlaf, ihre Tugend und ihre nächtlichen Telephongespräche überwachen kann. »Haben Sie nie daran gedacht«, fragte ich Aw Sian, »für sich zu leben oder wenigstens in einem anderen Zimmer zu schlafen?« »O nein!« wehrte sie entsetzt ab. »Würden Sie so etwas richtig finden?’« Es hingen europäische Kleider in Aw Sians Schrank, und im Garten stand ein offener Sportwagen, den Aw Sian selber steuert. Wenn ich wolle, sagte sie und versuchte damit offensichtlich das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, könne sie mich in die Stadt zurückfahren. Wir gingen also in den Salon zurück, und da saß die erlauchte Mutter der Familie inmitten ihrer Jadesammlung, auf daß wir ihr und ihrer unüberwindbaren Altersmacht die gebührende Ehre erwiesen. 157
»Erlauchte Mutter«, sagte Aw Sian und verneigte sich, um ihr die Hand zu küssen. »Mit Ihrer Erlaubnis begleite ich den ehrenwerten Gast zur Fähre.« Tan Kyi Kyi bewegte herablassend ein ganz kleines bißchen den Kopf, während ihre Augen hochmütig geradeaus schauten. Selbst ihre Ohrgehänge regten sich nicht, so unmerklich war das Kopfnicken. Bestimmt aber mußte sich irgendein Muskel in ihrem Gesicht spannen, als das Auto Aw Sians dröhnend startete. Aus dem Zimmer der Enkelin im karierten Hemd und Blue jeans drang das Geräusch eines Rock ’n’ Roll und verfolgte uns bis zum Gartentor. Aw Sian lächelte ein geheimnisvolles Lächeln, während sie mit entschiedenen Bewegungen den Wagen lenkte. Die Luft war weich, ein lauer Wind streichelte uns die Wangen. »Ich habe die Absicht, einen Fünfjahresplan für die Entwicklung des ›Standard‹ aufzustellen«, sagte Aw Sian. »Ich will, daß sich bis 1965 die Auflage verdreifacht. Vielleicht werde ich noch mehr Frauen einstellen, sie arbeiten flinker.« »Warum heiraten Sie nicht?« brach ich los. »Ich habe keine Zeit«, erwiderte sie. »In Hongkong sind die Männer unglaublich rückständig. Sie erwarten, daß die Gattin zu Hause bleibt und sich für nichts anderes als ihren Mann interessiert. In diesem Sinne haben die chinesischen Kommunisten einen großen Schritt vorwärts getan: sie vertrödeln keine Zeit mit der Liebe. Die Liebe ist ein Hobby für Faulenzer. Nein, danke, ich rauche nicht.« Es war die letzte Begegnung in Hongkong gewesen. Um Mitternacht würden wir zu unserer vorletzten Etappe auf158
brechen, nach Japan. Also schenkten Duilio und ich uns diesen Nachmittag, um Geld für unnütze Dinge auszugeben: Eßstäbchen, Buddhastatuetten, Briefpapier, auf das wir nie einen Brief zu schreiben wagen würden, in Anbetracht all dieser gemalten Blümchen und aufgeklebten Schmetterlinge. Hongkong ist ein Freihafen, alles kostet dort dreimal weniger als anderswo. Für umgerechnet insgesamt siebentausend italienische Lire nähte mir ein Schneider in wenigen Stunden einen Cheong-sam, den ich allerdings nie anzuziehen wage, weil ich mich mit dem Schlitz bis zum Oberschenkel hinauf geniere, und weil der roßhaarverstärkte Stehkragen unbequem und hart ist. Für sechstausend italienische Lire kaufte Duilio ein Halsband aus Türkisen, in Schanghai hergestellt; er beabsichtigte, es dem erstbesten Mädchen zu schenken, das bereit war, seine Ansicht, der Mann sei nicht aus Holz, zu teilen. Als das Flugzeug startete, vertraute Duilio mir im Dunkeln seine Enttäuschung an: er hatte in Hongkong nicht ein einziges Abenteuer erlebt. »Was ist denn das für ein Märchen, in Hongkong sei es so leicht? Du beschäftigst dich mit so vielen Angelegenheiten, und um die wichtigste kümmerst du dich nicht«, sagte er mit klagendem Unterton. »Ein Europäer, der in den Osten kommt, macht zuletzt einem Mönch Konkurrenz, sofern ihm ein Bordell nicht zusagt. Da hast du das ernsthafteste Resultat deiner Forschungen über die Frauen. In Karachi – davon reden wir schon gar nicht. In Indien war das einzige, was mir zublinzelte, ein Zwitter. In Singapore hast du’s selber gesehen. In Hongkong hoff te ich auf etwas. Und was findest du statt dessen? Entweder 159
Taxigirls oder Prostituierte, die dir der Hotelportier beschaff t. Weißt du was? Diese Orientalinnen sind mir eigentlich unsympathisch.« »Sei friedlich, Duilio. In Tokio wird es besser werden«, lachte ich. »Und dann ist da noch Honolulu.« »Ach was. Es ist überall dasselbe. Weißt du was? Ich kann es kaum erwarten, bis wir in New York ankommen. Dort kenne ich ein gewisses Mädchen. Wer weiß, vielleicht heirate ich sie.« »Wer weiß, vielleicht heiratest du in Japan. Weißt du, wie das Sprichwort lautet? Der Mann, der Glück hat, lebt in einem amerikanischen Haus, ißt chinesisch und hat eine japanische Frau.« Es war ein Sprichwort, das ich ein bißchen überall vernommen hatte, ehe ich nach Tokio kam, von Männern jeder Rasse und jedes Landes. Und während des Fluges dröhnte es mir fortwährend in den Ohren, als würde ich im Hinblick auf die japanischen Frauen von dem erfaßt, was ein Psychoanalytiker einen »akuten Minderwertigkeitskomplex« nennen würde. Den ich nunmehr, Gott sei Dank, nicht mehr habe.
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Man versteht die Japanerinnen nicht, wenn man Tokio nicht versteht. Auf den ersten Blick sieht Tokio aus wie irgendeine westliche Stadt: mit seinen weiten Straßen, seinen Wolkenkratzern, der wilden Jagd der Straßenbahnen und Autos und sogar mit der genauen Kopie des Eiffelturms, die sich, zwölf Meter höher als der echte Eiffelturm, unweit der Einfriedung des kaiserlichen Palastes erhebt. Die Häuser sind aus Eisenbeton, die Warenhäuser haben Rolltreppen, die Ladenschilder machen Reklame für europäische Marken, die Luft ist grau wegen der Fabriken, die Autohupen mißhandeln das Trommelfell, die Leute haben es eilig – man hat den Eindruck, in Berlin oder in Chicago zu sein. Das einzige, was Tokio von Berlin und Chicago unterscheidet, ist, daß seine Straßen keine Namen haben und seine Häuser keine Nummern; wenn man an einen bestimmten Ort hingehen muß, geben einem die Leute nicht die Adresse wie in irgendeinem andern Land. Sie geben einem den Namen des Stadtteils und dazu eine kleine topographische Karte, auf der der betreffende Ort mit einem Kreuzchen, der Weg dorthin mit einer Schraffierung bezeichnet ist. Wie die Postboten da zurechtkommen, habe ich nie begriffen. In ganz Tokio, einer Stadt von acht Millionen Einwohnern, haben bloß zwei Straßen einen Namen: die Ginza, die Hauptschlagader, lang und breit wie die Champs-Elysees, und die Fifth Avenue, die während der Besetzung von den Amerikanern 161
so genannt wurde, weil sie in die Straße ganz vernarrt waren. Abgesehen von dieser Unannehmlichkeit, deren sich die Japaner ein wenig schämen, ohne daß sie deswegen je daran gedacht hätten, ihr abzuhelfen, ist Tokio die modernste Stadt, die man im Fernen Osten sehen kann, bar jeden Geheimnisses und jeder Phantasie. Am Tage ist Tokio häßlich. Abends jedoch wird Tokio wunderschön, voll verwirrender Überraschung und Anmut. Die Geräusche verklingen, die Rolltreppen stehen still, die Leute hören auf zu hasten, die Ginza flammt auf wie ein Feuerband und beleuchtet auch winzige Nebengäßchen, von denen man sich nicht einmal vorstellen konnte, daß es sie gibt; und in diesen Gäßchen sind die Häuser aus Holz und Papier, zerbrechlich wie Papierdrachen, über jeder Haustür schaukelt eine rote, grüne oder blaueLaterne und bringt dabei kleine Blechtriangel zum Klingen. Da entdeckt ihr Wirtshäuser, die nicht mehr als sechs oder sieben Personen fassen, klein wie ein Eisenbahnabteil, wo euch die Wirtin im Kimono warmen Saki in Puppentäßchen anbietet, während eine Shemisenspielerin euch mit eintöniger Stimme ein Liebeslied vorträgt. Ihr entdeckt auch freundlich-verschrobene Restaurants, die man erst betritt, nachdem man die Schuhe ausgezogen hat, und wo man kniend vor einem niedrigen Tisch kauert, in dessen Mitte ein glühender Stein liegt. Dort werden Fleisch, Eierfrüchte und Äpfel gebraten, alles in knapp fingerbreite Streifchen geschnitten. Hier kann jeder Kunde oder jede Gruppe von Kunden ein privates Zimmer haben, dessen Möblierung einzig aus diesem niedrigen Tisch besteht, und wenn man drin162
nen ist, schließt sich die Schiebetür, auf daß kein Geräusch oder Blick euch störe. Nach einer Weile geht die Tür unter dem Rascheln kaum berührten Papiers wieder auf, und dort kniet die Bedienerin im Kimono auf dem Boden, das Tablett mit eurem Menü auf den erhobenen Händen. Sie steht auf, geht mit kleinen Schrittchen, als fürchte sie euch zu belästigen, zum Tisch, kniet von neuem nieder, kocht mit hurtigen Bewegungen die Fleischstückchen, reicht sie euch und bittet dabei inständig, Appetit zu haben, bis ihr schließlich das Gefühl habt, zu Hause und wieder als Kind bei der Mutter zu sein, die euch päppelt und Sorge trägt, daß ihr auch genug eßt, um schön und kräftig zu werden. Sogar ihr Lächeln, mit halbgeschlossenen Augen und gekräuselten Lippen, erinnert an die Mutter. Dann geht ihr weg mit wirrem Kopf und von einer seltsamen Zärtlichkeit erfüllt, die gleich darauf erlischt. In den Straßen, wo die Nachtlokale Le Soir, Moulin Rouge und Bel Ami heißen, laden arrogante, graziöse Mädchen euch ein, das Striptease anzusehen, und ihre Kolleginnen, die sich da langsam ausziehen, bis sie jeden Zentimeter der rundlichen Körper zeigen, sind frisiert wie Brigitte Bardot. Wenn ihr euch mit ihnen in der Garderobe unterhaltet, werden sie euch indessen anvertrauen, daß es ihr höchster Ehrgeiz ist, einer anderen Französin zu gleichen, die Pascale Petit heißt. Ja, und die größte Schmeichelei ist für die Mädchen, »transistor baby« – das ist der Name des Ta-schenradiogerätes – genannt zu werden. In den Snack-Bars, die denen von Berlin oder Chicago zum Verwechseln ähnlich sind, stecken die halbwüchsigen Mädchen mit Pferdeschwanzfrisur, kariertem Hemd und Blue jeans Zehn-Yen-Mün163
zen in die Plattenautomaten, um Frank Sinatra ›The lady is a tramp‹ singen zu hören. Und dieselben Mädchen lassen sich wenig später von den Wahrsagerinnen in den roten Kästchen längs der von Kerzenlicht erhellten Kanäle die Zukunft deuten. Es ist schwierig, Tokio zu verstehen, wie es schwierig ist, die Japanerinnen zu verstehen. Während der ersten vierundzwanzig Stunden, die ich in Tokio verbrachte, durchlief ich sämtliche Gemütsverfassungen, die eine unvorbereitete Europäerin durchlaufen kann: Enttäuschung, Begeisterung, Zorn, Verwunderung, Neugier. Als ich ins Hotel zurückkehrte, um vor einem soundsovielten Saki meine Gedanken zu sammeln, kam ich zum Schluß, daß ich überhaupt rein gar nichts kapiert hatte. Chas June, ein junger koreanischer Schriftsteller, der seit zehn Jahren in Japan lebt und mich den ganzen Abend als Führer begleitet hatte, war bei mir, und sein gelbes, eckiges Gesicht mit den hübschen Eichhörnchenzähnen und den sanften Mandelaugen drückte amüsierte Ironie aus. Als er vor einigen Jahren Truman Capote begleitet habe, sagte er, sei er Zeuge der gleichen Fassungslosigkeit geworden. »Es ist nicht Fassungslosigkeit, Chas. Es ist Verwirrung. Die Frau des Restaurants war so sehr anders als das Stripteasemädchen. Das Stripteasemädchen wiederum war so sehr anders als der Teenager in Blue jeans.« »Ach nein«, sagte Chas. »Im Grunde genommen sind sie alle gleich, du wirst sehen. Nur daß sie zwei Gesichter haben, wie diese Stadt auch.« Die Barkellnerin hatte den Saki gebracht. Sie begann ihn in die Täßchen zu gießen, als wäre es Salböl. Dabei 164
zwitscherte sie geheimnisvolle Worte, während sie mich verzückt anschaute. »Was sagt sie, Chas?« »Sie sagt, du gleichst Deborah Kerr.« »Allmächtiger! Ist sie übergeschnappt?« »Sie sagt, du gleichst auch Marilyn Monroe.« »Mach, daß sie aufhört, Chas!« »Und sie sagt, ich gleiche Marlon Brando.« »Hör mal, Chas: was will sie?« »Nichts. Sie will uns bloß Freude machen. Es sind höfliche Frauen, weißt du das nicht?« Er wartete, bis die Kellnerin die Liste der Komplimente erschöpft hatte, dann machte er eine ärgerliche Bewegung, als verscheuche er eine Fliege. »So sehr höflich. Sie bringen dich ins Irrenhaus vor lauter Höflichkeit. Ich hatte einmal eine Geschichte mit einem Mädchen aus Tokio, sagte ihr aber rundheraus, daß ich nicht daran dächte, sie zu heiraten; sie war so höflich, daß sie trotzdem zu mir in mein Haus am Meer zog.« Er schauderte, als setzte ihm die Erinnerung arg zu: »Zu jener Zeit wollte ich ein Buch schreiben und hatte Ruhe nötig; und das Mädchen war so höflich, daß ich dachte, sie würde mir kaum lästig sein. Na, jedenfalls – ich schrieb jenes Buch nicht. Kaum war ich jeweils allein in meinem Zimmer, kam sie herein, unter lauter Verneigungen und Lächeln, und fragte, ob ich eine Tasse Tee wünsche. Nein, sagte ich, danke – ich bin am Schreibenden will keine Tasse Tee. Da ging sie hinaus, und eine Weile später kam sie wieder, um zu fragen, ob ich eine Süßigkeit zu essen wünsche. Nein, sagte ich, danke – ich bin am Schreiben und will keine Süßigkeit essen. Da 165
ging sie hinaus, und eine Weile später kam sie wieder und fragte, ob ich sie zu lieben wünsche. Nein, sagte ich, danke – ich bin am Schreiben und wünsche nicht zu lieben. Da ging sie hinaus, und ihr Schluchzen vertrieb mir alle Einfälle, so daß ich schließlich zu ihr ging, und dann mußte ich die Tasse Tee trinken, die Süßigkeiten essen und sie lieben. Ein Elend.« »Und wie ging die Sache aus?« »Höflich. Als ich ihr sagte, ich hätte sie satt, versuchte sie mich umzubringen.« »Weißt du, Chas, sowas gibt’s nicht nur in Japan.« »Tja. Das gibt’s auch in Japan. Das ist es eben, was ihr nicht verstehen wollt.« Chas ist Orientale mit europäischer Kultur – nicht umsonst hat er in Rom, London und Paris gelebt, wobei er betont, der einzig richtige Wohnort sei »I Tatti«, die Villa Berensons in Florenz. So nahm ich seine Ausführungen nicht allzu ernst. Die Tatsache, daß ein so höfliches Weibchen ihm über den Weg gelaufen war, genügte nicht, meinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Japanerinnen zu mildern. Trotz der Verwirrung, die in meinem Geist herrschte, waren die Japanerinnen für mich noch immer das, als was sie die Encyclopaedia Britannica unter dem Buchstaben J schildert: »Von Ergebenheit und Gehorsam durchdrungene Geschöpfe, unerreichbar für die Dummheiten moderner Laster, erhaben in der Aufopferung, weiblich wie kein anderes weibliches Wesen auf Erden«, eben wie der romantische Reisende sie sich vorstellt, der in Japan nichts als Geishas, riesige Buddhastatuen und Pfirsichblüten sieht. 166
Der romantische Reisende sieht nur das, was er sich ersehnt oder worauf er vorbereitet ist. Er wäre infolgedessen zutiefst gekränkt, wenn ich ihm anvertraute, daß die Pfirsichbäume längs der Ginza Stämme aus Plastik und Blüten aus Cellophan besitzen, daß die Geishas in einer Gewerkschaft zusammengeschlossen sind, daß an der Stelle vieler von Bomben zerstörter Buddhastatuen heute Photogerätefabriken stehen und daß die Encyclopaedia Britannica auch irren kann. Oder besser: etwas veraltet sein kann. In den Tagen, die meiner verwirrenden ersten Bekanntschaft mit Tokio folgten, begegnete mir in der Tat vieles, was mich auf den Gedanken brachte, Chas habe doch nicht einfach ins Blaue hinein geredet. Oft überflog ich, wenn ich die englische Ausgabe der Zeitung ›Mainichi‹ las, die Rubrik der Leserzuschriften und stieß dabei auf Briefe wie diese: »Es ist eine Schande. Die Mädchen von heute lachen in der Straßenbahn, und wenn sie einen Mann stehen sehen, erheben sie sich nicht einmal, um ihm ihren Platz anzubieten.« Oder: »Es ist einfach unanständig. Ich spazierte durch die Ginza, und ein Mädchen im Kimono bot mir an, ihre Blumen zu kaufen. Als ich dies ablehnte, riß sie mir einen Ärmel aus der Jacke.« Oder: »Unsere Männer kommen sich zwar vor wie der liebe Gott. Ich aber halte sie für sexuell inadäquat. Finden Sie nicht, daß sie im Bett auch uns Ehefrauen gefällig sein sollten?« Ich stieß auch auf Nachrichten, die besser nach Schweden oder Amerika gepaßt hätten als in das Japan- meiner Vorstellungen. Die »mambo garu« (d. h. Mambo Girl: so nennen die Chinesen die Teenager in Blue jeans) hatten sich angewöhnt, das Wochenende mit ihren gleichaltrigen 167
Kameraden am Strande von Izu oder in den Wäldern von Karuizawa zu verbringen, wo sie ungetrennt schliefen. Das städtische Polizeibüro hatte ihretwegen einundfünfzig Polizistinnen aufgeboten. Und Professor Michio Takeyama von der Universität Tokio schrieb in einem betrübten Artikel: »Was diese unsere Ära der Verwirrung am meisten charakterisiert, sind die Jugendlichen des Mambo-Clans. Ihre nihilistische Gleichgültigkeit erschreckt uns.« Was die »transistor babies« anbelange, so sagte der Professor, verdanke man ihnen die zweifelhafte Errungenschaft des »Western kiss«, des abendländischen Kusses. Chas, der offensichtlich keine Vorliebe für die Japanerinnen hegt, gab seiner Schadenfreude Ausdruck, wenn er mir Interviews mit Leuten vermittelte, die geradezu dafür bezahlt schienen, mich zu enttäuschen. Er brachte mich zu Dr. Umezawa, Leiter der Abteilung Schönheitschirurgie des Jujin-Spitals, und dieser erklärte mir, daß vierzig Prozent der berufstätigen Mädchen sozusagen ihren ganzen Verdienst dafür ausgeben, die asiatischen Merkmale ihres Aussehens zu verändern. Gewiß, mir war bekannt, daß die Umwandlung der Mandelaugen in westliche Augen Mode war, dieser Eingriff kostete 140 Mark und dauerte fünfzig Minuten. Eine weitere Mode war, einen üppigen Busen zu haben, der den Büstenhalter überflüssig machte: da lassen sich die Mädchen mit kleinen und flachen Brüsten subkutan eine schmerzhafte Plastikmasse einspritzen, was knapp 70 Mark kostet. Dann brachte Chas mich zu irgendeinem Friseur, Aiko Yamano, und dieser erzählte, daß Wasserstoffsuperoxyd einen ebenso großen Absatz findet wie Shampoo: vier von zehn Frauen in Tokio hellen sich die 168
Haare zu Goldbraun oder Tizianrot auf. »Natürlich färben sie sie nur wenig auf einmal, damit die Ehemänner es nicht so merken und sich nach und nach daran gewöhnen.« Ich betrachtete mir die zitronengelben, von diesen absurd strohblonden und karottenroten Haaren eingerahmten Gesichter, dann die in diese absurden europäischen Kleider gesteckten Körper, und von neuem empfand ich die Verwirrung, die bei Chas Fassungslosigkeit heißt. Fünfzig Prozent der Japanerinnen, vor allem in Tokio, ziehen sich europäisch an: ein guter Kimono kostet nicht weniger als 10 000 Yen (was 140 Mark entspricht), während ein Tailleur kaum 5000, also 70 Mark, kostet – serienmäßig angefertigt, natürlich. In den Warenhäusern von Tokio werden lediglich in zwei, drei Abteilungen die althergebrachten Kimonos verkauft, im übrigen sind sie ganz auf den Verkauf von Blusen, Röcken, Schuhen mit Absätzen eingestellt. Wenn die Frauen im Kimono als zerbrechliche Püppchen ohne Brust und Hüften erscheinen, zierlich vorgebeugt unter der großen Schleife des Obi und so wehrlos – in europäischen Kleidern tritt uns eine andere Japanerin entgegen: robust und dreist, mit massiven Hüften und kräftigen Waden, mit Armen, die sich durchaus verteidigen können. Und wenn die Sandalen, die sie Zori nennen, sie zu trippelnden, zögernden Schrittchen zwingen, gehen sie in modischen hochhackigen Schuhen zügig dahin, und darüber hinaus nimmt auch ihr Gesicht einen anderen, kecken Ausdruck an; den früher stummen Lippen entfließt ein Schwall von Sätzen. Sie sind schön im Kimono, die Japanerinnen, schön wie Tokio bei Nacht. Im Tailleur jedoch sind sie so häßlich wie Tokio bei Tag. Und sie 169
reden zuviel – wie die Autohupen längs den asphaltierten Straßen. »Das europäische Kleid verleitet zum Geschwätz«, schrieb eines Tages die alte Frau Akiko Yamada an den ›Asahi‹, »die Melancholie des Kimono sollte wiederhergestellt werden. Man kann mit unbedeckten Beinen keine gute Okamisan sein.« Okamisan bedeutet im Japanischen »Göttin des Hauses«. Und die Ehemänner der Nippon Keisai Kai, einer 1956 gegründeten Vereinigung mit dem Ziel, von den Frauen wieder den früheren Respekt zu verlangen, protestieren: »Heutzutage braucht es, um mit einer Okamisan zu leben, den Mut eines Kamikaze.« Unter Kamikaze versteht man nicht mehr die Selbstmordpiloten des letzten Krieges, sondern die Taxifahrer, die sich unter Anrufung Buddhas in den höllischen Strudel des Verkehrs von Tokio stürzen. Wie sind sie also, die Japanerinnen unserer Tage? Man fragte mich – stellen Sie sich vor – sogar in Japan selbst danach, als trüge das Urteil einer Ausländerin dazu bei, jeden Zweifel an dem Sprichwort, das die Runde um die Welt machte, zu zerstreuen. Und jedesmal, wenn sie mich danach fragten, geriet ich in große Verlegenheit, weil sie wirklich nicht so sind, wie die Encyclopaedia Britannica es darstellt, aber auch nicht so, wie die Ehemänner der Nippon Keisai Kai behaupten. Der Westen, das ist wahr, hat sie mehr als alle andern Frauen Asiens angesteckt, vielleicht noch mehr als die Chinesinnen; denn die Chinesinnen sind aus der harten Metamorphose mit einem stolzen Bewußtsein hervorgegangen, das den Japanerinnen abgeht, mit einer schmerzlichen Reife, die den Japanerinnen abgeht. Trotzdem – wieviele Ärmel auch durch die angreiferischen 170
Blumenfrauen an der Ginza ausgerissen werden, wieviele Kliniken für Schönheitschirurgie man eröff nen, wieviele europäische Kleider man verkaufen mag, sie bleiben doch der poetischste Ausdruck dieses alten, weisen, kultivierten Landes, wo es in jedem noch so modernen Hause mindestens einen Raum aus Holz mit einer Reisstrohmatte gibt, die man nur ohne Schuhe betreten darf, wo die schnellsten Eisenbahnen des Orients Geburtstag feiern, indem sie den Reisenden einen Käfig mit Kanarienvogel schenken, und wo die erkälteten Leute so wohlerzogen sind, daß sie sich eine Gazemaske vor Mund oder Nase binden, um keine Bazillen zu verbreiten. So kommt es, daß ich, wenn ich auf jene schwierige Frage antworten muß, nicht an die »transistor babies« denke und nicht an die Geishas, die ich später in Kyoto traf, und auch nicht an die Shiro-Shiro-Künstlerinnen, die ich in einem schmutzigen Bordell im Stadtteil Yoshihara sah. Ich denke vielmehr an eine Einundzwanzigjährige, deren Vater von der Sonne abstammt und deren Gatte Bankangestellter ist, deren Garderobe Museumsstücke von Kimonos enthält und die am liebsten Rock und Pullover trägt, deren bevorzugtes Vergnügen im Rock ’n’ Roll-Tanzen besteht und deren erste Beschäftigung, als sie einen eigenen Hausstand gründete, die Lektüre zweier Bücher war: ›Wie man am besten ein Zimmer reinigt‹ und ›Die Kunst der guten Küche‹. Ich meine die Prinzessin Suga, viertgeborene Tochter des Kaisers, wie ich sie an jenem Tage sah, als sie die Frau von Hisanaga Shimazu wurde, eines Angestellten mit 560 Mark Monatsgehalt, Familienzulage einbegriffen.
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Zuerst schritt der Kaiser vorüber, ein kleiner grauer Herr mit Brille und Frack, dann die Kaiserin, eine winzige rundliche Dame mit einer großen gestickten Chrysantheme auf dem Kimono und mit Stirnfransen wie Mamie Eisenhower, dann kam Kronprinz Akihito, der hagere junge Mann mit dem pfiffigen Gesicht, den ich bereits in Rom auf der Via Condotta gesehen hatte, dann die Angehörigen, die Würdenträger, die Minister und was sonst noch in einen mehr oder weniger königlichen Hochzeitszug gehört. Und schließlich erschien Suga, die einen Kimono aus schwerer schwarzer und orangefarbener Seide mit vor Alter ausgefransten Rändern trug. Er war aber auch tausendeinhundertsechsundsiebzig Jahre alt, sagte mir Chas, und stammte aus der Heian-Epoche. Den Korridor entlang, der im Palast des Kroinkaku zum Saal der Riten führt, konnte ich Suga sehr gut sehen, deren Gesicht mit heller Lackfarbe bestrichen war, mit tiefdunkelrotem Mund und schwarzen, grausamen Augenbrauen: wie die Masken des Kabukitheaters. Auf dem Kopf trug Suga eine riesige Perücke mit gebauschten Haarsträhnen, überhöht von einer weißen Papierrolle, der symbolischen Schutzwand, hinter der die nipponische Braut die Hörner verbergen soll, die der Gatte ihr aufsetzen wird. Was aber auffiel, war nicht die märchenhafte Ausstattung. Es war der Ärger, der in diesen dunklen Augen lag, die gelangweilte Grimasse, die diese hochmütigen. Lippen verzog, die Ungeschicklichkeit, mit der diese tennisgewohnten Beine die hölzernen Zori schleppten. Seit Tausenden von Jahren waren die Bräute des kaiserlichen Hauses auf diese Art gekleidet, sie aber, sagte Chas, hatte nur ihrem Vater zuliebe 172
nachgegeben und auch das erst nach einer wilden Polemik, in der sie laut ihr Recht auf eine Hochzeit im weißen Kleid mit Tüllschleier und Orangenblüten, wie es in Europa üblich war, gefordert hatte. Sie betrat den Saal der Riten, in den kein profanes Auge blicken darf, mit dem Ausdruck von jemand, dem ein Unrecht oder ein Schimpf zugefügt worden ist, und ich hätte schwören mögen, daß sie ein paar Kraftausdrücke zwischen den Zähnen zerdrückte. Wir warteten im Garten, wo sie vor einem runden Hundert Journalisten, Fernsehkameraleuten und Photographen eine Pressekonferenz abhalten würde. Und als sie eine Stunde später an der Seite von Hisanaga Shimazu erschien, waren Perücke, Zori und Kimono bereits wieder in die kaiserlichen Schränke versorgt. Anstelle der gereizten Erscheinung von vorher war da ein lächelndes europäisches Mädchen mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, Nylonstrümpfen, einem kniekurzen, ausgeschnittenen Kleid mit enger Taille, die Locken zusammengehalten von einer Samtschleife mit Blumen – genau derselben, die die Amerikanerinnen für fünf Dollar bei Bloomingdale’s kaufen. Herr Hisanaga Shimazu, ein unauffälliger Mann mit gelblichen Zähnen und rundem Gesicht, mußte ganz allein, der Arme, die Traditionen hüten. Steif wie eine Wachsfigur, wagte er nicht einmal die Pupillen hinter den Brillengläsern zu bewegen. Suga dagegen lachte. Auf ihrem frischgewaschenen Gesicht triumphierte die Erleichterung, die Eitelkeit darüber, im Mittelpunkt all dieser Aufmerksamkeit zu stehen, und als ich mich zur Entrüstung des Protokollchefs etwas zu weit vorwagte, blinzelte sie mir zu, als wollte sie mir bedeuten, der da sei ein lästiger Kerl. 173
Ich habe sehr vielen Pressekonferenzen beigewohnt, seit ich mich um anderer Leute Neugier willen mit anderer Leute Angelegenheiten befasse. Und gewöhnlich sind Pressekonferenzen etwas Überflüssiges, Dummes und Langweiliges. Die Hauptdarsteller spielen eine einstudierte Rolle oder wiederholen auswendig gelernte Schlagfertigkeiten und bringen nie etwas zustande, außer daß sie uns ärgern. Diese hier aber war erleuchtend. Um zu begreifen, wie erleuchtend sie war, muß man bedenken, daß die Einundzwanzigjährige mit der Haarschleife von Bloomingdale’s zumindest theoretisch jenes Sprichwort außer Kurs zu setzen schien, vor dem jede einigermaßen vernunftbegabte Frau von einem Minderwertigkeitskomplex erfaßt wird: die Definition der Encyclopaedia Britannica, die Bräuche von Jahrhunderten, eine Rasse von Frauen, die an Schweigen, an Demut und an Bescheidenheit gewöhnt sind. Man fragte Suga: »Werden Sie, Hoheit, Ihren Gemahl Euer Ehren nennen, wie die Tradition es will, oder einfach Hisanaga?« Sie antwortete: »Wie werde ich dich nennen, Hisanaga? Euer Ehren oder Hisanaga?« Man fragte sie: »Wer wird die Lohntüte von Herrn Shimazu zuerst aufmachen – Ihre Hoheit oder Herr Shimazu?« Sie antwortete: »Es wird gut sein, wenn er sie aufmacht, denn ich bin leichtsinnig. Da gäbe es Zank. Wir zanken jetzt schon.« Man fragte sie: »Wie haben Sie, Hoheit, Herrn Shimazu kennengelernt? Es handelt sich doch wohl nicht um eine arrangierte Ehe.« Sie antwortete: »Auf dem Tennisplatz. Ich hatte Durst, und er lud mich zu einer Coca-Cola ein.« Als man sie aber fragte, was für ein Gefühl es sei, den 174
Prunk der kaiserlichen Familie zu verlassen, um sich in eine gewöhnliche bürgerliche Dame zu verwandeln, wog sie bedächtig ihre Worte: »In meinen Gefühlen ist kein Bedauern über das, was ich zurücklasse, nur Besorgnis um das, was mich erwartet. Ich weiß so wenig darüber, wie man einen Haushalt führt, und wünsche mir nur, daß es mir gelingen werde, meinen Mann zufriedenzustellen.« Wir waren alle verblüff t: die fast zynische Sorglosigkeit von vorher hatte so gar nicht auf solche Bravheit hingedeutet. Zudem schien Suga völlig vergessen zu haben, daß das zweistöckige Haus, in dem sie als Frau Shima2u leben würde, ein Geschenk ihres kaiserlichen Vaters war und daß ihre Mitgift, die sich auf schwindelerregende Millionen von Yen belief, für den mittellosen Hisanaga etwas wie einen Totogewinn darstellte. Das Haus, die Mitgift, sie selber gehörten jetzt dieser Wachsfigur da, und kein Rock ’n’ Roll, kein europäisches Kleid würde sie von der gebührenden Ergebenheit gegenüber ihrem Manne befreien. Als die Pressekonferenz beendet war, wagte Suga es nicht einmal, als erste aufzustehen und ihrem Gemahl vorauszugehen, wie es ihr Rang erlaubte. Sie wartete, bis er sich erhob, ging dann neben ihm her und trat an der Tür des Palastes brüsk einen Schritt zurück, um ihm den Vortritt zu lassen. Es überraschte mich deshalb, als ich erfuhr, daß Suga beim Empfang am Nachmittag verlangt hatte, den sechsstöckigen Hochzeitskuchen selber anzuschneiden, anstatt dies nach dem Brauch, den sogar jede beliebige »mambo garu« respektiert, dem Bräutigam zu überlassen. Die Photographie dieser Szene erschien in allen Zeitungen, und ich sah sie, während ich zu Ihrer Hoheit Setzuko 175
Chichibù ging, Sugas Tante und Schwägerin des Kaisers, die mich in ihrer Villa innerhalb des Geländes der kaiserlichen Residenz erwartete. Setzuko galt als die traditionalistischste Frau Japans: wie würde sie wohl diese Geste beurteilen? Zweifellos ganz schlecht, dachte ich, sobald ich sie sah. Alles an ihr sprach von antiker Anmut ohne jede Auflehnung: die weiche Stimme, die in Flüstern ausklingt, die Füße in weißen Söckchen, die geschwollen wirkenden, wimpernlosen Augen, die Porzellanwangen, wie wir sie auf den japanischen Drucken bewunderten, die in unseren Salons hingen – als Japan für uns ein geheimnisvolles fernes Land war. Die Villa war ein kleines Holzhaus, wie das des Tenno anstelle des einstigen herrlichen Palastes gebaut, der im Krieg durch Brandbomben zerstört wurde. Das Zimmer war klein, europäisch eingerichtet und mit einem Fernsehapparat ausgestattet. Vom Park drang Harzduft herein, der Wind, der die Zwergbäume bog, schien die Papierwände zu bedrohen, und Setzuko zeugte ganz allein mit ihrem Kimono von entschwundener Größe, viel rührender als die Maharani von Jaipur, jenes andere Opfer des Wandels einer Welt. »Ach ja. Jeder von uns ist ein wenig in jenem Feuer umgekommen«, sagte sie auf Englisch. »Wir haben vergessen, was wir einmal waren, und werden uns nie mehr darauf besinnen.« Und dann zeigte sie mir die wenigen Dinge, die sie in der heißen Asche ihres Hauses noch gefunden hatte: die Nadel des Obi, den sie bei der Hochzeit mit dem Bruder des Kaisers getragen hatte, das Ebenholzkästchen mit den Namen der Verstorbenen, ihr Tagebuch als demütige und geduldige Jungverheiratete. 176
Auf dem Tisch, neben den Tassen, in denen der grüne Tee dampfte, lag die Zeitung mit der Photographie von Suga, wie sie den sechsstöckigen Kuchen anschneidet. Ich fragte mit den Augen. Sie verstand. Sie antwortete: »Ja, ich kann mir vorstellen, was man Ihnen über mich gesagt hat. Aber ich glaube, Suga hat ganz recht gehabt, sich so zu benehmen. Die Zeiten sind vorüber, da die Japanerinnen die Begriffe Aufopferung und Gehorsam bis zum Widersinn hochhielten.« Sie erhob sich unter dem leisen Rascheln von Seide, lehnte sich an den Fernsehapparat, poetisch wie ein Aquarell auf Reispapier anzusehen, und ihre Stimme hatte unerwartete Kraft, als sie sagte: »Schreiben Sie, bitte, daß aus den Ruinen unserer vom Feuer zerstörten Städte eine neue Generation von Frauen herangewachsen ist und daß diese Frauen nicht mehr ein ästhetisches Symbol oder ein zierlicher Gegenstand sind, sondern Persönlichkeiten mit der Fähigkeit, über ihr Geschick selber zu bestimmen. Die Frauen sind in Japan die einzigen, die den Krieg gewonnen haben.« Ich weiß nicht, ob Ihre Kaiserliche Hoheit Setzuko Chichibù den Krieg gewonnen hat. Auch wenn sie ihre Stimme erhebt, ist allzuviel Melancholie in ihrem Blick. Die Mädchen wie Suga haben ihn bestimmt gewonnen, und das Tollste ist, daß es ausgerechnet der in Japan am meisten gehaßte amerikanische Soldat war, der ihnen diesen Krieg gewinnen half: General McArthur. Man pflegt in der Tat zu sagen, die Amerikaner harten für die Japanerinnen das getan, was die Kommunisten oder, wenn man so will, die Russen für die Chinesinnen taten: die einen wie die andern befreiten sie aus einer tausendjährigen Sklave177
rei, und die einen wie die andern nützten eine Revolution aus, die im Verborgenen seit Jahrhunderten herangereift war. Die Japanerinnen hatten zwar nie bandagierte Füße oder gesetzmäßige Polygamie, aber der ›Kaibara Ekken‹, oder ›Das Große Buch der Ehe‹, führt dieselben Vorwände auf wie Konfuzius, um einen Mann zur Scheidung zu ermächtigen: Ungehorsam, Unfruchtbarkeit, Eifersucht und Geschwätzigkeit. Wie in China, wurde auch in Japan lange Zeit der Kindermord an weiblichen Neugeborenen praktiziert. Wie in China, mußte auch jede nipponische Frau den »Weg der drei Gehorsamkeiten« gehen: Gehorsam gegenüber dem Vater vor der Heirat, gegenüber dem Gatten nach der Heirat, gegenüber dem Sohn im Falle der Witwenschaft. Wie in China, wurden die Töchter oft um einen Sack Reis an die Bordelle verkauft; übrigens registrierte die Polizei Fälle solcher Art auf der Insel Hokkaido noch bis 1957. Wie in China, wurde die höchste Selbstmordziffer bei den Frauen festgestellt, und die einzige Aussicht, einmal zu Ansehen zu gelangen, war die Aussicht auf das Alter. Der Ausdruck Shokugjo Fupin, arbeitende Frau, war entehrend. 1900 wurde ein gewisses Fräulein Kageyana, das versucht hatte, sein Recht auf Arbeit zu fordern, wie ein Verbrecher verhaftet. Nach dem Gesetz war »den Kindern, den Schwachsinnigen und den Frauen« jede politische oder öffentliche Tätigkeit untersagt. Symbolisch begann diese asiatische Auffassung von der weiblichen Nutzlosigkeit in Japan an Wert einzubüßen, als ein Erdbeben im Jahre 1923 sechzig Prozent von Tokio zerstörte. In den Ruinen der Stadt, die fast nur noch ein Haufen Staub und Trümmer war, sah man damals die Frauen als 178
Botinnen, als Kellnerinnen, Fahrerinnen und Angestellte die von der Erde verschlungenen Männer ersetzen, und viele trugen damals zum erstenmal europäische Kleider, die mit den Liebesgabenpaketen aus dem Westen kamen. Andere hatten sie nicht mehr, und diese waren bequem. Dann kam der Zweite Weltkrieg, und wie in England und Deutschland wurde auch in Japan der Slogan lanciert: »Wenn der Platz der Männer an der Front ist, ist der Platz der Frauen in der Fabrik.« Diese zutiefst demütigen Frauen, die nie ohne ihren Mann aus dem Haus gegangen waren, zog man ein, lehrte sie, Munition und Militärmäntel herzustellen, und sogar die Geishas mußten ihre parfum- und schminketrächtigen Zimmer verlassen und dem Vaterland auf praktischere Art dienen. Unter den Bomben der Fliegenden Festungen und später im apokalyptischen Grauen von Hiroshima erlebten diese Frauen den gleichen Krieg wie die Männer -wie in Europa. Und als die Männer dann zurückkamen, geschlagen, gedemütigt, an Körper und Seele gebrochen, da entdeckten die Frauen nach Jahrtausenden zum erstenmal, daß ihre Männer weder unbesiegbar noch unersetzlich waren. Viele kehrten überhaupt nicht zurück. Statt ihrer landeten andere Männer, hochgewachsene, blonde, die Kaugummi kauten und vor Siegerstolz barsten, den Frauen gegenüber aber sich schüchtern verhielten, weil sie aus einem Lande kamen, wo seit Jahrhunderten die Frauen die wahren Herren sind. Diese hochgewachsenen, blonden Männer hießen G. I.s, und von ihnen hatten die kleinen, dunklen Japaner geglaubt, sie könnten sie wie Ameisen vernichten. Niemand kann sagen, was damals in den verwirrten Köpfen der Frauen im Kimono vorging. Sicher ist, daß General 179
McArthur leichtes Spiel hatte, die Männer eines besiegten Landes zu demütigen. Er hatte sie durch die Niederlage an sich schon gedemütigt. Jetzt demütigte er sie durch diese gesellschaftliche Revolution, die den Frauen ihnen bis dahin unbekannte Vorteile bot, und durch die anmaßende Beweisführung, wie lächerlich es sei, weiterhin an gewisse Tabus zu glauben. Die Mädchen wie Suga waren acht Jahre alt, als McArthur Kaiser Hirohito veranlaßte, in einer öffentlichen Ansprache zuzugeben, daß die Vorstellung von seiner Göttlichkeit irrig sei. Sie waren wenig älter, als der »Sohn der Sonne« auf den goldenen Kimono, in dem er bisher wie ein Orakel thronte, verzichtete und in Frack und gestreifter Hose auf die Straße ging, um zu zeigen, daß er nichts weiter als ein kleiner grauer Mann mit einer Brille auf der Nase war. Zwar beging der Prokonsul der Demokratie die Unhöflichkeit, den kleinen grauen Mann zu sich in sein Hotel kommen zu lassen, aber er ließ auch eine neue Konstitution vom Stapel, in der Artikel 24 bestimmte, daß die Ehe für Männer wie Frauen dieselbe Bedeutung haben müsse, daß die Frauen sich gleich wie die Männer scheiden lassen könnten und daß ein Mädchen nicht erst mit dreißig Jahren selbst über sein Leben zu entscheiden haben dürfe. In jenem Jahr, es war 1946, wurden sechsundzwanzig Frauen ins japanische Parlament gewählt, dreihundertsechzig in die lokalen Volksvertretungsgremien. Und die europäischen Kleider überschwemmten die Geschäfte an der Ginza. Es waren häßliche Kleider im Vergleich zum Kimono: sie entblößten die massiven Waden, die von der Gewohnheit des Kauerns leicht gekrümmten Beine, die etwas breiten Hüften. Und doch waren es die Kleider 180
einer schweigend lang herbeigesehnten Freiheit – wie die militärischen Uniformen der Chinesinnen. Sie mußten den Frauen wunderbar erscheinen. Mit diesen Kleidern fingen sie an, in die Bars, in die Kinos zu gehen, Stellen bei den alliierten Kommandos anzunehmen, Englisch zu sprechen, die albernen modernen Tänze zu tanzen; nur auf ihr Stimmchen verzichteten sie nicht, das wie ein kindlicher Singsang tönt, auf die umständliche Anmut, auf die jahrtausendealte Ehrfurcht vor demjenigen, der den großen Vorzug hat, als männliches Wesen geboren zu sein. Und gerade damit verführten sie die blonden Männer, die in ihrer Heimat tausendmal schönere Mädchen zurückgelassen hatten. Es gibt eine ganze Literatur über die Ehen, die zwischen G.I.s und Japanerinnen geschlossen wurden, über ihre teils fröhlichen, teils tragischen Liebesgeschichten, über G.I.s, die gelernt hatten, auf dem Tatami zu schlafen und mit Stäbchen zu essen. Es war, als hätten die Amerikaner noch nie eine Frau gekannt, ehe sie in Japan landeten; die schönen Mädchen von Kalifornien und Nebraska betrachteten ihre goldenen Locken, ihre langen Beine und fragten sich, was um Himmels willen ihre treulosen Verlobten an diesen kleinen Frauen mit den kurzen Beinen, den flachen Gesichtern und den stumpfen Händen fanden. Nun, sie fanden die Ergebenheit von Geschöpfen, die nie auf Indianer geschossen und nie ein Auto gelenkt hatten; sie fanden das unendlich süße Gefühl, in ein Haus einzutreten, wo die Gattin sich zur Begrüßung verneigt und einem beim Essen jeden Bissen vorlegt. Während des ersten Jahres der Besetzung wurden allein in Tokio fünfunddreißigtausend gemischte Ehen ge181
schlossen, in Osaka fünfzehntausend. Die amerikanischen Behörden begannen alarmiert, ihr Veto gegen den Import dieser Bräute einzulegen. Man hatte bereits das Negerproblem, zum Kuckuck, sollte man sich auch noch das gelbe Problem aufhalsen? In Wirklichkeit waren es die Amerikanerinnen im heiratsfähigen Alter, die dagegen aufbegehrten: War das vielleicht gerecht, daß ihre Steuern zur Einrichtung von Schulen dienten, in denen man den nipponischen Gemahlinnen beibrachte, wie man Schinken mit Ei zubereitet? Aber viele dieser Gemahlinnen schiff ten sich nie nach den Vereinigten Staaten ein, viele endeten wie Madame Butterfly. Ihr moralischer Triumph war trotzdem erdrückend gegenüber den Männern – den Besiegten wie den Siegern. Vielleicht entstand es damals, das berühmte Sprichwort, das die Runde um die Erde machte. Das einzige, was man wissen müßte, ist, ob der Erfinder dieses Sprichwortes es auch für jene japanischen Frauen für gültig erklärte, die nach Amerika verschiff t wurden. Es gibt Umweltbedingungen für alles, auch für Weiblichkeit und Sanftmut. Nicht wenige dieser verführerischen Kreaturen wurden, nachdem sie erst in unsere westliche Welt verpflanzt waren, gräßliche Mannweiber. Der romantische Reisende wird auch mit Bedauern erfahren, daß sich die Revolution der Japanerinnen, gänzlich unpoetisch, infolge der elektrischen Kochtöpfe, der Spielautomaten und der Empfängnisverhütungspillen verstärkte. Vor dem Krieg hatte keine Japanerin einen elektrischen Herd gesehen: der Reis, der wie in ganz Asien ihr Hauptnahrungsmittel ist, wurde in nicht weniger als zwei Stunden gar gekocht. Mit dem elektrischen Kochtopf zum Preis 182
von dreitausend Yen entdeckte die Japanerin, daß man in wenigen Minuten Reis kochen und die freie Zeit außerhalb des Hauses verbringen kann. Vielleicht sogar, warum nicht, bei den Spielautomaten, diesen in Las Vegas erfundenen, nichtsnutzigen Maschinen. Sie waren von den G.I.s sofort nach der Besetzung eingeführt worden und hatten innerhalb weniger Monate jeden Stadtteil überschwemmt. Das Spiel besteht darin, eine kleine Metallkugel in ein Loch zu stecken, einen Hebel zu betätigen und die Kugel in ein anderes Loch zu befördern, das, sofern es das richtige ist, ein Triebwerk in Bewegung setzt, das viele andere Kügelchen ausspuckt, die in Geld umgetauscht werden können. Ein Armeleute-Roulette, sozusagen. Jede Kugel kostet fünfzig Yen: wenn man es fertigbringt, fünfzig Kugeln zu gewinnen, macht das zweitausendfünfhundert Yen – einen Tagesverdienst eines Arbeiters. Die Japaner verliebten sich in dieses Ding. Und was geschah, als die weiblichen Deputierten die Schließung der Freudenhäuser durchsetzten? Ein ganzer Stadtteil von Tokio, Yoshihara, füllte die ärmlichen Häuser, die bisher die sündigen Tatami beherbergten, mit Spielautomaten, die als harmlose Spielerei auch für Frauen geeignet sein konnten. Ich habe sie gesehen, als ich abends auf der Suche nach einer verlorenen Eigenart durch Yoshihara streifte. Und das ist meine unangenehmste Erinnerung an Tokio und seine Frauen. Hundert und aberhundert Meter weit erstreckten sich, einer neben dem andern, die Spielsalons, und der Lärm der Hebel quälte die Ohren wie das unablässige Zirpen einer gigantischen Grille. Vor den nichtsnutzigen Maschinen, die Charlot für sein ›Modern Times‹ gefallen hät183
ten, standen ausschließlich Frauen: bewegungslos auf ihren hölzernen Zori, ein schlafendes Kind auf dem Rücken, mit Augen, die gebannt das Springen des Bleistückchens, dieses Symbols ihrer Befreiung, verfolgten. Und dann kam die Geburtenkontrolle, etwas Undenkbares in einem Lande, wo die Gesetze des Onna Daigaku den Frauen vorschrieben, in erster Linie Kinder zu gebären. Aber wenn vor dem Kriege das Gebot lautete: »Wachset und vermehret euch«, so hielt es nach dem Kriege die Regierung für angebracht, auf die bevölkerungsstatistischen Vorschläge des Generals McArthur zu hören. Die Japanerinnen wurden immer vertrauter mit den Ausdrücken san ji sei gen (Abtreibung) und ju tai cho setsu (Verhütungspillen). Hörten sie nicht täglich von Ärzten und Abgeordneten, Journalisten und Sozialassistenten, von Leitern der behördlichen Kliniken, in denen es kaum sechstausend Yen kostet, eine Frucht abzutreiben? Veröffentlichten es nicht die ernsthaftesten Zeitungen, in deren Anzeigenteil man lesen kann: »Kaufen Sie M. D. Birth Controller, er kostet nur 360 Yen, Porto und Versand inbegriffen. Es gibt kein harmonisches Familienleben ohne M. D. Controller«? Im Gegensatz zu den Chinesinnen waren die Japanerinnen nie puritanisch, nie Sklavinnen sexueller Tabus. Die Gewohnheit, nackt miteinander zu baden, Männer und Frauen, Jung und Alt, ist jahrhundertealt und dem chinesischen Brauch, den Körper vor jedem Menschen außer dem eigenen Manne zu verbergen, völlig entgegengesetzt. Das Gebot, so viele Kinder wie nur möglich zur Welt zu bringen, war nie ein religiöses Gebot, sondern eine sozi184
ale Forderung, die der ehrgeizige Traum von der Weltherrschaft an sie stellte. Sie widersetzten sich deshalb der neuen Kampagne nicht, die ihnen außerdem das köstliche Gefühl verlieh, Schiedsrichter eines nationalen Problems zu sein. Sie hatten keine Versammlungen dazu nötig wie die Inderinnen. Und 1957 stellte die Regierung bereits mit Stolz fest, daß der Prozentsatz der Sterbefälle etwa gleich groß war wie der der Geburten: alle 25 Sekunden wurde in Japan ein Kind geboren, aber alle 24 Sekunden starb ein Mensch. »Wir verdanken dieses Wunder der Stabilisierung unserer Frauen«, erklärte der Gesundheitsminister in einem Radiovortrag. »Ein Drittel von ihnen unterzieht sich der Geburtenkontrolle. Das geschieht in keinem andern Teil der Welt.« »Wir unterziehen uns ihr, weil es uns so recht ist, nicht weil sie es von uns verlangen«, antwortete die Schriftstellerin Toshibumi Nakajima. »Der männliche Feudalismus der Vorkriegszeit ist nur noch eine Erinnerung, Japan durchlebt eine Epoche der intelligenten, rebellischen Frauen. Wir rühmen uns, fünfunddreißigtausend Frauenverbände mit insgesamt elfeinhalb Millionen Mitgliedern zu haben. Vierzig Aktiengesellschaften werden allein in Osaka von Frauen präsidiert. Sechs Millionen Frauen arbeiten in Fabriken und neun Millionen auf dem Lande, wo sie vor allem Traktorenspezialistinnen sind.« Wer wollte ihnen das absprechen? Kein Beruf, wenn man vom Militärdienst absieht, ist den heutigen Japanerinnen versagt. Der weitaus größte Teil der Herrenfriseure zum Beispiel sind Frauen; ihre Gewerkschaft zählt deren hundertsechzigtausend. Bürgermeister von Ogawa ist seit acht Jahren eine Frau. Im Parlament sitzen elf weibliche Abge185
ordnete. Dazu ist allerdings zu sagen, daß diese elf nur 1,4 aller Abgeordneten ausmachen. 1946 waren es neununddreißig oder 8,4 – als hätten die Japanerinnen, nachdem sie erst dahinterkamen, wie unbequem gewisse Privilegien der Männer sind, entsetzt den Rückzug angetreten. Wie ich nachher im kultivierten, uralten Kyoto sah, genügt ein amerikanischer General nicht, um jahrhundertealte Bräuche auszurotten, Traditionen, die von Familie zu Familie weitervererbt werden, Gefühle, die stets stärker sind als die Vernunft. Und auch in Tokio, dieser Stadt mit den zwei Gesichtern, empfing ich einen Beweis dafür. Eines Tages machte mich Chas mit zwei Mädchen bekannt, die das Antikonformistischste ihres Landes verkörpern sollten. Die eine war nämlich Schauspielerin, die andere das, was man ein Career Girl nennt: Filmkritikerin einer Kette wichtiger Zeitungen, Karikaturistin, Fernsehansagerin. Die Schauspielerin hieß Momok Kochi, ein Name, wie Chas sagte, der in Japan so bekannt war wie Sofia Loren bei uns. Mit Sofia Loren hatte sie auch die aggressive Schönheit gemein, nicht aber das Geld; denn sie verdiente nicht mehr als 160 Mark im Monat, den vernünftigen Gagen entsprechend, die die Stars in Japan erhalten. Momok, die sich aber von Sofia Loren durch eine tiefe, auserlesene Demut unterscheidet, kam für das Interview zu mir ins Hotel; sie war ein üppiges Mädchen von siebenundzwanzig Jahren, ein Meter siebzig groß und alles andere als dumm oder ungebildet. Sie wußte genau Bescheid über Picasso und Modigliani, sie hatte alle Bücher von Churchill gelesen, sie kannte sogar den Unterschied zwischen Nenni und Saragat, weil sie sich für »die Anwendung des So186
zialismus in Europa« interessierte. Sie war offensichtlich modern, so modern, daß sie japanische Musik nicht liebte, sondern langweilig fand, und daß sie sich immer auf einen Stuhl setzte: »Ich kann den Tatami nicht leiden. Wenn ich so lange knien muß, tun mir die Beine weh.« Ans Heiraten dachte sie nicht, weil sie Karriere machen wollte. Gegen elf Uhr aber, als sie den Ärmel ihres Kimono aufgehoben und einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte, sprang sie auf und sagte, sie müsse uns jetzt unbedingt verlassen; sie lebte mit Papa, Mama und sechs Geschwistern zusammen und durfte nicht spät nach Hause kommen. »Warum?« fragten wir sie. »Würden Sie ausgescholten?« »Ach nein!« erwiderte sie lachend. »Aber es gibt nichts Ungehörigeres, als heimzukehren, wenn der Mond hoch am Himmel steht.« Das Career Girl hieß Masako Montsou. Es war ein verführerisch hübsches Mädchen von vierundzwanzig Jahren, groß und schlank, nach neuester französischer Mode gekleidet. Sie lebte allein in einer Wohnung in der Nähe des Imperial Hotels. Ihre Eltern hingegen lebten auf dem Lande, in Masako, und sie hatte sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen, seit sie nach Tokio gekommen war, um ihr Glück zu suchen. Sie war unbefangen, witzig und kokett. Sie starrte Duilio unverhohlen interessiert an und gestand schließlich, für europäische junge Männer viel übrig zu haben. Und nun hören Sie bloß was dann geschah! Duilio lud sie zum Abendessen ein, wobei er mir zuzwinkerte, damit Chas und ich sagen sollten, wir könnten nicht mitkommen; Masako errötete und verkündete, sie wolle rasch zum Friseur und sich schön machen, dann sagte sie, dies sei der 187
schönste Tag ihres Lebens, und verabredete sich mit ihm auf sieben Uhr abends. Duilio war außer sich vor Genugtuung: Meere und Berge und ganze Kontinente hatte er durchquert, um zu einem Tête-à-Tête mit einem Mädchen wie Masako zu gelangen. Nicht, daß er etwa etwas Schlimmes im Sinn hätte, klärte er uns auf, aber nun käme er schließlich und endlich doch noch zu seinem rechten Orientabenteuer. Wir verließen ihn, während er auf eine imaginäre Harfenmusik zu lauschen schien, gaben ihm noch die Adresse des Restaurants an, in dem Chas und ich Tempura essen wollten, für den Fall, daß er uns brauchen sollte, und wünschten ihm alles Gute. Er solle es aber nicht zu spät werden lassen, denn am andern Morgen müßten wir mit der Bahn nach Kyoto. Um halb neun Uhr erschien er, völlig aufgelöst. Ich hatte ihn noch nie so gesehen, nicht einmal an dem Tag, als er es mit dem Zöllner von Djakarta aufnehmen mußte, nicht einmal an dem Tag, als er Han Suyin in einem durchsichtigen Cheong-sam photographierte und erst nachher merkte, daß er keinen Film im Apparat hatte. In seinen sonst so gutmütigen Augen bebte eine wilde Wut, als wäre in ihm eine ganze Nation lateinischer Männer verletzt worden. »Was ist geschehen, Duilio?« Er ließ sich auf den Tatami fallen und sah die Tempura mit demselben Abscheu an, mit dem er, glaube ich, Masako angesehen hätte. »Ich will nach Hause.« »Aber, aber, Duilio! Jetzt kommt doch noch Honolulu. Und dann New York. Gehen wir nicht nach New York?« 188
»Ich will nach Hause.« Dann brach er los. »Da war ich bereit, frischgewaschen und vergnügt, wie der Portier mich ruft und sagt, ein Herr und eine Dame haben nach mir gefragt. Ich sage: ›Das ist unmöglich, die Dame, die ich erwarte, muß allein sein.‹ Aber wahrhaftig, da kommt sie und ist gar nicht allein, ein Bursche ist bei ihr. ›Mein Bruder‹, sagt sie, ›er ist gerade in Tokio auf der Durchreise!‹ ›Gut‹, sage ich und denke mir, nun wird es eben ein wenig später mit dem Essen. ›Guten Abend, Bruder. Willst du etwas trinken?‹ Der Bruder sagt, nein, er habe Hunger und wolle lieber essen gehen: wohin wir gingen? Ich traute meinen Ohren nicht, weil ich natürlich geglaubt habe, er verziehe sich nach dem Trinken. Statt dessen gehen wir essen, und die ganze Zeit stopft sie mir das Essen in den Mund, als wäre ich ein Krüppel, während sie aber dauernd mit dem Bruder plaudert, der zu allem Überfluß Japanisch spricht. Worauf ich bezahle, um fortzukommen, sie aber sagt: ›Sie haben natürlich bereits gemerkt, daß ich ein modernes Mädchen bin, sonst wäre ich ja nicht mit Ihnen essen gegangen. Immerhin will ich es Ihnen noch speziell beweisen, und darum gehen wir jetzt noch anderswohin essen, und dort zahle dann ich!‹« »Und du bist gegangen?« »Natürlich – wer hätte der denn widersprechen können? Sie hat mich an einen andern Ort geführt und hat wieder angefangen, mich zu füttern und dabei mit dem Bruder zu reden, und dann hat sie mich entlassen, weil es spät sei, und hat mir versprochen, daß wir miteinander in den Park gehen: mitsamt dem Bruder, selbstverständlich. Und ich, was soll ich jetzt tun?« 189
Er war so betrübt, der arme Duilio, daß wir alles für ihn getan hätten. Wir gingen vorerst mit ihm in ein Nachtlokal, wo die Taxigirls im knöchellangen Cheong-sam in der Reihe stehen und warten, um ihre Kunden zum Trinken zu veranlassen. Wir suchten ihm auch noch ein Mädchen zum Trinken aus, aber das Mädchen gefiel ihm nicht, und wir mußten für nichts bezahlen. Dann gingen wir mit ihm an einen Ort, wo Jazzmusik gespielt wurde und wo die Halbwüchsigen sich küssen, als schaute kein Mensch zu; aber auch das gefiel ihm nicht, und da brachten wir ihn nach Yoshihara, wo es außer Spielautomaten auch Schießbuden gibt. Der Schießbudenjunge hatte ein pfiffiges Gesicht und merkte bald, daß wir einen Freund zu trösten versuchten; auf einmal sagte er, er wüßte, wie man ihn trösten könnte: ob wir uns nicht eine Shiro-Shiro-Vorstellung ansehen wollten. »Was ist das?« fragte ich Chas. »Gehen wir weg«, erwiderte Chas. »Aber was ist es?« »Nichts für dich. Gehen wir weg.« »Ich will es sehen«, sagte Duilio zu dem Schießbudenjungen. »How much?« »Dreitausend Yen, Herr. Zuzüglich Trinkgeld«, sagte dieser ganz ernst. »O. K.«, sagte Duilio und streckte ihm das Geld hin. »Viel Vergnügen, Duilio«, sagte Chas und schob mich zu einem Taxi. »Laßt mich nicht allein!« jammerte Duilio. Ach ja. Das Taxi fuhr ohne uns weg. Shiro-Shiro, so erfuhr ich später, ist ein Wort, das sich nicht übersetzen läßt, 190
und außerdem eines der ältesten Schauspiele, die man in Japan sehen kann. Warum man es sich in Japan anzusehen braucht, wenn man es doch auch überall sonst in der Welt und in Paris sogar, wie ich mir sagen ließ, viel billiger sehen kann, weiß ich nicht. Auf alle Fälle hat es anscheinend keinen Sinn, Anstoß zu nehmen: die Polizei verbietet es beispielsweise nicht. Es spielt sich in drei Abschnitten ab. Zuerst kommt das »white and white«, dann kommt das »black and white«, dann kommt das »black and black«. Szenerie kann ebensogut ein hocheleganter Salon wie ein schmutziges Zimmer sein; auch als öffentliches Schauspiel macht der Shiro-Shiro keine sozialen Unterschiede. Im Zimmer ist ein Teppich und außerdem ein paar Sessel für die Zuschauer. Wir setzten uns auf diese Sessel, und an der halboffenen Tür guckte ein etwa dreijähriges Büblein neugierig und unschuldig herein. Es war das Kind der Inhaberin. Nach einer Weile traten zwei Mädchen in Sportpullovern und Blue jeans ein, mit kurzen Haaren und dem Aussehen von Töchtern aus gutem Hause. Sie sagten, sie würden das white and white nur für uns auff ühren, weil heute abend keine anderen Gäste hier seien. Sie hoff ten infolgedessen, daß wir uns mit dem Trinkgeld großzügig erweisen würden. Sie widmeten sich dieser anstrengenden Kunst, setzten sie hinzu, weil sie mit dem Geld ihr Studium bezahlten; sie waren nämlich Universitätsstudentinnen, hier ihre Legitimationskarten. Sie sprachen langsam, mit großer Würde, und Chas übersetzte. Dann bedeckten sie die Lampe mit einem Tuch und begannen. Damit wir uns recht verstehen: Es kann ja sein, daß der 191
Shiro-Shiro ein sehenswürdiges Schauspiel ist. Ich weiß, daß zum Beispiel die amerikanischen Touristen samt ihren Familien hingehen und sich etwas darauf zugute tun; sie behaupten, diese Mädchen seien sehr tüchtige Mädchen. Ob sie recht haben, weiß ich nicht, weil ich nach wenigen Minuten, gefolgt von Chas und Duilio, aufstand und sie dort auf dem Teppich allein weiterstrampeln und in den Häufchen zusammengelegter Blue Jeans herumstolpern ließ. Auf der Straße übergaben wir uns, alle drei. Die Encyclopaedia Britannica hatte uns nicht gewarnt. Als der Morgen dämmerte und wir uns bereits über unser Erlebnis in Sexualwahnsinn lustig machen konnten, reisten wir nach Kyoto ab – der Stadt der Geishas. Kyoto ist von Tokio eine Tages- oder Nachtreise mit der Bahn entfernt, doch ist es ratsam, am Tage zu fahren, wenn die gelbe Sonne die schönste ländliche Gegend Asiens herausputzt: grün wie ein einziges Blatt, gewellt von Bächen und Hügeln, einzig der toskanischen und abruzzischen Campagna vergleichbar, wie Ghirlandaio und Perugino sie sahen. Die Bahnhöfe sind kleine Landbahnhöfe mit alten Bauern im Kimono, die Körbe mit Eiern und Hühnern schleppen, um sie in die Stadt zu bringen. Die Landschaft ist so, wie sie in jenen Drucken erscheint, die unserer Illusion von Japan entgegenkommen: zärtlich, harmonisch, unberührt; man vergißt schnell, daß die Reisegefährten im selben Abteil mit ihren Flanellanzügen und Krawatten fehl am Platz wirken, daß das Mädchen nebenan einem auf die Nerven geht, weil es unaufhörlich den Refrain des ›St.-Louis-Blues‹ vor sich hin trällert. Man geht nach 192
Kyoto, wie man nach Venedig oder nach Toledo oder nach Stratford-on-Avon geht: um eine verlorene Süße wiederzufinden, eine vergessene Kultur, eine Poesie, die wir selber zerstört haben. Kyoto ist die einzige Stadt Japans, die so geblieben ist, wie sie in früheren Jahrhunderten war; die Bomben haben sie nicht zerschlagen, die Fabriken haben sie nicht verdreckt, die Menschen haben sich nicht von unseren europäischen Einflüssen verderben lassen. Bei der Ankunft erfaßte uns ein inniges Wohlgefühl. Kyoto lag in regnerischem Schweigen da, mit seinem Fluß, den sie »Langsamkeit des Silbers« nennen, seinen im hundertjährigen Eichenwald versunkenen Zen-Klöstern, seinen Gärten aus hellem, mit präzisen Parallelstrichen geharktem Sand mit einem Zwergbaum in der Mitte und moosbedeckten Felsen. Wir drangen fast etwas ungläubig in diesen Traum ein. Es war Abend und im »Tempel der reinen Quellen«, der zu Füßen einer Quelle versteckt liegt, sagten die Bonzen mit den kahlgeschorenen Köpfen vor den Holzaltären höchst komplizierte Riten her und verbrannten Räucherstäbchen und geheimnisvolle Papyri; die Vestalinnen in orangerotem Rock, die Haare mit Papier zu einem Zopf gebunden, harkten den sauberen Kies und trugen Wasser für die in lichtlose Zellen eingeschlossenen Mönche. Im »Palast des vornehmen Wohlgeruchs« banden die Frauen geweihte Talismane an die geweihten Bäume, um von den Göttern eine Gnade zu erbitten, und die Pinienzweige waren bebändert von den winzigkleinen Papierblättchen, auf denen diese Bitten geschrieben standen. In den Quartieren der Geishas, die überaus poetische Namen haben wie »Heitere Ruhe«, »Glückliches Böhn-chen«, 193
»Ungestümes Blatt«, sangen die geheimnisvollen Wesen, die ihr Leben damit verbringen, den Männern anderer Frauen gefällig zu sein, sanfte Klageweisen. Wir waren an diesem durch die widerwärtige nächtliche Szene in Yoshihara noch etwas getrübten Tage wegen der Geishas nach Kyoto gekommen – man könne die Geishas nicht verstehen, sagten alle, ohne die Welt zu kennen, die sie hervorbrachte, die abstrakte Eleganz dieser Klöster, die packende Raffiniertheit dieser Häuser ohne Möbel, den Traditionalismus der Frauen, die stets mit Argwohn auf Generäle wie McArthur geblickt hatten. Wir hatten ursprünglich nicht im Sinn, zu Frau Mikimoto zu gehen, obwohl ein gemeinsamer Bekannter, der Vicomte Watanabe, mir schon des öftern aufgetragen hatte, ihr Grüße zu überbringen. Wir gingen dann doch, und zwar, zugegeben, um einer etwas törichten Neugier willen: Frau Mikimoto hat den Sohn des großen Mikimoto, des berühmtesten Perlenzüchters der Welt, geheiratet. Sie ist infolgedessen eine der reichsten Frauen Japans; ich dachte, es müßte eigentlich der Mühe wert sein, sie kennenzulernen. Wir schickten ihr also die Grüße von Watanabe, und sie lud uns daraufhin sogleich in das Haus ihrer Mutter Tokuko Kiyoshi ein. Es würde uns vielleicht interessieren, schrieb sie in der Einladung, ein echt japanisches Haus zu sehen. Und ob es uns interessierte! Es war ein Haus aus Holz und Papier, an einem Gäßchen gelegen, dessen Laternen wie rote, gelbe und violette Glühwürmchen zuckten. Man trat ein, nachdem man sich unter endlosen Verneigungen die Schuhe ausgezogen hatte. Man ging einen Korridor entlang, dessen Holzboden so reingefegt war, daß man darauf 194
hätte essen können. Man betrat luftige Zimmer, die nur einen einzigen niedrigen Tisch enthielten, eine einzige Vase mit einer einzigen Blume, sowie unsichtbare Schränke zum Verstecken der Matratzen, auf denen man nachts schläft. Und in einem dieser Zimmer knieten wie kleine Götzenbilder die beiden unglaublichen Frauen: eigens hingestellt, um uns daran zu erinnern, daß Tokio schließlich nicht Japan ist. Sumiko Mikimoto, eine noch nicht dreißigjährige Dame, trug einen grün und blauen Kimono. Tokuko Kiyoshi, die mindestens siebzig ist, trug einen braunen. Und beide betrachteten uns mit leicht belustigtem Lächeln, als könnten sie es nicht glauben, daß wir so weit gereist waren, um Geishas zu finden; selbst die Begrüßungshöflichkeiten hatten etwas Ironisches an sich. Die Art, wie Tokuko uns den grünen, ungezuckerten Tee bot, erweckte fast den Eindruck, unsere ganze Welt, unsere Kleider und unsere Neugier kämen ihr recht komisch vor. Trotzdem fühlte man sich wohl dort drinnen. Die Harmonie dieses leeren Raumes, kaum unterbrochen durch einen Tisch und eine Blume, flößte einen unerwarteten Frieden ein. Und auf einmal stand Sumiko auf, öffnete die Schiebefenstertür und sagte: »Hören Sie zu, bitte.« Von jenseits des Parks, der von einem Bambuszaun umgeben war. drang ein etwas heiserer Gesang herüber, und sie übersetzte: »Eine Zigarette gibt ihren ganzen Körper hin und läßt sich auch küssen, bis sie Asche ihres Herrn ist. Ich werde deine Zigarette sein, Herr.« Sie lächelte. »Hübsch, nicht? Es sind die Geishas der Schule von Kyoto. Denken Sie nur: sie fangen als Kinder an, diese Lieder zu lernen, und lernen weiter bis zu ihrem Tode. Es ist eher eine ge195
heime Sekte als nur ein Beruf: Wenn sie ausgehen, um ein Fest zu verschönen, werden sie wie eh und je in den von zwei Dienern getragenen Sänften hingebracht. Manchmal frage ich mich, ob es dem Fortschritt und der Technik je gelingen wird, sie zu zerstören; ich glaube es nicht. Es wäre, als zerstörte man das, was wir Japaner am meisten lieben – die Anmut, die Verfeinerung, das Unnötige. Manchmal, Wenn ich sie singen höre, frage ich mich auch, ob ich auf sie eifersüchtig bin. Aber ich glaube es nicht. Und du, Mutter, bist du je auf sie eifersüchtig gewesen?« Die alte Dame hob das Elfenbeingesicht: »Warum sollte ich? Während des Krieges schickte mir die Stadtverwaltung eine Geisha, deren Haus bombardiert worden war. Sie war ein exquisites Geschöpf, sie wagte es nicht einmal, mit meinem Mann zu kokettieren. Und sie verstand es, nach allen Regeln der Kunst Blumen anzuordnen und den Tee anzubieten. Wären nur alle Frauen von heute so wie sie.« Sie warf einen strengen Blick auf Sumiko. »Nehmen Sie nur zum Beispiel meine Tochter: Sie kann nicht einmal eine Tulpe in eine Vase stellen, bei ihr schaut der Blütenkelch immer auf die falsche Seite. Die Teezeremonie kennt sie auch nicht, und als … Oh, bitte! bitte!« Tokuko Kiyoshi sprang auf die Füße wie ein junges Mädchen, verneigte sich dreimal vor Duilio, der eine Zigarette in der Hand hielt, und wollte sie ihm anzünden. »Nein!« wehrte Duilio ab und wurde rot. »Warum nicht?« fragte Frau Kiyoshi erstaunt. »Weil er ein Mann ist«, erläuterte ich. »Es ist Sache des Mannes, aufzustehen und einer Dame die Zigarette anzuzünden.« 196
»Aber gar nicht!« widersprach Frau Kiyoshi. »Es ist Sache der Frau.« Und sie zündete sie an. Dann setzte sie das Gespräch fort. »Als es darum ging, ihre Ausbildung zu wählen, wissen Sie, was meine Tochter wählte? Das Klavierstudium. Welch ein Schmerz! Ach ja! Dinge geschehen heutzutage … Die Mädchen heiraten nach zwei Monaten Verlobungszeit und gehen diese dummen Liebesehen ein. Es gibt sogar noch Schlimmeres: Wissen Sie, daß sie sich nicht einmal vom Arzt untersuchen lassen wollen, bevor sie den Ehevertrag unterschreiben?« Sie hob mit stolzer Bewegung den Kopf: »Meine Brautzeit dauerte drei Jahre und hätte gewiß noch länger gedauert, wenn nicht diese Magenschmerzen dazwischengekommen wären. Ein wahres Glück. Der Onkel meines Verlobten war Arzt, so schickte man nach ihm, und ich benützte die Gelegenheit und ließ mich gleich von Kopf bis Fuß untersuchen. Der offizielle Heiratsantrag kam denn auch gleich darauf. Ah, war das eine Ehe! Ein Meisterwerk an Weisheit und gutem Geschmack. Mein Leben lang sagte ich nie zu meinem Mann ›ich liebe dich‹, und er sagte es auch nie zu mir. Diese Tochter da, die sagt ihrem Mann dauernd ›ich liebe dich, ich liebe dich‹ – ein Skandal. Und als wäre das nicht schon genug, wollte sie damals auch das Omiai nicht machen. Sie wissen doch, was ein Omiai ist?« Ich wußte es. Unter Omiai versteht man in Japan die förmliche Begegnung zwischen einem Burschen und einem Mädchen, die sich im Hinblick auf eine Heirat kennenzulernen wünschen. In der Regel wird das Omiai vom Nakodo, dem gewerbsmäßigen Vermittler, organisiert, manchmal aber auch von einem Freund der Familie. Wenn der 197
Nakodo weiß, daß irgendwo eine Tochter zu verheiraten ist, verlangt er ihre Photographie und zeigt sie den Verwandten eines ledigen Mannes. Wenn die Photographie gefällt, zieht der Nakodo Informationen über die beiden ein, und wenn diese gut sind, organisiert er das Omiai. Ein Blick oder ein kurzes Gespräch genügen dem Burschen und dem Mädchen, um herauszufinden, ob sie einander wiederzusehen wünschen, um die Möglichkeit eines Verlöbnisses zu besprechen. Wenige, besonders in der Provinz, entziehen sich dem Omiai und heiraten jemanden, den sie zufällig kennengelernt haben. Und wenn sie sich entziehen, setzt es einen Skandal ab, und zwar nicht nur in der Provinz. Als Kronprinz Akihito seine Verlobung mit Michiko Shoda bekanntgab, die er auf dem Tennisplatz und ohne Nakodo kennengelernt hatte, empörten sich die Traditionalisten gegen das schlechte Beispiel, und der Administrator des Kaiserhauses mußte vor dem Reichstag feierlich schwindeln, diese Heirat sei nicht das Ergebnis eines Flirts zwischen Tennisrackets, sondern der Abschluß eines von den Familien angeordneten Omiai. »Erzählen Sie mir von Ihrem Omiai, ich bitte Sie«, sagte ich zu Sumiko Mikimoto. Sie lächelte mit dem Ausdruck von jemand, der etwas äußerst Gewagtes erzählen will. »Gut. Ich war in Schanghai, um ein Konzert zu geben, und die Mutter schrieb mir, daß der Sohn des großen Mikimoto versuche, ein Omiai zu machen. Der Nakodo hatte meine Photographie bereits gezeigt und war herumgegangen, um sich über mein Temperament, mein Vermögen und die Vergangenheit meiner Familie zu erkundigen. Ich antwortete der Mutter, daß ich, 198
falls sie es wirklich wünsche, zwar nach Japan zurückkehren würde – jedoch nicht zu einem offiziellen Omiai. Ich hätte eine Karriere, ich gedächte nicht zu heiraten. Die Mutter bestand darauf, ich kehrte zurück, und die Begegnung mit Herrn Mikimoto fand am Morgen statt. Natürlich unternahm ich alles Mögliche, um ihn abzuschrekken: ich zog mich europäisch an, mit Gehhose und Bluse, und sah Herrn Mikimoto gerade in die Augen, ohne die geringste Demut zu heucheln. Vor allem gefiel mir Herr Mikimoto nämlich nicht; er war ziemlich häßlich.« Sie unterbrach sich, um Duilio zu danken, der ihr eine Zigarette angezündet hatte. »Sumiko!« rief die Mutter entsetzt. »Was machst du da?« »Ich bitte um Verzeihung«, sagte Sumiko. »Ich war zerstreut. Mein Mann zündet mir immer die Zigarette an, deshalb …« »Und das erzählst du so?« sagte die Mutter noch entsetzter. »Nun, also«, fuhr Sumiko fort, »Herr Mikimoto schien sich nicht entmutigen zu lassen, denn einige Tage darnach schrieb er mir einen Brief, den ich nach der Regel der Familie vorlas. Die Familie befand, es wäre ein Fehler, auf eine solche Partie zu verzichten, und andererseits wollte ich der Familie nicht gern ungehorsam sein. Im übrigen muß eine Frau ja schließlich doch heiraten, nicht wahr? Jedenfalls antwortete ich auf diesen Brief, setzte die Hochzeit auf ein Datum innerhalb von zwei Monaten fest und heiratete ihn. Sehen Sie, zwischen meiner Mutter und mir ist zwar ein Abgrund, aber in diesem Punkt stimmen wir überein: Wir 199
glauben nicht an Liebesheiraten. Sie führen zum Nichtverstehen und zu Scheidungen; denn wenn jemand verliebt ist, beurteilt er den Gegenstand seiner Liebe als eine Art Gottheit. Mit der Zeit und beim Zusammenleben bemerkt man dann, daß der- oder diejenige gar keine Gottheit ist, und ist enttäuscht. Bei unserem System dagegen wird niemand enttäuscht, höchstens entdeckt man, daß der Ehepartner besser ist, als man dachte. Meine Ehe ist wirklich glücklich. Mein Mann liebt mich, und ich liebe ihn. Wir sind zur Liebe gelangt, ohne dem Flirt zu frönen.« Tokuko Kiyoshi hob mit einem Ruck den Kopf: »Was ist das, Flirt?« Sumiko Mikimoto dachte einen Augenblick nach, dann erwiderte sie: »Es ist etwas Ungehöriges, Mutter.« Ja – da war alles drin. Vielleicht repräsentiert Frau Mikimoto nicht das heutige Japan, das eher den modernen Mädchen von Tokio gehören mag. Doch sie repräsentiert den echten, den ältesten Geist Japans. Und die Geishas sind das Ergebnis einer Gesellschaft, in der Frauen wie Sumiko zwar die Kunst des Blumenarrangements nicht kennen und sich hie und da von einem Mann die Zigarette anzünden lassen, jedoch denjenigen heiraten, den die Familie wünscht, ohne etwas von Liebe zu wissen. Eine kürzliche Umfrage der Municipal Matrimonial Agency hat ergeben, daß 80 der Japanerinnen über Dreißig die Ehe nicht als Vereinigung von zwei Menschen, die sich gernhaben, sondern vielmehr als feierliche Verbindung zwischen zwei Familien auffassen. In Japan gibt es zum Beispiel einen »Klub der einsamen Herzen«. Er wurde bald nach dem 200
Krieg und auf Anraten der Amerikaner von Herrn Haruo Yokochi gegründet, mit Hauptsitz in Tokio und Filialen in jedem Provinzhauptort. Herr Yokochi ist ein Bewunderer des Abendlandes: »Ich ermutige meine Angestellten, Liebesbeziehungen im Büro anzuknüpfen«, pflegt er zu sagen. »Die Liebe schenkt Fröhlichkeit, Energie, Verantwortungsgefühl.« Aber an dem Tag, an dem ich ihn fragte, ob das Verhalten seiner Angestellten wirklich den Kunden als gutes Beispiel diene, antwortete er: »Reden Sie mir nicht davon. Gerade gestern habe ich eine Massenhochzeit von zwanzig Kunden aus Osaka, Kobe und Takamatsu gefeiert: keines dieser Paare hatte zuvor auch nur die harmloseste Zärtlichkeit getauscht. Sehen Sie, das Büro funktioniert zwar, und die jungen Männer kommen. Die Mädchen aber nicht: die schicken noch immer die Mutter.« Übrigens weiß auch ganz Tokio, was geschah, als an der Ginza ein Geschäft für Hochzeitsgeschenke eröffnet wurde. Der Besitzer hatte als Verkäuferinnen lauter anmutige, keusche junge Mädchen im heiratsfähigen Alter angestellt; das sprach sich herum, und der Laden wurde gestürmt von alten Frauen auf der Suche nach Bräuten für ihre Söhne. Und anstatt Brautschleier und Elektrokochtöpfe zu kaufen, fragten sie die Verkäuferinnen über ihre Vergangenheit aus, um die Wünschbarkeit eines Omiai zu erwägen. Der Besitzer mußte die Mädchen im heiratsfähigen Alter durch verheiratete Verkäuferinnen oder Männer ersetzen. Die Auffassung der Ehe als Gesellschaftskontrakt statt als Liebeskontrakt ist eine asiatische Auffassung, die sich seit Jahrtausenden auf dem ganzen Kontinent erhalten hat 201
und für den die Europäer wenig Verständnis aufbringen. Wahrscheinlich beginnen auch die Japanerinnen allmählich, wenig Verständnis dafür aufzubringen. Trotzdem halten sie daran fest, wie sie auch am Omiai festhalten und an der Regel, das öffentliche Leben des Gatten nie zu behelligen – wieder eine der Einzelheiten, die die Existenz der Geishas erklären. Frauen wie Sumiko Mikimoto würden sich schämen, wenn ihr Mann nach Büroschluß sogleich nach Hause käme: »Das sähe ja aus, als wäre er ein Mann ohne Freunde und wüßte abends nicht, wo er hingehen könnte.« Noch mehr würden sie sich schämen, wenn der Mann seine Freunde mit nach Hause brächte oder sie, seine Frau, mit ins Restaurant nehmen wollte. »Eine rechte Frau bleibt zu Hause und zeigt sich nicht wie eine Tänzerin vor den Leuten.« Jene abendländischen Frauen, die von ihren Gatten möglichst zu jedem auswärtigen Essen und auf jede Reise mitgenommen werden wollen, täten gut daran, einmal in diese Gegend zu kommen: sie würden eine gehörige Lektion in Zurückhaltung bekommen. Eine Ehefrau begleitet ihren Mann nicht, wenn er zu einem Kongreß reist. Die Geisha begleitet ihn. Die Ehefrau begleitet die beiden höchstens zur Bahn und wünscht ihnen viel Vergnügen. Eine Ehefrau begleitet ihren Mann nicht ins Restaurant. Die Geisha begleitet ihn. Die Ehefrau, sofern sie schlau ist, verschaff t sie ihm. Ja, aber warum denn? werden Sie fragen. Weil die Wahrung eines Geheimnisses nicht unter die Pflichten einer Gattin fällt. Die Japaner pflegen, genau wie die Italiener, alle ihre Probleme bei Tisch zu lösen, und während keiner sich getraut, vor der eigenen Frau etwas auszuplaudern, nimmt sich in Gegen202
wart der Geishas keiner in acht, da es für diese Ehrensache ist, ein Geheimnis für sich zu behalten. In den Teehäusern von Kyoto und Tokio diskutieren Politiker und Industriemagnaten manchmal über Dinge, die für das Schicksal der Nation entscheidend sind; stellen Sie sich vor, was für eine Katastrophe, wenn sie die Ehefrauen bei sich hätten. Bei den Geishas haben sie keine Angst, und obwohl in Japan seltsame Gerüchte umgehen von Geishas, die in ihrem Obi Aufnahmegeräte versteckt halten sollen, hat man noch nie gehört, daß eine Rosemarie Nitribitt unter ihnen gewesen wäre. Befassen wir uns nun also mit diesen hochgerühmten Frauen, die gemeinhin als Luxusliebchen für Eingeweihte gelten und die wahrscheinlich zum Aussterben verurteilt sind. Nach Ansicht der Skeptiker werden sie bald nur mehr eine touristische Attraktion bilden, wie die Navajos-Indianer in Amerika, und schließlich einzig noch in Reservaten leben, zu denen man mit einer Spezialbewilligung Zutritt erhält, wie bei den Navajos-Indianern. Sie haben es wirklich nicht leicht. Die sozialistische Partei verlangt mit lauter Stimme ihre Abschaff ung, indem sie hervorhebt, sie seien eine ausschließliche Domäne der Reichen und somit schädlich für die Wirtschaft des Landes. Die Kapitalisten bekämpfen sie; viele Aktiengesellschaften haben ihren Präsidenten ein Ultimatum gestellt: »Schluß mit den Abendessen mit Geishas, außer es handle sich darum, irgendeinen romantischen Neuling von Kunden zu bewirten. Es ist zu kostspielig.« Die Nachtlokale und die Taxigirls im Cheong-sam machen ihnen erbarmungslos Konkurrenz; manche Geishas müssen sich anpassen und Xylophon spie203
len oder Rumba tanzen. Das Steuersystem plagt sie; alle, die mehr als 400 000 Yen jährlich verdienen, müssen dem Fiskus 33,33 der Einnahmen abliefern. Wegen der Steuern haben hundertdreiundsechzig Geishas von Kanazawa den Beruf aufgegeben, und der Bürgermeister äußerte sich dazu: »Welche Erleichterung! Offen gestanden, sie fingen an, recht lästig zu werden.« Und doch gibt es ihrer 29 365 in Japan, ohne die Hunderte von Elevinnen mitzurechnen, die jedes Jahr aus den Schulen von Kyoto kommen. Und sie sind immer noch weltberühmt, wie die Cowboys, die Fakire und die Maharadschas. Warum? Wer sind sie? Was machen sie? Sie führen, vor allen Dingen, ein Nonnenleben: ihre Disziplin ist noch härter als jene, die die Agitpropzöglinge in den kommunistischen Einsiedeleien Europas unterjocht. Sie sind vor allen Dingen etwas, was wir Europäer nicht leicht begreifen können. Und den überschwenglichen Beschreibungen, die uns Paul Morand und Pierre Loti ungestraft bescherten, entsprechen sie nicht. Am Tag nach meiner Begegnung mit Frau Mikimoto besuchte ich eine Schule, und der Eindruck, den ich dort gewann, war verwirrender als der Abend, der meinen Aufenthalt in Kyoto abschloß. In den Korridoren, die infolge der üblichen Leidenschaft für Putzlappen, Seife und Bürsten, welche das sauberste Volk der Erde kennzeichnet, spiegelblank waren, wandelten die Geishas wie Novizinnen eines Klosters: die Arme verschränkt und in den weiten Ärmeln verborgen, den Blick gesenkt, die Lippen in düsterem Schweigen verschlossen. In den Schulzimmern für Gesang, Tanz und Psychologie hingegen knieten sie auf dem Tatami, unbeweglich 204
in ihren farben- und goldleuchtenden Kimonos, priesterlich ernst unter den glänzenden schwarzen Perücken. Keine verriet bei unserem Anblick eine Regung der Neugier, keine hob die Lider. Sie blieben unbeweglich, diese etwas traurig anzuschauenden Köpfe, die wie angeschraubt auf den Schwanenhälsen saßen; als wären die Mädchen tote und mit Stecknadeln an der Wand aufgespießte Schmetterlinge. Novizinnen der Nonnenklöster atmen. Manchmal husten sie, kurz, sie leben. Diese aber erschienen tot, wie eine Schmetterlingssammlung; und doch hatten sie mit Schmetterlingen nichts als die Farben der Kleidung gemeinsam. Es war etwas Unlogisches um sie, etwas Düsteres. Beim Eintreten in diese Schulzimmer fürchtete man, eine Entweihung zu begehen, beim Weggehen fühlte man sich vor Befangenheit wie erstickt. Man wagte es nicht einmal, eine von ihnen etwas zu fragen. Mit Fremden zu sprechen ist verboten, sie hätten gar keine Antwort gegeben, und vor ihnen stand ein Lehrer, der beim leisesten Geräusch den Stock wie einen Säbel hob. Statt dessen gab mein Begleiter, der an dieser Schule Sekretär war, Auskunft: In der Schule studierten dreihundertdreißig Geishas, sagte er, zwischen zwölf und zweiundsechzig Jahren. Ja, natürlich gab es solche von zweiundsechzig Jahren – in diesem Beruf hat man nie ausgelernt. Einige hatten mit sechs Jahren angefangen, genau wie die Schülerinnen des klassischen Balletts in Europa; nach dem Krieg jedoch hatte das Juvenile Protection Law die Altersgrenze auf zwölf Jahre hinaufgesetzt. Manchmal waren es Töchter von Geishas, uneheliche zumeist, manchmal waren es Töchter armer Leute, die 205
sie um 20 000 Yen und einen Sack Reis an ehemalige Geishas verkauften. Die ehemalige Geisha kam für die Schule, das Essen und die Kleider auf, und das Mädchen bezahlte später seine Schuld zurück, indem es zwanzig Prozent seiner Einnahmen ablieferte, wenn es eine Stelle hatte. Und zwar zeit seines Lebens. Natürlich war es unerläßlich, daß das Kind intelligent und anmutig war; was nützt ein schönes Gesicht, wenn keine verständigen Reden über seine Lippen kommen? Eine Geisha mußte über alles ein wenig Bescheid wissen: von der Politik bis zur Wissenschaft und von der Wirtschaft bis zur Philosophie. »Sie kennen vielleicht die buchstäbliche Übersetzung des Wortes Geisha nicht. Ghei bedeutet Person und sha Kultur. Eine Geisha ist in erster Linie eine kultivierte Person und erst in zweiter Linie ein Objekt des Vergnügens.« Aber was für eines Vergnügens? Ihr Liebesleben ist spärlich. Solange sie in der Schule lernen, sind sie mit den Lektionen von acht Uhr früh bis abends sechs besetzt; nach sechs Uhr haben sie bloß eine halbe Stunde frei, um im Garten einen Spaziergang zu machen. Nachts schlafen sie in Schlafsälen, die von einer unbestechlichen Gouvernante überwacht werden. Wenn sie in einem Teehaus Arbeit finden, lassen sie sich kaum je auf Liebesabenteuer ein. Fünfzig Prozent der Geishas hatten nie einen Geliebten und werden auch nie einen haben. Einige sind asexual geworden durch eine Disziplin, die sie gegen jede Regung von Instinkt oder Neigung abstumpfte. Andere sind der Meinung, sie hätten gerade genug zu tun und brauchten nicht auch noch für das sexuelle Vergnügen ihrer Kunden zu sor206
gen – dafür seien schließlich deren Ehefrauen da. Die eine oder andere hat einen Beschützer, der sie zu Repräsentationszwecken hält, wie unsere Millionäre sich etwa eine Luxusjacht oder ein Starmannequin halten; das ist aber sehr selten. Selten ist es auch, daß sie sich verheiraten, nicht weil es ihnen schwerfiele, jemanden kennenzulernen, der sie haben wollte, sondern weil sie keinen Wert darauf legen. Als Geishas haben sie alles: Luxus, Protektion, Achtung, Männergesellschaft. Als Ehefrauen müßten sie sich den Regeln unterwerfen, die für Ehefrauen gelten. Und sie würden sich weit mehr langweilen. Auf alle Fälle, meinte mein Begleiter abschließend, könnte ich die Geishas nicht kennenlernen, indem ich eine Geishaschule besuchte. Ich müßte schon einen Abend mit ihnen verbringen. Wenn ich wolle, könne er mir das zu einem Spezialpreis verschaffen, und es werde etwas Unvergeßliches sein. Selbstverständlich! Wie könnte man auf etwas Unvergeßliches verzichten? Duilio war außer sich vor Freude – jetzt würde er doch endlich etwas zu erzählen haben für seine Freunde oder für widerspenstige Mädchen. Und am selben Abend noch begab ich mich mit Chas und Duilio zusammen ins berühmteste Teehaus Japans. Wir waren auf sieben Uhr verabredet, und man hatte uns gewissenhafteste Pünktlichkeit ans Herz gelegt, um die Geishas nicht zu beleidigen. Das Teehaus war aus Holz, und durch die Wände drangen leises Lachen, behutsame Schritte, Geflüster heraus. Meine Freunde waren ganz aufgeregt, sogar Chas, der sich gewöhnlich durch nichts aus der Ruhe bringen läßt. In diesem Teehaus war er noch nie gewesen; es war zu kostspielig. Die Wirtin, eine mit gro207
ßer Affektiertheit gekleidete Alte, erwartete uns am Eingang, und einen Moment lang starrten mich ihre schlauen Äuglein verschwörerisch an. Ich mußte ihr als eine recht merkwürdige, wie soll ich sagen, etwas verdrehte Frau erscheinen, weil ich in ein Teehaus ging. Aber sie faßte sich gleich wieder und trug eine Art mitwisserischer Nachsicht zur Schau, als wollte sie mir sagen: »Nur keine Bange, ich sage niemandem etwas«, und nachdem sie uns die Schuhe abgenommen hatte, führte sie uns in den ersten Stock, wo sie uns für eine halbe Stunde allein ließ. Das Wartezimmer war ein moderner Salon, mit Fauteuils, Grammophon und Fernsehen. Ein Mädchen kam mit drei dampfenden Schwämmen herein, damit wir uns Gesicht und Hände gründlich waschen konnten. Dann ging sie wieder, und weiter passierte nichts, bis die Wirtin wieder erschien, um uns ins Speisezimmer zu geleiten, einen weiten Raum mit dem üblichen niedrigen Tisch in der Mitte, vier Kissen mit eiserner Rückenlehne und sonst nichts. Es waren auch keine Geishas da, aber, sagte sie und schaute mich dabei wieder mit dieser ekelhaften Komplizenmiene an, jedem von uns stehe eine Geisha zu, und sie würden gleich kommen. Sie legten nur noch letzte Hand an ihr Make up. Gewiß würde es der ehrenwerten Fremden Freude machen, zu vernehmen, daß die Geishas, um unserer Sympathie würdig zu sein, dreimal gebadet, sich dann bis zum letzten Härchen depiliert und schließlich sieben Kimonos unter dem Hauptkimono angezogen hatten. Worauf Chas dem verblüff ten Duilio erklärte, daß die Kleidung einer Geisha außerdem noch drei Unterröcke und drei Paar knielanger Unterhosen umfaßt. 208
Wir ließen uns besorgt auf den Kissen nieder. Und bald darauf ging raschelnd eine papierene Schiebetür auf, um die erste Geisha einzulassen, die niederkniete, bis sie mit der Stirn den Boden berührte. Dann stand sie wieder auf und war ein sehr kleines Ding, bestimmt nicht älter als fünfzehn, sechzehn Jahre. Ihr von einem roten und orangefarbenen Kimono verhüllter Körper zeigte keine Kurven, und ihr ovales Gesicht war mit heller Lackfarbe bestrichen, was diesem Puppenantlitz eine leichenhafte Starre verlieh. Ihr Mund war rot gefärbt, doch auf sonderbare Art: um ihn kleiner erscheinen zu lassen, waren die Ränder der Lippen weiß übermalt. Ihre Augenbrauen waren vollständig abrasiert, und auf der übertriebenen Perücke schaukelten Papierblumen und Blechanhänger. Die Perücke mußte sehr heiß sein, denn von den Schläfen rann ein Schweißbächlein herab, das eine Furche in der Lackfarbe zurückließ, wie eine lange Träne. Sie sagte nichts. Sie sah uns kühl an, dann setzte sie sich neben Chas, der ihr offenbar am besten gefiel. Da blieb sie mit erhobenem Kopf, die Hände im Schoß, und betrachtete eingehend seine Krawatte und dann meine Ohrringe, als habe sie noch nie eine Krawatte oder ein Paar Ohrringe gesehen; vielleicht aber versuchte sie lediglich herauszufinden, wer wir waren, bevor sie sich mit falschen Redensarten blamierte. Sie blamierte sich nicht mit falschen Redensarten. Nach einigen Minuten, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, verkündete sie mit piepsendem Stimmchen, sie heiße Tokiko, wenn’s gefällig sei. Und nun wurden in dem geöff neten Mund ihre Zähne sichtbar: sehr lange und gelbe Zähne, der Mode entsprechend, die den Geishas auferlegt, 209
sie oft schwarz zu färben, damit sie »die Farbe der Sonne« annehmen sollen. Dann kam die andere Geisha. Sie war älter und wirklich nicht hübsch. Sie war dick, hatte noch gelbere Zähne, und ihr blatternarbiges Gesicht war ockerfarben bemalt. Sie hatte eine starke, glänzende Nase, über die sie mechanisch mit einer Puderquaste wischte, die sie dann wieder im Obi verbarg. Alles andere als schweigsam, lachte diese dauernd und sperrte ihren häßlichen Mund auf, weiterlachend erklärte sie, Toshiko zu heißen, wenn’s gefällig sei. Dann setzte sie sich zu Duilio, der sich kein bißchen darüber freute. Die dritte war eine Geisha, die nicht wie eine Geisha aussah. Ihr Gesicht wirkte gewaschen, ohne Puder oder Lippenstift, das Haar war kurzgeschnitten wie das eines Jungen. Sie hatte europäische Augen mit einer winzigen Narbe im Winkel, wo das Messer des Chirurgen geschnitten hatte, und einen harten, hochmütigen Gesichtsausdruck. Sie verneigte sich zwar, aber so, als sei ihr das äußerst lästig. Jede affektierte Grazie fehlte ihr, und obwohl der blaue Kimono unbestreitbar weibliche Formen umschloß, war etwas an ihr, was mir zu denken gab. Die verflixte Wirtin – sie hatte sie wahrhaftig für mich ausgesucht! Meine Geisha hieß Nanako und sagte, sie habe diesen Namen aus Sympathie zu Zolas ›Nana‹ gewählt. Jawohl, sie las viele französische Romane, und ihr Lieblingsautor war Zola, obwohl sie auch Gide, Flaubert und Stendhal und den einen oder andern Engländer kannte. Ob ich den ›Teich der Einsamkeit‹ kenne? Ach, nein? Die Tatsache, daß das Essen aufgetragen wurde, erschien mir als unverhoffte Rettung. Ich stürzte mich auf die Krebse 210
in Caramelsauce – ein scheußliches Gericht, das ich sonst nicht einmal versuchen würde, wenn ich am Verhungern wäre – als gäbe es nichts Herrlicheres auf der Welt. Tokiko schwieg noch immer, als hätte man ihr die Stimmbänder durchschnitten. Toshiko lachte noch immer grundlos. Nanako redete. Vielleicht hatte sie das Mißverständnis erkannt und versuchte meine Wut zu dämpfen, vielleicht war sie bloß intelligent und wollte mir nützlich sein. Jedenfalls erklärte sie mir, daß der Beruf, den sie ausübten, sehr anstrengend sei: Man müsse zu jeder Tages- und Nachtstunde bereitstehen, wenn ein Kunde rufe, und deshalb hatten sich die Geishas zu einer Gewerkschaft zusammengeschlossen, deren Präsidentin sie war. Augenblicklich sei eine Aktion im Gange, ein Gesuch zu stellen, daß ihnen nach dem zurückgelegten fünfundvierzigsten Altersjahr eine Alters- und Invalidenrente zugebilligt würde, dann andere Reformen, wie Krankenkassen. »Wir kämpfen auch im Parlament und erklären, wenn nötig, den Streik. Freilich ist es schwierig, zu streiken – es gibt so viele Streikbrecherinnen.« Nanako sprach ein ausgezeichnetes Englisch, und Duilio versuchte krampfhaft, sie mir auszuspannen; ihre merkwürdige Art reizte ihn, wie er erklärte. Aber da war nichts zu machen: Nanako war mir unerträglich treu und wich keinen Zentimeter von meiner Seite. Duilio wandte sich nun an Tokiko und sagte ihr mit Hilfe von Chas, sie müsse ihn nach unten begleiten, um seine Leica zu holen. Tokiko stand folgsam auf, und sie gingen miteinander die Leica holen; doch als Duilio zurückkam, war sein Gesicht finster. Er hatte sie zu küssen versucht, gestand er, aber die war ja steif wie eine Gipsfigur – und was hat man davon, eine 211
Gipsfigur zu küssen? Der Lack auf ihrem Gesicht war wie Eis. Er hatte auch probiert, sie ein bißchen zu umarmen, hatte aber nichts als Stoff gefühlt; war sie vielleicht bloß eine Stoff puppe mit Gipskopf? Traurig aß er weiter. Lieber Himmel, wie wir aßen! Ich, um Zärtlichkeiten auszuweichen, Chas und Duilio, weil sie nichts anderes zu tun hatten. Im übrigen schienen die Mädchen alle drei darauf aus zu sein, uns mehr als nötig zu füttern. Sie schenkten uns dauernd Saki in die Becherchen und steckten des öfteren ihre Stäbchen in unsere Teller, um uns die Bissen in den Mund zu stopfen, wie man es mit kleinen Kindern macht. So schien Toshiko sehr überrascht, als Duilio ihr sagte, er möge es gar nicht, gefüttert zu werden. Millionäre und Minister, sagte sie mit ihrem gewohnten lauten Lachen, fanden ein unendliches Vergnügen daran und blieben den ganzen Abend mit den Händen auf den Knien sitzen, sie erhoben sie nicht einmal, um Saki zu trinken. Schließlich aber ging auch das Mahl zu Ende, und das Grauen überfiel mich von neuem. Und jetzt, was würde jetzt geschehen? Nur keine Angst. Nichts geschah. Alles, was geschah, war reine Förmlichkeit, es gibt nichts Keuscheres als einen Abend mit Geishas. Als vom Essen nicht einmal mehr eine Erdbeere übrigblieb, fragte uns Toshiko, ob uns ein paar Spielchen gefällig wären. Ein Spielchen bestand darin, in die Hände zu klatschen, während Toshiko »eins, zwei, drei« sagte, doch das fanden wir albern, und wir verzichteten. Ein anderes Spielchen bestand darin, auf allen Vieren zu kriechen und zu bellen, während Toshiko »miau« sagte; niemand wollte etwas davon wissen. Ein drittes bestand darin, ein paar Böhnchen von einem Teller zu neh212
men und mit den Eßstäbchen auf einem andern Teller in eine Reihe zu legen; wer zuerst fertig war, hatte gewonnen. Und da Toshiko über unsere Ungenügsamkeit gekränkt schien, akzeptierten wir schließlich die Böhnchen, die sich trübselig von einem Teller zum andern in die Reihe legten und dann von diesem wieder zurück zum ersten. Geb’ ich dir ein Böhnchen, gibst du mir ein Böhnchen – der Abend blieb in einer gähnenden Langeweile stekken. Chas schaute mich wütend an: zweiunddreißig Jahre lang – so alt war er – war es ihm gelungen, den Geishas aus dem Wege zu gehen, und jetzt mußte er sie meinetwegen erdulden. Duilio unterdrückte ein Gähnen und sagte, er habe sich noch nie so angeschlagen gefühlt wie an diesem Abend – »Noch ein Böhnchen, und ich falle in Ohnmacht«. Was mich anbelangt, so war ich einfach perplex. Sicher waren die Geishas sehr niedlich mit ihren gezierten Bewegungen. Sogar Nanako, endlich davon überzeugt, daß ihre Wirtin sich getäuscht haben mußte, war von unbestreitbarer Grazie. Aber der von den dreimal acht Kimonos und drei Perücken verursachte Schweiß unserer Geishas begann einem den Atem zu rauben, und so sehr ich mich bemühte, diese aus Schweigen, kleinen Albernheiten, unsichtbaren Finessen bestehende Welt zu verstehen, gelang es mir doch nicht, ihren Reiz einzusehen. Und das ging nicht etwa nur mir so, weil ich eine Frau bin; es ging Chas, der doch Orientale ist, und Duilio, der mit den besten Erwartungen hergekommen war, nicht anders. Wir erhoben uns deshalb, um zu gehen, aber Tokiko und Toshiko, die befürchteten, ihre Pflicht nicht zur Genüge erfüllt zu haben, baten uns inständig, noch ein we213
nig zu bleiben, um sie tanzen zu sehen. Und dann setzte, mit dem Klagelied eines jenseits der Papierwand verborgenen Instrumentes, eine seltsame Liturgie ein, bei der das Klatschen der Fächer das einzig Lebendige war. Im Tanze wurden Tokiko und Toshiko schön. Man begriff, daß hinter jeder Fingerbewegung eine symbolische Bedeutung steckte, ein strenges, jahrelanges Studium. Und doch hatten wir keinen Anteil daran. Es war, als tanzte jede von ihnen vor einem Spiegel, ohne uns zu beachten, und mir kam die Definition des Schriftstellers William Demby in den Sinn: »Eine Geisha tanzt, als wäre sie in sich selber verliebt und außerstande, all die Liebe, die sie in sich erfüllt, zu äußern.« Die Langeweile ging infolgedessen in ein wehmütiges Einsamkeitsgefühl über; wir verabschiedeten uns, während Tokiko, Toshiko und Nanako uns anflehten, bald wieder zu ihnen zu kommen, weil sie es nicht lange ohne uns aushalten würden. Wir versprachen, gänzlich wider besseres Wissen, so bald wie möglich wiederzukommen; auch wir würden es nicht lange ohne sie aushalten. Erleichtert zogen wir die Schuhe an, verlangten die Rechnung, und mit einemmal verschwand das Gefühl der Unwirklichkeit, das uns zwei Stunden lang gefangengenommen hatte. Für zwei Stunden Ärger und Gähnen verlangte man, mit Spezialrabatt, von uns den Betrag von 27 000 Yen, etwa 380 Mark. Den Preis für eine Tonne Riesenbohnen. Die Rückfahrt nach Tokio war nicht begeisternd, denn wir reisten in der Nacht, die uns den tröstlichen Anblick der schönen japanischen Landschaft verwehrte. In Tokio 214
packten wir eilig unsere Koffer – die Hawaii-Inseln erwarteten uns. Das freundliche Antlitz von Chas June war das letzte orientalische Gesicht, das wir sehen würden. Ich dachte, wir hätten vielleicht deshalb nicht genug von diesen etwas rätselhaften Frauen verstanden, weil wir nicht genug von ihren Männern wußten. Vielleicht waren ihre Männer zu kühl, zu anspruchsvoll, zu gefühlsarm, als daß die Frauen so vollkommen sein konnten, wie das Sprichwort sagt. Als aber unser Flugzeug startbereit war und wir uns auf die Piste begeben mußten, wandte ich mich um, um Chas im Zuschauerraum ein letztes Mal zu grüßen. Und Chas, dieser Zyniker, bewegte keinen Muskel, zuckte mit keiner Wimper – und weinte.
VI
Nun landete das Flugzeug auf den Hibiskus- und Orchideeninseln, wo die modernsten Frauen der Welt leben, die einst wohl auch die freiesten und glücklichsten waren. Der Pazifische Ozean umgab uns wie ein Wasserring ohne Anfang und Ende, und auf der gegenüberliegenden Seite des Erdballs war Europa, war Italien. Sie sind weit weg, die Hawaii-Inseln, verloren wie grüne Brösel in der großen, weiten See. Und trotzdem kam es uns vor, als wären wir schon zu Hause, viel näher jedenfalls als wir uns in Indien, Japan oder Malaya vorgekommen waren; von den Bullaugen des Flugzeugs aus gesehen, hatte die Landschaft etwas Vertrautes. Man sah zwar Kokospalmen, Kakteen und Kaffeepflanzungen. Doch der Hafen da hinten war Pearl Harbor, die kleinen weißen Flecke auf der Mole, an die die Wellen Schaumfächer warfen, waren Schilder der US-Army mit der Aufschrift: »Keep out«. Und die Bungalows mit den hollywoodwürdigen Schwimmbädern, die Parkplätze voll langer Autos in verrückten Farben, die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika, die über der Piste von Honolulu wehte, das alles erinnerte uns daran, daß Hawaii der fünfzigste Staat Amerikas ist und daß der Kreis unserer Reise sich zu schließen begann. Die Frauen, die vor vielen hundert Jahren diese grünen Brösel in der großen weiten See bewohnten, waren Frauen einer unberührten, sündenlosen Rasse. Sie kannten weder Tabus noch Krankheiten, sie gingen nackt in der Son217
ne und boten reinen Augen den Anblick ihrer gebräunten Körper, ihrer festen Brüste, ihrer stolzen Gesichter mit den großen runden Augen, ihrer Haare, die schwärzer sind als die Nacht. Dann aber waren Forschungsreisende wie James Cook gekommen, die protestantischen Missionare und die Abenteurer, die Land stehlen und ein Stück Papier dafür geben, Leute aus allen Ländern. Und nun gingen die Frauen, zu denen wir kamen, nicht mehr nackt in der Sonne. Sie trugen eine Art Nachthemd, das muumuu heißt, am Halse und an den Handgelenken geschlossen, lang bis auf die Füße und so weit, daß es die Formen völlig verhüllte, wie die Frauen der Missionare es ihnen samt dem Begriff der Sünde und der göttlichen Strafe aufgenötigt hatten. Sie gehörten nicht mehr einer unberührten Rasse an. Sie wiesen alle möglichen Hautnuancen, Haarfarben, Augenformen auf, denn nur 16,3 der Hawaiianerinnen sind polynesischer Abstammung. 39,9 sind Japanerinnen, 12,2 Filipinos, 6,5 Chinesinnen, 1,9 Portorikanerinnen, 1,4 Koreanerinnen, 23,4 gehören der kaukasischen Rasse an, d. h. sind Engländerinnen, Französinnen, Portugiesinnen, Schwedinnen, Spanierinnen, Deutsche, Italienerinnen, wie die Seeleute und die Abenteurer eben, die von ihren Urgroßmüttern Besitz ergriffen hatten. Ihre Verwandten sind bis in die hintersten Winkel der Erde verstreut. So kommt es, daß man bei den Schönheitskonkurrenzen in Hawaii nicht nur eine Miß wählen kann: man muß vielmehr deren sieben wählen, eine pro Rasse und dazu eine kosmopolitische. Das stand in dem Prospekt, den mir die Stewardeß gegeben hatte, und es war die einzige genaue Angabe über die Hawaiianerinnen, die im übrigen als die verfüh218
rerischsten weiblichen Wesen der Welt angepriesen wurden, als fröhlich und mit einer Hibiskusblüte über dem Ohr, dem banalen Bilde entsprechend, das die Filme mit Dorothy Lamour und die verbuhlten Südseegeschichten geschaffen haben. Ich gab diese wichtige Information an Duilio weiter, der sie erfreut zur Kenntnis nahm und zufrieden meinte: »Das wenigstens ist einmal ein richtiges Land.« In einem platinfarbenen Licht betraten wir den Boden, und es war, als ginge man in die Ferien. Das sagte ja auch die Aufschrift aus natürlichen Blüten: »Willkommen im Ferienparadies Hawaii.« Alles sah so sorglos und herzlich aus. Beim Ausgang des Flughafens erwartete uns der Vertreter des Hawaian Visitors Bureau, ein Symbol der organisatorischen Tüchtigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Er nannte sich Big Bill und war ein dunkler, riesenhafter Polynesier mit einem riesenhaften rosa und orange geblümten Hemd und einem riesenhaften Automobil mit zwölf unnötigen Plätzen. Er rief: »Aloha, Leute!« und legte uns sogleich eine Blumenkette um den Hals, deren Duft ein einschläferndes Kopfweh hervorrief, dann erklärte er uns, daß wir infolge der Zeitverschiebung einen Tag unseres Lebens gewonnen hätten, wie Phileas Fogg. Überzeugt von unserer Unwissenheit, erklärte er uns sogar noch, daß diese Insel, auf der wir soeben gelandet waren, nicht Hawaii war, die dem Archipel nur den Namen gibt, weil sie die größte ist. Diese hier war Ohau, und Honolulu war die Hauptstadt von Ohau. Die andern Inseln hießen Kauai, Niihau, Molokai, Maui und so weiter. Er war in Kauai geboren und war Fischer, aber nach Pearl Harbor hatte er die Fischerei aufgegeben 219
und war nach Honolulu gekommen, wo er Englisch lernte. Damals war Honolulu ein großes Dorf mit Holzhäusern, und die Bucht von Waikiki war rot, denn die Wellen trugen tonnenweise zerbröckelte Korallen heran, und Schwimmbäder gab es noch keine. Dann hatten die von der Armee ein Schwimmbad für die Soldaten gebaut, nachher einen Wolkenkratzer für die Soldaten, dann waren die Soldaten nach Hause gegangen und hatten erzählt, Honolulu sei schön, und die Leute hatten angefangen, herzukommen – und hatten Honolulu kaputtgemacht. Die Korallen der Bucht von Waikiki verletzten die Füße der Leute, die dorthin kamen, um sonnenbraun zu werden, deshalb hatten sie viele Lastwagen weichen Sandes hergebracht, um die Korallen zuzudecken, und jetzt war der Strand grau. Ob wir uns Honolulu so vorgestellt hätten? Eigentlich nicht. Man glaubte, in Miami, Florida, oder in Long Beach, Kalifornien, zu sein. Big Bill fuhr eine schimmernde Asphaltstraße entlang, und von den Reklametafeln lächelte uns Rechtsanwalt Herbert C. Cornuelle entgegen, der Präsident der Pineapple Company, gekrönt von einem Büschel Ananas aus Plastik, so groß wie die Kuppel einer Kathedrale. Widerliche Millionäre im Hawaiihemd, begleitet von widerlichen Millionärinnen im muumuu, photographierten sich selbst und die Plastikananas. Auf Schritt und Tritt wurde man von den Lichtreklamen der Motels, Snack-Bars und Hotels geblendet. Die Bucht von Waikiki wimmelte von Touristen im Badekostüm, nicht anders als Coney Island im August. Bis vor zwanzig Jahren, sagte Big Bill, sicherten Ananas, Zuckerrohr und Kaffee dem Archipel seinen Reichtum; jetzt war die Fremdenindustrie 220
die stärkste Industrie hier. Jedes Jahr kamen hundertfünfzigtausend Touristen nach Hawaii, was einen Gewinn von neunzig Millionen Dollars ausmachte. Einzig die Orchideen machen dem Tourismus noch Konkurrenz. Jedes Jahr importieren die Vereinigten Staaten fünfzig Millionen Orchideen. Natürlich genügen die nicht mehr, die von selber im Dschungel wachsen, und im übrigen ist ja auch nur noch wenig Dschungel übriggeblieben. So werden denn die Orchideen auf den Feldern angebaut wie Kartoffeln und Erbsen, und die Orchideen für die Blumenhalsketten werden gar nicht erst mit den Stielen gepflückt. Die Pflückerinnen, die im Akkord arbeiten, rupfen einfach die Blüten ab und werfen sie in Aluminiumbehälter, als wären es wirklich Kartoffeln oder Erbsen. Big Bill schüttelte resigniert den großen Schädel, während er erzählte, und inzwischen betrachtete ich mir diese Frauen im muumuu, der, wenn er in der Taille zusammengefaßt und am Hals ausgeschnitten ist, holumuu, wenn er keine Ärmel, aber einen Stehkragen wie der Cheong-sam hat, pakemuu heißt, so oder so aber das dümmste und häßlichste Kleid bleibt, das es auf der Welt gibt, unbequem überdies, weil es die Beine behindert und man überhaupt nicht verstehen kann, wie moderne Frauen das noch tragen. Wären dieses dumme, häßliche Kleid und die Statistik im Prospekt nicht gewesen, so hätte ich ganz gewiß nicht geglaubt, daß das echte Hawaiianerinnen seien: eine hatte ein gelbes, eine andere ein weißes, wieder eine andere ein dunkles Gesicht. Ich bemerkte das Big Bill gegenüber, der tief aufseufzte: »Siehst du, Leute. Früher strotzte dieses Meer von Fischen. Heute hat es keine mehr. Wo 221
sind die Fische hingegangen, frage ich mich. Früher flatterte dieser Himmel von Vögeln. Heute gibt es keine mehr. Wo sind die Vögel hingegangen, frage ich mich. Echte hawaiianische Frauen gibt es keine mehr, so wenig wie Fische und Vögel.« »Warum, Big Bill?« »Ich weiß nicht, es liegt nicht nur an der Rasse. Die Tatsache, daß sich bei uns alles vermischt hat, ist an sich sympathisch. Segregationismus ist bei uns unbekannt. Aber es liegt an der Lebensart. Früher waren sie fröhlich, gaben sich hin ohne Scham, brachten Kinder zur Welt, ohne verheiratet zu sein, und das war ein großer Vorzug, denn nur so wußte ein Mann, daß er eine fruchtbare Frau heiratete. Sie waren fügsam und wußten nichts von Eifersucht. Heute sind sie melancholisch, und du darfst sie kaum berühren, nicht einmal, wenn der Pfarrer die Erlaubnis gibt. Sie behandeln den Ehemann wie einen Sklaven, wegen jeder Kleinigkeit drohen sie mit Scheidung. Und dann zwingen sie einen noch zum Diäthalten, nur weil das in Amerika üblich ist. Sieh mich an, ich hatte hundertsiebzig Kilo, als diese Hexe von einem Weib mir das Biertrinken verbot; eine Kiste Bier trank ich im Tag. Jetzt wiege ich noch hundertzehn Kilo, und das Leben macht mir keinen Spaß mehr. Auch unsern Frauen, weißt du, macht das Leben keinen Spaß mehr. Auch den Fischen und den Vögeln nicht, und darum sind sie wohl von hier fortgegangen.« Ja, sie sind wirklich fortgegangen, samt den Frauen, die Stevenson und die Reisenden des neunzehnten Jahrhunderts uns so begeistert beschrieben. Und seit auf dem Thron von Gold undd Samt im Jolanipalast, auf dem Kö222
nigin Emma mit König Kamahamea regierte, ein Gouverneur im grauen Zweireiher sitzt, der mit unerträglichem Yankeeakzent spricht, ist alle Hoff nung, sie wiederzufinden, dahin. Nachmittags besuchten wir das »Hawaiianerdorf«, das die Behörden im Herzen der Stadt unter den gleichen Gesichtspunkten wie Disneyland errichtet haben. Man hatte uns gesagt, dort wären noch Mädchen zu sehen, die im Blätterröckchen Hula-Hula tanzen. Aber das einzige, was wir fanden, war die »Hula Camera Show«, organisiert von der Firma Kodak für alle, die nach dem Kauf von Kodakfilmen die Mädchen photographieren wollten, sowie eine Gratis-Hula-Lektion, geboten von einer Kosmetikfirma. Die Lektion wurde auf einer Bühne im Freien abgehalten. Es gab da ein Grammophon, das eine schmachtende Weise spielte, weiter eine kleine Braune im Nylonröckchen. Die kleine Braune schüttelte ihre Hüften und lud die Touristinnen ein heraufzukommen. Die eine oder andere ging tatsächlich hinauf, und das waren fast durchwegs alte Amerikanerinnen mit violettem Haar, die Büsten in elastische Panzer gezwängt – ein peinliches Schauspiel. Auf derselben Bühne wurde abends neun Uhr ein öffentlicher Hulawettbewerb durchgeführt, wobei die Teilnehmerinnen die Nylonröckchen mit zehn Prozent Rabatt erwerben konnten. Viele zogen es vor, ein Nachtlokal aufzusuchen, wo die Tänzerinnen wenigstens ausgebildet waren. Auch wir entschieden uns für das Nachtlokal, das genauso aussah wie jeder andere amerikanische Night Club, die Tänzerinnen waren biedere Mädchen, die an der Universität von Honolulu Bakteriologie oder Mathematik studierten und auf diese Weise ihr Studium finanzierten. Die meisten 223
waren gar keine Hawaiianerinnen, sondern kamen aus San Francisco, Los Angeles oder gar Tahiti. Nicht einmal die Bedeutung der Tanzbewegungen, die sie im übrigen höchst gelangweilt und nachlässig ausführten, war ihnen bekannt. Die einzige echte Hawaiianerin, die ich in Honolulu auftreiben könne, sagte Big Bill, war zweiundsiebzig Jahre alt und wohnte im Museum. Sie hieß Mary Kawena Pukui. Sie vervollständigte im Museum das einzige polynesischenglische Wörterbuch, das es gibt. Es war ein bißchen komisch, so viele Zehntausende von Kilometern zurückgelegt zu haben, um eine alte Frau im Museum aufzusuchen. Jedenfalls gingen wir früh am nächsten Vormittag hin. Wir lösten Eintrittskarten, um in den Saal zu gelangen, in dem sich alles befindet, was von einem verlorenen Paradies übriggeblieben ist. In der Mitte des Saales stand eine Holzhütte mit einer hölzernen Polynesierin, die uns aus gläsernen Augen anstarrte, und einem lebenden Mädchen, das für die Zuschauer Palmblätter zu einer Matte flocht, die es sogleich wieder auflöste, um von neuem zu beginnen. An der Decke war ein in der Mitte entzweigehauener Walfisch aufgehängt, den ein Führer als Moby Dick bezeichnete. Der Walfisch sah aus wie aus Gips und stank nach Medizin. Der Führer erklärte, ein Arzt des Amtes für Hygiene gebe ihm jeden Tag eine Formalinspritze, um ihn der Nachwelt so lange wie möglich in seinem natürlichen Zustand zu erhalten. Derselbe Medizinalgestank stieg aus den Glasgefäßen auf, in denen hawaiianische Fische, hawaiianische Fliegen, hawaiianische Schlangen aufbewahrt sind, ja sogar das Herz eines Hawaiianers, das kein bißchen anders aussieht als irgendein 224
beliebiges Herz, nur vielleicht etwas größer. Dann gab es da noch die Wachsfiguren der hawaiianischen Königinnen, drei oder vier aus Loastämmen geschnittene Kanus, aber selbst die stanken nach Medizin – als hätte man hier das Leben und den Tod in Spiritus gelegt. An den Wänden hingen die Photographien der Missionare und Missionarinnen, die viele Jahre lang ganz allein sich Opfern und Unbilden aller Art aussetzten zu dem einzigen Zweck, eine reine und glückliche Welt in ein übelriechendes Museum zu verwandeln. Die Männer hatten blutlose Gesichter, steife Kragen, wichtigtuerische Schnurrbarte wie Hiram Bingham oder weiße Bärte und grausame Nasen wie Asa Thurston. Die Frauen hatten eisige Augen, hämische Münder, straffgeknotetes Haar wie Laura Judd, die Erfinderin des muumuu. Der Führer erläuterte, daß es ihnen zu verdanken sei, wenn die Hawaiianerinnen heute allseits Achtung genießen; ehe Laura Judd und Hiram Bingham und Asa Thurston mit hocherhobenen Bibeln hier an Land gingen, führten die Hawaiianerinnen ein schamloses, unmoralisches Leben. Einmal im Jahr nahmen sie an einem unzüchtigen Bankett teil, genannt Bankett der Freiheit, in dessen Verlauf Frauen und Männer untereinander ausgetauscht wurden; wenn ein Reisender in einem Haus zu Gast war, überließ ihm der Mann seine Gattin als Zeichen der Gastfreundschaft. Da waren auch die Photographien von James Cook, dem Mann, der Hawaii entdeckte und 1779 diese Entdeckung mit dem Leben bezahlte, als er in einer Schlacht gegen die Eingeborenen getötet wurde. Und schließlich waren da noch die Bilder der europäischen Abenteurer, denen 225
es nach Cooks Tod gelang, fast die ganzen Inseln aufzukaufen. Sie kauften sie um eine Flasche Rum oder um ein Boot. Und die Eingeborenen gaben sie her und sagten: Wie dumm die Weißen sind! Wie kann man die Erde kaufen, die unter unseren Füßen liegt, die man nicht wie eine Flasche Rum oder ein Boot wegtragen kann? Sie akzeptierten also den Vertrag ohne Argwohn, und eines Tages nahmen die Weißen die Erde in Besitz, indem sie auf ihre Verträge pochten, und viele Eingeborene verloren vor Kummer den Verstand. Andere wurden krank. Die neuen Herren brachten nebst ihrer Schlauheit auch die Tuberkel- und Syphilisbazillen mit, die Frauen vor allem wurden in jenen Jahren dezimiert. Die Erzählung, die der Führer mit gelangweilter Stimme vortrug, verstärkte noch den Todesgeruch. Vielleicht kam mir deshalb Mary Kawena Pukui, die letzte Hawaiianerin von Honolulu, wie das einzige lebende Wesen vor. Sie erwartete uns in ihrem Studierzimmer, schwarz und gigantisch wie Big Bill, von einem grün und gelben muumuu nur wenig gezähmt, mit einer großen Hibiskusblüte, die sie wie einen Hut auf die silberweißen Haare gelegt hatte, und einem breiten Lächeln um den sanften, zahnlosen Mund. Von ihrem Vater, einem Weißen aus Massachusetts, der sich vor vielen Jahren auf einem Hügel der Insel Hawaii niedergelassen hatte, um dort zu leben, hatte sie wahrhaftig nichts geerbt. Sie tanzte Hula zu meiner Begrüßung, und es gelang ihr nicht einmal, durch das Schwenken dieses Riesenkolosses von einem Körper komisch zu wirken; denn bei ihr wurde dieser Tanz wieder zum Gebet. »Das heißt: ich liebe dich«, sagte sie und kreuzte die Arme über 226
der Brust, indem sie lebhaft die Finger bewegte. »Das heißt Kind«, sagte sie und wiegte die Arme, als wollte sie darin ein Kind zum Schlummern bringen. »Das heißt Baum«, sagte sie und streckte sich ganz dem Himmel entgegen. Das hier, das war Hula – nicht das widerwärtige Hüftewackeln, das ich im »Hawaiianerdorf« gesehen hatte, sondern eine weibliche und phantastische Sprache, die mit Gesten eine Geschichte erzählte, begleitet von einer langsamen Musik. »Sie haben an die Stelle der Bäume Wolkenkratzer gebaut, sie haben das Hula umgebracht, sie haben unsere Sprache zerstört«, sagte Mary Kawena Pukui. »Auf hawaiianisch heißen die Kinder Blumen, Wut ist das Meer im Sturm, Regen ist die Frische der Blütenblätter, aber diese Dummköpfe sagen lieber children, anger und rain.« Sie schlug mit der Faust auf den Bücherstoß. »Was nützt es, daß ich, in dieses Museum geborgen, Bücher schreibe? Was nützt es, daß ich ein menschliches Herz und einen halben Walfisch in Spiritus aufbewahren lasse? Nachts träume ich von der Zeit, als ich ein Kind war und in den Bergen lebte, meine Mutter auf die Jagd ging und mein Vater den Luan zubereitete. Einmal im Jahr liebten wir uns alle, wenn wir Machahichi feierten, und die schönsten Kinder wurden nach dem Machahichi geboren. Heute ist Machahichi ein Schimpfwort, wer es ausspricht, bekommt eine Buße. Warum? Für mich ist Fortschritt ein Schimpfwort, und das, was ihr Emanzipation nennt. Die Männer achteten uns damals. Heute fürchten sie uns. Sie liebten uns damals. Heute dulden sie uns. Wir waren alle gleich, Männer und Frauen, mit den gleichen Rechten und Pflichten. Heute sind wir vor lauter Predigten über Gleichberech227
tigung verschieden. Oh, ich weiß, was Sie suchen, Kind. Aber Sie werden es nicht finden. Sie werden sympathische Frauen finden, sympathischer vielleicht als die, die sie bis jetzt fanden. Sie werden moderne Frauen finden, modernere als Sie je irgendwo angetroffen haben. Aber freie und glückliche Frauen werden Sie nicht finden, denn die gibt es nicht mehr.« Natürlich glaubte ich Mary Kawena Pukui nicht. Die Leute, dachte ich, machen es ja immer so: Sie weinen der Vergangenheit nach, als wäre die Vergangenheit gleichbedeutend mit dem Begriff des Guten, und hassen die Gegenwart, als wäre sie gleichbedeutend mit dem Begriff des Schlechten; sie übersehen dabei geflissentlich, daß sie es in der Vergangenheit genau gleich machten. Jawohl, dieses Gejammer war töricht, und im übrigen sagte Big Bill, ich müßte Geduld haben; wir würden die Inseln durchstreifen müssen, um die echten hawaiianischen Frauen zu finden. Auf den andern Inseln sei auch nicht alles tot. Also machten wir uns auf den Weg, die Inseln zu durchstreifen. Es ist nur eine halbe Stunde mit dem Flugzeug von Ohau nach Kauai; Big Bill entschloß sich daher, in Kauai zu beginnen, wo der Dschungel bis an den von Lava geschwärzten Strand reicht und Wasserfälle von grüntapezierten Bergen stürzen und wo die Orchideen so fett sind, daß, wenn man ein Blatt bricht, eine gelatineartige Flüssigkeit herausquillt. In Kauai lebte Bernice Laniuma Hundley, genannt Tante Bernice. Ehemalige Gesellschafterin der Königin Emma, letzte Prinzessin des Archipels – das Hawaian Visitors Bureau führte sie an wie ein Monument oder eine kulinarische Spezialität. Sie war neunzig Jahre alt und wohnte in 228
einem weißen Holzhaus auf der Hügelkuppe, nicht in einem Museum. Und darum war ich hier bei Tante Bernice, die in einem Schaukelstuhl auf der Terrasse saß, den mageren Körper vom üblichen muumuu umhüllt. Sie glich indessen nicht einer Figur von Stevenson, man hätte sie eher für die Heldin einer Cowboyballade halten können. »Oh, Italien, Italien«, sagte Tante Bernice und durchstöberte ihr trübe gewordenes Gedächtnis nach der Erinnerung an ein Land dieses Namens, und wie ich sie so anschaute, kam mir Clelia Garibaldi in den Sinn: als ich sie in Caprera aufsuchte und niemand auf der Insel war als sie, zwei Hirten und die Schafe, und das Grab ihres Vaters; eines Tages aber waren die Touristen gekommen und hatten den Pinienwald und den Strand überflutet, und ihr hatte das solchen Kummer bereitet, daß ihr Geist allen Glanz verlor. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Greisinnen war, daß hinter Clelia Garibaldi eine müde, zentralheizungserwärmte Rasse stand, hinter Tante Bernice aber eine muntere, von der Sonne genährte Rasse. In der Tat wurde sie fast sofort hellwach. »Wie geht’s den Bersaglieri?« »Danke, gut«, antwortete ich. »Und wie geht’s Ihnen?« »Ich mache mir Sorgen wegen des Taifuns. Seit Jahren bete ich darum, daß er den Flughafen zusammenschmeißt; statt dessen kommt er nun und deckt mir das Dach ab.« »Und warum sollte der Taifun den Flughafen zusammenschmeißen?« »Damit nicht Leute wie Sie herkommen und meinen Frieden stören. Ich bin keine Rarität, die man den Fremden zeigt wie Moby Dick.« 229
»Verzeihen Sie«, murmelte ich und stand auf, um zu gehen. »Seien Sie nicht albern«, sagte Tante Bernice und warf mich mit einem kräftigen Stoß in den Sessel zurück. »Da Sie schon einmal da sind, können Sie ebensogut bleiben. Was wollen Sie von mir?« Ich sagte es ihr, während meine Verlegenheit wuchs. »Dummheiten. Sie hätten geradesogut direkt nach New York reisen können. Aber Sie sind so einfältig, daß mich die Lust ankommt, Ihnen zu helfen. Ich werde Gladys Brandt anrufen.« »Und wer ist Gladys Brandt?« »Eine Hawaiianerin, von der Sie etwas erfahren werden. Was haben Sie davon, wenn Sie alte Mumien wie mich und Mary Kawena Pukui besuchen? Wir repräsentieren gar nichts mehr. Gehen Sie zu den Jungen, Sie kleine Idiotin.« Sie beschimpfte mich, um mir zu helfen, nicht um mich zu kränken. Im übrigen sind die alten Hawaiianerinnen so, wie Big Bill sagte: verrückt, frech und zügellos. Wenn sie Lust haben, zu schimpfen, schimpfen sie. Wenn sie Lust haben, zu lachen, lachen sie. Doch sie sind gut und großzügig wie wenige andere. Wir verließen also Tante Bernice, die rauh hinter uns herlachte, und nahmen diese absurde Pilgerfahrt wieder auf, die uns je länger je mehr unbefriedigt ließ. Gladys Brandt leitete die Schule von Liihau. Sie war eine schöne Frau im Schneiderkleid, mit der etwas stumpfen Nase, die ihrer Rasse eigen ist, starken, sehr weißen Zähnen und einem professionellen Blick hinter den Brillengläsern. Trotz ihrem europäischen Namen, den irgendein Missio230
nar einem ihrer Ahnen geschenkt hatte, floß kein Tropfen fremdes Blut in ihrem großen, kräftigen Körper, und bis zu ihrem sechzehnten Jahr hatte sie im Dschungel gelebt, mit einem Ehemann zusammen, den sie mit vierzehn heiratete. Jetzt war sie achtunddreißig und schon Großmutter; während all dieser Zeit hatten viele Dinge sie gewandelt. Sie hatte den Dschungel verlassen, war in die Stadt gekommen, hatte studiert, war ins Schneiderkleid geschlüpft. Sie stand dem Roten Kreuz von Kauai vor, sie war von der »Gesellschaft zur wirtschaftlichen Entwicklung Hawaiis« zur Geschäftsfrau des Jahres ernannt worden. Das brauche mich allerdings nicht zu erstaunen, erklärte sie: in der hawaiianischen Gesellschaft hätten die Frauen seit jeher völlige Gleichberechtigung genossen, auch war die Monarchie sowohl in der männlichen als in der weiblichen Nachfolge erblich. Was ihre Schule anbelangt, so war es eine ganz gewöhnliche amerikanische Schule, mit der Flagge der Vereinigten Staaten am Mast. Wenn ich die Schülerinnen auf den schönsten Plätzen der Insel photographieren wolle, sagte sie, würde sie sich sehr freuen, weil das dem Tourismus diene. Wir wählten die Schülerinnen aus, die den Sarong anziehen sollten, weil nach der behördlichen Vorschrift, die vom Hawaian Visitors Bureau ausgeht, die Mädchen von Kauai sich stets im Sarong photographieren lassen müssen. Daß kein Mensch in Hawaii überhaupt den Sarong trägt, spielt ja keine Rolle, die Leute erwarten nun einmal, sie im Sarong zu sehen. Dann nahmen wir sie zum Essen ins Coconut Palms mit, das Hotel der steinreichsten Millionäre Amerikas, und das machte sie glücklich, denn im Coco231
nut Palms hatte Rossano Brazzi gewohnt, als er in Kauai den Film ›South Pacific‹ drehte. Sie wollten das Zimmer anschauen, in dem Rossano Brazzi geschlafen hatte, und ob ich diesen Verführer wirklich und wahrhaftig kenne? Gott, welch ein Glück! Ich war wirklich und wahrhaftig in Hollywood gewesen? Ah, welche Wonne! Sie waren nie in Amerika gewesen, doch jede träumte davon, dorthin zu gehen, um Karriere zu machen. Die kühnsten träumten sogar davon, sich in Paris niederzulassen und Sartre kennenzulernen. Sie sprachen ganz ungezwungen über Existentialismus, und ebenso ungezwungen posierten sie für Duilio, der sich in dieser Schar vergnügt wie ein Gockel im Hühnerhof bewegte. Sie hatten anmutige Gesichter, zierliche Körper, vom Coiffeur frisch frisierte Haare und glichen den beiden Greisinnen von vorher nicht im geringsten. Priscilla war indischer Abstammung und wirkte wie eine Inderin. Betty Lou war chinesischer Abstammung und wirkte wie eine Chinesin. Florence war schwarzer Abstammung und wirkte wie eine Negerin. Jane war portugiesischer Abstammung und wirkte wie eine Portugiesin. Mir wurde jetzt auch klar, warum mich Tante Bernice zu Gladys Brandt geschickt hatte: damit Gladys Brandt mich mit diesen Mädchen reden lasse, die identisch waren mit allen jungen Amerikanerinnen der andern neunundvierzig Staaten von Amerika und mir nichts zu sagen hatten. Als wir an den Strand gingen und dort eine polynesische Fischerin trafen, die mit Big Bill befreundet war, fingen sie an, sich über diese lustig zu machen. Die Fischerin hatte stämmige Beine und eine männliche Figur, wie die Holzstatuen im Museum von Honolulu. Sie sagte »Rosenblütenblätter« 232
statt Regen und »Meer im Sturm« statt Wut. Sie hatte nie Englisch lernen wollen, und das einzige englische Wort, das sie kannte, war ihr eigener Name: Lucy Maikai. »Arme Lucy«, sagte Big Bill. »Ihr ist es schnuppe, wenn diese Gänse sie auslachen, aber schlimm ist, daß sogar ihre eigenen Töchter sie auslachen. Sie verzeihen es ihr nicht, daß sie ihr eigenes Leben immer noch weiterführt, und sind alle beide nach Amerika ausgerissen: eine ist Lehrerin in Texas, die andere Krankenpflegerin in San Francisco. Nur noch die Photographien von ihnen sind ihr geblieben. Einmal habe ich sie dabei überrascht, wie sie sie betrachtete und weinte. Aloha, Lucy Maikai.« »Aloha, Big Bill. Haole wainiki?« gab sie zurück und wollte damit wissen, ob ich eine Weiße sei, was bei ihr dasselbe ist wie Ausländerin. »Haole wainiki«, sagte Big Bill. »Uh!« kommentierte Lucy Maikai verächtlich und wandte sich einem alten verrotteten Automobil zu. »Sie wird doch nicht mit dem Auto zum Fischen fahren?« rief ich Bill enttäuscht zu. »Natürlich«, antwortete Big Bill. Nein, auch in Kauai würde ich nicht finden, was ich suchte. So schaute ich Lucy Maikai nach, die sich mit ihrem rostigen Automobil entfernte, und kündigte Big Bill an, morgen würden wir nach Kona auf der Insel Hawaii gehen. In Kona erwarteten mich drei echte Hawaiianerinnen: Sadie Seymour, Fanny Kanaihao Martinson und Irma Hind Lillie. Sie waren zwischen vierzig und fünfzig, trugen den muumuu und waren sehr gastfreundlich. Sadie hatte eine Unmenge Lachsbrötchen für ein Picknick 233
am Strande bereitgemacht, und Fanny hatte den Jeep herausgenommen, um uns auf der Insel spazieren zu führen. Sie hatten nicht begriffen, warum wir herkamen, sie glaubten, wir wollten die Insel kennenlernen. Sie führten uns denn auch die längste Zeit durch die Felder, wo der Kaffee wächst, zeigten uns den hölzernen Palast einer ehemaligen Königin, ließen sich unter einem Lauhala photographieren, einem riesigen Baum mit Blättern, die die Farbe des Himmels haben, sie schenkten uns viele hübsche Halsketten aus Muscheln und Bohnen. Als wir aber erklärten, was wir hier suchten, schienen sie recht erstaunt und sagten, sie fühlten sich keineswegs verschieden von den andern Amerikanerinnen der Provinz. Der einzige Unterschied bestände vielleicht darin, daß sie besser lachen konnten und auch mehr lachten: auf dem großen Kontinent machten alle ein so besorgtes Gesicht, vielleicht weil das Klima so schlecht sei. Aber sie, wie lebten denn sie? Ooch, nichts Besonderes: Irma züchtete Schweine, Fanny Pferde, Sadie pflanzte Kaffee. Und verheiratet waren sie nicht? Nein, sie waren alle drei geschieden; die Männer von heute seien zu kompliziert, man könne ebensogut allein bleiben. Im übrigen lebten viele Frauen auf der Insel allein: Hawaii ist das größte Zentrum alleinstehender Frauen Amerikas. Irgend etwas ist nicht in Ordnung, seit Jahren wandern viel zu viele Männer aus. »Und warum wandern sie aus, Fanny? Die Erde ist doch reich hier. Und das Klima ist mild. Auf jeden Fall könntet ihr mit ihnen auswandern.« Fanny rümpfte die große braune Nase und warf Irma 234
und Sadie einen Blick zu, als fragte sie: »Sollen wir’s der da sagen?« »Meiner ging, weil er behauptete, ich sei nicht mehr auszuhalten und alle Frauen dieses verwünschten Archipels seien nicht mehr auszuhalten«, antwortete Irma mit einer Grimasse. »Meiner auch«, sagte Fanny. »Meiner auch«, sagte Sadie. »Und stimmt es denn?« fragte ich. »Ach nein«, murmelte Sadie. »Natürlich sind wir etwas moderner geworden; was ist da Böses dabei? Nicht auszuhalten sind sie selber. Sie möchten von uns verlangen, daß wir zu Hause bleiben wie unsere Urgroßmütter, und abends sind sie zu müde, um sich mit uns zu beschäftigen. Sie arbeiten und arbeiten, um Karriere zu machen, von der Liebe verstehen sie nichts mehr, und so lassen wir Frauen uns schließlich scheiden. Der Fortschritt hat uns die Scheidung gebracht. Warum sollen wir nicht davon profitieren?« Ja – um dann allein zu bleiben: wie die Tausenden von Frauen, die man in Chicago und in New York sieht. Es war klar: auch in Hawaii würde ich nicht finden, was ich suchte. Ein einziger Ort blieb noch, und das war Niihau. Aber es ist verboten, dorthin zu gehen. Niihau ist die kleinste Insel des Archipels, nur 238 Einwohner reinster polynesischer Rasse leben darauf. Sie gehört Mister Aylmer Robinson, der sie von seiner Großmutter erbte, Eliza MacHutcheson Sinclair, einer Millionärin aus Boston, die sie 1864 für die schäbige Summe von zehntausend Dollar gekauft hatte. Hier, sagten mir alle, hier leben die Polynesier wie vor Hunderten von Jahren, Geldum235
lauf ist verboten, Schnaps- und Zigarettenhandel ist verboten, Schulden werden mit Muscheln bezahlt, das übliche Verkehrsmittel ist das Pferd, und zwar wird es ohne Sattel geritten. Schulen gibt’s auf Niihau nicht, so wenig wie Ärzte, Priester, Polizisten, Dirnen, Verbrecher, Gefängnisse und Krankheiten. Innerhalb von fünfzig Jahren gab es einen einzigen Fall von Magengeschwür. Es gibt auch keinen Postdienst: wer vor Ungeduld birst, einem andern eine Botschaft zu schicken, vertraut sie dem Füßchen einer zahmen Taube an. Und all das, weil Aylmer Robinson, ein übellauniger und ziemlich romantischer Alter, die 238 Polynesier von den Tücken des modernen Lebens fernhalten und ihre Rasse bewahren will. In der Tat darf kein Bewohner von Niihau die Insel ohne seine Einwilligung verlassen. Und wer sie verläßt, darf nie mehr zurückkommen. Und niemand darf nach Niihau gehen. Die einzige Möglichkeit, seinen Fuß auf die Insel zu setzen, ist Schiff bruch oder Fallschirmabsprung. Allerdings sprang während des Angriffs auf Pearl Harbor ein Japaner dort ab und wurde geschlachtet wie ein Schwein. Einmal versuchte auch ein Journalist hinzugelangen, der sich drei Tage lang im Gebüsch versteckt hielt, um zu beobachten, dann aber fanden sie ihn, und wenn Aylmer Robinson nicht gewesen wäre, hätte er sein Leben gelassen wie der Japaner. Natürlich ärgert das die amerikanische Verwaltung, und der Generalprokurator von Honolulu diskutiert seit langem darüber, ob die Regierung auf die Insel, die als Teil des Archipels auch ein Teil des fünfzigsten Staates von Amerika ist, ein Recht hat oder nicht. Von Zeit zu Zeit geht vom Weißen Haus ein Inspektionsbefehl aus. Aber dann 236
findet die Inspektion doch nicht statt: einmal wird der Inspektor krank, einmal wechselt er seinen Beruf. Aylmer Robinson ist sehr reich und weiß, wie man die Neugierigen zurückhält. Der einzige, der sich von Aylmer Robinson nicht korrumpieren ließ, war, bald nach dem Kriege, Distriktsinspektor Clifton Ashford, der in einem empörten Bericht an Eisenhower festhielt, daß kein Bewohner von Niihau je Militärdienst geleistet hatte. Eisenhower sagte, er würde sich damit befassen. Da er aber so viel zu tun hatte, vergaß er es. Natürlich wäre ich gern nach Niihau gegangen, es hatte ganz den Anschein, als wäre das die glücklichste Insel der Welt, vielleicht die einzige wirklich glückliche Insel, die auf der Welt übriggeblieben ist. Doch Aylmer Robinson hütete sich wohl, für mich eine Ausnahme zu machen, und deshalb mußte ich mich darauf beschränken, meine Kenntnisse in Honolulu zusammenzusuchen. Auf der andern Seite machte ich mich mit wahrer Begeisterung an diese Arbeit; trotz der Ablehnung fühlte ich große Sympathie für Aylmer Robinson. Seine unverstandene Romantik, seine Halsstarrigkeit gefielen mir. Niihau, dessen Existenz allein schon genügte, diese dumme Hawaii-Reiseetappe zu rechtfertigen, gefiel mir. Ich konnte mir die Frauen von Niihau ohne weiteres vorstellen: frei, ohne Komplexe, glücklich. Frauen, die nichts von Sklaverei und Emanzipation, von Demütigung und Überheblichkeit wissen – sie gaben mir die Antwort, der ich lange und um die halbe Erde herum nachgejagt war. Kaum war ich von Kona zurück, ging ich zu jenem Journalisten, der damals seine Haut riskiert hatte, dann ging ich zu Distriktsinspektor Clifton Ashton, 237
dann ging ich in die Archive der Tageszeitungen von Honolulu. Was ich jedoch fand, war dies: Erstens einmal laufen die 238 Bewohner reinster polynesischer Rasse in Blue jeans oder im muumuu herum: und es ist Aylmer Robinson, der sie ihnen liefert, auf daß seine puritanischen Augen nicht durch schamlose Nacktheiten beleidigt werden. Dann gibt es doch Schulen. Rudimentäre zwar, aber immerhin. Und es wird dort den Schülern Englisch beigebracht. Die Brieftauben sind ein Scherz: einmal in der Woche schickt Aylmer Robinson ein kleines Schiff nach Niihau, und das lädt Büchsensardinen, Fruchtsäfte und Zeitungen wie ›Time‹ und ›Newsweek‹ aus. Was die Frauen anbelangt, so sind sie lediglich ein bißchen ärmer und unwissender als Lucy Maikai. Jedenfalls haben sie von Aylmer Robinson eine Küchenbatterie erbeten, er hat sie ihnen auch gegeben, und jetzt waschen sie damit ihre Wäsche: aus einem Kübel haben sie eine Art Waschmaschine gebastelt. Wenn sie die Küchenbatterie nicht gerade zum Waschen brauchen, benützen sie sie zum Radiohören. Es stimmt zwar, daß einer, der von Niihau fortgeht, nicht mehr zurückkommen darf. Aber es stimmt auch, daß die meisten darauf pfeifen und fortgehen, um in Kauai das große Abenteuer zu wagen. Die Männer suchen Stellen als Kellner, die Frauen als Arbeiterinnen in den Ananaskonservenfabriken. Im übrigen macht Aylmer Robinson doch auch die eine oder andere großzügige Ausnahme: Wenn eine Frau schwanger ist, läßt er sie nach Kauai fahren und ein Spital aufsuchen. Fast alle schwangeren Frauen kommen zur Entbindung nach Kauai, weil es sich herumgesprochen hat, daß hier die schmerzlose Geburt praktiziert wird. Sie wa238
ren einmal starke Frauen, die Polynesierinnen. Sie brachten ihre Kinder ganz allein zur Welt, im Walde, und tags darauf tanzten sie Hula, um dem Herrn oder auch ihren Göttern zu danken. Heute jedoch ziehen sie die schmerzlose Entbindung vor. Als ich ins Hotel zurückkam, war mir unwiderstehlich zum Lachen zu Mute. Die Sonne, heiß wie im Sommer, ließ mich sogar das Seidenkleid als warm empfinden. Die Palmen, ohne ein Staubkörnchen auf den Blättern, streichelten das Dach des Ala Moana Hotels. Die Wellen, die sich an den Lavafelsen brachen, sangen eine angenehme Weise. Zu etwas war diese Etappe unserer Reise trotz allem doch nütze gewesen: den schönsten Ferienort der Welt zu sehen. In meinem Zimmer gab es eine Klimaanlage, der Kühlschrank war voll frischer Getränke. Ich trank einen Ananassaft aus der Büchse und schrieb einen Dankbrief an Irma, Sadie und Fanny, während ich mir das fröhliche Geschrei vorstellte, in das sie bei dessen Empfang ausbrechen würden. Sie waren reizend, Irma, Sadie und Fanny. Sie besaßen eine Offenherzigkeit, die jeder andern Frau jedes andern Landes fehlte. Und doch ließ sich unschwer erraten, daß es nur eine Frage von Jahren, bestenfalls Jahrzehnten war, bis die Sadies, die Irmas und Fannys der nächsten Generation auch diesen Vorzug vor andern Frauen eingebüßt haben werden. Sie werden dann genauso albern und ehrgeizig sein wie die Schülerinnen von Gladys Brandt. Nun rief ich Duilio, der seine Jagd nach einem Mädchen endgültig aufgegeben hatte, und wir entschlossen uns, im Willow’s zu essen, dem berühmtesten hawaiianischen Restaurant von Ohau; es gehört 239
Kathleen Perry, der Tochter jener Emma Kaleionamoku Ai Austen, die 1959 zur amerikanischen Mutter des Jahres gewählt worden war. Emma war eine liebe alte Polynesierin, die vor dem Krieg noch in einer Hütte gewohnt hatte. Bei einer Bombardierung war die Hütte abgebrannt, und Kathleen hatte an deren Stelle dieses Restaurant in nachgemachtem hawaiianischem Stil erbaut, mit Baumstämmen an den Wänden und Fackeln als Tischbeleuchtung. An diesem Abend hatte. Kathleen ein Luau organisiert; man kauerte also zum Essen auf dem Boden, ohne Löffel oder Gabel. Das zwischen glühendheißen Steinen gebratene Schweinefleisch wurde auf Bananenblättern serviert, genau wie in den Musikfilmen, deren Handlung in der Südsee spielt, damit der Matrose sich in eine Eingeborene verlieben kann. Die Touristen waren davon entzückt, sie lachten wie Schwachsinnige und aßen in der Aufregung das Schweinefleisch mitsamt den Hibiskusblüten ihrer Halsketten. Wir gingen deshalb sehr bald wieder weg und trösteten uns mit einem Whisky on the rocks im Nachtlokal des »Hawaiianerdorfes«, wo man auch mit den attraktivsten Mädchen und jungen Männern der Insel tanzen konnte. Mein Hawaiianer war blond und studierte Bakteriologie. Duilios Hawaiianerin war rothaarig und unterrichtete in Gymnastik. Sie waren schön wie zwei Hollywoodstatisten und verstanden es, diskret zu flirten. Mein Tänzer schenkte mir eine Gardenie. Bald aber wurden sie recht zudringlich, und da ließen wir sie sitzen. Im Dorf waren die Geschäfte noch geöffnet, obwohl es bereits Mitternacht war. Voll masochistischer Bosheit kauften wir einen dummen muumuu, ein dummes Alohahemd 240
und ein noch dümmeres Hula-Hula-Nylonröckchen. Noch ein Whisky, und wir wären auf die Bühne gestiegen, um mit den Touristinnen in violettem Haar Hula zu tanzen. Wir hatten Big Bill getroffen und sein großes, schokoladebraunes Gesicht trug einen beschämten Ausdruck. Er kratzte sich die Nase und wiegte bekümmert den Kopf, als wäre ihm eine Tante gestorben. An der Tür des Ala Moana gab er uns die Hand, die inwendig rosa war wie bei einem Neger. »Also, lebt wohl, Leute.« »Leb wohl, Big Bill.« »Es tut mir leid, Leute. Ihr seid enttäuscht, aber ich kann nichts dafür.« »Natürlich nicht, Big Bill. Du kannst gar nichts dafür. Wir sind selber schuld. Du hattest wirklich recht: die echten Hawaiianerinnen gibt’s nicht mehr, sowenig wie die Fische und die Vögel. Heute sind die Hawaiianerinnen so, wie ich sie gesehen habe. Das ist alles. Sollen wir vielleicht darüber weinen?« Wir verließen Honolulu in der Morgendämmerung. Ein gewissenhafter Zöllner durchsuchte unsere Koffer, um festzustellen, ob wir Blumenzwiebeln oder -samen bei uns hatten: Es ist verboten, sie auszuführen. Ich hatte welche, aber die fand er nicht. Schade, denn das hätte mir eine weitere Enttäuschung erspart. In Italien nämlich wurde aus diesen Blumensamen überhaupt nie etwas, einzig die Zwiebel einer riesigen, fleischigen Orchidee schlug aus – aber nur, um so etwas wie winzige Vergißmeinnicht hervorzubringen, so klein und so blaß, daß einem bei ihrem Anblick traurig ums Herz wurde. Dann riß der Zöllner mir die Gar241
denie des hawaiianischen Studenten vom Kleid: auch der Export einer Gardenie am Kleid ist verboten. Das Amt für Hygiene und Ethnologie erlaubt ausschließlich die Ausfuhr von Orchideen, die durch eine Spezialdüngung sterilisiert sind. Das Flugzeug war voller Touristen mit sterilisierten Orchideen um den Hals. Am Nachmittag trafen wir in Los Angeles ein, am folgenden Morgen waren wir in New York, dieser Metropole, wo die Frauen wie nirgends sonst das Kommando führen. In New York fand Duilio das, was er seit langem gesucht hatte: Sein Mädchen, durch ein Telegramm benachrichtigt, erwartete ihn. Sie hieß, sagen wir einmal, Laureen. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, mit blondem Haar und dem schlanken Körper der Amerikanerinnen, die Diät halten. Sie war mit umständlicher Sorgfalt geschminkt und roch nach einem Desodorans. Sie überschüttete Duilio mit einem solchen Schwall von honey, sweety, sugar, daß auch ich mir einen Augenblick lang klebrig wie ein aufgelöstes Bonbon vorkam. Sie wirkte zärtlich wie eine Japanerin, mütterlich wie eine Malayin, weiblich wie eine Inderin, demütig wie eine Muselmanin, aber gleich darauf wurde sie am Steuer ihres Wagens autoritär wie eine Amerikanerin und sagte zu Duilio, er möge still sein und keine Programme machen; die beiden Tage in New York waren von ihr bereits organisiert, und wehe ihm, wenn er daran auch nur ein Tüpfelchen änderte. Es war noch Winter in New York; vor Kälte gefroren einem die Knochen, und vielleicht gefror mir darum auch das Herz im Leibe. Laureen lenkte den Wagen mit sicherer Hand, nach zwanzig Minuten waren wir bereits mitten in Manhattan, und durch die beschlagenen Autoscheiben 242
befiel mich wie ein Kind, das nach einem aufregenden Wochenende im Lunapark ins Internat zurückkehrt, wieder ein schon ganz vergessenes Grauen. Es war das Grauen vor diesen schmutzigen Wolkenkratzern, vor diesen betäubend lärmvollen Straßen, vor diesen Männern, die laufen, laufen und dabei die Frauen nicht ansehen oder sie höchstens eines gedemütigten Blickes würdigen, vor diesen Frauen, die laufen, laufen und dabei die Männer nicht ansehen oder sie höchstens eines feindlichen Blickes würdigen. Drinnen in den Gebäuden, die tagaus, tagein von Neonleuchten erhellt sind, weil das warme Licht der Sonne nie hineingelangt, kämpften Tausende von Frauen ihren Krieg gegen die gedemütigten Männer, und sie waren stark und mächtig – und verteufelt einsam. Um Mittag, wenn die Büros sich zur Lunchpause leerten, kamen sie heraus wie ein heftiger, trauriger Gießbach und setzten sich an den Snack-Bars vor ein Hamburger mit Salat. Zwischen einem Bissen Hamburger und einem Salatblatt drehten sie sich manchmal zur Seite und sagten etwas zu einem Mann, der vor seinem Salat und seinem Hamburger saß, und in der Tiefe ihrer Pupillen zitterte eine Lüsternheit, vor der der Mann sich offenbar fürchtete, denn er antwortete nicht, oder wenn er antwortete, klappten seine Lider auf und zu. Dann standen die Frauen auf und bezahlten eilig. Eilig machten sie ein paar Einkäufe bei Macy’s, wo ein besonderer Stand gewisse hübsche Schürzen für Männer mit den Worten anpries: »Lassen Sie Ihren Mann, der Ihnen in der Küche hilft, ein Schürzchen tragen«. Eilig gingen sie in die Büros zurück, die tagaus, tagein durch Neonleuchten erhellt werden, und ringen wieder an mit diesem lächerlichen 243
Krieg, der jedoch unbestreitbar von Erfolg gekrönt war, Oder stimmt es vielleicht nicht, daß die Frauen in Amerika über eine Autorität verfügen, die allen andern Frauen des Erdballs fremd ist? Dreiviertel der wirtschaftlichen Macht Amerikas liegt in der Hand von Frauen. Die Frauen besitzen 65 aller Aktien der großen Gesellschaften, 70 der Versicherungspolicen, 65 der Sparhefte. In anderen Zahlen ausgedrückt: hundert Milliarden in Sparheften, siebzig Milliarden in Staatsobligationen, achtzig Milliarden in Industrieaktien. Die gesamte amerikanische Politik wird von Frauen dominiert: 1958 stellte das Census Bureau fest, daß die weibliche Wählerschaft die männliche um 4 ½ Millionen übertraf; ein Präsidentschaftskandidat muß vor allen Dingen den Frauen gefallen. Sozusagen das ganze kulturelle Leben Amerikas wird von den Frauen kontrolliert: der Schulunterricht (65 ), die Theater (63 ), die Kinos und das Fernsehen (58). Über die Erziehung der Kinder, die Einrichtung des Heims, den Beruf des Ehemannes, die Kleidung des Ehemannes, die Zerstreuungen des Ehemannes, die Diät des Ehemannes bestimmen ausschließlich die Frauen. Die amerikanische Frau beginnt den Mann zu beherrschen, sobald er das Licht der Welt erblickt, und ihre Herrschaft endet erst, wenn er die Augen für immer schließt. Der amerikanische Mann lernt schon als Kind, indem die Mutter ihn hütet und hätschelt, daß er ein zweitrangiges Geschöpf ist. Er merkt es, wenn er in die Schule kommt und die Lehrerin ihm Respekt vor den Mädchen beibringt. Er überzeugt sich davon, wenn er erwachsen wird und ein Mädchen ihn heiratet oder ihm die Bürostelle wegnimmt. Die amerikanische Frau ist ein Mann. 244
Sie ist ein Mann mit vielen Vorteilen. Sie hat das Stimmrecht, aber nicht die Pflicht, in den Krieg zu ziehen. Sie verlangt, daß der Mann im Fahrstuhl den Hut abnimmt, aber wenn sie ihm gnädig die Hand reicht, zieht sie nicht einmal den Handschuh aus. Sie kann den Exverlobten wegen Bruch des Eheversprechens vor Gericht ziehen, er sie aber nicht. Sie kann nach der Scheidung Alimente verlangen, er kann von ihr keine verlangen, auch wenn sie arbeitet. In den letzten fünfzig Jahren hatte der technische Fortschritt Amerikas ein einziges Ziel: das Leben für die Frauen leichter zu machen. Für die Männer – das kommt niemandem in den Sinn. Die Geschirrwaschautomaten sind erfunden worden, um den Frauen zu helfen. Die Waschmaschinen sind erfunden worden, um den Frauen zu helfen. Eine Maschine aber, um den Männern zu helfen, die diese Staubsauger, Waschautomaten und Geschirrwaschmaschinen herstellen, ist noch nicht erfunden worden. Während also die Männer sich abrackern, damit die Frauen ausruhen können, sparen diese ihre Zeit und Energie, zwei unerläßliche Faktoren zur Verstärkung der Macht. Ist das wohl der Grund dafür, daß man in Amerika mehr Frauen als Männer sieht? 1930 gab es in Amerika anderthalb Millionen mehr Frauen als Männer. Heute rechnet man, daß es bis 1975 siebeneinhalb Millionen sein werden. Auf hundert neugeborene Mädchen kommen in Amerika 109 ½ neugeborene Knaben. Bis zum Alter von achtzehn Jahren bleibt der Prozentsatz gleich, zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren aber entfallen auf hundert Frauen nur noch 103 Männer, zwischen vierundzwanzig und zweiundvierzig 86, zwischen zweiundvierzig 245
und für den Rest des Lebens stehen hundert Frauen nur noch 65 Männer gegenüber. In den meisten Ländern leben die Frauen länger als die Männer, weil es eben ganz und gar nicht stimmt, daß das schwache Geschlecht physisch schwach ist: bei den Frauen ist das Drüsensystem kräftiger, der Blutdruck niedriger, die Widerstandskraft gegen Krankheitserreger größer. Amerika indessen übertreibt in dieser Beziehung ein bißchen. Die Amerikanerin lebt durchschnittlich nicht weniger als 73 ½ Jahre – länger als jede andere Frau der Welt. Der Amerikaner nicht. Man triff t unzählige alte Frauen in Amerika. Die Männer sehen nie wie siebzig aus, nicht einmal wie sechzig; meistens sind sie auch höchstens fünfzig. In den Verwaltungsräten wimmelt es von alten Frauen – nie von alten Männern. In den Restaurants wimmelt es von alten Frauen – nie von alten Männern. Wo halten sich denn die Männer versteckt? könnte man fragen. Sie halten sich nicht versteckt. Sie sterben, bevor sie alt werden; umgebracht von der Müdigkeit, die sich ansammelt, während sie neue Maschinen für die Frauen konstruieren, von der Demütigung der ständigen Niederlagen, die ihnen die Frauen bereiten, vom Herzinfarkt, der um 75 mehr Männer als Frauen triff t. Die Statistiken bestätigen, daß in Amerika die Lebenserwartung für einen Mann über vierzig kleiner ist als in jedem andern Lande, über fünfzig sogar winzig klein: 24 Hoff nung zum Beispiel im Vergleich zum Italiener, 55 im Vergleich zum Schweden. Und diese Statistiken umfassen, wohlgemerkt, nicht etwa die Männer, die im Kriege gefallen sind. Sie wurden vielmehr in Friedenszeiten erstellt, als sogar der Koreakrieg beendet war. 246
Amerika ist demzufolge voll von Witwen. Anderthalb Millionen Witwern stehen heute neun Millionen Witwen gegenüber. Man begegnet ihnen überall in der Welt: in Italien, in Paris, an der Côte d’Azur, in Miami, im Orient, wie jene Witwe aus Baltimore, die im Rambagh Palace von Jaipur ein Autogramm der Maharani haben wollte. Man hat ihnen gegenüber aber kein Mitgefühl wie bei den indischen Witwen beispielsweise; sie sind nicht so unglücklich. Gewöhnlich sind sie fröhlich, reich – denn sie erben die Ersparnisse des verstorbenen Gatten –, und verstehen es, das Leben zu genießen … Mörder in Freiheit, möchte ich fast sagen. Und jetzt, da ich durch Manhattan ging und diese schönen, kräftigen, sympathischen Männer betrachtete, die dabei so resigniert und gedemütigt dreinschauen, da war mir, als sähe ich einen Friedhof mit lauter entfleischten Gebeinen: die Gebeine der Männer, denen es bestimmt ist, vorzeitig an Übermüdung, Erniedrigung und Herzinfarkt zu sterben, umgebracht von den gleichen unglücklichen Frauen, die euch mit einem Schwall von honey, sweety und sugar überschütten, fast wie die mantis religiosa, die Gottesanbeterin, die das Männchen zuerst besitzt und dann verschlingt. – Auch Duilio sah schon halb entfleischt aus, wie er da mit Laureen in einem Broadwayrestaurant saß und Laureen uns erklärte, wie sie es angefangen hatte, Photographin zu werden, wie sie bei einer Tageszeitung arbeitete und bereits imstande war, jeden männlichen Kollegen in die Schranken zu verweisen. Vor lauter Karrieresucht war Laureen schon zweimal geschieden, jetzt aber suchte sie Trost in ihrer Einsamkeit, indem sie sich wie eine Gottesanbeterin dem ahnungslosen Duilio näherte. 247
»Warum läßt du dich nicht in New York nieder, höney? Weißt du, sweety, man verdient viel mehr in New York! Und außerdem, sugar, bin ich da, um dich zu protegieren. Wenn du mir folgst, machst du in einem Jahr ein Vermögen.« »Eh, eh! Wer weiß!« sagte Duilio, und mir war nicht klar, wie lange sein Mißtrauen als Italiener und seine Trägheit als Römer würden Widerstand leisten können. »Nun, sweety? Überleg dir’s, honey«, beharrte Laureen. Und ihre Stimme vibrierte, denn sie spielte eine wichtige Karte aus, vielleicht die letzte, die ihr verblieben war. »Ah, Amerika … Amerika …«, sagte Duilio unschlüssig. Und er tat mir leid. Fast, fast sah ich schon seine Gebeine weiß und endgültig entfleischt im großen Smog New Yorks schlummern. Auf einmal aber musterten seine pfiffigen Augen Laureen, und seine ganze europäische Vorsicht kam ihm zu Hilfe. Er erinnerte sich, daß er von Laureen bereits hatte, was er wollte. Er erinnerte sich, daß New York nicht Rom ist: in New York arbeitet man sehr viel mehr. Behende wechselte er das Thema und erzählte Erlebnisse von unserer langen Reise. Laureen fing den Schlag auf wie ein Boxer, der die Gelegenheit verpaßt hat, einen Match zu gewinnen, und das zwar immer noch nachholen kann, dessen aber doch nicht ganz sicher ist. Und nun war sie es, die mir leid tat. Arme Laureen: Sie schien eine ausgezeichnete Männerverschlingerin zu sein, aber wie weit war sie selber dafür verantwortlich? Sie lebte in einer Welt von schwachen Männern, die in den Ketten einer Sklaverei liegen, die sie selber verschlimmern und von der sie nicht loskommen, so blind, daß sie den Abgrund nicht sehen, in den sie sich und ihre 248
Gegnerinnen stürzen. Gab es andere Auswege für Frauen wie Laureen? – Abends, wenn die Untergrundbahn sie verschluckte, um sie nicht weit von der eigenen Haustür wieder auszuspeien, vor der Wohnung, die mit dem Sold all dieser Unabhängigkeit bezahlt wird, trübte eine verzweifelte Melancholie ihnen das Herz und den Geist: ganz New York schien von ihren zornigen Seufzern zu zucken. Darum gingen sie fluchtartig wieder aus, und von neuem verschluckte sie die Untergrundbahn, um sie vor einem Kino wieder auszuspeien oder vor einer Bar, wo sie sich einsam betranken und vielleicht daran dachten, wie zweischneidig ihr Sieg ist, von dem die Welt so viel spricht, daß daraus ein Problem wird. Der Himmel weiß, daß es wirklich ein Problem ist. Diesen ewigen kleinen Jungen gegenüber üben sie zwar allerdings Autorität und Selbstherrlichkeit aus, gleichzeitig aber träumen sie von Demut und Kameradschaft; denn man kann sich den eisernen Regeln der Gesellschaft nicht entziehen, ebensowenig aber den einfachsten Gefühlen. War Laureen, von diesem Problem befangen, schuldig? Vielleicht waren ihre verflossenen Ehemänner schuldig. Vielleicht waren diese Männer und sie gleichermaßen schuldig. Vielleicht gefiel ihr der Gedanke, eines Tages Witwe zu sein und wie ein Mörder in Freiheit auf Reisen zu gehen, lange nicht so gut, wie ich glaubte. »Really?« sagte Laureen melancholisch zu den Geschichtchen des aufgestörten Duilio. »How interesting!« Mit den Augen hingegen flehte sie ihn an, zu schweigen, sie machte sich ja nichts aus diesen Geschichten. Doch er blieb, immer beunruhigter, unbeirrbar dabei, und heimlich schien er mich aufzufordern, ihm doch beizustehen. 249
Ich hatte eigentlich keine allzu große Lust dazu. Sieger sind immer unsympathisch, und der Verstand trieb mich zu einer feigen Neutralität: sollten sie selber sehen, wie sie miteinander fertig wurden, perbacco! Dann aber, mit dem Instinkt der Frau eines Landes, wo erst recht wenig Staubsauger und Waschautomaten benützt werden, wo die Witwen bestenfalls eine Pension von vierzehntausend Lire im Monat bekommen, und wo auch der schlechteste Mann doch immer noch ein Mann ist und als solcher mehr oder weniger akzeptiert wird, überraschte ich mich dabei, Duilio zu Hilfe zu kommen. Ich begann von den üblichen Dingen zu reden, von der Welt, die sich verändert, von den Frauen, die sich verändern; ich sagte, daß diese überall lernen, unsere häßlichen europäischen Kleider, unsere dummen hochhackigen Schuhe, unseren absurden Wettbewerb mit den Männern zu imitieren, daß aber überall, wieviele französische Modelle in den Warenhäusern von Tokio man verkaufen, wieviele frauenrechtlerische Theorien in den Versammlungen von Bombay hinausschreien, wieviele Kriegsschulen für die Mädchen ohne Verstand von Peking und Ankara man auch eröff nen möge, der Unterschied bestehen bleibe. Duilio nickte. Laureen schüttelte den Kopf. Und mit einemmal rief sie traurig aus: »Meiner Ansicht nach sind die Frauen auf der ganzen Welt gleich.« Sieh mal an. Auch die weiseste Frau, die ich je kennengelernt hatte, die Rajkumari Amrit Kaur, hatte mir auf einem Hügel in Delhi gesagt: »Meine Liebe, die Frauen auf der ganzen Welt sind gleich, zu welcher Rasse, welchem Klima, welcher Religion sie auch gehören; denn es ist die menschliche Natur, die die gleiche ist.« Sollten sie also recht haben? 250
Von einem Ende der Welt zum andern leben die Frauen falsch: Entweder betrachten sie, abgesondert wie Tiere im Zoo, den Himmel und die Menschen hinter einem Laken hervor, das sie umhüllt wie das Schweißtuch die Leiche, oder sie gewinnen, entfesselt wie ehrgeizige Krieger, Medaillen im Schießwettkampf gegen die Männer. Und ich wußte nicht, ob ich vor der kleinen Braut von Karachi oder vor der häßlichen Soldatin von Ankara das tiefere Mitleid verspürt hatte. Ich wußte nicht, ob mich die alte Chinesin mit den abgebundenen Füßen oder diese Amerikanerin, die sich so viel Mühe gab, einen vor Schlaf gähnenden Italiener zu unterhalten, mehr erschreckt hatte. Alle, antwortete ich Laureen, waren mehr oder weniger bewußt einem Ziel entgegengeschleudert, das nichts als Leid mit sich bringen kann, ein Leid, das je länger je komplizierter wird. Der große Kehrreim, der die Frauen auf dem ganzen Erdenrund bewegt, heißt Emanzipation und Fortschritt: so oft ich ein neues Land betrat, standen diese beiden großen Worte vor mir, und die Frauen nahmen den Mund voll davon, als wäre es Kaugummi. Wir haben ihnen beigebracht, wie man Kaugummi kaut, aber wir haben ihnen nicht beigebracht, daß Kaugummi für den Magen von Übel sein kann. »Gott, wie langweilig«, sagte Duilio. »Ihr macht mich schläfrig. Ich gehe zu Bett.« »Ach nein, gehen wir einen Whisky trinken«, erwiderte Laureen. Und sie suchte mich als Verbündete zu gewinnen: »Was sagst du dazu?« Was sollte ich dir sagen, Laureen. Du glichst so sehr meiner italienischen Freundin, die beim Weinen schnüffelte. 251
Ich hatte eine Schleife um die Erde gezogen und war in jeder Beziehung am selben Punkt angelangt, von dem ich ausging. Und ich folgte auf dieser Schleife dem Marsch der Frauen rings um ein dumpfes, sehr törichtes Leid.
Oriana Failaci, am 19. Juni in Florenz geboren, stammt aus einer Journalisten- und Schriftstellerfamilie. Bereits mit 17 Jahren schrieb sie ihre ersten Artikel in der Kriminalrubrik einer Tageszeitung. Sie gehört zu den eigenwilligsten und profiliertesten Journalistinnen Italiens. Ihre Bücher und Reportagen erschienen in vielen Ländern. In Deutschland veröffentlichte sie außer dem vorliegenden Werk: ›Penelope auf dem Kriegspfad‹ (Roman, 1967); ›Wenn die Sonne stirbt« (1966); ›Ab- und Beifälliges über Prominente« (dtv Band 449).