Kommissar X - Das Todeslied der Schwarzen Haie von Kelly Kevin ISBN: 3-8328-1121-4
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"Vielleicht bin ich ein Kulturbanause", räumte Jo Walker ein und schaltete einen Gang zurück, weil der Verkehr ins Stocken geriet. "Dory Dorin jedenfalls kenne ich nicht." "Du hast sie bestimmt schon mal gehört", behauptete April Bondy, die Volontärin des Privatdetektivs, der durch erfolgreiche Kriminalarbeit in New York den teils geachteten, teils gefürchteten Ruf als ,Kommissar X erworben hatte. "Dory Dorins neuer Hit tönt doch in jeder Diskothek." Jo blickte vorwurfsvoll in ihre hübschen Augen. "Und aus den Radios", fügte April hinzu, weil sie einsah, daß dem vielbeschäftigten Jo kaum Zeit für Discothekenbesuche blieb. "Du kennst den Song doch!" April schnippte mit den Fingern die ersten Takte. "Zumindest die Melodie", sagte sie, spitzte die Lippen und pfiff. "Mag sein", murmelte Jo und schaltete die Wischer ein, weil es zu regnen begann. Die Scheibe verschmierte, das Scheinwerferlicht des Gegenverkehrs blendete. "Mist!" fluchte Jo. "Ich find's spitze", meinte April. "Ich meine das Wetter", stellte Jo klar. "Es regnet. Wenn wir keinen Parkplatz in der Nähe finden, werden wir..." "Der Text ist nicht mal so blöd wie üblich", unterbrach April, die stur ihren Gedankengang fortsetzte. "Hast du ihn wirklich noch nie..." "Nein", seufzte Jo. Und nun begann April zu singen: "Kleiner Fisch, nimm dich in acht vor großen Haien; kleiner Fisch, was zählst du schon für sie; kleiner Fisch." April sah Jo erwartungsvoll an und hob zur Entschuldigung die Schultern. "Weiter weiß ich auch nicht." "Schade", sagte Jo. "Der Text ist mir nicht geläufig. Beginnt ja sehr tiefsinnig. Regt zum Denken an." Jo sah mit einem Blick zur Seite, wie seine attraktive Volontärin ihre Nase rümpfte. "Hast du schon mal an eine Karriere als Sängerin gedacht?" fragte er schmunzelnd. "Hast du schon an eine Karriere als Gewichtheber gedacht?" konterte sie. "Vorher wirst du es wohl kaum schaffen, mich auf den Arm zu nehmen." "Kleine Fische", sagte Jo. "Denkste!" "Ich denke, so heißt der Titel von dieser..." "Dory Dorin", nickte April. "Jetzt erinnerst du dich wohl?" "Nach deiner Gesangseinlage hatte ich in der Tat eine Assoziation." Jo räusperte sich. "Und zwar mit einem beachtlichen blanken Busen." "Was stierst du mich so an?" fragte April stirnrunzelnd. "Du warst es schließlich..." "Wie bitte?" "...die mir das Magazin gegeben hat. Als ich es durchblätterte, fiel mir das Bild einer barbusigen Sängerin auf, die das Publikum mit neuem Hit und nackten Tatsachen konfrontierte. Der Titel des Songs wurde in der Bildzeile zum Gag." Copyright 2001 by readersplanet
"Was stand denn darunter?" "Von wegen kleine Fische!" "Sehr witzig", meinte April. "Deine Assoziationen sind typisch." "Aber treffend." "Jedenfalls würde ich Dory Dorin eher auf Grund ihrer Stimme identifizieren. Sie ist sicher einmal eine ulkige Nudel..." "Eine Sex-Nudel, las ich." "Okay, aber sie hat Talent. Dory Dorin ist ein Top-Star in der Pop-Szene. Sie kann es sich erlauben." "Ich erlaube es ihr gern", lächelte Jo. "Bist du nur deswegen mitgekommen?" "Ich besuche dieses Konzert", erklärte Jo, "weil du mich auf so originelle Art eingeladen hast." "Oooch!" April schnappte nach Luft. "Du willst doch wohl nicht behaupten, daß die beiden Eintrittskarten von mir..." "Von wem sonst?" "Von...von einem Gönner, was weiß ich?" "Ein anonymer Gönner." Jo lachte. "Steckt zwei Eintrittskarten in einen Umschlag und schickt sie an den Privatdetektiv Jo Walker." "Na und?" "April! April!" Jo wiegte belustigt den Kopf. "Deine Einfälle waren schon mehrmals etwas außergewöhnlich. Aber gerade das reizt mich so an dir." "Ich protestiere!" rief sie. "Deine Unterstellungen sind...sind...anmaßend! Jawohl, anmaßend. Und beleidigend. Unter diesen Umständen habe ich nur noch wenig Lust, dich in das Konzert zu begleiten." "Sollen wir umkehren?" April zögerte. "Meinetwegen", maulte sie dann. Jo brauchte nicht ihr Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß April in diesem Fall tief enttäuscht gewesen wäre. Er kannte ihre Begeisterung für moderne Musik. "No", entschied Jo. "Jetzt sind wir bereits am Ziel." April war erleichtert. Jo auch, als er nahe der Music Hall einen Parkplatz fand. Ein Glücksfall am Broadway, der zu dieser frühen Abendstunde bereits im grellen Lichterglanz erstrahlte. Der Regen prasselte auf das Autodach. Jo nahm einige Verrenkungen in Kauf und zog seinen Mantel, der auf dem Rücksitz lag, im Wagen an. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt, steckte seinen Stockschirm ins Freie und entfaltete ihn per Knopfdruck. So zumindest etwas vor dem strömenden Regen geschützt, verließ er das trockene Wageninnere. Als er auf der anderen Seite April beim Aussteigen und Überstreifen ihres Mantels behilflich war, reichte das Schirmdach nicht für zwei. Im Nu hatte Jo nasse Hosenbeine. "Die kann ich auswringen", knurrte er mißgelaunt, als sie nach einem kleinen Spurt die Music Hall erreicht hatten. "Aber bitte zu Hause", riet April. "Es reicht, wenn sich manchmal der Star auszieht." Als sie ihre triefnassen Mäntel an der Garderobe abgaben, dröhnte aus dem Saal ein furioser Trommelwirbel. "Wir sind zu spät", sagte April ungeduldig und deutete auf die Wanduhr. "Ganze drei Minuten", nickte Jo. "Meinst du, daß es sich jetzt noch lohnt?" Wenn April zürnte, legte sich bei ihr die Haut oberhalb der Nase, zwischen den Augen, in ganz seltsame Falten. Copyright 2001 by readersplanet
Jo mußte lachen. April wollte etwas erwidern, aber die Garderobenfrau kam ihr zuvor. "Keine Angst", beschwichtigte sie, "die Dorin tritt erst später auf." So war es. Zunächst mühte sich eine zweitklassige Rock-Gruppe, die Stimmung anzuheizen. Selbst April fand das nicht besonders gelungen. Jo fand es nur besonders laut. Die Fans ließen sich nicht verdrießen. Sie warteten auf ihren Star, für den sie tief in die Geldbörse gegriffen hatten. Seit Tagen waren die Konzerte der Showdiva ausverkauft. Auf dem Schwarzmarkt wurden die Stehplätze für 25 Dollar gehandelt. Der riesige Saal war mit fast zweitausend Besuchern bis an den Rand gefüllt. Auf dem schmalen stuhlfreien Streifen vor der Bühne drängten sich Jugendliche, die auf engstem Platz ihre Glieder nach den wilden Rhythmen verrenkten. Die Veranstalter hatten mit Effekten nicht gegeizt. Ihre Verstärker beanspruchten die Ohren der Besucher über das Maß hinaus, das normalerweise die Lärmschützer aktiv werden läßt. Eine Lichtorgel reizte die Augen mit phantastischen Farbkombinationen. Akustik und Optik verwirrten die Sinne, schafften eine Traumwelt-Atmosphäre, geeignet, für zwei Stunden der Wirklichkeit zu entfliehen. Jo stellte erstaunt fest, daß sein rechtes Bein wie unter einem automatischen Antrieb im Takt der heißen Musik zu wippen begann. Bei April wippten beide Knie und der Kopf. Sie sahen sich an. Jo lachte. April sagte etwas, aber das kam selbst auf die kurze Distanz nicht an. "Das geht ins Blut, was!" schrie sie ihm ins Ohr. Jo nickte halbherzig. Er wollte sie noch fragen, was ihre Plätze in der zehnten Reihe gekostet hatten, denn er war nach wie vor überzeugt, daß April den anonymen Brief mit zwei Eintrittskarten geschickt hatte. Aber Jo zog es vor, seine Stimmbänder und Aprils Stimmung zu schonen. Nach einer halben Stunde hatte die Rock-Gruppe ihr Soll erfüllt. Das Publikum war angeheizt. Die Bühne drehte sich, ein stattliches Orchester rückte ins Rampenlicht. Der Dirigent hob den Taktstock. Bis auf einen Scheinwerfer erloschen alle Lichter im Saal. Furios setzten die Musiker den Auftakt. Der Lichtkegel fing eine golden und silbern schimmernde Freitreppe ein, kletterte die Stufen empor zum Podest. Dort erschien sie, begleitet von einem rasenden Trommelwirbel. Dory Dorin. Sie trug ein enganliegendes Glitzertrikot, das ihre kurvenreiche Figur zur Geltung brachte. Ein gewagtes Dekollete galt für sie schon als eine Art Markenzeichen. Ihr kupferrotes Haar fiel wie ein Vorhang über die nackten Schultern. Donnernder Applaus, begleitet mit Fußgetrampel, Begeisterungspfiffen und Bravorufen, setzte ein. Die Diva verneigte sich, lächelte huldvoll und warf Handküsse ins Auditorium. Auf ihr Zeichen hin begann das Orchester. Schon nach den ersten Takten erkannte Jo die Melodie. April hatte sie ihm im Wagen vorgesungen. Der Star führte sich mit seinem neuen Hit ein. "Kleiner Fisch, nimm dich in acht vor großen Haien..." Ihre Stimme kann sich wirklich hören lassen! dachte Jo. Gebannt verfolgte er, wie die Diva mit langsamen, grazilen Schritten die Freitreppe hinabstieg und ihren Fans näher kam. "Kleiner Fisch..." Der schrille Ton, den Dory Dorin dann ins Mikrofon kreischte, stand nicht in ihren Noten. Zwei Reihen vor Jo, mitten im Publikum, gab es eine Explosion. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Knall übertönte die Lautsprecher. Jo reagierte sofort, lief sich zur Seite fallen, riß April nach unten. "Deckung!" schrie er.
*
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Als Jo vorsichtig den Kopf hob, war im Saal die Hölle los. Die Menschenmenge geriet in Panik. Jo bekam einen Fußtritt in die Nieren. Aprils Sitznachbar stieg rücksichtslos über ihn hinweg. Jo erwischte ihn gerade noch am Rockzipfel. "Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hintreten?" schimpfte Jo. "Bomben!" keuchte der Übeltäter, ein kleiner Dicker mit Glatzkopf. "Wir müssen hier weg!" Schon hatte er sich losgerissen und boxte sich mit seinen Ellenbogen einen Weg durch die Massen Gleichgesinnter. Alles rannte auf den Ausgang zu. Dort kam es zu einem fürchterlichen Gedränge. Frauen kreischten, Männer fluchten, Kinder weinten. "Die Notausgänge!" rief Jo, der sah, wie Menschen erbarmungslos über Menschen trampelten, wie einige vom Ausgang abgedrängt und an die Wand gequetscht wurden. Aber er fand keine Zeit, sich darum zu kümmern. April schrie vor Schmerzen auf. Ein Hüne von Kerl hatte sie einfach zu Boden gestoßen und stieg über sie hinweg. Jo wollte ihn aufhalten, doch da sah er mit Schrecken, daß eine ganze Horde Aufgescheuchter nachfolgte. Die Furcht hatte ihre Gesichter verzerrt, ihren Verstand lahmgelegt, die mitmenschlichen Gefühle abgeschaltet. Sie würden April zertrampeln! Sinnlos, sich ihnen in den Weg zu stellen, Jo erkannte das sofort. Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er warf sich über April, schützte sie mit seinem Körper. Es war, als würde eine Stampede wildgewordener Büffel über ihn hinwegstampfen. Die ersten Tritte taten weh. Dann fühlte Jo nichts mehr. Ihm schwanden die Sinne.
* Als er wieder zu sich kam, blickte er in Aprils besorgtes Gesicht. Sie hatte seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und hielt ihm ein Fläschchen Parfüm unter die Nase. Jo schnupperte und versuchte zu lächeln. "Riecht gut", sagte er mit gequälter Stimme, "aber ein Whisky wäre mir jetzt lieber." "Das hört man gern", röhrte eine tiefe Männerstimme. "Solange dir der schmeckt, bist du okay, alter Schluckspecht." Jo erkannte die Stimme und verzog das Gesicht. "Hallo Tom!" grinste er. Doch dann wurde er ernst. Sein Freund Tom Rowland, Captain der Mordkommission, war sicher nicht seinetwegen hier. "Was ist geschehen?" fragte er. "Ein Mord", brummte der breitschultrige Captain. "Und nicht nur das", fügte er bitter hinzu. "Der Anschlag hatte schlimme Folgen." "Weitere Tote?" fürchtete Jo. "Zum Glück nicht. Aber mindestens ein Dutzend Verletzte. Zwei sind so schwer getroffen, daß die Ärzte um ihr Leben bangen. Sie saßen neben dem Toten. Die anderen sind in der Panik niedergetrampelt oder gequetscht worden." "Das Gefühl kenne ich", sagte Jo. "Bist du wirklich okay?" erkundigte sich April und strich ihm sanft über die Stirn. "Etliche blaue Flecken werde ich schon haben", meinte Jo. "Aber die kann ich im Augenblick beim besten Willen nicht lokalisieren. Ich habe so ein Gefühl, als wäre eine Dampfwalze über mich gerollt." "Unser Doc hat dir eine schmerzstillende Spritze verpaßt", sagte Tom Rowland. "Er meint, du bist im großen und ganzen heil geblieben, prophezeit dir aber für die nächsten Tage einen Copyright 2001 by readersplanet
buntschillernden und wehleidigen Körper." "Ich werd's überstehen", versprach Jo. "Du hast es für mich getan - danke!" hauchte April. "Um mich zu schützen, hat er sich über mich geworfen", berichtete sie Tom Rowland. "Er war stets ein Kavalier", sagte der Captain und rümpfte seine markante Römernase. "Das hatte ich schon lange mal vor", flachste Jo, dem das Grinsen verging, als er sich auf seine Beine stellen wollte. Sein blessierter Körper schmerzte an allen Ecken und Enden trotz der Spritze. April bot sich als Stütze an. Jo legte seinen rechten Arm auf ihre Schulter und machte vorsichtige Gehversuche. "Da lob' ich mir einen simplen Muskelkater", stöhnte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. "Ich fahre dich in deine Wohnung", schlug April vor. "Du brauchst Ruhe. Wenn du nichts dagegen hast, pflege ich dich." "Du hättest Krankenschwester werden sollen", brummte Jo, der diesem Vorschlag wenig Gefallen abringen konnte. "Ich bin Detektiv - und als solcher schon öfter auf dem Zahnfleisch gekrochen. Vor meinen Augen ist ein Mord geschehen. Ich denke, Tom wird einige Fragen an mich haben. Und ich denke, er wird mir einige Fragen beantworten." "Mit oder ohne Whisky?" fragte der Captain. "Mit", entschied Jo. April seufzte und begleitete die beiden Freunde in die Bar neben der Music Hall. Auf einem der Hocker entdeckte Jo Dory Dorin. Sie trug noch immer ihr Glitzertrikot und unterhielt sich mit einem grauhaarigen Mann, dessen scharf geschnittenes Gesicht mit der hervorstechenden Hakennase an einen Raubvogel erinnerte. "Hallo Captain!" rief die Diva und winkte Tom Rowland zu sich. Dory Dorin war nicht gerade häßlich, und sie war nicht gerade schön, aber sie war ungeheuer sexy. Allein ihre Stimme hatte ein Timbre, das unter die Haut ging. "Haben Ihre Ermittlungen Erfolg gehabt?" "Sie sind noch nicht abgeschlossen", wich Tom Rowland aus. "Schrecklich! Einfach schrecklich!" ereiferte sich der Showstar mit ungespieltem Entsetzen im geschminkten Gesicht. "So was!" Sie schüttelte den Kopf, ihre kupferrote Mähne flog dem Captain um die Römernase. "Ausgerechnet in meinem Konzert!" "Künstlerpech", meinte Tom Rowland. "Drei Whisky", bestellte er bei der Bedienung. "Die gehen auf meine Rechnung", sagte der Grauhaarige mit dem Raubvogelgesicht. "Danke", wehrte der Captain ab, der gern Whisky getrunken hätte, sich aber keinen ausgeben lassen wollte. "Ich bin im Dienst." "Wir nicht", stellte Jo fest. "Einen für die Dame, zwei für mich. Ich kann einen Doppelten gebrauchen. Der Captain trinkt Mineralwasser." Für diese Verteilung fing sich Jo einen bösen Blick seines Freundes ein. "Sind Sie auch von der Polizei?" fragte Dory Dorin und musterte Jo so wohlgefällig, daß April nicht an sich halten konnte. "Mr. Walker ist ein Fan von Ihnen, Miß." "Oh!" Die Diva strahlte. "Aber seine Begeisterung ist heute abend mit Füßen getreten worden", fügte April hinzu. "Oh!" Die Diva vergaß ihr Strahlen und machte ein bestürztes Gesicht. "Mr. Walker?" Ihr Begleiter horchte auf. "Jo Walker etwa?" Jo nickte. "Kommissar X!" Der Grauhaarige mit dem Raubvogelgesicht hob sein Glas. "Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen, Mr. Walker. Mein Name ist Steward Draper." "Prost!" nickte Jo und kippte den ersten Whisky hinunter. Das tat noch besser als die Schmeichelei des grauhaarigen Draper. Copyright 2001 by readersplanet
"Kommissar X?" fragte Dory Dorin in ihrer Unwissenheit. Tom Rowland grinste, Jo räusperte sich. "Baby", sagte Steward Draper. "Man merkt, daß du nicht aus New York bist. Neben uns steht der berühmteste Privatdetektiv, den diese lasterhafte Stadt zu bieten hat." "Oh!" machte die Diva erneut, und ihr Blick beherbergte Bewunderung und Neugier gleichermaßen. "Prost!" sagte Jo und goß den zweiten nach. "Alle guten Dinge sind drei. Die nächste Runde geht auf meine Rechnung. Dann muß ich mich leider verabschieden." "Schade", flötete die Diva. "Sie haben so einen interessanten Beruf. Ich hätte mich gern etwas mit Ihnen unterhalten. Vor allem, wo Sie ein Fan von mir sind." Sie lächelte verführerisch. "Übrigens, werfen Sie Ihre Eintrittskarte nicht weg. Ich werde dieses zerplatzte Konzert natürlich nachholen. Das bin ich meinem Publikum schuldig. Ich weiß nur noch nicht wann. Den Termin können Sie bei Mr. Draper erfahren." "Schön", sagte Jo. Mit dem dritten Whisky hatte er es eilig. Schließlich wollte er nicht mit Dory Dorin plaudern, so reizvoll das sein mochte. Das Gespräch mit Tom Rowland war wichtiger. Es ging um Mord. Und der Captain würde, das war klar, in Anwesenheit der Diva und ihres Begleiters nicht sonderlich gesprächig sein. Deshalb verabschiedeten sie sich. Tom Rowland bat Jo und April in seinen Dienstwagen. Dort waren sie ungestört. Jo berichtete seinem Freund, was sich bis zu seiner Ohnmacht im Saal ereignet hatte. "Wer ist dieser Draper?" erkundigte er sich dann. "Er hat das Konzert veranstaltet", erklärte Tom Rowland. "Ist so eine Art Manager in der Musikbranche. Promoter, Produzent...und so." "Sauber?" "Gegen ihn liegt nichts vor. Der Mordanschlag hat ihm schließlich das Geschäft vermasselt." "Wenn die Dorin ein Ersatzkonzert gibt, hat er doch kaum finanzielle Verluste." "Mag sein." Tom Rowland hob die Brauen und schüttelte den Kopf. "Ich sehe da keinen Zusammenhang. Warum fragst du?" "Vergiß es!" Jo winkte ab. "Mir hat einfach seine Visage nicht gefallen." "Seit wann beurteilst du Menschen nach ihrem Äußeren?" wunderte sich April. "Steward Draper ist dem berühmten Kommissar X doch so um den Bart gestrichen, daß dich diese Dorin am liebsten rasiert hätte." "Eben", sagte Jo. "Das mag er nicht"; sagte der Captain ironisch. "Er ist ja so bescheiden." "Wer ist der Tote?" schwenkte Jo zum eigentlichen Thema. "Dennis Barbella. Aus Brooklyn. 23 Jahre alt. Nicht vorbestraft. Wahrscheinlich rauschgiftsüchtig. Dem Arzt sind die Einstiche schon aufgefallen." "Stehen die beiden Schwerverletzten, die neben ihm gesessen haben, mit ihm in Verbindung?" "Nein. Beide, ein älterer Mann und eine junge Frau, haben nichts mit ihm zu tun." "Waren die beiden denn vernehmungsfähig?" "Nein, aber beide waren in Begleitung. Wir stützen uns auf die Aussagen ihrer Bekannten." "Wie wurde Barbella getötet?" "In seinem Tonbandgerät war eine Mini-Bombe eingebaut." "Tonbandgerät?" Jo horchte auf. "Hat er das Konzert aufnehmen wollen?" "Vermutlich. Genaues weiß ich selbst noch nicht. Das Tonband und die Bruchstücke des Gerätes werden von unseren Spezialisten untersucht." "Bootlegs?" fragte Jo. Copyright 2001 by readersplanet
Tom Rowland wiegte den Kopf. "Möglich", sagte er. Jo überlegte.
- so werden die illegalen Mitschnitte von Live-Konzerten genannt überschwemmten in letzter Zeit den amerikanischen Musikmarkt. Sie waren billiger als Originale, fanden reißenden Absatz und waren ein gutes Geschäft für Schwarzpresser-Gangs, die sogenannten <schwarzen Haie>. "Dennis Barbella war wohl kaum ein harmloser Amateur, der für den Privatgebrauch ein Konzert mitschneidet", meinte Jo. "Dafür wird man nicht auf so tückische Weise umgebracht." "Anzunehmen", nickte der Captain. "Dann haben wir es also mit den schwarzen Haien zu tun." "Damit müssen wir rechnen." "Du bist heute wieder sehr gesprächig", ärgerte sich Jo, weil Tom Rowland sich in keiner Weise festlegte. "Morgen wissen wir mehr." "Okay, Alter!" Jo gab es auf. "Du hast ja recht. Dann bis morgen." Er öffnete die Wagentür und wollte aussteigen. "Eins noch", hielt der Captain ihn zurück. "Bist du auf deine alten Tage plötzlich ein Pop-Fan geworden oder warst du dienstlich in diesem Konzert?" "Privat", lächelte Jo. "April hat mir zwei Eintrittskarten geschickt." "Das ist eine verdammte Lüge!" schimpfte April. "Es war ein anonymer Gönner." Jo schmunzelte, Tom Rowland legte seine breite Stirn in Falten und sah erst April, dann Jo mit dem zweifelnden Blick eines Ungläubigen an. "Ach!" knurrte er dann mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Das ist euer Problem." Die beiden verabschiedeten sich. Jo lehnte Aprils Angebot ab, ihn heimzufahren und setzte sich selbst hinter das Lenkrad. Sein Körper schmerzte zwar noch an unzähligen Stellen, aber schlimm war auch das flaue Gefühl im Magen. Er lud April zum Abendessen ein. Als er das Autoradio einschaltete, hörten sie Dory Dorins Stimme: "Kleiner Fisch, nimm dich in acht vor großen Haien..."
* Am nächsten Morgen hatte Jo Mühe, aus dem Bett zu kommen. Die Wirkung der schmerzstillenden Spritze war vorbei, und erst jetzt machten sich die Prellungen so richtig bemerkbar. Bis zum Bad brauchte er doppelt so lange wie sonst. Fluchend wie ein Seebär und ächzend wie ein Rheumakranker stieg er aus dem Schlafanzug. Was sonst alltägliche Routine war, wurde heute zur Prozedur. Auch unter der kalten Dusche gelang es ihm nicht, das Blei aus den Gliedern hinwegzuschwemmen. Um die Schmerzen zu vertreiben, trat Jo noch vor dem Abtrocknen auf den mannshohen Spiegelschrank zu, in dessen oberstem Fach er eine Hausapotheke für gängige Fälle eingerichtet hatte. Schmerztabletten mußten noch da sein. Jo erschrak, als er einen Türflügel öffnete und das Spiegelbild seiner Rückseite sah. Über Nacht hatten sich die Prellflecken vergrößert und grünbläulich verfärbt. Sein ganzer Rücken, bis hinab zu dessen Verlängerung, war mit Blutergüssen übersät. Jo hatte eine gesunde Einstellung zu Tabletten. Er nahm höchst selten welche. Nur in dringenden Fällen. Diesmal schluckte er gleich drei von den kreisrunden Pillen, die eine ähnliche Farbe hatten wie seine Blutergüsse. Weil er in diesem Zustand mit dem Frottiertuch schlecht hantieren konnte, trocknete er seinen zerschundenen Körper unter dem Fön. Noch schwieriger als das Ausziehen des Schlafanzuges wurde das Anziehen. Obwohl er sich fast wie gelähmt fühlte, wählte er eine sportliche Kombination. Copyright 2001 by readersplanet
Als Jo sein Office betrat, empfing ihn April mit heißem Kaffee. "Du bist eine Ahnfrau", strahlte er. "Wie fühlst du dich?" erkundigte sie sich, mit prüfendem Blick seine Haltung abschätzend, die heute einen kleinen Knick hatte. "Wie du siehst, bin ich ein gebeugter Mann. Meine Nationalfarben sind grün und blau. Damit habe ich mir zur Feier des Tages die Rückfront dekoriert." "Da helfen kühlende Umschläge. Ich werde etwas Borwasser aus der Apotheke holen." "Kaffee reicht", sagte Jo, schüttete sich eine Tasse voll und marschierte damit zu seinem Schreibtisch. Steif wie ein Brett ließ er sich auf den Stuhl fallen und stöhnte auf, weil er dabei die Prellungen an jenem Körperteil, auf dem er zu sitzen pflegte, nicht berücksichtigt hatte. April beobachtete das skeptisch. "Eigentlich brauchtest du Ruhe." "Man soll rechtzeitig mit Bewegungsübungen anfangen. Auch Massagen können sehr nützlich sein." "Soll ich?" "Heute noch nicht. Später vielleicht. Hast du die Post schon geöffnet?" "Nein, ich habe erst mal Kaffee gekocht." "Das war auch gut so", lobte Jo. "Den trinke ich jetzt und lese Zeitung, während du die Post..." "Okay", sagte April. Sie ging hinaus, brachte ihm die Morgenausgaben und legte sie auf seinen Schreibtisch. "Sonst noch einen Wunsch?" "Danke, ich bin wunschlos unglücklich." April sah ihn nachdenklich an, schüttelte dann den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Nebenzimmer. Jo überflog die Zeitungen. Wie jeden Morgen. Ein Detektiv mußte informiert sein. Auf den Lokalseiten wurde der Mord im Konzert mit Dory Dorin groß aufgemacht. In allen Schlagzeilen war von den "schwarzen Haien" die Rede. Gewiß, der Verdacht lag nahe. Tom Rowland aber brauchte Beweise. Ob der Captain mit seinen Ermittlungen weiterkommen würde? Jo hatte schon den Telefonhörer in der Hand, dann legte er wieder auf. Es war zwecklos, so früh am Morgen nachzufragen. Er zwang sich zur Geduld. Sein Freund Tom Rowland mußte schließlich selbst das Ergebnis der Tonband-Untersuchung abwarten. Und so schnell, das wußte Jo aus Erfahrung, legten sich die Spezialisten in den Polizeilabors mit ihrem Urteil nicht fest. Sie gingen mit wissenschaftlicher Akribie vor. Eine gute Sache. Und wie heißt es: Gut Ding hat Weile. "Jo!" rief April im Nebenzimmer. Kurz darauf eilte sie zu ihm, ein Kuvert in der Hand. "Jo, schon wieder ein anonymer Brief! Von dem gleichen Absender!" "Moment mal", stutzte Jo. "Wenn der Brief anonym ist, woher willst du wissen, daß er vom gleichen Absender stammt?" "Der Absender ist natürlich nicht angegeben. Aber die Adresse ist mit der gleichen Maschine getippt worden wie die auf dem Briefumschlag, der die beiden Eintrittskarten enthielt." Sie zeigte ihm das Kuvert. "Hier, an Jo Walker. Siehst du das große J? Es hängt in der Luft. Genau wie bei dem Brief gestern. Die Type ist defekt." "Hast du den Umschlag von gestern noch?" "Nein, den hab' ich dummerweise weggeschmissen. Und der Papierkorb ist gestern nach Feierabend geleert worden." "Hm", machte Jo, und das klang skeptisch. "Du glaubst doch wohl nicht immer noch, daß ich dir die Karten geschickt habe?" "Vielleicht kann mich der Inhalt überzeugen. Was ist denn drin?" "Mach ihn doch selbst auf! Sonst glaubst du mir wieder nicht." Copyright 2001 by readersplanet
Jo seufzte, bohrte einen Finger unter die Lasche und riß das Kuvert auf. Er zog ein Foto heraus. "Ein Polarid-Bild", staunte April. "Und wieder ohne Anschreiben?" Jo nickte. Er betrachtete das Foto genauer. April trat hinter ihn und blickte ihm über die Schulter. "Das ist ja...", rief sie überrascht und schluckte vor Erregung. "Wer?" "Der Ermordete. Dennis Barbella. Ich habe sein Gesicht gesehen, als ich mit Captain Rowland sprach. Du warst noch ohne Besinnung. Da hob der Fotograf das Tuch weg. Ein schrecklicher Anblick. Ich konnte nicht lange hinsehen. Aber ich bin ganz sicher. Der Mann links auf dem Bild ist Dennis Barbella." Jo wurde plötzlich aktiv. Fast hektisch wühlte er in dem Zeitungsstapel, fischte ein Produkt heraus, blätterte es auf und zeigte mit dem Finger auf eines der Pressefotos. "Und das ist der Mann neben ihm", sagte er. "Tatsächlich!" Jo überflog den Artikel, dem er zuvor keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Der Mann hieß Sydney Cannon, war Inhaber eines Platten-Preßwerkes. Und ihm wurde gerade heute vormittag eine besondere Ehre zuteil. Der Staat verlieh ihm einen Orden. In Anerkennung seiner Verdienste, die hauptsächlich damit begründet wurden, daß Sydney Cannon in seinem Betrieb fast ausnahmslos Blinde beschäftigte. "Verstehst du den Zusammenhang?" fragte April. "Noch nicht", gab Jo zu. "Aber das soll sich ändern." "Was hast du vor?" "Ich werde diesem Wohltäter der Menschheit zu seiner Auszeichnung gratulieren."
* Sydney Cannons Werk lag an der Sheepshead Bay. Jo mußte hinüber nach Brooklyn. Bis zur Südspitze Manhattans hatte er freie Fahrt. Ein seltenes Erlebnis in dieser Millionenstadt. Aber schon vor den Zahlstellen des Brooklyn Battery Tunnels gab es den üblichen Stau. Wer in New York Auto fährt, muß Kleingeld und Geduld haben. Auf dem Gowanus Expressway ging es zügig vorwärts. Leider endete der bald, und Jo mußte auf dem Ocean Parkway einen Gang zurückschalten. In der "Schafskopfbucht" liegt die größte Fischereiflotte an der Atlantikküste. Sheepshead Bay - der Name war für Jo im wahrsten Sinne des Wortes anrüchig. Hier roch es nach Fisch. In dieser Gegend konzentrierten sich Fabriken, die Meerestiere konservenreif verarbeiteten. Außerdem gab es viele Fischbratküchen mit wirklich vorzüglichen Gerichten. Ein Schallplatten-Preßwerk in diesem Milieu? Jo kam wieder das Lied der Dorin in den Sinn: Kleiner Fisch, nimm dich in acht vor großen Haien... "Unsinn!" murmelte er halblaut vor sich hin und schüttelte über sich selbst den Kopf. Cannons Werk lag in einer Nebenstraße. Ein schäbiger Backstein-Komplex, an dem die Spuren der Zeit so sichtbar geworden waren, daß die Frontfassade nun renoviert werden mußte. Arbeiter nagelten Kunststoffplatten auf das brüchige Mauerwerk. Der asphaltierte Firmenparkplatz war vollgestellt mit Luxuslimousinen. Das sah nach Ehrengästen aus. Die Feierstunde war also noch nicht vorbei. Trotzdem mochte Jo nicht warten. Er parkte seinen Wagen am Straßenrand. Beim Aussteigen machten sich wieder seine Prellungen bemerkbar. Steifbeinig schritt er auf das Portal zu. Die Tür stand offen. Jo trat ein. Musik und Stimmengewirr drangen bis hierher. Eine schrullige Alte saß im Festtagskleid hinter einem Tisch. Wohl die Empfangsdame. Sie musterte ihn von oben bis unten. Copyright 2001 by readersplanet
"Für die Fahrer ist in dem Raum links gedeckt", sagte sie hochnäsig. Jo nickte lässig und ging weiter, fest entschlossen, nach rechts abzubiegen in den Festsaal. Er wollte zu Sydney Cannon. Und ihn fand er bestimmt nicht bei den Chauffeuren. Seine Absicht wurde allerdings von einem Wesen vereitelt, das seine Schönheit in ein Gedicht aus Tüll gehüllt hatte. Sie war taufrisch wie der junge Morgen. Ihre Augen funkelten wie Smaragde, der kindliche Mund lächelte honigsüß und entblößte eine selten ebenmäßige Reihe von Zähnen, die wie Perlen schimmerten. Dazu langes, gepflegtes goldblondes Haar. Sie wirkte wie ein Engel. Statt der Flügel trug sie eine große Platte, die mit Alufolie abgedeckt war. Gebannt von diesem Anblick blieb Jo stehen. Ehe er sich versah, hatte sie ihm die Platte in die Hände gedrückt. "Das sind Delikatessen", sagte sie. "Ich dulde nicht, daß ihr mit belegten Brötchen abgespeist werdet." Jo schluckte und wollte etwas sagen. Aber sie ging voraus und winkte ihm. "Komm schon! Die Ration ist nicht für dich allein. Deine Kollegen haben auch Hunger." Sie verschwand nach links, wo die Fahrer der Luxusdroschken auf ihre Bosse warteten. Um nicht in den Verdacht des Mundraubs zu gelangen, folgte ihr Jo, die Delikatessenplatte etwas ungelenk auf den Händen balancierend, was zum einen mit seinen steifen und schmerzenden Körperpartien, zum anderen damit zusammenhing, daß er eine Ausbildung als Kellner versäumt hatte. Ein vielstimmiges Beifallsgegröle schlug ihm entgegen. Das Mädchen mit dem Engels-Look riß die Platte wieder an sich und knallte sie auf den Tisch. "Nun freßt, bis ihr platzt", animierte sie. "Wenn's nicht reicht, hole ich Nachschub." "Du bist Klasse, Miriam!" rief einer. "Auf dein Wohl!" Die Fahrer tranken Sekt. Wahrscheinlich hatte den ebenfalls Miriam besorgt. Einige waren schon mehr in Stimmung, als die Polizei erlaubt. "Ich sehe nicht ein, daß die Fettsäcke da drinnen ihre feisten Wampen vollschlagen und sich bis zum Stehkragen mit Sekt vollpumpen, während ihr hier wie die Mauerblümchen hockt und euch Falten an den Hintern wartet." "Ganz richtig!" "Bravo!" Miriam fand allgemeine Zustimmung. Sie lächelte süß und selig wie ein Engel, und ihr himmlischer Blick blieb an Jo hängen. "Was ist, Kumpel? Schiebst du Kohldampf? Hau rein! Du hast ja gar kein Glas. Ich will mit dir anstoßen." "Später", wehrte Jo ab. "Erst muß ich mit Sydney Cannon sprechen." Ihre funkelnden Augen weiteten sich. "Mit dem alten Raffzahn?" Sie wirkte amüsiert. "Du?" Jo nickte. "Willst du die Stellung wechseln? Er hat schon einen Chauffeur." "Ich will nur ein paar Worte mit ihm wechseln. Und ich bin kein Chauffeur." "Du gefällst mir", verkündete sie und nahm seine Hand. "Ich bringe dich zu ihm. Hoffentlich sagst du ihm deine ehrliche Meinung. Jetzt, wo er seinen Orden an der Brust hat, muß er wieder auf den Teppich zurückgeholt werden." "Du hast keine gute Meinung von ihm." "Er ist ein mieser Kapitalist." "Und du?" "Ich bin seine Tochter." Copyright 2001 by readersplanet
"Oh", sagte Jo mit ehrlicher Überraschung. Da hatte der Herr Papa ja ein reizendes Früchtchen! Vielleicht ein wenig wurmstichig. Aber zum Anbeißen. Sie zog ihn hinter sich her in den Festsaal. Dort ging es hoch her. Eine sechsköpfige Band spielte Rockmusik. Dazu wurde getanzt. Was einige der sogenannten seriösen und besseren Herren darunter verstanden... "Spießer!" kommentierte Miriam mit einem spöttischen Blick auf die Szene. "Wir werden denen jetzt mal zeigen, wie man sich beim Tanzen von seinen Aggressionen befreit." "Bitte", sagte Jo erschrocken. "Nein." Er dachte an sein verbeultes Kreuz und die Schmerzen, die er bei jedem Schritt empfand. Aber Miriam war ein energischer Engel. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und übernahm das Kommando. Mit drei, vier eleganten Drehungen waren sie im Zentrum der Tanzfläche. Jo biß die Zähne zusammen. Er hätte nicht für möglich gehalten, daß sein geprellter Körper solche Eskapaden mitmachen würde. Es tat zwar weh, aber es ging. Und es ging immer besser, je länger er mit Miriam tanzte. Es war ein berauschendes Gefühl, ihren schlanken, gutgewachsenen Körper in den Armen zu halten. Sie strahlte ihn an wie ein Engel. Er lächelte zurück, fühlte sich im siebten Himmel und vergaß die Schmerzen. "Genug mit dem blöden Walzer!" beendete Miriam diesen Traum. "Das ist schließlich Rockmusik. Jetzt mal richtig!" Sie löste sich von ihm, ging auf Distanz und legte los. Miriam war eine wilde, aber hervorragende Rocktänzerin. Jo gab sein Bestes, wohl wissend, daß es nicht gut genug war, und er seufzte am Ende erschöpft und erleichtert. "Nicht schlecht für dein Alter", sagte Miriam mit einem honigsüßen Lächeln. "Warte hier, ich suche den Raffzahn." Als sie entschwand, schien sie wie ein Engel zu schweben. Jo sah ihr versonnen nach. Erst dann bemerkte er, daß viele Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Kein Wunder! Er wirkte mit seiner sportlichen Kombination wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft festlich gekleideter Gäste. Und so was tanzte mit der Tochter des Gastgebers! Er wollte sich schon in die Sektbar zurückziehen, da hörte er hinter sich eine weibliche Stimme, deren unverwechselbares Timbre ihm unter die Haut ging. "Hallo, Mr. Walker!" Dory Dorin! Unverkennbar. Jo drehte sich herum, nickte höflich lächelnd. Neben der Diva standen zwei Begleiter. Steward Draper, der Grauhaarige mit dem Raubvogelgesicht, machte selbst im Smoking keinen sympathischeren Eindruck auf Jo. Der andere Mann wurde ihm als Telly Porter vorgestellt. Auf den ersten Blick eine unscheinbare Erscheinung: klein, schmächtig, blaß. Das Markanteste an ihm war seine Glatze. "Sie sind ein guter Tänzer", schmeichelte Dory Dorin. Sie trug ein knöchellanges, schulterfreies Cocktailkleid aus hauchzarter Seide, durch die ihre langen Beine schimmerten. Das Dekollete war wieder atemberaubend. "Und er hat einen guten Geschmack, der Kommissar X", sagte Steward Draper mit einem süffisanten Lächeln. "Findest du?" In Telly Porters Tonfall lag blanker Hohn. "Ist Turnzeug jetzt Mode bei festlichen Anlässen?" "Wollen wir tanzen?" fragte Dory Dorin und bot Jo Gelegenheit, sich die passende Antwort für den Spötter zu ersparen. Er war schließlich dienstlich hier. Sein Tanz mit der Diva war um nichts zahmer. Sie legte es anscheinend darauf an, Miriam an Wildheit zu übertreffen. Und die Dorin war für ihre spontanen Extravaganzen bekannt. Hoffentlich läßt sie diesmal den Busen im Halter! betete Jo. Aber auch so erregten sie Aufmerksamkeit. Jo sah, wie drei Fotografen sich vor der Tanzfläche postierten. Einen kannte er. Es war Jim Brown, der für eine Presseagentur arbeitete. Und Jim Brown kannte ihn. Jo fand sich nicht gern in den Klatschspalten der Boulevardpresse wieder. Als es blitzte, versteckte er sein Gesicht hinter Dory Dorins kupferroter Haarmähne. Copyright 2001 by readersplanet
Jo war froh, als der Tanz vorbei war und Miriam zurückkehrte. Sie kam allein. Ihr Vater erwartete Jo. Der "Raffzahn" hatte sich in sein Büro zurückgezogen, um ungestört einige Telefongespräche erledigen zu können. Wenn er auch selbst im Mittelpunkt dieser Feierstunde stand: Geschäfte gingen vor. Sydney Cannon war ein großer, breitschultriger Mann. Das kantige Gesicht, die hohe, wuchtige Stirn, von lockigem Silberhaar umrahmt, und die markanten Lippen, über denen ein gestutzter Bart Akzente setzte, strahlten Energie aus. Die grauen Augen lagen tief unter buschigen Brauen und blickten unstet. Allein das widersprach dem Bild einer ansonsten selbstbewußten Persönlichkeit. Es gelang ihm nicht, eine innere Unruhe zu verbergen. Seine kräftigen Finger trommelten nervös auf die Schreibtischplatte, während er Jo mit fast peinlicher Genauigkeit musterte. "Sie sind also der neue Typ." "Wie bitte?" wunderte sich Jo. "Naja", schnarrte Sydney Cannon, "neu ist ja wohl übertrieben. Finden Sie nicht, daß Sie für meine Tochter ein bißchen alt sind?" Jo glaubte nicht richtig zu hören. Bis ihm schließlich klar wurde, daß den süßen Engel mal wieder der Teufel geritten haben mußte. "Miriam", sagte er scharf und sah sie strafend an. "Was haben Sie Ihrem Vater erzählt?" Miriam kicherte und schwieg. "Sind Sie..." Sydney Cannon fixierte seine Tochter. Er mußte sie doch eigentlich kennen. Natürlich! Krachend landete seine Faust auf dem Tisch. "Verdammt, was wird hier gespielt?" "Walker", stellte sich Jo vor. "Ich bin Privatdetektiv und möchte mit Ihnen reden. Möglichst unter vier Augen." "Privatdetektiv!" schwärmte Miriam. "Ich liebe Privatdetektive. Du siehst, Dad, ich habe nicht gelogen. Er ist wirklich mein neuer Typ. Ich..." "Raus!" Sydney Cannons kräftige Stimme klang wie Donner. Seine grauen Augen blitzten. Wütend schnaubte er durch die breiten Nasenlöcher. Wie eine Lokomotive, die Dampf abläßt. Wortlos zog sich seine Tochter zurück. Dafür warf sie vehement den Kopf in den Nacken und die Tür ins Schloß. "Pardon", sagte Sydney Cannon. Er trat auf Jo zu. Hinkend. Sein linkes Bein zog er nach. "Meine Tochter ist manchmal etwas übermütig. Das gibt sich mit den Jahren, hoffe ich." Er lächelte gequält. "Privatdetektiv sind Sie? Was wollen Sie von mir?" Jo griff in die Innentasche seines Jacketts, zog das Polaroid-Foto hervor und legte es auf den Schreibtisch. "Kennen Sie den Mann, der neben Ihnen steht?" Sydney Cannon zuckte zusammen. In seinen Augen war wieder dieses nervöse Flackern. "Wartete Sie", sagte er und massierte seine hohe Stirn, als müsse er den grauen Zellen einheizen. "Wann war denn das? Vor zwei Wochen. Oder drei. Ich kann mich beim besten Willen nicht genau erinnern." "Aber an den Mann?" "Nun." Cannon betrachtete das Foto noch einmal eingehend. "An das Gesicht ja. Aber an den Namen nicht." "Wirklich nicht?" Jo sah ihn prüfend an. Sein Gegenüber wich dem Blick aus. "Tut mir leid." Sydney Cannon schüttelte den Kopf. "Ich komme geschäftlich mit vielen Leuten zusammen. Vielleicht ein Künstler?" "Kein Künstler." Jo steckte das Bild wieder ein. "Haben Sie schon von dem Mord an Dennis Barbella gehört?"
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"Natürlich. Steward Draper, der Veranstalter des Konzerts, und Dory Dorin, die Künstlerin, sind heute meine Gäste. Die Story war natürlich Gesprächsthema Nummer eins." "Um auf das Foto zurückzukommen", sagte Jo. "Der Mann neben Ihnen ist Dennis Barbella." "Ach." Sydney Cannons Stimme klang heiser. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber in seinen grauen Augen war die Erregung sichtbar. Jo fühlte, daß der Mann nicht die Wahrheit sagte. Was hatte er zu verbergen? "Woher haben Sie eigentlich dieses Bild?" fragte Cannon. "Es wurde mir zugeschickt. Anonym. Wie am Tag zuvor zwei Eintrittskarten zu dem Konzert mit der Dorin. Auch die steckten kommentarlos in einem Brief ohne Absender." "Deshalb also ermitteln Sie. Obwohl das doch eigentlich Aufgabe der Polizei ist. Und die hat mich noch nicht belästigt." "Die hat auch das Foto nicht, das Sie zusammen mit dem Ermordeten zeigt." "Das will doch nichts heißen. Sind Sie nur deshalb zu mir gekommen?" "Ich hatte gehofft, Sie könnten mir bei der Lösung des Rätsels helfen." "Welches Rätsels?" "Des Rätsels mit den anonymen Briefen. Wer schickt sie mir? Und welche Gründe stecken dahinter?" "Das weiß ich nicht." Sydney Cannon erhob sich. "Ich muß mich jetzt wieder um meine Gäste kümmern. Tut mir leid." "Mir auch", sagte Jo, obwohl sein Besuch nicht vergebens gewesen war. Sydney Cannon verschwieg etwas, war sichtlich nervös. Diese Erkenntnis bot Ansatzpunkte. Jo verzichtete auf weitere Fragen, denn Cannon ließ keinen Zweifel daran, daß dieses Gespräch für ihn beendet war. Als Jo sich verabschiedete, blieb sein Blick auf der Brust des Fabrikbesitzers haften. Dort prangte in Gold der Orden, den Cannon soeben erhalten hatte. "Herzlichen Glückwunsch übrigens!" sagte Jo. Als er zu seinem Wagen ging, hörte er hinter sich Schritte. Stöckelschuhe klapperten über die Bürgersteigplatten. Miriam lief ihm nach. Sie war außer Atem. "Mein Vater lügt", keuchte sie. "Interessiert dich das?" "Sehr", sagte Jo und blieb stehen. "Treffen wir uns heute abend irgendwo", schlug sie vor. "Dann können wir in Ruhe über alles reden." Jo überhörte die unverblümte Einladung zum Rendezvous. "Wieso lügt dein Vater?" bohrte er nach. Miriam zögerte, ihre Stirn warf Falten. Sie überlegte. "Du mußt es mir jetzt sagen", drängte Jo. "Es ist wichtig." "Also!" sagte sie entschlossen. "Mein Vater behauptet, diesen Dennis Barbella, der gestern abend in dem Konzert ermordet worden ist, nicht zu kennen." "Du hast gelauscht." "An der Tür." Sie lächelte verschmitzt. "Ich bin von Natur aus neugierig." "Und?" "Was der alte Raffzahn sagt, stimmt nicht. Er muß diesen Barbella kennen. Der Typ war mehrmals bei ihm." "Geschäftlich?" fragte Jo, der seine Vermutungen bestätigt fand. "Wahrscheinlich. Was weiß ich. Ich pfeife auf die Geschäfte meines Alten." "Noch was?" "Das war's. Wenn du mehr willst, dann heute abend..." Copyright 2001 by readersplanet
Der Blick, mit dem sie ihn zu streicheln schien, war verlockend. Jo spürte ein angenehmes Prickeln auf der Haut. Es zog über Arme und Schultern zum Rücken. Und dort tat es ihm schlagartig wieder weh. Er hatte die Schmerzen fast schon vergessen. Jetzt waren sie wieder da, und sie machten sich stärker als vorher bemerkbar. "Danke", lächelte Jo mit Bittermiene. "Geh' jetzt wieder hinein, sonst erkältest du dich noch." "Und heute abend?" "Heute abend muß ich meine morschen Knochen pflegen", sagte Jo und ging. Miriam biß sich trotzig auf die Unterlippe und sah ihm nach. Als er in den Wagen stieg, rutschte ein nicht stubenreiner Fluch über ihre kirschroten Lippen.
* Jo wollte so schnell wie möglich mit Tom Rowland sprechen. Da es ohnehin kurz vor zwölf war, rief er seinen Freund über Autotelefon im Office an und verabredete sich mit ihm zum Lunch bei "A1 Coppers" in der 36. Straße West. Dort gab es ausgezeichnete Steaks. Jo berichtete von den beiden mysteriösen anonymen Briefen und seinem Besuch bei Sydney Cannon. Der Captain betrachtete das Polaroid-Foto und bestätigte, daß der Mann neben Sydney Cannon Dennis Barbella war. Wie Jo sah auch Tom Rowland eine heiße Spur. "Wenn wir es tatsächlich mit schwarzen Haien zu tun haben, und es sieht ganz so aus, dann müssen wir uns natürlich fragen, welche Rolle dieser Cannon spielt. Als Inhaber eines Werkes, das Schallplatten preßt, paßt er natürlich gut ins Drehbuch." "Sicher", stimmte Jo zu. "Aber da dreht noch einer im Hintergrund, den wir nicht kennen. Weshalb schickt er mir Eintrittskarten für ein Konzert, in dem Dennis Barbella getötet wird? Und dann dieses Foto, das den Ermordeten neben Cannon zeigt! Welchen Zweck verfolgt der anonyme Absender damit?" "Er lenkt bewußt den Verdacht auf Cannon." "Ja, aber warum?" "Vielleicht aus Rache. Oder Profitgier. Die Gangs der schwarzen Haie stehen untereinander in einem erbitterten Konkurrenzkampf." "Angenommen, Sydney Cannon ist verantwortlich für den Mord an Barbella", kombinierte Jo. "Glaubst du, er vertraut solche Pläne ausgerechnet seinem Widersacher an? Mein anonymer Briefschreiber muß aber vorher von dem Anschlag im Konzert gewußt haben." "Ist doch möglich", meinte Tom Rowland. "Die Sache ist von langer Hand geplant worden. Da war ein Bombenspezialist am Werk. Verräter, oder auch nur Schwätzer, gibt es überall." "Da ist was dran", sah Jo ein. "Das ganze Theater stinkt nach Intrige. Und mir hat einer, den ich nicht kenne, eine schäbige Rolle aufgezwungen." "Du brauchst sie nicht zu spielen. Überlaß' das uns." Tom Rowland grinste. "Aber wie ich dich kenne, hast du bereits zuviel Theaterluft geschnuppert." "Was haben denn deine Ermittlungen gebracht?" fragte Jo. Der Captain seufzte. "Nicht sehr viel. Der Sprengsatz wurde von einem Spezialisten in das Tonbandgerät eingebaut." "Mit mechanischer Zündung bei Tastendruck?" "Nein, Barbella hat vor der Dorin etwa eine halbe Stunde lang die Rockgruppe mitgeschnitten. Bei Betrieb läuft so ein Gerät heiß. Als eine bestimmte Temperatur erreicht war, explodierte es." "Ein Hitzezünder also." Jo überlegte. "Wie groß war denn das Aufnahmegerät?" "Aktentaschen-Format. Es steckte in einem Spezialkoffer, der an den Seiten zwei Schlitze für die Stereomikrofone hatte." Copyright 2001 by readersplanet
"So ein Ding kriegst du also nicht im Kaufhaus." "Wohl kaum. Es war ein Topmodell für Profis. Wird in Funkhäusern oft verwendet. Die rüsten ihre rasenden Reporter damit aus. Solche Geräte haben eingebaute Mischpulte mit diversen Flachbahnreglern für Multiplay, Echo und Nachhall, Vor- und Hinterbandkontrolle und sonstigen Schikanen. Wie im Tonstudio." "Dann müßte doch leicht festzustellen sein, wo Barbella dieses Gerät gekauft hat." "Es wurde nicht gekauft, sondern geklaut. Und zwar aus einem Fachgeschäft in Greenwich. Unter anderem. Die unbekannten Täter ließen noch gut ein Dutzend weitere Wertsachen mitgehen." "Da hat euer Computer ja gespurt", staunte Jo. "Trotzdem, wenn das so ist, hilft es uns nicht viel weiter." Tom Rowland hob bedauernd die Schultern und nickte zustimmend. "Und was haben deine Recherchen ergeben?" "Mein Verdacht hat sich bestätigt. Barbella war ein Fixer. Wir haben in seiner Bude Rauschgift gefunden. Wahrscheinlich finanzierte er das Zeug mit Bootlegs. Eine regelmäßige Arbeit hatte der Junge - er war gerade neunzehn - nicht. Aufgewachsen ist er in einem Waisenhaus in Los Angeles. Das ist sein Geburtsort. Seine Eltern starben, als er noch ein Baby war. Mit sechzehn ist er dann zu seiner älteren Schwester nach New York gezogen. Sie hausten zusammen auf ihrer Bude in Harlem. Vor einem Jahr starb auch sie. An einer Überdosis Heroin. Nach ihrem Tod wurde Barbella ein Einzelgänger, ein Sonderling. So jedenfalls schilderte ihn uns die Zimmerwirtin. Deshalb liegt sein Bekanntenkreis, sofern er überhaupt einen hatte, für uns so gut wie im Nebel. Vor einigen Wochen allerdings hat er ein Mädchen kennengelernt. Sie soll Nina Lewis heißen. Er brachte sie öfter mit auf sein Zimmer. Deshalb konnte uns die Wirtin auch eine Personenbeschreibung geben." "Habt ihr das Mädchen gefunden?" "Nein, noch nicht." Jo kaute nachdenklich auf seinem Steak und fixierte die Tischkerze. "Zünd' uns doch mal ein Lichtlein an!" sagte er sarkastisch. "Wir tappen nämlich beide ganz schön im Dunkeln." In seinem Büro wartete auf Jo schon die nächste Überraschung. April war wie aufgedreht, als sie ihm einen neuen anonymen Brief präsentierte. Sie hatte ihn nach der Mittagspause im Briefkasten gefunden. Der Unbekannte konnte seine Sendung diesmal nicht mit der Post geschickt haben. Das Kuvert war unfrankiert, vermutlich hatte er den Umschlag selbst eingeworfen. Nicht nur das widersprach den beiden Fällen zuvor. Dieser dritte anonyme Brief mußte auf einer anderen Schreibmaschine getippt worden sein. Das ergab ein Vergleich mit dem zweiten absenderlosen Brief. Die Anschriften hatten ein unterschiedliches Schriftbild. Das große J schwebte beim dritten Brief nicht in der Luft. Und noch eine Abweichung war augenfällig! Der Absender des letzten Briefes war ungeschickt. Er hatte sich allein beim Schreiben der Adresse dreimal vertippt. "Jetzt bin ich gespannt auf den Inhalt", sagte Jo und öffnete das Kuvert. Eine Eintrittskarte kam zum Vorschein. Reihe 6, Platz 6 in der Music Hall. Für das Konzert heute abend mit Cliff Carlin. "Nur eine?" fragte April. "Wie du siehst. Und wieder ganz kommentarlos. Wie gehabt." "Die anonymen Gönner werden auch immer knausriger", stellte April fest. "Immerhin wirst du jetzt wohl nicht glauben, daß dieser Brief von mir stammt." "Wenn du heute abend nicht zufällig neben mir sitzt..." "Keine Angst, ich habe weder Platz 5 noch Platz 7, noch sonst einen Platz in der sechsten Reihe. Ich habe überhaupt noch keinen Platz. Aber an der Abendkasse werde ich wohl noch einen kriegen, denn dieser Cliff Carlin ist längst nicht so zugkräftig wie Dory Dorin." Copyright 2001 by readersplanet
"Ich gehe allein", betonte Jo. "Ich auch", erwiderte April schnippisch. "Meine Freizeit gestalte ich, wie es mir paßt." "Und wenn ich dich bitte, Überstunden zu machen?" "Werde ich mich gewerkschaftlich organisieren. Überhaupt, was sollte ich schon tun?" "Du könntest beispielsweise meinem Freund Tom Rowland helfen, Nina Lewis zu finden." "Wer ist Nina Lewis?" "Die Freundin von Dennis Barbella. Vielleicht kann sie uns auf die Sprünge helfen." "Das klingt wenig optimistisch. Sydney Cannon war wohl keine Offenbarung?" "Zumindest war er weder offen noch ehrlich. Ich bin sicher, der weiß mehr, als er mir auf die Nase gebunden hat." "Dann ist diese Nina Lewis wohl so etwas wie ein rettender Strohhalm. Aber ein Girl in New York zu finden...Dann eher eine Stecknadel im Heu." "Das wollen wir getrost der Polizei überlassen. Die hat mit ihrem umfangreichen Apparat bessere Möglichkeiten." "Und meine Überstunden?" "War nur ein Scherz." Fünf Minuten lang war April sauer und sprach kein Wort mit Jo. Dann beendete sie das Schweigen mit einer Frage. "Sehen wir uns nach dem Konzert?" "Du weißt ja, wo ich sitze", sagte Jo. Die Musiker stimmten noch ihre Instrumente, als 30 Platz 6 in Reihe 6 ansteuerte. Der Saal war heute abend nicht so voll wie gestern bei der Dorin. Auf Platz 5 saß eine füllige Frau, die bestimmt schon in den Wechseljahren war und sich widerwillig ächzend erhob, weil Jo nur so an ihr vorbei kam. Die Stuhlreihen standen zu eng für Leute mit Übergewicht. "Hallo!" rief die Nachbarin auf Platz 7. Jo traute seinen Augen nicht. Miriam Cannon! "Nett, daß du meiner Einladung gefolgt bist", schmunzelte sie vergnügt. Jo fehlten die Worte. Er setzte sich erst einmal hin und faßte sich an den Kopf. "Hat es dir die Sprache verschlagen?" lachte Miriam. Sie trug Jeans und einen giftgrünen Pullover. Auch in dieser Kluft sah sie reizend aus. Der Pulli stach nicht nur wegen seiner auffälligen Farbe ins Auge. Er war einige Nummern zu klein, und auf dem Busen, wo er sich extrem spannte, mit einer eindeutigen Aufforderung bedruckt: "Make love!" "Hast du mir die Eintrittskarte geschickt?" fragte Jo. "Erraten", kicherte sie. "Dufte Idee, was!" "Bilde dir nichts ein", sagte Jo. "Der Trick kommt mir bekannt vor. Du schmückst dich mit fremden Federn." "Zugegeben, aber meine Karte ist origineller als die beiden, die man dir gestern zugeschickt hat, Reihe 6, Platz 6 - ganz schön sexy, findest du nicht? Ich habe sie mit Liebe ausgesucht." Miriam lächelte verführerisch. Unter ihrem sonnigen Gemüt schmolz Jos Zorn dahin. "Du bist ein Engel", sagte er. "Doch leider mit einem B davor." "Du hast erst einmal mit mir getanzt", entgegnete sie, "und schon fällst du ein Urteil über mich. Wir sollten öfters zusammen tanzen. Ich gebe nächstes Wochenende eine Party. Auf unserer Yacht. Sie liegt vor unserer Sommerresidenz auf Coney Island." "So spricht die Tochter eines Kapitalisten." "Pah!" machte sie abfällig. "Ich dachte, das imponiert dir. Für mich spielt Geld keine Rolle." Copyright 2001 by readersplanet
"Wenn man's hat..." "Du kennst mich wirklich schlecht. Wir müssen uns unbedingt näher kennenlernen." Die schwergewichtige Nachbarin zu seiner Linken ächzte unüberhörbar und stand erneut auf, weil noch jemand durch die enge Reihe stieg. Jo erhob sich ebenfalls. Miriam zog die Beine ein. Kaum hatte Jo wieder Platz genommen, da hörte er seinen Vornamen. April stand am Anfang der Reihe und winkte ihm zu. "Ich sitze in Reihe 46", rief sie. Jo nickte und wollte die Hand zum Gruß heben. Das verhinderte Miriam. Sie warf sich in seine Arme, und ehe er es verhindern konnte, küßte sie ihn. Einmal, zweimal. "Aller guten Dinge sind drei", sagte sie, das unschuldige Lächeln eines Kindes auf den sanften Lippen, und setzte erneut an. Das war zuviel für April. Als Jo wieder freie Sicht hatte, war seine Volontärin verschwunden. "Na, wie hat es geschmeckt?" fragte Miriam triumphierend. "Nach Pfefferminz", sagte Jo und leckte sich über den Mund. "Nicht nach mehr?" Jo holte tief Luft. "Mädchen", stieß er hervor, "eigentlich bin ich gegen die Prügelstrafe, aber ich glaube, dein Vater hat einiges versäumt." Die schwergewichtige Nachbarin räusperte sich. Sie hatte die Szene mitgekriegt und warf Jo einen mißbilligenden Blick zu. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne gelenkt, denn dort begann das Programm. Wie gestern Dory Dorin ließ auch Cliff Carlin seine Fans von einer Rockgruppe in Stimmung bringen. Wieder dauerte es etwa eine halbe Stunde, bis der Star auftrat. Cliff Carlin knatterte mit einem schweren Motorrad auf die Bühne. Er machte einen auf Rocker: Blue Jeans, Lederjacke, Sturzhelm. Die Musik entsprach dem Motorradlärm. Carlin versuchte beides mit seiner Stimme zu überbieten. Was er ins Mikrofon schrie, war kaum zu verstehen, obwohl er sich dabei so sehr anstrengte, daß ihm der Schweiß über das Gesicht lief. Als er sich den Helm vom Kopf riß, fiel eine glänzende Schmachtlocke in seine Stirn. Seine unbändige Leidenschaft steckte an. Das Publikum ging mit, klatschte den Rhythmus. Die erste Nummer war, am Beifall gemessen, ein Erfolg. Cliff Carlin verneigte sich mehrfach, lief zum Bandleader, bedankte sich bei ihm und kehrte ans Mikrofon zurück. Offenbar wollte er etwas sagen. "Meine Freunde", begann er, "ich bitte für eine Minute um eure geschätzte Aufmerksamkeit. Es ist ja normal, daß ein Sänger singt, aber es kommt selten vor, daß ein Sänger auch mal was zu sagen hat." Gelächter im Saal. Einige klatschten, wurden aber sofort von Cliff Carlin gebremst. Der Rock-Star fuhr fort: "Gestern gab es in diesem Saal einen bedauerlichen Zwischenfall. Sicher habt ihr darüber schon in den Zeitungen gelesen. Der Verdacht liegt nahe, daß Dennis Barbella Mitglied der berüchtigten schwarzen Haie war und nun ihr Opfer geworden ist." Jo horchte auf. "Schwarze Haie", erklärte Cliff Carlin, "sind in unserer Branche zu Hause. Sie stehlen uns die Butter vom Brot. Durch Bootlegs, illegale Mitschnitte, die sie in Form von Platten und Kassetten zu Billigpreisen auf den Schwarzmarkt werfen. Um gegen diese Methoden zu protestieren, habe ich mich entschlossen, dieses Konzert platzen zu lassen. Den Gangstern muß endlich das Handwerk gelegt werden!" Ein Raunen ging durch den Saal. Vereinzelt wurden Pfiffe laut. "Mir ist dieser Entschluß nicht leicht gefallen, denn schließlich seid ihr die Leidtragenden. Aber es muß einmal ein Exempel statuiert werden. Hier und jetzt. Denn gestern ist mir einiges klar geworden. Es war für mich wie ein Schlag mit dem Holzhammer, mitten ins Copyright 2001 by readersplanet
Gesicht. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber es ist eine bittere Erkenntnis, daß einer dieser schwarzen Haie..." Cliff Carlin verstummte mitten im Satz und knickte in den Knien ein. Seine Hände suchten Halt am Mikrofon. Es kippte um. Der Rockstar stürzte darüber. Krachend schlug er mit dem Kopf auf die Bretter, die für ihn die Welt bedeutet hatten. Jo sprang auf, als die meisten im Saal noch vor Schrecken wie erstarrt waren. Sein geschultes Ohr hatte das dumpfe Plopp einer schallgedämpften Waffe vernommen. Er verließ seinen Platz, trat seiner dicken Nachbarin auf die Zehen, nahm sich keine Zeit für eine Entschuldigung, stürmte weiter, stolperte über die Schnürstiefel einer anderen, stürzte und landete auf dem Boden außerhalb der Reihe. Für einen Moment spürte er den Protest seines lädierten Rückens, aber er biß die Zähne zusammen, ignorierte die Schmerzen, raffte sich hoch und rannte nach vorn. Mit einer schwungvollen Flanke hievte er sich auf die höher liegende Bühne. Cliff Carlin lag reglos. Jo beugte sich über ihn und sah das kreisrunde Loch in der Lederjacke. Ein Schuß in den Rücken. Der Schütze mußte also irgendwo hinter der Bühne gestanden haben. Ein paar Musiker hatten ihren Schock überwunden. Sie eilten herbei, drängten Jo zur Seite. Immer mehr Menschen versammelten sich auf der Bühne. Es herrschte ein hektisches Durcheinander. Die Unruhe übertrug sich auf das Publikum. Viele hielt es nicht mehr auf den Sitzen. Panikstimmung machte sich breit, ein ähnliches Chaos wie gestern beim Konzert der Dorin drohte. "Vorhang!" hörte Jo eine energische Stimme, die alles andere übertönte. Er sah Steward Draper wild gestikulieren. Der Vorhang fiel. Draper rannte an Jo vorbei, ohne ihn zu beachten. Er zog den Dirigenten, der sich fassungslos über Cliff Carlin beugte, unsanft zur Seite. "Musik!" schrie er. "Spielt, was ihr wollt, aber spielt, damit sich das Volk beruhigt." Sanitäter eilten herbei. Jemand rief nach einem Arzt. Jo wußte, daß auch der nicht mehr helfen konnte. Cliff Carlin war tot. Die Einschußstelle lag genau in Höhe des Herzens. Jo suchte den Mörder. Über die Seitenbühne gelangte er in das Halbdunkel eines langen Flurs mit vielen Türen. Er riß die erste auf und prallte zurück. Eine Gruppe dürftig bekleideter Girls stimmte ein kreischendes Protestgeschrei an. Jo schloß eiligst die Garderobentür. Natürlich war er sonst höflicher und klopfte vorher an. Aber im Augenblick blieb für Anstandsregeln keine Zeit. Jo riß die nächste Tür auf. Die Garderobe war leer. Er fluchte. Auf diese Weise verlor er zuviel Zeit. Die Möglichkeit, daß der Mörder hinter einer dieser Türen verschwunden war und seine Waffe versteckt hatte, konnte nicht ausgeschlossen werden, zumal dann, wenn der Täter aus diesem Milieu kam. Jeder andere würde fliehen. Hatte der Killer das Gebäude erst einmal verlassen, war es schwer, ihn jemals zu finden. Dieser Aspekt trieb Jo vorwärts. Er wußte nicht, wo der lange Flur hinführte. Als er um die Ecke bog, prallte er mit Dory Dorin zusammen. Die Diva trug ein dunkelblaues Abendkleid mit dem üblichen, ihrem Ruf entsprechenden Dekollete. Sie war erschrocken, legte beide Hände über ihre Blöße nahe des Herzens und rang nach Luft. "Kommissar X!" stieß sie hervor, und das klang irgendwie erleichtert. "Ich bin sonst nicht so stürmisch und umwerfend", entschuldigte sich Jo, "aber ich suche den Mörder." "Ich hab' ihn gesehen", sagte sie mit belegter Stimme. "Er stand auf der Beleuchterbrücke. Ich sah, wie er mit einem Gewehr..." "Wo ist er hin?" Dory Dorin deutete auf eine Glastür. "Ins Treppenhaus. Es führt in den Hinterhof." Jo verlor keine Zeit und rannte los. Als er den Treppenflur erreicht hatte, fiel unten eine Tür ins Schloß. Er nahm mehrere Stufen auf einmal und stürzte ans nächste Fenster. Eine hochgewachsene Gestalt eilte über den asphaltierten Innenhof. Sie war eingehüllt in einen Copyright 2001 by readersplanet
jener blauen Kittel, die Jo bei den Bühnenarbeitern gesehen hatte. Der Mörder? Jo war fast sicher. Der Geigenkasten, den der Mann mit sich schleppte, bot ein ideales Versteck für die Mordwaffe. Und der Kerl hatte es verdammt eilig. Im Innenhof parkten die Wagen der Künstler und Bühnenangestellten. Der Mann mit dem Geigenkasten lief daran vorbei, auf die enge Ausfahrt zu. Sie wurde von einer Außenlampe beleuchtet. Als er sich umdrehte, konnte Jo sein Gesicht sehen. Für einen kurzen Augenblick nur. Aber der genügte. Jo kannte diesen Mann. Und jetzt gab es für ihn keinen Zweifel mehr daran, daß er den Mörder vor sich hatte. Obwohl es nahezu aussichtslos schien, ihn noch zu erwischen, weil der Vorsprung einfach zu groß war, setzte Jo die Verfolgung fort. In halsbrecherischer Weise stürmte er die Stufen hinab. Ein Stockwerk tiefer wurde eine Tür geöffnet. Fünf, sechs Männer verstellten ihm den Weg. Sie trugen blaue Kittel, hatten sich mit Knüppeln und Werkzeugen bewaffnet. Ihre Gesichter waren verzerrt. Blinde Wut, grimmige Entschlossenheit spiegelten sich darin. Einer von ihnen zeigte auf Jo."Da ist das Schwein!" rief er und hob drohend seine Rechte, in der ein schwerer Schraubenschlüssel lag. Ehe Jo den Irrtum aufklären konnte, stürzten sich die Männer auf ihn. Da halfen keine Worte mehr. Jo wehrte sich so gut er konnte. Aber die Überzahl war zu groß. Die Blaukittel glaubten; den Mörder gefaßt zu haben, und für den gaben sie kein Pardon. Etwas Hartes krachte auf Jos Schädel und raubte ihm die Besinnung.
* Jo empfand wenig Lebensfreude, als seine Sinne langsam zurückkehrten. Nur mühsam ordneten sie sich in dem Nebel, der wie ein Schleier vor seinen Augen lag, und dem dröhnenden Stakkato, das ein mittleres Hammerwerk in seinem Hinterkopf zu erzeugen schien. Als erster funktionierte sein Geruchssinn. Ein aufdringlich schwüler Moschusduft lag in der Luft. Jo rümpfte die Nase, schlug schwerfällig die Augenlider hoch und blinzelte in ein hübsches, besorgtes Antlitz. "Bist du okay?" fragte April Bondy. "Weiß nicht", stöhnte Jo, strich mit einer Hand über seinen Schädel und ertastete eine beachtliche Beule. "Vielleicht habe ich Halluzinationen, aber hier stinkt es wie im Freudenhaus. Ist das deine neue Duftnote?" "Meine nicht", lachte April, die erleichtert feststellte, daß Jo durch den Schlag auf den Hinterkopf offenbar keine Beeinträchtigung seiner Persönlichkeit erlitten hatte. "Das ist Dory Dorins Komposition. Du liegst in ihrer Garderobe." "Hm." Jo verzog den Mund zu einem gequälten Grinsen. "Für ihre Fans bin ich nun wohl ein Glückspilz." "Für mich bist du eher ein Pechvogel", widersprach April. "Gestern k.o. getrampelt, heute k.o. geschlagen." Sie griff nach einer Illustrierten und schwenkte ihm damit vor der Nase herum. "Du solltest künftig dein Horoskop mehr beachten!" "Bin ich abergläubisch?" "Hör zu!" sagte sie und las vor: "Wer in diesen Tagen seine Nase zu tief in fremde Angelegenheit steckt, muß mit schmerzlichen Erfahrungen rechnen." "Quatsch!" sagte Jo bitter. "Das ist mein Job. Dafür werde ich schließlich bezahlt." "So?" April schüttelte den Kopf. "Wer bezahlt dich denn in diesem Fall?" Copyright 2001 by readersplanet
"Seit wann bist du ein derartiger Materialist?" "Seit wann spielt Geld für dich keine Rolle?" "Dieser Spruch stammt nicht von mir, sondern von Miriam Cannon." Bei diesem Namen warf April den Kopf zurück. "Wo ist dieser Teenager eigentlich geblieben?" fragte sie mit spitzer Zunge. "Du scheinst in ihr nur flüchtiges Interesse geweckt zu haben." "Möglich", meinte Jo. "Immerhin habe ich sie sitzen lassen und bin weggelaufen." "Weil sie so leidenschaftlich küßt?" "Weil ich den Mörder fassen wollte", stellte er richtig. "Aber ich gebe zu, daß mir diese unerwartete Szene peinlich war." "Pah!" machte April und griff erneut zur Illustrierten. "Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen, aber vielleicht hilft dir dein Horoskop zu einer Spur Lebensweisheit. Hier steht unter Herzenssachen: Hände weg von flüchtigen Abenteuern! Sie verbrennen sich schnell die Finger!" "Aua, aua!" antwortete Jo aus einer spontanen Empfindung heraus. "Meine Finger zählen zu den wenigen glücklichen Körperpartien an mir, die nicht zerschunden sind." Die Garderobentür wurde geöffnet. Tom Rowland trat ein. Der große, sonst so energiegeladene Captain wirkte heute abend müde. Zwei Konzerte, zwei Morde in diesem Theater. Das hatte selbst ihm, der Kummer gewöhnt war, die Stimmung verdorben. Davon kündete sein mürrisches Gesicht, das sich ein wenig erhellte, als er Jo mit wachen Sinnen sah. "Ausgeschlafen?" fragte er mit dem Humor eines Leichenbitters. "Dann bist du hoffentlich vernehmungsfähig. Oder brauchst du wieder einen Whisky?« "Diesmal nicht", wehrte Jo ab. "Sonst wird das zur Gewohnheit. Nichts gegen Whisky, aber..." "...deine Ohnmachtsanfälle bei Pop-Konzerten machen dir Sorgen", führte Tom Rowland fort. "Mir auch." Ich glaube, du bist doch ein Fan. Für die ist das typisch. Was sonst hat dich heute schon wieder hierher getrieben?" "Diesmal hat er die Eintrittskarte von seiner anonymen Freundin", sagte April ironisch. "Veräppeln kann ich mich selbst", zürnte der Captain. "Kommen wir zur Sache! Die Dorin sagt, du hast den Mörder gesehen, Jo. Stimmt das?" "Das weiß ich nicht." Tom Rowland sah seinen Freund mit erhobenen Brauen an. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. "Nicht ich, sondern die Dorin behauptet, den Mörder gesehen zu haben", erklärte Jo. "Ich kann dir nur bestätigen, daß ich einen Mann verfolgt habe, der das Theater fluchtartig verließ." "Erbsenzähler!" schimpfte der Captain. "Ich werde ja wohl noch zwei und zwei zusammenrechnen dürfen. Und das ergibt nach wie vor vier. Wir haben der Dorin unser Album gezeigt. Sie tippt auf Terry Dixon. Aber sicher ist sie nicht." "Deine Rechnung geht auf", nickte Jo, denn ich habe tatsächlich Terry Dixon verfolgt." "Du hast ihn einwandfrei erkannt?" "Kein Zweifel. Im Lichtschein der Lampe an der Ausfahrt konnte ich sein Gesicht deutlich sehen." "Na, also!" Der Captain schlug sich krachend auf die Oberschenkel. "Da haben wir doch was Saftiges in der Hand. Greifen wir zu und quetschen es aus!" "Gut gesprochen, Alter", sagte Jo und zündete sich eine Pall Mall an. "Aber das ist leichter gesagt als getan."
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"Terry Dixon?" April warf die Stirn in Falten. "Hat der nicht auch Bob Handerson und Andrew Farrow umgelegt?" "Und einige andere mehr", nickte Jo. "Terry Dixon ist Berufskiller. Er steht schon seit einiger Zeit ganz oben auf Toms Fahndungsliste." "Diesmal werden wir ihn fassen!" sagte der Captain zähneknirschend. "Bisher konnte er uns stets entwischen. Aber diesmal..." Es klopfte an der Tür. Dory Dorin trat ein. An ihren berüchtigten Busen preßte sie etwas, das in Geschenkpapier gewickelt war. "Dürfen wir stören?" fragte die Diva artig. "Bitte!" schnaubte Tom Rowland ungehalten. "Das ist schließlich Ihre Garderobe." "Wie geht es Ihnen, Mr. Walker?" erkundigte sich Dory Dorin mit einer Stimme, die vor Mitleid nahezu zerfloß. "Seit gestern fühle ich mich wie ein Politiker", stellte Jo fest. "Die müssen auch immer die gleichen Fragen beantworten." "Es...es tut uns allen so leid, daß...daß Sie..." Die Diva suchte nach Worten. Mochte Singen bei ihr Gold sein, Reden war nicht einmal Silber, nur Blech - fand Jo. "Ihr Mitgefühl ehrt mich", half er ihr aus der Klemme. "In meinem Job bin ich leichte Schläge auf den Hinterkopf gewöhnt. Die erhöhen bekanntlich das Denkvermögen. Und so gesehen profitiere ich sogar geschäftlich davon. Wie kann ich meinem Gönner danken?" "Geben Sie ihm Gelegenheit, sich zu entschuldigen", bat die Dorin und machte den Weg für einen kleinen, stämmigen Burschen mit Bürstenhaarschnitt frei. Zögernd trat er ins Zimmer und versteckte seine Hände in den tiefen Taschen des blauen Kittels. Schuldbewußt senkte er den Blick. Jo erkannte den etwa vierzigjährigen Mann, der wie ein Schulbub vor ihm stand. Von ihm war er als Schwein tituliert worden. Hinter dem Blaukittel erschien, im eleganten Smoking, Steward Draper. Sein Raubvogelgesicht wirkte nach den aufregenden Stunden der beiden letzten Tage ebenso grau wie sein schütteres Haar. Der Konzert-Manager grüßte steif und stellte den Unbekannten im blauen Kittel vor. "Das ist Mr. Bengtson, unser Maschinenmeister. Er hat Sie irrtümlich niedergeschlagen, Mr. Walker." Aller Augen richteten sich auf Bengtson, der unentschlossen in seinen Taschen wühlte, bis er schließlich von Dory Dorin einen energischen Stoß in die Seite erhielt. "Es...es tut mir leid, Sir. Wirklich...leid...sehr leid", druckste er herum. "Aber wir dachten...wir dachten..." "Sie dachten, ich bin der Mörder", nickte Jo. "Irren ist menschlich." "Ich möchte mich entschuldigen." "Okay", sagte Jo. "Aber eins interessiert mich noch: Haben Sie mit dem...Schraubenschlüssel zugeschlagen?" Bengtson nickte. "Aber nur mit halber Kraft." "Zum Glück", stellte Jo fest. "Die Dosis reichte." Er strich über seine Beule am Kopf. "Wenn Sie noch einmal zuschlagen, überzeugen Sie sich vorher, ob Sie den Richtigen treffen. Das erspart den Ärger nachher." Bengtson rang sich ein zustimmendes Grunzen ab. Die Sache war ihm peinlich. Jetzt hatte er sie hinter sich. Fast. Dory Dorin drückte ihm das Geschenk in die Hand. Er übergab es Jo. "Ein kleines Trostpflaster", sagte Bengtson und hatte es dann sehr eilig, den Raum zu verlassen. "Ich möchte es mir nicht nehmen lassen", erklärte Steward Draper, "Ihnen, sehr verehrter Mr. Walker, ebenfalls mein aufrichtiges Bedauern darüber auszudrücken, daß Sie gestern und heute ausgerechnet in meinen Konzerten so arg in Mitleidenschaft gezogen worden sind."
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Gestelzte Worte in schmalzigem Tonfall. Dazu diese Scheinheiligkeit in dem Geiergesicht. Jo mochte den aalglatten Draper einfach nicht leiden. "Bedauern Sie sich selbst", empfahl er kühl. "Sie haben schließlich Geld in zwei Konzerte gesteckt, die durch Morde geplatzt sind." "Mein Konzert fällt nicht aus", schaltete sich Dory Dorin ein. "Es wird nachgeholt. Das bin ich meinem Publikum..." "Ich weiß", unterbrach Jo, dem diese Erklärung nicht neu war, "aber Cliff Carlin hat keine Gelegenheit mehr zu einer solch edlen Gesinnung." Für zwei Augenblicke herrschte betretenes Schweigen. "Warum mußte Carlin sterben?" überlegte Jo laut und wandte sich an Steward Draper. "Wie gut kannten Sie ihn?" "Er stand bei mir unter Vertrag. Wir hatten geschäftliche, aber keine privaten Verbindungen." Jo erinnerte sich an die letzten Worte des Sängers, die dieser wie eine Anklage von der Bühne an sein Publikum gerichtet hatte. "Merkwürdig", stellte er fest, "gestern wurde hier Dennis Barbella ermordet. Der Verdacht liegt nahe, daß die schwarzen Haie sein Todesurteil beschlossen haben. Cliff Carlin war davon offenbar überzeugt. Er sprach heute abend sogar von einer ganz bitteren Erkenntnis. Aber bevor er sie mitteilen konnte, wurde er zum Schweigen gebracht. Haben Sie eine Ahnung, was Cliff Carlin gemeint haben könnte, Mr. Draper?" "Nein", sagte Steward Draper. "Dafür habe ich keine Erklärung." "Aber die schwarzen Haie sind Ihnen ein Begriff?" "Natürlich. Wir sind in dieser Branche schließlich die Betroffenen. Aber mehr als aus Zeitungsberichten und von Gerüchten weiß ich auch nicht." Steward Draper räusperte sich. "Ich habe den Eindruck, Mr. Walker, Sie führen hier ein Verhör. Ich habe aber schon dem Captain alle Fragen beantwortet." "Sorry", sagte Jo. "Ich will Ihre Nerven nicht noch mehr strapazieren. Nur noch eins: Vermißt irgend jemand einen blauen Kittel?" "Einen blauen Kittel?" Draper schien verblüfft. "Nicht, daß ich wüßte. Aber ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern." "Natürlich nicht, aber der Mörder trug einen blauen Kittel - wie die Bühnenarbeiter." "Das stimmt", bestätigte Dory Dorin. "Ich habe ihn gesehen, als er auf der Beleuchterbrücke stand." "Kittel hängen jede Menge in den Belegschaftsräumen herum", sagte Draper. "Es ist kein Problem, sich dort einen zu besorgen." "Der Mörder hatte ein Gewehr?" wandte sich Jo an Dory Dorin. Die Diva nickte. "Aber fragen Sie mich nicht nach dem Fabrikat. Davon habe ich keine blasse Ahnung." "Da wir wissen, wer der Mörder ist", schaltete sich Tom Rowland ein, "werden wir sicher auch bald erfahren, mit welcher Waffe er geschossen hat." "Aber beschwören möchte ich nichts!" gab Dory Dorin zu bedenken. "Ich bin nicht sicher, ob dieser Mann auf dem Polizei-Foto auch wirklich..." "Wir haben noch einen Zeugen", beruhigte sie Tom Rowland. "Jo Walker hat Terry Dixon auf der Flucht eindeutig identifiziert." "Ach!" staunte die Diva. "Da bin ich aber beruhigt." Sie atmete sichtbar auf, denn ihr üppiger Busen drohte das enge Mieder zu sprengen. "Dann stehe ich also nicht allein, sondern habe den berühmten Kommissar X auf meiner Seite." Sie strahlte Jo derart an, daß es April sauer aufstieß. Als Dory Dorin und Steward Draper den Raum verlassen hatten, drängte April, das Geschenk auszupacken. Eine Flasche kam zum Vorschein. "Doch noch Whisky", grinste Tom Rowland. Copyright 2001 by readersplanet
"Willst du einen?" fragte Jo. Der Captain wehrte ab. "Ich muß noch ins Büro, mich um die Fahndung kümmern. Wir werden sie intensivieren wie noch nie. Terry Dixon ist kein kleiner, aber ein schlüpfriger Fisch. Immer wieder ist er uns durch die Maschen gegangen. Diesmal muß er im Netz zappeln!"
* Seit fast zwei Jahren jagte die Polizei ergebnislos hinter Terry Dixon her. In dieser Zeit war das Schuldkonto im Strafregister des Berufskillers enorm gewachsen. Sein Bankkonto sicher auch. Das Maß war voll" schon lange vor dem Mord an dem Popsänger Cliff Carlin. Aber auch der funktionstüchtigste Polizeiapparat ließ Lücken offen. Die hatte Dixon bisher geschickt genutzt. Obwohl intensiv nach ihm gefahndet wurde, sehr intensiv sogar. Ging es überhaupt noch intensiver? Jo hatte seine Zweifel. Er teilte den Optimismus seines Freundes Tom Rowland nicht. Gerade deshalb war er entschlossen, dem Captain zu helfen. Jo baute auf seine guten Kontakte zur Unterwelt. Von dort hatte er schon mehrfach heiße Tips erhalten. Oft gegen Bargeld - natürlich, denn das lachte dort. Aber es gab auch in diesem Milieu Zeitgenossen, die für Mord kein Verständnis hatten. Mit ihrer Unterstützung hoffte Jo, Terry Dixon zu finden. Cliff Carlins Mörder war offensichtlich bestellt worden. Der Weg zum Auftraggeber führte über ihn. Gleich am nächsten Morgen wollte Jo sein Glück versuchen. Aus diesem Grunde mußte April kurz nach dem Frühstück die nächste Überraschung allein verdauen. Als sie im Office die Post sichtete, entdeckte sie wieder einen Brief ohne Absender. Die Anschrift war erneut auf der Schreibmaschine mit dem fehlerhaften J getippt worden. Ebenfalls der Zettel im Kuvert. Darauf stand eine Adresse: Nina Lewis Queens Jumper Valley Road 72 Sonst nichts. April erinnerte sich, daß Nina Lewis, die Freundin des ermordeten Dennis Barbella, dringend gesucht wurde, weil Tom Rowland sich von ihren Aussagen eine Aufklärung des Bombenanschlags versprach. April beschloß ohne Zögern, diese Sache in ihre Hand zu nehmen. Auf Wilkie Lenning, ansonsten Spezialist für musikalische Fragen, konnte sie diesmal nicht zurückgreifen, weil er mit Grippe zu Hause im Bett lag. Aber die Firma würde nicht gleich zusammenbrechen, wenn mal ein Klient vergeblich kam. Wenig später hing an der Eingangstür des Detektivbüros ein Schild mit der Aufschrift: .
* Fluchend steuerte Jo seinen Sportwagen im Schrittempo durch das Verkehrsgetümmel in Manhattan. Die morgendliche Rush-Hour war auf der Fifth Avenue eine Geduldsprobe. Hatte er vorher schon schlechte Laune gehabt, weil seine geprellte Kehrseite heute noch farbenprächtiger schillerte und die Beule am Hinterkopf noch intensiver schmerzte, sank seine Stimmung nun ganz unter den Nullpunkt. In diesem Zustand fand er nur unzureichend Verständnis für das eigentlich Selbstverständliche, daß auch andere Autofahrer hinter und besonders vor ihm diesen Weg nahmen, vorbei an den verlockenden Schaufenstern der eleganten Geschäfte. Jos Ziel lag abseits dieser schillernden Welt, die ihr Glück im Konsum suchte, es lag in den finsteren Winkeln der Millionenstadt, wo sich das Leben in schlecht gelüftete Kneipen verkroch, in dunkle Hinterhöfe, Elendsbehausungen, Schnapsbuden und Rauschgifthöhlen. Copyright 2001 by readersplanet
Am Rande von Harlem lag das , eine schmutzige kleine Bar, die nachts ein mieses Programm und rund um die Uhr einen sonderbaren Whisky bot, der abscheulich nach Veilchenpastillen schmeckte. Rote und blaue Glühbirnen tauchten das Lokal schon am frühen Morgen in ein intimes Halbdunkel. Aus Lautsprecherboxen dröhnte Schlagermusik. Wankende Gestalten, die nach durchzechter Nacht den neuen Tag begrüßten, grölten mit. Eine Woge von Zigarettenrauch und Alkoholdunst schlug jedem neuen Gast zur Begrüßung entgegen. In dem niedrigen, langgestreckten Raum war es erstickend heiß. Jo steuerte auf die Theke zu und erklomm einen freien Barhocker. "Oho!" grunzte der fette Wirt. "KX gibt uns die Ehre. Was führt den Meisterdetektiv in mein Etablissement?" "Etablissement klingt gut, riecht aber schlecht", sagte Jo. "Auch ein Lokal, das durchgehend geöffnet ist, muß mal gelüftet werden." Er rümpfte die Nase und bestellte einen Gin, weil der Whisky hier noch schlechter schmeckte. "Ich suche Little Jim." Die kleinen, farblosen Knopfaugen des Wirtes verengten sich, verschwanden fast zwischen den Fettwülsten. Als er seinen runden Schädel, der direkt auf den Schultern zu sitzen schien, über den Tresen in Jos Nähe hievte, wabbelten seine Wangen wie Pudding. "Jimmy war die ganze Nacht hier", berichtete er im Flüsterton. "Der hat ganz schön geladen. Bis drei. Dann hat er gepennt. Da drüben im Séparé. Mit der rothaarigen Liza, einer Tarif-Schönheit." Der Dicke kicherte wie ein Eunuch, dabei hüpfte sein mächtiges Doppelkinn über dem dreckigen Hemdkragen. "Aber Little Jim war so voll, daß er nur noch einen Matratzenball feiern konnte. Dieser ausgeflippte Bettschoner wollte glatt ein Loch in den Tag pennen, aber so um sieben habe ich ihn unsanft aus seinen Träumen gerissen. Und was war sein erstes Wort?" "Schnaps", riet Jo, der Little Jim kannte. "Natürlich", wieherte der Wirt. "Aber nicht bei mir. Hier kriegt jeder, was er haben will - wenn er dafür bezahlt." "Und Little Jim hatte mal wieder Ebbe in der Brieftasche", ahnte Jo. "Dann ist er also da, wo er noch Kredit hat." Jo kannte Little Jims Aufenthaltsorte. Er zahlte und verließ das . In den nächsten drei Kneipen hatte er Pech. Seine Drinks ließ er stehen, weil er erstens einen klaren Kopf behalten und zweitens kein gepanschtes Zeug trinken wollte. In endlich hatte er Glück. Diese im Wildwest-Stil eingerichtete Kneipe war nicht besser, dafür aber teurer als die anderen Lokale in dieser Gegend. Ausgerechnet hier fand er Little Jim. Jo entdeckte ihn hinter dem Tresen. Das war mal ganz was Neues! Jim stand sonst immer als Kunde davor. Es mußte ihm finanziell sehr schlecht gehen. Seit seinem Unfall hatte er nicht mehr gearbeitet. Jetzt spülte er Gläser. Das Zapfen besorgte der Wirt. Diese Tätigkeit wäre für Little Jim auch zu verführerisch gewesen. Jos Blick wanderte an der langen Theke entlang, einen freien Platz suchend, an dem man sich ungestört unterhalten konnte. Den fand er an der Stirnseite. Little Jim grinste, als er Jo sah. Sein Gesicht schien nur aus Längsfalten zu bestehen. Die einzige Querfalte war sein Mund. Wenn er grinste, zog sie sich von einem Ohr bis zum anderen und gab zwei Reihen gelber, durch etliche Lücken dezimierter Zähne frei. Er spülte noch ein Glas, dann unterbrach er seine Tätigkeit und hinkte herbei. Nach einem Unfall war sein linkes Bein kürzer als das andere, und der rechte Arm hatte amputiert werden müssen. Seine Karriere als Jockey war damit beendet gewesen. Ein Sturz vom Pferd - alles aus. Seitdem lebte er mehr schlecht als recht von seiner kargen Rente, die kaum für das reichte, was Little Jim an hochprozentigen Flüssigkeiten schluckte, um zu vergessen. Aber Jim Morris konnte nicht vergessen, daß sein Unfall programmiert und er ein Opfer der Mafia gewesen war. Ein korrupter Tierarzt hatte sein Pferd, das als Favorit galt, mit einer Droge manipuliert. Die Buchmacher der Mafia machten ein Riesengeschäft, Morris mußte dafür zahlen. Daß Jo seinerzeit diese Bande auffliegen ließ, hatte Jim ebenfalls nichtvergessen. Copyright 2001 by readersplanet
"Hat dich der Durst hierher getrieben oder bist du im Dienst?" lallte Little Jim mit schwerer Zunge. Er hatte gehörig getankt, aber seine Augen blickten noch klar. "Letzteres", sagte Jo. "Hab' ich mir gedacht." "Was nicht ausschließt, daß wir uns einen genehmigen." "Schon besser." Für Little Jim war das so gut wie eine Bestellung. Er erledigte sie sofort, kam mit zwei Whisky zurück. "Scotch", sagte er, "deine Lieblingsmarke. Das geht auf meine Rechnung." "Singen wir die Berappungsarie später", schlug Jo vor. "Hast du noch genug Blut im Alkohol, um mir zu helfen?" "Mit meinen Blut könnte ich drei Vampire kampfunfähig machen", tönte Little Jim. "Womit kann ich dienen?" "Ich suche Terry Dixon." "Hui!" Little Jim pfiff bedeutungsvoll durch eine seiner Zahnlücken. "Kannst du mich nicht was Leichteres fragen?" "Es ist wichtig." "Hm." Little Jim strich sich nachdenklich über das unrasierte Kinn. "Ich hätte da eine Adresse..." »Ja?« "Aber da kann ich dich unmöglich allein hinziehen lassen." "Eine Kneipe?" "Nein, da wärst du Kostverächter nicht in Gefahr. Ich denke an zarte Hände, Entspannung..." Er verdrehte die Augen. "An einen Massagesalon." "Kannst du dich nicht mal ebenso schnell ausdrücken, wie du deine Gläser austrinkst?" "Soll ich nachfüllen?" "No", wehrte Jo ab. "Erst verrätst du mir, was ich in dem Massagesalon soll." "Schwere Jungs haben eine Vorliebe für leichte Mädchen", philosophierte Little Jim. "Ich kenne da ein Girl, Suzie, eine zarte Lotosblume, aus Thailand importiert. Allererste Klasse. Frisch wie der junge Frühling, und doch schon geübt wie ein alter Hase." "Zur Sache!" drängte Jo. "Stimmt, sie geht ganz schön zur Sache. Und sie kennt Terry Dixon. Sehr gut sogar." "Wo finde ich die Lotosblume?" "Ich führe dich hin", griente Little Jim. "Mich kennt sie nämlich auch ganz gut. Alleine hast du weniger Chancen." "Und dein Job hier?" "Gläserspülen ist nicht mein Fall, obwohl man's mit einer Hand machen kann." "Du spülst dir lieber die Kehle", sagte Jo. "Also gut, einen noch, dann gehen wir."
* Musik alter Meister erklang auf etwas eigentümliche Art - als Jos Volontärin vor dem Apartment in der Jumper Valley Road stand. Obwohl April mehr für moderne Weisen schwärmte, hatte sie diese klassischen Töne schon gehört. Allerdings noch nie so wie hier. Befremdet warf April einen Blick auf das Namensschild. Sie hatte sich nicht im Stockwerk geirrt. Dieses Apartment bewohnte Nina Lewis, die Freundin des ermordeten Dennis Barbella. Copyright 2001 by readersplanet
Musik aus der Konserve? Mit der ausgefeilten Technik heutzutage war ja viel zu machen. Aber das klang sehr nach einem Live-Konzert. Und von Konzerten hatte April vorerst genug. Nach kurzem Zögern überwand sie ihre Bedenken und drückte auf die Türklingel. Zwei Versuche verfehlten ihre Wirkung, beim dritten endlich wurde geöffnet. An der Tür erschien ein rauschebärtiger Jüngling mit Halbglatze und Nickelbrille. "Die Chitarrone!" rief er erfreut und streckte ihr seine feingliedrigen Hände zur Begrüßung entgegen. "Wir haben schon sehnsüchtig auf dich gewartet." "Ich heiße April Bondy", erklärte Jos Volontärin etwas überrascht. "So." Der Bärtige musterte sie kritisch, aber nicht ohne Wohlgefallen. "Dann spielst du also keine Chitarrone?" Er sah in ihr ratloses Gesicht und fügte eine Erklärung an: "Das ist ein altes Musikinstrument, eine italienische Baßlaute." "Ich spiele nur leidlich Mundharmonika", bedauerte April. "Eigentlich wollte ich mit Nina Lewis sprechen. Ist sie da?" "Natürlich", grinste der Bärtige. "Sie hat dieses Tonstudio schließlich gemietet." "Tonstudio?" April runzelte die Stirn. "Klingt etwas pompös", gab der Bärtige zu. "Aber du hörst es ja selbst. Wir sind ein richtiges kleines Orchester. Wo sollen wir sonst spielen? In dieser Gegend wird jeder Lärm geduldet. Aber wehe, du machst gute Musik! Wenn ich könnte, ließe ich alle von der Muse küssen. Fürchte nur, daß die Muse dagegen protestieren würde. So müssen wir nehmen, was uns geboten wird. Nina hat uns ihr Apartment zweimal wöchentlich zur Verfügung gestellt. Jetzt können wir wenigstens üben. Es traf sich hier gut, denn über und neben Nina wohnt niemand mehr, und die Leute, die unter ihr wohnen, sind für ein halbes Jahr in Europa. Wenn sie zurückkehren, werden wir uns wieder eine neue Bleibe suchen müssen." "Künstlerpech", meinte April. "Können Sie mir Nina Lewis holen?" "Künstlerpech sagt sich schnell und einfach", griff der Bärtige ihr Stichwort auf, knüpfte daran eine wortreiche Kampagne gegen den modernen Wohnungsbau sowie die Lärmschutzbestimmungen und ließ dabei ihre Frage unter den Tisch fallen. "Hump!" rief eine Mädchenstimme. "Wo bleibst du denn?" "Besuch für dich, Nina!" sagte der Bärtige. Nina Lewis war erst auf den zweiten Blick als Mädchen zu erkennen. Wenn gleich der Teenager-Zeit schon entwachsen, fehlten ihr die typischen weiblichen Rundungen. Jeans und Rollkragenpullover waren hauteng geschnitten. Sie hatte darunter kaum etwas zu verbergen. Schlaksig trat sie näher, unter dem schwarzen Pagenkopf glänzte bronzefarben ein asketisch geschnittenes Gesicht. Die dünnen Lippen öffneten sich kaum, als sie sprach. "Sie wünschen?" April stellte sich vor. "Ich komme wegen Dennis Barbella." "Dennis ist tot." Nina Lewis drückte sich betont sachlich aus. Ihr Gesicht blieb unbewegt. Allein in der melodischen Stimme schwang eine gefühlvolle Saite mit. "Deswegen komme ich zu Ihnen", nickte April. "Sie waren befreundet." "Polizei?" "Privatdetektivin." Nina Lewis hob unwirsch die Brauen. "Sie stören unser Konzert." "Beethoven würde uns verzeihen." "Vielleicht, aber wir spielen nicht Beethoven." "Oh", sagte April und deutete auf das Instrument in Ninas Hand. "Spielen Sie die erste Geige?" "Die einzige." Nina Lewis lächelte spöttisch. "Das ist eine Barockgeige, mit Darm besaitet." Sie zupfte zur Probe. "Klingt sehr sanft." "Haben Sie schon Platten produziert?" Copyright 2001 by readersplanet
"Wir üben noch." "Läuft denn das Geschäft mit klassischer Musik?" erkundigte sich April, um die Abneigung ihrer Gesprächspartnerin zu überwinden. "Wir wollen keine Geschäfte machen, wir machen auch keine klassische Musik im herkömmlichen Sinne. Wir verzichten auf den plüschigen Orchesterklang unserer Tage. Wir verfälschen die Musik der großen Klassiker nicht, greifen deshalb auf alte Instrumente zurück wie Celli, Cembali, Pommern, Dulziane..." Nina Lewis stockte, weil sie sich ungewollt in Eifer geredet hatte. "Sind damit Ihre Fragen beantwortet?" "Sorry", sagte April. "Ich komme sicher ungelegen, aber es ist wichtig. Wenn Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für mich hätten..." "Okay." Nina Lewis seufzte. "Kommen Sie in die Küche. Da sind wir ungestört." Und den Bärtigen bat sie: "Sag' den anderen Bescheid, Hump. Wir machen eine kurze Pause." In der schmalen Diele stapelten sich Instrumentenkoffer. Um so gemütlicher wirkte die geräumige Küche, die Platz genug bot für eine Sitzecke. Tisch und Stühle waren wie sämtliche Einbaumöbel aus Eichenholz. Mit sachkundigem Blick stellte April fest, daß Nina Lewis nicht nur Geschmack, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für Ordnung hatte. Selten war sie in eine so penibel saubere und aufgeräumte Küche getreten - ihre eigene eingeschlossen. April gab ihrer Bewunderung Ausdruck, nicht zuletzt aus taktischen Gründen. Sie hatte das Gefühl, erst einmal den Eisberg wegschieben zu müssen, der zwischen ihr und Nina Lewis lag. Doch dieser Versuch mißlang. "Damit aus den fünf Minuten keine Stunde wird", sagte Nina Lewis höflich, aber bestimmt, "sollten wir zur Sache kommen." "Einverstanden", nickte April. "Sie waren mit Dennis Barbella befreundet?" "Bevor ich Ihre Fragen beantworte", entgegnete Nina Lewis, "beantworten Sie bitte erst eine einzige Frage von mir. In welchem Auftrag ermitteln Sie?" "Im eigenen sozusagen", antwortete April. "Mein Chef und ich saßen ein paar Reihen hinter Dennis Barbella, als sein Tonbandgerät explodierte. Einen Tag später erlebten wir im gleichen Saal, wie Cliff Carlin auf der Bühne erschossen wurde. Mein Chef jagte den Mörder, wurde zusammengeschlagen. Auf diese Weise sind wir in diesen Fall geraten. Wir vermuten natürlich Zusammenhänge." "Die schwarzen Haie?" "Sie wissen davon?" "Ich habe die Zeitungen gelesen." Nina Lewis machte einen nachdenklichen Eindruck. April ließ ihr Zeit. Schließlich überwand das Girl seine Zurückhaltung. "Ja, ich war mit Dennis befreundet", erzählte sie. "Wir lernten uns kennen, als er ein paar Stücke, die wir einstudiert hatten, aufnahm. Er besaß die nötigen Kenntnisse und ein spezielles Tonbandgerät. Wir brauchten gute Qualität, denn das Band sollte an diverse Plattenfirmen gehen. Ich mochte ihn gern. Aber ich habe mich später von ihm getrennt. Wir hatten so manchen Streit, weil er Rauschgift nahm. Erst allmählich wurde mir klar, daß Dennis Barbella süchtig war." Ihre Stimme wurde leiser, vibrierte. "Ich habe alles versucht, wollte ihm helfen, aber es war schon zu spät. Er konnte nicht mehr zurück. Er wollte es auch gar nicht." "Woher nahm er das Geld für den Stoff?" "Das ist es ja!" Nina Lewis legte den Kopf in ihre Hände und schüttelte ihn, als könne sie das Schreckliche nicht begreifen. "Ich hatte vorher doch keine Ahnung. Aber als ich die Berichte über die schwarzen Haie las, wurde mir klar, daß die Verdächtigungen nicht aus der Luft gegriffen sind. Ich weiß, daß Dennis immer wieder Konzerte auf Band mitschnitt. Ich weiß auch, daß er Geld dafür kriegte. Genug, um neuen Stoff zu kaufen." "An wen hat er die Bänder verkauft?" "An einen Music-Shop in South Brooklyn. Pratt heißt er." Copyright 2001 by readersplanet
"Danke." April sah auf die Küchenuhr. "Wir haben nicht einmal fünf Minuten gebraucht. Trotzdem haben Sie mir sehr geholfen."
* Little Jim war ein Stratege. Weil er mit der Masseuse Suzie, die den Killer Terry Dixon kannte, einen Trumpf in der Hand hielt, spielte er nach einem Schlachtplan seines Geschmacks. Demnach lag die Offensive zunächst allein bei ihm. Er wollte Suzie nach bewährter Art, wie er es nannte, auf Jo vorbereiten. Klar, daß ein alter Stammkunde in diesem Milieu bessere Erfolgschancen hatte. Klar auch, daß die bewährte Methode den üblichen Betrag kostete, und weil Little Jim zur Zeit mal wieder Ebbe in der Kasse hatte, war es ebenfalls klar, daß Jo diese Unkosten für einen Freundschaftsdienst, so formulierte es Little Jim, übernehmen mußte. "Schaffst du das denn noch?" fragte Jo. "Bei soviel Promille?" "Pah!" Little Jim war entrüstet. "Was meinst du, wie oft ich schon mit besoffenem Kopf geritten bin!" "Okay, Alter!" schmunzelte Jo. "Ich vergaß, daß du früher Jockey warst." Während Little Jim seinen raffinierten Schlachtplan im Massagesalon genoß, wartete Jo in einer Eckkneipe. Zumindest in diesem Fall bewies der Ex-Champion seine Gründlichkeit. Es dauerte fast eine Stunde. Dann kam er - mit strahlendem Grinsen. "Jetzt bist du dran", sagte er und ließ sich erschöpft auf einen Hocker fallen. "Suzie wartet mit brennender Sehnsucht. Ich habe dich wärmstens empfohlen. Mach' mir keine Schande!" "Wo finde ich sie?" "Du mußt dich anmelden. Mutter Mary legt dir einen Katalog vor. Du begutachtest die Puppen und entscheidest dich für Suzie. Der Name steht jeweils unter den Bildern. Diese Methode ist am unauffälligsten. Mutter Mary telefoniert Suzie dann herunter, die führt dich nach oben in ihre gute Stube, und dann..." "Danke", unterbrach Jo. "Ich komme schon zurecht." "Wirklich?" Little Jim feixte. "Ich warte hier auf dich." Der Massagesalon nannte sich Softhand'. Von weichen Händen war zumindest bei Mutter Mary wenig zu spüren, die es sich nicht nehmen ließ, jeden Kunden per Handschlag zu begrüßen. Sie packte zu wie ein Holzfäller. Ihre gut zwei Zentner Körpergewicht waren in einen Pelzmantel gehüllt. Darin wirkte sie wie ein Tanzbär, als sie Jo zu einer der Sitzecken führte. "Hier unten ist es heute etwas kalt", brummte sie. "Die Heizung ist ausgefallen. Aber oben wird es Ihnen schon warm!" Jo erwiderte das Lächeln und bemühte sich um Interesse, als Mutter Mary ihm das Album mit den Aktfotos ihrer Schützlinge vorlegte. Das Angebot war umfassend. Kleine, Große, Dünne, Dicke, Blonde, Rote, Naive, Raffinierte... "Für jeden Geschmack etwas", stellte Mutter Mary im Brustton des Stolzes fest. "Wer die Wahl hat, hat die Qual", philosophierte Jo und blätterte - bis er das Bild eines Thaimädchens fand, unter dem der Name Suzie stand. "Die!" entschied er. Mutter Mary nickte anerkennend. "Sie haben einen guten Geschmack. Suzie wird Sie nicht enttäuschen." Ein Anruf genügte - und wenig später stand Suzie vor ihm. Sie trug ein rotes Seidenkleid, hochgeschlossen bis zum Stehbördchen, dafür seitlich geschlitzt bis zum Gehtnichtmehr. Lackschwarzes Haar fiel ihr glatt auf die Schultern, moosgrüner Lidschatten umrahmte die Mandelaugen, deren kühl taxierender Blick das verträumte Lächeln Lügen strafte. Copyright 2001 by readersplanet
"Dein Kunde!" stellte Mutter Mary vor. "Gehen wir!" flötete Suzie. Sie tänzelte mit kurzen; trippelnden Schritten voraus. Jo folgte ihren wippenden Hüften. Ein Stockwerk höher lag ihr Arbeitszimmer. Ein kleiner, mit vielen Polsterkissen und wenig Möbeln ausgestatteter Raum. Nun ja: Zur Massage mußte man sich schließlich ausstrecken. Zum Beispiel auf der französischen Liege, zwischen deren Pfählen ein riesiger, kuschelweicher Teddybär hockte. Jo blieb in der Vertikalen. "War Terry schon hier?" prüfte er Suzies kindliches Gemüt. Es war gar nicht so kindlich. "Terry?" wiederholte sie hellwach. Dabei begann sie mit spitzen rotlackierten Fingernägeln, daß Plüschohr des Teddys zu zupfen. "Terry Dixon." Little Jim hatte Jo als neuen Gast eingeführt, nicht als Detektiv. Er wägte sorgfältig seine Worte. "Wir wollten uns hier treffen. Geschäftliches bespricht sich doch viel besser in angenehmer Atmosphäre, nicht wahr?" Suzie schob eine schillernde Unterlippe vor. "Später, Liebling", gurrte sie. Dabei verlagerte sie ihre Fingerspiele auf Jos Ohrläppchen. Er kicherte. Es kitzelte nämlich. "Später, Liebling", murmelte auch er. "Wenn ich Terry heute abend nicht mehr treffe..." "Er hat ein Apartment im Lorraine-Building. Hopper nennt er sich, aber das weißt du ja, wenn du mit ihm Geschäfte machst. Nun komm schon, Baby! Sei Suzies süßer Teddybär..." Vielleicht hatte die süße Suzie doch ein kindliches Gemüt. So schnell war Jo noch selten zu einer Auskunft gekommen. Jetzt fragte sich nur, wie er zur Tür kam. Ohne Teddybär zu spielen. Nichts gegen die süße Suzie. Aber als Teddybär im Lotterbett konnte man keine Killer fangen. Und Terry Dixon interessierte Jo im Augenblick mehr als Mutter Marys Prachtstück. Das Problem erledigte sich von selbst. Die Tür flog nämlich auf. Herein spazierten fünf Burschen von der Sorte, der man nicht gern im Dunkeln begegnet. Die süße Suzie stieß einen spitzen Schrei aus, der Anführer der Gorillas ein uriges Grunzen, und Jo schwante Unheil. Die Kerle sahen exakt so aus, als wollten sie seinen Alabasterkörper mit weiteren blauen Flecken verzieren. Oder grünen und gelben, je nachdem. Das ging zu weit, fand Jo und ballte erbittert die Hände. "Du Würstchen!" schnauzte Gorilla Nummer eins. Dabei holte er aus - und schlug dort ein Loch in die Luft, wo eben noch Jos Kinn gewesen war. Die süße Suzie stieß einen noch spitzeren Schrei aus, als ihr der Bursche vom eigenen Schwung getrieben in die Arme fiel. Beide landeten im Lotterbett. Sie unten, er oben. Und in dieser Lage verblieb er, da ihm Jo mit einem Handkantenschlag zu einem längeren Schlaf verhalf. Im nächsten Moment stürzte sich der Rest der Bande auf ihn. Das Lotterbett erbebte mehrfach in seinen Grundfesten. Ein Spiegel ging zu Bruch, die Türfüllung splitterte, die Musiktruhe gab ihren Geist auf. Jo erwischte ein paar Körpertreffer, die garantiert prächtig blühende, blaue Flecken ergeben würden. Inzwischen schlummerten zwei weitere Gorillas. Nummer vier hockte auf dem Teppich und hielt sich den Kopf. Der fünfte Mann stierte wie ein neugeborenes Kalb und schien nicht zu wissen, ob er flüchten oder weiterkämpfen sollte, aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen. "Aufhören!" kreischte eine weibliche Stimme auf dem Flur. "Das ist der Falsche, ihr Hammel!" Von den "Hammeln" war nur noch ein einziger aufnahmefähig. Er schluckte verdutzt. "Aber du hast doch gesagt, der Kerl ist hier im Zimmer, Sandie-Baby!" beschwerte er sich. Copyright 2001 by readersplanet
Sandie-Baby raufte sich die Dauerwelle. "Ist er ja auch! Oder war er jedenfalls! Der Einarmige! Dieser Misthund, der letztesmal abgehauen ist, ohne zu bezahlen!" Little Jim, mutmaßte Jo. Deshalb also hatte man versucht, seine blauen Flecken zu vermehren. Immerhin, er hatte die Genugtuung, daß die prachtvoll schillernden Blutergüsse vorwiegend bei seinen Gegnern erblühen würden. Und er bekam die Gelegenheit, gratis und franko Masseusen unter sich zu erleben. "Du Miststück vertreibst mir die Kunden!" fauchte Suzie und befreite sich mit gekonntem Schwung von dem Körper des Bewußtlosen. "Halt du doch den Schnabel, du dumme Gans!" zischte Sandie-Baby. "Ich kratz' dir die Augen aus!" "Versuch's doch, du dämliche Bohnenstange!" "Bohnenstange? Sagtest du Bohnenstange?" Jawohl, Sandie-Baby hatte Bohnenstange gesagt. Suzie kreischte empört und zog einen Schuh aus, um den Bleistiftabsatz als Waffe zu benutzen. Sandie fuhr mit gespreizten Krallen auf sie los, um ihr das Gesicht zu zerkratzen. Stoff riß, Suzies Dekollete reichte plötzlich bis zum Bauchnabel. Sandies Dauerwelle erinnerte an einen Staubwedel, und der Gorilla machte Stielaugen. Jo nutzte die Gelegenheit, um sich auf französisch zu empfehlen. "Ist Ihnen warm geworden?" fragte Mutter Mary unten im Foyer augenzwinkernd. "Mächtig warm", sagte Jo. Was ja auch stimmte.
* Daniel Pratts Music-Shop lag in Brooklyn. Ein großer, bunt beleuchteter Laden mit Disco-Atmosphäre. Ein Tonband produzierte schmeichelnde elektronische Klänge. Wer Platten aussuchen wollte, konnte sich der Kopfhörer bedienen. Das Angebot reichte von Brahms bis Boney M. Eine üppige Rothaarige hütete die Theke. Sie widmete April einen Blick von der Qualität einer Rasierklinge. Jos Volontärin funkelte zurück und verlangte, Daniel Pratt zu sprechen. Die Rote zog einen Flunsch. Offenbar hielt sie nichts von attraktiven Blondinen, die ihren Chef sprechen wollten. Aber sie kam nicht dazu, die vermeintliche Gefahr abzuschmettern, denn im gleichen Moment betrat Daniel Pratt selbst die Szene. Er hatte Aprils letzte Worte gehört, warf einen Blick auf ihre Beine und knipste seinen Charme an. Einen etwas zerknitterten Charme, wie April fand. Pratt trug ein Rüschenhemd, hatte graue Schläfen und ein Gesicht, das an Casanova ohne Perücke erinnerte. April hatte noch nie gefunden, daß Casanova eine Schönheit gewesen war. Sie lächelte verführerisch und hatte das Gefühl, sich für die Firma aufzuopfern. Pratts Büro war ebenfalls im Disco-Look eingerichtet. April versank in einem tiefen Sessel und stellte leicht beunruhigt fest, daß Pratt auf der Lehne Platz nahm. "Ich komme von Barbella", behauptete sie. "Wie?" Pratt blinzelte irritiert. "Dennis Barbella", präzisierte April. "Er hat mir Ihre Adresse verraten. Ich bin aus der Branche." "Sie?" zweifelte Pratt. "Ja." Copyright 2001 by readersplanet
"Aus der Musikbranche?" "Sie sagen es. Dennis Barbella hatte ja einen bedauerlichen Unfall, wie man hört. Wenn wir uns über die Bedingungen einigen können, wäre ich in der Lage, Sie an seiner Stelle zu beliefern." Daniel Pratt knipste den Charme wieder aus. Sein Casanova-Gesicht wandelte sich zum Pokerface. Er stand sogar von der Sessellehne auf, als fürchte er plötzlich, der Besucherin zu nahe zu kommen. "Sie sprechen in Rätseln, Miß...", sagte er mit Würde. "Bondy. April Bondy. Ich spreche nicht in Rätseln, ich spreche von " "? Ist das eine neue Sorte Stiefel? Hören Sie, Miß, wenn Sie einen Schuhverkäufer suchen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse." April hob die Brauen. "Ich bin an der richtigen Adresse. Sagte ich Ihnen nicht, daß ich sie von Dennis Barbella habe? Wollen Sie etwa auch behaupten, ihn nicht zu kennen?" "In der Tat! Ich kenne keinen Dennis Barbella. Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen. Ich mache keine illegalen Geschäfte." "Ach! Dann wissen Sie also doch, daß illegale Mitschnitte von Konzerten sind?" "Ich weiß überhaupt nichts. Ich betrachte die Unterredung als beendet, Miß..." "Bondy. Sie haben ein schlechtes Gedächtnis, Mr. Pratt. Vielleicht ist das die Erklärung dafür, daß Ihnen Ihre Geschäfte mit Dennis Barbella entfallen sind. Ich weiß Bescheid, Sie brauchen sich nicht dumm zu stellen. Wollen Sie sich mein Angebot nicht wenigstens einmal anhören? Oder sind Sie auf den Pfad von Ehrlichkeit und Tugend zurückgekehrt?" Pratt preßte die Lippen zusammen. Jetzt wirkte er überhaupt nicht mehr charmant, nur noch zerknittert. "Verschwinden Sie!" stieß er hervor. "Wer mich hereinlegen will, muß früher aufstehen. Also bitte! Da ist die Tür!" Aha, dachte April. Pratt fürchtete eine Falle, daher seine Zurückhaltung. Was ihm da vom "hereinlegen" herausgerutscht war, bewies deutlich, daß er keine saubere Weste hatte. Allerdings nützte es April nichts, das zu wissen. Die nicht existierenden hatten als Köder versagt, damit war der Karren festgefahren. Jos Volontärin blieb nichts übrig, als die hübsche Nase zu heben und sich einen würdigen Abgang zu verschaffen. Sie sah nicht mehr, wie sich Daniel Pratt die schweißbedeckte Stirn wischte. Sie sah auch nicht, daß er sehr eilig zum Telefon griff und eine Nummer eintippte. April schenkte der Rothaarigen ein maliziöses Lächeln, bevor sie den Laden verließ. Dabei überlegte sie, ob ihr Chef und Brötchengeber die Sache wohl eleganter gelöst hätte. Hätte er nicht, entschied sie. Wahrscheinlich wäre er gar nicht erst vorgelassen worden. Seine Beine waren ja auch nicht von der Art, auf der die Blicke eines Casanovas ohne Perücke mit Wohlgefallen ruhten. Seufzend bog April in die Nebenstraße ein, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Hinter sich hörte sie eilige Schritte. Als sie über die Schulter blickte, sah sie einen jungen Burschen in Jeans und T-Shirt über den Gehsteig rennen. Er schien es mächtig eilig zu haben. April trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen - aber er wollte gar nicht an ihr vorbei. Unmittelbar neben ihr warf er sich aus vollem Lauf herum. Seine Rechte zuckte vor - und hatte Aprils Handtasche am Wickel. Mit einem explosiven Ruck riß er seine Beute an sich, kreiselte noch weiter herum und gewann mit ein paar langen Sprüngen die nächste Einfahrt. Jos Volontärin fluchte etwas Unliterarisches.
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Zwei Sekunden lang war sie völlig verblüfft. Dann startete sie, von gerechter Empörung befeuert. Aber als sie den düsteren, verwinkelten Hinterhof erreichte, war der hoffnungsvolle Jüngling bereits mit seiner Beute verschwunden. April Bondy stampfte mit dem Fuß auf, als wolle sie Rumpelstilzchen Konkurrenz machen. Im Boden versank sie allerdings nicht. Obwohl sie gute Lust dazu hatte. Sich als Privatdetektivin die Handtasche klauen zu lassen - das war genau die Sorte Schaden, bei der man für den Spott nicht mehr zu sorgen brauchte. Wenigstens hatte sie den Autoschlüssel gerettet. Ein schwacher Trost. Aber besser als ein Fußmarsch oder die Taxikosten. April seufzte abgrundtief, ging zu ihrem Wagen zurück und war geneigt, die Erde für das sprichwörtliche Jammertal zu halten. Auf den Gedanken, daß der freche Handtaschenraub mehr als ein Zufall gewesen war, kam sie erst später.
* Das Lorraine-Building hatte vierzig Stockwerke und ein Bewohnerverzeichnis so groß wie eine Kino-Leinwand. Jo suchte und fand den Namen Hopper, mit dem sich laut Auskunft der süßen Suzie der Killer Terry Dixon tarnte. Der Detektiv war immer noch etwas verblüfft, wenn er daran dachte, wie leicht er an diese Auskunft gekommen war. Oder auch nicht, das kam auf die Betrachtungsweise an. Das Stechen im rechten Rippenbogen verriet, daß spätestens morgen auch seine Frontpartie mit blauen Flecken verziert sein würde. Der Lift trug ihn ins vierzehnte Stockwerk hinauf. Vor der Tür mit der Nummer 120 blieb er stehen. In der Wohnung spielte ein Radio, also war Terry Dixon zu Hause. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Jo grinste leicht. Er dachte an April, die - so glaubte er -, in der Detektei die Stellung hielt. Sie würde die Festnahme eines von der Polizei vergeblich gesuchtem Berufskillers sicher mit Vergnügen als Ruhmesblatt an die Fahne der Firma heften. Für werbewirksame Ruhmesblätter hatte sie etwas übrig. Für dicke Honorare ebenfalls. Deshalb hielt sie auch nichts davon, wenn die Firma ohne offiziellen Auftraggeber tätig wurde. Aber diesmal hatte sie noch nicht protestiert. Kommissar X zögerte kurz, dann klingelte er. In Fällen wie diesem war das immer noch die erfolgversprechendste Methode: Kaum jemand zweifelte an der Harmlosigkeit eines Besuchers, der wie der Postbote oder ein x-beliebiger Vertreter den Klingelknopf betätigte. Jo senkte den Kopf, so daß ein Blick durch den Spion nur seine Frisur treffen würde. Immerhin mußte er damit rechnen, daß Terry Dixon ihn bei der Verfolgungsjagd erkannt hatte. Vorerst allerdings machte der Killer keine Anstalten, sich zu zeigen. Kommissar X klingelte ein zweites und ein drittes Mal und ließ schließlich den Daumen eine halbe Minute lang auf dem Knopf liegen. Der schrille Dauerton malträtierte seine Nerven. Dixons Nerven konnte es nicht besser ergehen. War er schwerhörig? Oder hatte er nur vergessen, das Radio auszuschalten, als er die Wohnung verließ? Jo zog die Stirn in Falten, ließ den Klingelknopf los und griff stattdessen zum Drehknauf. Gewohnheitssache. Fast jeder Kriminalist tat das ganz automatisch, wenn er vor einer verschlossenen Tür stand. In diesem Fall entpuppte sich die Angewohnheit als Sesam-öffne-dich. Die Tür schwang auf. Dixon hatte nicht abgeschlossen. Da er sicher nicht zu den Leuten gehörte, die ihren lieben Mitmenschen nur Gutes zutrauen, mußte er wohl ein leichtsinniges Huhn sein. Dachte Jo Walker. Ein paar Sekunden später änderte er seine Ansicht. Da hatte er nämlich die Diele durchquert und einen Blick ins Wohnzimmer geworfen. Copyright 2001 by readersplanet
Terry Dixon konnte keine Besucher mehr empfangen. Er lag auf einer breiten, feudalen Ledercouch, als schlafe er. Aber seine gebrochenen Augen verrieten, daß es die Art von Schlaf war, aus der man nicht mehr aufwacht.
* April Bondy nahm das Schild mit der Aufschrift "Vorübergehend geschlossen" von der Tür. Der Schlüssel zum Office hing glücklicherweise am gleichen Ring wie die Autoschlüssel. April gestattete sich einen winzigen Cognac aus der Erste-Hilfe-Flasche für ernste Fälle, sank auf den Schreibtischstuhl und haderte mit dem Schicksal. Ihre Papiere steckten in der Handtasche: Das gab Ärger und Laufereien. Außerdem war der Verlust von zweiundfünfzig Dollar und dreißig Cent, Lippenstift Puderdose und einem sündhaft teuren Parfüm zu beklagen, das dieser Banause von Handtaschen-Dieb bestimmt nicht zu würdigen wußte. Oder vielleicht doch: Er hatte sicher eine Freundin. Der Gedanke, daß sich irgendeine Gangstermolly mit ihrem Duftwasser beträufeln würde, erbitterte April aufs höchste. Sie gestand ihren strapazierten Nerven einen zweiten winzigen Cognac zu und fluchte wenig damenhaft, als es just in diesem Moment an der Tür klingelte. Vielleicht ein zahlungskräftiger Klient. Von lobenden Erwähnungen in der Presse konnte die Firma schließlich nicht existieren. April ging in die Diele, warf einen Blick durch den Spion und schnappte nach Luft. Der Handtaschen-Klau! Mit Leichenbitter-Miene! Daß er hier auftauchte, mußte ein Anfall von tätiger Reue sein. April war es schnuppe. Ihr gerechter Zorn brauchte ein Ventil. Vehement riß sie die Tür auf und holte Atem, um dem diebischen Jüngling die Meinung zu sagen. Im gleichen Moment entgleiste die Leichenbitter-Miene zur triumphierenden Grimasse. "Ed!" rief der Jüngling. Wie aus dem Boden gewachsen tauchte ein zweiter Mann auf, der sich neben der Tür an die Wand gepreßt hatte - und der hielt eine Pistole in der Rechten. "Schön ruhig, Puppe!" zischte er. "Wenn du schreist, hast du ein Loch in der Figur. Und das wäre doch schade um deine schöne zarte Haut, oder?"
* Jo hatte die Mordkommission verständigt. Tom Rowland warf einen Blick über die Szene und murmelte etwas über Leute vor sich hin, die offenbar nichts besseres zu tun hätten, als dauernd über frische Leichen zu stolpern. Dann scheuchte er seine Beamten herum, schleuderte grimmige Blicke und machte seinem Unmut Luft. Er hatte einen Mörder gejagt. Jetzt mußte er den Mörder des Mörders finden, und das gefiel ihm gar nicht. "Hättest uns ruhig vorher informieren können", moserte er. "Mann, wir suchen uns die Hacken nach dem Kerl ab, und du..." "Ich mußte einem Spitzel eine Massage spendieren, die die Krankenkasse nicht bezahlt, fünf Gorillas in die Flucht schlagen und einem Damen-Ringkampf zusehen, um an die Information zu kommen", protestierte Jo. "Damen-Ringkampf?" fragte Tom Rowland interessiert. "Lustmolch", sagte Jo. "Genau betrachtet war es eher Catch-as-catch-can. Die eine Masseuse wollte der anderen die Augen auskratzen, weil sie ihr die Kundschaft vergraulte. Copyright 2001 by readersplanet
Die Kundschaft war ich." "Aha!" machte der Captain. "Nichts aha. Die Lady wollte Teddybär mit mir spielen. Aber ihre Kollegin hatte vorher Little Jim in dem betreffenden Zimmer verschwinden sehen, und Little Jim muß früher mal das Zahlen vergessen haben. Daher die Gorillas." "Und dann?" "Hackfleisch", sagte Jo leicht übertreibend. "Klar. Und dann habt ihr Teddybär gespielt?" "Nein, dann kam der Damen-Ringkampf. Ich habe mich auf französisch empfohlen." "Und die Information?" "Hatte die Masseuse schon vorher ausgespuckt. Einfach so." "Einfach so", stöhnte Rowland erschüttert. "Und die Polizei sucht diesen Kerl seit Jahren vergeblich." "Ihr habt eben nicht richtig gesucht. Hättet ihr Teddybär gespielt!" Der Captain verdrehte die Augen. Jo unterbrach sich, da im gleichen Moment der Polizeiarzt hinzutrat. Er breitete die Arme aus und kehrte die Handflächen nach oben. "Sieht nach Herzversagen aus", faßte er das Ergebnis seiner ersten Untersuchungen zusammen. "Herzversagen?" echoten Jo und der Captain wie aus einem Munde. "Ja. Allerdings muß ich zugeben, daß mir das bei der Konstitution des Mannes auch etwas ungewöhnlich vorkommt. Aber ohne Obduktion kann ich nichts Genaues sagen." Tom Rowland nickte nur. Jo war ziemlich sicher, bereits zu wissen, was bei der Obduktion herauskommen würde: daß Terry Dixon ermordet worden war. Jemand hatte gewußt, daß die Polizei ihn als Mörder des Sängers Cliff Carlin suchte. Jemand aus der Branche, ein Insider. Auch Carlins letzte Worte hatten darauf hingewiesen, daß zumindest einer der "schwarzen Haie" zum Kreis derjenigen gehörte, unter denen man ihn nicht vermutete, weil sie die Geschädigten waren: Konzertveranstalter, Manager, Plattenproduzenten. Ein Wolf im Schafspelz. Aber wer war es? Sydney Cannon, der in seinem Preßwerk vorwiegend Blinde beschäftigte? Man hatte ihm für seine soziale Gesinnung einen Orden an die Brust geheftet. Aber es konnte auch sein, daß in Wahrheit keine soziale Gesinnung, sondern ein rein praktischer Grund dahintersteckte. Wer Blinde beschäftigte, brauchte sich nämlich keine Sorgen darüber zu machen, daß seine Angestellten zu viel sahen. Und wer war es dann, der so gezielt den Verdacht auf Cannon lenkte? Der ihn, Jo Walker, anonym mit Eintrittskarten und verräterischen Fotos eindeckte, um ihn auf den Fall scharf zu machen? Auf jeden Fall verfügte der Unbekannte über erstklassige Informationen. Daß er Jo zweimal an den Schauplatz eines Mordes gelockt hatte, konnte kein Zufall sein. Der Bursche mußte von den geplanten Anschlägen gewußt haben. Hatte er auf diese verquere Weise versucht, die Morde zu verhindern? Wollte er jemanden hereinreißen? Cannon zum Beispiel, was nach der Sache mit dem Foto nicht von der Hand zu weisen war? Oder kochte er seine eigene Suppe und verfolgte irgendwelche Ziele, die für Jo vorerst noch im Dunkeln lagen? Ganz gleich, was es war: Der Bursche hatte sich vermutlich nicht zum letztenmal gemeldet. Tom Rowlands Gedanken gingen offenbar in eine ähnliche Richtung. Er stülpte die Unterlippe vor und legte den Zeigefinger an sein klassisches Riechorgan. "Sag' mir Bescheid, wenn dir das nächste Mal ein anonymer Gönner irgendwelche Eintrittskarten schickt", verlangte er. "Dann weiß ich wenigstens vorher, wo ich die nächste Leiche aufsammeln kann. Ach ja, und dann brauche ich noch den Namen von der Dame, die mit dir Teddybär gespielt hat." Copyright 2001 by readersplanet
"Wollte", verbesserte Jo. "Spielen wollte." "Mir egal. Wie heißt sie?" "Suzie. Da drüben steht sie übrigens." Jo wies auf das gerahmte Foto, das ein lächelndes, samtäugiges Thai-Girl zeigte. "Und laß dir gefälligst etwas einfallen, um ihr zu erklären, wie du auf sie gekommen bist. Ich möchte nicht gern in den Ruf geraten, meine Informanten zu verpfeifen." "Die Kleine hat dir wohl eingeheizt, was?" "Ich bin nicht ihr Typ. Sie steht auf Teddybären. Vielleicht hast du bei ihr Chancen. Das heißt, wenn Mutter Mary dich nicht gleich wieder hinauswirft." "Mutter was?" "Mary. Die Seele vom Geschäft. In altmodischem Amerikanisch ausgedrückt die Puffmutter." "Ach du liebe Zeit", seufzte der Captain. Jo zuckte die Achseln und verabschiedete sich. Er war ziemlich sicher, daß die süße Suzie nicht viel über Terry Dixon wußte: Sonst hätte sie wohl kaum so bereitwillig und beiläufig seine Adresse preisgegeben. Außerdem würde sie stinkwütend sein, wenn schon wieder jemand kam, der nicht Suzies süßen Teddybären spielen wollte. Kommissar X grinste, weil er vor sich sah, wie sich sein Freund die Haare raufte. In der Wohnung des toten Killers gab es für ihn nichts mehr zu tun. Vor dem Haus schwang er sich in den Wagen, um in sein Büro-Apartment zurückzufahren. Mechanisch schaltete er das Autoradio ein. Und würgte es sofort wieder ab, als Dory Dorins rauchzarte Whisky-und-Eis-Stimme mit ihrem neuen Superhit an sein Ohr drang. Von kleinen Fischen und großen Haien wollte er im Augenblick nichts hören.
* "Berserker!" fauchte April Bondy empört. Sie saß auf einem Stuhl im Vorzimmer. Der Jüngere der beiden Gangster hatten soeben ihre Handtasche auf den Fußboden geworfen. Inzwischen war April klar, warum er ihr die Tasche gestohlen hatte. Nicht wegen der paar Dollar, auch nicht wegen des französischen Parfüms, sondern wegen der Papiere. Daniel Pratt wollte wissen, wer es war, der da versucht hatte, ihn aufs Glatteis zu führen. Jetzt wußte er es. Und die Gesichter der beiden Ganoven verhießen nichts Gutes. Der junge Bursche in Jeans und T-Shirt hatte sich kurz und gründlich im Büro umgesehen. Sein Komplize, fett und stiernackig, baute sich vor April auf. Die Knöpfe seines Jacketts ließen sich nicht über dem gewölbten Bauch schließen, der offene Hemdkragen wirkte schmuddlig. Auf ihn zumindest traf die Behauptung, daß es sich bei den schwarzen Haien um Weiße-Kragen-Gangster handele, bestimmt nicht zu. April machte nicht den Fehler, den Dicken zu unterschätzen. Er stierte sie an. Seine runden Schweinsäuglein glänzten tückisch. "Eine leibhaftige Schnüfflerin", sagte er gedehnt. "Und so ein hübscher Käfer! Schade, daß wir keine Zeit haben, uns ein bißchen Spaß mit ihr zu machen." April rann ein gelinder Schauer über den Rücken. Aber noch war sie zu wütend, um sich wirklich zu fürchten. "Was wollen Sie?" fragte sie kalt. "Nur ein paar Informationen, Baby. Du wirst uns erzählen, wer dir die Adresse von dem Music-Shop gegeben hat." Copyright 2001 by readersplanet
April zuckte die Achseln. "Dennis Barbella", wiederholte sie, was sie schon Daniel Pratt gegenüber behauptet hatte. "Du lügst, Puppe. Barbella hat bestimmt nicht gesungen. Der verdammte Narr wollte nämlich eine kleine Erpressung starten und hat sich bis zum Schluß eingebildet, man würde ihm den Mund mit einem Haufen Dollars verpflastern." So war das also! Barbella hatte versucht, Daniel Pratt zu erpressen, um mehr Geld für das weiße Gift herauszuschlagen, von dem er abhängig war. Deshalb mußte er sterben. Aber wer hatte dem Detektivbüro Walker anonym zwei Eintrittskarten für das Konzert geschickt, bei dem Barbella ermordet wurde? Von wem stammte das Foto, das Barbella an der Seite von Sydney Cannon zeigte? Es war ein halbes Dutzend Fragen, die April durchzuckten, die gleichen Fragen, die sich um diese Zeit auch Jo stellte, aber sie kam nicht dazu, lange darüber nachzugrübeln. "Also was ist?" drängte der dicke Gangster. "Mach' den Mund auf, sonst werde ich ungemütlich. Ich will wissen, wer gesungen hat. Barbella nicht, das steht fest. Also wer?" "Es war Barbella", beharrte April achselzuckend. "Etwas anderes kann ich Ihnen nicht sagen, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen und Arien singen." Das fette Gesicht verzerrte sich. Die Schweinsäuglein funkelten noch tückischer. Mit einem Ruck riß der Dicke wieder die Pistole aus der Schulterhalfter und hielt seinem Opfer die Mündung unter die hübsche Nase. "Rede!" zischte er. "Ich zähle bis drei! Wenn du dann noch nicht den Mund aufgemacht hast, knallt es." "Und Sie haben immer noch keine Antwort auf Ihre Frage", versuchte April klarzustellen. "Das ist nicht so wichtig. Hauptsache, du kannst nicht mehr reden." "Und wenn ich schon geredet habe?" fragte April so gelassen, wie sie es fertigbrachte. Das war ein Volltreffer mittschiffs. Selber denken gehörte offenbar nicht zu den Stärken des Dicken. Er schnappte nach Luft. Sein Gesicht verzerrte sich vor jäher Wut, blitzschnell holte er aus, um mit dem Pistolenlauf zuzuschlagen. Und April schwante, daß sie sich nach einem solchen Hieb bestimmt in die Behandlung eines begabten Schönheits-Chirurgen würde begeben müssen. Mindestens! Das fehlte noch, dachte sie. Im nächsten Sekundenbruchteil spannte sie die Muskeln. Sie explodierte förmlich, und der dicke Gangster lernte, daß man weibliche Wesen nie unterschätzen sollte. April schnellte vom Stuhl hoch, fegte mit einem Karateschlag die Pistolenhand beiseite und ließ das Knie vorzucken. "Uuuaaahh!" brüllte der Dicke. Sein urwelthafter Schrei mischte sich mit dem Knall des Schusses, der sich aus der Waffe löste. Scherben klirrten, ein Spiegel ging zu Bruch, und April stellte fest, daß es der Spiegel war, vor dem sie ihr Make-up zu überprüfen pflegte. Eine Tatsache, die sie genau in die richtige Stimmung versetzte, um sich auch den zweiten Gangster vorzuknöpfen.
* "Uuuaahh!" klang es ganz schwach durch die schalldämmende Tür. Jo Walker hatte gerade den Schlüssel ins Schloß geschoben. Er runzelte die Stirn und fragte sich, ob seine Volontärin Radio hörte. Das "Uuuaahh" konnte notfalls auch aus einem der neuesten Disco-Hits stammen. Nicht jedoch der Schuß, der im nächsten Moment aufpeitschte. Copyright 2001 by readersplanet
Jos Finger drehten den Schlüssel herum. Als er die Tür aufriß, hörte er Scherben klirren. Ein erschrockener Schrei mischte sich in ein dumpfes Ächzen, aber keins von beiden hörte sich nach April Bondy an. Jos Rechte fuhr unter die Jacke. Er stürmte durch die kleine Diele, und bevor er noch das Vorzimmer erreicht hatte, flog ihm jemand entgegen. Ein lebendes Wurfgeschoß in Jeans und T-Shirt. Ein perfekter Judo-Griff mußte ihn angelüftet haben. Rückwärts flog er durch die Tür. Da er beachtlichen Schwung drauf hatte, zog Kommissar X es vor, dem Zusammenprall auszuweichen. Mit einem eleganten Sidestep brachte er sich aus der Flugbahn des Unbekannten. Um zu wissen, daß der Kerl den Sturz nicht mit wachen Sinnen überstehen würde, brauchte er keine komplizierten Berechnungen anzustellen. Mit zwei Schritten stand er im Vorzimmer, den 38er in der Faust, und warf einen prüfenden Blick auf das Schlachtfeld. April Bondy stand mit leicht gespreizten Beinen und federnden Knien auf dem Teppich und bewies, daß man ihr beim Judo-Kurs eine perfekte Grundhaltung beigebracht hatte. Bei ihrem zweiten Gegner konnte von Haltung keine Rede mehr sein. Der saß auf seinem breiten Hintern, krümmte sich nach vorn und sah um die Nasenspitze herum wie verschimmelter Käse aus. Jo drehte sich wieder um und beobachtete aus schmalen Augen die Bemühungen des Jeans-Typs, sich wieder auf den eigenen Namen zu besinnen. Als er es geschafft hatte, trug er den hübschen, verzierten Ledergürtel, der zu seinen Jeans gehörte, bereits um die Handgelenke, und Jo verfrachtete ihn mit geübtem Schwung in einen Sessel. Gangster Nummer zwei wehrte sich ein bißchen dagegen, gefesselt zu werden, weil er seine Hände brauchte, um sie auf diverse schmerzende Stellen zu pressen. Jo sagte ihm, was er mit ihm machen würde, wenn er jetzt nicht spure. Es war zwar nicht ernst gemeint, aber es hörte sich so fürchterlich an, daß der jammernde Dicke freiwillig die Arme auf den Rücken streckte. Sekunden später hing er ebenfalls in einem Sessel, schlapp wie ein nasser Sack. Kopfschüttelnd betrachtete Kommissar X das Duo. "Bravo", sagte er in Richtung auf seine Volontärin. "Kannst du mir jetzt vielleicht noch erklären, wo du die gefunden hast?" "Sie haben mir die Handtasche geklaut", sagte April wenig aufschlußreich. "Ojeoje. Und zur Strafe hast du mit ihnen Ball gespielt?" "Erstens war mein neues Parfüm in der Handtasche", empörte sich April. "Und zweitens haben die Kerle mir die Handtasche geklaut, um an meine Papiere zu kommen und herauszufinden, wer ich bin. Daniel Pratt muß kalte Füße gekriegt haben. Diese nachgemachten Westentaschen-Capones sollten mich bestimmt umbringen." "Nein!" heulte der Dicke. "B-b-bestimmt nicht!" stammelte der Jeans-Typ. "Pratt?" fragte Jo entgeistert. "Wer, zum Teufel, ist Pratt?" April Bondy kam überhaupt nicht zu Wort. Die beiden Halunken sahen sich schon im Geiste wegen Mordversuchs hinter jenen Gardinen schmoren, die heutzutage in den USA nur noch selten aus Schwedenstahl gefertigt werden und deshalb nach Fug und Recht Pittsburgher Gardinen heißen müßten. Der Dicke holte tief Luft. Der Jeans-Typ kam ihm zuvor und begann, ein wahres Feuerwerk an Informationen hervorzusprudeln. Binnen Minuten erfuhr Jo die ganze Geschichte. Aprils Besuch in dem Music-Shop, Daniel Pratts Verdacht, daß ihn jemand mit allen Schikanen in die sprichwörtliche Pfanne hauen wolle, die Blitzaktion, in der er den Handtaschen-Dieb auf die blonde Besucherin gehetzt hatte, schließlich der Überfall im Office. Schweigend hielt April Bondy ihrem Chef den anonymen Brief mit der Adresse von Barbellas Freundin Nina Lewis hin. Für Jo war damit Copyright 2001 by readersplanet
auch klar, wie seine Partnerin auf Daniel Pratts Music-Shop gekommen war. Die erste heiße Spur! Dieser Pratt gehörte zu den "schwarzen Haien", die illegale Mitschnitte aufkauften und Raubpressungen vertrieben. Das war wenigstens ein Anfang. Denn wenn Pratt von Dennis Barbella gekauft hatte, mußte er auch Kontakt zu den illegalen Preßwerken haben. Wieder einmal rief Jo seinen Freund Tom Rowland an. Eine halbe Stunde später stand der Captain vor der Tür. Immerhin brauchte er sich diesmal nicht mit Leichen abzugeben: Lebendige Gangster, die noch reden konnten, waren ihm entschieden lieber. Die beiden Halunken wurden abtransportiert, und Rowland ließ sich von Jo die ganze Geschichte erzählen. Zum Schluß kratzte sich der Captain ausgiebig im leicht gelichteten Haar. "Euer anonymer Gönner läßt ja ganz schön den Hund von der Kette", stellte er fest. "Er muß gewußt haben, daß Nina Lewis Barbellas Abnehmer kannte. Das heißt, daß er diesen Daniel Pratt in die Pfanne hauen wollte." "Genauso, wie er Sydney Cannon in die Pfanne hauen wollte, als er uns das Foto schickte, das Cannon neben Barbella zeigt", ergänzte Jo. "Genau! Und damit wird die Sache rund. Cannon hat das Schallplatten-Preßwerk, Pratt besorgt den Vertrieb, Barbella lieferte die ..." "Barbella kann nicht der einzige Lieferant gewesen sein und Pratts Laden nicht die einzige Vertriebsstelle", wandte Jo ein. "Außerdem paßt mir das alles ein bißchen zu gut zusammen. Ich werde grundsätzlich mißtrauisch, wenn jemand versucht, mir die Lösung eines Falls auf dem Silbertablett zu servieren." "Ich auch", nickte der Captain. "Aber auf jeden Fall können wir Pratt als Anstifter des Überfalls auf April festnageln. Fahren wir?" "Klar fahren wir", nickte Jo. Er freute sich schon auf die Begegnung mit Daniel Pratt. Ganz im Geheimen hoffte er sogar, daß der Musik-Mensch ein bißchen Widerstand leisten würde. Dann konnte er ihm nämlich zeigen, was er von Typen hielt, die jungen Damen Rollkommandos ins Haus schickten.
* Um die gleiche Zeit ließ sich Daniel Pratt im offenen silbergrauen Lamborghini den Fahrtwind um die Nase wehen. Der Schallplatten-Händler hatte bei dem Überfall auf April Bondy noch einen dritten Mann eingesetzt, als mobile Eingreif-Reserve sozusagen. Der Bursche war allerdings geistig etwas mehr auf der Höhe als seine Komplizen und hielt es mit der Weisheit, daß Vorsicht die Mutter der Porzellankiste und der Gesundheit sei. Als Jo Louis Walker vor seinem Office auftauchte und kurz darauf die Polizei anrückte, hatte die mobile Eingreif-Reserve mitnichten eingegriffen, sondern lieber per Telefon den Unglücksboten gespielt. Etwas war schiefgegangen. So schief, daß sich Daniel Pratt aufgemacht hatte, um den Stand der Dinge mit einem Komplizen auf der Chef-Ebene zu besprechen. Der Komplize hieß Sydney Cannon und beschäftigte, so makaber das auch war, tatsächlich Blinde in seinem Betrieb, weil sie nichts sahen. Ob dieser genialen Idee galt ihm die allgemeine Wertschätzung aller anderen "Haie". Daß man ihm jetzt auch noch einen Orden an die Weste geheftet hatte, bewies nach einhelliger Meinung in schlagender Weise die rührende Ahnungslosigkeit der Behörden. Aber Kommissar X war keine Behörde. Und die blonde Privatdetektivin, die versucht hatte, Pratt mit zu ködern, sah gar nicht so rührend ahnungslos aus. Der Schallplatten-Händler vibrierte vor Nervosität, als er Sydney Cannons Privat-Villa erreichte, Copyright 2001 by readersplanet
und rannte unruhig in der feudalen Halle hin und her, während der Butler ihn anmeldete. Er wurde in ein schalldicht ausgerüstetes Arbeitszimmer geführt. Cannon thronte hinter seinem Schreibtisch, das kantige Kinn vorgeschoben, die wuchtige Stirn unter dem lockigen Silberhaar leicht gefurcht. Daniel Pratts zerknittertes Casanova Gesicht war grau, als er berichtete, was ihn herführte. Sydney Cannon hörte schweigend zu. Seine Züge wirkten immer kantiger. Schließlich ließ er die flache Hand auf den Schreibtisch fallen und schüttelte sein Löwenhaupt. "Sie sind ein Idiot, Pratt", knurrte er. "Ich habe Ihnen schon immer gesagt, daß es Leichtsinn ist, mit Typen wie diesem Süchtigen zusammenzuarbeiten." "Barbella ist... "Ich weiß, verdammt noch mal! Sie hätten ihm seinen Dreck erst gar nicht abkaufen sollen. Und dann, als er Sie zu erpressen versuchte, hätten Sie ihm besser ein paar Dollar in den Rachen geworfen, statt ihm das Tonband mit der Sprengladung unterzujubeln." "Aber..." "Kein Aber! Eine Explosion mitten in einem Konzert! Ich könnte tobsüchtig werden, wenn ich daran denke! Warum haben Sie ihm nicht ein paar KO-Tropfen in den Drink gemischt und ihm dann eine Überdosis Heroin vergaßt? Und warum haben Sie nicht die Finger von dieser verdammten Privatdetektivin gelassen? Sie hätte den miesen Trick mit den gar nicht versucht, wenn es auch nur den Schimmer eines Beweises für Ihre Zusammenarbeit mit Barbella gäbe." Daniel Pratt schluckte. Inzwischen sah er selbst ein, daß er Fehler gemacht hatte. Er war kein Profi. Er neigte dazu, in Panik zu geraten, sich allzu leicht aus der Reserve locken zu lassen, und die Zusammenhänge nicht mehr zu überblicken. Mit zitternden Fingern wischte er sich den Schweiß von der zerknitterten Stirn. Aber seine Augen funkelten vor Wut, und als er sich halbwegs wieder gefaßt hatte, klang seine Stimme höhnisch und böse. "Halten Sie bloß den Mund, Cannon", stellte er fest. "Sie haben es gerade nötig, hier das große Wort zu führen. Ich bin gekommen, damit Sie Ihre grauen Zellen anstrengen und einen vernünftigen Vorschlag machen, nicht damit Sie sich aufs hohe Roß setzen. Vergessen Sie nicht, daß Sie von diesem Roß verdammt schnell herunterfallen können, Sie..." "Das glauben Sie nur", sagte Cannon im Tonfall satter Zufriedenheit. "Dabei vergessen Sie allerdings, daß sich inzwischen einiges geändert hat. Sie haben einen Mord begangen, Pratt." "Und Sie haben..." "Lebenslänglich ist lebenslänglich! Also hören Sie endlich auf, Ihre große Schnauze aufzureißen, klar?" Sekundenlang funkelten sie sich an wie Todfeinde. Genau das waren sie auch. Aber sie hatten sich gegenseitig in der Hand, und bis jetzt verhinderten noch ihre handfesten gemeinsamen Interessen, daß sie einander an die Kehle fuhren. "Ich schlage vor, daß Sie erst einmal ein paar Tage untertauchen und abwarten, wie sich die Lage entwickelt", sagte Cannon durch die Zähne. "Und wo?" knirschte Pratt. "Sie können meine Yacht nehmen. Sie liegt am Brighton Beach - die <Miriam>". "Nach dem Goldtöchterchen benannt?" "Lassen Sie gefälligst meine Tochter aus dem Spiel. Sie..." "Schon gut, schon gut!" Pratt hob abwehrend die Hände. "Ich werde mich für ein paar Tage mit dem Kahn absetzen. Also geben Sie mir schon die Schlüssel." Ein paar Minuten später verließ Daniel Pratt die Villa. Copyright 2001 by readersplanet
Hoffentlich bricht sich der Mistkerl den Hals, dachte er. Und Sydney Cannon wünschte sich um die gleiche Zeit inständig, daß sein Geschäftspartner über Bord gehen und ersaufen möge.
* Daniel Pratts Music-Shop war bereits geschlossen. Jo Walker und Tom Rowland hatten es nicht anders erwartet. Sie wußten, daß der Schallplatten-Händler Besitzer des zweistöckigen Hauses war und ein luxuriöses Apartment über seinem Laden bewohnte. Aber alle Fenster waren abgedunkelt, und selbst auf energisches Klingeln meldete sich niemand. "Ausgeflogen", stellte Jo fest. "Mist!" ärgerte sich der Captain. "Besorg' einen Durchsuchungsbefehl", schlug Jo vor. "Kriege ich nicht ohne die protokollierte Aussage der beiden Ganoven. Und bis ich die habe, ist es zu spät, um einen Richter aus dem Bett zu holen, wenn nicht gerade der Untergang von New York oder etwas ähnlich Schwerwiegendes droht." "Gefahr für Leib und Leben meiner Volontärin ist wohl nicht schwerwiegend genug, was?" "Frag' das den Richter! Der wird dir erzählen..." "Schon gut, Alter. Dann bis morgen." "Und du?" "Ich stecke mir eine Pall Mall ins Gesicht und warte. Kann ja sein, daß Pratt zurückkommt, oder?" Tom Rowland antwortete nicht darauf. Allzu genau wollte er es gar nicht wissen. Er tippte an den Rand seiner imaginären Mütze, schwang sich in den Wagen und war Sekunden später um die nächste Ecke verschwunden. Jo rauchte, wartete, beobachtete und stellte dabei fest, daß in dieser Gegend um diese Zeit der Hund begraben war. Nach der zweiten Zigarette stieg er aus und überquerte die Straße. Gitter waren vor den Schaufenstern des Music-Shops heruntergelassen, damit niemand auf die Idee kam, sich aus dem Schallplatten-Angebot selbst zu bedienen. Eine Einfahrt führte in den Hinterhof. Einen ziemlich finsteren, mit Gerümpel vollgestopften Hof, in dem es nach Abfall stank und Ratten fiepten. Vorne hui und hinten pfui, dachte Jo. Er warf einen Blick in einen Schuppen, aber der enthielt nur wurmstichige Möbel. Vielleicht lagerte sie jemand in der Hoffnung, daß sie sich mit der Zeit in Antiquitäten verwandeln würden. Jo sah einer mageren Katze nach, deren Ohr von wilden Kämpfen auf den Dächern zerfleddert war, und bei der Gelegenheit entdeckte er das offene Kellerfenster. Er nahm es als Wink des Schicksals. Offene Kellerfenster lieferten immer ein sehr brauchbares Mäntelchen der Legalität. Hinter offenen Kellerfenstern konnte man jederzeit Einbrecher vermuten, und der aufrechte Bürger war schließlich für seine Mitmenschen verantwortlich. Jo beschloß, sich für Daniel Pratt verantwortlich zu fühlen und nachzuschauen, ob sich in dessen Keller etwa Einbrecher aufhielten. Mit zwei Griffen hatte Kommissar X das Fenster vollends auf gehebelt, wand sich durch die enge Lücke und landete federnd im Dunkel. Der dünne Strahl seiner Kugelschreiber-Leuchte wanderte durch einen kleinen, völlig kahlen Raum, der früher einmal als Kohlenkeller gedient hatte und seither nicht mehr geputzt worden war. Eine Tür führte auf einen Flur, in dem es zumindest keinen uralten Kohlenstaub gab. Jo machte sich daran, das Kellergeschoß systematisch zu durchsuchen, und zwei Minuten Copyright 2001 by readersplanet
später hatte er zwar keine Einbrecher gefunden, aber das Schallplatten-Lager. Lauter brandneue Titel. Sämtliche populären Stars und die komplette Hitparade waren vertreten. Jos Blick blieb an dem Foto einer farbigen Soul-Sängerin hängen, die ihre Klasse-Figur in einem rubinrot funkelnden Flitterkostüm verrenkte. "Black Dreams", verriet die Aufschrift. "Die schwarzen Träume von Harlem..." Das war ein Song, den Jo auch in seiner eigenen Schallplattensammlung hatte. Er schnappte sich die Scheibe, wendete sie prüfend hin und her, dann schob er sie kurzerhand unter die Jacke. Zwei weitere Platten, für die er Vergleichsmaterial hatte, ließ er ebenfalls mitgehen: eine alte Elvis-Nummer und eine Schnulze, die ihm eine Klientin zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte: Danach verließ er den Keller. Die Ausbeute würde, wenn er nicht sehr irrte, auf jeden Fall ausreichen, um zu beweisen, daß Daniel Pratt tatsächlich zu den "schwarzen Haien" gehörte. Dann konnte man ihn gleich in doppelter Hinsicht festnageln - und so, wie April ihn einschätzte, würde er wohl schnell gesprächig werden, wenn er erst einmal merkte, daß er den Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen konnte. Nur erwischen mußte man ihn vorher. Jo warf einen letzten Blick auf die dunklen Fenster und versuchte, sich gegen seine eher pessimistischen Ahnungen zu wehren.
* Der Jeep war gelb lackiert, mit bunten Blümchen beklebt und mit einer Horde junger Leute besetzt, die sich wie Sardinen in einer zu eng geratenen Büchse drängten. In einiger Entfernung folgte ein uralter Landrover, im Tiger-Look gestreift, ebenfalls mit einer Horde junger Leute. In jedem Wagen spielte ein Kofferradio: Das eine Marsch-Musik, das andere Hard Rock, beide in Rummelplatz-Lautstärke. In dem offenen Jeep ließ Miriam Cannon ihre blonde Mähne fliegen. Die frechen grünen Katzenaugen im sanften Engelsgesicht hatten einen besonderen Glanz. Den verdankten sie der Chianti-Flasche, deren Inhalt mit Hilfe von zwei Flaschen Whisky und einer Tasse Angostura in ein Gesöff verwandelt worden war, das man mit gutem Willen vielleicht als Manhattan-Cocktail nach Banausen-Art bezeichnen konnte. Immerhin sorgte das Zeug für Stimmung. Die beiden abenteuerlichen Wagen waren die Westend Avenue hinuntergefahren, jetzt stoppten sie auf einem kleinen Parkplatz am Brighton Beach. Etwa zwanzig junge Leute schwangen sich ins Freie. Miriam Cannons Clique. Selbstverständlich war kein einziger mieser Bourgeois und Kapitalist darunter. Auch wenn die meisten an ihren "miesen" Kapitalisten-Vätern zumindest das Kapital durchaus zu schätzen wußten. Miriam fand es ganz in Ordnung, die Luxus-Yacht ihres Vaters als sturmfreie Bude zu benutzen. Der alte Landrover war zwar gebraucht gekauft, aber der Jeep hatte eine Stange Geld gekostet, die ebenfalls der Brieftasche eines reichen Daddy und durchaus nicht eigener Hände Arbeit entstammte. Miriams Clique war revolutionär, weil sie jede Menge Zeit hatte, revolutionären Gedanken nachzuhängen. In ein paar Jahren würden die bärtigen, abenteuerlich kostümierten Jünglinge Karrieren in den Chefetagen väterlicher Firmen beginnen, die wilden Girls standesgemäße Verlobungen feiern, und noch später würden sie ihren Nachwuchs genauso unermüdlich mit ihrer rebellischen Vergangenheit nerven, wie die eigenen Väter sie mit Kriegserlebnissen genervt hatten. Vorerst überboten sie sich noch gegenseitig darin, den Bürgerschreck zu spielen. Heute abend wollten sie eine Party auf der Yacht von Miriams Vater feiern. Eine wilde Party, das verstand sich von selbst. Der grob nachempfundene Manhattan-Cocktail war an sich Copyright 2001 by readersplanet
schon wild genug. Ein paar von den Boys hatten sich die Taschen mit Hasch-Zigaretten vollgestopft. Außerdem schleppten sie eine Aktentasche voller Schallplatten und Kassetten mit. Miriams Vater produzierte zwar Pop-Musik, aber auf seiner Yacht und in seiner Villa fand sich bekanntermaßen nur gepflegter Plüsch-Sound. Miriam ging voran. Selbstverständlich lag Sydney Cannons Yacht nicht einfach am Anleger wie ein x-beliebiger Kahn, sondern auf dem Gelände eines vornehmen Privatclubs. Miriam hatte einen Schlüssel für das Tor im Maschendraht. Die ganze Horde ergoß sich lärmend, lachend und schwankend auf das weitläufige Grundstück. Selbstverständlich gab es einen Nachtwächter, doch der hätte sich allenfalls von heimlich schleichenden Gestalten aufscheuchen lassen, nicht von einer Clique angeturnter Teenager. Er kannte nämlich die hoffnungsvollen Sprößlinge seiner millionenschweren Arbeitgeber. Gut gelaunt strebte die Clique der "Miriam" zu. Die Yacht lag an einem der letzten Anleger. Miriam, nach der das Luxusschiff benannt war, erspähte es als erste. Überrascht blieb sie stehen, weil Licht im Ruderhaus brannte - und in der nächsten Sekunde hörte sie das satte Brummen der beiden Evinrude-Maschinen. Die Yacht mit den Namen Miriam lichtete die Anker und legte ab. Das Girl mit dem Namen Miriam machte große Augen. Fast eine Minute brauchte sie, um zu begreifen, daß es mit der Party zur See heute nacht nichts werden würde. Danach verstand sie zwar immer noch nicht, wieso und warum, aber die Wut inspirierte sie zu einem Ausbruch, der überhaupt nicht zu ihrem Engelsgesicht paßte. Sie fluchte wie ein Bierkutscher. Der Nachtwächter, der wenig später doch noch bei seiner Krimi-Lektüre gestört wurde, hegte ohnehin ein gesundes Mißtrauen gegen Engelsgesichter. Vor allem, wenn grüne, überhaupt nicht engelhafte Katzenaugen darin funkelten. Hingerissen lauschte er Miriams Flüchen, aber auch er konnte ihr keine Erklärung liefern. Er wußte nur, daß der Gentleman, der mit der Yacht ausgelaufen war, Sydney Cannons Erlaubnis und die passenden Schlüssel gehabt hatte. Und daß er auf dem Schiff offenbar mit jemandem verabredet gewesen sei. Jemandem, den der Nachtwächter vor wenigen Minuten beim Betreten der Yacht beobachtet hatte. Daß dieser zweite Mann nicht eingeladen gewesen war, sondern den blinden Passagier spielte, konnte der Nachtwächter nicht wissen. Miriam wußte es ebensowenig. Und niemand ahnte auch nur im entferntesten, daß sich um diese Zeit in der Lower Bay bereits ein blutiges Drama anbahnte.
* "Cheers", sagte Jo. "Mmh!" machte April genießerisch. "Wie nennt sich das?" "Apricot Blossom", sagte Jo. Sie sprachen von dem Drink, den er gemixt hatte. "Vorsicht übrigens! Die Mischung schmeckt zwar sanft, aber sie hat sozusagen ein hartes Herz." "Wer sagt's denn", seufzte April. "Wie bitte?" "Jetzt haben auch schon deine Drinks ein hartes Herz. Es war unfair, mich nicht mit zu diesem Pratt zu nehmen. Ich hätte ihm zu gern die Augen ausgekratzt." "Er war nicht zu Hause." "Na und? Er hätte aber zu Hause sein können." "Man kratzt seinen Mitmenschen nicht die Augen aus. Davon abgesehen war es ziemlich leichtsinnig von dir, einfach in die Höhle des Löwen zu marschieren und nicht vorhandene Copyright 2001 by readersplanet
anzubieten, meine Liebe." "Löwe?" echote April spitz. "Wer ist in diesem Beispiel der Löwe?" "Pratt. Wer sonst?" "Haha!" machte April. Allerdings konnte sie ihren Brötchengeber damit nicht beeindrucken, da der Daniel Pratt nicht persönlich kannte. Jo hatte die drei etwas außerhalb der Legalität entwendeten Platten ausgepackt und die Gegenstücke aus seiner eigenen Sammlung herausgefischt. Jetzt legte er sie nacheinander auf. Immer zuerst das Original aus seinem Privatbesitz und dann das Exemplar aus Daniel Pratts Keller. "Black Dreams" kam als erstes. Jo nippte Apricot Blossom und ließ sich von der knisternden Erotik in der Stimme der farbigen Soul-Sängerin einfangen. Die <schwarzen Träume> gehörten im Augenblick zu seinen Favoriten. Er wechselte sein Original gegen Pratts Exemplar aus - und schon das furiose Gitarren-Vorspiel war in der Tonqualität wesentlich schlechter als die Fassung, die sie zuerst gehört hatten. "Eine Nachpressung", stellte April fest. "Eindeutig", nickte Jo. "Und ziemlich schludrig gemacht. Der nächste, bitte!" Als nächstes schmetterte Elvis Presley den "Jailhouse-Rock", der bei Jo gewisse nostalgische Gefühle weckte. Über diese Musik hatten in seiner eigenen Jugend die älteren Semester mit den Ohren geschlackert. Heutzutage gerieten wieder die Teenys darüber in Verzückung. Und solide Mütter, die sich ob des Disco-Sounds an den Kopf griffen, kamen vielleicht in Versuchung, noch einmal den alten Hula-Reifen aus dem Keller zu holen oder anstelle des ewigen Rum-Cokes mal wieder einen Wodka über eine schöne süße Cocktail-Kirsche zu kippen, wie es damals die "harten Männer" taten. Die Nachpressung der alten Elvis-Nummer hörte sich so an, als habe ein Test-Institut die Platte einer Dauerbelastungs-Prüfung unterzogen. "Himmel", stöhnte April. "Das klingt wie die Bremsen des Orient-Expreß!" "Stimmt"; nickte Jo. "Wappne dich! Jetzt kommt die Schnulze." "Das Geschenk der blonden Edelgard?" "Das Geschenk der blonden Edelgard", nickte Jo und dachte daran, daß das Girl aus München, Germany, von ihrem musikalischen Geschmack abgesehen eigentlich eher Pfeffer als Zucker gewesen war. Das sagte er allerdings lieber nicht laut. April zog ohnehin einen Flunsch, obwohl die Sache mit Edelgard vor ihrer Zeit gewesen war. Weibliche Mitarbeiter wirkten auf gewisse Aspekte des Junggesellenlebens doch sehr dämpfend. Jo dachte an die schöne Edelgard, aber auch diesmal wurden seine nostalgischen Gefühle empfindlich gestört, als er sich Daniel Pratts Version der ohnehin nicht berauschenden Schnulze anhören mußte. "Eindeutig, nicht wahr?" fragte April. Jo nickte nur. Die Qualitätsunterschiede waren tatsächlich eindeutig, selbst für einen Laien. Mit Daniel Pratts Nachpressung der romantischen Schnulze hätte wohl nicht einmal die unmusikalische Edelgard aus München irgend jemanden zu seinem Geburtstag bestraft.
* Die Yacht <Miriam> hatte die Höhe von Sandy Hook passiert und wandte sich nach Nordosten.
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Daniel Pratt stand im Ruderhaus, das zerknitterte Gesicht hart und angespannt. Der grünliche Widerschein der Instrumente ließ seine Haut fahl wirken. Die Küste von Long Island lag querab, Lichter glitten vorbei, irgendwo dröhnte das Typhon-Horn eines Dampfers. Pratt hatte Positionslichter gesetzt. Er dachte nicht daran, sich mit einer unbeleuchteten Yacht in irgendeiner einsamen Bucht herumzudrücken. Nein, er war kein Profi. Er war feige, hatte empfindliche Nerven, besaß nicht das Format von Sydney Cannon. Aber dafür besaß er den ausgeprägten Instinkt einer Ratte, die sich überall durchbeißt und rücksichtslos auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Er war es gewesen, der Sydney Cannon gezwungen hatte, sein Werk für die Produktion von Nachpressungen zur Verfügung zu stellen. Er hatte die Idee gehabt, auch wenn Cannon mit seiner Energie und seinem Organisationstalent den Laden erst in Schwung gebracht hatte. Pratt fühlte sich als Boß. Und genau das wollte er auch bleiben. Seine Augen funkelten triumphierend, als er daran dachte - und den Schatten in der offenen Tür des Ruderhauses bemerkte er eine Sekunde zu spät. Brüniertes Metall schimmerte. Trotz der dröhnenden Maschine war das scharfe Knacken zu hören, mit dem der Sicherungsbügel einer Pistole zurückgeschoben wurde. Daniel Pratt fuhr herum - und starrte fassungslos in das blasse, unauffällige Gesicht des Mannes, der die Waffe auf ihn richtete. Ein Mann, den er kannte. Ein unauffälliger Typ, dessen einziges hervorstechendes Merkmal die spiegelnde Glatze war. Der Bursche lächelte dünn. Seine Augen glitzerten im Licht der Instrumenten-Beleuchtung. Ein kaltes, entschlossenes Glitzern - und der Schallplatten-Händler fühlte einen Schauer über seinen Rücken rinnen. "Porter!" stieß er hervor. "Telly Porter!" "Richtig", sagte der Glatzkopf halblaut. "Du scheinst überrascht zu sein, Danny-Boy. Um so besser für mich! Ich habe gleich gewußt, daß ihr armen Idioten die Gefahr ganz bestimmt in der falschen Richtung suchen würdet..."
* Früh am nächsten Morgen besuchte Jo Captain Rowland in seinem Office. Er traf einen Besucher an: Dr. David Bloom, Rechtsanwalt, der im Auftrag mehrerer Schallplatten-Firmen gegen die <schwarzen Haie> vorzugehen versuchte. Bloom hatte von dem Mord an dem Popsänger Cliff Carlin gehört und vermutete Zusammenhänge. Einer der Drahtzieher des schmutzigen Geschäfts mit den Schwarzpressungen mußte in Carlins unmittelbarer Umgebung zu finden sein. Und tatsächlich hatte die Clique des jungen Mannes ja auch fast vollzählig an der Verleihung des Ordens an Sydney Cannon teilgenommen: Carlins Produzent Steward Draper, seine Kollegin Dory Dorin, der Glatzkopf Telly Porter, der ebenfalls Platten produzierte, und einige andere. Jo nutzte die Gelegenheit, sich von David Bloom ein wenig mehr über die Hintergründe der illegalen Branche erzählen zu lassen. "Es ist ein Riesengeschäft", meinte der Anwalt. "Bootleg-Gangster und Kopierer, die Originale nachpressen, setzen in den Vereinigten Staaten inzwischen 200 Millionen Dollar um. Ich könnte Ihnen einen 160 Seiten starken Bestellkatalog hinblättern, bei denen Ihnen die Augen übergehen würden. Die Qualität ist natürlich miserabel. Aber was will der Käufer machen, wenn er sich seine Neuerwerbung zu Hause anhört und feststellt, daß zum Beispiel die Höhen oder die Bässe fehlen. Schallplatten und Kassetten werden bekanntlich nicht umgetauscht. Um zu verhindern, daß irgendein Privatmann sie sich auf sein Tonband überspielt und dann zurückgibt! Geradezu lächerlich, wenn man an die Millionen Piratenplatten denkt, die den Markt überschwemmen." "Apropos", sagte Jo und legte die drei Scheiben in ihren bunten Hüllen auf Rowlands Schreibtisch. "Das da sind ganz sicher Schwarzpressungen. Meine Volontärin verglich die Tonqualität sehr treffend mit den Bremsen des Orient-Expreß." Copyright 2001 by readersplanet
Der Captain hob die Brauen. "Woher...", begann er. "Sagen wir mal, sie sind mir zugelaufen. Wenn du den Durchsuchungsbefehl gegen Daniel Pratt hast, kann ich dir allerdings versprechen, daß dir ebenfalls welche zulaufen werden. Und zwar ein ganzes Lager." "Hoppla! Den Durchsuchungsbefehl kriege ich per Kurier. Dr. Bloom - Sie sind Fachmann und können Schwarzpressungen als solche identifizieren?" "Ja, allerdings. Wollen Sie einen Laden auffliegen lassen, der die Dinger vertreibt?" Der Captain nickte nur. Es dauerte noch knapp zehn Minuten, bis das benötigte Papier da war. In der Zwischenzeit erfuhr Jo, was die Obduktion des toten Berufskillers ergeben hatte. Terry Dixon war eindeutig vergiftet worden, aber da sein Mörder keine Spuren hinterlassen hatte, half diese Erkenntnis im Augenblick auch nicht weiter. Jo hätte sich an der Durchsuchung von Daniel Pratts Musikladen beteiligen können, doch er hatte etwas anderes vor. Ein paar Minuten später war er unterwegs zur Sheepshead Bay. Dort lag Sydney Cannons Preßwerk, das als etwas mißglückte Kulisse der Ordensverleihung gedient hatte. Captain Rowland konnte sich in diesem Werk nicht umsehen, bevor er einen Durchsuchungsbefehl und damit handfeste Beweise gegen Cannon hatte. Jo Walker konnte sich in diesem Punkt etwas mehr Großzügigkeit leisten. Er war entschlossen, sich anläßlich eines Besuches bei dem Firmenchef ein bißchen auf dem Fabrikgelände zu verlaufen.
* Seit Stunden kämpfte Daniel Pratt gegen die Fesseln. Er wußte nicht, wo er sich befand, in welches Versteck Telly Porter die Yacht gebracht hatte. Irgendwo in der Nähe von New York lag sie an einem Anleger, in einer einsamen Gegend vermutlich. Porter war unterwegs - und Daniel Pratt wußte, was der andere vorhatte. Er würde Sprengstoff besorgen. Die gleiche Art von Sprengstoff, die Dennis Barbella getötet hatte. Diesmal sollte es ihn, Pratt, treffen. Und der Gedanke, daß er selbst es gewesen war, der in betrunkenem Zustand Porter erzählt hatte, daß Dennis Barbella bei dem Konzert von Dory Dorin sterben würde, ließ ihn jedesmal vor Wut mit den Zähnen knirschen. Auch Porter gehörte zu den Schwarzpressern. Er und Sydney Cannon standen seit Jahren in einem erbitterten Konkurrenzkampf. Es war Daniel Pratts Idee gewesen, den Streit zu begraben und die Geschäfte in Zukunft gemeinsam zu machen. Eine Zeitlang hatte es sogar so ausgesehen, als werde Telly Porter nachgeben: Vielleicht hatte er das sogar gewollt. Aber er konnte die Entscheidung nicht allein treffen, da er nur ein vorgeschobener Strohmann war. Die Fäden im Hintergrund zog jemand anders und der dachte nicht daran, den Gewinn zu teilen. Im Gegenteil: Als Pratt der verhängnisvolle Fehler unterlaufen war, den Mordplan gegen Dennis Barbella auszuplaudern, hatte der unbekannte Drahtzieher einen geradezu teuflischen Plan gefaßt, um die Konkurrenz auszuschalten. Einen Plan, dessen Ausführung Telly Porter übernommen hatte. Pratt zitterte vor Wut, wenn er daran dachte. Er glaubte immer noch, Porters hohntriefende Stimme zu hören: "Es war ganz einfach. Ich habe einen Privatdetektiv auf den Fall scharf gemacht: Kommissar X, Jo Louis Walker. Ich habe dafür gesorgt, daß er in der Nähe war, als Barbella starb, ich habe ihm ein Foto zugespielt, das Barbella an der Seite von Sydney Cannon zeigte. Dann kam mir sogar noch ein Zufall zur Hilfe: Walker saß auch im Zuschauerraum, als wir Cliff Copyright 2001 by readersplanet
Carlin abknipsen mußten. Danach brauchte ich ihm nur noch anonym die Adresse von Barbellas Freundin zu verraten, damit er auf Sie stieß, Pratt! Und wenn Sie mit der Yacht in die Luft fliegen, werden Walker und die Polizei natürlich glauben, daß Sydney Cannon Sie umgebracht hat, damit Sie ihn nicht verraten können!" Daniel Pratt grub die Zähne in die Unterlippe. Wieder bäumte er sich auf, zerrte verzweifelt an den Fesseln. Er hatte um Hilfe geschrieen, bis er heiser war, aber er glaubte ohnehin nicht daran, daß ihn dort, wo Porter die Yacht versteckt hatte, jemand hören konnte. Er mußte die Fesseln loswerden. Schnell! Bevor Porter zurückkam! Wenn er, Pratt, erst einmal frei war, würde er es auch schaffen, seinen Gegner zu überwältigen. Und dann, das schwor er sich, würde ihm Telly Porter verraten, wer der unbekannte Drahtzieher im Hintergrund war, der das Geschäft mit den Schwarzpressungen in seine Hand bekommen wollte. Pratt biß die Zähne zusammen, schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, die Knoten der Stricke mit den Fingern zu ertasten.
* "Make Love, not War", stand - kaum leserlich - auf der gelben Plakette. Jo hatte diesen sogenannten "Meinungsknopf" in einem Kaufhaus erstanden. Von seinem ersten Besuch in Sydney Cannons Preßwerk wußte er noch, daß Werksangehörige und angemeldete Besucher mit einer runden gelben Blechscheibe am Revers herumliefen. Ein Teil der Werksangehörigen trug außerdem blaue Kittel. Auch so ein Kleidungsstück hatte sich Kommissar X besorgt. Daß die Behauptung, Cannon besuchen zu wollen, unter diesen Umständen recht unglaubwürdig wirkte, störte ihn nicht. Wenn man ihn beim Herumschnüffeln in der Packerei erwischte, würde man ihm ohnehin nicht glauben, daß er sich verlaufen hatte und außerdem war es schließlich nicht verboten, als Privatdetektiv einen blauen Kittel zu tragen. KX nahm nicht den Haupteingang, sondern versuchte es am rückwärtigen Tor in der Mauer. Er hatte Glück. Ein Lieferwagen überholte ihn, der Fahrer winkte ihm zu, da er ihn offenbar für einen Angestellten hielt. Jo grüßte zurück. Hinter dem Wagen schlenderte er auf das Tor zu, das gerade von einem Arbeiter geöffnet wurde. "Unbefugten ist der Zutritt verboten", verkündete ein Schild. Jo bemühte sich, einen befugten Eindruck zu machen. Er nickte dem Arbeiter am Tor zu, schob die Hände in die Taschen des blauen Kittels und steuerte zielstrebig den nächstliegenden Trakt des Gebäudekomplexes an. Ein Trakt mit einer Verladerampe. In der Halle dahinter wurden versandfertige Platten gelagert. Zwei blaubekittelte Männer machten sich daran, den Kastenwagen mit Nachschub zu beladen. Jo wußte nicht recht weiter: Er wollte nicht wie ein blindes Huhn herumlaufen, sondern möglichst systematisch vorgehen. Als der Blick des Älteren der beiden Blaukittel auf ihn fiel, produzierte er ein etwas hilfloses Grinsen. Der Arbeiter dachte nicht daran, den Kittel und die gelbe Plakette einer genaueren Musterung zu unterziehen. "Hallo!" sagte er ohne Mißtrauen. "Neu hier?" "Allerdings", nickte Jo. "Seit drei Tagen Kontrolleur in der Packerei! Aber ich werde bestimmt drei Wochen brauchen, bis ich mich hier nicht mehr verlaufe." "Kein Ortssinn, was?" Der Mann grinste verständnisinnig. Er hatte ein breites rotes Gesicht und gutmütige Augen. "Nehmen Sie die Stahltür da drüben. Die Packerei liegt am Ende des Flurs, die letzte Tür rechts." "Danke, Kumpel! Ich hoffe, daß ich es noch lerne." Copyright 2001 by readersplanet
Kommissar X schlenderte auf den Eingang zu. Der Flur dahinter wirkte genauso düster und heruntergekommen wie der ganze Gebäudekomplex. Jo öffnete leise die letzte Tür an der rechten Seite - und tatsächlich geriet er in einen kleinen Vorraum, der in die Packerei führte. Hier arbeiteten die Blinden, denen es Sydney Cannon verdankte, daß der Staat ihm einen Orden verliehen hatte. Die meisten waren damit beschäftigt, Platten in bunt bedruckte Hüllen zu schieben. Gefälschte Platten in gefälschte Hüllen? Die Cover waren ganz einfach herzustellen: Man brauchte nur diejenigen der Originale abzufotografieren und mit dem Negativ neue Cover zu drucken. Manchmal gab es Farbunterschiede, bisweilen war die Qualität des Drucks schlecht. Im fahlen, verzerrenden Neonlicht der Music-Shops merkten das die Kunden fast nie - und daß es Cannons blinde Angestellten nicht sahen, lag in der Natur der Sache. Falls hier tatsächlich Raubpressungen hergestellt wurden! Jo ging langsam weiter, an der Reihe der Arbeitstische entlang. Die Blinden schienen daran gewöhnt zu sein, daß bisweilen jemand vorbeikam, ihnen über die Schultern sah und ihre Arbeit kontrollierte. Jo betrachtete die bunten Cover - und runzelte die Stirn, als er die Zeichen mehrerer bekannter Schallplattenfirmen entdeckte. Durchaus möglich, daß Sydney Cannon mit diesen Firmen zusammenarbeitete. Ein paar Anrufe würden genügen, um das herauszufinden. Aber Kommissar X glaubte nicht mehr an diese legale Zusammenarbeit. Es gab einfach zu viel, was gegen Cannon sprach. Zwar irritierte es Jo, daß ein Unbekannter ihn durch anonyme Briefe mit der Nase auf die verdächtigen Umstände gestoßen hatte, doch das änderte nichts daran, daß die verdächtigen Umstände tatsächlich existierten. Vielleicht steckte ein Konkurrent dahinter, dachte KX - eher beiläufig und ohne zu ahnen, wie nahe diese Überlegung der Wahrheit kam. Seine Lider zogen sich zusammen, als er auf einem der Arbeitstische die alte Elvis-Nummer entdeckte, die er noch gestern in seinem Büro-Apartment abgespielt hatte, einmal als Original und einmal als Schwarzpressung. April hatte behauptet, die Fälschung klinge wie die Bremsen des Orient-Expresses. Wenn die Platten, die hier in ihre Hüllen geschoben wurden und in großen Körben landeten, ebenfalls Fälschungen waren, würde sich das also ziemlich leicht feststellen lassen. Kurz entschlossen beugte sich Kommissar X vor, fischte ein Exemplar des "Jailhouse-Rock" aus dem Korb und ließ es unter seiner Jacke verschwinden. Langsam ging er weiter, auf die Tür zu, die aus der Packerei in den nächsten Trakt führte. Was er suchte und was den endgültigen Beweis für Cannons illegale Tätigkeit liefern würde, war das Tonstudio. Schallplatten konnten nicht, wie Kassetten, einfach überspielt werden. Zuerst mußte man das Original auf Tonband aufnehmen. Mit Hilfe elektronischer und chemo-technischer Verfahren erhielt man schließlich eine Matrize, mit der die aus PVC bestehenden Schallplatten gepreßt wurden. Die entsprechenden Anlagen mußten irgendwo stehen, und Jo war entschlossen, sie zu finden. Er geriet in einen weiteren Flur und öffnete kurzerhand die nächstbeste Tür, an der er vorbeikam. Natürlich tat er es mit größter Vorsicht und nach einer angemessenen Zeit des Lauschens und einem Blick durchs Schlüsselloch. Der Raum, in dem er landete, war allerdings uninteressant: In einfachen Kunststoff-Regalen lagerte das Papier, auf das die Cover gedruckt wurden. Kommissar X kehrte wieder auf den Flur zurück, ging weiter und beschloß, den nächsten Menschen, der ihm begegnete, schlicht und einfach nach dem Tonstudio zu fragen. Er kam nicht mehr dazu. Die nächste Tür, auf die er stieß, trug ein Schild mit der Aufschrift Es gab sogar einen Spion, damit man sich überzeugen konnte, ob im Moment gerade wirklich Ruhe vonnöten war oder nicht, bevor man den Raum betrat. Jo pfiff leise durch die Zähne, kniff das linke Auge zusammen und spähte mit dem rechten durch das kreisrunde Loch. Neonlicht brannte in dem Raum dahinter.
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Selbst ein fanatischer Hifi-Fan hätte Mühe gehabt, das Durcheinander von Geräten zu enträtseln, die da auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Jo entdeckte Tonbandspulen noch und noch, zahllose Knöpfe, Hebel und Leuchtskalen, und er entdeckte drei Männer, die mit Kopfhörern an schimmernden Schaltpulten saßen und sehr konzentriert wirkten. Na also, dachte Kommissar X. Er war überzeugt davon, den fehlenden Beweis gefunden zu haben. Aber er kam nicht mehr dazu, auch nur eine Spur von Triumph zu empfinden, denn im gleichen Augenblick hörte er das Geräusch hinter sich. Er wirbelte auf dem Absatz herum - doch da war es schon zu spät. Nach der strahlenden Helligkeit in dem Tonstudio konnte er im Halbdunkel des unbeleuchteten Flurs im ersten Augenblick nur Schatten erkennen. Er spürte den Luftzug. Ehe er die Arme hochreißen, wegtauchen, irgendwie reagieren konnte, explodierte etwas an seinem Schädel. Grelle Funken sprühten vor seinen Augen, eine Schmerzwelle raste durch seinen Körper, und er versuchte vergeblich, die Hand an den 38er in der Schulterhalfter zu bringen. Bevor er die Waffe auch nur berührte, schlug der Angreifer noch einmal zu und löschte endgültig sein Bewußtsein aus.
* Die Bremsen des Orient-Expreß quietschten. So hörte es sich tatsächlich an, dachte Tom Rowland erschüttert. Neben ihm verzog Dr. David Bloom gequält das Gesicht. Er war relativ jung, knapp vierzig. Eben noch hatte er zugegeben, daß Elvis Presley der Schwarm seiner wilden Jahre gewesen sei. Für einen Elvis-Fan war es natürlich eine mittlere Folter, den "Jailhouse-Rock" dermaßen verhunzt zu hören. "Schwarzpressung", klassifizierte der Rechtsanwalt überflüssigerweise. Als nächstes kam die neueste LP von Boney M. auf den Plattenteller. sagte David Bloom schon nach wenigen Takten. "Eindeutig der illegale Mitschnitt eines Live-Konzerts! Wenn Sie genau aufpassen, können Sie im Hintergrund das Publikum toben hören." "Hmm", machte Tom Rowland, dessen musikalischer Geschmack etwas antiquiert war. "Schwarzpressung!" sagte Bloom bei der nächsten Platte. Es handelte sich um das legendäre "Saturday Night Fever" der Bee Gees. Danach kam eine ganze Reihe alter Beatles-Hits. Von "Yesterday" über "Hey Jude" bis zum "Yellow Submarine". Platten, nach denen sich Fans heutzutage die Hacken abliefen und für die unter Brüdern Liebhaberpreise gezahlt wurden. Nur eben nicht für solch miserable Qualität, die Daniel Pratts Schwarzpressungen boten. Für Tom Rowland stand eindeutig fest, daß sie eine Vertriebszentrale der <schwarzen Haie> aufgespürt hatten. Als nächstes durchsuchten sie die Büroräume. Und dabei wurden sie erneut fündig. Es gab Papiere, die auf eine rege Geschäftsverbindung zwischen Daniel Pratts Music-Shop und dem Preßwerk des ordengeschmückten Sydney Cannon hinwiesen. Eine Geschäftsverbindung, die bei der eindeutigen Beweislage gegen Daniel Pratt auch ausreichte, um einen Durchsuchungsbefehl für Cannons Preßwerk zu erwirken. Eine knappe Stunde später hielt Captain Rowland das entsprechende Papier in Händen. Er sah sich am Ziel. Für Sydney Cannon, den Ordensträger, der nicht aus sozialer Gesinnung, sondern aus sehr praktischen Gründen Blinde in seinem Betrieb beschäftigte, hatte die Stunde der Wahrheit geschlagen. Copyright 2001 by readersplanet
* Das Erwachen nach einem Knock out hat fatale Ähnlichkeit mit einem schweren Kater. Der Schädel schmerzt, der Magen rebelliert, der Mensch fühlt sich versucht, der Ursache des Übels für alle Zeiten abzuschwören. Was bei Alkohol leichter geht als bei K.o.-Schlägen, vor allem wenn das Opfer seine Brötchen als Privatdetektiv verdient. Diesmal kam bei Kommissar X noch akute Atemnot als neue Variante hinzu. Er wollte seinen Hemdkragen lockern - und stellte bei dieser Gelegenheit fest, daß ihm seine Gegner beide Arme an die Lehnen eines ziemlich harten, ziemlich wackligen alten Stuhls gebunden hatten. Das Ding stand in einem Kellerraum, der ansonsten nur ein paar Regale mit Werkzeug enthielt. Jo sah es, als er die Augen aufriß. Mit dem zweiten Blick. Der erste Blick galt den beiden Kerlen, die sich vor ihm aufgebaut hatten. Einem mittelgroßen, hageren Südländer mit schwarzem Lockenhaar, einem breitschultrigen Hünen, dessen feistes rotes Gesicht einen lebhaften Kontrast zu dem weißblonden Stoppelkopf bildete. Den dritten Mann konnte Kommissar X hinter sich mit den Zähnen knirschen hören. Er hatte irgend etwas um Jos Hals gewickelt und preßte ihm auf diese Weise den Kopf gegen die Oberkante der Rückenlehne. Immerhin: Sie hatten seine Beine nicht gefesselt. Und der Stuhl war auch kein besonders stabiles Exemplar. Bei dem vergeblichen - und unangebrachten - Versuch, seinen Hemdkragen zu lockern, hatte Jo einen leichten Ruck an der rechten Lehne gespürt und das Knirschen von Holz wahrgenommen. Notfalls würde er es schaffen, seinen Gegnern ein paar Einzelteile des Stuhls um die Ohren zu schlagen. Er brauchte nur etwas Zeit, mußte sich soweit erholen, daß er sicher war, nicht bei der ersten heftigen Bewegung wieder das Bewußtsein zu verlieren. Wobei es äußerst fraglich war, ob ihm die Kerle die nötige Zeit zur Erholung lassen würden. "Wer bist du, Schnüffler?" fauchte ihn der Südländer an. "Jo Louis Walker", sagte Kommissar X. Seine Papiere hatten die Herren ja wohl inzwischen gefunden. "Das wissen wir!" bestätigte der Weißblonde seine Vermutung. "Und warum fragt ihr dann?" erkundigte sich Kommissar X freundlich. Der Südländer zischte wie eine gereizte Cobra. Die Frage war ein Test gewesen, der erweisen sollte, inwieweit das Opfer bereit war zu singen. Falls die Herren sich allerdings einbildeten, der Test sei zur Zufriedenheit ausgefallen, hätten sie vielleicht besser daran getan, zunächst einmal die Intelligenz ihres Gegenübers zu testen. "Was willst du?" schoß der Südländer die nächste Frage ab. "Wieso schnüffelst du hier herum? Was suchst du?" "Cannon", sagte Jo seelenruhig. "Wie bitte?" "Cannon. Sydney Cannon, euren Brötchengeber. Ich möchte ihm ein paar Fragen stellen. Leider ist der Gebäudekomplex ein wenig unübersichtlich. Ich habe mich verlaufen." "Und dein Glotzauge an den Spion des Tonstudios gehängt!" höhnte der Weißblonde. "Tonstudio?" echote Jo betont harmlos. "Ich habe nur das Schild gelesen. Und dann wollte ich nachsehen, ob ich wirklich nicht stören durfte oder ob ich vielleicht jemanden fragen konnte, wo Sydney Cannon zu finden sei." "Hahaha!" meckerte der Südländer. "Und die Scheibe haben dir wohl die Heinzelmännchen unter die Jacke gejubelt, was?" Jo bemühte sich, ein schuldbewußtes Gesicht zu machen. "Ich bin ein Elvis-Fan", gestand er. "Was bist du?" Copyright 2001 by readersplanet
"Ein Elvis-Fan! Der Jailhouse-Rock war schon meine Lieblingsnummer, als ich noch in der Tanzstunde das Girl von nebenan beim Schulterwurf rückwärts in die Glasscheibe schmiß..." "Waaas?" dehnte der Südländer, der bestimmt kein Elvis-Presley-Fan war. "Kennen Sie das nicht?" fragte Jo unschuldig. "Dieser Schulterwurf rückwärts, den jeder echte Rock'n-Roll-Tänzer beherrschen mußte? Ein bißchen schwierig, wie Sie sich vielleicht erinnern werden. Einmal beförderte ich dabei ein Girl durch eine Glasschiebetür. Ein anderes Mal brach sich meine Partnerin bedauerlicherweise das Nasenbein. Aber die Kleine war gut, echt gut! Sie tanzte weiter. Wir gewannen den Pokal des Elvis-Fan-Clubs von..." Dem Südländer riß der Geduldsfaden. Er holte aus und schlug wutentbrannt zu. Der Rest der Geschichte über Elvis und die Lady mit dem gebrochenen Nasenbein blieb unerwähnt. Es spielte keine große Rolle. Die Geschichte war ohnehin erfunden. "Willst du uns erzählen, du hast die Scheibe mitgehen lassen, weil du ein Elvis-Fan bist?" brüllte der Südländer unbeherrscht. "Jawohl", bestätigte Kommissar X und versuchte, sich das Aussehen eines ertappten Sünders zu geben. Es fruchtete nicht viel. "Wir wollen keine faulen Ausreden", wurde er belehrt. "Du hast deine Nase zu tief in unsere Angelegenheiten gesteckt, und du wirst uns erzählen, wer oder was dich auf uns gebracht hat. Also?" Jo produzierte ein Stöhnen. Der Südländer starrte ihm erwartungsvoll ins Gesicht. Vermutlich zog er aus dem Mienenspiel seines Opfers den Schluß, daß Kommissar X mit sich kämpfte. Er kämpfte auch. Aber nicht mit sich, sondern mit der Sessellehne. Das Ding war locker, außerdem hatte er die Beine frei... "Was ist nun?" fragte der Südländer ungeduldig. "Nichts ist", sagte Jo. "Ich bin nun mal ein Elvis-Fan, ich..." "Mac!" zischte der Südländer. Diesmal kam Kommissar X der bösartigen Methode des Burschen hinter sich zuvor. Blitzartig riß er den rechten Arm hoch, hörte das Knirschen von Holz auf Holz und spürte den Sessel unter sich wanken. Mit der Lehne schlug er blindlings nach hinten, gleichzeitig trat er dem Südländer vor die Schienbeine. Er heulte auf. Der Kerl mit dem Namen Mac stimmte ein, und Jo warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht nach vorn. Sekunden später rutschten die Stricke von den Einzelteilen des Sessels. Keuchend sprang Kommissar X auf. Mit der Linken zerrte er sich die verdammte Schlinge vom Hals. Mit der Rechten schnappte er sich ein stabiles Stück Holz, wirbelte herum - und sah gerade noch, wie Macs Hand zu der Pistole in seiner Schulterhalfter zuckte. Jo erreichte ihn mit einem Panthersatz und schlug zu. Er erwischte den Burschen nicht voll, aber es reichte, um ihn in die Knie gehen zu lassen. Der Südländer wollte Jo von hinten anspringen, doch der Detektiv war schneller. Der Kerl rannte genau in eine gestochene Gerade hinein, die ihn rückwärts auf den Betonboden beförderte. Kommissar X sprang über ihn hinweg, sah sich nach dem Stoppelkopf um - und konnte im letzten Augenblick abducken, als dessen Waffe aufpeitschte. Was dann geschah, war eine Sache von Sekundenbruchteilen. Der Bursche mit dem Namen Mac kam schneller wieder auf die Beine, als Jo gedacht hatte. Der Detektiv stand zwischen ihm und dem Stoppelkopf. Beide zogen durch - und Kommissar X blieb nichts anderes übrig, als auf Tauchstation zu gehen. Als er sich fallenließ, peitschte bereits der erste Schuß. Copyright 2001 by readersplanet
Ein schriller, langgezogener Schrei gellte in seinen Ohren. Er rollte herum, sah einen neuen Mündungsblitz, wälzte sich weiter. Von einer Sekunde zur anderen breitete sich beißender Korditgeruch aus. Dicht vor und neben Jos Kopf klatschten Kugeln auf den Boden, schlugen Funken aus dem Beton, eine streifte glutheiß seinen rechten Oberarm. Mit einem verzweifelten Hechtsprung landete er hinter den Trümmern des Stuhls und hörte im nächsten Moment das Klicken einer leergeschossenen Pistole. "Weg hier!" brüllte eine Stimme. Schritte trampelten, die Tür schlug. Jo wollte hochkommen - da fiel sein Blick auf den Gangster mit dem weißblonden Stoppelhaar. Er lag auf der Seite. Das Jackett seines braunen Cord-Anzugs war blutdurchtränkt. Zitternd preßte er die Hände vor die Brust und stöhnte. Er hatte mindestens zwei von den Kugeln erwischt, die sein Komplize auf Kommissar X abgefeuert hatte. Jo beugte sich über ihn, aber er sah sofort, daß er ihm nicht mehr helfen konnte. Das Stöhnen des Gangsters verstummte, über seine aufgerissenen Augen schoben sich die stumpfen Schleier des Todes. Der Detektiv biß sich auf die Lippen. Er starrte zur Tür. Die beiden anderen Kerle waren auf dem Kellerflur verschwunden. Sie waren keine Profis, hatten sofort die Nerven verloren, als die Sache nicht ganz so lief, wie sie es sich vorstellten. Vielleicht hätten sie sogar die Chance gehabt, tatsächlich zu entwischen - aber als sich Kommissar X aufrichtete, hörte er in einiger Entfernung Schüsse. Das Peitschen von Pistolen - und das dumpfe Bellen großkalibriger Polizeicolts. Jemand schrie. "Nicht schießen!" brüllte eine zweite Stimme. Danach war es sekundenlang still, doch als der Detektiv die Tür aufriß, schlug unmittelbar über ihm ein Warnschuß in die Decke. "Die Waffe weg!" hörte er. "Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus und machen Sie keine verdächtige Bewegung." Jo Walker grinste. "Von wegen Waffe weg!" rief er zurück. "Ich habe keine Lust, ein verbogenes Korn zu reparieren. Und außerdem könntest du einen alten Freund ruhig etwas freundlicher begrüßen, Tom."
* In seiner Villa preßte Sydney Cannon den Telefonhörer ans Ohr. Sein Werksleiter war am anderen Ende der Leitung. Ein aufgeregter, stotternder Werksleiter, der etwas von "Polizei" und "Durchsuchung" stammelte und Minuten brauchte, bis er sich klar ausdrücken konnte. Cannon wurde so bleich wie ein Laken. "Okay", murmelte er. "Danke..." Mit einer schlaffen Bewegung ließ er den Hörer auf die Gabel fallen. Sein Herz hämmerte. Er hatte von der Halle der Villa aus telefoniert. Jetzt stand er mit hängenden Armen mitten im Raum und starrte eins der Fenster an, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Aus, dachte er. Alles war aus. Die Polizei hatte den Schwindel aufgedeckt, und diesmal würde nicht einmal Daniel Pratt mit seiner Cleverness noch etwas retten können. Sydney Cannon biß die Zähne zusammen. Er wußte, er würde für lange Jahre ins Gefängnis wandern. Und er wußte auch, daß er das nicht ertragen konnte. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg - aber es gab keinen. "Hallo, Daddy!" Copyright 2001 by readersplanet
Miriams helle Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. Seine Tochter kam aus ihrem Zimmer, schwebte auf hohen Stöckelschuhen die Treppe herunter. Ihr blondes Haar glänzte, die grünen Augen funkelten. Sydney Cannon unterdrückte einen tiefen Seufzer. Für Miriam hatte er das alles getan - und jetzt würde sie es sein, die am meisten unter den Ereignissen zu leiden hatte. "Ich war ein schlechter Vater", murmelte Cannon. "Es tut mir leid..." Miriam hob die Brauen. "Ein schlechter Vater? Wieso denn? Du bist ein schrecklicher alter Kapitalist, aber sonst..." "Meinst du das wirklich?" fragte Sydney Cannon. "Natürlich, Daddy! Es gibt viel schlechtere Väter als du. Was hast du denn?" "Nichts", murmelte Cannon ausweichend. "Hast du etwas vor?" "Nein. Ich wollte nur ein paar Platten hören. Deine Stereo-Anlage ist besser als meine oben." "Tu das, Kind." Cannon lächelte mühsam, wandte sich ab und ging zur Tür seines Arbeitszimmers. Miriam sah ihm nach. Eine Weile überlegte sie, was mit ihm los sein mochte - aber sie war nicht der Typ, der sich lange den Kopf zerbrach. Miriam bemächtigte sich der Hifi-Anlage in der Halle, um ihre Platten zu hören. Ihr Vater saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb einen Brief. Er dachte an die Vergangenheit. Und während er schrieb, wurde ihm klar, daß er jetzt die Rechnung bezahlte - nicht nur für seine illegalen Geschäfte, sondern für viele andere Dinge... Das Ergebnis der Durchsuchung ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Tom Rowland war auf der Höhe. Er und der Rechtsanwalt David Bloom hatten in Daniel Pratts Keller genug Schwarzpressungen entdeckt, um einem Dutzend <schwarzer Haie> zu einem längeren Gefängnis-Aufenthalt zu verhelfen. Pratts Geschäftsverbindungen zum Preßwerk Sydney Cannons lagen auf der Hand - und dort hatte der Captain die Schüsse gehört, noch bevor er überhaupt mit der Durchsuchung anfangen konnte. Die Gangster, die versucht hatten, Kommissar X auszuquetschen, wurden verhaftet. Die Durchsuchung des Werks ergab, daß Sydney Cannon massenweise Schwarzpressungen und herstellte. Er hatte gewußt, warum er in der Packerei nur Blinde beschäftigte. Denen fiel nicht auf, daß sie gefälschte Platten in miserabel nachgedruckte Hüllen schoben, und Cannon konnte auf diese Weise den Kreis der Mitwisser relativ klein halten. Während die Polizei in der Fabrik aufräumte, fuhren Jo Walker und Captain Rowland zu Sydney Cannons Privatadresse. Eine Luxusvilla, weitläufig und wesentlich gepflegter als der vergammelte Betrieb in der düsteren Gegend von Brooklyn. Jo dachte an die riesigen Gewinnspannen, die das Geschäft der <schwarzen Haie> bot. Cannon war dabei steinreich geworden. Aber in einer Zuchthauszelle würden ihm seine Dollars nicht mehr viel nützen. Ganz davon abgesehen, daß eine Lawine von saftigen Schadenersatz-Forderungen auf ihn zukam. Durch das offene Tor lenkte Jo den Wagen auf das Grundstück und stieg aus. Tom Rowland hielt neben ihm. Im Haus spielte Musik, die abrupt verstummte, als Jo klingelte. Es war Miriam, die ihnen öffnete. Ihre grünen Augen glitten von einem zum anderen. Jo hatte einen schalen Geschmack im Mund. Für das Girl würde es bestimmt ein Schlag sein, wenn ihr Vater verhaftet wurde - auch wenn sie nicht den Eindruck machte, sich besonders gut mit ihm zu verstehen. "Hallo", sagte sie unsicher. "Kommen Sie wegen meines Vaters?" Jo kniff die Augen zusammen. "Was bringt Sie darauf?" fragte er.
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"Ich weiß nicht. Er war vorhin so merkwürdig. Sagte, er sei ein schlechter Vater gewesen. Das ist er ja auch, der alte Raffzahn, aber ich hätte nie geglaubt, daß er es je einsehen würde." Für einen Moment verfiel Miriam wieder in ihren burschikosen Tonfall, dann biß sie sich auf die Lippen. "Er ist in seinem Arbeitszimmer. Warten Sie, ich werde ihn holen." Sie wandte sich um und durchquerte die Halle. Die Tür, die sie öffnete, war schalldicht gepolstert. Miriam machte einen Schritt über die Schwelle, die Hand noch am Drehknauf, und im nächsten Moment zerbrach ihr gellender Schrei die Stille. "Daddy! Daddy!" Jo und der Captain wechselten einen Blick. Mit langen Schritten stürmten sie durch die Halle. Miriam schwankte und wäre gestürzt, wenn Tom Rowland sie nicht aufgefangen hätte. Der Detektiv drängte sich rasch an seinem Freund vorbei und erfaßte mit einem einzigen Blick, was das Mädchen so geschockt hatte. Sydney Cannon war über seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Sein Kopf lag auf der Mahagoni-Platte. Blut rann als dünner Faden von der Wunde in der Schläfe über sein Gesicht, und seine Rechte umklammerte noch die Pistole, mit der er sich eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.
* Miriam Cannon saß zusammengekauert auf einem Sessel und schluchzte. Captain Rowland hatte von der Halle aus mit seinen Leuten telefoniert, einen Arzt und Verstärkung angefordert. Jetzt griff er vorsichtig mit einer Pinzette nach dem Brief, der auf Sydney Cannons Schreibtisch lag. Ein Abschiedsbrief. Ohne Anrede, offenbar für die Polizei bestimmt. Jo sah seinem Freund über die Schulter und las ebenfalls die in offensichtlicher Erregung auf das Papier geworfenen Worte. Sydney Cannon hatte ein schriftliches Geständnis abgelegt. Die Namen seiner Komplizen fehlten ebensowenig wie eine Liste mit den Adressen von Music-Shops, in denen seine schwarz gepreßten Platten als vermeintliche Sonderangebote zu Schleuderpreisen verkauft wurden. Auch Daniel Pratt wurde erwähnt. Der Mann, der die Fäden gezogen, die Ideen entwickelt - und seinen Partner gezwungen hatte, bei dem schmutzigen Geschäft mitzumachen. "Pratt hatte mich in der Hand", schrieb Sydney Cannon. "Er wußte etwas von mir, das niemand erfahren durfte. Mein wirklicher Name ist Siegfried Umbach. Ich werde wegen Mordes gesucht, weil ich in Deutschland während der Nazi-Zeit an Erschießungen beteiligt war. Pratt zwang mich mit diesem Wissen, ihm meine Fabrik für seine Zwecke zur Verfügung zu stellen. Vielleicht hätte ich mich damals stellen sollen, aber ich habe es nicht fertiggebracht. Meine Tochter sollte nie erfahren, daß ihr Vater ein Mörder ist. Jetzt ist es zu spät, jetzt muß ich endgültig für meine Schuld bezahlen..." An dieser Stelle endete der Brief. Tom Rowland schob ihn vorsichtig wieder an seinen Platz zurück, damit er an der richtigen Stelle lag, wenn der Polizeifotograf später seine Aufnahmen machte. Jo biß sich auf die Lippen. "Pratt!" knurrte er. "Wir müssen ihn finden. Er ist der Hauptschuldige. Und er hat Dennis Barbella auf dem Gewissen." Rowland nickte. Die beiden Gangster, die April in Jos Büro überfielen, hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß es Daniel Pratt gewesen war, der die Bombe in dem Tonbandgerät versteckt hatte. "Ich nehme an, er ist untergetaucht, um erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten", meinte der Captain. "Inzwischen dürfte er allerdings erfahren haben, daß sein Laden durchsucht worden ist und Beweise gegen ihn vorliegen." Er runzelte die Stirn und Copyright 2001 by readersplanet
wandte sich dem Mädchen zu. "Miß Cannon, Sie kennen Daniel Pratt doch ebenfalls, nicht wahr?" Miriam hob den Kopf. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Stimme zitterte, aber die Fragen lenkten sie wenigstens für ein paar Sekunden von ihrem Schmerz ab. "Ja, ich kenne ihn", murmelte sie. "Ein Geschäftspartner von meinem Vater." "Wissen Sie, wo er sich aufhält? Wo er sich eventuell verstecken könnte?" Miriam schüttelte den Kopf. Dann stutzte sie und runzelte die Stirn. "Doch, da fällt mir etwas ein. Gestern abend wollte ich mit meinen Freunden noch etwas auf Daddys Yacht feiern. Aber das Boot legte ab, als wir gerade an den Kai kamen. Der Nachtwächter erzählte uns, der Mann, der die Yacht benutzte, hätte den Schlüssel gehabt. Und es sei auch noch ein zweiter Mann an Bord gegangen. Vielleicht war einer der beiden Daniel Pratt." Jo nickte nur. Captain Rowland ließ sich den Namen des Yachtclubs geben, rief an und erkundigte sich, wo er um diese Zeit den Nachtwächter finden könnte. Namen und Adresse des Burschen gab er an einen seiner Leute weiter, die wenig später eintrafen. Der Beamte fuhr los, mit einem Foto von Daniel Pratt bewaffnet. Das Ergebnis seines Besuchs kam nach einer halben Stunde telefonisch. Der Nachtwächter hatte Daniel Pratt einwandfrei identifiziert. Nur wer der zweite Mann auf der Yacht gewesen war, blieb unklar. Aber das war schließlich nicht die einzige noch offene Frage.
* Telly Porter steuerte den Wagen durch den Nieselregen. Sanddünen dehnten sich links und rechts. Der Weg führte zu einem kleinen Parkplatz am Strand von Long Island. Die "Miriam" lag gut versteckt in einer Bucht. Telly Porter war sicher, daß sich niemand um das Boot kümmern würde, selbst wenn es zufällig entdeckt wurde, aber als er jetzt den Motor abstellte und ausstieg, konnte er die Nervosität dennoch nicht unterdrücken. Seine Hände zitterten leicht, als er den Kofferraum öffnete und die Plastiktüte mit der Sprengladung herausnahm. Der Gedanke an den Mord, den er begehen würde, krampfte seine Magenmuskeln zusammen. Aber er hatte keine Wahl. Jetzt nicht mehr. Er war es gewesen, der den Berufskiller Terry Dixon bestellt hatte, als der Sänger Cliff Carlin mit einem öffentlichen Skandal drohte, und er hatte eigenhändig das Gift in den Whisky praktiziert, als er Dixon die zweite Hälfte seines Honorars brachte. Telly Porter konnte nicht mehr zurück. Als er den Kofferraum schloß, klammerte er sich an den Gedanken, daß es der letzte Mord sein würde. Sie hatten es geschafft. Niemand würde daran zweifeln, daß es Sydney Cannon gewesen war, der Daniel Pratt umgebracht hatte. Vielleicht würde man ihm den Mord nicht nachweisen können, aber darauf kam es nicht an. Cannon war erledigt. Seine Firma würde auffliegen, er selbst auf Jahre hinter Gittern verschwinden, und dann würde es nicht mehr lange dauern, bis Telly Porter und sein Boß das Geschäft mit den Schwarzpressungen hier in New York konkurrenzlos beherrschten. Eilig schlug der glatzköpfige Verbrecher den schmalen Fußweg ein, der zum Strand führte. Die Yacht lag noch genauso an dem halb verfallenen Bootssteg, wie er sie zurückgelassen hatte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Um die Sprengladung zu legen, würde er nur wenige Minuten brauchen. Copyright 2001 by readersplanet
Ein Zeitzünder sollte sie zur Explosion bringen. Porter überquerte mit langen Schritten den Strand, sprang vom Steg auf das Deck und blieb einen Augenblick lauschend stehen. Nichts rührte sich. Daß der Frieden trügerisch war, konnte Telly Porter nicht ahnen.
* Gespannt hörte April Bondy Jos Bericht zu. "Die Coast Guard wird nach der Yacht suchen", schloß er. "Cannon hat sie Pratt offenbar zur Verfügung gestellt, damit der für eine Weile untertauchen konnte. Allerdings nehme ich nicht an, daß er freiwillig wieder auftauchen wird. Er dürfte Mittel und Wege gefunden haben, um zu erfahren, daß sein Laden aufgeflogen ist." April schürzte die Lippen. "Daniel Pratt hat Dennis Barbella ermordet", wiederholte sie. "Aber was ist mit Cliff Carlin? Wurde der auch im Auftrag von Pratt oder Cannon erschossen?" Jo schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Cannon hat in seinem Abschiedsbrief ein detailliertes Geständnis abgelegt. Den Mord an Cliff Carlin und dem Killer Terry Dixon erwähnt er mit keinem Wort." "Und wer hat dann Carlin erschießen lassen und Dixon vergiftet?" Jo hob die Schultern. "Vielleicht haben wir es mit zwei verschiedenen Banden zu tun", spekulierte er. "Das Geschäft mit den Schwarzpressungen ist so lukrativ, daß bestimmt auch noch andere versuchen, sich ein Stück von der Torte abzuschneiden. Diese ganz undurchsichtige Geschichte mit den anonymen Briefen könnte durchaus ein Versuch sein, die Konkurrenz aus dem Geschäft zu boxen." "Was denn ja auch glänzend gelungen wäre", stellte April fest. "Cannon hat Selbstmord begangen, nach Daniel Pratt wird gefahndet. Aber wer könnte dieser Konkurrent sein?" "Frag' mich was Leichteres. Fest steht, daß er nicht besser ist als Pratt und Cannon - ein eiskalter Verbrecher und Mörder. Und er hat versucht, uns auf eine ganz krumme Tour für seine Zwecke einzuspannen. Ich werde keine Ruhe geben, bevor ich den Kerl erwische." "Wir sollten es in der Umgebung des toten Cliff Carlin versuchen", meinte April nachdenklich. "Er muß seinen Mörder gekannt haben - oder besser den Auftraggeber des Mörders." "Richtig. Aber das wird schwierig, weil praktisch jeder in Frage kommt, der mit der Musikbranche zu tun hat." April seufzte und krauste die hübsche Nase. Ihre nächsten Worte waren in Jos Ohren Musik. "Ich koche erst mal Kaffee", sagte sie. "Und dann können wir in aller Ruhe einen Schlachtplan machen."
* Mit einem letzten kräftigen Ruck schaffte es Daniel Pratt, die Fesseln zu zerreißen. Er keuchte. Schweiß rann in Strömen über seinen Körper und brannte ihm in den Augen. Die Haut an seinen Handgelenken war zerfetzt und aufgeschürft. Es schmerzte teuflisch, aber angesichts der tödlichen Gefahr spielte das für Daniel Pratt keine Rolle. Vor ein paar Minuten hatte er geglaubt, in einiger Entfernung einen Automotor zu hören. Kam Porter zurück? Wenn es so war, dann hatte er, Pratt, es buchstäblich in letzter Sekunde geschafft, sich zu befreien. Haß glomm in seinen Augen auf. Keuchend quälte er sich auf die Copyright 2001 by readersplanet
Beine, hastete zur Tür des winzigen Verschlags, in den Porter ihn gesperrt hatte, und öffnete sie um einen Spalt. Wenigstens war nicht abgeschlossen. Pratt wußte, daß ihm keine Zeit mehr geblieben wäre, die Tür aufzubrechen: An Deck konnte er bereits Telly Porters Schritte hören. Der hagere Schallplatten-Händler biß die Zähne zusammen. Auf Zehenspitzen huschte er über den Niedergang und öffnete Sekunden später die Tür einer luxuriösen Kabine. Von einem früheren Besuch her wußte er, daß Sydney Cannon in einer Schublade einen geladenen und entsicherten Revolver verwahrte, um sich gegen eventuelle Überfälle verteidigen zu können. Pratts Finger schlossen sich um den kühlen Stahl der Waffe. Ein eisiges Prickeln zog über seine Haut. Er hatte nie geglaubt, daß er fähig wäre, eigenhändig zu töten. Er hatte Dennis Barbella ein Tonbandgerät mit einer Sprengladung untergeschoben, obwohl es viel einfacher gewesen wäre, den jungen Mann mit einer Überdosis Heroin umzubringen. Aber bei Porten das wußte er, würde er keine Hemmungen haben. Er haßte ihn wie die Pest. Ihn und seinen Boß, der jetzt bald kein großer Unbekannter mehr sein würde. Eilig verließ Pratt die Kabine und huschte erneut über den Niedergang. Jetzt hörte er Türangeln quietschen. Mit zwei lautlosen Sprüngen erreichte er die Nische, in der die Feuerlöscher hingen, preßte sich in den Schatten und hielt den Atem an. Telly Porters Schritte dröhnten auf den Metallstufen. Der Verschlag war sein Ziel, in dem er immer noch den Gefangenen vermutete. Pratt spannte die Muskeln. Aber Porter öffnete nicht die Tür, sondern begann, die mitgebrachte Plastiktüte auszupacken. So war das also! Der Kerl wollte die Sprengladung von außen an der Tür anbringen. Pratt konnte die graue Plastikmasse und die Zeiger des Zeitzünders erkennen. Er zog triumphierend die Lippen von den Zähnen, während er lautlos sein Versteck verließ und auf seinen Gegner zuglitt. In letzter Sekunde spürte Telly Porter die Gefahr. Er zuckte zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern. Mit einem Schreckenslaut wollte er herumfahren, doch da hatte Daniel Pratt schon ausgeholt und schlug zu. Ächzend brach Porter zusammen. Pratt preßte die Zähne zusammen. Mit funkelnden Augen beugte er sich über den Bewußtlosen, packte ihn unter den Achseln und schleifte ihn hinüber in den Salon. Dort warf er ihn in einen der Sessel und fesselte ihm mit der Gardinenschnur den Oberkörper an die Rückenlehne. Den Revolver hatte er so lange in den Hosenbund geschoben. Jetzt zog er ihn wieder hervor, richtete ihn auf den Bewußtlosen und wartete. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Telly Porter wieder zu sich kam. Seine Lider flatterten. Mühsam öffnete er die Augen - und zuckte wie von einem Stromstoß getroffen zusammen, als sein Blick auf den Revolver fiel. Die Mündung zielte genau auf seine Stirn. Telly Porter schluckte und sog scharf die Luft durch die Zähne. Er zitterte, als er widerstrebend den Blick von der Waffe löste und zum Gesicht seines Gegners hinaufwandern ließ. Daniel Pratt grinste triumphierend. In seinen Augen lag ein kaltes, entschlossenes Licht. "So, Porter", sagte er gedehnt. "Und jetzt wirst du mir erzählen, wer dein Boß ist und wo ich diesen Dreckskerl erwische..." Jo Walker hatte gerade ein Telefongespräch mit einem bekannten Reporter aus der Music-Branche beendet, als der Apparat auf seinem Schreibtisch von neuem anschlug. Viel hatte die Unterredung mit dem Zeitungsmann nicht gebracht. Eine Reihe von Namen: Leute, die zu Cliff Carlins Troß gehört hatten. Man konnte die Liste durchchecken, aber ob es sich lohnte, war fraglich. Carlin hatte das Leben eines Nachwuchs--Playboys geführt, kannte Copyright 2001 by readersplanet
die halbe Musik-Welt, war dauernd auf Veranstaltungen herumgereicht worden. Er konnte die entscheidende Information, die ihn das Leben gekostet hatte, genausogut von einem Wildfremden auf irgendeiner Party aufgeschnappt, wie von einem guten Bekannten bekommen haben. Und selbst unter seinen guten Bekannten war niemand, der verdächtiger gewesen wäre als jeder andere. Jo Walker griff zum Hörer und hoffte, daß ihn der Anruf einen Schritt weiterbringen würde. Als habe er es geahnt, meldete sich Tom Rowland am anderen Ende der Leitung. Es gab tatsächlich Neuigkeiten. Neuigkeiten, die den Captain veranlaßten, seinem Gesprächspartner zu empfehlen, sich erst einmal zu setzen. "Sydney Cannons Yacht ist gefunden worden, Jo. Reiner Zufall! Ein Liebespärchen, das am Strand spazierenging, hielt sie für leer und wollte sie kurzzeitig als Liebeslaube benutzen. Sie riefen die Polizei an, nachdem sie den Toten gefunden hatten." Jo hielt den Atem an. "Pratt!" stieß er hervor. "Mitnichten! Das ist ja gerade der Hammer. Ein völlig Unbekannter, der keine Papiere bei sich hat. Er wurde auf eine verdammt kaltschnäuzige Art abserviert. Jemand fesselte ihn an einen Stuhl und jagte ihm ein Stück Blei in den Kopf." "Verdammt", sagte Jo. "Sehr wahr!" "Und ihr habt überhaupt keine Ahnung, wer der Bursche sein könnte?" "Nicht die geringste. Wir wissen nur, daß er kein Tramp war, der beim Einbruch erwischt wurde - dafür ist er zu gut und zu teuer gekleidet. Und wir wissen, daß Daniel Pratt zumindest zeitweise auf der Yacht war. Er hat seine Fingerabdrücke und jede Menge Spuren hinterlassen." "Ich komme", entschied Jo. "Darum wollte ich dich bitten. Du hast doch die meisten von diesen Musikfritzen bei dem Empfang gesehen, als Sydney Cannon der Orden auf die Brust geheftet wurde. Vielleicht kennst du den Glatzkopf." "Glatzkopf?" "Ja. Klingelt was bei dir?" Bei Jo klingelte wirklich etwas, aber noch nicht der fallende Cent. Er war sicher, daß er in allerletzter Zeit irgendwo einem kahlköpfigen Mann begegnet war, doch im Augenblick kam er nicht darauf, wann und wo es gewesen war. Wenn er den Mann sah, würde es ihm vielleicht einfallen. Er versprach dem Captain, sich zu beeilen, schenkte April, die mal wieder die Firma hüten mußte, ein tröstendes Lächeln und saß Minuten später bereits in seinem Wagen. Die "Miriam" war in einer kleinen Bucht auf Long Island entdeckt worden. Jo brauchte nur eine knappe halbe Stunde. Eine schmale, schlaglochbesäte Piste führte in die Dünen. Sie mündete in einen Parkplatz, auf dem bereits die Fahrzeuge der Mordkommission standen. Ein uniformierter Cop lotste Jo zum Strand hinunter. Die "Miriam" lag an einem halb verfallenen Bootssteg. Polizeibeamte drängten sich an Bord. Auf dem Achterdeck stand Tom Rowland, breitbeinig und schwergewichtig, und musterte aus zusammengekniffenen Augen ein paar rostfarbene Flecken. "Blut?" fragte Kommissar X, nachdem er sich über die Reling geschwungen hatte. "Du sagst es. Und nachdem das Opfer im Salon erschossen wurde, muß es sich um Daniel Pratts Blut handeln." "Der Typ wird sich gewehrt haben." "Hat er nicht. Er wurde von hinten niedergeschlagen, auf den Stuhl gefesselt und später erschossen. Aber wir haben in einem Kabuff ein paar zerrissene, blutverschmierte Copyright 2001 by readersplanet
Hanfstricke gefunden. Meiner Ansicht nach sieht es so aus, als sei Pratt auf der Yacht überfallen worden, habe sich von den Fesseln befreien können und seinen Gegner überwältigt." "Na, dann schauen wir uns den Burschen mal an." Rowland nickte und ging voran. Jo folgte ihm den Niedergang hinunter. Das Schott zum Salon stand offen. Der Polizeifotograf packte gerade seine Gerätschaften zusammen. Der Doc hatte mit seinen ersten Untersuchungen noch nicht angefangen. Einer der Spurenspezialisten wandte sich um, als er das Geräusch der Tür hörte, und Jo konnte den Toten auf dem Sessel sehen. Ein kleiner, unauffälliger Mann, dessen hervorstechendstes Merkmal die Glatze war. Zwischen den gebrochenen Augen zeichnete sich schwarz und tückisch das Einschußloch ab. Das Gesicht hatte sich im Tode verzerrt, spiegelte unauslöschlich den Ausdruck von Angst und Entsetzen, aber die Züge waren trotzdem noch zu erkennen. Das letzte Mal hatte Jo den Mann im korrekten schwarzen Anzug gesehen, ein Sektglas in der Hand balancierend. Er hatte zu der Gruppe um Dory Dorin und den Produzenten Steward Draper gehört, und er hatte ein paar dummdreiste Bemerkungen gemacht, weil Jos Garderobe nicht recht zu einer feierlichen Ordensverleihung paßte. Kommissar X erinnerte sich, daß ihm der Bursche sogar vorgestellt worden war. "Porter", sagte er hart. "Vorname Telly - beziehungsweise irgend etwas, das mit Telly abgekürzt wird. Er gehört zur Musikbranche, aber das ist auch so ziemlich alles, was ich von ihm weiß."
* Eine Stunde später hatte Jo zum zweiten Mal den Reporter der Musik-Zeitschrift angerufen und wußte etwas mehr über Telly Porter. Der Mann überschwemmte New York mit preiswerten Musik-Kassetten. Sein eigenes Geschäft wurde - angeblich - von ständig wechselnden Großhändlern und Agenturen beliefert. Es stand fest, daß über die Theke seines Shops immer wieder gefälschte Kassetten wanderten - Hits, die in miserabler Tonqualität von den Originalen auf billige Leerkassetten überspielt und mit nachgedruckten Covers versehen worden waren. Aber es hatte sich nie genau nachweisen lassen, woher die Kassetten stammten, und es hatte nie für einen Durchsuchungsbefehl gelangt, weil es Telly Porter ausgezeichnet verstand, mit seinen mannigfachen Geschäftsverbindungen zu tricksen. Jo Walker und Tom Rowland beschlossen, noch einmal zu dem Rechtsanwalt David Bloom zu fahren. Er war noch in seiner Kanzlei. Unter seinen Mitarbeitern herrschte sichtliche Aufregung, in den verschiedenen Vorzimmern schrillten ständig die Telefone. Vermutlich hatte Sydney Cannons Selbstmord bei Blooms Klienten wie eine Bombe eingeschlagen. Der Rechtsanwalt versuchte gar nicht erst, einen gewissen Triumph zu verbergen. Vielleicht nicht gerade die feine Art, da der Tod eines Menschen keinen Anlaß zum Triumph gab, aber doch verständlich. David Bloom war bei seinem Versuch, gegen die <schwarzen Haie> vorzugehen, so oft auf unüberwindliche Mauern gestoßen, daß man ihm seine Gefühle nicht verdenken konnte. Für ihn war die Entlarvung von Sydney Cannon und Daniel Pratt ein Anfang. Der Name Telly Porter ließ ihn aufhorchen. Er runzelte die Stirn und strich sich mit der flachen Hand über den gepflegten Fassonschnitt. "Ja, ich kenne ihn", beantwortete er die Frage des Captains. "Er gehört ebenfalls zu den <schwarzen Haien>, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel, obwohl es sich bisher nicht beweisen ließ. Aber Porter ist mit ziemlicher Sicherheit nur eine vorgeschobene Figur, ein Strohmann. Wahrscheinlich hat er in irgendeinem Keller ein Tonstudio eingerichtet, in dem er Kassetten überspielt. Aber er muß einen Boß haben, einfach deshalb, weil er nach meinem Eindruck nicht genug von der Musik-Branche versteht, um in diesem Geschäft reich zu werden." Copyright 2001 by readersplanet
"Und wer könnte dieser Boß sein?" wollte Jo wissen. David Bloom hob die Schultern. "Keine Ahnung! Irgend jemand, der im Hintergrund die Fäden zieht und nach außen hin völlig unverdächtig wirkt, denke ich. Aber wer? Da fragen Sie mich zu viel." "Sie kennen die Adresse von Telly Porters Music-Shop?" Bloom schrieb sie ihnen auf. Den Durchsuchungsbefehl hatten sie schon eine halbe Stunde später, denn Wohnung und Firmenräume eines Ermordeten werden immer durchsucht. Gemeinsam machten sich Jo Walker und Captain Rowland auf den Weg in der Hoffnung, einen Hinweis auf Telly Porters unbekannten Boß zu finden.
* "Wer spricht? Melden Sie sich bitte." Daniel Pratt preßte den Telefonhörer ans Ohr, lauschte der fremden, kühl und geschäftsmäßig klingenden Männerstimme. Das war nicht Sydney Cannon. Ein Kriminalbeamter, dachte Pratt mechanisch. Cannon war aufgeflogen. Telly Porters Plan hatte bereits funktioniert, und das hieß, daß auch er, Pratt, seine Firma abschreiben konnte. Er knirschte mit den Zähnen. Rache - das war der einzige Gedanke, der ihn noch bewegte. Mit einer heftigen Bewegung warf er den Hörer auf die Gabel und verließ die Telefonzelle. Er hatte Telly Porters Wagen genommen. Die Plastiktasche mit der Sprengladung lag im Kofferraum, und auch Daniel Pratt kannte die Adresse von Porters Music-Shop. Im Keller unter dem Laden lag ein illegales Studio zum Überspielen von Kassetten. Dieses Studio, beschloß Pratt, würde er sich als erstes vornehmen. Damit traf er den Lebensnerv der Organisation und verhinderte, daß irgend jemand als lachender Erbe einfach weitermachte. Danach war Porters Boß an der Reihe. Pratt wollte seine Rache - und er hoffte nebenbei, daß er bei diesem Mann genug Bargeld finden würde, um sich ins Ausland abzusetzen. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Whiskyflasche im Handschuhfach, bevor er den Wagen wieder startete. Obwohl es bereits dämmerte, hatte er eine Sonnenbrille aufgesetzt, außerdem trug er einen breitkrempigen Hut, der ihn einigermaßen tarnte. Er war sich darüber klar, daß die Polizei inzwischen wohl schon nach ihm fahndete. An sein eigenes Bankkonto kam er unter diesen Umständen bestimmt nicht mehr heran. Seine Wohnung aufsuchen konnte er auch nicht, denn dort würde man ihn erwarten. Aber die Polizei ahnte nicht, wer Telly Porters Boß war. Für Pratt blieb Zeit genug, mit dem Kerl abzurechnen und sich ein gewisses Startkapital zu verschaffen. Er lenkte den Wagen nach Greenwich Village hinunter. An der Minetta Lane fand er eine Parklücke. Die buntbemalten Fassaden der Häuser, die Gruppen abenteuerlich kostümierter junger Leute und die herumschlendernden Touristen schienen immer noch einen Abglanz der alten Village-Atmosphäre auszustrahlen, obwohl man das Gebiet längst nicht mehr als Künstler-Viertel ansprechen konnte. Der Music-Shop war bereits geschlossen. Auch in dem Tonstudio wurde um diese Zeit nicht mehr gearbeitet. Daniel Pratt griff nach der Plastiktasche mit der Sprengladung, stieg aus und überquerte eilig die Straße. Der Schatten einer Einfahrt nahm ihn auf. Er gelangte in den Hof, sah sich prüfend nach allen Seiten um und probierte den Drehknauf der Hintertür aus. Abgeschlossen, doch das hatte er nicht anders erwartet. Bevor er sich an die schwierige, ihm völlig ungewohnte Arbeit machte, das Schloß zu knacken, untersuchte er die Lichtschächte, und tatsächlich entdeckte er ein Gitterrost, dessen Sicherungskette aus Copyright 2001 by readersplanet
der durchgerosteten Verankerung gerissen war. Vorsichtig hob er es ab und zwängte sich in den engen Schacht. Das Kellerfenster öffnete er, indem er kurzerhand die Scheibe eindrückte und nach dem Riegel tastete. In der Stille klang das Klirren der Scherben überlaut in seinen Ohren, aber er wußte, daß niemand da war, der den Lärm hören konnte. Sekundenlang lauschte er, dann glitt er durch das enge Fenster, sprang in die Dunkelheit des Kellerraums und landete federnd auf dem Boden. Vorsichtig tastete er sich zur Tür vor, blieb noch einmal lauschend stehen, ehe er sie öffnete. Nichts rührte sich. Daniel Pratt schlüpfte durch den Spalt, schloß die Tür hinter sich und betätigte den Lichtschalter. Fahler Lichtschein flammte auf. Zwei Minuten später hatte Pratt am Ende des Flurs das Studio gefunden. Ein einfacher Kellerraum mit schalldämmend verkleideten Wänden. Auf ein paar schlichten Tapeziertischen reihten sich die Geräte zum Überspielen aneinander. In einem Regal standen, sorgfältig geordnet, die Originale, die als nächstes an die Reihe kommen sollten. Andere Regale enthielten Leerkassetten der billigsten Qualität zu Tausenden. An einem weiteren Tisch wurden die gefälschten Kassetten mit den Covern der Originale versehen, und die fertigen Produkte stapelten sich in Pappkartons, die an den Wänden standen. Daniel Pratt brauchte nur wenige Minuten, um die Sprengladung zu legen. Den Zeitzünder stellte er auf fünf Minuten ein. Seine Augen funkelten, als das Uhrwerk zu ticken begann. Rasch wandte er sich ab, löschte das Licht und verließ das Haus auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen war. Sein nächstes Ziel war die Luxus-Villa von Telly Porters Boß. Der große Unbekannte, dessen Namen Pratt inzwischen kannte, verdankte diese Villa und alle anderen Reichtümer seinen schmutzigen Geschäften. Jetzt würde das Haus zu seinem Grab werden... Jo Walker und Tom Rowland ließen ihre Wagen außer Sichtweite des Music-Shops stehen. Der Laden war geschlossen, doch damit hatten sie gerechnet. Auf der Minetta Lane herrschte nur noch spärlicher Verkehr. Jo ließ den Blick über die buntbemalten, romantisch ausgeschmückten Hausfassaden gleiten, und im nächsten Moment zuckte er zusammen. Ein Schatten erschien in der Einfahrt neben dem Music-Shop. Ein Mann, den Jo bisher nur auf dem Fahndungsfoto gesehen hatte und dessen zerknittertes Gesicht er dennoch sofort erkannte. "Pratt!" flüsterte er. "Das ist Daniel Pratt!" Rowland sog scharf die Luft durch die Zähne. "Mann!" zischte er. "Der Junge hat Nerven, hier aufzukreuzen. Aber was, zum Teufel, sucht er in Porters Music-Shop?" "Keine Ahnung! Auf jeden Fall kann er nicht wissen, daß der Tote auf der Yacht schon gefunden wurde." "Na und? Trotzdem muß er sich eigentlich darüber klar sein, daß nach ihm gefahndet wird und..." Sie kamen nicht dazu, die Diskussion weiterzuführen. Jo wandte den Kopf, als er - ziemlich gedämpft - einen schmetternden Krach hörte. Gepolter schnitt durch die Stille, Scherben klirrten. Zwei Sekunden lang war die Ursache des Lärms nicht zu erkennen, dann sah der Detektiv die Rauchwolken, die sich aus den Kellerfenstern des Hauses wälzten, in dem der Music-Shop untergebracht war. Irgend etwas mußte explodiert sein. Eine Bombe, die Daniel Pratt gelegt hatte? Aber warum das, nachdem der Besitzer des Ladens bereits nicht mehr lebte? Jo erinnerte sich an David Blooms Meinung, Telly Porter sei nur ein vorgeschobener Strohmann gewesen. Vielleicht wollte sich Pratt an dem wirklich Copyright 2001 by readersplanet
Schuldigen rächen, vielleicht... "Schnappen wir uns den Kerl!" stieß Captain Rowland durch die Zähne. Pratt hatte ein paar Sekunden lang auf Rauch und Feuerschein gestarrt, jetzt wandte er sich rasch ab. Passanten waren stehengeblieben, schrieen aufgeregt durcheinander, und niemand achtete auf den hageren Mann mit dem zerknitterten Gesicht, der unauffällig die Straße überquerte. Rowland machte Anstalten, ihm nachzusetzen, aber Jo legte seinem Freund die Hand auf den Arm. "Laß ihn, Tom! Er hat einen Wagen, und es dürfte interessant sein herauszufinden, wohin er fährt. Kümmere dich um die Sache hier! Ich werde mich auf Pratts Fersen heften." Der Captain runzelte die Stirn. Er rang mit sich. "Jo, wenn du den Burschen verlierst..." . . reißt du mir den Kopf ab, ich weiß. Ich verliere ihn nicht. Sobald ich etwas Genaueres weiß, melde ich mich über Autotelefon, okay?" "Okay. Paß auf dich auf! Ich möchte mein mühsam verdientes Gehalt nicht für einen Kranz bei deiner Beerdigung verpulvern." Jo grinste nur, wandte sich ab und schlenderte unauffällig um die Ecke. Der Mercedes stand nur ein paar Schritte entfernt. Jo schloß ihn hastig auf, schwang sich ans Steuer und ließ den Motor kommen. Als er die Einmündung erreichte, löste sich Daniel Pratts Wagen gerade vom Randstein. Der Gangster hatte es jetzt eilig, den Ort des Geschehens zu verlassen. Überall quietschten Bremsen, Hupen gellten, Neugierige liefen zusammen. Kommissar X bog ebenfalls in die Minetta Lane ein und atmete auf, als er den Stau der haltenden Wagen hinter sich hatte, ohne sich festzufahren. Daniel Pratt wandte sich nach Norden. Er fuhr ein Stück die Second Avenue hinauf, bog nach rechts in die 36. Straße ein und nahm die Zufahrt zum Queens-Midtown-Tunnel. Jo folgte ihm, entrichtete seinen Obulus und heftete den Blick auf das Heck des blauen Pontiac; in dem er seinen Gegner wußte. Zwei andere Wagen lagen zwischen ihnen. Kein besonders großer Sicherheitsabstand. Aber Kommissar X hatte Daniel Pratt nie persönlich kennengelernt und hoffte, daß ihn auch der Gangster nicht kannte. Davon abgesehen war es immer noch besser, Pratt schöpfte Verdacht, als daß er, Jo Walker Gefahr lief, den Kerl zu verlieren. Daniel Pratt war ein skrupelloser Mörder - und Kommissar X hatte nicht die geringste Lust, sich von Captain Rowland den Kopf abreißen zu lassen.
* Steward Draper, der Produzent, war mit dem Wagen unterwegs gewesen. Eigentlich, überlegte er, hätte er länger als nur eine knappe Stunde auf dieser langweiligen Cocktail-Party ausharren müssen. Es war wichtig, Kontakte zu pflegen und die richtigen Verbindungen zu knüpfen - Verbindungen, mit deren Hilfe sich die wirklichen Geschäfte ausgezeichnet tarnen ließen. Aber heute abend fühlte sich Draper nicht in der Stimmung, Sekt zu trinken und albernem Gerede zuzuhören. Er war nervös. Telly Porter hätte sich längst melden müssen. Bei seinem letzten Anruf hatte er behauptet, alles sei in bester Ordnung. Aber inzwischen waren Stunden vergangen, und Draper wartete immer noch vergeblich auf die Rückkehr seines glatzköpfigen Strohmanns. Konnte in letzter Sekunde noch etwas schiefgegangen sein? Bestimmt nicht, versuchte sich Draper zu beruhigen. Spätestens morgen würde es keinerlei Konkurrenz mehr in New York für ihn geben. Seine Augen funkelten, als er den Wagen in Höhe seiner Grundstückseinfahrt anhielt. Die Villa war alt, aber ausgesprochen gepflegt und vornehm. Draper bewohnte sie erst seit einem halben Jahr. Lichtschranken am Tor, Copyright 2001 by readersplanet
Alarmanlagen und einige andere technische Finessen fehlten noch - Draper würde sie irgendwann später installieren lassen. Vorerst mußte er noch den Wagen verlassen und das Tor mit einem schlichten altmodischen Schlüssel öffnen. Wie jedesmal nahm er sich vor, diesen Zustand jetzt endlich zu ändern und... Die Gedankenkette zerbrach. Ein Geräusch ließ Steward Draper zusammenzucken - ein leises Geräusch schräg hinter ihm. Jählings begriff er, daß jemand im Schatten des gemauerten Torpfeilers gelauert hatte. Etwas bohrte sich in seinen Rücken. Ein harter, runder Gegenstand: die Mündung einer Schußwaffe... "Schön ruhig!" zischte eine Stimme dicht hinter ihm. "Kein Geschrei, sonst hast du ein Loch im Anzug, klar?" Draper rührte sich nicht. Die Stimme seines Gegners kam ihm bekannt vor, aber im Augenblick fiel ihm nicht ein, zu wem sie gehörte. Sein Herz hämmerte wie rasend, und das Ziehen in der Brust erinnerte ihn daran, daß der Arzt ihm geraten hatte, Aufregungen zu vermeiden. "Wer sind Sie?" krächzte er. "Was wollen Sie?" Der andere kicherte dünn. "Was ich von dir will, wirst du schon sehen, Bastard! Schließ' das Tor auf und geh' voran, aber laß dir nicht einfallen, irgendwelche Mätzchen zu machen." Draper schluckte trocken. Er begriff, daß er keine Wahl hatte. Gegen eine Pistolenmündung im Rücken gab es kein Argument. Mit zitternden Fingern zog er den Schlüssel aus der Tasche, schob ihn ins Schloß und öffnete das Tor. "Vorwärts!" kommandierte die Stimme hinter ihm. "Den Wagen kannst du getrost draußen stehenlassen. Du wirst ihn nicht mehr brauchen." Steward Draper spürte einen eisigen Schauer über seinen Rücken rinnen. Mit weichen Knien wankte er über den gewundenen Weg. Das schmiedeeiserne Tor blieb offenstehen, aber Draper war nicht in der Stimmung, sich über eventuelle Gelegenheitsdiebe Sorgen zu machen. Vor der Haustür blieb er stehen, wollte sich umwenden, doch ein harter Stoß mit der Waffenmündung trieb ihn weiter. "Aufschließen", befahl sein Gegner mit einem Tonfall satten Triumphs in der Stimme. Steward Draper öffnete die Haustür. Schweiß stand auf seiner Stirn, rann in dicken Tropfen über die Haut und sickerte ihm in den Kragen. Er hatte Angst. Er war unbewaffnet, im Haus hielt sich nicht einmal der Butler auf, da er dem Personal freigegeben hatte; um ungestört mit Telly Porter seine teuflischen Pläne ausbrüten zu können. Porter mußte eigentlich jeden Augenblick zurückkommen. Aber auch in diesem Punkt machte sich Draper keine Hoffnungen. Der Glatzkopf würde ihm nicht beistehen, sondern höchstens blindlings fliehen. Der Produzent schwankte, als er die Diele betrat. Er hatte eiskalt einen Berufskiller bestellt, als der junge Cliff Carlin ihm gedroht hatte, ihn auf offener Bühne zu entlarven. Weil dieser Killer erkannt worden war, hatte er ihn ebenfalls umbringen lassen. Bei der Verwirklichung seiner teuflischen Pläne war er kaltblütig und gefühllos vorgegangen - aber jetzt, daß seine eigene Haut zu Markt getragen wurde, zitterte er wie Espenlaub. Ihm war übel vor Angst, und als über ihm das Licht aufflammte, zuckte er wie unter einem Peitschenhieb zusammen. "Umdrehen!" kommandierte die Stimme. "Aber verschränke die Hände im Nacken!" Draper gehorchte, hob die Hände in den Nacken und wandte sich langsam um. Seine Augen weiteten sich. Er starrte den Mann an, diesen Mann mit dem zerknitterten, verlebten Gesicht, den er längst tot glaubte - mit Sydney Cannons Yacht in die Luft geflogen. "Pratt?" stammelte er tonlos. Copyright 2001 by readersplanet
Der Gangster zog die Lippen von den Zähnen. "Überrascht?" fragte er höhnisch. "Du wärest noch überraschter, wenn du deinen Freund Telly Porter in diesem Moment sehen könntest. Er sitzt im Salon der <Miriam>. Mit einer Kugel im Schädel!" Steward Draper zuckte zusammen, als habe er einen Schlag ins Gesicht bekommen. Zwei, drei Sekunden brauchte er, um die Nachricht einigermaßen zu verdauen. Das Funkeln in Pratts Augen sagte ihm, daß er die Wahrheit gehört hatte. Und noch etwas verriet ihm dieses wilde, haßerfüllte Funkeln: daß Daniel Pratt gekommen war, um ihn, Steward Draper, zu töten. Er hielt den Atem an. Verzweifelt versuchte er, sich zusammenzureißen. Er mußte leugnen. Oder Pratt bestechen, sich irgendwie mit ihm einigen. Der Gangster brauchte Dollars, um sich ins Ausland abzusetzen. Viele Dollars! Er würde sich kaufen lassen, er... "Verschlägt es dir die Sprache, du Schwein?" fauchte Pratt. "Du wolltest mich eiskalt abservieren, nur um die Schuld an dem Mord Cannon in die Schuhe schieben zu können. Du wolltest alles für dich allein! Du hast mir Porter auf den Hals gehetzt, du... "Nein! Es war Tellys Idee! Er hat Sie angelogen, er..." "Und du sagst die lautere Wahrheit, was?" spottete Pratt. "Los, umdrehen, Hände gegen die Wand!" "Pratt, ich beschwöre Sie..." Der Schallplattenhändler schlug mit dem Lauf der Waffe zu. Ein gemeiner, heimtückischer Hieb, der Draper mit einem Schrei zurücktaumeln ließ. Er stolperte über die Schwelle der Wohnzimmertür, stürzte zu Boden. Daniel Pratt beugte sich über ihn und tastete ihn gründlich nach Waffen ab. Er fand keine. Steward Draper hatte nie damit gerechnet, daß er einmal eine Schußwaffe brauchen würde - genausowenig, wie Pratt selbst damit gerechnet hatte. Sie waren Schreibtisch-Täter gewesen, Weiße-Kragen-Gangster, die sich nicht selbst die Hände schmutzig machten. Aber in ihren illegalen Machenschaften, die sie am Anfang ihrer ungesetzlichen Karrieren für Kavaliersdelikte gehalten hatten, wohnte eine unheilvolle Mechanik, jener sprichwörtliche Fluch der bösen Tat, der sie tiefer und tiefer in den Sog des Verbrechens gerissen hatte. Jetzt waren sie beide zu Mördern geworden - und beide wußten, daß ihre Begegnung mit neuer Gewalt und noch mehr Blut enden würde. "Pratt...", stammelte der Produzent beschwörend. "Shut up! Du wirst bezahlen, Draper! Centweise! Du wirst mir alles erzählen, alles! Und anschließend werde ich dich zur Hölle schicken! Genauso, wie du es mit mir vorhattest..." Eiskalte Entschlossenheit lag in Daniel Pratts Stimme. Und Steward Draper wußte, daß er keine Chance mehr hatte, der Rache seines Widersachers zu entgehen.
* Jo Walker hängte den Hörer des Autotelefons zurück in die Halterung. Sein Wagen stand im Schatten einer Einfahrt. Er hatte Daniel Pratt bis hierher verfolgt, hatte beobachtet, wie sich der Gangster in den Schatten des Torpfeilers drückte und wartete. Kommissar X konnte nicht wissen, wem die Villa gehörte. Er hatte den Besitzer erst erkannt, als Pratt ihm die Pistole in den Rücken drückte. Draper! Steward Draper, der Produzent! Jo waren in diesen Sekunden verschiedene Lichter aufgegangen. Draper mußte der Unbekannte sein, der die anonymen Briefe geschrieben hatte. Und das hieß, daß Draper Copyright 2001 by readersplanet
auch für die Morde an seinem Schützling Cliff Carlin und dem Berufskiller Terry Dixon verantwortlich war. Es gab keine andere Lösung. Jo hatte über Autotelefon Tom Rowland informiert. Es würde nicht lange dauern, bis der Captain und seine Leute hier waren. Aber Kommissar X wollte nicht auf sie warten. Er ahnte, daß Daniel Pratt sich rächen wollte, daß Steward Drapers Leben an einem seidenen Faden hing, deshalb verließ er den Wagen und überquerte die Straße. Das Grundstückstor stand offen. Jo schlug einen Bogen, kämpfte sich quer durch die Büsche und gelangte auf die Rückseite der Villa. Dort gab es eine Terrasse und eine große Glastür, deren Lüftungsklappe ebenfalls geöffnet war. Ein Griff würde genügen, um den Türhebel zu erreichen und sich Einlaß zu verschaffen. Jo preßte sich an die Hauswand, schob den Kopf vor und spähte vorsichtig ins Zimmer. Steward Draper kauerte am Boden und lehnte den Rücken gegen einen Sessel. Daniel Pratt hatte sich vor ihm aufgebaut. Seine Stimme war schneidend - und der offenen Lüftungsklappe wegen genau zu verstehen. "Sag' die Wahrheit, du Schwein! Ich wollte mit euch zusammenarbeiten. Ich habe Porter erzählt, wann und wo Dennis Barbella sterben würde. Und du Dreckskerl hast einen Privatdetektiv beauftragt - diesen Kommissar X." "Nein", stöhnte Draper. "Ich habe ihm nur zwei Karten für das Konzert mit Dory Dorin schicken lassen. Anonym..." "Na und? Daraufhin hat sich der Kerl in den Fall eingeschaltet, und das wußtest du genau. Und danach hast du Carlin abknipsen lassen, nicht wahr? Warum?" Jo hielt den Atem an. Genau das war die Frage, die auch er sich stellte. "Er hat mir gedroht," krächzte Steward Draper. "Er wollte einen Skandal auf offener Bühne entfesseln. Ich hatte keine Wahl. Ich mußte Terry Dixon bestellen für den Fall, daß Carlin seine Drohung wahrmachte. Das mußt du doch verstehen! Du hast diesen Barbella doch auch kaltgemacht, als er dich bedrohte." "Und hinterher hast du Terry Dixon kaltmachen lassen?" "Ja...ja...Aber gegen dich habe ich nichts, Pratt, gegen dich..." "Du hast mir Telly Porter auf den Hals gehetzt", fauchte der Schallplatten-Händler. "Er muß mich die ganze Zeit über beobachtet haben. Er wußte, daß die Assistentin dieses Detektivs auf meinen Namen gestoßen war. Daran hast du auch gedreht, nicht wahr? Du hast dem Kerl irgendwie die Adresse von Barbellas Freundin zugespielt. Du ahntest, daß das Girl meinen Namen kannte. Dir verdanke ich es, daß die Bullen meinen Laden ausgehoben haben." "Aber das ging nicht gegen dich", krächzte Draper. "Ich schwöre dir..." "Du kannst lange schwören! Du wolltest uns vernichten, und du hast es geschafft. Cannon meldet sich nicht mehr, bei ihm sitzt die Polizei. Mein eigener Laden ist auch hochgegangen. Ich brauche Geld, Draper! Dollars, verstehst du? Ich brauche ein Anfangskapital, um irgendwo im Ausland neu anzufangen." Steward Draper schöpfte Hoffnung. "Der Safe!" stieß er hervor. "Du kannst alles haben! Der Safe hinter dem Bild am Kamin." "Wieviel?" fragte Daniel Pratt hart. "Ich weiß nicht...Hunderttausend Dollar, glaube ich..." "Okay! Rühr dich nicht, du Schwein!" Steward Draper wagte ohnehin nicht, sich zu rühren. Er blieb am Boden hocken und sah zu, wie Pratt das Bild über dem Kamin von der Wand riß. Mit zitternder Stimme sprudelte er die Kombination hervor, als er danach gefragt wurde. Pratt öffnete den Safe - und kicherte triumphierend. Dollars! Copyright 2001 by readersplanet
Mindestens hunderttausend Dollar lagen in dem Safe. Daniel Pratts Augen funkelten, als er begann, das Geld in die Plastik-Tüte zu schaufeln, die vorher noch die Sprengladung enthalten hatte. Hunderttausend Dollar! Genug, um irgendwo im Ausland neu anzufangen, genug, um den Verlust seines Ladens zu verschmerzen. Pratt wischte auch die letzten Scheine in seine Tasche. Aber er hatte seinen Gegner die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, und immer noch lag eiskalte Entschlossenheit in seinem Blick. "Bitte", krächzte Steward Draper. "Wir können uns doch einigen, wir..." Pratt starrte auf ihn herunter. Schweigend griff er zum Gürtel, zog den schweren Revolver hervor und richtete die Mündung auf den zitternden Produzenten. "So, Draper, und jetzt zu uns!" stieß er durch die Zähne. "Du hast mich ruiniert, und dir verdanke ich es, daß ich untertauchen muß. Es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, dich eigenhändig zur Hölle zu schicken."
* Ungefähr um die gleiche Zeit erreichte Captain Rowland den Ort des Geschehens. An der Minetta Lane hatte inzwischen die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle. Das Tonstudio samt der gelagerten Kassetten war restlos zerstört worden, nicht jedoch der Music-Shop im Stockwerk darüber. Der Safe in Telly Porters Büro hatte sich als Fundgrube erwiesen. Der Glatzkopf war ein penibler Mensch gewesen, der über seine Geschäfte genau Buch führte. Aufgrund des Materials, das im Augenblick mit Hilfe von David Bloom als Fachmann gesichtet wurde, würde es gelingen, auch die Schwarzpresser-Gang auszuheben, die der Organisation von Sydney Cannon und Daniel Pratt Konkurrenz gemacht hatte. Als Jos Anruf kam, war Tom Rowland mit einigen seiner Leute sofort gestartet. Allerdings kannte er weder den Namen des Mannes, auf den Daniel Pratt lauerte, noch wußte er, was inzwischen passiert war. Aber da er Jos besonderes Talent kannte, geradewegs in die Höhle des Löwen zu marschieren, konnte er es sich ungefähr denken, und deshalb ging er vorsichtig vor. Er ließ seine Leute außer Sicht- und Hörweite der Villa parken und zunächst einmal unauffällig das Grundstück abriegeln. Das Tor stand einladend offen. Ein Wagen parkte davor: Wahrscheinlich war der Fahrer ausgestiegen, um aufzuschließen, und dabei von Daniel Pratt überrascht worden. Captain Rowland merkte sich die Nummer, setzte sich über Funk mit der Zulassungsstelle in Verbindung, und kannte eine Minute später den Halter des Fahrzeugs. Steward Draper! Der grauhaarige Produzent mit der Hakennase, dessen unsympathisches Gesicht dem Captain in den letzten Tagen überall aufgefallen war, wo etwas passierte. Genau wie Jo erkannte Rowland schlagartig die Zusammenhänge. Und ihm war auch klar, daß es unter diesen Umständen nur eins gab, was Daniel Pratt bei Draper wollen konnte: Rache. Der Captain wies seine Leute an, erst einzugreifen, wenn sich im Haus etwas tat. Er selbst glitt im Schutz der Mauer auf die Einfahrt zu, schlüpfte durch das offene Tor und schlug sich seitwärts in die Büsche.
* Pratt schob den Daumen über den Revolverhahn und Steward Draper schloß zitternd die Augen. Copyright 2001 by readersplanet
Aus, dachte er. Aus... Sekunden vertickten qualvoll langsam. Daniel Pratt schien Spaß daran zu haben, sein Opfer zappeln zu lassen. Draper stöhnte gepreßt auf, lehnte den Hinterkopf gegen die Sessellehne und grub die Zähne in die Unterlippe. Als er die Augen wieder öffnete, glaubte er zu träumen. Daniel Pratt stand immer noch mit schußbereitem Revolver da. Aber hinter ihm, fast verborgen vom Schatten des Buschwerks im Garten, hatte sich eine dunkle Gestalt aufgerichtet. Eine Gestalt, die jetzt die Terrassentür fast lautlos öffnete. Draper zuckte zusammen, seine Augen weiteten sich - und Daniel Pratt bemerkte die Veränderung im Gesicht seines Gegenübers. Ehe er reagieren konnte, zerschnitt hinter ihm eine scharfe Stimme die Stille. "Hände hoch! Die Waffe weg und keine überflüssige Bewegung!" Pratt zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde. Wie von einer Bogensehne abgeschnellt wirbelte er um die eigene Achse und schwenkte die Waffe herum. Er riß sie hoch, wollte blindlings durchziehen - aber da blitzte es bereits vor ihm auf. Pratts Hand bekam einen harten Stoß. Der Revolver entglitt seinen plötzlich kraftlosen Fingern, flog im Bogen durch die Luft und landete auf dem Teppich. Daniel Pratt starrte betroffen auf seine blutende Rechte. Eine Sekunde später stieß er einen wilden Schrei aus und stürzte sich mit dem Mut der Verzweiflung auf seinen Gegner. Jo hätte abdrücken können, aber er verzichtete darauf. Es lag ihm einfach nicht, einen unbewaffneten Mann niederzuschießen. Stattdessen wich er mit einem Sidestep aus. Pratts Hieb streifte ihn nur. Der eigene Schwung riß den Gangster nach vorn, ließ ihn stolpern, und Jo brauchte nur noch Maß zu nehmen. Er schlug kurz und trocken zu. Pratt brach stöhnend zusammen. Und Steward Draper, der immer noch reglos und wie betäubt am Boden kauerte, begriff dunkel, daß jetzt vielleicht seine unwiderruflich letzte Chance gekommen war. Er spannte die Muskeln. Wie von einer Bogensehne abgeschnellt sprang er auf, warf sich herum, rannte keuchend und stolpernd zur offenen Terrassentür. Sein Atem pfiff, sein Herz hämmerte hoch im Hals. Eine eiskalte Faust schien an seiner Kehle zu würgen. Jeden Augenblick erwartete er den Schuß, den Schlag im Rücken, den Schmerz - aber nichts geschah. Er hetzte weiter, quer über die Terrasse, und brach blindlings durch die Büsche. Hatte er es geschafft? Gab es tatsächlich eine Chance zu entkommen? Er versuchte zu lauschen, aber er hörte nur seine eigenen Schritte. Wenn er stehengeblieben wäre, lautlos weitergeschlichen - vielleicht hätte er es tatsächlich geschafft, auf dem verwilderten, unübersichtlichen Grundstück unterzutauchen. Aber dafür fehlten ihm die Nerven. Steward Draper jagte durch den nächtlichen Park wie vom Teufel gehetzt.
* Daniel Pratt war nur wenige Sekunden bewußtlos. Als er wieder zu sich kam, schmerzte sein Kopf zum Zerspringen, und der Streifschuß an seiner rechten Hand brannte wie die Hölle. Mühsam richtete er den Oberkörper auf und sah sich um. Nach dem ersten Blick begriff er überhaupt nichts mehr. Steward Draper war verschwunden. Jo Walker, der Privatdetektiv, ebenfalls. Pratt konnte nicht einmal ihre Schritte hören. Sein Schädel dröhnte. Für einen Augenblick blieb er einfach Copyright 2001 by readersplanet
am Boden kauern, unfähig zu handeln. Es dauerte Sekunden, bis ihm wirklich bewußt wurde, daß er allein war. Allein - und frei! Er atmete tief durch. Weg! dachte er. Nur weg hier! Er mußte den Wagen erreichen. Hastig rappelte er sich auf, wollte zur Tür rennen und wandte sich dann noch einmal um. Mit einem Griff schnappte er sich die Plastiktasche mit den Dollars. Unsicher taumelnd durchquerte er die Diele, bewegte mühsam mit der verletzten Rechten den Drehknauf und öffnete die Tür. Auf der Treppe stolperte er, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Mühsam quälte er sich wieder hoch und in der gleichen Sekunde hörte er in unmittelbarer Nähe den Kies knirschen. Wie elektrisiert fuhr er zusammen. Er spannte die Muskeln, wollte sich herumwerfen, doch da war es bereits zu spät. Eine Gestalt wuchs neben ihm aus der Dunkelheit, glitt mit einem langen Schritt an ihn heran und preßte ihm nachdrücklich die Mündung eines Revolvers zwischen die Rippen. "Endstation, Mr. Pratt", sagte Tom Rowland kalt. "Lassen Sie die Tasche fallen und nehmen Sie die Hände hoch. Das Spiel ist aus!"
* Jo Walker folgte dem Flüchtenden schnell, geschickt und mit so wenig Geräuschaufwand, daß seine Schritte allenfalls gehört werden würden, wenn der andere stehenblieb. Genau das wollte der Detektiv verhindern: Wenn Draper den Verfolger im Nacken spürte, einfach untertauchte und sich tot stellte, würde es schwer werden, ihn auf dem unübersichtlichen Gelände wiederzufinden. Der Park war verwildert, zwischen Blautannengruppen und wuchernden Rhododendron-Inseln nistete die Dunkelheit. Steward Draper kannte den Park, er war schließlich hier zu Hause. Vielleicht hätte er wirklich noch eine Fluchtchance gehabt - aber er mußte völlig die Nerven verloren haben. Wie von Furien gehetzt jagte er durch das Gewirr der Büsche und Bäume. Alle paar Sekunden stolperte er, stürzte, riß sich mühsam wieder hoch und lief weiter. Er keuchte, und sein Vorsprung schmolz auf ein Minimum zusammen. Als er wieder einmal das Gleichgewicht verlor, blieb er ein paar Sekunden erschöpft am Boden liegen - und dabei hörte er die Schritte des Verfolgers. Wie ein Stromstoß ging es durch Drapers hagere Gestalt. Aufschreiend taumelte er hoch und warf den Kopf hin und her. Er sah Kommissar X, sah den schußbereiten Revolver, aber er sah auch, daß die Grundstücksmauer nur noch drei, vier Yard entfernt war. Die Waffe beachtete er nicht. Er ignorierte sie, als sei sie ein Kinderspielzeug. Blindlings lief er weiter, sprang über ein Blumenrabatt hinweg, wich dem dicken Stamm eines Ahorns aus und erreichte die Mauer. Jo gab zwei Warnschüsse ab, auf die der Gangster nicht reagierte, dann setzte er sich in Bewegung. Diesmal war er es, der Pech hatte. Sein Fuß verhakte sich irgendwo. Er stürzte, und als er wieder aufsprang, zog sich Draper bereits an der Mauer empor. Jo ließ kurzerhand den Revolver fallen, stieß sich ab und machte einen mächtigen Satz. Er erwischte gerade noch das Bein des Gangsters. Hart riß er den Burschen von der Mauer herunter. Draper brüllte auf. Er stürzte, prallte gegen Jo und riß ihn mit zu Boden. Kommissar X kam eine Kleinigkeit schneller auf die Füße. Copyright 2001 by readersplanet
Noch im Aufspringen schnappte er sich die Waffe wieder. Die Revolvermündung zielte auf die Stirn des Gangsters. Steward Draper lag noch auf den Knien, schwer atmend. "Was - was wollen Sie überhaupt von mir?" stammelte er. "Ich habe nichts getan! Pratt wollte mich umbringen. Ich...ich bin..." "Sie sind des Mordes an Cliff Carlin und Terry Dixon überführt", unterbrach ihn Kommissar X kalt. "Auf Sie wartet lebenslanges Zuchthaus, Draper. Und Daniel Pratt wird Ihnen dabei Gesellschaft leisten."
* Der Produzent brach zusammen, als er begriffen hatte, daß es nichts mehr nützte zu leugnen. In seinem Keller fand sich eine Flasche mit den Resten des Gifts, mit dem Telly Porter in seinem Auftrag den Berufskiller Terry Dixon umgebracht hatte. Steward Draper legte ein volles Geständnis ab, genau wie Daniel Pratt, der des Mordes an Telly Porter und Dennis Barbella eindeutig überführt war. In der New Yorker Musik-Branche gab es eine Verhaftungswelle, und zwei Syndikate der <schwarzen Haie> hörten auf zu existieren. Als Jo Walker später zusammen mit April Bondy und Tom Rowland das Konzert besuchte, mit dem Dory Dorin ihre Fans für die geplatzte Veranstaltung entschädigen wollte, war Kommissar X ziemlich sicher, daß nirgends ein Tonband lief.
ENDE
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