Geisterfänger Band 19 Das teuflische Vermächtnis von Mike Burger Sein furchtbarer Plan war ein Spiel mit dem Tod.
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Geisterfänger Band 19 Das teuflische Vermächtnis von Mike Burger Sein furchtbarer Plan war ein Spiel mit dem Tod.
Mrs. Amanda Willock hatte Angst. Angst vor dem Sterben. Sie schlief unruhig, denn wieder, wie in den zurückliegenden Nächten, träumte sie diesen ekelhaften Traum... Jemand rief ihren Namen, wispernd und doch eindringlich und dann spürte sie, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte und schließlich ganz aussetzte. Sie merkte, dass sie starb... Verzweifelt verkrampfte sie ihre Hände über der Brust, doch es war sinnlos. Die unsichtbare Kraft war stärker, viel starker. Stöhnend wälzte sich Amanda Willock auf die andere Seite. Ihr hageres Gesicht war verzerrt vor innerer Anspannung und unterschwelliger Furcht. Drückende Stille lastete in dem großen Schlafzimmer der alten Frau. Fahles Mondlicht drang durch die Fenster, weil sie vergessen hatte, die schweren Vorhänge zuzuziehen. Die massiven, altmodischen Möbel des Schlafzimmers warfen bizarre Schatten. Draußen schrie klagend ein Käuzchen. Und plötzlich erwachte Amanda Willock. Impulsiv aufstöhnend fuhr sie hoch und starrte mit angstgeweiteten Augen in das Dunkel, auf die Umrisse der Möbel, auf die Schatten... Ihr Blick fiel auf die Leuchtziffern des Weckers, dessen lautes Ticken das einzige Geräusch war, das in diesem Augenblick zu hören war. Mitternacht. Amanda Willocks schmale Lippen zitterten. Wieder war sie genau um Mitternacht erwacht, wie in den Nächten zuvor. Warum? - Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Sie würde wach bleiben und sie würde viel zuviel Zeit haben, um nachzudenken. Mit einer müden Geste schlug Amanda Willock die Bettdecke beiseite und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sollte sie Barringer rufen?, überlegte sie sich. Sie war unschlüssig und schließlich schob sie den Gedanken beiseite. Nein, sie würde Barringer nicht benachrichtigen. Er würde nur unangenehme Fragen stellen. Amanda Willock versuchte, nicht an ihren Traum zu denken. Es gelang ihr mühsam. Die Furcht verschwand und mit ihr auch dieser unheimliche Druck, der bis jetzt auf ihrer Brust gelastet hatte. 4
Amanda Willock war zweiundneunzig Jahre alt und wer sie sah, hielt sie für eine gebrechliche alte Dame. Aber dieser Eindruck täuschte. Amanda Willock war alles andere als gebrechlich. Sie war trotz ihres hohen Alters rüstig und zäh. Und sie besaß immer noch jenen eisernen Willen, den sie sich in ihrem langen Leben angeeignet hatte. Sie war die Inhaberin mehrerer gut gehender Kreditbüros und in diesem Geschäft musste man schließlich hart sein. Sie lächelte boshaft. Ja, sie war hart und deshalb würde sie sich von diesen seltsamen Träumen - so unangenehm sie auch waren nicht mehr länger beeindrucken lassen. Sie sagte sich, dass es unsinnig sei, sich zu fürchten. Niemand konnte ihr etwas anhaben. Immerhin beschäftigte sie fünf tüchtige Leibwächter und zwei überaus zuverlässige Diener. Ihr Haus war eine Festung. Jeder, der es auf ihr Vermögen abgesehen hatte, müsste mit einer kleinen Armee aufmarschieren, um hier gewaltsam eindringen zu können. Die alte Frau merkte, wie sie sich mehr und mehr beruhigte. Sie strich sich über ihr graues Haar, das in dünnen Strähnen auf ihren gebeugten Rücken niederfiel. Da vernahm sie ein Geräusch. Es hörte sich an, als würde Glas von übermächtigen Kräften zerrieben werden. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Ihre hellen Augen versuchten die dunklen Schatten zu durchdringen. Aber sie konnte nichts erkennen. Und dann hörte sie die Stimme und gleichzeitig fühlte sie die Anwesenheit eines Wesens. »Amanda Willock! - Deine Zeit ist nun gekommen. Ich bin hier, um dich zu holen.« Es war eine geisterhafte Stimme, die da erklang. Und Amanda Willock erkannte sie sofort. Es war dieselbe Stimme, die sie auch in ihren Träumen gehört hatte! »Nein!«, hauchte sie mit tonloser Stimme. Ihre schmale Hand tastete nach dem Lichtschalter. »Es ist zu spät, Amanda Willock, deine Zeit ist um. Es gibt keine Alternative, ich muss dich holen. Es ist wichtig für einen großen Plan. Du musst jetzt stark sein, Amanda Willock und ich denke, dass du stark sein wirst, nachdem du bereits in den vergangenen Nächten erlebtest, was passieren wird.« 5
Amanda Willocks Herz verkrampfte sich. »Ich - ich verstehe nicht«, stammelte sie nervös. »Was für ein großer Plan ist gemeint? Ich - ich weiß doch überhaupt nichts...« »Es ist auch nicht nötig, dass du etwas weißt, Amanda Willock«, erklang wieder diese Stimme, die direkt aus dem Nichts zu kommen schien und jetzt ein bisschen spöttisch klang. Amanda Willock schüttelte den Kopf. »Nein, das - das kann man nicht mit mir machen. Gnade!« Ein belustigtes Lachen ertönte und verhallte wieder. »Du forderst Gnade, Amanda Willock? Hast du jemals Gnade gewährt, wenn einer deiner Kunden dich anflehte, ihm einen geliehenen Betrag noch einige Wochen zu stunden, obwohl er die Rückzahlungsrate momentan nicht aufbringen konnte? Warst du jemals in deinem langen Leben gnädig?« »Ich werde alles wiedergutmachen«, erwiderte Amanda Willock hastig. »Ich werde alles tun, was man von mir verlangt. Alles!« »Ich bin nicht von dieser Welt und daher bin ich auch nicht bestechlich!« Wieder erklang das geisterhafte Lachen. »Ich bin dem, der mich gerufen hat, der mich erweckt hat aus meinem Jahrtausende währenden Schlaf, treu ergeben. Nur ihm... Und deshalb werde ich dafür Sorge tragen, dass der große Plan meines Meisters gelingt.« Amanda Willock wusste, dass sie verloren war. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Das Pochen ihres Herzens wurde unregelmäßig. Wie Hammerschläge dröhnte dieses Pochen in ihrem Kopf. Ein entsetzter Schrei brach von Amanda Willocks Lippen. Aber niemand schien diesen Schrei zu hören. »Wenn - wenn ich schon sterben muss«, keuchte sie mit letzter Kraft, »dann will ich wenigstens wissen, wer dein Meister ist. Bitte, sag es mir!« Amanda Willock spürte eine leichte Bewegung neben sich, aber obwohl sie sofort den Kopf wandte und in diese Richtung starrte, konnte sie nichts sehen. »Ich werde dir diesen Wunsch erfüllen«, raunte die Stimme plötzlich dicht an ihrem Ohr. »So höre!« Der Unheimliche wisperte ihr einen Namen zu. 6
»O nein! Nein, das kann ich einfach nicht glauben!«, schrie Amanda Willock. Sie bäumte sich auf, schlug um sich, wie von Sinnen. »Nicht er! Nein, nicht er!« Aber dann schwanden ihre Kräfte. Sie sank vornüber und stürzte zu Boden. Voller Entsetzen musste sie an den Mann denken, der sie nun von diesem überirdischen Geistwesen töten ließ. Immer hatte sie die Existenz von Geistern geleugnet, sie hatte nicht glauben können und wollen, dass es sie gab. Und nun... Nun war das unsichtbare Grauen gekommen, um ihr Leben zu beenden! Es war gekommen im Auftrag des Mannes, dem allein sie im Verlauf ihres langen, harten Lebens vertraut hatte. Sie konnte es einfach nicht fassen. Oh, wie dumm war sie gewesen! So vieles hatte sie falsch gemacht... Amanda Willocks Gedanken wanderten. Sie musste an ihren Neffen Neal denken. Sie war nicht gut zu ihm gewesen, sie hatte ihn nicht geliebt. Jetzt würde er alles erben... Ihre Häuser, ihre Aktien, ihren Schmuck, ihr Geld. Und Neal würde sich wundern. O ja - er würde sich sehr wundern... Ein hässliches Lächeln entspannte Amanda Willocks Gesicht. Sie war tot. * Neal Hamilton hielt die Augen krampfhaft geschlossen, obwohl er wach war und versuchte, seinen Traum von vorhin weiterzuführen. Da war er gewesen und ein paar hübsche blonde Girls, die ihm zugelächelt hatten... Und er hatte soeben überlegt, ob er zurücklächeln oder gleich zu ihnen hinübergehen sollte, als dieses unschöne Erwachen kam. Irgendetwas kitzelte an seiner Nase. Eine Fliege möglicherweise. Neal versuchte, dieses unangenehme Gefühl einfach zu ignorieren. Sein Traum war so verdammt real gewesen und die Girls natürlich auch... Das Kitzeln an seiner Nase wurde intensiver. Jetzt war es schon beinahe nicht mehr auszuhalten. Mit einem unwilligen Schnaufen trennte sich Neal also endgültig von seinem Traum, der jetzt erst so 7
richtig interessant geworden wäre. Er hob seine Lider - und sah direkt in Jean Moissants hübsches Gesicht. Ein boshaftes Lächeln umspielte ihre vollen, sinnlichen Lippen. »Na, du Mädchenjäger, endlich aufgewacht?«, fragte sie und hob triumphierend die Feder, mit der sie ihn gekitzelt hatte. Neal grinste und öffnete nun auch das andere Auge. »Seit wann bist du der Kunst des Gedankenlesens kundig?«, fragte er geschwollen. »Denke ich schon so intensiv, oder gibt es da ein neues Mittelchen, das dich befähigt, derart genau über meine - äh - intimsten Gedanken informiert zu sein.« Erwartungsvoll und todernst sah er sie an. Sie erwiderte seinen Blick und schob forsch ihr hübsches Kinn vor. »Du gibst es also zu! Aha! Aber ich will dir deine Frage beantworten. Ich kenne eben deine lebhafte Phantasie, Liebling. Und wenn du dann im Schlaf so seltsam draufgängerisch grinst und dich auch noch ziemlich unruhig von einer Seite auf die andere wälzt, dann weiß ich natürlich Bescheid - auch ohne deine Gedanken lesen zu können.« »So - ist das also«, brummte er. »Da staunst du, nicht wahr?« »Du bist eine Hexe«, murmelte er und blickte sie an. »Aber immerhin: Ich liebe gewisse Hexen. Kommst du ins Bett?« »Ich werde mich hüten! - Außerdem, Liebling, zu deiner gefälligen Information: Es ist bereits später Vormittag. Zehn Uhr. Steh endlich auf. Du bist ohnehin schon träge genug!« »Ich - träge?« Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Neal Hamilton und ergriff Jean. Sie war 24, dunkelhaarig und so kess, wie er es liebte. Und sie war hübsch. Ihr Gesicht war leicht rundlich, die Backenknochen stark ausgeprägt. Ihre Augen waren groß und unergründlich und standen leicht schräg, die unerhört langen, echten Wimpern passten dazu nur zu gut. Jean trug lediglich ihre verwaschenen Jeans und einen knappen BH über ihren üppigen Brüsten. Neal brauchte sich nicht besonders anzustrengen, um die Luft knistern zu hören... »Nun ja, ganz eingerostet scheinen deine Knochen doch noch nicht zu sein«, gab Jean schließlich zu. »Aber das will überhaupt nichts heißen. Wenn du so weitermachst, dann...« 8
»Schon gut, schon gut!«, versetzte Neal und verdrehte die Augen. »Ich habe verstanden. Ich bin heute an der Reihe mit Kaffee kochen. Stimmt's?« Sie nickte und in ihren Augen war ein kurzes Aufblitzen zu erkennen. »Bitte stark und schwarz«, sagte sie. »Wie bitte?« »Ich meine den Kaffee.« »Ach so. Ja, natürlich. Der Kaffee.« Mit einem mitleiderregenden Stöhnen stieg Neal endgültig aus dem Bett und wankte Richtung Küche. »Da die Salzsäure aufgebraucht ist, werde ich eben dieses Mal Zyankali verwenden«, murmelte er leise vor sich hin. »Das wäre mir aber zu stark, Liebling«, versetzte Jean trocken und warf ihm das Kissen nach. Gewandt wich Neal dem heimtückischen Geschoß aus. Wenig später rumorte er in der Küche. Als er die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, klingelte es. »Das ist ein Wink des Schicksals!«, kommentierte er und kam wieder aus der Küche. Mit drei großen Schritten war er bei Jean und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. »Der Kaffee ist gleich fertig«, sagte er gutgelaunt. »Und sämtliche fälligen Rechnungen sind bezahlt. Also kann dieses Klingeln nur etwas Gutes bedeuten.« Er ging zur Tür. Jean blickte ihm seltsam nach. »Ich weiß nicht, ich habe ein ungutes Gefühl in mir, Neal. Ich kann es nicht rationell erklären, aber es ist da. Sei vorsichtig, höret du!« »Ich sagte dir doch: Sämtliche fälligen Rechnungen sind bezahlt. Wer also sollte da etwas Böses mit mir vorhaben? Du bist ja eine kleine Pessimistin. Seltsam, diesen Charakterzug habe ich bisher noch gar nicht bei dir feststellen können. So und jetzt sollten wir diese Diskussion beenden. Zieh dir etwas über! Braucht ja nicht jeder zu sehen, was für ein Goldstück du bist...« Er deutete mit einem jungenhaften Grinsen auf ihren gutgefüllten BH. »Seit wann bist du prüde?«, konterte sie und wartete seine Entgegnung nicht ab. Sie ging ins Badezimmer. Neal öffnete die Tür - und starrte in zwei verschlossene, ziemlich grimmige Gesichter. 9
»Sind Sie Neal Hamilton?«, fragte einer der beiden Männer mit einer harten, dunklen Stimme. »Das kommt ganz darauf an, was Sie von diesem Neal Hamilton wollen«, versetzte Neal vorsichtig. Beinahe synchron zückten die Männer ihre Ausweise und hielten sie ihm vor die Nase. »Mordkommission«, sagte der größere der beiden Männer rau. »Sie sollten versuchen, Ihre Scherze zu einem anderen Zeitpunkt anzubringen. Also, ich frage Sie jetzt noch einmal: Sind Sie Neal Hamilton?« Neal nickte schweigend. »Kommen Sie herein«, sagte er dann mit einem beträchtlichen Kloß im Hals. Er hatte keine Ahnung, was geschehen war, aber die Gesichter der beiden Polizisten ließen auf nichts Gutes schließen. Jeans düstere Vorahnung hatte sich also bestätigt. »Ich bin Inspektor Murray und das ist mein Assistent Inspektor Porter. Vermutlich wissen Sie bereits, weshalb wir Sie aufsuchen.« »Tut mir leid,, Mr. Murray«, erwiderte Neal und zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.« Die beiden Männer wechselten einen bezeichnenden Blick. Dann wandte sich wieder Murray an Neal. »Soso, Sie haben also keine Ahnung. - Dürfen wir uns in Ihrer Wohnung mal ein bisschen umsehen?« »Nur, wenn Sie einen Durchsuchungsbefehl haben. Außerdem würde mich der Grund Ihres netten Besuches nun wirklich sehr interessieren. Sagen Sie ihn mir?« Inspektor Murray nickte, als habe er diese Worte Neals erwartet. Dann schob er sich einen Streifen Kaugummi zwischen die Zähne und fixierte Neal. Neal Hamilton erwiderte den harten Blick des Polizisten. Er war sich keiner Schuld bewusst und langsam ging ihm das arrogante Gehabe des Inspektors auf die Nerven. Murray war ein untersetzter, korpulenter Mann. Sein Gesicht war rund und die hervorquellenden dunklen Augen unter hellblonden Wimpern machte es nicht gerade anziehend. Er trug eine dünne schwarze Gabardinhose und einen Trenchcoat. Im Gegensatz zu Inspektor Murray war sein Assistent Porter groß und dünn. Sein Gesicht war gut geschnitten, allein die harten grauen Augen und der schmallippige Mund verrieten, dass Porter alles andere 10
als ein Gemütsmensch war und dass man sehr falsch beraten war, wenn man ihn unterschätzte. Assistent Inspektor Porter brach das Schweigen. »Sie wissen also tatsächlich noch nicht, dass Ihre Tante in der vergangenen Nacht gestorben ist?« Deutlich war die Skepsis in der Stimme des dünnen Mannes zu hören. »Sie ist tot? Tante Amanda?« Neal starrte Inspektor Porter verblüfft an. »Wie, wie ist sie gestorben? Ich - ich meine - wie ist es passiert?« »Alles deutet darauf hin, dass sie einem Herzschlag erlegen ist.« »Und weshalb sind Sie beide dann im Spiel? Es ist doch immerhin ziemlich ungewöhnlich, dass der einzige Angehörige einer jüngst verstorbenen, sehr reichen Dame von zwei Beamten der Mordkommission von dieser traurigen Tatsache benachrichtigt wird.« Inspektor Murray kaute genüsslich auf seinem Kaugummi. »Sie haben natürlich recht, Mr. Hamilton«, pflichtete er ihm bei. »Aber da es sich bei diesem Todesfall doch um einen ziemlich seltsamen Todesfall handelt, waren wir gezwungen, ins Spiel einzusteigen, um mit Ihren Worten zu sprechen. Ihre Tante ist tot. Alles deutet darauf hin, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist. Und doch gibt es da ein paar Anhaltspunkte... Ein gewisser Mr. Barringer, der bei Ihrer Tante als Leibwächter beschäftigt war, hat uns da etwas sehr Interessantes erzählt. Ihre Tante war in den letzten Tagen ihres Lebens sehr seltsam. Mr. Barringer vermutet, dass sie erpresst wurde. Jedenfalls gab es Anzeichen dafür. Und dann erzählte uns Mr. Barringer auch von Ihrem - hm seltsamen Verhältnis zu Ihrer Tante... Nun und so haben wir kombiniert. Sie verstehen sicherlich... Es ist unsere Pflicht.« »Sie wollen damit doch nicht sagen, dass Sie gekommen sind, weil Sie glauben, dass ich etwas mit dem Tod meiner Tante zu tun habe?« Neal merkte, wie er ärgerlich wurde. »Wir wollten nur mit Ihnen reden«, schwächte Inspektor Porter vorsichtig ab. 11
»Und sich ein bisschen in meiner Wohnung umsehen. Ohne Durchsuchungsbefehl«, konkretisierte Neal ungehalten. »Hören Sie, ich habe mit dem Tod meiner Tante nichts zu tun. Ich war gestern Nacht zu Hause. Und ich war nicht allein. - Wie also hätte ich es anstellen sollen, dass meine Tante ausgerechnet in dieser Nacht stirbt, einem Herzschlag erliegt? Ich bin kein Zauberer, Mister...« »Aha.« Inspektor Murray nickte. »Es ist natürlich erfreulich, dass Sie einen Zeugen benennen können. Das dürfte Ihnen natürlich viele Unannehmlichkeiten ersparen.« »Sie verdächtigen mich also tatsächlich«, stellte Neal verständnislos fest. »Aber das ist doch Unsinn. Hören Sie, Inspektor, ich habe nichts mit der Sache zu tun. Selbst, wenn meine Tante eines unnatürlichen Todes gestorben wäre - ich hätte daraus keinerlei Vorteil. Meine Tante mochte mich nicht besonders. Sie hat mich schon vor neun Jahren enterbt.« Inspektor Murray zog eine Augenbraue in die Höhe. »Es - es gibt da noch etwas, das Sie offenbar nicht wissen«, begann er bedächtig. »Ihre Tante... Nun, sie hat Sie - wie wir von ihrem Rechtsanwalt erfuhren - zum alleinigen Erben ihres gesamten Vermögens ernannt. Wenige Tage vor ihrem seltsamen Tod.« Neal merkte, dass er gleich umkippen würde, wenn er sich nicht schnellstens setzte. Er schüttelte den Kopf, wie um diese momentane Schwäche zu vertreiben. »Das kann nicht wahr sein«, krächzte er dann mit rauer Stimme. »Tante Amanda hat mir nie verziehen, dass ich ihr damals davongelaufen bin... Nein, es ist unmöglich, dass Sie mich in ihrem Testament bedacht hat.« Er fühlte sich wieder ein bisschen besser. Offen sah er die beiden Polizisten an. »Sehen Sie, wir dachten uns auch, dass das alles sehr, sehr seltsam ist. Mr. Barringer spricht davon, dass Mrs. Willock wenige Tage vor ihrem Tod erpresst worden sein könnte. Vom Anwalt der Verstorbenen erfahren wir, dass wenige Tage vor ihrem Tod das Testament geändert wurde. Und zwar ausgerechnet zu Ihrem Vorteil, Mr. Hamilton. Wir wissen, dass Ihre Tante Sie hasste. Und ausgerechnet Ihnen vererbt sie nun alles. Verstehen Sie nun, dass wir mit Ihnen sprechen wollten?« 12
Neal nickte. In diesem Augenblick betrat Jean das Wohnzimmer. Die beiden Polizisten blickten flüchtig auf. In Inspektor Porters Augen war für vier Sekunden ein interessiertes Aufblitzen und Neal konnte den Mann nur zu gut verstehen. Jean war gewiss kein alltägliches Mädchen... Lediglich Inspektor Murray schien völlig unbeeindruckt. Keine Regung war seinem Gesicht zu entnehmen. Lässig schob der korpulente Mann den Kaugummi auf die andere Seite seines Mundes und stellte dann fest: »Sie sind vermutlich die Dame, die bestätigen kann, dass Mr. Hamilton gestern Nacht nicht allein war?« Jean nickte. »Das kann ich, Inspektor. Und ich werde mich noch sehr lange an die gestrige Nacht erinnern. Sie war sehr, sehr schön. Aber das wird Sie wohl nicht so sehr interessieren, nicht wahr?« »Hm. Äh - nein.« Für einen winzigen Sekundenbruchteil war Inspektor Murray unsicher geworden. Aber sofort hatte er sich wieder gefangen. »Nun gut. Ich werde mir Ihren Namen und Ihre Personalien notieren und Ihre Aussage in meinem Bericht erwähnen.« Jean nickte beiläufig. »Das können Sie gern tun, Inspektor. Ich hörte, was Sie Neal vorwerfen. Es ist - wie er bereits sagte - Unsinn. Neal hat seine Tante seit Jahren nicht mehr gesehen. Und das war wohl auch gut so.« Inspektor Murray erwiderte nichts hierauf. Geschäftig notierte er sich in einer steilen, energischen Handschrift etwas in einem kleinen roten Notizbuch. »Mein Name ist Jean Moissant, ich bin 24 Jahre alt und meine Maße sind...« »Schon gut. Miss Moissant, wir wollen es ja nicht übertreiben«, wehrte Inspektor Murray mit einem verlegenen Grinsen ah. »Sie wohnen bei Mr. Hamilton?« Jean nickte. »Ich wohne hier und teile sozusagen Tisch und Bett mit ihm.« »Da hören Sie es«, brachte Neal sich in Erinnerung. »Inspektor. Sie haben sich den falschen Schuldigen herausgesucht. Vielleicht gibt es überhaupt keinen Schuldigen. Meine Tante war zweiundneunzig Jahre alt, wenn ich mich nicht irre!« 13
»Sie irren sich nicht, Mr. Hamilton«, erwiderte Inspektor Porter knapp. »Auf jeden Fall werden wir diese ganze Angelegenheit weiterhin untersuchen. Wir haben unsere Anordnungen, Sie verstehen... Und wir werden Sie im Auge behalten, Mr. Hamilton. Wenn es einen dunklen Fleck auf Ihrer Weste gibt, dann werden wir ihn entdecken. Und wenn wir auch nur einen ganz kleinen Fleck finden, dann werden wir...« »Wenn Sie mir drohen wollen, Inspektor, dann sehe ich mich gezwungen, meinen Anwalt anzurufen. Ich bin kein Heiliger und hin und wieder fluche ich auch. Aber ich bin kein Mörder! Bitte, nehmen Sie das zur Kenntnis!« Inspektor Murray nickte. »Okay, Mr. Hamilton. Vielleicht irren wir uns tatsächlich. Sollte sich dies herausstellen, werden wir uns bei Ihnen entschuldigen. Aber erst dann.« Er nickte seinem Assistenten knapp zu, ohne Neal und Jean aus den Augen zu lassen. »Gehen wir, Porter«, sagte er, ohne dass sich seine Lippen sonderlich bewegten. Porter folgte seinem Chef wortlos, die Hände in den Taschen seines Regenmantels vergraben. Neal ging - nachdem er Jean einen kurzen Blick zugeworfen hatte - ebenfalls zur Tür. »Ich darf Sie bitten, die Stadt vorläufig nicht zu verlassen, Mr. Hamilton. Wahrscheinlich werden sich Rückfragen ergeben, um den Verlauf der Ermittlungen zu beschleunigen.« Inspektor Murray hob seine massigen Schultern. »Aber vermutlich hatten Sie ja sowieso nicht vor, zu verschwinden. Immerhin wird sich in den nächsten Tagen der Anwalt Ihrer Tante mit Ihnen in Verbindung setzen wollen.« Neal presste die Lippen zusammen. Eine scharfe Entgegnung lag auf seiner Zunge, aber er beherrschte sich, so schwer es auch fiel. Nein, er würde diesem Mann nicht auf den Leim kriechen. Er war unschuldig, auch wenn Murray es nicht glauben wollte. Und weil er unschuldig war, bedeuteten ihm Murrays Anspielungen nichts. Sie glitten einfach ab. »Ich werde gern zu Ihrer Verfügung stehen, Inspektor Murray«, erwiderte er und versuchte, einigermaßen freundlich zu wirken. »Gut«, nickte Murray und musterte ihn noch einmal scharf. Dann drehte er sich um. Er wollte gehen, doch dann schien ihm noch etwas 14
einzufallen. Er wandte sich wieder um. »Ich danke Ihnen für das Gespräch, Mr. Hamilton. Und entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. * »Du bist beunruhigt«, stellte Jean fest, während sie den herrlich schwarzen und herrlich starken, dampfenden Kaffee einschenkte. Während Neal mit Inspektor Murray an der Tür gesprochen hatte, hatte sie sich als Heinzelmännchen betätigt und das Frühstück vollends zubereitet und den Tisch gedeckt. Neal blickte sie an. »Natürlich bin ich beunruhigt. Tante Amanda konnte mich wirklich nicht ausstehen. Ich bin das uneheliche Kind ihrer armen Schwester. Und als Mutter starb, hat sie mich sehr widerwillig bei sich aufgenommen. Mit ihrem Hass und ihrer Hartherzigkeit und Bosheit hat sie mir mein Leben verdammt schwer gemacht. Und dann bin ich ihr davongelaufen. Damals hat sie wohl geschworen, nie wieder was mit mir zu tun haben zu wollen. Später erfuhr ich von einem Freund, der auch mit Tante Amanda verkehrte, dass sie mich suchen ließ und zwar von einem ganzen Heer von Privatdetektiven. Aber sie fand mich nicht. Sie soll getobt haben. Und dann kam sie auf die Idee, mich zu enterben.« Neal zuckte die Schultern. »Und jetzt ist sie tot.« »Deine Tante war vermögend?«, erkundigte sich Jean leise. Neal nickte. »Sie war sehr vermögend. Mit ihren Wucherunternehmen hat sie das große Geld gemacht. Geld, an dem Tränen, Leid und vielleicht auch Blut klebt.« Jean schwieg. Pedantisch führte sie die Kaffeetasse an ihren Mund und trank einen vorsichtigen Schluck. Als sie die Tasse wieder absetzte, räusperte sie sich. »Du hast deine Tante nicht gemocht, das kann ich nur zu gut verstehen.« »Ich habe sie gehasst«, erwiderte Neal. »Aber trotzdem hätte ich sie nie getötet. Ich hasse nämlich auch die Gewalt.« Ehrlich sah er sie an. »Du weißt, dass du dich vor mir nicht zu verteidigen brauchst«, sagte sie einfach. »Ich weiß genau, dass du mit dem Tod deiner Tante nichts zu tun hast.« 15
»Ich wollte mich eigentlich nicht verteidigen oder rechtfertigen, Jean«, erklärte er. »Es - es ist nur... Verdammt, jetzt habe ich dieses ungute Gefühl im Magen. Ich komme mir benutzt vor, von irgendjemandem. Wie eine Schachfigur die hin und her geschoben wird und nicht weiß, weshalb. Ich glaube, dass dieser Besuch noch eine Reihe unangenehmer Überraschungen nach sich ziehen wird.« »Das glaube ich nicht. Dieses Mal bist wohl du der Pessimist«, erwiderte sie und lächelte. »Du wirst ein reicher Mann sein und in ein paar Wochen wirst du schon nicht mehr an diesen Vorfall denken. Und wahrscheinlich wird spätestens in einem Monat der gute Inspektor Murray sehr freundlich zu dir sein, weil er sich deine Sympathie nicht verscherzen will.« »Du bist wirklich ein Goldstück«, sagte er. Er beugte sich vor und küsste seine Lebensgefährtin auf ihre Lippen. Sie erwiderte seinen Kuss sanft und doch voller Hingabe. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie leise: »Weißt du, ich glaube, dass deine Tante eines natürlichen Todes gestorben ist, trotz aller Ungereimtheiten. Und ich glaube, dass sie geahnt hat, dass sie sterben muss. In ihrem Alter muss man einfach damit rechnen. Und dann hat sie ihr Testament geändert, weil sie bereute, ein derart gottloses Leben geführt zu haben. Sie wollte wiedergutmachen, Neal.« Er schüttelte den Kopf, nachdenklich und skeptisch. »Das hört sich mächtig gut an, Jean, aber du kanntest Tante Amanda nicht. Sie war hart, ein Mensch ohne Gefühl, ohne Herz. Sie konnte nicht bereuen. Es war ein Teil ihres Wesens, hart und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Nein, nein, es muss tatsächlich mehr hinter dem kurzfristig geänderten Testament stecken. Aber was? Wer könnte einen Grund haben, mich als Erben des riesigen Vermögens meiner Tante einzusetzen?« Sie musterte ihn aus ihren dunklen Augen. »Neal«, flüsterte sie dann unvermittelt, »ich habe Angst.« Er strich ihr mit einer sanften Geste über ihr zerzaustes schwarzes Haar. »Es wird sich wahrscheinlich ziemlich bald herausstellen, ob diese Angst begründet ist, Jean. Ja, ich glaube, dass wir bald erfahren 16
werden, was das für ein Spiel ist, in das wir - ohne unser Dazutun hineingeschlittert sind.« Er ahnte nicht, wie Recht er hatte. * Der Mann starrte in die helle aufflackernde Flamme der schwarzen Kerze. Gleichzeitig mit dem Aufflackern der Flamme bemerkte er die Präsenz der Wesenheit. Das Gesicht des Mannes verhärtete sich, spannte sich an und verriet die ungeheure Konzentration, die er aufwenden musste, um ruhig und beherrscht zu bleiben. Langsam hob der Mann seinen Blick, starrte in die Dunkelheit, die außerhalb des kleinen Lichtkreises war. Er sah nichts und doch spürte er die Anwesenheit seines treuen Dieners. Hastig murmelte er die magische Formel, die es ihm ermöglichte, Gewalt über den Diener zu erlangen. Gleichzeitig schien es in dem Raum kälter zu werden. Das unerklärlich Fremde, Nichtirdische des Dieners bewirkte dies. »Ich bin wiedergekehrt, Herr«, erklang die Stimme des Geistwesens. »Ich habe deinen Auftrag zu deiner Zufriedenheit erfüllt. Amanda Willock weilt nicht mehr auf der diesseitigen Welt.« Der Mann nickte und hob seine Hände in einer beschwörenden Geste über die Flamme der schwarzen Kerze. »Ich bin zufrieden mit dir, Ghulgor. Aber ich war in Sorge. Weshalb kehrst du erst jetzt wieder? Ich habe dich viel früher erwartet. Antworte mir, Diener!« »Meine Kräfte, Herr. Sie konnten sich noch nicht vollkommen stabilisieren. Die Existenz in der diesseitigen Welt zehrt an meinen Kräften und neutralisiert sie teilweise sogar, Herr. Ich kann dies nicht verhindern. Es schwächt mich.« »Gut. Ich will dir glauben, Ghulgor. Enttäusche mein Vertrauen nicht. Es wäre dein Untergang, mich hintergehen zu wollen.« Der Diener lachte schallend. »Dein Vertrauen in mich wird nicht enttäuscht werden, Herr. Ich bin dein Wesen, ich bin dein dankbarer Diener.« 17
»Du wirst es nicht bereuen, Ghulgor. Ich verspreche es dir. Wir werden sehr viel erreichen, wenn wir gemeinsam kämpfen, du für die Sache der Jenseitigen und ich - ich für meine Sache!« Der Mann, der das Geistwesen aus seinem totenähnlichen Schlaf erweckt und beschworen hatte, lächelte schmal. Seine unergründlichen, mitleidlosen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Zieh dich nun zurück, Ghulgor«, befahl er dann. »Sammel alle deine Kräfte, denn schon bald werden wir sie brauchen!« »Ich höre und gehorche, Herr«, erwiderte das körperlose Wesen. Der Mann atmete erleichtert auf und ließ seine Hände niedersinken. Er lauschte in die Dunkelheit des Raumes, den er tief unter seinem Haus eingerichtet hatte. Nach einer Weile nickte er. Ghulgor hatte sich - wie befohlen - in die jenseitige Sphäre zurückgezogen, Die Temperatur im Raum stieg merklich an. Der Mann konzentrierte sich auf eine Bannformel, die bewirkte, dass Ghulgor nicht auf der diesseitigen Welt rematerialisieren konnte. Er war sehr vorsichtig, denn er wusste, dass er mit dem Tod spielte. Er hatte es von Anfang an gewusst, seit jenem Tag vor fünf Jahren, da er von einem geschäftstüchtigen Antiquitätenhändler das Buch mit den magischen Beschwörungen untoter Geister erstanden hatte. Und jetzt, nach jahrelangem Studium dieses Buches, war es ihm gelungen, die Beschwörungen zu entschlüsseln, zu verstehen und anzuwenden. Und er hatte nicht gezögert, seinen furchtbaren Plan zu realisieren. Diesen Plan, den er schon so lange in sich trug. Mit einer brutalen Bewegung drückte er die Flamme der schwarzen Kerze aus, erhob sich und schritt durch die Dunkelheit zur Tür. * Fauchend öffnete sich die Lifttür. Neal Hamilton und Jean Moissant traten in den Flur der vierten Etage. Hier hatte der Rechtsanwalt Amanda Willrocks, Dr. Lambert, sein Büro. Gedämpft war der Lärm der Charing Cross Road zu hören. Der Piccadilly war ganz in der Nähe und das machte sich nun einmal per Verkehrslärm bemerkbar. 18
Wie Inspektor Murray vorausgesagt hatte, hatte noch am selben Tag Dr. Lambert angerufen und ihn, Neal, über den plötzlichen Tod seiner Tante informiert. Dr. Lambert hatte ihm einen Termin vorgeschlagen, damit die Hinterlassenschaft geregelt werden konnte. Das war vor einer Woche gewesen. Jetzt waren sie hier und Neal war schon mächtig neugierig, Dr. Lambert kennen zu lernen. Am Telefon hatte der Mann einen sympathischen Eindruck gemacht. Jedenfalls schien er nichts von unnötiger Bürokratie zu halten und das allein war bereits ein Pluspunkt. Neal strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und räusperte sich. Aber damit konnte er seine Unsicherheit nicht verjagen. Sie steckte tief in ihm, war jederzeit präsent. Und nicht nur die Unruhe. Da war auch noch etwas anderes... Etwas, das er noch nicht hatte analysieren können. Er hatte schlecht geschlafen während der vergangenen sieben Tage. Oft war er mitten in der Nacht aufgewacht, schweißgebadet. Er hatte gefroren und er hatte seltsame, flüsternde Stimmen gehört, ohne verstehen zu können, was sie sagten. Es war unheimlich gewesen und hatte ganz schön an seinen sonst guten Nerven gezerrt. Er hatte mit Jean über diese Geschehnisse gesprochen und sie hatte versucht, wach zu bleiben. Doch es war ihr nicht gelungen. So war er mit seinen Gedanken allein gewesen. Die Sekretärin Dr. Lamberts kam ihnen entgegen, ein hübsches junges Mädchen mit feuerrotem ungebändigtem Haar. Jean gab Neal einen unsanften Hieb gegen das Schienbein, als sie seinen Blick bemerkte. Er sah sie an. »Du gönnst mir aber auch überhaupt keine Entspannung. Da bin ich schon derart, mitgenommen durch diese verflixten Alpträume und du...« »Du kannst dich bei mir entspannen, Liebling«, versetzte sie honigsüß. »Oder ist dies zuviel verlangt? Ich meine, wenn du meiner überdrüssig bist, dann brauchst du es mir nur zu sagen, Liebling. Ich werde dann natürlich meine Konsequenzen ziehen. Es gibt hier in London genügend nette Männer... Männer, die mit der Emanzipation nicht so auf dem Kriegsfuß stehen wie du und die außerdem...« 19
»Schon gut, Jean«, unterbrach er sie hastig. »Wenn du derart eifersüchtig über meine Tugend wachst, dann kann ich ja gar nicht anders als brav sein.« »Ich eifersüchtig?«, explodierte Jean und starrte Neal entgeistert an. »Sie sind Mr. Hamilton«, sagte in diesem Augenblick die Sekretärin Dr. Lamberts freundlich und blickte ihn aus grün schillernden Augen freundlich an. »Ja, der bin ich. Und das ist meine reizende Gefährtin Jean Moissant«, fügte er hinzu. »Wir sind angemeldet.« »Dr. Lambert erwartet Sie bereits«, erklärte die Sekretärin. Jean warf Neal einen bitterbösen Blick zu. Die Diskussion war also noch nicht beendet. Es würde eine Fortsetzung geben. Neal grinste innerlich. Er liebte Jean, gerade, weil sie so explosiv war. Explosiv und doch anschmiegsam korrigierte er. Sie folgten der Sekretärin in das Büro des Rechtsanwalts. »Ah, da sind Sie ja«, empfing Dr. Lambert sie und erhob sich. Wieselflink kam er hinter einem großen Schreibtisch, auf dem eine ganze Menge Akten, Notizen und Gesetzestexte lagen, hervor. Er drückte Jean und Neal die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Unauffällig musterte Neal den Anwalt. Dr. Lambert war ein gut aussehender Mann, der fast so sympathisch wirkte, wie seine Stimme am Telefon. Er war groß, schlank und doch muskulös. Man sah ihm an, dass er regelmäßig Sport trieb, um fit zu bleiben. Sein Haar war kurz geschnitten, die Augen hinter einer schmucklosen silbernen Brille hellblau und durchdringend. Dr. Lambert setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und schlug eine Akte auf. Neal bemerkte erst in diesem Augenblick die überlangen feingliedrigen Finger des Mannes, die überhaupt nicht zu seiner Erscheinung passen wollten. »Beginnen wir also«, sagte Dr. Lambert und lächelte gewinnend. »Sicherlich werden Sie schon ziemlich darauf gespannt sein, welche Überraschungen dieses Testament für Sie bereithält. Und ich kann Ihnen versichern, dass es einige Überraschungen geben wird. Fürwahr, Mrs. Willock war eine sehr eigenwillige Frau.« 20
»Das war sie«, versetzte Neal trocken. Der Anwalt nickte und rückte seine Brille zurecht. Dann begann er zu lesen. Die üblichen einleitenden Worte und Verfügungen sowie die Versicherung, dass die Unterzeichnete Amanda Willock im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte gewesen sei, als sie dieses Testament verfasst habe. An dieser Stelle angekommen, stutzte Dr. Lambert. Er überflog die folgenden Zeilen stumm, dann schüttelte er den Kopf und musterte Neal Hamilton. »Seltsam«, bemerkte er. »Was ist seltsam, Dr. Lambert?« Neals Nerven vibrierten plötzlich. Er ahnte, dass nun irgendetwas kam, das ihm ganz und gar nicht gefallen würde. »Ich werde es Ihnen vorlesen«, sagte der Anwalt. Er räusperte sich und las weiter: »Als alleinigen Erben meines weiter unten näher definierten Gesamtvermögens setze ich meinen Neffen Neal Hamilton ein. Jedoch verknüpfe ich hiermit folgende Bedingung: Neal Hamilton ist erst erbberechtigt, nachdem er einen vollen Monat in meinem Haus auf Revenge Island verbracht hat. Diese meine Bedingung ist absolut. Wird sie von meinem Herrn Neffen nicht erfüllt, oder lehnt er es ab, sie zu erfüllen, so fällt mein gesamtes weiter unten definiertes Vermögen an die in der Anlage dieses Schreibens genannten Personen und Vereinigungen. Aber ich vermute, dass Neal diesen meinen letzten Willen zu meiner Zufriedenheit zu erfüllen versucht. Und sollte es ihm tatsächlich gelingen, einen vollen Monat in meinem Haus auf Revenge Island zu verbringen, so soll er in den Genuss meines Reichtums kommen.« Dr. Lambert lehnte sich, nachdem er dies vorgelesen hatte, in seinem Sessel zurück und musterte Neal. »Ich muss Sie jetzt fragen, Mr. Hamilton, ob Sie bereit sind, dieses Erbe anzutreten.« Neal antwortete nicht sofort. Er fischte sich ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie umständlich an. Nachdem er einen tiefen Zug des blauen Dunstes inhaliert hatte, schüttelte er den Kopf. »Ich brauche ein paar Tage, um mir das alles zu überlegen, Mr. Lambert. Verstehen Sie mich recht, wenn ich dieses Erbe antrete, dann will ich es nicht wegen des Geldes tun. Ich bin nicht so unheimlich reich, wie meine Tante es war, aber ich verdiene mit meinem Job ziemlich gut. Ich bin nicht sehr an21
spruchsvoll. Und an dem Geld meiner Tante... Nun, ich weiß, wie sie ihr Geld verdient hat«, schwächte er ab. »Sie sind Fotograf?«m fragte Dr. Lambert nach einem Blick in Neals Personalien, die er bereits telefonisch durchgegeben hatte. Neal nickte. Jean brachte sich in Erinnerung. »Revenge Island«, murmelte sie gedankenvoll. »Die Insel der Rache. Wenn das nichts zu bedeuten hat...« »Wie gesagt, meine Tante mochte mich nicht. Und jetzt dieses seltsame Testament...« Neal drückte die Zigarette in einem Kristallaschenbecher aus. »Habe ich die Bedenkzeit, Mr. Lambert?« Der Rechtsanwalt nickte. »Natürlich. Aber ich möchte Sie bitten, die Angelegenheit möglichst rasch zu entscheiden. Immerhin geht es um ein beträchtliches Vermögen. Bargeld, Aktien, Immobilien und Schmuck. Und wenn Sie es ablehnen, die Bedingungen Ihrer Tante zu erfüllen, fällt dieses Vermögen an die auf der Anlage genannten Personen und Vereinigungen. Und eine möglichst schnelle Abwicklung ist natürlich in deren Interesse.« »Okay, Mr. Lambert. Ich werde Sie in drei Tagen anrufen und Ihnen meine Entscheidung mitteilen. Einverstanden?« Der Anwalt nickte. »Einverstanden.« * Die folgenden beiden Nächte waren die Hölle. Neals Stimmung lag weit unter dem Nullpunkt. Seit zwei Tagen hatte er nicht mehr schlafen können. Er lag wach, flüsternde Stimmen und sich bewegende Schatten um sich. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, waren rotgerändert und brannten. Verdammt, das seltsame Testament seiner Tante Amanda wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Deshalb lag er jede Nacht wach. Deshalb konnte er nicht mehr schlafen. Und natürlich wegen dieser flüsternden Stimmen... Etwas warnte ihn, dieses Testament zu akzeptieren. Aber gleichzeitig war da diese andere, mächtigere Stimme, die ihn förmlich drängte, zu akzeptieren. Nacht für Nacht hämmerte diese Stimme in seinen 22
Gedanken. Wachtraum oder Wirklichkeit? Neal wusste es nicht. Und Jean, die von alldem nichts bemerkte, sosehr sie sich auch bemühte, sah ihn hin und wieder schon nachdenklich an. Neal erhob sich und ging durch die Dunkelheit zum Fenster. Er schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Fern am Horizont graute der Morgen. Erste Lichtstrahlen tasteten über die Dächer der City. Leichter Nebel wogte über die Straßen. Die meisten Lichter der Großstadt London waren erloschen. Heute fiel die Entscheidung. Neal rieb sich über sein unrasiertes Kinn. Ein kratzendes Geräusch entstand. Er wandte sich vom Fenster ab und ging zurück zum Bett. Jean rekelte sich unruhig in den Kissen und sie bot - nicht nur weil sie völlig nackt zu schlafen pflegte - einen bezaubernden Anblick. Gleichzeitig zuckte er zusammen wie unter einem harten Faustschlag. Da war sie wieder - diese Stimme! Eindringlich und doch seltsam schmeichelnd erklangen die Worte. »Du musst den letzten Willen deiner Tante erfüllen... Du musst! Du gehörst zu Revenge Island. Dort wirst du die Erfüllung deines Lebens finden. Du wirst dort sehr glücklich sein. Neal Hamilton... Glücklich... Glücklich... Neals Kopf dröhnte. Bilder tanzten vor seinen weit aufgerissenen Augen. Jeans Körper verschwamm, verzerrte sich, die Konturen zogen sich wie im Zerrspiegel auseinander. »Nein!«, schrie Neal gell. »Nein!« Jean fuhr hoch, erschrocken und verwirrt. Verständnislos blickte sie ihn an. »Was ist denn? Wieder deine Alpträume?« Neal nickte, während er sich zur Konzentration zwang. Langsam konnte er wieder normal sehen. Aber die Stimme war nach wie vor in ihm. »Akzeptiere die Bedingung deiner Tante, Neal Hamilton... Akzeptiere... Komm nach Revenge Island!« »Hörst du sie auch, diese verdammte Stimme?«, fragte er heiser. Jean schüttelte den Kopf. »Sony, Liebling. Aber - ich kann nichts hören... Ich kann wirklich nichts hören.« »Aber du musst sie doch hören!« Neal presste beide Hände gegen seine Ohren. Jean kam zu ihm und legte ihre Arme um seinen Hals. »Neal, vielleicht bildest du dir das alles nur ein?«, flüsterte sie sanft. »Es - es könnte doch möglich sein, nicht wahr?« 23
Neal antwortete nicht gleich. Verwirrt registrierte er, dass die Stimme in seinem Kopf verstummt war. Die Schmerzen verebbten so plötzlich, wie sie gekommen waren. Bildete er sich wirklich alles nur ein? Nein!, entschied er. Und das sagte er auch Jean. »Ich weiß, dass ich diese Stimme höre, Jean. Ich bin nicht übergeschnappt, wenn du das meinst! Verdammt, du musst mir glauben.« Sie nickte. »Du wirst das Testament akzeptieren?«, erkundigte sie sich übergangslos. Neal zögerte nur kurz. »Ja, ich glaube, dass ich es akzeptieren werde, inklusive dieser geheimnisvollen, unverständlichen Bedingung. Vielleicht komme ich dann auf eine brauchbare Spur.« »Von was für einer Spur sprichst du?« Er lachte bitter. »Von der Spur des Wesens, dem es möglich ist, mit mir zu sprechen, ohne dass du es hörst.« »Na, das hört sich aber ziemlich komisch an«, versetzte Jean und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Lass das nur ja nicht deinen speziellen Freund, den Inspektor Murray, hören. Sonst nimmt er dich als gefährlichen Irren sofort in polizeilichen Gewahrsam.« »Meinst du?«, fragte er halbherzig. »Natürlich meine ich das«, antwortete sie todernst. Dann allerdings musste sie lächeln. * Neal Hamilton hatte seinen Entschluss gefasst und jetzt fühlte er sich bedeutend besser. Er war ein Mann der Tat und als solcher hasste er nichts mehr, als herumzusitzen und auf ein oder mehrere Wunder zu warten. Es machte ihn krank. Deshalb hatte er auch einen Beruf gewählt, der ihn stets auf Trab hielt. Kurz nach acht Uhr rief er Dr. Lambert an. »Morning, Mr. Lambert«, meldete er sich knapp, als auf der anderen Seite der Anwalt abnahm. 24
»Ah, Mr. Hamilton, ich habe Ihren Anruf nicht so früh erwartet. Aber je früher, desto besser. Nun, wie haben Sie sich entschieden?« Deutlich war die Spannung in der Stimme des Rechtsanwalts zu hören und Neal fragte sich insgeheim, warum sich Dr. Lambert derart engagierte. »Ich werde das Erbe meiner Tante antreten«, erklärte Neal ernst. »Ich werde mich auf Revenge Island begeben, in das Haus meiner Tante und dort werde ich einen vollen Monat leben. Okay, Mr. Lambert?« »Natürlich«, beeilte sich der sympathische Rechtsanwalt zu sagen. »Ich werde also einen entsprechenden Vermerk in den Akten anbringen lassen. Äh - wann werden Sie nach Revenge Island aufbrechen? Ich frage lediglich der Ordnung halber, da ich Sie begleiten muss, als Zeuge, sozusagen.« Neal überlegte nur kurz. »Ich werde so bald wie möglich aufbrechen. Morgen früh, denke ich.« Dr. Lambert antwortete nicht gleich, er schien etwas zu notieren. »Also gut, Mr. Hamilton. Dann schlage ich vor, dass wir uns morgen früh, sechs Uhr, bei den Docks von Newhaven treffen.« »Gut, Mr. Lambert«, willigte Neal ein. »Noch etwas. Sie brauchen sich weder um Verpflegung noch um andere Nebensächlichkeiten kümmern. Es wird für alles gesorgt sein auf Revenge Island. Das Haus Ihrer Tante wird von einem sehr tüchtigen Hausmeisterehepaar verwaltet, das noch heute von mir über unsere Ankunft informiert wird.« »Prima«, kommentierte Neal. »Sonst noch etwas, Mr. Lambert?« »Das wäre alles, vorläufig. Alles Weitere können wir auf dem Weg zur Insel besprechen. Bis morgen, Mr. Hamilton.« »Bis morgen«, erwiderte Neal und legte auf. Ein paar Minuten wartete er und starrte das Telefon an, dann wählte er eine andere Nummer. Es war die Nummer von Eddy Hopper. Es dauerte eine ganze Weile, bis abgenommen wurde. Es meldete sich eine ziemlich griesgrämige Stimme. »Hier ist das Paradies, wer begehrt um diese nachtschlafende Zeit Einlass?« 25
Neal dachte: Na warte! Laut sagte er mit verstellter Stimme: »Guten Morgen, Sir. Ich habe die große Ehre, Ihnen im Namen unserer Gesellschaft gratulieren zu dürfen. Sie haben in unserem Preisausschreiben 10.000 Pfund gewonnen.« Sekundenlang war es still. Dann kam Eddys Stimme wieder: »Würden Sie das bitte wiederholen, Mister?« »Werde ich nicht, du Hochstapler«, versetzte Neal. »Ach, du bist es nur!« Eddy Hopper fluchte grimmig. »Und ich habe doch tatsächlich geglaubt, dass dieser Anruf echt ist. Was bin ich für ein unverbesserlicher Narr. Ich werde nie wieder um diese Zeit den Hörer abnehmen.« Er räusperte sich. Und dann fragte er, wesentlich ruhiger: »Was willst du denn von mir, he?« Neal grinste. »Ich will dich einladen«, erwiderte er ruhig. »Einladen?« »Du hast richtig gehört, alter Kampfgefährte«, bestätigte ihm Neal. »Ich habe geerbt.« »Du nimmst, mich doch schon wieder auf den Arm!«, explodierte Eddy. »Aber das kannst du mit mir nicht machen, hörst du! Ich werde...« »Nun komm zurück auf den Teppich, Mann«, unterbrach ihn Neal sanft. »Ich meine es ernst. Ich habe meine gute Tante Amanda beerbt. Das heißt, ich werde sie beerben, wenn ich zuvor eine Bedingung erfülle.« »Und was ist das für eine Bedingung?«, erkundigte sich Eddy mit lauernder Stimme. »Ich soll einen Monat lang in ihrem Haus auf Revenge Island wohnen, das ist alles. Und damit dieser eine Monat nicht zu langweilig wird, habe ich beschlossen, ein paar liebe Freunde...« »... und Freundinnen doch hoffentlich auch?«, fiel ihm Eddy merklich nervös ins Wort. Inzwischen schien er Neal tatsachlich zu glauben. Oder er war inzwischen vollends wach geworden und hatte sich seiner Freundin Germaine Stoerenson erinnert. »Freundinnen auch, ja«, erwiderte Neal und lachte. »Also, Freund, bist du dabei?« 26
Eddy war immer noch skeptisch. »Du meinst also, dass wir auf dieser komischen Insel nichts weiter tun müssen, als - als herumsitzen und nichts tun?« »Genauso ist es. Wir werden einen Monat lang Robinson spielen, es uns gut gehen lassen und die Sonne genießen. Für Verpflegung, Getränke und alles andere ist - wenn ich dem Rechtsanwalt meiner Tante glauben darf, bestens gesorgt. Und für unser leibliches Wohl wird ein nettes Hausmeisterehepaar sorgen.« »Okay, Mann, wenn das so ist, dann bin ich natürlich dabei. Wann starten wir denn zu dieser Robinson-Insel?« »Morgen früh. Ich werde dich und deine Germaine abholen, okay?« »Du hast es aber mächtig eilig, Freund«, entgegnete Eddy und lachte. »Gibt es denn so viel zu erben? - Na, das kannst du mir ja dann morgen beantworten. Wir werden also auf dich warten. Jean kommt doch auch mit, oder?« »Klar«, erwiderte Neal. »Und Clay und Anika und Joseph auch.« »Na prima. Dann werden wir also eine ziemlich lustige Gesellschaft sein. Verspricht, nett zu werden.« »Ja«, antwortete Neal und versuchte, seine Stimme überzeugend klingen zu lassen, was ihm einigermaßen schwer fiel. Er musste plötzlich daran denken, ob es richtig war, dass er seine Freunde einlud. Brachte er sie nicht in eine tödliche Gefahr? Aber er verdrängte diesen Gedanken, verabschiedete sich von Eddy und legte auf. Dann wählte er die Nummer von Clay Stevens. * Joseph Greenbury fror. Die Temperatur in seinem Zimmer schien merklich zu sinken. Verrückt, dachte er, das gibt es doch nicht. Immerhin war draußen strahlender Sonnenschein. Joseph erhob sich und sah sich um. Da war plötzlich so ein seltsames Fluidum im Raum. Eine Gänsehaut rann prickelnd über seinen Rücken. Gefahr!, signalisierte sein Instinkt. Aber Joseph achtete nicht 27
darauf. Er war allein in seinem Zimmer. Außerdem: Wer sollte ihm gefährlich werden? Diese Frage war durchaus berechtigt. Joseph Greenbury war nämlich das, was man allgemein einen Muskelmann nannte. Er war einsneunzig groß, hatte breite Schultern und schmale Hüften. Er sah trotz seiner Größe ein bisschen behäbig aus, aber dieser Eindruck täuschte. Joseph hatte ein gut geschnittenes, markantes Gesicht und bisher hatte er noch nie Schwierigkeiten gehabt, eine Frau zu erobern. Er war nicht nur stark, sondern, was schließlich weitaus wichtiger ist, äußerst intelligent. Sein Hobby war die Parapsychologie und dieses Hobby nahm Joseph ziemlich ernst. »Du wirst sterben, Joseph Greenbury!«, ertönte plötzlich eine dumpfe Stimme, scheinbar aus dem Nichts heraus. Joseph zuckte zusammen, wie von einem Blitzschlag getroffen. Er wirbelte herum, sein Gesicht verzerrte sich. Plötzlich wusste er, dass er besser auf die Warnung seines Instinktes gehört hätte. Geisterhaftes Lachen gellte auf. Da handelte Joseph. Er hetzte zur Tür, riss sie auf und schnellte sich über die Schwelle. Gewandt kam er wieder auf die Füße und rannte weiter zur Wohnungstür. Wenn er es schaffte, diese Wohnung zu verlassen, vielleicht blieb ihm dann noch eine Chance... Aber das Lachen verfolgte ihn, holte ihn ein. Plötzlich fühlte Joseph Greenbury sich ergriffen. Aber da war kein sichtbarer Gegner, nichts! Dennoch spürte Joseph den Zugriff von spitz zulaufenden Klauen ganz deutlich - zu deutlich! Joseph spürte, wie sein Mund trocken wurde. Ein teuflisches Würgen war plötzlich in seiner Kehle. Eine unsichtbare Kraft dirigierte ihn zum Fenster. »Nein, nicht!«, schrie Joseph und schlug um sich, wie von Sinnen. Er ahnte bereits, was in wenigen Sekunden mit ihm geschehen sollte. Der Unsichtbare würde ihn aus dem Fenster stoßen. Aber warum? Warum?, schrie alles in ihm. Er konnte sich keine Antwort auf diese rhetorische Frage geben. Aber wenn er schon sterben musste, dann wollte er sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Trotz erwachte in Joseph Greenbury. Er 28
biss seine Zähne aufeinander und er spürte, wie sein nüchterner Verstand wieder zu arbeiten begann. Nur ruhig Blut, Junge, sagte er sich. Vielleicht ist doch noch nichts alles verloren. Das Fenster öffnete sich... Ungehemmt brach der Lärm der Großstadt in den Raum. Noch zwei Schritte... Noch ein Schritt... Joseph schloss die Augen. Er musste sich konzentrieren. Sein Gegner war nicht von dieser Welt, das stand fest. Also musste er ihn mit jenen Waffen bekämpfen die bestimmt waren für Gegner aus dem Jenseits. Krampfhaft versuchte er, sich an die Bannformel zu erinnern, die er erst vor wenigen Tagen studiert hatte. Joseph Greenbury wurde hochgehoben. Leicht, wie eine Feder, schwebte er auf das geöffnete Fenster zu. Ein leichter Windstoß bauschte den Vorhang auf, traf sein erhitztes Gesicht. »Bharta cum cera cathora Kam!«, schrie Joseph Greenbury. Seine Stimme war hart, völlig emotionslos, die Augen hielt er nach wie vor geschlossen. Er wusste, dass er über dem Fensterbrett schwebte, dass vor ihm der Abgrund war. Acht Stockwerke tiefer pulsierte der hektische Londoner Verkehr. Ein tierischer Aufschrei antwortete ihm auf seine beschwörenden Worte. »Ah, du willst mich bekämpfen, Sterblicher! Du wagst es tatsächlich!«, gellte es in Joseph Greenburys Ohren. Gleichzeitig aber registrierte er, dass der Zugriff um seine Brust schwächer geworden war. Joseph merkte, wie sein Herz rasend schnell gegen seine Brust hämmerte. Einen kleinen Erfolg hatte er bereits erringen können! »Bharta cum cera cathora Kam!«, murmelte er noch einmal. Der Zugriff verschwand völlig. Mit einem heiseren Aufstöhnen stieß Joseph sich vom Fensterbrett ab, fiel zurück in die relative Sicherheit seines Zimmers. Er kam hart auf, aber das war ihm gleichgültig. Er öffnete seine Augen, sah sich um. Hatte er den unheimlichen Unsichtbaren verjagen können? Oder lauerte er irgendwo in diesem, Zimmer auf seine Chance? Seine Nerven vibrierten. Langsam ging Joseph durch seine Wohnung. Nichts geschah. War er wirklich gerettet? Er konnte es nicht 29
glauben. Zögernd nur hörte das Flattern seiner Nerven auf. Er atmete aus. Dann überlegte er sich seine nächsten Schritte. Was sollte er jetzt unternehmen? Professor Haggart anrufen, seinen väterlichen Freund und Hobbykollegen? Eine Sekunde lang zögerte Joseph, aber dann ging er zum Telefon. Die Erkenntnis, dass eine jenseitige Wesenheit versucht hatte, ihn im Auftrag eines diesseitigen Herrn zu ermorden, traf ihn erst jetzt mit verheerender Wucht. Schweiß perlte auf seiner Stirn und er wischte ihn nicht weg. Joseph Greenburys Hand lag auf dem Hörer des Telefons, aber er fand keine Kraft, abzuheben. Warum wollte mich diese Wesenheit töten?, fragte er sich. Und:
Wer ist der Herr dieses Monstrums? Warum hetzt er seinen Sklaven ausgerechnet auf mich? Warum?
Joseph schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich ab. Er wollte in seine kleine Bibliothek gehen, die ihm gleichzeitig auch als Studierzimmer diente. Er wollte sich die Formel heraussuchen, die er vorhin so erfolgreich gegen den Unsichtbaren angewandt hatte. Vielleicht gelang es ihm, anhand dieser Formel herauszufinden, wer dieser unheimliche Gegner gewesen war. Plötzlich wurde es völlig dunkel in seiner Wohnung. Joseph schrie auf. Wie erstarrt stand er in dieser absoluten Dunkelheit. Leises, röchelndes Atmen war zu hören. Hinter ihm! Joseph warf sich herum. Nichts! Er hatte den Unheimlichen also nicht verjagen können! Gewaltig dröhnte diese Erkenntnis in seinem Schädel. Der Kampf war noch nicht vorüber... »Ich werde dich vernichten, Joseph Greenbury«, grollte in diesem Augenblick die Stimme des Geistwesens auf, von überallher schien sie zu kommen, so dass Joseph nicht lokalisieren konnte, wo sich der Unheimliche tatsächlich aufhielt. »Du bist schwach«, erwiderte er, mühsam beherrscht. »Ich weiß, dass du mich nicht töten willst! Du handelst im Auftrag eines Herren! Jemand hat dich beschworen! Warum, Unsichtbarer, warum?« »Du weißt viel, Sterblicher«, erwiderte die Stimme und so etwas wie Respekt schwang darin. »Aber ich werde dir nicht antworten! Du musst sterben und...« 30
»Weil dein Herr es so will! Aber warum will er es?« »Du bist gefährlich. Du bist mächtig! Aber ich werde dich vernichten, obwohl du mächtig bist. Ich bin mächtiger...« »Soll ich deshalb sterben - weil ich gefährlich bin?« Joseph gab nicht auf. Als er keine Antwort erhielt, murmelte er wieder die Formel: »Bharta cum cera cathora Ram!« Keine Reaktion. Langsam wich er zurück, in die Richtung, in der seine Bibliothek lag. Dort bewahrte er auch das geweihte Kruzifix und andere magische Hilfsmittel auf. Ein muffiger, widerlicher Geruch breitete sich in der Dunkelheit, die wie ein schwarzes Leichentuch um ihn war, aus. Joseph tastete sich mit ausgestreckten Händen voran. Doch er schien nicht vom Fleck zu kommen. Er erreichte keine Wand. Das angstvolle Hämmern seines Herzens nahm zu. Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er sich vorstellte, dass ihn sein Gegner in die jenseitige Sphäre mitgenommen haben könnte. In jene Region, in der er die absolute Macht innehatte... Nein, nein, das durfte nicht sein! Joseph Greenbury wurde der Atem knapp, seine Brust schien eingeengt zu werden. Grelle Blitze zuckten vor seinen Augen. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Joseph atmete auf. Ein seufzendes Stöhnen brach von seinen Lippen. Er warf sich herum, hetzte in die Richtung, in der das Klingelzeichen ertönte. Seine zitternden Finger umkrampften das Telefon, wollten den Hörer von der Gabel reißen. Aber im gleichen Moment legte sich die tonnenschwere Last auf ihn. Er wandte mit letzter Kraft seinen Kopf und - starrte in ein blutrotes Augenpaar. Immer noch klingelte das Telefon. Joseph schaffte es, den Hörer abzuheben, aber dieser Zugriff um seine Brust. Er wurde vernichtender... »Bharta cum cera...«, flüsterte Joseph Greenbury mit letzter Kraft. Aber dieses Mal war es vergeblich, wirkungslos. Sein Gegner ließ sich nicht mehr beirren. Er führte den Auftrag seines Herrn aus... Joseph Greenbury kippte vornüber. Sein Bewusstsein registrierte noch einen kurzen Schmerz, aber eigentlich war dieser Schmerz im gleichen Augenblick schon wieder völlig bedeutungslos. Er stürzte in 31
einen roten Schacht, der sich spiralförmig verjüngte und in dem kein Schmerz mehr existieren konnte. * Neal Hamilton starrte mit brennenden Augen hinüber zu der Insel, der seine Tante den seltsamen Namen Revenge Island gegeben hatte. Jean, die neben ihm saß, schwieg ebenso wie die anderen Anwesenden. Die Insel war lang und flach. Am Nordufer gab es den Steinstrand, der jedoch nur bei Ebbe in seiner ganzen Fläche sichtbar war. Steil aufragende Klippen, die von wild schäumenden Wellen angegriffen wurden und dann, am Südufer, der Wald. Die Insel war nicht besonders groß, aber doch groß genug, um dort eine Weile leben zu können. Rechtsanwalt Dr. Lampert räusperte sich und brach so das Schweigen der jungen Leute. »Das Haus Ihrer Tante, Mr. Hamilton, wird jetzt gleich zu sehen sein, wenn wir diese Landzunge umfahren. Es ist ein großes und schönes Haus.« Dr. Lambert lächelte schmal. Er saß im Heck des schnellen und wendigen Motorbootes, das sie im Hafen von Newhaven gemietet hatten und lenkte. Die See war ruhig, beinahe unbewegt, so, als harre sie der Geschehnisse, die sich bereits düster am Horizont abzeichneten. Es war warm. Der salzige Geruch des Meerwassers war so noch deutlicher zu schmecken. »Sie waren schon einmal auf dieser Insel?«, fragte Neal den Rechtsanwalt. Er wandte sein Gesicht und blickte dem muskulösen Mann in die Augen. Dr. Lambert nickte. »Ihre Tante war so freundlich, mich einmal hierher einzuladen. Es war ein Erlebnis für mich. Ich bin ein Stadtmensch, müssen Sie wissen. Und hier in nahezu unberührter Natur zu leben, eine Woche lang zwar nur, aber immerhin... Es war wirklich phantastisch. Diese Insel ist fast wie ein kleines Paradies.« 32
Neal strich eine Strähne seines blonden Haares zurück. Er erwiderte nichts auf die schwärmerischen Worte des Rechtsanwaltes. Jean zeigte hinüber zur Insel. »Da - da ist das Haus... Ein richtiges kleines Geisterschloss«, setzte sie hinzu. Auch Neal blickte wieder hinüber. Er fand, dass Jean gar nicht so Unrecht hatte mit ihrer Bemerkung. Pechschwarz und schroff erhoben sich die Konturen des kastenförmig gebauten, zweistöckigen Hauses in den blauen Himmel. Es gab eine Veranda, einen mächtigen Kamin, der an der äußeren Seitenwand des Hauses in die Höhe strebte und, mehr auf der Rückseite des Hauses, einige Türmchen. »Deine Tante hatte einen ziemlich merkwürdigen Geschmack«, kommentierte Clay Stevens mürrisch. Er war eigentlich immer mürrisch, das war einfach der dominierende Teil seiner Persönlichkeit. Aber er war trotzdem ein feiner Kerl und guter Freund. Clay war mittelgroß, er trug sein dunkelbraunes Haar mittellang. Sein Gesicht war schmal, ein bisschen kantig, die Augen lagen tief in den Höhlen und passten so gut zu seinem mürrischen Wesen. Neal pflichtete dem Freund bei. »Sie hatte einen ziemlich merkwürdigen Geschmack, ja.« Er lächelte bitter. »Jedenfalls wird es uns hier nicht langweilig werden«, rief Germaine übermütig. »Die Insel ist toll und ich bin sicher, dass wir eine Menge Spaß haben werden in diesem Monat. Neal, du bist ein Schatz, dass du an uns gedacht und uns eingeladen hast, dein Robinsondasein zu versüßen.« Gutgelaunt umarmte sie ihn von hinten und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Das Motorboot schlingerte leicht wegen dieser impulsiven Bewegung und Anika kreischte erschrocken auf. Aber trotzdem war der Bann des Schweigens gebrochen. Germaines Begeisterung übertrug sich auf die anderen. Eddy stieß einen schrillen Pfiff aus und zeigte auf die Möwen, die über ihnen flatterten und nervzerreibend kreischten. »Da ist ja auch bereits das Empfangskomitee, Leute«, sagte er. »Na, wie fühlst du dich, großer Herzensbrecher«, wollte Jean wissen. Ihr war natürlich aufgefallen, wie schweigsam und nachdenklich er war. Und jetzt wollte sie ihn aufmuntern. Er kannte sie nur zu gut. 33
Er blickte ihr in die Augen. »Ich weiß nicht, wie ich mich fühle«, erwiderte er schließlich langsam. »Irgendwie - leer, ausgebrannt. Unzufrieden. Bedroht.« Er zuckte die Schultern. »Ich fühle eine Bedrohung, die von diesem Haus ausgeht«, fügte er dann düster hinzu. »Du willst uns wohl Angst machen?«, versetzte Anika ein bisschen spöttisch. »Ja, vielleicht«, erwiderte Neal. Dann grinste er Jean an. »Und wie fühlst du dich, Goldstück? Gut, hoffentlich?« »Nun ja, wenn sich Germaine entschließen kann, nicht mehr in fremden Gewässern auf Fischfang zu gehen, dann fühle ich mich schon einigermaßen gut, weißt du. Nur du machst mir ein bisschen Sorgen.« »Ich? Warum? Hör mal, ich bin dir treu ergeben und...« »Nein, im Ernst, Neal. Du hast dich irgendwie verändert in den letzten paar Tagen. Du bist so - so nachdenklich geworden, so in dich gekehrt. Und ich frage mich, ob das alles mit dieser verflixten Erbschaft zusammenhängt. Weißt du, ich glaube, dass so viel Geld einen Menschen nicht immer unbedingt zu seinem Vorteil verändert.« Neal winkte ab. »Du bist fast eine perfekte Philosophin, Jean«, erwiderte er leise, so dass nur sie es hören konnte. »Aber es ist nicht wegen des Geldes. Ich - ich mache mir Gedanken darüber, ob es richtig war, die anderen und dich mitgenommen zu haben...« »Gemeinsam sind wir stark!«, tönte Eddy Hopper dazwischen. Obwohl Neal und Jean leise gesprochen hatten und der Motor des Bootes übermäßig laut tuckerte, schien er einen Teil ihrer Unterhaltung mitbekommen zu haben. »Ja, wir sind so stark, dass wir es sogar mit Drachen und Dämonen und all dem anderen Ungeziefer, von dem man in einschlägigen Romanen lesen kann, aufnehmen...« »He, he, du gehst ja ran«, rief Germaine lachend. »Wahrscheinlich liest du viel zu viele Spannungsromane. Wer sollte uns auf dieser schönen Insel etwas tun wollen? Es ist wirklich - wie der Herr Rechtsanwalt vorhin gesagt hat - ein kleines Paradies. Sieh nur, dort drüben steigt ein ganzer Vogelschwarm auf! Und die herrlichen Farben. Ach, es ist wunderschön! Und du sprichst von Drachen und Dämonen! Du bist unmöglich, Eddy Hopper!« 34
Ja, vielleicht sind wirklich auch alle meine Sorgen umsonst, dachte
Neal im gleichen Moment. Aber dann musste er an Joseph Greenbury denken und der Gedanke an den Freund beunruhigte ihn. Er hätte Jo gern bei diesem ›Unternehmen‹ dabei gehabt. Er hatte sich in den letzten beiden Jahren, in denen er sich sehr intensiv mit der Parapsychologie beschäftigt hatte, mehr und mehr zu einem Einzelgänger entwickelt. Vielleicht hätte Joseph sich hier auf Revenge Island ein bisschen von seinem Stress erholen - und gleichzeitig eine Menge dazulernen können.
Seltsam, dieser Gedanke, überlegte Neal dann. Wieder bemerkte er, dass er dem Frieden und der offensichtlichen Idylle der Insel nicht traute. Vielleicht war alles nur Maskerade, geschickte Tarnung... Vielleicht wartete dort drüben die Hölle auf sie... Und vielleicht hätte Joseph Greenbury helfen können, dieser Hölle wieder zu entrinnen. Neal hatte ihn zwar angerufen, aber der Freund schien nicht zu Hause gewesen zu sein. Oder er war einfach in seine Studien vertieft gewesen und hatte das Klingelzeichen des Telefons nicht hören wollen. »Schade«, murmelte Neal. Jean sah ihn seltsam an, sagte aber nichts. Wahrscheinlich wollte sie die anderen nicht zu sehr auf seine miserable Stimmung aufmerksam machen. Dr. Lambert, der bisher geschwiegen hatte und sich nicht an ihrer Unterhaltung beteiligt hatte, lenkte das Boot geschickt zum Ufer, das nun nur noch wenige Meter entfernt war. Die Wellen hatten das Boot längst erfasst und trugen es sicher zum Strand, nachdem Dr. Lambert den Motor abgestellt hatte. »Wir sind da!«, stellte der Rechtsanwalt überflüssigerweise fest, als er das Boot an Land gezogen hatte. »Ich werde Ihnen nun das Ehepaar Gray vorstellen, das während Ihres Aufenthalts hier auf Revenge Island für Ihr leibliches Wohl sorgen wird. Und dann werde ich ein entsprechendes Protokoll aufsetzen und nach London zurückkehren. Sollte irgendetwas - hm - Ungewöhnliches passieren, so können Sie mich jederzeit telefonisch erreichen. Ja, die gute Mrs. Willock wollte auch hier in der Einsamkeit nicht auf einen gewissen Komfort 35
und die für ihre Geschäfte wichtige Verbindung zur Außenwelt verzichten.« Belustig lachte er. * Amanda Willocks Haus war auf einer hochgelegenen Ebene errichtet worden, die im Norden steil ins Meer abfiel. Die Landzunge, die sie hatten umfahren müssen, um das Haus schließlich sehen zu können, ragte wie eine riesige behaarte Klaue ins Meer hinein. Mächtige Bäume und dichtes, struppiges Unterholz wucherte dort und hatte sich bereits bis zum Haus herauf ausgebreitet. Es bildete gleichermaßen Hintergrund und Umgebung des Hauses. Eine unschöne Kulisse, wie sich jetzt herausstellte. Nur aus der Ferne hatte dies alles schön gewirkt. Sie waren schweigend den schmalen steinigen Weg hinaufgegangen, der zum Haus führte. Sicherlich wurden sie bereits von den Grays erwartet. Neal fühlte sich unbehaglich. Und auch die anderen spürten die seltsame Atmosphäre, die auf der Insel herrschte. Außer ihren Schritten und ihrem stoßweise gehenden Atem war kein Laut zu vernehmen, nicht einmal Vogelgezwitscher. Drückende Stille lastete ringsum wie eine Mauer. Jegliches Leben auf dieser Insel schien in Erwartung der Geschehnisse den Atem anzuhalten. »Eine miese Stimmung ist das hier.« Eddy Hopper sprach das aus, was sie alle insgeheim dachten. Neal nickte zustimmend. »Hoffen wir, dass sie nicht anhält.« Mechanisch tastete er nach der Luger, die er - obwohl er Waffen allgemein nicht ausstehen konnte - sicherheitshalber mitgenommen hatte. Die Waffe steckte in seinem Hosenbund. Etwa zehn Minuten später erreichten sie die Hochebene und das Haus lag nun greifbar nahe vor ihnen in der schwülen Hitze des Morgens. Es wirkte leer und tot. Auch hier war kein Laut zu hören. »Möchte nur wissen, wie deine alte Tante diesen Weg begehen konnte«, murmelte Clay nachdenklich. »Immerhin war sie zweiundneunzig.« 36
»Das war sie«, nickte Neal. »Aber sie war ziemlich zäh. Früher war sie eine begeisterte Bergsteigerin. Sie ist durchtrainiert.« »Trotzdem, für eine alte Frau ist dieser Weg einfach zu steil«, beharrte Clay. »Ich glaube nicht, dass sie oft auf dieser verdammten Insel gewesen ist.« Neal zuckte die Schultern. Nachdem er seine Tante Amanda vor neun Jahren bei Nacht und Nebel verlassen hatte, um endlich ihrer Bosheit zu entgehen, hatte er nicht mehr viel von ihr gehört. Und das war ihm auch recht gewesen. Dennoch: Weshalb wollte sie, dass er ausgerechnet auf dieser Insel einen vollen Monat verbrachte? Ausgerechnet auf dieser Insel, auf der sie selbst vermutlich nur ein paar Mal gewesen war, wenn überhaupt... Denn Clay lag mit seiner Vermutung richtig, das wusste Neal plötzlich. Als Neal das raschelnde Geräusch hörte, zuckte er aus seinen Überlegungen auf. Sein Kopf ruckte herum und er sah einen untersetzten, behäbig wirkenden Mann mit deutlichem Bauchansatz. Der Fremde trat vollends aus dem wuchernden Grün des Unterholzes und lächelte schmal. »Hallo, Leute«, sagte er mit einer unangenehmen Fistelstimme. »Willkommen auf der Toteninsel!« »Machen Sie Scherze, Mister?«, fuhr Neal ihn an. »Scherze? Junger Mann, ich lebe jetzt seit genau dreizehn Jahren auf dieser verdammten Insel und in dieser Zeit habe ich verlernt, dumme Scherze zu machen.« Das aufgedunsene Gesicht des Mannes spannte sich an. »Nun, Sie und Ihre - Gefährten werden einen Monat lang Gelegenheit haben, festzustellen, dass man hier das Scherzen wirklich verlernt.« »Mr. Gray, ich muss Sie doch bitten, eine gewisse Form zu wahren«, warf Rechtsanwalt Lambert mit scharfer Stimme ein. »Immerhin sind Sie hier lediglich der Verwalter des Hauses. Sie werden in Zukunft von Hamilton bezahlt und...« Mr. Gray hob eine Hand und winkte nachlässig ab. »Lassen wir doch die Floskeln, Herr Rechtsanwalt. Sie können mich nicht beeindrucken. Ich bin so, wie ich bin und wem das nicht passt, der soll es mir sagen, dann...« 37
»Sie scheinen ja ziemlich aggressiv zu sein«, stellte Neal belustigt fest. Der Mann fixierte ihn aus schmalen gelblichen Augen. Dann lachte er plötzlich und strich sich mit einer Hand über sein schütteres blondes Haar. »Wenn man immer hier lebt, wird man schon ein bisschen sonderlich. Das müssen Sie verstehen, Mister.« »Nun, jetzt sind wir ja hier und wir werden schon Stimmung auf diese - diese Toteninsel bringen. Nicht wahr, Freunde?« »Klar!«, kam es fast wie aus einem Mund zurück. Die gute Laune stieg merklich. Neal lächelte. »Sehen Sie, Mr. Gray? Wir sind mit den allerbesten Vorsätzen auf diese schöne Insel gekommen. Und Märchen beeindrucken uns nicht sehr, wissen Sie.« Neal schüttelte den Kopf und bemühte sich, tatsächlich unbeeindruckt zu wirken. Er wollte seine Freunde nicht noch mehr beunruhigen, als sie es schon durch die seltsame Atmosphäre, die wie eine Käseglocke über der Insel lastete, waren. »Sie glauben mir also nicht«, stellte Mr. Gray emotionslos fest. »Na schön. Ich will also nichts gesagt haben. Aber wenn etwas passiert, dann...« »Hören Sie endlich auf!«, verlangte Dr. Lambert. »Wir sind aufgeklärte Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Hirngespinste interessieren uns nicht. Ich habe eine Woche auf dieser Insel gelebt und es war eine herrliche Zeit. Toteninsel... pah! Führen Sie uns endlich zu Ihrer Frau.« Mr. Gray nickte. Ein hämisches Lächeln lag um seine Mundwinkel. »Wie Sie wünschen, Herr Rechtsanwalt. Kommen Sie! Folgen Sie mir, bitte! Die Herrschaften natürlich auch.« Er verbeugte sich übereifrig und ging voran. Neal grinste Jean aufmunternd zu und legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern. »Das verspricht ein aufregender Urlaub zu werden«, sagte er in einem Anflug von Galgenhumor. Jean wollte etwas entgegnen. Aber dazu blieb keine Zeit mehr. In diesem Augenblick ertönte der Schrei. Es war ein gellender Schrei, in dem Schmerz und abgrundtiefer Schrecken vibrierten. 38
* Die Frau, die Joseph Greenburys Leiche entdeckt und sämtliche Nachbarn durch ihr Schreien alarmiert hatte, schrie immer noch, als Inspektor Murray kam. Er blickte seinen Assistenten unwillig an. »Porter, sorgen Sie gefälligst dafür, dass sich ein Arzt um die Frau kümmert.« Porter nickte und ging zurück in die Wohnung, zu Doc Spencer. Murray schob sich einen frischen Kaugummi in den Mund, bevor er sich durch die schweigende, hin und wieder tuschelnde Mauer aus gaffenden Menschen hindurch in das Zimmer arbeitete, in dem die Leiche lag. Die Männer der Spurensicherung waren bereits fleißig. Der Doc und sein Assistent hatten die Voruntersuchung der Leiche abgeschlossen. Doc Spencer kümmerte sich um die Frau, die mit ihren Nerven völlig fertig war. »Mord?«, erkundigte sich Murray bei dem Assistenzarzt. Der junge Mann zuckte die Schultern. »Das ist eine seltsame Sache, Inspektor«, erwiderte er. »Wie seltsam?« »Nun, sehen Sie sich das Gesicht des Mannes an, dann wissen Sie, was ich meine.« Er beugte sich vor und deutete auf die weit aufgerissenen Augen des Toten, in denen noch eine Ahnung vom Grauen seines Sterbens sich widerspiegelte. Inspektor Murray kniff seine Augen zusammen. Verdammt, genauso war es auch bei dieser Mrs. Willock gewesen... Auch sie hatte dieses Grauen in ihren starren Augen eingebrannt gehabt! Gab es einen Zusammenhang? Murray kaute hastiger. Das tat er immer, wenn er sehr nervös war. »Wie ist er gestorben?«, wandte er sich wieder an den Arzt, während er sich aufrichtete. Der Mann zuckte die Schultern. Es war eine resignierende Geste. »Herzversagen«, erwiderte er lakonisch. »Eine Verletzung konnte nicht festgestellt werden, noch nicht. Die Autopsie wird vielleicht neue Fakten bringen. Aber ich bin nicht sehr zuversichtlich.« 39
»Herzversagen«, echote Inspektor Murray nachdenklich. Sein harter, sezierender Blick glitt über den athletischen Körper des Mannes. Dann schüttelte er den Kopf. Schweigend wandte er sich ab. Erst jetzt bemerkte er den fürchterlichen Gestank, der im Zimmer lag. Er ging zum Fenster und öffnete es. »Hat irgend jemand etwas gesehen oder etwas - hm - Ungewöhnliches bemerkt?«, fragte er die immer noch gaffenden Leute. Aber es kam natürlich keine Reaktion. Niemand hatte etwas gesehen. Niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Es war wie immer. Inspektor Murray vergrub seine mächtigen Hände in den Hosentaschen seiner Gabardinehose und wies einen jungen, eifrigen Polizisten an, die Personalien der anwesenden Leute aufzunehmen. »Ich werde mich zu gegebener Zeit noch einmal mit Ihnen unterhalten«, erklärte Murray und in seiner Stimme lag etwas, das keinen Widerspruch zuließ. Inzwischen hatte Doc Spencer die Frau in ihre Wohnung zurückgebracht und ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Als er die Wohnung Joseph Greenburys wieder betrat, nickte er dem Inspektor zu. »Ich habe ihren Mann benachrichtigt. Er wird bald hier sein.« Inspektor Murray nickte. »Was halten Sie von diesem - Todesfall, Amos?«, fragte er. Amos Spencer blickte ihn offen an. »Der Mann war in einer körperlich guten Verfassung. Dennoch muss ich auf Herzversagen tippen.« Doc Spencer grinste. »Aber das hat Ihnen doch sicherlich mein Assistent bereits gesagt!« Murray verzog sein Gesicht zu einem schwachen Lächeln. »Das hat er, Doc.« »Sie sind immer noch, der Alte, Ben«, versetzte Amos Spencer und gab dem Inspektor einen Hieb auf die Schultern. »Sie wollen immer alles ganz genau wissen. Als ob ich Ihnen etwas verheimlichen würde.« Er schüttelte den Kopf. Murray erwiderte nichts mehr darauf. Er drehte sich um und ging zu John Banning, dem Chef der Spurensicherung. »Etwas entdeckt?« »Nichts, Inspektor. Tut mir leid. Die Wohnzimmertür war von innen abgeschlossen.« Der Mann strich sich über seine beginnende Glatze. »Mord - herkömmlicher Mord, fällt also aus.« 40
»Ja«, murmelte Murray. In Gedanken sah er Amanda Willocks Leiche vor sich, ihre entsetzt aufgerissenen Augen... Es gab eine Parallele zu diesem Fall. Aber natürlich sagte das nur sein Instinkt. Kein Gericht der Welt würde etwas auf diese Parallele geben. Auf dieses namenlose Entsetzen, das in den Augen der Toten stand... Und er hatte schon eine Menge toter Menschen gesehen. Er wusste, dass in diesen beiden Fällen etwas Grauenvolles, etwas - Unnatürliches - geschehen sein musste! Murray hob seinen Blick. »Durchsuchen Sie diese Wohnung, Banning, stellen Sie alles auf den Kopf! Ich will eine exakte und komplette Liste aller Gegenstände, die in dieser Wohnung sind. Klar?« John Banning kannte Inspektor Murray schon seit Jahren und er wusste, dass Murray eine Fährte witterte. Und deshalb stellte er keine Fragen. Er nickte nur. »Geht klar, Inspektor. Morgen früh haben Sie die Liste.« »Gut.« Murray nickte John Banning freundlich zu, dann ging er zu Roy Porter. »Kommen Sie, Porter, ich glaube, dass wir beide hier nichts mehr tun können.« Sie fuhren mit dem Lift ins Erdgeschoß hinunter und verließen den Wohnsilo. Als sie in den Dienstwagen stiegen, meinte Murray, halb zu sich selbst: »Dieser Neal Hamilton - der hat doch gestern angerufen und mitgeteilt, dass er für einen Monat auf diese Insel Revenge Island fährt. Angeblich, weil das Testament seiner Tante es so bestimmt.« »Stimmt genau, Inspektor«, pflichtete ihm Roy Porter bei. »Neal Hamilton hörte sich seltsam aufgeregt an«, fügte er hinzu. »Aufgeregt. Hm.« Murray versank in grüblerisches Nachdenken und Porter hütete sich, ihn zu stören. Genau das war eine der Eigenschaften, die Murray an seinem Assistenten so schätzte. Er konnte schweigen, wenn es richtig war. Genau wie er selbst. Er räusperte sich. Dann meinte er: »Ich glaube, dass wir unserem Freund auf seiner Insel mal einen kleinen Besuch abstatten sollten...« * 41
Eine eiserne Klammer schloss sich um sein Herz. Neal Hamilton blieb sekundenlang buchstäblich die Luft weg. Der Schrei hatte sich in sein Bewusstsein gebohrt wie eine materielle Waffe. Aber dann reagierte Neal. Er hetzte los, hinüber zum Haus, aus dem der Schrei gekommen war, ohne sich um die Reaktionen seiner Gefährten zu kümmern. Das Portal des Hauses war nur angelehnt. Neal schmetterte es auf, stürzte in die Halle, die groß genug war, um zwanzig Personen mühelos Stehplatz zu bieten. Boden und Wände waren aus Holz. Genau gegenüber führte eine breite Treppe in die anderen Stockwerke hoch. Links und rechts dieser Treppe zweigten Korridore ab, die tief in das Innere dieses Hauses führten. Rechter Hand von Neal war ein riesengroßer Kamin und linker Hand eine wohl sortierte Bar. Aber das nahm er nur aus den Augenwinkeln wahr, in Sekundenbruchteilen. Es war jetzt unwichtig. Woher war der Schrei gekommen? Neal blickte sich um. Jetzt war wieder alles in eisige Stille getaucht. »Mrs. Gray?«, rief er. Aber er erhielt keine Antwort. Er presste die Lippen zusammen und wandte sich nach rechts. Seine Augen gewöhnten sich rasch an das dämmrige Zwielicht, das im Haus herrschte. Plötzlich hörte er das leise Wimmern. Er ging in die Richtung, aus der das Wimmern kam. Eine mächtige Flügeltür versperrte den Weg. Neal zögerte, seine Hand lastete leicht auf der Klinke. Weit hinter sich hörte er Stimmen und Schritte. Die anderen folgten ihm also, sie hatten sich inzwischen von ihrem Schock erholt. Neal drückte die Klinke nieder und zog die Tür auf. »Nein!«, schrillte ihm ein Schrei entgegen. Neals Reflexe retteten ihm sein Leben. Er hechtete vorwärts, kam nach einer gewandten Schulterrolle wieder auf die Beine und sah sich wild um. Dort, wo er soeben noch gestanden hatte, steckte ein überdimensionales Messer. Das Messer wippte leicht auf und ab. Und dann sah er die Frau. Totenbleich stand sie nur wenige Schritte vor ihm und starrte ihn an, als sei er der Satan persönlich. »Nein, nein«, stammelte sie. »Das - das wollte ich nicht! Ich wollte Sie nicht töten... Ich dachte...« Die Frau schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Ihre Schultern zuckten. 42
Neal ging zu ihr. »Was ist geschehen?«, fragte er ruhig. »Ich wollte Sie nicht töten, Mister! Bitte, glauben Sie mir! Bitte... Ich dachte, dass - dass es wieder beginnt... Ich habe Angst! Angst! Mister. Helfen Sie mir!« Flehend klammerte sie sich an ihm fest und blickte ihn an. »Nun beruhigen Sie sich doch, Mrs. Gray. Es ist ja nichts passiert.« »Nichts passiert?« Ihre Augen wurden noch größer. »Sie haben es nicht gesehen. Deshalb verstehen Sie es nicht. Plötzlich schwebte dieses Messer auf mich zu, wie von unsichtbarer Hand geführt! Und dann sah ich ein Augenpaar, blutrot war es... Direkt aus dem Nichts heraus schienen mich diese furchtbaren Augen anzusehen. Ein höllischer Ausdruck war in diesen Augen... Oh, ich werde es nie wieder vergessen können.« Mit einer schwachen Geste wischte sich Mrs. Gray ihre Tränen aus den Augen. »Ich - ich hörte Stimmen, draußen. Das gab mir Mut und die Kraft, zu schreien. Im gleichen Moment fiel das Messer zu Boden. Ich ergriff es und wollte mich verteidigen. Und als ich dann Ihre Schritte hörte, zögerte ich nicht. Ich war wie von Sinnen.« »Das hätte leicht ins Auge gehen können«, erwiderte Neal und strich der Frau begütigend über ihr zerzaustes Haar. Mrs. Gray war groß und schien ausschließlich aus Knochen zu bestehen. Ihre Beine waren lang und dünn, ihre Brust flach, ein Busen war nicht einmal zu ahnen. Ihr Gesicht war hager, schroff ragten die Backenknochen hervor. Die Augen der verängstigten Frau jedoch waren wunderschön, obwohl jetzt Furcht darin lag. »Was ist geschehen?« Mr. Gray stand an der Tür, sein Gesicht war verzerrt. Hinter ihm drängten sich Eddy Hopper, Clay Stevens, Jean, Germaine und Anika. Neal winkte ab. »Der Geist...«, ächzte Mrs. Gray schwach. »Er - er wollte mich töten. Er hat mich angegriffen.« Mr. Gray zuckte zusammen. Seine Augen irrlichterten. »Ich sagte es ja. Dieses Haus ist verdammt. Die ganze Insel ist verdammt. Glauben Sie mir nun?« Er wandte sich an Neal Hamilton und funkelte ihn an. 43
Eddy antwortete an seiner Stelle. »Hören Sie, guter Mr. Gray. Warum kümmern Sie sich so furchtbar viel um unsere Angelegenheiten? Warum wollen Sie uns unbedingt davon überzeugen, dass in diesen erlauchten Hallen ein Geist sein - sein Unwesen treibt, um es mal so auszudrücken. Wir wollen nichts mit Ihren komischen Geistergeschichten zu tun haben. Wir sind hierher gekommen, um einen Monat lang High Life zu praktizieren. Klar? Und jetzt will ich nichts mehr von Ihren Märchen hören!« Wie zur Bekräftigung seiner Worte zog er Germaine zu sich heran und küsste sie. Dr. Lambert drängte sich in den Raum. Sein Blick saugte sich an dem Messer fest. »Ist wirklich nichts passiert?« Neal schüttelte den Kopf. Er schwieg. Aber seine Gedanken waren in Aufruhr. Er spürte, dass sich irgendetwas zusammenbraute. Ja, zum Teil glaubte er Mrs. Gray sogar. Er selbst hatte diese Stimme gehört. Und auch dafür hatte es keine rationelle Erklärung gegeben. Warum also sollte Mrs. Gray lügen? Effekthascherei? Wichtigtuerei? Oder gab es einen Grund, der weitaus logischer war? - Wollte man verhindern, dass er die Bedingung seiner Tante erfüllte? Es war zumindest eine Möglichkeit. Neal beschloss, mächtig auf der Hut zu sein. »Wie wär's, wenn wir uns diesen düsteren Palast einmal genauer ansehen? Vielleicht finden wir irgendwo das Versteck unseres Spukgeistes?« Jean bemühte sich, ihre Stimme spöttisch klingen zu lassen. Jean schmiegte sich an ihn und er nickte ihr beruhigend zu. Mach dir keine Sorgen - Unkraut vergeht nicht, sollte das heißen. Sie verstand ihn, denn sie lächelte schon wieder. »Wenn Sie erlauben, führe ich Sie«, erbot sich Mrs. Gray, die sich schneller als erwartet erholt hatte. Jetzt wies ihr hageres Gesicht bereits wieder eine einigermaßen gesunde Farbe auf. »Danke, ich denke, dass dies nicht nötig ist«, lehnte Dr. Lambert ab. »Ich werde Mr. Hamilton und seine Gäste führen. Vorausgesetzt natürlich, dass es Ihnen recht ist, Mr. Hamilton«, fügte er höflich hinzu. »Es ist mir recht«, sagte er leise. »Gut. Dann schlage ich vor, dass Sie uns einen Lunch bereiten, Mrs. Gray. Sie können es im Salon im ersten Stock servieren. Sagen 44
wir...«, er blickte schnell auf seine goldene Uhr, »... in einer halben Stunde. Okay, Mrs. Gray?« »Wie Sie meinen, Mr. Lambert«, erwiderte die Frau. »Gut. Und nun gehen Sie bitte an Ihre Arbeit! Ihre Gäste kennen Sie ja nun.« Mrs. Gray nickte gleichmütig. »Ich kenne sie jetzt, ja, Mr. Lambert. Und ich weiß, dass niemand mir glaubt. Sie wissen nicht, in welcher Gefahr sie hier schweben. Aber ich werde mir keine Gewissensbisse machen, wenn etwas passiert. Ich habe sie alle gewarnt!« Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Mrs. Gray nach diesen Worten gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Raum. Dr. Lambert lachte. »Die gute Mrs. Gray. Sie liebt solche Auftritte, scheint mir«, sagte er belustigt. »Damals, als ich Mrs. Willocks Gast sein durfte, war es beinahe genauso. Unablässig erzählte sie von einem Mann ohne Kopf, der ihr erschienen sei.« Der Anwalt zuckte die Schultern und machte eine bezeichnende Geste. »Aber das soll uns nicht stören, nicht wahr. Mr. Hamilton?« »Natürlich nicht«, erwiderte Neal hart. Der Anwalt lachte wieder. Es klang unbeschwert und heiter. »Gut, Mr. Hamilton. Dann werde ich Ihnen nun Ihr neues Zuhause zeigen. Bitte, folgen Sie mir. Äh - ich werde Sie natürlich nur durch die bewohnbaren Räumlichkeiten führen, das muss ich erklärend hinzufügen. Dieses Haus hat dreizehn Zimmer, eine riesengroße Bibliothek und einen sehr großen Keller. Man munkelt, dass es außer diesem Keller noch Gewölbe und Grabkammern unter dem Haus gebe, aber das ist natürlich Unsinn, Geistermärchen.« Jean blickte Neal an. Sie wollte ihm etwas sagen, aber er bedeutete ihr, vorerst zu schweigen. Sie würden sich unterhalten, wenn sie allein waren... Neal legte seinen Arm um sie, dann folgten sie Mr. Lambert, der bereits mit Eddy Hopper, Germaine und Anika und Clay vorangegangen war. »Ich habe Angst, Neal«, flüsterte Jean plötzlich unerwartet. Neal spürte, wie ihre Worte eine Gänsehaut über seinen Rücken rieseln ließ. Verdammt, er fühlte sich auch sehr ungut. Aber da war auch noch ein anderes Gefühl. Neugier... 45
Neal drückte Jean an sich. »Wird schon alles klargehen, Goldstück«, meinte er. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Stimme rau und fremd klang. Und irgendwie fühlte er sich auch so. Ja, er war sich in den letzten Tagen selbst fremd geworden. Seine Gefühle lagen in stetem Widerstreit miteinander. War es falsch gewesen, hierher zu kommen? War es falsch gewesen, seine Freunde mitzubringen? Tausend Fragen ohne Antworten. Vielleicht war das bereits ein Teil der posthum angewandten Bosheit seiner Tante? Die innere Zerrissenheit quälte Neal höllisch. * Als sie von ihrem Rundgang durch das Haus zurückkehrten, war die mächtige Tafel im Speisesalon im ersten Stock bereits gedeckt. Mrs. Gray stand abwartend am Kopfende der Tafel. »Darf ich servieren?«, fragte sie kühl. Neal nickte. »Bitte.« Nachdem Mrs. Gray das Zimmer wortlos verlassen hatte, sagte Eddy: »Weißt du, Neal, das alles kommt mir ein bisschen wie eine schlecht inszenierte Komödie vor. Jetzt fehlt nur noch der liebe Graf Dracula und die Horror-Show wäre komplett.« Er schüttelte den Kopf. »Wird Zeit, dass wir Leben in diese verstaubte Bude bringen!« »Die Zeit wird kommen«, versetzte Clay seltsam tonlos. »Was hast du denn, Clay, Liebling?«, erkundigte sich Anika besorgt. »Nichts habe ich«, antwortete er unwillig. »Ich, ich fühle mich unwohl. Diese Räume... Ich kann das nicht ausstehen.« Er blickte Neal an. »Sony, Freund, aber irgendetwas sagt mir, dass Mrs. Gray nicht nur lügt...« »Bangemachen gilt nicht!«, sagte Germaine und kicherte. »Ich jedenfalls fühle mich hier sehr wohl. Und vor Geistern fürchte ich mich nicht. Wenigstens nicht sehr. Apropos: Wie das wohl ist, wenn man von so einem Wesen berührt wird?« Sie schüttelte sich. »Jaja, sehr angenehm wird das sicherlich nicht sein.« 46
Eddy hob seine zu Klauen geformten Finger. »Du musst dir das etwa so vorstellen«, begann er mit schrecklich verzerrtem Gesicht. »Nachts liegst du einsam in deinem Bett. Plötzlich wird die Tür mit einem Ruck geöffnet. Ein fürchterliches Wesen tritt ein, die Klauenhände erhoben. Und dann...« Eddy brach plötzlich ab. »Nun, den Rest werde ich dir dann heute Nacht zeigen.« Germaine blickte ihn mit großen Augen an. »Heute Nacht jedenfalls werde ich allein in meinem Bett liegen. Dieser Punkt deiner Ausführungen war richtig«, sagte sie mit einem boshaften Lächeln. »Wenn ich mir vorstelle, dass du diese Anwandlung wiederbekommen kannst igitt!« Eddy verdrehte die Augen und seufzte. »Wie du meinst«, erwiderte er schnippisch und wandte sich ab. Sie setzten sich. Neal ließ seinen Blick schweifen. Der Speisesalon war - wie fast alle Räume dieses Hauses - sehr groß. Die Wände waren mit Zedernholz getäfelt, von schweren Deckenbalken hingen mehrere kristallene Kronleuchter. An den Wänden waren schwere, wuchtig gerahmte Ölgemälde, deren Farben dunkel waren und zum Teil bereits leicht abblätterten, angebracht. Vorwiegend Szenen ländlicher Jagden waren hier dargestellt. Nur ein Bild war anders. Es zeigte eine Szene, die absolut nicht zu den anderen passen wollte. Eine Frau mit langen blonden Haaren wurde auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Etwas Bedrohliches, Düsteres strahlte von diesem Bild aus. Mrs. Gray servierte den Lunch. Schweigend nahmen die jungen Leute das leichte Essen ein. Später setzte Dr. Lambert das Protokoll auf und ließ es von Neal und den anderen Anwesenden unterzeichnen. »Gut«, sagte er dann. »Vorerst also ist meine Aufgabe erfüllt. Somit kann ich beruhigt nach London zurückkehren. Ich verabschiede mich von Ihnen allen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt - obwohl die Vorzeichen nicht gerade die besten waren. Genau in einem Monat werde ich wiederkommen und Sie abholen.« Er sah sich in der Runde um, nickte und erhob sich mit einer gleitenden Bewegung. »Tja, das war's dann wohl gewesen.« Neal schob seinen Stuhl zurück und erhob sich ebenfalls. »Ich werde Sie zum Strand hinunter begleiten, Mr. Lambert«, sagte er. 47
»Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte der Rechtsanwalt. »Ich werde mich nur noch ein bisschen frisch machen, dann können wir gehen. Ich muss mich beeilen. In London wartet bereits sehr viel Arbeit auf mich. Leider.« Bedauernd zuckte er die Schultern. »Ist es nicht gefährlich, dich allein zu lassen?«, erkundigte sich Jean, nachdem Dr. Lambert den Speisesalon verlassen hatte, um eines der Badezimmer aufzusuchen. Er ging nicht auf ihre Frotzelei ein. »Du hast immer noch Angst«, stellte er ruhig fest. Sie nickte. »Wenn ich ganz ehrlich bin, ja. Du solltest nicht allein zum Strand gehen. Weißt du, meine Ahnungen haben sich bis jetzt immer bewahrheitet. Ich - ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Obwohl du so ein unmöglicher Bursche bist.« »Vielleicht ist es dieses Mal anders. Die seltsame Umgebung und all das. Vielleicht irrst du dich wirklich. Jean, wir müssen endlich aufhören, unsere Nerven zu strapazieren, sonst - sonst überleben wir diesen Monat ganz bestimmt nicht. Weil wir uns dann nämlich selbst fertigmachen.« Ernst sah er sie an. »Ich werde Lambert zum Strand begleiten. Allein. Es muss sein.« »Ich kann dich nicht hindern«, erwiderte sie einfach. »Okay, vielleicht hast du Recht. Ich wünsche es, Neal.« »Sagt mal, Leute, gibt es hier nichts Ordentliches zu trinken?«, erkundigte sich Eddy lautstark. »Ich meine, einen guten Scotch oder so etwas. Ich bin mächtig durstig.« »Die Bar ist in der Halle«, erklärte Anika eifrig. »Aha. In der Halle. Nun gut, dann werde ich mich in die Halle begeben und uns ein paar Fläschchen reservieren, einverstanden?« Natürlich waren sie einverstanden. Als Dr. Lambert auf der Schwelle des Salons erschien, nickte Neal ihm zu. »Okay, es ist soweit«, sagte er an Jean gewandt. »Achte auf die anderen«, bat er. »Und vor allem auf die Grays. Du weißt schon, warum.« Jean nickte. »Ich werde mein Bestes tun, großer Meister. Pass auf dich auf, hörst du?« 48
»Den Gefallen tue ich dir gern.« Er küsste sie leicht auf die Stirn, dann ging er. Gemeinsam mit dem Rechtsanwalt verließ er das Haus. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. »Sie haben uns doch hoffentlich nichts verschwiegen, was dieses Haus dort oben betrifft«, begann Neal schließlich. »Wie meinen Sie das, Mr. Hamilton?«, fragte der Anwalt und blickte in fragend an. »Nun, alles wirkt irgendwie sonderbar. Sicherlich haben Sie es auch gefühlt. Dieses obskure Testament meiner Tante...« Er schüttelte den Kopf. »Es passte nicht zu ihr, verstehen Sie. Tante Amanda hielt nichts von Phantasie und all dem. Sie war eine eiskalte Praktikerin. Und doch hat sie dieses seltsame Testament verfasst, das bestimmt, dass ich einen Monat auf dieser verdammten Insel lebe. Zusammen mit einem mehr als komischen Ehepaar. Ja und dann die Sache mit dem Geist...« Dr. Lambert lachte. »Sie haben sich also doch beeindrucken lassen«, stellte er fest. »Sie haben es gut vor den anderen verborgen«, fügte er dann hinzu. »Ich will sie nicht allzu sehr beunruhigen. Schließlich habe ich ihnen einen Monat Erholung versprochen...« Neal brach ab. Da war sie wieder, die unausgesprochene Frage: War es richtig gewesen? Hatte er richtig - also verantwortungsbewusst gehandelt? Dr. Lambert blieb stehen. »Sie werden genügend Zeit haben, sich hier zu erholen, glauben Sie es mir. Auch wenn heute alles dagegen spricht, diese Insel ist wunderbar. Sie müssen versuchen, abzuschalten, Ihre Nerven zu beruhigen. Dann sieht alles anders aus. Eigentlich kann ich sehr gut verstehen, dass Sie - und auch Ihre Freunde - beunruhigt sind. Es gibt meiner Ansicht nach dafür eine ziemlich einfache Erklärung. Sie sind ebenso wie ich Großstadtmenschen. Die wilde Natur dieser Insel wirkt daher auf Sie beängstigend, abschreckend, bedrohlich.« Neal zuckte die Schultern. »Ich bin nicht sehr leicht zu beeindrucken, wissen Sie. Aber es kann natürlich sein, dass Sie dennoch Recht haben. Ich bin kein Psychologe.« Er lachte rau. Sie gingen weiter und wenig später erreichten sie den Strand. 49
Während der Rechtsanwalt das Boot zurück ins Wasser schob, sah Neal aufs Meer hinaus. In der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen. Mächtige dunkle Wolkenbänke hingen tief über dem unruhigen Wasser. »Ich darf mich von Ihnen verabschieden, Mr. Hamilton«, rief Dr. Lambert und stapfte durch das niedere Wasser zurück zum Strand. »Bis in einem Monat... Es sei denn, Sie überlegen es sich anders. In diesem Fall bitte ich Sie, mich anzurufen. Ich werde dann veranlassen, dass man Sie und Ihre Freunde bereits zu einem früheren Zeitpunkt abholt.« »Wir werden sehen«, erwiderte Neal einfach. Dann ergriff er die dargebotene Hand des Anwalts und schüttelte sie. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Mr. Hamilton«, sagte Dr. Lambert und in seinen Augen funkelte es. »Ich beneide Sie, wenn ich ganz ehrlich bin.« Neal nickte. »Hoffentlich ist das gerechtfertigt.« Er blickte sich skeptisch um. »Nun ja, wir werden sehen, wie gesagt...« Der Anwalt lächelte schwach, dann ging er zum Boot, ließ sich hineingleiten und warf den Motor an. »Bye, Mr. Hamilton«, rief er noch einmal, als er davonfuhr. »Bye«, erwiderte Neal leise. Nachdenklich sah er dem davonfahrenden Lambert nach und ein hässlicher Gedanke kam in ihm auf. Wenn die Grays kein Boot besaßen - dann waren sie nun Gefangene von Revenge Island! * »Stopp, Freundchen!«, befahl eine Stimme, die etwa so viel Charme enthielt wie ein elektrischer Rasenmäher, der über Asphalt schrammt. Neal kam dem Befehl nach. Er erstarrte. Gleichzeitig vernahm er das raschelnde Geräusch neben sich, die hastige Bewegung. Dann wurde sein Kopf herumgerissen. Neal starrte in zwei maskierte Gesichter. »Sieh an, wen wir da an Land gezogen haben«, stieß der Größere der beiden hervor. Er hatte mächtige Schultern und einen Stiernacken. 50
»Ja, ja, das Glück ist uns offenbar hold. Der gute Mr. Hamilton ist das«, erwiderte der andere. Im Gegensatz zu seinem Kumpan war er nur mittelgroß und dünn. »Was wollt ihr von mir?«, fragte Neal ungehalten. »Und - was soll der Mummenschanz?« »Das wirst du schon noch verstehen, Mr. Hamilton«, erwiderte der mit dem Stiernacken boshaft. »Wir sollen dir nämlich eine Nachricht überbringen.« »Ja, eine Nachricht«, echote der Dünne mit sichtlichem Vergnügen. »Wir möchten dich bitten, deine Pläne ganz schnell abzuändern und diese schöne Insel zu verlassen. Du verstehst?« Neal ging nicht darauf ein. »Warum?«, fragte er. »Wir stellen die Fragen und die Befehle, Freundchen!«, erklärte der Stiernackige und schoss seine Faust ab. Sie explodierte auf Neals Kinnspitze. Rote Nebel wallten vor seinen Augen, er taumelte zurück. »Verstehst du jetzt?«, erkundigte sich der Dünne höflich. »Ich meine, wenn du nicht verstehen willst, dann gibt es da natürlich noch andere Möglichkeiten...« Er wippte provozierend auf seinen Zehenspitzen. Es sah ziemlich komisch aus, aber Neal konnte im Augenblick nicht darüber grinsen. Er holte tief Atem und nickte. »Es ist wegen des Testamentes, nicht wahr?« »Testament?«, wiederholte der Bullige. »Weißt du, was er meint, Partner?« Der andere schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« »Ich werde die Insel nicht verlassen«, erwiderte Neal in diesem Moment. »Tut mir leid.« »Mir auch!«, stieß der Bullige hervor und schlug wieder zu. Aber dieses Mal war Neal auf der Hut gewesen. Er tänzelte zur Seite und der Schlag des Stiernackigen ging ins Leere. Mit der Wucht eines Dampfhammers rammte seine mächtige behandschuhte Faust an Neals Kopf vorbei. Aber Neal beging den Fehler, nur auf den Stiernacken zu achten... Der Dünne kam von hinten. Und sein Schlag traf nur zu genau. Neal hatte plötzlich das Gefühl, dass in seinem Kopf eine Sonne zer51
platzte. Schmerz erfasste ihn wie ein mächtiger Sog, wirbelte ihn um seine eigene Achse und ließ ihn zu Boden gehen. Neal sah neben sich die Schuhe des Dünnen. Er hob seine Hand. »Okay, ihr habt mich mit euren Argumenten überzeugt«, sagte er sarkastisch. Mühsam rappelte er sich wieder auf. Es fiel ihm ein bisschen schwer, gerade zu stehen. Seine Beine waren weich wie Gummi, der stundenlang in der Mittagssonne gelegen hatte. »Du wirst von dieser Insel verschwinden, Freundchen. Und zwar bis spätestens morgen Abend. Wenn wir dich dann nämlich noch hier antreffen, bleibt es nicht bei einer so gemütlichen Unterhaltung... Dann wird es hart. Klar?« Neal zuckte die Schultern. »Das schon. Aber könnt ihr mir verraten, wie ich die Insel verlassen soll? Der Rechtsanwalt hat das Motorboot mitgenommen. Wir sitzen hier fest.« »Du willst mich wohl verkohlen, Freundchen«, brummte der Stiernackige und hob aggressiv seine Fäuste. »Du brauchst nur den lieben Rechtsanwalt anzurufen und schon wird er dich und deine netten Freunde abholen lassen. Nicht wahr?« »Ihr seid ziemlich gut informiert, das muss ich zugeben.« »Dann hast du hoffentlich auch kapiert, dass es sinnlos ist, Tricks zu versuchen. Wir sind Profis und wir passen ganz genau auf, dass du nur das tust, was wir wollen.« »Und wenn wir feststellen müssen, dass du nicht das tust, was wir wollen«, ergänzte der Dünne mit schicksalsschwerer Stimme, »dann müssen es deine Freunde leider, leider büßen...« Der Bullige wandte sich wieder an Neal. »Du kennst jetzt die Instruktionen, Freundchen. Und nun verschwinde! Bring deinen Freunden die frohe Botschaft!« Neal drehte sich um, wobei er sich mächtig zusammenreißen musste. Noch immer summte und brummte es in seinem Kopf wie in einem Bienenkorb. Alles drehte sich vor seinen Augen. Aber irgendwie schaffte er es dann doch. Er wankte davon. Als er sich wenig später umwandte, waren die beiden maskierten Männer verschwunden. Es schien so, als habe sie der Erdboden verschluckt. 52
* Neal brauchte dieses Mal bis zum Haus eine volle Stunde. Die beiden Männer hatten ihr Geschäft verstanden. Sie waren wirklich Profis. Die Schläge, die er hatte einstecken müssen, wirkten präzise, wie ein Zeitzünder. Neal zerbiss einen Fluch auf den Lippen. Aber dann setzte sich sein unverwüstlicher Humor durch. Zumindest hat meine Jean wieder Recht behalten, dachte er. Er stieß das Portal auf und wankte in die Halle - und an die Bar. Dort genehmigte er sich einen doppelten Scotch und fühlte sich schließlich wie neugeboren. »Die anderen sind...«, begann Jean, die lautlos herangekommen war. Aber dann sah sie Neals Gesicht und schwieg. Zehn Herzschläge lang dauerte ihre Schrecksekunde. »Was ist passiert, Neal?«, fragte sie leise. Er erzählte es ihr in knappen Sätzen. Ihre Augen waren seltsam starr, nachdem er geendet hatte und sie ansah. »Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie ein bisschen hilflos. »Die beiden Kerle handelten im Auftrag eines potentiellen anderen Erben des Willock-Vermögens«, sagte Neal. »Denk an den entsprechenden Passus in Tante Amandas Testament. Wenn ich den Monat auf dieser Insel nicht durchstehe, dann erben die auf der Anlage genannten Personen und Vereinigungen das...« »Du meinst, jemand hat ein paar Gangster darauf angesetzt, um dich und uns von dieser Insel zu bekommen?« Jean konnte es immer noch nicht glauben. Neal nickte nur. »Ja, das meine ich. Es ist die einzige logische Erklärung, findest du nicht auch?« Er strich über ihr erhitztes Gesicht. In ihren Augen leuchtete etwas auf. »Aber wir werden uns nicht verjagen lassen, Mr. Hamilton, - nicht wahr?«, stellte sie dann fest und lächelte schwach. Ihr Kampfgeist schien wieder zu erwachen und Neal merkte, wie es über seinen Rücken prickelte. So liebte er seine Jean. »Wir werden diesen Ganoven eine Falle stellen. Sie werden sich an uns die Zähne ausbeißen!« Sie hatte ihre Finger zu Fäusten geballt. 53
»Du bist also fest entschlossen, Goldstück?«, fragte er - scheinbar zögernd. »Du etwa nicht?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Haare flogen. »Du wirst doch nicht etwa kneifen?« »Aber nein!« Er lachte. »Ich meine nur, dass wir vielleicht auch die anderen einweihen müssen. Schließlich haben die Gangster gedroht...« Sie unterbrach ihn tatendurstig. »Natürlich werden sie unserer Meinung sein, Neal. Sie lassen uns nicht im Stich. Du wirst es erleben.« »Okay. Wir werden mit ihnen sprechen. Später. Jetzt will ich erst mal telefonieren.« Sie blickte ihn an. »Mit Dr. Lamberts Büro?« »Du bist eine Hellseherin, Jean«, antwortete er lächelnd. »Es interessiert mich nämlich brennend, zu erfahren, wer die auf der Anlage genannten anderen Erben sind, weißt du. Gegner erkannt - Gefahr gebannt«, setzte er philosophisch hinzu. Sie gingen in das kleine Arbeitszimmer. Dort bestand die einfache Einrichtung lediglich aus einem uralten Schreibtisch, einem unbequemen Ohrensessel und einigen Wandregalen, die voll gestellt waren mit zerfledderten Büchern. Reiseberichte unzähliger guter und schlechter Autoren. Diese kleine Bücherauswahl konnte nicht konkurrieren mit der gigantischen Menge an Büchern in der Bibliothek. Neal setzte sich in den Sessel und griff nach dem Hörer des Telefons. Und jetzt erwartete ihn eine weitere böse Überraschung. Die Leitung war tot. Die Verbindung zur ›Außenwelt‹, wie Dr. Lambert sich ausgedrückt hatte, existierte nicht mehr. * Drei Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Neal und seine Freunde hatten Kriegsrat abgehalten und einstimmig beschlossen, sich von der Drohung der beiden maskierten Gangster nicht allzu sehr beeindrucken zu lassen. Im Gegenteil: man wollte eine Offensive vorbereiten. 54
Sie durchkämmten die ganze Insel, jeden Stein drehten sie um. Aber alles war vergeblich. Von den Gangstern fehlte jede Spur. Entweder hatten sie die Insel vorerst verlassen, oder sie lauerten in einem sehr guten Versteck. Neal war nervös und das nicht grundlos. Jeden Augenblick konnten die Gegner zuschlagen... Er kam sich vor wie ein Mann, der auf einem Pulverfass saß, an dem eine brennende Lunte angebracht war. Auch die Erleichterung darüber, dass es sich bei den Gangstern ganz offenbar um sehr menschliche Wesen handelte, konnte an dieser düsteren Stimmung nichts ändern. Doch nichts geschah. Noch nicht. * »Bis jetzt ist doch alles recht friedlich, findest du nicht?«, fragte Eddy und strich sich zufrieden über seinen Bauch. Eddy Hopper war ein Zweizentnermann, 29 Jahre alt und unverwüstlich. Der mächtige rote Vollbart, der sein Gesicht zierte, ließ ihn wesentlich älter und ernster aussehen, als er tatsächlich war. Eddy pflegte zwei Hobbys, Wodka und Jazz. Beide hatte er - da er ein ziemlich konsequenter Mann war - auch beruflich miteinander zu verbinden verstanden. Er war Sänger und Schlagzeuger einer JazzBand, die regelmäßig im Halloween-Inn in der Rockfort-Lane auftrat. Der Wodka gab - wenn man Eddy glauben wollte - seiner Stimme das besondere Etwas. Neal brummte etwas Unverständliches. »Wie bitte?« »Ich sagte, dass du einen sonnigen Humor hast«, wiederholte er und fixierte den Freund. Der tat unbeeindruckt. Er gähnte und erhob sich dann und blickte auf seine Uhr. »Ist unsere Wache nicht bald vorbei?«, erkundigte er sich dann. »Meine Anika wird mich sicher schon mächtig vermissen.« Neal sah zum Himmel und entgegnete nichts. Manchmal fand er den Freund ganz schon unausstehlich. Vor allem dann, wenn er selbst tödliche Situationen nicht ernst nahm. 55
Und dies war eine tödliche Situation. Seit gestern teilten sie Wachen ein. Sie wollten vorbereitet sein, wenn der Gegner zuschlug. »Na, komm schon, unsere Wache ist wirklich vorbei«, brachte sich Eddy wieder in Erinnerung, nachdrücklicher dieses Mal. Er sprach lauter. »Okay, okay«, erwiderte Neal und stand ebenfalls auf. Sie gingen den schmalen Weg zurück zum Haus. Der Weg führte nahe am Rand der Klippen vorbei. Man hörte das unablässige Wogen des Meeres, das einige Meter tiefer gegen den Fels klatschte. Die aufgehende Sonne sandte ihre ersten Strahlen tastend zur Erde nieder und tauchte alles in ein seltsames, unwirkliches Licht. Eine ebenso unwirkliche Stimmung hatte von Neal Besitz ergriffen. Unruhe. Ja, genau das war es. Nagende Unruhe. Nachdem sie die Insel nicht wie verlangt verlassen hatten - was würde geschehen? »Du, ich glaube, wir bekommen Besuch«, sagte Eddy, ohne seine Stimme sonderlich anzuheben. Neal sah in die von Eddy gedeutete Richtung. Zwei Männer waren dort zu sehen. Sie kamen vom Strand herauf und zweifellos war das Haus ihr Ziel. »Los!«, flüsterte Neal und rannte los. »Trimmtrab nennt man das«, rief Eddy, als er Neal endlich eingeholt hatte. »Weißt du, das soll sehr gesund sein. Vor allem, wenn man regelmäßig trabt. Hm - scheint so, als müsse ich in diesem Urlaub eine Fitnesskur absolvieren. Und das einen vollen Monat lang. Puh!« Angewidert verzog er sein Gesicht. Minuten später hatten sie eine Stelle erreicht, von der aus sie einen hervorragenden Überblick hatten. Der Pfad, der vom Strand zum Haus hoch führte, führte nur wenige Meter tiefer vorbei. Neal presste sich gegen die vom Morgentau feuchte Erde und spähte hinunter. Schritte waren dort zu hören und Stimmen. »Was tun wir, wenn das die Burschen sind?«, erkundigte sich Eddy so leise wie möglich. Neal zuckte die Schultern. 56
Er kniff seine Augen zusammen. Die beiden Männer bogen um einen mannshohen Strauch und waren nun deutlich zu erkennen. Es waren Inspektor Murray und sein Assistent Porter. »Falscher Alarm«, flüsterte Neal und erhob sich. »Du kennst die Burschen?«, brummte Eddy erstaunt. »Polizei«, erwiderte Neal einsilbig. Er fragte sich, was geschehen war. Warum tauchten die beiden Beamten ausgerechnet jetzt auf Revenge Island auf? »Hallo, Inspektor Murray!«, rief er und stand auf. Der Kopf des Polizisten ruckte hoch. »Ah, sieh an, Mr. Hamilton«, sagte er ohne sich auch nur eine Spur von Überraschung anmerken zu lassen. »Haben Sie uns etwa erwartet?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Neal so überzeugend wie möglich. »Wir waren auf der Jagd nach einem ansehnlichen Frühstück, wissen Sie. Der Hunger, Sie verstehen, Inspektor.« »Aha. Der Hunger«, versetzte Inspektor Murray. Inzwischen hatte er behände den leichten Abhang erklommen und sich vor Neal und Eddy aufgebaut. »Sie sind ein Freund Mr. Hamiltons?« »Klar, Inspektor«, antwortete Eddy unbeeindruckt von der knappen Art des Inspektors. Murray nickte. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Mr. Hamilton«, sagte er dann. »Stets zu Diensten, Inspektor.« »Kennen Sie einen gewissen Joseph Greenbury?« »Ja. Er ist mein Freund. Warum fragen Sie?« »Weil er Ihr Freund war. Er ist tot.« Neal starrte Inspektor Murray an. »Wie ist er gestorben?«, flüsterte er dann mit heiserer Stimme. »Herzversagen.« Murrays Assistent, Porter, hatte dies gesagt. »Herzversagen«, echote Neal tonlos. »Aber das ist unmöglich, hören Sie. Jo war kerngesund, er kann nicht an Herzversagen gestorben sein. Er...« 57
Inspektor Murray unterbrach ihn. »Das hat mir der Doc, der die Obduktion durchgeführt hat, auch gesagt. Trotzdem: Joseph Greenbury ist an Herzversagen gestorben. Wie Ihre Tante Mrs. Willock.« »Sie wollen damit doch nicht etwa behaupten, dass...«, begann Eddy mit polternder Stimme ungehalten. Aber Inspektor Murray stoppte ihn mühelos. Er winkte ab. »Ich rede mit Mr. Hamilton und ich denke, dass er in der Lage ist, für sich selbst zu sprechen. Klar? Wenn ich etwas von Ihnen wissen möchte, dann wende ich mich an Sie.« Eddy holte tief Luft, aber er schwieg. »Ihr Freund hat sich mit Parapsychologie beschäftigt. Wir haben da einige sehr interessante Aufzeichnungen bei ihm gefunden. Diese Aufzeichnungen sind besonders hinsichtlich seines mysteriösen Todes so interessant. Sagen Sie, Mr. Hamilton, glauben Sie an Geister?« Neal wischte sich mit einer fahrigen Geste über die Augen. »Soll das heißen, dass Sie glauben, ein Geist hat meinen Freund umgebracht?« »Das soll gar nichts heißen«, versetzte Murray schroff. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt und ich erwarte eine Antwort.« Neal verzog das Gesicht. »Ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben, Inspektor.« Er musterte ihn mit hartem Blick. »Das kann ich verstehen, Mr. Hamilton. Also gut.« Er spuckte einen Kaugummi aus und fuhr sich über sein schütteres Haar. »Aber es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie sich ein paar Gedanken über die ganze Sache machen würden.« »Verdächtigen Sie mich schon wieder?«, fragte Neal ungläubig. »Hören Sie, ich habe Zeugen, die...« »Schon gut«, versetzte Inspektor Murray und winkte ab. »Dieses Mal glaube ich Ihnen sogar.« Damit schien für ihn die Angelegenheit erledigt zu sein. Er nickte seinem Assistenten zu und wandte sich zum Gehen. »He, Inspektor«, rief Neal und ging dem Polizisten nach. »Wo hat man Joseph gefunden. Ich meine...«. »Wieso fragen Sie das?«, wollte Murray wissen. Aber dann nickte er, ohne Neals Antwort abgewartet zu haben. »Er lag in seinem Wohn58
zimmer. Es muss ihn beim Telefonieren erwischt haben. Jedenfalls hielt seine Rechte den Hörer umkrampft. Genügt Ihnen diese Auskunft?« Neal nickte. Aber dann fiel ihm doch noch eine Frage ein. »Wann ist es - geschehen?« »Vor vier Tagen exakt. Morgens. Einen Tag bevor Sie sich auf dieses bezaubernde Inselchen zurückgezogen haben. Sonst noch eine Frage, Mr. Hamilton?« »Nein«, erwiderte Neal. Er musste sich anstrengen, sich seine Aufregung, die in seinen Eingeweiden wühlte, nicht anmerken zu lassen. Joseph Greenbury war tot! Gestorben an Herzversagen - ausgerechnet an dem Morgen, wo er, Neal ihn zu erreichen versucht hatte. Zufall oder... »Sie wissen, wo Sie uns erreichen können«, erklärte Inspektor Murray und reichte ihm seine Karte. »Wenn Sie uns etwas mitzuteilen haben, Mr. Hamilton, rufen Sie uns an, okay?« Mechanisch nickte Neal und steckte die Karte ein. Er wollte dem Inspektor gleichzeitig sagen, dass auf Revenge Island etwas im Verborgenen brodelte... Dass irgendjemand die Telefonleitung des Hauses durchschnitten hatte... Aber er brachte keinen Laut über die Lippen, sosehr er sich auch anstrengte! Er konnte nicht über diese Sache reden! Ein rascher Seitenblick zu Eddy zeigte ihm, dass es seinem Freund ebenso ging wie ihm. Eine unheimliche Macht kontrollierte ihn - und Eddy! Zweifellos! Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Aber dann hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Sein Trotz erwachte. Er musste es irgendwie schaffen, den Inspektor auf seine Verfassung aufmerksam zu machen. »Wollen Sie nicht mit uns frühstücken, Inspektor Murray?«, quetschte er hervor. »Da Ihre Jagd noch nicht sehr erfolgreich war, wie ich leider feststellen muss, lehne ich lieber ab. Ich schätze nichts so sehr wie ein opulentes Frühstück und möchte daher nicht enttäuscht werden. - Ein anderes Mal werde ich aber Ihre Einladung bestimmt gern annehmen.« Murray lächelte knapp. Dann ging er. Porter folgte ihm wie ein Schatten. 59
Erst Minuten später wich der Bann von ihnen. Neal fluchte. Eddy schüttelte stumm den Kopf. »Das gibt es doch nicht«, presste er dann hervor. »Und das zu allem Übel auch noch auf nüchternen Magen.« »Verdammt, ich glaube an Geister, Eddy! Ja, so langsam glaube ich wirklich daran!« Neal war totenbleich, in seinem gut geschnittenen Gesicht zuckte es. Eddy nickte und hob die mächtigen Schultern. Dann kratzte er sich seinen struppigen Bart. Auch er schien ziemlich verwirrt zu sein, denn er sagte nichts mehr. * In der Höhle war es feucht und kalt. John Flowerty zerbiss einen kernigen Fluch zwischen den Zähnen und wandte sich an seinen Partner. »Wie lange sollen wir hier eigentlich noch auf unseren großen Auftritt warten, he?«, fragte er ungehalten. John Flowerty, der Mann mit dem Stiernacken, hasste nichts so sehr wie das untätige Warten. Er liebte es, seine Aufträge direkt, ohne hinderliche Umwege auszuführen. Sein Partner, Freddy Coleman wusste, was ihn bewegte. Er zuckte die schmächtigen Schultern. »Du weißt, dass unser Boss angeordnet hat, dass wir diesem feinen Mr. Hamilton ein paar Tage Bedenkzeit geben. Und was der Boss anordnet, das ist für uns nun mal Gesetz. Reg dich nicht auf!« Freddy Colemann verzog sein Pickelgesicht zu einer Maske und wandte sich wieder dem Comic zu, in dem er gelesen hatte. »Verdammt«, knurrte John Flowerty. »Mir gefällt dieser Auftrag nicht sehr. Ich halte es in dieser Höhle nicht mehr aus!« Wild sah er sich um, aber da war nur allgegenwärtige Dunkelheit. Die Höhle, in der sie sich versteckt hielten, führte etwa zwanzig Meter tief in die Klippen auf der Nordseite der Insel. Nirgends war diese Höhle groß genug, um aufrecht stehen zu können. Das Licht, das tagsüber durch den schmalen Eingang, der direkt über dem Meer lag, fiel, war milchig-trübe. Er roch unangenehm und durchdringend nach Tang und salzigem Meerwasser. 60
Freddy Colemann richtete seine Taschenlampe auf ihn. Der feine Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit. »Nun sei nicht so unruhig, John. Das macht nur deine Nerven kaputt und die brauchen wir bei diesem Unternehmen. Morgen Abend schlagen wir zu. Und dann verschwinden wir eine Weile von dieser Insel.« »Wird auch Zeit«, murrte John Flowerty. Er kroch zu Freddy und grinste dann. »Wir werden denen mächtig das Fürchten beibringen, was?« Colemann nickte. »Das werden wir, Partner. Na, jetzt beginnt dir die ganze Sache wieder Spaß zu machen.« »Klar, Mann.« »Na siehst du. Und jetzt stör mich nicht mehr. Ich möchte diesen Comic gern in Ruhe zu Ende lesen.« Die Zeit verrann. Das unablässige monotone Rauschen des Meeres war von einschläfernder Wirkung. John Flowerty fielen die Augen zu, nur für ein paar Sekunden jedoch. Dann war er wieder hellwach. War da nicht ein Geräusch gewesen? Er hob seinen Schädel und lauschte angestrengt. Nichts. Kein Laut außer dem Plätschern der Wellen war zu hören. »Hast du nichts gehört?«, erkundigte er sich sicherheitshalber bei seinem Partner Colemann. Der murmelte etwas Unverständliches und hob schließlich unwillig den Kopf. »Was soll ich denn gehört haben, verdammt? Du glaubst doch nicht, dass dieser Hamilton und seine Freunde dieses Höhlenversteck finden? Ausgerechnet mitten in der Nacht?« Flowerty biss die Zähne zusammen. Manchmal ging ihm sein arroganter Kumpel ganz schön auf die Nerven. Der bildete sich wohl ein, etwas Besseres zu sein! Eine Gänsehaut rann über Flowertys mächtigen Rücken. Er zuckte zusammen. Ein eisiger Lufthauch hatte ihn gestreift. Seine Furcht wuchs. Und dann sah er die Augen. Rote, blutrote Augen waren es... »Da! Freddy! Sieh doch!«, kreischte Flowerty in höchster Angst. Colemann drehte sich behäbig um. »Was ist denn jetzt schon wieder, John? Willst du mich auf den Arm ne...« Das letzte Wort seines 61
Satzes blieb ihm buchstäblich im Hals stecken. Er sah die Augen nun ebenfalls. Und diese Augen schwebten näher und näher... »Das gibt es nicht!«, flüsterte Colemann entsetzt. »Lass uns verschwinden, Freddy!«, flüsterte John Flowerty hastig und dann setzte er seine Worte auch schon in die Tat um. Er kroch zum Ausgang, ohne auf die Reaktion seines Partners zu warten. Deshalb sah er nicht, wie die blutroten Augen größer und größer wurden - und Freddy Colemann dieses Schauspiel mit verzücktem Blick verfolgte. Plötzlich waren die Augen verschwunden. Und doch... Freddy Colemann hörte die wispernde, befehlende Stimme, die direkt in seinem Gehirn erklang. »Töte deinen Partner! Töte ihn, denn er will fliehen!« Wie eine Marionette erhob sich Freddy Colemann in eine kriechende Stellung und folgte John Flowerty. »He, John«, rief er ihm nach. »Warte auf mich! Die verfluchten Augen sind verschwunden. Ich bin sicher, dass alles eine ganz normale Erklärung hat. Warte!« Flowerty wandte sich um. Hinter ihm war ein scharrendes Geräusch zu hören und dann sah er Freddy. Das fahle Mondlicht, das durch den Höhleneingang sickerte, ließ sein Gesicht unnatürlich bleich und leblos erscheinen. John Flowerty wischte sich mit seiner Pranke übers Gesicht. Immer noch schwitzte er und immer noch steckte die Angst wie tausend unsichtbare Speere in seinem Herzen. Freddy war inzwischen so nahe herangekommen, dass er ihn mit seiner ausgestreckten Hand hätte berühren können. Aber irgendetwas warnte John plötzlich, dem Partner noch zu vertrauen. Da war dieser seltsame Ausdruck in seinem Gesicht... »Freddy«, sagte John verwundert. »Du wirst sterben!«, grollte in diesem Moment eine dumpfe Stimme, die scheinbar aus Freddys halbgeöffnetem Mund kam. Aber nie und nimmer war das Freddys Stimme! Nein, das war auch nicht Freddy - nicht mehr... Speichel troff aus dem Mund des Partners, ohne dass ihn dies zu stören schien. Freddy war übergeschnappt! 62
John Flowerty warf sich herum. Der Höhleneingang war nur noch knapp vier Meter entfernt. Wenn es ihm gelang, diese Höhle zu verlassen, dann hatte er sämtliche Chancen auf seiner Seite. Aber in diesem Augenblick stürzte sich Freddy Colemann auf ihn, seine Finger zu Krallen gebogen. Flowerty fluchte unterdrückt, als sich die Finger Freddys um seinen Hals schlossen. Woher schöpfte der dünne Freddy diese unheimliche Kraft? Dieser Gedanke hämmerte in John Flowertys Gehirn, bis es vorbei war. Sekundenlang herrschte tödliche Stille in der feuchten Höhle. Nur Freddy Colemanns hektisches Atmen war zu hören. Als Freddy wieder zu sich kam, als er endlich wieder Herr seiner Sinne und Handlungen war, sah er den leblosen, mächtigen Körper seines Partners. Ungläubig richtete er sich auf. Das Grauen rieselte langsam über seinen Rücken. Was war geschehen? Er erinnerte sich nur an dieses grauenvolle Augenpaar, in das er schließlich hineingestürzt war... »Du warst mein Werkzeug!«, sagte da eine höhnische Stimme. Direkt hinter ihm! Colemann wirbelte aufkeuchend herum. Nichts war zu sehen! Er war allein! Allein mit dieser Stimme - und den Augen. Überall sah er sie plötzlich, diese Augen. Sie führten einen wilden Tanz auf. »Es war belustigend, zu sehen, wie du mir - MIR - gehorchtest. Sonst bin ich es, der gehorchen muss.« Schrilles, gellendes Lachen folgte diesen Worten. »Aber genug gescherzt! Auch dich muss ich vernichten, Sterblicher. Mein Herr wünscht, dass sein großer Plan nicht gestört wird...« »Nein! Nein!«, stammelte Freddy und das Echo dieser Schreie hallte wider und wider von den schroffen Wänden der Höhle. »Nenne mir den Namen deines Auftraggebers!« »Wenn - wenn ich dir seinen Namen sage - kann ich dann verschwinden? Ich meine - wirst du mich verschonen? Ich verspreche dir, dass ich nie über das, was hier geschehen ist, reden werde - bitte!« 63
Schweigen. Tödlich lastete dieses Schweigen in der Höhle. Freddy Colemann wusste, was es zu bedeuten hatte. Der Unheimliche ließ nicht mit sich handeln. Er war verloren! »Ich will den Namen deines Auftraggebers wissen!« »Nick Carpenter ist es«, flüsterte Freddy Colemann tonlos. »Er will Hamiltons Vermögen erben, deshalb hat er uns engagiert, dafür zu sorgen, dass Hamilton die Bedingungen des Testaments seiner Tante nicht erfüllen kann. Carpenter ist mein Boss.« Freddy Colemann sank in sich zusammen. Er fühlte, sich leer und verraten. Und dann registrierte er mit erschreckender Deutlichkeit, dass sich sein Herzschlag verlangsamte... * Heftiger Regen peitschte prasselnd gegen die Fensterscheiben des Hauses. Irgendwo schlug ein Fensterladen wummernd gegen die Mauer. Neal stocherte lustlos in seinem Essen. Schon seit Tagen hatte er keinen richtigen Appetit mehr. »Wenn du weiterhin so wenig isst, fällst du wohl vollends vom Fleisch, mein Bester«, sagte Jean und warf einen bezeichnenden Blick auf seinen Teller. »Schließlich musst du nicht nur stark sein für den Fall, dass dieser komische Geist doch noch auftaucht, um uns alle zu vernichten, sondern auch für... Nun ja, du weißt schon.« Eddy winkte ab. »Wer wird denn immer daran denken, Jean. Nun gönn deinem Neal eben auch mal ein bisschen Ruhe!« Er zwinkerte Jean verschwörerisch zu. »Außerdem: Ich schätze, dass der Geist, von dem du gesprochen hast, nicht mehr erscheint. Immerhin sind wir jetzt seit drei Wochen auf dieser Insel und nichts ist passiert. Nicht mal die beiden Burschen, die Neal so übel mitgespielt haben, sind mehr aufgetaucht. Ich schätze, dass das ein gutes Omen ist.« »Es war jedenfalls ein sehr interessanter Urlaub«, warf Anika lächelnd ein. »Ohne Farbfernseher und Rushhour - und doch mit einem Höchstmaß an nervlicher Zerfaserung.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch einmal möchte ich das nicht miterleben. Wirklich nicht« 64
Clay Steven lachte plötzlich rau. »Ihr alle scheint zu vergessen, dass noch eine Woche vor uns liegt. Sieben Tage müssen wir noch auf der Insel verbringen. Sieben Tage müssen wir noch überleben!« »Du meinst...« Anika unterbrach sich. Mit großen Augen schaute sie ihren Verlobten an. »Sieben - das ist eine magische Zahl«, murmelte Neal düster. »Ach was«, brummte Eddy gutgelaunt und führte sein Glas an die Lippen. »Ihr redet euch etwas ein!« »Vielleicht will unser Feind, dass wir unvorsichtig werden. Hast du dir das schon einmal überlegt, Eddy?«, wandte sich Clay an den Hünen, der ihm genau gegenübersaß. Eddy zuckte unbehaglich die Schultern. Dann verzog er das Gesicht. »Na ja, überlegt habe ich mir das natürlich auch schon. Aber, Himmel, es fällt mir trotz dieses seltsamen Erlebnisses am Strand schwer, an Geister zu glauben, verstehst du? Gut, ich konnte das, was ich dem Inspektor sagen wollte, nicht sagen. Und Neal konnte das auch nicht. Warum auch immer. Aber muss das denn unbedingt das Werk eines Geistes sein?« »Es gibt noch einige andere Tatsachen, die auf die Existenz eines Geistes schließen lassen, Freund«, versetzte Neal. »Denk an Joseph Greenburys seltsamen Tod! Joseph hat sich mit Parapsychologie beschäftigt und ich wollte ihn einladen, mit uns auf die Insel zu kommen. Joseph starb. Angeblich an Herzversagen. Aber vielleicht wurde er ermordet, weil jemand meine Gedanken kannte. Weil irgend jemand verhindern wollte, dass wir einen Spezialisten bei uns haben, der sich auf okkulte Phänomene versteht.« Schweigen senkte sich auf sie nieder. Schließlich räusperte sich Germaine »Sei mir nicht böse, Neal, aber das - das hört sich so phantastisch an...« »Das ist es auch«, räumte Neal trocken ein. »Und wenn ich ehrlich bin, es fällt auch mir ziemlich schwer, das alles zu akzeptieren. Ich bin bislang darauf fixiert gewesen, das, was ich durch das Objektiv meiner Kamera sehen konnte, als real anzuerkennen. Und plötzlich gibt es etwas, das man nicht sehen kann. Nur fühlen. Oder hören. Ich habe 65
euch ja von dieser unheimlichen Stimme erzählt, die mich drängte, das Erbe meiner Tante anzunehmen.« »Ah - kann ich mir wohl noch ein Fläschchen holen?«, fragte Eddy und deutete auf die leere Scotch-Flasche, die vor ihm auf dem Tisch stand. Neal seufzte und nickte. »Klar doch. Schließlich wollen wir nicht schuldig sein, wenn deine Stimme das besondere Etwas verliert.« »Nun«, entgegnete Eddy mit leuchtenden Augen, aber todernst, »wenn jemand so eine besondere Stimme hat wie ich, dann muss man sie natürlich pflegen. Neal, das hast du richtig erkannt. Und nachdem es in diesem Gemäuer nun keinen Wodka gibt...« Er erhob sich und ging mit großen Schritten zur Tür, riss sie auf und wollte hinausgehen. Aber er prallte gegen Mrs. Gray. Die dürre Frau murmelte hastig eine Entschuldigung. »Äh, ich - ich wollte fragen, ob ich den Herrschaften noch etwas bringen darf?«, fragte sie dann sichtbar unsicher. »Haben Sie gelauscht, Mrs. Gray?«, erkundigte sich Clay Steven direkt. »Ich? - Natürlich habe ich nicht gelauscht! Ich lausche nicht!« Empörung klang in der Stimme der Frau. Aber dann schien sie sich zu beruhigen. »Ich... Nun, eigentlich bin ich gekommen, weil ich Sie warnen will. Sie müssen mir glauben, Mr. Hamilton.« Sie ging zu ihm und umfasste seine rechte Hand. »Es wird etwas geschehen...« »Schon gut, Mrs. Gray. Ich glaube Ihnen.« Er sah ihr in die unheimlich flackernden Augen. »Sie glauben mir«, echote sie. »Ich danke Ihnen, Mr. Hamilton. Sie werden es nicht bereuen, weil Sie jetzt gewarnt sind.« Sie kicherte plötzlich. »Gehen Sie nun zu Ihrem Mann. Es ist schon spät.« »Danke, Mr. Hamilton. Danke.« Sie lächelte schwach, dann verließ sie den Raum. Vorsichtig und leise schloss sie die Tür hinter sich. »Glaubst du dieser alten Ziege wirklich?«, wollte Germaine staunend wissen. Neal blickte sie forschend an. »Ja, Germaine, das tue ich. Ich habe Mrs. Gray in den vergangenen Tagen genau beobachtet. Diese Frau 66
spielt uns kein billiges Theater vor. Sie glaubt das, was sie sagt, sie ist ehrlich. Vielleicht ist sie medial begabt und weiß daher mehr als wir. Auf jeden Fall werden wir ihre Warnung nicht unbeachtet lassen.« »Wir sind uns bereits seit drei Wochen der Gefahr bewusst, die hier irgendwo lauert«, sagte Jean ruhig. »Seit drei Wochen sind wir auf der Hut...« »Und trotzdem war bisher alle Liebesmüh vergebens«, warf Germaine ein bisschen spöttisch ein. »Und so langsam komme ich mir verulkt vor. Was hätte das für ein herrlicher Urlaub sein können! Faulenzen, in der Sonne liegen, schwimmen... Ach, ich darf gar nicht daran denken.« Eddy kam mit zwei vollen Scotch-Flaschen zurück. »Eine habe ich für euch mitgebracht«, erklärte er gönnerhaft, während er sich setzte. »Weißt du, Neal, ich frage mich immer, warum es dieser Geist immer vorausgesetzt, dass es diesen Geist wirklich gibt, dass es nicht nur ein Trick, ein fauler Zauber ist - auf uns abgesehen hat«, nahm Jean die Unterhaltung wieder auf. »Ich - ich meine, er war es doch, der dich quasi gezwungen hat, das Erbe deiner Tante anzunehmen und hierher zu kommen.« Grübelnd starrte Neal auf seinen Teller und schließlich schob er ihn von sich. »Ich schätze«, antwortete er leise, »dass wir die Antwort auf deine Frage schneller präsentiert bekommen, als uns lieb ist. Wie gesagt - sieben ist eine magische Zahl...« »Ich bin ganz deiner Ansicht, Freund Neal«, versetzte Clay Stevens trocken und hob sein Glas. * In dieser Nacht schlug das Grauen zu... Germaine Stoerenson war ahnungslos. Nur mit einem leichten, ziemlich durchsichtigen, aber dafür umso reizvolleren Nachthemdchen bekleidet schlief sie. Eddy lag neben ihr, leise röchelnd und blubbernd. Das tat er immer, wenn er seine einmalig gute Stimme ein bisschen zu sehr ›gepflegt‹ hatte. 67
Germaine hatte an diesem Abend darauf verzichtet, das Fenster offen zu lassen. Der heftige Regen und die heulenden Geräusche, die der Wind verursachte, wenn er um die Ecken des Hauses orgelte, hatten ihr ein bisschen Angst gemacht. Jetzt lastete eine schwüle Hitze in dem dunklen Zimmer im ersten Stock des Hauses. Germaine wurde plötzlich unruhig. Sie wälzte sich auf die andere Seite, ein leises Stöhnen brach von ihren Lippen. Und plötzlich war sie hellwach. Sie hob ihre Lider, ohne sich zu bewegen. Vollkommen regungslos starrte sie in das Dunkel. Sie hatte etwas gehört. Schritte. Leise, vorsichtige Schritte... Oder hatte sie es geträumt? Germaine atmete schneller. Es fiel ihr immer noch ein bisschen schwer, klar zu denken, die notwendige Beziehung zur Realität zu finden. Sie hörte die Schritte wieder. Ein hässliches, schlurfendes Geräusch, das sich monoton wiederholte. Germaine richtete sich auf. Sie merkte, wie sich auf ihrer Stirn ein leichter Schweißfilm bildete. Sie streckte ihre Hand aus und schüttelte Eddy heftig. Aber Eddy ließ sich dadurch nicht stören, er wachte nicht auf. Er schlief den Schlaf des Gerechten. Der Scotch hielt ihn wie mit stählernen Klauen im Reich der Träume. Germaine spürte die Verzweiflung und die Angst in sich hoch pulsieren. Sie zitterte. Ihre Gedanken jagten sich. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? - Licht, ich muss das Licht anknipsen!, entschied sie gleichzeitig. Mit fahrigen Fingern tastete sie durch die Dunkelheit nach dem Lichtschalter. Sie fand ihn nicht! »Mein Gott, Eddy!«, hauchte sie. »Eddy!« Aber Eddy Hopper bewegte sich nicht. Germaine begriff, dass sie in diesen grässlichen Sekunden ganz allein auf sich gestellt war. Sie wagte nicht daran zu denken, wer in diesem Augenblick durch die Korridore des Hauses der Amanda Willock schlich... Sie verzog ihren hübsch geformten Mund. Ihre Lider flatterten. Sie fröstelte. Mühsam nur beherrschte sie sich. Mit einer nervösen Bewegung glitt sie aus dem Bett. Leise tapsend kamen ihre nackten Füße auf dem mit hölzernen Bohlen ausgelegten Fußboden auf. Mit ausgestreckten Armen ging Germaine durch das 68
Zimmer in die Richtung, in der sie die Tür wusste. Als sie die Klinke umfasste, atmete sie auf. Sie öffnete die Tür so leise wie möglich. Ein leises, durchdringendes Quietschen, ließ sich nicht vermeiden. Germaine hielt ihren Atem an. Dann quetschte sie sich durch den schmalen Spalt. Dunkel und drohend lag der Korridor vor ihr. Kein Laut war in diesem Augenblick zu vernehmen. Wieder fragte sich Germaine, ob sie nicht doch alles nur geträumt hatte. Dennoch. Es würde besser sein, Neal darauf aufmerksam zu machen. Nur zu gut erinnerte sich Germaine an seine warnenden Worte, an die Unruhe, die in seinen Augen gewesen war. Sie kannte Neal schon beinahe so lange wie Eddy. Sie wusste, dass er sich um ihrer aller Wohle sorgte. Sie machte ein paar Schritte. Und dann fühlte sie sich plötzlich von einer Titanenkraft hochgehoben. Gleichzeitig war da etwas Raues, das sich um ihren Hals legte... * Angst nagte in ihm, hässliche, immer gegenwärtige Angst. Und diese Angst ließ ihn arbeiten, nachdenken, grübeln, nach einem Ausweg suchen. Neal Hamilton wischte sich über seine brennenden Augen, dann konzentrierte er sich wieder auf den Text des vor ihm liegenden Buches. Er hatte sich in die mächtige Bibliothek seiner Tante zurückgezogen. Das, was er eigentlich gesucht hatte, hatte er natürlich nicht gefunden - Bücher über Okkultismus, Parapsychologie, Geisterbekämpfung. Aber da war ein anderes, sehr interessantes Buch - eine handgeschriebene Bibel. Die Bibel einer Vereinigung, die sich ›Die Bruderschaft der Schwarzen Rose‹ nannte. Neal hatte noch nie von dieser geheimnisvollen Bruderschaft gehört, um so mehr wunderte er sich, dass ausgerechnet seine Tante Amanda, die nichts so sehr verachtet hatte wie Nachgiebigkeit und Abstraktes, diese Bibel in ihrer Bibliothek aufbewahrte. 69
Obwohl sich ihm keine Lösung seines Problems anbot, hatte er begonnen, in dem Buch zu lesen. Es war später geworden. Aber er hatte das gar nicht registriert. Er saß an dem wuchtigen Schreibtisch, der nahe dem großen Fenster stand und der Lichtkreis der hübschen Tiffanylampe war die einzige Lichtquelle in dem Raum. Plötzlich glaubte Neal einen dumpfen Aufschrei zu hören. Sein Kopf ruckte hoch. Mit angespannten Muskeln saß Neal, bereit, aufzuspringen und zu handeln. Aber der Schrei - oder was immer er gehört hatte - wiederholte sich nicht. Meine Nerven spielen mir einen Streich, sagte er sich und entspannte sich. Minuten vergingen quälend langsam. Dann hörte er Schritte! Hastig, laut hallend, kamen sie näher. Neal erhob sich und hetzte zur Tür. Er spürte plötzlich, dass etwas Grauenvolles passiert war... Die Tür wurde von außen aufgerissen, Eddy taumelte herein. Das Gesicht des Zweizentnermannes war aschgrau. Der Mann war völlig außer sich. »Eddy! Was ist passiert!« Neal packte den Freund bei den Schultern und schüttelte ihn. Eddy holte Atem. »Ich - ich habe keine Ahnung. Neal, Germaine ist verschwunden... Sie ist weg! Verdammt, ich bin aufgewacht und das Bett neben mir war leer. Sie muss schon länger aufgestanden sein, denn das Laken ist bereits kalt.« »Himmel! Und du hast nicht bemerkt, dass sie aufgestanden ist?«, fragte Neal knapp. Eddy schüttelte stumm den Kopf. Er machte sich Vorwürfe, das war nur zu offensichtlich. »Wir müssen sie suchen«, presste er verzweifelt hervor. »Hoffentlich ist es nicht schon zu spät!« »Hoffentlich«, echote Neal. »Mann, wo sollen wir suchen. Dieses Haus ist riesengroß.« Fahrig strich er sich sein zerzaustes Haar zurück und schüttelte den Kopf. »Der Keller!«, stieß Eddy hervor. »Dieser Rechtsanwalt hat doch gesagt, dass es außer dem üblichen Keller auch noch Gewölbe und Grabkammern dort unten gebe. Vielleicht hat man meine Germaine dorthin geschleppt...« 70
»Dr. Lambert hat ausdrücklich gesagt, dass es sich um bloße Gerüchte handelt, Eddy«, schränkte Neal ein. »Das ist jetzt doch unwichtig! Wir müssen irgendetwas tun!« Eddy schlug seine rechte Faust in die geöffnete Linke. »Also gut«, stimmte Neal zu. Er zog den Freund mit sich. Im Korridor knipste er Licht an. Gemeinsam hasteten sie zur Kellertür. Sie war geöffnet... Neal zuckte kaum merklich zusammen. Er erinnerte sich ganz genau, dass diese Tür bisher immer verschlossen war. Lag Eddy also mit seiner Vermutung richtig? War Germaine - von wem auch immer - in die Gewölbe unter dem Haus entführt worden? Neal gab sich einen Ruck. Er stieß die Tür vollends auf. Knarrend schlug sie gegen das schroffe Mauerwerk. Heimtückische Dunkelheit gähnte ihnen aus der Tiefe entgegen. Eddy zögerte keine Sekunde. Er stieg die schmalen, ausgetretenen Stufen hinab. Neal folgte ihm, seine Sinne angespannt. Wenn das eine Falle war... Er verdrängte diesen Gedanken. Er durfte sich nicht verrückt machen! »Gibt es hier keinen Lichtschalter?«, erkundigte sich Eddy unruhig. »Keine Ahnung«, erwiderte Neal. Seine Hände tasteten an der Wand entlang. Mechanisch stieg er tiefer und tiefer. Eddys Anwesenheit konnte er nur noch ahnen. Es wurde kalt. Irgendwo tropfte Wasser monoton zu Boden. Ein leises Platschen war zu hören. Eddy stieß erregt die Luft aus seinen Lungen. »Es hat keinen Sinn«, sagte er dann resignierend. »Ohne Licht kommen wir hier unten nicht weiter.« Ein schabendes Geräusch folgte diesen Worten. Eddys mächtige Hände tasteten ebenfalls über die Wand, auf der Suche nach einem Lichtschalter. Vergeblich. Neal fluchte. »Wir müssen umkehren«, brummte er. »Eine Taschenlampe holen und Waffen.« Sie drehten sich um und tasteten sich vorsichtig die wenigen Meter, die sie von den Stufen der Kellertreppe trennten, zurück. In diesem Augenblick wurde die Kellertür zugeschlagen! Wie ein Donnerschlag hallte dieses Geräusch durch die absolute Stille. Neal 71
merkte, wie ihm der Schweiß in Strömen über den Rücken rann. Sein Atem beschleunigte sich, als er wie von Sinnen die gefährlichen Stufen hinaufstürmte. Er erreichte die Tür, warf sich dagegen. Mit einem splitternden Krachen wurde sie aus den Angeln gerissen. Neal taumelte in den Korridor. »Bist du okay, Eddy?«, keuchte er, als er sich von der steinernen Fliesen aufrappelte. »Ja«, kam es knapp zurück. Sekunden später stand Eddy neben Neal. »Und jetzt?«, fragte er leise. Neal wurde einer Antwort enthoben. Ein grässlicher Schrei gellte auf. Schaurig und schrill und voller Entsetzen hallte er durch die Korridore des Hauses, um dann jäh abzureißen und einer bleiernen Stille zu weichen. »Das war Germaine!«, stieß Eddy hervor. Dann, während er losrannte, setzte er hastig hinzu: »Los komm, Mann! Der Schrei kam aus dieser Richtung.« Sie erreichten die Halle. In diesem Teil des Hauses war es dunkel und kalt. Neal drehte den Lichtschalter, aber nur ein hartes Knacken war zu hören. Es blieb dunkel. Im ersten Stock wurden Stimmen und Schritte laut. Die anderen waren durch den Schrei ebenfalls aufgeschreckt worden. Neal machte ein paar vorsichtige Schritte vorwärts. Dann hörte er das Wimmern. Er starrte in die Richtung, in der das Portal lag. Jetzt gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er konnte das helle Rechteck erkennen: Das Portal stand offen! Und dort bewegte sich etwas... Oben, im ersten Stock, wurde das Licht angedreht. Und jetzt sah Neal alles... Eddy stand wie erstarrt wenige Meter vor ihm. Mrs. Gray lag wimmernd auf dem Boden und starrte auf Germaine. Ein Strick war um ihren schlanken Hals geschlungen und dieser Strick war an einem der mächtigen Deckenbalken der Halle befestigt. * 72
Inspektor Murray stoppte seinen Dienstwagen vor dem Headquarter. Er schaltete den Motor ab, dann lehnte er sich in dem unbequemen Sitz zurück und fuhr sich über die Augen. Er fühlte sich hundemüde, gleichzeitig aber wusste er, dass er wieder kein Auge zubekommen würde in dieser Nacht. Er litt seit ein paar Tagen an Schlafstörungen und was er auch dagegen unternommen hatte - es war vergeblich gewesen. Ben Murray zündete sich eine Zigarette an - die erste seit zwei Jahren. Tief zog er den Dunst in seine Lungen. Es schmeckte widerlich. Er quälte sich aus dem Wagen, schlug die Tür zu, verschloss sie und wollte losgehen. Da bemerkte er den Schatten, der sich aus einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite löste und direkt auf ihn zukam. Murray reagierte so, wie er es in langen Dienstjahren gelernt hatte. Er griff nach seiner Waffe und ließ sich nichts anmerken. Obwohl in seinem Kopf eine ganze Maschinerie auf Hochtouren arbeitete. Wer wollte zu dieser Zeit noch etwas von ihm? Wollte der ›Schatten‹ überhaupt etwas von ihm? Sah er gar schon Gespenster? »Äh - sind Sie Mr. Murray?«, fragte in diesem Moment der ›Schatten‹. Murray drehte sich langsam um und lockerte den Griff um seine Pistole ein bisschen. Der Mann, der ihm nun gegenüber stand, sah harmlos aus. Mittelgroß, schmales, gut geschnittenes Gesicht, kurze Haare. Der Mann schien Sorgen zu haben, denn seine Lippen bebten und in den dunklen Augen flackerte Angst. Ja, nackte Angst. Ben Murray zog eine Augenbraue hoch, dann nickte er. »Der bin ich. Was wollen Sie von mir, Mister?« »Ich bin Nick Carpenter«, stellte sich der andere leise sprechend vor. »Ich - ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie um diese Zeit noch behellige, Inspektor - aber...« Er blickte sich gehetzt um, bevor er weiter sprach. »Ich - ich werde verfolgt.« »Von wem?« Nick Carpenter räusperte sich. »Können wir nicht von hier verschwinden. Ich meine, wir könnten doch vielleicht in Ihr Büro gehen.« 73
»Meinetwegen. Kommen Sie mit!« Murray seufzte innerlich. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Aber dann dachte er an seine Schlafstörungen. Auch gut, dachte er. Mit dem Paternoster fuhren sie in den dritten Stock hoch. Das Büro Murrays lag am Ende eines scheinbar endlosen Korridors. Sie traten ein. Und Murray warf mit einer routinierten Bewegung seinen zerknautschten Hut über den mittelalterlichen Hutständer. Als er sich schließlich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, fixierte er Nick Carpenter. »Also, weshalb haben Sie da unten auf mich gewartet, obwohl Sie verfolgt werden?« »Ich wusste, dass Sie den Fall Amanda Willock bearbeiten, Inspektor Murray«, begann der Mann zögernd. Murray horchte auf. »Woher wissen Sie das?« »Nun, ich bin einer der Erbberechtigten. Ich meine, wenn Mr. Hamilton das Erbe seiner Tante abgelehnt hätte, dann wäre ich einer der Erbberechtigten gewesen.« »Aber Mr. Hamilton hat das Erbe angenommen. Gut. Weiter!« »Inspektor, Sie - Sie werden mich vielleicht für verrückt erklären, wenn ich Ihnen erzähle, was mir heute Abend passiert ist.« »Lassen Sie es darauf ankommen, Mann. Erzählen Sie endlich! Sie können mir glauben, dass ich hier nicht zu meinem Vergnügen sitze! Klar? - Also, was haben Sie mir zu sagen...« Nervös lockerte Nick Carpenter seine Krawatte. Dann nickte er und schien sich einen Ruck zu geben. »Als ich vor etwa fünf Stunden nach Hause kam, passierte es. Ich - ich wollte das Licht andrehen, aber das klappte nicht. Und dann - dann sah ich plötzlich vor mir in der Finsternis, zwei blutrote Augen... Sie kamen immer näher...« Nick Carpenter räusperte sich. »Geben Sie mir wohl ein Glas Wasser, Inspektor? Ich...« Murray erhob sich und ging in den angrenzenden, winzigen Raum. Mit einem Glas Wasser in der Hand kehrte er gleich darauf zurück. »Hier.« »Danke.« Nick Carpenter leerte das Glas. »Sie müssen mir glauben, Inspektor!« 74
»Was geschah weiter, Mr. Carpenter?«, versetzte Murray und bemühte sich, ruhig und beherrscht zu bleiben. »Nun, ich spürte, wie eine unheimliche Kälte mir entgegenschlug und dann - dann erklang diese Stimme. Inspektor, das war keine menschliche Stimme! Ich müsse sterben, sagte sie. Eine Hand, eine unsichtbare Hand, Inspektor, legte sich um meine Brust. Ich schrie und wollte mich aus diesem Zugriff befreien, aber da...« Nick Carpenter unterbrach sich abrupt. Seine Augen quollen plötzlich aus den Höhlen. »Da! - Inspektor! Spüren Sie es denn nicht?«, flüsterte er. Murray schüttelte verwundert den Kopf. »Nein, was soll ich denn spüren?« »Diese Kälte«, hauchte der Mann tonlos. »Diese unheimliche Kälte.« »Mr. Carpenter, ist Ihnen nicht gut? - Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte Murray, ernsthaft besorgt. Aus einem unerfindlichen Grund bezweifelte er plötzlich, dass der Mann nüchtern war... Und doch... Schlagartig erlosch das Licht. Murray reagierte nur eine hundertstel Sekunde später. Mit einer Gewandtheit, die ihm keiner seiner jüngeren Kollegen mehr zugetraut hätte, glitt er aus dem Sessel zu Boden. Nur die hektischen Atemzüge dieses seltsamen Mr. Carpenter waren zu hören. »Mr. Carpenter - ist mit Ihnen alles okay?«, fragte Murray flüsternd. Hölle, dachte er gleichsam. Warum rede ich nicht normal? Hat
mich der Bursche mit seinem Geschwätz doch beeindrucken können?
»Inspektor«, keuchte Nick Carpenter jämmerlich. »Die Augen... Sehen Sie doch nur... Die Augen...« Murray kam hoch, angestrengt starrte er in die Dunkelheit. Er sah nichts. Keine Augen - nichts. Vorsichtig ging er zur Tür hinüber. Er erreichte die Tür, seine Hand fand den Lichtschalter. Er drehte ihn um, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass es dunkel blieb. Murray fluchte stumm. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken. Das war ihm noch nie passiert... »Carpenter!«, rief Murray. Es kam keine Antwort. Totenstill war es in dem Büroraum. 75
Murray stieß den Atem aus und riss die Tür auf. Im Korridor knipste er Licht an, dann eilte er in sein Büro zurück. Er registrierte einen widerlichen Geruch... Dann sah er Nick Carpenter. Bewegungslos lag er auf dem Boden, die Arme ausgestreckt. Das gibt es doch nicht!, zuckte es durch Ben Murrays Gehirn, während er niederkniete und Carpenters Puls fühlte. Der Mann war tot. Inspektor Murray richtete sich wieder auf. Auf seinen Schultern schienen Zentnergewichte zu liegen. Mit müden Schritten ging er zum Telefon, hob ab und wählte die Nummer von Doc Spencer. Als auf der anderen Seite endlich abgehoben wurde, meldete sich Ben Murray knapp. »Amos, ich brauche dich«, sagte er dann. »Sofort.« »Was ist denn los?« Amos Spencers Stimme klang verschlafen. »Erkläre ich dir, wenn du hier bist. Beeil dich, bitte! Hier liegt ein Toter in meinem Büro.« »Ich komme«, erklärte Doc Spencer nur und legte auf. * »Ich habe Sie gewarnt. Aber Sie haben mir nicht geglaubt!« Mrs. Gray kicherte hysterisch. »Jetzt sehen Sie, was passiert, wenn man mir nicht glaubt... Sie ist tot! Tot!« Mit ihren langen, knochigen Fingern deutete sie auf Germaine. »Hören Sie auf!«, explodierte Eddy. Tränen standen in seinen Augen und seine mächtige Stimme vibrierte. Neal klopfte ihm beruhigend auf die Schultern. Jean, Anika, Clay standen schweigend bei ihnen. Das Grauen stand ihnen allen im Gesicht geschrieben. Neal konnte sich nur zu gut denken, was sie jetzt bewegte. Nur ein Gedanke: Wer von uns wird
der Nächste sein?
Er wandte sich an Mrs. Gray, die nach ihren Worten in stumpfes Nachdenken verfallen war. »Warum sind Sie vor uns hier gewesen, Mrs. Gray? Haben Sie ein Geräusch gehört, oder...« 76
»Ich habe gespürt, dass es passiert«, unterbrach sie ihn. »Ich wusste, dass es geschieht. Deshalb bin ich aufgestanden und in die Halle gegangen. Und dann sah ich, wie Miss Germaine dort hing... Ich habe geschrieen.« Mrs. Gray hob ruckartig ihren Kopf und blickte ihn nun direkt an. »Sie glauben mir doch, Mr. Hamilton? Nicht wahr, Sie glauben mir?« Er nickte. »Das sagte ich bereits. Mrs. Gray, wo ist Ihr Mann?« »Ich weiß es nicht.« Trotzig hörte sich das an. »Wir haben uns gestritten. Daraufhin hat er das Haus verlassen.« Wieder lachte sie völlig grundlos. Dann sagte sie: »Und ich werde jetzt auch gehen. Ich werde verschwinden... Ich will nicht mehr in diesem Geisterhaus wohnen!« Sie drehte sich um und rannte hinaus. »Mrs. Gray! Mrs. Gray, so warten Sie doch!« Neal hatte sich als erster gefasst und rannte ihr nach. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. Ein kalter, heftiger Wind war aufgekommen. Als Neal die Stufen der Veranda hinunterlief, war Mrs. Gray bereits verschwunden. Die Dunkelheit schien sie verschluckt zu haben. »Mrs. Gray!«, rief er noch einmal, aber er erhielt keine Antwort. Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Dann ging er zurück zu seinen Freunden. Eddy und Clay hatten Germaine in eines der Zimmer im Erdgeschoß gebracht und dort auf eines der Gästebetten gelegt. Anika und Jean standen dabei. Ihre Gesichter waren bleich. Als Neal den Raum betrat, blickte Clay ihn scharf an. »Du hast sie nicht einholen können«, stellte er scheinbar gelassen fest. »Ich dachte es mir.« »Glaubt ihr denn, dass sie - oder ihr Mann - etwas mit Germaines Tod zu tun haben?«, fragte Anika leise. »Möglich ist schließlich alles«, erwiderte Jean. »Auf jeden Fall ist es ziemlich seltsam, dass Mr. Gray verschwunden ist.« »Hört auf!«, rief Eddy unerwartet laut. »Meine Germaine ist tot. Keine Spekulation macht sie wieder lebendig... Lasst mich allein. Bitte!« 77
»Eddy, es - es tut mir leid«, sagte Neal leise. Er wusste, wie trivial sich diese Worte anhörten, aber ihm fielen in diesem Moment keine anderen, besseren ein. »Schon gut«, erwiderte Eddy tonlos. »Geht jetzt!« Sie verließen den Raum. Behutsam schloss Jean die Tür hinter sich. »Und jetzt?«, fragte sie und blickte Neal an. »Was geschieht jetzt? Neal, wir müssen etwas unternehmen! Wir können doch nicht einfach warten, bis sich unser Gegner sein nächstes Opfer ausgesucht hat!« »Wir warten, bis es hell ist«, antwortete Neal ruhig. »Dann suchen wir Mrs. und Mr. Gray. Und dann versuchen wir, die Insel zu verlassen.« »Du willst also aufgeben?«, fragte Clay Steven ungläubig. Neal nickte. »Vorerst, ja. Wenn ich euch in Sicherheit weiß, werde ich auf die Insel zurückkehren. Allein.« »Unsinn. Ich lasse dich nicht allein, das weißt du ganz genau!« Jeans Stimme war fest und entschlossen. »Ich - ich habe keine Angst. Nicht sehr, wenigstens.« »Hoffentlich erleben wir den Morgen noch«, flüsterte Anika plötzlich. »Unser Gegner hat sein Opfer geschlagen«, sagte Clay. »Warum sollte er sich - für heute - damit nicht begnügen? Ich glaube übrigens nicht, dass wir die Insel verlassen können.« Neal gab darauf keine Antwort. Natürlich ahnte er, dass Clay ihre Situation richtig einschätzte. - Aber er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass sie verloren waren. Es musste einen Ausweg, eine Rettung geben! »Wir bleiben ab jetzt zusammen. Niemand unternimmt etwas allein oder auf eigene Faust«, ordnete Neal an. »Vielleicht gelingt es uns doch, unserem unheimlichen Gegner ein Schnippchen zu schlagen!« * Der Morgen graute. Endlich. 78
Fahles Licht dämmerte am Horizont herauf, ergoss sich über die sanft bewegten Wogen des Meeres und die Insel. Neal wandte sich vom Fenster ab. Keiner von ihnen hatte in dieser Nacht mehr ein Auge zugetan. Sie alle hatten an Germaine und ihr schreckliches Ende denken müssen. Und an Eddy, der nun bei ihr war und sich Vorwürfe machte. »Zeit, etwas zu unternehmen«, murmelte Neal. Er legte das belegte Brötchen, das ihm Anika vor wenigen Minuten gereicht hatte, beiseite. Er hatte keinen Hunger. Sie gingen hinüber zu Eddy. Dumpf brütete er vor sich hin. Seine rechte Hand hielt Germaines Hand umschlossen. »Eddy«, sagte Neal sanft. Eddy blickte auf. Seine Augen schienen zu brennen. Grenzenlose Trauer stand darin geschrieben. Schweigend starrte er Neal an. »Wir werden jetzt die Grays suchen - und dann die Insel verlassen. Komm mit!« Eddy schüttelte langsam den Kopf. »Ich werde nicht mit euch kommen, Freunde. Mein Platz ist hier, bei Germaine. Sie - sie musste sterben, weil ich geschlafen habe...« »Selbstvorwürfe machen sie nicht mehr lebendig«, versetzte Jean hart. »Du wirst auch sterben, wenn du allein hier zurückbleibst. Komm mit uns! Hilf uns, den Tod Germaines zu rächen!« »Rächen...«, echote Eddy tonlos. »An wem wollt ihr euch denn rächen, he?« »Spiel jetzt nicht verrückt, Eddy, bitte!«, sagte Neal. »Wir leben noch und - wir brauchen dich!« Eddy drehte seinen Kopf und sah in Germaines bleiches Gesicht. Schließlich nickte er langsam. »Okay, Neal. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist mein Platz vorerst doch bei dir und den anderen.« Schwerfällig erhob er sich, den Blick immer noch auf Germaines Gesicht gerichtet. Dann wandte er sich ab. »Also, gehen wir«, sagte er schroff. 79
Als sie etwa eine halbe Stunde gegangen waren, lichtete sich der Wald ein bisschen. Das struppige, verfilzte Unterholz wich hohem, saftigem Gras. »Nichts«, stellte Clay fest. »Hier ist seit Jahren kein Mensch mehr gegangen.« Fr drehte sich um seine eigene Achse und hob die Hände. »Dann müssen sie auf der anderen Seite der Insel sein«, sagte Neal. »Vielleicht bei den Klippen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte in die Gesichter seiner Gefährten. »Kehren wir also um!«, räumte Jean ein. Ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, machten sie kehrt und ging den schmalen Weg, den sie gekommen waren, zurück. Neal folgte ihr, die anderen schlossen sich an. Schweigend liefen sie hintereinander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. War nicht alles, was sie unternahmen, sinnlos? Neal wischte die Zweifel beiseite. Schließlich lag der Wald hinter ihnen. Sie ging über eine weite Grasfläche. Es gab unzählige Blumen, die sich in den schönsten Farben präsentierten. Niedere Sträucher wuchsen vereinzelt und hier und da stand ein niederer Baum, dessen Äste wie anklagend gen Himmel gereckt waren. Und dann hörten sie das Rauschen des Meeres. Die Klippen waren im leichten Morgennebel zu erkennen, hoch aufragend und schroff. Der Graswuchs wich, je näher sie den Klippen kamen. Der Boden wurde felsig. Das Rauschen der Wellen war nun ganz deutlich zu hören, ja, man konnte das Meer beinahe schmecken. »Glaubst du, dass wir sie finden werden?«, fragte Jean leise. Neal antwortete nicht gleich. »Ich hoffe es wenigstens«, erwiderte er dann ausweichend. Sie gingen am Rand der steil abfallenden Klippen entlang. Eddy sah den Fleck auf dem felsigen Boden zuerst. »Da!«, sagte er nur. Mit vier großen Schritten war Neal neben seinem Freund. Gemeinsam gingen sie näher. Die anderen folgten ihnen nur zögernd. Anika weinte leise. »Blut«, stellte Neal tonlos fest. Er merkte, dass die Ereignisse so langsam auch an seinen Nerven zerrten. Seine Hände zitterten. Er riss sich zusammen. Es gelang ihm dieses Mal nur sehr mühsam. 80
»Wessen Blut?«, erkundigte sich Clay Steven sachlich. Er trat ganz nahe an den Abgrund heran und starrte in die Tiefe. Er räusperte sich. »Dort unten liegt jemand«, sagte er dann und zeigte hinunter. Neal nickte. Ja, dort unten lag jemand mit zerschmetterten Gliedern auf einer aus dem Meer ragenden Felsplatte. Wer mochte es sein? Mrs. Gray - oder Mr. Gray? Neal wandte sich um - und sah die maskenhaft starren, verzerrten Gesichter seiner Freunde. »He, was - was ist denn mit euch los?«, fragte er. Ein mächtiges Würgen war in seiner Kehle. Prüfend musterte er seine Freunde. Etwas stimmt da doch nicht!, dachte er wie elektrisiert. Ja, plötzlich hatte er den ekelhaften Eindruck, dass das keine Menschen mehr waren - sondern Marionetten! Neal wich einen, zwei Schritte vom Klippenrand zurück. Seine Nerven spannten sich an. Er merkte, wie das Grauen sein sachliches Denken zu überschwemmen drohte. Erregt hämmerte sein Herz gegen seine Brust. »So sagt doch etwas!«, stieß er hervor. »Eddy! Jean!« »Es ist vergeblich«, sagte in diesem Augenblick eine dumpfe Stimme. Sie kam aus Clay Stevens Mund - aber es war nicht Clays Stimme! »Wir werden dich jetzt vernichten, Neal Hamilton!« * Inspektor Ben Murray war in einer scheußlichen Verfassung, als sein Assistent Porter das gemeinsame Büro betrat. Ben Murray zog Bilanz und das Resultat war verdammt entmutigend. Drei Tote, die eines unnatürlichen natürlichen Todes gestorben waren! - Hinzu kam auch noch die Sache mit seinem Chef! Der meinte nämlich, er solle gefälligst die Finger von diesem Fall, der doch eigentlich überhaupt kein Fall für die Mordkommission sei, da die Leute schließlich an Herzversagen gestorben seien, lassen. Aber er, Ben Murray, war trotzig gewesen. Er hatte die Finger nicht von diesem Fall gelassen. Und nun war er ›Zeuge‹ eines solchen Herzversagens geworden. Eine Spur zeichnete sich ab - eine Spur, die er aber beinahe nicht akzeptieren konnte... 81
Er war an einem toten Punkt angelangt. Wenn ihm nicht doch noch etwas einfiel... »Was starren Sie mich so an, Porter?«, rüffelte er seinen Assistenten an. Porter grinste und zuckte die Schultern. »Sie brüten doch etwas aus, Chef, nicht wahr? Übrigens, Doc Spencer hat mir von dem Vorfall erzählt...« »Der alte Schwätzer!« Murray schüttelte den Kopf. »Glauben Sie an die Existenz von Geistern?«, fragte er dann wesentlich ruhiger. »Das haben Sie diesen Mr. Hamilton auch schon gefragt«, stellte Porter ruhig fest. »Nun ja. Mein Töchterchen liest Geisterkrimis und hin und wieder erzählt sie mir da einiges... Aber ich habe eigentlich nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es so etwas tatsächlich geben könnte.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Hm«, brummte Inspektor Murray. »Okay, setzen wir einmal voraus, dass es so etwas gibt. Einen Geist. Wie könnten wir dem Burschen - wirkungsvoll beikommen?« Porter wurde ernst. »Das Testament«, sagte er dann. »Alles scheint sich um das Testament dieser Mrs. Willock zu drehen, Inspektor.« »Vorausgesetzt, diese Amanda Willock war das erste tatsächliche Opfer des Geistes. Und das festzustellen, dürfte unmöglich sein. Täglich sterben hier in London unzählige Menschen an Herzversagen.« »Dennoch, es wäre ein Ansatzpunkt.« Porter zupfte an seiner Krawatte. »Vielleicht will ein möglicher Erbe alle anderen Erbberechtigten ausschalten.« »Und dazu bedient er sich derart unkonventioneller - äh - Methoden?« Murray schüttelte bedächtig den Kopf. »Das ist verdammt unwahrscheinlich. Und deshalb eigentlich glaubwürdig. Hm, Porter, ich schlage vor, dass wir uns einmal mit diesem Rechtsanwalt - wie heißt er doch gleich? - ah ja, Lambert, unterhalten. Wir müssen herausfinden, wer außer Mr. Hamilton noch als eventuell erbberechtigt vorgesehen war. Es scheint da so eine komische Klausel zu existieren, die besagt, dass Hamilton nur erbt, wenn er einen Monat auf dieser Insel 82
verbringt. Die anderen erben nur, wenn Hamilton vorzeitig zurückkehrt.« »Dieser Nick Carpenter ist also ein Erbe zweiter Wahl gewesen, sozusagen?« »Das war er, ja.« Ben Murray nickte und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Dann, Inspektor, bin ich der Ansicht, dass wir möglichst schnell etwas unternehmen sollten. Hamilton muss noch fünf Tage auf seiner Insel verbringen. Angenommen, er hat mit den Morden nichts zu tun, was ich inzwischen für sehr wahrscheinlich halte. Angenommen weiterhin, dass ein Erbe zweiter Wahl plant, in den Besitz des Willockschen Vermögens zu kommen - dann bringt dieser Erbe zweiter Wahl seinen Geistersklaven dazu, erst einmal die anderen potentiellen Erben zweiter Wahl zu beseitigen. Und dann Hamilton selbst. Alle sterben eines natürlichen Todes. An Herzversagen nämlich. Dem Auftraggeber des Geistes ist nichts nachzuweisen.« Murray blickte seinen Assistenten sekundenlang an. »Wenn das so ist, Porter...« Er setzte ab und schob seinen Kaugummi von der linken in die rechte Mundhälfte. »Ich glaube, ich werde in Zukunft mehr Geister-Krimis lesen. Nachhilfeunterricht, sozusagen. Gehen wir!« Er erhob sich und griff nach seinem Hut und seinem Mantel. * Neal machte einen taumelnden Schritt nach links, er stolperte - in letzter Sekunde fand er das Gleichgewicht wieder. Er begann zu laufen. Die anderen waren überrascht. Sie reagierten nicht so schnell. Neal durchbrach den Halbkreis, den sie um ihn gebildet hatten. Ohne sich umzusehen hetzte er weiter. Er brauchte sich nicht umzusehen, er wusste, dass sie ihn verfolgten. Sie waren jetzt nicht mehr seine Freunde. Sie waren Sklaven willenlose Sklaven einer unheimlichen Macht! Der Wald! Nur noch wenige Meter. Und dann hatte er es geschafft. Das dämmrige Dickicht umfing ihn, kleine Äste peitschten in sein Gesicht. Neal lief weiter, ohne darauf zu achten. Er lief wie eine 83
Maschine. Zurück zum Haus!, hämmerte es in seinem Kopf. Dort kannst du dich verstecken. Im Keller. Er rannte noch schneller - und übersah eine Luftwurzel. Er schlug hart zu Boden. Neal blieb sekundenlang liegen, heftig atmend. Dann hörte er die Schritte. Sie verfolgten ihn immer noch! Sie blieben unbeirrbar auf seiner Fährte... Er rappelte sich auf, ohne den Schmerz in seinem Bein zu beachten. Es begann zu regnen. Donner grollte in der Ferne. Im Nu war Neal durchnässt bis auf die Haut. Und dann sah er das Haus. Plötzlich hielt er inne. Er lauschte. Kein Geräusch mehr war zu hören. Hatten sie die Verfolgung aufgegeben? Neal atmete auf. Dann ging er weiter, vorsichtig, immer darauf bedacht, in Deckung des ungestüm wuchernden Gestrüpps zu bleiben. Noch fünfzehn Meter bis zum Haus... Neal starrte hinüber. Nichts wies darauf hin, dass jemand dort drüben auf ihn lauerte. Er musste es wagen. Zögernd löste er sich aus der Deckung des Gestrüpps und der Bäume. Geduckt rannte er zum Gebäude hinüber. Wenn er ein Geräusch verursachte, so wurde es vom monotonen Strömen des Regens, der jetzt ungehindert auf ihn niederprasselte, übertönt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er die fünfzehn Meter hinter sich gebracht hatte. Neal fühlte sich beobachtet... Und dann konnte er sich an das raue Holz der rückseitigen Hauswand pressen. Weiter!, sagte er sich. Er umrundete das Haus und betrat es durch die Hintertür. Schweiß perlte ihm in die Augen, er wischte ihn mit dem Handrücken weg. Was nun? Plötzlich ertönte ein Klicken. In der absoluten Stille klang es laut, viel zu laut. Neal zuckte zusammen und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es war der Raum, in dem sie Germaine zurückgelassen hatten... Langsam wurde die Tür aufgezogen. 84
»Ich habe dich erwartet«, sagte da eine Stimme, die Neal schon seit Jahren nicht mehr gehört hatte - die er aber nur zu gut in Erinnerung behalten hatte. Es war die Stimme seiner Tante Amanda! * »Du scheinst überrascht zu sein, mein lieber Junge«, versetzte die Stimme. Dann folgte ein hämisches Kichern. »Das ist gut so, ja, das ist sehr gut so. Das erheitert mich! Das macht das Spiel interessant!« »Welches Spiel?«, flüsterte Neal und wich zurück, während er die Tür nicht aus den Augen ließ. Wie gebannt saugten sich seine Blicke an dieser Tür fest. »Das Spiel, das ich mit dir spiele. Mein Herr hat befohlen und ich gehorche!« Jetzt klang die Stimme plötzlich anders, dumpf, grollend. Neal verstand. Das Wesen, das mit ihm sprach, hatte die Stimme seiner Tante perfekt imitiert. Sein Gegner wollte ihn schocken, wollte ihn nervlich fertigmachen, bevor er zum letzten, tödlichen Schlag ausholte. Seine Gedanken jagten sich hinter seiner Stirn. Aber es war sinnlos, das erkannte er. Er besaß keine vernünftige Waffe, mit der er einem unsichtbaren Wesen hätte beikommen können. Er war verloren... Und dennoch gab er nicht auf. Langsam, beinahe unmerklich, zog er sich in den Korridor zurück, der zur Bibliothek führte. In diesem Moment schwang die Tür vollends auf. Und - Germaine trat heraus. Ihre Bewegungen waren ruckartig, marionettenhaft. »Germaine!«, stieß Neal hervor. Das Grauen griff nach ihm, als er in ihr bleiches lebloses Gesicht blickte. »Nein!« Sie wandte ihren Kopf und fixierte ihn aus starren Augen. »Ich werde dich vernichten!«, sagte sie hart und mit unpersönlicher Stimme. Und dann setzte sie sich in Bewegung. Neal warf sich herum. Hinter ihm gellte ein hämisches, triumphierendes Lachen auf, das in den Ohren hallte. Er erreichte die Tür der Bibliothek, aber gleichzeitig hatte ihn Germaine erreicht. Ihre Hände krallten sich in den Stoff seiner Jacke und warfen ihn mühelos herum. Neal wollte sich - so sehr ihm dies auch widerstrebte 85
zur Wehr setzen, aber zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass seine Kräfte niemals ausreichen würden, Germaines tödliche Umklammerung zu sprengen. Seine Luft wurde knapp. Der Druck, der auf seiner Brust lag, wurde schlimmer und schlimmer. Er röchelte. Vor seinen weit aufgerissenen Augen tanzten grelle Farbpunkte. »Nein!«, keuchte er. Mit letzter Kraft ruckte er herum. Germaine wurde von dieser Bewegung überrascht - und herumgewirbelt. Für einen Sekundenbruchteil lockerte sich ihr Zugriff. Neal rappelte sich auf. Und dann registrierte er die wispernde Stimme in seinem Kopf. Du
musst in die Bibliothek, Neal. Die Bibel der Bruderschaft der Schwarzen Rose...
Ein neuer teuflischer Scherz des Geistwesens? Ich bin es, Neal, Joseph... Joseph. Immer wieder hallte dieser Name in seinem Kopf wider! Neal war immer noch unentschlossen. Zu phantastisch war alles. Er warf einen scheuen Blick auf die leblos daliegende Germaine. Der Geist, der in sie gefahren war und sie zu einem zweiten, unwirklichen Leben erweckt hatte, schien sie wieder verlassen zu haben. Also stand ein neuer Angriff bevor. Neal sah sich um. Nichts. Stille. Und dann senkte sich Dunkelheit hernieder. Stockdunkel war es plötzlich - und kalt dazu... Irgendwo erklang ein leises Kichern. »Dein Freund kann dir nicht helfen, Neal Hamilton!«, sagte die dumpfe Geisterstimme. »Er ist zu schwach. Er kann die Mauern der jenseitigen Sphäre nicht sprengen...« Die Bibliothek... Die Bibel... Wieder versiegte die wispernde Stimme in Neals Kopf. Aber jetzt zögerte er nicht mehr. Er öffnete die Tür, die in die Bibliothek führte und tastete sich vorwärts. Auch hier war es stockfinster. Drei Schritte, vier Schritte... Neal konzentrierte sich. Joseph, dachte er intensiv. Joseph Greenbury. Was soll mit der Bibel
geschehen? Hilf mir!
Aber es kam keine Antwort. Und dann sah Neal das Augenpaar. Blutrot leuchtete es nur wenige Meter vor ihm in der Dunkelheit. Und dann näherte es sich ihm... 86
* »Mordkommission?«, hauchte das hübsche Mädchen mit dem feuerroten Haar. Ihr Gesicht hatte plötzlich eine gelbliche Farbe angenommen. »Aber - aber Dr. Lambert... Ich meine - er ist nicht hier, Mr. Murray.« »Nun regen Sie sich mal nicht auf. Miss«, sagte Murray gutmütig. »Wir müssen mit Ihrem Chef sprechen und zwar sofort. Es ist sehr wichtig. Wo hält er sich momentan auf?« Sie zuckte die Schultern. »Nun, wahrscheinlich ist er zu Hause. Er fühlt sich bereits seit ein paar Tagen nicht gut und der Arzt hat ihm Bettruhe empfohlen.« »Bettruhe. Aha. Geben Sie uns die Adresse, bitte?« »Aber ja, natürlich. Bitte, warten Sie einen Moment.« Eilig ging die Rothaarige um ihren kleinen Schreibmaschinentisch herum. Murray warf nur einen winzigen Blick auf ihre Beine, dann räusperte er sich. Die Rothaarige kam zurück. Jetzt merklich selbstsicherer. Sie schenkte Murray einen feurigen Blick und reichte ihm eine Karte. »Hier ist die Adresse, Inspektor«, hauchte sie. Murray tippte mit zwei Fingern an seinen Hut. »Danke, Miss.« Er nickte ihr zu und wandte sich zum Gehen. Dann schien ihm noch etwas einzufallen. »Ach ja, Miss...« »Miss Ackerman, ja, Sie können uns bei Ihrem Chef anmelden, okay? Rufen Sie ihn an und sagen Sie, dass wir ihn gleich aufsuchen.« Sie nickte. »Bye.« Inspektor Murray ging. Lautstark schloss er die Tür hinter sich. Dann eilte er mit großen Schritten zum Lift. Roy Porter sah ihm entgegen. Als er ihn erblickte, startete er den Motor des Dienstwagens. Ben Murray stieg ein, schlug die Tür zu. »Bannister Road, Porter«, sagte Murray knapp. Porter fuhr los und fädelte sich geschickt in den träge fließenden Verkehr ein. »Er ist krank. Der Arzt hat ihm Bettruhe verordnet«, begann Murray schließlich, als er den fragenden Blick seines Assistenten bemerkte. 87
Porter nickte. Dann scherte er nach rechts aus und fuhr schneller. Er überholte eine Wagenkolonne, die Sirene hatte er eingeschaltet. »Hoffentlich hat er die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung«, überlegte Porter. »Es wäre doch schade, wenn wir nachher noch einmal ins Büro des Anwalts müssten. Zeitverlust.« Fünfzehn Minuten später hatten sie die Bannister Road erreicht. Wer hier wohnte, galt als gediegen. Sämtliche Häuser strahlten vornehme Eleganz aus. Dr. Lamberts Haus trug die Nr. 194. Es war ein altes Haus, groß und wuchtig. Ein kleiner verwilderter Park umgab es. Mächtige Tannen schützten es vor allzu neugierigen Blicken. »Warten Sie hier«, sagte Murray und stieg aus. Mit großen Schritten ging er zum Haus hinüber und klingelte. Der Rechtsanwalt schien nur auf dieses Klingelzeichen gelauert zu haben, denn augenblicklich ging der Türsummer. Dr. Lambert empfing ihn an der Haustür. »Guten Morgen, Inspektor«, sagte er freundlich. »Morning«, erwiderte Murray ebenso freundlich. »Wir haben vor einigen Tagen bereits miteinander telefoniert«, steuerte er dann sofort das Ziel seines Anliegens, an. »Ah ja, ich erinnere mich. Es betraf Mrs. Willocks Testament und Mr. Hamilton.« »Genau. Äh - ich will nicht unverschämt erscheinen, aber könnten wir wohl diese Angelegenheit näher besprechen? Zwischen Tür und Angel sollten wir das nämlich nicht tun.« »Verzeihen Sie, Inspektor. Treten Sie näher!« Dr. Lambert verzog sein Gesicht. »Eigentlich sollte ich im Bett liegen, aber Sie können sich vorstellen, wie schwer das fällt«, plauderte er. »Soso.« Murray gab sich interessiert. Als sie sich schließlich in dem geräumigen Wohnzimmer gegenübersaßen, räusperte sich Dr. Lambert. »Und nun sagen Sie mir aber, was Sie auf dem Herzen haben, Inspektor. Machen Sie es nicht so spannend.« Murray lehnte sich in dem bequemen Ledersessel zurück und nickte. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Mr. Lambert«, versetzte er. »Ich bin nur gekommen, um hinsichtlich des Testaments dieser Aman88
da Willock einige abschließende Fragen an Sie zu richten.« Innerlich seufzte Ben Murray. Dies war wohl eine seiner längsten Vorreden seit langem gewesen. Und er hasste solche Vorreden. Aber irgendetwas bewog ihn, diesen Dr. Lambert anders als andere Auskunftgeber zu behandeln... »Selbstverständlich bin ich bereit, Ihnen jede gewünschte Information zu geben, Inspektor.« Dr. Lambert lächelte freundlich. »Ich benötige die Namen der Leute, die erbberechtigt sind, wenn Mr. Hamilton - aus welchen Gründen auch immer - die Bedingung seiner Tante nicht erfüllt und vorzeitig seine Insel verlässt.« »Oh!« Nur dieses eine Wort entfuhr dem Anwalt. »Sie sind überrascht, Mr. Lambert?«, hakte Murray sofort nach. »Nein, nicht überrascht, nur...« Er stand auf und ging zu der wohl sortierten Hausbar. Dort schenkte er sich einen Martini trocken ein. »Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?« Murray schüttelte den Kopf. Er merkte, dass er ungeduldig wurde. Dieser Lambert verbarg irgendetwas vor ihm und er machte es sehr geschickt. Murray beschloss, auf der Hut zu sein. »Sie wollten mir etwas sagen, Mr. Lambert«, erinnerte er freundlich. »Ach ja. Ich wollte Sie fragen, warum Sie die Namen der anderen Erbberechtigen benötigen. Es würde mich interessieren.« »Einer dieser Erbberechtigten wurde gestern ermordet. Nick Carpenter war sein Name.« »Ermordet«, echote der Rechtsanwalt, sichtlich verstört. »Aber aber das ist ja schrecklich, Inspektor.« Er trank einen hastigen Schluck, dann setzte er sich wieder. »Hören Sie, Inspektor und Sie Sie glauben nun, dass es eine Parallele gäbe zu den anderen Erbberechtigten? Ist es so?« Murray zuckte die Schultern. »Ich versuche, jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Kann ich nun die Namen haben?« »Natürlich.« »Gut.« Murray zückte sein Notizbuch und einen Kugelschreiber. Dann sah er Dr. Lambert auffordernd an. »Die Unterlagen sind natürlich in meinem Büro«, erklärte Dr. Lambert. »Aber glücklicherweise habe ich ein ausnehmend gutes Ge89
dächtnis. Hier sind die Namen: Nicolas Jackmann, Mark Bender, Georges Shuster und Isabell Bertrand. Nick Carpenter war der fünfte Erbberechtigte«, setzte er leise hinzu. Inspektor Murray erhob sich. »Okay«, sagte er. »Sie wollen schon wieder gehen?« »Ich sagte ja, dass ich Sie nicht lange aufhalten werde«, versetzte Murray kühl. »Außerdem: Ich bin im Dienst. Ein Mordfall ist zu klären...« »Natürlich. Da bleibt Ihnen natürlich keine Zeit für ein Plauderstündchen mit einem kranken Mann.« Lambert lachte. Dann begleitete er Ben Murray zur Tür. Als er ihm die Hand schüttelte, fragte er: »Soll ich die Herrschaften benachrichtigen? Ich meine, Sie sind doch in Gefahr, oder?« »Sie meinen die Erbberechtigten aus Mrs. Willocks Testament?« »Genau die.« Murray schüttelte den Kopf. »Wir werden mit Ihnen sprechen, Mr. Lambert. Sie können sich auf uns verlassen.« »Also gut, Inspektor, wie Sie meinen.« Ben Murray setzte seinen Hut auf und nickte dem Anwalt noch mal zu. Dann wollte er gehen. In diesem Augenblick registrierte er den seltsamen Geruch... Er schnüffelte und fixierte Dr. Lambert. »Riechen Sie es nicht, Mr. Lambert?«, fragte er. Der Anwalt schüttelte verwundert den Kopf. »Nein, Inspektor. Äh was soll ich denn riechen?« In Murrays Kopf jaulte plötzlich eine ganze Batterie von Alarmsirenen auf. Aber er ließ sich nichts anmerken. »Hm. Muss mich wohl getäuscht haben«, sagte er leise. »So, nun muss ich aber gehen. Bye, Mr. Lambert. Und entschuldigen Sie die Störung.« »Schon gut. Wie gesagt, ich stehe immer gern zu Ihrer Verfügung.« »Nett von Ihnen.« Murray wandte sich um und ging. Die Tür schloss sich hinter ihm. Der Anwalt schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Warum? Und dann: Dieser penetrante Geruch... Derselbe Geruch, den er gestern Abend, als dieser Nick Carpenter gestorben war, wahrgenommen hatte... 90
Murray sprintete los. Mit keuchenden Lungen erreichte er den Dienstwagen. Porter blickte ihn erstaunt an, fragte aber nichts. »Los, Porter. Fahren Sie den Wagen weg. Warten Sie an der nächsten Straßenecke auf mich!« Porter nickte und fuhr los. Murray blickte sich sichernd um. Dann rannte er los. Er umrundete das Haus Lamberts. Im Schutz einiger hoher Sträucher kletterte er über den Zaun. Dabei zerriss er sich seine Gabardinehose. Murray fluchte unterdrückt. Dann rannte er zum Haus hinüber. Verflixt, er hatte ein ekelhaftes Gefühl im Magen. Das, was er jetzt tat, entsprach nicht gerade seinem Selbstverständnis von polizeilichen Ermittlungen. Und doch musste er jetzt so handeln. Irgendetwas ging hinter den Mauern dieses Hauses vor sich... Murray erreichte die Tür und drückte sich daneben gegen das Mauerwerk. Einige Sekunden zögerte er noch. Dann fingerte er den Dietrich aus seiner Manteltasche. Drei Sekunden später schwang die Tür mit einem kaum hörbaren, knackenden Geräusch auf. Murray trat ein, so leise wie möglich. Lauschend schaute er sich um. Dann fiel sein Blick auf eine Tür, die er vorhin, bei seinem offiziellen Besuch, nicht gesehen hatte. Es war eine Tapetentür und dahinter war es stockdunkel. Die Tür musste in den Keller führen. Murray wurde von dieser offen stehenden Tür beinahe magisch angezogen. Seine Nerven waren angespannt. Er ahnte, dass er auf einer glühendheißen Spur war. Der Geruch, den er vorhin bemerkt hatte, wurde intensiver. Ein süßlicher, unerträglicher Geruch... Leichengeruch! Murrays Atem beschleunigte sich. Nein, das war nicht nur Leichengeruch. Es roch auch nach Schwefel und Moder. Er stieß die Tapetentür auf und stieg rasch, aber doch vorsichtig, die steil abwärts führenden Stufen hinunter. Es wurde kalt und feucht. Die Wände des schmalen Korridors waren roh behauen. Schimmelpilze hatten sich hier und da angesiedelt. Murray erreichte das Ende der Stufen. Hier unten herrschte eine seltsam anmutende, bläulich schim91
mernde Finsternis. Er konnte nicht sehr viel sehen und er bedauerte, seine Taschenlampe nicht mitgenommen zu haben. Er schlich weiter, immer darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen. Wenig später kam er an einen Querkorridor. Und dann hörte er Lamberts Stimme. Sie klang seltsam - beschwörend und doch befehlend. Murray bog um eine Korridorbiegung - und sah im gleichen Moment den zuckenden Lichtschein einer Kerze, der bizarr gegen die schroffe Korridorwand geworfen wurde. Genau gegenüber musste ein Kellerraum liegen, in dem sich der Rechtsanwalt Dr. Lambert nun aufhielt. Seine Stimme war deutlich zu hören. Jetzt klang sie heiser und erregt... Und dann wurde Lamberts Stimme von einem grässlichen Geräusch überlagert. Der Gestank wurde unerträglich. Ben Murray zuckte zusammen, seine Hand umkrampfte die Waffe... * Neal setzte alles auf eine Karte! Er warf sich vorwärts - direkt in die grässlichen blutroten Augen hinein. Sekundenlang schien er in einen endlos tiefen Schacht zu stürzen, tiefer und tiefer... Eisige Kälte hüllte ihn ein, machte ein regelmäßiges Atmen unmöglich... Dann, unerwartet, war es vorbei. Die Realität hatte ihn wieder. Neal kam auf dem Boden auf, rollte sich geschickt über die Schultern ab und kam wieder auf die Beine. Immer noch steckte die Kälte in ihm, aber er wusste, dass er einen kleinen Sieg errungen hatte. Aufkeuchend blickte er sich um. Die Augen waren verschwunden. Er machte einige vorsichtige Schritte. Hier irgendwo musste der Schreibtisch sein... Seine Hände waren ausgestreckt, tasteten. Diese verfluchte Finsternis. »Du bist geschickt, Neal Hamilton«, versetzte die Geisterstimme in diesem Augenblick. »Danke für die Blumen!«, erwiderte Neal höhnisch. Er wandte sich um, starrte in die Dunkelheit. »Warum machst du nicht endlich 92
Schluss?«, schrie er dann. »Hier bin ich! Ich bin waffenlos! Vernichte mich! Mach endlich Schluss!« »Ich genieße es, mit dir zu spielen«, kam die Antwort. Ein hämisches Kichern folgte. Neals Finger ertasteten den Schreibtisch. Dann das Buch. Die Bibel der Bruderschaft der Schwarzen Rose. Ein Kribbeln durchlief seinen Körper. Gleichzeitig flammte nur wenige Meter entfernt, im Kamin der Bibliothek, ein grelles Feuer auf. Neal zuckte Zurück, die Bibel hielt er an sich gepresst. In seinem Kopf materialisierte Joseph Greenburys eindringlich-schrille Geisterstimme. Vernichte die Bibel! Vernichte sie!
Schnell! Meine Macht ist nicht sehr groß, Ghulgor ist viel mächtiger...
Neal riss die Bibel hoch und schleuderte sie in das hoch aufflackernde Feuer. Gierig schlugen die Flammen über der Bibel zusammen, ein hässliches Prasseln wurde lauter und lauter... Und dann gellte ein unheimlicher Schrei auf. »Neiiiin!« Der Schrei brach in einem verzweifelten Gurgeln ab. Aber es war noch nicht vorbei. Neal spürte den Druck auf seiner Brust. Jäh keuchte er auf. Aber er war in einer stahlharten, unsichtbaren Umklammerung gefangen. Er fühlte, wie sich sein Herzschlag verlangsamte... Feurige Kreise zuckten vor seinen Augen, Blut rauschte in seinen Ohren. »Ich vernichte dich! Bevor ich zurückkehre in die jenseitige Sphäre, vernichte ich dich, Sterblicher... Du Wurm!« Der Druck auf seiner Brust verstärkte sich. Neal wand sich, schlug um sich. Und dann vernahm er wieder Josephs Stimme: Halte aus,
Neal! Bete! Halte aus. Bete!
Und Neal betete. Flüsternd und mühsam kamen die Worte über seine Lippen. Die geisterhaften Flammen im Kamin züngelten noch höher. Asche segelte hoch - die letzten Überreste der Bibel der Bruderschaft der Schwarzen Rose. Und dann, mit einem letzten grellen Aufflackern erlosch das Feuer. Die Bibel der Bruderschaft der Schwarzen Rose existierte nicht mehr. 93
Und der Druck auf Neals Brust versiegte. Ein unirdisches Seufzen und Wimmern war zu hören, dann dumpfe Schläge, die leiser und leiser wurden... Herzschläge! Und dann - Stille! Neal stürzte zu Boden wie ein gefällter Baum. Als er seine Augen öffnete, stach Helligkeit in sie. Es schmerzte. Neal schloss die Lider. Sekundenlang blieb er so liegen. Er versuchte, Kontakt mit Joseph zu bekommen, aber es war vergeblich. Joseph reagierte nicht. Schließlich fühlte er sich stark genug. Vorsichtig hob er seine Lider wieder, wälzte sich herum, kam torkelnd hoch. Sein Schädel schmerzte, vor seinen Augen drehte sich alles. Dann stand er, mühsam hielt er sein Gleichgewicht. »Ist es tatsächlich vorbei, Joseph?«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Joseph! Ist es vorbei?« Keine Antwort. Neal nickte, als habe er das erwartet. Dann wankte er müde hinüber zu dem Sessel, in dem er gestern Abend gesessen hatte. Er ließ sich hineinfallen. Und in diesem Augenblick registrierte er das leise Geräusch. Langsam hob er seinen Blick. Er sah in die starren Gesichter seiner Gefährten. * Ben Murray hielt es nicht mehr aus. Das Wimmern und Heulen war verstummt. Jetzt herrschte wieder diese unheimlich anmutende Stille, die an seinen Nerven zu zerren begann. Murray zog seine Dienstpistole und schob sich vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, vorwärts. Und dann konnte er in den Kellerraum blicken. Lambert saß steif, in völliger Konzentration an einem runden Tisch, auf dem eine schwarze Kerze blakte. Und vor Lambert... Murray riss die Augen auf. Verdammt, das gab es doch nicht! Das durfte es nicht geben! Und doch wusste der Inspektor gleichzeitig, dass er nicht träumte! Vor Lambert schwebte ein blutrotes Augenpaar in der Finsternis. Und jetzt erklang die Stimme. Dumpf und grollend 94
und doch voller unterschwelliger Furcht. »Ich habe versagt, Herr! Ich werde schwächer... Meine Präsenz in der diesseitigen Sphäre ist gefährdet... Herr, hilf mir!« Ein Stromstoß schien durch Lamberts Körper zu fahren. Er richtete sich auf, hob beide Hände über die Flamme der schwarzen Kerze. »Ich werde dir helfen, Ghulgor - ein letztes Mal. Solltest du wieder versagen, dann...« Lambert ließ seine Drohung unausgesprochen. Langsam erhob er sich und umrundete den Tisch. Murray kniff seine Augen zusammen. Lambert kam mit einem ziemlich dicken Buch zurück. Er blätterte. Unnatürlich laut klang das Rascheln des Pergaments in Murrays Ohren. Noch zögerte der Inspektor. Hatte er eine Chance, gegen den unheimlichen Unsichtbaren zu bestehen? Er musste es darauf ankommen lassen! »Na, Sie scheinen sich ja prächtig erholt zu haben, Mr. Lambert«, sagte Murray laut und löste den Sicherungsbügel seiner Pistole. Laut knackte es. Lambert fuhr herum. Sein Gesicht war vor Schreck und Hass verzerrt. »Sie...«, stieß er ungläubig hervor. »Ja, ich«, nickte Murray betont lässig. Er hob die Pistole. »Eine Bewegung und ich bin gezwungen, zu schießen. Dass ich das nur sehr ungern tue, wissen Sie sicherlich.« »Inspektor, ich - ich kann Ihnen alles erklären«, versuchte Lambert Ben Murray hinzuhalten. »Vernichten Sie Ihr Ungeheuer!«, verlangte Murray unbeeindruckt. Ghulgor knurrte, die roten Augen flackerten, schienen größer zu werden. Murray spürte, wie Kälte in seinen Körper eindrang. »Tun Sie, was ich Ihnen sage!«, presste er heraus. »Niemals!«, geiferte Lambert und ließ sich fallen. Murray reagierte gleichzeitig. Ein Schuss bellte auf und das Echo hallte höhnisch von den kahlen Wänden wider. Aber Murray hatte Lambert verfehlt. Wieselflink kam der sportlich trainierte Mann hoch und stürzte sich auf Murray. Dessen Pistole schepperte zu Boden. Lambert kickte sie weg. 95
»Ghulgor! Herbei... Hilf deinem Herrn! Ich befehle es!« Lamberts Stimme überschlug sich. Er würgte Inspektor Murray, aber er wusste, dass er gegen den bulligen Mann nicht gewinnen konnte. Murray wehrte sich verbissen. »Ich - ich kann dir nicht helfen, Herr! Ich bin zu schwach schwach...«, grollte der Geistersklave des verbrecherischen Anwalts. Lambert wälzte sich herum, kam wieder auf die Beine und sah sich wild um. Murray erkannte sofort die Absicht seines Gegners. Er suchte seine Pistole! Japsend kam auch Murray hoch, schneller als Lambert erwartet hatte. Bevor der verblüffte Mann etwas unternehmen konnte, hatte Murray ihm bereits seine Rechte gezielt auf die Kinnspitze geknallt. Das war zuviel. Lambert verdrehte die Augen - dann ging er zu Boden. Jetzt erst konnte sich Murray um Ghulgor kümmern. Noch immer flackerte das Augenpaar in der Düsternis, aber das Flackern schien schwächer zu werden... Ghulgor war ihm, Murray, machtlos ausgeliefert. Oder...? Plötzlich lastete ein Zentnergewicht auf Murrays Brust. Das Atmen fiel ihm schwer. Sein Gesicht lief krebsrot an. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Hatte er den Geist unterschätzt? Nein, das durfte nicht sein... Mühsam riss er sich zusammen, wankte zu dem runden Tisch. In diesen Sekundenbruchteilen war Inspektor Murray eine Marionette. Er bewegte sich wie in Trance. Sein Ziel war die Bibel, die auf dem Tisch vor ihm lag. Er erreichte den Tisch. Seine Hände streckten sich aus, ergriffen die Bibel, rissen sie an sich. Vernichten Sie dieses Buch, Inspektor!, ertönte direkt in seinem Kopf eine schrille Stimme. Vernichten Sie es, bevor Ghulgor Sie ver-
nichtet!
Murray keuchte. War er verrückt geworden?
Sie sind nicht verrückt, ich will Ihnen nur helfen! Hören Sie auf das, was ich Ihnen sage, Inspektor! Ich bin - ich war - Joseph Greenbury! Ich will Ihnen helfen... Ich will mich an denen rächen, die mich getötet haben. 96
Murray reagierte sofort. Und er konnte wieder frei atmen.
Ghulgor ist vertrieben! Er wird nie mehr wiederkehren können in Ihre diesseitige Sphäre!, sagte Joseph Greenbury und seine Geisterstimme klang zufrieden. Sie haben es geschafft, Inspektor. Genauso, wie es Neal geschafft hat! Ich werde schwächer... Meine Rache ist vollbracht. Helfen Sie Neal! Er ist immer noch in Gefahr. Helfen Sie ihm! Und grüßen Sie... Joseph Greenburys Geisterstimme war verstummt. Murray lauschte noch einige Sekunden lang in sich hinein, dann schüttelte er den Kopf. »Donnerwetter«, murmelte er. Er bückte sich und schüttelte dann den immer noch ohnmächtigen Lambert. Nur zögernd schlug der Mann seine Augen auf. »Na los, spielen Sie hier nicht die Primaballerina! Ich habe noch zu tun! Hoch mit Ihnen!« Scheinbar mühelos zog Murray den Anwalt hoch und stellte ihn auf die Beine. »Hiermit verhafte ich Sie, Mr. Lambert«, knurrte Murray. Die Handschellen rasteten mit einem scharfen Geräusch ein. »Freuen Sie sich nicht zu früh«, versetzte Lambert. Er hatte sich offensichtlich schon wieder von seinem Schock, den die Niederlage mit sich gebracht hatte, erholt und wieder völlige Kontrolle über sich. Um seine Mundwinkel lag ein süffisantes Grinsen. »Aber, bitte, behandeln Sie mich, wie es sich einem englischen Gentleman gegenüber gebührt. Sie wissen hoffentlich, dass Sie mir nichts beweisen können! Ich werde ziemlich schnell wieder frei sein! Und ich werde Sie anzeigen und zwar wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung und auch...« Murray unterbrach ihn ungerührt. »Junge, Junge«, sagte er und schüttelte mitleidig den Kopf. »Sie geben wohl nie auf, was? Nun ja, wir werden ja sehen, wer dieses hübsche Spielchen gewinnt.« Ohne Lamberts Reaktion abzuwarten, zerrte Murray ihn hinter sich her. Er wollte endlich wieder frische Luft in seine Lungen pumpen. Hier unten stank es ihm noch teuflisch. * 97
Porters Augen wurden rund und groß wie Pingpong-Bälle. »Aber, Chef, das ist doch...«, brachte er hervor. »Genau das ist er!«, versetzte Murray und grinste jungenhaft. »Verständigen Sie das Headquarter. Sie sollen jemanden schicken, der Sie und diesen feinen Herrn hier abholt.« »Ja, sofort. Aber...« Es war das erste Mal, dass Porter eine unnötige Frage stellen wollte. Inspektor Murray registrierte dies mit einem verwunderten Hochziehen seiner rechten Augenbraue. »Nun stellen Sie mir keine Fragen, Porter«, donnerte er. »Ich habe es eilig. Ach ja - ein Helikopter soll mich im Hyde-Park aufnehmen. Unser Freund Hamilton ist in Lebensgefahr.« Porter rief die Zentrale und gab alles durch. Dann stieg er aus dem Dienstwagen. »Hamilton ist tatsächlich in Lebensgefahr?«, fragte er dann. »Hören Sie neuerdings schlecht?«, fauchte Murray. »Nein, Inspektor. Aber - ich meine - der da hat doch sicherlich nicht geplaudert. Woher wissen Sie also, dass Hamilton...« »Von einem guten Geist weiß ich es«, erwiderte Ben Murray und quetschte sich hinter das Lenkrad. Dann fuhr er mit heftig radierenden Rädern an. Porter zuckte die Schultern, dann besann er sich seiner Aufgabe. Er wandte sich Lambert zu. * Was war passiert? Jean versuchte, ihre Lider zu heben. Es fiel ihr unsagbar schwer. Zentnergewichte schienen daran befestigt zu sein. Und dann, plötzlich, kam die Erinnerung: Die unbarmherzige, eiskalte, wispernde Stimme, die ihren Willen und ihr Handeln unter Kontrolle genommen hatte... Diese Stimme, gegen deren Befehle es keinen Widerstand gegeben hatte. Jean öffnete ihre Augen. Mit einer Hand stützte sie sich vom Boden auf, dann sah sie sich um. Eddy lag direkt neben ihr. Er atmete schwer. Anika und Clay lagen ein paar Meter abseits. Und Neal? Wo 98
war er? Eisiger Schrecken fuhr in ihre Glieder. Sie rappelte sich auf, strich sich ihre schweißverklebten Haare aus dem Gesicht und versuchte sich an das, was geschehen war, zu erinnern. Es gelang ihr nicht. Aber sie ahnte, dass es schrecklich gewesen war... Torkelnd stand Jean auf. Sie humpelte ein paar Schritte, suchend blickte sie sich um. Aber Neal war verschwunden. Für Sekunden überkam sie das Gefühl, unsagbar allein zu sein. Ihr Herzschlag schien aussetzen zu wollen. Das war der Augenblick, in dem Eddy sich mit einem gewaltigen Aufschnaufen erhob. Er massierte seinen Bart. »Oh, mein Schädel«, murmelte er und schüttelte den Kopf. Auch Anika und Clay kamen jetzt zu sich. Verständnislos starrten sie sich an. »Neal ist verschwunden!«, flüsterte Jean. »Ich glaube, ich weiß warum«, versetzte Clay und seine Stimme war heiser und leise. »Es ist unserem Gegner offensichtlich gelungen, uns zu trennen. Neal ist - oder war sein nächstes Opfer...« »Verflixt! Dann müssen wir doch etwas tun!«, rief Eddy impulsiv. »Ich will nicht, dass wir ihn auch so finden, wie Germaine...« Schmerz überflog sein Gesicht. »Wir müssen ihn suchen!«, warf Anika schwach ein. Sie blickte Clay an. »Nicht wahr?« »Aber wo sollen wir ihn suchen?«, murmelte Clay, halb zu sich selbst. »Und außerdem: Wo sind wir hier? Ich erinnere mich, dass wir bei den Klippen Blutspuren gefunden haben und dann...« Er zuckte die Schultern. »Der Geist«, flüsterte Anika bedrückt. »Er - er hat uns gegen Neal ausgespielt. Ich erinnere mich ganz schwach. Wir - wir wollten Neal töten und er flüchtete vor uns.« »Mein Gott!«, entfuhr es Jean. »Wenn er zum Haus zurück gerannt ist...« Sie presste die Zähne zusammen. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr sie sich über die nasse Stirn. Dann hatte sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt. »Wir müssen zum Haus zurück«, erklärte sie. »Weißt du, was du da von uns verlangst?«, fragte Clay düster. 99
Sie nickte stumm. Ja, sie wusste genau, was sie verlangte. Es konnte ihr aller Tod sein, wenn... Sie zögerte, ihren Gedanken zu Ende zu führen. Aber dann riss sie sich energisch zusammen. Wenn das Geistwesen Neal getötet hatte und nun im Haus auf sie lauerte, waren sie verloren. Aber waren sie dem Geist nicht sowieso hilflos ausgeliefert? »Wir müssen es riskieren«, sagte sie einfach. »Wenn ihr nicht mitkommen wollt, werde ich allein gehen.« »Natürlich kommen wir mit, Jean«, polterte Eddy und legte seine schwere Hand auf ihre Schulter. »Ich hoffe nur, dass wir keine unliebsame Überraschung erleben. Verdammt, ich mag Neal gern und...« Eddy senkte den Kopf, als bereue er, zuviel gesagt zu haben. Sie gingen los. Zuerst langsam, zögernd, aber dann gingen sie schneller, ohne auf die Äste und Dornen zu achten, die sich ihnen wie lebende Wesen in den Weg zu stellen schienen. Ihre Haut wurde zerkratzt, ihre Kleidung zerrissen. Aber sie achteten nicht darauf. Schweigend hasteten sie durch das Unterholz. Sie erreichten das Haus zehn Minuten später. Stille lastete über dem Haus. Und dann Geräusche eines Kampfes auf Leben und Tod... Ein Schrei, so entsetzlich und nicht menschlich... Jean stand erstarrt. Es fiel ihr unsagbar schwer, den Impuls, einfach davonzulaufen, zu unterdrücken. Ein rascher Seitenblick zeigte ihr nur zu deutlich, dass die anderen ebenso fühlten. »Wir sind verloren«, flüsterte Clay. »Es war alles vergeblich. Wenn wir da hineingehen, werden wir...« »Ach, sei endlich still mit deiner Unkerei!«, unterbrach Eddy ihn heftig. »Wir müssen endlich was tun! Vielleicht kämpft Neal da drinnen um sein Leben. Was also reden wir noch?« Er stürmte los, zum Haus hinüber. Er hatte bereits die Veranda erreicht, als sich Jean gefangen hatte. »Er hat recht«, sagte sie hart und folgte Eddy. Sie hörte, dass Clay zu Anika sagte: »Die rennen in den sicheren Tod!« »Der Tod ist auf dieser Insel allgegenwärtig, Clay«, erwiderte Anika mit spröder Stimme. »Hast du das noch nicht begriffen, Liebling?« Jean betrat das Haus. Ein muffiger Geruch, den sie zuvor noch nie bemerkt hatte, schlug ihr entgegen. Eddy stand einige Meter vor ihr. 100
Er schien zu lauschen. Als er sie bemerkte, drehte er sich halb um. »Hast du es auch gehört?«, flüsterte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ein Wimmern und Stöhnen... Es hat mir das Herz zusammengekrampft. Wenn ich mir vorstelle...« Ein Zittern durchlief Jean, als sie schließlich vor der Bibliothekstür stand. Ein fürchterlicher Gestank schlug ihr entgegen. Sie legte ihre Hand auf die Klinke. Noch einmal zögerte sie sekundenlang. Dann drückte sie die Klinke nieder. Sie war auf das Schlimmste gefasst, aber sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie Neal fand - getötet von einem übermächtigen Wesen, das keine Barmherzigkeit kannte... Die Tür schwang auf... * Er starrte in die totenbleichen Gesichter seiner Gefährten und er spürte die Angst wie einen jähen Krampf in seiner Brust. Er war verloren. Er hatte das Geistwesen nicht wirklich besiegt. Der Teil des bösen Geistes, der draußen, bei den Klippen, in die Gefährten gefahren war, schien sie noch immer zu beherrschen. Er war also verloren. Sie würden ihn töten. Und er würde sich nicht wehren. Er konnte nicht gegen Jean, Anika, Clay oder Eddy kämpfen. »Neal - Neal, ich bin so froh, dass du lebst«, flüsterte Jean in diesem Moment. Sie erwachte aus ihrer Starre, sie kam näher. Und dann hing sie an seinem Hals. Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie küsste ihn so stürmisch, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor und er lachte und erwiderte ihre Küsse. Eine unsichtbare Faust schien an seiner Kehle zu würgen. Er konnte es noch immer nicht glauben, dass alles vorbei war! Aber es war Wirklichkeit. Jetzt bewegten sich auch Anika, Clay und Eddy. Eddy kam heran und umarmte ihn und Jean. »Mann, ich hätte eigentlich nicht erwartet, dich noch einmal lebendig wieder zu sehen!«, donnerte er und wischte sich gleichzeitig verstohlen eine Träne aus den Augen. 101
»Wisst ihr was - jetzt kann ich einen Drink vertragen«, sagte er dann todernst. Er drehte sich um - und prallte gegen eine unsichtbare Mauer! Dort - nur wenige Meter entfernt, stand Mrs. Gray. Und jetzt richtete sie eine Schrotflinte auf sie. In ihren schönen Augen war ein kaltes Glimmen. Neal schob Jean sanft beiseite. »Was soll das bedeuten, Mrs. Gray?«, fragte er scharf. »Nehmen Sie das Gewehr weg!« Langsam, bedächtig, schüttelte die dürre Frau ihren Kopf. »Nein, Mr. Hamilton, das werde ich nicht tun. Ich habe meine Befehle und die werde ich strikt befolgen. Meinen Sie, dass ich so viel gewagt habe, um nun dieses Spiel doch noch zu verlieren? Es geht um sehr viel Geld. Ich habe meinen Mann wegen dieses Geldes umgebracht. Der Narr bekam Gewissensbisse und wollte alles verraten... Sie sehen: Es gibt für mich keinerlei Alternative. Sie werden ebenfalls sterben. So, wie Dr. Lambert es geplant hat. Und nachdem Ghulgor seine Aufgabe nicht meistern konnte, werde ich dies tun. Und dann...« Sie lächelte schmal und freudlos. »Und dann werden wir erben.« »Lambert ist also der Initiator dieses teuflischen Spiels«, stellte Neal bitter fest. »Aber wieso? Er hat doch überhaupt keine Chance, auch nur einen Penny zu erben!« »Oh, Mr. Lambert ist ein sehr intelligenter Mann«, widersprach Mrs. Gray leidenschaftslos. »Er wird dafür sorgen, dass wir das Geld Ihrer Tante bekommen, verlassen Sie sich darauf!« »Ich werde das nicht zulassen«, flüsterte Neal. Mrs. Gray hob ihre Waffe. »Spielen Sie hier nicht den Helden, Mr. Hamilton! Wenn Sie eine verdächtige Bewegung machen, werde ich schießen.« »Sie wollen uns also umbringen«, stellte Eddy ruhig fest. Er fixierte Mrs. Gray. »Und dann werden Sie uns vermutlich irgendwo verscharren. Unten im Keller, vermute ich. Und all das nur wegen dieses dreckigen Geldes!« »Schweigen Sie!«, schrie Mrs. Gray außer sich. Auf ihrer Stirn schwoll eine Zornesader an, ihre Wangen röteten sich. »Ich muss es tun. Es ist meine einzige Chance!« 102
In diesem Augenblick handelte Neal. Er stürzte sich vorwärts. Mrs. Gray zuckte herum, gleichzeitig riss sie das Gewehr hoch. Aber sie kam nicht dazu, abzudrücken. Neal hatte sie bereits erreicht und schlug die Waffe aus den Händen der Frau. »Das werden Sie bereuen!«, zischte Mrs. Gray. Sie warf sich auf die Waffe, bekam sie zu fassen und wälzte sich herum. Aber bevor sie abdrücken konnte, sagte eine ruhige, beinahe belustigt klingende Stimme hinter ihr: »Waffe weg, Mrs. Gray. Mord vor den Augen der Polizei... Das macht sich nicht sehr gut. Außerdem ist es nicht die feine englische Art.« Mrs. Gray erstarrte. Dann, endlich, hob sie ihren Blick - und blickte in Inspektor Murrays Gesicht. Murray nickte gutmütig. »So ist es fein, Mrs. Gray.« Er lächelte, bückte sich und nahm die Schrotflinte an sich. »Sie haben verloren. Ihr Spiel ist aus - das von Lambert übrigens auch. Dies zu Ihrer Information. Nun seien Sie eine gute Verliererin, okay?« Mrs. Gray schwieg. »Keine Antwort ist auch eine Antwort«, bemerkte Ben Murray philosophisch und ließ die Handschellen einrasten. * Ein paar Tage später... Neal starrte auf das einfache Holzkreuz, auf dem Joseph Greenburys Name eingebrannt war. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Er musste wieder an den unheimlichen Zweikampf mit dem Geistwesen denken und an Josephs wispernde Stimme. Joseph hatte ihn gerettet, zweifellos. Und jetzt stand er an seinem Grab. Neal presste Jean fester an sich, dann wandten sie sich ab. Sie verließen den Londoner Friedhof durch eine kleine Pforte, die mit wilden Rosen überwuchert war. Und dann sahen sie den bulligen, untersetzten Mann, der ihnen entgegenkam, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. »Inspektor Murray!«, entfuhr es Jean. 103
»Er wird mich doch nicht schon wieder verdächtigen«, murmelte Neal und verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Murray grinste, als er Jean und ihm die Hand schüttelte. »Man sagte mir, dass ich Sie hier antreffe«, sagte er. »Hm, ja.« Neal nickte und blickte den Inspektor interessiert an. »Nun und ich dachte mir: Schau mal vorbei. Der gute Mr. Hamilton wird sich sicherlich freuen. Tja und deshalb bin ich jetzt hier.« Neal hob den Zeigefinger. »Sie haben doch hoffentlich keine Teufelei vor, Inspektor?« Murray schüttelte schnell den Kopf. »Bitte, wählen Sie Ihre Worte ein bisschen sorgfältiger! Ich bin hinsichtlich des Teufels und der bösen Geister ziemlich empfindlich geworden.« Neal nickte. »Nicht nur Sie«, räumte er ein. Murray räusperte sich. »Wenn dieser Joseph Greenbury nicht gewesen wäre und...« Er unterbrach sich hastig, denn im gleichen Augenblick schien ihm wohl klar zu werden, wie unsinnig diese Äußerung war. »Wir müssen dankbar sein«, sagte Jean ernst. Murray nickte. Schweigend gingen sie ein paar Schritte weiter. Dann fragte Jean: »Was wird denn nun mit Mr. Lambert geschehen? Schließlich kann man ihm die Morde, die sein Geistersklave Ghulgor ausführte, nicht anhängen.« »Lambert wird dennoch wegen Mordes angeklagt werden«, antwortete er. »Mrs. Gray hat nämlich ausgesagt, dass Lambert an der Ermordung ihres Mannes beteiligt war. Lambert soll Mr. Gray über die Klippen gestoßen haben. Sie selbst sei nur der Lockvogel gewesen. Bezüglich der anderen Todesfälle allerdings wird man Lambert wohl nichts anhaben können, vermute ich. Welcher Geschworene und welcher Richter glaubt schon an Geister? Schließlich leben wir in einer ziemlich aufgeklärten und zivilisierten Welt, nicht wahr. Äh - wenn ich ganz ehrlich sein soll: Obwohl ich das Ende dieses Geistes Ghulgor miterlebt habe, fällt es mir immer noch schwer, an die Existenz einer jenseitigen Sphäre und Geister zu glauben.« Er zuckte resignierend die Schultern. 104
»Und doch gibt es sie«, entgegnete Neal leise. Wieder musste er an Joseph denken und an Germaine. Sie waren durch die Hand Ghulgors gestorben. Murray nahm die Unterhaltung wieder auf. »Ach ja«, sagte er und spuckte seinen Kaugummi aus. »Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu gratulieren.« »Gratulieren?«, echote Neal. »Mir? Wieso?« Verwundert starrte er den Inspektor an, der ihm seine Hand hinhielt. »Nun, immerhin sind Sie jetzt Millionär.« Neal winkte ab. »Ich habe die Bedingung meiner Tante nicht erfüllt, das wissen Sie genau, Inspektor. Ein paar Tage fehlten...« »Ich muss Sie berichtigen, Mr. Hamilton«, meinte Murray zuvorkommend und ein boshaftes Grinsen lag um seine Mundwinkel. »Nun ja, schließlich wissen Sie ja noch nicht alles. Den eigentlichen Grund meines Kommens, sozusagen.« Murray machte jetzt wieder ein todernstes Gesicht und das war nur zu verständlich. Schließlich hafte er nichts so sehr wie lange Reden und viele Worte. Er seufzte. »Die Sachlage ist so«, begann er dann gedehnt. »Lambert setzte ein Testament auf, in dem er zum Universalerben des Willock-Vermögens ernannt wurde. Dann, nachdem er seinen Geistersklaven Ghulgor vollkommen beherrschte, ließ er von ihm Amanda Willock töten. Lambert plante alles ganz genau. Er ist ein vorsichtiger Mann, er wollte nichts riskieren. Da er vermutete, dass Sie dieses Testament, das ihn zum Millionär machte, anfechten würden, heckte er einen teuflischen Plan aus. Er setzte ein zweites Testament auf. Ein Testament, das Sie zum Universalerben ernannte - vorausgesetzt, Sie erfüllten die Bedingung, einen Monat auf Revenge Island zu verbringen. Dort schließlich wollte er Sie von Ghulgor ermorden und beseitigen lassen. Als Ghulgor seinem Herrn meldete, dass Sie planten, den Parapsychologen Greenbury mitzunehmen, wurde Lambert nervös. Er sah eine Gefahr für Ghulgor und ordnete daher Joseph Greenburys Ermordung an. Lambert wollte, wie gesagt, kein Risiko eingehen. Und doch beging er mit dem Mord an Joseph Greenbury seinen wohl größten Fehler... 105
Wahrscheinlich hätte Lambert nämlich sein Ziel erreicht, wenn Greenbury uns nicht geholfen hätte. Lambert beging noch einen Fehler: Er ließ Nick Carpenter - das war einer der Erben zweiter Wahl, die Lambert der Form halber ebenfalls in Ihr Testament eingesetzt hatte - umbringen. Wahrscheinlich, weil Carpenter auch erben wollte. Er dürfte es gewesen sein, der Ihnen die beiden Gangster, deren Leichen wir in jener Höhle in den Klippen fanden, schickte, um Sie von Revenge Island zu vertreiben. Ghulgor wachte über die Pläne seines verbrecherischen Herrn. Und so musste auch Carpenter sterben - vor meinen Augen. Was mich schließlich auf seine Spur brachte. Mrs. Gray und Mr. Gray waren seine Komplizen. Nachdem Mr. Gray Gewissensbisse bekam, wurde auch er skrupellos ermordet.« Murray räusperte sich. »Ich will mich nun vollends kurz fassen. Einen Teil dessen, was ich Ihnen soeben erzählt habe, hat der gute Mr. Lambert gestanden, freundlicherweise. Den anderen Teil habe ich mir zusammengereimt. Die Verhandlung wird ergeben, wie dieser Fall abgeschlossen wird. Noch etwas aber dürfte für Sie interessant sein. Und deshalb will ich Ihnen schließlich gratulieren. In einem Geheimtresor in Lamberts Haus fanden wir ein weiteres Testament, an dessen Echtheit überhaupt kein Zweifel besteht. Es ist das echte Testament Ihrer Tante Amanda Willock. Ein Testament, in dem Sie zum Universalerben ihres Vermögens ernannt werden - ohne jegliche Bedingungen.« Neal holte tief Luft. Er starrte den Inspektor an, kein Wort brachte er hervor. »Ich kann natürlich verstehen, dass Sie überrascht sind«, räumte Ben Murray gutmütig ein. »Aber ich würde - ohne neugierig erscheinen zu wollen - doch zu gern wissen, was Sie nun tun werden. Sie sind jetzt ein reicher Mann...« »Ich...« Neal schluckte, um den ekelhaften Kloß, der immer noch in seiner Kehle steckte, loszuwerden. »Ich kann Ihnen diese Frage nicht definitiv beantworten, das - das müssen Sie verstehen«, sagte er dann rau. »Aber ich werde dieses Geld nicht für mich behalten. Zuviel 106
Blut klebt daran... Wahrscheinlich werde ich es wohltätigen Organisationen zur Verfügung stellen.« Neal sah Jean an. Sie lächelte nur, denn sie war seiner Meinung. »Wir brauchen dieses Geld nicht, Inspektor«, sagte sie schließlich. »Wir sind glücklich miteinander und mit dem Leben, das wir führen. Es gibt Höhen und Tiefen in diesem Leben und doch ist es schön. Verstehen Sie, was ich meine?« Murray nickte. Dann rückte er seinen zerknautschten Hut in den Nacken und strich sich über die Stirn. »Überlegen Sie es sich trotzdem noch mal«, riet er väterlich und reichte den beiden jungen Leuten die Hand. »Da gibt es nichts mehr zu überlegen, Inspektor. Unser Entschluss steht fest. Unverrückbar. Und ich glaube, dass es ein guter Entschluss ist.« »Ja, ich glaube, das ist es wirklich«, sagte Murray leise und lächelte. Dann wandte er sich ab und ging zu seinem Dienstwagen, den er auf der anderen Straßenseite abgestellt hatte. Ende
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