Thorin Band 3
Das schwarze Schiff von Al Wallon
Prolog Er blickte hinab in den Schlund des Vergessens und erschauer...
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Thorin Band 3
Das schwarze Schiff von Al Wallon
Prolog Er blickte hinab in den Schlund des Vergessens und erschauerte ange sichts der grausamen Endgültigkeit, die ihn und seine beiden Brüder jetzt erwartete. Er spürte die eisige Kälte, die aus dem gewaltigen schwarzen Abgrund drang und ihre unsichtbaren Hände bereits nach ihm auszustrecken begann. Das ist das Ende, schrieen seine Gedanken. Wir haben versagt
es gibt kein Zurück mehr. Für keinen von uns...
Einar hatte geglaubt, alles zu wissen. Aber dann hatte sich her ausgestellt, dass selbst ein Wesen wie er und seine Brüder, die von den Menschen der Erde als Götter bezeichnet wurden, doch nicht alle Zusammenhänge kannten. Das hatte sich spätestens in dem Augen blick bewahrheitet, als sie die letzte Schlacht zwischen Licht und Fins ternis verloren. Wir haben einen sehr hohen Preis dafür bezahlt, sinnierte Einar, während die Barke des FÄHRMANNS immer weiter auf den schwarzen Schlund zusteuerte. Und jetzt ist es zu spät für Reue - andere haben in
dieses Spiel eingegriffen und werden von nun an alles lenken und steuern... Er vergaß seine trüben Gedanken und blickte hinüber zu seinen beiden Brüdern Odan und Thunor, die schon seit langem schwiegen und teilnahmslos auf einen imaginären Punkt in der Weite des schwar zen Horizonts blickten. Sie schienen gar nicht begriffen zu haben, was jetzt mit ihnen geschah. Für sie war es ein Hauch von Ewigkeit, der sie gestreift hatte und ihnen damit deutlich machte, dass selbst solch mächtige Götter wie sie dennoch vergänglich waren. Odan hatte man einst den Weltenzerstörer genannt und Thunor den Donnerer. Einar dagegen war der Allwissende gewesen. Die Menschen ihrer Welt, die irgendwo jenseits des Ereignishorizontes lag, hatten sie an gebetet und verehrt - denn sie waren gerechte Götter gewesen. Aber es hatte nichts genutzt, denn die finsteren Mächte waren stärker ge wesen. Azach und R'Lyeh hatten sich Hilfe von jenseits der Flammen barriere geholt - die entsetzlichen SKIRR waren gekommen und hatten sich diese Welt Untertan gemacht. Und die Götter des Lichts hatten 4
den Kampf verloren, waren eingekerkert worden in einer dieser schrecklichen Stahlburgen. Dort hätten sie wahrscheinlich ausgeharrt bis zum Ende aller Zeiten - wenn nicht der FÄHRMANN in die Ge schehnisse eingegriffen hätte. Der FÄHRMANN - ein überirdisches, geheimnisvolles Wesen von großer Macht. Und dennoch war es klein und unscheinbar, besaß die unschuldigen Züge eines Kindes. Wenn nicht der wissende Glanz in seinen Augen gewesen wäre, der jedem der drei besiegten Götter des Lichts sofort signalisierte, dass auch ihre einst so vertraute Macht nun ihre Grenzen erreicht hatte... Jetzt schienen Odan und Thunor allmählich aus ihrer fast schmerzhaft wirkenden Lethargie zu erwachen - wie aus einem Schlaf, der Jahrhunderte gedauert hatte. Und vielleicht war das auch so, denn die Barke des FÄHRMANNS durchstreifte Raum und Zeit - mit einer solchen Geschwindigkeit, dass Sterne und Galaxien wie bunte Wirbel an ihnen vorbeizogen. Odan und Thunor zuckten zusammen, als sie die Schwärze des mächtigen Schlundes sahen - und so etwas wie Wieder erkennen spie gelte sich in ihren blassen Zügen. Weil sie ahnten, an welchem Ort die Barke jetzt angelangt war. SCHAUT HINAB IN DEN SCHLUND, erklang nun die Stimme des FÄHRMANNS in ihren Köpfen. DORT WERDET IHR EINTAUCHEN UND VERGESSEN, WAS IHR EINMAL WART! Einar hörte die Worte des mächtigen Wesens, konnte aber den noch nicht fassen, was dies bedeutete. Auch wenn er wusste, dass ihm keine andere Wahl mehr blieb, bäumte er sich dennoch innerlich da gegen auf. Dieser Schlund - nein, er konnte und wollte nicht... Da streifte ihn der Blick des mächtigen Wesens und die kindlichen Augen schienen bis in den letzten Winkel seiner Seele vorzudringen. DU WEIGERST DICH?, hörte Einar die Stimme in seinen Gedanken - und sie klang amüsiert und erstaunt zugleich. WER GLAUBST DU ZU SEIN, DASS DU DICH GEGEN MEINEN WILLEN AUFLEHNST? DEINE MACHT UND DIE DEINER BRÜDER IST ZU ENDE - NICHTS WIRD MEHR SO SEIN WIE ES EINMAL WAR. UND IHR TRAGT DIE SCHULD 5
DARAN, DASS ES SOWEIT GEKOMMEN IST. NUN FÜGT EUCH IN EUER SCHICKSAL UND FOLGT DIESEM WEG INS VERGESSEN... Wie willenlose Marionetten erhoben sich Odan und Thunor, bega ben sich an den Rand der Barke. Sie hatten sich selbst aufgegeben und wollten nur noch eins - die unsägliche Schmach der Niederlage so schnell wie möglich vergessen und wieder ihren inneren Frieden fin den. Ganz im Gegensatz zu Einar, der sich mit diesem Schicksal ein fach nicht abfinden wollte. STEIGT HINAB IN DIE TIEFE UND LÄUTERT EURE SCHULDHAFTEN SEELEN, befahl der FÄHRMANN mit seiner ein dringlichen Stimme. VIELLEICHT WERDET IHR DANN BEGREIFEN, WESHALB ICH SO ENTSCHEIDEN MUSS... Odan stieg als erster aus der Barke. Nur Bruchteile von Sekunden später wurde sein Körper von einem unsichtbaren Sog ergriffen, der ihn weiter hinab in den Schlund zog. Er hatte Arme und Beine weit ausgestreckt und ließ sich treiben. Dann folgte ihm Thunor und die Gestalten der beiden einstigen Götter des Lichts wurden zusehends kleiner. Wie Blätter im Wind, der sie hin- und herwirbelte und an einen unbekannten Ort brachte. UND NUN DU!, hörte Einar die Stimme des FÄHRMANNS. STEIG AUS DER BARKE - ODER DU WIRST MEINE WAHRE MACHT KENNEN LERNEN, EINAR! »Ist das wirklich gerecht?«, fragte Einar und wandte den Kopf dem kindlich wirkenden Wesen zu. »Wussten denn meine Brüder und ich im Voraus, wie sich die Dinge entwickeln würden? Auch wir können Fehler machen - und ich bereue zutiefst, dass sie solch weittragende Folgen hatten. Ich würde alles dafür tun, wenn ich es wieder rückgän gig machen könnte - wirklich ALLES...« Der Blick aus den Augen des FÄHRMANNS verlor etwas von der Strenge, schien einem milden Interesse zu weichen. Die Hand, die er bereits erhoben hatte, ließ er wieder sinken, während die beiden ande ren Götter des Lichts längst zu winzigen Punkten im Schlund des Ver gessens geworden waren. »Was muss ich tun, damit ich dich überzeugen kann, FÄHR MANN?«, fuhr Einar jetzt fort. »Ich liebte diese Welt und ihre Men schen - glaubst du, es lässt mich kalt, was dort geschehen ist? Wenn 6
ich dort noch wirken könnte - vielleicht würde es helfen, die letzten Reste der dunklen Mächte zu vertreiben...« WER WEISS DAS SCHON?, bekam Einar zur Antwort. ABER DU MÜSSTEST EINEN PREIS DAFÜR BEZAHLEN, DEN DU VIELLEICHT NICHT BEZAHLEN WILLST. DENN DU BIST KEIN GOTT MEHR UND WIRST ES AUCH NIE WIEDER SEIN. WENN DU WIRKLICH REUE ZEIGST, DANN SOLLST DU ZURÜCKKEHREN KÖNNEN, EINAR. DEINE BRÜDER HABEN SICH SELBST AUFGEGEBEN - ABER NICHT DU. ICH SEHE UND SPÜRE DAS UND DESHALB WILLIGE ICH EIN. DU KANNST ZURÜCKKEHREN IN DIE WELT, DIE DIR SOVIEL BEDEUTET HAT. A BER NICHT MEHR ALS GOTT, SONDERN ALS STERBLICHER MENSCH. WILLST DU DAS? Für endlose Sekunden herrschte Stille am Rand der Barke - und Einar hatte Mühe, zu verstehen und zu begreifen, was der FÄHRMANN da von ihm verlangte. Dutzende von Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als ihm so richtig bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte. »Ich will es dennoch«, murmelte Einar schließlich. »Ich selbst bin nicht wichtig - aber vielleicht kann ich mit meinem Wissen noch etwas bewirken. So viele auf dieser Welt haben gelitten unter der Herrschaft der dunklen Mächte - und einige tun es immer noch. Wenn es mir ge lingt, nur einen einzigen Menschen vom Einfluss der Finsternis zu ret ten, dann will ich gerne dafür sterben, FÄHRMANN...« DANN SOLL ES SO GESCHEHEN, erklang die Stimme des mächti gen Wesens. DU KANNST ZURÜCKKEHREN - JETZT IN DIESEM AU GENBLICK. NUTZE DIESE CHANCE, DIE ICH DIR GEGEBEN HABE, EI NAR. ES IST DIE LETZTE, DIE DU JEMALS BEKOMMEN WIRST. UND WENN DU DANN IMMER NOCH NICHTS BEWIRKT HAST, WIRD DEINE SEELE ENDGÜLTIG ERLÖSCHEN... Einar zuckte zusammen angesichts der Schwere der Last, die er sich selbst auferlegt hatte - und dann spürte er auch schon, wie die unmittelbare Umgebung vor seinen Augen zu verblassen begann. Selt same Klänge drangen an sein Ohr, die er nicht genau identifizieren konnte. Die Gestalt des FÄHRMANNS wurde durchsichtig - und Einar selbst fühlte sich von einer unsichtbaren Kraft emporgehoben und aus der 7
Barke gerissen. So schnell, dass er gar nicht begriff, was mit ihm ge schah. Er geriet in einen Wirbel, konnte nicht mehr erkennen, wo er sich befand - und die Barke mitsamt dem FÄHRMANN entschwand aus seinem Blickfeld. Nur das Echo seiner Stimme glaubte Einar noch schwach wahrzunehmen. ES IST DIE LETZTE CHANCE, EINAR - FÜR DICH UND AUCH FÜR DIESE WELT. VERGISS DAS NIE... Dann tauchte Einars Bewusstsein ab, als der Sog immer stärker wurde und ihn zurück an den Ort schleuderte, wo alles begonnen hat te...
Kapitel 1: Das Ritual Die Zeit auf See verlief ereignislos und träge. Schon seit mehr als drei Tagen steckte die My-Bodick in einer Flaute fest und es war noch nicht abzusehen, wann endlich wieder Wind von Norden aufkommen und das Schiff weiter vorantreiben würde. Es sah alles danach aus, als könnten sie Pernath nicht mehr pünktlich erreichen und das stellte Kapitän Rahab nicht zufrieden. Denn die Sklaven unter Deck würden erst dann einen guten Preis bringen, wenn sie in halbwegs gutem Zu stand den Zielhafen erreichten. Somit blieb nach Lage der Dinge nichts anderes übrig, als einige der Sklaven an die Ruder zu ketten. Es war Kaals Vorschlag gewesen und Kapitän Rahab hatte sich anfangs mit diesem Gedanken ganz und gar nicht anfreunden können - aber je länger er darüber nachdachte, umso rascher kam er zu dem Entschluss, dass dies vielleicht die einzi ge Möglichkeit war, um schneller nach Pernath zu kommen. Schließlich wusste niemand, wie lange diese Flaute noch andauern würde. Vielleicht schlug das Wetter ja bereits morgen wieder um - auf der anderen Seite konnten aber auch noch einige Tage vergehen, bis wieder Wind aufkam und die Segel aufbauschte. So lange wollte der Kapitän des Handelsschiffes nicht warten, denn seine Laune befand sich jetzt schon auf dem Tiefpunkt. 8
Vom Steuerruder aus sah Rahab zu, wie Kaal auf die Männer ein schrie und sie mit seiner Peitsche dazu zwang, sich in die Ruder zu legen. Der Kapitän hörte das Klatschen des Leders und die lauten Flü che seines Ersten Maates, hin und wieder gefolgt von einem leisen Stöhnen der an die Ruder geketteten Männer, die unter Aufbietung aller Kräfte versuchten, das Schiff weiter auf Kurs in Richtung Süden zu bringen. Aber auch diese Maßnahme brachte nichts Spürbares und insbe sondere Kaal ärgerte sich sehr darüber. Er fluchte in schlimmsten Tö nen und schlug mit seiner Peitsche so wild um sich, dass ihn Rahab daran hindern musste, seine Brutalität offen auszuleben. »Hör auf!«, rief Rahab dem glatzköpfigen Kaal schließlich zu und gab mit der rechten Hand ein eindeutiges Zeichen. »Komm her zu mir!« Er konnte aus dieser Entfernung zwar nicht verstehen, was Kaal darauf zu erwidern hatte, aber er erkannte das zornige Gesicht des Mannes, das noch in derselben Sekunde einem devoten Ausdruck Platz machte. Jedoch kannte Rahab den wahren Charakter des Mannes und wusste, dass Kaal mit allen Wassern gewaschen war. Noch stand Kaal auf seiner Seite - aber was war, wenn er ihm in einem unvorsichtigen Moment den Rücken zukehrte? Je länger er darüber nachdachte, umso mehr kam er zu der Überzeugung, dass Kaal langsam gefährlich wurde - auch für den Kapitän dieses Schiffes. »Warum lasst Ihr mich nicht gewähren?«, wollte Kaal nun von dem Kapitän wissen. »Ich hätte diese Hunde schon ordentlich ange trieben. Bei meiner Peitsche wird selbst der stärkste Held irgendwann schwach und...« »Deine Peitsche kann auch nicht gegen die Strömung ankom men«, unterbrach ihn Rahab und wies nach Backbord. »Es muss eine Kaltwasserströmung sein, die von Süden kommt und gegen das Schiff wirkt. Sie drängt uns einfach weiter vom Ziel ab, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Es passt zwar nicht in meine Pläne - aber wahr scheinlich müssen wir der Natur eben ihren Lauf lassen. Vermutlich treibt uns die Strömung in Gefilde, wo es mehr Wind gibt. Wenn wir wirklich dabei etwas Zeit verlieren sollten, holen wir die ganz sicher mit 9
einer kräftigen Brise wieder auf. Dann brauchen wir die Kräfte der Sklaven noch. Du musst sie also nicht bis aufs Blut peitschen. Es nützt uns nichts, wenn sie hinterher so entkräftet sind, dass wir gar nichts mehr mit ihnen anfangen können.« Kaal fühlte sich ertappt und sagte nichts - aber seine Blicke spra chen Bände. »Zieh die zusätzlichen Ruderer ab und bring sie wieder unter Deck zu den anderen Sklaven«, befahl ihm der Kapitän. »Hier rotten sie sich womöglich noch zusammen und sorgen unter der Mannschaft für Un ruhe. Das will ich vermeiden.« Kaal fuhr sich mit der linken Hand über die Stirn, als könne er den aufkeimenden Ärger auf diese Weise einfach wegwischen. Der grau haarige Kapitän sah seinen Untergebenen mit einem viel sagenden Blick an. »Du musst dich noch um etwas kümmern, Kaal - und ich lege großen Wert darauf, dass du diese Aufgabe gut erfüllst. Die rothaarige Frau namens Rica - sie gefällt mir nicht. Sie verbirgt irgendein Ge heimnis vor uns und ich halte es für wichtig, so früh wie möglich he rauszufinden, was das ist. Ich kaufe ihr nicht ab, dass sie nur nach Pernath will - da ist noch etwas anderes. Und ich wüsste gerne, was es ist.« »Aber... habt Ihr nicht mit ihr gesprochen?«, warf Kaal erstaunt ein. »Sie war doch in Eurer Kabine und...« »Ich wette, du hast an der Tür gelauscht, nicht wahr?«, fragte Rahab so unvermittelt, dass Kaal instinktiv im selben Augenblick schuldbewusst den Kopf senkte, was ein hämisches Lachen von Rahab zur Folge hatte. »Natürlich konntest du deine Neugier wieder nicht im Zaum halten. Aber gut - vielleicht war das in diesem Fall sogar besser. Dann weißt du wenigstens, worum es mir geht. Trotzdem möchte ich, dass du von nun an ein ständiges Auge auf sie hast. Sie hat zwar für ihre Überfahrt einen sehr guten Preis bezahlt - aber dennoch stimmt etwas mit ihr nicht. Und genau das sollst du herausfinden. Ich nehme an, dass es eine Aufgabe ist, die du sehr gern ausführen wirst, nicht wahr?« 10
Kaal reagierte nicht auf diese Anspielung, sondern nickte nur. »Selbstverständlich, Kapitän. Es wird alles so geschehen, wie Ihr be fohlen habt. Und wenn diese Frau wirklich ein tiefgründiges Geheimnis umgibt, dann werde ich es bald herausgefunden haben...« Kaal drehte bei den letzten Worten seinem Kapitän den Rücken zu, während sich am fernen Horizont die Sonne langsam als glühender Feuerball dem Horizont zuneigte. Dennoch hatte er das Gefühl, dass ihn zwei wachsame Augen förmlich zu sezieren schienen. Er entfernte sich von Rahab und schrie einigen der Männer laute und klare Befehle zu. Die Seeleute kannten den Jähzorn des glatzköp figen Mannes und gar mancher von ihnen hatte diese Wut schon ein mal am eigenen Leibe erfahren. Kapitän Rahab duldete Kaals Willkür zumindest dann, wenn es half, das Schiff schneller auf Kurs zu bringen und die Männer auf Trab zu halten. Die Sklaven wurden in Ketten rasch unter Deck gebracht und an die Eisenhalterungen gefesselt. Jetzt umgab sie wieder stickige, feuch te und verbrauchte Luft, die sie rasch schläfrig werden ließ. Später, als die allmählich einsetzende Dämmerung die letzten Sonnenstrahlen auslöschte, war auch Kaal auf dem Weg zu seiner Schlafkammer. Bei dieser Absicht blieb es jedoch, denn auf einmal kam ihm ein Gedanke, der rasch ganz deutliche Formen annahm. Seine Pflichten und Aufgaben an Deck hatte er ja bereits erfüllt, aber es war noch zu früh, um sich zurückzuziehen. Er dachte immer wieder an die geheimnisvolle rothaarige Frau und vergegenwärtigte sich die Tatsache, dass diese kühle Schöne ihn bisher mit ihren Blicken völlig ignoriert hatte. Kaal war wütender darüber, als er jemals zuge geben hätte und deshalb spornte ihn der Gedanke jetzt zusätzlich an, das Geheimnis dieser Frau in einem passenden Moment lüften zu kön nen. Mit dieser Absicht näherte er sich auf leisen Sohlen Ricas Kabi ne... * Kang hatte Durst. Seine Kehle fühlte sich völlig ausgetrocknet an, die
Zunge war geschwollen und lag wie ein pelziger Klumpen im Mund. Er
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blickte um sich, spähte hinein in die Dämmerung, die hier unter Deck herrschte. Es schien ihm wie eine halbe Ewigkeit, seit er zum letzten Mal das Tageslicht gesehen hatte, denn das winzige Licht, das durch eine faustgroße Öffnung in die Laderäume hineinfiel, konnte man wirklich nicht als hellen Schein bezeichnen. Er selbst war nicht bei den Männern gewesen, die von dem glatz köpfigen Teufel dazu gezwungen worden waren, harte Ruderarbeit zu verrichten. Vielleicht hatte dieser Hund auch noch Schlimmeres mit Kang vor - der alte General wusste es nicht. Aber seine augenblickliche Lage war alles andere als rosig und auch er ertappte sich bei dem Ge danken, sich aufzugeben - oder lag es an der momentanen Schwäche, die auch ihn ergriffen hatte? Kurz nach Einbruch der Dämmerung waren alle Sklaven wieder in den Laderäumen zusammengepfercht und angekettet worden. Kang sah verzweifelte und erschöpfte Gesichter. Auch Waalang und Berak waren völlig fertig. Sie lagen einige Schritte von dem alten General entfernt und reagierten noch nicht einmal darauf, als er sie mit dem Fuß leicht anstieß, um auf sich aufmerksam zu machen. »Waalang, Berak!«, raunte er noch einmal - leise genug, um die anderen Sklaven nicht aus ihrem Schlaf aufzuwecken. »Hört ihr mich?« Aber nichts geschah. Die beiden bewegten sich nur schwach, wa ren nach dieser quälenden Arbeit in einen tiefen Schlaf der Erschöp fung gefallen und Kang vermutete, dass dies auch noch einige Stun den anhalten würde, bis sie wieder ansprechbar waren. Kang verfiel wieder in seine trübseligen Gedanken. Nicht das kleinste Lüftchen kam durch die schmale Öffnung herein und der alte Kämpfer fühlte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Das wenige Wasser, das man ihm und den anderen Angeketteten gegeben hatte, würde niemals ausreichen, um seinen schrecklichen Durst zu löschen. Umso wichtiger war es, dass er sparsam damit umging - denn niemand wusste, wann die nächste Ration kommen würde. Bestimmt nicht vor dem Morgengrauen. Die Flaute ist immer noch nicht vorbei, sinnierte Kang. Wer weiß,
wie lange es noch andauern mag, bis das Wetter umschlägt. 12
»Es hat nichts genutzt«, hörte Kang eine murmelnde Stimme von hinten her. Dann ertönte das leise Klirren von Ketten und Sörndaak kroch auf allen Vieren zu ihm herüber - zumindest so weit, wie es sei ne Ketten zuließen. »Die ganze Arbeit war vergeblich - dieser Hund Kaal hätte eigentlich wissen müssen, dass er mit seinem Sturkopf den Willen der Natur nicht besiegen kann.« Kang wandte überrascht den Kopf. Er hatte gar nicht damit ge rechnet, dass ausgerechnet der dürre Sörndaak noch bei Kräften war. Aber anscheinend steckte in ihm ein starker Wille zum Überleben. »Willst du reden?«, fragte ihn Kang und bemerkte, wie Sörndaak kurz nickte. »Ich habe so viele Fragen - und ich möchte endlich wis sen, wohin uns unser Schicksal eigentlich führt. Du scheinst mehr zu wissen als die anderen - es wird also höchste Zeit, dass einer von euch mal den Mund aufmacht.« Die letzten Worte beinhalteten einen Tadel, weil Sörndaak erst jetzt das Gespräch mit ihm suchte. Aber offensicht lich hatte sich der Sklave von den Neuankömmlingen erst einmal ein Bild machen wollen. »Du willst die Wahrheit hören?«, murmelte Sörndaak. »Ich fürch te, sie wird dir nicht gefallen...« »Verdammt, rede endlich, sonst...« Kang schluckte eine zornige Bemerkung im letzten Moment herunter, als er sah, wie Sörndaak sich beinahe wieder zurückziehen wollte. »Entschuldige«, fügte er rasch hinzu. »Um meine Nerven ist es nicht besonders gut bestellt.« »Dieser Seelenverkäufer heißt My-Bodick«, klärte ihn Sörndaak jetzt auf. »Der Name des Kapitäns ist Rahab. Er ist ein verdammter Hundesohn, der nur an seinen Profit denkt. Nur deshalb behandelt er uns halbwegs anständig - aber wenn es nach Kaal ginge, würden wir jeden Tag die Peitsche zu spüren bekommen. Aber dann wären wir nichts mehr wert, wenn wir erst den Hafen von Pernath erreicht ha ben. Auf den dortigen Sklavenmärkten achtet man sehr genau auf gute Qualität.« »Pernath?«, hakte Kang nach. »Was ist das - eine Stadt oder ein Land? Den Namen habe ich noch nie gehört.« 13
»Du musst wirklich von weit her kommen«, erwiderte Sörndaak sichtlich erstaunt. Womit er im Grunde genommen nicht Unrecht hatte. Aber so sehr Kang sein Gedächtnis durchforstete - er konnte sich nicht erinnern, jemals von einer Hafenstadt gehört zu haben, die diesen Namen trug. Pernath - das klang geheimnisvoll. Es konnte aber auch gut möglich sein, dass in den Jahren der schrecklichen Kämpfe der Lichtheere gegen die alles verschlingende Finsternis die Stadt zerstört worden war und die neuen Bewohner zur Verdrängung der alten Gräueltaten diesem Hafen lieber einen anderen Namen hatten geben wollen. Möglich war alles. Sörndaak wusste selbst nicht viel. Das sagte er Kang auch. »Die Mannschaft und ihr Kapitän sind wohl schon mehrmals dort gewesen«, fuhr er fort. »Es scheint ein neuer und aufstrebender Ort zu sein, wo man jede Art von Ware feilbieten kann - auch menschliche Fracht. Pernath liegt möglicherweise an der Küste eines noch unerforschten Kontinents, dessen Inneres völlig unbekannt ist. Mehr kann ich dir nicht sagen, Kang.«
Ein unerforschter Kontinent? Kangs Gedanken überschlugen sich
jetzt. Vor allen Dingen, als er sich vor Augen hielt, dass die Gelehrten sich mittlerweile darüber stritten, ob die Welt nicht doch eine Kugel sei. Keine Scheibe, sondern eine gigantische Kugel, bedeckt mit Ozea nen und Landmassen, die weitaus größer und vielfältiger waren als die besten Karten zeigten, die Kang in Erinnerung hatte. Jedoch behielt der alte General auch diesmal seine abweichende Meinung für sich, denn es schien ihm unmöglich, nicht von einer Welt auszugehen, die wie eine Scheibe geformt war, deren Ränder aber noch niemals ein menschliches Wesen gesehen hatte. Es hieß damals, dass an diesem Rand, der in luftiger Höhe von undurchdringlichen Ne beln umgeben war, der Wolkenhort der Lichtgötter sei und auf der anderen Seite der Scheibe hausten ihre Rivalen, die Götter der Fins ternis. Genau dieses Weltbild hatte Kang von Kindesbeinen an geprägt - aber nach dem Ende des Dunklen Zeitalters schien dieses Bild ziem lich ins Wanken geraten zu sein und Kang war einer der letzten, die sich einfach nicht davon überzeugen lassen wollten, dass er sich all die 14
Jahre geirrt hatte. Wie Hunderte und Tausende anderer Menschen und Gelehrter ebenfalls. Die Welt - keine Scheibe, sondern eine Kugel? Bedeutete das, dass nur ein kleiner Teil der Welt bekannt war und noch weitere Län der, Inseln und Kontinente jenseits des Horizontes lagen? So weit ent fernt, dass weder Kang noch andere jemals dorthin gekommen waren? Eigentlich unwahrscheinlich und doch... Vielleicht lag das ihm unbekannte Pernath am Rande der Welt? Aber wenn die Menschen dort Seefahrt betrieben, wurde auch gehan delt - und gute Kaufleute waren stets bemüht, neue Absatzmärkte für ihre Waren zu finden. Zweifelsohne würde Kang zu dieser Stunde und von Bord aus dieses Rätsel nicht lösen können. »Da ist noch etwas«, meldete sich Sörndaak wieder zu Wort diesmal allerdings mit spürbar verunsicherter Stimme. Er flüsterte, als hätten die Schiffswände selbst Ohren: »Sie werden uns dort nicht nur als Sklaven verkaufen - ich glaube auch den Ort zu kennen, wo man uns anschließend hinbringen wird. Nämlich in die Höhlen der HirnkindFogger!« »Und was soll das sein?«, hakte Kang gleich nach, denn dieser Name sagte ihm ebenfalls nichts. Er spürte nur, dass es nichts Ange nehmes sein konnte, denn ein kurzer Blick in Sörndaaks Gesichtszüge sagte ihm trotz des Dämmerlichts genug. »Auf jeden Fall scheinen Kapitän Rahabs Männer vor diesem Ort große Angst zu haben, Kang«, fuhr Sörndaak fort. »Ihre Gier ist aber dennoch größer, sonst würden sie ein solches Risiko niemals eingehen. Schließlich ist es nicht die erste Fahrt, die sie nach Pernath bringt, doch mir scheint, als sei es wirklich nur der in Aussicht gestellte groß zügige Lohn des Kapitäns, der sie ihre Furcht vor den Höhlen verges sen lässt.« Kang nickte. Sörndaaks Worte trugen auch nicht gerade dazu bei, seinen Optimismus zu stärken. Ob er nun wollte oder nicht - schon sehr bald würden er und alle anderen Leidensgenossen zusammen auf dem Sklavenmarkt stehen. Und dann würde es hinauf in die Berge gehen - in die Heimstatt der Hirnkind-Fogger! 15
»Wir dürfen dennoch nicht den Mut verlieren«, murmelte Kang lei se. »Solange wir Hoffnung haben, ist unser Schicksal noch zu ändern. Wenn du etwas tun willst, dann sag das den anderen. Vielleicht hört der eine oder andere auf dich. Meine Gefährten und ich sind für sie Fremde, dir werden sie jedoch glauben.« »Was hast du vor?« Sörndaaks Stimme war jetzt so leise gewor den, dass selbst Kang sie nur noch schwer hören konnte. »Was wohl? Ich werde gegen dieses Schicksal ankämpfen! Oder glaubst du, ich würde mich wie ein Opferlamm zur Schlachtbank füh ren lassen? Ich weiß zwar nicht, wer diese Hirnkind-Fogger sind und will es auch gar nicht wissen. Ich kann mir besseres vorstellen, als in deren Höhlen einen grausamen Tod zu sterben. Nein, wir alle müssen bereit sein und auf unsere Stunde warten und ich bin sicher, dass sie kommen wird.« »Gut, ich rede mit den anderen - gleich morgen«, versprach ihm Sörndaak. »Ich wusste, dass du dich so schnell nicht geschlagen gibst. Den Göttern sei Dank.« Er murmelte etwas vor sich hin, was Kang nicht mehr genau verstehen konnte und zog sich dann wieder ins Dunkel seines Schlafplatzes zurück. Trotz seiner grimmigen, aber zumindest jetzt noch aussichtslosen Entschlossenheit sank Kangs Kopf zurück. Er atmete den Geruch muf figen Stoffs ein, ehe er die Augen schloss und Schlaf zu finden ver suchte. Natürlich konnte er jetzt und in dieser Nacht keine Entschei dungen mehr treffen. Aber morgen früh - so hatte es dieser Teufel Kaal angedeutet - würden einige Sklaven an Deck kommen müssen, um dort zu arbeiten. Kangs Gedanken verschwammen, als er allmählich einschlief. Viel leicht ergab sich bei diesen Arbeiten eine Chance, die er nutzen konn te. Er musste nur Waalang und Berak dafür gewinnen und viele der Versklavten auf seine Seite ziehen. Eine winzige Chance, doch mögli cherweise war das der einzige Schlüssel zur Rettung. Dann überfiel ihn der Schlaf wie ein Raubtier - und es hatte leichte Beute mit dem erschöpften Kang. * 16
Dutzende von unterschiedlichen Gedanken gingen Rica durch den Kopf, als sie endlich die Tür der kleinen Kabine hinter sich schloss. Ihr Atem ging heftig und sie spürte eine eigenartige Unsicherheit, die ihr Denken bestimmte. Die rothaarige Ordensschwester konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es ihr wirklich gelungen war, sämtliche Zweifel des Kapitäns aus dem Weg zu räumen. Irgendwie schien es ihr, als gebe es da noch einen winzigen Funken Misstrauen. Aber das durfte nicht sein - nicht jetzt, wo sie schon so kurz vor ihrem Ziel stand. Sie musste umso vor sichtiger sein, durfte Rahab keine weitere Gelegenheit geben, an ihrem Verhalten zu zweifeln. Hier in dieser engen Kabine fühlte sie sich sicher. Sie trat zu der winzigen Luke und spähte hinaus auf das nächtliche Meer. Silbern und hell hing der Mond am Himmel und übergoss den weiten Ozean mit seinem Licht. Die Wellen kräuselten sich nicht einmal, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Flaute nach wie vor noch nicht nachgelassen hatte. Rica gefiel das nicht, denn es bedeutete, dass sie ihren ur sprünglichen Zeitplan nicht mehr einhalten konnte. Das Schwarze Schiff war zwar schon unterwegs - aber durch die Flaute würde es länger dauern, bis Rahabs Schiff den Treffpunkt erreichen würde. Rica spürte die Schwüle, die in der engen Kabine lastete. Die Luft roch schwer und abgestanden wie das gesamte Schiff. Hoffentlich musste sie das nicht mehr allzu lange ertragen. Deshalb beschloss sie, in ihre eigene Welt abzutauchen und das Ritual für die dunklen Mächte zu beginnen. Es war eine Art Gebet, das ihr Kraft geben würde, die nächsten Stunden - und vielleicht Tage - zu überstehen und gestärkt daraus hervorzugehen. Rica streifte ihr Kleid von den Schultern, warf es achtlos zu Boden. Ihr schlanker nackter Körper hätte die Blicke aller Schiffsinsassen auf sich gezogen, wenn sie das jetzt hätten sehen können. Er war mehr als eine Sünde wert, aber Rica dachte jetzt nicht an solche Dinge. Stattdessen lächelte sie, als sie einen Blick auf die kristalline linke Brust warf, die silbern schimmerte und sie die Wärme spüren ließ, die von dieser eigenartigen Netzstruktur ausging, die die gesamte Wöl 17
bung überzog und die Brust von außen wie einen Fremdkörper wirken ließ. Rica machte sich an dem Lederbeutel zu schaffen, der ein Teil ih res kargen Gepäcks war, öffnete ihn und holte in ein dunkles Tuch gehüllte Gegenstände heraus, die auf einen neugierigen Beobachter unter Umständen abstoßend gewirkt hätten. Es war eine merkwürdig riechende Substanz, rötlich schimmernd und in einem kleinen Glasbe hälter verschlossen, eine ebenfalls rote Kerze, sowie zwei scharfe, kleine Dolche, die auffällig geformt waren und auf den Klingen Insig nien in einer Schrift zeigten, die nur Rica und die anderen Ordens schwestern kannten. Rica zündete die Kerze mit Hilfe eines Feuersteins an und sah, wie die kleine Flamme allmählich zum Leben erwachte und rasch größer wurde. Sofort spürte sie eine große Behaglichkeit, denn der Kerzentalg selbst schimmerte ebenfalls in einem rötlichen Licht - es war nicht nur Talg, aus dem diese Kerze hergestellt worden war... Leise Worte in einer unbekannten Sprache kamen über ihre Lippen, während sie auf die Kerzenflamme starrte und gleichzeitig mit der rechten Hand nach dem kleinen Glasbehälter griff und ihn öffnete. Ein eigenartig stechender Geruch drang an Ricas Nase, aber das störte sie nicht - im Gegen teil! Sie sog den markanten Geruch des roten Traumes tief in sich ein und ließ ihn wirken. Eine eigenartige Wärme erfasste ihre inneren Or gane, breitete sich von der Lunge aus und stieg dann bis in den Kopf empor und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie das Glasgefäß an die Lippen setzte und vorsichtig einen Schluck von der geheimnisvollen Flüssigkeit nahm, deren Zusammensetzung nur sie und andere Einge weihte kannten. Es war zunächst ein starker Schwall Hitze, der von der Kehle zu ih rem Magen führte und dort förmlich explodierte. Rica stöhnte leise, empfand für Bruchteile von Sekunden einen Schmerz - aber dann wur de dieses Gefühl bereits von anderen Empfindungen überlagert. Sie schloss die Augen und wiegte ihren schlanken Körper vor der brennenden Kerze hin und her, nachdem sie den einen der kleinen Dolche in die rechte Hand genommen hatte. Auf der Klinge spiegelte 18
sich das unruhig flackernde Kerzenlicht, während leise Worte in einer monotonen Sprache über Ricas Lippen kamen. Sie wartete einige Au genblicke lang, bevor sie wieder die Augen öffnete, ihr Blick klar wurde und sie dann ihre Gedanken in die Tat umsetzte. Sie setzte die Spitze der Klinge auf der Innenseite ihres linken Un terarms an und ritzte ihre Haut an dieser Stelle. Rica spürte nur einen flüchtigen Schmerz, den die Klinge verursachte. Stattdessen empfand sie steigende Erregung, als der erste Tropfen Blut hervortrat, gefolgt von einigen anderen, die ein ganz dünnes Rinnsal bildeten. Rica setzte ihren monotonen Sprechgesang fort, hielt den Arm hoch und ließ das Blut über der Kerze auf den Boden tropfen. Dieses wiederholte sie mit dem rechten Unterarm und der linken Klinge. Auch hier fügte sie sich eine kleine Wunde zu, aus der ebenfalls Blut hervor trat. Ein eigenartig schwerer Geruch hing über der kleinen Kammer und der Geruch der Flüssigkeit vermischte sich mit dem Odem des Blutes. Rica presste die blutenden Unterarme fest an den Körper und genoss diesen Moment. Mittlerweile hatte sie die Augen ganz fest geschlossen, wiegte ihren formvollendeten Körper weiter hin und her und spürte eine Hitze, die ihren Schoß erfasste. Sofort fuhr ihre rechte Hand hin unter und massierte die feuchte Stelle. Ihre Finger tauchten ein, mas sierten sanft die Schamlippen und ihr Geist stieß dabei in Regionen vor, zu denen nur sie Zugang hatte. Sie sah eine Flut von Bildern vor sich, die zunächst nicht klar wa ren und nur verwaschene Schemen bildeten. Aber je weiter sie sich selbst in Ekstase versetzte und das Ritual sich seinem Höhepunkt nä herte, umso klarer wurden diese mentalen Eindrücke. Sie atmete heftiger, als sie das Schwarze Schiff am Horizont er kannte. Sie erkannte den mächtigen Bug, dessen Spitze der große und hässliche Kopf eines Dämons bildete. Ein Furcht erregender Anblick aber für Rica war das ein vertrautes Bild. Das Schiff näherte sich un aufhaltsam dem Ziel, obwohl sich am Himmel dunkle Wolken zusam menballten. Wind kam auf und peitschte die Wellen. Ein greller Blitz zuckte am Himmel auf, gefolgt von zwei lauten Donnerschlägen. Dann rissen die Wolken wie von unsichtbarer Hand auseinander und gaben 19
den Blick auf ein monumentales Gesicht frei, das aber nicht klar zu erkennen war. Ein riesiger Schatten, eingehüllt in eine dunkle Rüstung und der Blick aus strengen und wissenden Augen richtete sich genau auf Rica, die sich in diesem Moment beobachtet fühlte bei dem, was sie tat. Und sie genoss diese Blicke, bewegte die rechte Hand nun noch heftiger, während ein Stöhnen tief aus ihrer Kehle kam und den Körper erzittern ließ. Er kommt, jagte ein Gedanke den anderen. Er ist näher als wir alle
vermutet haben - und wir werden ihn rufen können, sobald wir alle zusammen sind und das Erwachen der Schwärze veranlassen...
Ihre Hände waren nass, aber sie bearbeitete sich noch immer selbst mit wachsender Heftigkeit. Schweißperlen überzogen den ge samten Körper und ihre Brustwarzen waren so hart und steif, dass sie fast schmerzten. Dann kam die erste Flut und ließ ihren Körper zu cken, begleitet von einem weiteren tiefen Stöhnen. Rica biss sich ins tinktiv auf die Lippen, um jedes weitere Geräusch zu unterdrücken, aber ganz gelang ihr das nicht. Sie fiel nach hinten, streckte sich auf dem Boden aus, während ihr Unterleib immer noch in Flammen stand und sich wie unter unsichtbaren Händen wand. Träume und Wirklichkeit, Visionen und Realität vermischten sich für Sekunden miteinander und ließen Rica verwirrt zurück. Diese Au genblicke erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Dann klang aber die Welle des Orgasmus' ab, der ihren Körper geschüttelt hatte - und ebenso verschwanden die Bilder der geheimnisvollen Erscheinung in der dunk len Rüstung. * Ungläubig blickte Kaal durch den winzigen Spalt in der groben Wand und zuerst wollte er gar nicht wahrhaben, was er da sah. Sein Atem ging unwillkürlich heftiger, als er sah, wie sich Rica ihrer Kleider entle digte und ihm dann den nackten Rücken bot. Kaal blickte mehrmals nach hinten, um auch sicher zu sein, dass jetzt niemand in der Nähe war, denn er wollte nicht, dass irgend jemand Zeuge wurde, wie er lauschte und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. 20
Aber es war nicht das erste Mal, dass Kaal einen solchen Versuch unternahm. Deshalb war er Kapitän Rahab sehr dankbar, dass er aus gerechnet diese Kammer für die Rothaarige ausgewählt hatte. Denn jenseits der Wand erstreckte sich ein kleiner Lagerraum für Werkzeu ge, Taue und Seile, der zumindest zu dieser Stunde nicht betreten wurde. Und hier hatte die Wand einige hauchdünne Risse, durch die man in die angrenzenden Räumlichkeiten blicken konnte, wenn man das wollte... Kaal spürte sein Glied in der Hose, fühlte, wie es hart und steif wurde - und eine kaum zu bewältigende Lust packte ihn, als er stumm das Ritual der Rothaarigen beobachtete, das ihn erschreckte und zugleich faszinierte. Aber Kaal war ein Mensch einfachen und plumpen Gemüts. Der nackte Körper der Frau interessierte ihn mehr als alles andere und als er sah, wie sie mit der Hand zwischen ihre Beine fuhr und die Finger dort auf- und abgleiten ließ, schloss er die Augen, wandte den Kopf von dem Riss in der Wand und hätte beinahe laut und zornig geflucht, weil er weiterhin ein stiller Beobachter bleiben musste - sonst würde er sich den Zorn des Kapitäns zuziehen. Und Ärger mit Kapitän Rahab konnte und wollte er jetzt nicht riskieren... Er riskierte dafür einen weiteren Blick durch den Riss in den Bret tern und sah, wie sich die nackte Schöne auf dem Boden wand. Ihr Körper glänzte vor Schweiß und Rica zitterte. Sie hatte die Augen ge schlossen, aber ihre Gesichtszüge waren dennoch in diesem Moment die pure Verheißung. Kaal wandte sich ebenfalls ab; er konnte dem berauschenden Treiben nicht länger zusehen. Eine wilde Gier hatte ihn gepackt und die bestimmte nun sein weiteres Handeln. Was er gese hen hatte, würde er zunächst für sich behalten - Rahab brauchte da von nichts zu erfahren. Jetzt musste er erst einmal auf seine innere Stimme hören und deren Ruf folgen... * Kaal war wach, obwohl er seine Augen geschlossen hatte. Neben sich spürte er in den zerwühlten Laken einen warmen Körper und hörte neben den stetigen Geräuschen des Schiffes ein schwaches Schnar 21
chen. Er nahm die dürre und schwächlich wirkende Hand von seiner Brust und stand leise auf. In der Dämmerung tappte er zu der Luke seiner Kammer und nahm den Vorhang beiseite. Er brauchte etwas frische Luft, aber noch immer war kein Wind zu spüren - nicht einmal der leiseste Lufthauch. In dem engen Raum roch es aufgeheizt und stickig - und nach etwas anderem, was Kaal zu genießen versucht hatte. Der glatzköpfige See mann spürte selbst jetzt noch die Anspannung der letzten Tage. Seine Augen nahmen zwar für Sekunden einen sanften Blick an - aber die harten Mundwinkel, die kurze, durch einen Bruch etwas schief zusam mengewachsene Nase sowie die spärlichen Augenbrauen straften die sen ersten Eindruck Lügen. Kaal dachte immer noch daran, dass es eine Verzögerung geben würde, bis sie in Pernath eintrafen. Der Kapitän hatte den Kurs genau geplant, aber nicht berücksichtigt, dass ihm diese Flaute einen gewal tigen Strich durch die Rechnung machen würde. Der Sklavenmarkt von Pernath sowie die angrenzenden Händlergassen boten jedem Erlebnis hungrigen allerlei Vergnügen und Ablenkung. Kaal nannte das in Ge danken auch Frischfleisch! Hier auf dem Schiff musste er jedoch vorsichtig sein, aber sobald der Kapitän seinen Männern den Landgang erlaubte, würde sich Kaal nach dem ersten Saufgelage von den anderen trennen und untertau chen in dem atemberaubenden und farbenprächtigen Gewühl einer wahrhaft exotischen Stadt. Und genau dies würde er jetzt später erle ben und genießen müssen... Kaal erwachte wie aus einem süßen Traum. Er fuhr sich träge ü ber den Kopf und spürte dabei einen winzigen Flaum von Haaren sprießen. Während er durch die Luke die nächtlichen Sterne musterte, beschloss er, sich später zu rasieren, bis sein Schädel wieder wie glatt poliert wirkte. Kaal wusste, dass die meisten der Seeleute an Bord dieses Seelenverkäufers Furcht vor ihm hatten - vor seiner rohen Kraft und seinen Narben, die dünn und hell auf der Kopfhaut zu sehen wa ren. Und da gab es noch die rote, fleischige Narbe im Nacken, von der er niemals jemandem erzählt hatte, wie ihm das Schicksal vor vielen Jahren auf diese Weise einen üblen Streich gespielt hatte. Selbst Kapi 22
tän Rahab kannte seinen Untergebenen seit ihrem ersten Zusammen treffen nur mit dieser im Sonnenlicht hell leuchtenden Narbe. Kaal verfluchte die träge, schwarze Masse des Meeres, in der sie still und bewegungslos festsaßen - und das auf nicht absehbare Zeit. Über sich hörte er an Deck die schweren Schritte der Nachtwache und drüben vom Heck her glaubte er die Harfe des Barden zu vernehmen. Bald war es an der Zeit, dass er ebenfalls wieder an Deck erschien und die Wachen neu einteilte - aber bis dahin wollte er sich noch etwas Vergnügen gönnen. Er ließ die Luke unverhangen, denn so lange würde es nicht mehr dauern und ging wieder zurück zu seinem Nachtlager. Seine Hand glitt unter dem dünnen Tuch über einen schlafwarmen Körper, tastete sich allmählich tiefer zwischen die Beine. Ein kurzes Brummen unter ihm deutliche Zeichen des raschen Erwachens - dann spürte er die feucht warme Höhle eines Mundes an seinen Genitalien, während er selbst mit wieder erwachter Lust nach dem Penis des dürren Mannes tastete und schließlich wie ein unschuldiges Kind daran zu saugen begann. Und seine Phantasie ersetzte ihm das, was er von Rica niemals be kommen würde... * Das gemeine Raubtier, das Kang fest in seinen Fängen gehalten hatte, zog sich plötzlich und unerwartet wieder zurück. Die Müdigkeit war auf einmal verflogen - dafür begann Kang zu frieren, obwohl es in dem überfüllten Raum stickig und heiß war. Er wusste nicht, warum er auf einmal aufgewacht war und fand auch Minuten später keine Erklärung dafür. Dennoch spürte er irgendetwas - etwas, das er mit seinen Sin nen nicht greifen konnte, wie den Hauch einer drohenden Gefahr. Als ob ein weiteres Raubtier im Dunkel lauere und nur auf den richtigen Zeitpunkt zum Angriff warte. Rasch setzte er sich auf und spähte in die Dunkelheit. Es war eine seltsame Düsternis - unwirklich und die Körper der Versklavten zeich neten sich als schwarze Flecken von der Umgebung ab. Kang schien 23
es, als wolle eine eigenartige Vorahnung schrecklichen Unheils ihn überfallen. Werde ich schon wieder beobachtet?, peinigte ihn erneut eine un beantwortete Frage. Was geht hier eigentlich an Bord vor? Deshalb kauerte er sich instinktiv zusammen, zum Sprung bereit, starr vor Konzentration. Doch es blieb nach wie vor still und er wagte es, seine Muskeln wieder zu lockern. Dennoch spannte er sie Sekun den später ein weiteres Mal an, um nicht in dieser Stellung zu ver krampfen. Mehr bewegte er sich aber nicht, denn er wollte nicht unnötig auf sich aufmerksam machen. Er schien tatsächlich der einzige zu sein, der zu dieser späten Stunde noch wach war. Die dunklen Flecken auf den Holzplanken, umgeben von altem Stroh, rührten sich nicht. Er lauschte in die Dunkelheit, versuchte zu ergründen, welche subtile Bedrohung sein Unterbewusstsein in Alarmzustand versetzt hatte. Aber nichts geschah - bis zu dem Augenblick, als oben an Deck schwere Schritte erklangen und wenige Minuten später wurde die schwere Luke, die ins Freie führte, hochgerissen. Ausgerechnet jetzt schob sich eine dichte Wolke vor den Mond, so dass das helle Licht selbst das obere Ende nicht mehr erreichte. Dennoch glaubte Kang die markante Gestalt des Mannes an der schmalen Treppe zu erkennen. Es war Kaal, der glatzköpfige Teufel - und er war nicht allein! Irgendjemand wurde gezwungen, die Treppen hinab zu steigen und Kang stellte sich sofort wieder schlafend, um ja nicht aufzufallen. Er rührte sich nicht, hielt aber die Augen halb offen und erkannte die hagere Gestalt Sörndaaks, der nun von Kaal mit raschen Handgriffen wieder angekettet wurde. Kaal blickte weder nach rechts noch nach links, sondern verließ rasch wieder den nach Schweiß und Urin riechenden Raum. Sekunden später schloss sich die Luke hinter ihm und Düsternis umgab Kang. Irgendwo hinter sich glaubte Kang ein unterdrücktes, trockenes Schluchzen zu hören. »Sörndaak«, murmelte er leise - und das Schluchzen brach abrupt ab, machte einem betretenen Schweigen Platz. »Sörndaak - wo warst du? Was hat dieser Hund Kaal mit dir gemacht...?« 24
Ein leichter Hustenreiz überkam den dürren Sörndaak, bevor er seine Stimme erhob - und diesmal kamen die Worte seltsam schwach und willenlos über seine Lippen. Er bewegte sich nur zögernd und zog es vor, nicht näher zu Kang heranzukommen. Der alte General wollte sich deshalb erheben und die wenigen Schritte bis zu Sörndaak hin über kriechen. Aber als er das tat, bemerkte er, wie der Versklavte nur noch weiter zurück zur Wand kroch und sein Haupt gesenkt hielt, als trage er eine furchtbar schwere Schuld, mit der er nicht fertig wurde. »Was ist denn mit dir?«, bohrte Kang weiter. »Was ist geschehen? Wo bist du denn gewesen? Hat Kaal...« »Frag mich das nicht, Kang«, unterbrach ihn Sörndaak mit bre chender Stimme, bevor er erneut zu schluchzen begann. »Frag mich das niemals wieder!«
Kapitel 2: Wächter des Todesplateaus
Jenseits des weiten Horizontes erstreckte sich eine Nebelwand, die selbst aus dieser Höhe noch undurchdringlich wirkte - fast wie eine gigantische Mauer. Die gewaltige Brücke aus Stein, die schon existiert hatte, bevor die menschliche Zeitrechnung ihren Anfang genommen hatte, führte genau in den Nebel hinein und wo sie endete, darum kreisten unter den wenigen Sterblichen, die überhaupt etwas von der Existenz dieser Brücke wussten, die wildesten Gerüchte. Aber sie be ruhten eben nur auf Halbwahrheiten - wie es wirklich um dieses Arte fakt bestellt war und welche Bedeutung es tatsächlich hatte, dieses Wissen war im Lauf der Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Der Himmel war wolkenverhangen. Drüben vom Meer her kam ein heftiger Wind, der immer wieder für starke Böen sorgte und weiße Schaumkronen auf den Wellen tanzen ließ. Unweit der Nebelbänke, die den gesamten südlichen Teil des Horizontes bedeckten, schien das Große Salzmeer in Aufruhr geraten zu sein. Irgendwo auf hoher See tobte immer noch der heftige Sturm, dessen Ausläufer selbst bis in diesen einsamen Teil der zerklüfteten Felsenküste zu spüren war. We he dem Schiff, das in solch einen Orkan geriet! 25
Der geflügelte Bote kreiste hoch am Himmel und ließ sich vom auf- und abschwellenden Wind tragen. Wachsam spähten seine Augen über das wilde Land, das sich unter ihm erstreckte. Aber weit und breit war alles still und ruhig; die einzigen Laute, die sein gut ausgeprägtes Gehör aufnahm, waren das stetige Rauschen des Meeres und das Pfei fen des Windes, dessen Echo von den Felsen aufgenommen und ganz verzerrt wiedergegeben wurde. Zwei weitere geflügelte Wesen kreisten am Himmel, unweit des ersten gigantischen Brückenpfeilers, der den Anfang von NIPUUR bil dete - ein Name, um den sich in der Welt der Sterblichen Legenden zu ranken begannen. Aber die gewaltige Steinbrücke, die hier an der Küs te begann, war keine Legende - NIPUUR war greifbar und existierte schon seit Anbeginn der Zeiten. Erst das Auftauchen der neuen Götter hatte den wahren Sinn erkennen lassen, den NIPUUR repräsentierte. Ihnen war es auch zu verdanken, dass sich mit jedem neuen Tag die sich immer deutlicher abzeichnende, wirkliche Ordnung des einzig wahren Glaubens ihren Platz in dieser Welt erkämpfte. Aber darüber wussten die geflügelten Boten nur sehr wenig, denn sie waren nur die ausführenden Organe und die Vollstrecker der neuen Götter, die auf dieser Welt herrschen wollten. Der geflügelte Bote spürte den kalten Wind unter seinen weit aus gebreiteten Schwingen. Erneut stieg er weiter nach oben und die Welt unter ihm wurde immer kleiner. Er driftete ab von den majestätischen Brückenpfeilern und zog einen weiten Kreis an der Küste entlang, e benso wie seine Brüder. Dies war ihre Aufgabe als Wächter. Sie hatten diesen Ort auf Geheiß der neuen Götter zu bewachen - Tag um Tag, Stunde um Stunde. Und die stets wachsamen Augen würden jeden bemerken, der sich der Brücke aus Stein näherte. Der Bote mit den weiten Schwingen wusste nicht, wie lange er schon seine Kreise am wolkenverhangenen Himmel gezogen hatte, als er plötzlich spürte, dass sich etwas... veränderte. Seine feinen Sinne meldeten ihm eine Unregelmäßigkeit, die noch nicht greifbar war aber dennoch existierte sie. Sofort änderte er seine Flugrichtung und lenkte seine ganze Auf merksamkeit auf die endlose Küste, die von zahlreichen Klippen und 26
scharfkantigen Vorsprüngen gesäumt wurde, während er gleichzeitig die anderen beiden Boten mit Hilfe seiner Sinne alarmierte. Sofort kehrten sie zu den Brückenpfeilern zurück und verbargen sich dort im Gestein, jederzeit bereit, im richtigen Moment NIPUUR zu verteidigen. Es dauerte nicht lange, bis der geflügelte Bote inmitten der Küs tenfelsen zwei winzige Punkte erkannte, die sich der Brücke allmählich zu nähern begannen. Vorsichtig ließ er sich weiter nach unten sinken, hielt sich aber nach wie vor im Schütze einiger dichter Wolken auf, die für seine scharfen Augen jedoch kein Hindernis darstellten. Er konnte alles genau erkennen und was er sah, alarmierte seine Sinne. Es waren zwei Reiter, die einem schmalen, gewundenen Pfad folg ten und der Bote kannte die beiden Menschen. Ungläubig schüttelte er den Kopf, während er mit den Schwingen schlug. Nie hätte er gedacht, dass es dieser Krieger jemals schaffen würde, diesen Ort zu erreichen. Schließlich hatte er ihn auf Geheiß der neuen Götter seines Schwertes beraubt und gehofft, dass dies den Krieger in völlige Verzweiflung stürzen werde. Und dennoch hatte er sich rascher mit dieser neuen Situation abgefunden als zunächst vermutet - sonst wäre er nicht bis hierher gekommen. Er wird bald NIPUUR erreichen, schoss es dem geflügelten Boten durch den Kopf. Die Götter müssen es erfahren - jetzt gleich. Er beobachtete die beiden Reiter nochmals für einige Augenblicke und stieß dann wieder in die Wolken hinauf, zog sich ungesehen in einem weiten Bogen nach NIPUUR zurück. Und noch bevor er die gi gantische Brücke aus Stein erreicht hatte, wussten die anderen beiden geflügelten Wesen schon, was er entdeckt hatte. ICH MUSS IN DEN WOLKENHORT, signalisierte er den anderen beiden Boten. DER HERR UND SEINE GEMAHLIN MÜSSEN ERFAHREN, WAS HEER GESCHIEHT. IHR BEWACHT WEITER DIE BRÜCKE - UND WENN DIESER STERBLICHE SEIN ZIEL ERREICHT, DANN LASST IHN AUF GAR KEINEN FALL PASSIEREN. WARTET BIS ICH WIEDER ZU RÜCK BIN UND NEUE BEFEHLE VON DEN GÖTTERN ERHALTE. Die beiden anderen Wächter bestätigten ihm kurz, dass sie ver standen hatten und das beruhigte den geflügelten Boten. Er flog in einem kurzen Bogen von den beiden mächtigen Brückenpfeilern weg 27
und bewegte seine Schwingen in einem stetigen Rhythmus. Er kannte die Winde der felsigen Küste und wusste auch die Ausläufer des Sturms zu nutzen, die selbst hier an der Küste noch zu spüren waren. Anderenorts mochte der starke Wind - der immer heftiger wurde, je weiter der geflügelte Bote sich von der Küste entfernte - Schiffe zum Untergang zwingen und meterhohe Wellen auftürmen. Aber das Wesen mit den leuchtenden Augen kannte sich aus mit diesen Natur gewalten und wusste sie für sich zu nutzen. Der Sturmwind trieb den Boten der Götter immer weiter hinauf in den wolkenverhangenen Himmel, ließ ihn dann schließlich die dunkelgraue Decke durchstoßen. Für endlose Augenblicke war er eingehüllt in einem Meer aus dich ten Schlieren und Wolken - aber selbst jetzt verlor er nicht die Orien tierung. Seine feinen Sinne waren so ausgeprägt, dass er sich sogar in einem tosenden Orkan sofort zurechtgefunden hätte. Der Bote durchstieß die Wolkengrenze und fand sich nun in einer hellen Welt wieder, die von der gleißenden Sonne hoch über ihm be stimmt wurde. Erneut ließ er sich nach oben treiben und verließ die dichte Wolkendecke, die wie ein gigantischer Teppich unter ihm lag. Aber für diesen wunderschönen Anblick hatte der Götterbote nichts übrig, denn seine Sinne beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen, die in seinen Augen weitaus wichtiger waren als das Gefühl das Schwebens in einer Region, die nur er und seine Artgenossen kannten. Jenseits der Wolkendecke erstreckte sich die Welt der Sterblichen mit all ihren Fehden, Kriegen und Naturgewalten - aber hier oben in dieser Höhe hatte all dies keine Bedeutung mehr. Während unten irgendwo ein Seesturm für Tod und Vernichtung sorgte, war die Welt oberhalb der Wolken seltsam ruhig, friedlich und... leer. Der geflügelte Bote brauchte nicht lange, um sich am glei ßenden, tiefblauen Himmel zu orientieren. Er wusste genau, wohin er zu fliegen hatte. Mit ausgebreiteten Schwingen zog er über den Wolken entlang, richtete seine scharfen Augen auf den nördlichen Horizont, der von unermesslicher Weite war. Auch wenn das grelle Licht der hellen Son ne direkt in seine Augen stach, schloss er sie dennoch nicht. Stattdes sen leuchteten sie eine Spur intensiver, als er auf die Sonne zuflog. 28
Schließlich driftete er aber wieder ab, ließ sich tiefer hinab gleiten, als er die Spitzen der Berge erkannte, die durch die Wolkendecke stie ßen. Ein majestätischer Anblick war das, denn hier an diesem Ort war die Erde dem Himmel ganz nahe. Dies war die Stelle, wo die Berge dieser Welt am höchsten empor ragten und deren Gipfel von der Erde aus immer von dichten Wolken umschlossen wurden. Ganz im Gegensatz zu dem Blick von oben... Der geflügelte Bote näherte sich nun der schneebedeckten Berg kette, die von mehreren Gipfeln gebildet wurde. Auf dem höchsten Punkt thronte ein Bauwerk, das von einzigartiger Schönheit war. Das Licht der Sonne spiegelte sich tausendfach auf den hellen Mauern, die die Farbe von glitzerndem Eis und kristallenem Schnee hatten, aber dennoch aus anderem Baumaterial bestanden. Dieser Ort war sein Ziel: der Wolkenhort, wo einst die alten Götter residiert hatten. Aber das Dunkle Zeitalter hatte alles verändert. Ein Dienerwesen wie der geflügelte Bote kannte die wirklichen Zusammenhänge nicht, denn zum Zeitpunkt des Krieges zwischen Licht und Finsternis, der die ganze Welt verändert hatte, hatte er nicht an diesem Ort verweilt. Weder er und seine Gefährten, noch die neuen Götter! Erst mit dem Ende des Dunklen Zeitalters hatte sich das geändert. Mit weit ausgebreiteten Schwingen stieß der geflügelte Bote nach unten, näherte sich dem schneebedeckten Gipfel, auf dem sich der Wolkenhort befand. Er passierte auch die große Brücke aus Eiskristal len, die den einzigen Zugang zu diesem Ort darstellte. Der Bote hatte Geschichten darüber - oder waren es gar nur Legenden? - von einem Wächter gehört, der sich einst jedem in den Weg gestellt hatte, dem es gelungen war, bis hierher zu gelangen. Und selbst wer es bis hier her geschafft hatte, war dann an diesem Wächter gescheitert. Dies musste Ewigkeiten her sein, denn nichts kündete mehr da von, dass sich hier jemals ein Wächter aufgehalten hatte. Die gewalti ge Brücke aus Eis war leer und verlassen und nirgendwo waren Spuren zu erkennen, die auf so etwas hindeuteten. Vielleicht waren es ja doch nur Legenden... Jetzt konnte der geflügelte Bote schon die vielen Erker und Türme des Wolkenhortes erkennen, als er tiefer flog. Weder auf den Zinnen 29
noch innerhalb der Mauern regte sich etwas. Der glänzende Palast erstreckte sich leer vor seinen Blicken - und doch wusste er, dass man sein Näher kommen schon längst bemerkt hatte. Denn er fühlte auf einmal das Tasten feiner Sinne in seinem Hirn, die seine Gedanken und sein Wissen untersuchten. HERR UND GEBIETER, formulierte er seine Gedanken zu einer geistigen Botschaft, während er langsam aber sicher auf den Innenhof des Wolkenhortes zusteuerte. ES GIBT ÜBERRASCHENDE VERÄNDE RUNGEN, VON DENEN ICH EUCH BERICHTEN MUSS... * Er blickte gedankenverloren auf das Schwert mit dem prächtigen Knauf, den einige Juwelen und Smaragde zierten und ein Lächeln schlich sich in seine asketisch wirkenden Züge, je länger er die Klinge anschaute und sich daran erinnerte, auf welchem Weg sie wieder in den Wolkenhort zurückgekehrt war. Ein stiller Beobachter hätte die hagere, in einen dunkelgrünen Umhang gehüllte Gestalt unter Umständen als bedrohlich erachtet, aber nur dann, wenn sich die Möglichkeit bot, einen Blick in das Antlitz unter dem wuchtigen Helm mit den beiden starken Hörnern zu werfen. Die Gesichtszüge waren bleich, die Wangenknochen traten stark her vor, untermalten den strengen Ausdruck in den unstet flackernden Augen, die nie erkennen ließen, welcher Art seine Gedanken wirklich waren. Viele Jahrzehnte (oder schon Jahrhunderte?) waren vergangen, seit er zum letzten Mal einen Fuß in den Wolkenhort gesetzt hatte. Damals war er gezwungen gewesen, diesen Ort in Ungnade zu verlas sen. Seine drei Brüder hatten ihn mit Schimpf und Schande verjagt und an einen düsteren Ort verbannt, den er aus eigener Kraft nie mehr hätte verlassen können. Sein Name war fortan mit einem stetigen Ma kel behaftet - Loki, der Betrüger, der Täuscher und Bruderverräter aber es hatte ihm nichts ausgemacht. Das einzige, was ihn jedoch gequält hatte, war das Wissen um seine Macht, die in sprichwörtlichen Ketten lag und die er niemals 30
mehr anwenden konnte. Bis der Tag kam, an dem ihn der Zufall aus seinem Kerker befreite - oder war es vielleicht der Wille einer noch höheren, unbekannten Macht, die selbst eine solch starke Wesenheit wie Loki bisher noch nicht kennen gelernt hatte? Als die unsichtbaren Barrieren seines Gefängnisses erloschen, stellte der einst so mächtige und von seinen drei Brüdern ins falsche Licht gerückte Gott keine weiteren Fragen mehr nach dem Wie und Warum, sondern kehrte wieder zurück in die Welt, die er liebte und zugleich hasste wie die Pest. Genau wie seine Brüder, die jedoch in der Zwischenzeit ein schlimmes Schicksal ereilt haben musste, denn der Wolkenhort war leer, als Loki zurückkehrte. Keine Spuren von Einar, Odan und Thunor - als hätten sie niemals existiert. Die Insignien der Macht lagen leer und unbenutzt neben dem Thron aus Eiskristall und der ganze Wolkenhort war eine einzige Öde. Keine Elfen, keine Waffenschmiede mehr - alle waren sie verschwun den. Es interessierte Loki auch nicht, wo all diese Wesen geblieben war. Für ihn zählte nur, dass er nun wieder den Ort seiner Wünsche erreicht hatte. Und diesmal würde ihn niemand mehr daran hindern, die Macht zu ergreifen, denn in den grausamen Dimensionen seiner Verbannung hatte er viel gelernt. Seine Gedanken brachen ab, als er auf einmal die Aura von Sharazar spürte. Er wandte seine Blicke von der prächtigen Klinge ab, drehte sich um und sah seine Sharazar in den Thronsaal kommen - wie jedes Mal mit einer stillen und dennoch beeindruckenden Eleganz. »Hier bist du also«, sagte sie mit einer angenehmen und zugleich dominierenden Stimme, während sie sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus der Stirn strich und ihren Blick fast schon hyp notisch auf ihn richtete. Erneut fühlte der einstmals verstoßene und nun umso mächtigere Gott einen Schauer der Lust über seinen Körper streichen, als seine und Sharazars Blicke ineinander tauchten. Zwar nur für wenige Sekunden, aber es reichte aus, um ihm erneut klarzu machen, welche Wirkung diese Frau auf ihn hatte. Sharazar, die Dunk le — sie weilte an seiner Seite, seit seine Brüder ihn verstoßen hatten. Und sie kannte die Qualen, die er so lange hatte erdulden müssen. 31
»Natürlich bin ich hier«, erwiderte er im ersten Moment etwas unwirsch und bereute dies schon Sekunden später, als er sah, wie ein kurzer Schatten über Sharazars Gesicht zog. »Ich spüre die Bedeutung dieses großen Saals«, murmelte Shara zar und trat heran zu Loki, legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Ob gleich ich alles, was hier einst stattfand, nur aus deinen Erzählungen kenne.« »Er wird noch größer und schöner werden«, murmelte Loki und spürte erneut die zahlreichen Erinnerungen, die buchstäblich von allen Seiten auf ihn einstürmten - seltsamerweise umso intensiver, wenn seine Blicke die prächtige Klinge streiften, die auf einem Felsblock un weit des Throns lag. »Warte erst, bis wir unsere Macht so manifestiert haben, dass wir nicht nur einen Teil dieser Welt, sondern alles beherr schen«, fuhr er mit leidenschaftlicher Stimme fort und sah Sharazar dabei erneut an. »Die Menschen verbreiten die Lehre des einzig wah ren Glaubens in alle Himmelsrichtungen. Er breitet sich in Windeseile aus und schon bald wird man auf allen Kontinenten die Auswirkungen zu spüren bekommen. Dann ist die Stunde des Unterganges gekom men und ich werde nach dem Chaos als neuer Herrscher gefestigter denn je sein.« »Ich danke dir, dass du mich daran teilhaben lässt, Loki«, erwider te Sharazar. »Ich kann mir vorstellen, was du empfindest, wenn du in diesem Raum weilst. Deine Brüder Odan, Thunor und Einar - sie haben dir viel Schlimmes angetan und...« »Sprich diese Namen nicht laut aus!«, unterbrach sie der hagere Gott mit dem gehörnten Helm und wurde noch eine Spur blasser im Gesicht. »Wenn das Schicksal wirklich ungerecht war, dann dadurch, dass ich mich nicht mehr persönlich an ihnen rächen kann. In den Wir ren des Dunklen Zeitalters verliert sich ihre Spur. Wahrscheinlich sind sie schon längst tot - die Menschen beginnen sie bereits zu vergessen. Aber meinen Namen werden sie in Erinnerung behalten!« Seinen ge hässigen Worten folgte ein triumphierendes Lachen. Sharazar wollte gerade etwas darauf erwidern, aber die dunkle Zauberin von Moon'Shon hielt in ihrer ursprünglichen Absicht inne, als sie den veränderten Ausdruck in Lokis Augen bemerkte. Ein Funke der 32
Überraschung blitzte kurz auf und dann kamen die folgenden Worte ziemlich hastig über seine Lippen: »Er kommt...«, sagte Loki mehr zu sich selbst. »Er kommt tatsächlich nach NIPUUR. Er ist hartnäckiger, als ich vermutet habe - eine umso größere Hilfe wird er für uns sein, wenn er am Ziel ist.« Er griff nach Sharazars Hand und zog sie mit sich. »Komm mit«, sagte er knapp. »Du wirst gleich verstehen. Es wird alles sehr spannend werden - lass dich einfach überraschen.« Gemeinsam näherten sich die beiden dem großen, mehr als zwei Mannslängen im Durchmesser umfassenden Fenster, von dem aus man den strahlend blauen Himmel und die mächtige Brücke aus Eis erkennen konnte, die jetzt verwaist lag. Sharazar erkannte nur wenige Sekunden nach Loki die geflügelte Gestalt, die sich mit weit ausgebrei teten Schwingen dem Wolkenhort näherte und direkt aus der Sonne zu kommen schien. Unwillkürlich schloss die Hexe von Moon'Shon für einen Moment die Augen - sie hatte sich immer noch nicht an das grelle Licht der gleißenden Sonne gewöhnt. Vermutlich würde ihr das auch nie gelin gen, denn in ihrer Dimension existierte kein helles, wärmendes Licht, sondern lediglich rötliches Leuchten, das zwischen ewigen dichten Wolken verborgen war. Sie dachte an Kesra, an die Welt der sterbenden Sonne und an die wenigen Flüsse, die dunkelrot glänzten... Dann wurde aus der geflügelten Gestalt ein großer Schatten, der sich auf den Innenhof herabsenkte und Augenblicke später mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. In Lokis hageren Zügen arbeitete es, weil er die Gedankenflut des geflügelten Boten bereits sondiert hatte, noch bevor dieser den Wolkenhort erreichte. »Die Ereignisse nehmen ihren Lauf und zwar so, wie ich es mir er hofft habe«, murmelte Loki und wartete ungeduldig auf das Eintreten des geflügelten Boten. Obwohl Sharazar immer noch nicht wusste, worauf Loki hinaus wollte, schon wenige Minuten später erfuhr sie es selbst aus dem Munde des geflügelten Boten, den sie nur verächtlich als Dienerkreatur betrachtete. Wesen wie dieses waren in ihren Augen lediglich willige Helfer, die man nach Belieben benutzen und verändern konnte und sie wünschte sich in diesem Augenblick nur einen Hauch der Macht, die 33
sie besessen hatte, als sie noch auf Kesra weilte. Aber mit ihrem Über treten in diese Dimension, wozu sie durch die sterbende Sonne ge zwungen worden war, war ein Großteil ihrer einstigen Machtfülle ver schwunden. Doch sie besaß noch genügend Stärke, um selbst einen Gott wie Loki an sich zu fesseln und ihn nach ihrem Willen zu formen. Und das wusste Loki nicht... »Der sterbliche Krieger nähert sich NIPUUR«, berichtete der ge flügelte Bote nun seinem Herrscher und der neuen Herrin, vor denen er sich beim Eintreten mehrmals verneigt hatte. »Er wird sein Ziel er reicht haben, bevor die Sonne untergeht«, fuhr er fort. »Sollen wir ihn daran hindern, seinen Weg fortzusetzen, Herr und Gebieter?« Loki brauchte nicht lange, um einen Entschluss zu fassen. »Nein!« Er schüttelte den Kopf und vollführte mit der rechten Hand eine ent sprechende Geste. »Ich will sehen, wie viel Durchhaltevermögen er besitzt. Er soll wissen, um was er kämpft.« Während er das sagte, wandte er sich an Sharazar: »Ich befürch te, ich muss dich für eine Zeitlang verlassen, Teuerste«, sagte er mit trauriger Stimme. »Die Ereignisse verlangen, dass ich mich selbst um diese Sache kümmere.« »Dann lass mich mit dir kommen«, bat ihn Sharazar. »Ich will die sen Thorin mit eigenen Augen sehen und mir ein Bild von ihm machen. Diesen Wunsch wirst du mir doch nicht verweigern?« Sie blickte ihn dabei auf eine Weise an, die Loki bis ins Innerste aufrüttelte. Auch wenn er es niemals vor ihr zugegeben hätte, aber Sharazar war ein Ruhepol in seinem Leben, das bisher so viele Qualen erfahren hatte. Nur sie konnte seinen plötzlichen Zorn bändigen und ihn in sanftere Bahnen lenken, denn nur auf diese Weise konnte sie ans Ziel kommen. Ein Ziel, das sich jenseits der Nebelbänke am ande ren Ende der gewaltigen Steinbrücke namens NIPUUR befand! Nur von SchaMasch aus würde es eine Rückkehr in ihre Welt geben, falls das überhaupt noch möglich war. Loki wäre wahrscheinlich sehr überrascht gewesen, den wahren Grund für Sharazars Eifer zu begreifen. So aber sah er in der dunklen Hexe von Moon'Shon nur eine treue Gefährtin, die ebenso nach unum schränkter Macht strebte wie er selbst. 34
»Gut, dann komm mit.« Er nickte ihr zu. »Aber halte dich zurück, wenn ich dich darum bitte«, fügte er hinzu. »Es ist ein grandioses Spiel, das schon seinen Anfang genommen hat und es wäre doch schade, wenn es jetzt schon unterbrochen würde, nicht wahr? Die ganze Welt der Sterblichen ist ein einziges Spiel und ich kenne die Lö sung...« Er lachte, während er mit beiden Händen imaginäre Kreise in der Luft formte. Nur wenige Sekunden später bildete sich an dieser Stelle ein kristallines Leuchten und es wurde spürbar kälter. Loki griff nach Sharazars Hand und die seltsam schimmernde Aura erfasste auch den geflügelten Boten, der angesichts dieser Machtfülle bis ins Knochen mark zu zittern begann. Die Körper des hasserfüllten Gottes, seiner Gefährtin und des Die ners verschwanden von einem Atemzug zum anderen, lösten sich voll ständig auf - und zurück blieb eine leere Ruhmeshalle im Wolkenhort. * Die vom Meer umspülten Felsen am Strand wurden immer zerklüfteter und dunkler. Immer wieder kam ein heftiger Wind vom offenen Meer her, ließ die Wellen mit brachialer Gewalt gegen die halb aus dem Wasser ragenden Felsen klatschen und verursachte ein stetig auf- und abschwellendes Donnern. Es war kühl geworden und Thorin konnte den Stand der Sonne nur ganz schwer schätzen, denn das helle Licht drang nur spärlich durch die dichte Wolkendecke hindurch. Obwohl es bis zur Abend dämmerung noch einige Stunden dauern würde, waren der Himmel und das Licht doch seltsam trübe und düster. So, als ob sich jeden Augenblick ein weiterer Sturm ankündigen würde - und dafür sprach einiges, denn die weißen Schaumkronen auf den sich am Strand bre chenden Wellen waren zahlreicher geworden und der Meereswind zerrte an Thorins und Jescas Haaren. Das Fischerdorf lag weit am Horizont hinter ihnen, vielleicht zwei oder drei Wegstunden entfernt. Thorin wusste es nicht genau. Er und die Nadii-Amazone waren gefangen von der allgegenwärtigen Monoto 35
nie und Einsamkeit dieses Landstriches. Näherten sie sich womöglich dem Ende der Welt und würde sich vielleicht jenseits des Horizonts ein breiter, dunkler Schacht vor ihren Augen öffnen, der sie dann mit Haut und Haaren verschlang? Thorin wusste nicht, warum er ausgerechnet jetzt an solche Dinge denken musste. Die Alten seines Heimatdorfes in den Eisländern hatten den kleinen Kindern ab und zu solche Furcht erregenden Märchen erzählt und Thorin erinnerte sich wieder daran. Dieser alte Glaube hatte ihn zweifelsohne in seiner Kindheit geprägt bis er begriffen hatte, dass die wirkliche Welt ganz anders aussah. Es war ein schweigsamer Ritt, bei dem jeder seinen eigenen Ge danken nachhing. Jesca ritt dicht hinter Thorin, der sich immer wieder dabei ertappte, wie er mit der rechten Hand nach dem Schwertknauf tastete. Er hatte wieder eine Waffe, mit der er sich im Notfall verteidi gen konnte, aber würde dieses Schwert wirklich die Götterklinge Stern feuer ersetzen können, wenn es hart auf hart ging? Thorin hatte da seine berechtigten Zweifel... Sie lenkten ihre Pferde an dem einsamen und zerklüfteten Küsten streifen entlang. Mal ritten sie direkt am Strand, mal verließen sie die Ebene und folgten einem Pfad weiter oben an den Felsen entlang, wenn die Wellen zu nahe kamen. Und immer wieder sahen sie nur den grauen Himmel und spürten den Wind, der sie frösteln ließ, obgleich der Winter in diesen Breiten noch in weiter Ferne lag. Thorins Augenmerk richtete sich jetzt auf den südlichen Horizont. Täuschte er sich, oder erschien es ihm so, als türmten sich die Wolken dort noch viel dichter? Von hier aus sah das aus wie eine gigantische Nebelbank, die alles verschluckte. Auch Jesca hatte das bemerkt und blickte ebenfalls in diese Richtung. »Das sind keine Wolken«, murmelte sie und trieb ihr Pferd plötz lich an, lenkte es an Thorin vorbei und erreichte so als erste den höchsten Punkt des Pfades, der an den Felsen vorbei weiter hinauf führte. Und was sie dann sah, ließ sie sichtlich zusammenzucken. Un gläubig blickte sie auf das Bild, das sich ihren Augen bot und schüttel te immer wieder den Kopf. 36
Natürlich hatte Thorin bemerkt, dass mit Jesca etwas nicht stimm te. Deshalb trieb auch er sein Pferd zur Eile an und erreichte Augenbli cke später die betreffende Stelle. Staunend blickte er dann auf etwas, was er in dieser Form bisher noch nicht gesehen hatte - das war der Beweis, nach dem er und Jesca so lange gesucht hatten! »NIPUUR«, murmelte er. »Jesca, das muss NIPUUR sein. Sieh es dir an - es ist so... gewaltig...« Thorin fehlten in diesem Moment die passenden Worte. Selbst im Vergleich mit den grausamen Stahlburgen der SKIRR erschien dieses monumentale Bauwerk schon von hier oben aus weitaus größer als alles, was er jemals erblickt hatte. Wie mochte es erst sein, wenn sie direkt davor standen? Die Küste bildete an dieser Stelle eine Art Halbinsel und am äu ßersten Punkt begann die gewaltige Brücke aus Stein. Zwei mächtige Türme bildeten den Beginn, eine Art Tor und dann folgten die unwahr scheinlich dicken Pfeiler, die von Zyklopen selbst errichtet worden sein mussten. Denn von Menschenhand konnte ein Bauwerk solchen Aus maßes kaum geschaffen worden sein. Dazu bedurfte es Dutzender, nein Hunderter von Jahren! Wie weit diese große Brücke führte, konnten Thorin und Jesca von hier oben aus nicht genau ausmachen, denn sie erkannten nur die dichte Nebelbank, die einen Teil der riesigen Brücke verschluckte und lediglich ahnen ließ, wohin und wie weit sie eigentlich aufs Meer hin aus führte. »Ich glaube, hier werden wir Antworten auf einige unserer Fragen bekommen«, meinte Thorin, nachdem er dieses beeindruckende Bild einige Augenblicke lang in sich aufgenommen hatte. »Wenn die geflü gelten Boten der neuen Götter Wort gehalten haben, werden wir ihnen bald wieder begegnen.« Mit diesen Worten trieb er sein Pferd an und lenkte es als erster hinab in die Senke. Jesca folgte ihm, ohne zu zögern. Beide waren so fasziniert von der Größe dieses Bauwerks, dass sie den hellen Licht schimmer nicht bemerkten, der sich für Bruchteile von Sekunden hin ter den steinernen Türmen bildete und bereits einen Atemzug später wieder verschwunden war. Thorins Blicke galten dem wolkenverhan 37
genen Himmel, weil er vermutete, dass sich die geflügelten Boten von dort näherten, falls sie sich wirklich hier in der Nähe aufhielten. Erneut wünschte er sich, Sternfeuer in den Händen zu halten. Er hatte zwar die Klinge aus der Scheide gezogen, die man ihm im Fischerdorf ge schenkt hatte, aber sie würde ihn nicht vor Gefahren dunkler Mächte warnen. Der Pfad hinunter zur Brücke war mühsam und beschwerlich. Im mer wieder mussten sie den zahlreichen Kurven und Windungen fol gen, bis sie schließlich den Strand erreicht hatten. Hier an dieser Stelle tobten die Wellen besonders heftig und der Wind blies durch die ei genartig geformten und teilweise ausgehöhlten Felsen, erzeugte da durch ein stetiges hohles Heulen und schrilles Pfeifen. Der Nordlandwolf und die Nadii-Amazone zügelten ihre Pferde unweit der beiden hoch aufragenden Steintürme und spähten wach sam nach allen Seiten. Auch Jesca hatte längst ihr Schwert in der Hand und war bereit, ihr Leben so gut wie möglich zu verteidigen, falls Angreifer im Hinterhalt lauerten. Aber stattdessen geschah überhaupt nichts. Nur das stetige Heulen des Windes und das Rauschen der Mee reswellen durchbrachen die Stille dieser Einöde. Thorin stieg aus dem Sattel und spürte, dass sein Pferd nervös zu werden begann. Als ob es sich vor diesem Bauwerk fürchte. Oder wit terte es womöglich versteckte Gefahren? »Wo ihr auch immer seid zeigt euch endlich!«, erschallte Thorins laute Stimme, während er sein Schwert hoch empor reckte. »Ich bin hier, um das zurückzufordern, was mir gehört. Also, wo seid ihr, die ihr euch Boten der neuen Götter nennt? Fürchtet ihr euch vor zwei Sterblichen?« Er wartete ab, blickte in die Runde, doch nach wie vor tat sich ü berhaupt nichts. Und dann erkannte Thorin einen huschenden Schat ten oben zwischen beiden Türmen. Ein Schatten - nein, es war etwas Großes! Etwas, das sich blitz schnell bewegte und nichtmenschliche Umrisse hatte! Jetzt zeigte sich dieses Wesen deutlicher - und es war nicht allein! Zwei weitere geflü gelte Boten erhoben sich aus dem Schatten der beiden riesigen Brü ckentürme und schwebten hoch über ihnen. Wachsam, abwartend und drohend! 38
Auch Jesca war darauf gefasst, dass die drei geflügelten Wesen sie nun angreifen würden. Aber nichts geschah. Jedoch bildete sich oben auf der Plattform zwischen den Türmen ein heller Schimmer, der auf einmal grell zu leuchten begann. Thorin musste unwillkürlich die Augen schließen, weil er dieses Licht nicht ertragen konnte und als er sie wieder öffnete, sah er eine große Gestalt in einem dunkelgrünen Umhang dort oben stehen. Auf dem Haupt trug diese Gestalt einen mächtigen Helm mit zwei markan ten, weit abstehenden Hörnern und an seiner Seite befand sich eine fast überirdisch schöne Frau mit langen schwarzen Haaren, gekleidet in dunkle, wallende Gewänder. »Lass dein Schwert sinken, Krieger!«, erklang nun die Stimme der Frau. »Das gilt auch für dich, Weib!«, befahl sie Jesca mit einer Stim me, die keinen Widerspruch duldete. »Gegen die neuen Götter erhebt niemals ein Sterblicher seine Waffe!« Als Thorin und Jesca nicht gleich darauf reagierten, hob die schwarzhaarige Frau ihre linke Hand und an den Fingerspitzen knister ten auf einmal grelle Blitze, die sie Thorin und Jesca entgegenschleu derte. Die Blitze bohrten sich unweit von ihnen in den felsigen Boden des Strandes, schleuderten Gestein und Erde beiseite. »Einen göttlichen Befehl missachtet man nicht!«, erklang die Stimme erneut und diesmal noch eine Spur energischer. »Werdet euch endlich eurer Ohnmacht bewusst und verneigt euch vor dem mächti gen Loki!« Thorin wusste, dass ihm und Jesca keine Zeit mehr blieb. Er ließ sein Schwert sinken und Jesca tat es ihm gleich. Dennoch warf er sich nicht zu Boden, um seine Unterwürfigkeit zu beweisen. Genau wie Jesca blieb er stehen und blickte mit hoch erhobenem Haupt zu den beiden Wesenheiten hinauf, die sich selbst als neue Götter bezeichne ten. Und er sah, wie der Gott, den die Frau Loki genannt hatte, auf einmal seine Hand hob und laut zu lachen begann - als beginne er sich über das Verhalten des Nordlandwolfs und der Nadii-Amazone zu amü sieren. »Die Menschen sind stolz, Sharazar«, sagte er zu der Frau. »Eini ge von ihnen würden für diesen Stolz sogar sterben. Was für eine Ver 39
schwendung!« Er lachte erneut und brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu beruhigen. Dann brach jedoch sein schallendes Geläch ter von einem Atemzug zum anderen ab und funkelnde Augen richte ten sich auf Thorin. »Weshalb bist du hier, Krieger?«, fragte er ihn mit drohender Stimme. »Mit NIPUUR endet die bekannte Welt - Sterbliche wie du und deine Gefährtin haben hier nichts verloren.« »Eure Boten haben mir den Weg gewiesen«, erwiderte Thorin und bemühte sich, seine Unsicherheit vor dem eigenartigen Verhalten des Gottes nicht zu deutlich zu zeigen. »Sie stahlen mir mein Schwert und ließen mich wissen, dass ich nach NIPUUR kommen müsse, um es wiederzuerlangen. Nun, jetzt bin ich hier und ich fordere mein Recht!« »Sharazar, er fordert sein Recht, hast du das gehört?«, wandte sich Loki mit höhnischer Stimme an die geheimnisvolle Frau an seiner Seite. »Ein Sterblicher fordert die Götter heraus - wahrlich, dieses Spiel beginnt immer interessanter zu werden.« Und zu Thorin gewandt fuhr er fort: »Du hast nichts zu fordern, Krieger. Akzeptiere dein neues Schicksal, denn der Pakt mit den alten Göttern ist erloschen.« »Wo sind die Götter des Lichts?«, bohrte Thorin weiter. »Wenn Ihr die neuen Götter seid, müsst ihr etwas über deren Verbleib wissen. Ich habe auf die Mächte des Lichts einen Eid geleistet und fühle mich ihnen nach wie vor verpflichtet.« »Ehre und Ruhm sind etwas Erstrebenswertes«, ergriff nun die Frau namens Sharazar das Wort. »Wärst du bereit, auch uns zu die nen, Krieger? Wir werden eine neue Ordnung für diese Welt schaffen eine Ordnung, die niemals wieder eine Herrschaft der finsteren Kräfte zulassen wird.« Thorin sah kurz zu Jesca hinüber und bemerkte den Zweifel in ih ren Gesichtszügen. Zweifel, die auch Thorin teilte. Seltsamerweise konnte er sich jedoch gar nicht erklären, warum er so empfand. Ir gendetwas hier war falsch - aber was nur? »Wie wird sie aussehen, diese neue Ordnung?«, wollte Thorin nun wissen, während die geflügelten Boten immer noch hoch am Himmel ihre Kreise zogen. »Gehören zu dieser Ordnung auch Menschen, die freiwillig den Tod suchen? Wir begegneten einigen fanatischen Bett 40
lern, die den einzig wahren Glauben verehrten, indem sie dafür ihr eigenes Leben gaben.« »Fragt nicht nach Dingen, die ihr noch nicht versteht«, murmelte Loki kopfschüttelnd. »Sterblichen den wahren Sinn der Zusammen hänge zwischen Universum und Welten zu erklären, ist unmöglich. Aber ich habe den Eindruck, als wolltest du dennoch mehr über den einzig wahren Glauben wissen, Thorin. Ein Krieger, der die Zusam menhänge begreifen möchte...« Er lachte dabei und irgendwie wirkte das auf Thorin abfällig und höhnisch. »Du wirst schon noch eine Gelegenheit dazu bekommen, aber jetzt ist es viel zu früh«, fuhr Loki fort, nachdem sein Lachen verhallt war. »Dennoch kannst du zu unseren Streitern gehören, wenn du das willst - das Schwert wartet im Wolkenhort auf dich. Du musst dich die ser Ehre nur noch als würdig erweisen. Die alten Götter kannten ver mutlich deine Treue und deinen Wert. Ich jedoch will ihn erst noch in Erfahrung bringen. Also musst du dich als Träger des Schwertes in meinen Augen erst noch als würdig erweisen. Schenken werde ich dir die Klinge gewiss nicht.« »Und was verlangt Ihr von mir dafür?«, wollte Thorin von dem Gott wissen. »Ich leiste keinen weiteren Eid auf das Licht, denn ich habe das ein für allemal getan. Und wenn Ihr ein Teil dieser Mächte seid, dann werdet Ihr das gewiss kein zweites Mal von mir verlangen. Es gibt nur eine einzige Macht des Lichts - egal, welche Götter das verkörpern mögen!« »Er ist ein Philosoph, Sharazar!«, rief Loki mit begeisterter Stimme aus. »Ein Sterblicher, der sich Gedanken über die wahren Zusammen hänge zu machen beginnt - wie interessant!« Und sofort wurde seine Stimme wieder kalt und gefühllos, als er sich an Thorin wandte: »Na türlich wissen wir das, Thorin. Wir wissen alles!« Er wollte noch mehr sagen, blickte dann aber in diesem Moment plötzlich hinauf zum wolkenverhangenen Himmel und bemerkte, wie die drei geflügelten Boten auf einmal unruhig mit den Schwingen zu schlagen begannen. In Lokis Augen begann es kurz zu flackern und er schien zu sinnieren, bevor er beide Hände hob und seinen Dienern 41
damit ein Zeichen gab. Die geflügelten Wesen entfernten sich sofort von den Brückentürmen und flogen in südöstlicher Richtung davon. »Meine Diener melden mir gerade einen weiteren Sterblichen, der sich NIPUUR nähert«, klärte er Sharazar auf. »Ich denke, wir sollten uns die Zeit nehmen, herauszufinden, was das zu bedeuten hat. Viel leicht gibt es ja noch einen anderen Mitstreiter, der das Schwert errin gen will, Thorin«, sagte er sodann zu dem blonden Krieger. »Es wäre doch wert, herauszufinden, wer von euch beiden der Würdigere ist, oder?« Wieder lachte Loki, als halte er das alles für einen großartigen Scherz. Nur, Thorin konnte die seltsam aufgesetzte Fröhlichkeit des Gottes nicht teilen. Ein Gedanke jagte in diesem Moment den anderen und der Berg von Fragen türmte sich immer weiter zu einem unüberwind baren Hindernis vor ihm auf... * Metate spürte den Wind in seinen Haaren, als er das Pferd den Pfad entlang lenkte, der durch die Felsenlandschaft an der zerklüfteten Küs te führte. Mercutta und die ihm einst vertraute Welt, seine Erlebnisse dort - all dies schien in einem anderen Leben stattgefunden zu haben. Der alte Mann mit den weißen Haaren ahnte, dass sich etwas verän dert hatte. Etwas, das er mit seinen Sinnen noch nicht deutlich erfas sen konnte und dennoch war es der Auslöser dafür gewesen, dass er Mercutta hatte verlassen müssen. Schon seit etlichen Tagen folgte er einer vagen Ahnung weiter in Richtung Süden und fand sie mit jedem verstreichenden Tag immer deutlicher bestätigt. Er hatte das einsame Grab in der Wildnis gefunden, ebenso wie das Fischerdorf an der Küste, wo man ihn gastfreundlich aufgenom men hatte. Die Menschen hatten ihm von den dramatischen Ereignis sen um die Sekte der Selbstmörder erzählt und hatten ihm ebenfalls von Thorins Rolle berichtet. Metate hatte diese Nachrichten begierig in sich aufgenommen, ohne den Dorfbewohnern zu sagen, dass er genau 42
diese Spur verfolgte. Sie hätten ohnehin nicht verstanden, warum er solche Strapazen auf sich nahm. Metate hatte sich überreden lassen, eine Nacht im Fischerdorf zu verbringen, aber schon vor Sonnenaufgang hatte es ihn weiter gezo gen. Er wusste, dass sich irgendwo jenseits des Horizonts Dinge ab spielten, denen er nicht tatenlos zusehen konnte und deshalb trieb er sich selbst zur Eile an. Er fror, als er den Wind spürte, der durch seine Kleider pfiff und das stundenlange Reiten hatte ihn sehr angestrengt. Er war nicht mehr der Jüngste. Niemals zuvor wurde ihm das deutlicher bewusst als in diesen Minuten. Wehmut überkam ihn bei dem Gedanken an seine eigene bewegte Vergangenheit. Alles hätte anders kommen können, wenn nicht... Metate schob diese Gedanken mit einem tiefen Seufzer beiseite. Es nützte nichts mehr, sich mit seinem früheren Leben zu beschäfti gen. Alles war schon vor langer Zeit entschieden worden und er muss te sich mit seiner neuen Rolle abfinden, die er sich selbst auferlegt hatte. Es war keine leichte Aufgabe und er wusste noch nicht einmal, ob ihm überhaupt noch genügend Zeit blieb, um das zu tun, was er sich selbst zum Ziel gesetzt hatte. Schließlich war er alt und hatte den Zenith seines Lebens schon längst überschritten. Menschen waren eben sterblich - bei dem einen kam der Tod manchmal früher, bei dem anderen später. Metate sah den dunkelgrauen Himmel am fernen Horizont und bemerkte, dass sich die Wolken dort sehr dicht zusammengeballt hat ten. Es erschien ihm fast wie eine undurchdringliche Wand, die direkt über der Wasseroberfläche begann und bis hoch in den Himmel em porstieg. Irgendwie wusste er, dass dies die Richtung war, die er ein schlagen musste. Er lenkte sein Pferd weiter in Richtung Süden und erkannte, dass sich die Küste allmählich weiter ins Meer erstreckte, in Form einer Halbinsel, deren wirkliche Größe Metate nur erahnen konn te. Plötzlich entdeckten seine immer noch scharfen Augen am wol kenverhangenen Himmel drei dunkle Punkte, die von Süden kamen und genau auf ihn zuflogen. Aus den Punkten wurden allmählich grö 43
ßere Konturen und der alte Mann zuckte zusammen, als er sah, dass es sich um drei riesenhafte geflügelte Wesen handelte, die mit schla genden Schwingen vom Himmel herabstießen und ihn ganz offensicht lich zum Opfer auserkoren hatten! Panik und Furcht erfassten Metate, als er die unheimlich leuchtenden Augen der Wesen sah, die sich ihm völlig lautlos näherten. Sein Pferd wieherte schrill und bäumte sich auf. Geistesgegenwärtig klam merte sich Metate am Sattelhorn fest, um nicht vom Pferd zu fallen. Was aber auch zur Folge hatte, dass er sich zumindest in diesen ent scheidenden Sekunden gegen einen Angriff nicht wehren konnte. Er stöhnte, als er den großen Schatten dicht über sich bemerkte und eine Klauenhand nach ihm griff und an seinen Kleidern zerrte. Immer noch gaben die geflügelten Wesen keinen Laut von sich. Das einzige, was der stetige Wind mit sich trug, war das Schlagen der gro ßen ledernen Schwingen. Metate wollte sich weiter am Sattelhorn festhalten und gleichzeitig mit der anderen Hand nach dem fliegenden Ungetüm schlagen - was ihm aber nicht gelang. Er fühlte nur, wie ihn eine Kraft spielerisch vom Rücken des Pferdes hob und hoch in die Luft riss. Fassungslos gewahr te Metate, wie ein zweites der geflügelten Wesen sich zu dem ersten gesellt und nach seinem linken Arm gegriffen hatte. Der alte Mann hing nun zwischen den beiden Wesen, die es ei gentlich gar nicht geben durfte. Er konnte sich auch nicht daran erin nern, solchen Kreaturen früher einmal begegnet zu sein oder von ih nen aus dem Munde Dritter gehört zu haben - und einer wie Metate hätte es eigentlich wissen müssen. Dennoch strafte die Existenz dieser geflügelten Wesen all seine Erfahrungen Lügen. Übelkeit erfasste ihn, als er erdulden musste, wie ihn die beiden Kreaturen immer weiter nach oben in die Lüfte zerrten, während das Pferd etliche Meter unter ihm mit einem lauten und angsterfüllten Wiehern die Flucht ergriff. Es stob davon und achtete nicht mehr auf seinen Reiter. Schon bald war das völlig verängstigte Tier zwischen den zerklüfteten Felsen der Küstenlandschaft verschwunden. Metate wurde übel, als er sich ausmalte, was geschehen würde, wenn die beiden Wesen ihn jetzt einfach fallen ließen. Sein Körper 44
würde aus dieser Höhe bei einem Aufprall zerschmettern. Aber seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Die beiden Geflügelten hiel ten nach wie vor seine Oberarme fest umklammert und machten an sonsten überhaupt keine Anstalten, ihm ein Leid zuzufügen. Sie stie gen mit ihrer menschlichen Beute weiter zum wolkenverhangenen Himmel empor, nahmen Kurs aufs offene Meer und flogen dann wie der in einem großen Bogen zur anderen Seite der Küste zurück. Das dritte der geheimnisvollen Wesen war schon voraus geflogen - viel leicht um jemandem das Ergreifen des Opfers zu melden, der schon darauf wartete? Metate wusste es nicht - er dachte auch jetzt nicht daran, denn mittlerweile kam etwas in sein Blickfeld, was ihn förmlich aufstöhnen ließ. Auch er blickte jetzt aus dieser Höhe hinab auf die gewaltige Brü cke aus Stein, die sich weit hinüber zum Horizont erstreckte und dann schließlich in einer dichten, undurchdringlichen Nebelbank verschwand. Eine Brücke von solch gigantischen Ausmaßen hatte er noch nie gese hen - selbst ähnliche Gebilde aus seiner eigenen Vergangenheit hielten keinem Vergleich stand. Metate erkannte unten an der Küste zwei wuchtige Türme, die den Anfang der Brücke bildeten - und er sah auch den hellen Schim mer, der zwischen den Türmen leuchtete. Ein Schimmer, der ihn an etwas erinnerte. Etwas, das er zumindest jetzt noch nicht genau ein ordnen konnte. Dennoch war es auf seltsame Weise... vertraut! Die beiden Geflügelten sanken jetzt allmählich nach unten und Metate konnte von hier oben aus erkennen, dass sich unmittelbar am Fuße der beiden Türme zwei weitere Menschen aufhielten. Menschen, die er kannte - zumindest einen von ihnen. Wenn auch schon sehr viel Zeit vergangen war, seit sich ihre Wege in ferner Vergangenheit ge kreuzt hatten.
Thorin, schoss es ihm durch den Kopf. Wahrhaftig - es ist Thorin und die Frau in seiner Begleitung muss die Amazonen-Kriegerin sein, von der mir die Diebe in Mercutta berichteten. Was suchen sie an die sem Ort? Soll sich hier ihre Bestimmung erfüllen? Und was ist mit den dunklen Träumen, die mir Angst einjagten...? 45
Die beiden Wesen setzten ihn auf dem felsigen Boden ab. Das ge schah so plötzlich, dass Metate ins Wanken geriet und Mühe hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Erst als er wieder sicher auf beiden Bei nen stand, blickte er zu Thorin hinüber und erkannte sofort, dass sich in der Tat etwas verändert hatte. Was er in seinen Träumen nur als Bruchstücke hatte sehen können, genau dies schien sich auf dramati sche Weise bewahrheitet zu haben. Thorin besaß die Klinge Sternfeuer nicht mehr - in seiner Hand hielt er ein anderes Schwert. »Hast du dich verirrt, alter Mann?«, hörte er auf einmal eine höh nische Stimme von weiter oberhalb der Türme. »Suchst du vielleicht den Tod, dass du so weit von den Menschen entfernt deines Weges ziehst?« Ein bösartiges Lachen folgte diesen Worten, so dass Metate automatisch hinaufblickte. In seinen faltigen Zügen arbeitete es, als er die hagere Gestalt in dem dunkelgrünen Mantel mit dem markanten Helm sah. Er hatte Mü he, seinen Zorn nicht laut hinauszuschreien. Sein Herz raste wie wild und sein faltiges Antlitz war zumindest für Sekunden ein Spiegelbild seiner verwirrten Emotionen. Er stammelte einige unverständliche Worte, während sein Blick sich nun auf die Frau heftete, die ebenfalls dort oben stand. Sie löste keine Flut der Erinnerungen in Metate aus. Aber der Blick, mit dem sie ihn musterte, gefiel ihm nicht. Es war fast so, als sei sie in der Lage, einen Blick in seine innersten Gedanken zu werfen - und das musste er um jeden Preis verhindern. »Wer bist du, alter Mann?«, erklang nun erneut dieselbe und ihm so vertraute, höhnische Stimme. »Du redest mit einem Gott - falls du dir überhaupt dessen bewusst bist! Worauf wartest du noch? Wirf dich zu Boden und erweise mir und der Herrin Sharazar deine Ehrfurcht!« Er erkennt mich nicht, dachte Metate voller Erleichterung. Ich
muss mich wirklich sehr verändert haben.
Um Loki nicht unnötig zu reizen, befolgte er sofort seinen Befehl, kniete zu Boden und hielt sein Haupt gesenkt, damit Loki nicht den Blick seiner eisblauen Augen bemerkte. »Gnade«, murmelte Metate mit einer Stimme, die nach Furcht klingen sollte. »Ich wusste nicht, dass ich...« Er stockte, begann laut zu husten, als er außer Atem geriet und das war noch nicht einmal 46
gespielt. »Lasst mich ziehen - ich gelobe Euch, dass ich nichts von dem erzählen werde, was ich...« »Schweig, Alter!«, fiel ihm Loki mit einer herrischen Handbewe gung ins Wort. »Dein Gewinsel widert mich an. Du hast es nur meiner Laune zu verdanken, dass ich dich am Leben lasse. Es stehen weitaus wichtigere Dinge an und du erfährst die Gnade, dies mit anzusehen. Wer bist du und woher kommst du?« »Ich bin... Metate«, murmelte der alte Mann. »Ich stamme aus Mercutta und folge... ihm!« Er streckte die rechte Hand aus und wies dabei auf Thorin, der in diesem Moment von dieser Neuigkeit selbst sehr überrascht war. Was natürlich Loki und der dunklen Hexe nicht entging, dazu hatten sie Thorin viel zu genau beobachtet. »Seltsam«, höhnte der neue Gott. »Aber Verrückte soll man nicht daran hindern, das zu tun, was sie unbedingt tun wollen. Wenn du der Gefolgsmann dieses Kriegers sein willst, dann schließ dich ihm von mir aus an! Ich kann mir nicht vorstellen, wie du je von Nutzen für ihn sein wirst. Warum bist du nicht in Mercutta geblieben, um dort zu sterben, alter Mann?« »Meine Stunde ist noch nicht gekommen, Herr«, erwiderte Metate und versuchte, in seiner Stimme wenigstens etwas Respekt und Ehr furcht mit anklingen zu lassen. Beim Anblick der asketisch hageren Züge des neuen Gottes fiel ihm das aber alles andere als leicht. »Mei ne Bestimmung hat mich bis hierher geführt und ich habe Thorin ge funden. Ihm habe ich Grüße auszurichten - von Hortak Talsamon.« Die letzten Worte galten dem Nordlandwolf, der jetzt doch sicht lich überrascht Metate anschaute. Der Gott in dem dunkelgrünen Um hang unterbrach jedoch mit einer einzigen knappen Geste die begin nende Unterhaltung zwischen Thorin und Metate. »Darüber könnt ihr später noch sprechen, jetzt geht es um Wich tigeres«, ermahnte er Thorin und dessen Begleiterin. »Nach wie vor geht es um das Schwert. Du kannst es wiederhaben, wenn du in mei ne Dienste trittst und einen neuen Eid ablegst. Und nur dann!« Metate war zu weit entfernt, um die Worte Jescas zu hören, die jetzt zu ihm trat und hastig auf ihn einredete. Thorin selbst schien dies 47
jedoch nur unbewusst wahrzunehmen. Er war ganz in seine eigenen Gedanken verstrickt, schien sich an zurückliegende Dinge zu erinnern und Metate konnte sich sehr gut in ihn hineinversetzen. Aber auf Loki und die dunkle Frau einen Eid abzulegen - konnte es denn etwas Schlimmeres als das geben? Allein die Tatsache, dass die ser Verräter sich jetzt als einen Teil der Mächte des Lichts bezeichnete, war ein ungeheurer Frevel, der nur mit Blut bezahlt werden konnte! Jedoch besaß Metate nicht die Macht, um sich auf einen Kampf mit einem Gott einzulassen. Hätte er es versucht, so hätte dies seinen so fortigen Tod bedeutet, erst recht dann, wenn Loki begriffen hätte, wen er die ganze Zeit über so erniedrigt hatte. »Was muss ich tun?«, fragte Thorin nach reiflicher Überlegung. »Du brauchst dich nur einer einzigen Prüfung zu unterziehen«, antwortete Loki mit sichtlicher Genugtuung, denn er spürte, dass Tho rin schon fast auf seiner Seite war. »Und wenn du diese hinter dir hast, weiß ich, dass du auch zukünftig ein Vasall des Lichts sein wirst.« Er trat einen Schritt zur Seite und wies auf die gewaltige Brücke. »Dein Weg wird dich über die Brücke von NIPUUR nach SchaMasch führen, Thorin«, klärte er den Nordlandwolf auf und bemerkte dabei gar nicht, wie es triumphierend in Sharazars Augen aufleuchtete. »Jenseits der Nebelbänke befindet sich diese verfluchte Insel - es ist der Hort der dunklen Mächte und das Zentrum der Sternensteine. Die se gilt es zu vernichten. Ich sehe, dass das auch deine Absicht ist.« Er bemerkte, wie Thorin heftig nickte und fuhr dann rasch fort: »Die auf SchaMasch ansässigen Kräfte gilt es zu besiegen. Wir selbst können das nur mit der Hilfe eines Sterblichen erreichen. So steht es in den Schriften von Ushar geschrieben. Und glaube mir eins, Thorin: Ich habe sie genau studiert und kenne ihre Bedeutung.« »Nein!«, begehrte Metate auf und wollte einschreiten, aber da er hob Loki seine rechte Hand und richtete sie gegen den alten Mann. Metates Stimme versagte und er konnte seine Glieder ebenfalls nicht mehr rühren. Panik erfasste seine Sinne, als er wie durch eine Wand hindurch Lokis Worte hörte, die Thorin nach und nach in ihren Bann zogen. Vor 48
allen Dingen, als er erneut auf die Sternensteine zu sprechen kam und Thorin deren Gefahren für die ganze menschliche Welt vor Augen hielt. Er begreift nicht, was Loki wirklich plant, schrieen seine Gedan ken, doch er konnte nichts tun. Er war weder in der Lage zu sprechen, noch seine Glieder zu bewegen - und selbst wenn es der Fall gewesen wäre: Thorin hatte sich mittlerweile längst entschieden. Nach Lage der Dinge blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich auf diesen Pakt ein zulassen, wenn er sein Schwert wiederhaben wollte. Und Loki hatte ihm ja versprochen, dass sie alle für dieselbe Sache kämpften, nämlich für die endgültige Vernichtung der Mächte der Finsternis auf dieser Welt! Metate sah, wie Thorin niederkniete und den Kopf senkte. Dann sprach er mit lauter Stimme den Eid, den Loki ihm abverlangte: »Ich gelobe, für die Mächte des Lichts zu kämpfen -
für Loki, den neuen Gott und sein Gefolge.
Mein Schwertarm und meine Kraft gehören ihm
so lange, bis die Macht der Finsternis erloschen ist.
Dies schwöre ich, Thorin, bei meinem Leben und bei meiner Ehre.«
Jesca zögerte noch, diesen Eid abzulegen. Metate bemerkte das und atmete innerlich auf, als Loki die Nadii-Amazone nicht ebenfalls zu diesem Schwur zwang. Es schien ihm nicht wichtig zu sein, was Jesca von diesem Pakt hielt - und eigentlich hatte er Recht. Er kennt die Schriften besser als ich, dachte Metate voller Weh mut. Er weiß genau, dass es einzig und allein um Thorin geht. Auch
wenn er nur ein Sterblicher ist, hat er doch eine wichtige Aufgabe, um die Prophezeiung der alten Schriften von Ushar zu erfüllen. Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, was gerade seinen Lauf nimmt...
»Du kannst dich jetzt erheben, mein Krieger«, richtete Loki voller Triumph nun wieder das Wort an Thorin und nahm gleichzeitig den Bann von Metate. »Es liegt in deinem Ermessen, ob du diesen Weg nach SchaMasch allein gehst oder die beiden dort mit dir nimmst. Denke jedoch an eins: Es gilt, einen Sieg über die dunklen Mächte zu 49
erringen. Nur so können wir die neue Ordnung auf dieser Welt festi gen.« »Ich schwöre es«, murmelte Thorin erneut und empfand nicht die geringste Reue angesichts dieses neuen Eides - so sah es jedenfalls Metate und erneut fühlte er großes Bedauern angesichts dieser Wen de, weil Thorin nicht begriffen hatte, was diese neue Ordnung in Wirk lichkeit bedeutete. »Dann gilt der Pakt«, vollendete Loki seine Worte. »Geh über die Brücke und tu das, was du gelobt hast. Wir werden uns wieder sehen, Krieger des Lichts.« Während er das sagte, wurde seine Gestalt und die der Göttin namens Sharazar plötzlich in eine helle, kristallin leuchtende Aura ge taucht. Sekunden später waren sie schon nicht mehr zu sehen und die Plattform zwischen den Türmen blieb leer und verlassen. Auch die drei geflügelten Wesen stiegen hinauf in den grauen Himmel und waren bald darauf zwischen den dichten Wolken ver schwunden. All dies geschah so schnell, dass Metate für einen winzi gen Moment nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Wäre es doch nur ein schlimmer Alptraum gewesen! Aus dem hätte er wenigstens noch erwachen können. Aber die neue Wirklichkeit - sie war noch weit erschreckender...
Zwischenspiel I: Das Ende einer langen Flucht Kara Artismar blickte mit gemischten Gefühlen auf die Männer, die sich um das brennende Feuer versammelt hatten und dort ihre Becher krei sen ließen. Aus rauen Kehlen ertönten einige Lieder in den nächtlichen Himmel. Es herrschte eine fröhliche Stimmung unter den Söldnern, der sich die rothaarige Frau jedoch nicht anschließen konnte. Unter einem Vorwand hatte sie sich zurückgezogen, stand jetzt unweit der Felsen an der zerklüfteten Küste und blickte hinaus auf das nächtliche Meer, während der laue Nachtwind sanft durch ihr langes rotes Haar fuhr. Der Himmel war klar und voller Sterne und der Mond übergoss die Küste mit seinem silbernen Licht. Eigentlich eine friedliche und viel 50
leicht sogar romantische Atmosphäre, aber Kara Artismar konnte die sen Anblick der wilden Natur nicht genießen. Ihre Gedanken kreisten schon seit Tagen um ganz andere Dinge, wovon der starke Percus und seine Söldnertruppe nichts ahnten. Es hätte ihnen gewiss auch nicht gefallen, wenn sie davon gewusst hätten. Denn Kara Artismar verfolg te nach wie vor ihre eigenen Ziele, wenn sie auch dabei Kompromisse hatte schließen müssen. Aber im Schütze einer starken und erfahrenen Söldnertruppe kam sie umso rascher ans Ziel. Sie lächelte wissend, während sie ihren Blick hinaus zum fernen Horizont schweifen ließ. Die rothaarige Frau, die einst die Herrschaft in der Stadt der verlorenen Seelen ausgeübt hatte, sehnte sich förmlich nach der Ankunft des Schwarzen Schiffes. Kara Artismar wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, denn sie spürte die geistige Ver bundenheit mit ihren Ordensschwestern immer stärker. Sie würden kommen, um sie abzuholen und dann würden sie gemeinsam das Werk fortsetzen, das die rothaarige Frau begonnen und durch widrige Umstände nicht hatte vollenden können. Drüben am Lagerfeuer erhitzte der Alkohol die Gemüter der wilden Krieger. Noch mehr Gesänge aus rauen Kehlen erfüllten die Nacht, gefolgt von lautem Gelächter. Die Krieger waren guter Laune, denn Percus zahlte ihnen einen guten Sold und deshalb folgten sie ihm auch in diesen öden Teil der Welt. Weil er ihnen erzählt hatte, dass die neue und aufstrebende Stadt Mercutta kampferfahrene Männer suche. Dort herrsche ein Mann namens Tys Athal, der für gute Krieger immer eine Verwendung habe. Deshalb waren die Männer, die zum größten Teil aus den Step penregionen westlich von Karesh stammten, Percus gefolgt. Ihre Reise dauerte nun schon einige Wochen an und sie hatten während dieser Zeit so manchen Kampf ausfechten müssen. Denn auf dem Wege nach Mercutta lauerten Gefahren am Wegesrand - entweder in Form von Räubern und Plünderern oder Sandstürmen und Wolkenbrüchen. Aber diese Gefahren hatten sie bisher stets bewältigt. Kara Artismar war den Söldnern in einem abgelegenen Bergdorf begegnet, wo sie kurz Unterschlupf gesucht hatte. Es war ihr gelun gen, den Dorfbewohnern eine Geschichte zu erzählen, die man ihr 51
geglaubt hatte und deshalb gewährte man ihr Gastfreundschaft. Per cus und seine wilden Gesellen waren jedoch mit gezogenen Schwer tern ins Dorf gekommen und fragten nicht, ob es den Bewohnern recht war. Sie forderten Lebensmittel und plünderten schamlos die Men schen aus, die sich nicht gegen solch kampferfahrene Männer wehren konnten. Dann waren sie weiter gezogen und Kara Artismar hatte sich ih nen angeschlossen. Percus hatte die schöne rothaarige Frau gesehen und war ihr seitdem verfallen. Sie konnte ihn nach Belieben herum kommandieren und das bemerkte er noch nicht einmal. Natürlich wusste Percus nicht, wer diese faszinierende Frau in Wirklichkeit war und hätte er es erfahren, dann wäre ein im Grunde genommen recht einfacher und nur an die Kraft des Kampfes glaubender Mann wie er sicher verwirrt gewesen. Sollte er doch glauben, was er wollte; wenn sie nachts sein Lager teilte und sich von Percus ver wöhnen ließ, dann genoss sie den Handel, den sie mit ihm geschlossen hatte. Percus hatte sich bereit erklärt, sie zur Küste zu bringen und Kara Artismar war einverstanden, den Preis dafür zu zahlen, den eine Frau in einer von Männern beherrschten Welt eben zahlen musste, wenn man es von ihr verlangte. Aber obgleich sie die wilde Kraft des Söldners genoss, sehnte sie sich dennoch danach, endlich wieder mit dem Volk von SchaMasch zusammenzutreffen. Auf der Insel herrschten andere Gesetze als in diesem Teil der Welt, Gesetze, die eine Frau wie Kara Artismar geprägt hatten. Und deshalb sehnte sie sich danach, mit Hilfe ihrer Ordens schwestern das Erwachen der Schwärze endlich ganz zu ermöglichen. Nur so würde die Welt ihr wahres Schicksal erfüllen; was einst andere Mächte begonnen hatten, musste weitergeführt werden... Ihre Gedanken brachen ab, als sie hinter sich schwere Schritte hörte. Kara Artismar wandte den Kopf und erkannte im silbernen Licht des Mondes die breitschultrige und mittlerweile sehr vertraute Gestalt des Anführers der Söldnertruppe. Percus war ein starker Mann mit langem, schwarzem Haar und seine Züge mochten für manchen hart und brutal wirken. Nicht umsonst war er der Anführer einer solch bunt zusammen gewürfelten Söldnertruppe. Um diesen rauen Haufen be 52
fehligen zu können, bedurfte es großer Stärke und Durchsetzungsver mögens und beides besaß der Mann, dessen Heimat die Steppenländer waren. »Weshalb bist du nicht bei uns drüben am Feuer?«, fragte Percus mit einer Spur von Unwillen in der Stimme. »Oder ziehst du die Ein samkeit vor, meine Schöne?« Er trat dicht an sie heran, legte seine schwielige Hand auf ihre Schulter und zwang sie, ihn direkt anzusehen. Kara Artismar spürte die rohe Kraft und fühlte gleichzeitig, wie ihr Körper darauf reagierte. So fort schmiegte sie sich an Percus und gab ihm das Gefühl, begehrt zu werden und welcher Mann hätte darauf nicht reagiert? »Ich wollte nur einen Moment lang allein sein, Percus«, sagte sie leise. »Es war ein harter und anstrengender Tag, verstehst du?« Sie hob den Kopf, blickte in sein bärtiges Gesicht und erkannte Verständ nis in seinen Augen; ein erneuter Beweis dafür, dass er ihr niemals misstrauen würde. »Aber wenn du willst, komme ich gerne wieder zurück mit dir ins Lager und...« »Was ich von dir will, können wir auch hier tun«, murmelte Percus mit heiserer Stimme und Kara Artismar deutete das Funkeln in seinen Augen richtig. Seine Hände machten sich an ihrem Kleid zu schaffen und streiften es ihr über die Schultern. Das helle Mondlicht bot Kara Artismars nackten Körper Percus' Blicken dar und der Anführer der Söldner grinste voller Bewunderung. Schon seit vielen Nächten teilte die rothaarige Frau sein Lager und immer wieder hatte sie es verstan den, die Glut der Lust in seinem starken Körper aufs Neue zu entfa chen. Wie auch jetzt wieder, als sie sich seinen Händen entzog und einige Schritte zurückwich. Sie lief hinunter zum Strand, erreichte die Ausläufer der Wellen, die ihre bloßen Füße umspielten. »Worauf wartest du noch, Percus?«, rief sie ihm mit koketter Stimme zu und lachte, als sie sah, wie Percus hastig Hemd und Hose abstreifte und zu ihr kam. Er ist wie ein Tier, dachte sie, als sie sich gekonnt seinem Zugriff erneut entzog. Wie ein dummes, starkes Tier -
und er merkt es noch nicht einmal...
Es dauerte nicht lange, bis Percus die schöne rothaarige Frau ein geholt hatte. Rau packte er sie am Oberarm, riss sie zu sich heran und 53
küsste sie wild und ungestüm. Hier war nichts von Verständnis und Zärtlichkeit zu spüren - hier waltete lediglich rohe Kraft, die forderte. Kara Artismars Lippen schmerzten, aber sie ließ ihn gewähren und spürte dann auch eine erste Welle des Verlangens in ihrem Körper hochsteigen. Sie wurde von seinen starken Armen gepackt und weiter den Strand hinaufgetragen. Dort warf er sie zu Boden und kam dann über sie. Seine Augen leuchteten vor Gier, als er ihre Schenkel spreizte. Percus zuckendes Glied war mittlerweile zu einer beachtlichen Größe angeschwollen und er konnte seine Erregung nicht mehr länger zu rückhalten. Er nahm sie wild und hart, wie es seine Art war - und seine Stöße ließen Kara Artismar erzittern. Eine Welle der Erregung erfasste sie und sie stöhnte laut auf, als er sich in ihr immer heftiger bewegte. Sein Kopf war dicht an ihrer Schulter und sie konnte über ihn hinweg die Wellen des Meeres sehen, in denen sich das silberne Licht des Mondes spiegelte. »Ja... jaaa...«, kam es keuchend über Percus' Lippen, der seine Hände in ihre Schultern krallte und sich immer tiefer in sie bohrte. Ka ra Artismars Körper wurde heiß und sie hatte Mühe, sich nicht selbst während dieses ungestümen Aktes zu verlieren - denn trotz der Wild heit genoss sie es. Mehr durch Zufall glitt ihr Blick über den Horizont und dann er kannte sie auf einmal eine Silhouette ganz weit draußen auf dem Meer. Während ein weiterer Orgasmus ihren Körper zucken ließ und ein unfreiwilliges Stöhnen ganz tief aus ihrer Kehle kam, erkannte sie dann, wie sich die Silhouette in die Konturen eines Schiffes verwandel te, das langsam aber sicher auf die Küste zusteuerte. Ein Schiff, des sen Konturen ihr sehr vertraut vorkamen - denn solche breiten und geschwungenen Segel besaßen nur Schiffe, deren Heimathafen die Insel SchaMasch war! Ganz zu schweigen von der Galionsfigur vorn am Bug. Der riesige Kopf eines furchtbaren Dämons bildete das Er kennungszeichen! Endlich, schoss es ihr durch den Kopf, während ihre Gedanken gegen die Wellen der erneut aufklingenden Erregung ankämpften. 54
Percus bekam davon überhaupt nichts mit, denn er war im Gegensatz zu der rothaarigen Frau ganz im Rausch seiner Sinne gefangen und hätte jetzt noch nicht einmal etwas davon mitbekommen, wenn in sei ner unmittelbaren Nähe ein lauter Kampf stattgefunden hätte. Er hörte weder das Rauschen der Meereswellen, noch die rauen Gesänge der anderen Söldner weiter oben zwischen den Felsen. Für ihn existierte nur der nackte schöne Körper Kara Artismars, der ihm gehörte! Percus schrie leise auf, als auch er seinen Höhepunkt erreichte. Er sackte wie ein schwerer Stein auf Kara Artismar zusammen, so dass ihr im ersten Moment die Luft knapp wurde. Währenddessen war das Schiff näher gekommen, steuerte jetzt aber eine etwas nördlicher ge legene Bucht an, wo es bald darauf verschwand. Und keiner der Söld ner drüben am Lagerfeuer schien davon etwas mitbekommen zu ha ben. Sie fühlten sich vollkommen sicher, denn was konnte ihnen denn in dieser Einöde noch trotzen? Wahrscheinlich dachten sie, so weit von menschlichen Ansiedlun gen entfernt zu sein, dass es selbst Percus nicht für nötig hielt, in die ser Nacht Wachen aufzustellen. Das sollte ihm und seinen Männern aber schon sehr bald zum Verhängnis werden, denn auf Leichtsinn folgt manchmal der Tod... * Die flackernden Flammen des Lagerfeuers hatten sich längst in ein schwaches Glimmen verwandelt, das nur noch die unmittelbare Nähe erhellte. Die lauten Stimmen, die Gesänge aus rauen Kehlen und das Gelächter waren längst verstummt. Der schwere und süßliche Reis wein, den die Söldner in sich hineingeschüttet hatten, forderte nun seinen Tribut. Viele schliefen bereits tief und fest und die wenigen, die noch nicht in einen tiefen und traumlosen Schlaf gesunken waren, befanden sich unmittelbar davor, es zu tun. Auch Percus’ gleichmäßiges Schnarchen war zu hören - Kara Ar tismar jedoch, die dicht neben ihm lag, konnte und wollte nicht schla fen. Denn sie spürte, dass nun sehr bald etwas geschehen würde etwas, das sie in den letzten Tagen so herbeigesehnt hatte. Sie lag 55
wach zwischen den Decken, blickte hinauf zum sternenübersäten Himmel und wagte sich nicht zu rühren, denn Percus' rechte Hand lag schwer auf ihrer Brust. Selbst im Schlaf klammerte er sich noch an sie und übte so seinen ›Besitztitel‹ auf sie aus. Normalerweise hätte ihn Kara Artismar gewähren lassen, aber jetzt spürte sie die Unruhe, die von ihrem Geist Besitz ergriffen hatte, denn nun war die Stunde der Rettung nahe. Nach den langen und schweren Strapazen und der überstürzten Flucht aus ihrem einstigen Herrschaftsbereich hatte sie sich große Mühe gegeben, ihre Spuren zu verwischen. Obwohl es ihr schwer gefallen war, hatte sie immer auf das Anwenden ihrer geistigen Kräfte verzichtet, denn dies hätte nur die Verfolger auf sie aufmerksam gemacht. Dieser blonde Krieger mit seinem verfluchten Schwert, so schnell würde er gewiss nicht aufgeben. Erst recht nicht, weil seine Gefährtin unter den Händen der rothaarigen Frau beinahe den blutigen Opfertod erlitten hätte. Diese Tat schrie förmlich nach Rache und deshalb ris kierte Kara Artismar nichts. Sie wollte wirklich ganz sicher sein, dass ihre Gegner keine Spur mehr von ihr fanden. Geblieben war jedoch immer noch ein winziger Rest Unsicherheit, der sie in Nächten wie dieser öfter ins Grübeln verfallen ließ. Ein Sterb licher mit solch einer gefährlichen Waffe stellte nicht nur für sie eine Gefahr dar, sondern auch für alle anderen Ordensschwestern. Ihre Gedanken brachen ab, als sie plötzlich irgendwo hinter sich ein leises Rascheln vernahm. Es konnte ein Tier sein, das durch die Büsche streifte, aber Kara Artismar wusste, dass dem nicht so war. Der Zeitpunkt der Rettung - nun war er endlich gekommen! Ganz vorsichtig führte sie ihre Hand zu Percus' schwieligen Fin gern, umfasste sie vorsichtig und hob die Hand des Söldnerführers von ihrer Brust. Der Schlafende bewegte sich kurz, unterbrach sein Schnarchen und für einen winzigen Moment befürchtete Kara Artismar, dass der breitschultrige Mann gleich aufwachen und nach ihr fassen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Percus schnarchte weiter und bemerkte nicht, was um ihn herum geschah. Vor dem Liebesakt mit Kara Artismar hatte er ebenfalls mit seinen Männern etliche Krüge 56
Reiswein geleert. Ganz sicher würde er mit einem schweren Kopf er wachen, falls nicht... Schritte und huschendes Tappen drangen an Kara Artismars scharfes Gehör. Sie hob vorsichtig den Kopf, konnte aber nichts erken nen. Dann waren sie plötzlich da, als seien sie buchstäblich aus dem Nichts entstanden. Schattenhafte, vermummte Gestalten - und jede hielt in ihren Händen ein scharf geschliffenes Schwert, dessen Klinge im Mondlicht hell glänzte. Sie näherten sich den Schlafenden am erlö schenden Feuer und die bemerkten immer noch nichts! Sie wussten nichts von den tödlichen schwarzen Kriegern! Ein Mann bewegte sich kurz im Schlaf und rülpste. Das veranlass te einen der vermummten schweigenden Krieger, sich sofort zu ihm hinabzubeugen. Mit einem sicheren und schnellen Schnitt durchtrennte er die Kehle des Söldners und sah teilnahmslos zu, wie sich der Mann unter ihm im Todeskampf zu winden begann. Aber die Hand des schwarzen Kriegers auf den Lippen des Sterbenden verhinderte jeden weiteren verräterischen Laut. Noch während der Söldner starb, trat plötzlich eine weitere Schat tenfigur zwischen die Schlafenden, deren Aura Kara Artismar unter Hunderten sofort erkannt hätte. Sie war von großer, schlanker Gestalt und langes rotes Haar umrahmte ein Gesicht, dessen Mund von einer schimmernden Maske bedeckt wurde, die ein Teil einer glänzenden Rüstung war. Das Licht des Mondes fiel kurz auf sie, als sie zu Kara Artismar herübersah - aber der Blick in ihren grünen Augen blieb kalt und teilnahmslos. Er wirkte fast verächtlich, anklagend und eine Spur vorwurfsvoll. Als sich Kara Artismar erheben wollte, begann sich Percus zu be wegen. Er murmelte etwas vor sich hin, schlug Sekunden später die Augen auf und begriff im ersten Moment gar nicht, wie ihm geschah, als er anstelle des weichen und warmen Frauenkörpers neben sich plötzlich ein scharfes Schwert an seiner Kehle spürte. »Was... was...«, gurgelte er und brach mitten im Satz ab, als er fühlte, wie die Klinge seine Haut durchdrang und einen Blutstropfen hervortreten ließ. 57
»Tötet ihn nicht«, sagte Kara Artismar zu der anderen Frau in der schimmernden Rüstung, die für einen Außenstehenden sicherlich sehr bedrohlich wirkte, obgleich Arme und Beine davon nicht bedeckt wur den. »Er hat seinen Zweck erfüllt - bis jetzt jedenfalls...« Die andere sagte überhaupt nichts, sondern blickte nach wie vor anklagend auf Kara Artismar herab. Dann löste sie ihre Gesichtsmaske und Kara konnte erkennen, wem sie gegenüberstand, obwohl sie das eigentlich schon längst geahnt hatte. Es war Gerinya, eine ihrer Or densschwestern aus SchaMasch. Gerinya, die kundige Zauberin und erfahrene Schwertkämpferin. Der Weg der Gewalt war ein Teil ihres Lebens, denn sie konnte die schwarzen Krieger am besten beherr schen und beeinflussen, damit sie ihr aufs Wort gehorchten. »Du hast versagt, Kara Artismar«, hörte sie die anklagenden Wor te ihrer Ordensschwester. »Deinetwegen ist das Erwachen der Schwärze verhindert worden. Ist dir klar, was du getan hast?« »Willst du jetzt und hier darüber reden, Gerinya?«, erwiderte Kara Artismar und achtete überhaupt nicht mehr auf den völlig verstörten Percus, der kein einziges Glied zu rühren wagte. Sonst hätte sie be merkt, wie er fassungslos und völlig eingeschüchtert auf die Klinge und den schwarzen Krieger blickte, der breitbeinig über ihm stand und nur auf ein Zeichen wartete, ihn zu töten. »Ich bin mir meines Versagens bewusst - und ich werde es den anderen erklären. Aber nicht jetzt und nicht hier!« »Gut«, nickte die schlanke, rothaarige Frau namens Gerinya. »Der Rat wird darüber entscheiden, sobald du und Rica wieder zurück auf SchaMasch seid.« Mehr gab es nicht zu sagen. Sie schloss ihre Maske wieder und beachtete Percus überhaupt nicht mehr. In ihren Augen hatte er nicht mehr Bedeutung als ein lästiges Insekt. Eine Menge Fragen lagen auf Kara Artismars Zunge, aber sie musste begreifen, dass hier und jetzt nicht der passende Moment da für war. Sie trat neben Gerinya und bemerkte, wie bleich Percus war. Der große, starke Mann, der so wild sein konnte, war jetzt ein Bündel völliger Hilflosigkeit und sie verachtete ihn insgeheim für diese Schwä che, die seinen wahren Charakter offenbarte. 58
»Vergiss mich, Percus«, riet sie ihm mit eindringlicher Stimme. »Du hast deine Aufgabe erfüllt. Rühr dich nicht von der Stelle und ver folge uns nicht. Sonst ergeht es euch allen wie dem da.« Sie zeigte dabei auf den Getöteten, dessen blutige Kehle ein Mahnmal des Schre ckens war und der nur wenige Schritte entfernt lag. »Aber warum...?«, wollte Percus fragen, erhielt jedoch keine Ant wort von Kara Artismar. Stattdessen kehrte sie ihm einfach den Rü cken zu und tauchte mit der anderen Frau, die ihr so merkwürdig ähn lich sah, in der Dunkelheit zwischen den Felsen unter. Die schweigenden schwarzen Krieger verharrten noch einen Mo ment und zogen sich dann ebenfalls zurück, jederzeit darauf gefasst, einen Kampf mit den Söldnern durchstehen zu können. Sie reagierten kalt und gefühllos und sie waren wachsam nach allen Seiten. Lautlos wie Katzen waren sie gekommen und genauso schweigend ver schwanden sie wieder von hier. Für Sekunden fühlte er sich in einem seltsamen Alptraum gefan gen und als er sich den Angstschweiß aus der Stirn wischte, war der grausame Spuk verschwunden und mit ihm die rothaarige Kara Artis mar. Als habe sie niemals zuvor existiert. Für einen kurzen Augenblick schien es Percus, er habe all dies nur geträumt. Vorsichtig erhob sich der breitschultrige Söldner, am ganzen Kör per zitternd. Er vermied es, auf den Toten zu sehen. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, aber der Reiswein ließ seinen Kopf immer noch schwer wie Blei wirken. So vergingen einige Minuten, bis er mit unsanften Tritten und Stößen die übrigen Männer aus ihrem Rausch aufweckte. Die Söldner fluchten laut, als sie jedoch den toten Gefährten sa hen, begriffen sie, dass der lautlose Tod in ihr Lager gekommen war. Und selbst als Percus ihnen viele Goldstücke versprach, wagte es kei ner der ansonsten so starken Männer, sich auf die Spur der ver schwundenen Kara Artismar zu setzen. Indes stach das Schwarze Schiff auf der andere Seite der Bucht wieder in See und nahm Kurs aufs offene Meer, weiter in Richtung Süden. 59
Kapitel 3: Der Marsch ins Ungewisse Thorin und Jesca blickten mit gemischten Gefühlen auf den alten, weißbärtigen Mann, der so plötzlich aufgetaucht war und behauptet hatte, Thorins wegen hierher gekommen zu sein. Die Nadii-Amazone sagte nichts, aber ihre Blicke sprachen Bände. Schließlich wandte sie sich ab und kümmerte sich um die Pferde, um so Thorin Gelegenheit zu geben, seinen inneren Zwiespalt zu überwinden und vielleicht mit dem alten Mann über dessen Beweggründe zu sprechen. »Wer bist du?«, fragte Thorin, während er spürte, wie ihn ein selt sames Gefühl bei Metates Anwesenheit erfasste. Ein Gefühl, das fremd und dennoch vertraut war. »Ich kenne dich nicht und habe dich zuvor auch noch niemals gesehen.« In den Augen des alten Mannes blitzte es kurz auf und die Andeu tung eines Lächelns schlich sich in seine faltigen Züge. »Aber ich ken ne dich, mein Freund«, wählte er bewusst eine vertraute Anrede, er reichte dadurch jedoch nur, dass Thorin noch misstrauischer drein blickte, als es ohnehin schon der Fall war. »Wie schon gesagt, mein Name ist Metate«, fuhr er dann rasch fort, als er die Skepsis des Nord landwolfes spürte. »Ich habe einige Jahre in Mercutta gelebt - als An führer der Diebesgilde. Ich war der ERSTE DIEB - aber ich bin mir nicht sicher, ob du davon schon einmal gehört hast.« »Einige deiner Leute haben versucht, mein Schwert zu stehlen«, erwiderte Thorin mit einer Spur von Zorn, als er sich an den nächtli chen Einbruch im Wirtshaus erinnerte, bei dem es Tote gegeben hatte. »Sie haben eigenmächtig gehandelt und dafür ihre Strafe erhal ten, Thorin«, antwortete Metate mit einer abwertenden Geste. »Hätte ich vorher davon gewusst, wäre es niemals geschehen. Aber in Mer cutta hat sich ohnehin eine Menge verändert und daran hat auch dein Freund Hortak Talsamon einen gehörigen Anteil. Er kehrte nach Mer cutta zurück und schaffte es, die blutige Herrschaft des Tyrannen Tys Athal zu beenden.« 60
Während dieser Worte bemerkte Metate, dass Thorin nun über rascht dreinblickte und er konnte sich gut vorstellen, was ihm jetzt durch den Kopf ging. »So, dieser elende Hund ist also tot«, sagte Thorin, nachdem ihm Metate in kurzen Sätzen berichtet hatte, wie es Talsamon geschafft hatte, ihn zu besiegen. »Das geschieht ihm recht - er hat es verdient. Aber das rechtfertigt immer noch nicht, weshalb ein alter Mann wie du sich auf eine solch gefährliche Reise begibt, nur um mir Grüße eines Gefährten auszurichten. Ich glaube, du sagst nicht die Wahrheit, Meta te und das solltest du besser tun. Sonst ist dein Weg jetzt und hier zu Ende.« Während er das sagte, näherte sich seine rechte Hand dem Knauf des Schwertes und sein Blick kündete von solch einer Entschlossen heit, dass Metate nur stumm den Kopf schüttelte und seltsamerweise lächelte er dabei ein wenig traurig. Vor allen Dingen, als sein Blick sich auf den Knauf des Schwertes richtete. Aber das bemerkte Thorin in diesen Sekunden nicht. »Du würdest es wahrhaftig tun«, sagte er mit einer Spur von Be lustigung in der Stimme. »Das spricht für deinen Mut und deinen star ken Willen. Aber glaube mir, ich stehe auf deiner Seite. Ich wusste schon bei deiner Ankunft in Mercutta, dass es mit dir eine... besondere Bewandtnis hat. Ein alter Mann wie ich hat schon viel erlebt und ich lausche sehr oft meiner inneren Stimme. Ich habe geträumt von dir, Thorin. Von dir und deinem Schwert - und wie du es verloren hast...« Jesca kam inzwischen wieder zurück und hatte die letzten Worte Metates mitbekommen. »Bist du ein Zauberer, alter Mann?«, fragte sie ihn und zog sofort ihre Klinge aus der Scheide. »Solchen Halunken traue ich nicht - sag besser die Wahrheit!« »Es ist gut, Jesca«, beruhigte Thorin sie und legte seine Hand auf ihren Schwertarm. »Ich glaube, wir können ihm vertrauen. Er sagt, dass er geträumt hat, wie ich Sternfeuer verloren habe, also soll er uns etwas mehr darüber erzählen. Was hast du genau gesehen, Metate?« »Es waren diese geflügelten Wesen«, erwiderte der alte Mann wahrheitsgemäß und berichtete in kurzen Sätzen, was sich in seinem 61
Traum ereignet hatte. Er schilderte das so detailliert, dass Thorin und Jesca sich erstaunt anblickten und im ersten Augenblick Mühe hatten, dafür die passenden Worte zu finden. »Thorin, es ist wahr, was ich sage. Ich habe gespürt, dass dein Schicksal etwas Besonderes dar stellt. Deshalb konnte und durfte ich nicht mehr länger in Mercutta bleiben. Ich habe die Stadt verlassen und bin euren Spuren gefolgt. Nicht immer konnte ich sie finden, aber ich verließ mich auf meinen... Instinkt. Und der führte mich auch zu dem Fischerdorf, wo ihr vorbei gekommen seid. Von dort aus war es leichter - bis ich von den geflü gelten Wesen entdeckt und hierher gebracht wurde.« »Und jetzt?«, wollte Jesca wissen. »Willst du dich uns anschließen und mit uns kommen? Ohne zu wissen, welche Gefahren uns noch erwarten? Meinst du nicht, dass dies zuviel für dich sein könnte?« Metate deutete den Blick der Nadii-Amazone richtig. Natürlich, sie registrierte sein hohes Alter und fürchtete, dass er nicht durchhalten würde. »Ich bin bis hierher gekommen, Jesca«, meinte Metate lä chelnd. »Und leicht war das auch nicht...« »Es ist seine Entscheidung«, ergriff nun Thorin wieder das Wort. »Aber wir werden keine Rücksicht auf dich nehmen, Metate. Du wirst zurückbleiben müssen, wenn du es nicht schaffen solltest. Wir müssen dieses SchaMasch, von dem Loki gesprochen hat, auf jeden Fall errei chen, aber wir wissen nicht, wie weit es von diesem Ort entfernt ist. Es können Tage vergehen, bis wir das Ziel erreicht haben und wir haben keine Ahnung, welche Gefahren uns noch erwarten.« »Ich weiß das«, fügte der alte Mann hinzu. »Doch auch ich muss meinem Traum folgen, Thorin, genauso, wie du deinen Weg gehst, den das Schicksal oder andere höhere Mächte für dich ausgewählt haben...« Täuschte sich Thorin? Oder kam es ihm in diesem Moment so vor, als wolle Metate mit diesen Worten etwas ganz Bestimmtes sagen? Was wusste dieser alte Mann über höhere Mächte? Kannte er eventuell die Antwort auf die brennenden Fragen, die Thorin schon seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Kopf gingen? Dazu würde er Thorin irgendwann etwas sagen müssen. Aber jetzt und hier war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. 62
»Gut, dann komm einfach mit«, entschied Thorin. »Dann wirst du eben zu einem von uns in den Sattel steigen, wenn du nicht laufen willst. Entscheide dich!« »Er kann mit mir reiten«, meinte Jesca daraufhin. »Dann habe ich ihn besser unter Kontrolle.« Ihr prüfender Blick richtete sich dabei auf Metate. »Du hast uns noch nicht alles gesagt, alter Mann. Irgendwann wirst du das aber tun müssen und so lange werde ich ein Auge auf dich haben!« * Es war keine leichte Aufgabe, die Pferde über den schmalen und teil weise sehr steilen Pfad hinauf zu den beiden Brückenpfeilern zu brin gen, wo das gewaltige steinerne Monument seinen Anfang nahm. Teilweise mussten Thorin und Jesca die immer noch scheuen Tiere an den Zügeln packen und energisch mit sich ziehen. Es schien fast, als spürten die Pferde, dass diese große Brücke irgendetwas Geheimnis volles barg. Etwas, was die Tiere mit ihren Instinkten schon erfassen konnten, die Menschen jedoch noch nicht. Eine gute Stunde verging, dann hatten sie dieses erste Hindernis hinter sich gebracht und standen nicht weit von der Stelle entfernt, wo sich der Gott Loki und seine Begleiterin Sharazar ihnen gezeigt hatten. Unwillkürlich richtete Thorin seinen Blick auf die Stelle und Metate be merkte das. »Ist das deine erste Begegnung mit den neuen Göttern?«, wollte er wissen, während Jesca die Zügel der Pferde packte und sie weiter in die Mitte der Steinbrücke führte. »Wie wirken sie auf dich?« »Du redest so, als würdest du sie schon länger kennen«, antwor tete Thorin überrascht, sah dann aber, wie Metate schnell den Kopf schüttelte. Eine Spur zu schnell! »Ich hörte im Fischerdorf zum ersten Mal von ihnen, aber es wa ren nur vage Gerüchte, so dass ich nicht so recht wusste, was ich da von halten sollte«, erwiderte der alte Mann daraufhin. »Zumindest erscheint es mir ziemlich fragwürdig, dass sich um diese neuen Götter ein Glaube bildet, der den Tod als einziges Ziel vor Augen hat.« 63
»Du sprichst von diesen Blinden, die sich selbst von den Klippen gestürzt haben?« Metate nickte. »Ich glaube, das waren Fanatiker, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Götter, die so etwas unterstützen, darf es nicht geben. Nein, ich denke, dass Loki einen anderen Weg geht als die alten Götter des Lichts. Aber auch sein Weg wird zum Ziel führen. Er will die endgültige Zerstörung der Mächte der Finsternis und deren Relikte.« Thorin hielt kurz inne, als er sich bewusst wurde, dass Metate von diesen Dingen ja gar nichts wissen konnte. »Reden wir später darüber«, entschied er. »Jetzt gilt es erst einmal, weiterzu kommen.« Er sah in diesem Moment zu Jesca hinüber und bemerkte deshalb nicht, wie Metates blaue Augen für kurze Zeit einen traurigen Schim mer annahmen. Dieser Blick war jedoch schon wieder verschwunden, als der alte Mann zu Jesca ging und sich von ihr in den Sattel ihres Pferdes helfen ließ. Dann saß sie hinter ihm auf und griff nach den Zügeln des Tieres, blickte abwartend zu Thorin. Dieser sah immer noch zurück zu den beiden großen Steintürmen, so, als suche er in diesen Sekunden nach irgendetwas, was er mit seinen Sinnen noch nicht erfassen konnte. Es sah fast so aus, als versuche er, noch Spuren der Götter zu fin den. Aber die konnte es natürlich nicht geben, denn die neuen Mächte des Lichts waren so schnell verschwunden, wie sie erschienen waren. Ganz sicher jedoch würden sie jeden weiteren Schritt Thorins und sei ner Begleiter verfolgen und eingreifen, wenn sie es für notwendig hiel ten. Wieder eine neue Prüfung, dachte Thorin, als er sich schweren Herzens von den beiden Steintürmen abwandte und dann auch aufsaß.
Obgleich ich es immer noch nicht verstehe - muss ich es dennoch ak zeptieren.
Er trieb sein Pferd an und ritt voraus, Jesca folgte ihm unmittelbar nach. Erst von hier oben aus konnten sie im Detail erkennen, wie groß und wuchtig die steinerne Brücke namens NIPUUR eigentlich war. Selbst wenn Thorin darüber noch so lange nachgrübelte - auch er würde nur schätzen können, wie lange es gedauert haben mochte, ein solch mächtiges Bauwerk zu errichten. Tausende von Menschen muss 64
ten jahrzehntelang daran gearbeitet haben und das Tag und Nacht, falls es überhaupt Menschen gewesen waren... Wuchtige Pfeiler stützten die Brücke und wie tief sie in den Mee resboden hineinragten, blieb unklar. Das Material, aus dem die Brücke errichtet worden war, ähnelte dem grauen Basaltstein aus den Bergen von Arrach. Seltsamerweise zeigte sich aber nirgendwo eine Spur von Verwitterung. Es schien fast so, als könnten Wind und Wetter diesem Bauwerk überhaupt nichts anhaben. Selbst zwischen den Steinen wa ren weder Moos noch Flechten zu erkennen, die auf das Alter der Brü cke schließen ließen. Der Wind, der draußen vom Meer her kam, war jetzt eine Spur fri scher geworden. Der Geruch von Salz lag in der Luft und Thorin atme te tief ein. Obgleich er nicht wusste, was jenseits des Horizontes auf ihn wartete, spürte er dennoch, dass dieser Moment der Beginn eines neuen Abschnittes in seinem Leben war und wenn die neuen Götter des Lichts einen weiteren Beweis für seine Ergebenheit haben wollten, dann würde er ihnen diesen Beweis so rasch wie möglich liefern! Hohl und dumpf klangen die Hufe der Pferde auf dem grauen Ge stein, als Thorin, Jesca und Metate ihren Weg auf der steinernen Brü cke fortsetzten. Der Nordlandwolf blickte hinauf zum wolkenverhange nen Himmel, an dem sich heute die Sonne noch nicht gezeigt hatte. Von den geflügelten Wesen konnte er nichts mehr entdecken (aber sie
sind hier und beobachten genau, was du tust, Thorin - verlass dich darauf).
Es war eine allumspannende Einsamkeit, die sie umgab und sie spüren ließ, dass dieser so fremde und unfassbare Ort das Ende der bekannten Welt darstellte. Selbst Thorin, der schon viele fremde Län der gesehen und bereist hatte, kannte diesen Teil der Welt nicht. Er hatte auch niemals zuvor von einem Ort namens NIPUUR gehört. Was darauf schließen ließ, dass sich um diesen Ort ein Geheimnis rankte. Existierte NIPUUR womöglich erst seit dem Zeitpunkt, an dem die alten Götter des Lichts verschwunden waren? Wenn ja, wer hatte dann die se Brücke gebaut und welchen Zweck verfolgte er damit? Womöglich hätte der FÄHRMANN Thorin diese Frage beantworten können, aber das unfassbare Wesen, das Anfang und Ende der Ewig 65
keit kannte, hatte diesen Teil des Universums längst verlassen und weilte an einem anderen Ort. Damals hatte Thorin einen Hauch der Zusammenhänge erfassen und begreifen können, doch jetzt stellten sich ihm schon wieder neue Rätsel in den Weg. Warum eigentlich?, fragte er sich erneut. Was geschieht hier ü
berhaupt? Oder hat der neue Gott Loki schon längst über das Schicksal dieser Welt entschieden und lässt mich in dem trügerischen Glauben, dass ich noch irgendetwas bewirken könne?
Für einen winzigen Moment wuchs die Unsicherheit in dem Nord landwolf, dann schob er diese düsteren Gedanken beiseite und kon zentrierte sich ganz auf sein Vorhaben. Er blickte nicht mehr zurück, sondern schaute nur nach vorn, drückte seinem Pferd die Hacken in die Weichen und trieb es an. Dennoch verfiel das Pferd nur in einen langsamen Trab, denn es fühlte sich auf diesem merkwürdigen Gebilde aus Stein noch unsicher. Die Brücke war zwar breit genug, um mehrere Pferde nebenein ander gehen zu lassen, doch ein Sturz aus dieser Höhe in die Fluten des Meeres musste unweigerlich den Tod bedeuten. Ab und zu schlu gen die Wellen mit einem klatschenden Geräusch gegen die großen steinernen Brückenpfeiler und das zeigte Thorin, wie unruhig das Meer war. Drüben am Horizont schienen sich die Wellen noch höher aufzu türmen - der Wetterumschwung draußen auf offener See hielt wohl immer noch an. Für Seefahrer, die jetzt auf dem Meer kreuzten, be deutete dieses Wetter eine große Herausforderung. Auch Thorin kannte die Gefahren des Meeres. In den Eisländern des Nordens war er oft mit den Drachenschiffen unterwegs gewesen und hatte mit seinen Gefährten immer wieder den heftigen Stürmen trotzen müssen, die ganz plötzlich ausbrachen und dann umso gefähr licher waren. »Seht doch!«, riss ihn Jescas Stimme plötzlich aus seinen Gedan ken. »Dort vorn - was hat das zu bedeuten?« Thorins Blick folgte ihrem Fingerzeig und er erkannte wenige Se kunden später, was Jesca entdeckt hatte. Von Westen her näherte sich eine dichte Nebelbank, die genau auf die steinerne Brücke zuhielt. Der Wind trieb sie immer weiter voran und bereits jetzt konnte Thorin den 66
Verlauf der Brücke nicht mehr genau erkennen. Zuerst waren es nur ganz dünne Nebelschleier, feinen Gespinsten gleich, die NIPUUR ein zuhüllen begannen. Aber je weiter sie auf der Brücke vordrangen, um so rascher bewegten sich die weißlichen Schleier auf sie zu. Thorin hob den Kopf und blickte hinauf zum Himmel. Nebelschwa den waren hoch über ihm und ließen ihn nur noch schwer die Wolken erkennen. Unwillkürlich dachte er an seine Erlebnisse in der grauen haften Nebelzone, als er auf dem Weg zur Stahlburg der SKIRR gewe sen war. Für einen winzigen Moment ertappte sich Thorin bei dem Gedanken, dass in diesen Nebelschwaden unter Umständen ähnlich Furcht erregende Kreaturen lauern könnten, wie es damals der Fall gewesen war. Natürlich konnten weder Jesca noch Metate ahnen, was dem Nordlandwolf durch den Kopf ging, denn sie waren damals nicht dabei gewesen, als Thorin seinen Marsch durch diese unwirkliche Welt ange treten hatte. Aber er dachte jetzt nur noch an sein Schwert, an die Götterklinge Sternfeuer, die ihm der Gott Loki versprochen hatte, wenn er seine neue Aufgabe zur Zufriedenheit erledigen würde. Jeder Nebel hat auch einmal ein Ende, tröstete er sich im Stillen und ritt weiter. Und jenseits dieser wabernden Schleier wartet die Insel
SchaMasch auf uns. Solange wir auf der Brücke bleiben, wird uns schon keine Gefahr drohen. Hier oben sind wir außerdem auch sicher vor den Gefahren des Meeres. *
Wie viel Zeit vergangen war, seit Thorin und seine Gefährten in den dichten Nebel hineingeritten waren, konnte niemand mehr sagen. Es schien eine halbe Ewigkeit verstrichen zu sein, seit sie das letzte Mal den fernen Horizont und das stürmische Meer gesehen hatten. Aber nur wenige Schritte vom Abgrund der Steinbrücke entfernt endete die Welt. Jenseits davon erstreckten sich nur noch dichte, undurchdringli che Schleier, die Thorin manchmal den genauen Verlauf der Brücke nur sehr schwer erkennen ließen. Die Sicht wurde immer schlechter, bisweilen sogar nur wenige Mannslängen weit. 67
Die Pferde wurden jetzt langsamer, gingen im Schritt und Thorin spürte den Widerwillen der Tiere. Jesca erging es ähnlich, denn auch sie hatte sichtliche Mühe, ihr Pferd weiter anzutreiben. Metate hatte schon lange nichts mehr gesagt und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein. Ab und zu hob er den Kopf, blickte nach vorn zu Thorin, schien ihn für eine kurze Zeitspanne zu beobachten und dann wandte er rasch den Blick ab, weil er bemerkte, dass Jesca das nicht entging. Thorin bekam von all dem nichts mit, denn plötzlich hörte er ein leises Geräusch, das von weiter vorn aus den dichten Schwaden des Nebels zu kommen schien. Laute, die er nicht ganz klar ausmachen konnte. Deshalb zügelte er sein Pferd und deutete Jesca mit einer knappen Handbewegung an, das gleiche zu tun. Die Nadii-Amazone blickte mit gerunzelter Stirn zu Thorin, begriff dann aber, worum es ging, als der Wind sich von einer Sekunde zur anderen drehte und die Geräusche nun viel deutlicher zu ihnen herüberbrachte. »Verdammt, was ist das nur?«, murmelte Thorin unwillig und zog instinktiv das Schwert aus der Scheide auf seinem Rücken. Es fühlte sich anders an als Sternfeuer und das war einer der Momente, wo er voller Sehnsucht an die Götterklinge dachte. »Es klingt wie... Ge sang...« »Ich höre es auch«, kommentierte Jesca mit leiser Stimme und Metate zuckte ebenfalls zusammen, als der Wind das Echo von hellen Stimmen zu ihnen herüber trug. »Was hat das zu bedeuten?« »Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen«, brummte Thorin und zögerte kurz, seinen Weg fortzusetzen. Aber Umkehr gab es für ihn nicht; der Weg nach SchaMasch führte über diese Brücke. Also durften sie jetzt nicht an ihrem eigenen Mut zweifeln. »Es erinnert irgendwie an die Gesänge der Nymphen von Smer kol«, murmelte Metate. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob...« Er brach ab, schüttelte kurz den Kopf, als wolle er selbst nicht glauben, was er da gerade hörte. »Sieh dich vor, Thorin«, fuhr er dann mit etwas lau terer Stimme fort. »Ich kann nicht sagen, warum das so ist, aber ir gendwie ist hier etwas... falsch!« 68
»Träumst du jetzt auch schon am Tag, alter Mann?«, fragte Tho rin und bereute noch im selben Atemzug diese harschen Worte. Meta te konnte gar nichts dafür. Er sprach seine Gedanken nur laut aus und niemand konnte ihm deshalb einen Vorwurf machen. Thorin dagegen war gereizt und unsicher, weil er Sternfeuer nicht mehr bei sich hatte und ob das andere Schwert eine wirksame Waffe gegen unbekannte Kräfte war, konnte niemand wissen. »Es klingt so... schön«, murmelte Jesca, deren Blick sich auf ein mal zu verklären begann. Ein Lächeln schlich sich in ihre schönen Züge und ihre Augen richteten sich in unbekannte Fernen. Eben noch hatte sie nach dem Schwertknauf gegriffen, aber jetzt dachte sie an ganz andere Dinge. Sie sah weder Metate noch Thorin, sondern nur noch die weißlichen Nebelschleier - und vielleicht das, was sich dort verbarg? »Ich muss... dorthin«, murmelte sie geistesabwesend. »Die Herr lichkeit... ich will sie mit eigenen Augen sehen...« Sie sagte das so leise, dass Thorin diese Worte nicht hören konnte und demzufolge umso überraschter war, als Jesca plötzlich ihrem Pferd die Hacken in die Flanken drückte und es zur Eile antrieb. Metate be merkte das natürlich und ahnte das Schlimmste. Er wollte Jesca mit seinen Armen festhalten und ihr mit dem Mut eines Verzweifelten die Zügel aus den Händen reißen. Damit erreichte er aber nur, dass Jesca ihm mit dem Ellenbogen einen kräftigen Stoß versetzte, der den alten Mann im Sattel wanken ließ. Jesca stieß noch einmal nach ihm und dann konnte sich Metate nicht mehr im Sattel halten. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte seitlich vom Pferd, kam mit einem dumpfen Schlag auf dem harten Steinboden der Brücke auf. Metate stöhnte leise, als er den Schmerz spürte, der durch seinen ganzen Körper fuhr, aber dennoch hatte er Glück gehabt. Als er sich langsam wieder erhob, erkannte er zu seiner großen Erleichterung, dass er sich nichts gebrochen hatte. Der Sturz hätte auch schlimmere Folgen haben können, denn er war nicht mehr der Jüngste und wurde sich in Momenten wie diesem schmerzhaft bewusst, dass sich unwider ruflich in seinem Leben ganz entscheidende Dinge verändert hatten. 69
»Jesca!«, hörte er Thorin rufen, der überhaupt nicht begriff, was auf einmal in die Nadii-Amazone gefahren war. »Nun warte doch! Ich...« »Du musst sie aufhalten, Thorin!«, schrie ihm Metate mit besorg ter Stimme zu. »Es ist... es ist eine Falle. Reite, sonst ist es zu spät!« Aber das hatte Thorin ohnehin schon getan. Deshalb bekam er die letzten Worte des alten Mannes gar nicht mehr mit. Sein Pferd protes tierte mit einem lauten Wiehern gegen die harte Behandlung durch seinen Herrn. Er trieb das Tier mit zwei kräftigen Tritten an und das Pferd fiel in einen raschen Trab, verschwand im dichten Nebel - genau wie Jesca einige wichtige Sekunden zuvor. * Sie hörte hinter sich die erzürnte Stimme des alten Mannes, nahm sie aber dennoch nur ganz am Rande wahr. Jesca war nicht mehr sie selbst, als sie ihr Pferd immer weiter in den dichten Nebel trieb und dem Verlauf des gewaltigen Brückenmo numentes folgte. Ihre Sinne waren einzig und allein auf das helle Sin gen fixiert, das Jesca nun noch deutlicher hörte. Gesänge, die nicht von dieser Welt waren - so überirdisch schön klangen sie. Und die Nadii-Amazone konnte sich dem gleichzeitig im mer stärker werdenden hypnotischen Druck nicht entziehen. Sie nahm in diesen entscheidenden Minuten gar nicht wahr, dass sie nicht mehr Herrin ihrer Sinne war. Sie hörte das Rauschen der Wellen und glaubte für einen kurzen Moment gehört zu haben, dass das Wasser seitlich der Brücke plötzlich in Bewegung geraten war - aber dann blieb wieder alles still. Der Wind vom Meer her schien völlig abgeflaut zu sein, jedoch war der Nebel jetzt so dicht geworden, dass Jesca nur noch unter großer Mühe den Rand der gewaltigen Brücke erkennen konnte. Instinktiv zügelte sie ihr Pferd und stieg aus dem Sattel, während sie auszumachen versuchte, aus welcher Richtung diese betörenden Gesänge überhaupt kamen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte das nicht genau lokali 70
sieren. Mal ertönten die hellen Gesänge von links und kurz darauf er schien es Jesca, als kämen sie von rechts. Sie blickte nach allen Seiten, sah den weißlichen Nebel, der sich mit einer erdrückenden Schwere auf die gesamte Umgebung legte und immer wieder klangen die verlockenden Gesänge an ihr Ohr. Selbst Tuleema, die bekannteste Sängerin der Inselwelt von Sorkash, hätte in diesen Sekunden keinem Vergleich standgehalten. Diese Intensität war so... einzigartig, dass Jesca Mühe hatte, ihre Empfindungen zu kontrol lieren. Sie spürte den Druck in ihrem Schädel, der jetzt anwuchs und sie langsam einen Fuß vor den anderen setzen ließ, in Richtung des Brü ckenrandes. Und wieder erklang das Echo des wunderschönen Gesan ges in ihrem Kopf, ließ sie lächeln, als sie sich dem Abgrund näherte. Mit den Gesängen näherte sich auf einmal etwas anderes der Brü cke, etwas, das eine glitschige, schuppenbedeckte Haut besaß und gewaltige, mit Saugnäpfen bewehrte Tentakel. Jesca sah das jedoch nicht, sondern hatte mittlerweile die Augen geschlossen. Sie stand am linken Rand der Brücke und war ganz in ihre Gedanken versunken. So bemerkte sie gar nicht, wie etwas Schweres mit einem lauten Klat schen auf die Brücke schlug und sich mit zitterndem Tasten dort hin und her bewegte, für den Hauch einer Sekunde ihren Fuß streifte und sich dann rasch neu zu orientieren versuchte. Aber kein Zweifel - beim zweiten Versuch würde dieses Etwas das finden, wonach es suchte. Die Wellen gerieten in Unruhe, als sie sich teilten und ein plumper Körper die Wasseroberfläche erreichte. Peitschende Tentakel ließen das Wasser über die Brücke spritzen, durchnässten die Nadii-Amazone, aber sie war immer noch eine Gefangene ihrer verzückten Sinne und wollte nicht wahrhaben, dass der Tod bereits seine knöcherne Hand nach ihr ausgestreckt hatte! »Jesca!«, erklang eine Stimme von ganz fern, versuchte den Schleier des Vergessens zu durchdringen, der sich fast erstickend auf ihre Sinne gelegt hatte. »Jesca, zur Seite - rasch!« Ganz mühsam öffnete Jesca die Augen, während ihre Sinne immer noch begierig auf die wunderschönen Gesänge lauschten. Sie blickte 71
um sich, sah etwas Dunkles am Boden der Steinbrücke, aber sie beg riff immer noch nicht, was in diesen Sekunden mit ihr geschah. Sie hörte den lauten und zugleich so vertrauten Schrei erneut und dann klärten sich die Bilder, die ihr eigenes Reaktionsvermögen ge trübt hatten. Jesca erkannte den schwarzen, plumpen Körper und roch den Gestank, der von den Saugnäpfen der peitschenden Tentakel aus ging. Sie wurde kreidebleich und sprang buchstäblich in letzter Sekun de mit einem raschen Satz zur Seite. Dort, wo sie gerade gestanden hatte, schlug ein glitschiger Tentakel auf dem Steinboden auf, wuselte umher, suchte... aber er fand anstelle von Jesca nur das Pferd! Mit großer Kraft wickelte sich der Tentakel um den Vorderlauf des Pferdes, während ein zweiter Arm aus dem Nebel auftauchte und das schreck lich wiehernde Tier mit einem heftigen Schlag erwischte. Es gab ein hässliches Geräusch, als Knochen splitterten und das Pferd von der Brücke in die Tiefe des schäumenden Meeres stürzte. Sekunden später wurde das unglückliche Tier von den Fluten ver schlungen. Dann war Thorin auch schon heran. Er sprang aus dem Sattel, hatte sein Schwert griffbereit und drosch auf den Tentakel ein, der so dick wie der Oberschenkel eines kräftigen Mannes war. Das Pferd Tho rins bäumte sich mit einem angsterfüllten Wiehern auf, als es die Furcht erregende Kreatur aus dem Meer erblickte. Es machte kehrt und preschte einfach davon, zurück in den Nebel. Es blieb jedoch kei ne Zeit mehr, um das Pferd an seiner Flucht zu hindern. Thorin und Jesca standen einer tödlichen Gefahr gegenüber! Noch bevor der schwere Tentakel Jesca packen und in die Tiefe des dunklen Meeres ziehen konnte, war Thorin zur Stelle. Er holte mit dem Schwert aus und traf den Fangarm der Furcht erregenden Krea tur. Stinkendes, dickflüssiges Blut trat aus der Wunde und der Krake schrie. Die hypnotisierenden Gesänge, die Jescas Sinne umnebelt hat ten, verstummten abrupt. Der Tentakel peitschte wild um sich und das Blut spritzte nach allen Seiten. Zwei weitere Arme schlugen durch den Nebel und Jesca konnte sich gerade noch ducken. Geistesgegenwärtig stieß sie ihr Schwert nach oben und verwundete die schreckliche Kreatur. Wieder ertönte 72
ein zorniges Brüllen im Nebel, aber die Bestie gab sich noch nicht ge schlagen. Erneut tauchte der plumpe Körper an der Wasseroberfläche auf und diesmal wuselten die übrigen Tentakel auf der Brücke umher, schlangen sich um Thorins Bein, doch dieser hatte den Angriff kom men sehen und konnte sich dem Zugriff gerade noch einmal entzie hen. Allerdings rissen die Saugnäpfe schmerzhaft über seine Haut und hinterließen dort ein unangenehmes Brennen. Thorin wusste, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Nur ein einziger kräftiger Schlag des Kraken und es war um sie geschehen. Todesmutig sprang Thorin nach vorn und riskierte alles. Er sah, wie sich der plum pe Körper mit zweien seiner Tentakel an dem steinernen Brückenpfei ler festzuklammern suchte, während die übrigen Arme nach seinen Feinden griffen. Das war der Moment, den er nutzen musste! Erneut streifte ihn ein Saugarm, aber das ignorierte er und zielte stattdessen mit dem Schwert auf das große wässrige Auge des We sens, das ihn schrecklich intelligent ansah. Die Klinge bohrte sich mit ten ins Ziel und ein furchtbarer Schrei erfüllte den Nebel, als der rie senhafte Krake zu zittern begann. Rasch zog Thorin sein Schwert aus der Wunde und sprang zurück. Dabei riss er Jesca mit sich, die in der Zwischenzeit ebenfalls weitere zielsichere Schläge ausgeteilt hatte mit einer Verbissenheit, die ihresgleichen suchte! Nun begann der Todeskampf des glitschigen Wesens. Es schrie noch einmal, dass das Echo schmerzhaft in Thorins und Jescas Ohren widerhallte. Dann lösten sich die beiden Tentakel vom Steinpfeiler, während die anderen Saugarme ihre Kraft verloren. Die plumpe Krea tur fiel mit einem dumpfen Geräusch zurück ins Meer und tauchte nur Sekunden später in den Fluten unter. Danach herrschte wieder eine gespenstische Stille auf der steinernen Brücke. Verstummt waren die hypnotischen Gesänge, die insbesondere Jesca beinahe in den Tod getrieben hätten. Was zurückblieb, war die sichere Gewissheit, dass die Nadii-Amazone buchstäblich in letzter Sekunde dem Tod noch ein mal entronnen war. »Das war knapp«, murmelte sie und schenkte Thorin einen dank baren Blick, der all dies beinhaltete, was sie in diesem Augenblick empfand. »Ich war... völlig blind...« 73
»Metate hat es als erster gespürt«, erwiderte Thorin und wagte immer noch nicht, sein Schwert wieder einzustecken. Er wollte dem Frieden noch nicht so recht trauen. »Er hat gewusst, dass hier etwas nicht stimmte.« »Und ich habe ihn vom Pferd geworfen«, stöhnte Jesca erschüt tert. »Ist er... ich meine, hat er sich dabei...?« »Der Alte ist zäh«, erwiderte Thorin. »Er hat sich nichts gebro chen, falls du das wissen wolltest. Jetzt komm, es ist höchste Zeit, dass wir zurückgehen. Bestimmt hat Metate den Kampfeslärm gehört. Er soll wissen, dass wir nicht mehr in Gefahr sind.« Sie wandten sich ab und wollten gerade losgehen, als sie durch den Nebel plötzlich einen lauten Schrei hallen hörten. Thorin zuckte zusammen, als er Metates Stimme erkannte, In diesem Moment wurde ihm klar, dass die Gefahr noch nicht vorüber war... * Metate stöhnte, als er sein linkes Bein etwas zu hastig bewegte. Das war die Stelle, wo er unsanft auf dem harten Boden aufgekommen war und er konnte von Glück sagen, dass er sich bei diesem Sturz nichts Schwerwiegendes zugezogen hatte. Ein gebrochenes Bein hätte hier und an dieser Stelle das Ende für ihn bedeutet, denn Thorin und Jesca würden auf ihn keine Rücksicht nehmen können. Schmerzen und Qualen - er musste sich immer noch daran ge wöhnen, mit diesen Empfindungen zurechtzukommen. Nicht, dass ihm dies völlig fremd gewesen wäre, aber das mit den Augen eines Unbe teiligten zu sehen, war doch etwas ganz anderes als buchstäblich mit ten im Leben zu stehen. Er war erleichtert, als der Schmerz in seinem Bein abklang. Außer einer Hautabschürfung und einem blauen Fleck würde nichts bleiben. Allerdings galt seine Sorge jetzt Jesca, die vor wenigen Augenblicken im dichten Nebel verschwunden war, gefolgt von Thorin, der Metates Warnruf ernst genommen hatte. Längst waren die Hufschläge der Pferde verstummt. Mit Ausnah me der intensiven Gesänge war nichts mehr zu vernehmen. Die hörte 74
der alte Mann nach wie vor, aber sie zogen ihn nicht in ihren Bann und ließen ihn nur schwach ahnen, welche Gefahr sie in Wirklichkeit dar stellten. Dann verstummten die Sirenenlaute und wie aus weiter Ferne hör te Metate plötzlich eine Stimme, die er sofort als die Thorins erkannte. Dumpfe Geräusche kamen aus dem Wasser, gefolgt von einem hefti gen Poltern, das man ganz schwach auch noch bis hier spüren konnte. Der alte Mann zuckte zusammen. Er wusste nicht, was jenseits der dichten Schleier geschah, aber er ahnte Schlimmes. Doch wie hätte er Thorin und Jesca beistehen sollen? Er war schwach und alt und mit dem Wissen um ganz bestimmte Dinge konnte man keinen Angreifer besiegen, wenn das eigene Leben bedroht war. Während Metate dies durch den Kopf ging, preschte plötzlich Tho rins Pferd durch den Nebel, rannte direkt auf ihn zu. Geistesgegenwär tig riss der alte Mann beide Arme hoch, um das Tier aufzuhalten. Ru hig war seine Stimme, als er auf das völlig verstörte Pferd einredete und dann nach dessen Zügeln griff. Er schaffte es, das Tier wieder zu beruhigen, aber es dauerte einige Minuten, bis es schließlich stillstand. Immer wieder warf es den Kopf zur Seite und blickte zurück in die dichte Nebelwand, wo es Zeuge schrecklicher Ereignisse gewesen sein musste. Die Ruhe des Pferdes hielt jedoch nicht lange an, denn auch in Metates unmittelbarer Umgebung begannen die Wellen jetzt heftiger gegen die Steinbrücke von NIPUUR zu schlagen, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Erneut zerrte das Tier an den Zügeln und bäumte sich auf, wollte ausbrechen. Und diesmal schaffte es auch Me tate nicht mehr, das Tier unter Kontrolle zu halten. Er musste die Zü gel loslassen, sonst hätte es ihn sicherlich mitgerissen. Kopfschüttelnd und verunsichert zugleich blickte er dem Pferd nach, dessen Konturen schon Sekunden später von den wabernden Nebelschleiern verschluckt wurden, genauso wie die Hufschläge. Aber das Geräusch irgendwo unter der Brücke - es wurde immer deutlicher und lauter. Metate fuhr herum, als er auf der anderen Seite der Brücke plötzlich eine huschende Bewegung zu erkennen glaubte. Er griff an seinen Gürtel, wo sich ein scharfer Dolch befand, den er im 75
Ernstfall auch einzusetzen verstand. Ein alter Mann wie er würde je doch nicht lange Widerstand leisten können. Langsam näherte er sich der betreffenden Stelle und blinzelte mit den Augen, um besser sehen zu können. Als seine Füße den Rand der Brücke erreichten und er wachsam hinunter in die Tiefe spähte, er blickte er - nichts Ungewöhnliches. Der Nebel war dicht über der Was seroberfläche nicht ganz so undurchdringlich, so dass Metate die schäumenden Wellen erkennen konnte. Das Meer ist unruhig, schoss es ihm durch den Kopf. Irgendetwas
geht dort unten vor und ich weiß nicht, was es ist. Ich muss jetzt...
Seine Gedanken brachen ab, als er plötzlich ein dumpfes Tappen hinter sich hörte. Etwas, das schrecklich nahe klang! Trotz seiner vie len Jahre wirbelte Metate immer noch wendig herum, riss den Dolch hoch, um sich gegen einen Angreifer verteidigen zu können - und er starrte mitten in der Bewegung! Eine schuppige, kräftige Hand schloss sich um seinen rechten Arm und entwand ihm den Dolch ohne große Probleme. Die scharfe Klinge fiel auf den Steinboden - unerreichbar für den alten Mann. »Nein...«, murmelte Metate, während ihm in diesen so entschei denden Sekunden alle möglichen Gedanken durch den Kopf gingen. Seine Augen huschten von dem schuppigen Wesen, dessen Haupt eine Mischung aus Gorgone und Mensch war, zum anderen Rand der Brü cke, wo sich jetzt mit völlig lautlosen Bewegungen zwei weitere dieser Kreaturen hinaufzogen. Kalte, ausdruckslose Augen richteten sich auf Metate, der auf einmal begriff, was hier geschah. »Thorin!« Ein lauter Schrei entrang sich seiner Kehle, bevor sich eine unförmige Hand auf seine Lippen legte und jeden weiteren Schrei sofort im Keim erstickte. Metate wurde die Luft knapp. Im ersten Mo ment wollte er voller Panik um sich schlagen, es blieb jedoch bei ganz schwachen Armbewegungen, die von dem geschuppten Wesen schließlich ganz erstickt wurden. Einer der beiden Meermänner trat nun auf Metate zu und stülpte ihm etwas über den Kopf, was entfernt an eine riesige Muschel erin nerte. Dunkelheit umgab den alten Mann und er begriff erst zu spät, was dann mit ihm geschah. Die beiden Wesen packten ihn an den Ar 76
men, zerrten ihn zum Rand der Brücke und sprangen zusammen mit ihm hinunter in die Fluten. Metates Herz raste wie wild, als er das Wasser über seinem Haupt zusammenschlagen fühlte und bemerkte, wie man ihn immer weiter nach unten zog. Er öffnete automatisch den Mund - und war erstaunt, als er plötzlich atmen konnte. Metate wusste nicht, warum das so war, aber es musste irgendwie mit diesem Gebilde zu tun haben, das man ihm über den Kopf gestülpt hatte. Es hielt eine Luftblase unter sich fest und hinderte gleichzeitig das Wasser daran, einzudringen und ihn zu töten. Was immer sie auch mit mir vorhaben, dachte Metate und redete sich nun selbst Mut zu. Auf jeden Fall wollen sie mich nicht gleich um
bringen. Sonst hätten sie es schon längst tun können.
Das nahm den Druck und die unsägliche Anspannung, die ihn er griffen hatten. Metate zwang sich dazu, die Finsternis weiterhin zu ertragen, während ihn die seltsamen Wesen an Armen und Beinen gepackt hatten und in die unbekannte Tiefe des Meeres verschleppten. * Mit dem Schwert in der Hand eilte Thorin voran, denn sein Instinkt sagte ihm, dass Metate in großer Not sei. Jesca rannte ihm nach und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Dennoch vergingen quälend lange Augenblicke, bis sie endlich die Stelle erreicht hatten, wo der Alte zurückgeblieben war. »Wo ist er?«, fragte Jesca fassungslos, als sie nirgendwo ein Le benszeichen von Metate erkennen konnte - bis auf den Dolch, der vor ihren Füßen lag und den sie jetzt erst bemerkte. »Er wird doch nicht ins Wasser gestürzt sein?« Die Nadii-Amazone trat bis an den Brücken rand heran und spähte hinunter in die Tiefe. Aber außer den schäu menden Wellen gab es keinerlei Hinweise auf das plötzliche Ver schwinden des alten Mannes. Thorin bückte sich und suchte den steinernen Boden ab. Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis er Reste von bräunlichen Pflanzen fand, in der Nähe einer kleinen Pfütze. Er nahm sie in die Hand und 77
spürte den salzigen Geruch, der von diesem Gewächs ausging. Es war noch feucht vom Wasser, als sei es auf geheimnisvolle Weise gerade erst aus dem Meer gekommen. Und die Pfütze war ein ganz deutlicher Beweis dafür. Er wollte gerade Jesca herbeirufen und sie auf diesen Fund auf merksam machen, als er rein zufällig zur anderen Seite der Brücke blickte. Wie durch eine Fügung des Schicksals teilten sich die Nebel bänke plötzlich und gaben den Blick auf die Wogen frei. Das Wasser schäumte und für Bruchteile von Sekunden zeichneten sich dort die Konturen eines Wesens ab, das Thorin jedoch nicht deutlich erkennen konnte. Er sah noch einmal zur betreffenden Stelle, aber da war wieder al les ruhig. Mit gemischten Gefühlen erhob er sich und stieß einen lau ten Seufzer aus, bevor er zu Jesca ging. »Ich weiß nicht, wie es ge schehen ist, aber ich befürchte, den alten Mann werden wir nicht mehr lebend zu Gesicht bekommen«, murmelte er mit einer Spur von Trauer in der Stimme. »Irgend... etwas muss ihn ins Meer gerissen haben. Vielleicht ein zweiter Krake - was weiß ich? Dort drüben liegen Reste von Seetang und es ist alles feucht und glitschig. Verdammt, warum musste es soweit kommen? Er hätte besser in Mercutta bleiben sollen, dann wäre er jetzt wenigstens noch am Leben!« »Du trägst keine Schuld daran, Thorin«, erwiderte Jesca knapp, ging zu der Stelle, wo sich die Pflanzenreste befanden und warf einen kurzen Blick darauf. »Es war sein eigener Wille und ich denke, er hat gewusst, worauf er sich eingelassen hat. Aber irgendwie kam er mir von Anfang an seltsam vor. Er hatte etwas von einem... Propheten an sich. Als habe er ein ganz genaues Ziel vor Augen.« »Du magst du Recht haben«, pflichtete ihr Thorin bei. »Seltsam, dass mir erst jetzt dieser Gedanke kommt. Aber hast du seine Augen gesehen? Sie waren so... ungewöhnlich blau! Wie die Gletscher des nördlichen Eismeeres und irgendwie erinnern mich diese Augen an etwas. An jemanden, der öfters meine Wege kreuzte. Aber nein, das kann nicht sein - bestimmt bilde ich mir das nur ein.« 78
Er bemerkte Jescas verständnislosen Blick, ging jedoch nicht wei ter darauf ein. Sonst hätte die Flut der Zweifel in seinem Inneren wahrscheinlich überhaupt kein Ende mehr gefunden. »Wenn du darüber irgendwann reden willst - ich höre dir gern zu«, versuchte es Jesca noch einmal. Thorin fluchte leise, als er die glitschigen Seetangreste mit dem linken Fuß von der Brücke wischte. Seine Miene war ein Spiegel seiner inneren Wut. »Warte hier«, sagte er schließlich zu Jesca. »Ich werde mich auf die Suche nach meinem Pferd machen. Hoffentlich kann ich es noch einfangen und...« »Ich komme mit«, unterbrach ihn Jesca, denn bei dem Gedanken, allein in diesen Nebelbänken auszuharren und womöglich ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie der verschwundene Metate, strich ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Thorin nickte und gemeinsam machten sich die beiden auf den Rückweg, folgten der Brücke zurück an die Gestade des einsamen Landes. Zwar erreichten sie jetzt das Ende der Nebelbänke und hatten wieder freie Sicht auf die beiden Brückentürme am Anfang von NI PUUR, aber der Himmel hoch über ihnen war seltsam fahl und gelb lich-grau. Als setze jeden Augenblick ein Wolkenbruch ein. Minuten später fanden sie Thorins Pferd. Das Tier lag am Fuß der Brückenpfeiler mit zerschmetterten Gliedern zwischen den Felsen. Es musste wohl so in Panik geraten sein, dass es den Abgrund am Ende der Brücke zu spät bemerkt hatte. Thorin fluchte, als er mit verkniffe ner Miene auf das tote Tier hinabschaute. Nun hatte auch er sein Pferd verloren und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Weg ins Un gewisse zu Fuß zurückzulegen. Dennoch machte sich der Nordlandwolf an den Abstieg, um we nigstens den Proviant zu bergen, den man ihm im Fischerdorf mitge geben hatte. Schließlich wussten weder er noch Jesca, wie lange die Brücke von NIPUUR war - ohne Lebensmittel und Vorräte würden sie den Marsch kaum schaffen. Jesca blieb oben zwischen den Brückentürmen mit gezogenem Schwert zurück und sah Thorin zu, wie dieser die Proviantbeutel an sich nahm und es vermied, einen Blick in die gebrochenen Augen des 79
Tieres zu werfen, die ihn fast anklagend ansahen! Weitere Minuten vergingen, bis Thorin schließlich wieder oben auf der Brücke angelangt war und er bemerkte die sichtliche Erleichterung bei Jesca. Sicher war die Nadii-Amazone eine tapfere Kriegerin, die keinem Kampf auswich, aber gegen Feinde, die fast unsichtbar agierten und mit tödlicher Genauigkeit zuschlugen, würde es schwer werden. In diesem Moment zerriss die eiserne Fassade der Amazone und gab den Blick frei auf eine Frau, die ihm einen schutzsuchenden Blick zuwarf wenn dieses Gefühl auch nur für wenige Sekunden anhielt. Dann hatte sich der Panzer um sie herum wieder geschlossen und ließ nichts mehr von dem inneren Zwiespalt ihrer Gefühle erkennen. »Gehen wir«, sagte Thorin knapp. »Solange wir noch bei Kräften sind, möchte ich einen großen Teil des Weges hinter mich gebracht haben und zwar möglichst weit weg von der Stelle, wo wir diesem schrecklichen Kraken begegnet sind.« Er blickte dabei kurz Jesca an und erkannte, dass sie ähnlich dachte. Der Nordlandwolf und die Nadii-Amazone setzten nun ihren Weg fort, der schon zu Beginn so manches Hindernis aufgeworfen hatte. Obwohl Thorin versuchte, die Gedanken über Metates plötzliches Ver schwinden in den Hintergrund zu schieben, wollte ihm das einfach nicht gelingen. Immer wieder sah er den alten Mann vor sich, der so fest entschlossen gewesen war, unbedingt mit Thorin zusammenzu treffen. Und das Schicksal hatte leider verhindert, dass Thorin ihn nach den genauen Beweggründen hätte fragen können. Dennoch - die Fragen wurden nicht weniger, sondern sie häuften sich umso mehr, je länger er über diesen geheimnisvollen alten Mann nachdachte und sich erneut im Stillen fragte, warum Metate ihn an jemand anderen erinnerte. Diese Augen... konnte diese Ähnlichkeit denn ein Zufall sein - oder warf dies nur zusätzliche sinnlose Fragen auf? Er wurde unsicher bei diesem Gedanken.
Kapitel 4: Meuterei der Verzweifelten 80
Wieder war ein langer und öder Tag vergangen und die meisten der Gefangenen waren in ihrer eigenen Monotonie und Verzweiflung ge fangen. Nicht so jedoch Kang, dessen Wille immer stärker geworden war, dieser unwürdigen Gefangenschaft ein Ende zu bereiten. Schon seit Stunden brütete er über einem Plan, der immer deutlichere For men annahm, je mehr er sich seine eigene Situation vor Augen hielt. Ich war einmal der Feldherr der Heere des Lichts, sagte er sich im Stil len. Und jetzt ergeht es mir schlimmer als einem Verbrecher. Aber ich
muss mich dagegen wehren, sonst...
Albiron schien nicht ganz so schwach und entkräftet zu sein wie Waalang und Berak. Und auch der untersetzte Mol sah so aus, als würde er sich eine solche Tortur nicht länger gefallen lassen. Der Wunsch, diese unwürdige Gefangenschaft zu beenden, war da - aber was nutzte das? Noch waren sie hier unter Deck angekettet und konn ten sich aus eigener Kraft nicht befreien. Schritte ertönten weiter oben. Augenblicke später wurde die Luke aufgerissen und Kang konnte erkennen, wie ein Mann die Stufen nach unten polterte - und sein Herz schlug einen Takt schneller, als ihm bewusst wurde, dass es diesmal nicht der glatzköpfige Kaal war. Nein, es war ein anderer Mann, der diesmal die Aufgabe übernommen hatte, zu dieser späten Stunde nach den angeketteten Sklaven zu sehen und sich davon zu überzeugen, dass hier unten alles in Ordnung war. Und er war allein! Kang hatte den Mann schon einmal vor einigen Tagen gesehen; er war einer der ersten gewesen, der zusammen mit Kaal die Kontrollen durchgeführt hatte. Aber das war es nicht, was seine eigentliche Auf merksamkeit erregte, nein, es war ein ganz leises und dennoch ir gendwie ermutigendes Geräusch, das an Kangs Ohren drang. Es war das leise Klirren eines Schlüsselbundes, der am Gürtel des Mannes hing, der jetzt die letzten Stufen der Treppe erreichte, dort für einen Moment stehen blieb und seine Blicke in die Runde schweifen ließ.
Jetzt nur nicht bewegen, dachte Kang, während ein Gedanke den anderen jagte. Das ist die Gelegenheit, auf die ich so lange gewartet habe. Jetzt oder nie... 81
Er blieb weiterhin ganz ruhig liegen und beobachtete aus den Au genwinkeln, wie der Mann durch die Reihen der schlafenden Sklaven ging. Bei dem einen oder anderen bückte er sich und griff nach den Ketten, überprüfte deren Halt, bevor er weiterging. Quälend langsam verstrichen die Sekunden und als der Mann ihm den Rücken zuwandte, hob Kang kurz den Kopf und riskierte einen Blick zu seinen vier Mitstreitern. Albiron nickte kurz und auch Waalang, Berak und Mol schienen bereit zu sein. Sie wussten, dass ihnen nur diese einzige Chance blieb. Wenn sie diese jetzt nicht nutzten, würden sie nie etwas an ihrer hoffnungslosen Situation ändern. Und mit die sem Gedanken wollte sich ein geborener Kämpfer wie Kang nicht ab finden! Wieder rührte sich Kang nicht, als der Mann sich jetzt von den hin teren Sklaven abwandte und in seine Richtung kam. Das Tappen der Schritte kam näher, hatte ihn fast schon erreicht. Kang sah hinüber zu Waalang, ohne dass der Wächter das bemerkte. Er schien gar nicht damit zu rechnen, dass einer der Sklaven noch wach war, fühlte sich in seiner Situation völlig sicher. Urplötzlich stieß Waalang sein linkes Bein vor und erwischte den Wächter am Oberschenkel. Der Mann stolperte, geriet ins Taumeln und erhielt nun auch einen Tritt von Albiron, der den Mann weiter nach vorn stieß - direkt auf Kang zu, der schon darauf wartete. Noch während der Wächter völlig überrascht mit den Armen ruderte und sich wahrscheinlich fragte, was denn gerade mit ihm geschah, handel te Kang. Er sprang vor wie ein Tier, das aus dem Hinterhalt auf seine Beute gelauert hat und bekam den Mann zu fassen, riss ihn zu Boden. Die Lippen des Mannes öffneten sich zu einem Hilfeschrei, aber Kang war schneller. Seine rechte Faust zuckte nach vorn und landete einen har ten Hieb am Kopf des Wächters, der den Schmerzensschrei des völlig Überraschten unterband und ihn stattdessen in ein leises Stöhnen verwandelte. Kang schlug noch einmal zu, um ganz sicherzugehen und er hielt erst inne, als ihm bewusst wurde, wie der Körper des Mannes unter 82
ihm zu erschlaffen begann und der Kopf zur Seite fiel. Die Schläge Kangs hatten ihn ins Reich der Träume geschickt. Einige der anderen Sklaven schienen mitbekommen zu haben, dass hier unten etwas vor sich ging. Leises Murmeln erklang unter den Gefangenen. »Seid still, verdammt!«, erklang Kangs befehlsgewohnte Stimme. »Oder wollt ihr, dass die da oben bemerken, was hier gerade vor sich geht?« Während er das sagte, tasteten seine Finger nach dem Schlüssel bund an der Hüfte des Mannes und sein Herz machte einen Freuden sprung, als er ihn zu fassen bekam und schließlich an sich nahm. Es waren einige große, verschieden geformte Schlüssel und Kang brauch te ein paar Minuten, um den richtigen zu finden. Und als dann schließ lich seine Ketten fielen und die Hände frei waren, fühlte er sich wie am Beginn eines neuen Lebens, das das Schicksal noch einmal für ihn be reitgestellt hatte. Alles Weitere geschah jetzt blitzschnell. Kang kroch zu seinen vier Gefährten und befreite auch sie von den Fesseln. Waalang und Albiron übernahmen es, zu den übrigen angeketteten Sklaven zu schleichen und auch ihnen zu helfen, ihre schweren Fesseln abzulegen. »Hört mir alle zu«, raunte Kang dann in die Düsternis des Schiffs bauches hinein. »Es ist eine winzige Chance, die wir haben - aber sie ist so gering, dass wir uns sehr gut überlegen müssen, was wir jetzt tun. Noch haben die da oben nichts davon mitbekommen, was hier gerade geschehen ist. Und genau das ist unser Vorteil. Wir müssen es schaffen, an Waffen zu kommen und die anderen so schnell zu über rumpeln, dass sie uns nicht mehr aufhalten können!« Er hörte ungläubiges Murmeln von den meisten Mitgefangenen. Aber es war ausgerechnet der gepeinigte Sörndaak, der nun einen Schritt nach vorn trat und mit seinen Worten dafür sorgte, dass die Sklaven wieder Mut bekamen. »Ihr wisst alle, welches Los uns in Pernath erwartet«, sagte er mit fast flüsternder Stimme. »Wollt ihr wirklich in den Höhlen der HirnkindFogger elend zugrunde gehen? Ich könnte mir einen würdigeren Tod vorstellen, als dieses Schicksal zu erleiden. Gut, es wird zwar nicht 83
einfach sein, den Kapitän und seine Mannschaft zu überwältigen - und vielleicht werden einige von uns bei diesem Versuch sogar sterben. Aber ich denke, das ist es dennoch wert. Lieber einen Tod im Kampf als das, was am Ziel dieser Überfahrt auf uns wartet. Was meint ihr?« Er schaute in die Runde und das Murmeln der Zauderer wurde schwächer. Dann blickte er zu Kang und seinen Getreuen, als erwarte er von ihm, dass er nun die rettende Lösung vorbringe. »Du und deine Männer, ihr seid kampferfahrener als wir«, meinte Sörndaak. »Wir werden tun, was ihr für richtig haltet. Also - wie soll es weitergehen?« »Von den Waffen hängt alles ab«, meinte Kang, während ihm nun bewusst wurde, welche Verantwortung erneut auf seinen Schultern lastete. Aber es war nicht das erste Mal, dass er über das weitere Schicksal von Männern bestimmte - nur ging es diesmal auch um sein eigenes Leben. Und wenn dieser Plan nicht gelang, dann bedeutete dies das Aus für alle! »Ich glaube, ich weiß, wo wir suchen müssen«, ergriff nun ein an derer der Gefangenen das Wort und trat einen Schritt nach vorn. »Als ich zum Rudern gezwungen und an Deck gebracht wurde, sah ich ei nen Raum am vorderen Ende des Ganges. Die Tür stand offen und zwei Männer kamen gerade heraus. Deshalb konnte ich erkennen, dass dies die Waffenkammer war. Ich sah Schwerter und Dolche und...« »Wo genau befindet sich dieser Raum?«, wollte Kang wissen. »Los - nun rede schon. Wir haben nicht viel Zeit.« Der Mann berichtete rasch, was Kang wissen wollte und dann hat te der alte General auch schon seine Entscheidung getroffen. »Meine Gefährten und ich werden uns um die Waffen kümmern«, beschloss er. »Ihr anderen wartet hier, bis wir zurück sind. Verhaltet euch ganz ruhig. Keiner darf bemerken, dass wir frei sind, sonst hat unser Auf stand ein frühes Ende gefunden. Sörndaak, du bist mir dafür verant wortlich, dass nichts schief geht. Denk daran - unser aller Schicksal hängt davon ab. Und kümmere dich darum, dass der Mann da drüben weiterhin ruhig bleibt.« 84
Er sah, wie Sörndaak kurz nickte. Das reichte für Kang aus, um die weiteren Schritte in die Wege zu leiten. Waalang, Berak, Albiron und Mol standen bereit, ihrem General bis in den Tod zu folgen. Ver gessen waren die Qualen und Strapazen der letzten Tage, seit sie in den unerwarteten Hinterhalt geraten und als Sklaven an Bord gekom men waren. Jetzt hatten sie wieder ein Ziel vor Augen und es war schon wie so oft General Kang, der die letzten Kräfte seiner Getreuen mobilisieren und bündeln konnte. Solange sie einen noch so winzigen Funken Hoff nung besaßen, war auch noch nichts verloren. * Sie hatten die Luke hinter sich gelassen und befanden sich nun in ei nem düsteren Gang. Kang blickte sich um und sehnte sich förmlich nach einer Waffe, mit der er sein Leben verteidigen konnte. Mit bloßen Händen würde es unmöglich sein, sich einer Übermacht von wütenden Feinden zu erwehren. Soweit durfte es erst gar nicht kommen. Kang wusste nicht, was sich hinter den anderen beiden Türen be fand, die er nun erblickte - und er wollte es auch gar nicht wissen. Aber er glaubte sich daran zu erinnern, dass sich die Quartiere der Mannschaft weiter im vorderen Teil des Schiffes befanden. Vielleicht befand sich hier der Zugang zu den Laderäumen, wo man die Fracht für Pernath verstaut hatte. Nach wie vor ließ nichts darauf schließen, dass sich auf der anderen Seite Menschen aufhielten. Kein Schnar chen, kein noch so geringer Laut deutete auf so etwas hin und dies stellte Kang vorerst zufrieden. Seine Schritte wurden jetzt schneller (genau wie sein Atem), als er die von dem Sklaven beschriebene Tür erreichte. Rasch stellte er fest, dass sie verschlossen war und über seine Lippen kam ein stummer Fluch. Sofort griff er nach dem Schlüsselbund, fingerte den ersten Schlüssel heraus und von neuem begann eine quälende, zeitraubende Prozedur, bis Kang schließlich die Tür öffnen konnte. Ganz vorsichtig schob er sie nach hinten, um keinen verräterischen Laut zu verursa chen. 85
Der Sklave hatte recht gehabt, wie Kang schon sehr bald feststel len konnte. Bei diesem Raum handelte es sich tatsächlich um die Waf fenkammer. Dutzende von Schwertern, Lanzen und Dolchen waren hier zu finden und der Verdacht lag nahe, dass der Kapitän nicht nur mit den üblichen Waren, sondern auch mit Waffen handelte. Rasch griff Kang nach einem Schwert mit einer langen und schar fen Klinge, prüfte es kurz und nickte dann anerkennend. Er steckte auch noch einen Dolch ein, während seine Männer sich ebenfalls be waffneten. Dann nahm jeder von ihnen noch so viele Schwerter, Lan zen und Dolche mit, wie er tragen konnte und sie verließen rasch wie der die Waffenkammer, nicht ohne sie sorgfältig abzuschließen. Der Zeitpunkt, wo Kang den Mann niedergeschlagen hatte, schien schon Ewigkeiten zurückzuliegen. Kang schickte ein stilles Stoßgebet zu den Göttern des Lichts - falls sie ihn überhaupt noch erhören konn ten - während er mit seinen Getreuen zu den Sklaven zurückeilte. Es grenzte fast an ein Wunder, dass das Ausbleiben des Wächters oben an Deck bis jetzt immer noch nicht aufgefallen war und das war umso merkwürdiger, weil insbesondere dieser Hund Kaal ein solch misstrauischer Bursche war. Kang konnte zu diesem Zeitpunkt natür lich nicht wissen, dass ausgerechnet in dieser Nacht der glatzköpfige Erste Maat tief und traumlos schlief. Fragte sich nur, wie lange das noch der Fall war. Denn spätestens wenn die Sklaven an Deck dran gen, würde es aus und vorbei mit der nächtlichen Ruhe sein... Die Sklaven streckten ihre Hände nach den Dolchen und Schwer tern aus. Dann waren die Waffen aufgeteilt und nun stand ihnen das eigentliche Hindernis bevor: Sie mussten es schaffen, den Kapitän und seine Leute im Schlaf zu überrumpeln. Die Schergen des profitgierigen Rahab durften nicht eine einzige Chance zur Gegenwehr bekommen. »Kommt«, raunte der erfahrene General den Männern zu. »Ver haltet euch ganz ruhig, bis wir an Deck sind. Albiron und Waalang kommen mit mir. Wir werden uns um den Kapitän kümmern. Berak und Mol - ihr haltet zusammen mit den anderen die Mannschaft in Schach. Habt ihr verstanden?« Ein rasches Nicken - damit war alles gesagt und Kang verlor keine unnötige Zeit mehr. An der Spitze der Sklaven verließ er den muffigen 86
Raum tief im Bauch des Schiffes und stieg über die Luke nach oben in den Gang. Nach wie vor blieb alles leer, aber je mehr sie sich dem Aufstieg näherten, der an Deck führte, umso mehr nahmen die Geräu sche von draußen zu. Kang zuckte zusammen, als er plötzlich eine Stimme hörte, gefolgt von einer zweiten. Er war noch zu weit entfernt, um genau verstehen zu können, worum es dabei ging, aber jetzt wurde ihm erschreckend bewusst, dass sich dort oben an Deck noch weitere Männer befanden außer dem Steuermann und einigen anderen Matrosen, die auch wäh rend der Nacht das Schiff auf Kurs halten mussten. Ganz leise stieg er die Treppe zur Luke hinauf, hatte sein Schwert griffbereit in der Hand und riskierte dann einen kurzen Blick hinaus in die Nacht. Jetzt wurden die Stimmen noch deutlicher und Kang konnte erste Gesprächsfetzen hören. »... es wird womöglich eine stürmische Nacht werden. Die Wolken ziehen sich immer mehr zusammen. Morgen bei Tagesanbruch werden wir alle Hände voll zu tun haben.« »Und woher willst du das so genau wissen?«, erkundigte sich eine zweite Stimme. »Ich fahre lange genug zur See, um das zu wissen, du Grün schnabel«, erwiderte die erste Stimme, diesmal allerdings mit einem etwas wütenden Unterton. »Sag du mir nicht, was zu tun und zu las sen ist. Genieß diese Nacht noch einmal - wahrscheinlich wirst du schon morgen Abend so müde in deine Hängematte fallen, dass du gar nichts mehr mitbekommst. Es wird einen Sturm geben, mein Junge und zwar einen ganz schlimmen. Ich habe heute Mittag schon die wei ßen Schaumkronen auf den Wellen gesehen. Das ist ein ganz deutli ches Zeichen dafür, dass das Wetter rasch umschlägt. Wir können von Glück sagen, wenn es nicht schon in dieser Nacht geschieht!« Er lachte bei den nachfolgenden Worten. »Du bist noch nicht lan ge an Bord, Junge - glaube den Worten eines erfahrenen Seemannes. Du wirst dir vor Angst in die Hosen scheißen, wenn es erst einmal so weit ist und...« Plötzlich hielt die Stimme inne und Kang hätte beinahe einen wütenden Fluch ausgestoßen, als er das knarrende Geräusch hinter sich auf der Treppe hörte. Sein Kopf fuhr herum und wenn Bli 87
cke hätten töten können, dann wäre der bleiche Sklave, der das Ge räusch ausgelöst hatte, vor Angst längst gestorben. »Was ist denn?«, meldete sich die jüngere Stimme wieder zu Wort. »Warum erzählst du nicht weiter?« »Ich dachte, ich hätte gerade was gehört«, fuhr die ältere Stimme fort. »Aber ich muss mich wohl getäuscht haben. Na ja, so was kann auch mir mal passieren. Es war wohl nur der Wind, der irgendetwas bewegt hat...« Kang atmete auf, als er diese Worte hörte und er stieg noch wei ter nach oben. Unmittelbar neben der Luke waren einige Seilbündel und Kisten aufgetürmt, die einem Beobachter von weiter drüben den Blick versperrten. Kang dankte den Göttern erneut dafür, machte sich ganz flach und kletterte vollends an Deck. Er blieb still liegen, wagte sich nicht zu rühren und war so angespannt, wie noch selten zuvor in seinem Leben. Aber irgendeine unergründliche Laune des Schicksals schien in dieser Nacht die Entscheidung für Kang und seine Männer getroffen zu haben, denn die Stimmen der beiden Männer wurden jetzt leiser und ihre Schritte entfernten sich. Sie gingen hinüber zum Achterdeck und waren bald gar nicht mehr zu hören. Waalang, Albiron und die anderen folgten jetzt. Sie duckten sich hinter den Kisten und Seilbündeln, während Kang seine Blicke über das Deck schweifen ließ. Er sah das Steuerruder weiter hinten und erkann te auch den Mann, der dort ausharrte und das Schiff weiterhin auf Kurs hielt, solange, bis man ihn irgendwann in dieser Nacht ablösen würde. Der alte General sah noch zwei weitere Männer, die sich am gro ßen Steuersegel zu schaffen machten und an den Tauen zerrten. Sie bekamen nicht mit, was sich hier bei der Luke ereignete. Mit vereinten Kräften brachten sie das schwere Segel in die vorgegebene Richtung, während Kang nun seine Männer aufteilte. Der größte Teil von ihnen eilte weiter nach drüben, zu einer ande ren Luke, die nach Sörndaaks Angaben direkt zu den Mannschafts quartieren führte. Die Unterkunft des Kapitäns befand sich jedoch di rekt unterhalb des Aufbaus, wo der Steuermann das Schiff weiter auf 88
Kurs hielt. Also galt es zunächst, diese Männer auszuschalten, wenn sie unbemerkt bis zu dem Kapitän vordringen wollten. Kang hoffte, dass es keinen großen Kampf geben würde, wenn sie Rahab erst überwältigt hatten und deshalb war es umso wichtiger, dass sie diesen Plan rasch in die Tat umsetzten. Er nickte Albiron und Waalang zu, deutete ihnen mit stummen, aber umso deutlicheren Ges ten an, dass sie sich um die beiden Männer an den Segeln kümmern sollten, während er selbst den Steuermann übernehmen wollte. Und das war schwieriger, da der Mann genau in seine Richtung blickte. Auch wenn es Nacht war, musste Kang einige Meter ohne jegliche De ckung überwinden - genauso wie Waalang und Albiron. Aber erneut erhielten sie Hilfe von einer Seite, mit der sie nicht gerechnet hatten. Ein polterndes Geräusch und Sekunden später er klang das laute Fluchen eines der Männer am Segel, dem das schwere Tau aus den Händen geglitten war. Das Segel machte sich daraufhin für Sekunden selbständig. »Verdammt, könnt ihr noch nicht einmal eure Arbeit gut erledi gen?«, erklang die wütende Stimme des Steuermanns, der sich kurz zu den an den Segeltauen ziehenden Männern umwandte und sie anfuhr: »Ich werde es Kaal gleich morgen früh sagen - dann könnt ihr was erleben!« Diese Drohung reichte offensichtlich aus, um die Männer gewaltig einzuschüchtern. Sie legten sich ins Zeug und zogen im Schweiße ihres Angesichts einen Teil des Segels wieder in die richtige Position. Dieser ganze Vorfall hatte noch nicht einmal eine Minute gedauert - dennoch reichte aber diese verhältnismäßig kurze Zeitspanne für Kang, Albiron und Waalang aus, um das zu tun, was getan werden musste. Während Kang direkt unterhalb des Steuerruders Posten bezog, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie es Albiron und Waalang gelungen war, sich seitlich an dem Steuermann vorbei zu schleichen. Der schien immer noch nichts bemerkt zu haben, denn er konzentrier te sich nach wie vor darauf, das Schiff sicher über die nächtliche See zu bringen. Kang presste sich mit dem Rücken an die hölzerne Wand. Über seinem Haupt ragten die Bretter etwas nach vorn, so dass ihn der 89
Steuermann erst dann bemerken würde, wenn er sich ganz weit vor wagte und direkt hinunterblickte. Aber warum sollte er das tun? Schließlich würde er nie im Leben darauf kommen, dass die Gefange nen sich befreien konnten und einen Aufstand wagten. Drüben bei dem Segel blieb es ruhig. Kang hörte das Fluchen der Männer, die immer noch Schwierigkeiten hatten, die Position beizube halten. Auf einmal ertönte ein dumpfes Geräusch, dann herrschte Stil le. Kang hörte, wie der Steuermann über ihm etwas Unverständliches murmelte. Der alte General hielt sein Schwert griffbereit und schlich zu der Treppe, die mit wenigen Stufen direkt zum Steuerruder führte. Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, dass dem Mann etwas aufgefallen sein musste. Misstrauisch blickte er hinüber zu der Stelle, wo die anderen beiden Seeleute eben noch gearbeitet hatten. Aber seltsamerweise tat sich dort jetzt überhaupt nichts mehr. »He, ihr Faulpelze!«, rief nun der Steuermann. »Was ist - wollt ihr etwa schon schlapp machen? Gleich werde ich euch...« Er kam nicht mehr dazu, das in Worte zu fassen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Wie ein Schatten aus einer anderen Welt kam Kang die Treppe hinauf gerannt, stieß die scharfe Klinge des Schwer tes nach vorn und bohrte sie dem völlig verblüfften Steuermann in den Bauch. Die Augen des Mannes weiteten sich ungläubig und in irrsinnigem Schmerz. Er wankte, öffnete den Mund und wollte um Hilfe rufen, aber ein Schwall Blut verwandelte diesen Schrei in ein gurgelndes Keuchen, das noch nicht einmal Sekunden anhielt. Als Kang sein Schwert aus der tödlichen Wunde riss und den Mann gerade noch auffing, bevor dieser mit einem verräterisch lauten Fall auf die Deckplanken stürzte, steckte kein Leben mehr in ihm. Seine Augen blickten leer und glanzlos hinauf zum wolkenverhangenen nächtlichen Himmel. Kang schenkte dem Toten keine Aufmerksamkeit mehr, sondern wandte sich rasch um, als er eine Bewegung hinten bei den Segeln bemerkte. Seine Anspannung legte sich erst, als er Albiron und Waa lang erkannte, die ihm mit kurzen und eindeutigen Gesten signalisier ten, dass von den anderen Männern keine Gefahr mehr drohe. Das 90
war alles, was Kang wissen wollte - und er war erleichtert darüber, dass sie bis jetzt soviel Glück gehabt hatten. Doch das Schicksal ent scheidet sich nicht ewig für ein und dieselbe Seite - Kang und seine Männer sollten es bald spüren... * Rica erwachte von einem Augenblick zum anderen aus dem tiefen und traumlosen Schlaf. Im ersten Moment fröstelte sie angesichts der nächtlichen Kälte, die durch die halb geöffnete Luke vom Meer her in die kleine Kammer strömte. Dann aber verflogen die letzten Schatten der Müdigkeit und sie fragte sich, warum das so war. Von unbestimmbaren Gefühlen getrieben, erhob sich die rothaari ge Frau von ihrem Lager und schlang das Leinentuch um ihren nack ten Körper. Sie ging zur Luke und blickte hinaus auf das nächtliche Meer. Der Wind war etwas stärker geworden und das ließ hoffen, dass sie nun doch schneller vorankommen würden. Sie sah hinaus zum wei ten Horizont und blickte hinauf zum Himmel. Rica konnte die Sterne nicht sehen, denn das Firmament war von dichten Wolken verborgen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und genoss die frische Meeres brise, die durch ihr Haar wehte. Weiter oben an Deck erklang das ste tige Knarren der Segel, untermalt von den Stimmen der Männer, die Nachtwache hatten und stets dafür sorgten, dass das Schiff auf dem richtigen Kurs war. Eigentlich ein ruhiges, sehr stimmungsvolles Bild, das einen verträumten Menschen zu unbekannten Sehnsüchten verlei ten konnte, wenn da nicht dieses andere Gefühl gewesen wäre, das Ricas Schlaf so abrupt beendet hatte! Sie zuckte zusammen, als sie neben den ihr schon völlig vertrau ten nächtlichen Geräuschen noch etwas anderes hörte - ein Geräusch, das eigentlich nicht hierhin gehörte. Wie das leise Tappen von Fußsoh len und flüsternde Stimmen, die auf jeden Fall vermeiden wollten, dass jemand etwas davon mitbekam. Dennoch hörte Rica diese Geräusche. Wie alle Priesterinnen ihres Ordens war ihr Gehör besonders geschult worden und somit in der Lage, Dinge zu erfassen, die andere erst beim näheren Hinhören wahrnehmen konnten. 91
Unruhe erfasste sie. Auf einmal empfand sie die Abgeschiedenheit ihrer Kabine als bedrückende Enge. Hastig streifte sie die Decke von den Schultern und griff nach ihrer Kleidung, die sie auf einer Anrichte neben dem Bett abgelegt hatte. Schnell zog sie ihr Kleid über und eilte dann zur Tür, öffnete die Verriegelung. Sie musste einfach nach dem Rechten sehen. Sie spürte nämlich, dass dort draußen etwas vor sich ging, was von großer Bedeutung für das Schiff, dessen Mannschaft und erst recht für sie war. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und riskierte einen Blick in den dunklen Gang hinaus. Sie zuckte zusammen, als sie Schritte hörte und dann drei Gestalten erkannte, die in ihren Händen scharfe Schwerter hielten. Ausgerechnet in dem Augenblick, als sie die drei nächtlichen Eindringlinge erspähte, wandte auch der Mann, der die anderen anführte, seinen Kopf herum. Etwas an seiner Gestalt und an seinem Erscheinen kam Rica selt sam bekannt vor und dennoch verstrichen einige Sekunden, bis sie begriffen hatte, wer dieser Mann war. Rica und Kang erkannten sich im selben Moment und selbst der erfahrene General konnte jetzt nicht mehr verhindern, dass die Dinge ihren Lauf nahmen. »Alarm!«, gellte die laute Stimme der rothaarigen Frau auf dem Gang. »Die Sklaven haben sich befreit. Bei den Göttern, wacht auf!« Aus und vorbei war es mit der trügerischen Stille der Nacht. Der feine Instinkt Ricas hatte alles geändert. Sie sah das zornige Aufblitzen in den Augen des alten Kämpfers. Das war auch das Letzte, was sie mitbekam, denn noch im selben Atemzug schlug sie die Tür hastig hinter sich zu und verriegelte sie so schnell sie konnte. Sie wich zurück bis zu ihrem Bett, tastete mit der rechten Hand nach dem scharfen Dolch und hielt ihn dicht vor ihre Brust gepresst, während ein Gedanke den anderen jagte. Draußen machte sich jetzt jemand an der Verriegelung der Tür zu schaffen, schlug mit der Faust dagegen, bis ihn eine andere Stimme daran hinderte. Irgendwo über Deck erklangen polternde Schritte, gefolgt von wildem Kampfeslärm, zornigen Stimmen und lauten Schmerzensschreien. Keine Frage, jetzt war alles in Bewegung geraten und bestimmt war es Rica zu verdanken, dass die Mannschaft der My 92
Bodick buchstäblich im letzten Moment bemerkt hatte, was hier vor
sich ging. Rica hoffte, dass es den Männern des Schiffes gelingen möge, die sen Aufstand der Sklaven noch rechtzeitig unter Kontrolle zu bringen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn es diesem alten Fuchs Kang gelang, die Kontrolle über das Schiff zu bekommen - das würde fatale Folgen für sie persönlich haben. Denn Kang hatte ganz gewiss nicht vergessen, dass sie ihn schon einmal in einer sehr intimen Situation hereingelegt hatte. * Kapitän Rahab schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder schreck te er aus blutigen Alpträumen hoch, die seine Nerven immer stärker in Mitleidenschaft zogen, so dass er sich schließlich einen Beutel mit wür zigem Rotwein griff, den Verschluss öffnete und den Alkohol in die Kehle rinnen ließ. Im Magen breitete sich ein warmes Gefühl aus, aber die Schrecken in seinem Hirn fraßen sich immer tiefer, ließen ihn nicht mehr zur Ruhe kommen.
Es wird mit jeder Nacht schlimmer, je weiter wir Kurs nach Süden nehmen, dachte Rahab und nahm einen weiteren Schluck, um die Sor
gen in seinem Kopf zu vertreiben. Das war jedoch leichter gesagt als getan und Rahab wusste, dass sein Schicksal untrennbar mit den Er eignissen aus der Vergangenheit verbunden war. Irgendwann würde diese Stunde kommen und das Fatale daran war, dass Rahab nicht wusste, wann dieser Moment eintreten würde. Seine Gedanken brachen ab, als er draußen plötzlich dumpfe Schritte vernahm. Sein Kopf fuhr herum und Sekunden später ver nahm er den lauten Schrei aus der Kehle einer Frau, der ihn zusam menzucken ließ - und die Worte hallten in seinem Hirn wider. Die Sklaven brechen aus!, schrie eine warnende Stimme. Ver dammt, wie konnte das nur geschehen? Achtlos warf er den Weinbeu tel aus Ziegenleder beiseite und griff nach seinem Schwert. Noch ehe er es in den Händen hielt, zerbarst die Tür auch schon unter mehreren 93
wuchtig geführten Schlägen. Zusammen mit zwei weiteren Männern trat dieser Hund Kang ein und drohte ihm mit dem Schwert. »Ergib dich, Kapitän!«, sagte er mit einer Stimme zu ihm, die kei nen Widerspruch duldete. Seine Augen funkelten vor Zorn und Rahab ertappte sich für Sekunden dabei, dass er Furcht vor diesem zu allem entschlossenen Mann empfand. Dann aber wich diese Empfindung einem grenzenlosen Hass und wilder Entschlossenheit, diese ungeheu erliche Meuterei nicht durchgehen zu lassen. Vor allen Dingen dann nicht, als er weiter drüben von Deck lauten Kampfeslärm hörte und begriff, dass der Schrei Ricas seine übrigen Männer noch rechtzeitig alarmiert hatte. »Gesindel!«, rief Rahab und riss sein Schwert hoch, drang mit ei nem zornigen Knurren auf Kang ein. Der hatte aber Rahabs Streich kommen sehen und wich dem wuchtig geführten Hieb buchstäblich in letzter Sekunde aus. Er selbst stach nach dem Kapitän, traf ihn aber ebenfalls nicht. »Her zu mir, Männer!«, brüllte Rahab außer sich vor Zorn, als er direkt über sich an Deck laute Stimmen hörte, gefolgt von einem dumpfen, polternden Fall. Er sah, wie Kang bei diesen Lauten zusam menzuckte und für einen winzigen Augenblick zögerte. Diesen ganz kurzen Moment der Schwäche nutzte Rahab aus und drang so unge stüm auf seinen Widersacher ein, dass dieser zurückweichen musste, um von der wirbelnden Klinge nicht doch getroffen zu werden. Das geschah so überraschend, selbst für einen erfahrenen Kämp fer wie Kang, dass Waalang und Albiron diese rasche Bewegung zu spät bemerkten. Kang prallte mit seinen beiden Getreuen zusammen und fluchte laut, als er sah, wie der Kapitän die Tür erreichte und nach draußen zu eilen versuchte. »Ihm nach!«, schrie Kang, der nicht alle seine Chancen hatte nut zen können. »Los, wir müssen ihn aufhalten, sonst...« Rahab hörte nicht, was Kang sonst noch zu sagen hatte - er wollte es auch gar nicht wissen. Stattdessen hastete er aus seiner Kammer, versuchte das Ende der Treppe zu erreichen und dann über die Stufen nach oben zu eilen. Einer von Kangs Männern setzte ihm nach, er 94
reichte ihn noch vor dem alten Kämpfer. Rahab sah, wie der Mann sein Schwert hochriss und ausholte. Da wuchs der Kapitän über sich selbst hinaus. Er wich zur Seite, entging dadurch der gefährlichen Klinge und schaffte es, dem Gegner selbst einen Hieb beizubringen. Rahab war zwar kein geschickter Schwertkämpfer, der jeden Tag aufs Neue um sein Leben kämpfen musste, aber in solch einer bedrohlichen Situation konnte er seinen Mann stehen. Mit dem Mut eines Verzweifelten bohrte sich das Schwert des Ka pitäns in die Brust seines Gegners. Als Rahab die blutige Klinge Sekun den später herausriss, brachen die Augen des Mannes bereits und er fiel tot zurück, blieb neben den Treppenstufen liegen. All dies nahm der Kapitän jedoch fast unterbewusst wahr, denn er suchte sein Heil in der Flucht. Auf einen Kampf Mann gegen Mann mit dem erfahrenen Kang wollte er es nicht ankommen lassen, denn sein Instinkt sagte ihm, dass er dabei nur den Kürzeren ziehen würde. Er rannte die Stufen nach oben, erreichte schließlich das Deck und erkannte sofort, dass hier ein gnadenloser Kampf in vollem Gange war. Ausgerechnet in diesen entscheidenden Minuten hatte es der Mond geschafft, durch die dichten Wolken zu dringen und sein silbernes Licht ergoss sich in eigenartiger Klarheit über das gesamte Schiffsdeck. Seeleute und Sklaven lieferten sich einen erbarmungslosen Kampf und Rahab stürzte sich nun ebenfalls in das Geschehen. Er sah den glatzköpfigen Kaal, dessen Haupt die anderen überragte und der wie ein Berserker kämpfte. Er schrie zornig auf, als ihn eine Klinge an der Schulter streifte, wirbelte herum und streckte den Sklaven, der so toll kühn war und sich in seinen Rücken gewagt hatte, mit einem einzigen scharfen Streich nieder. Kaal wartete nicht, bis der Mann zusammen brach, sondern schlug gleich auf den nächsten Gegner ein, verwunde te ihn mit einem weiteren Hieb und trat mit dem rechten Fuß nach einem dritten Angreifer. Die Mannschaft versuchte alles, um sich nicht überrumpeln zu las sen. Gerade noch rechtzeitig hatte sie der laute Schrei der Frau aus dem Schlaf gerissen. Zwar hatten einige von ihnen angesichts dieses so vehement und entschlossen geführten Angriffes bereits ihr Leben 95
lassen müssen, aber sie wehrten sich mit dem Mut von Verzweifelten und drängten die Sklaven schließlich wieder nach Steuerbord zurück. Schreie des Zorns und der Schmerzen erfüllten die windige Nacht. Die Sklaven kämpften buchstäblich um ihr Leben, aber jetzt rächte sich die Tatsache, dass sie ziemlich entkräftet in Ketten unter Deck hatten ausharren müssen. Die meisten von ihnen wussten mit einem Schwert nicht gut umzugehen. Die Entschlossenheit Kangs hatte sie angetrieben, den Aufstand zu wagen, aber diese Idee wurde ihnen nun zum Verhängnis. Das Blatt wendete sich, nachdem bereits sieben Männer den Tod gefunden hatten und der Angriff der Sklaven geriet immer weiter ins Stocken. Kapitän Rahab bemerkte das und drang umso ungestümer auf diese Hunde ein. Jetzt war es ihm gleichgültig, dass seine lebende Fracht Schaden erleiden würde. Eine ungeheure Genugtuung packte ihn, als er mit einem sicheren Schlag einen weiteren Meuterer außer Gefecht setzte und nieder streckte. Röchelnd sank der Mann auf die Decksplanken, während der Dolch seinen zitternden Fingern entglitt. Rahab hatte ihn schwer ver wundet; er würde keine Bedrohung mehr für ihn und die Mannschaft darstellen. »Zeigt es ihnen!«, erschallte Kaals Stimme über den Kampfeslärm hinweg. »Schlagt sie alle tot - diese verfluchten Hunde! Hier, du Bas tard!« Während diese Worte über seine Lippen kamen, enthauptete Kaal mit einem kräftigen Schlag einen Sklaven. Blut spritzte empor und der kopflose Torso fiel zuckend nach hinten. Rahab kämpfte ebenfalls wie ein Löwe und es wurde immer bedrohlicher für die Sklaven, von denen nur noch eine Handvoll stehend kämpfte, unter ihnen auch Kang und Albiron. Der Ring um die Sklaven zog sich ständig enger zu und Rahabs Mannschaft drang weiter von allen Seiten auf die sich wehrenden Meu terer ein. Schließlich kam es so, wie es kommen musste. Kang be merkte, dass sie alle dem Untergang geweiht waren, wenn er jetzt nicht eine rasche Entscheidung traf. Er sah dabei die bleichen Züge des von Rahab erschlagenen Gefährten Waalang vor sich, als er sich schweren Herzens zu einem Entschluss aufraffte. Er hatte begriffen, 96
dass sein Plan fehlgeschlagen war - und es war sein bitterster Mo ment, das vor sich selbst einzugestehen. »Gebt auf!«, schrie nun Rahab den Meuterern zu. »Werft eure Waffen weg, oder wir töten euch alle und zwar einen nach dem ande ren! Was ist - worauf wartet ihr noch?« Kang blickte sich um. Er sah die ängstlichen Gesichter der Sklaven und die Enttäuschung und Furcht in ihren Mienen. Mit diesen Männern konnte er den Kampf niemals entscheiden und deshalb gab er auf. Voller Bitterkeit erhob er seine Stimme und rief den Sklaven zu, auf zugeben, während er selbst sein Schwert fallen ließ. Die Klinge fiel mit einem dumpfen Poltern auf die Schiffsplanken, blieb nicht weit von der Stelle liegen, wo der schmächtige Sörndaak lag und mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände um den Schaft einer Lanze krampfte, deren Spitze in seinem Bauch steckte. Seine ganze Brust war voller Blut und die Augen ähnelten denen eines ge quälten Tieres, das nur noch den Tod herbeisehnte. Dann fiel sein Kopf zur Seite und er sah nicht mehr, wie nun die bitterste Stunde für Kang, seine Getreuen und den Rest der Sklaven schlug. »Bringt diese Hunde unter Deck und gebt ihnen die Peitsche!«, schrie Rahab voller Siegeslaune, als er sah, wie die Sklaven aufgaben und es zuließen, dass seine Männer die Waffen wieder an sich nah men. »Morgen werden sie zu spüren bekommen, was es heißt, sich gegen den Kapitän dieses Schiffes auflehnen zu wollen. Das wirst du ganz besonders zu spüren bekommen, alter Mann!« Während er das sagte, waren Rahabs dunkle Augen auf Kang ge richtet und der ehemalige General spürte, was ihn schon bald erwarten würde. Er fluchte innerlich. Alles war umsonst gewesen. Waalang war tot und einige der Sklaven ebenfalls. Dieser Aufstand hatte zuviel gekos tet, viel zuviel...
Kapitel 5: Bei den Exekias 97
Es war ein seltsames Gefühl, irgendwo zwischen Schock und Alptraum. Metate spürte, wie sein Körper angesichts des kalten Meerwassers zu zittern begann und dennoch drang es nicht in seinen Mund, wurde auf geheimnisvolle Weise davon abgehalten, ihn zu ersticken. Starke Hände hielten ihn fest gepackt und zogen ihn weiter nach unten. Der alte Mann wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, es erschien ihm jedoch wie eine halbe Ewigkeit. Diese Dunkelheit vor seinen Augen und das Wissen, dass ihn nur die Muschel vor dem Tod schützte, ließen sein Herz rasen und ihm bewusst werden, dass sich alles verändert hatte. Der Tod würde auch ihn nicht verschonen, erst recht nicht, wo er schon ein Alter erreicht hatte, in dem andere längst zu Staub zerfallen waren. Irgendwann jedoch hatte die Reise ins Ungewisse ein Ende. Meta te spürte auf einmal, wie das stetige Rauschen in seinen Ohren nach zulassen begann. Er bekam festen Boden unter die Füße, wurde von seinen Entführern weiter gezogen, bis mit einem Mal kein Wasser mehr um ihn war. Während eine Frage nach der anderen durch sein Hirn jagte, nahm ihm jemand den Muschelhelm vom Kopf. Metate öffnete die Augen und blickte sich verwirrt um. Er befand sich nicht mehr in den Fluten des Meeres, sondern in einer großen Höhle mit bizarren Felsen, die von Schlick und Algen überzogen waren und ein grünliches Leuchten von sich gaben, das für Helligkeit an die sem Ort sorgte. Jetzt konnte er auch zum ersten Mal diese Wesen deutlich sehen. Während er die schuppigen Körper und ihre gorgonenhaften Häupter registrierte, zerbrach er sich im Stillen den Kopf darüber, warum er von solchen Kreaturen bisher überhaupt noch nichts gewusst hatte. Woher stammten diese Wesen und wie lange lebten sie schon auf dem Meeresgrund? Er blickte in große, gelblich schillernde Augen, die nichts Menschli ches an sich hatten, obwohl Körper, Arme und Beine durchaus huma noide Strukturen aufwiesen. Eisiges Schweigen hing in der Höhle, während die drei Wesen Me tate abwartend beobachteten und nicht erkennen ließen, was sie mit ihm vorhatten. 98
Schließlich wurde das Schweigen durchbrochen. Eines der Wesen trat einen Schritt vor und sagte etwas. Zunächst wollte der alte Mann gar nicht glauben, was er hörte, aber dann wurde ihm bewusst, dass dies kein Traum war, den er durchlebte, sondern die Wirklichkeit. Die alte Sprache, dachte Metate. Ich fasse es nicht - sie reden tat
sächlich in der alten Sprache. Dabei ist diese doch schon seit vielen Jahrhunderten vergessen und keiner kennt sie mehr.
»Weshalb... habt ihr mich entführt?«, kam es nun stockend über Metates Lippen. Die ersten Laute waren auch für einen Wissenden wie ihn ungewohnt, denn selbst er hatte diese Sprache schon sehr, sehr lange nicht mehr gesprochen und hatte Mühe, die einzelnen Laute und Silben so zu formen, dass man sie überhaupt verstehen konnte. Metate bemerkte, dass die Wesen zusammenzuckten und sich ge genseitig erstaunte Blicke zuwarfen - sofern man diese Gesten richtig deuten konnte. Wahrscheinlich wunderten sie sich darüber, dass ein Geschöpf vom trockenen Lande diese Sprache beherrschte. »Ich bin... Metate«, fuhr der alte Mann fort. »Ich bin nicht euer Feind - weshalb habt ihr mich an diesen Ort verschleppt?« Er wich den prüfenden Blicken der drei Wesen nicht aus, vielleicht weil er zu spüren begann, dass dies ein entscheidender Moment war. Metate sah, wie die drei Geschöpfe zögerten, bis schließlich eines von ihnen das Wort ergriff und ihn dann in der alten Sprache anredete. Die Stimme war zwar von einem eigenartigen Akzent gefärbt und klang seltsam... unmenschlich, aber dennoch konnte der alte Mann die fol genden Worte klar und deutlich verstehen: »Weshalb verstehst du unsere Sprache? Du bist doch keiner von unserem Volk? Woher kommst du?« »Von weit her«, erwiderte Metate rasch - und in gewissem Sinne stimmte das ja auch... »Ich habe euch nichts getan. Warum habt ihr mich verschleppt?« Zuerst zögerte das Wesen mit der Antwort. Dann aber sprach es weiter: »Du hast uns gesehen und niemand von euch darf das unge straft tun. Wer uns erblickt, der muss sofort schweigen!« »Wie nennt ihr euch?«, fuhr Metate fort, ohne auf die Bemerkung des Wesens direkt einzugehen. »Ich wusste gar nicht, dass...« 99
»Wir nennen uns Exekias«, bekam Metate zur Antwort. »Aber die, zu deren Rasse du gehörst, nennen uns auch die tollwütigen Meer männer. Sie hassen uns und versuchen uns zu vernichten, wo immer wir ihnen begegnen. Es herrscht Feindschaft zwischen unseren Völ kern, Metate. Warum weißt du das nicht?« »Ich war... lange weg«, antwortete der alte Mann mit einer Spur Unsicherheit in der Stimme und machte dabei mit beiden Händen eine hilflos wirkende Geste. »Aber ich will keinen Krieg, bitte glaubt mir das.« »Unser Herrscher wird darüber entscheiden«, erwiderte das We sen vom Volk der Exekias. »Komm mit - und sei dir bewusst, dass zum ersten Mal ein Wesen deiner Rasse unser Reich betritt.« Er deutete an, ihm zu folgen und schritt voran in die weiträumige Höhle. Jenseits dieser korallenüberwucherten Felsen befand sich das Große Salzmeer und es war nicht gerade ein angenehmer Gedanke für Metate, zu wissen, dass seine vertraute Welt zumindest jetzt uner reichbar für ihn war. Die Exekias dagegen schienen sich sowohl im Wasser als auch an der Luft aufhalten zu können und als Metate in diesem Moment noch einmal kurz die gorgonenhaften Gesichter der Exekias musterte, entdeckte er die schmalen Einschnitte. Kiemen, dachte der alte Mann. Es sind Kiemen - sie sind Fische
und Säugetiere zugleich. Was für eine eigenartige Schöpfung hat die Natur hier zustande gebracht! Oder war es gar nicht die Natur?
Metate folgte den drei Exekias tiefer in die Höhle hinein. Er pas sierte eigenartig schillernde Felsen, die von seltsamen Algen und Flechten überzogen waren und ein intensives Licht nach außen hin abgaben. Ein würziger Geruch hing in der Luft, der stark und ange nehm zugleich war und Metate vermutete, dass dies mit den wild wu chernden Gewächsen in Zusammenhang stand, die große Teile der Höhle überzogen. Vielleicht lieferten sie sogar die Luft, um hier überle ben zu können. Quälend lange verstrich die Zeit, bis sich die Höhle schließlich zu einem gewaltigen Felsendom erweiterte. Mittlerweile waren immer mehr Exekias aufgetaucht, die die Ankunft Metates bemerkt hatten. Der alte Mann sah die erstaunten und auch teilweise sehr gehässigen 100
Blicke der Wesen und ahnte, dass sein Schicksal nach wie vor auf Mes sers Schneide stand. Er spürte den unversöhnlichen Hass der Meeres geschöpfe fast körperlich und begann zu begreifen, was das zu bedeu ten hatte. Es war ein gespenstisches Bild, das sich Metates Blicken darbot und alles ging so völlig lautlos vonstatten. Das einzige, was er zu hö ren glaubte, war das leise Tappen seiner eigenen Füße auf dem Stein boden der Höhle. Die Exekias dagegen bewegten sich absolut lautlos hier und da ein leises Huschen, wenn sich ein weiterer Angehöriger dieses Volkes in der Höhle zeigte. Aber jedes Mal dann, wenn Metates Blick sich etwas länger auf die betreffende Stelle richtete, waren die gorgonenhaften Wesen schon wieder verschwunden. Dennoch spürte Metate ihre Anwesenheit - und vor allem die Blicke... Augenblicke später sah er einen Exekias, dessen Haupt für einen normalen Sterblichen besonders Furcht einflößend erscheinen mochte. Sein schuppiges Gesicht wurde von Tentakeln umrahmt, die sich un aufhörlich bewegten. Der mächtige Körper wurde von einer lederarti gen Haut umschlossen und in seiner rechten Hand hielt der Exekias einen langen Speer mit einer scharfen Spitze, die genau auf Metates Brust gerichtet war. Kein Zweifel, das war der Herrscher dieses selt samen Volkes, denn die anderen Wesen verneigten sich jetzt kurz vor ihm, bevor einer von ihnen herüberkam und mit leisen Worten zu ihm sprach. Der Herrscher blickte überrascht drein, sah kurz Metate an und richtete dann direkt das Wort an ihn. »Man sagt mir, dass du unsere Sprache sprichst - das ist ungewöhnlich für einen deines Volkes«, sag te der Herrscher. »Wer bist du?« »Mein Name ist Metate«, sagte er und betonte erneut seine fried liche Absicht vor dem Herrscher dieses Volkes. »Ich hasse euch nicht, aber einige deines Volkes scheinen mich zu hassen. Was habe ich ih nen getan?« »Deine Frage spricht von Unkenntnis, Metate«, erwiderte der Herrscher. »Du scheinst wirklich nichts zu wissen. Ich wundere mich darüber, denn dein Blick sagt mir, dass du die Wahrheit sprichst. Ich bin Hexos, der Herrscher über diese Meereswelt. Wir sind nicht mehr 101
viele, Metate. Im Lauf der vielen Jahre musste unser Volk lernen, dass es kaum einen sicheren Ort für uns gibt, wenn Leute deiner Rasse in der Nähe sind. Sie jagen uns wie Tiere und wahrscheinlich sind wir das in ihren Augen auch. Du bist der erste, der unsere Sprache spricht und dem wir uns verständlich machen können. Wo hast du sie gelernt?« »Es ist... lange her«, murmelte Metate rasch, während er hastig überlegte. »Ich muss mich erst wieder daran gewöhnen, dass...« Er brach ab und schüttelte kurz den Kopf, als er sich wieder ins Gedächt nis rief, was geschehen war, bevor ihn die Exekias von der Steinbrücke hinunter in die Tiefe gezogen hatten. Der Herrscher der Meereswesen beobachtete Metate dabei und lä chelte kurz. Es schien, als könne er sich in die Gedanken des alten Mannes hineinversetzen. »Deine Gefährten leben noch«, klärte er ihn dann auf. »Sie haben es geschafft, den gewaltigen Tynnis-Kraken zu besiegen. Es war eine mutige Tat - sie haben dabei ihr Leben riskiert. Andere meines Volkes haben bei dieser Jagd auch schon ihr Leben lassen müssen. Deshalb zogen wir uns an einen sicheren Ort zurück, als wir das Ungeheuer entdeckten. Es gibt nicht mehr viele meines Volkes, Metate - und ich will nicht, dass noch weitere unnötig sterben!« »Deshalb hättet ihr mich nicht entführen müssen, Hexos«, ergriff Metate wieder das Wort. »Es sind nicht alle Menschen vom Hass er füllt, die auf dem Lande leben. Ihr müsst sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben; vielleicht ist es an der Zeit, dass euch jemand gege nübersteht, der anders denkt. Meine beiden Gefährten würden dir das gleiche sagen, wenn sie jetzt hier wären.« »Niemand hat es bisher überlebt, wenn er uns entdeckt hat, Meta te«, antwortete Hexos und gab den drei anderen Wesen ein kurzes Zeichen, ihn und den alten Mann allein zu lassen. Der Herrscher der Exekias wartete ab, bis sie sich völlig in den Hintergrund der Höhle zurückgezogen hatten und sprach dann erst weiter. »In deinen Augen erkenne ich etwas... Fremdes, Metate. Etwas, das mich verunsichert. Bist du wirklich nur ein Gewöhnlicher deines Volkes?« »Vielleicht ist es die Weisheit meines Alters, Hexos, die dich diese Dinge erkennen lässt«, erwiderte Metate und hielt dem prüfenden 102
Blick des Herrschers nach wie vor stand. »Ich weiß nicht viel über dich und dein Volk, aber es ist nicht die Zeit, sich gegenseitig bis aufs Blut zu bekämpfen. Diese Welt dort draußen - sie hat ganz andere Dinge erleiden müssen.« »Redest du von der Schwärze?«, erkundigte sich Hexos und be merkte, wie es in Metates Augen kurz aufblitzte. »Wir wissen nicht, was das zu bedeuten hat, aber wir bemerken schon seit einiger Zeit, dass sich der Horizont jenseits der Nebelbänke... zu verändern be ginnt.« Metate zuckte zusammen und seine asketisch wirkenden Züge er schienen dem Herrscher der Exekias jetzt eine Spur blasser. Für einen Moment wankte der alte Mann, hatte sich dann aber wieder in der Gewalt. Dennoch ballte er die rechte Faust und das war ein deutlicher Hinweis auf seine innere Erregung. »Ich wusste es«, murmelte Metate fast geistesabwesend. »Aber ich ahnte nicht, dass es schon so schnell wieder beginnt. Es muss ver hindert werden, bevor es...« Er brach ab, suchte verzweifelt nach den passenden Worten. »Ich fürchte, ich kann dir nicht alles erklären, He xos, aber es ist von großer Bedeutung, dass ihr mich so rasch wie möglich wieder zu meinen beiden Gefährten zurückbringt. Sie müssen davon erfahren, denn nur so ist es möglich, das Unheil...« »Du sprichst in Rätseln, Metate«, unterbrach ihn der Herrscher des Meeresvolkes mit einem Abwinken. »Ich bin noch nicht sicher, was ich von dir halten soll. Du bist so ganz... anders als die Leute deines Volkes. Ich verstehe nicht alles, was du gesagt hast, aber wenn es wirklich bedeutet, dass auch unserem Volk eine Gefahr droht, müssen wir handeln und es zu verhindern versuchen.« In diesem Moment erklangen erregte Stimmen. Hexos blickte zor nig drein, weil einer seiner Untergebenen ihn ausgerechnet jetzt stör te. Aber dann glättete sich seine Miene wieder, als der Exekias sich vor ihm verneigte und mit hastigen Sätzen berichtete, was die Späher draußen auf offener See entdeckt hatten. Die Worte kamen so rasch über die Lippen des schuppigen We sens, dass Metate nicht alles verstand, er erkannte jedoch das trium 103
phierende Aufleuchten in Hexos' Augen und begriff, dass gerade etwas Wichtiges geschah. »Er hat seinen Hass also immer noch nicht aufgegeben...«, mur melte Hexos. »Also wird ihn dieser Hass jetzt in den Tod reißen. Ruft die Krieger zusammen!«, befahl er dann den anderen im Felsendom versammelten Exekias. »Es muss ein Ende haben - und zwar jetzt!« Während die Krieger sich hastig entfernten, um die Befehle ihres Herrschers auszuführen, sah Hexos Metate an und bemerkte dessen verständnislosen Blick. »Du sprichst von Frieden, Metate«, setzte er dann zu einer Erklä rung an. »Aber es gibt noch genügend andere deines Volkes, die Hass predigen und ihn mit jedem Tag aufs neue schüren. Einer unserer größten Feinde nähert sich unserem Reich und diesmal wird er uns nicht mehr entkommen. Sieh mich nicht so erstaunt an, Metate, denn das Blut meines Volkes schreit nach Rache!« Hexos sah, dass Metate immer noch nicht wusste, was das genau zu bedeuten hatte. Aber jetzt blieb keine Zeit mehr für lange und aus schweifende Erklärungen. »Wenn du Zeuge dessen werden willst, wie heute zu Ende geht, was vor vielen Jahren seinen Anfang genommen hat - dann schließ dich uns an, Metate«, sagte der Herrscher der Mee reswesen zu ihm. »Vor dem Wasser brauchst du dich nicht zu fürch ten. Wie du weißt, gibt es Wege und Mittel, um auch dich im Meer überleben zu lassen. Was ist - willst du?« »Ja«, nickte Metate sofort. * Die Krieger der Exekias hatten sich in Windeseile versammelt. An scheinend waren sie darauf eingestellt, von einem Augenblick zum anderen alles stehen und liegen zu lassen und sich auf einen gefährli chen Kampf vorzubereiten. Ihr Leben schien aus stetiger Gefahr und dem nackten Willen zum Überleben zu bestehen. Es war ein faszinierendes und zugleich abstoßendes Bild, das sich jetzt Metates Blicken bot. Während Hexos seine Waffen gürtete und einige kurze Befehle gab, hatten zwei Krieger auch schon eine Muschel 104
gebracht, die für Metate bestimmt war. Diese hier war allerdings weit aus größer und besaß den halben Umfang von Metates Körper. Auf diese Weise würde er sich wenigstens nicht mehr so beengt vorkom men, wie es beim ersten Mal der Fall gewesen war. Frauen und Kinder der Exekias sah Metate immer noch nicht. Die Schwachen und Alten dieses Volkes schienen sich permanent verbor gen zu halten, wohl aus Angst vor unerwarteten Gefahren. Metate wusste, dass ihm keine Zeit mehr blieb, um jetzt darüber zu philoso phieren, auf welchen Eckpfeilern der Macht das Reich des Exekias ü berhaupt errichtet worden war. Stattdessen ließ er mit sich geschehen, dass zwei Krieger die graue Muschel emporhoben und langsam über Metate senkten. »Halte dich an den Vorsprüngen im Inneren fest!«, hörte der alte Mann die Stimme eines der beiden Krieger, die im Inneren der Muschel seltsam verzerrt klang. Und zu seinem großen Erstaunen entdeckte er einen unterarmlangen Riss in der Muschelwandung, der mit einer selt sam klaren Flüssigkeit überzogen worden war, die sich jetzt in eine harte Masse verwandelt hatte. Es ist wie ein Fenster aus Glas, dachte der alte Mann. Ich kann ei
niges sehen und erkennen - aber wird die Muschel dem Druck des Meeres standhalten? Für einen winzigen Moment verspürte er Zweifel,
als ihn die beiden Krieger in Richtung des Höhlenausganges dirigier ten. Zumal er jetzt zum ersten Mal erkennen konnte, auf welchem Weg er in dieses Höhlensystem gekommen war. Seine Blicke richteten sich auf den glatten Wasserspiegel und er sah, wie die ersten der Krieger in den Fluten versanken und nach un ten tauchten. Hexos blickte nur kurz zu ihm hinüber und schloss sich dann seinen Kriegern an. Aber nicht bevor er den letzten beiden Exe kias noch einmal ein eindeutiges Zeichen gab, sich um Metate zu kümmern. Nun war auch der Moment für ihn gekommen. Mit Hilfe der beiden Krieger watete er in das grünliche Wasser und spürte sofort wieder die Kälte auf seiner Haut. Als die Fluten über sei nem Haupt zusammenschlugen, atmete er im ersten Moment etwas heftiger und stöhnte leise, aber dann begriff er auch schon, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte. Wie schon beim ersten Mal verhin 105
derte auch diese Muschel, dass Wasser durch die Öffnungen drang und ihn erstickte. Nach wie vor atmete er frische, würzig riechende Luft. An Land und in dem gewaltigen Felsendom mochten die Bewe gungen der gorgonenähnlichen Exekias vielleicht plump und schwerfäl lig gewirkt haben, hier im Meer war das ganz anders. Mit geschmeidi gen Bewegungen stießen sich die bewaffneten Krieger nach vorn, entwickelten dabei eine fast grazil anmutende Schwimmtechnik, die sie rasch vorankommen ließ. Auch Metate lernte allmählich, sich in seiner neuen und so fremd artigen Umgebung zurechtzufinden. Natürlich benötigte er noch die Hilfe der Exekias, aber im Gegensatz zum ersten Mal benutzte er seine Beine, trat Wasser und erreichte dadurch ein gewisses Vorwärtskom men. Dennoch hätte er nie mit den Meeresbewohnern gleichziehen können, wenn die von Hexos abgestellten Krieger sich nicht um ihn gekümmert hätten. Sie schwammen zu beiden Seiten der Muschel, hatten das Korallengebilde fest gepackt und zogen es so rasch mit sich, als stelle dieses Gewicht überhaupt keine Last für sie dar. Auch wenn die Umgebung für Metate völlig fremd war, so emp fand er die eigenartige Ruhe und Stille der Meerestiefe als faszinie rend. Durch die klare Fensteröffnung der Muschel sah er ganze Fisch schwärme an sich vorbeiziehen, die plötzlich hinter Korallenriffen auf tauchten und wenig später hinter anderen flechtenbewachsenen Riffen genauso rasch wieder verschwanden. Hier unten war eine andere und vielleicht friedlichere, Welt, die die Exekias mit allen Mitteln gegen den Feind vom Lande verteidigen wollten. Und genau dieser permanente Kampf schien sich nun einem lang herbeigesehnten Höhepunkt zu nä hern - er stellte das Ende einer sehr alten Fehde dar. Wie viel Zeit vergangen war, seit Metate die Höhlenzuflucht ver lassen hatte und sich nun inmitten der Exekias-Krieger einem unbe kannten Ziel näherte, wusste der alte Mann nicht. Er bemerkte aber, wie Hexos sich langsam der blauen Wasseroberfläche näherte, die weit über ihren Köpfen schimmerte und das Licht der Sonne auf eigenartige Weise reflektierte. Metate schloss unwillkürlich die Augen, weil er sich 106
noch nicht wieder an die gleißende Helligkeit von draußen gewöhnt hatte. Etwas zog nun auch ihn nach oben und er fühlte sich von einem Sog gepackt, den er noch unterstützte, da er seine Füße bewegte. Die Muschel trieb weiter der Wasseroberfläche entgegen und zurück blieb das Korallenreich, dessen Farben der alte Mann noch niemals so inten siv empfunden hatte wie in diesen Minuten. Wellen schlugen hoch empor, als die Muschel das Wasser durch stieß und den Blick auf das Meer freigab. Die grelle Sonne ließ sich jedoch nicht mehr lange blicken, denn nur wenige Minuten nach dem Auftauchen der Exekias und ihres menschlichen Begleiters verzog sie sich wieder hinter dichten Wolken. Das Wasser wurde vom Wind im mer wieder hin- und herbewegt und als sich Metate mühsam drehte, erkannte er zu seinem großen Schrecken, dass die Küste des Landes seinen Blicken entschwunden war. Soweit er auch schaute - er sah nichts als schäumende und tanzende Wellen. Aber dann bemerkte auch er den dunklen Fleck am Horizont, der rasch größer wurde und immer konkretere Formen annahm. Ein Schiff, schoss es ihm durch den Kopf und einige Sekunden lang sehnte er sich nach festen, sicheren Planken unter seinen Füßen. Jedoch wurde ihm dann bewusst, dass gerade dieses Schiff ihm keine Sicherheit bieten würde, denn die Menschen an Bord ahnten noch nichts von der Ge fahr, die hier schon auf sie lauerte und nur noch auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um zuschlagen zu können. Zwischenzeitlich waren einige der Wasserwesen jedoch mit ganz anderen Dingen zugange, mit Dingen, von denen Metate im ersten Moment überhaupt nichts mitbekam. Er hatte zwar gesehen, dass vier der Krieger sich von dem Trupp schon vor einiger Zeit getrennt hatten, aber er wusste nicht, warum das so war. Vielleicht hatte Hexos auch entschieden, das Schiff von zwei Seiten anzugreifen. Für einen winzigen Moment ertappte sich der alte Mann bei dem Gedanken, dass sich drüben an Bord dieses Schiffes auch unschuldige Menschen befinden mochten, die nichts mit dem Rachefeldzug der Exekias zu tun hatten. Hexos' Hass und der seines Volkes konzentrier 107
te sich einzig und allein auf einen bestimmten Mann und seinetwegen mussten jetzt wahrscheinlich auch alle anderen an Bord sterben. Aber er konnte nichts tun - die Dinge würden einfach ihren Lauf nehmen und er würde ein unbeteiligter Beobachter sein. Eigentlich ein Gefühl, das ihm sehr vertraut sein musste - und dennoch empfand dies Metate völlig anders als früher. Er spürte, wie die Wellen weiter drüben ziemlich stark in Bewe gung gerieten. Der Wind blies jetzt etwas heftiger und ganz weit ent fernt am Horizont grollte der Donner zwischen den dichten grauen Wolken. War dies ein Zeichen? Ein finsteres Szenario, das den Auftakt zu einem furchtbaren Drama darstellte? Plötzlich gewahrte Metate einen plumpen Körper zwischen den Wellenbergen, den er zuerst nicht klar erkennen konnte. Dann aber zuckte er zusammen, als er die riesenhafte Gestalt dieses Wesens er blickte. Es war auch ein Exekias - aber mehr als doppelt so groß wie die übrigen seines Volkes und sein Gorgonenhaupt hatte einen rötli chen Schimmer, der an die flackernden Flammen eines Feuers erinner te. Metate wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, er begriff nur, dass ihm Hexos nicht alles gesagt hatte. Jetzt ahnte er auch, warum das so war. Dieses gigantische Wesen - es stellte eine vollendete Waf fe gegen das Schiff und seine Besatzung dar. Mit seinen Riesenkräften würde es eine ernsthafte Gefahr bedeuten. Metate sah, wie die vier Krieger hinüber zu ihm deuteten und mit heftigen Gesten ihrem riesenhaften Gefährten zeigten, dass dieser Mensch dort nicht zu ihren Feinden zählte. Aber selbst durch das glas ähnliche Fenster der Muschel hindurch glaubte Metate einen unver söhnlichen Hass in den Augen des Giganten zu erkennen. Einen Hass, der fast so alt war wie die Welt... Dann erlosch der Blickkontakt und der große Exekias folgte seinen übrigen Gefährten. Auch er hatte nun längst das Schiff am Horizont erblickt und schwamm mit schnellen Bewegungen darauf zu. Es be durfte keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, welche Kräfte dieses Wesen erst entwickeln würde, wenn es in unmittelbare Nähe 108
des Schiffes gelangt war. Die Menschen an Bord waren schon dem Untergang geweiht - sie wussten es nur noch nicht. Warum kann Hass so sehr eskalieren?, dachte Metate in einem Anfall von Trauer. Alle Geschöpfe dieser Welt hätten sich besser verei
nen sollen - dann hätten die Mächte des Lichts wahrscheinlich gesiegt und die Bestien der Dunkelheit für alle Zeiten vertrieben. Stattdessen zerfleischen sie sich gegenseitig. Philosophieren über die Vergangenheit war eine Sache - die Wirk lichkeit ließ sich jedoch nicht mehr aufhalten. So nahm das Schicksal nun seinen Lauf und selbst ein Mann wie Metate würde dem nichts entgegenhalten können. Obgleich das früher einmal ganz anders ge wesen war!
Zwischenspiel II: Ein Sturm zieht auf Gerinyas Blick war nur schwer zu deuten, als sie ihre grünen Augen auf Kara Artismar richtete - er war eine Mischung aus verhaltener Neugier und Tadel, während sie den Worten ihrer Ordensschwester lauschte und sie auch bei ihrer Erzählung nicht unterbrach. »Ich wuss te es von Anfang an«, murmelte Gerinya dann gedankenverloren. »Es war keine gute Idee, dass du SchaMasch vor einigen Jahren verlassen hast, um der Schwärze an einem anderen Ort zu dienen. Wir hätten dich damals nicht gehen lassen sollen - ganz sicher wäre das Unglück dann gar nicht geschehen. Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet, dass ein Sternenstein zerstört wurde? Das Erwachen der Schwärze wird schwieriger werden, vielleicht sogar ganz unmöglich...« Sie war jetzt so unruhig, dass sie sich seufzend erhob und hinüber zu der schmalen Luke ging, die diesen Raum unter Deck erhellte. Für einen kurzen Moment blickte sie hinaus auf die offene See und erkann te die schäumenden Wellen, die vom Wind hin- und herbewegt wur den. Der Horizont war grau und wolkenverhangen und es sah ganz danach aus, als würde das Wetter rasch umschlagen. »Was willst du damit sagen?«, riss Kara Artismars Stimme ihre Ordensschwester aus ihren vielschichtigen Gedanken. »Es kann doch 109
nicht sein, dass durch das Fehlen eines einzigen Sternensteins das Ganze gefährdet ist! Unterschätzt du vielleicht die Macht, die diesen Artefakten innewohnt? Als ich in der Stadt der verlorenen Seelen den Prozess in die Wege leitete, erkannte ich den Schattenabdruck der dunklen Mächte - es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie sich klar und deutlich manifestiert hätten. Wenn dieser Hund Tho rin nicht dazwischengekommen wäre!« Bei dem Gedanken an den blonden Schwertkämpfer erfüllte die rothaarige Priesterin ein unbändiger Hass, der sich in ihren schönen Gesichtszügen widerspiegelte. »Dieses Schwert, von dem du mir berichtet hast, macht mir Sor gen«, ergriff nun Gerinya wieder das Wort und wandte sich vom Fens ter ab, während oben von Deck her das Knarren der Segel zu verneh men war, die sich im stärker werdenden Wind aufbauschten. »Ich ha be niemals zuvor von einem Krieger mit solch einer mächtigen Waffe gehört. Oder haben uns die SKIRR nicht alles gesagt, als sie uns zu Priesterinnen weihten?« Sie winkte ab. »Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren, denn es gibt nicht mehr viele Aufzeichnungen über die Jahre vor dem Dunklen Zeitalter.« »Du hättest es selbst sehen sollen«, sagte Kara Artismar. »Alles war schon so gut vorbereitet: Das Opfer lag bereit und ich hielt den Dolch bereits in der Hand. Ich spürte die heilige Wärme, die meinen gesamten Körper erfasste und ich schmeckte den Hauch der Schwärze, der mich berührte... und dann geschah das Unverhoffte!« Sie fluchte leise, bevor sie fortfuhr: »Dieser Thorin ist gefährlich, Gerinya. Er ist einer, der sich nicht so schnell geschlagen gibt und für seine Begleite rin gilt ähnliches. Nadii-Amazonen sind gute Kämpferinnen. Ich habe es gemerkt, als sie sich auf meine Fährte setzte. Ich konnte buchstäb lich im letzten Augenblick entkommen, sonst wäre es auch für mich zu spät gewesen. Die Stadt der verlorenen Seelen, der heilige Tempel und die anderen Gebäude - all dies existiert nicht mehr.« »Und das alles durch das Eingreifen eines Kriegers, der eine mächtige Waffe besitzt, von der wir gar nichts wissen«, vollendete Gerinya die Gedanken ihrer Ordensschwester. »Und du glaubst also, dass er und diese Nadii-Amazone immer noch auf deiner Fährte sind? 110
Wie sollen sie dir denn jetzt noch folgen können? Es gibt doch gar kei nen Weg, der nach SchaMasch führt - es sei denn, dass...« Sie hielt urplötzlich inne und schien nachzudenken, bevor sie fort fuhr: »Aber das ist doch... unmöglich«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen und strich sich dabei eine Strähne ihrer roten Haarpracht aus der Stirn. »Niemand würde es schaffen, diesen Weg zu bewälti gen, geschweige denn, ihn überhaupt zu entdecken. Nein, ich bin ganz sicher, dass uns von diesem Thorin keine Gefahr mehr droht. Er wird dich nie mehr finden, genauso wenig wie Rica, die wir auch bald wie der sehen werden. Ich hatte bereits Kontakt zu ihr. Das Schiff, auf dem sie sich jetzt befindet, ist nicht mehr weit entfernt. Wenn der Wind weiterhin so günstig steht, werden wir spätestens nach Sonnen aufgang auf sie stoßen.« »Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie rechtzeitig bei mir im heiligen Tempel gewesen wäre«, fügte Kara Artismar hinzu. »Wenn wir unsere geistigen Kräfte miteinander verschmolzen hätten, wäre unter Umständen auch dieser Thorin nicht als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen. Ich verstehe immer noch nicht, warum sie nicht gekommen ist.« »Sie wird es uns sicher sehr bald sagen«, beruhigte Gerinya sie. »Der Kontakt war zwar nur kurz, aber ich glaubte zu verstehen, dass sie ähnliche Sorgen hat wie du. Da gab es wohl auch jemanden, der sie verfolgte und den sie abschütteln musste. Es scheint ihr zumindest zum Teil gelungen zu sein.« »Ob sie dort draußen in der restlichen Welt auf SchaMasch und unser Wirken aufmerksam werden?«, fragte sich Kara Artismar. Wäh rend sie das sagte, begann es in ihren Augen kurz aufzuleuchten. »Dann sollten wir so rasch wie möglich etwas unternehmen und das Erwachen der Schwärze schnellstens in die Wege leiten, Gerinya. Nur so können wir erreichen, dass sich die Welt neu ordnet und die dunk len Mächte wieder die Vorherrschaft erringen. Die SKIRR haben die Voraussetzungen dafür geschaffen - es liegt nun einzig und allein an uns, diese in die Tat umzusetzen.« »Glaubst du, das wüsste ich nicht?«, bekam sie von ihrer Ordens schwester zu hören. »Du warst lange weg von SchaMasch, Kara Artis 111
mar. Ich glaube, du weißt gar nicht, wie die Dinge dort im Laufe der Jahre fortgeschritten sind. SchaMasch hat sich zum Zentrum der Dunk len Macht entwickelt. Es war ein langer Weg bis zu diesem Ziel - du denkst doch nicht wirklich, dass es einem wie diesem Thorin jemals gelingen sollte, uns von unserem Ziel abzuhalten?« Sie lachte leise. »Gut, er hat einen einzigen Sieg errungen, den man hätte verhindern sollen. Aber es nützt nichts, darüber noch Vorwürfe zu äußern. Was geschehen ist, müssen wir akzeptieren. Doch es wird ganz sicher kein zweites Mal passieren, darauf kannst du dich verlassen. Wir werden zu verhindern wissen, dass es irgendjemandem gelingt, SchaMasch zu erreichen!« »Was ist mit NIPUUR?«, wollte Kara Artismar wissen, die von Ge rinyas Worten immer noch nicht so recht überzeugt war. »Was soll schon damit sein?«, stellte Gerinya die Gegenfrage. »Dieses Artefakt reicht zwar ziemlich nahe an unseren Herrschaftsbe reich heran, aber dennoch stellt es keine Gefahr für uns dar. Schließ lich ist der Weg über diese Brücke nicht ganz einfach, erst recht nicht für einen Sterblichen. Nein, ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass wir schon sehr bald unseren Plan verwirklichen können. Sobald Rica zu uns gestoßen ist, werden wir wieder Kurs auf SchaMasch neh men - und dann wird das beginnen, was wir alle herbeigesehnt ha ben...« Während sie das sagte, fuhr ihre Hand unwillkürlich über ihre linke Brust, die sich schon längst zu einem kristallinen Gebilde verhärtet hatte. Ein kurzer Blick in Kara Artismars Augen zeigte Gerinya, dass ihre Ordensschwester einen ähnlichen Prozess hinter sich hatte. Einen Prozess, der irgendwann begonnen hatte und nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte - und auch nicht durfte! »Ich wünschte, die alten Götter würden wieder auferstehen«, sin nierte Kara Artismar und blickte bei diesem Gedanken fast sehnsüchtig drein. »Azach und R'Lyeh - in den Jahren vor dem Dunklen Zeitalter müssen sie schon sehr mächtig gewesen sein - bis die SKIRR kamen und alles an sich rissen.« »Das stimmt«, fügte Gerinya hinzu. »Aber vergiss nicht, dass wir es ausschließlich den SKIRR zu verdanken haben, was mit uns gesche 112
hen ist. Die dunklen Götter selbst hätten das nie getan. Nein, ich den ke, dass es gut war, dass sie die SKIRR zu Hilfe gerufen haben, denn nur durch sie konnte die Schlacht zwischen Licht und Finsternis ent schieden werden. Nur die Kräfte der SKIRR machten das möglich, dar an zweifelst du doch nicht, oder?« »Aber nein«, entrüstete sich ihre Ordensschwester, die sich durch diese Äußerungen leicht gekränkt fühlte und das Gerinya jetzt auch zeigte. »Aber werden die SKIRR jemals wiederkommen? Die Legenden besagen, dass sie verbannt wurden - an einen Ort, von dem es keine Rückkehr mehr gibt.« »Ich bin auch nicht allwissend, Kara. Bedenke bitte, dass wir alle in dieser neuen Welt unsere Aufgabe zu erfüllen haben. Manche müs sen weniger dafür tun, andere wiederum viel mehr. Nur wir können die Welt verändern, nämlich mit Hilfe der Sternensteine. Ich bin fest da von überzeugt, dass dies der Weg ist, den die SKIRR noch offen gehal ten haben, um eines Tages zurückkehren zu können. Sonst hätten sie diese einzigartigen Relikte nicht hier zurückgelassen. Der Zeitpunkt des Erwachens ist nicht mehr fern.« »Das ist ein Teil unseres Glaubens«, meinte Gerinya und erinnerte sich in diesen Sekunden an ihre heilige Weihe durch die SKIRR. Das waren Minuten, die sie für den Rest ihres Lebens ganz sicher nicht vergessen würde. »Ein Glaube, der zukünftig sein Herz auf SchaMasch haben wird - und von hier aus wird diese neue Religion die Welt er obern. Eine Welt, die wir nach unseren Vorstellungen und denen unse rer neuen Herren formen werden. Wir sind die Dienerinnen der Schwärze, Kara Artismar und wir haben ihr Treue geschworen.« Erneut fühlte Kara, wie besessen ihre Ordensschwester von dem Wunsch war, diese Pläne endlich verwirklichen zu können. Und sie wünschte in diesem Moment so sehr, dass sie ihren Optimismus teilen könne. Aber irgendwie blieb da immer noch das schreckliche Bild vor ihrem geistigen Auge, wie das Schwert des blonden Kriegers den Ster nenstein mit einem einzigen, sicher geführten Hieb vernichtet hatte. Als habe dieses Artefakt für das leuchtende Schwert überhaupt keine Bedrohung dargestellt - welche Kräfte mochten in dieser Waffe woh nen? 113
Aber Gerinya jetzt daraufhin noch einmal anzusprechen, wäre wohl ein Fehler gewesen; deshalb beschloss Kara Artismar, ihre eige nen Zweifel lieber für sich zu behalten und entschlossen in die Zukunft zu blicken. Und die Zukunft - das war eine Welt, in der die Schwärze regierte! Mit gnadenloser Härte denjenigen gegenüber, die es wagten, jemals an den Pfeilern dieser Macht zu rütteln. Draußen auf hoher See heulte jetzt der Wind zum ersten Mal wie der stärker auf und die Wellen wurden unruhiger, aber das Schwarze Schiff bahnte sich sicher seinen Weg durch die Fluten des Großen Salzmeeres. Es war nicht das erste Mal, dass dieses Schiff auf einen heranziehenden Sturm traf. Die Besatzung besaß eben einen besonde ren Willen, jeder Gefahr zu trotzen. Was bedeutete da schon ein sol cher Sturm? Orkane und Naturgewalten kamen und gingen - aber die Herrschaft der dunklen Mächte würde wie ein Phönix aus der Asche neu entstehen und wieder erstarken wie früher. Und dann auf immer und ewig...
Kapitel 6: Gedanken zweier Götter Es war still im Wolkenhort, als Loki die große Halle betrat, in der einst Odan auf seinem Kristallthron die Geschicke der Welt geleitet hatte. Seine Schritte klangen merkwürdig hohl und dumpf in dieser weiten Halle, die schon existiert hatte, als die Menschen unten auf der Welt gerade erst das Feuer entdeckt hatten. Viel war geschehen seitdem Dinge, die alles verändert und neu geordnet hatten. Und diesmal war Loki fest entschlossen, dies nicht mehr als Gefangener mitzuerleben, sondern diese Welt - die jetzt seine war - in seinem Sinne zu gestalten. Es würde ein langwieriger und sehr komplizierter Prozess werden, aber Loki hatte Zeit, sehr viel Zeit. Und die Zahl derjenigen, die seinen ein zig wahren Glauben wie eine gute Saat auf den Feldern ausstreuten, würde immer weiter zunehmen. Loki war allein in diesem Moment. Sharazar weilte in den unteren Trakten des Wolkenhortes und hatte sich dorthin schon seit Stunden zurückgezogen. Sie hatte Loki gebeten, dass er sie jetzt nicht stören 114
solle - und diese Bitte hatte seltsam endgültig geklungen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass die dunkle Hexe von Moon'Shon immer noch einen Teil Fremdartigkeit besaß und dieses Fremde hatte seinen Ur sprung in der Welt Kesra - der Welt der sterbenden Sonne. Selbst Loki hatte diese Welt nicht betreten dürfen, obwohl er Sharazar mehrfach darum gebeten hatte. Aber jedes Mal hatte sie ihm erklärt, dass es selbst für einen mächtigen Gott wie ihn besser sei, nicht in diese Be reiche vorzustoßen. Sie sei ja bei ihm und stelle einen wichtigen Pfeiler seiner augenblicklichen Macht dar. Schließlich hatte Loki gelernt, das zu akzeptieren (im Sinne Sharazars - aber das wusste er nicht...). Erneut hefteten sich seine Blicke auf Sternfeuer. Diese mächtige Klinge stellte eines der Rätsel dar, das selbst ein Gott wie Loki nicht hatte lösen können. Warum hatten seine drei Götterbrüder eine solche Waffe einem Sterblichen gegeben? Nur weil es in den Schriften von Ushar so aufgezeichnet war? Nach Lokis Auslegung wäre das gar nicht notwendig gewesen. Es gab doch andere Wege und Mittel, die Macht allmählich auf der Welt der Menschen zu etablieren. Odan, Thunor und Einar hatten sie die Macht des Lichts genannt - und sie war ein Teil des Willens der Götter gewesen. Es war eine geregelte Macht gewesen, die das Leben der Menschen in weiten Teilen dieser Welt bestimmte und dafür sorg te, dass sich nichts veränderte. Aber dieser Irrglaube würde nicht mehr weiter existieren - ein En de all dessen, was seine drei Götterbrüder einmal geschaffen hatten, zeichnete sich bereits ab. Lokis Glaube war anderer Natur. Er ent stammte direkt seinem Geist, der angesichts des langen Exils und der ihm aufgezwungenen Einsamkeit auf ganz markante Weise geformt worden war. Sein Glaube beruhte auf den Pfeilern von Tod und Zerstörung, denn nur so konnte er seinen grenzenlosen Hass ausleben, für den Odan, Einar und auch Thunor verantwortlich waren. Sie hatten ihn in das dunkle Gefängnis gesperrt, hatten ihn abgeschottet von einer Welt, an deren Aufbau er gerne mitgewirkt hätte. Aber alles, was er hatte erleben dürfen, waren Schwärze, Einsamkeit und immerwährende Monotonie. Sie hatten ihn vor dieser Welt schützen wollen, zumin 115
dest hatten sie ihm das gesagt, als sie ihn von hier verbannten und an einen Ort brachten, der für sehr lange Zeit sein weiteres Wirken auf dieser Welt verhindern sollte. Der Einzig Wahre Glaube ist das, zu dem man steht, dachte Loki, während ein angedeutetes Lächeln über seine bleichen, asketisch wir kenden Züge schlich und seine Augen unstet zu flackern begannen. Sie
haben mich damals davon abhalten wollen, meine Träume auszuleben - aber auch sie können es jetzt nicht mehr verhindern, dass...
Ein höhnisches Lachen kam über seine Lippen, dessen Echo von den kristallenen Wänden widerhallte. Oh ja, er wusste um die Bedeu tung der Schriften von Ushar! Er hatte sie sehr genau studiert und deshalb wusste er, was zu tun war, um seine Macht zu festigen. Seit Ewigkeiten stand dort alles aufgezeichnet; man musste eigentlich nur alles lesen und deuten können - und zwar richtig! Natürlich wusste Loki um die Existenz dunkler Mächte, die seit e wigen Zeiten den Gegenpart darstellten. Im Gegensatz zu seinen ver schollenen Götterbrüdern empfand er selbst all dies als ein großes, immer nach allen Seiten offenes Spiel, dessen Winkelzüge man recht zeitig vorhersehen konnte, wenn man sich mit den alten Schriften in tensiv beschäftigte. Ganz sicher hatten das auch Odan, Thunor und Einar getan - dennoch waren sie blind gewesen und hatten nie begrei fen wollen, worum es in Wirklichkeit ging. Aber vielleicht war ihr Geist auch noch nie so weit in Regionen vorgestoßen, die Loki während sei nes Exils erforscht hatte. Zeit genug dafür war ihm ja geblieben und er hatte diese Gefangenschaft zu seinem Vorteil genutzt... Er selbst war noch ein Verbannter gewesen, als die letzte Schlacht zwischen Licht und Finsternis ihren Höhepunkt erlebt hatte, aber selbst an diesem verlorenen Ort hatte er gespürt, wie sich erneut alles Ver änderte. Als ob zwei unsichtbare Spieler neue Regeln erfanden und von nun an alles weitere darauf ausrichteten. Doch sogar ein Gott wie Loki liebte Spiele und Pläne solcher Art und diesmal war er fest entschlossen, sich nicht ein zweites Mal davon abhalten zu lassen. Auf gar keinen Fall, dachte er und strich sich gedankenverloren über das spitze Kinn. Sie wollen die dunklen Mächte wieder auferste 116
hen lassen und ihnen huldigen - aber dies werde ich zu verhindern wissen! Er wusste, dass das Inselreich SchaMasch das neue Zentrum die
ser Macht war und bisher hatte er mehr als ein stiller und neugieriger Beobachter zugesehen, wie sich die Dinge dort allmählich zu entwi ckeln begannen. Obgleich sich die Insel schon seit vielen Jahren vom Rest der bekannten Welt gezielt abgeschottet und dort eine andersar tige Zivilisation errichtet hatte, hatte all dieses finstere Wirken bis jetzt keine unmittelbare Gefahr für ihn dargestellt - doch dies hatte sich mittlerweile auf dramatische Weise verändert und Loki hätte es beina he zu spät bemerkt. Es blieb ihm jedoch immer noch genügend Zeit, um gegenzusteu ern - und dennoch verfluchte er sich dafür, dass selbst ein Schriften kundiger wie er eine einzige Zeile aus den alten Prophezeiungen von Ushar nicht richtig gedeutet hatte. Eine winzige Unachtsamkeit war es gewesen und bereits jetzt waren die Folgen klar und deutlich zu se hen.
Wenn ein Sterblicher eine solch wichtige Rolle spielt, dann werde ich dem nicht im Wege stehen, sinnierte Loki, während er an Thorin
dachte. Erneut sah er das fassungslose Gesicht des Kriegers vor sich, den die Wächter der Brücke von NIPUUR seiner Waffe beraubt hatten. Aber er würde tatsächlich alles dafür tun, um wieder in den Besitz die ser Klinge zu gelangen, selbst wenn es dafür nötig war, einen neuen Eid auf die Mächte des Lichts zu schwören (zumindest glaubte Thorin, dass es sich um die Mächte des Lichts handle...).
Wer ist schon dieser Thorin, dachte der Gott im grünen Gewand. Er erfüllt doch nur eine winzige Rolle in diesem gigantischen Spiel sein Weg ist von Anfang an festgelegt. Er ist nur eine von zahlreichen Spielfiguren, die nun nach den neuen Regeln kämpfen müssen. Aber bevor dieses Spiel in seine entscheidende Phase gerät, werde ich es sein, der erneut andere Regeln aufstellt - Regeln, die von diesem Zeit punkt an als bindend gelten und nicht mehr zu widerrufen sind. Der Gedanke daran, auf seine Weise in die Geschicke der Welt einzugreifen, amüsierte Loki sehr. Erneut malte er sich aus, wie Tod
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und Zerstörung über die Welt kamen und in diesen grauenhaften Emp findungen würde seine Seele förmlich baden! Die Kaste der Anhänger des Einzig Wahren Glaubens war erst der Anfang und bisher hatten sie das Szenario des Grauens an verschiede nen Orten mit großem Erfolg eröffnet. Was sind schon Sternensteine?, dachte Loki in einem Anfall von Hohn und Eitelkeit. Selbst solche Wesen wie die SKIRR haben es nicht
geschafft, auf Dauer hier ihre Macht zu manifestieren. Auch sie sind gescheitert — aber ich werde einen anderen Weg gehen. Einen Weg, der keine Kompromisse kennt. Nur die Zerstörung kann alles ändern und einen neuen Anfang markieren! Wenn SchaMasch und damit auch das Zentrum der dunklen Macht
zerstört war, wäre der Weg endgültig frei für ihn und Sharazar. Und bis es soweit war, würde er auch weiterhin eifrig den Einzig Wahren Glauben unter den Menschen durch seine Boten verbreiten lassen. Bereits jetzt gab es etliche Anhänger, die diesen Glauben in Windeseile weiter ausstreuten. Wie ein Wüstenwind, der zahlreiche Sandkörner vor sich hertrieb und an einem anderen Ort wieder niederfallen ließ.
Das einzige Heil, das sich diesen Menschen noch bietet, ist die Flucht in den Tod, dachte Loki. Und ich werde alles tun, um ihnen diesen Weg als so erstrebenswert wie möglich darzustellen. *
Vor langer Zeit hatte sich in diesem Teil des Wolkenhortes einmal eine weit verzweigte Anlage befunden, in der zahlreiche Wesen ihrer Arbeit nachgegangen waren. Es war ein Ort gewesen, an dem kundige und erfahrene Hände Waffen von unglaublicher Härte geschmiedet hatten. Rauch aus vielen Eisen und Feuern hatte in der Luft gehangen und das stetige Hämmern war als verzerrtes Echo von den Felswänden zurück geworfen worden. Aber all dies gehörte der Vergangenheit an. Die Schmiede der Götter existierte nicht mehr und auch die Zwerge, die hier unten gearbeitet hatten, waren längst verschwunden. Wohin, wusste niemand. 118
Sharazar interessierte die einstige Bedeutung dieses Ortes nicht. Sie hatte ihn nur aufgesucht, weil sie allein sein wollte, denn die Fels wände und die zahlreichen Risse und verworfenen Spalten erinnerten irgendwie an den DUNKLEN DOM auf ihrer Heimatwelt Kesra. Zumin dest an diesem Ort fühlte sich die Hexe von Moon'Shon ihrer Heimat etwas näher, die sie vorerst nicht wieder sehen würde. Der Durchtritt in diese Dimension hatte dies verhindert, aber dennoch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, den Weg zurück zu finden und ihre ster bende Welt zu retten. Eine Welt, die angesichts der erkaltenden Sonne zum Untergang verurteilt war. Es ist ungerecht, dachte Sharazar. Ein solch einzigartiger Ort soll vergehen und diese hässliche Welt hier darf weiter existieren? Erneut spürte sie, wie fremd sie an diesem Ort war. Dieses grelle Licht, das die Geschicke dieser Welt bestimmte - es gefiel ihr nicht. Und selbst nach so vielen Jahren Zwangsaufenthalt fühlte sie sich noch immer als Fremde, als Außenstehende. Die Sehnsucht nach den dunklen Flüssen von Kesra löste jedes Mal einen kaum zu beschreibenden Schmerz in ihr aus. Bisher hatte sie diese Empfindungen geschickt vor Loki verbergen können und das war auch besser so, denn er hätte sowieso nicht ver standen, worum es Sharazar wirklich ging. Der Weg zurück nach Kesra führte nur über Loki und dessen wachsende Macht und Sharazar war bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen. Im Grunde genommen war Loki, der sich hochtrabend als neuen Gott des Lichts bezeichnete und auch in ihr selbst einen Teil seiner zukünftigen Macht sah, ein verblendeter Narr, dessen wahnsinniger Geist immer tiefer in abstruse Regionen vorstieß, die auch Sharazar manchmal nicht erfassen konnte, oder nicht wollte. Er war geblendet vom Wunsch nach Rache und dafür war er bereit, alles zu tun. Selbstverständlich würde ihn Sharazar an diesem Bestreben nicht hindern - im Gegenteil. Sie war fest entschlossen, alles dafür zu tun, um Lokis wirre Pläne schon sehr bald zu realisieren. Die dunkle Hexe von Moon'Shon kannte die Zusammenhänge zwi schen den Dimensionen und auch die Kräfte, die wechselseitig aufein ander einwirkten. Ihr eigenes Volk, das dem Untergang geweiht war 119
und womöglich angesichts dieser langen Zeitspanne ihrer Abwesenheit von Kesra gar nicht mehr existierte - besaß das äonenalte Wissen um Dinge, die vom Schlund der Zeit schon fast verschluckt worden waren. Ihr Volk hatte es gesammelt, aufbewahrt und katalogisiert und eben dieses Wissen würde Sharazar schon sehr bald für sich nutzen. Loki war ein williges Werkzeug in ihren Händen, mehr aber auch nicht. Sollte er ruhig an seine Mächte des Lichts glauben - im Vergleich zu den wirklichen Kräften des Universums waren diese Mächte unge fähr so bedeutend wie ein einzelnes Sandkorn in einer gigantischen Wüste, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt und von der man nicht weiß, wo sie beginnt und wo sie endet. Sharazar wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit sie sich in die ehemalige Schmiede der Götter zurückgezogen hatte. Aber sie fühlte wieder eine Kraft in ihr wachsen, die sie bereit für das machte, was sehr bald auf sie zukommen würde.
Nur einmal die Hände in die dunkelroten Flüsse von Kesra tauchen und in den stumpfen Glanz der erlöschenden Sonne sehen - der Ge
danke war von solch verzehrendem Verlangen, dass es fast wehtat. Dann aber kehrten ihre Sinne wieder in die Wirklichkeit zurück und sie verließ den Ort der Stille, kehrte über eine vielfach gewundene Treppe, die von unzähligen Zwergenhänden in den massiven Fels gehauen worden war, zurück in den kristallenen Wolkenhort. Sie sah Loki, noch bevor er ihr Näher kommen bemerkte. Er stand vor dem Podest mit dem Götterschwert und blickte immer wieder ge dankenverloren auf die Klinge und den mit Juwelen geschmückten Knauf. Dabei murmelte er leise Worte vor sich hin, die Sharazar aus dieser Entfernung nicht verstehen konnte und im Grunde genommen interessierte sie das auch nicht. Es war mitunter nämlich nicht einfach, den Windungen von Lokis verwirrtem Geist zu folgen. Seine Stimmung schlug immer wieder von einem Atemzug zum anderen um. Manchmal war er der perfekte Ty rann, der keinerlei Widerspruch duldete, ein anderes Mal zog sich sein Geist soweit zurück, dass er für Stunden fast hypnotisiert auf eine i maginäre Stelle an der Decke der Kristallhalle blickte - und dann wie derum verfiel er in ein irres Gelächter, dessen Echo schauderhaft von 120
den Wänden widerhallte. All dies war ein Spiegelbild seiner geschun denen und in der Einsamkeit der Gefangenschaft wahnsinnig gewor denen Seele. »Dein Anblick erwärmt mein Herz, meine Schöne«, sagte Loki und drehte sich so plötzlich zu der Hexe von Moon'Shon herum, dass diese zusammenzuckte. »Komm her und teile meinen Triumph mit mir - es läuft alles genau so, wie ich es geplant habe. Tritt näher und sieh es dir an, dann kannst du dich selbst davon überzeugen.« Sharazar wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber sie beschloss, seiner Einladung zu folgen, trat neben ihn und legte ihm die rechte Hand in einer vertrauten und zugleich sehr intimen Geste auf die Schulter. Sie spürte seinen verlangenden Blick und schenkte ihm ein Lächeln, das sein Herz erwärmte. Dann sah sie den Nebel, der sich auf Lokis Handzeichen hin unmittelbar vor dem Podest zu bilden begann und der Blick war frei in die Welt weit unterhalb des Wolkenhortes. Kraft Lokis magischer Sinne konnte Sharazar sehen, wie Thorin und seine Begleiterin mittlerweile auf der steinernen Brücke von NI PUUR unterwegs waren, aber der alte Mann befand sich nicht mehr bei ihnen. »Sein Verlangen, Thorin zu begegnen, wurde ihm zum Verhäng nis«, klärte Loki nun seine Geliebte auf. »Er wurde von den Ungeheu ern des Meeres in die Tiefe gerissen, kurz nachdem er die Brücke be treten hatte. Selbst Thorin und die Amazone konnten ihm nicht mehr helfen, denn sie mussten gegen einen Kraken kämpfen. Es ist amü sant, dies von hier aus zu beobachten und ich finde allmählich Gefallen daran, mit welcher Hartnäckigkeit sich dieser Sterbliche seinen Weg bis ans Ziel bahnt. Ich bin sicher, dass er dieses auch erreichen wird...« »Schließlich hat er einen Eid auf uns beide geschworen«, fügte Sharazar hinzu, während das Bild inmitten der Nebelschleier wieder zu verblassen begann. »Ich glaube, er wird bedenkenlos sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, nur um die dunklen Mächte in Form der Ster nensteine zu vernichten. Ich habe seine Augen gesehen, Loki - obwohl er nur ein Sterblicher ohne jegliche Macht ist, solltest du ihn nicht un terschätzen. Er hat einen sehr starken Willen.« 121
»Was redest du da?«, entfuhr es Loki, dessen Augen erneut in ei nem unheiligen Feuer zu leuchten begannen. »Ich bin ein Gott und unsterblich - was hat einer wie dieser Thorin dem entgegenzusetzen? Seine Rolle in diesem großen Spiel ist festgelegt. Ihm bleibt gar keine andere Möglichkeit, als dem Ruf zu folgen, den er für seine eigene Bestimmung hält. Er erfüllt seine Aufgabe voll und ganz und ich bin sicher, dass es ihm gelingen wird, den Orden der Priesterinnen zu zer stören. Die Macht der Sternensteine wird nicht mehr lange anhalten und wenn sie zerstört sind, bietet sich auch den SKIRR keine Chance mehr, in diese Welt einzudringen. Ich hasse diese spinnenhaften We sen. Sie sollten besser in ihrem eigenen Einflussbereich bleiben - jen seits der Flammenbarriere!« »Meinst du, dass es ausreicht, nur einen Einzelnen gegen die Herrscher von SchaMasch zu schicken?«, wagte Sharazar zu zweifeln. »Es wäre vielleicht von Vorteil gewesen, eine Armee mit Anhängern des Einzig Wahren Glaubens loszuschicken. Sie hätten ebenfalls gegen die Bedrohung von SchaMasch kämpfen können...« Jetzt wurde Sharazar aber schon wieder von Loki mit einem Ab winken unterbrochen. Seine Miene drückte einen spürbaren Unwillen aus, als er die Worte der dunklen Hexe vernahm. »Zweifle niemals an den alten Schriften von Ushar, meine Köni gin«, ermahnte er sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch dulde te. »Dort liegt das Schicksal dieser ganzen Welt verborgen und nur ich vermag diese Schriften richtig zu lesen und zu deuten. Sei unbesorgt, Sharazar, du wirst schon sehr bald den Ruhm und den Glanz meiner Herrschaft zusammen mit mir ernten können.« Er hielt kurz inne und lächelte wissend, als er Sharazar dabei ansah. »Ich will diese Welt sterben sehen und jeden einzelnen Menschen auf ihr. Mein Geist wird frohlocken, wenn ich auf den Schädeln Erschlagener und Gequälter tanze - inmitten verkohlter Ruinen unzähliger Städte und Tempel. Und auf diesen Ruinen werde ich mir meine Welt aufbauen. Ich werde alles neu erschaffen und einem mir nachempfundenen Geschlecht werde ich schon sehr bald neues Leben einhauchen. Leben, das nur meinen Be fehlen folgen wird. Die Jünger des einzig wahren Glaubens stellen die 122
Weichen jetzt und heute mit ihren Taten an vielen Orten der Welt und der Zeitpunkt des Wechsels ist nicht mehr fern, Sharazar.« Obwohl die dunkle Hexe von Moon'Shon die Vorstellungen Lokis für eine Ausgeburt seiner kranken Seele hielt, zeigte sie ihm das nicht. Stattdessen griff sie nach seiner Hand, drückte sie fast zärtlich und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. In Wirklichkeit jedoch beschäftigten sich ihre geheimsten Gedan ken damit, wie sie Lokis grausame Wünsche von einer totalen Zerstö rung dieser Welt am besten für ihre eigenen Pläne nutzen konnte.
Zwischenspiel III: Im Sog der Ewigkeit
Er spürte den Hauch der Ewigkeit, als er sich mit seiner Barke ganz langsam in den Sternenstrom einfädelte. Der Wind des Äthers streifte durch sein helles Haar und das Licht der Myriaden von Sternen, die seinen Kurs kreuzten, boten ein unbeschreibliches Schauspiel, das nur ein Wesen wie der FÄHRMANN genießen konnte. Auch wenn selbst für ihn schon Ewigkeiten vergangen waren, seit die ÄLTEREN ihn als Wächter des Universums beauftragt und ihm die Barke gegeben hatten, so genoss er diesen prächtigen Anblick zahllo ser Galaxien, die im Entstehen und teilweise auch schon wieder im Untergehen begriffen waren, jedes Mal aufs neue. Er hatte unzählige Welten aufblühen und sterben sehen - und mit ihnen auch die Lebe wesen, die darauf wohnten. Was für andere gewöhnliche Sterbliche eine unvorstellbare Katast rophe darstellte, bedeutete für ein Wesen wie ihn nur den Hauch eines Gedankens. Denn auf ihn warteten anderen Aufgaben, die viel tief greifender und umfassender waren, als die Geburt und das Sterben einer einzigen Welt länger als einen Atemzug lang zu beachten. Spä testens in diesem Moment würde er seine Aufmerksamkeit schon wie der ganz anderen Dingen zuwenden und mit seiner Barke zurückkeh ren in den stetig fließenden Strom der hellen Energie, der das Univer sum von Anfang bis Ende erfüllte und es zu dem machte, was es jetzt war. 123
Irgendwo weit jenseits seines Horizontes befand sich die geheim nisvolle Flammenbarriere, die er jetzt geschlossen hatte. Er wusste, dass die Wesen und Entitäten, die in diesem fremden Bereich lebten, niemals wieder einen Zugang in diesen Teil des Universums finden würden. Das Gleichgewicht der Urkräfte musste unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Wo Licht war, gab es zwar auch Schatten, aber keiner triumphierte über den anderen - und so war es auch mit dem Mächten des Lichts und der Finsternis. Vielleicht war es nur ein unergründlicher Zufall, dass die Barke des FÄHRMANNS ausgerechnet jetzt wieder durch den Teil des Universums streifte, wo er vor nicht allzu langer Zeit in die Geschicke einer be stimmten Welt eingegriffen und ihr zukünftiges Schicksal maßgeblich mitbestimmt hatte. Nur für winzige Bruchteile von Sekunden glitten die Gedanken des FÄHRMANNS zurück in diese betreffende Zeit. Er wandte den Kopf, schaute hinüber in den hellen Spiralarm die ser Galaxis und entdeckte sofort diese Welt, die im Vergleich zu zahllo sen anderen noch so jung war wie ein kleines Kind, das den Mutterleib erst vor wenigen Tagen verlassen hatte und in der fremden unbegreif lichen Welt ringsherum zuerst nur Farben und Töne wahrnehmen konnte. Seine feinen und ausgeprägten Sinne streiften die Atmosphäre der Welt und ertasteten etwas, was er zunächst nicht genau ausmachen konnte. Erst als er seine geistigen Kräfte zu bündeln begann, wurde ihm klar, dass in der Zwischenzeit sich die Dinge hier nicht besänftigt hatten. Im Gegenteil! Erneut begannen sich finstere Kräfte an verschiede nen Stellen der Welt zu bilden und hatten bereits auf erschreckende Weise an Einfluss gewonnen. Und was noch schlimmer war - zwei weitere Götter hatten die Bühne dieser Welt betreten, die fest entschlossen waren, alle Macht an sich zu reißen und eine gnadenlose Herrschaft auszuüben! Der FÄHRMANN spürte einen ohnmächtigen Zorn in sich aufstei gen. Diese Frevler hatten es gewagt, erneut in die Geschicke der Welt einzugreifen. Und nicht nur das - obwohl diese Welt eine neue Chance bekommen hatte, herrschte dort nach wie vor Gewalt und Tod. Die 124
Menschen schienen aus der ersten Katastrophe der Götterdämmerung nichts gelernt zu haben - überhaupt nichts. Stattdessen fuhren sie fort, gegenseitig Krieg miteinander zu führen, zu töten, zu rauben und zu plündern. Die Gesetze funktionierten nicht mehr - und das war ge wöhnlich der Moment, den die dunklen Mächte für sich ausnutzen. Auch wenn ihn zunächst ein kurzes Gefühl der Trauer erfüllte, als ihm bewusst wurde, dass er jetzt erneut eingreifen musste, so hielt dieses nicht lange an. Die Menschen auf dieser Welt hatten ihre Chan ce gehabt - aber eine zweite würde es nicht mehr für sie geben...
Kapitel 7: Stunde der Entscheidung Kang, einstiger General und ehemaliger Heerführer des Lichts, den man auch den Wagemutigen, den Tapferen und den Furchtlosen nann te - hatte Angst, schreckliche Angst sogar. Er hatte wirklich alles ge wagt und riskiert, alles auf eine Karte gesetzt (und ein wenig hatte er sogar auf die Unterstützung von Odan, Thunor und Einar gehofft denn schließlich hatte er ja für die Mächte des Lichts gekämpft). Kang konnte jedoch nicht wissen, dass seine Gebete nicht erhört wurden nicht erhört werden konnten. Er war gescheitert, genau wie die anderen Sklaven. Der laute Hil feschrei dieser rothaarigen Hexe Rica hatte alles zunichte gemacht. Deshalb spürte er förmlich die Verbitterung, die ihn von innen wie ein heißes Feuer allmählich zu verzehren begann, während er verzweifelt versuchte, mit gefesselten Händen auf dem schmalen Brett die Balan ce zu halten. Wenn es irgendwann eine ausgleichende Gerechtigkeit gab, dann wünschte sich Kang, dass Rica zur Hölle fuhr! Hinter seinem Rücken johlten die Männer Rahabs voller Hohn und Schadenfreude angesichts Kangs augenblicklicher Hilflosigkeit. Die Meuterei der Sklaven hatte viele Leben gekostet, sowohl unter den Seeleuten der My-Bodick, als auch unter den armen Teufeln, die schon seit vielen Tagen in Ketten unter Deck hatten ausharren müssen. »Für R'Lyeh und Azach - sie erwarten dich schon in ihrem Reich, alter Mann!«, brüllte einer von Rahabs Männern. Dabei pfiff ein Wind 125
hauch durch die Lücke seiner fehlenden Schneidezähne, die ein Opfer von Kangs Schwert geworden waren. Als sich der General daran erin nerte, musste er grimmig lächeln. Er hatte es diesen Hunden gezeigt und bis zuletzt gekämpft - dennoch war alles vergeblich gewesen. Und dieses Wissen schmerzte schlimmer als die Peitschenhiebe auf seinem Rücken, die ihm Kaal voller Genuss verabreicht hatte, bevor man ihn gezwungen hatte, die schwankende Planke zu betreten und hinab in den Abgrund der schäumenden See zu starren. Für einen kurzen Moment schloss Kang resigniert die Augen. Er spürte die Spitze eines Schwertes in seinem Rücken. Kang konnte den Mann zwar nicht sehen, weil er sich nicht umdrehen konnte, aber die Stimme des Mannes war dunkel vor Hass: »Geh nur weiter, alter Mann!«, brüllte er. »Du hast gleich genügend Wasser um dich herum. Verdursten wirst du also ganz gewiss nicht mehr! Mögen die Geister der Toten unter dem Schiffsrumpf in dich fahren, ehe du selbst deine Reise zu Azach ins Reich der Finsternis antrittst!« Die Stimme des Seemanns war mit jedem Wort schriller geworden und er schien genau das auszusprechen, was alle anderen dieser Hun de an Bord dachten. Kapitän Rahab dagegen schwieg und genoss die ses eindrucksvolle Schauspiel der vollkommenen Macht. Und Macht hatte er zweifelsohne - Macht, die sich sogar gegen seine eigenen Leu te richtete, wenn sie nicht gehorchten. Das hatte nämlich der Wächter, der sich von den Sklaven hatte überrumpeln lassen, sehr genau zu spüren bekommen. Kang hatte zusehen müssen, wie Kaal auf Geheiß seines Kapitäns den armen Teu fel vor den Augen der gesamten Mannschaft bis zur Bewusstlosigkeit ausgepeitscht hatte, als Strafe dafür, dass er einen solch verhängnis vollen Fehler begangen hatte. Und selbst dann hatte Kaal noch nicht aufgehört, den bereits Besinnungslosen weiter mit Schlägen und Trit ten zu traktieren; es gab ohnehin niemanden, der ihm Einhalt geboten hätte. Selbst Kapitän Rahab hatte bei dieser grausamen Bestrafung beide Augen zugedrückt, weil er wusste, dass es notwendig war, ein eindeutiges Zeichen seiner Macht an Bord zu setzen. Auf Rahabs Schiff durfte man keine Fehler machen, denn man zahlte dafür einen sehr hohen Preis. Genau wie der Wächter, den Kaal 126
buchstäblich zu Tode gepeitscht hatte. Anschließend hatten sie den blutigen Körper des Sterbenden einfach über Bord geworfen und dann Kang mit seinen Meuterern bestraft. Es sind nicht die Schmerzen, dachte Kang. Es ist diese verdammte
Hilflosigkeit. Sie ist so endgültig und ich weiß, dass ich daran über haupt nichts mehr ändern kann.
Kang stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hörte nicht mehr auf das Johlen der Seeleute, sondern blickte nur noch auf die Wellen des Mee res unter sich. Er sah, wie das Wasser stetig gegen den Schiffsrumpf klatschte. Dann holte er tief Luft und pumpte jedes Gramm Sauerstoff in seine Lungen, denn er würde jedes Quäntchen Luft gleich bitter nötig ha ben... Zuerst hielt er das Rauschen in seinen Ohren für sein in Wallung gebrachtes Blut. Doch als der erwartete Stoß mit dem Schwert nicht kam, atmete er pfeifend aus und riss die Augen wieder auf. Einen kur zen Augenblick erschien es ihm, als gehe vom Schiffsrumpf aus eine Vibration durch das gesamte Deck - direkt unter seinen Füßen. Dieses Vibrieren pflanzte sich durch das Holz der Schiffsplanken auf eine Wei se fort, als gleite etwas Gigantisches träge am Bauch des Schiffes ent lang und reibe sich lustvoll daran. Das muss der Rausch eines Ertrin kenden sein, schoss es Kang durch den Kopf. Wirklichkeit und Phanta
sie verschmelzen. Wenn ich jetzt noch einmal meinen Mund öffne, bin ich Azach näher denn je.
Doch auch wenn er es so lange wie möglich zu verhindern ver suchte, forderte der Körper sein Recht. Kang schnappte schließlich verzweifelt nach Luft, während das monotone Brummen immer lauter wurde. Kleine gischtige Fontänen bildeten sich um das Schiff herum und breiteten sich wie Nebelbänke immer weiter aus. Hinter Kang hatte sich der Seemann, der ihm den Todesstoß ver setzen wollte, ganz zurückgezogen. Unruhe entstand unter der restli chen Schiffsbesatzung. Kaal tauchte jetzt in Kangs Blickfeld auf, aber der glatzköpfige Mann schien nur Augen für das zu haben, was sich unter Kangs Füßen im Wasser abspielte. 127
Ein plötzlicher Stoß ließ Kang fast das Gleichgewicht verlieren. Geistesgegenwärtig versuchte er sich nach hinten fallen zu lassen. Jetzt nur nicht hinunter in diese schäumende Tiefe stürzen, schrieen seine Gedanken. Dennoch konnte er nicht verhindern, was nun ge schah. Ein zweiter Stoß riss auch Kaal nur wenige Schritte neben Kang von den Beinen. Kang selbst schlug hart auf die Bretter des Vordecks und er lachte dabei. Weniger aus Freude, sondern im Rausch seiner angespannten Sinne. Denn das Schicksal hatte für die Männer der MyBodick eine unerwartete Wende bereitgehalten. Der nächste Schlag ließ jetzt das ganze Schiff erzittern. Überall stiegen gischtige Nebelfontänen aus dem Wasser, hüllten das ganze Schiff ein wie in einen dichten, kaum durchschaubaren Dunst. Noch ein Ruck ging durch das Schiff. Kang roch etwas, das er von den La gerfeuern seiner Kindheit kannte. Immer dann, wenn es Fisch gab, der über einer offenen Feuerstelle gebraten wurde. Aber er sah nichts wei ter, er hörte lediglich das Schreien der Seeleute, die jetzt voller Panik über das Deck rannten und nicht wussten, wen sie eigentlich angreifen sollten. Kang war zwar noch etwas benommen von dem harten Aufprall, dennoch glaubte er, wenige Schritte neben sich ein Messer auf den Decksplanken liegen zu sehen. Es lag direkt neben achtlos gestapeltem Segeltuch. Als wieder ein mächtiger Schlag das Schiff schaukelte, hatte Kang Mühe, ruhig zu bleiben. Seine Gedanken kreisten jetzt aus schließlich um die blinkende Klinge. Er konnte einfach nicht anders, er musste die Panik unter den anderen Männern an Deck völlig ignorie ren. Nur das Messer zählte jetzt - selbst wenn das möglicherweise den Todesstoß durch einen der anderen Seeleute bedeutete. Aber in die sen Sekunden war er sich selbst am nächsten. Er vergaß seine Gefähr ten, er vergaß die rothaarige Hexe, die ihn in diese Situation gebracht hatte, er vergaß fast alles andere um sich herum. Das Schiff knarrte immer stärker. Irgendwo unter ihnen mussten schreckliche Zugkräfte am Werk sein, die Schiff und Mannschaft un barmherzig in die Tiefe reißen wollten. 128
Kang hatte das Messer schon fast erreicht, als ihn einer der da vonrennenden Seeleute mit dem Fuß unbeabsichtigt an der Schläfe streifte. Er achtete nicht auf den stöhnenden Kang, sondern rannte in Panik weiter. Kang fluchte, ignorierte aber das Brennen der aufgerissenen Schläfenhaut und wandte sich wieder dem Messer zu. Das war der Moment, als sich plötzlich das Heck des Schiffes wie von Geisterhand hob. Ein vielstimmiges Kreischen setzte ein und Kang fühlte einen feuchten Nebel in seinem Gesicht, während er zunächst langsam und dann immer schneller über das Deck schlitterte. Genau auf eine Trep pe zu, die hinunter ins erste Unterdeck führte. Das Messer und ein Teil des Segeltuches rutschten voran, wäh rend Kang hilflos wie ein Spielball am Geländer abprallte und weiter die Treppe hinunterfiel. Der Aufprall war schmerzhaft, aber die Götter schienen es in die sen dramatischen Sekunden dennoch gut mit ihm gemeint zu haben, denn das Messer lag nun direkt vor ihm auf dem Boden. Sekunden später klatschte das Heck des Schiffes wieder mit einem lauten Ächzen zurück ins Wasser. In einem Akt der Verzweiflung rollte sich Kang auf das Messer zu, damit es ihm nicht wieder abhanden kam. Er warf sich herum, tastete mit klammen Fingern nach der Klinge, bekam sie auch zu fassen und konnte sie mit ein paar raschen Stößen in den Lücken zwischen den Planken festkeilen. Der feuchte Nebel und die furchtsa men Schreie der Seeleute drangen jetzt verstärkt unter Deck - bis zu Kang hin. Oben muss die Hölle los sein, dachte der alte General und ver suchte mit raschen Bewegungen an der Schneide des Messers, seine Fesseln so schnell wie möglich zu durchtrennen. Er spürte dabei, wie ihm das Blut an den Fingern herunter rann und auf das Holz tropfte. Währenddessen schlingerte das Schiff immer stärker. Kang igno rierte das Knarren und Ächzen der Planken und versuchte sich wieder aufzurappeln, nachdem endlich die Fesseln gefallen waren. Jetzt war er wieder frei und immer noch unbehelligt von den Seeleuten Rahabs. Aber auch unbeachtet von den kopflos umher rennenden Sklaven und dazu zählten seine eigenen Gefährten, die er in all dem Durcheinander 129
längst aus den Augen verloren hatte. Und die rothaarige Frau war nir gendwo zu sehen. Er nahm die Treppenstufen nach oben mit wenigen Sätzen. Vielleicht gaben ihm die Götter ja noch eine zweite Chance und diesmal würde er sie nützen. Oben an Deck schien sich das Grau en bereits offenbart zu haben... * Ein irrsinniges Heulen erfüllte zwischenzeitlich die Luft, das von mehre ren Seiten zu kommen schien und beinahe Kangs Trommelfelle platzen ließ. Der ehemalige Führer des Lichtheeres wankte kurz, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Er stürmte so schnell er konnte die Trep penstufen hinauf und begegnete - dem Chaos. Ein geschupptes Monstrum stieg aus der Tiefe des Meeres auf und es entwickelte dabei eine geradezu beängstigende Schnelligkeit. Und weitere dieser Furcht erregenden Gestalten folgten auf dem Fuße. Das Schiff wurde angegriffen und keiner der Seeleute konnte etwas dage gen tun. Viel zu schnell war alles gekommen und beim Anblick dieser Wesen (die eigentlich gar nicht existieren durften) war gar mancher der Männer an Bord in den ersten Sekunden vor Schreck wie gelähmt. Unwillkürlich taumelte Kang einige Schritte zurück und stieß dabei hart mit dem Rücken gegen einen der Masten. Er rang keuchend nach Atem, denn selbst ein alter und erfahrener Kämpfer wie er wusste nicht, was er tun sollte. Zumindest in diesen Sekunden. Als Kang schließlich wieder klar sehen konnte und die ersten Schrecken verflogen waren, bemerkte er nur wenige Schritte entfernt taumelnde Männer. Andere lagen bewusstlos oder verletzt nahe bei der Reling. Der Kapitän war der einzige, der noch wie ein Fels aus der Brandung herausragte und mit allen Kräften gegen die geschuppten Gegner kämpfte. Kang empfand so etwas wie einen Hauch von Ehrfurcht vor Rahab, der sich zornbebend und mit dem Schwert in der Hand todesmu tig seinen Gegnern entgegenstellte. So blickte er jetzt zu einem gigan tischen Wesen empor, das selbst einem abgebrühten Recken wie Kang einen Schauer der Furcht über den Rücken jagte. Es war so urplötzlich 130
aus der See aufgetaucht wie ein Geist - und wahrscheinlich hatte die ses Geschöpf auch die dumpfen Schläge unterhalb des Schiffes ausge löst und es ins Wanken gebracht. Der Vergleich mit einem Geist hinkte noch nicht einmal, denn Ka pitän Rahab sah mit seinem aschfahlen Gesicht auch tatsächlich so aus, als sei er gerade einem solchen begegnet und nicht bloß einer Bestie aus dem Meer. Rahab stieß einen lauten Schrei des Zorns aus und seine rechte Hand umkrampfte fest den Knauf des Schwertes, das er nun der Bestie entgegenreckte. Kang war zwar noch einige Schritte von den Ge schehnissen entfernt, so dass er gar nicht hätte eingreifen können falls er das überhaupt gewollt hätte - aber eigenartigerweise hörte er doch die Worte des Kapitäns ganz klar und deutlich. Es waren vier einzelne Worte. Jedes von ihnen erreichte Kangs Ohren so klar, als stünde Kapitän Rahab dicht neben ihm. Kangs Au gen blickten auf Rahabs geöffneten Mund und ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken: »DA BIST DU ENDLICH!« Erneut wurde das Schiff von einem gewaltigen Stoß erfasst, als der gigantische Körper des Wesens zurück tauchte. Er schabte an der Steuerbordseite vorbei und riss das Holz der Reling aus seiner Veran kerung. Einige Decksplanken splitterten und dann war der Spuk wieder so urplötzlich vorbei, wie er begonnen hatte. Das schäumende Meer beruhigte sich, wenn auch nur für kurze Zeit, was aber weder der Kapitän und Kang, noch alle anderen an Bord ahnen konnten. Rahab lief über Deck und trat vor bis zur zerbroche nen Reling, starrte gedankenverloren in die Fluten des Meeres, wo eben noch der riesenhafte Körper untergetaucht war. »Komm doch!«, erschallte die Stimme des Kapitäns. »Endlich se hen wir uns wieder! Wenn du mich holen willst, dann versuch es, aber du wirst mich nicht kriegen! Du hast es schon einmal versucht und auch diesmal wirst du es nicht schaffen!« Während ihm diese Worte heftig über die Lippen kamen, sank er plötzlich auf die Knie und ein trockenes Schluchzen kam ihm über die Lippen. »Du wirst... mich nicht kriegen!«, stammelte er nun unter Tränen. »Eher werden wir beide sterben... das schwöre ich bei den Göttern!« 131
In diesen Sekunden setzte sich das Chaos fort und das Schrecken erregende Wesen stieg erneut aus den Fluten des Meeres empor. Auch Kang blickte jetzt in unergründlich fremdartige Augen, die seltsam wis send erschienen und den Schmerz einer gequälten Kreatur widerspie gelten und auch eine Spur von Mitleid. Ein weiterer Schauer der Furcht setzte sich in Kangs Nacken fest und wollte nicht mehr weichen. Seine Blicke huschten über Deck, suchten nach den Gefährten. Aber in all dem Chaos ringsherum konnte er sie nicht entdecken. Es blieb ihm auch keine Zeit mehr, sich darum zu kümmern, denn plötzlich erfasste ein weiterer Stoß das Schiff. Etli che Teile zerbrachen und splitterten. Ein armlanges Holzstück traf Kang im Rücken und schleuderte ihn zur Seite. Jetzt neigte sich die My-Bodick bis zum Bug hin zur Wasserober fläche. Die riesenhafte Bestie aus dem Meer wälzte ihre Massen auf das Vordeck und drohte dadurch das gesamte Schiff in die Tiefe zu reißen. Kang hörte den Kapitän laut brüllen. Die Seemänner und die Sklaven, zumindest diejenigen, die sich aus eigener Kraft in all diesem Chaos hatten befreien können, stürmten an Kang vorbei zum Heck des Schiffes. Und irgendwo in diesem Gewühl befand sich auch Rica. Kang bemerkte den roten Haarschopf aus den Augenwinkeln, aber die Frau entschwand schon Sekunden später wieder seinen Blicken. Keiner der Seeleute an Deck achtete auf die Toten und Verletzten, die dieser Bestie schon zum Opfer gefallen waren. Kang sah Albiron und Berak - und auch Mol. Der hinkte zwar ein wenig, schien aber an sonsten nicht weiter verletzt zu sein. Angst stand in den Gesichtern all dieser Männer geschrieben. Angst vor der gigantischen Bestie aus dem Meer und den anderen grauenhaften Wesen, deren gorgonenhafte Köpfe jetzt durch das Wasser stießen und sich dem Schiff näherten. Das große Wesen aus dem Meer verströmte einen Geruch, der leicht entfernt an ein Erdbeerfeld erinnerte - süßlich und berauschend. Es kitzelte ein wenig in der Nase. Kein Gestank nach Fisch oder Mee restang - und dieser winzige Unterschied fiel Kang ausgerechnet jetzt sehr deutlich auf. Aber ihm blieb keine Zeit, lange darüber nachzuden ken, warum das so war. Er stolperte ebenfalls zu den anderen Män 132
nern hinüber und hinter ihm focht Kapitän Rahab seinen letzten Kampf... * Rahab strauchelte. Er fing sich aber wieder und trat noch ein, zwei Schritte an das grauenhafte Wesen heran, sah in die wässrig-gelben Augen, die vom Alter bereits getrübt waren. Er zuckte kurz zurück, das Schwert halb zu einem furchtbaren Hieb erhoben. »Ich habe es gewusst...«, murmelte er. »Ich war mir immer si cher, dass du eines Tages wiederkommen würdest. Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt - wir beide...« Oben am Himmel, weit über der My-Bodick, zogen sich die dichten Wolken noch weiter zusammen und es blieb nicht bei dem ersten fer nen Donnerhall. Gleichzeitig wurde der Wind noch stärker und kündete von dem heraufziehenden Sturm. Währenddessen trieb sich das Geschöpf mit einem gewaltigen Stoß seines Schwanzes noch weiter auf das Vordeck - und somit auch näher zu Kapitän Rahab. Die alten Legenden haben recht, schoss es Rahab in diesen Sekunden durch den Kopf. Die Exekias sehen tatsäch
lich aus wie tollwütige Meermänner.
Die graublaue Haut des Wesens war aufgeraut, von winzigen Gas blasen umschlossen und die wuchtige und dennoch sehr bewegliche Gestalt strahlte eine unbändige Kraft aus. Die starken Tentakel des Geschöpfes tasteten suchend auf dem Vordeck umher - auf der Suche nach einem Opfer. Rahab sah das jedoch und schlug mit dem Schwert voller Panik um sich. Er erwischte einen der Fangarme und durch trennte ihn mit einem sicheren Schlag. Das Wesen schrie voller Schmerz auf und bäumte sich wild empor, was ein erneutes Absinken des Bugs zur Folge hatte. »Diesmal werde ich der Sieger sein!«, brüllte Rahab voller Tri umph, als er den Schmerz des Wesens förmlich spürte. Der vom Hass angetriebene Kapitän betrachtete die hell leuchtende Narbe auf der Haut des geschuppten Wesens, die in all den Jahr zehnten in Rahabs Träumen nichts von ihrer Faszination eingebüßt 133
hatte. Rahab preschte mit wuchtigen Hieben nach vorn, direkt auf den Exekias zu, dessen gelbliche Augen bösartig zu funkeln begannen. Plötzlich geriet der Kapitän ins Stolpern, während sich gleichzeitig einer der windenden Tentakel in einer flüssigen Bewegung um sein Bein schlang. Rahab schrie, während ihn der Exekias weiter zu sich heranzog. Unterdessen hatte das Schiff eine gefährliche Schräglage bekommen. Keiner der Seeleute befand sich mehr auf dem Vordeck, wo Rahab seinen letzten Kampf mit dem Giganten aus dem Meer focht. Als Rahab der Bestie näher kam, konnte er das Zischen von Luft hören, die den Gasblasen entwich. Das Wesen schnappte mehrmals nach Luft, aber irgendwie klang das auch wie ein heiseres Lachen. Die gelblichen Augen schimmerten voller Vorfreude, als der Exekias sein Opfer weiter zu sich heranzog. Rahab versuchte indes abzuschätzen, wie lange es noch dauerte, bis er einen tödlichen Hieb zwischen den Augen des Meerwesens lan den konnte. Jetzt gibt es keine Flucht mehr, dachte er. Die Hölle wird
mich gleich zu sich holen, aber nicht ohne meinen Feind!
Die leuchtende Narbe der Meeresbestie war Rahabs Ziel. Und es kam schneller als er es selbst für möglich gehalten hätte. Die Bestie schoss noch einmal nach oben, verlagerte dabei mehr Gewicht auf das Schiff - und Rahab hatte plötzlich das Gefühl, sich auf einer Rutsch bahn zu befinden und dabei direkt in den weit geöffneten Rachen des Exekias zu gleiten. Er hieb wild um sich und riss eine weitere blutige Furche. Der tollwütige Meermann machte seinem Namen alle Ehre und schlug un kontrolliert mit den Tentakeln um sich. Rahab schrie nochmals laut auf und hieb weiter in blinder Wut auf das Ungeheuer ein, das jedoch auf diesen Angriff mit einem ungeheuren Kraftaufwand reagierte. Rahab verlor seinen linken Arm, als das Meerwesen seinen Tenta kel spontan zurückzog, den es um den Kapitän geschlungen hatte. Es entstand ein hässliches, ziehendes Geräusch von berstenden Knochen und eine Fontäne hellroten Blutes spritzte empor, gefolgt von einem unmenschlich klingenden Schmerzensschrei des Kapitäns. 134
Rahab spürte das heiße Brennen im Körper, das seinen Verstand zu überlagern drohte. Er fühlte, dass es mit ihm zu Ende ging. Noch einmal mobilisierte er alle ihm verbliebenen Kräfte und konzentrierte sich auf den letzten Stoß, denn eine weitere Chance hatte er nicht mehr. Dann reckte sich der rechte Arm mit dem Schwert empor und die Klinge bohrte sich direkt in die weiche Stelle zwischen den gelbli chen Augen - genau ins Hirn der Meerbestie! Rahab konnte seinen letzten Triumph jedoch nicht mehr genießen, denn ihm begannen bereits die Sinne zu schwinden. Er hörte das schreckliche Gebrüll des tödlich verwundeten Wesens ganz von fern, spürte gar nicht mehr, wie sich das grauenhafte Geschöpf mehrmals wild aufbäumte. Dadurch geriet das Schiff beinahe ins Kentern, aber das registrierte Rahab nicht mehr, denn seine Sinne waren längst von Schmerzen so vollständig überlagert, dass er gar nichts mehr sehen konnte - und die Schreie der verängstigen Seeleute registrierte er auch nicht mehr. Zusammen mit dem Exekias stürzte er in die kalten Fluten des Meeres, in die Tiefe, in die unauslotbare Finsternis. Zurück blieben nur einige wenige Luftblasen, die sich rasch verflüchtigten. Und die My-Bodick schwankte wie eine steuerlose Nussschale auf der rauen See dahin, während ringsherum das triumphierende Geheul der anderen Meeresgeschöpfe erklang, die sich jetzt ebenfalls zum Sturm auf das angeschlagene Schiff rüsteten! * Die See verzeiht keine Missgeschicke! Das Wetter, das Kapitän Rahab und seiner Mannschaft tagelang Kopfzerbrechen bereitet hatte, schlug innerhalb weniger Minuten um. Plötzlich waren die Wellen meterhoch, wurden noch größer und drangen schließlich durch ein Leck, das der wuchtige Körper des Exekias geschlagen hatte, ins Schiffsinnere ein. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Mitteldeck völlig überflutet und genau dort lagerten auch die Waren, die für Pernath bestimmt waren! Mit Rahabs Tod war auf dem Schiff ein Tumult ausgebrochen und selbst ein solch gefürchteter Mann wie Kaal hatte große Mühe, die 135
Männer wieder zur Räson zu bringen. Aber mit jeder verstreichenden Minute wurde das immer schwerer, denn das Große Salzmeer kannte keine Gnade, als der Sturm erst seinen eigentlichen Höhepunkt er reichte. Der Wind blies den Seeleuten mit orkanartiger Wucht entgegen und die Segel wurden aufgebauscht. Die Verankerungen und Taue begannen zu reißen, der große Mast fing gefährlich zu knirschen an und aus dem Knirschen wurde schließlich ein berstendes Krachen, als der Orkan eine weitere große Woge gegen das schlingernde Schiff schleuderte. Kaal schrie, als er die Woge kommen sah und hilflos hob er beide Hände gegen den wolkenverhangenen Himmel. Aber auch er konnte das Unheil nicht mehr verhindern, als er ganz plötzlich von einer un sichtbaren Faust gepackt und mehrere Meter nach hinten über Deck geschleudert wurde. Einige der Seeleute hatten nicht so viel Glück wie Kaal. Die Welle spülte sie gleich über Bord und erstickte ihre Todes schreie inmitten des sturmgepeitschten Wassers. Kaal brüllte, als ihn etwas mit vehementer Wucht auf die Planken krachen ließ. Geistesgegenwärtig griff er mit der rechten Hand nach der Reling und bekam sie noch zu fassen, bevor ihn der Sog in die Tiefe reißen konnte. Aber dieser Moment der Erleichterung war nicht von sehr langer Dauer, denn ausgerechnet jetzt begann der Schiffs mast zu bersten. Kaal sah den Schiffsmast auf sich zukommen und er schrie laut, als er seine letzte Stunde kommen sah. Aber niemand hör te sein Flehen angesichts des ringsherum tobenden Chaos. Das letzte, was der glatzköpfige Seemann noch erkennen konnte, war etwas Rie senhaftes, das sich über ihn neigte und ihn mit seiner tonnenschweren Last erdrückte. Dann war Kaal unter dem Mast begraben und der Kör per zuckte nur noch wenige Sekunden - danach war alles vorbei. Der Sturm um sie herum wurde gewaltiger und die Wellenberge immer bedrohlicher. Kang hörte das Brüllen der Männer, aber die we nigen, die noch in der Lage waren, irgendetwas zu tun, konnten das rasch größer werdende Leck nicht mehr abdichten. Die ersten Schiffs räume standen schon unter Wasser und plötzlich schwankten die Decksplanken heftig. Kang wurde erneut von den Füßen gerissen. Eine 136
Welle gischtigen Wassers ergoss sich über die Planken und die wurde Kang zum Verhängnis. Er rutschte direkt auf die Öffnung einer Ladeluke zu, verschwand darin und prallte mit schmerzverzerrtem Gesicht fast zwei Meter tiefer gegen die Kante einer großen, wuchtigen Kiste. Der Aufprall war heftig und trieb Kang die Tränen in die Augen. Er spürte, wie er bewusstlos zu werden drohte und zwang sich deshalb förmlich dazu, die Augen offen zu halten. Denn ein noch so winziger Moment der Schwäche würde das Aus für ihn bedeuten. Regentropfen klatschten oben auf das Deck. Der Himmel verfins terte sich weiter. Aus dem anfänglichen Donnergrollen wurden jetzt heftige Gewitterschläge. Indes kämpfte Kang weiter unter Deck um sein Leben, denn das Wasser stieg und stieg und er musste zusehen, wieder nach oben zu kommen. Eine weitere Welle spülte über das Deck. Kang sah zwar nur einen winzigen Ausschnitt durch die Luke über ihm, aber es war dennoch bedrohlich genug, das Toben der Elemente dort droben zu hören. Das Schiff schlingerte gefährlich und mit jeder weiteren Welle füll te sich der Bauch des Schiffes noch mehr mit Wasser. In einem Anflug von Panik krallte er seine Hände um den Rand der Kiste, wollte sich daran hochziehen. Doch dazu kam es nicht mehr, denn der nächste Schwall Wasser ergoss sich vom Bug, durchbrach fast spielerisch eine Trennwand des Lagers und schob Kang mitsamt der großen Kiste wei ter zum Heck. Ehe Kang begriff, was mit ihm geschah, war er auch schon zwi schen mehreren Kisten eingekeilt und der linke Fuß fühlte sich taub an, ließ sich kaum noch bewegen. An Deck waren die Stimmen spärlicher geworden. Durch die ge öffnete Ladeluke drang ein orgelähnliches Pfeifen herein. Des Weiteren knatterte das abgerissene Segel ohrenbetäubend und eine der Luken hatte sich halb aus der Verankerung gerissen, knallte von der Wucht des Windes hin- und hergezerrt gegen die Decksaufbauten. Verbissen bemühte sich Kang, die Kiste zu bewegen, um den ein geklemmten Fuß wieder frei zu bekommen. Seine Armmuskeln schwol len an, aber dennoch rührte sich die schwere Kiste nicht einen Zoll von 137
der Stelle - dafür stieg das Wasser im Laderaum aber umso rascher an. Mit dem nächsten Schwall Wasser von Deck neigte sich das Schiff plötzlich zur anderen Seite und Kang war auf einmal wieder frei. Das kam so unerwartet, dass er beinahe gestürzt wäre. Mit einem lauten Seufzen humpelte er zur Ladeluke, kletterte mühsam auf eine Kiste und zog sich stöhnend durch die Öffnung wieder hinauf an Deck. Er hörte das Rauschen und Gurgeln des eindringenden Wassers. Egal was geschah - die My-Bodick würde in den reißenden Fluten versinken. Kang war zwar wieder oben an Deck, aber dennoch konnte er in dem tobenden Sturm kaum etwas erkennen. Er taumelte zur Reling, geriet erneut ins Taumeln und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Niemand außer ihm schien sich noch an Deck zu befinden. In dem gischtigen Nebel konnte er zertrümmerte Decksaufbauten und den eingestürzten Mast ausmachen, ebenso weißliche Fetzen von grobem Segeltuch. Das war aber auch schon alles! Rasch drehte er sich wieder um, denn jetzt war nur noch das Große Salzmeer sein Feind. Er verfolgte mit zusammengekniffenen Augen, wie die See schräg vor ihm zu einer gigantischen Woge anschwoll. Währenddessen erreichte das Schiff den tiefsten Punkt des Wel lentals, vom heulenden Sturm wie eine hilflose Nussschale hin- und hergetrieben. Weiße Gischt staute sich auf, ehe sie überkippte, verlief und Sekunden später schon wieder neu anstieg. Ein kalter Schauder packte Kang. Er ahnte, dass er gleich sterben würde, hier in diesem Sturm, in der nächsten Welle, die ihn und das Schiff in die Tiefe zerren musste. Ein Holzfass schlitterte über Deck, durchbrach die Reling neben Kang und jetzt spürte er, dass der Augenblick gekommen war, das todgeweihte Schiff endgültig zu verlassen. Er stolperte zur zerbroche nen Reling, hilflos, angetrieben von dem Wunsch, um jeden Preis zu überleben. Das war der Moment, wo er plötzlich den Barden unweit des Steuerruders entdeckte. Till war halb begraben von den einge stürzten Decksaufbauten und seine Miene war eine Grimasse des Schmerzes. Dennoch hielt er jetzt seine Laute in der Hand und ver 138
suchte, ihr unter Aufbietung aller ihm noch verbleibenden Kräfte einige Töne zu entlocken! Mehr sah Kang nicht, denn jetzt hechtete er in die Fluten, klatsch te in die schäumenden Wellen und versank - aber nur für wenige Se kunden. Dann stieß sein Körper wieder durch das Wasser und erreich te mit wenigen Schwimmbewegungen auch schon das treibende Fass. Es ragte halb aus dem Meer heraus und Kang klammerte sich mit bei den Händen daran so fest, als wolle er es nie wieder loslassen. Er bedauerte, keinen seiner Männer gerettet zu haben; zu diesem Zeitpunkt konnte er jedoch nicht wissen, dass außer ihm noch mehrere Seeleute das Schiff verlassen und sich mit einem wagemutigen Sprung in die Fluten des Meeres gestürzt hatten. Nur wenige Schiffslängen entfernt von Kang, verborgen hinter einem Wellenkamm, kämpften sie ums Überleben. Kang sah zurück, aber durch die Regenschleier und das trübe Licht konnte er zwischen den weißen Schaumkronen nichts mehr von dem Schiff erkennen. Weit und breit vor ihm erstreckte sich nur noch die aufgewühlte See. Eine steife Brise peitschte den Regen vor sich her. Kang fühlte sich von der grenzenlosen Einsamkeit fast überwältigt. Die unendliche Öde des grauen Meeres schien ihn an diese Stelle zu fesseln, verurteilte ihn dazu, für alle Ewigkeit auf der Stelle zu treten an ein Holzfass geklammert. Verdammt schon zum Tode, aber den noch näher am Leben: eine Spukgestalt, die den Seefahrern stets ei nen heillosen Schrecken einjagen würde... Er hatte keine Ahnung, wie weit die Küste noch entfernt war, wo sich das sagenhafte Pernath befand. Doch Kang war klar, dass er nie mals schwimmend dorthin gelangen würde. Er ergab sich mit jeder verstreichenden Minute immer mehr sei nem unausweichlichen Schicksal, trat aber dennoch zaghaft Wasser, um sich und dem Fass wenigstens eine Richtung zu geben. Die Regenschleier wurden zwar dichter, aber dafür ließ der Sturm etwas nach und das Meer beruhigte sich wieder, nachdem es die MyBodick in die Tiefe gerissen hatte. Durch die Dunstschleier sah Kang einige Blitze zucken und dann vernahm er nach einem schier unauf 139
hörlichen Donnergrollen plötzlich eine Stimme, die aus der Ferne an sein Gehör drang. Zwar leise, aber dennoch gut hörbar, denn der feine Regen schien die aufgewühlte Atmosphäre zu besänftigen. Vereinzelt trieben Teile eines Gesanges zu ihm herüber:
... das Feuer nimmst Du von der Kerze, die Zeit steht still und es wird Herbst... Kang blickte sich um, weil er für einen Moment verwirrt war, aber er sah dennoch weit und breit keine Menschenseele. Er schloss die Augen und spürte dabei die von der Stirn herab rinnenden Regentropfen. In diesen Sekunden fühlte er sich in einem eigenartigen Wachtraum ge fangen.
... Wo willst Du hin, so ganz allein - treibst Du davon. Wer hält Deine Hand, wenn es Dich nach unten zieht? Wo willst Du hin, so uferlos die kalte See... Kang spürte einen eigenartigen Schauder angesichts dieser Worte, den er sich nicht erklären konnte - und noch immer wusste er nicht, warum er diese Stimme so seltsam klar und deutlich hörte. Zu seiner Rechten entstand eine dünne weiße Linie, teilte das Meer und den Horizont. Dort, wo eigentlich nichts anderes als die re gen- und nebelverhangene graue See sein sollte. Er klammerte sich weiterhin fest an das Fass, trat mit den Füßen das Wasser und bewegte sich mit der Strömung in die Richtung der Stimme, wie von einer unsichtbaren Macht angezogen.
Am Ende bleibst Du alleine, die Zeit steht still und mir ist kalt, kalt, kalt... 140
Der Wind riss die Stimme plötzlich mit sich fort. Für einen winzigen Moment hielt der ehemalige Heerführer des Lichts mit seinen Schwimmstößen inne. Irritiert blickte er auf das Schauspiel vor sich. Zuerst konnte er es nicht klar und deutlich erkennen, aber dann wur den die Umrisse rasch größer. Aus einem verwaschenen Fleck wurden die Konturen eines Schiffes! Es kam sehr schnell näher und Kang erkannte gleichzeitig, dass es von einer seltsam dunklen Farbe war - vergleichbar mit der Schwärze einer bedrohlichen Nacht. Er sah auch die grauenhafte Galionsfigur am Bug, aber daran verschwendete er jetzt keinen weiteren Gedanken mehr, denn für ihn zählte nur, dass er noch eine Chance hatte. Wenn das Schiff weiterhin diesen Kurs hielt, würde es schon sehr bald seine jetzige Position kreuzen und das bedeutete die Rettung aus den kalten Fluten des Großen Salzmeeres! Kang schickte ein stilles und sehr erleichtertes Stoßgebet zu Einar und den anderen Göttern des Lichts. Die vage Hoffnung, die in ihm aufgekeimt war, war unerwartet zu einer zarten Pflanze herangewach sen. Er schwor sich in diesen Sekunden, seinen Kampf gegen die Mächte der Finsternis mit doppelter Anstrengung fortzusetzen, wenn er jetzt aus den kalten Fluten gerettet wurde. Wenn ihm das Schicksal noch eine zweite Chance bot, würde er sie nützen. Allerdings ahnte er zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ihn sein Weg direkt in die Hölle führen sollte...
Kapitel 8: Die Rettung der Schiffbrüchigen
Gerinya spähte vom Achterdeck des Schwarzen Schiffes hinüber zum Horizont. Es begann zu regnen und fern am nördlichen Himmel zuck ten bereits die ersten Blitze. Das Unwetter hatte begonnen und es würde nicht mehr lange dauern, bis daraus ein handfester Sturm wur de. Ein Sturm, der die Wellen des Großen Salzmeeres hoch aufpeit schen und somit womöglich auch das Schiff mitsamt seiner schwei genden Besatzung in Gefahr bringen würde. 141
Aber Gerinya ließ weiterhin den Kurs beibehalten, vor allen Dingen dann, als sie den dunklen, winzigen Punkt in weiter Ferne bemerkte, der rasch größer wurde, je näher das Schwarze Schiff kam. Kara Ar tismar stand neben ihrer Ordensschwester unweit des mächtigen Steuerrades, das einer der schwarzen Krieger mit seinen sehnigen Händen fest umschlossen hielt. Den stärker werdenden Regen igno rierte er. Kara Artismar erschien es sogar, als blinzle der schwarze Krieger noch nicht einmal mit den Augen, wenn Regentropfen sein Gesicht trafen. »Das ist das Schiff, auf dem sich Rica befindet«, sagte Gerinya zu ihrer Ordensschwester. »Gleich werden wir wieder vereint sein und...« Eigentlich hatte sie noch mehr sagen wollen, aber ein lauter Don nerschlag riss ihr die letzten Worte buchstäblich von den Lippen. Gleichzeitig zuckte erneut ein greller Blitz am Himmel auf und tauchte den trüben Tag zumindest für Sekunden in eine gleißende Helligkeit. Das war der Moment, wo Gerinya und Kara Artismar erkannten, dass dort drüben bei dem anderen Schiff irgendetwas geschah - et was, das sie mit ihren Sinnen nicht erfassen konnten. An der Stelle, wo das zweite Schiff jetzt von den stärker werdenden Wellen hin- und hergeschaukelt wurde, schien das Meer besonders unruhig zu sein. Das Schwarze Schiff befand sich vielleicht noch zwei Seemeilen ent fernt von der betreffenden Stelle und auch hier wurden die Wellen stärker, wurden vom aufkommenden Wind gegen den Bug geworfen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem tobenden Orkan dort drüben! Es war, als hätten sie einen Einblick in einen anderen Teil der Welt bekommen. Nebelschleier bildeten sich, wurden zu einem undurchdringlichen Dunst, der das Schiff, auf dem sich ihre Ordensschwester befand, ein hüllte und vor ihren Blicken verbarg. Gleichzeitig ertönten mehrere dumpfe Schläge, die selbst das Heulen des Windes übertönten. Schlä ge von eigenartiger Intensität - und dann folgten die Schreie von Men schen, die der Wind bis zu ihnen herüber trug. »Was... was ist das?«, murmelte Kara Artismar erschrocken. 142
»Ich wünschte, ich wüsste es«, entgegnete Gerinya und hob dann ihre Stimme, als sie hinüber zu dem Steuermann blickte. »Halt das Schiff auf Kurs - wir müssen uns beeilen!« Der schwarze Krieger erwiderte nichts darauf, sondern nickte nur stumm. Der Wind bauschte die großen, dunklen Segel und verlieh dem Schiff noch mehr Fahrt. Dennoch verging die Zeit quälend langsam, in der sich das Schwarze Schiff seinen Weg durch die brausenden Wellen bahnte und allmählich das eigentliche Zentrum des Sturms erreichte. Der Nebel war noch stärker geworden, hüllte auch das Schiff aus SchaMasch ein, so dass Gerinya und Kara Artismar sich wie in einer fremden und gefährlichen Welt fühlten. Wieder waren verzweifelte Schreie zu hören - von Menschen in Todesangst. Und manche von ihnen brachen abrupt wieder ab. Ein schreckliches und zugleich endgültiges Knirschen durchdrang den dich ten Nebel und es regnete stärker. Gerinya wurde durchnässt, ebenso wie Kara Artismar und alle anderen, die sich an Deck aufhielten. Aber sie ignorierten die Regenschleier und spähten weiter hinaus in den Nebel, der sich so plötzlich gebildet hatte und jegliche natürli che Erklärung Lügen strafte. Und dennoch existierte er, hervorgerufen von irgendetwas, von dem selbst Kara Artismar und Gerinya nichts zu wissen schienen. Noch während sich das Schwarze Schiff weiter einen Weg durch den Nebel suchte, zerrissen die dichten Schleier plötzlich - und die Sicht war frei auf ein grauenhaftes Bild, das Gerinya und Kara Artismar erblassen ließ. Nur wenige hundert Meter entfernt versank das andere Schiff in einem großen Strudel. Das Heck war bereits ganz in den Flu ten versunken und die beiden Ordensschwestern erkannten einige Seeleute, die von Bord sprangen und versuchten, dem tödlichen Sog zu entgehen. Dadurch zögerten sie ihr Schicksal aber nur für wenige Augenblicke hinaus. Denn was auch immer den Untergang dieses Schiffes verursacht haben mochte - der Sturm war es jedenfalls nicht diese Kraft war zu stark, um das Unvermeidliche zu verhindern. Gerinya sah Menschen in den Fluten versinken, als der Sog seine Wirkung zeigte und das Schiff in den nassen Abgrund zog. Alle diejeni gen, die sich in unmittelbarer Nähe befunden hatten, wurden mitgeris 143
sen und von den schäumenden Wellen verschluckt. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, dann waren die Köpfe der Unglücklichen bereits unter Wasser versunken und wie zum Hohn begannen sich die Fluten ausgerechnet an dieser Stelle wieder zu glätten, während der Nebel sich allmählich lichtete und nur Minuten später genauso plötzlich ver schwunden war, wie er sich gebildet hatte. »Da drüben!«, rief Kara Artismar und zeigte auf eine Stelle unweit des gesunkenen Schiffes, wo sie schwimmende Menschen in den Wel len ausmachte. »Wir müssen sie retten - rasch!« Gerinya gab daraufhin einige knappe und unmissverständliche Be fehle und dann handelten die schwarzen Krieger. Sie nahmen starke Taue, warfen sie über Bord, zielten nach den im Meer schwimmenden Menschen, die danach griffen. Aber auch hier fanden noch einige den Tod, weil sie viel zu schwach waren, um sich noch festhalten zu kön nen. Sie starben Augenblicke später schweigend und wurden von den Fluten verschlungen. »Da ist Rica!«, kam es nun erleichtert über Gerinyas Lippen, als sie die Frau sah, die eines der Taue fest umschlungen hatte und um keinen Preis mehr loslassen wollte. »Los, zieht sie hoch - und zwar als erste!« Dennoch vergingen einige bange Minuten, bis die schwarzen Krie ger die ersten Schiffbrüchigen an Bord ziehen konnten. Rica war die erste, die schließlich wieder die Decksplanken mit den Füßen berührte, war aber so schwach, dass sie zusammengebrochen wäre, wenn ihre beiden Ordensschwestern sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätten. Das rote Haar klebte ihr im Gesicht und ihre Stirn zierte eine blutige Schmarre. Sie murmelte etwas Unverständliches und wurde dabei im mer wieder von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, so dass Geri nya und Kara Artismar im ersten Moment gar nicht verstanden, was Rica ihnen hatte sagen wollen. »Der Schwärze sei Dank«, richtete Kara Artismar das Wort an sie, während die schwarzen Krieger weitere Überlebende an Bord zogen noch nicht einmal eine Handvoll war übrig geblieben. Aber das nah men die Frauen nur am Rande wahr, denn ihr einziges Interesse galt der geretteten Ordensschwester. 144
»Was ist denn nur geschehen, Rica?«, versuchte es Kara Artismar ein zweites Mal. »Ich habe so lange auf dich gewartet... aber du bist nicht gekommen und...« »Das... das Schiff...«, murmelte Rica und in ihren grünen Augen spiegelte sich immer noch namenloser Schrecken angesichts dieser grauenhaften Ereignisse, die ein Schiff und den größten Teil seiner Besatzung in den Tod gerissen hatten. »Sie haben es... einfach zer stört und...« »Wer?«, hakte Gerinya sofort nach. »Ich... habe nicht viel gesehen«, erwiderte Rica und musste sich immer noch stützen, weil sie aus eigener Kraft nicht stehen konnte. »Es war, als ob Dämonen aus der Tiefe des Meeres kämen. Ich er kannte... geschuppte Leiber und hörte schrilles Kreischen... und dann geschah es auch schon.« Sie wandte mühsam den Kopf und blickte hinüber zu den anderen Geretteten des untergegangenen Schiffes. Und sie zuckte zusammen, als sie den graubärtigen Mann erkannte, der nun an Bord gezogen wurde und keuchend auf den Planken liegen blieb. Er hielt noch den Kopf gesenkt und registrierte gar nicht, was um ihn herum geschah. Wahrscheinlich hatte er immer noch Mühe, zu begreifen, dass er dem nassen Tod um Haaresbreite entkommen war. »Dieser Hund ist schuld an allem!«, stieß Rica nun mit zorniger Stimme hervor. »Er trägt die Verantwortung dafür, dass ich die Stadt der verlorenen Seelen nicht rechtzeitig erreichen konnte. Ich wünsch te, dieser Teufel wäre zusammen mit seinen Begleitern ertrunken. Wa rum werft ihr ihn nicht wieder zurück ins Meer?« Gerade in diesem Moment hob der graubärtige Mann den Kopf und in seinen Augen blitzte etwas auf, als er Rica inmitten der anderen Frauen stehen sah. Seine Blicke huschten hin und her und er schien etwas begriffen zu haben, denn er nickte jetzt, als habe er die Lösung eines Rätsels gefunden, das ihm schon seit vielen Wochen Probleme bereitete... »Kara bringt dich jetzt erst einmal unter Deck, Rica«, entschied die besonnenere Gerinya. »Alles andere werden wir dann in Ruhe be ratschlagen.« 145
»Aber es ist besser, wenn...«, wollte Rica aufbegehren, doch ein kurzer Blick in Gerinyas Augen reichte aus, um ihr zu sagen, dass ein solcher Einspruch jetzt nichts nützte. Ja, sie hatte mehrere Fehler be gangen und die Ereignisse waren förmlich eskaliert. Auf SchaMasch würde man ihr viele Fragen stellen - Fragen, auf die sie sich besser gründlich vorbereitete. Denn im jetzigen Stadium waren weitere Fehler unverzeihlich, das wusste auch Rica und deshalb schluckte sie eine hastige Bemerkung wieder herunter. Während Kara Artismar ihre Ordensschwester unter Deck brachte, damit sie sich ausruhen konnte, ging Gerinya zu den geretteten Män nern und blickte sie der Reihe nach an. Es waren fünf, zusammen mit dem graubärtigen Mann, der trotz seines Alters eine seltsame Stärke und Entschlossenheit vermittelte. Sei vorsichtig, raunte eine innere Stimme. Diesem Mann kann man nicht trauen. Rica hat Recht - du
solltest ihn besser gleich wieder über Bord werfen!
Ihre und seine Blicke tauchten kurz ineinander und Gerinya er kannte, dass dieser Mann nach wie vor eine Antwort suchte - eine Antwort, der er ganz offensichtlich ein Stück näher gekommen zu sein schien. Während seine Gefährten noch keuchend nach Atem rangen, ignorierte er die auf ihn gerichteten Schwerter der schwarzen Krieger und sah nur Gerinya an. »Wer bist du?«, wollte die rothaarige Priesterin jetzt wissen. »Sag mir deinen Namen, ich will ihn wissen! Los, rede schon - oder soll ich dich zwingen, mir zu antworten?« »Mein Name ist... Kang«, kam es zunächst etwas zögernd über die Lippen des graubärtigen Mannes. »Ich schulde dir Dank, dass du mich und die anderen vor dem Ertrinken gerettet hast. Es war knapp, ver dammt knapp sogar und...« »Ob das richtig war, wird sich erst noch erweisen«, fiel ihm Geri nya ins Wort. »Woher kennst du Rica?« Sie sah ihm wieder besonders intensiv in die Augen. »Sie begegnete mir in einer Schänke«, erwiderte Kang wahrheits gemäß. »Und ich nahm sie mit in meine Kammer. Sie war gut, sehr gut sogar. Aber dann gab es Streit und... sie entkam mir. Ich verlor ihre Spur und begegnete ihr erst wieder an Bord des Schiffes. Willst du 146
mir jetzt daraus einen Strick drehen, dass ich mit dieser Rica ins Bett gestiegen bin? Ich mag zwar nicht mehr der Jüngste sein, aber ich stehe durchaus noch meinen Mann - jederzeit. Soll ich es dir beweisen, Frau?« Auf einen kurzen Wink hin trat einer der schwarzen Krieger hinter Kang und versetzte ihm einen Tritt in den Rücken, der den Mann leise aufstöhnen ließ. Er fiel nach vorn und brauchte einige Sekunden, bis er sich wieder aufrappeln konnte. »Es ist leicht, einen Mann von hinten anzufallen, wenn dieser kei ne Waffen besitzt, um sich dagegen wehren zu können«, brummte er mit unterdrücktem Zorn. »Wer sind diese stummen Gestalten eigent lich - und welchen Kurs hat dieses Schiff? Meine Männer und ich haben ein Recht darauf, es zu erfahren und...« »Rechte?« Gerinya schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich weiß nicht, welche Rechte du jemals besessen hast, Kang, aber sie sind in dem Augenblick erloschen, als du das Schwarze Schiff betreten hast. Von nun an habt ihr alle mir und meinen Ordensschwestern zu gehorchen. Los, bringt diese Jammerlappen unter Deck und sperrt sie ein! Ich werde dann später noch einmal nach ihnen sehen.« »Sei verflucht!«, entfuhr es Kang, als zwei der schwarzen Krieger nach vorn traten und ihn so fest an den Armen packten, dass er kaum Gegenwehr leisten konnte. Er war noch zu schwach und musste sich notgedrungen in sein Schicksal fügen, genauso wie die übrigen vier Männer, die jetzt ebenfalls von den schweigenden schwarzen Kriegern ergriffen und mit Gewalt und Schlägen unter Deck gebracht wurden. Gerinya lächelte kurz, als sie zusah. Aber ihre Augen blieben den noch kalt und ohne Gefühl, denn Ricas Warnung ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie würde schon sehr bald erfahren, was es wirklich mit diesem graubärtigen Recken namens Kang auf sich hatte und wenn er ihr nicht die Wahrheit sagte oder gar wichtige Dinge verschwieg, wür de es Wege und Mittel geben, um dies trotzdem herauszufinden. Wenn nicht hier an Bord, dann spätestens auf SchaMasch, dem Ziel ihrer Reise. Gerinya wandte sich schließlich ab und schenkte der Stelle auf dem Meer keine Beachtung mehr, wo das Schiff versunken war. Nicht 147
nur der Regen hatte mittlerweile endlich nachgelassen, auch der Don ner war längst verhallt und die dichten, trüben Wolken verzogen sich allmählich gen Osten. Hier draußen auf dem Großen Salzmeer war das Wetter mitunter wechselhaft und manchmal auch ziemlich heimtü ckisch. Aber eine erfahrene und kundige Frau wie Gerinya war schon von Kind auf mit diesem rauen Klima vertraut. Sie kannte die Zeichen eines bevorstehenden Wetterwechsels und wusste sich danach zu rich ten - so auch dieses Mal. »Halte Kurs nach Süden!«, trug sie dem Steuermann auf. »Auf SchaMasch wartet man schon sehnlichst auf unsere Rückkehr. Es wird höchste Zeit, dass wir wieder die heimatlichen Gestade erreichen.« * Es grenzte fast an ein Wunder, dass der gewaltige Sog des in den Meeresfluten versinkenden Schiffes Metate nicht mitriss, aber irgendwie konnte er sich mit Hilfe der Exekias aus der unmittelbaren Gefah renzone bringen und erkannte durch die große Muschel hindurch die Bilder des Schreckens, die sich in nächster Nähe abspielten. Es waren erschütternde Szenen. Metate sah Menschen sterben, von der Flut in die Tiefe gerissen und diejenigen, denen es trotz des großen Schocks gelang, wieder mit heftigen Schwimmbewegungen die Oberfläche zu erreichen, zögerten ihren Tod nur um wenige Minuten hinaus. Das Meeresvolk kannte kei ne Gnade mehr. Metate konnte nur ahnen, welcher unbändige Zorn sich jahrzehntelang in diesem Volk aufgestaut hatte, der sich jetzt auf unerbittliche Weise zu entladen begann. Der Herrscher der Exekias hatte unmissverständliche Befehle ge geben und genau die wurden jetzt in die Tat umgesetzt. Schuppige Arme griffen nach den nach Atem ringenden Seeleuten und zogen sie wieder unter Wasser. Das geschah so plötzlich und unerwartet, dass die armen Teufel im ersten Moment gar nicht begriffen, wie ihnen ge schah. Dann aber füllten sich ihre Lungen mit Wasser und im Augen blick ihres Todes begriffen sie, wer ihr Schiff zum Untergang gebracht hatte. 148
Metate hatte auch den Tod des Kapitäns gesehen und er versuch te zu verstehen, warum alles so gekommen war. Der Kapitän war mit samt seinem Schiff versunken und ganz vorn fern hatte er noch mitbe kommen, wie Hexos einigen seiner Krieger ein kurzes Zeichen gegeben hatte. Daraufhin hatten sie sich in den Strudel gestürzt, scharfe Waf fen aus Muschelgestein in den schuppigen Händen. Sie würden sich auf ihre Weise noch einmal davon überzeugen, ob der Kapitän wirklich tot war - und wenn nicht, dann würden sie diese Arbeit erledigen. Es erschien Metate wie eine halbe Ewigkeit, seit der Untergang des Schiffes begonnen hatte - und doch war noch nicht einmal eine halbe Stunde verstrichen, seit das Volk der Exekias endlich seine Gele genheit zur Rache bekommen hatte. Metate spürte, wie die beiden Krieger, die ihn bis hierher gebracht hatten, nun die Muschel losließen und sich einfach zurückzogen, ge nauso wie alle anderen Exekias. Das geschah so schnell, dass sich Me tate erst seiner Einsamkeit bewusst wurde, als er schon längst allein war und vom Auftrieb des Sauerstoffs gepackt hinauf zur Wasserober fläche trieb. Obgleich Metate wusste, dass er vorerst nicht den Tod fürchten musste, so sehnte er sich doch nach dem vertrauten Himmel und frischer Luft. Er half mit kräftigen Beinschlägen nach, um schneller nach oben zu kommen und durchstieß die Wasseroberfläche wenig später. Durch die wie ein Fenster wirkende Muschelöffnung konnte er jetzt erst er kennen, dass die Meeresströmung ihn ziemlich weit abgetrieben haben musste. Er sah weder die Reste des Schiffes, noch bemerkte er andere Überlebende dieses gewaltigen Unglücks. Was er dagegen erblickte, war ein großes, wuchtiges Schiff, völlig schwarz und mit aufgebauschten Segeln, das genau Kurs auf die Stelle nahm, wo er jetzt aufgetaucht war. Der Dämonenkopf am Bug wirkte sehr bedrohlich, genau wie das gesamte Schiff. Noch schien man ihn nicht bemerkt zu haben, aber Metate hatte vor, das zu ändern. Mit aller Kraft gelang es ihm, sich aus der Muschel zu zwängen. Er musste kurz dabei Wasser schlucken und kam dann mit dem Kopf an die fri sche Luft. 149
Mit beiden Händen klammerte er sich an der schwimmenden Mu schel fest und sog tief frische Luft in seine Lungen. Dann hob er eine Hand, winkte heftig und schrie so laut er konnte, in der Hoffnung, dass der Wind das Echo seiner Stimme bis zu dem Schwarzen Schiff hinü bertragen würde. Sie mussten ihn einfach bemerken, bevor das Schiff womöglich abdrehte und einen anderen Kurs nahm. Es ist schon seltsam, wie weit es mit mir gekommen ist, sinnierte Metate angesichts seiner augenblicklichen Situation. Die Vergänglich keit des eigenen Körpers ist eine neue Erfahrung... Obwohl nun schon einige Zeit seit der verhängnisvollen Veränderung ins Land gegangen war, hingen Metates Gedanken immer noch hier und da in der Ver gangenheit. Was geschehen war, konnte nicht mehr rückgängig ge macht werden. Er war allein, ein Sterblicher unter zahllosen anderen Sterblichen... Jetzt war das Schwarze Schiff schon so nahe gekommen, dass man die auf den Wellen treibende große Muschel bemerkte. Metate sah, wie sich Menschen an Deck bewegten, aber eigenartigerweise hörte er keinerlei Stimmen. Wie stumme Schemen verharrten sie an Bord, blickten hinüber zu der im Meer treibenden Muschel und dann entdeckte der alte Mann plötzlich die Gestalten zweier Frauen an Deck. Er sah die langen roten Haare und eine metallene Maske, die den unteren Teil des Gesichtes einer der beiden Frauen bedeckte und er verspürte für Sekunden ein merkwürdiges Gefühl der Beklommenheit, das er sich nicht erklären konnte. Vielleicht lag es aber auch an den dunklen Segeln und Aufbauten des Schiffes, das selbst aus dieser Ent fernung fremd und geheimnisvoll wirkte, als stamme es aus keinem ihm vertrauten Teil der Welt (und Metate kannte die Welt eigentlich recht gut - zumindest war das so gewesen, bevor sich alles verändert hatte...). Metate spürte seine nassen Kleider, die immer schwerer wurden und er konnte es kaum noch erwarten, bis ihn das Schiff erreicht hat te. Er hob den Kopf und sah, wie einer der Seeleute - die alle dunkel gekleidet waren - ein Tau in seine Richtung schleuderte. Es klatschte schwer auf dem Wasser auf, erreichte Metate jedoch nicht, so dass der Mann einen zweiten Versuch unternehmen musste. Diesmal hatte er 150
mehr Glück und der alte Mann bekam mit der rechten Hand das Tau ende zu fassen, ließ gleichzeitig die Muschel los und umklammerte das rettende Tau auch fest mit der linken Hand. Er spürte den heftigen Ruck, der durch seinen geschundenen Kör per ging und fühlte, wie ihn kräftige Hände langsam aber stetig in Richtung Schiff zogen. Metate versuchte so gut wie möglich, den Kopf über Wasser zu halten, aber auch er konnte nicht verhindern, dass immer wieder eine kleine Welle über ihm zusammenbrach und ihm für Bruchteile von Sekunden das Atmen schwer machte. Schließlich hatte er es aber überstanden und fühlte, wie er an der Bordwand nach oben gezogen wurde. Eine Minute lang schwebte er zwischen Wasser und Decksplanken, dann hatten ihn die starken Hän de auch schon über die Reling gehievt und Metate blieb keuchend auf den Planken liegen, musste zunächst einmal nach Atem ringen. Erst dann hob er den Kopf und blickte sich um. Ein eigenartiges Gefühl überkam ihn erneut angesichts der dunkelgekleideten Männer, die ihn mit seltsam ausdruckslosen Augen anstarrten. Als wüssten sie längst, wer er war und weshalb es ihn hierher verschlagen hatte... Nach wie vor herrschte an Bord eine gespenstische Stille. Keiner der bewaffneten Männer sagte etwas, sondern sie schienen alle abzu warten, bis eine der beiden rothaarigen Frauen das Wort ergriff - es war die mit der Gesichtsmaske. Metate blieb vorsichtig und zurückhal tend, denn die prüfenden Blicke aus den grünen Augen der Frauen gefielen ihm nicht. Er hustete und versuchte sich aufzurappeln, aber das gelang ihm nicht gleich. »Habt... habt Dank«, murmelte er und ließ seine Stimme noch ein wenig schwächer klingen, als es eigentlich der Fall war. »Ich hatte schon mit allem abgeschlossen, aber das Schicksal meinte es doch noch gut mit mir.« »Das wird sich noch zeigen, alter Mann«, fiel ihm die maskierte Frau sofort ins Wort. »Ich denke, du hast uns eine interessante Ge schichte zu erzählen. Und ich rate dir, die Wahrheit zu sagen. Weshalb bist du so weit von dem sinkenden Schiff entfernt gewesen? Solch ein guter Schwimmer bist du doch gar nicht.« 151
Metate war klar, dass es besser war, nichts über seinen Zwangs aufenthalt bei den Exekias zu erzählen. Im Grunde genommen war das sowieso ein unglaubliches Erlebnis, das ihm umso eigenartiger vorkam, je länger er daran dachte. Also dachte er sich in Sekundenschnelle eine Geschichte aus, von der er hoffte, dass man sie ihm auch abkauf te. »Ich war einer der Sklaven an Bord«, sagte er und erntete mit dieser Aussage Misstrauen, das deutlich spürbar war. »Ja, ich sehe zwar nicht mehr so aus, als könne ich hart und lange arbeiten - aber in meiner Heimatstadt galt ich als erfahrender Kräuterheiler. Und in Per nath hat man Bedarf an solchen Leuten. Deshalb hoffte man, einen guten Preis für mich erzielen zu können, genauso für die Muscheln, die man im Laderaum verstaut hatte. Sie stammen aus der Tiefe des Mee res und sind äußerst selten, wie man mir sagte. Aber eine von ihnen hat mir das Leben gerettet. Als das Schiff sank, gelang es mir, in letz ter Sekunde eine solche Muschel zu finden. Der Innenraum ist hohl und speichert sehr viel Luft. Und nur das hat mir das Leben gerettet. Ich konnte dem Sog entkommen und bin dann abgetrieben worden, halb bewusstlos. Was ist... aus den anderen geworden? Ich bin doch nicht der einzige, der...« »Nein«, erwiderte die Frau. »Außer dir haben noch fünf andere überlebt. Du wirst sie gleich wieder sehen können. Man wird dich zu ihnen bringen, dann hast du noch jede Menge Zeit, mit ihnen zu spre chen. Sollte ich jedoch herausfinden, dass du nicht die Wahrheit ge sagt hast, wirst du es büßen.« »Was... was habt ihr mit mir vor?«, fragte Metate mit ängstlich klingender Stimme, während hinter seiner Stirn bereits ein Gedanke den anderen jagte. »Ich habe euch doch nichts getan - ich bin doch kein Feind und...« »Schweig, Alter!«, fiel ihm nun die andere Frau ins Wort, die sicht lich ungeduldiger war als ihre Gefährtin. »Es ist jetzt nicht die Zeit für lange Worte. Los, bringt ihn unter Deck zu den anderen!«, befahl sie zweien der dunkelgekleideten, wortlosen Männer, die das Deck säum ten. »Über dein Schicksal werden wir zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.« 152
Während Metate einen harten Griff an beiden Oberarmen spürte, ließ er noch einmal seine Blicke über das gesamte Deck schweifen. Er bemerkte die fremde Anordnung der gesamten Takelage. Das Schwar ze Schiff schien wirklich von weither zu kommen. »Wohin steuert dieses Schiff?«, wollte Metate wissen. »Ihr bringt uns doch zurück an Land, nicht wahr? Ich bin zu allem bereit - ich möchte nur nicht die Gestade Pernaths betreten.« »Pernath ist das Paradies im Vergleich zu dem, was dich und dei ne Gefährten erwartet, alter Mann«, belehrte ihn die Frau mit der Maske mit einer verächtlichen Geste. »Unser Ziel lautet SchaMasch.« Sie sah, wie Metate bei diesen Worten zusammenzuckte und bleich im Gesicht wurde. »Also ist dir dieser Ort nicht ganz unbekannt - ich den ke, du wirst uns sehr bald berichten müssen, wer dir von SchaMasch erzählt hat. Es gibt sichere Wege und Mittel, alles aus dir herauszuho len. Die schwarzen Krieger sind äußerst einfallsreich, wenn es darum geht, eine verstockte Zunge zu lösen. Am besten sagst du das gleich auch den anderen unter Deck. Hast du das verstanden, alter Mann?« Metate nickte heftig und ließ sich willenlos abführen. Denn jetzt war ihm klar, dass er buchstäblich vom Regen in die Traufe geraten war... * Kang dämmerte vor sich hin, in seine Gedanken versunken. Er war zornig, ja unbeschreiblich wütend darüber, dass die Pechsträhne ein fach nicht abriss, seit dieses verfluchte rothaarige Weib in sein Leben getreten war. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er gerne noch einmal das Rad der Zeit zurückgedreht und alles anders gemacht. Seine Getreuen, die vielen Menschen, die er nach der Schlacht zwischen Licht und Finsternis um sich versammelt hatte - sie warteten ganz sicher schon seit vielen Tagen auf seine Rückkehr. Begonnen hatte es eigentlich nur damit, dass er und eine Handvoll Männer in die nächste Stadt hatten reiten wollen, um sich dort mit dringend benötig ten Werkzeugen und Lebensmitteln auszurüsten. Dann aber war er in der Schänke der rothaarigen Frau begegnet und hatte erkannt, dass 153
diese Hexe ein furchtbares Geheimnis verbarg - ein Geheimnis, das er unbedingt hatte lüften wollen. Es ist mir jedoch zum Verhängnis geworden, dachte er. Zuerst als
Sklave an Bord eines Seelenverkäufers und jetzt in den Händen der rothaarigen Hexe und der anderen beiden Frauen. Sie sehen alle gleich aus; ob sie womöglich zu einem dunklen Orden gehören, der im Ge heimen all die Jahre über gewirkt hat? Dann wäre es umso wichtiger, ihn so rasch wie möglich zu zerschlagen! Aber das war leichter gesagt als getan. Sie hatten ihn, Albiron, Berak und Mol sowie einen weiteren über lebenden Sklaven namens Rosh hier unten in einem der verschlosse nen Lagerräume eingesperrt und sie zusätzlich noch so an Händen und Füßen gefesselt, dass sie sich nur mühsam bewegen konnten. Es sah nicht gut aus - ganz und gar nicht. Natürlich ahnten Kangs Gefährten nichts von seinen Gedanken, die ihm jetzt durch den Kopf gingen und vielleicht war es auch besser, wenn er einen Teil dieser Mutmaßungen erst einmal für sich behielt. Schließlich war es kein angenehmer Gedanke, in die Hände eines ge fährlichen und weltbedrohenden Ordens geraten zu sein, das war et was ganz anderes, denn als Sklaven gefangen gehalten zu werden. Ein Sklave konnte überleben, wenn er seinem neuen Herrn aufs Wort ge horchte. Aber zumindest jetzt spürte Kang, dass sein Tod und der sei ner Gefährten bereits in dem Augenblick beschlossene Sache gewesen war, als er Rica an Bord dieses seltsamen Schwarzen Schiffes wieder gegenübergestanden hatte. »Was... was ist das für ein Schiff?«, murmelte Rosh mit erschöpf ter Stimme und riss Kang damit aus seinen trüben Gedanken. »Ich habe so etwas noch nie im Leben gesehen. Habt ihr das Segel be merkt? Es ist ganz anders...« »Ich weiß«, erwiderte Kang. »Es scheint aus einem Teil dieser Welt zu kommen, zu dem unsere Völker wahrscheinlich noch gar kei nen Kontakt hatten, oder es muss schon so lange her sein, dass sich niemand mehr daran erinnert. Ich wünschte, ich könnte dir eine Ant wort geben, Rosh - aber ich kenne sie nicht.« 154
»Die Rothaarige ist nicht allein«, sagte jetzt Albiron. »Mein Herr und General, was hat das zu bedeuten? Kennt Ihr die Antwort?« »Ich glaube sie zu kennen«, erwiderte Kang ausweichend. »Aber ich fürchte, du willst dass lieber nicht wissen, Albiron. Wir sind in Ge fahr - in sehr großer Gefahr!« Er wusste, was er mit diesen Worten bei seinen Gefährten auslös te, aber er konnte und wollte jetzt nicht mehr sagen. Erneut wieder gefesselt und untätig hier ausharren zu müssen und nicht zu wissen, was aus ihnen wurde, zehrte sehr an den Nerven. »Müssen wir sterben?«, hakte der eingeschüchterte Mol jetzt nach, erhielt darauf aber keine direkte Antwort von Kang. Selbst wenn er dazu bereit gewesen wäre, seinem Gefährten wirklich alles zu sa gen, was er wusste und noch vermutete, wurden die Gedanken des alten Generals jetzt abgelenkt. Er hörte nämlich stolpernde Schritte irgendwo jenseits der Tür. Sekunden später wurde diese aufgerissen und die schweigenden schwarzen Krieger brachten einen weiteren Gefangenen hinein, den sie mit Schlägen und Stößen so traktierten, dass er unweit von Kang zusammenbrach und sich dann von seinen Peinigern willenlos fesseln ließ. Schweigen und Furcht breitete sich unter den bereits hier einge sperrten Männern aus, als sie sahen, mit welcher Rücksichtslosigkeit die Männer dieses Schiffes gegen diesen Alten vorgingen. Wer war dieser Mann? Weder Kang noch die anderen hatten ihn jemals zuvor gesehen. Nachdem die schwarzen Krieger ihn gefesselt hatten, verließen sie sofort wieder den Raum und verriegelten die Tür hinter sich. Während ihre Schritte draußen verhallten, hob der alte Mann den Kopf und blickte in die Runde. Es herrschte ein eigenartiges Zwielicht in diesem Raum, denn das Tageslicht fiel nur durch eine winzige Öffnung auf der gegenüberliegenden Seite. Dennoch schweiften die Blicke des Mannes, dessen faltenzerfurchtes Gesicht von einem weißen Bart umrahmt wurde, wachsam umher - und sie blieben etwas länger an Kang haf ten. 155
Kang wusste nicht, warum das so war, aber irgendwie hatte er für Sekunden den Eindruck, als kenne der alte Mann ihn! Denn dessen Blick war intensiv und um seine Lippen huschte ein leises Lächeln, das jedoch bald darauf wieder verschwand; nur Kang hatte es bemerkt. »Wer bist du, alter Mann?«, fragte Kang deshalb sofort. »Du warst nicht auf der My-Bodick. Also woher kommst du?« »Mein Name ist Metate und ich habe eine weite Reise hinter mir«, erwiderte dieser mit einem tiefen Seufzer. »Du bist General Kang, nicht wahr?« Er bemerkte das überraschte Aufflackern in den Augen des anderen und fuhr gleich fort. »Ich bin viel herumgekommen - wir sind uns einmal begegnet, ohne dass du es mitbekommen hast. Da mals, als die Truppen des Lichts aus Myrkosh fliehen mussten, sah ich dich und deine Getreuen davon reiten. Es ist lange her, aber ich habe es nicht vergessen und jetzt hat uns das Schicksal wieder zusammen geführt.« »Ein etwas merkwürdiger Zufall, Alter«, fügte Kang rasch hinzu, der dem Frieden immer noch nicht traute. Schließlich konnte der Alte auch ein Spion dieser rothaarigen Hexen sein, der sie jetzt aushorchen sollte. »Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich deinen Worten Glauben schenken soll.« »Es wäre besser, wenn du das tust, General Kang«, mahnte Meta te daraufhin. »Ich bin auf eurer Seite und der des Lichts, auch wenn sich viel verändert hat. Aber außer dir und deinen Gefährten gibt es noch andere, die für die richtige Seite kämpfen. Solange wir uns gegen die dunklen Mächte auflehnen, ist noch nicht alles verloren.« Etwas in den Worten Metates ließ Kang aufhorchen. Für Sekunden blickte er dem alten Mann ins Gesicht und sah seine eisblauen Augen, die jetzt eine innere Kraft ausstrahlten, wie sie Kang selten zuvor er lebt hatte. »Wer bist du wirklich, Metate?«, fragte er, während ein plötzlicher Gedanke durch seinen Kopf ging, der aber so vage war, dass er sich rasch wieder verflüchtigte. »Jemand, der viel von dieser Welt gesehen hat, General«, bekam Kang zur Antwort. »Ich habe viele Menschen durch die dunklen Mäch te sterben sehen und ich habe mir geschworen, zu verhindern, dass es 156
wieder einmal soweit kommen wird. Die Zeichen stehen nicht günstig, aber es gibt noch Hoffnung.« Er hielt einen winzigen Moment inne und sah Kang bei den fol genden Worten lange und nachdenklich an. »Vielleicht tröstet es dich zu erfahren, dass Thorin noch lebt. Ich bin ihm vor einigen Tagen be gegnet.« Kang blickte jetzt völlig fassungslos drein, denn irgendwie hatte diese unverhoffte Begegnung mit Metate etwas Unwirkliches. Der Alte schien allwissend zu sein, denn er kannte sowohl ihn als auch Thorin, der ebenfalls für das Licht gekämpft hatte. Kang blinzelte unwillkürlich, weil er zumindest für Bruchteile von Sekunden nicht mehr wusste, ob er jetzt träumte oder nicht. Aber dann tauchten seine und Metates Blicke erneut ineinander und Kang glaubte in den Augen Metates grenzenlose Weisheit zu erkennen. In kurzen Sätzen schilderte Metate dem einstigen General des Lichts seine Begegnung mit Thorin und ließ auch nicht unerwähnt, was am Beginn der Brücke von NIPUUR geschehen war. Kang unterbrach ihn nicht, aber er blickte trotzdem völlig überrascht drein, als Metate auf die neuen Götter des Lichts zu sprechen kam. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch den Raum und Kangs Gefähr ten blickten furchtsam zu Boden, als sie diese Worte aus Metates Mund hörten. Es klang geradezu unglaublich, was der alte Mann erlebt hatte und doch schien keiner der Männer daran zu zweifeln, dass Me tate die Wahrheit sprach. Wenn es also ein Schicksal gab, das noch auf der Seite Kangs und seiner Männer stand, dann hatte es zwei felsohne dafür gesorgt, dass ihnen Metate jetzt und hier begegnete, obgleich diese Begegnung nicht gerade unter angenehmen Vorzeichen stattfand. »Sie wollen uns nach SchaMasch bringen«, fuhr Metate dann fort. »Kennt ihr diesen Ort?« Albiron und Berak zuckten nur mit den Achseln, während sich Kang gedankenverloren durch seinen grauen Bart strich und sein Blick ziemlich nachdenklich wurde. 157
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte er zögernd. »Es gibt Gerüch te von einer großen Insel jenseits des südlichen Horizonts, aber ge naues weiß ich nicht darüber.« »Dann werden wir schon sehr bald Gelegenheit haben, näheres herauszufinden«, fuhr Metate fort. »Denn SchaMasch ist das Ziel des Schwarzen Schiffes - und auch das Thorins. Er nahm den Weg über die Brücke von NIPUUR und ich kann nur hoffen, dass er sein Ziel wohlbehalten erreicht. Ohne das Schwert Sternfeuer wird es nicht ein fach werden. Aber er ist fest entschlossen, sein Ziel zu erreichen. Viel leicht werden wir ihm noch begegnen, Kang.« »Du sprichst so, als wüsstest du schon, was geschehen wird, Me tate«, stellte Kang fest. »Bist du ein Prophet, der auch die Zukunft kennt, alter Mann? Du warst Zeuge, als die neuen Götter zu Thorin sprachen, also musst du wichtig sein.« »Das scheint nur so«, winkte Metate ab. »Die Weisheit meines Al ters erlaubt mir, so zu reden und zu denken. Ich habe viel erlebt und manches gesehen, deshalb versuche ich nur die richtigen Schlussfolge rungen zu ziehen. Das ist alles, Kang und es wird auch niemals mehr daraus werden.« Erneut glaubte Kang in den Worten Metates eine Spur Wehmut zu erkennen und das begriff er nicht. Sein Kopf dröhnte förmlich ange sichts der neuen Erkenntnisse, die er durch Metate gewonnen hatte und sie brachten sein bisheriges Weltbild erneut ins Wanken. Denn er wusste nichts von den neuen Göttern des Lichts und so wie Metate sie geschildert hatte, ließen sie ihn mehr zweifeln als Hoffnung schöpfen. NIPUUR, SchaMasch und der geheimnisvolle Orden der rothaarigen Frauen, das waren bis jetzt nur Bruchstücke eines großen Geheimnis ses, das Kang angesichts seiner momentanen Lage nicht erfassen konnte. »Was geschieht nur mit uns und dieser Welt?«, murmelte der alte General fassungslos und barg kurz sein Gesicht in beiden Händen. Die se Geste drückte seine augenblickliche innere Lage mehr als deutlich aus. Er war ein erfahrener Kämpfer und hatte an der Spitze der Heere des Lichts schon so manche Schlacht geschlagen. Er wusste jede Waf fe zu führen und einzusetzen, aber wenn es um Ränkespiele neuer, 158
unbekannter Götter und fremder, dunkler Mächte ging, dann wirkte selbst er hilflos wie ein Kind. Kang war kein Mann, der sich jemals für die wirklichen Zusammenhänge interessiert hatte. Ihm war von den Göttern eine wichtige Rolle zugewiesen worden und die hatte er aus gefüllt, ohne weitere Fragen zu stellen. Aber jetzt, wo die alte Ordnung längst zusammengebrochen war und einer neuen, mittlerweile sehr trügerischen Welt Platz gemacht hatte, stellte der alte General doch so manches in Frage. »Was ist mit den alten Göttern, Metate?«, richtete er nun das Wort an ihn. »Weißt du etwas über ihren Verbleib? All diejenigen, die an sie geglaubt und sie verehrt haben, brennen darauf, zu erfahren, was wirklich geschehen ist und...« »Sie sind verschwunden und werden niemals zurückkehren«, fiel ihm Metate mit nachdenklichem Blick ins Wort. »Es nutzt nichts mehr, den alten Zeiten nachzutrauern, Kang. Wir müssen mit der neuen Si tuation leben - jeder von uns. Und gerade jetzt spielt Thorin eine wich tigere Rolle als jemals zuvor. Wenn es uns gelingen sollte, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen, müssen wir uns auf seine Seite schla gen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass sich diese neue Religion nicht zu weit ausbreitet, denn es ist ein falscher Glaube!« »Wie soll etwas falsch sein, das Götter entscheiden?«, warf Kang ein, dem derartiges Philosophieren nicht behagte. »Dann müsste man ja die Existenz der gesamten menschlichen Welt anzweifeln, Metate.« »Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt, General«, erklärte der weißbärtige Mann. »Selbst du hast in diesem Spiel eine wichtige Rolle übernommen - du weißt es nur noch nicht.« »Spiel?«, ächzte nun Berak. »Mein Herr und General, dieser Mann redet irre. Hört nicht mehr auf das, was er sagt. Wir sind doch keine Spielfiguren, sondern Menschen, die um ihr Überleben kämpfen. Denn wir...« »Schon gut, Berak«, antwortete Kang, um seinen Gefährten zu beruhigen. »Es wird alles in Ordnung kommen. Vielleicht nicht jetzt gleich, aber wir werden alles dafür tun. Nicht wahr, Freunde?« Irgendwie schaffte es der einstige Führer der Lichtheere, seinen Gefährten trotz der angespannten Lage wieder Mut zu machen. Aber 159
in Kang selbst sah es ganz anders aus. Was er von Metate erfahren hatte, ließ ihn mehr denn je daran zweifeln, dass es überhaupt noch einen Sinn hatte, weiterzukämpfen. Irgendwie gingen ihm Metates Äußerungen nicht mehr aus dem Kopf und er sah sich selbst und auch Thorin als willenlose Puppen auf einem gigantischen Spielbrett, dessen Ausmaße er nicht erfassen konnte. Und hoch über ihm, jenseits der dichten Wolken, befand sich ein dämonisch lächelndes Gesicht einer unbekannten Wesenheit, die jeden weiteren Spielzug bereits ausgedacht hatte und ihn schon bald in die Tat umsetzen würde. Metate schwieg jetzt und schien ganz in seinen Gedanken versun ken zu sein. Und das Schwarze Schiff nahm weiterhin Kurs nach Sü den; es entfernte sich immer weiter von dem bekannten Teil der menschlichen Welt. Was jenseits des Horizonts wartete, darüber konn ten die Gefangenen nur vage Mutmaßungen anstellen. Die Wahrheit würden sie jedoch erst erfahren, wenn das Schwarze Schiff sein Ziel erreicht hatte.
Zwischenspiel IV: Das Gesetz des FÄHRMANNS Die Barke glitt immer tiefer hinab, durchstieß die Wolkendecke und schwebte jetzt von unsichtbaren Kräften getrieben über den sonnener füllten Horizont dieser Welt. Aber der FÄHRMANN genoss diesen An blick nicht mehr, denn alle seine Gedanken waren dunkel vor Trauer angesichts der Ausmaße von Gewalt und Zerstörung, die jetzt immer deutlicher wurden, je näher er dieser Welt kam und mit seinen Sinnen das registrierte, was dort unter ihm geschah. Er wusste, dass das Zentrum des Bösen von zwei Orten ausging. Einen davon kannte er bereits, denn er hatte sich schon einmal in die sen weiten himmlischen Hallen aufgehalten und die damaligen Mächte des Lichts von ihrem Thron gestoßen. Denn sie waren nicht in der La ge gewesen, die Finsternis in ihre Schranken zu verweisen. Und jetzt herrschten neue Mächte an diesem so geschichtsträchti gen Ort. Wesenheiten, die bestraft werden mussten für das, was sie 160
bereits angerichtet hatten - und erst recht für das, was sie noch plan ten... Der FÄHRMANN registrierte mit seinen feinen Sinnen auch das an dere dunkle Zentrum der Macht und sah fast schon mit Interesse auf diesen Ort hinab, wo sich die Dinge in fast schon beängstigender Schnelle entwickelten. Seine Sinne sahen alles, beobachteten die Ge schehnisse an verschiedenen Orten der Welt - und er schüttelte in einer stummen Regung den Kopf, als er erkannte, dass selbst der Mensch, in den er soviel Hoffnung gesetzt hatte, das Schicksal dieser Welt aus eigener Kraft nicht mehr würde ändern können. Stattdessen schien er sich auf die Seite der neuen Mächte geschlagen zu haben obwohl diese ganz andere Ziele verfolgten als diejenigen, an die der Krieger namens Thorin glaubte. Nur wusste er das nicht. Er schien blind zu sein! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel brach die Barke des FÄHR MANNS ungehindert in den Herrschaftsbereich des Gottes namens Loki herein, der zusammen mit seiner Gefährtin im Wolkenhort herrschte. Es geschah innerhalb eines einzigen Atemzugs - und das ohne jegliche Vorwarnung. Es war so als wenn man plötzlich einen Schritt nach vorn tat und dabei gleichzeitig von einer Welt in die andere überwechselte. Für ein Wesen wie den FÄHRMANN war das nichts Neues, aber für niedere Götter wie Loki und Sharazar stellte dies einen Schock dar, der sie buchstäblich zu Salzsäulen erstarren ließ. IHR NARREN!, bohrte sich die strenge und doch so jugendlich klingende Stimme in die Gehirne der neuen Götter des Lichts, während die Barke durch den Thronsaal schwebte und nur wenige Schritte vor Loki und Sharazar zum Stehen kam. ERKENNT IHR NICHT DEN FRE VEL, DEN IHR BEGANGEN HABT? SEID IHR WIRKLICH SO UNWIS SEND, DASS IHR EINFACH NICHT BEGREIFEN WOLLT, DASS IHR ZU WEIT GEGANGEN SEID? Der FÄHRMANN genoss das Entsetzen und den Schrecken, der sich in den Gesichtern Lokis und Sharazars widerspiegelte. Weil er ge nau erkannte, wie wahr seine Worte waren. Es widerte ihn an, wie sich die dunkle Hexe förmlich vor Furcht an ihren Gefährten klammerte und jetzt von ihm Hilfe erwartete. Natürlich wusste sie nichts von der Exis 161
tenz des FÄHRMANNS - Loki schien ihr wohl nicht alles gesagt zu ha ben. Aber das spielte keine Rolle mehr, denn es war nicht wichtig. »Gnade...«, murmelte der Gott, der Sharazar gegenüber immer den Starken gespielt hatte. Von diesem Verhalten kündete jetzt nichts mehr. IHR SEID BEIDE UNWÜRDIG, DASS ICH MICH AUCH NUR EINEN EINZIGEN AUGENBLICK NOCH LÄNGER MIT EUCH BEFASSE!, donnerte die Stimme des FÄHRMANNS auf sie nieder. IHR WOLLTET DIE WELT UND DIESE MENSCHEN BEHERRSCHEN UND DABEI HABT IHR NOCH NICHT EINMAL BEMERKT, DASS SICH DIE FINSTERNIS ERNEUT AUS BREITET. DAS CHAOS EBNET SICH SEINEN WEG UND IHR SEID DA GEGEN FAST BLIND VOR MACHTLUST. ICH WERDE EUCH AUS DIESER WELT ENTFERNEN, GESINDEL! Mit diesen Worten hob er die rechte Hand, deutete auf Loki und Sharazar und zwang sie mit seinen geistigen Kräften, sich zu erheben und zur Barke zu kommen. Menschen gegenüber besaßen die neuen Götter des Lichts einen sehr starken Willen, aber in Gegenwart des FÄHRMANNS verblasste diese Kraft zur völligen Bedeutungslosigkeit. DU WOLLTEST MACHT, LOKI? ICH WERDE DIR JETZT ZEIGEN, WAS WIRKLICHE MACHT ALLES VERMAG!, richtete der FÄHRMANN wieder das Wort an ihn, nachdem Loki und Sharazar unter Zwang zu ihm in die Barke gestiegen waren. SEHT NOCH EIN LETZTES MAL ZU RÜCK - ES WIRD DAS LETZTE SEIN, WAS IHR BEIDE JEMALS NOCH ZU GESICHT BEKOMMEN WERDET! Mit diesen Worten steuerte er die Barke aus dem Thronsaal, hin aus aus dem Wolkenhort und dann hinauf in den blauen Himmel. Loki und Sharazar waren gefangen und zur völligen Regungslosigkeit ver dammt. Nur in ihren Gesichtszügen spiegelte sich die Furcht und das Eingeständnis ihrer Schuld wider. Der FÄHRMANN achtete jedoch nicht darauf. Er steuerte die Barke weiter weg von dieser Welt, an einen Ort, den nur er kannte. Als Loki und Sharazar begriffen, was ihr Ziel war, weiteten sich ihre Augen vor Furcht. Aber das war nur der Beginn eines ewigen Martyriums, das sie nun bis ans Ende ihrer Tage erdulden mussten. Denn von diesem ab 162
geschiedenen Ort gab es keine Rückkehr mehr - auch für Götter nicht. Denn hier endete auch ihre Macht... Der FÄHRMANN verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an das Schicksal Lokis und Sharazars. Er wendete die Barke und ver ließ den Hort der ewigen Nacht. Dann machte er sich ein zweites Mal auf den Weg zur Welt der Menschen - mit der Absicht, nun den Kreis für immer und ewig zu schließen...
Kapitel 9: Am Ende eines langen Weges Das Unwetter am fernen Horizont schien in eine andere Richtung ge zogen zu sein. Mittlerweile hatten sich auch die dichten grauen Wolken verzogen und der Wind, der ihnen von Süden her das Marschieren für lange Zeit erschwert hatte, war auch endlich abgeflaut, so dass sie nun leichter und schneller vorankamen. Trotzdem empfand Thorin den Weg über die steinerne Brücke von NIPUUR als eigenartig monoton und mühsam. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er und Jesca das steinerne Monument betreten hatten. Sowohl hinter ihnen als auch vor ihnen breitete sich nur noch das endlose Meer aus, dessen Wellen ge gen die Brückenpfeiler schlugen. Es war ein sehr einsamer Ort, der beiden ganz deutlich ein Gefühl von Endlosigkeit vermittelte. Mehr als nur einmal hatte Thorin sich vorgestellt, wie lange es wohl noch dau ern mochte, bis sie das Ende der Brücke erreicht hatten. Vielleicht dauerte es noch Tage, vielleicht waren sie auch schon morgen am Ziel. Thorin hatte auch keine Ahnung, ob auf dem Weg über die Brücke noch weitere Gefahren auf sie lauerten. Das gewaltige Seeungeheuer, das ganz plötzlich aus den schäumenden Fluten aufgetaucht war und eines der beiden Pferde in die Tiefe gerissen hatte, war ihnen eine deutliche Warnung gewesen, deshalb verhielten sie sich jetzt umso vorsichtiger. Schließlich entschied Thorin, dass es besser sei, eine Ruhepause einzulegen, als sich die Sonne unerbittlich gen Westen neigte und schon bald darauf als glühender Feuerball im Meer unterging. Dämme 163
rung breitete sich über der Brücke von NIPUUR aus und schließlich erhellten nur noch vereinzelte Sterne am nächtlichen Firmament das Meer. »Leg dich hin und schlaf ein paar Stunden«, riet Thorin Jesca, weil er wusste, dass die Nadii-Amazone von dem langen Marsch erschöpft war. Natürlich hätte sie das niemals eingestanden, aber man brauchte nur einen kurzen Blick in ihre Augen zu werfen, um zu erkennen, wie sehr sie unter diesen Strapazen gelitten hatte. »Du kannst dann später die Wache bis zum Sonnenaufgang übernehmen.« Jesca nickte nur. Sie breitete eine Decke auf dem harten Gestein aus und deckte sich mit einer zweiten zu, versuchte es sich so bequem wie möglich zu machen. Unter anderen Umständen hätte sie auf die sem steinigen Boden eigentlich gar nicht schlafen können, aber mitt lerweile war die Müdigkeit weitaus stärker als jegliches Vermissen von Bequemlichkeit. Leise und gleichmäßige Atemzüge signalisierten Thorin schon we nige Minuten später, dass Jesca bereits schlief. Thorin selbst war zwar auch müde, aber längst nicht so erschöpft wie die Nadii-Amazone. Nur wenige Schritte neben der schlafenden Jesca sitzend blickte er hinaus auf das nächtliche Meer und hing sei nen eigenen Gedanken nach. Zuviel war in den letzten Tagen gesche hen: zuerst der Verlust seines Schwertes Sternfeuer und dann die Be gegnung mit den neuen Göttern, auf die er einen Eid hatte ablegen müssen. Erst jetzt schlich sich erstes Misstrauen ein, angesichts dieser Er eignisse. War es vielleicht doch falsch gewesen, sich so schnell an die neuen Götter zu binden und ihnen Gehorsam zu schwören? Loki und Sharazar - sie waren so ganz anders als die einstigen Götter des Lichts. Odan, Thunor und Einar waren gerechte Götter gewesen und erneut ergriff ihn ein Gefühl der Leere, als er daran dachte, wie oft der weise Einar seinen Weg gekreuzt hatte. Immer dann, wenn entschei dende Ereignisse bevorstanden, hatte er sich Thorin gezeigt und ihn gewarnt. Eigenartig, wie sehr ich ihn vermisse, dachte Thorin. Er war zwar
ein Gott und ich nur ein Mensch - aber zwischen uns beiden herrschte
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irgendwie eine seltsame... Vertrautheit. Ich wünschte, ich wüsste, was aus ihm und seinen Götterbrüdern geworden ist! Für einen kurzen Moment sah er Einars Gestalt vor sich, erblickte in seiner Erinnerung die Gestalt des Gottes mit dem milchigen Auge und das zweite Auge schimmerte eisblau. Dann verschwamm dieses Bild rasch wieder und wuchs mit anderen Eindrücken zu einem unbe stimmbaren Konglomerat zusammen, aber so rasch, dass Thorin die Ähnlichkeit zwischen zwei Bildern nicht wahrnahm. Er ging weiter nach vorn bis an den Rand der steinernen Brücke und blickte hinunter in die Wellen des Meeres. Dann wandte er sich ab, als er ganz fern am Horizont einen hellen Schimmer bemerkte. So schwach, dass ihn ein ungeübtes Auge kaum wahrnehmen konnte. Es war wie das Leuchten eines Feuers, dessen hellen Schein man in der Nacht schon aus großer Entfernung bemerken konnte. Aber dieses helle Leuchten hielt nur für wenige Augenblicke an, dann machte es wieder der Dunkelheit Platz. Unser Ziel ist nahe, schoss es Thorin durch den Kopf. Es wird nicht
mehr lange dauern, bis wir es erreicht haben. Ganz sicher am folgen den Tag.
Er blieb weiterhin wachsam und ignorierte die nächtliche Kälte so lange, bis er den Zeitpunkt für gekommen hielt, Jesca aufzuwecken. Er bückte sich zu ihr hinab und rüttelte sie einige Male an der Schulter, bis sie schließlich die Augen aufschlug und ihn zuerst verwirrt anblick te. »Es ist Zeit«, murmelte er und Jesca erhob sich. »Ich habe übri gens einen hellen Schimmer am Horizont bemerkt«, klärte er die NadiiAmazone über seine Beobachtung auf. »Er ist mittlerweile wieder ver schwunden, aber ich denke, unser Weg über die Brücke nähert sich bald seinem Ende.« »Ich wünschte, es wäre so, Thorin«, erwiderte Jesca. »Dieser Ort erscheint mir wie das Ende der bekannten und vertrauten Welt. Viel leicht ist dieses Leuchten, was du gesehen hast, auch nur ein giganti scher Vulkan am Ende der Welt, der uns verschlingen wird, wenn wir ihm zu nahe kommen...« 165
Thorin erwiderte nichts darauf, sondern streckte sich jetzt eben falls auf dem Boden aus. Er murmelte einen leisen Fluch, als er die harten Steine durch die Decke spürte. Dann aber deckte auch er sich zu und blickte hinüber zu Jesca, die unweit des Brückenrandes stand. Der laue Nachtwind wehte durch ihr langes schwarzes Haar und ihre schlanke und zugleich durchtrainierte Gestalt hob sich schwach vor dem fahlen Licht der Sterne ab. Sie ist eine geborene Kämpferin, dach te Thorin mit einem Lächeln. Eine bessere Gefährtin als sie gibt es
nicht. Auf Jesca kann ich mich verlassen - ich wünschte, unsere Wege hätten sich schon viel früher gekreuzt.
In diesen Minuten ertappte er sich bei dem Gedanken, wie viel ihm die Nadii-Amazone eigentlich bedeutete. Sie war so ganz anders als all die Frauen, denen er bisher begegnet war. Jesca ging ihren ei genen Weg, den Weg einer Amazonen-Kriegerin und doch war sie eine bewundernswert schöne Frau. Gerne hätte er ihr gesagt, was ihm jetzt durch den Kopf ging, aber er wusste auch, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Denn jenseits des Horizonts lauerte das Ungewisse, dem sie sich stellen mussten. Da blieb keine Zeit für Gefühle, aber vielleicht zu einem spä teren Zeitpunkt? In den wenigen Stunden bis zum Morgengrauen suchten wirre Träume Thorin heim. Träume, die um einen alten Mann kreisten, des sen eisblaue Augen Thorin intensiv fixierten... * Nur wenig später, nachdem die Sonne am Horizont wieder auftauchte und die letzten Schatten der Nacht vertrieb, weckte Jesca Thorin. Ihm kam es vor, als habe er nur wenige Minuten Schlaf hinter sich und dennoch hatte er einige Stunden geschlafen. Aber je heller es wurde, umso rascher verschwanden die Schatten der eigenartigen Traum phantasien aus seinem Kopf und ließen ihn wieder ganz klar sehen. »Ich habe dieses helle Leuchten ebenfalls noch einmal kurz gese hen«, berichtete Jesca, während sie die Decken zusammenpackte und zu einem Bündel verschnürte. »Es hat nicht lange angehalten, aber es 166
wirkte äußerst seltsam auf mich. Es schien wie ein großes Feuer, das Schiffen den Weg weisen soll.« »Wir werden es bald herausfinden, Jesca«, sagte Thorin. Die bei den stärkten sich noch und aßen etwas von dem Proviant, den ihnen die Bewohner des Fischerdorfes mitgegeben hatten. Viel war es nicht mehr - also mussten sie umso sparsamer damit umgehen. Anschlie ßend setzten die beiden ihren Weg fort, während die grelle Sonne im mer höher stieg. Im Gegensatz zu gestern war es weitaus wärmer, denn es war nichts mehr von dunklen Wolken oder sonstigen Anzeichen eines be vorstehenden Sturmes zu sehen. Buchstäblich von einem Tag zum anderen hatte das Wetter umgeschlagen und selbst der Nebel, der zu Beginn ihres Marsches große Teile der steinernen Brücke von NIPUUR eingehüllt hatte, hatte sich ganz verflüchtigt. Auch das Große Salzmeer war ruhig an diesem Morgen. Die Wellen wurden ein wenig vom See wind hin- und herbewegt, aber keinesfalls so stark und stürmisch, wie es gestern noch der Fall gewesen war. Der Nordlandwolf und die Nadii-Amazone marschierten weiter, folgten dem Lauf der Brücke, die fast kerzengerade nach Süden führte. Aber der Horizont blieb immer noch leer. Kein Land war in Sicht, auch keine noch so kleine Insel. Es war schon eigenartig, dieser Brücke zu folgen - sie schien tat sächlich die einzige Verbindung zu dieser geheimnisvollen Insel na mens SchaMasch zu sein, von deren Existenz Thorin und Jesca erst durch die neuen Götter erfahren hatten. Und das war umso seltsamer, denn selbst Thunor, Odan und Einar hatten Thorin über einen solchen Ort früher niemals etwas gesagt. Ob sie das auch nicht gewusst hat ten? Fragen, auf die Thorin höchstwahrscheinlich niemals eine Antwort erhalten würde... »Da drüben, Thorin!«, riss ihn Jescas Stimme plötzlich aus seinen Gedanken. »Sieh doch - da vorn am Brückenpfeiler hängt etwas!« Erst als Jesca ihm mit einem Finger die Richtung zeigte, entdeckte es Thorin ebenfalls. Die steinerne Brücke führte jetzt in einem weiten Bogen in Richtung Süden und deshalb sahen sie von ihrem jetzigen Standpunkt aus einige der wuchtigen Pfeiler. Tatsächlich - am Brü 167
ckenpfeiler gut fünfzig Schritt entfernt glaubte er die Umrisse einer Gestalt auszumachen. Deshalb beschleunigten beide jetzt ihre Schritte und erreichten den Pfeiler wenige Augenblicke später. Thorin trat an den Rand der Brücke und blickte nach unten in die Tiefe. Er zuckte zusammen, als er den Leichnam eines Mannes ent deckte, der zusammen mit einigen losen Planken und Brettern von der Strömung offensichtlich bis zur Brücke getrieben worden war. Sein Oberkörper war blutig und wies große Wunden auf. »Ob ihn eine der Meeresbestien so zugerichtet hat?«, wollte Jesca wissen, aber Thorin schüttelte nur stumm den Kopf. »Das sind Verletzungen von Schwerthieben oder Dolchstößen«, stellte er fest. »Siehst du die Bretter und Planken, die sich zwischen den Mauern festgeklemmt haben? Vermutlich stammen sie von einem Schiff. Vielleicht hat es an Bord einen heftigen Kampf gegeben und dann wurde das Schiff von dem Sturm heimgesucht, dessen Ausläufer wir in der Ferne bemerkt haben.« »Könnte möglich sein«, nickte auch Jesca. »Auf jeden Fall hat das dem armen Teufel auch nicht helfen können. Komm, lass uns weiter gehen - wir können sowieso nichts mehr tun.« Thorin wandte seinen Blick von dem schrecklichen Bild ab und marschierte weiter. Oh ja, das Große Salzmeer konnte tückisch sein. Die Seeleute erzählten sich in den Hafenstädten die furchtbarsten Ge schichten von Schiffen und Mannschaften, die das Meer überquert hatten und niemals am Ziel angekommen waren. * Sie waren dem Lauf der Brücke eine gute Stunde gefolgt, als ihr Marsch plötzlich ein jähes Ende fand. Nur wenige Schritte entfernt wurde die steinerne Brücke von einem Abgrund unterbrochen. Teile des Gesteins hatten sich aus ihrer Verankerung gelöst und waren nach und nach in die Tiefe gestürzt. Auf diese Weise hatte sich im Lauf der Zeit ein Einschnitt gebildet, der durch Erosion und das ständige raue Klima immer größer geworden war. Jetzt war der Spalt mehr als zwei Mannslängen breit und selbst drüben auf der anderen Seite schien das 168
Gestein nicht mehr besonders fest in den Mauern zu sitzen. Geblieben war nur noch ein ganz schmaler Steg. »Und jetzt?«, fragte Jesca mit einer Spur von Resignation in der Stimme, als sie hinunter in die Tiefe blickte und insgeheim davor zu rückschauderte, diesen Abgrund überwinden zu müssen. »Wie sollen wir nun weiterkommen? Der schmale Steg dort ist auch nicht sicher. Wenn wir nur einen Fuß darauf setzen, wird alles zusammenbrechen und wir stürzen hinab.« »Kann sein«, erwiderte Thorin, der sich schon seit einigen Minuten den Kopf darüber zerbrach, wie er dieses Problem am besten lösen konnte. »Aber wir können auch nicht umkehren, Jesca. Die neuen Göt ter haben klar und deutlich gesagt, dass der Weg nach SchaMasch nur über NIPUUR führt. Es gibt keine andere Möglichkeit - wir müssen ir gendwie versuchen, dieses Hindernis zu überwinden. Wenn wir ganz vorsichtig sind, müsste es doch gelingen. Gib mir das Seil, rasch!« »Thorin, du bist verrückt!«, rief Jesca aufgebracht, als sie ahnte, was ihr Gefährte vorhatte. »Willst Du dein Leben wegwerfen? Also, ich werde...« »Jesca, ich habe auch Angst!«, fiel er ihr ins Wort. »Nicht weniger als du - aber wir dürfen nicht umkehren. Erinnere dich daran, was Loki gesagt hat. Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es geht um die Zerstörung der Sternensteine und die befinden sich auf SchaMasch. Wir müssen das Netz der Macht stärken und wenn es er forderlich ist, einen gähnenden Abgrund zu überqueren, dann werde ich das eben tun!« Während er das sagte, nahm er das Seil aus Jescas Händen ent gegen, prüfte es kurz, bevor er eine Schlinge formte und sich dann noch einmal vergewisserte, dass der Knoten auch fest saß. Danach holte er aus und schleuderte die Schlinge über den Spalt hinüber zu einem herausragenden spitzen Felsen. Er musste es dreimal versu chen, bis er die Schlinge über die Spitze des Felsens geworfen hatte. Sofort zog er noch einmal daran und atmete erleichtert auf, als er feststellte, dass die Schlinge festsaß. Auch der Felsbrocken, der ein Teil der gewaltigen Steinbrücke war, schien noch fest zu sitzen und das reichte für Thorin aus, um sofort seine Entscheidung zu treffen. 169
»Wenn du das Beten noch nicht verlernt hast, dann tu es jetzt!«, sagte Thorin zu Jesca und setzte seinen Fuß auf den schmalen Steg. Er bemühte sich, nicht nach unten zu schauen und hielt sich mit der rechten Hand am Seil fest. Ganz langsam bewegte er sich nach vorn und stand nun auch mit dem anderen Bein auf dem Steg. Er spürte ein leichtes Knirschen des Gesteins unter sich und zuckte im ersten Mo ment unsicher zusammen. Dann aber konzentrierte er sich wieder ganz auf sein eigentliches Vorhaben. Zwei Mannslängen über eine gähnende Tiefe - das konnte manchmal eine Ewigkeit bedeuten. Wenn er jetzt das Gleichgewicht verlor und hinunterstürzte, bedeutete das den sicheren Tod! Aufregung hatte von Jesca Besitz ergriffen, als sie Thorin ganz langsam nach vorn gehen sah. Sie hatte längst etliche Stoßgebete still vor sich hingemurmelt und konnte nur hoffen, dass wenigstens eines davon auch erhört wurde. Thorin bekam das natürlich nicht mit. Er konnte nur geradeaus sehen und richtete seinen Blick konzentriert auf das Ende des Steges, das immer näher kam. Vielleicht noch sechs Schritte, dann nur noch zwei - und schließlich hatte er die andere Seite des Einschnittes erreicht. Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er sich an den Felsen lehnte und erst einmal nach Luft ringen musste. Dann aber nahm er das lose Ende des Seils in die Hand, warf es über die Spalte zurück zu Jesca, die es rasch auffing. »Und jetzt du!«, rief er ihr zu. »Los, binde dir das Ende um die Hüfte und vertrau ganz darauf, dass nichts schief gehen wird. Nun geh schon!« Er fluchte leise, als er das kurze Zögern der Nadii-Amazone be merkte. Jesca mochte keine Höhen und dieser Nachteil rächte sich jetzt. Sie trat nahe an den Spalt heran und schloss unwillkürlich die Augen, als sie kurz hinunter in die Tiefe sah, wo sich die Wellen am Brückenpfeiler brachen. »Jetzt komm doch!«, rief ihr Thorin zu. »Du hast doch bisher alles geschafft, was du wolltest, Jesca. Es wird dir gelingen - ich glaube an dich. Du willst den dunklen Mächten diesen Triumph doch nicht gön 170
nen, dass du nicht weiterkannst. Ich brauche dich bei allem, was uns noch bevorsteht!« Er schaffte es, sie mit seinen Worten soweit zu ermutigen, dass sie den rechten Fuß auf den Steg setzte und Sekunden später folgte der linke. Jesca hatte beide Arme ausgestreckt, um so das Gleichge wicht zu halten, blickte weder nach unten noch nach oben, sondern fixierte ihren Blick ausschließlich auf Thorin. Er lächelte ihr zu, winkte ihr mit der Hand, einfach weiterzugehen und gar nicht daran zu den ken, dass ihr etwas zustoßen könnte. Das war der Augenblick, wo erneut ein leichtes Knirschen des Ge steins zu hören war. Unmittelbar unter Jescas Füßen lösten sich jetzt winzige Steine aus dem Steg und fielen hinab in die Tiefe. Die NadiiAmazone wurde kreidebleich, als sie das sah und wollte nun unwillkür lich schneller gehen. Damit löste sie allerdings genau das aus, was Thorin unter allen Umständen hatte verhindern wollen. Unter dem heftigen Druck ihres rechten Fußes setzte sich das Knirschen fort und es blieb nicht bei den winzigen Steinen. Der schmale Steg geriet ins Wanken und brach Bruchteile von Sekunden später auseinander! »Jesca - Vorsicht!«, schrie Thorin mit sich überschlagender Stim me, als er das Unheil kommen sah. Seine Augen weiteten sich voller Entsetzen, als er mitbekam, wie Jesca wild mit den Armen ruderte und gleichzeitig versuchte, noch rechtzeitig vor dem Sturz in die Tiefe die andere Seite zu erreichen aber das schaffte sie nicht mehr! Geistesgegenwärtig griff Thorin mit beiden Händen nach dem Seil und wartete auf den heftigen Ruck, den es gleich geben würde. Er hörte den schrillen Angstschrei aus Jescas Kehle, aber er ließ das Seil nicht los. Ein heftiger Schmerz fuhr durch seine Armmuskeln, aber dann hatte er alles fest im Griff. »Jesca!«, schrie er. »Was ist mit dir?« »Zieh mich hoch, verdammt!«, brüllte Jesca mit Verzweiflung in der Stimme. »Bei allen noch existierenden Göttern dieser Welt - zieh mich hoch, so schnell du kannst, Thorin!« Thorin tat sein Bestes. Wenige Minuten später konnte er Jescas Kopf schon sehen und die Nadii-Amazone unterstützte ihn bei dieser 171
Rettung so gut sie konnte. Durch den heftigen Aufprall an den Brü ckenpfeiler hatte sie sich Arme und Beine aufgeschürft. In diesem Augenblick änderte sich alles. Der Himmel bewölkte sich erneut und die Sonne wurde plötzlich von dichten Wolken verschlun gen. Wind kam auf und zerrte an den Haaren von Thorin und Jesca. Das Tageslicht verdüsterte sich in ein geisterhaftes trübes Zwielicht, das die Augen des Kriegers und der Nadii-Amazone so sehr peinigte, dass sie kurz die Augen schließen mussten. Und als sie sie wieder öff neten, erblickten sie über sich etwas, was gar nicht sein durfte. »Thorin...«, murmelte Jesca und begann auf einmal unkontrolliert zu zittern. Auch der Nordlandwolf spürte die Bedeutung dieses Mo ments, aber er kam nicht mehr dazu, sich darüber Gedanken zu ma chen, denn nun wurden Jesca und er von einer unsichtbaren Hand gepackt und von den Füßen gerissen. Das geschah so rasch, dass ihre Sinne beinahe zu schwinden be gannen. In Bruchteilen von Sekunden wurden sie hinauf in den Him mel gerissen und Thorin spürte einen dumpfen Aufprall, verbunden mit einem heftigen Schmerz im Rücken. Ganz von ferne hörte er Jescas Angstschrei, während in seinem Gehirn das Echo einer kindlichen und dennoch sehr intensiven Stimme widerhallte. AUCH DU HAST VERSAGT, THORIN!, wandte sich diese Stimme an ihn. DU HAST DEINE AUFGABE NICHT ERFÜLLT. DENNOCH TRIFFT DICH NUR EIN TEIL DER SCHULD, DIE AUF DIESER WELT LASTET... Thorin wollte den Kopf heben, aber das gelang ihm nicht. Er fühlte sich, als wenn ein tonnenschweres Gewicht auf ihm lastete, das seine Glieder vollständig lahmte. Sein Gesichtsfeld war ziemlich einge schränkt. Er spürte Holz an seiner Wange, ganz dunkles und sehr har tes Holz. Und wenige Schritte von ihm entfernt befand sich etwas, das der Nordlandwolf jedoch nur ganz undeutlich wahrnahmen konnte. Eine Gestalt... Diese Gestalt war von einem hellen Schimmer umgeben, der ihn nur ahnen ließ, was das sein konnte. SCHLIESS DEINE AUGEN, THORIN, erklang dieselbe Stimme von eben. DU MUSST NICHT SEHEN, WAS JETZT GLEICH GESCHEHEN WIRD. IHR WERDET DIESE WELT JETZT VERLASSEN UND ES IST BESSER, WENN IHR NICHT ERKENNT, DASS NUN IHR ENDE KOMMEN 172
WIRD. DIE MENSCHEN HABEN NICHTS GELERNT, DESHALB WERDE ICH DIE DUNKLEN SEELEN VOM ANGESICHT DIESER WELT TILGEN. IN SCHUTT UND ASCHE, IN WOGEN UND STÜRMEN SOLL SIE UN TERGEHEN UND EINE MAUER DES LANGEN SCHWEIGENS WIRD SICH ÜBER DIE VERWÜSTETE OBERFLÄCHE STÜLPEN. DIEJENIGEN, DIE ES ÜBERLEBEN, WERDEN WIEDER LERNEN MÜSSEN, DEN EIGENTLI CHEN SINN DES LEBENS ZU LERNEN. UND WENN SIE ES NICHT SCHAFFEN, WIRD AUCH IHR LICHT ERL...SCHEN... Die letzten Worte des FÄHRMANNS wurden immer leiser. Dann legte sich eine bleierne Schwere über Thorins Sinne und hüllte sein Bewusstsein und das von Jesca in tiefe Dunkelheit. Danach begann die Zerstörung... * Über dem Großen Salzmeer entstand das Herz des Sturmes und von hier aus breitete sich ein aufkommender Orkan so rasch aus, dass selbst die Küstenländer die Vorboten des Unheils zu spüren begannen - lange bevor eine gigantische Flutwelle aus der Weite das endlosen Meeres auf die Küstenstädte zurollte und sie mit ihrer weißen Gischt verschlang. Alles Leben wurde ausgelöscht und weite Teile des Küs tenlandes veränderten für immer ihr Gesicht. Schiffe, die vor den Küsten kreuzten oder ihren Kurs auf hoher See fortsetzen wollten, wurden zum Spielball dieses gewaltigen Or kans. Heftige Stürme zerrissen die Segel, ließen die Masten wie kleine Hölzer zerbrechen und rissen sie in die tiefen Abgründe der hohen Wellentäler. Auch das Schwarze Schiff wurde ein Opfer dieses Sturms. Gerade als die Küste der Insel SchaMasch in Sicht kam, ereilte das Schicksal, das aus dem Willen des FÄHRMANNS entstanden war, das Schiff mit samt seiner Besatzung und seinen Gefangenen. Meterhohe Wellen schlugen gegen den Bug, ließen das Schiff förmlich erzittern und ächzen. Gerinya und ihre beiden Ordensschwes tern kämpften mit den schwarzen Kriegern gegen den Sturm an - aber 173
all ihre Mühen waren nur ein Hinauszögern ihres unvermeidlichen Schicksals. Ihre Todesschreie erstarben, als eine gigantische Welle auf das Schiff zu getrieben wurde und es voll mit ihrer Breitseite zerschmetter te. Das Schwarze Schiff zerbrach in zwei Teile und die Menschen an Bord wurden in die eiskalten Ruten gerissen. Der stürmische Wind schluckte ihre Todesschreie. Der laute Ruf eines alten Mannes, der einst ein Gott gewesen war, verhallte ungehört im Tosen des Sturms. Auch er hatte das Unheil nicht geahnt und begriff erst in der Sekunde seines Todes, dass höhe re Mächte eingegriffen hatten. Vielleicht überzog deshalb seine faltigen Züge noch ein kurzes Lächeln, bevor ihn das Gewicht seines Körpers in die nasse Tiefe zog und seine letzten Gedanken verlöschen ließ. Auf SchaMasch zitterte die Erde und glühende Lava schoss aus den Vulkanen auf der Inselmitte. Um die siebte Stunde des Tages her um stürzten die ersten Häuser der Küstenstädte ein, während die tod bringende Lava sich aus den Bergen ihren Weg ins Tal bahnte und alles mitriss, was sich ihr in den Weg stellte. Noch ganz von fern wa ren die mächtigen Rauchwolken zu sehen, die das Licht verschluckten und den Tag zur Nacht machten. Jenseits des Großen Salzmeeres erstickte Mercutta in einem hefti gen Sandsturm, wie ihn das Wüstenland schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Drei Tage lang wütete der Sturm und die Bewohner wa ren gezwungen, in ihren Häusern zu bleiben. Als sich der Sturm end lich legte, waren die Brunnen verschüttet und versiegt. Und die Sonne, die nach dem Sturm wieder ans Firmament trat, war heißer und be drohlicher als jemals zuvor. In den nördlichen Eisländern erstarrte jegliches Leben unter einer klirrenden Kälte. Selbst die Menschen litten unter diesem rauen Klima, suchten Schutz und Zuflucht - aber sie hielten ihr eigenes Schicksal dadurch nur um wenige Tage auf. Denn als von Westen her die Eis winde kamen und gewaltige Mengen Schnee mit sich brachten, erstarb auch dieses Leben in jenem Teil der Welt. Nachdem Wind und Sonne, Schnee und Eis ihren Dienst getan hatten, öffneten sich die dichten Wolken, die das Licht der Sonne an 174
vielen Stellen der Welt verhüllten und es begann zu regnen. Zuerst nur ganz langsam, dann immer heftiger und schließlich ergoss sich eine wahre Sintflut über die Länder der Welt. Flüsse traten über die Ufer, rissen alles mit sich auf ihrem Weg der Zerstörung. Tagelang regnete es - und als das Licht der Sonne endlich wieder zwischen den Wolken hervorkam, schien sie auf eine tote Welt. Und der FÄHRMANN wandte sein Haupt ab, weil er wusste, dass es ihn trotz seiner Abgeklärtheit erschütterte. Dann steuerte er die Barke mit den beiden bewusstlosen Menschen tiefer in den Kosmos hinein - und nur Sekunden später ward er nicht mehr gesehen... Ende
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