Sandra Cisneros
Das Haus in der Mango Street
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Esperanza heißt »Hoffnung« Seit einem Jahr...
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Sandra Cisneros
Das Haus in der Mango Street
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Esperanza heißt »Hoffnung« Seit einem Jahr lebt Esperanza, Tochter mexikanischer Einwanderer, in der Mango Street in Chicago. Es ist das schwierige Jahr, in dem sie vom Mädchen zur Frau wird. Von diesem Jahr erzählt sie und von den Menschen, die sie begleiten: von ihrer Mutter, die beim Kochen Madame Butterfly singt-, von ihrem Vater, der den Tod seiner Mutter in Mexiko beweint; von Darius, der die Schule haßt-, von Elenita, der Hellseherin, und vielen anderen mehr. ISBN 3-442-4:2344-9 Aus dem Amerikanischen von Gerd Burger Originalausgabe »The House on Mango Street« 1992 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch »Auf englisch bedeutet mein Name Hoffnung. Auf spanisch bedeutet er zu viele Buchstaben. Bedeutet er Traurigkeit, bedeutet er Warten. Er ist wie die Zahl Neun. Eine schmutzige Farbe. Er klingt wie die mexikanischen Schallplatten, die mein Vater sonntags früh beim Rasieren spielt, Lieder wie Schluchzen.« Seit einem Jahr lebt Esperanza, Tochter mexikanischer Einwanderer, in einem Haus in der Mango Street im Latinoviertel von Chicago. Esperanza haßt das kleine, heruntergekommene Haus, in das ihre Eltern ziehen mußten, wie sie auch das Viertel mit all seinem Schmutz, seiner Armut und seinen Enttäuschungen haßt. Eines Tages, das weiß sie, wird sie weggehen, denn sie ist zu stark, als daß die Mango Street sie für alle Zeit festhalten könnte. Doch sie weiß auch, daß sie zurückkommen wird. Sie wird zurückkommen, um die nachzuholen, die nicht wegkönnen, weil sie zu schwach sind. Denn sie wird immer Esperanza bleiben – und Esperanza bedeutet Hoffnung. In einer einzigartigen Mischung aus beschwörend einfacher Prosa, melancholischzarter Poesie und kraftvollem, lebensprühendem Realismus erzählt Sandra Cisneros vom Leben in den »barrios«, wo Liebe und Enttäuschungen, Hilfsbereitschaft und Gewalt, unbändige Lebensfreude und Hoffnung auf die Zukunft enge Nachbarn sind.
Autorin Sandra Cisneros wurde 1954 als Tochter eines mexikanischen Vaters und einer mexikanischamerikanischen Mutter in den »barrios« von Chicago geboren. Als einziges Mädchen unter sechs Brüdern mußte sie genau gegen die Vorurteile und Einschränkungen ankämpfen, die ihre Erzählungen beschreiben. Das Haus in der Mango Street ist Sandra Cisneros erstes Prosawerk, für das sie mit Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet wurde. Kleine Wunder, ihr drittes Buch, mit dem ihr der internationale Durchbruch gelang, ist in gebundener Ausgabe bei Goldmann erschienen.
A las Mujeres Für die Frauen
Inhaltsverzeichnis Das Haus in der Mango Street.....................................7 Haare .........................................................................10 Jungs und Mädchen ...................................................11 Mein Name ................................................................12 Cathy, die Königin der Katzen ..................................14 Unser Glückstag ........................................................16 Lachen .......................................................................19 Gils Möbelladen An- & Verkauf...............................20 Meme Ortiz................................................................22 Louie, seine Cousine und sein Cousin.......................24 Marin .........................................................................26 Die Leute, die keine Ahnung haben ..........................28 Es war einmal eine alte Frau, die hatte so viele Kinder, daß sie nicht ein noch aus wußte ...............................29 Alicia, die Mäuse sieht ..............................................31 Darius und die Wolken..............................................32 Und noch ein paar dazu .............................................33 Die Familie mit den kleinen Füßen ...........................37 Ein Sandwich mit Reis ..............................................41 Chanclas ....................................................................44 Hüften........................................................................46 Der erste Job..............................................................51 Papa, der im Dunklen müde aufwacht.......................54 Von Geburt an böse...................................................55 Elenita, Karten, Handfläche, Wasser.........................59 Geraldo ohne Familienname .....................................62 Ednas Ruthie..............................................................64 Earl aus Tennessee ....................................................67 Sire.............................................................................69 Vier mickrige Bäumchen...........................................71 No speak English.......................................................72
Rafaela, die dienstags immer Kokosmilch oder Papayasaft trinkt ........................................................75 Sally...........................................................................76 Minerva schreibt Gedichte ........................................79 Penner auf dem Dachboden.......................................80 Schön und grausam ...................................................81 Ein kluges Köpfchen .................................................82 Was Sally gesagt hat..................................................83 Der Affengarten.........................................................85 Rote Clowns ..............................................................90 Linoleumröschen .......................................................92 Die drei Schwestern...................................................93 Alicia und ich unterhalten uns auf der Treppe vor Ednas Haus ................................................................96 Ein Haus für sich allein .............................................97 Manchmal sagt die Mango auf Wiedersehen ............98
Das Haus in der Mango Street Wir haben nicht immer in der Mango Street gewohnt. Vorher wohnten wir in der Loomis im zweiten Stock, und davor in der Keeler. Vor der Keeler war es die Paulina, und an noch vorher kann ich mich nicht erinnern. Woran ich mich aber ganz deutlich erinnere, ist, daß wir viel umgezogen sind. Jedesmal sah es so aus, als hätten wir Zuwachs bekommen. Als wir in die Mango Street kamen, waren wir zu sechst - Mama, Papa, Carlos, Kiki, meine Schwester Nenny und ich. Das Haus in der Mango Street gehört uns, und wir müssen an niemanden Miete zahlen und den Garten nicht mit den Leuten aus dem Erdgeschoß teilen und müssen nicht aufpassen, ob wir zu viel Krach machen, und es gibt keinen Hausbesitzer, der mit dem Besen an die Decke hämmert. Trotzdem ist es nicht das Haus, das wir uns vorgestellt hatten. Wir mußten schnell raus aus der Wohnung in der Loomis. Die Wasserleitungen gingen kaputt, und der Hausbesitzer wollte sie nicht reparieren, weil das Haus zu alt war. Wir mußten schnell raus da. Wir benutzten das Bad nebenan und schleppten das Wasser in leeren Plastikflaschen rüber. Deshalb suchten Mama und Papa nach einem Haus, und deshalb zogen wir in das Haus in der Mango Street, weit weg, auf der anderen Seite der Stadt. Sie haben uns immer erzählt, eines Tages würden wir in ein Haus ziehen, ein richtiges Haus, das uns für immer gehört, damit wir nicht jedes Jahr umziehen müssen. Und unser Haus würde fließendes Wasser haben und Leitungen, die in Ordnung sind. Und innen gäbe es eine richtige Treppe, keine Treppenhaustreppe, sondern eine -7-
Treppe drinnen wie bei den Häusern im Fernsehen. Und wir hätten einen Keller und mindestens drei Badezimmer, damit wir nicht jedem Bescheid sagen müssen, wenn wir in die Wanne steigen. Unser Haus würde weiß sein mit Bäumen drumrum, einem riesengroßen Garten und Rasen ohne Zaun. Das war das Haus, von dem Papa schwärmte, wenn er ein Lotterielos gekauft hatte, und das war das Haus, von dem Mama in den Geschichten träumte, die sie uns erzählte, bevor wir ins Bett gingen. Aber das Haus in der Mango Street ist überhaupt nicht so, wie sie gesagt haben. Es ist klein und rot mit schmalen niedrigen Stufen davor und hat so kleine Fenster, daß man meinen kann, sie halten den Atem an. An manchen Stellen bröckeln die Ziegelsteine ab, und die Haustür ist so verzogen, daß man feste drücken muß, um reinzukommen. Es gibt keinen Vorgarten, bloß vier kleine Ulmen, die die Stadt am Rinnstein gepflanzt hat. Hinterm Haus ist eine kleine Garage für das Auto, das wir noch nicht haben, und ein kleiner Garten, der neben den Mietshäusern auf beiden Seiten noch kleiner aussieht. Es gibt eine Treppe in unserem Haus, aber es ist eine gewöhnliche Treppenhaustreppe, und das Haus hat nur ein Bad, ein ganz kleines. Jeder muß sich das Schlafzimmer mit jemand anderem teilen - Mama mit Papa, Carlos mit Kiki, ich mit Nenny. Einmal, als wir noch in der Loomis wohnten, kam eine Nonne aus unserer Schule vorbei und sah mich vorm Haus spielen. Der Waschsalon im Erdgeschoß war mit Brettern vernagelt, weil zwei Tage vorher eingebrochen worden war, und der Besitzer hatte WEITERHIN GEÖFFNET auf das Holz gepinselt, um keine Kundschaft zu verlieren. Wo wohnst du? fragte sie. Da, sagte ich und zeigte auf den zweiten Stock. -8-
Da wohnst du? Da. Ich mußte hochschauen, wo sie hinzeigte - auf den zweiten Stock, wo die Farbe abblätterte und Papa Holzlatten vor die Fenster genagelt hatte, damit wir nicht rausfielen. Da wohnst du? Sie sagte das in einem Ton, daß ich mir wie ein Nichts vorkam. Da. Da wohnte ich. Ich nickte. Damals wurde mir klar, daß ich ein Haus haben mußte. Ein richtiges Haus. Eins, auf das ich zeigen kann. Aber dieses hier ist es nicht. Das Haus in der Mango Street ist es nicht. Fürs erste, sagt Mama. Vorübergehend, sagt Papa. Aber ich weiß, wie solche Sachen laufen.
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Haare In unserer Familie hat jeder andere Haare. Das Haar von meinem Papa ist wie ein Besen, alles steht kerzengerade in die Höhe. Und ich, mein Haar ist faul. Es gehorcht weder Haarspangen noch Gummibändern. Das Haar von Carlos ist dick und gerade. Er braucht es nicht zu kämmen. Nennys Haar ist glatt - schlüpft dir aus der Hand. Und Kiki, der der Jüngste ist, der hat Haare wie Pelz. Aber das Haar von meiner Mutter, das Haar von meiner Mutter, wie kleine Rosetten, ganz lockig und hübsch, wie kleine Zuckerkringel, weil sie es den ganzen Tag in kleine Lockenwickel gelegt hat, ist süß, um die Nase reinzustecken, wenn sie dich umarmt, dich umarmt, und du dich geborgen fühlst, ist der warme Geruch von Brot, bevor es gebacken wird, ist der Geruch, wenn sie für dich ein bißchen Platz macht neben sich im Bett, wo es noch warm ist von ihrer Haut, und du kuschelst dich an sie, und draußen regnet es, und Papa schnarcht. Das Schnarchen, der Regen und Mamas Haar, das riecht wie Brot.
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Jungs und Mädchen Die Jungs und die Mädchen leben in getrennten Welten. Die Jungs in ihrem Universum, und wir in unserem. Meine Brüder zum Beispiel. Sie haben mir und Nenny eine Menge zu erzählen, wenn wir im Haus drin sind. Aber draußen darf keiner sehen, daß sie mit Mädchen reden. Carlos und Kiki sind eng miteinander befreundet… aber nicht mit uns. Nenny ist zu klein, um meine Freundin zu sein. Sie ist bloß meine Schwester, und dafür kann ich nichts. Du suchst dir deine Schwestern nicht aus, du kriegst sie einfach, und manchmal sind sie eben wie Nenny. Sie darf nicht mit den Kindern von Frau Vargas spielen, sonst wird sie so ein Früchtchen wie die. Und weil sie gleich nach mir kommt, bin ich verantwortlich für sie. Eines Tages werde ich eine beste Freundin haben, nur für mich. Eine, der ich alle meine Geheimnisse verraten kann. Eine, die meine Witze versteht, ohne daß ich sie erklären muß. Bis dahin bin ich ein roter Luftballon, ein festgebundener Luftballon.
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Mein Name Auf englisch bedeutet mein Name Hoffnung. Auf spanisch bedeutet er zu viele Buchstaben. Bedeutet er Traurigkeit, bedeutet er Warten. Er ist wie die Zahl Neun. Eine schmutzige Farbe. Er klingt wie die mexikanischen Schallplatten, die mein Vater sonntags früh beim Rasieren spielt, Lieder wie Schluchzen. Meine Urgroßmutter hieß so, und jetzt heiße ich so. Sie war auch eine Pferdefrau, wie ich im chinesischen Jahr des Pferds geboren - was angeblich Pech bringt, wenn du als Frau zur Welt kommst. Aber ich glaube, das ist eine chinesische Lüge, weil es die Chinesen, genau wie die Mexikaner, nicht mögen, wenn ihre Frauen stark sind. Meine Urgroßmutter. Ich hätte sie gern gekannt, eine Frau wie ein Wildpferd, so wild, daß sie nicht heiraten wollte, bis mein Urgroßvater ihr einen Sack über den Kopf warf und sie davonschleppte. Einfach so, als ob sie ein toller Kronleuchter wäre. So hat er das gemacht. Und man sagt, daß sie ihm nie verzieh. Sie sah ihr Leben lang zum Fenster raus, wie so viele Frauen, die ihre Trauer auf den Ellbogen aussitzen. Ich frage mich, ob sie das Beste aus dem machte, was sie hatte, oder ob sie traurig war, weil sie nicht all das sein konnte, was sie sein wollte. Esperanza. Ich habe ihren Namen geerbt, aber ich habe keine Lust, ihren Platz am Fenster zu erben. In der Schule sprechen sie meinen Namen komisch aus, als ob die Silben aus Blech wären und einem am Gaumen weh tun. Aber im Spanischen ist mein Name aus einem weicheren Stoff gemacht, beinahe wie Silber, nicht ganz so dick wie der Name meiner Schwester, Magdalena, der -12-
häßlicher ist als meiner. Magdalena, die wenigstens nach Hause kommen und Nenny werden kann. Aber ich bleibe immer Esperanza. Ich würde mich gern umtaufen, mir einen neuen Namen zulegen, der meinem wirklichen Ich eher entspricht, dem Ich, das niemand sieht. Esperanza als Lisandra oder Maritza oder Zeze X. Jawohl. So was wie Zeze X klingt gut.
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Cathy, die Königin der Katzen Sie sagt, ich bin die Cousine dritten Grades der Königin von Frankreich. Sie wohnt im ersten Stock, da drüben, gleich neben Joe, dem Babygrabscher. Bleib weg von dem, sagt sie. Der ist gefährlich. Benny und Bianca, denen gehört der Laden an der Ecke. Die sind okay, aber lehn dich nicht an die Theke mit den Süßigkeiten. Zwei kleine Mädchen, zerlumpt wie Ratten, wohnen auf der anderen Straßenseite. Mit denen willst du nichts zu schaffen haben. Edna ist die Frau, der das Mietshaus neben euch gehört. Früher hatte sie ein Mietshaus groß wie ein Walfisch, aber ihr Bruder hat's verkauft. Die Mutter der beiden sagte nein, nein, verkauft es auf keinen Fall. Ich tu's nicht. Und dann schloß sie für immer die Augen, und er verkaufte es. Alicia ist hochnäsig, seit sie auf dem College ist. Früher mochte sie mich, aber jetzt nicht mehr. Cathy ist die Königin der Katzen, sie hat Katzen und Katzen und noch mehr Katzen. Ganz kleine Kätzchen, ganz große Katzen, dürre Katzen, kranke Katzen. Katzen, die schlafend rumliegen wie kleine Schmalzkringel. Katzen, die auf dem Kühlschrank thronen. Katzen, die auf dem Eßtisch herumspazieren. Ihr Haus ist wie das Katzenparadies. Du suchst eine Freundin, sagt sie. Okay, ich werde deine Freundin sein. Aber bloß bis nächsten Dienstag. Da ziehen wir nämlich weg. Müssen wir. Dann, als hätte sie vergessen, daß ich gerade erst hierhergezogen bin, sagt sie: Die Gegend hier kommt immer weiter runter. Eines Tages wird Cathys Vater nach Frankreich fliegen müssen, damit er ihre Cousine dritten oder vierten Grades väterlicherseits ausfindig macht und das Stammschloß der Familie erbt. Woher ich das weiß? Sie hat es mir erzählt. -14-
Und einstweilen müssen sie halt wegziehen, ein paar Ecken weiter nördlich von der Mango Street. Jedesmal ein paar Ecken weiter, wenn Leute wie wir anfangen, in die Gegend zu ziehen.
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Unser Glückstag Fünf Dollars ist billig, weil ich keine Freundinnen hab außer Cathy, die nur bis zum Dienstag meine Freundin ist. Fünf Dollars, fünf Dollars. Sie versucht irgendein Mädchen zu finden, die etwas zuschießt, damit sie ein Fahrrad von diesem Jungen namens Tito kaufen können. Sie haben schon zehn Dollars, und sie brauchen bloß noch fünf. Nur fünf Dollars, sagt sie. Sprich nicht mit denen, sagt Cathy. Merkst du nicht, daß die wie Besen riechen. Aber ich mag sie. Ihre Kleider sind ganz zerrupft und alt. Sie haben glänzende Sonntagsschuhe ohne Socken an. Das macht ihre nackten Knöchel feuerrot, aber ich mag sie. Besonders die Große, die lacht, daß alle Zähne blitzen. Ich mag sie, obwohl sie der Kleinen das ganze Reden überläßt. Fünf Dollars, sagt die Kleine, nur fünf Dollars. Cathy zieht mich am Arm, und ich weiß, daß sie für immer böse sein wird, egal, was ich als nächstes mache. Wartet einen Moment, sage ich und renne ins Haus, um die fünf Dollars zu holen. Ich habe drei Dollars gespart, und ich nehme mir zwei von Nenny. Sie ist nicht zu Hause, aber ich bin sicher, sie wird sich freuen, wenn sie erfährt, daß wir ein Fahrrad besitzen. Als ich zurückkomme, ist Cathy fort, wie ich es mir schon gedacht hatte, aber das ist mir egal. Ich hab zwei neue Freundinnen und ein Fahrrad obendrein. Ich heiße Lucy, sagt die Große. Das hier ist Rachel, meine Schwester. -16-
Ich bin ihre Schwester, sagt Rachel. Wer bist du? Und ich wünsche mir, ich hieße Cassandra oder Alexis oder Maritza - alles, bloß nicht Esperanza -, aber als ich ihnen meinen Namen sage, lachen sie nicht. Wir kommen aus Texas, sagt Lucy und grinst. Ihr da ist hier geboren, aber ich, ich bin Texanerin. Du meinst sie da, sage ich. Nein, ich bin aus Texas, und sie kapiert es nicht. Das Fahrrad gehört uns dreifach, sagt Rachel, die schon an andere Sachen denkt. Heute mir, morgen Lucy, und übermorgen dir. Aber jede von uns will heute damit fahren, weil das Fahrrad neu ist, also beschließen wir, daß wir uns erst nach morgen abwechseln. Heute gehört es uns allen. Von Nenny erzähle ich ihnen vorerst noch nichts. Es ist zu kompliziert. Vor allem, weil Rachel Lucy beinahe ein Auge ausgeschlagen hat, als es darum ging, wer als erste damit fahren darf. Aber schließlich sind wir uns einig, daß wir gemeinsam damit fahren. Warum nicht? Weil Lucy lange Beine hat, tritt sie die Pedale. Ich sitze auf dem Gepäckträger, und Rachel ist so dünn, daß sie sich auf die Lenkstange setzen kann. Das macht zwar das Fahrrad ganz wacklig, als wären die Räder aus Spaghetti, aber nach einer Weile gewöhnt man sich dran. Wir fahren erst schnell, dann immer schneller. Vorbei an unserem Haus, traurig, rot und an manchen Stellen am Abbröckeln, vorbei an Mr. Bennys Lebensmittelladen an der Ecke und die Avenue runter, die gefährlich ist. Waschsalon, Trödelladen, Drogerie, Fenster und Autos und noch mehr Autos, und ums Karree herum zurück zur Mango Street. Leute im Bus winken uns zu. Eine sehr dicke Frau, die -17-
über die Straße geht, sagt, da habt ihr aber echt mächtig aufgeladen. Rachel brüllt, Sie haben aber auch mächtig aufgeladen. Sie ist ganz schön frech. Wir fahren und fahren, immer die Mango Street runter. Rachel, Lucy und ich. Mit unserem neuen Fahrrad. Und wir lachen unentwegt, den ganzen Rückweg im Zickzack lang.
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Lachen Nenny und ich sehen nicht aus wie Schwestern… nicht auf den ersten Blick. Man kann es nicht gleich erkennen wie bei Rachel und Lucy, die dieselben dicken Lippen haben wie Eis am Stiel, genau wie alle anderen in ihrer Familie. Aber ich und Nenny, wir sind uns ähnlicher, als du denkst. Unser Lachen zum Beispiel. Nicht so ein schüchternes Eiskarrenklingelgekichere wie bei Rachels und Lucys Familie, sondern urplötzlich und überraschend wie ein Berg Geschirr, der runterknallt. Und andere Sachen, die ich nicht erklären kann. Einmal gingen wir an einem Haus vorbei, das mir vorkam wie die Häuser, die ich in Mexiko gesehen hatte. Ich weiß nicht, wieso. Es war nichts an dem Haus, das genauso aussah wie bei den Häusern, an die ich mich erinnern kann. Ich bin nicht einmal sicher, wieso ich das überhaupt dachte, ich hatte einfach so ein Gefühl. Schaut euch das Haus an, sagte ich, es sieht aus wie Mexiko. Rachel und Lucy schauen mich an, als war ich verrückt, aber bevor sie loslachen können, sagt Nenny: Ja, das ist Mexiko, stimmt. Genau dasselbe hab ich mir auch gedacht.
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Gils Möbelladen An- & Verkauf Es gibt da einen Trödelladen. Der gehört einem alten Mann. Von dem haben wir einmal einen gebrauchten Kühlschrank gekauft, und Carlos hat ihm einen Karton Zeitschriften für einen Dollar verkauft. Der Laden ist klein, und es kommt bloß ein bißchen Licht durch ein schmutziges Fenster rein. Der Mann macht das Licht nicht an, wenn du kein Geld hast, um Sachen zu kaufen, also schauen wir uns im Dunkeln um und sehen alle möglichen Sachen, ich und Nenny. Tische mit den Beinen nach oben und Reihen über Reihen von Kühlschränken mit runden Ecken und Sofas, die ganz toll stauben, wenn du draufhaust, dazu hundert Fernseher, die wahrscheinlich alle kaputt sind. Alles steht übereinander gestapelt, so daß überall im Laden bloß winzige Gänge bleiben, wo du durchgehen kannst. Du kannst dich da leicht verirren. Der Besitzer ist ein Schwarzer, der nicht viel redet, und manchmal, wenn du es nicht schon wüßtest, könntest du lange da drin sein, bis deine Augen ein goldenes Brillengestell entdecken, das im Dunkeln schwebt. Nenny, die sich für schlau hält und mit jedem alten Mann quatscht, stellt eine Menge Fragen. Ich hab nie was zu ihm gesagt, außer das eine Mal, als ich für ein Zehncentstück die Freiheitsstatue kaufte. Aber Nenny - einmal höre ich sie fragen: »Was ist denn damit«, und der Mann sagt, »Das da, das ist eine Musikbox«, und ich drehe mich rasch um, weil ich mir denke, daß er so eine hübsche Spieluhr meint, mit Blumen draufgemalt und einer Tänzerin drin. Nur steht da, wo der alte Mann hinzeigt, nichts dergleichen, bloß ein Holzkasten, der uralt ist und innen drin eine große Messingschallplatte mit Löchern hat. Dann kurbelt er den Kasten -20-
an, und alle möglichen Sachen passieren. Es hört sich an, als hätte er plötzlich über all den staubigen Möbeln und Schwanenhalsschatten hundert Säcke Motten freigelassen; es fährt uns echt in die Knochen. Es hört sich an wie Wassertropfen. Oder wie Marimbas, bloß mit einem komischen kleinen Zupfton dabei, wie wenn man mit den Fingern über die Zähne eines Metallkamms streicht. Aber dann, ich weiß nicht wieso, muß ich mich umdrehen und so tun, als wär mir der Kasten egal, damit Nenny nicht sieht, wie bescheuert ich bin. Aber Nenny, die noch bescheuerter ist, fragt schon wieviel, und ich kann sehen, wie sie mit den Fingern nach dem Kleingeld in ihren Hosentaschen kramt. »Das da«, sagt der alte Mann und schließt den Deckel, »das da ist unverkäuflich.«
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Meme Ortiz Meme Ortiz ist in das Haus von Cathy gezogen, nachdem sie mit ihrer Familie fortgezogen war. Er heißt nicht wirklich Meme. Er heißt Juan. Aber als wir ihn nach seinem Namen fragten, sagte er Meme, und alle Leute nennen ihn so außer seiner Mutter. Meme hat einen Hund mit grauen Augen, einen Schäferhund mit zwei Namen: einen auf englisch und einen auf spanisch. Der Hund ist riesig, wie ein Mann in einem Hundekostüm, und rennt genauso wie sein Herrchen: ungelenk und wild, daß die Pfoten nur so durch die Gegend fliegen wie Schuhe, die du nicht zugebunden hast. Cathys Vater hat das Haus gebaut, in das Meme eingezogen ist. Es ist aus Holz. In den Zimmern sind die Fußböden schief. Manche Zimmer bergauf. Manche bergab. Und nirgends Einbauschränke. Vor der Haustür sind einundzwanzig Stufen, ganz windschief und abstehend wie schlechte Zähne (mit Absicht so gemacht, hat Cathy gesagt, damit der Regen abläuft), und wenn Memes Mama aus dem Eingang ruft, dann stolpert Meme die einundzwanzig Stufen hoch, und der Hund mit den zwei Namen stolpert hinterdrein. Hinterm Haus ist ein Garten, vor allem harte Erde und ein Haufen ölverschmierte Bretter, der früher mal eine Garage war. Aber was einem am deutlichsten im Gedächtnis bleibt, ist dieser Baum, riesengroß, mit dicken Ästen und Dutzenden von Eichhörnchen in den Zweigen hoch oben. Ringsum Hausdächer, Teerpappe und steil gebautes Gebälk, und in den Dachrinnen die Bälle, die nie wieder runtergekommen sind. Unten am Fuße des Baums bellt der Hund mit den zwei Namen ins Blaue hoch, und -22-
ganz da hinten am Ende des Karrees ist unser Haus, das noch kleiner aussieht als sonst, auf Pfoten dahockt wie eine Katze. Das ist der Baum, den wir für unser Erstes Alljährliches Tarzan-Weitsprungturnier aussuchten. Meme gewann. Und brach sich beide Arme.
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Louie, seine Cousine und sein Cousin Unter Memes Wohnung ist eine Souterrainwohnung, die Memes Mutter hergerichtet und an eine Familie aus Puerto Rico vermietet hat. An Louies Familie. Louie ist der Älteste in einer Familie mit lauter kleinen Schwesterchen. Eigentlich ist er der Freund meines Bruders, aber ich weiß, daß er eine Cousine und einen Cousin hat und daß seine TShirts immer aus der Hose hängen. Louies Cousine ist älter als wir. Sie wohnt bei Louies Familie, weil ihre eigene Familie in Puerto Rico ist. Sie heißt Marin oder Maris oder so ähnlich und trägt immer dunkle Nylonstrümpfe und eine Menge Schminke, die sie umsonst kriegt, weil sie Avon-Kosmetik verkauft. Sie darf nicht raus muß auf Louies Schwestern aufpassen -, aber sie steht viel in der Haustür und singt immer dasselbe Lied und schnippt mit den Fingern dazu: Äpfel, Pfirsiche, Kürbiskuhuchen. Du bist verliebt, und ich will's versuhuchen. Louie hat auch einen Cousin. Wir haben ihn bloß ein einziges Mal gesehen, aber das war toll. Wir spielten gerade Volleyball in der kleinen Straße hinter den Häusern, als er ankam in einem dicken fetten gelben Cadillac mit Weißwandreifen und einem gelben Schal, der am Außenspiegel flatterte. Louies Cousin hatte seinen Arm aus dem Fenster hängen. Er hupte ein paarmal, und eine Menge Köpfe schauten aus Louies Hinterfenster, und dann kamen eine Menge Leute aus dem Haus: Louie, Marin und alle die kleinen Schwesterchen von Louie. Alle schauten ins Auto rein und fragten, wo er es her hat. Das Auto hatte weiße Fußmatten und weiße Ledersitze. -24-
Wir wollten alle mitfahren und fragten, wo er es her hat. Louies Cousin sagte: »Los, steigt ein.« Wir mußten alle eine von Louies kleinen Schwesterchen auf den Schoß nehmen, aber das war okay. Die Sitze waren riesig und weich wie ein Sofa, und im Rückfenster war ein kleines weißes Kätzchen, dessen Augen aufleuchteten, wenn das Auto bremste oder abbog. Die Fenster kurbelte man nicht hoch wie bei gewöhnlichen Autos. Statt dessen war da ein Knopf, der das automatisch machte. Wir fuhren sechsmal die kleine Straße hinter den Häusern hoch und ums Karree, aber Louies Cousin sagte, er würde uns gleich zu Fuß heimlaufen lassen, wenn wir nicht aufhören, an den Fenstern rumzuspielen oder am Radio rumzufummeln. Als wir zum siebten Mal in die kleine Straße einbogen, hörten wir Sirenen… erst ganz leise, aber dann lauter. Louies Cousin hielt das Auto auf der Stelle an und sagte: »Alle raus aus dem Auto!« Dann haute er mit Vollgas ab, daß das Auto bloß noch ein gelber Schatten war. Wir hatten kaum Zeit zum Nachdenken, als schon das Polizeiauto mit Karacho in die kleine Straße einbog. Wir sahen, wie der gelbe Cadillac am Ende des Karrees nach links abzubiegen versuchte, aber die Straße hinter unseren Häusern ist zu winzig, und das Auto krachte gegen einen Laternenmast. Marin schrie, und wir rannten das Karree runter, dahin, wo die Sirene des Polizeiautos blaue Kreise drehte, daß einem ganz schwindlig wurde. Die Schnauze des gelben Cadillacs war total zusammengeknautscht wie bei einem Krokodil, und außer einer blutigen Lippe und einer Schramme auf der Stirn war Louies Cousin nichts passiert. Sie legten ihm Handschellen an und packten ihn auf die Rückbank des Polizeiautos, und wir alle winkten, als sie davonfuhren. -25-
Marin Marins Freund ist in Puerto Rico. Sie zeigt uns seine Briefe, und wir müssen versprechen, daß wir niemandem weitersagen, daß die zwei heiraten werden, wenn sie nach Puerto Rico zurückgeht. Sie sagt, daß er noch keinen Job gefunden hat, aber sie spart das Geld, das sie mit dem Verkauf von Avon-Kosmetik und mit dem Aufpassen auf ihre Cousinen verdient. Marin sagt, daß sie einen richtigen Job in der Innenstadt suchen wird, falls sie nächstes Jahr noch hier ist, weil es da die besten Jobs gibt. Denn da kannst du immer schön ausschauen und hübsche Sachen anziehen und in der UBahn jemanden treffen, der dich vielleicht heiratet und dich mitnimmt, wo du dann wohnst in einem riesigen Haus weit weg. Aber nächstes Jahr wollen Louies Eltern sie zu ihrer Mutter zurückschicken, mit einem Brief, wo drinsteht, daß sie zuviel Arger macht, und das ist jammerschade, weil ich Marin mag. Sie ist älter und weiß eine Menge Sachen. Sie hat uns erzählt, wie die Schwester von Big Baby schwanger wurde, und welche Creme die beste ist, um Schnurrbarthaare zu entfernen, und daß du rausfinden kannst, wie viele Jungs an dich denken, wenn du die weißen Flecken auf deinen Fingernägeln zählst, und noch eine Menge andere Sachen, an die ich mich im Moment nicht erinnern kann. Wir sehen Marin immer erst, wenn ihre Tante von der Arbeit zurück ist, und auch dann darf Marin nur vor dem Haus bleiben. Dort steht sie jeden Abend mit ihrem Radio. Wenn das Licht im Zimmer ihrer Tante ausgeht, zündet Marin sich eine Zigarette an, egal, ob es draußen kalt ist oder das Radio nicht geht oder wir uns nichts zu erzählen -26-
haben. Was zählt, sagt Marin, ist, daß die Jungs uns sehen und daß wir sie sehen. Und weil Marins Röcke kürzer sind und weil ihre Augen hübsch sind und weil Marin überhaupt schon älter ist als wir, sagen die Jungs, die vorbeigehen, blödes Zeug wie Ich bin verliebt in die zwei grünen Apfel da, die du Augen nennst, gib sie mir doch, hob dich nicht so. Und Marin schaut sie bloß an, ohne mit der Wimper zu zu zucken, und hat keine Angst. Marin, die einsame Tänzerin unter der Laterne, singt unverändert irgendwo ihr immergleiches Lied. Ich weiß es. Wartet unverändert auf ein Auto, das anhält, auf einen Stern, der vom Himmel fällt, auf irgendwen, der ihr Leben ändert.
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Die Leute, die keine Ahnung haben Die Leute, die keine Ahnung haben, kommen ganz verschreckt in unser Viertel. Sie glauben, wir sind gefährlich. Sie glauben, wir gehen mit blitzenden Messern auf sie los. Sie sind Dummköpfe, die sich verirrt haben und nur versehentlich hier gelandet sind. Wir aber haben keine Angst. Wir wissen, der Kerl mit dem Schielauge ist der Bruder von Davey, dem Babygesicht, und der lange Lulatsch neben ihm mit dem Strohhut ist Rosas Sohn Eddie der Fünfte, und der Riesenkerl da, der aussieht wie ein zurückgebliebener erwachsener Mann, das ist Fat Boy, das Dickerchen, obwohl er inzwischen nicht mehr dick und schon gar kein Dickerchen mehr ist. Solange ringsum bloß braune Gesichter zu sehen sind, sind wir in Sicherheit. Aber schau uns an, wenn wir in ein Viertel mit anderer Hautfarbe fahren, dann wackeln uns die Knie, dann kurbeln wir die Autofenster ganz hoch, dann kucken wir stur geradeaus. Na ja. So ist das eben, so ist es eben.
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Es war einmal eine alte Frau, die hatte so viele Kinder, daß sie nicht ein noch aus wußte Die Kinder von Rosa Vargas sind einfach zu viele und zu frech. Sie kann nichts dafür, weißt du, außer daß sie ihre Mutter ist und ganz allein gegen so viele. Sie sind schlimm, diese Vargas, aber wie sollte es anders sein, wenn bloß die Mutter im Haus ist, die immer und ewig erschöpft ist vom Knöpfe-Knöpfen und FläschchenFüllen und Baby-Beruhigen und jeden Tag nach ihrem Mann weint, der davongelaufen ist, ohne auch nur einen Dollar für Wurst oder einen Zettel mit ein paar erklärenden Worten dazulassen. Die Kinder knicken Bäume und rennen mitten vor die Autos und schaukeln kopfunter im Kniehang und brechen beinahe entzwei wie seltene Vasen im Museum, die unersetzlich sind. Sie glauben, das sei lustig. Sie haben keinen Respekt vor dem, was lebt, sich selbst eingeschlossen. Doch nach einer Weile ist man es leid, sich um Kinder Sorgen zu machen, die noch nicht einmal deine eigenen sind. Eines Tages machen die Vargaskinder Mutproben auf dem Dach von Mr. Bennys Laden. Heh, ruft Mr. Benny, seid ihr Kinder nicht gescheit, daß ihr da oben so rumturnt. Kommt runter, kommt sofort runter da, und dann spucken sie bloß. Siehst du. Das ist es, was ich meine. Kein Wunder, daß alle es aufgegeben haben. Daß sie einfach aufhörten, sich zu kümmern, als der kleine Efren sich einen Schneidezahn an einer Parkuhr ausschlug, und daß niemand Refugia daran hinderte, sich den Kopf zwischen zwei Stäben am -29-
Gartentor einzuklemmen, und daß niemand auch bloß ein einziges Mal hochsah an dem Tag, als Angel Vargas fliegen lernte und aus dem Himmel plumpste wie ein Schmalzkringel mit Zuckerguß, genau wie eine Sternschnuppe, und auf dem Erdboden zerschellte, ohne auch nur »oh« zu sagen.
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Alicia, die Mäuse sieht Mach die Augen zu, und sie verschwinden, sagt ihr Vater. Oder er sagt, alles bloß Einbildung. Und außerdem soll eine Frau zeitig schlafen gehen, damit sie morgens mit dem Tortillastern aufwachen kann, dem Stern, der ganz früh aufgeht, genau rechtzeitig, um aufzustehen und aus den Augenwinkeln zu sehen, wie sie unters Waschbecken witschen, unter die Badewanne mit ihren vier Pranken, unter die verzogenen Dielenbretter, die niemand repariert. Alicia, deren Mama gestorben ist, tut es leid, daß keine ältere Frau im Haus ist, die aufsteht und die Tortillas für die Lunchbox richtet. Alicia, die von ihrer Mama den Teigroller und die Müdigkeit geerbt hat, ist jung und gescheit und geht zum ersten Mal zur Universität. Zwei UBahnen und einen Bus, weil sie nicht ihr Leben lang in einer Fabrik oder hinter einem Teigroller stehen möchte. Ist ein braves Mädchen, meine Freundin, lernt die ganze Nacht und sieht Mäuse, Mäuse, die es gar nicht gibt, wie ihr Vater sagt. Hat vor nichts Angst, außer vor vierbeinigem Wuschelpelz. Und vor Vätern.
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Darius und die Wolken Man kann nie zu viel Himmel haben. Du kannst einschlafen und himmeltrunken aufwachen, und der Himmel kann dir Geborgenheit geben, wenn du traurig bist. Hier bei uns gibt es zu viel Traurigkeit und nicht genug Himmel. Auch Schmetterlinge sind selten, genau wie Blumen und die meisten Dinge, die schön sind. Trotzdem nehmen wir, was wir kriegen können, und machen das Beste draus. Darius, der ungern zur Schule geht, der manchmal bescheuert und meistens albern ist, hat heute etwas Gescheites gesagt, obwohl er an den meisten Tagen gar nichts sagt. Darius, der Mädchen mit Feuerwerksböllern nachjagt oder mit einem Stock, mit dem er vorher eine Ratte berührt hat, und glaubt, daß er ein Macker ist, zeigte heute in den Himmel, weil die Welt voller Wolken war, und zwar solchen Wolken, die wie Kissen ausschauen. Seht ihr die Wolke da, die dicke Wolke da? fragte Darius, seht ihr die? Wo? Die eine da neben der, die wie Popcorn aussieht. Die da drüben. Seht ihr die? Das ist Gott, sagte Darius. Gott? fragte irgendeine von den Kleinen. Gott, sagte er, und es war ganz einfach zu kapieren.
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Und noch ein paar dazu Die Eskimos haben dreißig verschiedene Namen für Schnee, sage ich. Ich habe es in einem Buch gelesen. Ich hab eine Cousine, sagt Rachel, die hat drei verschiedene Namen. Es gibt überhaupt nicht dreißig verschiedene Sorten Schnee, sagt Lucy. Es gibt zwei Sorten. Den sauberen und den dreckigen, sauberer und dreckiger Schnee. Nur die zwei. Es gibt Millionen und Trillionen Sorten, sagt Nenny, keine zwei davon genau gleich. Bloß, wie will man sich merken, welcher Schnee welche Sorte ist? Sie hat drei Nachnamen und, laß mich überlegen, zwei Vornamen. Einen englischen und einen spanischen… Und Wolken haben mindestens zehn verschiedene Namen, sage ich. Namen für Wolken? fragt Nenny, Namen genau wie du und ich? Das da oben, das sind Kumuluswolken, und alle schauen hoch. Kumuluswolken sind niedlich, sagt Rachel. Die sagt andauernd solches Zeug. Was ist denn die da für eine? fragt Nenny und deutet mit dem Finger. Das ist auch eine Kumuluswolke. Es sind nur Kumuluswolken heute. Kumulus, Kumulus, Kumulus. Nein, sagt sie. Die da ist Nancy, auch Pigeye, das Schweinsauge, genannt. Und da drüben ihre Cousine Mildred und der kleine Joey, Marco, Nereida und Sue. Es gibt alle möglichen Sorten von Wolken. Wie viele -33-
verschiedene Wolkensorten fallen dir ein? Na ja, da gibt es erstmal die, die wie Rasierschaum ausschauen… Und was ist mit denen, die ausschauen, als ob du ihnen das Haar gekämmt hast? Ja, das sind auch Wolken. Phyllis, Ted, Alfredo und Julie… Es gibt Wolken, die schauen aus wie große Felder voller Schafe, sagt Rachel. Die sind meine Lieblingswolken. Und vergeßt nicht Nimbus, die Regenwolken, füge ich hinzu, die sind was Besonderes. Jose und Dagoberto, Alicia, Raul, Edna, Alma und Rickey… Dann gibt's noch die dicken Pustewolken, die ausschauen wie dein Gesicht beim Aufwachen, wenn du in deinen Klamotten eingeschlafen bist. Reynaldo, Angelo, Albert, Armando, Mario… Nicht wie mein Gesicht. Schaun aus wie dein Mondgesicht. Rita, Margie, Ernie… Wie wessen Mondgesicht? Wie Esperanzas Mondgesicht, genau so. Die schaun aus wie Esperanzas häßliches Gesicht, wenn sie in der Früh in die Schule kommt. Anita, Stella, Dennis und Lolo… Wen nennst du häßlich, du häßliche Kuh? Richie, Yolanda, Hector, Stevie, Vincent… Nicht dich. Deine Mama, die nenn ich so. Meine Mama? Das sagst du lieber nicht noch einmal, Lucy Guerrero. Du redest lieber nicht solchen Quatsch… sonst kannst du für immer vergessen, daß du meine Freundin bist. -34-
Ich sage nur, daß deine Mama häßlich ist wie… hmmm… wie nackte Füße im September! Jetzt reicht's! Ihr zwei schert euch besser aus unserem Garten, bevor ich meine Brüder hole. Ooch, wir spielen doch bloß. Mir fallen dreißig Eskimonamen für dich ein, Rachel. Dreißig Namen, die sagen, was du für eine bist. Ach ja? Na schön, mir fallen noch ein paar dazu ein. Au weia, Nenny. Hol mal rasch den Besen. Es ist heute einfach zuviel Müll in unserem Garten. Frankie, Licha, Maria, Pee Wee… Nenny, du sagst deiner Schwester am besten, daß sie echt verrückt ist, weil Lucy und ich nie wieder zu euch kommen. Nie wieder. Reggie, Elizabeth, Lisa, Louie… Du kannst machen, was du willst, Nenny, aber du redest lieber nicht mehr mit Lucy oder Rachel, wenn du meine Schwester sein willst. Weißt du, was du bist, Esperanza? Du bist wie Kellogg's Corn Flakes. Wie die Corn Flakes, die zusammenkleben. Ach nee, und du bist ein Haufen Flohstiche, das bist du. Angsthase. Pfeffernase. Rosemary, Dhalia, Lily… Wackelpudding aus Küchenschaben. Jean, Geranium und Joe… Kalte fríjoles. Mimi, Michael, Moe… Die kalten frijoles von deiner Mama. Die Zehen von deiner häßlichen Mama. Das ist bescheuert. -35-
Bebe, Bianca, Benny… Wer ist bescheuert? Rachel, Lucy, Esperanza und Nenny.
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Die Familie mit den kleinen Füßen Es war einmal eine Familie. Die waren alle klitzeklein. Ihre Arme waren klitzeklein, und ihre Hände waren klitzeklein, und sie waren nicht groß, und sie hatten winzigkleine Füße. Der Opa schlief auf dem Wohnzimmersofa und schnarchte durch die Zähne. Der hatte Füße, fett und teigig wie dicke Tamales, und die puderte er und quetschte sie in weiße Socken und braune Lederschuhe. Die Füße der Großmutter waren niedlich wie rosa Perlen und steckten in samtigen Stöckelschuhen, in denen sie nur wie auf Eiern laufen konnte. Aber sie zog sie trotzdem an, weil sie so hübsch waren. Die Füße des Babys hatten zehn winzige Zehchen, blaß und durchsichtig wie die von einem Molch, und die steckte sich das Baby in den Mund, wenn es Hunger hatte. Die Füße der Mutter, drall und adrett, kamen aus dem Kissenmeer heruntergeschwebt wie weiße Tauben, über die Linoleumrosen hinweg, die Holztreppen runter und runter, quer über die mit Kreide aufgemalten Quadrate von Himmel und Hölle. Fünf, sechs, sieben, blauer Himmel. Mögt ihr die? Und drückte uns eine Einkaufstüte in die Hand mit einem Paar zitronengelber Schuhe und einem Paar roter Schuhe und einem Paar Ballettschuhe, die früher einmal weiß waren, aber jetzt blaßblau sind. Da, und wir sagten Dankeschön und warteten, bis sie die Treppe hochging. Hurra! Heute sind wir Aschenbrödel, weil unsere Füße ganz genau reinpassen, und wir lachen über Rachels Fuß mit einer grauen Kindersocke und einem Damenstöckelschuh. Findet ihr solche Schuhe gut? Aber die Wahrheit -37-
ist, daß es dir angst macht, wenn du zu deinem eigenen Fuß runterkuckst, der gar nicht mehr deiner ist, und obendran dieses ellenlange Bein siehst. Jede möchte tauschen. Die zitronengelben Schuhe gegen die roten Schuhe, die roten gegen das Paar, das früher einmal weiß war, aber jetzt blaßblau ist, die blaßblauen gegen die zitronengelben, und wir ziehen sie aus und wieder an und machen das eine ganze Weile lang, bis wir keine Lust mehr haben. Dann schreit Lucy, wir sollen unsere Socken ausziehen und ja, es ist wahr. Wir haben Beine. Spindeldürr und übersät mit glänzenden Narben, wo wir Schorf abgekratzt haben, aber Beine, die uns gehören, die toll anzusehen und ganz schön lang sind. Rachel kriegt den Dreh am besten raus, wie man in diesen Zauberstöckelschuhen keß daherstolziert. Sie bringt uns bei, wie man die Beine übereinanderschlägt und wieder auseinanderfriemelt, und wie man läuft, als würde man Springseil hüpfen, und wie man zur Straßenecke spaziert, daß sich die Absätze auf Schritt und Tritt mit dir unterhalten. Lucy, Rachel und ich wackeln stolz daher wie sonstwas. Runter bis zur Straßenecke, wo die Männer ihre Augen nicht wegkriegen von uns. Wir schauen wohl aus wie Weihnachten. Mr. Benny aus dem Laden an der Ecke nimmt seine mächtige Zigarre aus dem Mund: Weisses deine Mutter, daß de solche Schuhe hast? Wer hatse dir gegeben? Niemand. Die sind gefährlich, sagt er. Ihr Mädels seid zu jung, um solche Schuhe zu tragen. Zieht se aus, bevor ich die Bullen hole, aber wir rennen einfach weg. Auf der Avenue ruft uns ein Junge auf einem selbstgebastelten Fahrrad nach: Ihr Hübschen, zeigt mir -38-
den Himmel. Aber es ist überhaupt niemand da außer uns. Findet ihr solche Schuhe gut? Rachel sagt ja, und Lucy sagt ja, und ja, sag ich, ja, das sind die tollsten Schuhe. Wir werden nie wieder andere anziehen. Findet ihr solche Schuhe gut? Vor dem Waschsalon tun sechs Mädchen mit demselben Mondgesicht so, als ob wir unsichtbar wären. Das sind die Cousinen, sagt Lucy, die sind immer neidisch. Wir stolzieren einfach weiter. Auf der anderen Seite der Straße sitzt ein Penner vor der Kneipe auf den Stufen. Finden Sie solche Schuhe gut? Der Penner sagt: Ja, kleines Mädchen. Deine kleinen zitronengelben Schuhe sind wunderschön. Aber komm näher. Ich kann nicht so gut sehen. Komm näher. Bitte. Bist ein hübsches Mädchen, sagt der Penner. Wie heißt du, hübsches Mädchen? Und Rachel sagt, Rachel, einfach so. Na ja, jede weiß, daß es total doof ist, mit Betrunkenen zu reden, und daß es noch dümmer ist, ihnen deinen Namen zu sagen, aber wer soll ihr böse sein. Sie ist jung und ganz schwindlig, weil sie so viele Komplimente an einem einzigen Tag hört, selbst wenn es bloß das Whiskeygebrabbel von einem Penner ist. Rachel, du bist noch hübscher als ein gelbes Taxi. Das weißt du doch. Aber die Sache gefällt uns nicht. Wir müssen gehen, sagt Lucy. Wenn ich dir einen Dollar geh, küßt du mich dann? Was hältst du von einem Dollar? Ich geh dir einen Dollar, und er kramt in seiner Hosentasche nach verkrumpelten -39-
Geldscheinen. Wir müssen jetzt sofort gehen, sagt Lucy und nimmt Rachel an der Hand, weil die so ausschaut, als ob sie sich das mit dem Dollar überlegt. Der Penner ruft uns irgendwas nach, aber jetzt rennen wir schnell davon, weit weg, und unsere Stöckelschuhe tragen uns den ganzen Weg die Avenue runter und ums Karree, an den häßlichen Cousinen vorbei, an Mr. Bennys Laden vorbei, die Mango Street hoch, aber hintenrum, vorsichtshalber. Wir haben keine Lust mehr, schön zu sein. Lucy versteckt die zitronengelben Schuhe und die roten Schuhe und die Schuhe, die früher einmal weiß waren, aber jetzt blaßblau sind, unter einem riesengroßen Korb auf der Veranda hinterm Haus, bis ihre Mutter, die sehr ordentlich ist, sie an irgendeinem Dienstag wegwirft. Aber keine beschwert sich darüber.
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Ein Sandwich mit Reis Die besonderen Kinder, die, die Schlüssel um den Hals tragen, dürfen in der Kantine essen. Die Kantine! Selbst der Name klingt wichtig. Und diese Kinder gehen zur Mittagspause dahin, weil ihre Mütter nicht zu Hause sind, oder weil sie zu weit weg wohnen, als daß sie heimgehen könnten. Mein Zuhause ist nicht weit weg, aber es ist auch nicht nahe, und irgendwie kam ich eines Tages auf die Idee, meine Mutter zu bitten, daß sie mir ein Sandwich macht und einen Brief an die Direktorin schreibt, damit ich auch in der Kantine essen kann. O nein, sagt sie und zeigt mit dem Buttermesser auf mich, als ob ich Stunk machen will, nein, kommt nicht in Frage. Sonst dauert es nicht lang, und ihr wollt alle eure Mittagspause eingepackt haben - ich bin dann die ganze Nacht damit beschäftigt, Brot in kleine Dreiecke zu schneiden, dies hier mit Mayonnaise, das da mit Senf, keine sauren Gurken auf meinem Sandwich, aber bitte mit Senf auf einer Seite. Ihr Kinder denkt euch bloß gern mehr Arbeit für mich aus. Aber Nenny sagt, sie will nicht in der Schule essen niemals -, weil sie gern mit ihrer besten Freundin Gloria, die gleich auf der anderen Seite des Schulhofs wohnt, nach Hause geht. Glorias Mama hat einen großen Farbfernseher, und die beiden kucken sich die ganze Zeit Zeichentrickfilme an. Kiki und Carlos dagegen sind Schülerlotsen. Sie wollen auch nicht in der Schule essen. Sie sind gern draußen in der Kälte, besonders wenn es regnet. Seit sie den Film »Dreihundert Spartaner« gesehen haben, glauben sie, daß es gesund ist, Schmerzen zu erdulden. -41-
Ich bin keine Spartanerin und zeige zum Beweis mein blutarmes Handgelenk vor. Ich kann noch nicht einmal einen Luftballon aufpusten, ohne daß mir schwindlig wird. Und außerdem kann ich mir mein eigenes Mittagspausenbrot machen. Wenn ich in der Schule esse, gibt es weniger Geschirr zum Abspülen. Du siehst mich seltener und magst mich lieber. Jeden Mittag bleibt mein Stuhl leer. Wo ist meine Lieblingstochter, wirst du weinen, und wenn ich schließlich nachmittags um drei nach Hause komme, wirst du dich darüber freuen. Na schön, na schön, sagt meine Mutter nach drei Tagen Theater. Und am nächsten Morgen darf ich mit dem Brief von meiner Mutter und - weil wir mittags kein Fleisch essen - mit einem Sandwich mit Reis zur Schule gehen. Montags und freitags, egal, an welchem der beiden Tage, vergehen die Vormittage immer langsam; an diesem Tag war es besonders schlimm. Aber endlich war Mittagspause, und ich durfte mich in die Schlange mit den Kindern einreihen, die mittags in der Schule bleiben. Alles ist in Ordnung, bis mich die Nonne, die alle Kantinenkinder kennt, anschaut und sagt: Du da, wer hat dich denn hierher geschickt? Und weil ich schüchtern bin, sage ich gar nichts und strecke ihr bloß meine Hand mit dem Brief hin. Das zählt nicht, sagt sie, bis die Schwester Oberin ihr Einverständnis gibt. Geh hoch und meld dich bei ihr. Also ging ich hin. Zwei Jungs waren vor mir dran, die ausgeschimpft wurden, einer, weil er während des Unterrichts irgendwas gemacht hat, der andere, weil er irgendwas nicht gemacht hat. Dann kam ich an die Reihe und stand vor dem großen Schreibtisch mit den Heiligenbildern unter der Glasplatte, während die Schwester Oberin meinen Brief las. Er hatte folgenden Inhalt:
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Liebe Schwester Oberin, bitte lassen Sie Esperanza im Pausenraum essen, weil sie zu weit weg wohnt und müde wird. Wie Sie sehen, ist sie sehr mager. Ich hoffe bei Gott, daß sie nicht ohnmächtig wird. Mit bestem Dank, Mrs. E. Cordero Du wohnst doch nicht weit weg, sagt sie. Du wohnst doch gleich auf der anderen Seite vom Boulevard. Das sind nur vier Häuserblocks. Noch nicht einmal. Drei vielleicht. Drei lange Häuserblocks weg von hier. Ich wette, ich kann euer Haus von meinem Fenster aus sehen. Welches ist es? Komm her. Welches ist euer Haus? Und dann mußte ich mich auf einen Bücherkarton stellen und mit dem Finger zeigen. Das da? hat sie gefragt und auf eine Reihe von den scheußlichen Buden gezeigt, wo immer drei Häuschen zusammengeklatscht sind, wo sich selbst die zerlumpten Männer schämen, wenn sie da reingehen. Ja, nickte ich, obwohl ich wußte, daß das nicht unser Haus war, und fing an zu weinen. Ich weine immer, wenn mich Nonnen anschreien, selbst dann, wenn sie nicht schreien. Dann tat es ihr leid, und sie sagte, daß ich bleiben kann bloß heute, morgen nicht und übermorgen nicht: da gehst du wieder nach Hause. Und ich sage ja und ob ich bitte ein Kleenex haben kann - ich mußte meine Nase schneuzen. In der Kantine, die nichts Besonderes war, schauten viele Jungs und Mädchen mir zu, wie ich weinend mein Sandwich aß, das Brot schon ganz matschig und der Reis eiskalt.
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Chanclas Ich bin's - Mama, sagte Mama. Ich mache auf, und da steht sie mit Einkaufstüten und großen Kartons, den neuen Anziehsachen und, ja doch, sie hat auch die Socken und einen neuen Schlüpfer mit einer kleinen Rose drauf und ein rosa und weiß gestreiftes Kleid. Was ist mit den Schuhen? Hab ich vergessen. Jetzt ist es zu spät. Ich bin kaputt. Puh! Schon halb sieben, und die Taufe von meinem kleinen Cousin ist vorbei. Den ganzen Tag gewartet, die Haustür zugesperrt, mach niemandem auf, und ich mach auch nicht auf, bis Mama zurückkommt und alles eingekauft hat außer den Schuhen. Jetzt kommt Onkel Nacho in seinem Auto, und wir müssen uns beeilen, daß wir schnell zur Kirche des Kostbaren Bluts kommen, weil da die Tauffeier ist, im Keller, den wir für heute gemietet haben, damit man tanzen und Tamales futtern kann, während die Kinder von all den Leuten überall herumtoben. Mama tanzt, lacht, tanzt. Plötzlich wird Mama schlecht. Ich wedle ihr mit einem Pappteller Luft ins knallrote Gesicht. Zu viele Tamales, aber Onkel Nacho sagt zu viel davon und hebt den Daumen an seine Lippen. Alle amüsieren sich - alle außer mir, denn ich hab das neue Kleid an, rosa und weiß mit Streifen, und neue Unterwäsche und die neuen Socken und dazu die ollen Schuhe, die ich zur Schule anzieh, braun mit weißen Absatzkappen, die Sorte, die ich jedes Jahr im September krieg, weil sie lange halten, was sie auch tun. Meine Schuhe sind abgestoßen und rund, und die Absätze ganz schief, was zu dem neuen Kleid doof ausschaut, also bleib -44-
ich einfach sitzen. Inzwischen fragt mich der Junge, der ein Cousin von mir ist von der Erstkommunion oder so was ähnliches, ob ich tanzen will, und ich kann nicht. Stecke bloß meine Füße unter den Aluklappstuhl mit der Stanzung Kostbares Blut und fummle an dem Stück braunen Kaugummi rum, das unterm Sitz klebt. Ich schüttle den Kopf, nein. Meine Füße werden größer und immer größer. Dann zerrt mich Onkel Nacho am Arm, zerrt immer fester, und es ist egal, wie neu das Kleid ist, das Mama gekauft hat, weil meine Füße scheußlich sind, bis mein Onkel, der ein Schwindler ist, sagt, du bist das hübscheste Mädchen hier, darf ich bitten, aber ich glaub ihm und, ja, da tanzen wir schon, mein Onkel Nacho und ich, außer daß ich zuerst nicht will. Meine Füße schwellen riesig und schwer an wie Gummisauger, aber ich schleif sie über den Linoleumboden, genau in die Mitte, wo mein Onkel mit dem neuen Tanz großtun will, den wir eingeübt haben. Und mein Onkel dreht mich, und meine dünnen Armchen biegen sich, wie er's mir beigebracht hat, und meine Mutter kuckt zu, und meine kleinen Cousinchen kucken zu, und der Junge, der mein Cousin ist von der Erstkommunion, kuckt zu, und alle sagen, heh! wer sind denn die zwei da, die so tanzen wie im Kino, bis ich vergeß, daß ich bloß einfache Schuhe anhab, braun und weiß, die Sorte, die mir meine Mutter jedes Jahr für die Schule kauft. Und ich hör bloß noch das Geklatsche, als die Musik aufhört. Mein Onkel und ich verbeugen uns, und er bringt mich in meinen plumpen Schuhen zurück zu meiner Mutter, die stolz darauf ist, meine Mutter zu sein. Den ganzen Abend kuckt mir der Junge, der schon erwachsen ist, beim Tanzen zu. Er hat mir beim Tanzen zugekuckt.
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Hüften Ich mag Kaffee. Und ich mag Tee mit Milch. Ich mag die Jungs, und die Jungs, sie mögen mich. Ja, nein, vielleicht. Ja, nein, vielleicht… Eines Tages wachst du auf, und da sind sie schon. Startklar wie ein neuer Buick mit dem Schlüssel im Zündschloß. Startklar, damit sie dich mitnehmen - wohin? Sie können das Baby halten, wenn du kochst, sagt Rachel und dreht das Springseil etwas schneller. Sie hat keine Phantasie. Du brauchst sie zum Tanzen, sagt Lucy. Wenn du keinen abkriegst, kann es sein, daß du dich in einen Mann verwandelst. Nenny sagt das und glaubt es auch. Sie ist eben so, weil sie noch klein ist. Das stimmt, sage ich, bevor sich Lucy und Rachel über sie lustig machen können. Sie ist blöde, klar, aber sie ist nun mal meine Schwester. Aber das wichtigste ist, daß Hüften wissenschaftlich sind, sage ich und wiederhole, was mir Alicia erzählt hat. An den Knochen kannst du erkennen, welches Skelett von einem Mann war, als es ein Mensch war, und welches von einer Frau. Sie gehen auf wie Rosen, fahre ich fort, weil klar ist, daß ich die einzige bin, die mit Sachkenntnis reden kann; ich habe die Wissenschaft auf meiner Seite. Die Knochen gehen eines Tages einfach auf. Einfach so. Eines Tages überlegst du dir vielleicht, daß du Kinder haben willst, und wo willst du die dann hinpacken? Dafür brauchst du Platz. Müssen die Knochen eben nachgeben. Aber krieg nicht zu viele, sonst wird dein Hintern ganz breit. So ist das nun mal, sagt Rachel, deren Mama so breit -46-
ist wie ein Schiff. Und wir lachen bloß. Was ich sagen will - welche von euch ist startklar? Ihr müßt schon wissen, was ihr mit den Hüften anfangen sollt, wenn ihr welche kriegt, sage ich und denke mir alles aus, während ich rede. Ihr müßt wissen, wie man mit Hüften herumspaziert, alles eine Frage der Übung, klar - ungefähr so, als ob die eine Hälfte von dir nach da will und die andere nach dort. Das ist ne Art Schlummerlied, sagt Nenny, das ist, damit das Baby in dir drin in den Schlaf gewiegt wird. Und sie fängt an zu singen, Braune Locken, Kirchenglocken, eia, popeia, fertig. Ich will ihr schon sagen, daß das das Dümmste ist, was ich je gehört hab, aber je mehr ich drüber nachdenke… Man muß den Rhythmus draufhaben, und Lucy fängt an zu tanzen. Sie hat den Dreh raus, obwohl es ihr schwerfällt, ihr Ende des doppelten Springseils gleichmäßig zu schwingen. Es muß genau richtig sein, sage ich. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Wir verlangsamen die beiden Kreise bis zu einem bestimmten Tempo, damit Rachel, die eben in den Kreis reingesprungen ist, üben kann, wie sie die Hüften schüttelt. Ich will wie Hoochie-Coochie zappeln, sagt Lucy. Sie ist eine verrückte Nudel. Ich will wie Heebie-Jeebie rappeln, sage ich und nehme den Faden auf. Ich will Tahiti sein. Oder Merengue, mein Lieblingstanz. Oder elektrischer Strom. Oder Tembleque!. Ja, Tembleque. Das ist ein guter Spruch. -47-
Und dann ist es Rachel, die anfängt: Hüpfen, laß sie hüpfen, Die Schlangen in den Hüften. Schüttle deine Rippen, Beiß dir in die Lippen. Lucy wartet ein bißchen, bevor sie loslegt. Sie muß nachdenken. Dann fängt sie an: Die Kellnerin mit den dicken fetten Hüften… Bezahlt mit Trinkgeld ihre Wohnung in den Lüften, Sagt: In dem Kaff hier küßt mich keiner von den Schuften, Denn… Denn sie sieht aus wie Christopher Kolumbus! Ja, nein, vielleicht. Ja, nein, vielleicht. Beim Vielleicht springt sie daneben. Ich lege eine kurze Pause ein, bevor ich weitermache, hole tief Luft und klinke mich dann ein: Manche sind so mager wie Hähnchenlippen, Manche sind so voll wie olle Pflasterflicken, Wenn du aus der Badewanne steigst. Mir ist's egal, was ich für welche hab, Wenn ich bloß endlich Hüften krieg. Alle denken sich jetzt gute Sprüche aus außer Nenny, die immer noch summt, Es ist kein Mädchen, Es ist kein -48-
Junge, Es ist bloß ein Wickelkind. Die ist eben so. Als sich die beiden Kreisbögen weit wie ein Haifischmaul öffnen, springt Nenny rein in den Kreis, mir gegenüber. Die Springseile klatschen tacktack, die kleinen goldenen Ohrringe, die unsere Mama ihr zur Erstkommunion geschenkt hat, hüpfen auf und nieder. Sie ist braun wie ein Block Steinölseife, sieht aus wie das kleine braune Stückchen, das am Ende der Wäsche übrigbleibt, das harte kleine Kernstück, meine Schwester. Sie macht den Mund auf. Fängt an zu reimen: Meine Mutter, deine Mutter, Wuschen Wäsche auf dem Grase. Meine Mutter haut deiner Mutter Einen kräftig auf die Nase. Welche Farbe hat ihr Blut? Nicht die alte Leier, sage ich. Du mußt deinen eigenen Spruch nehmen. Du mußt dirs ausdenken, verstehste? Aber sie kapiert es nicht oder will es nicht kapieren. Schwer zu sagen. Das Springseil dreht sich und dreht sich und dreht sich. Nimm den Schnellzug Nummer Zehn, Soll es nach Chicago gehn. Wenn es gibt ein Zugunglück, Willst du dann dein Geld zurück? Willst du dann dein GELD zurück? Ja, nein, vielleicht. -49-
Ja, nein, vielleicht… Ich spüre, daß Lucy und Rachel sauer sind, aber sie sagen nichts, weil sie meine Schwester ist. Ja, nein, vielleicht. Ja, nein, vielleicht… Nenny, sage ich, aber sie hört mich nicht. Sie ist zu viele Lichtjahre entfernt. Sie lebt in einer Welt, die nicht mehr die unsere ist. Nenny. Die weitermacht und weitermacht. Ka und U und Ha gibt Kuh, und raus bist du!
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Der erste Job Nicht etwa, daß ich nicht arbeiten wollte. Ich wollte schon. Ich war sogar einen Monat vorher zum Arbeitsamt gegangen, um dort meine Sozialversicherungsnummer abzuholen. Ich brauchte Geld. Die katholische High School kostete eine ganze Menge, und Papa sagte, nur die Leute gehen in die Public School, die auf die schiefe Bahn geraten wollen. Ich dachte, ich würde mir einen leichten Job suchen, so einen, wie die anderen Teenager ihn haben, Arbeit im Dime Store oder vielleicht in einer Imbißbude. Und obwohl ich mich noch nicht umgeschaut hatte, hatte ich vor, es übernächste Woche zu probieren. Aber als ich dann am Nachmittag nach Hause kam, pitschnaß, weil Tito mich vor den geöffneten Feuerwehrhydranten geschubst hatte - na ja, ich hatte mich eigentlich schubsen lassen -, rief Mama mich in die Küche, noch bevor ich gehen und mich umziehen konnte, und Tante Lala saß da und trank ihren Kaffee mit einem Löffel. Tante Lala sagte, sie hätte einen Job für mich gefunden, im Photolabor Peter Pan am North Broadway, wo sie arbeitet, und wie alt ich sei, und ich solle morgen hingehen und sagen, ich bin ein Jahr älter, und das war's auch schon. Also zog ich am nächsten Morgen das marineblaue Kleid an, in dem ich älter aussehe, und borgte mir Geld für die Busfahrt und die Mittagspause, weil Tante Lala gesagt hatte, ich würde erst am nächsten Freitag Lohn kriegen. Und ich ging hin und meldete mich beim Chef vom Photolabor Peter Pan am North Broadway, wo Tante Lala arbeitet, und schwindelte bei meinem Alter, wie sie es mir gesagt hatte, und wirklich und wahrhaftig fing ich gleich am selben Tag dort an. -51-
Bei meinem Job mußte ich weiße Handschuhe tragen. Ich sollte zu den Negativen die entsprechenden Abzüge raussuchen, mir bloß das Bild anschauen und nach demselben auf dem Negativstreifen suchen, alles in den Umschlag stecken und dann wieder von vorn anfangen. Das war's auch schon. Weder wußte ich, woher diese Umschläge kamen, noch wohin sie gingen. Ich tat bloß, was man mir gesagt hatte. Es war ganz einfach, und ich denke, es hätte mir nichts ausgemacht, außer daß du nach einer Weile müde wirst, und ich nicht wußte, ob ich mich hinsetzen durfte oder nicht, also setzte ich mich nur dann hin, wenn es die beiden Frauen neben mir taten. Nach einer Weile fingen sie an zu lachen und kamen zu mir rüber und haben gesagt, ich kann mich setzen, wann ich will, und ich sagte, ich weiß schon. Als Mittagspause war, traute ich mich nicht, allein in der Kantine zu essen, wo einem alle diese Männer und Frauen zuschauen, und so aß ich ganz schnell im Stehen in einem der Klos und hatte eine Menge Zeit übrig, und deshalb machte ich mich gleich wieder an die Arbeit. Doch dann kam die Kaffeepause, und weil ich nicht wußte, wohin ich sonst gehen sollte, marschierte ich in den Umkleideraum, weil dort eine Sitzbank stand. Es war wohl die Zeit für die Nachtschicht oder zweite Schicht, weil ein paar Leute kamen und ihre Karten an der Stechuhr stempelten, und ein älterer Orientale wünschte mir einen guten Tag, und wir unterhielten uns eine Weile darüber, daß ich gerade erst angefangen hab, und er sagte, wir können Freunde sein und ich soll nächstes Mal in die Kantine gehen und mich zu ihm setzen, und ich fühlte mich besser. Er hatte freundliche Augen, und ich fühlte mich nicht mehr so nervös. Dann fragte er, ob ich weiß, was für ein Tag heute ist, und als ich nein sagte, sagte er, -52-
es ist sein Geburtstag und ob ich ihm bitte einen Geburtstagskuß gebe. Ich hab mir gedacht, na schön, weil er so alt ist, und als ich meine Lippen auf seine Wange drücken wollte, packt er mein Gesicht mit beiden Händen und küßt mich fest auf den Mund und läßt mich nicht mehr los.
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Papa, der im Dunklen müde aufwacht Dein abuelito ist tot, sagt Papa eines Morgens, als er in mein Zimmer kommt. Está muerto, und dann, als ob er die Nachricht eben erst selber gehört hat, fällt er in sich zusammen wie ein Wintermantel und weint, mein tapferer Papa weint. Ich hab meinen Papa noch nie weinen gesehen und weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß, er wird wegfahren müssen, wird ein Flugzeug nach Mexiko nehmen, alle Onkel und Tanten werden dasein, und sie werden ein Schwarzweißphoto machen lassen vor dem Grab mit Blumen wie Lanzen in einer weißen Vase, weil sie in dem Land da auf diese Art von ihren Toten Abschied nehmen. Weil ich die Älteste bin, hat es mein Vater zuerst mir erzählt, und jetzt bin ich dran, es den anderen zu erzählen. Ich muß ihnen erklären, warum wir nicht spielen dürfen. Ich muß ihnen sagen, daß sie heute leise sein müssen. Mein Papa mit seinen derben Händen und derben Schuhen, der im Dunklen müde aufwacht, der sein Haar mit Wasser kämmt, seinen Kaffee trinkt und aus dem Haus geht, bevor wir aufwachen, sitzt heute auf meinem Bett. Und ich überlege, was ich machen würde, wenn mein Papa gestorben war. Ich nehme meinen Papa in den Arm. Ich halt ihn fest und halt ihn fest und halt ihn fest.
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Von Geburt an böse Höchstwahrscheinlich werde ich in die Hölle kommen, und höchstwahrscheinlich verdiene ich das auch. Meine Mutter sagt, daß ich an einem Unglückstag geboren bin, und sie betet für mich. Lucy und Rachel beten auch. Für uns gemeinsam und für jede einzelne von uns… wegen dem, was wir Tante Lupe antaten. Sie hieß Guadalupe und war so hübsch wie meine Mutter. Brünett. Sah gut aus. Mit ihrem Joan CrawfordKleid und mit den Beinen einer Schwimmerin. Die Tante Lupe von den Photos. Aber ich kannte sie bloß mit ihrer Krankheit, die nicht heilen wollte, mit den unter dem gelben Laken zusammengepreßten Beinen, mit Knochen schlaff wie Würmer. Das gelbe Kissen, der gelbe Geruch, die Arzneifläschchen und Löffelchen. Ihren Kopf in den Nacken geworfen, als ob sie Durst hat. Meine Tante, die Schwimmerin. Schwer vorzustellen, daß ihre Beine früher stark waren, daß sie harte Knochen hatte, die das Wasser mit glatten, scharfen Schlägen zerteilten, daß sie nicht krumm und runzlig war wie ein Baby, nicht zu ertrinken schien unter dem klebrigen gelben Licht. Eine Hinterhofwohnung im ersten Stock. Die nackte Glühbirne. Die hohen Decken. Die Glühbirne immer an. Ich weiß nicht, wer entscheidet, wem es schlechtgehen soll. Es gab kein Unglück bei ihrer Geburt. Keinen schlimmen Fluch. Ich glaube, sie ging irgendwann zum Schwimmen, und am Tag darauf war sie krank. Es war vielleicht sogar der Tag, an dem das graue Photo geknipst wurde. Es war vielleicht der Tag, an dem sie meine Cousine Totchy und den kleinen Frank an den Händen -55-
hielt. Es war vielleicht der Augenblick, als sie auf die Kamera zeigte, damit die Kinder hinschauen, und die nicht wollten. Vielleicht kuckte der Himmel nicht hin an dem Tag, als sie hinfiel. Vielleicht hatte der liebe Gott zu tun. Vielleicht ist es wahr, daß sie einmal nicht richtig gesprungen ist und ihr Rückgrat verletzte. Oder vielleicht ist die Geschichte wahr, daß sie ganz schlimm von einer hohen Trittleiter gefallen ist, wie Totchy erzählt hat. Aber ich glaube, daß Krankheiten keine Augen haben. Sie suchen sich mit einem schwindligen Finger irgendwen aus, einfach irgendwen. Wie meine Tante, die eines Tages zufällig die Straße entlangging in ihrem Joan CrawfordKleid, mit ihrem lustigen Filzhut mit der schwarzen Feder, Cousine Totchy an der einen Hand, den kleinen Frank an der anderen. Manchmal gewöhnt man sich an die Kranken, und manchmal kommt einem die Krankheit, wenn sie schon zu lang dauert, ganz normal vor. So war es bei ihr, und vielleicht kamen wir deshalb auf sie. Es war ein Spiel, weiter nichts. Es war das Spiel, das wir seit dem Tag, an dem es eine von uns erfunden hatte, jeden Nachmittag spielten - ich weiß nicht mehr, wer von uns es erfunden hat, ich glaube, ich war's. Man mußte sich wen aussuchen. Man mußte an jemanden denken, den alle kennen. An jemanden, den man nachmachen konnte, und alle anderen mußten raten, wer es ist. Es fing an mit berühmten Leuten: Wonder Woman, die Beatles, Marilyn Monroe… Aber dann kam eine von uns auf die Idee, es wäre besser, wenn wir das Spiel ein bißchen ändern, wenn wir so tun, als wären wir Mr. Benny oder seine Frau Bianca oder Ruthie oder sonstwer, den wir kennen. -56-
Ich weiß nicht, warum wir sie aussuchten. Vielleicht war uns an dem Tag langweilig. Vielleicht waren wir auch müde. Wir mochten meine Tante. Sie hörte sich immer unsere Geschichten an. Sie bat uns immer, sie wieder zu besuchen. Lucy, mich und Rachel. Ich haßte es, allein dorthin zu gehen. Die sechs Häuserblocks zu der düsteren Wohnung, erster Stock Hinterhaus, wo nie ein Sonnenstrahl hinkam, und was hätte es auch genutzt? Meine Tante war damals schon blind. Sie sah nie das schmutzige Geschirr im Spülbecken. Konnte weder die Decke sehen, die von Fliegen übersät war, noch die scheußlichen, kastanienbraunen Wände, die Fläschchen und klebrigen Löffelchen. Ich kann den Geruch nicht vergessen. Wie klebrige Kapseln, gefüllt mit Gelee. Meine Tante, eine kleine Auster, ein kleiner Haps Fleisch in einer offenen Schale für uns zum Anschauen. Hereinspaziert, hereinspaziert. Als ob sie in einen Brunnen gefallen war. Ich nahm meine Bibliotheksbücher mit in ihre Wohnung. Ich las ihr Geschichten vor. Ich mochte das Buch Die Wasserkinder. Sie mochte es auch. Wie krank sie war, merkte ich erst an dem Tag, als ich ihr eines der Bilder in dem Buch zeigen wollte, ein schönes buntes Bild, wie die Wasserkinder im Meer schwimmen. Ich hielt ihr das Buch vor die Nase. Ich kann es nicht sehen, sagte sie, ich bin blind. Und ich schämte mich. Sie hörte sich jedes Buch an, jedes Gedicht, das ich ihr vorlas. Einmal las ich ihr eins von meinen Gedichten vor. Ich rückte ganz nah zu ihr hin. Ich flüsterte es ins Kissen: Ich wär so gern Wie die Wolken am Meer, Wie die Wolken im Wind, Doch ich bin ich. -57-
Eines Tages schlüpfe ich Aus meiner Hülle. Und schüttle den Himmel Wie hundert Geigen. Das ist schön. Das ist ausgezeichnet, sagte sie mit ihrer müden Stimme. Vergiß nur nicht, weiterzuschreiben, Esperanza. Du mußt weiterschreiben. Dann wirst du frei sein, und ich sagte ja, aber damals wußte ich nicht, was sie meinte. An dem Tag, als wir unser Spiel spielten, hatten wir keine Ahnung, daß sie sterben würde. Wir machten sie nach, warfen unsere Köpfe in den Nacken, ließen unsere Arme schlaff und nutzlos nach unten baumeln wie die Toten. Wir lachten wie sie. Wir redeten wie sie, wie Blinde reden, ohne dabei den Kopf zu bewegen. Wir machten nach, wie man ihren Kopf ein bißchen heben muß, damit sie Wasser trinken kann; sie schlürfte es langsam aus einem grünen Emailbecher. Das Wasser war warm und schmeckte wie Eisen. Lucy lachte. Rachel auch. Der Reihe nach spielten wir Tante Lupe. Wir riefen mit schwacher Papageienstimme nach Totchy, daß sie kommen und das Geschirr abspülen soll. Es war leicht. Wir hatten keine Ahnung. Sie war so lange ganz allmählich gestorben, daß wir es vergaßen. Vielleicht schämte sie sich. Vielleicht war es ihr peinlich, daß es so viele Jahre dauerte. Da waren die Kinder, die Kinder sein wollten, anstatt abzuwaschen und die Hemden von ihrem Papa zu bügeln, und da war der Mann, der wieder eine Frau haben wollte. Und dann starb sie, meine Tante, die sich meine Gedichte anhörte. Und dann fing es an, daß wir diese Träume träumten. -58-
Elenita, Karten, Handfläche, Wasser Elenita, die Zauberhexe, wischt mit einem Lappen den Tisch, weil Ernie, die das Baby füttert, Brause verschüttet hat. Sie sagt: Nimm dein verrücktes Baby und trink deine Brause im Wohnzimmer. Siehst du nicht, daß ich zu tun hab? Ernie geht mit dem Baby ins Wohnzimmer, wo Bugs Bunny im Fernsehen läuft. So ein Glück, sagt sie, daß du nicht gestern gekommen bist. Gestern ist es bei den Planeten drunter und drüber gegangen. Ihr Fernseher ist ein Farbfernseher und riesengroß, und alle ihre hübschen Möbel sind aus rotem Plüsch gemacht wie die Teddybären, die man auf dem Rummel geschenkt kriegt. Sie hat Plastiküberzüge drübergelegt. Wegen dem Baby, glaube ich. Ja, das war Glück, sage ich. Doch wir bleiben in der Küche, weil das ihr Arbeitszimmer ist. Auf dem Kühlschrank ist mächtig was los, da stehen geweihte Kerzen, manche angezündet, andere nicht, rote, grüne und blaue, dazu eine Heiligenfigur aus Gips, ein staubiges Palmsonntagskreuz und ein an die Wand geklebtes Bild mit der Voodoohand. Hol das Wasser, sagt sie. Ich gehe zum Spülbecken und suche mir das einzige saubere Glas aus, einen Bierkrug mit der Aufschrift the beer that made Milwaukee famous, fülle es mit heißem Leitungswasser, stelle dann das Wasserglas in die Mitte des Tisches, wie sie es mir beigebracht hat. Schau rein, siehst du was? Aber ich sehe bloß Luftbläschen. -59-
Siehst du das Gesicht von irgendwem? Nee, bloß Luftbläschen, sage ich. Das macht nichts, und sie schlägt drei Kreuze über dem Wasser und hebt dann die Karten ab. Die sind nicht wie gewöhnliche Spielkarten, die Karten da. Die sind merkwürdig, mit blonden Männern auf Pferden und komischen Baseballschlägern mit Stacheln dran. Mit goldenen Kelchen, traurig aussehenden Frauen in altmodischen Kleidern und Rosen, die weinen. Es läuft ein guter Zeichentrickfilm von Bugs Bunny im Fernsehen. Ich weiß das, ich habe ihn schon einmal gesehen und erkenne die Musik wieder und würde mich lieber zu Ernie und dem Baby auf die Plastikcouch setzen, aber jetzt fängt meine Zukunft an. Mein ganzes Leben auf dem Küchentisch: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Dann nimmt sie meine Hand und studiert die Handfläche. Schließt sie. Schließt auch ihre Augen. Spürst du es, spürst du die Kälte? Ja, schwindle ich, aber nur ein bißchen. Prima, sagt sie, los espíritus sind hier. Und fängt an. Diese Karte da, die mit dem dunklen Mann auf dem dunklen Pferd, das bedeutet Eifersucht, und die da Leid. Hier ist ein Bienenschwarm wie eine Säule, und das da ist eine Matratze, heißt Luxusleben. Du wirst bald auf eine Hochzeit gehen, und hast du einen Hoffnungsanker verloren, ja, einen Hoffnungsanker? Es ist klar, daß es das bedeutet. Was ist mit einem Haus, sage ich, weil das der Grund ist, warum ich gekommen bin. Ach ja, ein Zuhause im Herzen. Ich sehe ein Zuhause im Herzen. Ist das alles? -60-
Das ist's, was ich sehe, sagt sie und steht auf, weil die Kinder sich streiten. Elenita steht auf und gibt ihnen ein paar Ohrfeigen und nimmt sie dann in den Arm. Sie liebt sie wirklich heiß und innig, bloß sind sie manchmal einfach ungezogen. Sie kommt zurück und sieht, daß ich enttäuscht bin. Sie ist eine Zauberhexe und weiß so allerhand. Wenn du Kopfweh hast, reib dir ein kaltes Ei übers Gesicht. Mußt du eine alte Liebe vergessen? Nimm eine Hühnerkralle, bind sie an eine rote Schnur und wirble sie dreimal um deinen Kopf, und verbrenn sie dann. Lassen dich böse Geister nicht einschlafen? Schlaf eine Woche lang neben einer geweihten Kerze und spuck am achten Tag auf den Boden. Und eine Menge anderes Zeug. Doch jetzt sieht sie, daß ich traurig bin. Herzchen, ich schau noch mal nach, wenn du willst. Und sie befragt wieder die Karten, die Handfläche und das Wasser, und sie sagt aha. Ein Zuhause im Herzen, ich hatte recht. Aber ich kapier's nicht. Ein neues Zuhause, ein Haus, aus einem Herzen gemacht. Ich werde eine Kerze für dich anzünden. All das für die fünf Dollars, die ich ihr gegeben habe. Dankeschön und auf Wiedersehen, und nimm dich in acht vor dem bösen Blick. Komm an einem Donnerstag wieder vorbei, wenn die Sterne mehr Kraft haben. Und möge die Jungfrau dich segnen. Und macht die Tür hinter mir zu.
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Geraldo ohne Familienname Sie lernte ihn auf einem Tanzabend kennen. War hübsch und jung dazu. Sagte, er arbeite in einem Restaurant, aber sie kann sich nicht erinnern, wo. Geraldo. Das ist alles. Grüne Hosen und ein Hemd für Samstagabend. Geraldo. Das ist alles, was er ihr sagte. Und wie hätte sie wissen sollen, daß sie die letzte sein würde, die ihn lebend sah. Ein Unfall, nicht davon gehört? Übern Haufen gefahrn und abgehaun. Marin, sie geht zu all diesen Tanzabenden. Ins Logan. Ins Embassy. Ins Palmer. Ins Aragon. Ins Fontana. Ins The Manor. Sie geht gern tanzen. Sie kann Cambia tanzen und Salsa, sogar Rancheras. Und er war einfach irgendeiner, mit dem sie das Tanzbein schwang. Irgendeiner, den sie an dem Abend kennenlernte. Genau. Das ist die ganze Geschichte. Die sie wieder und wieder erzählte. Den Leuten im Krankenhaus einmal, der Polizei zweimal. Keine Adresse. Kein Familienname. Nichts in seinen Hosentaschen. Ist das nicht ein Jammer? Marin kann bloß nicht erklären, was ihr daran so wichtig war, die vielen Stunden, alles wegen jemandem, den sie gar nicht kannte. Die Notfallaufnahme im Krankenhaus. Kein Mensch da außer einem Assistenzarzt, der ganz allein Dienst schob. Und wer weiß, wenn der Chirurg gekommen wäre, wer weiß, wenn er nicht so viel Blut verloren hätte, wenn nur der Chirurg gekommen wäre, dann wüßten sie, wen man benachrichtigen muß und wo. Aber was macht es groß aus? Er hat ihr doch nichts bedeutet. War weder ihr Freund noch sonst was. Bloß irgendeiner von diesen Brazers, die kein Englisch sprechen. Bloß irgendeiner von diesen Wetbacks, die sich -62-
über die Grenze schmuggeln. Man kennt die Sorte. Die Leute, die immer verschämt aussehen. Und wieso war sie überhaupt noch unterwegs um drei Uhr früh? Marin, die sie mit ihrem Mantel und ein paar Aspirintabletten nach Hause schickten. Wie soll sie das bloß erklären? Sie lernte ihn auf einem Tanzabend kennen. Geraldo mit seinem glänzenden Hemd und seinen grünen Hosen. Geraldo, der zum Tanzen loszog. Was soll schon groß dran sein? Sie hatten die Kochnischen ja nie gesehen. Hatten ja nie die Zweizimmerwohnungen und möblierten Buden gekannt, die er sich mietete, wußten ja nichts von den Geldanweisungen, die er wöchentlich nach Hause schickte, vom Wechselkurs. Wie sollten sie auch? Er hieß Geraldo. Und sein Zuhause ist in einem anderen Land. Die Menschen, die er zurückließ, sind weit weg. Sie werden sich Gedanken machen. Die Schultern zucken. Sich erinnern. Geraldo. Er ist nach Norden gegangen… wir haben nie wieder was von ihm gehört.
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Ednas Ruthie Ruthie, die große dünne Frau mit dem roten Lippenstift und blauem Kopftuch, eine Socke blau und eine grün, weil sie's vergaß, ist die einzige Erwachsene, die wir kennen, die gern spielt. Sie führt ihren Hund Bobo spazieren und lacht vor sich hin, diese Ruthie. Sie braucht niemanden, der mitlacht, sie lacht einfach los. Sie ist die Tochter von Edna, der Frau, der das große Mietshaus neben uns gehört, drei Wohnungen vorn und drei nach hinten raus. Jede Woche brüllt Edna irgendwen an, und jede Woche muß irgendwer ausziehen. Einmal warf sie eine schwangere Frau raus, bloß weil sie eine Ente hatte… dabei war die Ente richtig nett. Aber Ruthie wohnt auch da, und die kann Edna nicht rausschmeißen, weil Ruthie ihre Tochter ist. Ruthie tauchte eines Tages auf, wie aus dem Nichts. Angel Vargas war gerade dabei, uns das Pfeifen beizubringen. Da hörten wir jemanden pfeifen - schön wie des Kaisers Nachtigall -, und als wir uns umdrehten, stand Ruthie da. Manchmal gehen wir zum Einkaufen und nehmen sie mit, aber sie kommt nie mit in die Läden rein, und wenn sie es doch tut, schaut sie sich andauernd um wie ein wildes Tier, das zum erstenmal in einem Haus ist. Sie mag Bonbons. Wenn wir zu Mr. Bennys Lebensmittelladen gehen, gibt sie uns Geld, damit wir ihr welche kaufen. Paßt auf, daß es die weichen sind, sagt sie, weil sie Zahnweh hat. Dann verspricht sie, nächste Woche zum Zahnarzt zu gehen, aber wenn es soweit ist, geht sie nicht. Ruthie sieht überall hübsche Sachen. Ich erzähle ihr zum Beispiel einen Witz, und sie bleibt stehen und sagt: Der -64-
Mond ist schön wie ein Luftballon. Oder eine von uns singt ein Lied, und sie deutet auf ein paar Wolken: Kuckt mal, Marlon Brando. Oder eine blinzelnde Sphinx. Oder mein linker Schuh. Einmal kamen ein paar Freundinnen von Edna zu Besuch und fragten Ruthie, ob sie mit ihnen zum Bingo geht. Der Motor lief, und Ruthie stand auf der Treppe und überlegte, ob sie mitgehen sollte. Soll ich mitgehen, Ma? fragt sie den grauen Schatten hinter dem Fliegengitter im ersten Stock. Mir doch egal, antwortet das Fliegengitter, geh mit, wenn du Lust hast. Ruthie starrte auf den Boden. Was meinst du, Ma? Mach, was du willst, wie soll ich das wissen? Ruthie starrte weiter auf den Boden. Das Auto wartete eine Viertelstunde mit laufendem Motor, dann fuhren sie weg. Als wir an dem Abend unsere Spielkarten rausholten, ließen wir Ruthie geben. Ruthie hätte vieles werden können, wenn sie gewollt hätte. Nicht nur, daß sie gut pfeifen kann, sie kann auch singen und tanzen. Sie bekam eine Menge Jobs angeboten, als sie jung war, aber sie hat sie nie angenommen. Statt dessen heiratete sie und zog fort in ein schönes Haus außerhalb der Stadt. Ich kapier bloß nicht, warum Ruthie in der Mango Street wohnt, wenn sie nicht muß, warum sie auf einem Sofa im Wohnzimmer ihrer Mutter schläft, wenn sie ein richtiges Haus hat, ganz für sich allein. Aber sie sagt, sie ist bloß zu Besuch, und nächste Woche kommt ihr Mann zurück, um sie nach Haus zu holen. Aber es vergeht Woche um Woche, und Ruthie bleibt. Macht nichts. Wir freuen uns, weil sie unsere Freundin ist. Ich zeige Ruthie immer gern die Bücher, die ich in der Bücherei ausleihe. Bücher sind wunderbar, sagt Ruthie, und dann streicht sie mit der Hand drüber, als ob sie sie in Blindenschrift lesen könnte. Sie sind wunderbar, wunderbar, aber ich kann nicht mehr lesen. Ich krieg Kopfweh. -65-
Ich muß zum Augenarzt, nächste Woche. Ich hab früher mal Kinderbücher geschrieben, hab ich dir das erzählt? Einmal lernte ich »Das Walroß und der Zimmermann« auswendig, weil ich wollte, daß Ruthie mich vortragen hört. »Die Sonne schien aufs Meer, sie schien mit aller Macht…« Ruthie sah sich den Himmel an und bekam zwischendurch feuchte Augen. Schließlich kam ich zur letzten Strophe: »Doch Antwort gab es keine - und dies verwundert kaum, da man sie alle weggeputzt…« Sie sah mich lange an, bevor sie den Mund aufmachte. Und dann sagte sie, du hast die schönsten Zähne, die ich je gesehen hab, und ging rein ins Haus.
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Earl aus Tennessee Earl wohnt nebenan im Souterrain von Ednas Haus, hinter den Blumenkästen, die Edna jedes Jahr grün anstreicht, hinter den staubbedeckten Geranien. Wir saßen immer auf den Blumenkästen, bis Tito eines Tages eine Küchenschabe mit einem Klecks grüner Farbe auf dem Kopf entdeckte. Jetzt sitzen wir auf den Stufen der Treppe vor der Souterrainwohnung, in der Earl wohnt. Earl arbeitet nachts. Tagsüber sind seine Fensterläden immer zu. Manchmal kommt er raus und meckert, wir sollen ruhig sein. Die kleine Holztür, die schon so lang die Dunkelheit einsperrt, geht mit einem Seufzer auf und stößt einen Hauch von Feuchtigkeit und Schimmel aus… wie Bücher, die man draußen im Regen vergessen hat. Sonst kriegen wir Earl nie zu Gesicht, außer wenn er kommt oder zur Arbeit geht. Er hat zwei kleine schwarze Hunde, die ihn überallhin begleiten. Sie laufen nicht wie gewöhnliche Hunde, sondern hüpfen und schlagen Purzelbäume wie Komma und Auslassungszeichen. Nachts können Nenny und ich hören, wann Earl von der Arbeit heimkommt. Erst das Klicken und Quietschen der Autotür, dann ein Schlurfen auf Beton, das aufgeregte Klappern von Hundemarken, gefolgt von lautem Schlüsselgerassel, und zuletzt das Ächzen der Holztür, die aufgeht und ihren modrigen Seufzer ausstößt. Earl repariert Musikboxen. Er hat sein Handwerk im Süden gelernt, sagt er. Er spricht mit Südstaatenakzent, raucht dicke Zigarren und trägt einen Filzhut - egal, ob Sommer ob Winter, ob heiß ob kalt -, einen Filzhut. In seiner Wohnung stehen Kartons über Kartons voller Singles, schimmlig und klamm wie der Geruch, der aus der Wohnung kommt, sobald er die Tür aufmacht. Er -67-
schenkt uns die Schallplatten - alles außer den Country & Western-Platten. Man munkelt, daß Earl verheiratet ist und irgendwo eine Frau hat. Edna sagt, sie hat sie mal gesehen, als Earl sie in seine Wohnung mitbrachte. Mama sagt, sie ist ein dürres Ding, blond und bleich wie Molche, die noch nie die Sonne gesehen haben. Aber ich hab sie auch gesehen, und sie schaut ganz anders aus. Und die Jungs von der anderen Straßenseite sagen, sie ist eine große rothaarige Frau mit engen rosa Hosen und grüner Brille. Wir können uns nie einigen, wie sie aussieht, aber das eine wissen wir. Wann immer sie herkommt, hält er sie eng eingehakt. Sie gehen rasch in die Wohnung, sperren die Tür hinter sich zu und bleiben nie lang.
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Sire Ich erinnere mich nicht, wann ich das erstemal merkte, daß er mich ankuckt - Sire. Aber ich wußte, daß er kuckt. Jedesmal. Immer, wenn ich an seinem Haus vorbeiging. Er und seine Freunde, die vor dem Haus auf ihren Fahrrädern saßen und Pennies warfen. Sie machten mir keine Angst. Machten sie schon, aber ich hab's mir nicht anmerken lassen. Ich wechsele nicht die Straßenseite wie andere Mädchen. Nase geradeaus, Augen geradeaus. Ich ging vorbei. Ich wußte, daß er mich ankuckt. Ich mußte es mir beweisen, daß ich mir von Augen keine Angst machen laß, auch von seinen nicht. Ich mußte ohne mit der Wimper zu zucken zurückkucken, nur einmal, als sei er aus Glas. Und ich hab's gemacht. Einmal hab ich's gemacht. Aber damals, als er mit dem Rad an mir vorbeifuhr, kuckte ich zu lang hin. Ich kuckte hin, weil ich mutig sein wollte, mitten in das staubige Katzenfell seiner Augen, und das Fahrrad bremste, und er rammte gegen ein geparktes Auto, er rammte dagegen, und ich ging schnell weiter. Es läßt dir das Blut in den Adern gerinnen, daß dich jemand so ankuckt. Jemand kuckte mich an. Jemand kuckte. Aber halt so einer, so einer wie er. Das ist ein Taugenichts, sagt Papa, und Mama verbietet uns, mit ihm zu reden. Und dann kam seine Freundin. Lois. Ich hörte, wie er sie rief. Sie ist zierlich und hübsch und riecht wie Babyhaut. Ich sehe sie manchmal für ihn zum Laden rennen. Und einmal, als sie in Mr. Bennys Laden neben mir stand, war sie barfuß, und ich sah ihre barfüßigen Babyzehen, ganz blaß, blaß rosa lackiert, wie kleine rosa Muschelschalen, und sie riecht rosa wie Babies. Sie hat große Mädchenhände, und ihre Knochen sind lang wie Frauenknochen, -69-
und Schminke trägt sie auch. Aber sie kann ihre Schuhe nicht zubinden. Ich schon. Manchmal höre ich sie spät abends lachen, Bierdosen und Katzen und die Bäume, die Selbstgespräche führen: warte, warte, warte. Sire läßt Lois sein Fahrrad ums Karree fahren, oder sie gehen zusammen spazieren. Ich beobachte sie. Sie hält seine Hand, und manchmal macht er halt, um ihr die Schuhe zuzubinden. Aber Mama sagt, solche Mädchen, das sind die, die in die dunklen Gassen mitgehen. Lois, die ihre Schuhe nicht zubinden kann. Wo geht er hin mit ihr? In mir hält alles den Atem an. Ist kurz davor zu platzen, wie an Weihnachten. Ich möchte ganz neu sein und glänzend. Ich möchte so schrecklich gern abends draußen sitzen, einen Jungen um den Hals und den Wind unterm Rock. Nicht so wie jetzt, wo ich jeden Abend mit den Bäumen rede, während ich aus dem Fenster rausschaue und mir vorstelle, was ich nicht sehen kann. Einmal hielt mich ein Junge so fest, daß ich den Griff und das Gewicht seiner Arme spürte, ich schwör's. Aber es war im Traum. Sire. Wie hast du sie umarmt? Ungefähr so? Und als du sie geküßt hast? So?
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Vier mickrige Bäumchen Sie sind die einzigen, die mich verstehen. Ich bin die einzige, die sie versteht. Vier mickrige Bäumchen mit mickrigen Hälsen und spitzen Ellbogen wie meine. Vier Stück, die hier nicht hergehören, aber nun mal da sind. Vier schäbige Feigenblättchen, die die Stadt hier gepflanzt hat. Von unserem Zimmer aus können wir sie hören, aber Nenny schläft einfach und hat kein Gespür für solche Sachen. Ihre Kraft ist verborgen. Sie treiben unbändige Wurzeln in die Erde. Sie wachsen nach oben und nach unten und packen das Erdreich mit ihren haarigen Zehen und schlagen Fangzähne in den Himmel und rasten nie in ihrem Zorn. So halten sie durch. Es braucht bloß einer vergessen, warum er lebt, schon lassen sie alle die Köpfe hängen wie Tulpen in einer Vase, einander umarmend. Halt durch, halt durch, halt durch, raunen die Bäume, wenn ich schlafe. Sie sind meine Lehrmeister. Wenn ich zu traurig bin und zu mickrig, um weiter durchzuhalten, wenn ich ganz winzig bin vor so vielen Mauern, dann schaue ich mir Bäume an. Wenn nichts da ist, was das Hinschauen lohnt in dieser Straße. Vier, die wuchsen, trotz Beton. Vier, die sich strecken und nie vergessen, sich zu strecken. Vier, die nur dasind, um dazusein und dazusein.
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No speak English Mamacita, das Mütterchen, ist die dicke Frau von dem Mann von gegenüber, zweiter Stock nach vorne raus. Rachel sagt, sie sollte Mamasota heißen, Schwiegermutter, aber das finde ich gemein. Der Mann hat sein Geld gespart, um sie hierher zu holen. Er sparte und sparte, weil sie allein war mit dem Baby in dem Land dort. Er hatte zwei Jobs. Er kam abends spät heim, und er ging früh fort. Jeden Tag. Dann eines Tages kamen Mamacita und das Baby in einem gelben Taxi an. Die Taxitür schwang aus wie der Arm eines Obers. Heraus stiegen ein winziges rosa Schühchen, ein Fuß so weich wie ein Kaninchenohr, dann der dralle Knöchel, aufgeregtes Hüftenwackeln, fuchsienfarbene Rosen und frisches Parfüm. Der Mann mußte sie ziehen, der Taxifahrer schieben. Schieben, ziehen. Schieben, ziehen. Uff! Mit einem Mal stand sie da in voller Blüte. Riesig, überwältigend, wunderschön anzusehen, von der lachsrosa Feder an der Hutspitze bis runter zu den Rosenknöspchen ihrer Zehen. Ich konnte den Blick nicht von ihren winzigen Schühchen abwenden. Rauf, rauf, die Stufen rauf stieg sie mit dem kleinen Jungen in einer blauen Decke, und der Mann trug ihre Koffer, ihre lavendelfarbenen Hutschachteln, ein Dutzend Schuhkartons voller satinglänzender Stöckelschuhe. Dann sahen wir sie nicht mehr. Irgendwer sagte, weil sie zu fett ist, jemand anderer, weil es zwei Stockwerke sind. Aber ich glaube, sie kommt nicht raus, weil sie Angst hat, Englisch zu sprechen, und vielleicht kommt es daher, daß sie nur neun Wörter kennt. -72-
Sie kann sagen: He is not here, wenn der Hauswirt kommt, No speak English, wenn sonst irgendwer kommt, und Holy smokes. Ich weiß nicht, wo sie das her hat, aber ich habe es sie einmal sagen hören, und es hat mich überrascht. Mein Vater sagt, als er in dieses Land kam, hat er drei Monate lang Rühreier mit Schinken gegessen. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Rühreier mit Schinken. Das waren die einzigen Wörter, die er kannte. Er ißt keine Rühreier mit Schinken mehr. Was immer der Grund sein mag, ob sie zu fett ist oder die Treppen nicht hochkommt oder Angst vor dem Englischen hat, sie kommt einfach nicht runter. Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und hört das spanische Radioprogramm und singt all die wehmütigen Lieder über ihre Heimat mit einer Stimme, die klingt wie ein Möwenschrei. Zuhause. Zuhause. Zuhause ist ein Haus auf einem Photo, ein rosarotes Haus, malvenrosa mit ganz viel Licht. Der Mann streicht die Wände der Wohnung rosa, aber es ist nicht dasselbe, weißt du. Sie seufzt noch immer nach ihrem rosaroten Haus, und dann weint sie, glaub ich. Ich tät's jedenfalls. Manchmal wird der Mann sauer. Er fängt an zu schreien, daß man es in der ganzen Straße hören kann. Ay, sagt sie, ich bin traurig. Oh, sagt er, nicht schon wieder. Cuándo, cuándo, cuándo? fragt sie. Ay, Caray! Wir sind doch zu Hause. Das hier ist unser Zuhause. Hier bin ich, und hier bleib ich. Sprich Englisch. Sprich Englisch, Herrgottnochmal! Ay! Mamacita, die nicht hierher gehört, stößt ab und zu einen Schrei aus, hysterisch, schrill, als hätte er das einzige Fädchen zerrissen, das sie am Leben hielt, den -73-
einzigen Weg zu jenem Land. Und dann, um ihr das Herz endgültig zu brechen, singt der kleine Junge, der mittlerweile spricht, die Pepsireklame, die er im Fernsehen gehört hat. No speak English, sagt sie zu dem Kind, das in der Sprache singt, die sich anhört wie Blech. No speak English, no speak English, und bricht in Tränen aus. Nein, nein, nein, als ob sie ihren Ohren nicht glauben kann.
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Rafaela, die dienstags immer Kokosmilch oder Papayasaft trinkt Dienstags kommt Rafaelas Mann immer spät nach Hause, weil das der Abend ist, an dem er zum Dominospielen geht. Dann wird Rafaela, die noch jung ist, aber vom vielen Zum-Fenster-Rausschauen allmählich alt wird, eingesperrt. Ihr Mann hat nämlich Angst, daß Rafaela wegläuft, weil sie gar zu schön anzusehen ist. Rafaela schaut zum Fenster raus, stützt sich auf den Ellbogen und träumt, ihr Haar war wie Rapunzels. An der Straßenecke tönt Musik aus der Kneipe, und Rafaela wünscht, sie könnte hingehen und tanzen, bevor sie alt wird. Es vergeht einige Zeit, und wir vergessen, daß sie da oben sitzt und runterschaut, bis sie sagt: Kinder, wenn ich euch einen Dollar geb, lauft ihr zum Laden und kauft mir was? Sie wirft einen zerknüllten Dollar runter und wünscht sich immer Kokosmilch oder manchmal Papayasaft, was wir ihr in einer Einkaufstüte aus Papier hochschicken, die sie an einer Wäscheleine runterläßt. Rafaela, die dienstags immer und ewig Kokosmilch oder Papayasaft trinkt und sich süßere Getränke wünscht, keine so bitteren wie ein ödes Zimmer, sondern süße, süß wie die Insel, wie das Tanzlokal etwas weiter die Straße runter, wo viel ältere Frauen als sie Blicke aus grünen Augen so leichthin wie Würfel werfen und ihre Wohnungstüren mit Schlüsseln aufsperren. Und immer ist einer da, der zu süßeren Getränken einlädt, einer, der sie auf Händen zu tragen verspricht.
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Sally Sally ist das Mädchen mit Augen wie Ägypten und Nylonstrümpfen grau wie Rauch. Die Jungs in der Schule finden sie schön, weil ihr Haar schwarz glänzt wie Rabenfedern und weil sie es beim Lachen wie einen Satinschal über die Schultern zurückwirft und lacht. Ihr Vater sagt, es bringt Ärger, wenn eine so schön ist. Sie sind sehr streng, was seine Religion angeht. Sie dürfen nicht tanzen. Er erinnert sich an seine Schwestern und wird ganz traurig. Dann darf sie nicht weggehen. Sally, meine ich. Sally, wer hat dir beigebracht, dir die Augen anzumalen wie Kleopatra? Und wenn ich das Pinselchen mit der Zunge zusammendrehe und ganz spitz kaue und in den dunklen Brei tunke, der in dem roten Kästchen steckt, zeigst du's mir dann? Mir gefallen dein schwarzer Mantel und die Schuhe, die du anhast, wo hast du die her? Meine Mutter sagt, es ist gefährlich, so jung schon Schwarz zu tragen, aber ich will mir genau solche Schuhe kaufen wie deine, wie deine schwarzen aus Wildleder, genau solche. Und eines Tages, wenn meine Mutter gute Laune hat, vielleicht nach meinem nächsten Geburtstag, bitte ich darum, daß sie mir auch die Nylonstrümpfe kauft. Cheryl, die nicht mehr deine Freundin ist, seit letztem Dienstag vor Ostern nicht, seit dem Tag, als du ihr das Ohr blutig schlugst, seit sie dich bei diesem Namen nannte und dich in den Arm biß und du aussahst, als würdest du gleich weinen, und alle warteten nur darauf, und du hast es nicht getan, du nicht, Sally, seit damals hast du keine beste Freundin mehr, mit der du am Schulhofzaun lehnst, um -76-
hinter vorgehaltener Hand über das zu lachen, was die Jungs sagen. Keine borgt dir mehr ihre Haarbürste. Die Geschichten, die die Jungs in der Garderobe erzählen, die sind erfunden. Du lehnst allein am Schulhofzaun und hast die Augen zu, als schaute keiner her, als könnte dich keiner dort sehen, Sally. Woran denkst du, wenn du die Augen so zu hast? Und warum mußt du nach der Schule immer gleich nach Haus? Du wirst eine andere Sally. Du ziehst deinen Rock gerade, du reibst dir die blaue Farbe von den Augenlidern. Du lachst nicht, Sally. Du starrst auf deine Füße und gehst rasch zu dem Haus, aus dem du nicht raus darfst. Sally, wünschst du dir manchmal, du müßtest nicht nach Haus? Wünschst du dir, daß deine Füße eines Tages weiterlaufen und dich weit weg bringen von der Mango Street, weit weg, und vielleicht machen sie halt vor einem Haus, einem hübschen Haus mit Blumen und großen Fenstern und Treppen, die du hochsteigst, immer zwei Stufen auf einmal, nach oben, wo ein Zimmer auf dich wartet. Und wenn du den kleinen Fensterriegel aufmachst und ihm einen Schubs gibst, gehen die Fensterflügel auf, und der ganze Himmel kommt rein. Da gäbe es keine neugierigen Nachbarn, keine Motorräder und Autos, keine Bettücher, keine Handtücher, keine Wäsche. Nur Bäume über Bäume und reichlich blauen Himmel. Und du könntest lachen, Sally. Du könntest einschlafen und aufwachen und müßtest nie grübeln, wer dich mag und wer nicht. Du könntest die Augen zumachen, und du müßtest dir keine Sorgen machen, was die Leute reden, weil du sowieso nicht hierher gehörst, und niemand könnte dich traurig machen, und niemand hielte dich für komisch, weil du gern träumst und träumst. Und niemand könnte dich anschreien, wenn er sieht, daß du dich im Dunkeln an ein Auto lehnst, dich an jemanden lehnst, -77-
ohne daß irgendwer denkt, du bist schlecht, ohne daß irgendwer sagt, das tut man nicht, ohne daß alle Welt darauf wartet, daß du einen Fehler machst, wo du doch nur das eine willst, nur das eine, Sally, lieben und lieben und lieben, und niemand könnte sagen, das ist doch verrückt.
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Minerva schreibt Gedichte Minerva ist nur ein klein bißchen älter als ich, aber sie hat schon zwei Kinder und einen Mann, der davongelaufen ist. Ihre Mutter hat ihre Kinder allein großgezogen, und wie es aussieht, werden ihre Töchter es genauso machen. Minerva weint, weil sie bloß Pech hat. Nacht für Nacht und Tag für Tag. Und betet. Aber wenn die Kinder schlafen, nachdem sie sie zum Abendessen mit Pfannkuchen gefüttert hat, schreibt sie Gedichte auf Papierschnipsel, die sie ganz klein zusammenfaltet und lange in der Hand behält, Papierschnipsel, die wie Kleingeld riechen. Ich darf ihre Gedichte lesen. Sie darf meine lesen. Sie ist immer traurig wie ein brennendes Haus - immer geht was schief. Sie hat viele Sorgen, aber die größte ist ihr Mann, der davonlief und immer wieder davonläuft. Eines Tages hat sie es satt und schreit, jetzt reicht's. Rums, ist er raus zur Tür. Klamotten, Platten und Schuhe hinterher. Aus und vorbei und die Haustür zugesperrt. Aber in der Nacht kommt er zurück und wirft einen großen Stein durchs Fenster. Dann tut es ihm leid, und sie macht die Tür wieder auf. Die alte Leier. Die Woche drauf kommt sie zu uns, ganz grün und blau, und fragt, was soll ich tun? Minerva. Ich weiß nicht, wie das mit ihr weitergehen soll. Ich jedenfalls kann nichts tun.
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Penner auf dem Dachboden Ich möchte ein Haus haben auf einem Hügel, so wie die mit den Gärten, wo Papa arbeitet. Wir fahren jeden Sonntag hin, an Papas freiem Tag. Früher bin ich immer mitgefahren. Jetzt nicht mehr. Du hast wohl keine Lust, was mit uns zu unternehmen, sagt Papa. Bist wohl schon zu groß? Bist wohl zu eingebildet, sagt Nenny. Ich sage ihnen nicht, daß ich mich schäme - allesamt starren wir zum Fenster raus wie Verhungernde. Ich hab's satt, mir anzuschauen, was wir nicht kriegen können. Wenn wir im Lotto gewinnen… fängt Mama an, und schon mach ich die Ohren zu. Menschen, die auf Hügeln wohnen, schlafen so dicht bei den Sternen, daß sie all jene vergessen, die zu nah am Erdboden leben. Sie schauen nie runter, außer um sich zu freuen, daß sie oben auf ihren Hügeln wohnen. Sie brauchen sich nicht um den Abfall der vergangenen Woche zu scheren oder um die Angst vor Ratten. Es wird Nacht. Nichts stört ihren Schlaf außer dem Wind. Eines Tages werde ich mein eigenes Haus besitzen, aber ich werde nie vergessen, wer ich bin und wo ich herkomme. Vorbeigehende Penner werden fragen: Kann ich reinkommen? Ich werde ihnen den Dachboden anbieten, sie zum Bleiben einladen, weil ich weiß, wie es ist, ohne Obdach zu sein. Manchmal nach dem Abendessen werden Gäste und ich vor einem Kaminfeuer sitzen. Oben werden Dielenbretter knarren. Auf dem Dachboden Geräusche zu hören sein. Ratten? werden sie fragen. Penner, werde ich sagen und werde froh sein dabei.
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Schön und grausam Ich bin eine häßliche Tochter. Ich bin die, die keiner abholt. Nenny sagt, sie wird nicht ihr ganzes Leben drauf warten, daß einer kommt und sie holt, sie sagt, Minervas Schwester verließ das Haus ihrer Mutter, weil sie ein Baby bekam, aber so will sie auch nicht weggehen. Sie will, daß alles nach ihrem Kopf geht, daß sie bloß auswählt und zugreift. Nenny hat hübsche Augen, und es ist leicht so zu reden, wenn du hübsch bist. Meine Mutter sagt, wenn ich älter werde, wird sich mein widerborstiges Haar schon noch beruhigen, und meine Bluse wird es lernen, sauber zu bleiben. Aber ich hab beschlossen, nicht so demütig erwachsen zu werden wie die anderen, die brav den Kopf auf die Türschwelle legen, um unter die Haube zu kommen. Im Kino gibt es immer eine mit roten, roten Lippen, die schön und grausam ist. Sie macht die Männer verrückt und läßt sie lachend abblitzen. Ihre Kraft gehört ihr allein. Sie gibt sie nicht weg. Ich hab meinen eigenen stillen Krieg angefangen. Simpel. Sicher. Ich stehe vom Tisch auf wie ein Mann, ohne den Stuhl zurückzustellen oder den Teller wegzuräumen.
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Ein kluges Köpfchen Aus mir hätte was werden können, weißt du? sagt meine Mutter und seufzt. Sie hat ihr Leben lang in dieser Stadt gewohnt. Sie spricht zwei Sprachen. Sie kann Opern singen. Sie weiß, wie man einen Fernseher repariert. Aber sie weiß nicht, mit welcher U-Bahn sie in die Innenstadt kommt. Ich halte sie ganz fest an der Hand, während wir warten, bis die richtige Bahn kommt. Sie hat früher gezeichnet, wenn sie Zeit hatte. Jetzt zeichnet sie mit Nadel und Faden, kleine verschlungene Rosenknospen, Tulpen aus Seidengarn. Irgendwann möchte sie gern ins Ballett gehen. Irgendwann möchte sie gern ein Theaterstück sehen. Sie leiht sich Opernschallplatten aus der Stadtbibliothek und singt mit samtiger Kehle so kräftig wie Purpurwinden. Heute, während sie Haferschleim kocht, ist sie Madame Butterfly, bis sie seufzt und mit dem Kochlöffel auf mich zeigt. Aus mir hätte was werden können, weißt du? Esperanza, du geh zur Schule. Lern fleißig. Diese Madame Butterfly war eine Närrin. Sie rührt im Haferschleim. Schau meine comadres an. Sie meint Izaura, deren Mann davongelaufen ist, und Yolanda, deren Mann tot ist. Mußt ganz allein klarkommen, sagt sie und schüttelt den Kopf. Dann aus heiterem Himmel: Sich zu schämen ist mies, weißt du. Das macht dich fertig. Willst du wissen, warum ich mit der Schule aufgehört hab? Weil ich keine schönen Anziehsachen hatte. Keine Anziehsachen, aber ich hatte Grips. Jawoll, sagt sie angeekelt und rührt weiter. Ich war ein kluges Köpfchen damals.
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Was Sally gesagt hat Er prügelt mich nie schlimm. Sie sagt, ihre Mama reibt Schmalz auf alle Stellen, wo es weh tut. In der Schule sagt sie dann immer, sie sei hingefallen. Da kämen all die blauen Flecken her. Deshalb sei ihre Haut immer narbig. Aber wer glaubt ihr das. Ein so großes Mädchen, ein Mädchen, das reinkommt, das hübsche Gesicht ganz grün und blau, das fällt doch nicht die Treppen runter. Er prügelt mich nie schlimm. Aber Sally erzählt nie von dem einen Mal, als er sie mit den Händen schlug, wie einen Hund, sagte sie, als ob ich ein Tier war. Er glaubt, ich werde abhauen wie seine Schwestern, die Schande über die Familie gebracht haben. Bloß weil ich eine Tochter bin, und dann sagt sie nichts mehr. Sally wollte um Erlaubnis bitten, daß sie ein paar Tage bei uns bleiben darf, und eines Donnerstags kam sie dann schließlich an mit einem Sack voller Anziehsachen und einer Einkaufstüte mit Rosinenbrot, das ihre Mama mitschickte. Und wäre auch geblieben, außer daß ihr Vater, der vom Weinen ganz kleine Augen hatte, an die Tür klopfte, als es dunkel wurde, und sagte: Bitte komm zurück, das ist das letzte Mal. Und sie sagte: Daddy, und ging heim. Damals mußten wir uns keine Sorgen machen. Bis Sallys Vater sie dann eines Tages dabei erwischte, wie sie mit einem Jungen redete, und sie am nächsten Tag nicht in die Schule kam. Und auch am nächsten nicht. Bis er, wie Sally erzählt, einfach durchdrehte, zwischen Gürtel und Schnalle einfach vergaß, daß er ihr Vater ist. Du bist nicht meine Tochter, du bist nicht meine -83-
Tochter. Und dann schlug er die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
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Der Affengarten Der Affe wohnt nicht mehr dort. Der Affe ist weggezogen - nach Kentucky - und hat seine Leute mitgenommen. Und ich war froh, weil ich sein wildes Geschrei in der Nacht, das näselnde Geplapper der Leute, denen er gehörte, nicht mehr mit anhören konnte. Der grüne Metallkäfig, die Tischplatte aus Porzellan, die Familie, die redete wie Gitarren. Affe, Familie, Tisch. Alle fort. Und erst dann übernahmen wir den Garten, in den wir uns nicht hineingetraut hatten, solange dort der Affe schrie und seine gelben Zähne fletschte. Da gab es Sonnenblumen, so groß wie Blumen vom Mars, und dicke Hahnenkämme, deren Blüten herunterhingen wie die blutroten Troddeln an einem Theatervorhang. Da gab es schwirrende Bienen und Fruchtfliegen wie Frackschleifen, die durch die Luft summten und Purzelbäume schlugen. Süße, süße Pfirsichbäume. Dornige Bösen und Disteln und Birnen. Unkraut wie ein ganzes Meer scheeläugiger Sterne und Gestrüpp, das deine Knöchel wie verrückt jucken ließ, bis du sie mit Wasser und Seife gewaschen hast. Da gab es große grüne Apfel, so hart wie deine Knie. Und überall der schläfrige Geruch vermodernden Holzes, überall feuchte Erde und staubbedeckte Malven, dick und parfümschwer wie das bläulichblonde Haar der Toten. Gelbe Spinnen rannten davon, wenn wir Steine umdrehten, und blasse Würmer, blind und lichtscheu, drehten sich im Tiefschlaf auf die andere Seite. Stocher mit einem Stock im sandigen Boden herum, und schon tauchen ein paar blaugepanzerte Käfer auf, eine Ameisenautobahn, eine Handvoll unwirscher Marienkäferchen. Das war vielleicht ein Garten - im Frühling wunderschön -85-
anzuschauen. Aber nach und nach nahm der Garten selbst das Heft in die Hand, nachdem der Affe fort war. Blumen gehorchten den kleinen Ziegelsteinen nicht mehr, die sie davon abhielten, über die Wege zu wuchern. Unkraut gesellte sich dazu. Autowracks schossen über Nacht aus dem Boden hoch wie Pilze. Erst eins, dann noch eins und dann ein blaßblauer Pickup ohne Windschutzscheibe. Ehe man sich's versah, war der Affengarten ein Treff schlafender Autos. In dem Garten hatten die Dinge die Angewohnheit zu verschwinden, als ob der Garten selber sie verschlang oder sie mit seinem Altherrengedächtnis verlegte und dann vergaß. Nenny fand einen Dollar und eine tote Maus zwischen zwei Steinbrocken in der Mauer, wo die Purpurwinden emporranken, und einmal, als wir Verstecken spielten, legte Eddie Vargas seinen Kopf unter einen Hibiskusbaum und schlief ein wie Rip van Winkle, bis einer von uns einfiel, daß er ja mitspielte, und sie ihn suchen ging. Deshalb, denke ich, sind wir dorthin gegangen. Weit weg von da, wo unsere Mütter uns finden konnten. Wir und ein paar alte Hunde, die in den Autowracks wohnten. Einmal bauten wir ein Klubhaus auf der Ladefläche des alten blauen Pickup. Und außerdem hüpften wir furchtbar gern von einem Autodach zum anderen und taten so, als seien es Riesenpilze. Irgendwer brachte die Lüge auf, der Affengarten sei älter als alles auf der Welt. Wir stellten uns gern vor, der Garten könne Sachen tausend Jahre lang verstecken. Gleich unter den Wurzeln klitschiger Blumen lagen die Knochen von ermordeten Seeräubern und Dinosauriern, das Auge eines Einhorns, das sich in Kohle verwandelt hatte. Hier wollte ich sterben, und hier versuchte ich es auch -86-
eines Tages, aber nicht einmal der Affengarten wollte mich haben. Es war das letzte Mal, daß ich hinging. Wer war das, der gesagt hatte, ich würde zu alt, um beim Spielen mitzumachen? Wer war es, den ich nicht gehört hatte? Ich erinnere mich nur noch, daß ich ebenfalls losrennen wollte, als die anderen losrannten, kreuz und quer durch den Affengarten, schnell wie die Jungs, nicht wie Sally, die zu schreien anfängt, sobald Matsch an ihre Strümpfe kommt. Ich sagte, Sally, komm mit, aber sie wollte nicht. Sie blieb auf dem Gehweg, wo sie mit Tito und seinen Freunden quatschte. Spiel mit den Kleinen, wenn du Lust hast, sagte sie, ich bleibe hier. Sie konnte hochnäsig sein, wenn sie wollte, also ging ich einfach weg. Sie war auch selber schuld. Als ich zurückkam, tat sie so, als sei sie wütend… angeblich hatten ihr die Jungs die Schlüssel weggenommen. Bitte gebt sie mir zurück, sagte sie und boxte den, der am nächsten stand, mit einer weichen Faust. Sie lachten immerzu. Sally auch. Es war ein Witz, den ich nicht kapierte. Ich wollte zu den anderen Kindern zurück, die immer noch auf den Autodächern rumhopsten, immer noch im Garten Fangen spielten, aber Sally trieb ihr eigenes Spiel. Einer der Jungs dachte sich die Regeln aus. Einer von Titos Freunden sagte, du kriegst die Schlüssel nur, wenn du uns einen Kuß gibst, und Sally tat zuerst so, als ob sie sauer sei, doch dann sagte sie ja. So einfach ging das. Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich war mir danach, mit einem Knüppel dreinzuhauen. Plötzlich war mir danach, nein zu schreien, als ich sah, wie Sally mit Titos Kumpeln in den Garten ging und die übers ganze Gesicht grinsten. Es war bloß ein Kuß, sonst nichts. Ein Kuß für jeden. Was soll's, sagte sie. -87-
Bloß wieso hatte ich eine solche Wut im Bauch? Als ob irgendwas faul sei. Sally ging hinter den alten blauen Pickup, um die Jungs zu küssen und ihre Schlüssel zurückzubekommen, und ich rannte drei Treppen hoch zu Titos Wohnung. Seine Mutter bügelte gerade Hemden. Sie bespritzte sie mit Wasser aus einer leeren Limoflasche und rauchte eine Zigarette. Ihr Sohn und seine Freunde haben Sally ihre Schlüssel weggenommen, und jetzt geben sie die nur wieder her, wenn Sally sie küßt, und genau jetzt zwingen sie Sally, daß sie sie küßt, sagte ich, noch ganz außer Atem wegen der drei Treppen. Diese Kinder, sagte sie, ohne vom Bügelbrett hochzusehen. Das ist alles? Was soll ich denn machen, sagte sie, soll ich die Polizei rufen? Und bügelte weiter. Ich sah sie lange an, aber mir fiel nichts ein, und so rannte ich die drei Treppen runter zurück in den Garten, wo Sally gerettet werden mußte. Ich schnappte mir drei kräftige Prügel und einen Ziegelstein und dachte mir, das muß reichen. Aber als ich hinkam, sagte Sally, ich soll abhaun. Und diese Jungs da sagten, laß uns in Ruhe. Ich kam mir total doof vor mit meinem Ziegelstein. Alle schauten mich an, als sei ich bescheuert, und dann schämte ich mich. Und dann mußte ich einfach wegrennen, ich weiß nicht wieso. Ich mußte mich am anderen Ende des Gartens verstecken, im Dschungelteil, unter einem Baum, dem es nichts ausmachen würde, daß ich mich hinlegte und ausgiebig weinte. Ich kniff meine Augen zu wie kleine Sterne, um nicht zu weinen, aber ich weinte doch. Mein Gesicht fühlte sich heiß an. In mir drin hatte alles -88-
Schluckauf. Ich hatte mal irgendwo gelesen, daß es in Indien Priester gibt, deren Herz zu schlagen aufhört, wenn sie es sich fest vornehmen. Ich wollte mir fest vornehmen, daß mein Blut gerinnt, daß mein Herz zu pumpen aufhört. Ich wollte tot sein, mich in Regen verwandeln, meine Augen in den Boden schmelzen lassen wie zwei schwarze Schnecken. Ich wünschte es mir ganz fest, ganz fest. Ich kniff die Augen zu und nahm es mir fest vor, aber als ich aufstand, war mein Kleid ganz grün, und ich hatte Kopfweh. Ich starrte meine Füße an, die in weißen Socken und häßlichen runden Schuhen steckten. Sie sahen aus, als seien sie ganz weit weg. Sie sahen gar nicht mehr so aus, als ob sie mir gehörten. Und auch der Garten, der so ein toller Platz zum Spielen gewesen war, sah nicht mehr aus, als ob er mir gehörte.
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Rote Clowns Du hast gelogen, Sally. Es war überhaupt nicht, wie du gesagt hast. Was er machte. Wo er mich anfaßte. Ich wollte es nicht, Sally. Wie sie gesagt haben, wie es sein soll, all die Märchenbücher und Filme, warum hast du mich angelogen? Ich wartete bei den roten Clowns. Ich stand bei dem Doppelkreisler, genau, wo du gesagt hast. Obwohl ich gar nicht gern auf den Rummel geh. Ich bin nur mit, um bei dir zu sein, weil du lachst auf dem Doppelkreisler, weil du den Kopf in den Nacken wirfst und lachst. Ich halte dein Wechselgeld, winke, zähle, wie oft du vorbeifliegst. Diese Jungs da, die dir nachschauen, weil du hübsch bist. Ich bin gern mit dir unterwegs, Sally. Du bist meine Freundin. Aber der große Junge, wo ist er hin mit dir? Ich hab so lange gewartet. Ich hab bei den roten Clowns gewartet, genau wie du gesagt hast, aber du kamst nicht, hast mich nicht abgeholt. Sally, Sally, hundertmal Sally. Warum hast du mich nicht gehört, als ich rief? Warum hast du ihnen nicht gesagt, sie sollen mich in Ruh lassen? Der eine, der mich am Arm packte, der ließ mich nicht mehr los. Er sagte, ich liebe dich, spanisches Mädel, ich liebe dich, und preßte seinen sauren Mund auf den meinen. Sally, mach, daß er aufhört. Ich konnte sie nicht loswerden. Ich konnte gar nichts tun außer weinen. Ich hab's vergessen. Es war dunkel. Ich hab's vergessen. Ich hab's vergessen. Bitte zwing mich nicht, alles zu erzählen. Wieso hast du mich ganz allein da stehenlassen? Ich hab mein Leben lang warten müssen. Du bist eine Lügnerin. Sie haben alle gelogen. All die Bücher und Zeitschriften, -90-
alle, die es ganz falsch erzählt haben. Bloß seine dreckigen Fingernägel auf meiner Haut, bloß wieder sein saurer Atem. Der Mond, der zusah. Der Doppelkreisler. Die roten Clowns mit ihrem hämischen Lachen. Dann fingen die Farben zu wirbeln an. Der Himmel stürzte ein. Ihre hohen schwarzen Turnschuhe rannten los. Sally, du hast gelogen, gelogen. Er ließ mich nicht mehr los. Er sagte, ich liebe dich, ich liebe dich, spanisches Mädel.
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Linoleumröschen Sally hat geheiratet, wie wir es vorausahnten, jung und unvorbereitet, aber trotzdem verheiratet. Auf einem Schulbasar traf sie einen Vertreter für Marshmallows und heiratete ihn in einem anderen Staat, wo es legal ist, vor der achten Klasse zu heiraten. Jetzt hat sie ihren Mann und ihr Haus, ihre Kissenbezüge und ihr Geschirr. Sie sagt, sie ist verliebt, aber ich glaube, sie hat es gemacht, um zu flüchten. Sally sagt, es macht ihr Spaß, verheiratet zu sein, weil sie sich jetzt selbst ihre Sachen kaufen kann, wenn ihr Mann ihr Geld gibt. Sie ist glücklich, bloß manchmal wird ihr Mann wütend, und einmal hat er mit dem Fuß ein Loch in die Tür getreten, obwohl er meistens okay ist. Bloß daß er es nicht erlaubt, daß sie telephoniert. Und daß er es nicht erlaubt, daß sie zum Fenster rausschaut. Und daß er ihre Freundinnen nicht mag, weshalb niemand sie besuchen darf, außer wenn er arbeitet. Sie sitzt zu Hause, weil sie Angst hat, ohne seine Erlaubnis rauszugehen. Sie schaut sich all die Sachen an, die ihnen gehören: die Handtücher und den Toaster, den Wecker und die Gardinen. Sie schaut sich gern die Wände an, wie rechtwinklig die Ecken sind, schaut sich die Linoleumröschen auf dem Fußboden an, die Decke, die so glatt ist wie eine Hochzeitstorte.
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Die drei Schwestern Sie kamen mit dem Augustwind, dünn wie Spinnweben und fast unbemerkt. Drei, die mit nichts verwandt schienen außer dem Mond: eine mit einem blechernen Lachen, eine mit Katzenaugen und eine mit Porzellanhänden. Die Tanten, die drei Schwestern, las comadres, so sagten die Leute. Das Baby starb. Das Schwesterchen von Lucy und Rachel. Eines Nachts heulte ein Hund, und tags darauf flog ein gelber Vogel durchs offene Fenster. Bevor die Woche um war, war das Fieber der Kleinen schlimmer geworden. Dann kam Jesus und nahm sie mit sich fort, weit fort. Das jedenfalls hat ihre Mutter erzählt. Dann kamen die Besucher… gingen ein und aus in dem kleinen Haus. Es war schwer, den Boden sauberzuhalten. Jeder, der sich irgendwann einmal gefragt hatte, welche Farbe die Wände haben, kam vorbei und schaute sich diesen kleinen Däumling von einem Menschen an, der in einem Sarg lag so klein wie eine Pralinenschachtel. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, keinen echten jedenfalls, und nicht im Wohnzimmer, wo ihn die Leute küssen und sich bekreuzigen und eine Kerze für ihn anzünden. Nicht in einem Haus. Es kam mir komisch vor. Sie müssen es gewußt haben, die Schwestern. Sie hatten den sechsten Sinn und konnten spüren, was los ist. Komm her, sagten sie und schenkten mir einen Kaugummi. Sie rochen wie Kleenex oder wie das Innere einer Satinhandtasche, und da hatte ich keine Angst mehr. Wie heißt du, fragte die Katzenäugige. Esperanza, sagte ich. Esperanza, wiederholte die alte Blaugeäderte mit einer -93-
hohen, dünnen Stimme. Esperanza… ein guter, alter Name. Meine Knie tun weh, klagte die mit dem ulkigen Lachen. Morgen wird es Regen geben. Ja, morgen, sagten sie. Woher wißt ihr das? fragte ich. Wir wissen's eben. Schaut euch ihre Hände an, sagte Katzenauge. Und sie drehten sie erst so rum und dann so rum, als suchten sie irgendwas. Sie ist was Besonderes. Ja, ja, sie wird's weit bringen. Ja, ja, hmmm. Wünsch dir was. Ich soll mir was wünschen? Ja, wünsch dir was. Was möchtest du denn? Darf ich mir alles wünschen? sagte ich. Gut, warum nicht? Ich schloß die Augen. Hast du's dir schon gewünscht? Ja, sagte ich. Gut, mehr braucht es nicht. Es wird in Erfüllung gehen. Woher wißt ihr das? fragte ich. Wir wissen's eben, wir wissen's eben. Esperanza. Die mit den Marmorhänden rief mich leise. Esperanza. Sie hielt mein Gesicht in ihren blaugeäderten Händen und schaute und schaute mich an. Ein langes Schweigen. Wenn du fortgehst, darfst du nicht vergessen, zurückzukommen, sagte sie. -94-
Was? Wenn du fortgehst, darfst du nicht vergessen, zurückzukommen und die anderen zu holen. Ein Kreis, verstehst du? Du wirst immer Esperanza sein. Du wirst immer aus der Mango Street sein. Du kannst nicht ausradieren, was du weißt. Du kannst nicht vergessen, wer du bist. Damals wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Es war, als könnte sie meine Gedanken lesen, als wüßte sie, was ich mir gewünscht hatte, und ich schämte mich, daß ich einen so selbstsüchtigen Wunsch gehabt hatte. Du darfst nicht vergessen zurückzukommen. Um die nachzuholen, die nicht so leicht wegkönnen wie du. Du wirst daran denken? Ihre Frage klang wie ein Befehl. Jajá, sagte ich, ein wenig verwirrt. Gut, sagte sie und streichelte meine Hände. Gut. Das ist alles. Du kannst gehen. Ich stand auf, um zu Lucy und Rachel zu gehen, die schon draußen vor der Tür warteten und sich wunderten, wieso ich mit drei alten Frauen quatsche, die wie Zimt riechen. Ich verstand nicht alles, was sie mir gesagt hatten. Ich drehte mich um. Sie lächelten und winkten in ihrer rauchgrauen Art. Dann sah ich sie nicht mehr. Sah sie nicht, traf sie nicht, sah sie überhaupt nie wieder.
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Alicia und ich unterhalten uns auf der Treppe vor Ednas Haus Ich mag Alicia, weil sie mir einmal eine kleine Geldbörse aus Leder geschenkt hat, auf der das Wort GUADALAJARA eingestickt ist. Das ist Alicias Heimatstadt, und eines Tages wird sie dorthin zurückkehren. Aber heute hört sie sich an, wie traurig ich bin, daß ich kein Zuhause habe. Du hast doch ein Zuhause, 4006 Mango Street, sagt Alicia und zeigt auf das Haus, für das ich mich schäme. Nein, das ist nicht mein Zuhause, sage ich und schüttle den Kopf, als ob mein Kopfschütteln das Jahr zurückdrehen könnte, das ich hier wohne. Ich bin hier nicht zu Hause. Ich will nie und nimmer von hier sein. Du hast eine Heimatstadt, Alicia, und eines Tages wirst du dorthin zurückkehren, in eine kleine Stadt, an die du dich erinnerst, aber ich, ich habe nie ein Zuhause gehabt, nicht einmal ein Foto… bloß ein Zuhause, von dem ich träume. Nein, sagt Alicia. Ob du willst oder nicht, du bist aus der Mango Street, und auch du wirst eines Tages zurückkehren. Ich nicht. Nicht, solange nicht jemand dafür sorgt, daß es hier besser wird. Wer soll das tun? Der Bürgermeister? Und bei dem Gedanken, daß der Bürgermeister in die Mango Street kommt, muß ich laut loslachen. Wer soll das tun? Der Bürgermeister jedenfalls tut es nicht.
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Ein Haus für sich allein Keine Etagenwohnung. Kein Apartment zum Hinterhof. Kein Haus, das einem Mann gehört. Oder einem Daddy. Ein Haus, bloß für mich allein. Mit meiner Veranda und meinem Kissen, meinen hübschen purpurroten Petunien. Meinen Büchern und meinen Geschichten. Meinen Schuhen, die neben dem Bett stehen. Niemand da, mit dem ich mich rumärgern muß. Niemand da, dessen Müll ich wegräumen muß. Nur ein Zuhause so still wie Schnee, einen Ort, an den ich hingehen kann, unbeschrieben wie das Blatt Papier vor dem Gedicht.
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Manchmal sagt die Mango auf Wiedersehen Ich erzähle gern Geschichten. Ich erzähle sie in meinem Kopf. Ich erzähle sie, nachdem der Postbote sagt, hier ist die Post für dich. Hier ist die Post für dich, sagte er. Ich denke mir eine Geschichte für mein Leben aus, für jeden Schritt, den einer meiner braunen Schuhe macht. Ich sage: »Und so stapfte sie müde die Holztreppe hoch, und ihre traurigen braunen Schuhe trugen sie in das Haus, das sie nie leiden konnte.« Ich erzähle gern Geschichten. Ich werde euch eine Geschichte erzählen von einem Mädchen, das nirgends zu Hause sein wollte. Wir haben nicht immer in der Mango Street gewohnt. Vorher wohnten wir in der Loomis im zweiten Stock, und davor in der Keeler. Vor der Keeler war es die Paulina, aber woran ich mich ganz deutlich erinnere, ist die Mango Street, das traurige rote Haus, das Haus, wo ich zu Hause bin und wo trotzdem nicht mein Zuhause ist. Ich schreibe es aufs Papier, und dann quält das Gespenst mich nicht mehr so sehr. Ich schreibe es auf, und manchmal sagt die Mango auf Wiedersehen. Sie hält mich nicht länger fest mit beiden Armen. Sie läßt mich laufen. Eines Tages werde ich meine Sachen packen, meine Bücher und mein Papier. Eines Tages werde ich der Mango auf Wiedersehen sagen. Ich bin zu stark, als daß sie mich hier für alle Zeit festhalten könnte. Eines Tages werde ich fortgehen. Freunde und Nachbarn werden sagen: Was ist denn aus dieser Esperanza geworden? Wo ist sie denn hin mit all diesen Büchern und all dem Papier? Warum ist sie denn so -98-
weit fort? Sie werden nicht wissen, daß ich fortgegangen bin, damit ich zurückkommen kann. Um die nachzuholen, die ich zurückließ. Um die nachzuholen, die nicht wegkönnen.
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