Das Haus der toten Mädchen Gimone Hall 1. Die wenigen Einwohner nannten Devil's Point eine Stadt, aber in Wahrheit hätt...
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Das Haus der toten Mädchen Gimone Hall 1. Die wenigen Einwohner nannten Devil's Point eine Stadt, aber in Wahrheit hätten die Häuser, die sich an einer Kreuzung zweier Landstraßen achtzig Meilen nördlich von San Francisco drängten, nicht einmal ausgereicht, um ein mittelgroßes Dorf zu bilden. Mittelpunkt der Siedlung war ein Laden mit angeschlossener Tankstelle und Poststation. Ein Schild verkündete: AN SIEBEN TAGEN IN DER WOCHE TÄGLICH VIERUNDZWANZIG STUNDEN GEÖFFNET! U.S. Post Office. Im Laden waren auf Regalen Konserven gestapelt, Flaschen mit billigem kalifornischem Wein und tiefgekühlte Pizza, wo keine Regale waren, hingen Ölbilder an den Wänden, hauptsächlich romantische Landschaften am Meer, denn Devil's Point war eine Künstlerkolonie. An den Bildern waren Preiszettel befestigt, die Preise bewegten sich zwischen fünfunddreißig und fünfundsiebzig Dollar. Daneben war ein Kino, in dem hauptsächlich ausländische Filme gezeigt wurden, gegenüber befand sich eine Boutique. Die Ware in den Schaufenstern verriet den schlechten Geschmack des Besitzers und seiner Kunden. Sie hätte sich vorzüglich geeignet, um eine Revuetruppe einzukleiden. Katherine brachte ihren Wagen vor der Benzinpumpe zum Stehen. Sie bedauerte ein wenig, daß sie sich dazu hatte verleiten lassen, in diese Gegend zu fahren. Sie lebte in Los Angeles und war Einkäuferin für ein Warenhaus. Auf einer Geschäftsreise nach San Francisco hatte sie in einem japanischen Teehaus im Golden Gate Park den Mann kennengelernt, der sie zu diesem Abstecher verführt hatte. Er hieß Brock Bradley, und ihm war gelungen, was vorher niemand geschafft hatte, nämlich der kühlen, sachlichen Karrierefrau Katherine Spencer den Kopf zu verdrehen. Sie hatte sich beinahe auf den ersten Blick in ihn verliebt, dabei war sie immerhin schon achtundzwanzig und hatte sich bis vor drei Tagen eingebildet, über derlei Kindereien erhaben zu sein.
Brock Bradley wollte sie heiraten. Sie hatte sich nicht sofort entscheiden mögen, und er hatte ihr empfohlen, nach Devil's Point zu seiner Schwester zu fahren, dort auf ihn zu warten und gründlich nachzudenken. Er war Architekt und vor dem Wochenende nicht abkömmlich. Katherine hatte mit ihrer Firma telefoniert und Hals über Kopf zwei Wochen Urlaub genommen, und nun war sie also in Devil's Point und fragte sich, ob sie nicht zumindest unüberlegt gehandelt hatte, als sie sich zu der Reise überreden ließ. Sie fand keine Antwort auf ihre Frage, denn ein junger, langhaariger Mensch im verschmierten Overal trat zu ihr an den Wagen und erkundigte sich nach ihren Wünschen. Sie ließ volltanken und spähte nachdenklich zu dem Kino. „Die einzige Abwechslung in dieser Gegend", sagte der Mann und grinste. „Hier gibt's nicht mal Fernsehen. Die Berge. Kein Empfang. Ohne das Kino wäre ich schon ausgewandert." Katherine nickte und erkundigte sich nach dem Weg. „Sie können's gar nicht verfehlen", erklärte er. „Fahren Sie auf dieser Straße eine Meile weiter, dann kommen Sie an ein Schild, auf dem steht ,Trail of Foreboding'. Biegen Sie auf den Trail und folgen Sie ihm in Richtung Küste." Katherine runzelte die Stirn. Trail of Foreboding heißt Pfad der schlechten Vorzeichen. „Ein ungewöhnlicher Name..." sagte sie. „Gibt's dafür einen Grund?" „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen." Er lachte. „Bei schönem Wetter ist alles in Ordnung. Die Indianer haben den Trail so genannt, und der Name hat die Jahrhunderte überdauert. Vermutlich hängt es mit der Religion der Indianer zusammen, ich weiß es nicht genau." „Bei schönem Wetter ist alles in Ordnung", wiederholte sie. „Und was ist bei schlechtem Wetter?" Er zuckte mit den Schultern und wurde ernst. „Ich hab' mich noch nicht vorgestellt", sagte er. „Ich heiße David Fenner. Früher oder später lehrt hier jeder jeden kennen." Katherine wunderte sich, daß ein Tankwart es für angebracht hielt, sich bei ihr vorzustellen, dann begriff sie, daß er es nur tat, weil die Neugier ihn plagte und er ihren Namen erfahren wollte. Sie enttäuschte ihn. Sie lächelte reserviert, bezahlte die Rechnung und setzte den Wagen wieder in Bewegung.
Nach einer Meile entdeckte sie am Straßenrand einen Pfahl mit einem hölzernen Hinweisschild. Der Trail of Foreboding war ein Hohlweg, rechts und links auf der Böschung wuchsen Bäume und Sträucher, sie waren zu einem Dickicht verfilzt und sperrten nicht nur das Tageslicht, sondern auch sämtliche Geräusche aus. Katherine verstand nun, warum die Indianer diesen Pfad unheimlich gefunden hatten. Nach einer Weile wurde die Böschung flacher, und das Meer war zu sehen. Der Weg folgte der Küstenlinie, an dieser Stelle war das Ufer hoch und steil, und im Wasser lagen mächtige Felsen. Hier war es nicht mehr totenstill, landeinwärts fegte ein kräftiger Wind, und Katherine hatte einige Mühe, die Kontrolle über den Wagen nicht zu verlieren. Endlich tauchten zwischen den Stämmen Häuser und Hütten auf; sie waren weit verstreut und sahen kalt und abweisend aus. Katherine fuhr von Haus zu Haus, bis sie auf einen Briefkasten mit dem Namen Roger Wickett stieß. Sie war am Ziel. Sie wußte, daß es die Roger Wickett nicht mehr gab, der vor fünf Jahren gestorben war, Brock Bradley hatte ihr dies mitgeteilt. Brocks Schwester Zena war mit Wickett verheiratet gewesen. Das Haus hinter dem Briefkasten war im spanischen Stil erbaut und hatte ein rotes Dach. Es wirkte unbewohnt. Die Rasenfläche davor wurde von der Nachmittagssonne vergoldet, das Gras war offensichtlich schon lange nicht mehr gemäht worden. Katherine stieg aus und ging zur Veranda, die bereits im Schatten lag. Plötzlich fror sie, und Katherine überlegte, ob dafür der Schatten oder die scheinbar ausgestorbene Umgebung verantwortlich war. Sie klopfte an die Tür und niemand antwortete. Katherine fühlte sich unbehaglich. Sie hatte den Eindruck, beobachtet zu werden, und blickte sich argwöhnisch um. Nirgends war ein Lebewesen zu bemerken. Erst jetzt stellte sie fest, daß eines der Fenster offen war. Die Gardine bewegte sich, vielleicht vom Wind, aber Katherine war skeptisch. Wieder bedauerte sie, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben, aber zur Umkehr war es zu spät. Brock Bradleys Gegenwart in San Francisco hatte ausgereicht, ihre Bedenken zu zerstreuen, doch nun, da sie allein war, gewannen ihre Zweifel die Oberhand. Sie rang sich dazu durch, sich nicht wie ein kleines Mädchen aufzuführen. Ein erwachsener Mensch hatte zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte, so redete sie sich ein, auch ein Abenteuer, außerdem war dies kein
Abenteuer mehr, wenn Brock in den nächsten Tagen kam. Dann war die Reise möglicherweise der erste Schritt in eine glückliche Zukunft. Sie trat von der Veranda zurück und hielt Ausschau nach einer zweiten Tür. Das Haus war ziemlich groß, vielleicht hatte man ihr Klopfen nicht gehört? Sie ging um das Haus herum. Die Rückseite stieß an einen Felsenhang, so daß es vorn zwei Etagen, hinten aber nur eine, die obere, gab. Dort war eine zweite Veranda, zu der eine schmale Stiege führte. Katherine kletterte hinauf und klopfte auch hier an die Tür. Abermals keine Antwort. Verärgert ging sie wieder nach unten und zurück zum Wagen. Sie begriff nicht, wieso Brock seine Schwester nicht auf den Besuch vorbereitet hatte. Sie fand sich damit ab, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als nach San Francisco zu fahren oder ein Motel zu suchen, in dem sie übernachten konnte. Sie war beinahe am Wagen, als sie hinter sich eine Stimme hörte. „Hallo!" Sie blieb stehen und drehte sich um. Zwischen den Bäumen rechts vom Haus war eine Frau aufgetaucht, eine Frau mit langen roten Haaren, einem roten Pullover und einer roten Hose aus glänzendem Stoff. Katherine kehrte um, und die Frau ging auf sie zu. „Ich bin Zena", sagte die Frau und lächelte mit einem erstaunlich perfekten Gebiß. „Sie müssen Katherine sein, mein Bruder hat Sie telefonisch angemeldet. Sie sind sehr hübsch! Aber das hab' ich vorher gewußt. Mein Bruder schickt mir kein Mädchen, das nicht hübsch ist." Die Frau stellte den Wassereimer ab, den sie in der linken Hand trug; er war so voll, daß er überschwappte. Sie wischte beide Hände an der Hose ab. „Ja", sagte Katherine und reichte der Frau die Hand. „Ich hab' schon gedacht, Sie sind nicht zu Hause." Sie betrachtete Zena. Anscheinend war sie Anfang Dreißig und trotz ihrer roten Haare so braun, als hätte sie schon Monate in der prallen Sonne verbracht, was unwahrscheinlich war, schließlich war es erst Juni. Sie war barfuß, und auch ihre Füße waren braun. „Tut mir leid, daß ich nicht da war", sagte Zena ohne Verlegenheit. „Ich hatte etwas zu erledigen und hab' geglaubt, ich wäre
früher damit fertig." „Das macht nichts", erwiderte Katherine großzügig, „es hat ja noch geklappt. Ich wollte eben zu einem Motel fahren. Sie haben ein schönes Haus..." Zena lachte. „Ich liebe dieses Haus! Ich möchte für kein Geld der Welt woanders wohnen. Hier zu leben, ist mein einziges Laster." Sie wurde abrupt ernst. „Ich habe nicht vor, mich je wieder in die Welt außerhalb von Devil's Point zu wagen. Ich werde für die Menschheit nichts tun! Ich werde überhaupt nie mehr etwas tun. Ich sitze in diesem Haus, und damit hat sich's." „Wenn man es sich leisten kann..." Katherine überlegte. „Sind Sie Malerin?" „Um Himmels Willen, nein!" sagte Zena erschrocken. „Ich hab's mal versucht, aber ich bin zu untalentiert. Wenn ich Lust habe, male ich immer noch ab und zu, aber nur zum Zeitvertreib. Zum Zeitvertreib gehe ich auch fischen. Man kann nicht ständig nichts tun, das ist zu anstrengend." Katherine amüsierte sich. Zena nahm den Eimer auf und marschierte voraus zum Haus. „Krebse", sagte sie und deutete auf den Eimer. „Mögen Sie Krebse?" „Leidenschaftlich", sagte Katherine. „Ich hab' es geahnt", behauptete Zena. „Im allgemeinen habe ich ein Dienstmädchen, aber heute hat sie frei. Wir kochen uns zum Abendessen Krebse. Ich habe sie eben erst gefangen. Sind Sie müde?" „Nicht sehr", bekannte Katherine. „Trotzdem müssen Sie sich ausruhen", entschied Zena. „Ich habe eine Gästehütte, dort sind Sie Ihr eigener Herr. Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck, dann können Sie bis zum Abend machen, was Sie wollen." Sie stellte den Eimer mit den Krebsen auf die Veranda und kehrte mit Katherine noch einmal zum Wagen zurück, um die Koffer zu holen. Sie griff sich das größte und schwerste Gepäckstück und setzte sich wieder an die Spitze. Katherine begriff, daß Zena zwar kleiner und zierlicher war, aber kräftiger war als sie. Sie nahm die übrigen Koffer und hastete hinter Zena her. Die „Gästehütte" befand sich außer Sichtweite des Hauses inmitten eines Zedernwäldchens dicht am Meer auf einer hohen
Felsenklippe. Zena hatte den Schlüssel in der Tasche und schloß auf. „Wir sind hier auf einer Halbinsel", erläuterte sie. „Wenn Sie den Hang hinuntersteigen, kommen Sie zum Strand, aber Sie müssen aufpassen, daß Sie nicht von der Flut überrascht werden. Sie ist ziemlich tückisch. Den Strand gibt's nur bei Ebbe." Sie stieß die Tür auf, Katherine trat in die Hütte. Von außen wirkte das Bauwerk rustikal, doch die Einrichtung hätte in jede Stadtwohnung gepaßt. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich, darauf waren üppige Sitzkissen verteilt. Über Eck standen zwei Couches, am Fenster weiße Korbsessel mit übergroßen Rückenlehnen. Auf einem niedrigen Tisch war eine Vase mit frischen Astern. Blickfang des Zimmers war ein mächtiger gemauerter Kamin. Zena und Katherine stellten das Gepäck ab. Zena lief zum Fenster und zog die Gardinen zurück. Das Fenster war riesig und bot eine prächtige Aussicht auf das Meer. „Schlafzimmer und Bad sind eine Treppe höher", sagte Zena. „Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich lasse Sie jetzt allein. Bei Sonnenuntergang erwarte ich Sie zum Essen. Einverstanden?" Sie wartete keine Antwort ab. Sie schloß die Tür von außen und eilte zwischen den hohen alten Bäumen hindurch zum Haus. Katherine sah sich im Erdgeschoß um, aber außer dem Wohnzimmer gab es nur noch eine winzige Küche mit einem modernen Herd und einem Kühlschrank, der bis zum Bersten gefüllt war, unter anderem mit Fruchtsaft und Coca-Cola. Auf einem Wandbrett waren Konserven aufgestellt wie eine Kompanie Soldaten, über dem Herd hing ein kleines Gewürzregal. Katherine freute sich, daß Zena offenbar an alles gedacht hatte, um ihrem Besuch den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, andererseits vermittelte dieses voll eingerichtete Haus Katherine das Gefühl, eigentlich nicht hierherzugehören. Das Haus erweckte den Eindruck, als wäre es bewohnt und der Bewohner nur mal einen Augenblick fortgegangen und könnte jederzeit zurückkehren. Von der Küche führte eine zweite Tür auf eine Veranda. Zwei Liegestühle waren dort aufgeklappt, an der Wand baumelte ein Barometer. Jenseits der Brüstung der Veranda ging es steil abwärts zum Strand. Katherine trug ihre Koffer die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Die Treppe hatte ein Geländer aus Ebenholz. Im Schlafzimmer lag
ebenfalls ein dicker Teppich, über das Bett war eine Tagesdecke gebreitet, sie hatte ein schwarzweißes abstraktes Muster. Die Vorhänge hatten das gleiche Muster wie die Tagesdecke. Außer dem Fenster gab es ein Oberlicht, in einem Korb unter dem Oberlicht wuchs grünweißer Efeu. Auch im Bad befand sich ein Oberlicht mit Efeu. Katherine bedauerte nicht mehr, dieses Abenteuer unternommen zu haben; sie verstand nun auch, warum Brock Wert darauf gelegt hatte, daß sie bei seiner Schwester auf ihn wartete. Diese Umgebung war so verführerisch, daß Katherine sich nicht vorstellen konnte, hier Brocks Heiratsantrag abzulehnen. Sie hatte auch nicht die Absicht. Wenn dieses Märchen nicht vollkommen war, so lag es nur daran, daß Brock ihr fehlte. Sie zog sich aus, duschte gründlich, zog den Bademantel an und ließ sich aufs Bett fallen. Sie dachte an Brock und an seinen Abschiedskuß am Morgen, dann dachte sie an den unendlichen Ozean, an dem sie entlanggefahren war, um nach Devil's Point zu gelangen, und schließlich dachte sie an die herrlichen Bäume ringsum. Nach einer Weile schlief sie ein und wurde erst wach, als die tiefstehende Sonne ins Zimmer schien. Sie schloß die Vorhänge und zog sich schnell an. Sie entschied sich für eine lange weite Hose, einen Pullover und Sandalen. Sie wollte nicht förmlicher gekleidet sein als ihre Gastgeberin.
2. Der Weg zu dem im spanischen Stil erbauten Haus war schon dunkel. Katherine beeilte sich, sie wollte Zena nicht warten lassen. Wie am Nachmittag hatte sie das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, der selbst unsichtbar blieb. Sie atmete auf, als sie den Schein des Holzfeuers auf der Wiese bemerkte. Zena hatte einen Barbecue aufgestellt, danaben stand ein verchromter Tisch mit Getränken. Seitlich davon war ein zweiter Tisch mit vier Gartenstühlen. Zena hantierte an dem Barbecue herum. Zufällig blickte sie auf und entdeckte Katherine. Sie bleckte wieder die vollkommenen Zähne. „Hallo!" sagte sie, als hätte sie ihren Gast seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen. „Wollen Sie einen Cocktail? Ich empfehle Wodka mit Zitrone - in der Fachsprache Wodka-Collins."
„Gern", sagte Katherine ein wenig förmlich. Sie mußte sich erst an Zenas Persönlichkeit gewöhnen. „Aber nicht so stark." Zena arbeitete mit Flaschen und Gläsern. Sie reichte Katherine ein Glas, und Katherine merkte, daß Zena mit dem Cocktail nicht auf sie gewartet hatte. Ihre Augen glänzten verdächtig. Katherine setzte sich auf einen der Gartenstühle. Zena beschäftigt sich wieder mit dem Barbecue. Auf dem Tisch standen Teller und Besteck, ein Eimer Eis und eine Schüssel Salat. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Ein großer Topf ohne Deckel stand auf dem Boden. „Das Feuer ist in Ordnung", erklärte Zena. „Können Sie mal mit anfassen?" Katherine stellte ihr Glas ab und wuchtete zusammen mit Zena den Topf aufs Feuer. Zena setzte sich nun auch. Sie beschäftigte sich mit ihrem Glas. Inzwischen war die Sonne untergegangen, auch auf der Lichtung vor dem Haus wurde es dunkel. „Ich habe mich gewundert..." sagte Katherine, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Wieso heißt diese Stadt Devil's Point?" „Ein alter Indianername", sagte Zena. „Die weißen Amerikaner haben ihn in ihre Sprache übertragen." „Wie beim Trail of Foreboding", meinte Katherine. „Der junge Mann an der Tankstelle hat mir erzählt, daß dieser Name auch von den Indianern stammt." „Das ist David", sagte Zena. „Ich habe ihn ins Herz geschlossen! Ein vielversprechender Bildhauer; er studiert hier im sogenannten Art Institute. Die Indianer hatten etwas gegen den Canyon mit dem Trail of Foreboding, die Tiere mögen ihn übrigens auch nicht. Man findet dort weder ein Reh noch einen Hirsch, und die Eichhörnchen wagen sich nicht einmal in seine Nähe, wahrscheinlich weil es dort so finster ist und die Bäume so dicht beieinander stehen. Die Indianer haben sich ihre Abscheu mit bösen Geistern erklärt. Angeblich war dieser ganze Landstreich von bösen Geistern bewohnt. Vielleicht hatten sie dafür auch einen handfesten Grund. In der Umgebung gibt es nämlich Erdspalten, aus denen es mächtig qualmt. Wir sind auf vulkanischem Boden, und es gibt viele Mythen, die sich mit Göttern und Gespenstern und phantastischen Begebenheiten befassen." „Indianische Mythen", vermutete Katherine. „Begebenheiten aus der grauen Vorzeit..."
„Nicht nur, sondern auch aus der Gegenwart." Zena zuckte mit den Schultern. „Die Mythen werden immer mehr, aber wer kann sagen, was Erfindung und was Wahrheit ist?" „Manchmal weiß man das", erwiderte Katherine weise. „So was ist von Fall zu Fall verschieden." Das Wasser wurde allmählich heiß, und die Krebse, die Zena lebendig kochen wollte, lärmten im Topf herum. Katherine hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie aß Krebse gern, aber die Vorstellung, daß die Tiere zu Tode gequält wurden, verdarb ihr den Appetit. Sie bevorzugte Krebse aus Dosen. Sie wußte, wie anfechtbar dieser Standpunkt war, trotzdem hätte sie am liebsten den Kessel vom Feuer genommen, solange die Krebse noch lebten, und sie zum Meer zurückgebracht. „Sie wohnen in Los Angeles", sagte Zena nach einer Weile. „Aber Sie sind nicht dort aufgewachsen..." „Nein." Katherine war froh, daß sie von den Geräuschen im Topf abgelenkt wurde. „Die meisten Leute in Los Angeles sind nicht in Los Angeles geboren worden." „Beinahe wie in Devil's Point." Zena lachte heiter. „Hier wird auch fast niemand geboren." „Ich komme aus Minneapolis", erklärte Katherine. „Mir hat's dort nicht gefallen. Ich wollte immer weg und die Welt kennenlernen. Mein Vater war dagegen. Er behauptet, in Los Angeles gibt's nichts, das es nicht auch in Minneapolis gibt. Ich war ein Einzelkind, und für meinen Vater war ich der Mittelpunkt der Welt, deswegen sollte Minnapolis für mich die Welt sein." „Und was haben Sie in Los Angeles gefunden, das es nicht auch in Minneapolis gegeben hat?" „Nichts. Ein paar Palmen." „Auf die Stadt kommt's nicht an", erklärte Zena philosophisch. „Wichtig sind nur die Menschen, unter denen man lebt. Eigentlich komme ich aus einem Dorf in der Nähe von San Francisco. Ich habe in San Francisco studiert, und dort habe ich Roger getroffen. Wir wollten beide Maler werden und hatten beide kein Talent, aber Roger hat kein Talent gebraucht, jedenfalls nicht als Maler. Er hatte Talent zum Leben und hat mir eingeredet, damit käme man aus. Er konnte sich solche Gedanken leisten. Er war reich." Katherine wußte nicht recht, was sie erwidern sollte. Sie saß stumm da und lauschte auf die Geräusche im Topf, die lauter und verzweifelter wurden. Eine Schere tauchte am Topfrand auf, Zena
stieß sie mit einem Stock wieder ins Wasser. „Eigentlich müßte ich Devil's Point hassen", sagte sie nachdenklich. „Roger ist hier gestorben. Aber in diesem Haus fühle ich mich immer noch mit ihm verbunden. Katherine, lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben. Verlieben Sie sich nie in einen Mann, wie ich mich in Roger verliebt habe. Er konnte machen, was er wollte, ich hab ihn trotzdem geliebt - bis zur Selbstaufgabe. Ich wäre daran fast zugrundegegangen." Katherine hätte sich gern erkundigt, was Roger getan hatte und wieso Zena fast zugrundegegangen wäre, aber sie fürchtete, Zena könnte diese Fragen als Unhöflichkeit auslegen. Sie trank einen Schluck Wodka-Collins und überlegte, ob ihre Gastgeberin noch mehr in dieser Richtung anzubieten hatte. Der Himmel war jetzt schwarz, ein einzelner Stern war zu sehen. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Zwischen den Sträuchern summten Insekten. Plötzlich hatte Katherine wieder das Gefühl, das sie schon zweimal überkommen hatte, seit sie hier war. Der Verdacht erschien ihr unsinnig, trotzdem konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, daß am Rand der Lichtung jemand lauerte, der sie nicht aus den Augen ließ. „Ich glaube, ich sollte Salz zugeben..." „Was?!" Katherine zuckte zusammen. „Salz!" wiederholte Zena. „Ich habe gemeint, ich sollte..." Sie unterbrach sich, stand auf und trat zu dem Barbecue. Katherine schloß sich an. Sie wollte nicht allein am Tisch zurückbleiben. Am Feuer war es heller als am Tisch. Einige Krebse bewegten sich nicht mehr, andere an der Oberfläche ruderten wild. Sie kletterten übereinander und stürzten immer wieder ab. Ihre Panzer schimmerten rot und blau im Licht. „Ein feines Essen", sagte Zena genießerisch. Sie streute Salz ins Wasser zwischen die zitternden Fühler. Katherine glaubte beinahe körperlich zu spüren, wie die Krebse sie hilflos anstarrten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie unterdrückte einen Schrei und wirbelte herum, sie war plötzlich davon überzeugt, daß dicht hinter ihr jemand stand und nach ihr griff, auch war die Berührung nicht stärker als die einer Spinne, die ihr über den Nacken lief, aber sie war da, und sie war unverkennbar. Sie sah eine Gestalt in einem weißen, bodenlangen Kittel, die Gestalt hatte struppige weiße Haare, und sie hatte die
rechte Hand nach Katherine ausgestreckt. In der Hand glitzerte ein silbriger Gegenstand. Katherine schrie nun doch auf, und Zena wurde aufmerksam. „Pops!" sagte sie scharf. Katherine taumelte zurück; gleichzeitig wunderte sie sich, daß Zena die geisterhafte Gestalt offenbar kannte. Zena schnellte zu der Gestalt und riß ihr den silbrigen Gegenstand aus der Hand. „Eine Schere", sagte sie zu Katherine. „Sie müssen keine Angst haben, er ist harmlos. Er ist Rogers Vater. Seit einigen Jahren ist er nicht mehr richtig im Kopf - ein Schlaganfall. Meistens weiß er nicht recht, was er tut. Wahrscheinlich haben Ihre hellen Haare ihm gefallen." Katherine nickte verwirrt und sagte nichts. Zena wandte sich an den alten Mann. „Ich hab' dich doch heute schon mal ins Bett gebracht", sagte sie unfreundlich. „Warum bist du nicht liegengeblieben? Du bist ungezogen, sehr ungezogen!" Der alte Mann im Nachthemd sah sie traurig an und trat von einem Fuß auf den anderen. Unvermittelt schien Zena Mitleid mit ihm zu haben. „Bestimmt war er neugierig, er wollte den Besuch sehen", sagte sie zu Katherine. Und zu dem alten Mann: „Warte, du kriegst einen Krebs." Sie nahm eine langstielige Zange vom Tisch und zog einen Krebs aus dem kochenden Wasser. Der alte Mann nahm den Krebs in die Hände - offenbar war er nicht sehr schmerzempfindlich, sonst hätte er sich die Finger verbrannt - und trottete zum Tisch. Er brabbelte etwas, das Katherine nicht verstand, auch Zena schien es nicht zu verstehen, denn sie reagierte nicht. Er knackte den Krebs und schmatzte und schlürfte. Katherine begriff, daß der Schlaganfall ihn zwar die Sprache und den Verstand gekostet hatte, aber nicht seine Kraft. Er war noch mit seinem Essen beschäftigt, als fünf Minuten später Katherine und Zena den Topf vom Feuer hoben und sich nun selbst über die Krebse hermachten. Die beiden Frauen waren einsilbig. Zena war anscheinend die Lust auf ein Gespräch vergangen, und Katherine fühlte sich durch die Anwesenheit des alten Mannes befangen. Sie hätte nach wie vor gern mehr über Zenas Ehe und ihren Standpunkt erfahren, sich möglichst nicht zu heftig zu verlieben, und fragte sich, ob Zena in den nächsten Tagen
freiwillig noch einmal zu diesem Thema zurückkehren würde. Notfalls konnte sie, Katherine, ein wenig nachhelfen. Endlich ging der Mond auf. Verstohlen blickte Katherine einige Male zu dem alten Mann hinüber und stellte mit Mißbehagen fest, daß er sie unentwegt belauerte. Mittlerweile war sie davon überzeugt, daß er sie auch schon am Nachmittag und am Abend auf dem Weg zum Haus beobachtet hatte. Sie hatte sich nicht nur eingebildet, beobachtet zu werden, der Beobachter war eine unangenehme Realität. Die Augen des alten Wickett waren hellblau wie Aquamarine und scheinbar nicht weniger hart. Plötzlich richtete der alte Mann sich auf und starrte zu den Bäumen. Katherine fühlte sich erleichtert, als wäre eine schwere Last von ihr genommen. „Wir kriegen Besuch", erklärte Zena. „Pops hat etwas gehört. Er hat Ohren wie ein Luchs." Beinahe gleichzeitig klangen Schritte auf. Ein Mann in einem zerknitterten Abendjackett trabte über den Rasen. „Darf ich Ihr Telefon benutzen?" fragte er atemlos. „Ich hab' jemand umgebracht!"
3. Katherine lief hinter Zena und dem Mann im Abendjackett her ins Haus. Geistesabwesend überlegte sie, wie wunderbar doch die Mosaiksteinchen zusammenpaßten, um eine Stimmung voller gespenstischer Unwirklichkeit zu produzieren: die hohen Bäume, das einsame Haus, der wirre Pops, die zu Tode gekochten Krebse und nun der Mann, der behauptete, jemanden auf den Gewissen zu haben. Sie sah jetzt, daß das Bauwerk nicht nur von außen an ein spanisches Landhaus erinnerte. Von der Veranda aus gelangte man auf einen kurzen Korridor, der in einen Patio mündete. Ringsum unter einer Galerie lagen die Zimmertüren. Das Telefon befand sich auf einem kleinen Tisch im Korridor. Während Zena mit der Polizei sprach, besah Katherine sich die gekachelten Wände des Korridors. Rechts stand eine Tür offen; dahinter brannte eine Leselampe und beleuchtete Bücherregale, die bis zur Decke reichten. Der Mann im Abend Jackett zitterte wie eine Pappel im Wind und redete vor sich hin.
„Auf einmal war er auf der Fahrbahn", sagte er undeutlich. „Er war direkt vor mir. Er hat sich zu mir umgedreht und mich angeguckt, er hat nicht einmal versucht, dem Wagen auszuweichen." Katherine schnupperte; der Mann stank penetrant nach Alkohol. Sie besichtigte ihn kritisch und er lachte verlegen. „Ich weiß, was Sie denken", behauptete er. „Ich hätte nicht soviel trinken dürfen, vielleicht hätte ich auch nicht so schnell fahren sollen. Sie haben ganz recht, trotzdem hätte er mit ausweichen können. Warum ist er nicht ausgewichen? Warum hat er sich nicht von der Stelle gerührt?! Warum, verdammt noch mal, hat er sich nicht gerührt..." Katherine wußte es auch nicht. Sie zuckte mit den Schultern und schwieg. Endlich legte Zena den Hörer auf. „Ich habe ein paar Taschenlampen", sagte sie. „Zeigen Sie uns die Stelle. Ich kenne mich mit erster Hilfe aus, vielleicht kann ich mich nützlich machen, bevor die Ambulanz kommt." Der Mann nickte. Zena verschwand hinter einer Tür und kehrte mit zwei Taschenlampen zurück. Der Mann nahm eine der Lampen an sich und marschierte voraus aus dem Haus und zwischen den Bäumen hindurch zur Straße. Auf der Fahrbahn löschte er die Lampe, denn die Scheinwerfer des Wagens an der Böschung spendeten mehr Licht. „Hier war's!" erklärte der Mann. „Von einer Sekunde zur anderen ist er vor dem Kühler aufgetaucht!" Zena ging um den Wagen herum. Sie ließ nun ihre eigene Lampe aufflammen und leuchtete unter den Wagen. „Da ist niemand", erklärte sie. „Nicht einmal Blutspuren sind zu sehen." Der Mann stieß erstickte Geräusche aus. Zena leuchtete ihm ins Gesicht und musterte ihn interessiert. Der Mann untersuchte die Motorhaube und die Kotflügel, schließlich richtete er sich auf und stand apathisch und verständnislos da. Zena schaltete die Lampe wieder aus. „Bestimmt war er nicht so schwer verletzt, wie Sie gedacht haben", sagte sie. „Er ist einfach aufgestanden und fortgegangen. Vielleicht haben Sie sich auch alles nur eingebildet. Sie haben einen Schatten bemerkt und für einen Menschen gehalten. Jedenfalls hatten Sie Glück. Sie hätten sich eine Menge Ärger aufhalsen können. Alkohol am Steuer..." „Glück", sagte der Mann mechanisch. „Ja, Glück!" „Sie sollten
verschwinden", empfahl Zena. „Wenn die Polizei kommt, sind Sie nicht mehr da. Ich lasse mir eine Ausrede einfallen. Trinken Sie irgendwo einen starken Kaffee. Weiter unten an der Straße sind Rasthäuser. Natürlich habe ich mir Ihre Nummer nicht gemerkt." „Ich weiß aber, daß da ein Mann war", beharrte der Mensch im Abendjackett. „Er war groß und hatte helle, lockige Haare. Er hatte einen Jagdanzug an. Kommt Ihnen diese Beschreibung nicht bekannt vor?" Zena schüttelte den Kopf. „Verschwinden Sie jetzt", sagte sie noch einmal. „Gute Nacht. Und vergessen Sie nicht den Kaffee!" Der Mann stieg in seinen Wagen, klappte die Tür zu und fuhr schnell weg. Katherine und Zena gingen zum Haus zurück. Zena leuchtete wieder, so daß zwischen den Bäumen zuckende Schatten geisterten; einige erinnerten Katherine an den Mann im Jagdanzug, der angeblich überfahren worden und nun nicht mehr vorhanden war. „Kann er sich tatsächlich alles nur eingebildet haben?" gab sie zu bedenken. „Anscheinend hat er doch sein Opfer genau gesehen!" Zena schnaubte verächtlich durch die Nase. „Natürlich hat er sich alles nur eingebildet!" entschied sie. „Phantasie und Fusel, vielleicht auch noch Maruhuana, das ergibt eine brisante Mischung. Offensichtlich war unser später Besucher auf einer Party, und ich halte es für möglich, daß der Gastgeber aus schierer Freundlichkeit LSD auf die Kartoffelchips gestreut hatte. So etwas ist in dieser Gegend alltäglich. Dann kann unser Besucher buchstäblich alles gesehen haben, sogar punktierte Elefanten." Katherine blieb vor dem Haus stehen. „Ich denke, ich werde schlafen gehen", meinte sie. „Es ist noch nicht spät, trotzdem bin ich müde - es muß an der Luftveränderung liegen. Danke für das Abendessen, es war vorzüglich." Am liebsten hätte sie eine spitze Bemerkung hinzugefügt, etwa darüber, wie gut sie sich mit Zenas Schwiegervater unterhalten hatte, oder über den unverhofften Gast, der für ein wenig Abwechslung gesorgt hatte, doch sie verkniff sich diese Spitzen. Zena war weder für den wirren Schwiegervater noch für betrunkene Autofahrer verantwortlich. „Nehmen Sie die Taschenlampe mit", sagte Zena. „Der Weg zur Hütte ist stockfinster. Übrigens freue ich mich, Sie hier zu haben." Katherine lächelte höflich, nahm die Lampe, winkte Zena noch
einmal zu und ging schnell zur Hütte. Der Weg erschien ihr jetzt kürzer als am Nachmittag. Ehe sie sich richtig an die Dunkelheit gewöhnt hatte, lagen die Bäume hinter ihr, und sie stand am Ufer und blickte hinunter aufs Meer, das glitzerte, als wäre es mit Silber übergossen. Im Haus war es so hell, daß sie darauf verzichtete, Licht zu machen. Der Mond schien durch die großen Fenster und zeigte ihr die Wendeltreppe zum ersten Stock. Im Schlafzimmer warf sie ihre Kleider auf einen Stuhl, packte die Koffer aus und zog ein rosa Nachthemd an. Die Laken waren glatt und kühl, und sie schlief sofort ein. Nur einmal wurde sie mitten in der Nacht wach. Der Wind heulte durch die Zedern, die Brandung rauschte, und aus der Ferne glaubte Katherine gedämpft Kirchenglocken zu hören., Schlaftrunken überlegte sie, daß sie in Devil's Point keine Kirche gesehen hatte, was aber nicht bedeutete, daß es keine gab. Aber warum läuteten die Glocken um diese Zeit? Sie dachte nicht lange darüber nach. Sie schlief weiter.
4. Ein Donnern an der Tür im Erdgeschoß setzte Katherines Nachtruhe ein jähes Ende. Sie stöhnte und wälzte sich auf die andere Seite, doch das Getöse hörte nicht auf. Sie rang sich dazu durch, die Augen zu öffnen. Sie benötigte einige Sekunden, um zu begreifen, wo sie sich befand. Die Sonne schien durch das Fenster, und vor dem Fenster war das Meer. Katherine zog einen Morgenmantel an und lief nach unten. Vor der Tür stand ein halbwüchsiger Junge mit einer langen Schachtel unter dem Arm. Neugierig betrachtete er Katherine. „Miß Spencer?" fragte er. „Ja..." Sie musterte ihn so neugierig wie er sie. Sie hatte keinen Besuch erwartet, und schon gar nicht am frühen Morgen und am ersten Tag in einer fremden Umgebung. „Ich soll das abgeben", sagte der Junge. Er drückte ihr die Schachtel in die Hand und zog sich so hastig zurück, daß Katherine ihm nicht einmal danken konnte. In der Schachtel waren zwölf rote Rosen und eine Karte, auf der stand:
Sie sollen Dir beim Nachdenken helfen. Eine Unterschrift fehlte, sie war auch nicht erforderlich. Katherine zweifelte nicht daran, daß die Rosen von Brock stammten, und freute sich über diese überraschende Aufmerksamkeit. Sie schloß die Tür und tappte noch schläfrig in die Küche. Sie fand eine Vase, füllte sie mit Wasser, stellte die Rosen hinein und atmete den Duft tief ein. Sie dachte an Brock, und plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen. Ihn zu sehen, war nicht möglich, wenn sie nicht Hals über Kopf nach San Francisco fahren wollte, aber wenigstens konnte sie mit ihm telefonieren. Zu ihrer Enttäuschung gab es in der Hütte kein Telefon. Sie fand sich damit ab, daß sie keine andere Wahl hatte, als zum Haus zu gehen und Brock von dort aus anzurufen, auch wenn Zena und der alte Pops vermutlich die Ohren spitzten. Sie überlegte, ob Pops verstand, was die Leute in seiner Gegenwart sagten. Seine Augen waren hellwach, doch das bewies nichts. Sie wusch sich, kämmte die Haare aus dem Gesicht, zog ein Baumwollkleid an und marschierte wieder unter den Bäumen hindurch zum Haus. Sie vermutete, daß Zena sich in der Küche aufhielt, deswegen klopfte sie an die Hintertür. „Kommen Sie rein", antwortete Zena von drinnen. „Der Kaffee ist schon fertig." Katherine trat ein. Sie hatte sich nicht geirrt; die Hintertür führte in die Küche, und Zena saß im Morgenmantel auf einem Stuhl und blätterte uninteressiert in einer Zeitung. „Guten Morgen", sagte Katherine artig. „Darf ich mal telefonieren?" „Natürlich." Zena blickte auf und deutete zum Korridor. „Sie wissen ja, wo der Apparat steht." Katherine eilte zum Korridor, nahm den Hörer ab und nannte dem Mädchen vom Fernamt Brocks Nummer in San Francisco. Sie war froh, daß Pops nicht in Sicht war. Zena würde bestimmt aufmerksam zuhören, was sie, Katherine, Brock mitzuteilen hatte, aber daran ließ sich nichts ändern. Dann war Brocks Stimme in der Leitung, und Katherine vergaß Zena, das Haus und Devil's Point. „Brock", sagte sie leise. „Ich möchte dir für die schönen Rosen danken." „Sie gefallen dir also", sagte er. „Das freut mich. Wie gefällt dir
das Haus?" „Es ist herrlich!" „Denkst du auch fleißig nach?" wollte er wissen. Sie lachte. „In den letzten vierundzwanzig Stunden ist es mir nicht ganz leichtgefallen", bekannte sie. „Gut. Das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe. Ich will nicht, daß du nachdenkst, ich will, daß du mich heiratest. Erzähl mir, was du dort treibst, wen du kennengelernt hast." „Bisher hab' ich nicht viel getrieben, aber natürlich hab' ich Zena kennengelernt, und einen jungen Mann namens David, der eigentlich Bildhauer ist und an einer Tankstelle Benzin verkauft, und einen Mann, der so betrunken war, daß er sich eingebildet hat, er hätte einen Autounfall, den er in Wahrheit nicht hatte." Sie erwartete, daß Brock sich nach diesem Autofahrer erkundigte, doch er tat es nicht. „Und sonst hast du niemand getroffen?" „Doch. Mr. Wickett. Er war plötzlich da und hat mich furchtbar erschreckt." Sie begriff sofort, daß Brocks Frage dem alten Wickett gegolten hatte. Seine Antwort verriet es ihr. „Ich hätte dich schonend auf ihn vorbereiten sollen, aber ich hatte Angst, daß du dann vielleicht nicht kommst. Wahrscheinlich ist er nicht gefährlich, und Zena wird mit ihm fertig, trotzdem solltest du versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Bei solchen Leuten ist man nie sicher, was sie anstellen. Versprichst du es mir?" „Ich verspreche es", sagte sie. „Mit Freuden!" „Morgen Abend bin ich bei dir", sagte er. „Ich hoffe, daß ich mich solange beherrschen kann, sonst komme ich nämlich früher. Mein Wagen ist in der Werkstatt, deswegen nehme ich den Zug. Kannst du mich abholen?" „Natürlich. Gern." „Der Zug ist um sieben Uhr in Morrisville, du müßtest also zehn Meilen weit fahren. Devil's Point hat keine Bahnstation. Bis dann, Liebling. Auf Wiedersehen." „Auf wiedersehen." Sie legte auf und ging wieder in die Küche. Zena hatte sich inzwischen von ihrer Zeitung getrennt und ihre langen roten Haare zu einem Zopf geflochten. Sie stellte Tassen auf den Tisch und
goß Kaffee ein. „Rosen?" fragte Zena. „Ja", sagte Katherine. „Rote Rosen." „Sehr gut!" lobte Zena. „Ich hab' natürlich den Lieferwagen gesehen und mir gedacht, daß Brock Ihnen Blumen schickt. Rote Rosen schickt ein Mann im allgemeinen nur, wenn er es ernst meint. Sehr gebräuchlich und sehr sentimental. Ein Mann könnte auch was anderes schenken, etwas Kostspieligeres, zum Beispiel seltene Orchideen, aber sie bedeuten nicht das gleiche. Rote Rosen bedeuten mehr." „Interessant", sagte Katherine lahm. Sie dachte an die anderen Gelegenheiten, bei denen sie rote Rosen bekommen hatte. Die ersten stammten von einem Jungen in der High School, von dem sie nur noch wußte, daß er dunkle, gewellte Haare hatte. Er hatte ihr auch den ersten Heiratsantrag gemacht. Er hatte nicht wenige Nachfolger gefunden, doch sie, Katherine, hatte sich nie dazu durchringen können, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. „Ich glaube, Sie haben recht. Sie scheinen sich mit Männern auszukennen." Zena nickte ohne Bescheidenheit. „Ich bin Experte", erklärte sie. „Ich bin davon überzeugt, daß Sie meinen Bruder eingefangen haben." Katherine sah sie verwirrt an. Zena amüsierte sich. „Das ist keine Schande, Sie müssen es nicht abstreiten!" sagte sie. „Aber denken Sie immer daran, was ich Ihnen gestern abend empfohlen habe. Lassen Sie sich von der Liebe nicht zerstören." „So habe ich es nie betrachtet", bekannte Katherine kleinlaut. „Die Liebe als zerstörerische Kraft..." Sie überlegte, ob Zena ihr jetzt von ihrer Ehe mit Roger Wickett erzählen würde, aber Zena tat es nicht. Sie wechselte abrupt das Thema. „Was haben Sie heute vor?" erkundigte sie sich. „Gibt es schon konkrete Pläne?" „Ich wollte ein bißchen am Strand spazieren gehen." „Wir haben mehrere Strände, einer davon müßte Ihnen bestimmt gefallen. Wir nennen ihn Achat-Strand. Das Meer spült Achate ans Ufer, man braucht sie nur aus dem Sand zu klauben. Aber der Weg dorthin ist beschwerlich, zwischen unserem Strand und dem Achat-Strand ist eine hohe Klippe. Sie müssen durch den Wald bergauf steigen und auf der anderen Seite wieder her-
unter. Übrigens - Sie können ins Haus kommen, wann Sie wollen. Sie brauchen nicht anzuklopfen." Katherine versicherte, sie wolle den Achat-Strand im Gedächtnis behalten, und ging wieder zur Gästehütte. Sie bereitete sich ein Frühstück aus Toast und Eiern, blickte immer wieder zu den Rosen in der Vase und versuchte nun ernsthaft nachzudenken. Wenn Brock am nächsten Abend kam, wollte sie imstande sein, ihm eine klare Antwort zu geben. Reichten drei Tage aus, um eine Entscheidung für ein ganzes Leben zu treffen? Angeblich konnte man sich von einer Sekunde zur anderen hoffnungs- und hemmungslos verlieben, dergleichen sollte schon vorgekommen sein, aber ihr war der Widerstand gegen die Männer bisher stets so leichtgefallen, daß sie sich oft gefragt hatte, ob sie für eine Ehe überhaupt geschaffen war. Was hatte sie an Brock so bemerkenswert gefunden? Er sah gut aus, aber sie hatte auch schon vor ihm gutaussehende Männer gekannt. Er war ein guter Tänzer, er hatte ausgezeichnete Manieren, man konnte mit ihm ausgehen und sich mit ihm unterhalten, ohne sich zu langweilen - das war das eine. Aber er und sie hatten keine gemeinsame Interessen. Sie dachten nicht in die gleiche Richtung, falls Brock überhaupt viel dachte. Sie hielt ihn für impulsiv und oberflächlich, während sie das strikte Gegenteil war. Was also hatte ihr an ihm gefallen? Der Gegensatz? Sie hielt es für nicht ausgeschlossen, trotzdem befriedigte die Antwort sie nicht. Sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt, ehe sie überhaupt etwas über ihn wußte. Er brauchte sie nur anzusehen, und sie spürte, daß ihr die Knie zitterten. Aber das war lächerlich! Man liebte einen Mann nicht, weil er einen eindringlich fixieren konnte. Oder doch? Sie beschloß, ihrem Gehirn eine Erholung zu gönnen. Sie schlang die Eier mit Toast hinunter, verließ die Hütte, schloß hinter sich ab, steckte den Schlüssel ein, ging an der Klippe entlang, bis sie eine hölzerne Stiege entdeckte, und lief hinunter zum Strand. Jetzt bei Ebbe hatte sich das Wasser weit vom Ufer zurückgezogen, doch der Sand am Fuß der Felsen war dunkel und naß. Katherine fühlte sich winzig und unbedeutend, die Weite des Ozeans machte ihr unvermittelt ihre Verletzlichkeit schmerzlich bewußt. Die Einsamkeit war ein wenig unheimlich, nicht einmal Seevögel
waren in Sicht, und die Wasserfläche war kahl und tot wie eine Wüste. Als Katherine Hufschlag hörte, trat sie instinktiv hinter einen Felsen, obwohl sie keinen vernünftigen Grund hatte, sich zu verstecken. Ein Pferd mit einem Mädchen auf dem nackten Rücken galoppierte heran. Das Mädchen trug einen winzigen Bikini, ihre blonden Haare flatterten wie eine Fahne. Das Mädchen jagte an Katherine vorbei, ohne sie zu bemerken. Plötzlich riß sie das Pferd herum und ritt ins Meer. Erschrocken kam Katherine hinter dem Felsen hervor, einen Augenblick lang war sie davon überzeugt, eine Selbstmörderin vor sich zu haben. Die Brandung hob das Mädchen vom Pferd; das Mädchen ließ die Zügel los. Das Pferd kehrte an den Strand zurück, eine halbe Minute später tauchte auch das Mädchen aus den Wellen auf. Sie arbeitete sich an Land und kam ein wenig schwerfällig wieder auf die Füße. Sie war außer Atem. Sie entdeckte Katherine und lief zu ihr. „Hallo!" sagte sie salopp. „Ich bin Ann." Katherine starrte das Mädchen verwirrt an und hatte den Verdacht, sich nur mit Mühe an den lockeren Umgangston der Leute in Devil's Point gewöhnen zu können. „Ich heiße Katherine", sagte sie. „Machen Sie das oft?" „Sehr oft." Das Mädchen lachte kehlig. „Beinahe jeden Tag. Auf diese Art spürt man doch, daß man lebt. Ich brauche diese Erfahrung, sie inspiriert mich." „Ich habe Ihnen zugesehen", bekannte Katherine. „Ich hatte Angst, Sie kommen nicht mehr raus." „Leben oder Tod", meinte das Mädchen und winkte großspurig ab, „was ist das schon? Erscheinungsformen eines unendlichen Zustands..." Katherine zweifelte nicht daran, eine der exzentrischen Künstlerinnen vor sich zu haben, von denen Devil's Point nach Brocks Angaben buchstäblich wimmelte. „Studieren Sie hier am Institute?" fragte sie. „Ja", sagte das Mädchen. „Sie sind neu hier in der Gegend. Wollen Sie auch studieren?" „Nein. Ich mache ein paar Tage Urlaub." „Tatsächlich?" Das Mädchen musterte sie aufmerksam. „Kein Mensch verbringt in Devil's Point seinen Urlaub..." „Das verstehe ich nicht. Die Landschaft ist wunderschön."
„Schon möglich, aber die Maler haben sämtliche Häuser gemietet. Ich staune, daß Sie überhaupt eine Unterkunft gefunden haben." „Ich bin zu Besuch." Katherine deutete auf die Klippe. „Da oben." „Bei Zena?" Ann besichtigte sie von oben bis unten. „In der Hütte?" „Ja." „Dann sind Sie also eine Freundin von Brock!" „Woher wissen Sie das?" „Ich weiß es nicht." Das Mädchen lächelte verstohlen wie über ein erheiterndes Geheimnis, über das sie ihrer Gesprächspartnerin keinen Aufschluß zu geben wünschte. „Ich vermute es." Katherine schätzte das Mädchen auf etwa achtzehn. Sie ärgerte sich, daß dieses Kind sich offenbar über sie amüsierte. Sie runzelte die Stirn und sagte nichts. „Hatten Sie schon... befremdliche Erlebnisse? Seit Sie hier sind, meine ich." „Befremdlich? Eigentlich nicht..." „Warten Sie nur!" sagte das Mädchen. „In der Hütte spukt's nämlich." Katherine lachte. „Ich glaube nicht an Spukgeschichten." „Nein?" Das Mädchen pfiff dem Pferd, das gehorsam nähertrottete wie ein freundlicher Hund, und griff nach den Zügeln. „In Devil's Point glauben alle Leute an Spukgeschichten, früher oder später werden auch Sie daran glauben." „Ich lasse mich überraschen", erklärte Katherine. Das Mädchen schwang sich wieder auf das Pferd. „Ich muß mich verabschieden", sagte sie. „Ich komme sowieso zu spät zum Unterricht. Hoffentlich sehen wir uns mal wieder. Ich möchte wissen, wie sich alles entwickelt!" „Wie sich was entwickelt?" erkundigte sich Katherine. Das Mädchen antwortete nicht. Sie stieß dem Pferd die Hacken in die Seiten und galoppierte dorthin, woher sie gekommen war.
5. Katherine überlegte, wie hatte Anne sicher sein können, daß sie eine Freundin von Brock war. Schließlich konnte doch auch Zena
sie eingeladen haben, ihre Ferien bei ihr zu verbringen! Anns Benehmen konnte nur bedeuten, daß Brock häufig Mädchen in die Hütte brachte, was den Einwohnern von Devil's Point nicht verborgen geblieben war. Und wenn schon! Sie, Katherine, konnte nicht voraussetzen, daß sie die erste Frau in Brocks Leben war. Sie ging am Strand entlang, bis sie zu dem Felsvorsprung kam, den Zena erwähnt hatte. Sie kletterte hinauf und stieß auf einen Pfad, der über eine kahle Sandfläche zu den Bäumen führte. Ein Tafel verriet, daß dies der richtige Weg zur Achat-Bucht war. Der Pfad erinnerte an den Trail of Foreboding, durch den sie zu Zenas Haus gefahren war. Auch hier sperrte ein dichtes Blätterdach das Tageslicht aus, so daß es darunter schummrig war wie in einer schlecht beleuchteten Höhle. Am Rand des Wäldchens gab es noch Vögel, die nicht zu überhören waren, aber je tiefer Katherine eindrang, desto stiller wurde es. Zwischen den Stämmen wucherte Farn, stellenweise war er mehr als mannshoch, vereinzelt wuchsen Orchideen auf vermodertem Holz. Zwischen mächtigen Steinen plätscherte ein schmaler Bach. Zuerst nahm Katherine das Geräusch hinter sich gleichgültig zur Kenntnis, sie vermutete, einen Waschbär oder einen Dachs aufgescheucht zu haben. Als das Geräusch sich wiederholte, wurde sie mißtrauisch, denn anscheinend bewegte es sich in die gleiche Richtung wie sie. Sie blieb stehen und blickte sich um. Etwas Verdächtiges war nirgends zu entdecken, trotzdem war ihr nicht wohl. Sie erwog umzukehren und verwarf den Gedanken. Falls jemand sie verfolgte, befand er sich direkt hinter ihr. Sie wäre ihm also direkt in die Arme gelaufen. Sie hatte es jetzt sehr eilig. Der Pfad führte steil nach oben, und sie überlegte verzweifelt, wie lange sie dieses Tempo durchhalten konnte und wie weit es noch bis zur Spitze der Klippe oder wenigstens bis zum Ende des Wäldchens sein mochte. Sie verzichtete darauf, darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn sie auf der Klippe oder aus dem Wald war, ohne den möglichen Verfolger abgeschüttelte zu haben. Eine Weile blieb es totenstill, dann war das Geräusch zum drittenmal zu hören. Katherine verließ den Pfad, kletterte auf einen Felsen und hielt abermals Ausschau, abermals vergebens. Sie sprang vom Felsen und stellte bestürzt fest, daß sie den Pfad nicht mehr fand. Die Farne waren hier so hoch, daß sie den Pfad vollkommen tarnten. Wer ihn verloren hatte, konnte ihn nur mit
viel Glück oder zufällig wiederentdecken. Sie beschloß, im Zickzack weiter bergauf zu klettern. Vielleicht stieß sie dabei auf den Weg, bestimmt aber erreichte sie die Anhöhe. Sie hastete weiter. Sie war in Schweiß gebadet, ihr Puls hämmerte, sie atmete flach vor Aufregung und Anstrengung. Sie achtete nicht mehr auf den Boden vor ihr, und als sie über eine Wurzel stolperte, schlug sie lang hin, ächzte leise und wagte nicht mehr, sich zu rühren. Das Geräusch war nun ganz nahe. Katherine blickte nicht auf; sie hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Das Geräusch hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Schritten, es war mehr ein Rascheln und seine Herkunft ließ sich nicht einmal ahnen. Dann verstummte das Geräusch und Katherine hatte das Gefühl, daß jemand direkt über ihr stand. Wer immer sich da befand - sie war ihm hilf- und wehrlos ausgeliefert. Sie nahm sich zusammen. Sie tastete unter sich, spürte einen Stein, umfaßte ihn, richtete sich blitzschnell auf und holte aus. Aber da war niemand. Vage dachte sie an den Mann, der angeblich jemand überfahren hatte und der, als er zum Unfallort kam, kein Unfallopfer mehr vorfand. Aber der Mann war betrunken, im Gegensatz zu ihr, Katherine, und er glaubte sein Opfer gesehen zu haben. Katherine hatte tatsächlich niemand gesehen. Sie hatte etwas gehört, doch vielleicht hatte sie sich getäuscht. Beschämt ließ sie den Stein fallen und stand auf. Sie rannte weiter, und wenige Minuten später erreichte sie ausgepumpt und mit zitternden Knien den Kamm des Hügels. Den Pfad hatte sie nicht gefunden; sie hatte auch nicht mehr danach gesucht. Sie blickte nach rückwärts. Der Pfad blieb verschollen, aber zwischen den Farnen blitzte sekundenlang etwas Blaues auf, wie von einem Kleid oder einem Männerhemd. Sie hatte sich also nicht getäuscht! Sie hatte nicht die Absicht, dem rätselhaften Vorfall auf den Grund zu gehen, sie war froh, daß die Entfernung zwischen ihr und dem blauen Fleck ziemlich groß war. Wer immer sich dort unten aufhielt, konnte sie nicht einholen, bevor sie die Klippe hinter sich hatte und am Strand war. Und am Strand waren vermutlich Menschen... Sie lief bergab. Auch an der anderen Seite des Hangs wucherte Farn. Auf halber Strecke war plötzlich der Pfad wieder da. Er war volle sechs Zollbreit, und es war nicht weiter überraschend, daß es ihm gelungen war, sich bis zur Unsichtbarkeit im Dickicht zu
verstecken. Katherine atmete auf. Die Sonne schien wieder durch das Blätterdach, und es gab auch wieder Vögel. Das Meer war zu hören, ehe es ins Blickfeld kam, dann stand Katherine bis zu den Knöcheln im lockeren weißen Sand. Das Wasser flimmerte, und am Himmel segelten Möwen dahin. Katherine war zumute, als hätte sie nach einer langen Gefangenschaft die Freiheit wiedererlangt. Einen Augenblick später dämmerte ihr, daß sie keineswegs gerettet war. Falls der Mensch mit dem blauen Kleidungsstück ihr auflauerte, lief sie ihm entweder auf dem Rückweg in die Arme, oder sie mußte an dieser Bucht bleiben, bis Zena sie vermißte und suchte - und vor Sonnenuntergang würde sie es gewiß nicht tun. Mißmutig stapfte Katherine durch den Sand. Ihr Unbehagen wuchs, als hinter einem Felsen ein Mann auftauchte. Sie hatte gehofft, am Strand Menschen anzutreffen, aber ein einzelner Mann war noch bedenklicher als niemand. Der Mann war groß und athletisch, hatte blonde Haare, die dringend hätten geschnitten werden müssen, und einen blonden Vollbart. Er trug Jeans, die unter dem Knie ausgefranst waren, kein Hemd und ausgetretene Sandalen. Der Mann hatte sie noch nicht bemerkt. Er ging zum Wasser, füllte ein Glas, wusch eine Handvoll Pinsel aus und kippte das Wasser zurück ins Meer. Katherine begriff, daß sie einen der Maler von Devil's Point vor sich hatte. „Hallo!" rief sie. Der Mann achtete nicht auf sie. Er strebte zu den Felsen. Katherine rannte hinter ihm her. „Entschuldigen Sie!" sagte sie laut. Der Mann erschrak und wandte sich abrupt um. Katherine sah nun, daß er zwischen den Felsen eine Staffelei aufgebaut hatte, offenbar hatte er die Bucht mit den Möwen auf die Leinwand bannen wollen. Verstreut auf einem Tuch lagen Farbtuben und eine Palette, daneben das Hemd des Mannes. Es war Khakifarben. „Wo kommen Sie denn her?" fragte er verblüfft. „Ich bin über den Hang gestiegen", erklärte sie. „Ich möchte mir diese Strapaze nicht noch einmal aufhalsen. Gibt es keinen anderen Weg?" „Da drüben ist die Straße", antwortete der Mann und deutete mit einem Pinsel vage in die Richtung zum Land. „Aber Sie wären stundenlang unterwegs - vorausgesetzt, Sie wollen nach Devil's Point, und wohin sonst könnten Sie wollen..."
„Eben", sagte sie. „Wohin sonst?" „Was haben Sie gegen den Hang?" Er musterte sie. „Sie sind doch nicht verknöchert. Ein bißchen Bewegung kann nicht schaden." „Ich... ich möchte nicht." Sie zögerte. „Jemand ist mir gefolgt." „Tatsächlich? Wer?" „Ich weiß es nicht. Ich hab niemand gesehen, aber gehört." „Das ist der Wald", meinte er. „Da knackt und rauscht immer was, daran muß man sich erst gewöhnen. Wenn Sie wollen, steige ich hinauf und sehe mich um." „Sie würden nichts finden. Ich habe auch nichts gefunden, trotzdem war das verdächtige Geräusch hinter mir, bis ich oben auf dem Hang war. Ich nehme lieber die Straße." Der Mann betrachtete unschlüssig seine Leinwand, dann blickte er wieder auf Katherine. Er zuckte mit den Schultern, warf die Pinsel zu den übrigen auf dem Tuch und langte nach seinem Hemd. „Ich fahre Sie mit dem Wagen in die Stadt", sagte er. „Ich wollte sowieso etwas essen. Das Zeug kann hierbleiben. Ich komme wieder." „Danke", sagte sie und lächelte. „Ich nehme das Angebot an." Er ging neben ihr her in die Richtung, in die er vorhin gedeutet hatte. Er zog sein Hemd an und knöpfte es nicht zu. „Ich hab noch einen besseren Einfall", erklärte er. „Warum wollen wir nicht zusammen essen?" „Warum nicht..." sagte sie, gleichzeitig überlegte sie, ob sie die Einladung eines Mannes annehmen konnte, nachdem sie mit Brock doch so gut wie verlobt war. Sie bedauerte, so wenig Erfahrung in solchen Dingen zu haben. „Aber ich bezahle selbst, außerdem sollten Sie mir wenigstens Ihren Namen verraten." „Einverstanden." Er lachte. „Ich heiße William Dawson, und in Anbetracht meines Vermögens ist es mir tatsächlich lieber, wenn Sie Ihr Essen selbst bezahlen." „Das Vermögen!" Katherine lachte ebenfalls. „Der Geldmangel von Kunststudenten ist anscheinend international.'' „Wenn ich bloß Student wäre!" sagte Dawson. „Studenten haben's leicht. Entweder haben sie Eltern, die für alles aufkommen, oder ein Stipendium, oder sie arbeiten nebenher. Die Leute stellen Studenten ein, um Coca-Cola oder Sandwiches zu verkaufen, aber sie stellen keine Lehrer ein - und ich bin Lehrer."
Katherine nahm den Stoßseufzer nicht ernst. Dawson war in den Dreißigern, und sie begriff nicht recht, wie sie ihn für einen Studenten hatte halten können. Der Bart und die verlotterte Frisur ließen ihn jünger erscheinen, aber die Fältchen um die Augen straften diesen ersten Eindruck Lügen. „Haben Sie keine Angst, Ihr Bild stehenzulassen?" erkundigte sie sich. „Jemand könnte es stehlen." „Nein. In dieser Gegend sind Bilder wohlfeil, zumal wenn sie erst halb fertig sind - und niemand ist so skrupellos, einem Maler die Staffelei oder die Farben wegzunehmen. Unter Malern ist so etwas unvorstellbar, und ein anderer kann damit nichts anfangen. Eher rauben die Leute eine Bank aus." „Wenn es eine Bank in Devil's Point gäbe", sagte Katherine. „Ja, da liegt in der Tat ein Problem. Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie heißen und was Sie hier machen. Eine Malerin sind Sie bestimmt nicht, dazu sind Sie nicht ausgehungert genug." „Ich heiße Katherine Spencer, und im Augenblick bin ich sogar sehr ausgehungert." Sie kamen zur Straße. Am Rand der Fahrbahn stand Dawsons uralter Jeep. Er war verbeult und zerschrammt, an einigen Stellen waren die Kratzer übertüncht. Der neue Anstrich paßte nicht ganz zum alten. Dawson öffnete die Tür und ließ Katherine einsteigen. Sie sah, daß die Sitze schadhaft waren, deswegen hatte Dawson eine zerschlissene Decke darüber gebreitet. „Das Vehikel ist auf diesen Straßen praktisch", sagte Dawson, „aber eine Schönheitskonkurrenz würde ich damit nicht gewinnen. In der letzten Zeit hat es nicht viele Frauen transportiert, und ich kann nur hoffen, daß es sich anständig benimmt. Ich weiß immer noch nicht, was Sie hier machen, aber wenn es ein Geheimnis bleiben soll..." „Ich bin zu Besuch", antwortete sie. „In dem Haus auf der anderen Seite vom Hang." „Aha", sagte er. „Bei Zena." Katherine war darauf vorbereitet, daß dieses Gespräch einen ähnlichen Verlauf nehmen würde wie vorhin der Dialog mit Ann; dann würde sie auch diesem Maler bekennen müssen, eine Freundin von Brock zu sein, und das Bekenntnis wäre ihr unangenehm gewesen. Sie legte sich keine Rechenschaft darüber ab, weshalb sie Brock lieber nicht erwähnen wollte. Aber Dawson sag-
te nichts mehr. Er stoppte den Jeep vor einem ausladenden Gebäude am Highway. Über der Tür stand THE GULL. Die Mauern waren aus Fachwerk, hinter dem Haus dehnte sich das Meer. Dawson erläuterte, daß nur die Hälfte des Hauses als Restaurant diente, die andere Hälfte war ein Nachtklub. „Mit exotischen Tänzerinnen", sagte er. „Täglich Programm. Ein bißchen vulgär, aber was anderes gibt's hier nicht." Er ging voraus in den Speisesaal. An den Tischen saßen zahlreiche junge Leute; die meisten begrüßten Dawson. Katherine entdeckte den Mann von der Tankstelle, David Fenner, und winkte ihm zu. Er erwiderte den Gruß. Bei ihm saß Ann, auch sie grüßte. Dawson fand einen freien Tisch am Fenster. Katherine bewunderte die Aussicht. Eine Kellnerin kam und fragte nach ihren Wünschen. Die Kellnerin gehörte ebenfalls zu Dawsons Schülern. „Entscheiden Sie sich für den Standard-Lunch", empfahl Dawson. „Das ist ein Gelegenheitskauf." Katherine hielt sich an seinen Rat und bekam eine Portion Gemüse, Salat und Bratkartoffeln, auf denen eine gebratene Forelle lag, dazu geeisten Tee, Bisquits, Schwarzbrot, Butter und eine Schale mit Honig. Dawson hatte nicht übertrieben. Das Essen kostete nicht viel mehr als ein karges Frühstück in einem Restaurant in Los Angeles. Ann schielte immer wieder zu Dawson und zu Katherine herüber, und Katherine wurde an das Gespräch mit Ann am Strand unter Zenas Gästehütte erinnert. „William", sagte sie leise, „ich wohne bei Zena Wickett, aber das wissen Sie ja. Ist Ihnen je etwas über mysteriöse Vorgänge in ihrem Gästehaus zu Ohren gekommen?" „O ja", sagte er lebhaft. „Angeblich spukt es in der Hütte. Sind Sie ganz sicher, daß Sie mehr über diese Hütte wissen wollen? Vermutlich haben Sie doch die Absicht, noch einige Tage zu bleiben..." „Allerdings." Sie lachte nervös. „Mindestens einige Tage, aber vielleicht sollte ich trotzdem Bescheid wissen. Dann kann ich mich vorbereiten." „Über die Hütte wird seit Jahren geredet. Die Leute wundern sich, daß Zena sie nicht vermietet; bis zum Tod ihres Mannes hat sie es nämlich getan. Ich hab Roger nicht mehr kennengelernt, denn als ich herkam, war er schon gestorben. Damals stand die
Hütte leer, und bis zum vorigen Sommer ist sie leer geblieben." „Und dann?" „Zena hat sie an eine junge Frau vermietet; sie hieß Joan Lowell, aber sie wollte Johanna genannt werden. Sie war Malerin und hat Unterricht erteilen sollen, aber sie hat sich mehr und mehr von der Umwelt zurückgezogen. Sie ist in der Hütte geblieben, angeblich war sie so inspiriert, daß sie beinahe Tag und Nacht gearbeitet hat. Einige ihrer Bilder, die in dieser Zeit entstanden sind, stehen im Institut noch aus. Sie sind ganz ungewöhnlich und haben einen schwer zu definierenden Zauber. Sie hatte vorher ganz anders gemalt. Wir haben sie beschworen, mit der Arbeit aufzuhören, aber sie hat sich nicht beeinflussen lassen. Sie war wie in einem Rausch. Ihre Gesundheit hat darunter gelitten. Sie war leichenblaß und ist immer dünner geworden, gleichzeitig hat sie behauptet, sie hätte sich noch nie im Leben so wohl gefühlt." „Was ist aus ihr geworden?" „Sie hat sich umgebracht." „Oh!" Katherine erschrak. „In der Hütte?" „Ja. Ich hab' Sie gewarnt, Sie hätten nicht so neugierig sein sollen. Mehr werde ich Ihnen nicht erzählen, sonst können Sie nachts nicht schlafen." „Vielleicht nicht..." Katherine überlegte. „Ich habe den Eindruck, daß Joan Lowell mit Ihnen befreundet war. Ich hätte Sie nicht veranlassen dürfen, über so ein trauriges Thema zu sprechen." „Schon in Ordnung." Dawson zwang sich zu einem Lächeln. „Wir waren in der Tat befreundet, aber man sollte so was auch nicht unnötig dramatisieren. Jedenfalls können Sie sich vorstellen, daß Joanes Selbstmord zu den Gerüchten, die über die Hütte in Umlauf sind, noch beigetragen hat." „Natürlich. Trotzdem habe ich den Eindruck, daß Sie nicht an Gerüchte glauben. Man hat mir einreden wollen, daß sämtliche Einwohner von Devil's Point Spukgeschichten so gedankenlos akzeptieren wie das kleine Einmaleins." „Nicht sämtliche." Dawson grinste. „Ich bin die Ausnahme." „Sie sind nicht mehr allein", sagte Katherine ironisch. „Nein?" fragte Dawson. „Sie befinden sich in meiner Gesellschaft." „Weil Sie auch nicht an Spukgeschichten glauben?" „Ich glaube nur, was ich sehen und hören kann." Aber später, als Dawson sie vor Zenas Haus absetzte und Katherine zwischen
den Bäumen hindurch zur Hütte ging, war sie nicht mehr so sicher, daß sie nicht doch an Spuk glaubte. Sie erinnerte sich daran, daß sie bei ihrer Ankunft in dieser Hütte den Eindruck hatte, sie wäre tatsächlich bewohnt und der Bewohner nur für einen Augenblick fortgegangen. Sie fand das kleine Haus jetzt entschieden weniger hinreißend als noch vor einigen Stunden.
6. Am nächsten Morgen war das Wetter nicht weniger herrlich als am Vortag. Katherine stand früh auf, obwohl diesmal niemand sie weckte, und brachte die Hütte in Ordnung, damit Brock kein Chaos vorfand, wenn er am Abend kam. Nach dem Frühstück fuhr sie mit ihrem Wagen in die Stadt, um frische Lebensmittel einzukaufen. Sie wollte Brock keine aufgewärmte Konserven vorsetzen. Im einzigen Warenhaus in Devil's Point traf sie Dawson. Offenbar hatte er ebenfalls die Absicht, seine Vorräte zu ergänzen. Er stand vor einem Stapel Keks in Pappkartons. „Sie leben ja noch!" sagte er heiter und scheinbar überrascht. „Sie haben also eine weitere Nacht im Spukhaus hinter sich gebracht." „In der Tat." Sie lachte. „Ich mußte nicht einmal Gespenster aus meinem Bett vertreiben." „Was für ein Glück!" spottete er. „Jedenfalls sind Sie außerordentlich tapfer." „So tapfer wie Sie." Sie lachte ebenfalls. „Die tüchtigsten Geister können Leuten nichts anhaben, die nicht an sie glauben." In Wirklichkeit war sie weniger fröhlich, als sie sich gab. Sie war erst spät eingeschlafen. Sie hatte auf dem Bett gelegen und auf das Donnern der Brandung und das Rauschen der Zedern gelauscht und gegrübelt, was Johanna Lowell hier wohl empfunden haben mochte. Was an diesem Haus hatte sie so faszinieren können, daß sie wie besessen gearbeitet hatte, um sich dann ohne erkennbaren Anlaß umzubringen? Sie war über das Zusammentreffen mit Dawson nicht glücklich. Er sah ihr zu, wie sie Brot, Wein und Salat in ihren Korb packte, und sie ahnte, daß ihm klar war, für wen sie einkaufte. Obwohl Dawson ihre Privatangelegenheiten nichts angingen, fühlte sie sich wieder unbehaglich, wenn sie daran dachte, daß er, Dawson,
jeden Augenblick nach Brock fragen konnte. Sie strebte zur Kasse, bevor Dawson mit seinen Einkäufen fertig war. „Sie haben recht", sagte er. „Beeilen Sie sich, damit Sie wieder zu Hause sind, ehe das Unwetter ausbricht." „Unwetter?" Sie verstand nicht. „Die Sonne scheint!" Er sagte nichts, und als sie auf die Straße trat, stellte sie fest, daß Dawson nicht übertrieben hatte. Am Horizont über dem Meer ballten sich dunkelrote Wolken, und sie hatten den ganzen Himmel überzogen, bevor Katherine durch den Hohlweg war. Sie parkte den Wagen in der Einfahrt und lief zur Hütte. Die Erde war in ein geisterhaftes blaues Licht getaucht, und die Luft schien nur aus Feuchtigkeit zu bestehen. Als Katherine die Tür der Hütte aufschloß, packte sie die erste Bö und riß ihr die Klinke aus der Hand. Sie knallte die Tür hinter sich zu und lief ins Zimmer, während der Regen schon gegen die Fensterscheiben peitschte. Katherine stellte den Wein in den Kühlschrank, packte die übrigen Einkäufe aus, ging in den oberen Stock und frisierte sich und trug blaßrosa Lippenstift auf. Sie betrachtete im Spiegel ihr Ebenbild und überlegte, daß sie nun wie eine Waldnymphe aussah. Sie nahm den Trenchcoat aus dem Schrank, lief wieder hinab und starrte auf das Meer hinaus. Der Regen hörte nicht auf. Mißvergnügt fand sie sich damit ab, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als trotz des Unwetters nach Morrisville zu fahren. Sie schichtete Holzscheite in den Kamin, um sie nach ihrer Rückkehr mit Brock sofort anzünden zu können - mit dem Unwetter war es empfindlich kühl geworden -, dann schlüpfte sie in den Mantel, wickelte ein Seidentuch um den Kopf und rannte hinaus zu ihrem Wagen. Bevor sie ihn erreichte, war sie tropf naß. Sie klemmte sich hinter das Lenkrad, schaltete die Scheinwerfer an, zerrte den Mantel herunter und warf ihn hinter sich auf die Polster. Vorsichtig bugsierte sie den Wagen auf die Straße und schlug die Richtung nach Morrisville ein. Sie kam viel zu früh an der Bahnstation an; außerdem hatte der Zug Verspätung. Sie stieg aus und lief zu dem kleinen gelbgetünschten Gebäude. Den Mantel hatte sie wieder angezogen. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete den Regen, der mit ungebrochener Kraft auf den Bahnsteig troff. Endlich war aus der Ferne das schrille Signal einer Lokomotive
zu hören, dann tauchten gleißende Lampen auf, und schließlich rollte der Zug in die Station. Katherine eilte auf den Bahnsteig. Aus einem der Waggons kletterte ein Mann im Regenmantel, Katherine wollte ihm entgegengehen, doch der Mann kümmerte sich nicht um sie. Er wandte ihr den Rücken zu und hastete zu einem parkenden Wagen, Katherine hatte sein Gesicht nicht erkennen können; dazu war alles zu schnell gegangen, und es war auch zu dunkel. Aber sie zweifelte nicht daran, daß der Mann nicht Brock war. Aus einem anderen Waggon kam eine Frau, aus einem dritten ein Mann mit einem Krückstock. Katherine wartete. Die Türen wurden geschlossen, der Zugführer gab das Zeichen zur Abfahrt und schwang sich auf den letzten Wagen, die Lok zerrte den Zug aus dem Bahnhof. Katherine war wie betäubt. Hatte sie die Uhrzeit oder den Ort falsch verstanden, oder hatte sie Brock durch einen dummen Zufall nicht gesehen? Langsam fuhr sie zurück nach Devil's Point. Sie fand den Trail of Foreboding und lenkte den Wagen von der Straße herunter. Der Hohlweg war überschwemmt, außerdem hatte der Regen Schlaglöcher ausgewaschen. Sie befand sich ungefähr in der Mitte, als die Luft aus dem linken Vorderreifen entwich. Katherine klammerte sich an das Lenkrad, das sich selbständig zu machen drohte, und steuerte den Wagen zum Rand der Fahrbahn. Sie brach in Tränen aus. Zuerst der Regen, dann hatte Brock sie versetzt, und jetzt diese Panne - es war einfach zuviel! Nach einer Weile hatte sie sich soweit wieder in der Gewalt, daß sie sich dazu aufraffen konnte, nach Devil's Point zu gehen. Sie hatte keine andere Wahl, als sich an die Tankstelle zu wenden, damit von dort jemand kam und das Rad wechselte. Ehe sie hundert Meter hinter sich gebracht hatte, war sie zweimal in Schlaglöcher getappt und einmal gestürzt. Die Haut an ihren Händen und an ihren Knien war abgeschürft, und wieder weinte sie hemmungslos wie ein Kind. Sie hatte beinahe das Ende des Trail of Foreboding erreicht, als ihr ein Wagen entgegenkam. Sie taumelte zur Seite, der Wagen kam mit kreischenden Bremsen zum Stehen. „Katherine!" rief eine Stimme, und sie erkannte David Fenner. „Sind Sie's?" „Leider", erwiderte Katherine kläglich. „Mein Wagen steht weiter vorn. Ich hab' eine Panne." Sie sah nun, daß David in einem Volkswagen saß, neben ihm
war Ann. David stieg aus und ließ Katherine hinten Platz nehmen. „Wir wollen zu Zena", erklärte er. „Sie hat uns zum Essen eingeladen. Sie füttert oft Maler und Bildhauer durch, vielleicht fühlt sie sich als Mäzen, und wir haben den Vorteil, daß wir nicht so schnell die Englische Krankheit kriegen." „Oder uns in wandelnde Skelette verwandeln", ergänzte Ann. Katherine wunderte sich, daß Zena Gäste eingeladen hatte, wo sie doch ihren Bruder erwartete, aber sie sagte nichts. Zena mußte selber wissen, was sie tat. Vielleicht war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester nicht ganz so herzlich wie sie, Katherine, bisher vermutet hatte. „Sie sollten mit zu Zena kommen", meinte David. „Ein Esser mehr oder weniger macht ihr nichts aus." „Ich weiß nicht recht..." sagte Katherine lahm. David wandte sich zu ihr um, dann brachte er den Wagen wieder in Bewegung. Ann schmiegte sich besitzergreifend an Davids Schulter. „Überlegen Sie sich's", sagte David. „Sie sehen aus, als könnten Sie ein bißchen Abwechslung gut vertragen." „Wir wissen nicht, ob die Abwechslung angenehm ist", gab Ann zu bedenken. „Ann, hör auf!" sagte David unwirsch. „Das Thema hatten wir schon bis zum Überdruß." „Warum?" Ann kicherte. „Mir macht's Spaß!" Katherine verstand diese Anspielungen nicht; sie interessierte sich auch nicht dafür. Sie war müde und fühlte sich schmutzig und sehnte sich nach einem heißen Bad. Sie schwieg vor sich hin, bis der Volkswagen in die Einfahrt zu Zenas Grundstück bog, dann lehnte sie Davids Aufforderung, ihn und Ann ins Haus zu begleiten, schroff ab und eilte zwischen den Bäumen hindurch zur Hütte. Sie badete und aß etwas, aber ihre Stimmung wurde nicht besser. Mittlerweile machte sie sich Sorgen, Brock könnte etwas zugestoßen sein. Sie kramte in ihrer Reisetasche und fand ein Päckchen Zigaretten. Sie rauchte drei Zigaretten hintereinander und dachte daran, wie Brock ihr das Versprechen entlockt hatte, nicht mehr zu rauchen. Er hatte sie abends im Wagen zu ihrem Hotel gebracht, und sie hatte sich gedankenlos eine Zigarette angesteckt. Brock hatte sie ihr abgenommen und aus dem Fenster geworfen.
„Jede Zigarette kann dich drei Minuten von deinem Leben kosten", hatte er gesagt. „Die Ärzte behaupten es, und sie müssen es schließlich wissen." „Es gibt Ärzte, die etwas anderes behaupten", hatte sie erwidert. „Und sind drei Minuten denn so wichtig?" „In drei Minuten kann man eine Menge anstellen", hatte er gemeint. „Laß dich überraschen!" Er hatte auf die Uhr gesehen und sie, Katherine, drei Minuten lang geküßt. Bisher hatte sie sich an das Versprechen gehalten. Jetzt fühlte sie sich von Brock im Stich gelassen und an ihr Versprechen nicht mehr gebunden. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, sie drückte die Zigarette aus - in einer Untertasse, denn in der Hütte gab es seltsamerweise keine Aschenbecher - und zog sich noch einmal an. Sie nahm die Taschenlampe und stapfte durch den Regen zu Zenas Haus. Zena öffnete die Hintertür. Sie trug ein langes, dunkelblaues Kleid und hatte die Haare zu einer Krone getürmt. „Hallo!" sagte sie und bleckte die Zähne. „Ann und David haben mir erzählt, sie hätten Sie eingeladen, aber Sie hätten sich gesträubt..." „Ich wollte nicht stören", entgegnete Katherine. „Ich möchte bloß wieder telefonieren." „Natürlich", sagte Zena und ging voraus zum Korridor. „Da fällt mir ein, daß ich Ihnen etwas bestellen soll. Brock hat angerufen. Er hat den Zug verpaßt. Ich weiß, ich hätte Sie sofort informieren müssen, aber das Wetter ist so miserabel, und ich hab' auch angenommen, daß Sie sich denken konnten, was passiert ist." „Ich konnte es mir denken..." log Katherine. Sie fand Zenas Benehmen zumindest ungewöhnlich. „Hat er gesagt, wann er kommt?" Zena runzelte die Stirn. „Nein, ich glaube nicht. Mein Bruder ist nicht sehr zuverlässig. Daran muß man sich gewöhnen." „Ich werde ihn anrufen", erklärte Katherine kühl. „Ich werde ihn fragen." Zena zuckte mit den Schultern und trat in ein Zimmer, die Tür blieb offen; Katherine ging zum Telefon und ließ sich mit Brocks Wohnung verbinden. Niemand antwortete. Sie ließ sich mit seinem Büro verbinden, doch auch dort war niemand mehr. Sie überlegte, ob er vielleicht einen Wagen gemietet hatte und durch Sturm und Regen unterwegs nach Devil's Point war, dann verwarf
sie diesen Gedanken. Er war bestimmt nicht unterwegs, er hätte es seiner Schwester mitgeteilt. Er war nicht sehr zuverlässig! Mußte sie, Katherine, sich daran wirklich gewöhnen? „Ich hab' Ihnen was zurechtgemacht." Ann erschien im Korridor, sie war barfuß und trug eine Hose mit Schlag und ein T-Shirt. „Jetzt müssen Sie bleiben und essen, es wäre doch schade." „Okay." Katherine lachte gezwungen. Plötzlich war sie froh, den Abend nicht allein in der Hütte verbringen zu müssen. „Sie haben gewonnen!" Sie folgte Ann ins Zimmer, und Ann reichte ihr einen Teller mit Roastbeef, Bratkartoffeln, Karotten und Kopfsalat. Zena und David saßen an einem niedrigen Tisch vor dem Kamin auf dem Boden. Im Kamin flackerte ein Feuer, auf dem Tisch standen mächtige Kaffeetöpfe. David berichtete von einer Skulptur, an der er für seine Abschlußprüfung arbeitete. Katherine und Ann setzten sich dazu. Zena schenkte Katherine Kaffee ein. „Das Ding gefällt mir nicht richtig", führte David aus. „Irgend etwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was, und ehe ich es nicht weiß, kann ich daran nichts ändern." „Es ist eine Statue von mir!" erläuterte Ann und lächelte eitel. „Ich kann mir nicht vorstellen, wieso sie jemand nicht gefallen soll." „Das ist Unsinn", nörgelte David. „Ich wollte mich ernsthaft unterhalten!" „Trotzdem hat sie vielleicht recht", sagte Zena. „Ann ist schön, und ich halte es für möglich, daß Sie sich von ihrer Schönheit ablenken lassen. Sie müssen sich auch um ihre Seele kümmern. Ann hat eine wunderbare Seele, die Schönheit von innen heraus produziert, und das müssen Sie zum Ausdruck bringen." „Ich langweile mich", entschied Ann. „David, ich möchte nicht, daß du mir widersprichst! Heute ist eine großartige Gelegenheit." „Meinetwegen." Er seufzte. Und zu Katherine: „Sie will eine Seance abhalten. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, Sie hat so was schon öfter veranstaltet, und nie ist etwas passiert." „Ich habe dazugelernt", erklärte Ann. „Zena hat mir geholfen." „Sie sollten das Mädchen nicht entmutigen, David", sagte Zena. „Eines Tages wird sie ein fabelhaftes Medium sein. Sie ist sehr sensibel, aber sie muß besser auf sich aufpassen." „Zen, Yoga, Meditation", sagte David zu Katherine, „Sie dürfen es sich aussuchen. Ann hat alles schon versucht."
„Ich suche die Wahrheit", sagte Ann mit Würde. „Wir sind uns doch wohl darüber einig, daß es noch eine andere Welt gibt!" „Wir wissen es nicht." David zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich werden die Menschen es nie mit letzter Sicherheit erfahren. Auch jemand, der einen Geist gesehen hat, kann nie ganz sicher sein, ob er nicht nur geträumt hat. Genau genommen sind wir nicht einmal unserer Sinne sicher." „Sehr klug", lobte Zena. „Das hindert uns aber nicht daran, immer wieder zu forschen und zu hoffen, doch einmal Erleuchtung zu finden." „Sie sind also Spiritistin!" Katherine blickte zu Zena. „Oder ist das alles nur ein Scherz?" „Solche Scherze macht man nicht!" Zena musterte sie strafend. Katherine hätte gern noch weiter gefragt, aber Ann sprang auf und löschte das Licht, und Zena und David rückten näher zum Tisch und legten die Hände auf die Platte. Katherine begriff, daß dies nicht der richtige Augenblick für neugierige Fragen war. Sie stellte ihren leeren Teller ab. Ann setzte sich wieder auf den Boden. „Welchen Geist sollen wir rufen?" wollte sie wissen. Katherine dachte an Brock, dann dachte sie an Johanna Lowell, die sich in der Hütte umgebracht hatte. Sie überlegte, ob das Mädchen etwa auch Brock geliebt hatte. Hatte sie seinetwegen Selbstmord begangen? „Wie wäre es mit Johanna Lowell?" fragte sie. „Ein guter Einfall", sagte Ann. „Ein abwegiger Einfall!" sagte Zena.
7. Zena riß ein Streichholz an und hielt es an die Kerze auf dem Tisch. Im Zimmer war es totenstill geworden, das Rauschen des Regens und des nahen Meeres schien lauter zu werden. Der Wind war ein wenig abgeflaut, aber noch nicht eingeschlafen. „Was haben Sie gegen Johanna Lowell?" erkundigte sich Ann. „Sind Selbstmörder für solche Experimente ungeeignet?" „Ein Mensch, der eines gewaltsamen Todes stirbt", dozierte Zena, „kann sich darauf nicht vorbereiten. Sein Geist befindet sich im Zustand der Verwirrung, man kann ihn nicht rufen."
„Aber Johanna ist beinahe ein Jahr tot", wandte Ann ein. „Ist das nicht genug Zeit für einen Geist, um zur Ruhe zu kommen?" „Manchmal ja, manchmal nein", erklärte Zena. „Wir dürfen nicht vergessen, daß der Geist eines Selbstmörders bestimmt auch schon zu Lebzeiten verwirrt war, obendrein wollen wir Johanna dazu überreden, an den Ort zurückzukommen, an dem sie gestorben ist, und dazu kann sie sich vielleicht nicht durchringen." „Ein Haufen Ausflüchte, und wir haben noch nicht mal angefangen!" maulte David. „Ich brauche was zu trinken. Will noch jemand etwas haben?" „Ich", sagte Katherine. „Scotch ohne Wasser und ohne Eis." Er stand auf, schlenderte zur Bar, füllte zwei Gläser und kam zurück. Er reichte Katherine eines der Gläser und nahm wieder Platz. „Offenbar wird diese Seance schwierig", stellte Ann fest. „Darf ich nicht die Glocke benutzen?" Zena musterte sie kritisch. „Bitte!" sagte Ann und faltete die Hände wie ein Kind. „Sie haben nicht genug Erfahrung", sagte Zena. „Aber irgendwann muß ich es doch lernen!" „Das ist richtig." Zena nickte. „Die Glocke ist nicht ungefährlich, trotzdem können wir es versuchen. Notfalls werde ich Sie retten." Sie gab Ann einen kleinen goldenen Schlüssel, Ann lief zum Korridor. Sie trug einen Gegenstand ins Zimmer, der in grünen Taft eingewickelt war. Zena schälte die Glocke aus der Verpackung und stellte sie auf den Tisch. „Wieso ist die Glocke gefährlich?" erkundigte sich David. „Sie hat eine gewaltige Kraft", erläuterte Zena. „Die andere Welt besteht aus konzentrischen Kreisen, die unsere Welt umgeben - eine Art geistige Stratosphäre. Die Toten beherrschen die inneren Kreise, während die übrigen Kreise unseren Widersachern gehören, zum Beispiel den Teufeln. Die Schwingungen der Glocke öffnen Gassen zu Regionen, die im allgemeinen unerreichbar sind." „Sie ist hübsch." Ann studierte die Glocke. „Sie kommt aus Frankreich und ist im achtzehnten Jahrhundert gegossen worden, Katherine, sie wird die nekromantische Glocke des Girardius genannt. Sie besteht aus Eisen, Blei, Zinn, Gold, Kupfer, Quecksilber und Silber. Die sieben planetarischen Geister sind ringsum eingraviert: Aratron - das ist Saturn, Bethor - Jupiter, Phaleg Mars, Och - die Sonne, Hagith - Venus, Ophiel - Merkur und Phuel
- der Mond." „Das haben Sie aber gut gelernt", meinte Zena. „Nehmen Sie jetzt die Glocke vor die Brust, daß das Zeichen für die Sonne in Ihre Richtung zeigt. So haben Sie den Saturn in der entgegengesetzten Richtung und können von ihm nicht beeinflußt werden. Blicken Sie in die Flamme der Kerze und konzentrieren Sie sich auf Johanna Lowell. Wenn Sie das Gefühl haben, sich der anderen Welt zu nähern, läuten Sie die Glocke einmal, in dem Sie den Schwengel zu sich heranziehen, gleichzeitig rufen Sie Johanna. Warten Sie eine Minute und wiederholen Sie die Prozedur, bis der Geist hier ist." „Okay", sagte Ann. „Ich bin soweit." Sie starrte auf die Kerze. Eine lange Zeit geschah nichts, wieder wurde es im Zimmer totenstill, und Katherine lauschte auf das Getöse des Sturms. Sie beobachtete Ann, deren Gesicht blaß und leblos wirkte wie eine Maske. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Endlich schlug die Glocke an. „Johanna Lowell!" rief Ann scharf. Die Glocke hatte einen reinen, klaren Ton; sie klang langsam aus, ihre goldfarbene Oberfläche leuchtete im Licht der Kerze. Katherine war skeptisch und neugierig zugleich und hätte sich nicht gewundert, wenn jetzt wirklich ein Gespenst erschienen wäre. „Johanna Lowell!" wiederholte Ann. Abermals schlug die Glocke an und verklang. Ann und Zena waren wie hypnotisiert, David war im Halbdunkel nur vage zu erkennen. Katherine glaubte leise, schlurfende Schritte zu hören, und spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, dann erinnerte sie sich an den alten Wickett und atmete auf. So unheimlich Pops ihr war - er war ihr weniger unheimlich als der Geist der Johanna Lowell, den sie mutwillig heraufbeschworen hatte. Die Schritte verstummten; offenbar war der alte Mann in seinem Domizil gelandet. Plötzlich wurde es im Zimmer fast taghell, und der ganze Horizont schien zu phosphoreszieren. „Elmsfeuer", sagte David leise. „Verdammt!" schimpfte Ann. „Jetzt hast du den Bann gebrochen!" „Entschuldige", murmelte er zerknirscht. „Daran hab' ich nicht gedacht. Ich war überrascht, weil wir Elmsfeuer so selten zu sehen kriegen."
„Ich verzeihe dir." Ann stellte die Glocke auf den Tisch und massierte sich die Schläfen. „Ich hab' Kopfschmerzen." Das Licht über dem Horizont erlosch, als hätte jemand es ausgeschaltet, im selben Augenblick wandte Ann sich zum Fenster. Sie war enttäuscht. „Da ist kein Elmsfeuer." Sie zog einen Flunsch. „Welche Farbe hatte es?" „Blau", sagte David. „Blau!" Ann jubelte. „Blau bedeutet unglückliche Geister, rot bedeutet die Hölle! David, ich hatte Kontakt mit Johanna Lowell! Das Elmsfeuer war eine Manifestation von Johannas Geist! Ich glaube, wir können ziemlich sicher sein, daß sie zu den unglücklichen Geistern gehört." „Wenn du in der richtigen Stimmung bist, ist für dich buchstäblich alles eine Manifestation", spottete er. „Tatsächlich ist Elmsfeuer eine stille elektrische Entladung bei gewittrigem Wetter blau für negativ, rot für positiv." „Du bist ein Barbar", behauptete Ann. Sie stand auf und marschierte zur Küche. „Ich hole mir ein Aspirin." „Was halten Sie davon, Zena?" fragte Katherine. „War es eine elektrische Entladung oder eine Manifestation?" „Ich weiß es nicht." Zena zuckte mit den Schultern. „Mit Elektrizität kenne ich mich nicht aus. Wenn wir besseres Wetter hätten, würde ich sagen, es war eine Manifestation." „Und wieso hat sie auf einmal Kopfschmerzen? Hat das etwas zu bedeuten?" „Vielleicht hat der Geist Widerstand geleistet, und Ann hat sich zu sehr konzentriert, um ihm seinen Willen aufzuzwingen. Medien bekommen häufig Kopfschmerzen." „Sie hat zwanzig Minuten die dumme Kerze angeguckt", sagte David. „Davon kriegt jeder Mensch Kopfschmerzen; dazu muß er kein Medium sein." „Sie sind zu kritisch", erwiderte Zena. „Ich möchte Ihnen eine Lektion erteilen. Wen soll ich Ihnen herbeizitieren?" „Meine Tante Lucille", antwortete David prompt. „Was ist mit deiner Tante Lucille?" Ann kam wieder herein und legte sich vor den Kamin. „Zena will ihren Geist beschwören", erläuterte David. „Sie möchte mir eine Lektion erteilen." Zena blies die Kerze aus und steckte eine andere an. Sie teilte
mit, daß es zum guten Ton gehöre, für jeden Geist eine frische Kerze zu verwenden. Sie nahm die Glocke und beobachtete die kleine Flamme, David besah sich ebenfalls die Kerze. Katherine interessierte sich nicht für Davids Tante und wäre nun gern in ihrer Hütte gewesen, auch wenn sie dort allein war. Sie fand die Spielereien Zenas und ihrer Freunde ein bißchen albern. Sie blickte zum Fenster und hoffte, das Elmsfeuer noch einmal zu sehen. Sie sah nur die windgepeitschten Bäume und hörte die Brandung. Sie wollte sich schon abwenden, als sie doch ein Licht bemerkte, allerdings kein Elmsfeuer, sondern eine Laterne. Jemand näherte sich dem Haus, und sie wunderte sich, daß bei diesem Wetter überhaupt Menschen unterwegs waren. Wieder fiel ihr der alte Wickett ein, doch ihn hatte sie schon vor einer Weile gehört, und seitdem hatte er sich nicht mehr gerührt. Das Licht verschwand zwischen den Bäumen. Katherine war unentschlossen, ob sie Zena Bescheid sagen sollte, aber sie mochte die Seance nicht stören. Sie beobachtete Zena, und einen Augenblick später hatte sie den Vorfall vergessen. „David!" Zena blies die Kerze aus, stand auf und schaltete die Deckenlampe ein. „Sie haben gar keine Tante Lucille!" „Ich bin beeindruckt!" Er sah sie verblüfft an. „Woher wissen Sie das?" „Sie wollten mich aufs Glatteis locken." Zena war nicht gekränkt. „Sie hatten gedacht, ich werde Ihnen durch einen Trick eine weibliche Stimme vorführen, deswegen haben Sie eine Tante ausgesucht, die es nie gegeben hat." „Ich bekenne mich schuldig." David senkte beschämt den Kopf. „Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie Sie mich entlarvt haben. Sind Sie in die andere Welt vorgedrungen und haben niemand angetroffen?" „David", sagte Ann giftig, „du hast uns den ganzen Abend verdorben!" Er lachte unbehaglich, im selben Moment wurde an die Tür geklopft. David deutete nach draußen. „Na also", sagte er, „da ist euer Gespenst, es ist gekommen, allerdings mit einiger Verspätung." Zena ging wortlos zur Tür. Katherine dachte wieder an Brock. Hatte er sie doch nicht versetzt, hatte er tatsächlich einen Wagen gemietet und war so schnell wie möglich nach Devil's Point gefahren? Charles Robinson!" rief Zena scheinbar entzückt an der Tür.
„Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Ich hab schon befürchtet, Sie kommen überhaupt nicht mehr zu mir!" Sie trat wieder ins Zimmer, gefolgt von einem kleinen Mann in einem kostspielig wirkenden Regenmantel. Der kleine Mann hatte glatte schwarze Haare und ungewöhnlich kleine Hände. „Ich war sehr beschäftigt", sagte er. „Ich bin es noch. Zu Zeit befinde ich mich auf einer Geschäftsreise, die ich mit einer Vergnügungsreise kombiniere. Reine Vergnügungsreisen kann ich mir nämlich nicht leisten." „Sie Ärmster!" spottete Zena. „Wollen Sie sich neue Bilder im Institut ansehen?" „Ja." Der kleine Mann nickte ernst. „Ich halte es für nicht ausgeschlossen, das eine oder andere junge Talent zu entdecken." „Ein Talent, das Ihnen einen weiteren Berg Geld beschert", meinte Zena heiter. „Charles, Sie sind ein wirklich guter Mensch!" „Zena, Sie wollen mir doch hoffentlich nicht verübeln, daß ich reich geworden bin?" Der kleine Mann zog den Mantel aus und überließ ihn Zena. „Ich fördere nur Leute, die es verdienen, und mit solchen Leuten kommt man am sichersten zu Geld." „Sie haben recht, Kunsthändler müssen nicht arm sein, es genügt, wenn die Künstler arm sind." Zena trug seinen Mantel hinaus und hängte ihn in den Gardero-benschrank. „Sie können mit Ihrer Talentsuche sofort anfangen. David ist Bildhauer, und Ann malt. Das ist Katherine, eine Freundin von Brock. Katherine, Ann, David - das ist Charles Robinson von der Miramar Gallery in San Francisco. Wir sind miteinander zur Schule gegangen. Damals waren wir beide arm. Er hat Geld verdient, ich habe Geld geheiratet - aber das wißt ihr ja." „Und ich war der Trauzeuge", sagte Robinson. „Vergessen Sie es nicht." „Ich vergesse nichts. Wir waren ein großartiges Trio, Sie und Roger und ich." „So gut habe ich mich nie wieder amüsiert." Robinson setzte sich ebenfalls auf den Boden und nickte Katherine, Ann und David flüchtig zu. „Zena, sagen Sie mir die Wahrheit. Taugen diese beiden wirklich was?" „Nun ja", sagte Zena, „ich halte sie für vielversprechend." „Dann will ich ihre Arbeiten betrachten." Er nahm die Glocke vom Tisch. „Was ist hier los - eine Seance in stürmischer Nacht?" „Charles, seien Sie vorsichtig!"
„Keine Angst, ich lasse die Glocke nicht fallen." „Lassen Sie sie nicht fallen und läuten Sie nicht." „Ich läute auch nicht. Eine wunderbare Glocke! So etwas gehört in ein Museum. Ich könnte Ihnen einen guten Preis bieten -nein, Sie brauchen nichts zu sagen, ich weiß, daß Sie nicht verkaufen. Wollten Sie einen Geist beschwören, den ich kenne?" „Johanna Lowell", sagte David. „Ich glaube, ich habe von ihr gehört." Robinson dachte nach. „Hängen nicht Bilder von ihr im Institut? Angeblich sind sie recht interessant. Soviel ich weiß, hat sie sich unter Einfluß von Drogen umgebracht." „Das war eine Spekulation", sagte David. „Ihre Arbeiten in der letzten Zeit haben einen solchen Verdacht aufkommen lassen." Katherine fühlte sich überflüssig. Sie trank ihr Glas aus und verabschiedete sich von Zena und Robinson. „Robinson!" sagte Ann andächtig. „Der große Charles Robinson!" „Ist er so wichtig?" wollte Katherine wissen. „O ja! Seine Galerie ist berühmt!" „Wenn er etwas von unseren Sachen kauft", meinte David, „brauchen wir uns um unsere Zukunft keine Sorgen mehr zu machen." Katherine wünschte ihnen eine gute Nacht und schloß die Tür hinter sich. Sie hörte, wie Ann und David mit Gesang zurück zum Haus marschieren. Sie lächelte, ihre eigenen Probleme hatte sie vorübergehend vergessen. Als sie die Gardine zuzog, sah sie wieder das Elmsfeuer. Diesmal war es nicht blau, sondern rot.
8. Am Morgen regnete es nicht mehr, aber der Himmel war bewölkt. Das Meer sah grau und kalt aus, und Katherine mußte sich dazu überwinden, das Bett zu verlassen. Am liebsten wäre sie liegengeblieben, bis die Sonne wieder schien oder Brock endlich kam. Wenig später, sie hatte eben geduscht, hörte sie, wie unten in der Küche jemand mit Geschirr klapperte. Sie schlich zur Treppe und spähte über das Geländer. Sie entdeckte Ann, die am Herd hantierte. Katherine war sich ganz sicher, daß sie am Abend die
Tür abgeschlossen hatte. Wie war es Ann gelungen, ins Haus zu kommen? Ann entdeckte sie und strahlte. „Guten Morgen!" rief sie. „Ich koche eine Suppe aus Eiern und Zitronen." „Wie schrecklich", sagte Katherine. „Warum?" „Zena hat mich geschickt. Zweimal wöchentlich helfe ich ihr als Dienstmädchen aus. Ich soll Ihnen Frühstück machen." „Gibt's keinen Kaffee?" wollte Katherine wissen. „Schon fertig", erklärte Ann. „Aber ich mag keinen Kaffee. Diese Suppe ist viel gesünder." „Trotzdem", entschied Katherine. „Kaffee!" Sie ging ins Schlafzimmer zurück und vertauschte den Bademantel mit Jeans und einem Pullover. Als sie in die Küche trat, hatte Ann schon den Tisch gedeckt und schenkte Kaffee ein. „Charles Robinson hat drei Eier im Glas verspeist", teilte Ann mit. „Wollen Sie auch Eier?" Katherine setzte sich an den Tisch. Sie begriff, daß Robinson offenbar die Nacht bei Zena verbracht hatte. „Ich hab' keinen Hunger", sagte sie. „Ich will nur Kaffee." Ann schüttelte unzufrieden den Kopf und kehrte an den Herd und zu ihrer Suppe zurück. Katherine trank den Kaffee schwarz und steckte sich eine Zigarette an. „Mein Wagen müßte abgeschleppt werden", meinte sie. „Ob man David an der Tankstelle anrufen kann?" „Der Wagen ist bereits repariert", erwiderte Ann. „David hat ihn gebracht. Er ist sehr tüchtig!" Katherine lächelte. „Sie scheinen ihn zu lieben..." „Natürlich!" Ann musterte sie erstaunt. „Natürlich..." echote Katherine. „Wie können Sie Ihrer Sache so sicher sein?" „Halten Sie mich für zu jung? Ich bin erst achtzehn, aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin in David nicht weniger verliebt als Sie in Brock!" „Ja." Katherine nickte. „Wahrscheinlich haben Sie recht." „Johanna hat ihn übrigens auch geliebt." Ann sah Katherine lauernd an. „Haben Sie das gewußt?" „Ich habe es geahnt", sagte Katherine gepreßt und ärgerte sich, weil sie ihre Stimme nicht in der Gewalt hatte. „Nachdem sie in der Hütte gewohnt hat, war es nicht schwer zu erraten."
„Aber er hat sie nicht geliebt." Ann rührte in ihrer Brühe. „Sie war ihm ganz gleichgültig." „Ob sie sich deswegen umgebracht hat?" „Auf den Gedanken bin ich auch schon gekommen, aber vielleicht hatte sie andere Gründe. Sie hat sich zuletzt sehr seltsam benommen." „Drogen", sagte Katherine. „Robinson hat es vermutet." „Er irrt sich. Ich war mal mit Johanna auf einer Party. Wir alle haben Marihuana geraucht, aber Johanna hat das Zeug nicht angerührt. Die Leute konnten mit ihren Bildern nicht recht was anfangen, deswegen sind sie auf den Verdacht mit dem Rauschgift gekommen. Wenn Sie sich die Sachen ansehen wollen - die Ausstellungshalle beim Insitut ist täglich geöffnet." „Ich glaube nicht, daß die Bilder mich interessieren", erklärte Katherine frostig. „Ich verstehe nicht viel davon." „Wie Sie wollen." Ann schaltete die Kochplatte auf leichte Hitze, stülpte einen Deckel auf den Topf und legte den Kochlöffel aus der Hand. „Ich muß jetzt wieder ins Haus und Wäsche waschen. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, geben Sie bitte einen Teelöffel Selleriesamen und ein Lorbeerblatt an die Suppe." Katherine nickte. Ann lief hinaus, und Katherine blickte ihr nach und überlegte, ob sie noch einmal versuchen sollte, mit Brock zu telefonieren. Sie entschied dagegen. Sie hatte nicht die Absicht, sich ihm aufzudrängen. Nach einer halben Stunde warf sie die Selleriesamen und ein Lorbeerblatt in die Suppe und verließ die Hütte, ohne hinter sich abzusperren. Unentschlossen schlenderte sie zum Haus. Sie hatte einen vollen Tag ohne Programm vor sich und keine Lust, nur in der Hütte zu sitzen und auf Brock zu warten, der vielleicht nie kam, weil seine Zuneigung inzwischen erloschen sein mochte. An der Einfahrt traf sie Charles Robinson. Er trug einen Rollkragenpullover und hatte eine rote Tonpfeife zwischen den Zähnen. Er sah noch gepflegter und wohlhabender aus als am Abend. „Guten Morgen, Miß Spencer", sagte er aufgeräumt. „Ich fahre zum Institut und hasse es, allein zu sein. Wollen Sie mich begleiten?" „Ja", sagte sie spontan. „Warum eigentlich nicht..." Robinson klemmte sich hinter das Lenkrad des flachen Sportwagens, Katherine setzte sich neben ihn. Sie hatte so einen Wagen noch nie von innen gesehen und genoß die Fahrt nach Devil's
Point. Robinson betrachtete sie von der Seite. „Sie haben eine Schwäche für Autos", sagte er. „Stimmt's?" „Für dieses Auto, Mr. Robinson", sagte sie. „Wer hätte sie nicht..." „Nennen Sie mich Charles. Ich hasse Förmlichkeiten." „Okay", sagte sie. „Was wollen Sie sich im Institut ansehen?" „Alles", sagte er, „es darf nur nicht ausgefallen sein. Ich mag diese idiotischen Riesenwürste und ähnliches Zeug nicht, mit dem die sogenannten modernen Künstler ihr Publikum schockieren. Ich hoffe, Sie nehmen diese Bemerkung nicht persönlich." „Warum sollte ich?" Sie lachte. „Ich habe keine Beziehung zu Riesenwürsten, außer daß ich ab und zu mal eine esse." „Und wozu haben Sie Beziehung?" „Schwer zu sagen..." Sie zuckte mit den Schultern. „Ich male nicht, ich schreibe nicht, ich verstehe nichts von Musik." Unvermittelt erlosch sein Interesse, als hielte er es für unter seiner Würde, sich mit einer Frau abzugeben, die nicht künstlerisch tätig war. Er schwieg, bis sie nach Devil's Point kamen, setzte sie vor dem Institut ab und fuhr hastig weiter, als hätte er plötzlich nicht mehr die Absicht, sich Bilder anzusehen. Katherine beschloß nun doch die Arbeiten Johanna Lowells anzusehen. Sie hatte es Ann gegenüber nicht zugeben mögen, aber tatsächlich hatten die Gespräche über das Mädchen sie neugierig gemacht. Die Ausstellungshalle lag direkt neben dem Institut und war nicht zu verfehlen. Sie war kreisrund und aus Kalksteinen erbaut, innen war ein langer Korridor, der sich in Spiralen einem Mittelpunkt näherte, und an beiden Seiten des Korridors hingen Bilder. Katherine war der einzige Besucher. Langsam ging sie an den zahllosen Gemälden vorbei, ohne auf sie zu achten. Sie wollte sich nicht ablenken lassen. Sie war beinahe in der Mitte des Schneckengehäuses, als sie das erste Bild von Johanna Lowell entdeckte. Ihr war nicht klar, was es darstellen sollte, obwohl es nicht abstrakt war, sie erkannte nur verschwommene Gestalten, die hinter einem Nebelschleier verborgen waren. Die Farben waren ungewöhnlich leuchtend, beinahe giftig. „Zen", sagte eine Stimme hinter ihr. Katherine wirbelte herum. Sie hatte keine Schritte gehört. „William!" sagte sie verblüfft. Er lächelte. „Ich habe zufällig beobachtet, wie Sie aus dem
Sportwagen gestiegen sind. Ich habe meine Klasse ihrem Schicksal überlassen, weil ich mir denken konnte, daß Sie wegen Johanna Lowell hier sind." „Mehr oder weniger", bekannte sie. „Vielleicht können Sie zu meiner Aufklärung beitragen." „Ich will es versuchen. Alles verstehe ich auch nicht, sonst wäre Johannes Selbstmord mir nicht immer noch ein Rätsel, aber ich begreife die Philosophie, an die Johanna sich geklemmt hat. Jedes Bild soll einen Gemütszustand ausdrücken, mit Johannas Worten eine Wahrheit, die nicht in Worte gefaßt werden kann. Wäre es möglich, könnte man auf die Malerei verzichten. Die Wahrheit schafft den Gemütszustand." „Das klingt verworren", entschied Katherine. „Sie haben gesagt, die Bilder haben mit Zen zu tun..." Er nickte. „Die Zen-Malerei stammt von buddhistischen Mädchen in China und Japan, und seit Zen auch im Westen populär geworden ist, haben einige amerikanische Maler die Methode aufgegriffen. Im vorigen Sommer in der Hütte hat auch Johanna damit angefangen. Sie hat sich mit einem solchen Feuereifer darauf gestürzt, daß sie für nichts anderes mehr Zeit gefunden hat. Die Substanz, der Kern der Philosophie ist Sartori oder die plötzliche Erleuchtung. Meditation hilft manchmal, aber das bedeutet nicht, daß der Künstler durch sie Sartori gewinnt. Sartori kommt immer überraschend, und dann bleibt dem Künstler nichts anderes übrig als zu malen. Die Arbeit muß spontan erfolgen. Sehen Sie sich dieses Bild an. Würden Sie die Stimmung, die es ausdrückt, als Panik bezeichnen? Die silbrigen Konturen könnten einen Fisch darstellen, der bei Ebbe in einem Wasserloch am Strand zurückgeblieben und gefangen ist. Die dunklen Umrisse könnten eine Möwe sein, die sich auf ihre Beute stürzen will. Die Stimmung ist die gleiche, unabhängig von dem, was durch die Malerei figürlich dargestellt werden soll." „Jedenfalls ist es ein beängstigendes Bild", sagte Katherine. Sie deutete auf ein anderes Gemälde von Johanna Lowell. „Das beeindruckt mich eher noch mehr, ohne daß ich einen Grund dafür nennen könnte." „Sie haben recht." Dawson nickte. „Aus dem Rahmen scheint ein Männerkopf zu blicken, aber mit letzter Sicherheit läßt es sich nicht behaupten. Kommen Sie mit, ich will Ihnen noch etwas zeigen. Das Bild hängt im sogenannten Mittelraum im Obergeschoß."
Katherine folgte ihm zum Mittelpunkt des Bauwerks, dort führte eine schmale Treppe in den ersten Stock. Hier war ebenfalls ein spiralförmiger Korridor. Im Zentrum unter der Glaskuppel lag ein kleiner, runder Saal. „Da", sagte Dawson und deutete auf eines der Bilder. „Was halten Sie davon?" Diesmal erkannte Katherine sofort, was das Bild darstellen sollte. Im Hintergrund war das große Fenster der Hütte, in der Johanna Lowell Selbstmord begangen hatte und in der nun sie, Katherine, wohnte, davor war die verrenkte Gestalt einer Frau zu sehen. Sie schwebte über dem Boden und hatte eine Schlinge um den Hals. „Sie hat ihren Tod vorausgesehen", flüsterte Katherine. „Wahrheit und Stimmung sind identisch..." „Ein großartiges Bild", sagte Dawson andächtig. „Es ist niederdrückend und zugleich voller Hoffnung. Das Licht, das durch das Fenster dringt, läßt den Tod als Befreiung erscheinen." Katherine empfand nichts dergleichen, aber sie begriff, daß Dawson sich mit diesem Bild und dem, was er hineininterpretierte, über den Verlust Johannas tröstete. Offensichtlich war er mit ihr nicht nur befreundet gewesen. Dann aber hatte Brock sie ihm weggenommen... „Ich zerbreche mir immer noch den Kopf darüber, weshalb sie sich umgebracht hat", sagte er finster. „Sie leben in der Hütte, vielleicht können Sie mir helfen." „Wie kann ich Ihnen helfen?" Sie verstand nicht. „Soll ich Detektiv spielen? Ich wüßte nicht, wie ich das anstellen sollte, außerdem ist Johanna doch nicht ermordet worden!" „Sie ist nicht ermordet worden", widerholte er nachdenklich. „Aber sie hatte keinen Grund, sich umzubringen! Sie war jung und talentiert, vor ihr lag eine große Zukunft. Mit der Hütte stimmt etwas nicht, und ich hab' mir gedacht, Sie können sich vielleicht einmal umsehen." „Nein." Sie schüttelte energisch den Kopf. „Gestern morgen hatte ich den Namen Johanna Lowell noch nie gehört, und jetzt höre ich kaum noch etwas anderes. Sie fängt an, mein Leben zu überschatten!" „Entschuldigen Sie." Er seufzte. „Ich hätte nichts sagen sollen, wahrscheinlich habe ich mich lächerlich gemacht. Sie sind nicht das erste Mädchen, das ich gebeten habe, die Hütte zu untersu-
chen. Mit Patty Cake ist es mir ähnlich ergangen wie mit Ihnen." „Patty Cake?" echote sie. „Sie hat auch in der Hütte gewohnt, kurz vor Ihnen. Sie heißt eigentlich Patricia, Carson, Patty Cake war ihr Künstlername. Sie war Tänzerin im Gull. Sie hat sich auch die Bilder Johannas angesehen, und ich hab' mich mit ihr unterhalten." „Aber sie hat Ihnen nicht geholfen..." „Sie wollte mir helfen." „Warum hat sie es nicht getan?" „Am nächsten Tag war sie nicht mehr da. Sie ist aus der Hütte und aus dem Gull verschwunden, und niemand weiß, wo sie geblieben ist."
9. Dawson brachte Katherine mit seinem uralten Jeep zu Zenas Haus zurück. Sie verabschiedete sich kühl und freundlich, um ihm zu demonstrieren, daß sein Ansinnen ihr mißfallen hatte, und ging zu der Hütte. Die Tür war noch offen, Brock hatte sich nach wie vor nicht sehen lassen, und Anns Suppe war bedenklich zusammengekocht. Katherine goß ein wenig Wasser zu, ließ es aufkochen und nahm den Topf vom Herd. Vorsichtig kostete sie. Die Suppe schmeckte vorzüglich. Katherine goß sie in einen Teller und aß, sie verdrängte die Gedanken an Johanna Lowell und die Tänzerin Cake, die Brock ebenfalls hier einquartiert hatte, sofern man Dawson glauben durfte, und es gab keinen vernünftigen Grund, ihm nicht zu glauben. Katherine war entschlossen, sich weder mit Brocks Vergangenheit, noch mit der der Hütte zu befassen. Später spazierte sie am Strand entlang und betrachtete den Müll, den die Flut angeschwemmt hatte: Bierflaschen, alte Autoreifen, sogar ein Schlauchboot und eine Menge Treibholz. Sie entdeckte eine hübsche Muschel und steckte sie ein. Nach einer Weile stieß sie auf eine einzelne Fußspur, anscheinend die eines Mannes. Die Laterne, die sie in der Nacht von Zenas Fenster aus gesehen hatte, fiel ihr wieder ein. Die Spur führte landeinwärts und zu einer mächtigen Felsengruppe, zwischen den Felsen befand sich ein kleiner, freier Platz wie eine runde Kammer. Befremdet blickte Katherine sich darin um. Auf den Boden war ein Kreis gezeichnet, und in dem Kreis waren zwei Quadrate, die
einander überschnitten, so daß ein Achteck entstand. In dem Achteck war ein weiterer Kreis. In die Felsen waren Schriftzeichen geritzt, Katherine erkannte ein Alpha und ein Omega, dabei stand das Wort Tetragrammaton, das sie bereits auf Zenas Glocke gesehen hatte. Die übrigen Zeichen konnte sie nicht entziffern. Die Fußspur führte auf der anderen Seite wieder aus der Felsenkammer heraus, sie war jetzt von einer zweiten Fährte begleitet, die kleiner als die erste war. Neugierig folgte Katherine den Abdrücken. Sie zerbrach sich nicht den Kopf darüber, von wem sie stammen konnten. In Devil's Point lebten zu viele Leute, die sie noch nicht kennengelernt hatte. Der sandige Strand wurde von Geröll abgelöst, die Spuren hörten abrupt auf. Trotzdem behielt Katherine die eingeschlagene Richtung bei. Nach einer Weile kam sie auf eine Felsplatte, und hier war eine andere Fährte. Sie war tief in den Stein gegraben und anscheinend Jahrhunderte alt, sie stammte auch nicht von einem Menschen. Sie war ein wenig verwaschen und hatte die Form eines riesigen Hufs. Hinter der Felsplatte wurde die Erde wieder sandig. Bis zum Rand des Wassers standen Zedern, darunter wuchs etwas Gras. Aus einiger Entfernung war ein seltsames Donnern zu hören, das bestimmt nicht von der Brandung kam, dazu war das Meer zu ruhig. Wie von einer unwiderstehlichen Gewalt angezogen drang Katherine in das Wäldchen ein, obwohl sie sich von Schritt zu Schritt unbehaglicher fühlte. Die Landschaft war ihr unheimlich. Nach einer Weile gab es wieder Unterholz, das die Sicht behinderte. Katherine ging langsamer und überlegte, ob sie nicht doch lieber umkehren sollte. Sie schämte sich ein bißchen, daß sie so ängstlich war, andererseits war sie allein, sie mußte nicht fürchten, sich zu blamieren. Dann trug der Wind ein klägliches Wimmern zu ihr, und sie gab sich einen Ruck und marschierte weiter. Das Wimmern war tatsächlich ein Meckern und wurde von einer kleinen weißen Ziege ausgestoßen, die ein Halsband mit einer langen Leine trug und sich in einem Heidelbeerbusch verfangen hatte. Katherine lief zu ihr hin und streichelte mitleidig das Tier. „Komm, du armes Luder", sagte sie. „Ich nehm dich mit zu Zena, sie wird wissen, wem du gehörst." Sie befreite die Ziege und wollte nach dem Strick fassen, doch die Ziege wich zurück. Katherine setzte nach, die Ziege ergriff die Flucht.
„Bleib hier!" rief Katherine erbost. „Mit deinem Halsschmuck bleibst du nur an der nächsten Hecke hängen!" Die Ziege hörte nicht auf sie. Katherine jagte hinter ihr her, sie achtete nicht darauf, daß der seltsame Donner allmählich lauter wurde. Die Ziege und Katherine erreichten eine große Lichtung, die von tiefen Erdspalten durchzogen war. Aus den Spalten quoll weißer Dampf. Katherine blieb stehen. Sie hätte dem kleinen Tier gern geholfen, aber ihr war klar, wie gefährlich dieses Gelände war. Die Risse im Boden waren Geiser, sie verursachten das donnerähnliche Geräusch, und wer Pech hatte, konnte in eines dieser Löcher tappen und wurde lebendig gekocht. Die Ziege schien nun auch zu begreifen, daß sie sich verlaufen hatte, und strebte zurück. Sie wurde für einen Sekundenbruchteil vom Nebel aufgesogen, rückte noch einmal ins Blickfeld und versank. Katherine hörte ein verzweifeltes Meckern, dann war es still, und nur das dumpfe Rumoren war noch zu hören. Katherine brach in Tränen aus und floh. Sie fühlte sich verantwortlich für den Tod der Ziege. Wenn sie, Katherine, der Ziege nicht gefolgt wäre, hätte sie sich vielleicht noch einmal in einem Gesträuch verfangen, aber sie wäre noch am Leben. In der Hütte warf sie sich aufs Bett und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie war so niedergeschlagen, als hätte sie einen guten Freund verloren. Schließlich raffte sie sich auf und ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen. Baden war mit den Jahren für sie zu einem Allheilmittel geworden; wenn es nichts nützte, so schadete es doch jedenfalls nicht. Auf dem Fensterbrett stand ein Krug Badesalz. Katherine schaufelte großzügig Salz in die Wanne, und ein starker, süßer Geruch stieg auf. Sie blieb im Wasser, bis sie sich ein wenig benommen fühlte, dann trocknete sie sich ab und kroch ins Bett und schlief ein. Im Unterbewußtsein glaubte sie wie in der ersten Nacht den Klang einer Glocke zu hören. Sie war sich nicht sicher, ob es die Glocke einer Kirche oder die Zenas war, die Ann in der Nacht geläutet hatte.
10. Als Katherine wach wurde, dämmerte es vor den Fenstern. Sie schaltete die Lampen an und erinnerte sich wieder an Dawsons
Bitte, sie möge sich in der Hütte ein wenig umsehen. Sie hatte zwar abgelehnt, aber nun rang sie sich dazu durch, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Sie spürte einen hektischen Drang in sich, den sie bisher nicht gekannt hatte. Sie leerte Schränke, Schubladen und Fächer aus. Zum erstenmal fiel ihr der süßliche Geruch in der Hütte auf. Sie hatte nicht darauf geachtet, aber durch das Badesalz war er so penetrant geworden, daß er sich nicht mehr ignorieren ließ. Sie fand ein paar Haarklammern, Schleifchen, Gummibänder, aber nichts von Belang. Bestimmt hatte Dawson keine Gummibänder gemeint. Schließlich nahm sie sich auch noch den Kamin vor und stocherte mit dem Feuerhaken in der kalten Asche herum. Sie entdeckte eine flache Muschelschale, die nach ihrer Ansicht nicht in einen Kamin gehörte. Sie war vom Feuer gebräunt und brüchig; auf der Innenseite waren chinesische Schriftzeichen eingeritzt. Sie überlegte, ob sie Dawson die Muschel zeigen sollte, dann fiel ihr Zenas beachtliche Bibliothek ein. Vielleicht fand sie dort ein Buch, das Aufschluß über diese Schriftzeichen geben konnte. Sie brachte die Hütte wieder in Ordnung, nahm die Taschenlampe und eilte zu Zenas Haus. Hinter den Fenstern brannte Licht, aber als Katherine an die Tür klopfte, meldete sich niemand. Die Tür war unverschlossen. Katherine trat ins Haus, sie war nun froh, daß Zena nicht da war. Zena hätte bestimmt Fragen gestellt, und sie, Katherine, legte im Augenblick keinen Wert darauf, Fragen zu beantworten. Sie glitt in die Bibliothek und drückte die Tür hinter sich zu. Die Büchersammlung war umfassender, als sie vermutet hatte, vor allem war sie anders. Außer ein paar Romanen und Shakespeares Dramen waren nur Bücher über Okkultismus vorhanden, die meisten in lateinischer, deutscher oder französischer Sprache. Einige Einbände waren uralt und schon halb zerfallen, andere Bücher waren neu eingebunden, andere standen ohne Einband im Regal. Katherine fing an zu blättern. Sie hielt sich nicht mit den Texten auf, die Illustrationen waren ihr im Moment interessanter, überdies waren sie aufschlußreich. Die Holzschnitte stellten hauptsächlich Hexen und den Satan dar. Plötzlich klangen vor der Tür Schritte auf. Katherine klappte erschrocken das Buch zu, das sie auf den Knien hatte, als Zena ins Zimmer kam. „Ich hatte den Eindruck, daß hier jemand ist", sagte sie. Sie lä-
chelte ein wenig gezwungen. „Suchen Sie etwas Besonderes?" „Ich wollte nur etwas zu lesen haben", sagte Katherine lahm. „Ihre Sammlung ist phantastisch, ich konnte mich gar nicht mehr losreißen." „Sie ist phantastisch", räumte Zena ein, „aber sie gehört mir nicht. Ich hätte nicht die Geduld, mich durch diese fremden Sprachen durchzubeißen, und das meiste, das hier steht, ist ohnehin Unsinn und bestenfalls durch das Alter wertvoll." „Die Bücher haben also Ihrem Mann gehört..." „Nein. Roger hat sich kaum dafür interessiert. Sie gehören Pops. Er war ein anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der Metaphysik. Da drüben stehen die Bücher, die er selbst geschrieben hat. Gerald Wickett. Studenten des sogenannten Okkultismus sind aus der ganzen Welt zu ihm gekommen, um mit ihm zu sprechen. Wahrscheinlich war er sehr enttäuscht, daß Roger nicht in seine Fußstapfen getreten ist. Er hatte noch viel vor, und daraus ist leider nichts geworden. Als Roger und ich geheiratet haben, hat Pops gedacht, ich kann sein Werk fortsetzen, deswegen hat er mir eine Menge beigebracht. Aber ich bin mehr für die Praxis als für die Theorie. Schade. Er war davon überzeugt, noch wichtige Entdeckungen machen zu können. Na, es ist gut, daß Sie hier sind. Kommen Sie, wir wollen alle einen Cocktail trinken." „Wir alle?" „David und Ann und Charles und William Dawson und ich. Wir sind eben von David zurückgekommen, Charles hat sich seine Skulptur angesehen und ihm Ratschläge gegeben." Katherine folgte Zena ins Wohnzimmer. Robinson hantierte mit Flaschen und Gläsern, David und Ann strahlten, Dawson saß allein in einer Ecke, als gehörte er nicht recht dazu. David zog Katherine zur Seite. „Sie erinnern sich gewiß, daß wir gestern abend über die Skulptur gesprochen haben, die ich von Ann machen will", sagte er leise. „Robinson hat meine sämtlichen Probleme mit einem Schlag aus der Welt geräumt. Ich verstehe nicht, wieso ich nicht selbst darauf gekommen bin..." „Wie schön", sagte Katherine ohne Ironie. Sie verzichtete darauf, sich nach Robinsons Ratschlägen zu erkundigen. Robinson trat zu ihr und drückte ihr ein Glas Whisky in die Hand. Er zwinkerte David zu und ging zu Zena. Ann trat neben David
„Betrink dich nicht", sagte sie ernsthaft. „So etwas machen nur die Bourgeois!" David grinste. „Ann glaubt, ich vertrage keinen Alkohol", sagte er zu Katherine. „Aber heute feiere ich da kann ich nicht nüchtern bleiben!" Er entfernte sich in Richtung Bar. „Alkohol vergrößert die Blutgefäße", sagte Ann zu niemand besonders. „Ich werde David verzeihen, er muß wirklich seinen Erfolg feiern. Charles übernimmt einige seiner Arbeiten für seine Galerie in Kommission." „Wunderbar!" sagte Katherine und dachte darüber nach, daß David von Robinson, Ann aber von Charles gesprochen hatte. Er vermutete, daß Ann an Davids Erfolg mitgewirkt hatte. „Ich muß euch beiden gratulieren." „Ich habe Hunger!" erklärte Robinson mit Stentorstimme. „Wir wollen essen!" „Natürlich." Zena lachte albern. „Wir alle haben Hunger, und wir alle wollen essen. Wir werden die Küche plündern. Ich habe noch Brot, Salami, Wein..." „Nein", entschied Robinson. „Wir gehen aus. Ihr seid meine Gäste!" „Charles, Sie haben den Verstand verloren", erklärte Zena. „Dreißig Meilen im Umkreis ist kein anständiges Lokal." „Hier ist ein Lokal. The Gull!" „Das soll wohl ein Scherz sein? Das ist doch nur ein Schuppen!" „So ein Schuppen erinnert mich an die guten alten Zeiten, als wir noch jung und arm waren. Wir fahren zum Gull!" Dawson wollte nicht, aber Zena überredete ihn. Katherine hatte auch keine Lust, sich von Robinson einladen zu lassen, doch da Dawson nachgab, schloß sie sich ebenfalls an. Robinson zerrte Zena hinaus, Ann und David folgten. „Es wird schon nicht so schlimm werden", meinte Dawson leise. „Im allgemeinen meide ich solche Feste, aber diesmal war es nicht möglich. Ich hätte gar nicht erst hierher mitfahren sollen, aber auf diese Party war ich nicht vorbereitet." „Ich freue mich, daß Sie da sind", sagte Katherine und lächelte. „Gemeinsam werden wir auch Robinson und Zena überstehen." Er lachte und ging mit ihr hinter Robinsons übrigen Gästen her. Zena stieg zu Robinson in den Sportwagen, Ann kletterte mit David in den VW, Katherine und Dawson fuhren mit dem Jeep.
11. Die Musiker hatten lange Haare und trugen Jeans, bestickte Hemden und Stirnbänder, und der Lärm, den sie verübten, schallte bis auf die Straße. Auf dem Podium tanzte ein dickes Go-goMädchen in Navajo-Stiefeln und einem winzigen Glitzerkostüm. Robinson und seine Gäste fanden einen freien Tisch, Robinson verhandelte mit dem Kellner, dieser servierte die Vorspeise: Krabben im Glas und in einer undefinierbaren Soße. Das dicke Mädchen wurde von zwei dürren abgelöst, Robinson applaudierte begeistert und ein wenig grundlos. „Diese Patty Cake", sagte Katherine leise zu Dawson. „War sie auch ein Go-go-Girl?" Er schüttelte den Kopf und winkte ihr, ihm ins Foyer zu folgen. Eine der Wände war mit Fotografien buchstäblich tapeziert. Dawson deutete auf eines der Bilder, das ein fast nacktes Mädchen zeigte, darunter stand: Kisses for all, Patty. Das Mädchen war ungewöhnlich hübsch. „Sie war ein Star", erklärte Dawson. „Wahrscheinlich ist sie es noch..." Katherine spürte, wie sie plötzlich taumelig wurde, der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen. Dawson faßte zu, bevor sie in die Knie ging, und führte sie ins Freie. „Katherine", sagte er beunruhigt, „was ist mit Ihnen?" „Ich weiß es nicht." Sie atmete tief ein und setzte sich auf eine Treppe. „Ich hab' einen anstrengenden Tag hinter mir." Dawson setzte sich zu ihr und legte ihr seine Jacke um die Schultern. Über dem Wasser schwebte ein bleicher Mond, die Luft war angenehm mild, trotzdem fröstelte Katherine. „Vielleicht haben Sie sich heute morgen zu sehr aufgeregt", meinte Dawson. „Ich hätte Ihnen Johannes Bilder nicht zeigen sollen, ich hätte Sie auch nicht um Hilfe bitten dürfen." „Das ist es nicht", sagte sie unsicher. „Ich glaube, die kleine Ziege hat mich viel mehr aufgeregt." „Ziege?" „Ich bin spazierengegangen und habe eine Felsenkammer gefunden. Auf dem Boden waren Hufspuren. Ein Stück weiter hatte sich eine Ziege an einem Strauch verfangen. Ich habe sie befreit
und wollte sie mitnehmen. Sie ist in einen Geiser gefallen." „Das ist auf dem Devil's Walk schon öfter vorgekommen", sagte er. „Die Tiere verirren sich immer wieder in dieser Gegend." „Wieso Devil's Walk?" wollte sie wissen. „Die Leute behaupten, die Hufspuren stammen vom Teufel." Dawson lachte freudlos. „Wahrscheinlich waren die Felsen an einigen Stellen weicher als der Rest, und diese Stellen sind schneller verwittert. Aber mit solchen prosaischen Erklärungen gibt man sich hierzulande nicht zufrieden." Katherine fühlte sich ein wenig besser, und sie gingen wieder hinein. Zena blickte ihnen mißtrauisch entgegen, aber sie sagte nichts. Das Essen war schon aufgetragen. Lustlos stocherte Katherine auf ihrem Teller herum. Sie ertappte sich dabei, daß ihre Gedanken immer wieder zu der Tänzerin Patty wanderten. Johanna Lowell hatte sie sich nur vorstellen können, außerdem war sie tot. Aber Patty lebte, und ihre Qualitäten waren nicht zu übersehen. Katherine begriff, daß sie eifersüchtig war. Sie entschuldigte sich bei Robinson und Zena und ging zur Tür. Dawson erbot sich, sie in seinem Jeep nach Hause zu fahren. Sie hatte nichts dagegen. Tatsächlich war sie auf ihn angewiesen, sonst wäre ihr nichts anderes übriggeblieben, als ein Taxi zu bestellen. Stumm und in sich gekehrt saß sie auf dem zerschlissenen Polster und starrte blicklos vor sich hin, bis Dawson den Wagen vor der Einfahrt zum Stehen brachte. Sie nahm ihre Handtasche und stieg aus. Erst jetzt fiel ihr die Muschel wieder ein, die sie im Kamin in der Hütte gefunden hatte. „Wollen Sie bei mir noch eine Tasse Kaffee trinken?" fragte sie. „Es ist noch nicht spät..." „Nein", sagte er. „Ich muß morgen sehr früh unterrichten, da möchte ich ausgeschlafen sein." „Ich habe mich in der Hütte umgesehen, Sie erinnern sich, Sie hatten mich darum gebeten." Sie nahm die Muschel aus der Tasche. „Mehr hab' ich nicht entdecken können. Verstehen Sie etwas davon?" Er nahm die Muschel und betrachtete sie, Katherine leuchtete mit der Taschenlampe. Dawson stieg nun auch aus und hielt die Muschel in den Lichtkegel eines Scheinwerfers. „Ich hab so etwas schon mal gesehen", sagte er. „Die Schriftzeichen sind eine Frage - sie werden eingeritzt, dann legt man die
Muschel oder ein Stück von einem Knochen oder was immer ins Feuer. Die Risse und Sprünge, die durch die Hitze entstehen, gelten als Antwort auf die Frage." „Können Sie die Zeichen entziffern?" „Ausgeschlossen! Aber ich finde bestimmt jemand, der es kann. Das Problem ist nicht die Frage, sondern die Antwort. Diese Kunst wird schon so lange nicht mehr ausgeübt, daß ich bezweifle, ob wir einen Dolmetscher finden." „Behalten Sie die Muschel", entschied Katherine. „Ich hab' gedacht, sie stammt von Johanna. Ich habe sie aus der Asche des Kamins gegraben." „Aus dem Kamin!" Dawson war besorgt. „Dann kann sie durchaus von Johanna stammen. Ich werde mich darum kümmern." „Gut." Katherine nickte. „Vielleicht hilft sie Ihnen weiter." „Ich hoffe es." Er wickelte die Muschel in sein Taschentuch und steckte sie ein. „Gute Nacht - oder besser : Leben Sie wohl." „Was heißt das nun wieder?" Sie runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich sehen wir uns nicht wieder. Ich habe erfahren, daß Sie mit Brock mehr oder weniger verlobt sind; für mich bliebe also nur eine Freundschaft übrig, und das ist mir zu wenig." Er stieg wieder ein, der Motor röhrte auf, der Jeep jagte die Straße entlang und verschwand in der Dunkelheit. Katherin blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu erkennen war. Sie war gekränkt. Dawson hatte sich ihrer entledigt wie eines lästigen Möbelstücks, er hatte ihr nicht einmal mitgeteilt, daß er sich gefreut hätte, sie näher kennengelernt zu haben. Verdrossen stapfte sie am Haus vorbei zu der Hütte. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Vor ihr, im Mondlicht deutlich auszumachen, stand ein Mann im Jagdanzug. Instinktiv ahnte sie, daß er mit dem Mann identisch war, den der Mensch im Abenjackett angeblich angefahren und dann nicht wiedergefunden hatte. Er hatte helle Haare, sein Gesicht lag im Schatten. „Wer sind Sie?" fragte Katherine tonlos. „Was wollen Sie von mir?" Der Mann antwortete nicht. Er drehte sich auf dem Absatz um und verschwand zwischen den Bäumen.
12.
Robinson, Zena, Ann und David kamen erst nach Hause, als es schon hell war, und feierten in Zenas Wohnzimmer weiter. Als Katherine aufstand, war Zena noch wach. Robinson schlief, Ann und David waren erst kurz vorher weggefahren. Ann hatte ihre Handtasche in Robinsons Sportwagen liegenlassen, und Zena bat Katherine, sie ihr zu bringen. Katherine wunderte sich, wieso Ann den Weg zu Zenas Haus offenbar mit Robinson zurückgelegt hatte, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie nahm die Tasche, ein buntes indianisches Gebilde mit Schultergurt und Fransen, und stieg in ihren Wagen. Sie hatte es nicht eilig, und als sie zu der Kreuzung kam, die das Zentrum von Devil's Point darstellte, ging sie in die Boutique und kaufte sich ebenfalls eine solche Tasche. Sie erstand auch eine Sonnenbrille mit riesigen runden Gläsern, eine grell gestreifte Hose und eine bunt gemusterte Bluse. Sie hatte beschlossen, sich ein wenig anzupassen. Sie zog sich im Laden um und bewunderte vor einem Spiegel kichernd ihr Ebenbild. Sie fragte sich, was Brock, der nach wie vor auf sich warten ließ, zu ihrer Veränderung sagen würde. Ann wohnte außerhalb der Stadt in einem heruntergekommenen Motel. Die Hütten standen im Halbkreis um einen verwahrlosten Hof, auf dem zwischen Kopfsteinpflaster eingestaubtes Gras sein Leben fristete. Katherine fand die Hütte Nummer fünf und klopfte an. Ann öffnete sofort, sie schien noch nicht geschlafen zu haben. Sie blinzelte in die Sonne und rieb sich die Augen. „Katherine!" sagte sie überrascht. „Sie sehen großartig aus! Sie hätten sich schon früher so anziehen sollen. Ist das meine Tasche? Ich hatte Angst, ich hätte sie verloren. Kommen Sie rein und trinken Sie mit mir Tee." Das Zimmer war unaufgeräumt und roch nach frischer Farbe. An den Wänden hingen Anns abstrakte Bilder, eine Tür zum Nebenraum war geschlossen. Katherine setzte sich auf eine zerbeulte Couch und sah Ann zu, die einen Kessel mit Wasser auf eine Kochplatte stellte und mit Geschirr hantierte. „Mir gefällt es hier", sagte Ann, als hätte sie den Eindruck, für die schäbige Behausung ein Alibi liefern zu müssen. „Wir können machen, was wir wollen, und das Fenster ist Nordseite, das ist gut für die Arbeit. Wir hatten Glück, daß wir diese Bude bekommen haben." „Wir", sagte Katherine. „Sie leben also mit David zusammen?"
„Natürlich!" Ann musterte sie verständnislos. „Sind Sie jetzt schockiert?" „Nicht schockiert", meinte Katherine. „Ich habe es bloß nicht gewußt, das ist alles." Ann überbrühte den Teee und setzte sich zu Katherine. „Erzählen Sie mir von der Hütte", sagte sie. „Spukt's dort wirklich? Mittlerweile müßten Sie davon was gemerkt haben." „Noch nicht." Katherine lächelte. „Ann, Sie wissen Bescheid, klären Sie mich bitte auf. Wie ist Johanna in die Hütte gekommen hat Brock sie geholt?" „So würde ich es nicht ausdrücken." Ann dachte nach. „Brock hat Johanna zufällig in San Francisco kennengelernt, anscheinend hat sie ihm mitgeteilt, daß sie den Sommer über im Institut arbeiten wollte, und er hat ihr die Hütte angeboten. Hier ist's nicht ganz leicht, eine Unterkunft zu finden, aber das hab' ich Ihnen ja gesagt." Sie goß Tee in die Tassen. Katherine nahm sich Zucker, rührte um, trank einen Schluck und verbrannte sich die Lippen. Der Tee war miserabel. „Ich möchte Ihnen die Skulptur zeigen, die David von mir gemacht hat", sage Ann. „Aber wir müssen leise sein, David schläft noch. Vorhin hat er sich noch einmal damit beschäftigt, obwohl er müde und nicht ganz nüchtern war. Robinson hat ihm richtig Mut gemacht!" Auf den Zehenspitzen ging sie voraus zur Tür und drückte sie lautlos auf. David lag auf dem zerwühlten Bett und schwitzte. Die Skulptur stand auf einem niedrigen Sockel, sie war etwa einen Meter hoch und mit einem Tuch bedeckt, damit der Ton nicht austrocknete. Ann nahm vorsichtig das Tuch ab, und Katherine sah eine nackte und verklärt nach oben blickende Ann. Sie sah auch, daß David noch einmal an der Figur gearbeitet hatte. Die rechte Hälfte des Gesichts wirkte durchgeistigter als die linke, offenbar war Robinsons Rat nützlich gewesen. Ann deckte die Skulptur wieder zu und kehrte zu Katherine zurück. Sie schloß die Tür und setzte sich wieder auf die Couch. Katherine trank den Tee aus und fragte sich, wieviel Entzücken sie nun zu demonstrieren hatte, um Ann und David zufriedenzustellen. Aber Ann wartete nicht, bis Katherine die passenden Worte fand. „Ist sie nicht wunderbar?" fragte sie und deutete vage in Rich-
tung Statue. Sie nahm die Antwort vorweg. „So etwas Schönes hat David noch nie gemacht!" „Sie haben recht", sagte Katherine. „Ich kenne seine übrigen Arbeiten nicht, natürlich nicht, aber diese finde ich außerordentlich gelungen." Das Lob war nicht begeistert genug ausgefallen, sie sah es an Anns enttäuschtem Gesicht. Sie mochte sich nicht auf eine Diskussion einlassen, der sie aus mangelndem Sachverstand nicht gewachsen war, und verabschiedete sich hastig.
13. Auf dem Rückweg bedauerte Katherine, daß sie Ann nicht auch nach Patty Cake gefragt hatte. Hatte Brock sie ebenfalls zufällig kennengelernt und ihr die Hütte angeboten, weil Wohnungen in Devil's Point schwer zu beschaffen waren? Hatte Patty ihn geliebt - oder hatte er sie geliebt? Und vor allem: Warum war sie gewissermaßen über Nacht verschwunden? Sie entschloß sich, Zena nach der Tänzerin auszuholen, doch als sie zur Einfahrt kam, war Zenas Wagen nicht da. Vermutlich war sie in die Stadt gefahren. Katherine stellte ihren Wagen hinter dem Haus ab und klopfte vorsorglich an die Hintertür. Zena war tatsächlich nicht da. Katherine trat in die Küche. Sie hatte die Absicht, auf Zena zu warten, dann überlegte sie es sich anders. Konnte sie nicht Zenas Abwesenheit dazu benutzen, sich auch im Haus ein wenig umzusehen? Vielleicht war Patty so überstürzt aufgebrochen, daß sie einen Teil ihrer Sachen zurückgelassen hatte... Sie pirschte den Korridor entlang und stieg in den ersten Stock hinauf. Wenn Pattys Gepäck noch da war, dann hatte Zena es mit Sicherheit fortgeräumt, vermutlich auf den Dachboden. Wo war die Stiege zum Dachboden? Katherine ging von einer Tür zur anderen und spähte durch die Schlüssellöcher. Eine Tür war offen, die Sonne drang durchs Fenster und schien auf ein schmales Holzbett, neben dem ein teurer Koffer stand. Katherine vermutete, daß hier Charles Robinson untergebracht war, und ging schnell weiter. Sie entdeckte eine Tapetentür und dahinter eine Stiege nach oben. Katherine zog die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und kletterte hinauf.
Der Dachboden war fensterlos und finster wie ein Keller. Katherine stieß mit dem Kopf gegen einen Balken, ächzte, biß die Zähne zusammen und betastete ihre Stirn. Ihre Finger wurden feucht, sie war davon überzeugt, daß sie blutete. Behutsam schlich sie weiter; zu spät fiel ihr ein, daß sie vergessen hatte, in der Nähe der Treppe nach einem Lichtschalter zu suchen. Sie wollte umkehren, verlor die Orientierung, tappte an den Wänden entlang und erschrak, als etwas ihr Gesicht streifte. Sie unterdrückte einen Schrei und faßte zu. Sie spürte eine Schnur in den Händen und zog daran, die Schnur führte zu einem Deckenschalter. Licht flammte auf, und Katherine schloß geblendet die Augen. Nach einer Weile gewöhnte sie sich an die Helligkeit. Sie sah nun, daß der Dachboden mit Gerumpel vollgestopft war, alles war eingestaubt und mit Spinnenweben überzogen. Offenbar war nichts erst kürzlich hier abgestellt worden. Katherine verlor jäh das Interesse an Patty Cake. Wenn sie das Gepäck nicht fand, so fand sie möglicherweise etwas, das ihr Aufschluß über Brock geben konnte. Sie entdeckte alte Bücher, Schulhefte und Zeugnisse, aber alles gehörte Zena. Sie durchstöberte eine Kiste und erblickte eine flache Schachtel. Sie barg einen hübschen chinesischen Fächer, dabei lag ein Zettel. Für Zena, stand darauf. Sie haben meine Seele vor dem Tod bewahrt. In Dankbarkeit Elaine. Elaine. Wer war Elaine? Katherine begriff plötzlich, wie einfältig es war, von diesem Dachboden Antworten auf ihre Fragen zu erhoffen, während sie doch hätte voraussehen können, daß hier nur noch mehr Fragen auftauchen würden. Sie packte den Fächer und den Zettel wieder in die Schachtel und die Schachtel in die Kiste, dann kehrte sie zur Stiege zurück. Dort war ein zweiter Schalter. Sie löschte das Licht und kletterte abwärts. Leise machte sie die Tapetentür zu und lief den Korridor entlang; im selben Moment hörte sie Schritte auf der Treppe. Katherine lief zurück hinter die Tapetentür und zog sie zu. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß Zena sie vielleicht ertappte. Was konnte sie ihr sagen, wie sollte sie sich herausreden, ihre lächerliche Neugier erklären? Sie konnte sich nicht herausreden. Sie konnte nur ihre Koffer packen und nach Los Angeles fahren und Brock und Devil's Point vergessen. Aber sie wollte Brock nicht vergessen, auch wenn er sie vielleicht nicht richtig behandelte! Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel,
daß Zena sie nicht in diesem Verlies überraschte. Zena öffnete eine Tür, schloß sie hinter sich, kam eine Sekunde später wieder heraus und lief nach unten. Katherine hörte, wie sie etwas sagte, offenbar war sie nicht allein. Sie machte die Tapetentür spaltbreit auf und lauschte. „Da bist du ja!" sagte Zena. „Ich hab' dich erwartet!" Stille. Anscheinend erwiderte der Gesprächspartner etwas, aber seine Stimme drang nicht bis zu Katherine. „Du hast immer was zu nörgeln", sagte Zena unfreundlich. „Schenk dir das, es führt zu nichts. Es hat dir beim letztenmal nichts geholfen, und es hilft dir jetzt auch nichts. Alles ist erledigt. Du hättest es dir früher überlegen müssen." Wieder Stille, dann lachte Zena gehässig. „So weit hättest du schon damals denken sollen!" erklärte sie bissig. „Warum gehst du nicht einfach fort und spielst ein bißchen, amüsiere dich. Ich rufe dich, wenn es soweit ist. Ja, du kannst dich darauf verlassen, Mutter wird sich bei dir melden." Schritte tappten unten durch den Korridor, eine Tür wurde zugeschlagen. Katherine wartete, daß abermals Schritte aufklangen, aber nichts rührte sich. War der Mensch, mit dem Zena geredet hatte, noch im Haus? Nach einer Zeitspanne, die ihr endlos erschien, wagte Katherine sich aus ihrem Versteck und eilte die Treppe hinunter. Niemand war in Sicht. Sie lief durch die Küche und zog draußen ihre Schuhe wieder an. Sie gratulierte sich zu ihrem Glück, daß Zena sie nicht überrascht hatte, gleichzeitig fragte sie sich, wer der Gesprächspartner gewesen sein mochte: der wirre Pops Wicket? Charles Robinson? Wieder einmal hatte Katherine den Eindruck, daß sie dringend ein Bad benötigte, und diesmal brauchte sie es wirklich. Dafür hatte der Staub auf dem Dachboden gesorgt. Sie ging in ihr Schlafzimmer, doch sie badete nicht, jedenfalls nicht gleich. Auf dem Toilettentisch lag ein Zigarettenetui. Mißtrauisch hob Katherine es auf. In den Deckel war ein Monogramm graviert: P.C.
14. Katherine dachte sofort an Patty Cake. Sie war also wiedergekommen! Sie lief durch sämtliche Räume und rief Pattys Namen,
aber niemand antwortete. Falls Patty zurückgekommen war, dann war sie schon wieder fort. Katherine war nahe daran, die Nerven zu verlieren. Sie verriegelte die Tür und sämtliche Fensterläden, badete hastig und wurde allmählich wieder ruhiger. Schließlich braute sie sich eine Tasse Kaffee, verhalf sich zu einem Sandwich und beschloß, die Polizei zu informieren. Sie hatte die Station der State Police auf der Reise nach Devil's Point am Highway gesehen. Sie nahm ihre Handtasche und die Schlüssel und warf sich in ihren Wagen. Unterwegs rauchte sie eine Zigarette nach der anderen. Sie hatte nun keine Gewissensbisse mehr, ein Versprechen nicht zu halten, das sie Brock gegeben hatte. Brock hielt sich selbst nicht an seine Zusagen. Vor dem Stationsgebäude bremste sie scharf und rannte hinein. Ein Polizist saß an einem Schreibtisch und blickte ihr interessiert entgegen. Er hatte einen Schnurrbart und hieß Hendricks. Er hatte eine Bürstenfrisur, und sein Hemd war so sehr gestärkt, daß es ihn wie ein Zelt umgab. Katherine nannte ihren Namen, und Hendricks bot ihr einen Stuhl an. „Was kann ich für Sie tun, Miß Spencer?" fragte er. „Jemand hat vorhin bei mir eingebrochen", sagte sie. Er nickte bedächtig, fuhr mit seinem Drehstuhl zu einem Wandschrank, kramte darin und kam mit einem Formular wieder. „Wenn Sie das bitte ausfüllen wollen", sagte er und schob ihr das Formular zu. „Schreiben Sie auf, was Ihnen gestohlen worden ist, und versuchen Sie die Gegenstände genau zu beschreiben." „Aber nein", sagte Katherine ungeduldig. „Mir ist nichts gestohlen worden." „Nichts gestohlen worden?" Er sah sie betroffen an. „Man hat Sie also bedroht oder verletzt?" „Nein." Sie suchte in ihrer Handtasche und begriff, daß der Beamte sie für übergeschnappt halten mußte. Sie legte das Etui auf den Tisch. „Der Einbrecher hat das dagelassen..." Hendricks' Betroffenheit steigerte sich. Er nahm das Etui an sich und besah es von allen Seiten. „Was soll ich machen?" fragte er. „Soll ich den Einbrecher suchen und ihm das Etui wiedergeben?" „Natürlich nicht", sagte Katherine gepreßt. „Sie sollen ihn finden und dafür sorgen, daß er nicht mehr einbrechen kann. Vor allem möchte ich wissen, wer er ist."
„Sind Sie ganz sicher, daß das Ding nicht Ihnen gehört?" fragte er skeptisch, als hätte er schon die seltsamsten Typen erlebt und wäre durch nichts mehr zu überraschen. „Vielleicht haben Sie das Etui einfach vergessen, und jetzt ist es plötzlich wieder da?" „Das sind nicht meine Initialen!" Sie bemühte sich, nicht weniger geduldig zu sein als Hendricks. „Die Anfangsbuchstaben passen zu Patricia Carson, die vor mir in dem Haus gewohnt hat und spurlos verschwunden ist. Finden Sie das nicht bemerkenswert? Sie wird vermißt, und das Etui war nicht im Haus - bis vorhin!" Er grinste. „Patricia Carson - Sie meinen Patty Cake. Ich hab' sie auf der Bühne gesehen. Sie wird nicht vermißt." „Sie wird nicht -? Sie wissen also, wo sie ist?!" „Nein, aber sie ist nicht als vermißt gemeldet. Solange sie nicht als vermißt gemeldet ist, nehmen wir davon offiziell keine Kenntnis. Um Patty habe ich mich nicht zu kümmern." Katherine war sprachlos. Hendricks legte das Etui auf den Schreibtisch und zwinkerte ihr zu. „Ich habe einen Verdacht", sagte er heiter. „Vielleicht haben Gespenster das Etui gebracht." „Gespenster?" „Naja, Sie wohnen doch in der Hütte der Wicketts, soviel ist mir inzwischen klar geworden. Alle Leute wissen, daß es dort spukt. Wahrscheinlich war es ein Polter... Polter..." „Ein Poltergeist?" Katherine half ihm mit dem fehlenden Wort aus. „Ein Poltergeist reißt Schubladen heraus und zertrümmert Porzellan! Davon kann keine Rede sein. Bei mir war ein Einbrecher, und ich verlange, daß Sie ihn fangen." „Warum hören Sie sich nicht mal ein bißchen in der Gegend um?" Hendricks wurde ernst. „Sie sollten auch mal darüber nachdenken, vielleicht kommen Sie doch zu dem Ergebnis, daß ein Geist bei Ihnen an der Arbeit war." „Mister Hendricks!" sagte Katherine scharf. „Sie erwarten doch nicht, daß ich an Geister glaube? Ich könnte eher auf den Gedanken kommen, Sie für faul zu halten!" Er blickte bekümmert zu Boden. „Ich möchte nicht das Geld der Steuerzahler vergeuden und Jagd auf Geister machen", erwiderte er zurückhaltend. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn heute nacht etwas passiert, wenn Sie Angst haben - rufen Sie mich einfach an." „In der Hütte ist kein Telefon."
Hendricks schien sich damit abzufinden, daß es für ihn keine Ausflucht mehr gab. Er runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. „Okay", sagte er. „Ich fahre heute nacht bei Ihnen vorbei und behalte die Hütte im Auge. Sind Sie damit einverstanden?" „Ja." Sie hatte den Verdacht, daß Hendricks' Auge ihr nicht viel helfen würde, falls wirklich etwas geschah, aber es war besser als nichts. Sie wandte sich zur Tür. „Danke." „Patty Cake hat übrigens die Geister gesehen!" rief er ihr nach. „Sie hat es mir erzählt. Patty hat dieses Haus ganz und gar nicht gefallen!" Katherine ging mechanisch weiter und stieg in ihren Wagen. Aber sie fuhr nicht zurück. Am liebsten wäre sie umgekehrt und hätte Hendricks nach Patty und den Geistern ausgefragt, aber sie fürchtete sich zu blamieren, sie mochte ihm auch keinen Vorwand dafür liefern, doch noch alles auf die Geister abzuwälzen und nichts zu unternehmen. Aber wen hatte Patty gesehen und für ein Gespenst gehalten? Und was war mit Johanna - waren ihr auch scheinbar oder tatsächlich Geister begegnet? Vielleicht halfen Johannas Bilder weiter. Katherine beschloß, sie noch einmal zu betrachten. Sie fuhr zum Institut, parkte den Wagen vor dem Portal der großen Ausstellungshalle, zog den Schlüssel ab und ging schnell ins Haus. Wieder war sie allein. Nach dem herrlichen Wetter draußen erschien ihr das Gebäude kalt und steril wie ein Operationssaal. Sie erreichte den Mittelpunkt der Spirale. Johannas Bilder waren nicht mehr da. Aus schlichten Rahmen glotzten Malereien sie an, die sie noch nie gesehen hatte, und sekundenlang überlegte sie, ob Johannas Gemälde nicht etwa nur in ihrer Phantasie bestanden. Sie suchte die Treppe zum Obergeschoß und zum Kuppelsaal. Sie fand auch die Treppe nicht. Sie verirrte sich in dem gigantischen Schneckengehäuse und atmete auf, als sie in einer der Windungen auf einen Mann mit einem Besen stieß. Der Mann wirbelte mehr Staub auf als er beseitigte. Katherine hielt ihn für den Verwalter. „Entschuldigen Sie bitte", sagte sie. „Wissen Sie, was aus Johanna Lowells Bildern geworden ist? Gestern waren sie noch da." „Vielleicht sind sie woanders aufgehängt worden", meinte der Mann. „So etwas kommt von Zeit zu Zeit vor. Dafür ist Mr. Daw-
son zuständig, Sie können ihn fragen. Er ist jetzt in seinem Büro im Nebenhaus." Katherine bedankte sich und lief auf die Straße. Sie war unentschlossen, ob sie sich an Dawson wenden sollte. Auf einmal erschienen ihr Johannas Bilder nicht mehr so wichtig. An einem Getränkeautomat im Foyer kaufte sie eine Cola, trank sie langsam aus und dachte nach. Schließlich rang sie sich dazu durch, doch noch einmal mit Dawson zu sprechen und sein ungehöriges Benehmen am Abend zu ignorieren. Vielleicht wußte er schon, was die chinesischen Schriftzeichen auf der Muschel bedeuteten. Das Nebenhaus war ein Gebilde aus Beton und Stahl, der Korridor war verödet. Eine der Türen war spaltbreit offen, und Katherine hörte Dawsons Stimme. Er schien zu telefonieren. „Aber ich hatte angenommen, daß ich darüber nach Gutdünken entscheiden kann", sagte er. „Wenn Sie darauf bestehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich nach den Wünschen der Verwaltung zu richten, obwohl ich sie persönlich für falsch halte... Nein, Sir, natürlich möchte ich meine Stellung nicht gefährden... Ja, aber... Okay, ich bringe sie zurück." Katherine war vor der Tür stehengeblieben. Sie sah, wie Dawson den Hörer auf die Gabel knallte. Im nächsten Augenblick wandte er sich um und entdeckte Katherine. Er schien über den Besuch nicht erstaunt zu sein. Sie trat zu ihm ins Zimmer. „Ich möchte Sie nicht lange stören'', sagte sie hastig. „Der Verwalter schickt mich, er meint, Sie wissen, wo die Bilder von Johanna Lowell sind. Ich wollte sie noch einmal betrachten." „Kommen Sie mit", sagte er unhöflich. „Ich zeige sie Ihnen. Ich hab' sie eingeschlossen." „Hoffentlich mache ich Ihnen nicht zuviel Mühe..." „Absolut nicht. Ich will sowieso an die frische Luft. Hier drin fällt mir die Decke auf den Kopf." Neben ihm her ging sie den Korridor entlang und über die Fahrbahn zu einem anderen Gebäude. Katherine hatte den Eindruck, daß Devil's Point vor allem aus dem Institut bestand. „Ich muß mich für meine schlechte Laune entschuldigen", sagte Dawson unterwegs. „Ich hatte Ärger mit der Verwaltung." „Jeder hat mal Ärger mit Vorgesetzten", bemerkte sie weise. „Wie wahr!" Er grinste ohne Heiterkeit. „Man kann Arbeit und Privatleben nicht immer trennen." Das Gebäude, zu dem er strebte, war ein Lagerhaus. Johannas
Bilder befanden sich im Keller und waren scheinbar achtlos an die Wand gelehnt. Dawson stellte sie nebeneinander auf, und Katherine sah sich eines nach dem anderen aufmerksam an, aber hauptsächlich interessierte sie das Bild, auf dem ein Männerkopf mehr zu ahnen als zu erkennen war. Katherine war sich ganz sicher, daß Johanna den Mann hatte auf die Leinwand bannen wollen, dem sie, Katherine, in der Nacht im Mondlicht zwischen Zenas Haus und der Hütte begegnet war. Was hatte es mit diesem Mann auf sich? Wer war er? Was hatte Johanna mit ihm zu schaffen, und was wollte er von ihr, Katherine? Warum trieb er sich in der Nähe der Hütte herum? Sie war davon überzeugt, daß Dawson die Antwort auf diese Fragen nicht kannte. Wenn jemand Bescheid wußte, dann Zena oder Ann. Sie erkundigte sich, ob Dawson schon jemand gefunden hatte, dem es gelungen war, den Text auf der Muschel zu entziffern. „Bis jetzt nicht", sagte er. „Ich habe mich umgehört. Zwei Lehrer hier sind Experten für asiatische Kunst, trotzdem haben sie damit nichts anfangen können. Ich muß die Muschel nach San Francisco mitnehmen. Bei der nächsten Gelegenheit fahre ich hin." „Wenn doch jemand diese Zeichen lesen könnte..." sagte sie. „Vielleicht wären wir dann einen Schritt weiter. Die Hütte wird allmählich... unerträglich." Er wollte wissen, wieso die Hütte unerträglich wurde. Sie berichtete nun doch von dem Mann im Jagdanzug, den sie in der Nacht getroffen hatte, aber sie vermied darauf hinzuweisen, daß er eine bedenkliche Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Bild hatte. Dann erzählte sie von dem Zigarettenetui. „Ich war bei der Polizei", sagte sie. „Aber dieser Hendricks macht auf mich nicht den Eindruck, als könnte man sich in seiner Obhut so sicher wie im Schoß einer Mutter fühlen." „Er ist ein tüchtiger Mann", sagte Dawson gleichgültig. „Ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Brock wird bestimmt aufpassen, daß Ihnen nichts passiert." „Ihr Ton gefällt mir nicht", sagte sie spitz. „Wie soll ich diese Bemerkung verstehen?" „Er ist Ihr Verlobter." Er zuckte mit den Schultern. „Er hat die Pflicht, sich um Sie zu kümmern. Außerdem gehört ihm die Hütte."
„Offenbar mögen Sie Brock nicht besonders..." „Nein. Nicht besonders." „Warum?" Er antwortete nicht. „Wegen Johanna Lowell?" wollte sie wissen. „Sie haben das Mädchen geliebt, aber sie hat sich in Brock verliebt, und Sie glauben, sie hat sich seinetwegen umgebracht. Richtig?" „Die Leute behaupten, sie hat sich seinetwegen umgebracht." Dawson wich der Frage aus. „Ich glaube es nicht. Ich will es nicht glauben! Ich will nicht für möglich halten, daß sie seinetwegen ihr Leben weggeworfen hat." Aus seiner Stimme klang Haß, und Katherine blickte ihn bestürzt an. Ernst erwiderte Dawson den Blick, dann packte er sie an beiden Schultern, zog sie an sich und küßte sie. Sekundenlang war Katherine wie erstarrt. Als Dawson sie losließ, wirbelte sie herum und rannte aus dem Haus. Dawson folgte ihr nicht. Mit polizeiwidriger Geschwindigkeit jagte sie zurück zu Zenas Anwesen. Sie dachte daran, daß Dawson sie gewarnt hatte, mit Freundschaft allein wäre er nicht zufrieden, und er hatte nicht übertrieben. Sie hatte ihn für einen weltfremden Professor gehalten, aber das war ein Irrtum gewesen. Wollte Dawson sich an Brock rächen, weil dieser ihm Johanna gestohlen hatte, oder gefiel sie, Katherine, ihm wirklich? Sie verzichtete darauf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn auf diese Frage konnte nur Dawson eine Antwort geben, und ob sie ehrlich ausfallen würde, war keineswegs gewiß. Sie versuchte sich einzureden, daß die Antwort sie nicht interessierte, doch es gelang ihr nicht. Ihr fiel ein, daß sie sich nicht erkundigt hatte, weshalb Johannas Bilder nicht mehr in der Ausstellung waren. Hatte er sich deswegen mit der Verwaltung gestritten? War die Verwaltung dagegen, daß er die Bilder abräumte? Auch auf diese Frage gab es zunächst keine Antwort, sie war vermutlich auch nicht wichtig, jedenfalls nicht für sie, Katherine. Dawson mußte wissen, was er tat, und wenn er es nicht wußte, ging es sie auch nichts an. Die Sonne stand niedrig über dem Horizont, als Katherine den Wagen neben Zenas Haus parkte und zu der Hütte lief. Sie bereitete sich darauf vor, eine weitere Nacht in der gespenstischen Unterkunft verbringen zu müssen. Dann setzte beinahe ihr Herzschlag aus: Die Gardine, die sie offengelassen hatte, war ge-
schlossen! Also war wieder jemand in die Hütte eingedrungen... Katherine erwog, Zena um Hilfe zu rufen, doch sie fürchtete sich lächerlich zu machen. Sie kehrte um, holte sich die Axt vom Holzstoß hinter dem Haus und pirschte zur Tür der Hütte.
15. Der Eindringling war noch da. Er saß in einem Sessel am Kamin und lachte schallend, als er Katherine mit der Axt erblickte. „Brock!" „Liebling! Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen, ich wollte dich nur überraschen." „Es ist dir gelungen. Brock, was für eine wundervolle Überraschung..." Sie ließ die Axt zu Boden poltern und fiel ihm um den Hals und küßte ihn ab. Sie kam nicht auf den Gedanken, ihn zu fragen, warum er nicht eher gekommen war oder wenigstens noch einmal angerufen hatte, solche Kleinigkeiten erschienen ihr im Augenblick läppisch, doch er teilte ihr freiwillig mit, daß er den Zug, der ihm vor der Nase weggefahren war, als Omen gedeutet hatte: Er wollte ihr, Katherine, eine längere Frist gönnen, um sich darüber klar zu werden, ob sie wirklich entschlossen war, ihn zu heiraten. Er hatte aus einem Restaurant in San Francisco einen gut gefüllten Picknickkorb mitgebracht. Katherine deckte den Tisch am Fenster. Während es draußen dunkel wurde, aßen sie und redeten über ihre gemeinsame Zukunft. Später zog Brock einen Verlobungsring aus der Tasche und reichte ihn Katherine: einen großen Opal mit kleinen Brillanten in einer Weißgoldfassung. „Ein Opal...", sagte sie verwirrt. „Brock, bringen Opale nicht Unglück?" Er lachte, und sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Sie hatte über den Aberglauben der Menschen in Devil's Point gespottet, und nun benahm sie sich nicht weniger albern als sie... „Er ist ein Familienerbstück", sagte Brock. „Wenn wir Zeit haben, kaufe ich dir einen anderen Verlobungsring. Den Opal hättest du ohnehin bekommen, deswegen habe ich ihn dir mitgebracht." Sie fragte ihn, wann die Hochzeit sein sollte; er überließ ihr die Entscheidung. Er fragte, ob sie sich eine Hochzeitsreise nach Ha-
waii oder nach Acapulco vorgestellt hätte, und nun überließ sie die Entscheidung ihm. „Morgen früh fahre ich nach Los Angeles", sagte sie. „Ich habe noch eine Menge zu erledigen." „Nein", sagte er. „Bleib hier." „Aber Brock, ich muß einkaufen und meine Wohnung und meine Stellung kündigen! Ich kann nicht einfach auf und davon gehen und alles im Stich lassen!" „Hast du das noch nie getan? Einfach alles im Stich gelassen?" „Ich glaube nicht..." „Und das in achtundzwanzig Jahren! Du mußt auch diese Erfahrung machen, sie ist aufregend. Übrigens habe ich es mir eben überlegt - wir werden am Freitag heiraten. Abends." „Weshalb Freitag?" Sie begriff seine plötzliche Eile nicht. Sie spottete: „Warum nicht schon am Donnerstag?" „Freitag", beharrte er. Er zog einen Taschenkalender hervor und zeigte ihn ihr. „Am Freitag ist Vollmond, und ich bestehe auf Vollmond." „Du bist sentimental!" Sie freute sich über diese Entdeckung. „Schon möglich." Er lachte. „Du siehst, die Zeit reicht nicht, um nach Los Angeles und zurück zu fahren. Nach dieser Reise wärst du todmüde." „Dann muß ich meinen Job telefonisch kündigen. Mein Chef fällt bestimmt aus allen Wolken. Ich frage mich, ob er bald eine Nachfolgerin findet..." Tatsächlich war es ihr gleichgültig; Brocks Vorschlag fesselte sie. Allein die Vorstellung, gewissermaßen über Nacht ihr früheres Leben abzubrechen und ganz von vorn anzufangen, war faszinierend. „Meine Nachbarin soll meine Sachen packen und mir schicken." Die Nachbarin war eine Sekretärin, die sie drei Monate kannte, und eigentlich war sie keine richtige Nachbarin, sondern Katherine hatte mit ihr gemeinsam die Wohnung gemietet, weil für sie allein die Miete zu hoch war. „Na also", meinte Brock. „Jetzt entwickelst du Initiative." „Du wirst dich noch über mich wundern", versicherte sie. „Was machen wir morgen?" „Wir? Nichts. Ich werde nicht hier sein. Ich muß wieder in die Stadt." „In die Stadt?" Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie war enttäuscht. „Ich hab gedacht, wir lassen alles im Stich!"
„Aber nicht gleichzeitig." Er amüsierte sich. „Ich muß seriös werden, immerhin habe ich dann eine Familie zu ernähren. Am Freitag bin ich wieder da. Das sind noch zwei Tage, und du wirst überrascht sein, wie schnell sie vergehen." „Aber Brock..." Ihre Stimme klang schrill, und er blickte sie betroffen an. Sie zögerte, dann erzählte sie, was seit ihrer Ankunft geschehen war. Sie hatte keine Lust, allein in dieser Hütte zu bleiben, sie hatte Angst. Brock dachte nach. Er wollte das Zigarettenetui sehen, sie zeigte es ihm. „Ich weiß auch nicht, wem es gehört." Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann verstehen, wenn du nicht in der Hütte bleiben möchtest, in der Johanna gestorben ist. Du könntest zu Zena ins Haus ziehen..." „Lieber nicht. Dort treibt sich der alte Wickett herum." Sie überlegte, ob der alte Wickett nicht vielleicht das geringere Übel war, und kam zu keinem Ergebnis. „Brock, warum hat Johanna sich umgebracht?" „Die Leute behaupten, es war meinetwegen." Sein Gesicht wurde finster. „Sie war in mich verliebt. Sie war hübsch und interessant, und wenn ich am Wochenende nach Devil's Point kam, sind wir miteinander ausgegangen." „Und?" fragte sie. „Kein Und. Ich fühle mich unschuldig. Ich hab' sie nicht ersucht, sich in mich zu verlieben. Woher weißt du überhaupt von ihr? Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du davon nichts erfahren." „Die Einwohner dieser Stadt reden über nichts anderes", sagte sie. „Deren Sorgen möchte ich haben", erklärte er. „Aber für den Fall, daß wieder jemand bei dir einbrechen will, lasse ich morgen die Schlösser auswechseln." „Gut", sagte sie. „Vielleicht schlafe ich dann besser. Wenn ich schon allein schlafen muß..." „Nicht mehr lange." Er lachte leise, stand auf und küßte sie auf die Stirn. „Ich muß jetzt gehen." Sie begleitete ihn bis zu seinem Wagen, den er in die Garage gebracht hatte, damit Katherine, wie er sagte, nicht vorzeitig mitkriegte, daß er da war. Sie blickte ihm nach, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen waren, dann ging sie in die Hütte zurück,
nahm das Zigarettenetui vom Tisch und schleuderte es ins Meer. Zufällig blickte sie in Richtung Straße und entdeckte einen Streifenwagen, der langsam vorbeipatrouillierte. Sie war zufrieden, weil Hendricks offenbar wirklich aufpaßte, daß ihr nichts geschah. Sie verschloß und verriegelte die Tür und ging schlafen.
16. Um neun Uhr holte der Schlosser, den Brock bestellt hatte, Katherine aus dem Bett. Sie ließ ihn ins Haus und setzte sich im Morgenmantel in die Küche, während er nicht nur das Schloß an der Vordertür, sondern auch die an den Zimmertüren auswechselte und an den Fensterläden Riegel anbrachte. Sie hatte sich eben eine Tasse Kaffee eingegossen, als Ann kam. „Kaffee!" sagte sie verächtlich. Sie ging an den Schrank, kramte Tee heraus und erhitzte einen Topf Wasser. „Ich hatte gehofft, hier ein bißchen Ruhe zu finden, aber die Hütte ist eher noch lauter als meine Behausung." „Wieso geht es bei Ihnen auch laut zu?" wollte Katherine wissen. „David läßt seinen Plattenspieler mit äußerster Kraft laufen. Er arbeitet an der Skulptur, und wenn er arbeitet, macht er immer Musik, damit er den Straßenlärm nicht hört. Er will sich nicht mit mir unterhalten, er braucht mich auch nicht als Modell. Seine Phantasie genügt ihm." „Haben Sie sich mit David gestritten?" „Ein bißchen, wegen der Musik", bekannte Ann. Sie brühte den Tee auf, holte sich eine Tasse und setzte sich ebenfalls. „Ich war bei Zena, heute ist mein Haushaltstag, aber sie hat auf meine Hilfe verzichtet. Sie hatte einen Unfall." „Einen Unfall?" echote Katherine. „Sie ist gestolpert und die Treppe runtergefallen. Ihr Knöchel ist geschwollen. Der Doktor war schon bei ihr. Er sagt, der Knöchel ist nicht verstaucht, aber sie soll ihn heute schonen. Ich hätte bei ihr bleiben und sie mit Tee versorgen sollen. Ich hätte es auch getan, wenn sie mir nicht so auf die Nerven gegangen wäre. Sie benimmt sich, als hätte David es nur ihr zu verdanken, wenn er jetzt Erfolg hat. Angeblich hat sie ihn entdeckt." „Sie sind zu streng", wandte Katherine ein. „Sie war gut zu Ih-
nen, und ich fürchte, daß sie nicht mehr viel Freude im Leben hat. Immerhin ist sie Witwe und muß ständig den schwierigen alten Mann versorgen." „Wahrscheinlich haben Sie recht." Ann nagte an ihrer Unterlippe. „Jedenfalls braucht sie mich nicht. Charles Robinson ist bei ihr und umflattert sie wie ein Engel." „Ann!" Katherine lachte. „Auf wen sind Sie eifersüchtig - auf Charles oder auf Zena?" „Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig." Ann entdeckte den Opal an Katherines linkem Ringfinger. „Ein neuer Ring! Zur Verlobung? War Brock endlich hier?" „O ja", erklärte Katherine. „Und es ist wirklich ein Verlobungsring. Sie sind der erste Mensch, der davon erfährt. Am Freitag wollen wir heiraten." „Aber dann müssen Sie ja einkaufen!" Ann kicherte und klatschte in die Hände. „Ich kenne ein paar gute Läden in Morrisville, heute nachmittag können wir hingehen." „Morrisville..." Katherine erinnerte sich, daß sie vergeblich nach Morrisville gefahren war, um Brock abzuholen. Unvermittelt fiel ihr der Fächer wieder ein, den sie auf Zenas Dachboden aufgestöbert hatte. „Ann, was ich Sie noch fragen wollte - kennen Sie eine Elaine?" „Elaine?" Ann dachte nach. „Nicht persönlich. Zena hat einmal eine Elaine erwähnt, ich glaube, sie ist in San Francisco mit ihr zur Schule gegangen. Charles scheint sie auch zu kennen. Ist sie wichtig?" „Vermutlich nicht. Ich war nur neugierig." Katherine hörte, wie der Schlosser das Haus verließ und die Tür zuknallte. „Wollen wir an den Strand gehen?" „Gern." Ann trank den Tee aus. „Warum haben Sie übrigens die Schlösser auswechseln lassen - haben Sie jetzt doch Angst vor den Gespenstern?" Katherine warf ihr einen giftigen Blick zu und ging nach oben, um sich anzuziehen. Als sie wieder herunterkam, war Ann schon vor der Tür und wartete ungeduldig. Sie kletterten die Holzstiege hinunter, zogen die Schuhe aus und wateten in die Brandung hinaus. „Wir müssen Zena sagen, daß Sie und Brock sich verlobt haben", meinte Ann. „Sie wird staunen! Ihr Bruder ist schon so lange Junggeselle, daß sie bestimmt nicht mehr mit seiner Heirat
gerechnet hat." Katherine antwortete nicht. Sie hielt Ausschau nach dem Zigarettenetui, das sie in der Nacht aus dem Fenster geworfen hatte, aber es war nicht zu sehen. Sie war grundlos enttäuscht. „Suchen Sie was?" fragte Ann. „Ich habe gehofft, eine hübsche Muschel zu finden", log Katherine. „Anscheinend hat schon jemand vor mir sämtliche Muscheln entdeckt und eingesteckt." Sie streckten sich in der Sonne aus und genossen die Stille und das herrliche Wetter, später gingen sie zu Zena. Sie lag im Wohnzimmer auf der Couch, und Robinson benahm sich in der Tat wie ein geschulter Krankenpfleger; Ann hatte nicht übertrieben. Er hatte Zena auch den Tee serviert, den Ann ihr vorenthalten hatte. „Ich weiß nicht, wie es passiert ist", maulte Zena. „Da war buchstäblich nichts, über das ich hätte stolpern können, und trotzdem bin ich die Treppe hinuntergesegelt." „Sie arbeiten zuviel, Zena", erklärte Robinson scheinbar bekümmert und setzte sich zu ihr ans Fußende. „Das große Haus und der alte Mann! Sie müßten ein Dienstmädchen haben, das jeden Tag hier ist." Er lächelte zu Ann hinüber. Sie zuckte mit den Schultern und zog einen Flunsch, Zena lachte. Katherine rümpfte die Nase. Robinson verbreitete einen Duft wie eine Parfümerie; offenbar hatte er in Rasierwasser gebadet. Obwohl es noch früh war, hatte er schon Schatten am Kinn; er schien einen ungewöhnlich üppigen Bartwuchs zu haben. Die dunkle Backenpartie ließ ihn ein wenig liederlich erscheinen, seine Eleganz konnte daran nichts ändern. „Heutzutage gibt es keine Domestiken mehr", behauptete Zena. Sie wandte sich an Katherine. „Haben Sie keine angenehmen Neuigkeiten, die Sie mir mitteilen wollen, meine Liebe?" Katherine begriff, daß Zena über den Grund von Brocks Besuch unterrichtet war, vielleicht hatte er auch in der Zwischenzeit mit ihr telefoniert. Sie verriet ihr die angenehme Neuigkeit, und Zena und Robinson gratulierten. Robinson versprach, ihr bei der nächsten Gelegenheit einen riesigen Blumenstrauß zu schenken. Katherine bedankte sich artig. Sie verabredete sich mit Ann für zwei Uhr nachmittags und kehrte in die Hütte zurück. Sie besichtigte die neuen Schlösser im Erdgeschoß und ging hinauf ins Schlafzimmer. An der Tür blieb sie wie angewurzelt stehen. Auf dem Toilettentisch lag ein Zigarettenetui, das genauso aussah wie
das andere. Sie dachte an Anns Frage, ob sie die Schlösser hatte auswechseln lassen, weil sie nun doch Angst vor Gespenstern hatte. Aber Schlösser konnten Gespenster nicht zurückhalten, einmal angenommen, daß es wirklich Gespenster gab, und wenn eine ganze Stadt daran glaubte und obendrein verwirrende Dinge geschahen, war es schwer, sich auf Dauer diesem Einfluß zu entziehen. Wer spielte hier mit dem Etui herum - und weshalb? Wollte man sie einschüchtern und aus Devil's Point vertreiben, so wie anscheinend Patty Cake vertrieben worden war? Mit unsicheren Schritten ging Katherine zum Toilettentisch. Das Etui war tatsächlich dasselbe, aber jetzt waren zusätzlich ihre eigenen Initialen eingeritzt: K.S. Wieder dachte sie verzweifelt nach. Vielleicht sollte das Etui keine Drohung sein, sondern eine Warnung: Sei vorsichtig, was mit Patricia Carson geschehen ist, kann auch dir widerfahren? Aber was sollte oder konnte geschehen - und von wem? Sie öffnete das Etui; es war leer. Sie beschloß, noch einmal zur Polizei zu fahren. Sie zwang sich, langsam zu ihrem Wagen zu gehen - wer immer sie beobachtete, brauchte nicht zu merken, in welcher Verfassung sie sich befand - und fuhr in normalem Tempo zum Trail of Foreboding und zum Haus der State Police. Hendricks saß wieder hinter seinem Schreibtisch und begrüßte sie jovial wie eine liebe, aber etwas närrische Freundin. „Alles in Ordnung, Miß Spencer?" fragte er. „Einer meiner Männer hat die ganze Nacht das Haus bewacht, ihm ist nichts besonderes aufgefallen." „Alles ist in Ordnung", erwiderte sie und scheute sich plötzlich, das Etui zu erwähnen. „Mir ist nur eingefallen, daß ich gestern vergessen habe, Ihnen etwas zu erzählen. Ich habe einen Mann zwischen dem Haus und der Hütte gesehen, er hat sich dort im Dunkeln herumgetrieben. Vielleicht war er der Einbrecher." „Können Sie ihn beschreiben?" Sie beschrieb ihn, wie der Betrunkene am ersten Abend den Mann beschrieben hatte, den er überfahren haben wollte, und hoffte, von Hendricks nicht ausgelacht zu werden. „Er war ziemlich groß und hatte helle Haare", erklärte sie. „Er hat eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Mann auf einem von Johanna Lowells Bildern, die vorigen Sommer in der Hütte gewohnt hat. Die Bilder sind in der Stadt ausgestellt, das heißt, sie waren
es. Wahrscheinlich ist sie auch diesem Mann begegnet." Hendricks nickte. „Ich kenne das Bild. Der Mann ist Roger Wickert." „Aber nein! Das ist nicht möglich! Roger Wickett war doch schon lange tot, als..." Hendricks grinste breit. „Aber ich hab's Ihnen doch gesagt, Miß Spencer - Gespenster!" In diesem Augenblick fiel es Katherine schwer, nicht an Gespenstern zu glauben. Bisher war der Mann auf dem Bild und unter den Bäumen kaum mehr als ein Schemen gewesen, nun nahm er Gestalt an. Roger Wickett erschien ihr plötzlich sehr wirklich und sehr nah. Aber Roger Wickett war seit fünf Jahren tot. Johanna konnte ihn nicht gesehen haben! Natürlich konnte sie eine Fotografie verwenden, aber warum sollte sie? Bestimmt hatte Johanna ihn gesehen, und auch Patty hatte ihn gesehen. Vermutlich hatte Patty das Bild gekannt, und dann hatte sie Roger wiedererkannt. Johanna war tot, Patty war verschwunden, vielleicht auch tot. War sie, Katherine, die nächste? Roger Wickett machte den Wald rings um die Hütte unsicher, soviel schien festzustehen. Aber warum? Der Betrunkene war Roger begegnet, ihm selber oder seinem Gespenst, und Zena hatte kühl behauptet, niemanden zu kennen, auf den diese Beschreibung paßte. Andererseits konnte sie nicht sagen: Machen Sie sich nichts draus, das war nur der Geist meines verstorbenen Mannes... Zena war nicht überrascht gewesen. Also hatte sie gewußt, daß Roger in der Nähe war! Katherine hatte noch Zenas Stimme im Ohr, als sie erklärte, wie zerstörerisch Liebe sein konnte, sie hatte Katherine ermahnt, keinen Mann so zu lieben, wie sie selbst Roger geliebt hatte. Damals war Katherine nur neugierig gewesen. Jetzt war sie mehr als neugierig. Jetzt wollte sie endlich Bescheid wissen. Taumelig, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht, stand sie auf und tappte zur Tür. Sie wandte sich noch einmal um, „Entschuldigen Sie. Können Sie mir sagen, wo der Friedhof ist?" Hendricks sah sie erschrocken an, und sie genoß seine Bestürzung. Er hatte sich über sie amüsiert, nun amüsierte sie sich über ihn. Er beschrieb ihr den Weg zum Friedhof, und sie bedankte sich und ging. Sie stellte sich vor, daß er sich den Rest des Tages den Kopf zerbrechen würde, weshalb sie zum Friedhof wollte.
Vielleicht hatte er eine Vision, daß sie sich mit Hacke und Schaufel an die Arbeit machte, um den verblichenen Roger zu exhumieren.
17. Das Familiengrab der Wicketts befand sich im Schatten eines hohen, alten Baums. Roger war neben seiner Mutter begraben, die Virginia hieß. Das Grab war vorzüglich gepflegt. Katherine prägte sich Rogers Todestag ein und hastete zurück zu ihrem Wagen. Zur vereinbarten Zeit holte sie Ann ab und fuhr mit ihr nach Morrisville. Unterwegs plauderte sie mit ihr über die Spitzenwäsche, die sie kaufen wollte, aber sie war unkonzentriert. Die wirkliche Welt war unwirklich geworden und wurde es mit jeder Minute mehr. „Es gibt einen Aberglauben", sagte Ann, „daß man das Nachthemd, das man in der Hochzeitsnacht trägt, im selben Jahr nicht noch einmal anziehen darf, sonst bringt es Unglück. Was halten Sie davon?" „Ich weiß nicht", sagte Katherine abwesend. „Sie sind Experte für solche Fragen. „Was halten Sie denn selber davon?" „Ich glaube lieber nicht daran." Ann lachte. „Ich möchte auf ein hübsches Nachthemd nicht so lange verzichten müssen." „Da wir gerade bei Aberglauben sind", meinte Katherine. „Wenn es in der Hütte der Wickett spuken sollte, wenn dort Gespenster sein sollten - warum spuken sie? Würde ein Gespenst zum Beispiel einen Menschen töten, zum Beispiel einen Menschen, den es zu Lebzeiten - zu Lebzeiten des Gespensts - gar nicht gekannt hat?" Ann wurde ernst. „Gespenster können niemand umbringen und sie spuken auch nur an Orten, die ihnen etwas bedeuten. Gespenster sind harmlos. Alle übernatürlichen Wesen sind harmlos. Sie können den Menschen nur den Verstand verwirren. Haben Sie je gehört, daß ein Mensch durch einen Geist Schaden genommen hat?" Auf diesen Gedanken war Katherine noch nicht gekommen. Tatsächlich hatten viele Menschen eine instinktive Angst vor Gespenstern, ohne sich Rechenschaft über die etwaigen Gründe zu
geben. Vielleicht also war das Gespenst der Hütte ihr, Katherine, freundlich gesonnen und wollte sie mit dem Etui vor einem Schicksal warnen. Ann beobachtete sie von der Seite. Katherine begriff, daß sie eine Antwort erwartete. „Ich habe jemand gesehen", sagte sie leise, „den ich gar nicht gesehen haben kann. Roger Wickett." „Wirklich?" Ann war ganz aufgeregt. „Er ist auf einem von Johannas Bildern, wir haben uns immer gefragt, woher sie wußte, wie er ausgesehen hat. Kennen Sie das Bild? William Dawson hat es gestern mit den anderen abgehängt." „Ich kenne das Bild", erwiderte Katherine. „Ann, warum hat er Johannas Gemälde in die Lagerhalle gebracht?" „Wegen Charles Robinson." „Robinson hat verlangt, daß die Bilder entfernt werden?" „Nein." Ann schüttelte den Kopf. „Dawson wollte verhindern, daß Robinson sie zu sehen bekommt. Robinson hätte sie vielleicht gekauft, und Dawson hätte nichts dagegen unternehmen können. Er möchte, daß die Bilder der Ausstellung erhalten bleiben. Er hat Johanna geliebt, und die Bilder sind für ihn ein Andenken. Ich fürchte, Johanna war die einzige Frau, die er je geliebt hat." Katherine war ein wenig skeptisch. Ihr gegenüber hatte Dawson sich nicht benommen, als könnte er Johanna nicht aus seiner Erinnerung vertreiben. Aber vielleicht hatte Ann trotzdem recht. Vielleicht identifizierte Dawson im Unterbewußtsein sie, Katherine, mit Johanna, weil sie wie Johanna in Brock verliebt war? Vielleicht hatte er selbst Johanna in den Tod getrieben, weil er sie dem Rivalen Brock nicht gönnte? Vielleicht versuchte er nun sie, Katherine, in den Tod zu treiben - aus dem gleichen Grund? Dann wollte Roger Wickert sie vor Dawson warnen! Dann war Roger Wickert also ein freundliches Gespenst! Nach Johanna war Patty in die Hütte eingezogen. Hatte Dawson sie ebenfalls auf dem Gewissen, weil er möglicherweise den Verstand verloren hatte und hinter allen Frauen herjagte, die in der Hütte lebten, da er sie mit Johanna identifizierte? Sekundenlang erwog sie umzukehren und Zena in ihre Überlegungen einzuweihen, doch sie konnte sich dazu nicht durchringen. Vorläufig konnte sie nur Spekulationen anstellen, sie hatte nicht die Spur eines Beweises, und ihr einziger Trost waren die neuen Schlösser. Nur Gespenster konnten die Türen passieren,
und Gespenster waren harmlos. Trotzdem hatte sie Angst. „Ann", sagte sie, „wenn David so beschäftigt ist, könnten Sie doch die Nacht bei mir verbringen. Ich... ich fühle mich nicht wohl, wenn ich an Roger Wicketts Geist denke." „Ich denke mit Vergnügen an den Geist!" Ann lachte. „Okay, ich schlafe bei Ihnen. Ich hoffe, daß Roger mich nicht enttäuscht." Katherine brachte den Wagen vor dem Bahnhof zum Stehen. Ann zeigte ihr den Laden, in dem es extravagante Nachthemden und aufregende Spitzenwäsche gab, und Katherine kaufte blindlings, was Ann ihr zu kaufen vorschlug. Als sie wieder auf die Straße traten, parkte dort Robinsons Sportwagen. Er war ihnen gefolgt, so teilte er mit, denn er wollte Ann für den Abend zu einem Studentenfest an den Achat-Strand einladen. Ein Lagerfeuer sollte abgebrannt, Fische sollten gebraten werden, und angeblich gab es auch Musik und Wein. Zena lag mit ihrem geschwollenen Knöchel fest, und David hatte keine Zeit. Hatte Ann Lust, ihn, Robinson, zu begleiten? Ann hatte Lust, aber sie wollte Katherine mitnehmen. War Robinson damit einverstanden, und was hielt Katherine davon? Katherine sagte zu, und auch Robinson versicherte, diesen Einfall vorzüglich zu finden. Katherine sah ihm an, daß er sie nur wohl oder übel in Kauf nahm. Er wäre lieber mit Ann allein gewesen. „Katherine wird gewiß ihre Einkäufe nach Hause bringen wollen", meinte er. „Zena hat mir einen Zettel mitgegeben, ich soll Lebensmittel beschaffen, und davon verstehe ich nichts. Ann, Sie könnten mir helfen." Ann zögerte, und Katherine wartete, bis sie sich entschieden hatte. Zufällig blickte sie zur anderen Straßenseite und entdeckte ein farbloses Sandsteingebäude, in dem die Bibliothek des Bezirks untergebracht war, wie ein Schild über der Tür verriet. In der Bibliothek war bestimmt ein Zeitungsarchiv, vielleicht gelang es ihr, mehr über Roger Wicketts jähes Ableben zu erfahren... Sie riet Ann, Robinson bei seinen Bemühungen zu unterstützen. Robinson schien sich zu freuen. Als die beiden aus dem Blickfeld verschwunden waren, lief Katherine in die Bibliothek. Sie ließ sich die Zeitungen von vor fünf Jahren aushändigen und blätterte. Unter dem Datum vom 27. November war ein Bericht über Roger Wickett, Bürger der Stadt Devil's Point, Sohn von Mr. Gerald Wickett und der verstorbenen Mrs. Victoria Wickett, der bei einem Unfall zu Tode gekommen war. Ein Freund von Roger Wickett, ein
gewisser Alan Burke aus San Francisco, war ebenfalls tödlich verunglückt. Sie hatten sich in einer Höhle befunden, die allgemein The Eye genannt wurde, weil der Eingang an ein Auge erinnerte, und waren in eine zweite Höhle abgestürzt. Die zweite Höhle hieß The Mouth. Sie hatte senkrechte Wände und im Boden ein Loch, durch das bei Flut das Wasser drang. Wickett und Burke waren aus der Höhle nicht mehr herausgekommen, und als die Flut einsetzte, waren sie ertrunken. Der Schreiber stellte Vermutungen an, daß die beiden Männer auf der Jagd gewesen waren, denn Wickett hatte einen Jagdanzug getragen; außerdem war in der Höhle ein Gewehr gefunden worden. Alan Burke und seine Frau Elaine, geborene Wong, hatten erst kurz vorher geheiratet und in der Gästehütte der Wicketts ihre Flitterwochen verbringen wollen. Katherine schlug die Zeitung zu. Sie war zufrieden, daß sie nun wenigstens die geheimnisvolle Elaine gefunden hatte; sie verstand auch, daß Elaine Zena den Fächer geschenkt und mit einer Widmung versehen hatte. Beide Frauen hatten am selben Tag ihre Männer verloren; sie hatten sich gegenseitig getröstet. Anscheinend war Elaine nach San Francisco zurückgekehrt, jedenfalls hatte der Schreiber, offenbar ein Gründlichkeitsfanatiker, ihre Adresse in San Francisco angegeben. Katherine fuhr nach Hause und breitete ihre Einkäufe auf dem Bett aus. Sie war verschwitzt und beschloß die Zeit auszunützen, bis Ann und Robinson sie abholten, um zu baden. Wieder erfüllte der Geruch des Badesalzes die Hütte, und Katherine bedauerte, es so reichlich benutzt zu haben. Sie bekam Kopfschmerzen davon, die sich auch durch Aspirin nicht vertreiben ließen. Sie überlegte, ob sie nicht am nächsten Tag nach San Francisco fahren sollte. Möglicherweise war Roger Wickett ein freundliches Gespenst und wollte sie wirklich nur vor Dawson warnen, aber ein Quartier ohne Gespenst und fern von Dawson war ihr sympathischer, zumal das Gespenst ihr Dawson nicht vom Leibe halten konnte, wenn sie die Warnung mißachtete. Brock war bestimmt ein zuverlässiger Beschützer, von der Distanz zwischen San Francisco und Divil's Point einmal ganz abgesehen. Aber vielleicht war es angebracht, noch einmal mit Ann zu sprechen und ihren Rat einzuholen. Katherine fühlte sich so unselbständig wie noch nie in ihrem Leben und war froh, daß sie die Verantwortung für sich nun bald in Brocks kräftige Hand legen konnte.
18. Robinson holte sie erst nach Einbruch der Dunkelheit ab. Er war allein. Sie fuhr mit ihm in seinem Sportwagen zu Anns Motel. Ann erwartete sie vor dem Büro, und Katherine begriff, daß David von Anns Verabredung mit Robinson nichts wissen sollte. Sie parkten den Wagen an der Stelle, wo Dawsons Jeep stand, als Katherine ihn kennengelernt hatte. Am Rand des Wassers flackerte bereits ein Feuer, junge Leute hantierten mit Kochgerät, einige klimperten auf Gitarren. Robinson und seine Begleiterinnen gingen zum Strand. „Hallo, Fremdling", sagte einer der Studenten zu Katherine. „Willst du Bier oder Cola?" „Cola", sagte Katherine. „Bier macht müde, und ich möchte gern wach bleiben." „Lobenswert", meinte der Student. „Wenn man wach ist, hat man mehr davon. Übrigens heiße ich Bob." Er legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zu einem Stapel Kisten, die nicht nur Bier und Cola, sondern auch härtere Getränke enthielten. Er öffnete für sie die Flasche und überreichte sie ihr mit einer tiefen Verbeugung. „Bob", sagte sie, „hier gibt's eine Höhle, die vom Volksmund Eye genannt wird. Kennst du sie?" „Natürlich. Sie ist eine Viertelmeile dort hinüber." Er deutete in die angegebene Richtung und zwinkerte Katherine vertraulich zu. „Wollen wir miteinander die Höhle erkunden?" „Danke." Sie lachte. „Hier gefällt's mir bestimmt besser." „Das kann man vorher nicht wissen", sagte er. „Es kommt auf einen Versuch an." „Richtig", sagte sie. „Es kommt immer auf einen Versuch an." Nach einer Weile gelang es ihr, ihn abzuschütteln. Sie spazierte am Meer entlang zu der Höhle. Dort fiel das Ufer steil ab, davor war nur ein schmaler Sandstreifen, der knöchelhoch überspült wurde. Schon aus einiger Entfernung sah sie den Eingang, der in der Tat an ein Auge mit hängendem Lid erinnerte. Neugierig drang sie in die Höhle, aber von innen unterschied sie sich durch nichts von anderen Höhlen. Katherine ließ die Taschenlampe aufflammen, von der sie sich nicht mehr trennte, seit Zena
sie ihr überlassen hatte, und beleuchtete die Wände. Sie waren in keiner Weise bemerkenswert. Vorsichtig pirschte sie weiter. Sie hätte nicht sagen können, was sie hier zu finden erwartete, gewiß keine Spur von Roger Wickett oder seinem Geist, trotzdem brachte sie es nicht über sich, umzukehren und zu Ann und Robinson und den Leuten am Feuer zurückzugehen, deren Stimmen bis zu ihr schallten. Als sie hinter sich das Rauschen der Brandung hörte, fuhr sie erschrocken herum. Wo ihr vorhin das Wasser nur bis an die Knöchel gereicht hatte, waren nun hohe Wellen, der Rückweg war versperrt. Besorgt erinnerte Katherine sich an Zenas Mahnung, daß in dieser Gegend die Flut sehr schnell stieg, dann fiel ihr der Zeitungsbericht über Roger Wickett und Alan Burke ein, die in dieser Höhle ertrunken waren. Wenn sie sich wirklich auf der Jagd befunden hatten, mußte es noch einen zweiten Zugang zu der Höhle geben, denn sie waren bestimmt nicht durchs Wasser gewatet. Sie lief tiefer in die Höhle. Rechts und links zweigten weitere Höhlen ab, aber Katherine wagte nicht, vom Weg abzuweichen. Sie hatte Angst, sich zu verirren. Plötzlich hörte sie vor sich Schritte. Sie dachte nicht mehr an Gespenster, sie dachte an Bob, der ihr vielleicht gefolgt war. „Bob!" rief sie. „Bob!" Die Schritte wurden lauter, Katherine rannte ihnen entgegen. Hinter einem Felsen tauchte eine Gestalt auf, Katherine prallte beinahe mit dem Mann zusammen und blieb entsetzt stehen. „William!" flüsterte sie. Sein Gesicht im Licht der Taschenlampe war bleich und verkniffen. Katherine taumelte zurück. Ihre Spekulationen vom Nachmittag schossen ihr durch den Kopf: Falls Dawson tatsächlich Johanna und Patty auf dem Gewissen hatte, dann war sie, Katherine, sein nächstes Opfer... Sie schrie gellend auf und hörte, wie das Echo in der Höhle widerhallte. Dawson musterte sie finster. „Wovor fürchten Sie sich?" wollte er wissen. „Ich... ich bin nicht Johanna", stammelte sie. „Das weiß ich, aber Sie haben sich ganz ähnlich aufgeführt, und ich hatte nicht mal genügend Verstand, Ihnen aus dem Weg zu gehen. Brock Bradley und sein verfluchter Charme!" „William, hören Sie zu, seien Sie vernünftig! Sie lieben mich
nicht, Sie bilden es sich vielleicht ein, aber in Wirklichkeit lieben Sie Johanna, es ist alles nur eine Verwechslung, Sie kennen mich kaum..." „Aber Bradley kennt Sie!" höhnte er. „Wie viele Stunden waren Sie mit ihm zusammen? Bestimmt weniger als mit mir!" Sie schwieg. Sie wußte, daß er recht hatte, aber die Zahl der Stunden allein war nicht entscheidend. Vielleicht war es wirklich Brocks Charme... Dawson setzte sich auf den Boden und blickte ironisch zu ihr auf. Schüchtern trat sie näher, sie hatte nicht mehr den Eindruck, daß er sie ermorden wollte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte mich für gestern entschuldigen", sagte er kleinlaut. „Es ist mit mir durchgegangen. Ich hab nicht die Absicht, Sie noch einmal zu küssen, Ihre Angst ist also ganz und gar überflüssig." Sie brach in ein hysterisches Gelächter aus, und Dawson runzelte die Stirn. Er schien sie nicht zu begreifen; außerdem war er gekränkt. „Es tut mir leid", sagte sie schließlich. „Ich habe angenommen, Sie wollen mich umbringen." Er klappte verblüfft den Mund auf. Katherine setzte sich zu ihm und weihte ihn in ihre Spekulationen ein, sie teilte ihm auch mit, was in der Zwischenzeit geschehen war und was sie in der Bibliothek gefunden hatte. Dawson schüttelte den Kopf. „Ein wahnsinniger Mörder..." Er überlegte. „Der Einfall ist gar nicht so dumm, einmal abgesehen davon, daß ich nicht der Mörder bin. Wenn wir nur wüßten, wo Patty geblieben ist! Leider wissen wir nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt." „William", sagte sie, „hat Patty auch Brock geliebt? Wie Johanna und ich. Es wäre doch ein Anhaltspunkt!" „Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur einmal mit ihr unterhalten, nämlich als ich sie bat, mir zu helfen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß in diesem Fall Eifersucht das Mordmotiv sein soll. Es geht um etwas anderes, vermutlich hängt alles mit der Hütte zusammen. Wir haben noch darüber gespottet, daß es dort angeblich spukt. Ich hatte keine Ahnung, daß der Mann auf dem Bild Roger Wickett war. Als ich nach Devil's Point kam, war er schon tot." Sie schwieg. Dawson merkte, daß sie fror, und legte ihr wieder die Jacke um die Schultern.
„Sie sollten nicht in der Hütte bleiben", sagte er nach einer Weile. „Wenn es den Mörder tatsächlich gibt, ist jeder Augenblick in diesem Gebäude lebensgefährlich. Ich wollte morgen früh nach San Francisco fahren, ich kann aber auch heute noch fahren und Sie mitnehmen." „Danke für das Angebot", sagte sie. „Ich hatte selbst schon erwogen, wieder nach San Francisco zu gehen. Wahrscheinlich werde ich es tun, aber nicht mitten in der Nacht. Heute schläft Ann bei mir, es kann also nicht viel passieren, und morgen will ich mich von Zena verabschieden, wie es sich gehört. Brock ist in San Francisco. Ich kann ihn von dort aus anrufen und in dem Hotel wohnen, in dem ich vor meiner Reise nach Devil's Point gewohnt habe, bis..." Sie verstummte. „Bis wann?" fragte er. „Bis zur Hochzeit?" „Ja", sagte sie lahm. „Bis zum Freitag." „Sie haben's aber eilig." Er grinste gutmütig. „Dann will ich Ihnen mal den Weg aus dieser Höhle zeigen, sonst kommen Sie zu Ihrer eigenen Hochzeit zu spät." Er ging voraus. Vor einem Loch in der Felswand blieb er stehen und deutete mit dem Daumen. Katherine gab ihm seine Jacke wieder und stieg in das Loch. Es war so eng, daß sie kriechen mußte. „William", sagte sie, „hier drin ist es furchtbar! Gibt es keinen anderen Weg?" „Vielleicht gibt's einen", knurrte er, er war dicht hinter ihr, „aber ich kenne ihn nicht." „Wie lang ist dieser Schlauch?" „Ziemlich lang. Halten Sie jetzt lieber den Mund und schonen Sie Ihre Kraft." Einige Minuten später kündigte ein Schwall frischer Luft das Ende der Passage an, und Sekunden später waren Katherine und Dawson im Freien. Sie befanden sich hoch über dem Strand, die Menschen am Feuer waren winzig wie Ameisen. „Ob ich wieder hinuntergehe?" Sie war unentschlossen. „Es ist so eine herrliche Nacht, richtig romantisch..." „Ich bringe Sie lieber nach Hause", erklärte er. „Diesmal gehe ich mit bis an die Tür!" Sein Jeep stand hinter Robinsons prächtigem Auto und sah noch schäbiger aus als sonst. Dawson und Katherine stiegen ein und
fuhren stumm zu Zenas Haus. Dawson begleitete Katherine zu der Hütte und kehrte um. Roger Wicketts Geist war nirgends zu entdecken. Katherine versperrte die Fenster und Türen und beschloß wach zu bleiben, damit sie hörte, wenn Ann kam. Aber Ann kam nicht. Einige Male spähte Katherine aus dem Fenster, um Ausschau nach Ann zu halten, zum letztenmal morgens um drei. Wieder erschrak sie zu Tode. Roger Wickett stand einen Meter von ihr entfernt vor der Scheibe und starrte ausdruckslos ins Zimmer. Katherine ließ hastig die Läden herunter. Sie zitterte und war jetzt entschlossen, keinen Tag länger in dieser Hütte zu bleiben. Ann kam erst, als es im Osten schon wieder hell wurde. Katherine war noch wach und ließ sie wortlos herein.
19. Am Morgen regnete es. Katherine packte ihre Koffer und ging zu Zena, um sich zu verabschieden. Sie teilte ihr mit, daß sie in San Francisco wohnen wolle, bis sie und Brock am Freitag heirateten. Zena blickte sie erstaunt an, sagte aber nichts. Ann frühstückte mit Katherine in der Küche, und auch jetzt verlor sie kein Wort über die vergangene Nacht. Katherine zweifelte nicht daran, daß sie David erzählen würde, sie hätte in der Hütte geschlafen, und genau genommen war es nicht einmal gelogen. Bestimmt erkundigte er sich nicht, wie lange sie geschlafen hatte. „Wenn Roger Wickett hier herumspukt", sagte Ann unvermittelt, „dann nur, weil Zena ihn mit ihrer Schwarzen Magie aus dem Jenseits zurückgerufen hat." „Schwarze Magie!" sagte Katherine mitleidig. „Ann, das ist lächerlich!" „Lächerlich?! Vor ein paar Tagen haben Sie auch noch behauptet, an Gespenster zu glauben wäre lächerlich!" „Daran ist etwas Wahres", räumte Katherine ein. „Jedenfalls bin ich froh, daß ich diese Hütte verlassen kann." „Sie ist wirklich ein bißchen unheimlich", bestätigte Ann. „Das alte Haus mit Zena macht sie noch unheimlicher." „Sie scheinen Zena für eine Art Hexe zu halten..." „Sie ist eine Hexe! Sie weiß alles über Okkultismus und lebt allein mit dem verrückten Wickett, so etwas macht nur eine Hexe."
„Wickett ist nicht richtig verrückt, er hatte nur einen Schlaganfall. Außerdem benimmt er sich anständig, ich hab' ihn überhaupt nur einmal zu Gesicht bekommen." „Ja", meinte Ann nachdenklich, „als hätte Zena ihn an eine Kette gelegt." „Nein!" sagte Katherine. „Ann, das ist geschmacklos!" Ann half ihr, die Koffer zum Wagen zu schleppen. Katherine stieg ein und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang nicht an. „Sollen wir alles wieder reintragen?" erkundigte sich Ann. „Sie kommen heute nicht mehr weg." Katherine stieg aus, ihre Hände waren feucht. Plötzlich war sie davon überzeugt, daß jemand absichtlich den Wagen beschädigt hatte, um sie zum Hierbleiben zu zwingen. „Ich komme weg!" entschied sie. „Ich nehme ein Taxi." „Nach San Francisco? Das kostet ein Vermögen!" „Nicht nach San Francisco, sondern bis zur nächsten Bahn- oder Busstation." Sie wollten eben zum Haus gehen, um nach einem Taxi zu telefonieren, als Dawson seinen Jeep vor der Einfahrt zum Stehen brachte. „Ich möchte mich nur vergewissern, daß Sie die Nacht überlebt haben", sagte er. „Stimmt etwas nicht mit dem Wagen?" Sie berichtete von der scheinbaren oder tatsächlichen Sabotage. Dawson lud ihre Koffer in den Fond, sie kletterte zu ihm in den Jeep und winkte Ann noch einmal zu, dann versanken das Haus und die alten Bäume hinter ihr im Regen. Auch in San Francisco regnete es, und der Nebel lastete in den Straßen. Obwohl es noch früher Nachmittag war, brannten bereits die altmodischen Laternen am Rand der Gehsteige und zeichneten helle Kreise auf das Pflaster. Dawson steuerte den Wagen zur Stadtmitte. „Wo soll ich Sie absetzen? " wollte er wissen. Sie nannte ihm den Namen des Hotels; er kannte es. „Ich werde Brock erst später anrufen", sagte sie. „Ich möchte ihn nicht bei der Arbeit stören. Wollen wir gemeinsam versuchen, einen Fachmann für die Inschrift auf der Muschel zu finden?" „Gern." Er nickte. „Ein Kollege im Institut hat mir die Adresse
eines chinesischen Freunds gegeben. Die Frage auf der Muschel kann er sicher entziffern, mit der Antwort wird es wahrscheinlich schwieriger." Er bremste vor dem Hotel und half Katherine, die Koffer ins Foyer zu bringen. Katherine meldete sich an, ließ die Koffer ins Zimmer schaffen und ging mit Dawson zum Jeep. Dawson fuhr in die Chinesenstadt und stellte den Wagen in der Grand Avenue ab, um den Rest des Wegs zu Fuß zurückzulegen. Katherine betrachtete die Schaufenster, die mit Kimonos, Eßstäbchen und Andenken für Touristen vollgestopft waren. Nur wenige Passanten waren unterwegs; das Wetter hielt sie zu Hause. An einer Ecke blieb Dawson stehen und durchsuchte seine Taschen nach der Adresse, die der Kollege ihm mitgegeben hatte. Er reichte Katherine die Muschel mit der Bitte, sie einen Augenblick zu halten. Katherine nickte und ging, zu einem weiteren Schaufenster. Sie achtete nicht auf den Boden, stolperte über einen Stein, ließ die Muschel fallen und hörte entsetzt, wie sie zerschellte. „Mein Gott, William!" sagte sie erschüttert. „Sehen Sie sich das an..." Er sammelte die Scherben ein, dann zuckte er mit den Schultern und warf sie weg. Er wischte sich die Hände an der Hose ab. „Es ist sinnlos", sagte er. „Diese Muschel setzt niemand mehr zusammen. Wir können uns nur einbilden, sie nie gefunden zu haben." „Ich bin verzweifelt." „Dazu besteht kein Grund." Trotzdem war sie zerknirscht, als Dawson sie weiterführte und in ein chinesisches Restaurant schob, damit sie sich ein wenig von dem Schock erholte. Es duftete angenehm nach Essen, und beide erinnerten sich daran, daß sie seit dem Frühstück gefastet hatten. Dawson bestellte eine Mahlzeit, von deren Existenz Katherine bis zu diesem Augenblick nichts geahnt hatte. Das Essen war ausgezeichnet, Katherine war angenehm überrascht. Sie beschloß, öfter in dieses Lokal zu gehen, wenn sie mit Brock verheiratet war und in San Francisco wohnte. Ihre Gedanken wanderten von Brock zu seiner Schwester, und plötzlich fiel ihr Elaine Burke geborene Wong ein, sie erinnerte sich auch an ihre Adresse. „William", sagte sie, „ich möchte Elaine Burke besuchen."
„Gern", sagte er. „Soll ich mitkommen?" „Sie müssen! Elaine Burke ist die Witwe des Mannes, der zusammen mit Roger Wickett verunglückt ist." „Ist das ein Grund, ihr auf den Pelz zu rücken?" „Ich werde sie fragen, ob sie weiß, warum Roger Wickett in Devil's Point herumspuken könnte. Sie wird mich vielleicht für übergeschnappt halten, aber das muß ich riskieren." „Dann riskiere ich es auch. Ich hab's gern, wenn die Leute mich für übergeschnappt erklären." Er kannte sich in San Francisco gut aus und fand ohne Mühe die Adresse. Das Haus lag in einer etwas altväterlichen Straße, wo es Vorgärten hinter schwarzen Zäunen und Dächer gab, die von fern an das alte China erinnerten. Dawson betätigte den Türklopfer, der die Form eines Drachenkopfs hatte. Ein schlanker, junger Chinese öffnete die Tür. Er trug eine weiße Baumwolljacke, wie sie bei wohlhabenden chinesischen Familien den Dienern vorbehalten ist. Dawson fragte nach Elaine. Der junge Mann sah ihn erstaunt an. „Bitte", sagte er. „Kommen Sie herein." Er führte Dawson und Katherine durch einen langen, schmalen Korridor zu einem Wohnzimmer, bat sie, sich zu setzen, und zog sich zurück. Das Zimmer war zu klein und zu voll, die Möbel waren schwer und dunkel und stammten zum Teil aus China, zum Teil aus dem Viktorianischen England. Einen Augenblick später trat eine kleine, weißhaarige Chinesin ein, die unmöglich Elaine Burke sein konnte. „Behalten Sie bitte Platz", sagte sie höflich. „Ich bin Elaines Mutter. Ich freue mich immer, frühere Freunde von Elaine kennenzulernen." „Ich fürchte, wir sind eigentlich nicht..." sagte Dawson. „Zu meinem Kummer muß ich Ihnen mitteilen, daß Elaine tot ist." Die kleine Frau ließ ihn nicht ausreden. „Schon seit über vier Jahren. Trotzdem kommen immer wieder Freunde, die es noch nicht wissen, und die ich nie gesehen habe. Woher kannten Sie meine Tochter?" „Wir sind miteinander in die Schule gegangen", log Katherine und spürte, wie Dawson sie mißbilligend von der Seite musterte. „Ich bin nach Los Angeles übergesiedelt. Würden Sie mir sagen, wie...?" „Sie ist einen ehrenvollen Tod gestorben", erklärte die alte Frau
feierlich. „Sie hat einen Mann geheiratet, mit dem wir nicht einverstanden waren; er hatte weder unserer Rasse noch unserer Religion angehört. Sie hat uns seinetwegen verlassen. Er ist auch tot." „Alan Burke", sagte Katherine leise. „Ja. Er war ein sympathischer junger Mann, aber sie hätte ihn nicht heiraten dürfen. Unsere Familie ist durch diese Ehe erniedrigt worden. Elaine hat unser Blut verunreinigt. Sie hat ihre Kleider genommen und ist zu einem Ort an der Küste gefahren - nach Devil's Point. Alan ist am selben Tag nachgekommen. In der Nacht ist er durch einen Unfall gestorben, sie waren nicht einmal vierundzwanzig Stunden verheiratet. Elaine ist dortgeblieben. Sie wollte nicht zu uns zurückkehren. Sie hat uns viel Kummer gemacht, aber schließlich hat sie es eingesehen. Sie hat das Leid, das sie uns angetan hat, mit einer Überdosis Schlaftabletten gesühnt." Katherine schielte zu Dawson; er war leichenblaß geworden. Ihr tiefes Unbehagen wurde von einer Abneigung gegen diese selbstgerechte alte Frau überlagert. „Könnte sie nicht auch Alans wegen Selbstmord begangen haben?" fragte sie kühl. „Es muß nicht der Familie zuliebe gewesen sein." „Ich bin ganz sicher." Die alte Frau triumphierte. „Sie hat ein chinesisches Zeremonienkleid angezogen, schwere, dunkelrote, bestickte Seide. Sie muß das Kleid zu diesem Zweck gekauft haben. Man hat sie darin gefunden." Dawson kam unsicher auf die Beine und entschuldigte sich linkisch, daß er und Katherine die alte Frau gestört hatten. Katherine folgte ihm zur Tür. „Keine Ursache", sagte die alte Frau. „Ich freue mich, daß meine Elaine von ihren Freunden nicht vergessen worden ist." Vor dem Haus blieb Dawson stehen und atmete tief ein. „Noch ein Selbstmord!" sagte er. „Jetzt müssen wir herausfinden, was mit Patty geschehen ist." Katherine lief neben ihm her die Straße entlang. An der Ecke bremste scharf ein schwarzer Wagen neben ihnen, und eine Tür wurde aufgerissen. Am Steuer saß ein Chinese. „Bitte!" sagte der Chinese. „Steigen Sie ein."
20. Der junge Diener hatte beinahe die gleichen Worte benutzt wie jetzt der Chinese, aber der Diener war höflich gewesen. Der Chinese war das Befehlen gewohnt. „Ich heiße Lin", sagte er. „Ich bin Elaines Bruder." Katherine und Dawson stiegen zu ihm in den Wagen. Der Chinese musterte sie argwöhnisch. „Wer sind Sie?" wollte er wissen. „Ich habe sämtliche Freunde von Elaine gekannt." Dawson berichtete: Miß Dawson hatte bis zu diesem Morgen in der Hütte gelebt, in der Lins Schwester, Selbstmord begangen hatte. Nach Elaine hatte sich ein zweites Mädchen in der Hütte umgebracht, außerdem hatte es dort einige befremdliche Ereignisse gegeben. Dawson stellte Katherine und sich vor. „Befremdliche Ereignisse..." wiederholte der Chinese. „Davon weiß ich nichts, ich weiß aber, daß Elaines Selbstmord mir nicht gefällt. Meine Mutter redet Unsinn. Die Familienehre und unsere Rasse waren Elaine ganz gleichgültig. Sie hatte immer Freunde, die keine Chinesen waren, unter anderem Roger Wickett, bevor er geheiratet hat. Sie hätte über die Zumutung gelacht, daß sie sich in einem chinesischen Prunkkleid umbringen sollte, um der Familie gefällig zu sein. Vielleicht hat sie sich in dem halben Jahr nach Alans Tod geändert, aber ich glaube es nicht. Übrigens hat sie sich bei Alans Tod zumindest seltsam benommen. Sie hat mir nicht einmal einen Brief geschrieben, sondern wortlos einen Zeitungsausschnitt geschickt. In dem Artikel wurde vermutet, Roger und Alan wären auf der Jagd gewesen. Alan hat nie gejagt! Und dann - ausgerechnet in seiner Hochzeitsnacht! Ich weiß nicht, warum die beiden in der Höhle waren, aber es interessiert mich brennend. Wenn Sie etwas erfahren - würden Sie es mir mitteilen?" Dawson versprach es. Lin erkundigte sich nach den angeblich befremdlichen Ereignissen. Katherine erzählte von dem Gespenst. Lin musterte sie mißtrauisch und sagte nichts. Dawson und Katherine reichten dem Chinesen die Hand und stiegen wieder aus dem Wagen, die Limousine wurde vom Nebel aufgesogen. „Das stinkt", meinte Dawson. „So etwas ist kein Zufall. Als Johanna starb, trug sie ebenfalls ein rotes chinesisches Prunkkleid." „Das hab ich nicht gewußt", flüsterte Katherine. Sie dachte
nach. „Trotzdem ist ein Zufall nicht ausgeschlossen. Johanna kann sich wegen Brock umgebracht haben, Elaine wegen Alan..." „Nach einem halben Jahr?" Dawson schüttelte den Kopf. „Ich habe den Verdacht, daß es in Devil's Point wirklich einen verrückten Mörder gibt; wir haben ja schon einmal darüber gesprochen. Neu für uns ist lediglich seine Leidenschaft für rote Seide." „Ein geschickter Mörder", sagte Katherine leise und spürte wieder einmal, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. „Er hat beide Morde als Selbstmord tarnen können. Aber ich begreife nicht, wieso niemand auf die roten Kleider aufmerksam geworden ist." „Zwischen den beiden Todesfällen lagen immerhin etliche Jahre", erinnerte Dawson. „Vielleicht haben verschiedene Polizisten die beiden Fälle bearbeitet, außerdem hatte Johanna eine Vorliebe für exotische Gewänder. Bei Elaine brauchte man sich nicht zu wundern; schließlich war sie Chinesin." Langsam gingen sie zu Dawsons Wagen. Der Regen hatte aufgehört, aber der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Von der Bucht war der schaurige Ton der Nebelhörner zu hören. „Was ist mit Zena?" fragte Katherine. „Wieso ist ihr nichts aufgefallen?" „Sie hat Johanna nicht gefunden. Vielleicht hat sie nie erfahren, daß Johanna das rote Kleid anhatte." „Wer hat sie entdeckt?" „Brock." Sie war überrascht. „Davon hat er mir nichts gesagt!" „Warum sollte er...?" Dawson überlegte. „Wenn Patty Cake noch lebt, kann sie uns möglicherweise weiterhelfen. Man müßte sich bei einem Theateragenten nach ihr erkundigen..." Dawson brachte sie mit dem Jeep zum Hotel. Vor dem Portal verabschiedeten sie sich. Katherine lief ins Haus und blieb im Foyer wie erstarrt stehen, als jemand ihren Namen rief. Sie wandte sich um. Brock Bradley erhob sich aus einem Sessel und ging auf sie zu. „Woher weißt du, daß ich hier bin?" fragte sie verdutzt. „Das ist ja eine feine Begrüßung!" Er lachte herzlich. „Zena hat mich angerufen und mir gesagt, daß du mit Dawson nach San Francisco gefahren bist. Es sollte doch wohl kein Geheimnis sein?" „Natürlich nicht." Sie nagte an ihrer Unterlippe. „Ich war nur nicht vorbereitet..."
„Ich habe mir gedacht, daß du wieder in diesem Hotel wohnst. Aber warum hast du Devil's Point verlassen?" Sie zog ihn ins Hotelrestaurant und zu einem Tisch. Brock bestellte Kaffee, und Katherine erzählte, was sich seit seiner Abfahrt ereignet hatte: das Zigarettenetui mit den Initialen, die Erscheinung Roger Wicketts, das Gespräch mit Elaines Mutter und mit ihrem Bruder. Ihren Abstecher auf den Dachboden, den Fächer und die Muschel unterschlug sie; Brock brauchte nicht zu wissen, daß sie spioniert hatte. „Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig, als an Gespenster zu glauben", sagte sie abschließend. „Ann meint, Gespenster tun einem nichts. Vielleicht will das Gespenst mich warnen, trotzdem hab' ich es in Devil's Point nicht mehr ausgehalten. Ich habe das alles schon Dawson erzählt, ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich will alles vergessen. Brock, können wir heute abend groß ausgehen und uns amüsieren?" „Ich würde ja gern", sagte er trübe, „aber ich muß nach Devil's Point. Zenas Knöchel ist schlimmer geworden, und jemand muß sich um sie und den alten Wickett kümmern." „Aber wieso du?" Sie sah ihn verständnislos an. „Robinson ist bei ihr, und Ann kann ihr doch auch helfen. Sie wird dafür bezahlt!" „Ich habe Zena keine Fragen gestellt." Brocks Stimme klang gereizt. „Wenn meine Schwester sagt, sie braucht mich, dann glaube ich es ihr. Soviel ich weiß, hat Ann im Augenblick keine Zeit, und Robinson muß sich mit seinen Geschäften befassen." Am liebsten hätte sie darauf hingewiesen, daß Robinson sich vermutlich mit Ann befaßte, womit zugleich erklärt war, wieso Ann keine Zeit für Zena hatte, doch sie unterdrückte die Bemerkung. „Okay", sagte sie lahm. „Fahren wir also nach Devil's Point. Aber ich schlafe nicht mehr in der Hütte!" „Du kannst im Haus wohnen", sagte er. „Ich bin auch da, du brauchst keine Angst zu haben. Solltest du dich vor dem alten Wickett fürchten - Zena hält ihn unter Verschluß." Katherine glaubte nicht recht daran. Sie erinnerte sich an die Schritte, die sie gehört hatte, als Zena und Ann die Seance abhielten, sie dachte auch wieder an das Gespräch, das sie hinter der Tür zum Dachboden belauscht hatte, aber wieder sagte sie nichts. Sie holte ihr Gepäck aus dem Zimmer, bezahlte die Rech-
nung und trat mit Brock auf den Gehsteig. Er hatte seinen Wagen in einer Nebenstraße geparkt. Er fuhr ihn zum Portal, verstaute Katherines Koffer, stieg wieder ein und ließ sie ebenfalls einsteigen. Sobald sie die Stadt hinter sich hatten, fing es an zu regnen, und vom Meer wehte ein kalter Wind. Brock schaltete die Heizung an. Katherine schloß die Augen und fühlte sich neben Brock so geborgen, als gäbe es weder Gespenster noch ungeklärte oder unerklärliche Selbstmorde, von denen Brock möglicherweise einen verschuldet hatte. Sie wurde erst aufmerksam, als er die Geschwindigkeit drosselte. Sie blickte sich um und bemerkte, daß er auf ein Rasthaus am Highway zusteuerte. „Ich hab' Hunger", erklärte er. „Außerdem ist es Zeit zum Abendessen." Sie spähte nach vorn und entdeckte Dawsons zerschrammten Jeep. Sie scheute sich, ihm schon wieder zu begegnen, obwohl sie dafür keine plausiblen Grund hätte angeben können. „Das Lokal sieht aber nicht zuverlässig aus", behauptete sie. „Wollen wir nicht noch ein Stück weiterfahren?" „Das Essen ist hier sehr gut", wandte er ein. „Ich muß mich auch ein bißchen ausruhen, sonst werde ich unterwegs müde." Sie hoffte, daß Dawson sie nicht sah, aber Brock trat direkt zu ihm an den Tisch, als hätte er einen lange vermißten Freund wiedergefunden. Katherine trottete schüchtern mit. „Guten Abend", sagte Brock aufgeräumt und lächelte strahlend. „Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Ihnen Gesellschaft leisten?" „Natürlich nicht." Dawson wirkte überrumpelt. „Bitte, nehmen Sie Platz." Sie nahmen bei ihm Platz und bestellten bei einer Kellnerin etwas zu essen. Dawson blickte Katherine fragend an, schließlich hatte sie darauf bestanden, Devil's Point zu verlassen, und selbstverständlich mußte er sich über ihren Gesinnungswandel wundern. Katherine erwiderte den Blick nicht weniger fragend. Hatte er schon was über Patty Cake erfahren? „Wie ich gehört habe, spielen sich in der Nähe vom Haus meiner Schwester verwirrende Dinge ab", sagte Brock leichthin. „Diese Gespenstergeschichte - unglaublich! Im Allgemeinen halte ich nicht viel von solchen Dingen, aber Katherine hat das Gespenst tatsächlich gesehen! Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Roger ein Gespenst..."
Er lächelte wieder. Katherine ärgerte sich. „Was ist daran lustig?" wollte sie wissen. „Er war einfach nicht der Typ. Er hatte keine Launen und auch keine psychischen Defekte, er lebte ausschließlich zu seinem Vergnügen." Brock wandte sich zu Dawson. „Katherine hat mich nachdenklich gemacht. Wenn ich sie richtig verstanden habe, halten auch Sie es für möglich, daß die beiden Selbstmorde nur vorgetäuscht waren. Ich werde mit der Polizei sprechen, aber nicht mit Hendricks, sondern mit dem Sheriff. Haben Sie sonst etwas erfahren? Haben Sie Verbindung mit Patty Cake aufnehmen können?" „Nein", bekannte Dawson. „Ich fürchte, wir sollten das Thema wechseln, sonst schmeckt Katherine das Essen nicht." Brock amüsierte sich, aber er wechselte das Thema. Die Kellnerin servierte, und Brock entwickelte einen ausgezeichneten Appetit, während Katherine wieder einmal auf ihrem Teller herumstocherte. Sie überlegte, daß sie auch in Devil's Point häufig keinen Hunger hatte, und wenn diese Entwicklung so weiterging, mußte sie sich um ihre Linie keine Sorgen machen. Dawson war zuerst fertig. Er entschuldigte sich, ging an die Theke, um zu bezahlen, winkte Katherine und Brock Bradley von der Tür aus noch einmal zu und war verschwunden. Brock amüsierte sich abermals. „Anscheinend haben wir ihn vertrieben", meinte er. „Übrigens habe ich den Eindruck, daß er in dich verliebt ist. Hast du davon noch nichts gemerkt?" „Leider nicht." Sie lachte gekünstelt. „Unterhalten wir uns lieber noch mal über unsere Hochzeitsreise." Als sie nach Devil's Point kamen, war es schon spät, aber Zena lag noch im Wohnzimmer auf der Couch und pflegte ihren Knöchel. Brock trug sie ins Schlafzimmer, dann wies er Katherine ein Gastzimmer an; es lag neben dem Zimmer Robinsons und war ziemlich weit von dem des alten Wickett entfernt. Brocks Zimmer befand sich neben dem Zenas. Er küßte Katherine sanft und zärtlich und ließ sie allein. Die Einrichtung war weniger elegant als die der Hütte; trotzdem gefiel sie Katherine besser. Das altmodische Holzbett, der mächtige Kleiderschrank und der hohe, goldgerahmte Spiegel strahlten
Behaglichkeit aus. Katherine verriegelte die Tür, kroch ins Bett und schlief sofort ein. Einmal wurde sie wach, als Schritte über den Korridor tappten: Charles Robinson kam nach Hause. Katherine blickte auf ihre Armbanduhr - drei Uhr morgens. Sie überlegte, ob Robinson wieder die Nacht mit Ann verbracht hatte, und schlief darüber ein. Sie träumte von dem alten Wickett. Er starrte sie mit seinen aquamarinfarbenen Augen an und zertrümmerte mit den bloßen Fingern einen gekochten Krebs. Dann ließ er den Krebs fallen und packte Katherine am Hals. Sie wachte erschrocken auf und stellte fest, daß sie allein im Zimmer war. Sie lief zur Tür und kontrollierte den Riegel. Alles war in Ordnung. Plötzlich war sie davon überzeugt, daß nur der alte Wickett der Mörder sein konnte - vorausgesetzt, daß es einen Mörder und nicht tatsächlich nur zwei Selbstmorde gab. Brock wußte bestimmt nichts davon, aber wahrscheinlich war Zena informiert. Deswegen hielt sie Wickett unter Verschluß, wie Brock sich ausgedrückt hatte. Diesmal schlief sie nicht mehr ein. Ihre Gedanken vertrieben den Schlaf, und sie zählte die Stunden, bis sie endlich aufstehen konnte.
21. Am Freitagmorgen schien die Sonne, und das Wetter war ideal für einen Hochzeitstag. Katherine zog sich sorgfältig an und ging hinunter in die Küche. Zena war allein und bereitete das Frühstück. „Sie sollten sich schonen", sagte Katherine. „Deswegen bin ich hier." Zena lachte. „Es geht schon wieder, ich bin nur noch ein bißchen unbeholfen. Wollen Sie Eier? Sie haben einige Anstrengungen vor sich..." „Hoffentlich haben Sie recht." Katherine lächelte. „Wo ist Brock?" „Er ist früh aufgestanden und weggegangen, denn er hat etwas zu erledigen. Er wird bald wieder hier sein. Charles schläft noch. Vermutlich kriegen wir ihn vor dem Mittag nicht zu sehen." Gegen ihre Überzeugung ließ Katherine sich von Zena bedienen.
Nach dem Frühstück telefonierte sie mit ihrem Chef in Los Angeles und kündigte. Er war damit nicht einverstanden und sicherte ihr zu, die Stellung einige Wochen offen zu halten, falls sie es sich doch noch einmal überlegen wollte. Anschließend telefonierte Katherine mit ihrer Wohnungspartnerin und teilte ihr mit, daß ab sofort das Apartment ihr allein gehörte. Sie hatte eben aufgelegt, als Ann kam. „David ist nach San Francisco gefahren", erklärte sie. „Er will die Skulpturen, die Charles Robinson gefallen haben, zu seiner Galerie bringen. Katherine, wie fühlen Sie sich? Angeblich sind Bräute vor der Hochzeit immer nervös." „Ein bißchen." Katherine lächelte. „Übrigens ist Brock auch nicht da, wir haben den Vormittag für uns." „Haben Sie keine Lust, mit mir zum Institut zu fahren? Ich zeige Ihnen die Plastik, die David von mir gemacht hat. Sie ist gestern fertig geworden, und er hat sie sofort ausgestellt." Katherine hatte sich um ihren Wagen noch nicht gekümmert, sie wußte nicht, ob der Motor wieder funktionierte. Sie wollte sich auch jetzt nicht mit dem Auto herumärgern, deswegen stieg sie mit Ann in Davids Volkswagen, den er dagelassen hatte. Um seine Statuen zu transportieren, hatte er sich vom Kaufhaus in Devil's Point einen Lieferwagen geliehen. Die Skulptur befand sich unter der runden Kuppel im sogenannten Mittelraum, wo auch Johannas Vision von ihrem Selbstmord ausgestellt gewesen war, bis Dawson sie fortgeräumt hatte. Das Bild war wieder an seinem angestammten Platz, aber Katherine achtete nicht darauf. Fasziniert betrachtete sie die Plastik. Sie hatte eine Ausstrahlung, die Ann fehlte. David hatte tatsächlich, wie Zena es formuliert hatte, die Schönheit von Anns Seele zum Ausdruck gebracht, vielleicht aber hatte er auch eine Schönheit ausgedrückt, die er in Ann hineindeutete, die sie aber tatsächlich nicht hatte. „Das ist die Arbeit eines Genies", sagte Katherine andächtig. „Ich bin überwältigt." „Ja", sagte Ann verloren und starrte das Bildwerk an, „trotzdem macht sie mir Angst. Ich fühle mich so nackt, wenn ich die Skulptur ansehe, und nicht nur, weil ich keine Kleider anhabe." Katherine sagte nichts. Ann musterte sie von der Seite. „Vielleicht haben Sie recht", sagte sie schnell, „vielleicht ist es wirklich die Arbeit eines Genies, aber David ist kein Genie! Er ist
begabt, aber nicht genial. Er hat sich mit dieser Arbeit über sein Niveau begeben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich fürchte, er wird dieses Niveau nie wieder erreichen, und er wird es merken. Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich kann mit niemand anders darüber reden, man würde vermuten, daß ich eifersüchtig auf seinen Erfolg bin, aber das ist es nicht! Und schon gar nicht kann ich David mitteilen, was ich denke." „Nein, das können Sie ihm nicht sagen." Katherine überlegte. „Sie können nicht mehr tun als zu ihm stehen - wie Sie es bestimmt auch getan hätten, wenn er gescheitert wäre." „Sie sind sehr klug", bemerkte Ann ohne erkennbare Ironie. „Wenn er gescheitert wäre, hätte ich natürlich zu ihm halten müssen, und vielleicht wäre es mir nicht so schwer gefallen wie jetzt." „Zeigen Sie es ihm nicht." „Ich werde mir Mühe geben." Ann brachte Katherine zu Zenas Haus zurück und fuhr wieder zu ihrem Motel. Nachdenklich ging Katherine die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Anns und Davids Probleme beschäftigten sie, obwohl sie doch eigentlich eigene Probleme hatte. Sie glaubte Ann nicht ganz, daß sie auf Davids Erfolg nicht eifersüchtig war. Anscheinend war David nicht nur über sein eigenes Niveau, sondern auch über sie, Ann, hinausgewachsen, vielleicht überlegte Ann auch, ob sie nicht den Absprung zu dem reichen und angesehenen Robinson wagen sollte. Möglich war aber auch, daß sie innerlich zum Absprung längst entschlossen war und nur darauf gewartet hatte, daß Robinson ihr eine Brücke baute. Dann konnte Davids Erfolg sie unsicher gemacht haben, ob diese Entscheidung richtig war. Sie stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und trat ein. Im selben Augenblick wurde ihr die Tür aus der Hand gerissen und zugeschlagen. Der alte Wickett schob den Riegel vor und sah sie mit seinen klaren, durchdringenden Augen prüfend an.
22. Wickett hatte einen Khakianzug an, mit dem er weniger geisterhaft wirkte als in dem langen Nachthemd, in dem Katherine ihn kennengelernt hatte. Trotzdem war er immer noch reichlich ge-
spenstisch, und Katherine erinnerte sich mit Grauen an ihren Traum, in dem Wickett versucht hatte, sie zu erwürgen. Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht gellend zu schreien. Sie wußte, daß niemand ihr helfen konnte. Niemand konnte die Tür aufbrechen, dazu war der Riegel zu stabil, überdies war vermutlich außer Zena niemand im Haus. Wenn der Alte nicht nur einen Schlaganfall hatte, sondern tatsächlich verrückt war unmöglich war es nicht - verlor er außerdem die Nerven, sobald sie schrie, und was er dann tat, konnte sie nicht einmal ahnen. „Sie können hier nicht bleiben." Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen. „Gehen Sie in Ihr Zimmer." Er rührte sich nicht. Er stand breitbeinig vor der Tür und ließ Katherine nicht aus den Augen. „Na, meinetwegen", sagte sie scheinbar leichthin. „Aber machen Sie keine Dummheiten. Wenn Zena merkt, daß Sie bei mir sind, wird sie schimpfen!" Er rührte sich nun doch. Mit einem Schritt war er am Schrank und holte etwas herunter, das oben gelegen hatte, verblüfft erkannte Katherine ein Scrabble-Spiel. Wickett legte das Brett aufs Bett und schüttelte die kleinen Steine aus dem Kasten. „Sehr schön", sagte Katherine sanft wie zu einem schwachsinnigen Kind. „Wollen wir spielen?" Sie griff nach den Steinen und versuchte aus den Buchstaben ein Wort zu formen. Wickett wischte ihre Hand zur Seite und die Steine wieder vom Brett. Er setzte selbst einige Steine zusammen, dann hob er plötzlich den Kopf und lauschte. Er hatte ausgezeichnete Ohren, Katherine erinnerte sich, daß er auch den betrunkenen Autofahrer, der angeblich einen Unfall hatte, als erster hörte. Katherine benutzte die Gelegenheit, da er abgelenkt war, sprang zur Tür, riß den Riegel zurück und die Tür auf und sah Zena, die den Korridor entlangkam. Zena bemerkte ihre Verwirrung. Sie hinkte zu ihr. „Katherine, was ist?" fragte sie besorgt. Sie spähte ins Zimmer und entdeckte Wickett vor dem Scrabble-Spiel. Sie stöhnte. „Pops, o Pops..." Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn hinaus. Er leistete keinen Widerstand. Über die Schulter blickte er noch einmal zu Katherine zurück und grinste listig. Zena ließ die Tür offen. Katherine trat zum Bett und betrachtete die Steine, die der alte Mann zusammengesetzt hatte. Offenbar hatte er das O besonders
ins Herz geschlossen. Da stand ganz und gar sinnlos olomon on, an einer anderen Stelle stand fo, ohne daß es mehr Sinn ergab. Katherine schob das Brett unters Bett. Sie mußte sich hinlegen, weil ihr die Knie zitterten. Im selben Augenblick kehrte Zena zurück. „Man darf ihn keine Sekunde unbeobachtet lassen", meinte sie. „Was wollte er von Ihnen?" „Ich weiß es nicht." „Wahrscheinlich hat er Gesellschaft gesucht." Zena zuckte mit den Schultern. „Als Sie fort waren, ist für Sie angerufen worden, aus dem Krankenhaus in Morrisville. William Dawson hatte einen Unfall. Man hat Wert darauf gelegt, daß Sie benachrichtigt werden - als wären Sie ein naher Verwandter..." Katherine spürte, wie ihr Herz wieder bis zum Hals klopfte, nachdem es sich kaum beruhigt hatte. „Vielleicht hat er keine Verwandten", erwiderte sie tonlos. „Darf ich Ihren Wagen nehmen?" „Die Schlüssel liegen im Korridor auf dem Tisch." Katherine war schon halb im Erdgeschoß, als ihr einfiel, daß sie sich nicht einmal nach Dawsons Verletzungen erkundigt hatte. Sie nahm die Schlüssel, lief aus dem Haus und jagte mit Zenas Wagen nach Morrisville. Dort fragte sie einen Polizisten nach dem Krankenhaus, bedankte sich für die Auskunft und brachte das Fahrzeug wenig später vor einem ausladenden Backsteingebäude zum Stehen. Sie stieg aus und hörte, wie jemand ihren Namen rief. Dawson kam eben die Treppe herunter zum Gehsteig, er sah nicht kränklich aus. Katherine lief zu ihm hin. „William!" sagte sie atemlos. „Mein Gott, ich habe einen furchtbaren Schreck bekommen..." „Es hätte schlimmer sein können", sagte er. „Gestern abend bin ich auf der nassen Straße geschlittert und gegen einen Baum geprallt. Ich hatte Glück, daß ich nicht übers Ufer ins Meer gefahren bin. Wahrscheinlich hatte ich meine Sinne nicht beisammen, weil ich immer an Sie und Brock gedacht habe. Woher haben Sie gewußt, wo ich bin?" „Jemand im Krankenhaus hat telefoniert." „Das hätte dieser Jemand nicht tun sollen. Ich war bewußtlos, und ich hatte Ihren Namen und Zenas Telefonnummer auf einem Zettel in meiner Brieftasche. Ich hatte mir die Nummer aufge-
schrieben, falls ich Sie mal dringend anrufen mußte." Langsam ging sie mit ihm zurück zum Portal. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, gedankenlos schmiegte sie sich an ihn. Sie war glücklicher über die Geringfügigkeit seines Unfalls, als sich mit ihrer bevorstehenden Hochzeit vereinbaren ließ. An der Tür blieb er stehen, zog sie noch näher zu sich und küßte sie zärtlich. Sie erwiderte den Kuß. Die Umwelt war wie ausgelöscht, sekundenlang lebte Katherine wie im Traum. Dann zerbrach der Traum, die Umwelt war wieder da, und Katherine löste sich verstört aus seinen Armen. Sie wirbelte herum und rannte zum Wagen, von einem trockenen Schluchzen geschüttelt. Dawson starrte ihr nach. „Katherine!" rief er. Sie achtete nicht darauf. Sie jagte so schnell nach Devil's Point zurück, wie sie gekommen war. Sie schämte sich. Sie begriff, daß sie sich in Dawson verliebt hatte. Nach achtundzwanzig Jahren, in denen es ihr gelungen war, sich eine kühle Unabhängigkeit zu bewahren, war sie nun in zwei Männer verliebt. Sie war jetzt so unglücklich, wie sie vor wenigen Minuten noch glücklich gewesen war. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, sie spürte nur dumpf, daß sie sich entscheiden konnte, wie immer sie wollte - sie würde die Entscheidung bereuen. Brocks Wagen stand vor Zenas Haus, deswegen fuhr Katherine weiter zur Achat-Bucht. Sie wollte allein sein. Sie stieg hinunter zum Strand und ging mechanisch am Wasser entlang. Sie wurde erst aufmerksam, als sie vor der Höhle stand, die The Eye genannt wurde. Obwohl sie keine Taschenlampe dabei hatte, trat sie in die Höhle. Sie spielte mit dem Gedanken an Selbstmord. War der Selbstmord nicht der einzige Ausweg, den es für sie noch gab? Devil's Point und die nähere Umgebung der Stadt waren geradezu prädestiniert für einen Selbstmord, Johanna und Elaine hatten es bewiesen. Katherine war nun davon überzeugt, daß die beiden Frauen nicht ermordet worden waren. Diese Landschaft und ihr persönliches Dilemma hatten sie auf dem Gewissen. Aber das konnte nur jemand verstehen, der sich in einer ähnlichen Lage befand... Willenlos wie ein Automat drang sie immer tiefer in die Höhle ein. Ringsum wurde es stockfinster, aber Katherine ging vorsichtig weiter. Sie konnte sich nicht dazu durchringen umzukehren.
Nach einer Weile tauchte vor ihr ein grauer Schimmer auf. Über Felsen und halsbrecherische Simse hinweg bahnte sie sich einen Weg zu der Lichtquelle und befand sich unvermittelt in einer runden Kammer, in die die Sonne schien. Auf dem Boden wuchs Moos, aus einem Spalt sprudelte Wasser. Die Kammer hatte keinen Ausgang. Katherine ging nun doch zurück. Ihr dämmerte, daß der Tod keine Alternative war. Sie fühlte sich verloren in der feuchten Dunkelheit, und plötzlich hatte sie Angst, die den natürlichen Selbsterhaltungstrieb in ihr mobilisierte. Sie hoffte, wenigstens Streichhölzer in ihrer Schultertasche zu haben, durchforschte die Tasche und fand ihre Hoffnung bestätigt - ein wahres Geschenk des Himmels. Aber sie mußte sparsam damit umgehen, sonst fand sie das Eye, durch das sie gekommen war, nicht wieder. Sie erinnerte sich, daß Roger Wickett und Alan Burke hier abgestürzt waren - in eine zweite Höhle, The Mouth, die unter dieser Höhle lag. Sie wollte nicht riskieren, ebenfalls abzustürzen. Auf Händen und Knien kroch sie dorthin, wo sie das Eye vermutete. Die Steine hatten scharfe Kanten und zerschnitten ihr die Haut, und sie biß die Zähne zusammen. Dann spürte sie etwas unter der rechten Hand, das kein Stein war. Es fühlte sich glatt und geschmeidig an. Katherine hatte einen entsetzlichen Verdacht. Sie opferte eines der kostbaren Streichhölzer und stellte fest, daß sie richtig vermutet hatte. Der Gegenstand war ein Abendschuh mit hohem spitzen Absatz und mit Straß verziert. Kein vernünftiger Mensch trug einen solchen Schuh in einer Höhle, jedenfalls nicht freiwillig, außerdem war dieser Stil zur Zeit nicht modern. Solche Schuhe trugen Tänzerinnen auf der Bühne. Der Schuh mußte Patty Cake gehört haben. Sie war mit dem Absatz zwischen den Felsen steckengeblieben, und der Absatz war abgebrochen. Katherine zweifelte nicht daran, daß die Lösung des Rätsels um Patty Cake greifbar nahe lag, aber jetzt war nicht die Gelegenheit, sich damit zu befassen. Sie ließ das Streichholz fallen und kroch weiter. Unvermittelt war vor ihr der Boden zu Ende, ihre Hände griffen ins Leere. Katherine zuckte zurück. Sie opferte noch ein Streichholz und starrte in ein schwarzes Loch. Undeutlich war ein bleicher menschlicher Körper zu erkennen. Er lag grotesk verkrümmt im Schlick, die Arme waren ausgebrei-
tet und verdreht wie die einer Puppe. Das Streichholz erlosch. Mit zitternden Fingern riß Katherine ein drittes Streichholz an. Sie zwang sich dazu, noch einmal hinunterzublicken. Von hier oben war nicht auszumachen, ob der Mensch im Schlick ein Mann oder eine Frau war, doch Katherine war davon überzeugt, Patty Cake gefunden zu haben. Auch dieses Streichholz erlosch. Katherine zog sich von der klaffenden Öffnung im Boden zurück zu der Stelle, an der sie den Schuh gesehen hatte. Noch einmal leuchtete sie ringsum und entdeckte den engen Schlauch, durch den sie mit Dawson ins Freie gekrochen war. Sie zwängte sich hindurch und kam verschwitzt, verstört, zerschunden und schmutzig ans Tageslicht. Sie hatte das Gefühl, von der Hölle ausgespien worden zu sein.
23. Katherine begriff, daß sie unverzüglich Hendricks informieren mußte. Sie rannte zu dem Wagen und stellte verblüfft fest, daß Brocks Wagen hinter dem anderen parkte. Brock stieg aus und ging ihr entgegen. „Warum bist du nicht nach Hause gekommen?" fragte er lauernd. „Ich habe beobachtet, wie du vorbeigefahren bist. Wie geht es Dawson?" „Der Unfall... scheint nicht schlimm gewesen zu sein", stammelte sie. „Ich... ich glaube, er ist schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen." „Das freut mich", sagte Brock. An seinem Ton war zu erkennen, daß es ihn nicht besonders freute. „Ich hab' gedacht, er ist schwer verletzt, und du hättest dich aufgeregt und wolltest eine Weile allein sein." Sie hatte sich wirklich aufgeregt und allein sein wollen, doch das konnte sie ihm nicht sagen. Brock runzelte die Stirn, und sie verstand, daß sie ihm eine Erklärung für ihren Zustand geben mußte. „Ich war in der Höhle", sagte sie. „Ich habe eine Leiche gefunden!" Er seufzte, dann raffte er sich zu einem Lächeln auf. Er faßte sie an der Hand und führte sie zu seinem Wagen. „Du siehst ja Gespenster", meinte er sanft. „Was immer du gesehen hast - es war bestimmt keine Leiche. Ich bin froh, daß wir
heute abend diese Gegend endgültig verlassen können. Hier sind zu viele Gruselgerüchte in Umlauf, sie haben dich verwirrt." Sie blieb stehen und befreite sich von seinem Griff. „Ich hatte angenommen, du glaubst mir, daß ich das Gespenst tatsächlich gesehen habe", sagte sie bissig. „Wieso nimmst du mir die Leiche nicht ab? Im allgemeinen sind Leichen realer als Gespenster! Aber vielleicht bilde ich mir sogar den Mörder nur ein, der den jungen Frauen auflauert, die in der Hütte wohnen?!" „Ich bin davon überzeugt, daß du etwas gesehen hast." Er versuchte sie zu beruhigen. „Aber du kannst dich doch getäuscht haben!" „Ich habe mich nicht getäuscht! Wenn ich dich jetzt nicht getroffen hätte, wäre ich zur Polizei gefahren." „Falls es dich beruhigt, kann ich selbst zur Polizei fahren, ich wollte ohnehin mit dem Sheriff sprechen. Steig ein, ich bringe dich nach Hause. Zenas Wagen kann vorläufig stehenbleiben, ich lasse ihn später abholen." „Nein", sagte sie störrisch. „Wozu die Umstände? Ich bin kein Kind, und ich habe auch keinen Nervenschaden, noch nicht! Ich kann allein fahren." Er blickte ihr nach, wie sie zu Zenas Wagen ging. Er ließ sie vorbeifahren und schloß sich an. Katherine steuerte den Wagen in die Einfahrt von Zenas Haus, Zena hinkte heraus und blickte begriffsstutzig von Katherine zu Brock und wieder zu Katherine. Brock bremste auf der Fahrbahn und öffnete das Fenster. „Sie war in der Höhle", rief er Zena zu. „Sie ist ein bißchen durcheinander, kümmere dich um sie." Zena geleitete Katherine in den oberen Stock, Brock fuhr weiter. Katherine warf ihre Handtasche in ihrem Zimmer aufs Bett, Zena lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete sie besorgt. „Ich will Ihnen wenigstens die Schrammen auswaschen", sagte sie schließlich. „Kommen Sie mit ins Bad." Katherine schwieg. Zena drehte die schweren Messinghähne auf, Wasser rauschte heraus und füllte den Raum mit Dampf. Aus einer Dose schüttete Zena freigiebig Salz in die Wanne. Katherine nahm wieder den durchdringenden Geruch wahr, den sie aus der Hütte kannte. „Ein wunderbarer Duft", meinte Zena. „Finden Sie nicht auch?" „Er... er ist nicht alltäglich", sagte Katherine. „Sandelholz", erklärte Zena. „Schwer zu kriegen..."
„Dann sollten Sie nicht so viel davon nehmen." Katherine dachte wieder an die Leiche in der Höhle. „Was glauben Sie, wie lange es dauern wird?" „Was wird dauern?" fragte Zena. „Die Polizei. Wie lange wird es dauern, bis sie die Höhle durchsucht hat?" „Sollte sie?" erkundigte sich Zena. „Da war eine tote Frau", erläuterte Katherine. „Brock will die Polizei benachrichtigen." Zena schien nicht neugierig zu sein. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Mindestens einige Stunden", sagte sie. „Aber wenn die Flut zu früh einsetzt, müssen die Beamten warten." Katherine überlegte, daß die Flut vermutlich erst gegen Abend einsetzte, aber Zena mußte es besser wissen. Sie spürte, wie ihr das Denken schwerfiel; der starke Geruch legte einen Schleier um ihr Gehirn, außerdem konnte sie plötzlich nur noch mühsam atmen. Langsam zog sie sich aus. Zena blickte ihr mütterlich zu und ging hinaus. Katherine drehte die Hähne zu, ließ das Wasser mit dem Badesalz ablaufen und füllte die Wanne wieder. Aber der Geruch ließ sich nicht so einfach vertreiben. Als Katherine aus dem Wasser stieg und sich in einen Bademantel wickelte, hatte sie den Eindruck, daß er penetrante Duft in ihre Poren gedrungen war und sie einhüllte wie eine Wolke. In ihrem Zimmer wischte sie die restlichen Scrabble-Steine vom Bett und legte sich folgsam hin, weil Zena es ihr befohlen hatte. Sie konnte nicht einschlafen, natürlich nicht, dazu war die Erinnerung an Dawson, die Leiche in der Höhle und die mysteriösen Vorgänge der letzten Tage zu lebendig. Nach einer Weile holte sie das Scrabble-Brett unter dem Bett hervor und sah sich an, was der alte Wickett da zusammengesetzt hatte. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wickett hatte ihr nichts tun wollen, und er hatte es ja auch tatsächlich nicht getan. Er wollte ihr eine Nachricht zukommen lassen! Sie studierte die Buchstabengruppen: olomononfo... Aber nach wie vor ergab der Text keinen Sinn. Sie fügte Buchstaben hinzu und nahm sie wieder weg, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Als an die Tür geklopft wurde, stellte sie fest, daß eine Stunde vergangen war, ohne daß sie etwas davon gemerkt hatte. Sie stand auf und stellte das Brett wie-
der auf den Schrank. „Ja?" sagte sie. „Hier ist Brock. Darf ich reinkommen?" Sie öffnete die Tür. Er trat ein; sein Gesicht war auffallend ernst. Er drückte die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. „Nun?" fragte sie. „Haben die Polizisten etwas gefunden?" „Nein", sagte er. „Wieso?!" Ihre Stimme tönte schrill. „Waren sie nicht in der Höhle, haben sie nicht auf dich gehört, hast du es nicht verstanden, dir Gehör zu verschaffen?" „Sie haben auf mich gehört", erklärte er, „und sie waren in der Höhle. Da war keine Leiche. Du hast dich geirrt, Katherine. Ich hatte es geahnt." „Du behandelst mich, als wäre ich schwachsinnig!" Sie war zornrot im Gesicht. „Ich habe mich nicht geirrt! Ich weiß doch, was ich gesehen hab!" „Katherine, Liebling..." „Hör auf, in diesem Ton mit mir zu reden! Ich habe die Leiche gesehen! Bestimmt war es Patty Cake, sie ist das dritte Opfer dieses Mörders!" „Patty Cake?" Er schluckte. „Das dritte Opfer? Katherine, du hast nicht gesagt, du hättest die Leiche erkannt!" „Ich hab' sie nicht erkannt." Sie wurde ruhiger. „Ich hab einen Schuh gefunden, den Schuh einer Frau..." Er lachte. „Du hast den Schuh einer Frau gefunden, und sofort bildest du dir ein, die Leiche Patty Cakes zu sehen!" Er schüttelte den Kopf. „O Katherine, das ist einfach zuviel!" „Ich habe eine Leiche gesehen", beharrte sie, „und warum soll sie nicht Patty Cake sein? Sie ist verschwunden, und niemand weiß, wo sie ist!" „Natürlich weiß niemand, wo sie ist", sagte er hämisch. „Sie war eine Herumtreiberin, sie ist vor ihren Schulden fortgelaufen. Wahrscheinlich hat jemand ihr einen interessanten Vorschlag gemacht, und sie ist mitgegangen. Zu dieser Sorte hat sie gehört!" „Du scheinst dich auszukennen!" sagte sie hitzig. Sie bedauerte es sofort. Er betrachtete sie kritisch, und sie spürte, wie sie rot wurde. „Wieso scheine ich mich auszukennen?" fragte er leise. Sie ärgerte sich über ihre Unbesonnenheit, aber sie war ent-
schlossen, nicht klein beizugeben. „Die Hütte ist doch dein kleines Liebesnest", erklärte sie spitz. „Oder etwa nicht? Dort bewahrst du deine Spielgefährtinnen auf. Du hast Johanna in die Hütte gebracht - und Patty!" Sie bluffte, aber sie sah ihm an, daß sie ins Schwarze getroffen hatte. „Ich habe mir die Freiheit genommen, die Hütte meiner Schwester zu vermieten. Bin ich deswegen unmoralisch? Ich hatte nichts gegen Johanna, aber du kannst nicht im Ernst annehmen, daß ich auf ein Flittchen wie Patty hereinfalle." Er war blaß geworden, seine Augen funkelten. „Demnächst wirst du noch behaupten, daß ich Elaine Wongs Liebhaber war. Ich hab sie nicht einmal gekannt! Vielleicht hältst du dich jetzt auch für eine meiner Spielgefährtinnen, ohne weiter zu berücksichtigen, daß wir heute abend heiraten wollen. Möglicherweise hast du mich auch im Verdacht, der irrsinnige Mörder zu sein, und du sollst mein Opfer werden wie die drei anderen?" „Nein!" stöhnte sie und hielt sich verzweifelt die Ohren zu. „Brock, bitte...!" „Entschuldige." Er atmete tief ein. „Du glaubst selbst nicht, was du sagst. Du redest dir alles nur ein, weil du im Unterbewußtsein Angst vor der Ehe hast. Du willst dich davon überzeugen, daß du mich nicht liebst. Ich zwinge dich nicht. Ich gebe dir dein Wort zurück." „Vielleicht hast du recht." Verzweifelt blickte sie zu ihm auf. „Vielleicht hab ich wirklich Angst vor der Ehe. Aber... du sollst mir mein Wort nicht zurückgeben!" „Ist das dein Ernst?" „Es ist mein Ernst. Du mußt mir nur helfen..." Er trat zu ihr, zog ihr den Bademantel aus und drückte sie aufs Bett. Abwesend sah sie in den Spiegel und entdeckte ihr bleiches Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie spürte Brocks Gewicht auf sich und klammerte sich an ihn. Noch einmal sah sie zum Spiegel und schrie gellend auf. Das letzte, was sie erkannte, ehe sie ohnmächtig wurde, war der Schemen Roger Wickett.
24. Sie spürte kalte Feuchtigkeit auf der Stirn und schlug die Augen
auf. Brock saß neben ihr und hatte einen nassen Lappen in der Hand. „Alles in Ordnung?" fragte er besorgt. „Ja." Sie lächelte kläglich. „Verzeih mir, ich benehme ich unmöglich." „Es ist nicht deine Schuld." Er schüttelte den Kopf. „Deine Nerven sind in einem miserablen Zustand, du hast die Aufregungen der vergangenen Tage nicht verkraftet. Ruh dich jetzt aus. Wenn der Mond aufgeht, bin ich wieder da. Wir fahren nach San Francisco." Er schloß die Tür. Katherine hörte, wie seine Schritte verklangen. Sie zog den Bademantel wieder an und überlegte, ob sie wirklich Roger Wickett im Spiegel gesehen hatte oder ob die überreizte Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte. Wenn Roger Wickett sie mit dem Zigarettenetui hatte warnen wollen, dann war auch sein jähes Erscheinen vor wenigen Minuten eine Warnung. Vor Brock -? Noch einmal hob sie das Scrabble-Brett vom Schrank und legte es aufs Bett. Die Steine lagen ein wenig anders als vorhin, ein Buchstabe war hinzugefügt worden. Statt Olomon hieß es nun Solomon. Hatte das Gespenst den Buchstaben ergänzt? Endlich glaubte sie den Text zu verstehen: Solomon on four. Sie fand ein E und rückte es an die richtige Stelle: Solomon on four Salomon 1 : 4! Sie lief durch das stille Haus nach unten in die Bibliothek. In einem der Regale stand eine Bibel, sie nahm sie heraus und schlug sie auf. Zieh mich dir nach, so laufen wir. Der König führte mich in seine Kammern. Wir freuen uns und sind fröhlich über dir; wir gedenken an deine Liebe mehr denn an den Wein. Die Frommen lieben dich. Enttäuscht klappte sie das Buch zu. Sie hatte eine Antwort erhofft und war auf ein weiteres Rätsel gestoßen. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und entschloß sich, mit Dawson zu sprechen. Wenn sie noch zu einem Menschen Vertrauen hatte, dann zu ihm. Brock kam erst wieder, wenn der Mond aufging, er hatte es selbst gesagt. Bis dahin mußte sie wissen, woran sie war... Hastig stieg sie in ihre Jeans, streifte den Pullover über den Kopf und nahm ihre Sandalen in die Hand. Sie schlich aus dem
Haus und zur Straße. Dort zog sie die Schuhe an und lief zum Institut. Als sie ankam, stand die Sonne tief im Westen. Katherine hatte nicht gewußt, daß der Weg zu Fuß so weit war. Am Eingang zum Institut kam ihr Charles Robinson entgegen. Er lächelte unangenehm, und sie fragte sich, ob er sich etwa vorhin im Nebenzimmer aufgehalten und ihre Unterhaltung mit Brock gehört hatte. „Hallo, Miß Spencer", sagte er heiter. „Gehen Sie spazieren?" „So ist es", erwiderte sie kühl. „In der Tat." Er grinste noch breiter. „Übrigens haben wir heute Vollmond. Ich habe mir die Bilder von Johanna Lowell angesehen. Vielleicht werde ich sie für meine Galerie kaufen." Er winkte jovial und ging den Gehsteig entlang, und Katherine überlegte, ob er wieder eine Verabredung mit Ann hatte. Sie lief weiter zu dem Haus, in dem Dawson sein Büro hatte. Wenn er nicht mehr da war, konnte es peinlich werden, denn sie kannte nicht einmal seine Adresse. Sie wünschte sich inbrünstig, ihn noch anzutreffen. Ohne ihn war sie verloren, davon war sie überzeugt. Sie brauchte nicht bis zum Haus zu gehen. Unvermittelt tauchte Dawson vor ihr auf, beinahe so überraschend wie Robinson. Er rief ihren Namen, er schien sich zu freuen, dann wurde sein Gesicht finster. Offenbar erinnerte er sich an den Zwischenfall vor dem Krankenhaus. „Ich habe gedacht, Sie sind schon nicht mehr hier", sagte er betont gleichgültig. „Ich werde bald nicht mehr hier sein." Sie bemühte sich, ebenso gleichgültig zu sprechen. Sie schüttelte den Kopf, gab sich einen Ruck, und sprudelte die Worte heraus. „Ich mußte Sie noch einmal sehen. Ich glaube, ich habe Patty Cake gefunden! Aber das ist nicht alles. Das Gespenst oder jemand anders hat mir eine Nachricht zukommen lassen, ich kann nicht viel damit anfangen, trotzdem möchte ich, daß Sie mit mir in die Höhle gehen, in der wir schon einmal waren. Die Leiche hat dort gelegen, wo Roger Wickett und Alan Burke gefunden worden sind, jedenfalls nehme ich es an..." „Und ob ich mit Ihnen in die Höhle gehe!" verkündete er. „Wir brauchen einen Strick und Laternen. Wenn wir uns beeilen, können wir beides im Laden kaufen, ehe er geschlossen wird." Sie stieg mit ihm in seinen Jeep, der den Unfall so gut über-
standen hatte wie sein Besitzer. Wenige Minuten später brachte Dawson das Vehikel in Devil's Point vor dem Kaufhaus zum Stehen. Er ging allein hinein und kam mit einem schweren Paket wieder. „Ein Glück, daß die Leute in dieser Siedlung nicht neugierig sind", meinte er. „Wenn der Verkäufer mich gefragt hätte, wozu ich die Ausrüstung haben will, hätte ich bestimmt keine überzeugende Auskunft geben können." „Das geht den Verkäufer nichts an", entschied sie. „Für was wir die Sachen brauchen, meine ich." „Das stimmt zwar", erwiderte er, „aber darauf nehmen die Leute im allgemeinen keine Rücksicht. Man kann sie nicht zurechtweisen, ohne sich für alle Zeit unbeliebt zu machen." Er lenkte den Wagen zu dem Hang über dem Achat-Strand und ließ ihn mit ausgeschalteten Scheinwerfern stehen. Katherine erklärte ihm, wo sie am Vormittag den Schuh entdeckt hatte. Nach einigen Irrwegen fanden sie die richtige Stelle. Der Schuh war noch da. Dawson atmete geräuschvoll ein. „Na also", sagte er leise. „Allmählich kommen wir den Geheimnissen auf die Spur." Von hier aus übernahm Katherine die Führung. Beim Schein der Laternen war es nicht weiter schwierig, den Weg zurückzuverfolgen, den sie auf Händen und Knien hinter sich gebracht hatte. Dawson ließ den Kegel einer Taschenlampe über den Boden der tiefen Grube wandern, wo Katherine die Leiche entdeckt hatte. Die Leiche war verschwunden; Brock hatte nicht gelogen. Katherine wandte sich zu Dawson. Sie hatte unbegrenztes Vertrauen, daß er auch mit dieser Schwierigkeit fertig wurde. Dawson runzelte die Stirn und starrte nach unten. „Der Schlick scheint ziemlich dick zu sein", sagte er. „Wenn die Flut in die Höhle dringt, bewegt er sich, vielleicht hat er die Leiche zugedeckt." „Das ist möglich", versicherte sie eifrig. „Sie war sowieso beinahe im Schlick vergraben." „Ich steige hinunter", entschied Dawson. „Ist das nicht gefährlich?" „Nicht sehr. Im Augenblick ist dort kein Wasser." Er befestigte den Strick an einem Felszacken, reichte Katherine die Lampe und nahm eine zweite Lampe mit. Dann hangelte er sich in die Höhle hinab. Katherine sah, wie der Strick schlaff wur-
de, dann geisterte wieder der Lichtkegel über den Boden. Katherine wartete. Der Lichtschein entfernte sich aus ihrem Blickfeld und kam einstweilen nicht zurück. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „William!" rief sie. „Haben Sie etwas gefunden?" „Noch nicht." Seine Stimme schallte wie aus einer Gruft. Unten wurde es hell, schemenhaft war Dawsons Silhouette zu erkennen. Er bückte sich und scharrte mit den Händen im Schlamm. Katherine beugte sich vor und hielt sich an dem Strick fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „William, was ist es?" „Ich weiß noch nicht..." „Ist...ist es Patty?" Er antwortete nicht. Vom Meer her kam ein dumpfes Grollen, das allmählich lauter wurde, bis es wie ein Flugzeugmotor klang. „William!" rief Katherine. „Die Flut!" Er achtete nicht auf sie, er buddelte. Ein Schwall Wasser schwappte unten in die Höhle, Dawson wurde von den Füßen gerissen. Das Wasser sprühte bis hinauf zu Katherine. „William!" rief sie entsetzt. Sie spürte, wie der Strick sich straffte, einen Augenblick später wälzte sich Dawson über den Rand des Lochs. Er war tropf naß und wischte sich die Haare aus dem Gesicht und spuckte. „Keine Leiche", stieß er atemlos hervor. „Aber das..." Er warf einen schlammbedeckten Stoffetzen auf die Erde. Der Fetzen war ein Chinesenkleid aus dunkelroter, goldbestickter Seide. „Solche Kleider haben Johanna Lowell und Elaine Wong getragen", flüsterte Katherine. „Ich hatte mich nicht geirrt! Aber wo ist Patty?" Dawson berichtete, daß er unten Fußspuren gefunden hatte. Die Polizei war also da gewesen, meinte Katherine, die Beamten hatten sich umgesehen. Dawson war skeptisch. Er hielt es für wahrscheinlicher, daß die Spuren von einem Menschen stammten, der die Leiche beseitigt hatte. Vermutlich hatte der Mörder Katherine beobachtet und ahnte, daß sie Patty entdeckt hatte. „Nein", sagte Katherine in einem Anflug von Sarkasmus. „Jemand versucht mich um den Verstand zu bringen, und dieser Jemand könnte bald sein Ziel erreichen!" Dawson besah sich das Kleid.
„Innen sind ein paar chinesische Schriftzeichen", murmelte er. „O Gott!" Katherine schnappte nach Luft. „Nicht noch mehr Rätsel, das verkrafte ich nicht!" „Wahrscheinlich sind die Zeichen nur der Name der Schneiderin", gab Dawson zu bedenken. „Man könnte von ihr vielleicht eine Information bekommen." „Aber wie?" entgegnete Katherine entmutigt. „Sie können die Zeichen nicht lesen, Sie haben auch mit den Zeichen auf der Muschel nichts anfangen können." „Ich telefoniere", erklärte er. „Ich treibe einen Menschen auf, der Chinesisch kann, und wenn ich ein Ferngespräch bis nach Formosa führen muß!" „Verschwinden wir aus der Höhle", schlug Katherine vor. „Sie ziehen sich sonst eine Lungenentzündung zu. Zena hat die Flut viel früher erwartet, ich wundere mich, daß sie sich getäuscht hat..." Als sie wieder an die Oberwelt kamen, stand der Mond niedrig über dem östlichen Horizont. Dawson hatte das Kleid mitgenommen. Er erging sich in Ausführungen, wozu ihm der Name der Schneiderin vermutlich dienen konnte. Katherine hörte nicht zu. „Ich muß mich verabschieden", sagte sie ernst. „William, leben Sie wohl." Sie wandte sich nicht noch einmal zu ihm um. Sie kletterte den Pfad hinauf, der durch den Wald und zum Strand vor der Hütte führte. Sie erinnerte sich daran, daß sie schon einmal durch diesen Wald gelaufen war; damals hatte sie sogar bei Tag Angst gehabt. Jetzt hatte sie keine Angst. Sie wußte nur, daß sie wieder zu Hause sein mußte, ehe Brock kam und nach ihr suchte.
25. Schon aus einiger Entfernung sah Katherine, daß im Haus kein Licht brannte; gleichzeitig glaubte sie den Klang einer einsamen Glocke zu hören. Sie rannte durch die Einfahrt und im Dunkeln treppauf. Im oberen Korridor trat ihr eine bleiche, hagere Gestalt entgegen, im letzten Augenblick erkannte sie den alten Wickett. Er trug wieder sein Nachthemd und sah gespenstischer aus als sein Sohn Roger, der wirklich ein Gespenst war. Wickett reckte beide Arme hoch und hielt eine riesige Vase in
den Händen. Katherine erstarrte. Im grauen Licht, das durch das Fenster sickerte, leuchteten Wicketts Augen wie das Elmsfeuer an jenem Abend, da Zena und Ann ihre Seance abgehalten hatten. Blaues Licht für unglückliche Geister... Katherine löste sich aus der Erstarrung. Sie schrie und taumelte zurück, im selben Moment schmetterte Wickett die Vase dorthin, wo sie eben noch gestanden hatte. Sie wirbelte herum und floh, mit überraschender Behendigkeit holte Wicket sie ein. Wieder riß er beide Arme hoch; diesmal hatte er eine Porzellanfigur gepackt, ein Mädchen in einer Schürze und mit einem Korb Obst auf dem Kopf. Wieder wich Katherine aus, die Figur zerschellte auf dem Boden. Katherine rannte die Treppe hinunter, erreichte die Bibliothek, schlüpfte hinein und drehte den Schlüssel um. Sie setzte sich ausgepumpt auf einen Stuhl. Sie war entschlossen zu bleiben, bis Brock kam und sie befreite. Der Mond kroch durchs Fenster, und sie war dankbar dafür, denn sie hatte nicht gewagt, das Licht anzuschalten. Draußen tappte Wickett heran und vorbei, offenbar ahnte er nicht, wo sie sich verkrochen hatte. Gedankenlos blickte Katherine zu den Bücherrücken. Plötzlich wurde sie aufmerksam. Eines der Bücher trug den Titel Clavicules de Salomon. Sie nahm es aus dem Regal. Salomon eins vier bedeutete also erstes Kapitel, Seite vier, der alte Wickett hatte nicht die Bibel gemeint, sondern diesen okkultistischen Schmöker, und er hätte sich die umständliche Beschreibung schenken können, die Seitenzahl allein hätte genügt. Sie schlug die Seite auf. Da war ein Kreis mit zwei Quadraten abgebildet, wie Katherine ihn in der Felsenkammer am Strand gefunden hatte, auch die Inschriften waren identisch. Sie war der Fährte eines einzelnen gefolgt, aber zwei Fährten hatten aus der Kammer herausgeführt, und Katherine hatte sich an die Laterne erinnert, die sie durchs Fenster von Zenas Zimmer gesehen hatte. Sie trat mit dem Buch ans Fenster. Der Text war französisch. Sie mobilisierte ihre Schulkenntnisse. Zu der Skizze gehörte eine Anleitung, Dämonen zu beschwören. Der Mann mit der Laterne war also tatsächlich der alte Wickett. Er hatte sich aus dem Haus und ans Meer gestohlen und einen Dämon gerufen. Ann und später Zena hatten die Glocke des Girardius geläutet. Zena hatte noch gemeint, daß dazu ein beträchtliches Geschick gehörte, weil
die Glocke bis in Sphären reichte, die den Dämonen vorbehalten war, während die näheren Schichten rings um die Erde das Reich der Toten war. Der alte Wickett, ein erfahrener Okkultist, hatte die Gelegenheit dazu benutzt, die sogenannten psychischen Schwingungen abzulenken, und statt Johanna Lowell war ein Dämon erschienen. Der Dämon hatte menschliche Gestalt angenommen, die Fußspuren bewiesen es. Er und Wickett hatten miteinander den Kreis verlassen. Aber warum hatte Wickett den Dämon geholt, und warum hatte er versucht, sie, Katherine, davon zu unterrichten? Und wo war der Dämon geblieben? Wenigstens diese Frage war zu beantworten: Der Dämon war Charles Robinson! War Robinson ihr Feind? Dann hätte Wickett ihr, Katherine, seine Natur verheimlicht, und Robinson hätte sich mehr um sie gekümmert. Nach dem ersten Morgen hatte er sie kaum noch beachtet und sich statt dessen mit Ann abgegeben... Die Haustür wurde aufgerissen und wieder zugeschlagen, Davids Stimme schreckte Katherine aus ihren Gedanken. „Ann, bist du hier? Ann! Ist niemand zu Hause?" Katherine legte das Buch aus der Hand, schob den Riegel zurück und lief zum Korridor. David hatte die Deckenbeleuchtung angeschaltet. Katherine sah, daß er getrunken hatte. „Sie ist nicht hier", sagte sie. „Ich weiß nicht, wo sie ist." „Zu Hause ist sie nicht", erklärte David mürrisch. „Ich hätte ihr einiges mitzuteilen, aber vermutlich ist sie mit diesem Robinson abgehauen!" „Bestimmt nicht", sagte sie unsicher. „Er ist ein Satan!" schimpfte David. „Ich bin heute früh nach San Francisco gefahren, um einige von meinen Arbeiten zur Miramar Gallery zu bringen. Die Leute dort hatten von mir noch nie gehört, deswegen hab ich nach Robinson gefragt. Einer der Angestellten hat ihn aus seinem Büro geholt. Er hat mich verständnislos angeschaut und behauptet, er hätte mich noch nie gesehen. Er hat mich praktisch vor die Tür gesetzt. Mir ist jetzt alles klar! Er war von Anfang an nur hinter Ann her, und mich hat er mit seinem Geschwätz über Ruhm und Reichtum eingelullt, bis ich so in meine Arbeit verbissen war, daß ich nicht mehr mitgekriegt hab, was er treibt. Er hat mir Ann ausgespannt! Ein teuflischer Plan..." „Ja, David, ein teuflischer Plan!" Katherine nickte. „Teuflischer
als Sie ahnen! Der Charles Robinson, den Sie in San Francisco getroffen haben, ist nicht unser Charles Robinson; der ist nämlich wirklich ein Teufel - oder sagen wir lieber ein Dämon. Ich bin kein Experte, ich kenne also nicht den genauen Unterschied. Der Dämon hat die Gestalt Robinsons angenommen, auf diese Art hatte er Zutritt bei Zena - ein alter Freund, den sie lange nicht mehr gesehen hatte." Wie betäubt taumelte David in die Bibliothek und sackte schwer auf einen Sessel. Hastig berichtete Katherine, was sich ereignet hatte, gleichzeitig fragte sie sich, ob der alte Wickett aus einem Versteck zuhörte und was er von ihren Kombinationen hielt. „Katherine", sagte David, als sie fertig war, „das ist die wüsteste Geschichte, die ich je gehört habe. Ich fürchte, ich bin sehr betrunken, denn ich neige dazu, sie zu glauben. Aber was will der Dämon von Ann?" „Ich weiß es nicht. Zuerst habe ich gedacht, er hat es auf mich abgesehen. Wenn ich Zeit hätte, könnte ich jetzt selber einen kräftigen Schluck vertragen." „Der alte Wickett will bestimmt nicht, daß Ann etwas geschieht", meinte David. „Da bin ich ganz sicher. Vielleicht hat er Sie deswegen warnen wollen - weil er die Kontrollen über seinen Dämon verloren hat. Katherine, wir müssen Ann suchen!" „Vielleicht im Institut", gab Katherine zu bedenken. „Vor gut einer Stunde bin ich dort Charles Robinson begegnet." Der Lieferwagen, mit dem David nach San Francisco gefahren war, stand vor der Tür. David und Katherine stiegen ein, und David jagte die dunklen Straßen entlang. Er war vor Überraschung schlagartig nüchtern geworden. Der Mond stand höher am Himmel als vorhin, die Landschaft war in ein bleiches Licht getaucht. Als David vor dem Ausstellungsgebäude bremste, hörten er und Katherine, wie drinnen eine Frau gellend schrie. Sie stürzten zur Tür und durch den spiralförmigen Gang. Vom Mittelpunkt des Schneckenhauses her klangen Schritte auf. David blieb stehen und bückte sich. Auf dem Boden lag eine Haarspange. „Sie gehört Ann", sagte er nervös. „Sie ist also hier!" Die Schritte klapperten nach oben in das erste Stockwerk. David und Katherine eilten zur Treppe. Im sogenannten Mittelraum standen Ann und Zena. Ann hatte einen Meißel in der Hand und
zielte damit auf Zenas Kehle, seitab auf einem Sockel war Davids Statue, darüber hing das Bild Johanna Lowells, das eine Frau mit einer Schlinge um den Hals darstellte. Ann entdeckte David und Katherine und reagierte blitzschnell. Sie zerrte Zena durch eine Glastür nach nebenan und warf die Tür zu. Die Tür hatte einen schweren Stahlrahmen. David schnellte zur Tür und wollte sie aufreißen. „Sie ist verschlossen!" schrie er und hämmerte dagegen. „Holen Sie den Hausmeister, ich versuche die Tür einzuschlagen!" Katherine lief nicht zum Hausmeister. Sie sah durch die Scheibe, wie Zena sich verzweifelt wehrte, und unvermittelt fiel ihr der alte Wickett ein, wie er die Vase und die Porzellanfigur zertrümmert hatte. Sie begriff, was zu tun war, doch sie durfte es nicht selbst tun. „Nicht die Tür, David!" rief sie. „Die Statue - vernichten Sie die Statue!" Er hatte das Bildwerk geschaffen, seine Aufgabe war es, die Figur zu zerstören. David blickte von Katherine zu der Statue, und in seinen Augen dämmerte Verständnis. Er sprang zu der Skulptur und stieß sie vom Sockel. Der Ton war oberflächlich abgetrocknet und zerbarst, und David stieg über die Trümmer und kehrte zur Tür zurück. Sie ließ sich mühelos öffnen. Ann hatte den Meißel fortgeworfen und starrte David verständnislos an. „Du hast sie vernichtet", sagte sie heiser. „Warum?" „Das war nicht meine Arbeit", sagte er leise, „in Wirklichkeit hat Charles Robinson sie geschaffen. Er hat mich beeinflußt, damit ich deine Seele in dieser Figur einfangen konnte, dann hat er die Figur dazu benutzt, um Gewalt über dich zu erlangen. Ich habe es erst jetzt gemerkt." „Charles?" Ann spähte verwirrt zu dem Meißel auf dem Boden. „Charles war nicht Charles", erläuterte Katherine. „Er war - oder ist - ein übernatürliches Wesen, er konnte nicht selbst handeln, er hat ein Werkzeug gebraucht." „Er wollte einen Mord begehen, und ich sollte seine Waffe sein." Ann zitterte, sie war leichenblaß. „Als er da war, habe ich angefangen, Zena zu hassen. Er hat mich für diesen Mord präpariert! Aber weshalb sollte Zena ermordet werden?" Zena schaltete sich ein. Sie war zerzaust und zerkratzt und anscheinend einem Nervenzusammenbruch nahe. „Pops!" sagte sie. „Pops hat ihn aufgehetzt! Seit Roger tot ist,
hat sein Verstand sich immer mehr verwirrt. Ich habe mich nicht mit ihm in dieser Einöde vergraben, weil ich ihn so liebe, sondern um ihn unter Kontrolle zu behalten. Ich hatte eine Menge von ihm gelernt, aber er kennt nicht wenige Tricks. Ich habe Tag und Nacht gegen ihn kämpfen müssen. Er ist ein geschickter Okkultist! Er hat mir jahrelang nach dem Leben getrachtet." „Aber warum?" fragte Ann. „Zena, warum?" „Er gibt mir die Schuld an Rogers Tod", erläuterte Zena. „Roger war sein einziges Kind, ein verwöhntes Kind, und er hatte grundsätzlich nie unrecht. Wenn Roger hinter anderen Frauen her war, wenn ihm die Ehe nicht gepaßt hat - der Alte hat immer mir die Schuld gegeben. Und Roger war nicht selten hinter Frauen her! Vor allem auf Elaine Wong hatte er es abgesehen. Sie hatte schon mit ihm Schluß gemacht, bevor ich Roger kennenlernte, und zuerst habe ich gedacht, er ist großzügig, weil er ihr und Alan Burke die Hütte für die Flitterwochen überlassen wollte. Dann habe ich gemerkt, daß er ihr immer noch oder wieder nachgestiegen ist. Während sie auf Alan gewartet hat, ist Roger zu ihr in die Hütte gegangen. Alan war gerade angekommen, und er und ich waren im Hof, als wir hörten, wie Elaine plötzlich schrie. Alan ist zur Hütte gerannt. Über dem Kamin hing ein Gewehr, Alan hat es an sich genommen und Roger bis in die Höhle, das sogenannte Eye, verfolgt. Vermutlich haben sie sich am Rand des Lochs, das The Mouth heißt, gebalgt und sind abgestürzt." „Dann ist der alte Wickett wahrscheinlich auch für die Morde in der Hütte verantwortlich", meinte Katherine. „Könnte er da auch mit seinen okkultistischen Tricks gearbeitet haben? Vielleicht hat er einen Bann ausgesprochen, der die Frauen in der Hütte zum Selbstmord zwingt." „Bei Elaine und Johanna habe ich noch an einen Zufall geglaubt", sagte Zena. „Als Patty verschwand, bin ich mißtrauisch geworden." „„Es war bestimmt kein Zufall!" entschied Katherine. „Jedesmal war ein chinesisches Prunkkleid im Spiel. William Dawson hat so ein Kleid auf dem Grund der Höhle gefunden, wo ich die Leiche gesehen habe." Zena schüttelte den Kopf. „Dann hat er mich geblufft", sagte sie. „Dann verfügt er noch über mehr Fähigkeiten, als ich angenommen hab." „Aber diese Morde sind doch sinnlos!" rief David. „Was kann er
sich davon versprechen?" „Wer weiß...?" Zena zuckte mit den Schultern. „Er ist eben verrückt." „Das überzeugt mich nicht", beharrte David. „Wickett ist nicht so verrückt, daß ihm gleichgültig ist, wen er umbringt. Er hat Katherine vor Charles warnen wollen, offenbar war er nicht damit einverstanden, daß der Dämon Ann mißbraucht..." „Wir können ihn nicht fragen", erklärte Zena niedergeschlagen. „Ich kann mich auch nicht an die Polizei wenden; dazu ist das alles zu absurd. David, Sie sollten Ann nach Hause bringen, sie sieht angegriffen aus." „Ich sehe nicht nur so aus." Ann lachte verlegen. „Ich bin völlig ausgelaugt." „Was haben Sie selbst jetzt vor?" wollte David wissen. „Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich unter einem Dach mit dem gefährlichen alten Mann nicht wohlfühlen." „Ich bleibe vorläufig in der Hütte", antwortete Zena. „Katherine kann mich begleiten und auf Brock warten; er muß jeden Augenblick kommen. Ich habe Katherine gesucht, deswegen bin ich zum Institut gefahren. Charles hat mich hergelockt, er hat behauptet, er hätte Katherine hier getroffen. Es war eine Falle." „Entschuldigen Sie", sagte Ann zerknirscht. „Ich mußte es tun. Ich frage mich, wo Charles jetzt ist..."
26. Die Hütte roch wieder penetrant nach Zenas Badesalz; außerdem verbrannte Zena Weihrauchstäbchen. Katherine vermutete, daß sie damit den Zauber des alten Wickett brechen wollte. Sie hatte Kopfschmerzen und ging nach oben ins Schlafzimmer. Sie blickte aus dem Fenster zum Meer und hörte, wie der Wind durch die Bäume pfiff. Es hörte sich an, als ob jemand unterdrückt schluchzte. Eine ganze Weile stand sie so da, und das gespenstische Schluchzen wurde allmählich lauter und verzweifelter. Endlich drehte Katherine sich um und ging mit schweren, unbeholfenen Schritten zum Schrank. Sie bewegte sich wie eine Marionette und spürte wieder, wie sich ein Nebel über ihr Gehirn legte. Mechanisch öffnete sie den Schrank. Dort hing ein langes, rotes
Chinesenkleid. Willenlos wie ein Zombie zog Katherine es an. Auf dem Frisiertisch lag der Meißel, mit dem Ann auf Zenas Hals gezielt hatte, Katherine wußte nicht, wie er auf ihren Tisch gekommen war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn mitgenommen zu haben. „Brock...", stöhnte sie. Sie griff nach dem Meißel und trat vor den Spiegel. Sie setzte den Meißel an ihre Brust und dachte vage an den Bann, der die Frauen, die in dieser Hütte lebten, zum Selbstmord trieb. Elaine und Johanna hatten davon nichts gewußt/aber sie wußte es! Sie wirbelte herum und rannte die Treppe hinunter. „Zena! Helfen Sie mir!" Zena saß in der Küche am Tisch und hatte die Glocke des Girardius vor sich, die Weihrauchstäbchen qualmten. Zena warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Zena, hören Sie zu!" sagte Katherine verständnislos. „Am ersten Abend ist der alte Wickert zu mir geschlichen und wollte mir eine Haarsträhne abschneiden, vielleicht hat er es sogar getan, und ich habe nichts davon gemerkt. Damit wollte er Gewalt über mich gewinnen! Zena, haben Sie überhaupt zugehört?!" „Natürlich habe ich es gehört." Zena amüsierte sich prächtig. „Er hätte Sie damit retten können, aber er hat Ihnen die Strähne nicht abgeschnitten, ich habe ihm rechtzeitig die Schere abgenommen! Er ist gerissen, er hat den Dämon angerufen, um mich zu ermorden, und beinahe wäre es ihm gelungen!" „Wo ist Brock?" fragte Katherine verstört. „Kommt er nicht?" „Brock kommt nicht." Zenas Augen funkelten triumphierend. Sie hob die Glocke und ließ sie vorsichtig klingen. „Aber Roger kommt! Roger, ich bin soweit, Mutter ist soweit! Es ist Zeit für dich!" Endlich dämmerte Katherine der Sachverhalt: An jenem Nachmittag hatte Zena mit Roger gesprochen! „Warum?" fragte sie heiser. „Warum verlangt Roger, daß ich sterbe?" „Sie sind aber wirklich schwer von Begriff", brummte Zena. „Roger will nicht, daß Sie sterben! Roger mag es nicht, wenn hübsche Mädchen umgebracht werden. Roger hat versucht, Sie zu warnen. Sie müssen sterben, weil ich wünsche, daß Roger dabei zusieht! Es ist eine Strafe für ihn, eine großartige Folter. Pops wollte mich ermorden, um Roger von dieser Tortur zu erlösen."
Wieder schlug sie die Glocke an und lachte. „Sie sind eine Braut, die auf den Bräutigam wartet, genau wie Elaine", erklärte sie aufgeräumt. „Wie Elaine werden Sie Ihre Hochzeitsnacht nicht erleben! Ich habe Elaine gehaßt, weil Roger sich für sie interessiert hat. Wenn Elaine nicht gewesen wäre, könnte Roger noch leben! Ich habe Freundschaft geheuchelt und sie bei mir festgehalten. Ich hab sie zum Selbstmord verdammt. Es war ganz einfach, weil der Mond ihren Geist in den Äther gesogen hatte, sie hatte keine Widerstandskraft. Ich habe Roger zusehen lassen, damit habe ich mich an beiden gerächt. Er hat sehr gelitten! Danach hab ich jahrelang gewartet, aber ich bin den Gedanken nicht losgeworden, ihn noch einmal zu bestrafen. Brock hat mir Johanna mitgebracht, und er hat sie unter einem Liebesbann gezwungen, in der Hütte zu bleiben, genau wie er es bei Ihnen gemacht hat. Wegen Elaine hatte ich einen asiatischen Zauber benutzt; er hat auch bei Johanna gewirkt. Sie war so davon angetan, daß sie asiatische Kunst studiert hat!" „Das glaube ich nicht", flüsterte Katherine. „Brock ist unschuldig! Sie sagen das nur, um mich zu quälen!" Zena ging auf die Bemerkung nicht ein. „Hören Sie das Schluchzen?" fragte sie. „Das ist Roger, er weint. Wie ich dieses Geräusch liebe! Warum kämpfen Sie gegen Ihr Schicksal an, Katherine? Patty hat auch gekämpft. Sie ist aus der Hütte geflohen, aber dem Bann konnte sie nicht entfliehen. Sie ist in der Höhle abgestürzt, wir haben nicht einmal gewußt, wo sie war, bis Sie die Leiche fanden. Dann haben wir sie natürlich beseitigt. Sie schaffen es nicht bis zur Höhle, Katherine. Gehen Sie nach oben, Sie sind müde. Nehmen Sie den Meißel, tun Sie, was Sie tun müssen, dann finden Sie Ruhe." Gehorsam kehrte Katherine ins Schlafzimmer zurück. Der Griff des Meißels war glatt und fühlte sich angenehm an. Zena lachte wieder in der Küche, und die Glocke war zu hören. Dann krachte und polterte es, und die Glocke verstummte. Katherine hörte Schritte auf der Treppe, der Meißel wurde ihr aus der Hand gerissen. „Brock", flüsterte sie dankbar. „Du bist gekommen!" Aber es war nicht Brock. Dawson hielt sie an beiden Schultern fest und sah sie aufmerksam an. „Ich habe die Schneiderin gefunden", sagte er ernst. „Von ihr habe ich erfahren, daß Zena die Kleider bestellt hatte. Damit war
alles klar." „Mir ist schwindlig", sagte sie undeutlich. „Der Geruch..." Er riß das Fenster auf. „Das genügt nicht", sagte sie. „Patty war nicht einmal in der Hütte. Frische Luft ist zu wenig." „Was soll ich machen?" Sie hatte einen Einfall. „Geben Sie mir eine Zigarette." Er gab ihr eine Zigarette und steckte sich selbst eine an. Der Duft des Tabaks überlagerte den Geruch des Sandelholzes und des Weihrauchs. Katherine kicherte hysterisch. „Jetzt weiß ich, warum ich aufhören sollte zu rauchen", sagte sie. „Deswegen wäre Patty beinahe entkommen! Sie hat geraucht; das Zigarettenetui beweist es." „Aber Zena sollte nicht entkommen", mahnte er. „Wir müssen sie verfolgen." Zena hatte einen beachtlichen Vorsprung. Sie war schon auf der Klippe, als Dawson und Katherine auf den Hof kamen. Sie rannte zum Devil's Walk, wo im Mondlicht die riesigen Hufspuren aus der Vorzeit klar zu erkennen waren. Vorübergehend tauchte Zena zwischen den Bäumen unter, und Dawson und Katherine bekamen sie erst wieder zu Gesicht, als sie das Plateau mit den qualmenden Erdrissen erreichte. Hinter ihr war eine schemenhafte Gestalt zu sehen. „Das ist Charles!" sagte Katherine entgeistert. „Der alte Wickett hat seinen Dämon auf sie angesetzt!" Zena flüchtete vor dem Dämon, obwohl sie doch hätte wissen müssen, daß er ihr kein körperliches Leid zufügen konnte. Blindlings hastete sie über das Plateau, dann hörten Katherine und Dawson, wie sie gellend kreischte. Die Erde sog sie auf. Charles Robinson war plötzlich nirgends mehr zu entdecken. Katherine sah Brock nie wieder, und sie fragte sich, ob er nicht Zenas Werkzeug gewesen sei, wie Robinson das des alten Wickett. Hatte Robinson sie deswegen nicht benutzt, um Zena zu ermorden, und sich für Ann entschieden - weil sie, Katherine, bereits von einem Dämon besetzt war? Der alte Wickett zog in ein Altenheim. Katherine blieb noch einige Tage in dem verödeten Haus, dann verließen sie und Dawson Devil's Point. Dawson hatte ein Angebot, für den Rest des Som-
mers in einem College in der Nähe von Los Angeles zu unterrichten. „Wenn es mir gefällt, bleibe ich vielleicht länger", meinte er. „Das heißt, es kommt natürlich auch darauf an, wie es dir dort gefällt." „Mir gefällt es, wo du bist, William", sagte sie zärtlich. „Sogar in einem College." Dawson steuerte den Wagen in Richtung San Francisco. Sie saßen in Katherines Wagen, denn seinen Jeep hatte er verkauft. Katherine schloß die Augen und träumte. Wieder hatte sie den Eindruck, aus der Ferne eine Glocke zu hören, aber sie hielt es für möglich, daß es eine Hochzeitsglocke war.
ENDE