Stefan Weber
Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden
TELEPOLIS
Stefan Weber, Jg. 1970, ist habilitierter Medienwissenschaftler aus Salzburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Österreichischen Medienakademie. Er ist Autor mehrerer Bücher zu Medientheorie und Journalistik.
Das Online-Magazin Telepolis wurde 1996 gegründet begleitet seither die Entwicklung der Netzkultur in allen Facetten: Politik und Gesetzgebung, Zensur
4 www.telepolis.de
und Informationsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, wissenschaftliche Innovationen, Entwicklungen digi-
taler Kultur in Musik, Film, bildender Kunst und Literatur sind die Kernthemen des Online-Magazins, welche ihm eine treue Leserschaft verschafft haben. Doch Telepolis hat auch immer schon über den Rand des Bildschirms hinausgesehen: Die Kreuzungspunkte zwischen realer und virtueller Welt, die »Globalisierung« und die Entwicklung der urbanen Kultur, Weltraum und Biotechnologie bilden einige der weiteren Themenfelder. Als reines Online-Magazin ohne Druckausgabe nimmt Telepolis damit eine einzigartige Stellung im deutschsprachigen Raum ein und bildet durch seine englischsprachige Ausgabe und seinen internationalen Autorenkreis eine wichtige Vermittlungsposition über sprachliche, geografische und kulturelle Grenzen hinweg. Verantwortlich für das Online-Magazin und Herausgeber der TELEPOLIS-Buchreihe ist
Florian Rötzer.
TELPOIS
Stefan Weber
Das Google-Copy-PasteSyndrom Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden
Stefan Weber
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Reihenherausgeber: Florian Rötzer, München,
[email protected]
Copy-Editing und Lektorat: Susanne Rudi, Heidelberg Satz: Petra Strauch, Just in Print Herstellung: Birgit Bäuerlein Umschlaggestaltung: Hannes Fuß, www.exclam.de Druck und Bindung: Koninklijke Wöhrmann B.V., Zutphen, Niederlande
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN-10: 3-936931-37-2 ISBN-13: 978-3-936931-37-2
1. Auflage 2007 Copyright © 2007 Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG, Hannover
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Inhalt
1
Hinweise zur Lektüre
1
2
Ein Verdacht
3
3
Vorboten
9
4
5
3.1
Mythen machen blind: Kritik des Mainstreams der Medienwissenschaft
.........................
9
3.2
Die Ergoogelung der Wirklichkeit ............................................
16
3.3
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? Das systematische Quellenproblem des Online-Lexikons .................
27
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
39
4.1
Eine Plagiatstypologie ..........................................................
41
4.2
Umfragen zum Plagiarismus: Erhärtet sich die Ein-Drittel-Quote? ...
49
4.3
Copy/Paste: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs
.....
58
4.4
Ein paar Fälle aus dem Kuriositätenkabinett ...............................
68
4.5
Der Induktionsschluss bei Plagiaten
71
4.6
»Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
.............................
79
4.7
Ursachenforschung ...............................................................
90
4.8
Lösungsansätze
..................................................................
Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
100 117
»i©h bea4he >dkH( wie di€ £0ft 2Üm ätme2«: Copy/Paste bei Weblisch-Formeln ............................................
122
5.2
SMS-, Mail- und Chat-kontaminierte Lese- und Schreibkultur ........
127
5.3
Bullshit-PR und heiße Luft: in neuen Medien und über neue Medien ...
142
5.4
Medienwissenschaft als Mickymausforschung
.............................
148
5.5
Technophilie als Ideologie ......................................................
151
5.6
Eine Hoffnung ....................................................................
157
5.1
6
.........................................
Abbildungs und Tabellenverzeichnis
159
6.1
Abbildungen .......................................................................
159
6.2
Tabellen .............................................................................
159
-
1
Hinweise zur Lektüre
Dieses Buch ist keine Streitschrift gegen bestimmte Universitäten oder ihre Institute. Dass gewisse — vorwiegend österreichische — Universitäten immer wieder genannt werden, hängt ausnahmslos damit zusammen, dass ich an diesen Universitäten geforscht und/oder gelehrt habe. Zahlreiche Fallbeispiele stammen natürlich aus diesem Umfeld. (Wenn jeder Wissenschaftler von ähnlichen Erfahrungen berichten könnte, würde es um die Universitäten nicht gut stehen.) Es geht mir nicht um einen »Rachefeldzug« gegen die akademische Welt oder gewisse Institute. Solcher Rachegelüste bezichtigen mich meist jene, die ein von mir aufgedecktes Plagiat übersehen haben. Es handelt sich somit eher um einen psychologischen Mechanismus bei gewissen Professoren, der mit mangelnder Fehlerkultur und unzureichender Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung zu tun hat. Wer den grassierenden Plagiarismus kritisiert, bekommt als Reaktion oft zu hören, dass er zuerst vor seiner eigenen Tür kehren solle, da er ja selbst auch schon Textklau betrieben habe. Zur Stützung dieser Anschuldigung werden mitunter die obskursten Dinge herangezogen. Mit gutem Gewissen kann ich sagen: Ich habe nie plagiiert. Natürlich habe auch ich für mein Buch die Google-Copy-PasteMethode (hier im Folgenden kurz: GCP) benutzt. Ein Beispiel: Um die Internetquelle eines vor längerer Zeit ausgedruckten Merkblatts »Zitat und Plagiat« herauszufinden, habe ich die Wörter »Zitat« und »Plagiat« gegoogelt, das Dokument als PDF im Netz wiedergefunden und die URL anschließend in den Fußnotenbereich meines Manuskripts hineinkopiert. Dieses Buch handelt jedoch nicht von dieser Technik. Es handelt vielmehr davon, dass eine mir unbekannte Anzahl von Menschen die GCP-Methode derzeit dafür benutzt, fremde Texte aus dem Web als eigenen »Fließtext«, als eigene Wissenschaftsprosa, als eigene geistige Arbeit auszugeben. Um die »Täter« zu schützen, habe ich auf Namensnennungen der Plagiatoren bei »meinen« Fällen verzichtet. Ich tat dies, um mögliche rechtliche Probleme im Ansatz zu vermeiden, halte es aber ehrlich gesagt sogar für übervorsichtig. Denn immerhin haben alle Beschuldigten akademische
1
Abschlussarbeiten geschrieben oder sogar Bücher veröffentlicht. Ihre Namen stehen oder standen in Bibliothekskatalogen, ihre Werke sind oder waren öffentlich zugänglich. Einige von ihnen haben mit ihrem plagiierten Wissen auch Vorträge gehalten und Seminare geleitet. Sie selbst begaben sich also in die Öffentlichkeit und schmückten sich dort mit fremden Federn. Ich bin mehreren Kolleginnen und Kollegen sowie Freundinnen und Freunden zu großem Dank verpflichtet: Den Professoren Josef Mitterer, Debora Weber-Wulff und Gerhard Fröhlich danke ich für intellektuelle Inspirationen und wertvolle Inputs rund um die Plagiatsproblematik. Die »Praktiker« Hans Martin Paar, Christina Flume, Anna-Eva Köck, Rudy Ratzinger und Thomas Sturm haben mir konkrete Beispiele und Literaturhinweise übermittelt, die ich in die Publikation gewinnbringend aufnehmen konnte. Wie immer danke ich insbesondere auch meinen Lieblingswirtsleuten Anton und Edith Haas mit Team für ebenso wertvolle Stunden der Inspiration im »Bräustübl Kaltenhausen« bei Salzburg, in dem auf Tisch 16 gerne zu fortgeschrittener Stunde die Philosophie des Non-Dualismus erklärt und über Plagiatoren geschimpft wird.
Stefan Weber, Salzburg und Dresden, im Herbst 2006
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H inweise zur Lektüre
Bleiben wir zum Einstieg gleich bei meinem fiktiven Beispiel: Sagen wir, für ein medienpädagogisches Seminar sei eine Hausarbeit zum Thema »Die Medienrezeption bei Kindern am Beispiel der Serie [...] « zu schreiben. Eine ordentliche theoretische Durchdringung des Themas, die Entwicklung von relevanten Forschungsfragen und ähnliche mühevolle Gedankenakrobatik sind nicht mehr notwendig. Studierende kennen das Ritual: Da muss ein Theorieteil vorangestellt werden, vielleicht so um die zehn Seiten. Also tippt der Student auf http://www.google.de Folgendes ein: Medienrezeption +Kindheit. Am 2. August 2006 ergab diese Suche 948 Treffer, also eine durchaus überschaubare Anzahl von Webseiten. Und das Schönste daran: Das oberste Ergebnis bei Google ist die Magisterarbeit »Kindheit und Medien«, Fern-Universität Hagen, 2000. Das Runterladen der 107 Seiten würde 34,90 Euro kosten. Wir haben testhalber wenig Zeit, und schließlich ist eine Hausarbeit ja kein Lebenswerk. Genügt nicht auch der Anteaser im Web als Fundgrube für charmante Wissenschaftsprosa? Da finden wir etwa folgenden Satz: »Eine andere Tendenz, die sich im Zusammenhang mit dem Medienverbundsystem zeigt, ist die Zunahme der Sekundärbeschäftigung mit Medien in Form des Sammels von Medienprodukten, wobei die Befriedigung darin liegt, die Vollständigkeit einer Sammlung zu erreichen.« 1 Dieser Satz ist lang genug, und er klingt so richtig wissenschaftlich. Wir wissen zwar nicht genau, was ein »Medienverbundsystem« ist, aber wir übernehmen die Passage für die Collage. Der Satz enthält zwar einen kleinen Tippfehler — »Sammels« statt »Sammelns«, aber das übersehen wir entweder in der Eile oder bemerken es noch bei Stufe 3. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, glauben nicht so recht, dass nahezu flächendeckend derart beschämend gearbeitet wird? Dann gleich weiter unten ein paar Zahlen. Oder aber: Sie wissen, dass so gearbeitet wird, und finden das alles andere als verwerflich. Nun gut, darüber sollten wir diskutieren. Sie sind also im Wesentlichen derselben Meinung wie eine Studentin in einem Diskussionsforum über Plagiate auf orf.at: »Es ist nun mal so, dass man informationen aus dem internet bezieht — und da liegt es auch nahe, dass man nicht jeden satz sofort umändert! ?!?« 2 Das Referenzsystem der vergangenen Jahrhunderte kollabiert, die Mechanismen der Textproduktion aus der Gutenberg-Galaxis verlieren rasant an Gültigkeit: Dürfen wir Sätze, ja ganze Absätze aus anderen (wissenschaftlichen) 1) 2) 4
http://www.hausarbeiten.delfaecher/vorschau/24651.html http://tiroLorfaustories/71779
E in Verdacht
Texten 1:1 und unzitiert übernehmen? Dürfen wir Zitate gleich mit übernehmen und damit Zitate zweiter Ordnung als Zitate erster Ordnung ausgeben (denn wen interessiert es noch, ob der Autor, pardon: Sampler, Descartes wirklich gelesen hat oder nicht bloß eine »quote« aus dem Netz rausgefischt hat?) 3 ? Dürfen wir am Ende gleich alles übernehmen, weil wir entweder postmoderne Subversion der Zeichen betreiben wollen oder aber weil wir schlichtweg mehr Zeit für den Badetag am See haben möchten? Doch wo würde das hinführen? Eine vollständige Recycling-Textkultur ohne Hirn würde den intellektuellen Stillstand bedeuten: das ewige Re-Make des schon Existierenden (Einwand gewisser Theoretiker: Ist nicht alles ein ReMake des schon Existierenden? Meine Antwort: Mitnichten!). Doch die Befürchtung ist unbegründet. Es wird sie auch weiterhin geben, die (zunehmend prekarisierten) Content-Produzenten, jüngst »PreCogs« genannt ( »prekäre Kognitive«, auf gut Deutsch: Hirnarbeiter mit wenig Kohle): Sie sind es, die in der Textkultur ohne Hirn ihr Hirn noch einschalten. Sie liefern den Rohstoff für die Plagiatoren, die durchschaut haben, dass wir in der Kultur des Fakes, in der Herrschaft der Heuchelei leben und es in vielen Situationen genügt oder sogar besser ist, Kompetenzen zu simulieren anstatt diese zu besitzen (wie etwa in der großen Politik). Doch nun zu den versprochenen Zahlen: In Amerika und England wurden in den vergangenen Jahren große Umfragen zum Thema Plagiarismus an Hochschulen durchgeführt: Donald L. McCabe von der Rutgers University (USA) hat rund 80.000 Studierende befragt. 36 Prozent der Studenten gestanden das »Paraphrasieren/Kopieren einiger Sätze aus einer Web-Quelle ohne Beleg«. Sogar 24 Prozent jener, die bereits einen akademischen Grad erlangt hatten, gaben dies zu. 4 Heißt das, dass in Amerika jede vierte akademische Abschlussarbeit ein zumindest partielles Plagiat darstellt? Dass jeder vierte Akademiker seinen Titel einem (zumindest teilweisen) Schwindel verdankt? Die Dunkelziffer könnte um vieles höher sein, vielleicht aber auch niedriger. Wir wissen es nicht. Denn wie immer in der empirischen Sozialforschung klafft die Zahl zwischen denen, die etwas zugeben, und denen, die dies tatsächlich tun, mitunter weit auseinander.
3)
4)
Dafür stehen etwa Seiten wie http://www.textlog.de oder http://www.zitate.de zur Verfügung. Keine Lust, Hegel zu lesen? Schneiden Sie »ihn« doch einfach von textlog.de aus! Hegel-Interpretationen finden sich dann auch zur Genüge im Netz. — Sie suchen ein griffiges Zitat zu Plagiaten? Gehen Sie zu zitate.de! Das Stichwort »Plagiat« ergibt immerhin fünf Treffer. Donald L. McCabe, Cheating among college and university students: A North American perspective, http://www.ois.unisa.edu.auljournals/index.php/IJEllarticle/ViewFilell 4/9, 2005, S. 6.
Ein Verdacht
5
Ganz Ähnliches wird aus England gemeldet: Das »Kopieren von Ideen aus Online-Information« gestanden dort bei einer Umfrage unter 1022 Studierenden im Frühjahr 2006 35 Prozent. Aber: Das »wortwörtliche Kopieren von Text aus Online-Information ohne Zitat« gaben nur drei Prozent zu. 5 »Nur« drei Prozent? An der Universität Salzburg schließen derzeit pro Jahr rund 1300 Studenten ihr Studium mit einem akademischen Grad ab. Das wären umgerechnet 39 Fälle von grober Schwindelei in einem Studienjahr an einer österreichischen Universität. Wenn man nun an einen Zeitraum von zirka 1998 (Beginn des Netzplagiarismus) bis heute und an alle österreichischen Universitäten und Fachhochschulen denkt, dann wird die Zahl der Problemfälle schnell vierstellig. Und immer noch reden wir von der kleinen Alpenrepublik, in der das Plagiatsproblem an Universitäten ohnedies gerne totgeschwiegen wird. Zigtausende erschwindelte akademische Grade weltweit? Die Ergebnisse aktueller Umfragen sind erste Indikatoren für ein Problem von mutmaßlich gigantischer Dimension. Doch das Google-Copy-PasteSyndrom (GCP-Syndrom) ist nicht nur auf akademische Institutionen beschränkt. Google als Tor zur Wirklichkeit und Copy/Paste als neue Kulturtechnik, die das genuine Formulieren ablöst, beginnen bereits flächendeckend bei Referaten und schriftlichen Arbeiten in der Schule. Auch immer mehr Journalisten arbeiten mit dieser Methode, und zahllos sind die Fälle von ergoogelten Wirklichkeiten und Text-Plagiaten auch in der Kommunikationsbranche: Werden Sie bitte misstrauisch, wenn die im Web freundlich lächelnde Kommunikationstrainerin ein kleines Glossar online gestellt hat! Die schlauen Definitionen könnten bloß das Ergebnis einer Ergoogelung sein. Denn wer schlägt schon Begriffe wie »Habitus« oder »Kommunikationskultur« noch in einem Buch nach? 6 Die Internetabfrage selbst ist noch nicht das Problem. Problematisch sind die Übernahme von Texten und der damit verbundene zunehmende FakeCharakter von Textmaterial insgesamt. Die neue Unverbindlichkeit der Referenz, das freie Flottieren von Text- und Bildinformationen jedweder Art und das schamlose Aneignen von geistigen Leistungen anderer haben mit einer »Ästhetik der Appropriation« nichts zu tun. Wenn an einer Universität eine Assistentin unterrichtet hat, deren mit »sehr gut« beurteilte Diplomarbeit zu 5) 6)
OpinionpanelResearch, The Student Panel. Paper erhalten von Times Higher Education Supplement, Juli 2006, S. 4. Und man muss ergänzen: Die Plagiatsdiskussion hat auch den Literaturbetrieb und die Blogosphäre voll erfasst, siehe http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/2267311.html . Bei diesen Debatten geht es aber nicht um den Dreischritt Google-Copy-Paste, sondern eher um klassisches Abschreiben/Paraphrasieren/Ideenklau im Falle des Literaturbetriebs und um das zunehmende Copy/Paste von Meldungen aus anderen (journalistischen) Quellen im Falle von Weblogs. Freilich gibt es auch schon einen eigenen Blog zum Plagiarismus:
http://www.plagiarismus.de
6
Ein Verdacht
38,4 Prozent des Gesamttextes aus reinen Netzplagiaten besteht (herhalten mussten u. a. amazon, die Wikipedia und natürlich grin.com ), dann ist dies keine Frage von Ästhetik. Vielmehr wird es dringlich, dass das Thema der Referenzkultur auf der akademischen Agenda ganz nach oben rückt. Die jungen Plagiatoren der Generation Google von heute sind die Ausbilder von morgen. Welche Kulturtechniken werden sie ihren Studierenden vermitteln? Dass es für die Teenager bereits selbstverständlich geworden ist, sich Texte wie Klingeltöne aus dem Netz runterzuladen, heißt noch lange nicht, dass der »Kampf« verloren ist. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, dass der Geist in die Textproduktion zurückkehrt.
Ein Verdacht
7
3
Vorboten
3.1
Mythen machen blind: Kritik des Mainstreams der Medienwissenschaft
Die flächendeckende Verbreitung einer Textkultur ohne Hirn wird von der deutschsprachigen Medienwissenschaft kaum wahrgenommen. Es gibt zwar an so gut wie allen Instituten (Alibi-)Aktionen gegen den Plagiarismus, doch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema findet nicht statt. Der Grund für diese rätselhafte Abstinenz liegt in Denkvoraussetzungen der Medienwissenschaft, die mit einer empirischen Zunahme des Textplagiarismus und einer fortschreitenden Nivellierung der gesamten Wissenskultur unvereinbar sind. Diese Voraussetzungen sind Mythen der Medienwissenschaft, die sich in ihrer Rhetorik fortwährend »memetisch« fortpflanzen. Zumindest zehn Mythen lassen sich identifizieren: 1) Versteckter Technikdeterminismus/Apriorisierung: Die Technik wird ins Jenseits und oft ins Voraus unseres Umgangs mit ihr projiziert. Dass unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten die Technik hervorgebracht haben, wird nicht oder nur unzureichend reflektiert. Dagegen ist umgekehrt von enormem Interesse, welche Chancen, welche Potenziale in jeweils neuen Technologien stecken, wie wir also auf diese reagieren können und müssen. Die Technik wird damit zum Agens, zum Motor, sie ist uns — wie die Schildkröte dem Achilles im berühmten Paradoxon — immer schon einen Schritt voraus. Der Mensch erscheint als Annex, er kann reagieren, aber nicht agieren. Dazu passt die Vorstellung von Technik als eigensinnigem, ja »autopoietischem« (sich selbst reproduzierendem) System sehr gut, das dem Zugriff durch die Menschen weitgehend entzogen ist. Ein Beispiel: »Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen neue Lern- und Wissensräume, die dem kooperativen und interkulturellen Lernen bislang ungekannte Chancen eröffnen«, heißt es in einer aktuellen Ankündigung zu einer internationalen Tagung über »Learning Communities«. Die Technologien seien also >schon da<, nun müsse man die Möglichkeiten auch nutzen. Eine latente Positivbewertung der Einsatzmöglichkeiten von neuen Kommunikationstechnologien durch9
zieht große Teile der Rhetorik der gegenwärtigen Medienwissenschaft (»eröffnen neue [...]räume ...«). Und: Würde jemand eine Tagung zum Thema »Alte Kulturtechniken (reale Bibliotheken, sinnerfassendes Lesen, kreatives Schreiben) « veranstalten wollen, gäbe es wahrscheinlich kaum EU-Fördergelder. Es muss schon immer etwas im Cyberspace sein! — Lesen wir den Satz noch einmal genau: »Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen neue Lern- und Wissensräume [...].« Wie wäre es eigentlich mit der umgekehrten Sichtweise? »Neue Wissensräume eröffnen neue Technologien« — und da könnte sich dann etwa herausstellen, dass diese »neuen« Technologien die alten sind, die gar nicht die schlechtesten waren. Doch in der technophilen Forschungsprojekt-Rhetorik ist diese Erkenntnis derzeit nicht erwünscht, ja fast schon gefährlich. Wissen und Kultur kommen nicht vor Technik, sondern Technik kommt immer vor Wissen und Kultur. Ein zweites Beispiel: »Erweitert die Verwendung neuer Internet-Technologien in Lehr-, Lern- und Wissensprozessen auch soziale Kompetenzen?«, fragten sich internationale Social-Software-Experten 2006 in Salzburg. Auch hier ist die Technik schon da, und dann kommen die Effekte auf menschliche Kompetenzen und Fähigkeiten. Latent handelt es sich hier — wie bei fast allen Symposiumsthemen oder Sammelbandtiteln — ohnedies bloß um rhetorische Fragen: Wir dürfen sie also getrost im Sinne des Veranstalters und Fördergebers mit Ja beantworten. Umgekehrt wurde auch in Salzburg nicht gefragt: Was wäre der Effekt von mehr Sozialkompetenz auf neue Internettechnologien? 2) Dualisierung der Technik: Die Technik wird nicht nur ins Jenseits unserer Fähigkeiten projiziert, sie wird auch selbst dualisiert: in eine neutrale, per se ungefährliche Technik-an-sich und in eine Technik-in-use, der man dann zugesteht, dass sie gut oder böse sein kann. Google an sich ist ungefährlich, es hängt immer davon ab, was man mit der Suchmaschine macht, heißt es dann etwa gerne. ? Oder: »Nicht eine bestimmte Medientechnologie wie z. B. das Internet oder der Mobilfunk sind per se pädagogisch schädlich oder nützlich, sondern erst die konkreten Nutzungsweisen führen zu spezifischen Positiv- oder Negativwirkungen. « 8
7)
8)
»Denn wie bei den meisten Dingen hängt es auch bei der Suchmaschine davon ab, wie man sie einsetzt«, war in einem Blog für Wissenschaftskommunikation (http://www.sciblog.at) zu lesen. Nicola Döring, Pädagogische Aspekte der Mobilkommunikation, http://www.nicola-doering.de/publicationslpaedagogik-mobil-doering-2004.pdf, 2004, S. 2.
10 Vorboten
In der Erkenntnistheorie ist man über die Dualisierung in eine Realität-ansich und eine Wirklichkeit-als-Konstruktion längst hinausgekommen. Im Diskurs über Technik hält sich diese Dualisierung hartnäckig. Kaum jemand stellt sich die Frage, wer diese Technik-an-sich, diese gleichsam unbenutzte Technik schon einmal »gesehen« hat: Bei jedem Versuch, ihre Ungefährlichkeit oder Neutralität wahrzunehmen, verwandelt sie sich ja bereits in eine Technik-in-use. 9 3) Oft liegt schlichtweg ein Kategorienfehler vor: Es wird behauptet, dass wir mit unseren Fähigkeiten hinter den Technologien hinterherhinken und die logische Folge sei, dass wir diese Technologien forcieren müssten. Das heißt: Ein Mehr-an-Technik wird mit einem Noch-mehr-an-Technik beantwortet. Die globale, virtuelle und/oder vernetzte Gesellschaft wird etwa als existent vorausgesetzt oder die Entwicklung hin zu ihr als unvermeidlich angesehen. Dann wird behauptet, dass ein Aufholprozess notwendig sei, dass sich etwa das Lernen an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen müsse. Wie bei Mythos 1 ist der Mensch Reflex der technologischen Evolution, die ihm immer schon einen Schritt voraus ist. Nur wird bei Mythos 3 ein Nochmehr-an-Technik, ein noch höherer Grad der Vernetzung, ein Noch-mehrder-Medien als Problemlösung angesehen. Dieses Denken tritt in Form des weit verbreiteten Technik-Fetischismus auf, ermöglicht aber auch die »wissenschaftliche« Legitimation von Projekten wie »Schulen ans Netz« und ähnlichen Initiativen. Immer ist die Medialisierung Bedingung und Folge dieser Bedingung gleichzeitig. So sehen die Medienwissenschaften unhinterfragt einem Immer-mehr-der-Medialisierung zu. Fest steht offenbar: Damit die Probleme gelöst werden können, brauchen wir: mehr Medien, mehr Technik, mehr Vernetzung, mehr Virtualität.
4) Substitutionseffekte gibt es nicht: Gebetsmühlenartig zitiert die Medienwissenschaft einen Absatz aus einer Dissertation aus dem Jahr 1913, den sie zum »Riepl'schen Gesetz« hochstilisiert hat. Dieses besagt, dass neue Technologien alte nicht ersetzen, sondern diese nur zu neuen Anwendungsfeldern und Aufgaben »nötigen« würden. Durch das Riepl'sche Gesetz von der mutmaßlich ewig währenden friedlichen Koexistenz aller alten und neuen Medien kann es zu erheblichen blinden Flecken kommen: Menschenleere Bibliotheken und verwaiste Kopiergeräte sind für den RieplIdeologen dann kein Hinweis auf einen Substitutionseffekt. Der RieplGesetzestreue kann sich einfach nicht vorstellen, dass die Studierenden von heute nicht mehr reale Bücher und Zeitschriften brauchen, sondern lieber die GCP-Technik einsetzen (noch einmal: GCP = Google-Copy-Paste). 9)
Es geht der Technik und ihrem Benutzer hier nicht anders als der Wirklichkeit und ihrem »Beobachter«.
Mythen machen blind 11
5) Strenge Ablehnung der Einzahl: Die Medienwissenschaften werden nicht müde zu beteuern, dass alle Begriffe pluralisiert werden müssen. Es gebe nicht »das« Internet, »die« Netzkultur, »die« Netzsprache oder »den« User. Vielmehr gebe es bloß Netzkulturen, Netzsprachen oder die User (und die »Internets«?). Mengentheoretisch könnte man nun fragen, ob nicht die Menge aller Netzsprachen selbst wieder eine (Meta-)Netzsprache konstituiert, aber so bösartig wollen wir gar nicht sein. Es genügt hier der Verdacht, dass die übertriebene Pluralisierung aller Begriffe zu einer Atomisierung von Erkenntnissen geführt hat, durch die die großen Trends systematisch übersehen werden. Denn selbstverständlich gibt es die Netzkultur und die Netzsprache — eben als Summe aller Netz(sub)kulturen und Netzslangs. Der Hinweis darauf, dass es die Summe von Subkulturen, Subsystemen oder Untermengen nicht »gibt«, ist erkenntnistheoretisch ähnlich naiv wie die Dualisierung in Technik-an-sich und Technik-im-Gebrauch. Dennoch hält auch sie sich besonders hartnäckig in der Medienwissenschaft. Damit gerät aber auch »der« Plagiarismus oder »die« Textkultur ohne Hirn aus dem Visier. Die neurotische Ablehnung des Singulars kann sogar dazu führen, dass dann verkürzt die Existenz eines Phänomens überhaupt bestritten wird: »Halten wir also fest: Es gibt keine Netzsprache«, ist etwa bei Christa Dürscheid zu lesen. 10 Ähnlich naiv ist ja: »Es gibt keine Realität!« Denn dann muss die Frage gestattet sein, ob man schon dort (wo?) war und sie nicht gefunden hat. 6) Generell strenge Ablehnung der Kategorie »neu«: Die historisch informierte Medienwissenschaft behauptet gerne, dass »in Wirklichkeit« eine vermeintliche Innovation so »neu« gar nicht sei. »In Wirklichkeit ist das alles ein alter Hut«, ist dann auf Symposien gerne mal zu hören. Auch die Wendung vom »alten Wein in neuen Schläuchen« ist beliebt. Zu attestieren ist mitunter eine richtige Angst vor dem Neuen. Um historisch zu beweisen, dass es ein vermeintlich neues Phänomen »immer schon« gegeben hat, werden mitunter beliebige Verknüpfungen hergestellt. Ein Beispiel: »Was schließlich die gemeinhin als internet- und SMS-spezifisch angesehenen Ausdrucksmittel betrifft wie Smileys, Inflektive und Abkürzungen, so habe ich an anderer Stelle bereits gezeigt, dass diese auch in älteren Textsorten belegt sind [...]. Es ist also nicht so, dass sich hier neue Schreibweisen herausbilden würden.« 11 (Inhaltliche Zwischenbemerkung: »MiT mEiNeN LeUtZ @BhÄnGeN« scheint für Dürscheid keine neue Schreibweise darzustellen.) — Eine
10) Christa Dürscheid, Netzsprache — ein neuer Mythos, httpd/www.ds.unizh.chaehrstuhlduerscheid/docsInetzsprache.pdf, 2003, S. 8.
12 Vorboten
beliebte Denkfigur ist auch: »Die aktuelle Rede von einem Phänomen X weist darauf hin, dass es X immer schon gegeben hat.« Die aktuelle Rede von der Konstruktivität der Medien weist darauf hin, dass Medien immer schon konstruiert hätten. Die aktuelle Rede von der Ökonomisierung der Medien weist darauf hin, dass Medien immer schon in ökonomische Zusammenhänge eingebettet gewesen seien. Die aktuelle Rede von Netzplagiaten weist darauf hin, dass es Plagiate immer schon gegeben habe. Nur werde man sich heute dessen eher bewusst. 12 Solche Aussagen sind nur möglich, wenn dualistisch zwischen der Wahrnehmung eines Phänomens und dem Phänomen selbst unterschieden wird. Erst dann kann eine Veränderung der Wahrnehmung gegenüber dem invarianten Objekt oder Phänomen behauptet werden. Selbst diese in den Wissenschaften so gut wie nie hinterfragte Denkvoraussetzung, die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung des Objekts und dem Objekt selbst, ist jedoch nicht zwingend. 13 Weit verbreitet ist in diesem Zusammenhang auch das Analogiedenken. Auch dieses hat oft zur Folge, dass das genuin Neue eines Mediums verschleiert wird: Eine E-Mail wird etwa als elektronischer Brief oder getipptes Telefonat interpretiert, Kommunikation im Chat wird als getipptes Gespräch 14 bezeichnet usw.
7) Rhetorik der Konstruktivität: Freilich ist für die Medienwissenschaft vieles — wenn nicht sogar alles — eine »diskursive Konstruktion« oder eine »soziale Konstruktion«: Gender, die Zeit und oft auch die Medien selbst. Die Rede von der sozialen, diskursiven oder kulturellen Konstruktion eines Objekts oder Ereignisses ist längst zur inhaltsleeren Vokabel 15 verkommen, 11)
12)
13)
14)
15)
Christa Dürscheid, E-Mail — verändert sie das Schreiben?, in: Torsten Siever, Peter Schlobinski, Jens Runkehl (Hg.), Websprache.net: Sprache und Kommunikation im Internet, Berlin — New York 2005, S. 85-97, hier S. 94. In der im Zitat erwähnten »anderen Stelle« zitiert Dürscheid eine Arbeit, die tatsächlich den Titel »Alter Wein und neue Schläuche?« trägt und Besonderheiten der aktuellen E-Mail-Kommunikation mit der Privatkorrespondenz deutscher Nordamerika-Auswanderer gegen Ende des 19. Jahrhunderts vergleicht. Eine Medienwissenschaftlerin zum Thema Netzplagiarismus im Interview: »Es ist nicht allein ein Problem der neuen Medien, sondern die neuen Medien haben uns jetzt nur auf das Problem nochmals stärker hingewiesen.« (Stream auf httpillwww.unitv.orgibeitrag.asp?ID.90) Dies zeigt die non-dualistische Philosophie Josef Mitterers, die auf die kategoriale Verschiedenheit von Beschreibung und Objekt verzichtet. Vgl. Josef Mitterer, Das Jenseits der Philosophie: Wider das dualistische Erkenntnisprinzip, Wien 1992; Josef Mitterer, Die Flucht aus der Beliebigkeit, Frankfurt am Main 2001. Etwa bei Angelika Storrer, Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation, http:I/www.evawyss.cl _pdf zsmk/chat.pdf, 2001. Ian Hacking, Was heißt »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt am Main 1999.
Mythen machen blind 13
die beliebig eingesetzt werden kann, aber erkenntnistheoretisch keinen Gewinn bringt. Ein Beispiel für eine derartige Worthülse: »Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit bedarf, so die Ausgangsthese, der performing acts, um die Bühne der öffentlichen Kommunikation zu bespielen [...].«16 8) In diversen Subdisziplinen und Spezialdiskursen der Medienwissenschaft trifft man auf eine Vielzahl weiterer »kleiner« Mythen: auf den Mythos des »selbst-instruktiven« E-Learnings sowie auf den Mythos des »konstruktivistischen Lernens« in der Medienpädagogik, auf den Mythos der Ablösung der Lesekompetenz durch die (Multi-)Medienkompetenz ebenfalls in der Medienpädagogik; auf den Mythos der »Aneignung« von Medienangeboten in den Cultural Studies, auf den Mythos der »Alltagsorientierung« ebenfalls in den Cultural Studies usw. Diese Mythen haben einschneidende Folgen für das Forschungsinteresse. Die Rhetorik von der Medienaneignung im Alltag kann dazu führen, dass es plötzlich medienwissenschaftlich von Interesse ist, was geschieht, wenn österreichische Volksschulkinder eine Folge von »Wickie und die starken Männer« sehen; was passiert, wenn Kinder aus einer bestimmten österreichischen Gemeinde Harry Potter lesen, oder was es heißen mag, wenn Schulkinder in einer Stadt Pokemon-Figuren in eine Beliebtheitsskala bringen. Eine Erforschung des Netzplagiarismus ist interessanterweise nicht das Thema alltagsorientierter Cultural-Studies-Wissenschaftler. 9) Viele Cyberspace-Mythen wären aufzulisten: jener vom global brain oder etwa jener von der »kollektiven Intelligenz«. Dieses Buch macht den Vorschlag, anstelle eines globalen Gehirns sich eher anzusehen, wie sich dieses globale Wissen im Netz derzeit in eine Textkultur ohne Hirn verwandelt. Überdies macht es den Vorschlag, das Ziel einer kollektiven Intelligenz sehr kritisch zu sehen und derzeit besser Indikatoren für eine kollektive Nivellierung und Verdummung zu suchen. Die heutige affirmative, fröhliche Netzwissenschaft hat mit Netzkritik, wie sie noch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre existierte, nichts mehr am Hut. »ICT-Science« ist Standortpolitik und PR für neue Medientechnologien geworden, und einstmals kritische Kunstfestivals haben sich in Produktmessen verwandelt. Ein ICT-Schwerpunkt an einer Uni soll heute zeigen, wie hip die Uni ist, wie sehr sie den neuen Technologien gegenüber doch aufgeschlossen ist. Eine kritische Perspektive wird da von vornherein ausgeblendet oder verbleibt auf der Alibi-Ebene.
16) Ankündigungstext zur Tagung »Wie wir uns aufführen«, IFK Wien, 2004. 14 Vorboten
Im Gegenteil: Oft werden Medientechnologien als die ultimativen Heilsbringer gesehen. Das Internet werde den digital divide überbrücken, ja sogar den Hunger in den Entwicklungsländern durch einen technologischen Innovationsschub lindern usw. Eine unreflektierte Ideologie des Immer-mehr-der-Medialisierung macht sich breit. Das ist der Nährboden für eine systemische Blindheit für eine mutmaßlich fatale Entwicklung: den geistigen Stillstand durch Techniken der unreflektierten Aneignung fremder Informationen jedweder Art. 10) Die zentralste Denkvoraussetzung der gegenwärtigen Medienwissenschaft ist jedoch die notorische Zurückweisung aller Verdummungsthesen. Diese werden sofort in Zusammenhang mit Adorno/Horkheimer gebracht: Nach der reflexartigen Ablehnung der Massenkultur in Form der Verdummungsthese durch die Frankfurter Schule erleben wir heute die reflexartige Ablehnung jeglicher Verdummungsthese mit (oft unzulässigem) Verweis auf die »Irrtümer« der Frankfurter Schule. Automatisch wird damit jede Rede von Kulturverfall, Niveauverlust oder Verblödung der Massen in die Nähe von angestaubter Ideologie gerückt und scharf zurückgewiesen. Gerne wird auf die Relativierung der Verdummungsthesen durch die Cultural Studies verwiesen: Die Medien seien zwar ein Machtfaktor, doch die »Aneignung« der Medienangebote durch die Rezipienten sei ein aktiver Prozess und könne schon alleine deshalb nicht mit Verdummung gleichgesetzt werden. Freilich ist auch die »Aneignung« eines fremden Textes in einem gewissen Sinne dann ein aktiver Prozess — haben Cultural-StudiesTheoretiker am Ende eine Freude an Plagiaten? Was ist nun mit Studien, die etwa behaupten, die Fragmentierung und permanente Ablenkung des Hirns durch E-Mail senke den IQ? Mit Studien, die sehr wohl nachweisen, dass Kinder zuhause am PC lieber Computerspiele als das interaktive Lernprogramm starten? Mit empirischen Zahlen zur Verbreitung und Zunahme des Plagiarismus? Nun ja, ein orthodoxer Anti-Verdummungstheoretiker wird Ihnen sicher erklären, dass diese Studien einfach nicht stimmen. Er wird davon erzählen, dass der IQ »in Wirklichkeit« sogar steigt, dass Computerspiele Kinder sogar klüger machen, dass Plagiate bloß bedauerliche Einzelfälle sind, und auch: dass etwa SMS die Schreib- und Lesekompetenz der Kinder und Jugendlichen verbessert. 17 Die folgenschwere Denkvoraussetzung, dass »in Wirklichkeit« ohnedies alles immer besser, komplexer und intellektuell stimulierender werde, sollte sich bei näherem Hinsehen erneut als Rhetorik der Technophilie ent17) In diesem Tenor geschrieben (und bezogen auf die angeblich zunehmende Komplexität der populärkulturellen Angebote): Steven Johnson, Everything Bad is Good for You: How Popular Culture is Making Us Smarter, London 2005. Mythen machen blind 15
puppen. Sie verunmöglicht den Blick auf die negativen Aspekte der neuen Technologien, allen voran auf die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion. Zweimal hinhören sollte man auch bei Theoretikern, die von sich selbst behaupten, weder Optimisten noch Pessimisten oder weder Euphoriker noch Apokalyptiker zu sein. Unter dem Deckmantel der »deskriptiven« Wissenschaft (manchmal Systemtheorie, oft auch harte Empirie) behaupten sie dann gerne, den neuen Technologien gleichsam wertfrei gegenüberzustehen. Das Pendel schlägt dann gerne latent und sehr subtil erneut in eine technoaffirmative Richtung aus, oft schon alleine deshalb, weil es damit leichter ist, Partner aus der IT-Industrie zu finden oder neue Forschungsgelder zu akquirieren. Ein erstes Fazit: Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist die Beobachtung negativer Auswirkungen der neuen Technologien kein einfaches Unterfangen. Für die Textkultur ohne Hirn und das GCP-Syndrom ist die (deutschsprachige) Medienwissenschaft erstaunlich einheitlich betriebsblind. Gerne wird alles zu Tode differenziert und relativiert, bis nichts Eindeutiges, kein Makro-Trend mehr übrig bleibt. Stellen wir also ein paar Fragen, die so gar nicht in den Mainstream aktuellen (medien-)wissenschaftlichen Denkens passen: Gibt es etwas genuin Neues, gibt es einen Trend? Eine genuin neue Kulturtechnik? (Gibt es diese auch im Singular? Ist sie nicht bloß eine Konstruktion?) Geben wir dem Kind einen Namen: Netzplagiarismus — oder GCPSyndrom. Steht es für einen Niveau- und Qualitätsverlust der (nicht nur wissenschaftlichen) Textproduktion von bislang ungeahntem Ausmaß? Und vor allem: Gibt es noch Möglichkeiten der Gegensteuerung, oder ist die Technik — siehe Mythos 1 — immer schon einen Schritt weiter und haben wir das Spiel bereits verloren? Mit den irreführenden Denkvoraussetzungen der Medienwissenschaft werden wir betriebsblind und handlungsunfähig. Hinterfragen wir diese kritisch, eröffnen sich Möglichkeiten einer Veränderung.
3.2
Die Ergoogelung der Wirklichkeit
Sie gestatten, wenn ich es soziologisch pointiert formuliere: Die Errechnung der Wirklichkeit (im Englischen: computation), die die Kybernetik und der Konstruktivismus im Umfeld Heinz von Foersters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts propagierten, wurde von der Ergoogelung der Wirklichkeit abgelöst. Mit der Ergoogelung der Wirklichkeit geht eine Gesamtänderung des Wirklichkeitsbezugs einher. Ergoogelt werden nicht nur Texte, sondern auch Bilder, Sounds und Filme, wodurch die gesamte Weltwahrnehmung zunehmend zu einem Produkt der Ergoogelung wird. 16 Vorboten
Werfen wir einen Blick zurück: Meine erste universitäre Proseminar-Arbeit verfasste ich im Wintersemester 1989/90. Es war (für die breite Masse) das Prä-Internet-Zeitalter, und für mich sogar gerade noch das Prä-ComputerZeitalter. Meine Themenstellung lautete: »Verzerrt das Fernsehen die Wirklichkeit? « Meine Recherchen begannen mit dem Schlagwortkatalog an der Institutsbibliothek sowie an der Hauptbibliothek. Alleine für diese erste inhaltliche Orientierung waren zwei Wege nötig. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mir einige Bücher ausborgte, unter anderem einen Sammelband der » Mainzer Tage der Fernsehkritik«. In diesen Büchern durchforstete ich die Literaturlisten und recherchierte somit nach dem Schneeballsystem weiter. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass ich — als noch »Unbelesener« — von einer gewissen Neugierde getrieben war und mich auch das Auffinden von neuen Literaturtiteln freute, die sich mutmaßlich mit dieser Frage beschäftigten. Irgendwann war genug Literatur zusammengekommen, ich machte mich an die Lektüre und entwarf eine Grobgliederung der Arbeit. Ich wäre ehrlich gesagt nie im Leben auf die Idee gekommen, ganze Passagen aus der Literatur wortwörtlich abzuschreiben. Analog zur eigenständigen und von einer natürlichen Neugierde getriebenen Suche war es für mich eine Selbstverständlichkeit, selbst zu formulieren und Literatur zu zitieren. Die Unterscheidung zwischen eigenem und fremdem gedanklichen Eigentum stellte bei keinem einzigen Arbeitsschritt ein Problem dar. (Obwohl es keine verlässlichen Untersuchungen gibt, wage ich zu behaupten, dass damals die große Mehrheit der Studierenden so oder ähnlich gearbeitet hat.) Ein Studierender, der im Jahr 2006 das Thema »Verzerrt das Fernsehen die Wirklichkeit?« zu bearbeiten hat, wird vermutlich radikal anders vorgehen: Die Zettelkästen von Bibliotheken wird er nicht mehr benötigen — weder materiell noch digital. Denn die Bibliotheksdatenbanken führen ja nur zu Literaturhinweisen, aber nicht zu Texten. Heute muss es schneller gehen. Die Suche »Fernsehen +Wirklichkeit« bei Google bringt 2.390.000 Einträge. Es sollte nicht schwierig sein, aus gewissen Webseiten einige Absätze herauszuschneiden. Es werden sich etwa im Web Texte finden, in denen zwischen realistischen und konstruktivistischen Ansätzen unterschieden wird, oder auch für die Fragestellung durchaus geeignete Segmente zu Reality TV. Das Vorgehen könnte heute sehr induktiv sein: Aus den passenden Textschnipseln entsteht dann am Schluss eine (oft sehr bunt zusammengewürfelt erscheinende) Gliederung. Aus allen gefundenen Textbausteinen wird eine »glaubhafte« Montage erstellt, die im besten Fall und mit professionellem Design als Seminararbeit akzeptiert und positiv beurteilt wird. Es gibt noch keine Untersuchungen zur Frage, wie oft etwa bei deutschsprachigen Studierenden eine wissenschaftliche Recherche mit Google beginnt. Ich wage die Behauptung, dass weit über 90 Prozent aller Recherchen für akadeDie Ergoogelung der Wirklichkeit 17
mische schriftliche Arbeiten und Referate mit der Suchmaschine starten. Das alleine wäre — zur Erstorientierung — überhaupt nicht das Problem. Hochproblematisch sind vielmehr zwei Folgen: 1) Eine unbekannte Anzahl von Studierenden schließt mit der GoogleRecherche ihre Recherchetätigkeit insgesamt bereits wieder ab. Immer wieder beklagen Universitätslehrer, dass für zahlreiche Studierende der Horizont bei Google endet. Dazu ein drastisches Beispiel: Auf der österreichischen Studentenplattform unihelp.cc diskutierten Studierende im Januar 2006 die Frage, ob von mir wissenschaftliche Publikationen vorliegen würden. Niemand kam auf die Idee, die Online-Suche der heimischen Universitätsbibliothek zu bemühen (den Katalog http:llaleph.sbg.ac.at kann jeder ohne Zugangscode verwenden). Vielmehr wurde der Name »Stefan Weber« gegoogelt; und die Studierenden scheiterten, weil es im Web zu viele Stefan Weber gibt. Daraus wurde geschlossen, dass — wenn überhaupt — nur sehr wenige Publikationen von mir vorliegen würden (es sind jedoch derzeit sechs Bücher und mehr als 40 wissenschaftliche Aufsätze). Eine Studierende schrieb im Forum: »ich hab im internet recherchiert — medienjournal, gegooglt, und so. von einigen, zB dem herrn woelke oder herrn bauer aus wien findet man gleich mal einiges, beim sw tu ich mir schwer. aber ich weiß auch nicht, ob das google publikationen im bravo findet ....;-)« 18 Das Statement zeigt sehr gut, wie die Möglichkeit der Google-Recherche nicht nur zu wenig Zeitinvestition, sondern auch zu wenig Tiefgang verführt: Was nicht gleich gefunden wird, scheint es nicht zu geben. Auch was sich nicht unter den ersten Ergebnissen befindet, wird offenbar gerne ignoriert. Es wird zwar zugegeben, dass es auch jenseits der von der Suchmaschine gefundenen Ergebnisse noch Publikationen geben könnte, aber diese werden dann doch als ähnlich irrelevant angesehen wie »publikationen im bravo«. 2) Viele Studierende lassen sich offenbar von der Ergebnisliste von Google dazu verleiten, die gefundenen Textsegmente gleich direkt 1:1 und unzitiert in ihre Arbeiten zu übernehmen. Ein Beispiel: Wir tippen in die Suchmaschine den Begriff »Systemtheorie« ein. Die erste Fundstelle führt uns gleich zur Wikipedia:
18)
http://www.unihelp.cc/comment.php?554
18 Vorboten
Abb. 1:
Der Wikipedia-Eintrag »Systemtheorie«:
Quelle: http://de.wikipedia.org/wibiSystemtheorie Wenn Sie irgendeinen Teil des ersten markierten Satzes erneut googeln, landen sie nicht nur wieder beim Wikipedia-Eintrag, sondern auch bei einer Hausarbeit über »Systemische Intelligenz« (Universität Konstanz, Wintersemester 2005/06). Und richtig geraten: In leicht abgeänderter Form findet sich die »Erkenntnis« aus der Wikipedia hier erneut, und zwar ohne Beleg, sprich unzitiert (siehe Abb. 2). Freilich gilt zunächst die Unschuldsvermutung: Die Autoren der Hausarbeit könnten auch eifrige freiwillige Mitarbeiter am großen WikipediaProjekt sein und ihre Erkenntnisse über das Wesen der Systemtheorie für so gut befunden haben, dass sie gleich den Wikipedia-Eintrag abgeändert hätten. Aber besonders realistisch ist dieser umgekehrte Informationsfluss nicht, wie ein Blick auf die Versionen-Geschichte des Wikipedia-Eintrags zur »Systemtheorie« beweist.
Die Ergoogelung der Wirklichkeit 19
Abb. 2:
Abschnitt »Systemtheorie« aus einer Seminararbeit:
Quelle: http://www.uni-konstanz.de/FuF/SportWiss/kloeckner/hs-intelfigenz.doc
Doch nicht nur Studierende verknüpfen gerne die Ergoogelung von Wissen mit der nicht belegten 1 :1-Übernahme von Textbausteinen. Ebenso interessant wird es, wenn auch Journalisten so arbeiten. Es überrascht zunächst kaum, dass es sich Journalisten — ganz im Gegensatz zu manchen Universitätsprofessoren — heute nicht mehr leisten können, Google-Muffel zu sein. Eine aktuelle Umfrage unter 296 österreichischen Printjournalisten hat etwa ergeben, dass 94,8 Prozent der Befragten ihre Recherchen zumindest manchmal mit der Suchmaschine starten — noch bevor sie zum Telefon greifen oder im eigenen Medienarchiv recherchieren. Für 60,2 Prozent der Journalisten beginnt eine Recherche sogar regelmäßig mit Google. Die Suchmaschine kommt damit bei den Recherchekanälen bereits auf Platz zwei — knapp nach dem Telefon. 19 Die entscheidende Frage ist aber, was nach der Google-Recherche geschieht. Verschafft die Suchmaschine nur einen ersten Überblick zu einem Thema? Weist sie eventuell auf bereits veröffentlichte Berichte hin? Ermöglicht Google rasche Hintergrundinformationen zu einer Person, die man gleich telefonisch
19) Stefan Weber, So arbeiten Österreichs Journalisten für Zeitungen und Zeitschriften, Salzburg 2006, S. 16.
20 Vorboten
kontaktieren möchte oder mit der man gerade gesprochen hat? Oder aber ist die Ergoogelung der erste Schritt in einem unheilvollen Verfahren der Simulation von eigener Textarbeit, in der Produktion einer Netz-Collage? Vor einigen Monaten speiste ich mit einem arrivierten österreichischen Fachjournalisten. Staunend hörte ich, was er zu sagen hatte: Früher sei es sehr mühsam gewesen, etwa einen Artikel über thailändische Küche zu schreiben, man habe sich ja Kochbücher ausleihen müssen. Heute gehe das sehr schnell: Man brauche »thailändische Küche« ja nur auf Google eintippen und schon habe man zahlreiche Texte vor sich. Man müsse dann nur noch die Verbindungssätze zwischen den einzelnen Textsegmenten selbst schreiben. — Ich war doch einigermaßen irritiert, mit wie wenig Skrupel hier das GCP-Syndrom im Journalismus mir gegenüber erstmals zugegeben wurde. Dass Journalisten Texte 1:1 übernehmen, ist gewissermaßen systemisch bedingt und hat noch nichts mit dem GCP-Syndrom im engeren Sinne zu tun. Seit Jahrzehnten übernehmen Journalisten — mitunter 1:1, mitunter leider auch ohne Quellenangaben — Meldungen aus nationalen und internationalen Nachrichtenagenturen. Das Zitierverhalten der Journalisten wurde in Österreich erstmals im Rahmen des Forschungsprojekts »Was steuert Journalismus?« abgefragt. Im Jahr 1998 gaben 40,4 Prozent von 522 befragten österreichischen Journalisten aller Medientypen an, zumindest einmal wöchentlich Texte mit Quellenangabe aus der österreichischen Nachrichtenagentur APA wörtlich zu übernehmen. 37,7 Prozent der Befragten machen dies aber zumindest einmal wöchentlich auch ohne die Originalquelle zu nennen. 2° Und immerhin 8,5 Prozent übernehmen mehrmals täglich Passagen aus der APA, ohne die Quelle anzugeben. Quellen-Intransparenz ist im Journalismus also schon länger ein Problem. Die digitale Verfügbarkeit zahlloser Texte hat die Problemlage jedoch verschärft: Insbesondere Branchen- und Special-Interest-Magazine, aber mittlerweile auch schon Tageszeitungen neigen dazu, ganze Presseinformationen 1:1 zu übernehmen, wenn sie denn seriös und relativ unparteiisch (»unbiased«) geschrieben sind. Die Quellen werden freilich nur in den seltensten Fällen angegeben, da ja gegenüber den Lesern redaktionelle Eigenleistungen suggeriert werden sollen. — Dennoch ist es noch einmal ein nicht wegzudiskutierender qualitativer Sprung von der 1:1-Übernahme einer aktuellen Presseinformation zur 1:1-Übernahme eines Textsegments aus dem Web nach erfolgter Ergoogelung eines Themas. Das Problem der Ergoogelung von Fakten liegt in der Möglichkeit zur Heuchelei von Sachkompetenz oder geographischer Präsenz: Wenn Sie eine 20) Stefan Weber, Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung, Konstanz 1998, S. 130.
Die Ergoogelung der Wirklichkeit 21
Reportage über Alternativmedizin lesen, dann erwarten Sie, dass diese nicht nur das Ergebnis einer Ergoogelung ist — zusammengehalten von einigen Verbindungssätzen. Als Leser der Städtereportage von Dresden vertrauen Sie darauf, dass die Journalistin tatsächlich vor Ort war und nicht bloß OnlineInformationen zusammengetragen hat. Leider muss das nicht immer der Fall sein, wie Jochen Wegner in einem entlarvenden Beispiel schildert: »Es war an einem Freitag des Jahres 2004, als in einem bis dahin unauffälligen Dorf namens Waffensen ein Schüler als Autor des weltweit wütenden Computerwurms >Sasser< festgenommen wurde. Für die aktuellen Medien eine Pflichtgeschichte — und für ein Magazin, dessen Drucktermin nahe war, eine kleine Herausforderung. Die Reporter des >Spiegel< indes fanden sogar Muße, die folgenden Details für den Einstieg ihres Beitrags zu ermitteln:
>In dem Dorf Waffensen nahe dem niedersächsischen Rotenburg an der Wümme scheint die Welt noch in Ordnung: Der Gasthof Eichenhof lockt mit gemütlicher Kaminschenke, Bauer Poppe um die Ecke verkauft Fleisch und Marmelade aus eigener Produktion, und bislang brachte allein der Shanty-Chor einen Hauch der großen, weiten Welt in den norddeutsch en Heideflecken.< Eichenhof, Bauer Poppe, Shanty-Chor: Mag sein, dass harte Recherchen vor Ort zu einer derart treffenden Charakterisierung des >Heideflecken[s]< führten. Kann aber auch sein, dass stattdessen ganze 0,13 Sekunden Muße genügten. Gleich nachdem der Beitrag am Samstag im Vorgriff aufs Heft bei Spiegel Online erschienen war, meldete sich jedenfalls ein Journalist im Internet-Medienforum jonet. Er hatte den Text gelesen und nebenbei >Waffensen< gegoogelt (in 0,13 Sekunden). Dabei war er auf folgendes Treffer-Ranking gestoßen: Platz 1 — Eichenhof. Platz 3 — Bauer Poppe. Platz 12 — Shanty-Chor.« 21 Die Ergebnisliste für »Waffensen« lässt sich im Übrigen auch heute noch ähnlich nachvollziehen. Die Übereinstimmung könnte ein Zufall sein, aber wahrscheinlich ist dies nicht. Das Beispiel zeigt erneut, dass die Möglichkeit zur Ergoogelung der Wirklichkeit zeitökonomisch massive Vorteile bringt: Aus der Trefferliste von Google lässt sich flugs ein Stimmungsbild eines Orts collagieren. Damit wird jedoch eine neue Dimension der Simulation in die Textkultur eingeführt: Es wird ein Wissen suggeriert, das der Autor allein der Suchmaschine verdankt, genauer: ihrem Suchalgorithmus, der Ergebnisse mitunter desto weiter nach oben reiht, je mehr Links auf eine Seite verweisen. 21)
http:I/jochen.jonet.org/modules.php?name.News&file=article&sid=119
22 Vorboten
Eigentlich wird damit der Google-Suchalgorithmus zum neuen Gatekeeper im Journalismus, aber auch bei zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten: Der Suchalgorithmus bestimmt, welche Beiträge zitiert (oder plagiiert) werden. Damit könnte freilich der so genannte »Matthäus-Effekt« bei wissenschaftlichen Zitationen weiter gestärkt werden: Je öfter auf einen Beitrag bereits online verwiesen wird, desto öfter wird er auch noch in Print-Arbeiten zitiert werden. Fest steht: Die Möglichkeit der Ergoogelung der Wirklichkeit hat zu einer drastischen Beschleunigung des Rechercheprozesses geführt. Gleichzeitig ist mit der Ergoogelung — vor allem dann, wenn sie den ersten Schritt vor Copy/ Paste darstellt — auch die Qualität der Texte insgesamt gesunken. Der Medienwissenschaftler Martin Löffelholz von der TU Ilmenau bemerkte in diesem Zusammenhang: »Schon seit längerer Zeit machen wir an unserer Universität die Erfahrung, dass Studierende primär Instrumente wie Google oder Wikipedia nutzen, um sich einen Überblick zu einer bestimmten wissenschaftlichen Frage zu verschaffen. Damit erhalten diese Studierenden aber keineswegs den aktuellsten und relevantesten Forschungsstand. Das führt zu einem deutlichen Qualitätsverlust in der wissenschaftlichen Arbeit. «22 Ambivalent ist hingegen folgende Einschätzung eines anderen Wissenschaftlers: »Der hohe Stellenwert, den die Suchmaschine Google bei der Nutzung des Internets repräsentiert, verdeutlicht einen der beiden Pole, den sie in bildungs- und kulturkritischen Diskussionen einnimmt Während hier das Netz als ständig verfügbare universale Bibliothek des Weltwissens eingestuft wird, repräsentiert es dort lediglich eine unüberschaubare Ansammlung von Datenmüll, dessen Durchforstung den Aufbau eines fundierten Bildungsfundaments eher behindert und der Unfähigkeit Vorschub leistet, komplexe Sachverhalte verstehen und kritisch hinter23 fragen zu können [...].« Auch Journalisten stehen der zunehmenden Ergoogelung kritisch gegenüber. Ein österreichischer Printjournalist etwa kritisiert in einem Interview:
22) 23)
httpd/www.heise.deltp/r4/artike1/20/20982/1.html Jens Runkehl, Text-Bild-Konstellationen, in: Torsten Siever, Peter Schlobinski, Jens Runkehl (Hg.), Websprache.net: Sprache und Kommunikation im Internet, Berlin — New York 2005, S. 202-218, hier S. 205 f. Die Ergoogelung der Wirklichkeit 23
»Die angehenden Journalisten sind zu sehr akademisch sozialisiert [...], arbeiten vorwiegend am >grünen Tisch<, sind zu wenig vor Ort und haben daher zu geringen direkten und persönlichen Kontakt zu ihren 24 Themen. Es wird zu viel >gegoogeltc « »Unser Ziel ist es, die Informationen dieser Welt zu organisieren«, so der deutsche Unternehmenssprecher von Google. 25 Freilich gilt derzeit: »Faktum ist, dass Google einen Teil der Informationen aus der digitalen Welt hierarchisiert. « Wird dies bei der Recherche mitbedacht, wird einem die Relativität einer Google-Suche schnell bewusst. Im Zuge der ambitionierten Scan-Projekte könnte sich das aber sehr rasch ändern. Bald wird nicht mehr nur http:/ www.google.de für Suchen und mögliche anschließende Copy/Paste-Praxen verwendet werden, sondern auch die Google-Buchsuche http://books.google.de (sie ist derzeit noch im Entwicklungsstadium und läuft in der Reihe der Google-Versuchskaninchen unter »Google Labs«). Die Google-Buchsuche ergab am 2. August 2006 für das Stichwort »Medienrezeption« zwar noch durchaus bescheidene 436 Treffer, aber dafür werden ganze Buchseiten gefunden, die auch für Plagiate genutzt werden können. Es ist zwar technisch nicht möglich, auf den Buchseiten Texte zu markieren und diese dann mit Copy/Paste zu transferieren, aber es gibt ja immer noch das gute alte Abschreiben oder auch die Möglichkeit, Screenshots zu erstellen und etwa JPGs mittels OCR-Software in ein Textdokument zurückzuverwandeln. »Plagiatjäger« werden auf alle Fälle bald nicht nur mit Google, sondern auch mit der Google-Buchsuche nach möglichen entwendeten Stellen fahnden müssen. Ein wichtiger Punkt wird in der derzeitigen Diskussion, die sich primär um die zunehmende Allmacht von Google und die Notwendigkeit von Gegenmodellen dreht, 26 so gut wie ignoriert: Permanente Stichwortsuchen bei Google und erst recht dann in der Google-Buchsuche könnten relativ rasch dazu führen, dass die Lesekompetenz — gemeint ist damit vor allem das inhaltliche Erfassen längerer Textabschnitte — abnimmt. Lesen könnte bald nicht mehr bedeuten, das zentrale Argument eines Autors in einem Aufsatz
24
24)
Stefan Weber, So arbeiten Österreichs Journalisten für Zeitungen und Zeitschriften, Salzburg 2006, S. 69. — Eine österreichische Journalistin berichtete mir in diesem Zusammenhang Folgendes: In letzter Zeit passiere es immer öfter, dass Interviewpartner wie etwa Unternehmenssprecher Interviews verweigern mit dem Hinweis, es stehe ohnedies alles auf der Unternehmens-Website. Implizit erging bereits die Aufforderung, man solle sich von dort etwas »collagieren«. »Realkontakte« vermeiden somit offenbar nicht nur Journalisten zunehmend, sondern auch ihre Gesprächspartner.
25)
http://www.heise.deltp/reartike1/20/20136/1.12tml
26)
Etwa: Jean-Noöl Jeanneney, Googles Herausforderung: Für eine europäische Bibliothek, Berlin 2006.
Vorboten
oder Buch zu erfassen, sondern Texte nach Stichwörtern punktuell und höchst fragmentarisch abzugrasen. Das Einscannen von rund 10 bis 25 Millionen Büchern 27 durch Google (die Zahlen variieren in verschiedenen Meldungen) könnte sich somit als Bumerang erweisen, der das Medium Buch selbst vernichtet. Es gibt wahrscheinlich in einer Welt, die konsequent auf die Online-Verfügbarkeit von Texten umgestellt hat, keinen erkennbaren Grund mehr, sich noch den Beschränkungen und Umfangsvorgaben eines materiellen Objekts zu unterwerfen. Für das Leseverhalten könnte dies bedeuten, dass das sinnerfassende Lesen längerer Texte von einem mentalen Einscannen von Schnipseln abgelöst wird. Was auf den ersten Blick wie eine absatzfördernde Maßnahme wirkt (immerhin wird in der Google-Buchsuche auf Kaufmöglichkeiten des Buchs verwiesen), könnte auf den zweiten Blick das Ende des Buchs einläuten: Vielleicht wird es den eiligen Google-Buchsuchenden schon bald genügen, einen Absatz aus einer Seite abzuschreiben, in der das gesuchte Stichwort vorkommt. 28 In einem Artikel in »Nature« wird der Präsident des amerikanischen Bibliotheken-Verbands, Michael Gorman, wie folgt zitiert: »Gorman ist besorgt, dass das blinde Vertrauen in digitale Texte das Leseverhalten der Menschen verändern könnte — und dies nicht gerade zum Positiven. Er nennt dies die >Atomisierung des Wissens«. Die Google-Suchen spüren Schnipsel auf, und Gorman warnt davor, dass Leute, die nur noch diese kurzen Absätze lesen, zu einem tieferen Verständnis von längerer, narrativer Prosa nicht mehr in der Lage sein werden. Dillon glaubt, dass die Menschen e-Books wie Webseiten nutzen werden: sie tauchen schnell in den Inhalt ein und wieder heraus.« 29 So kann es kommen, dass wir schon bald mit Hilfe der Google-Buchsuche durch Bücher surfen werden wie derzeit durch Webseiten. Tiefgang der Recherche und Qualität der Rezeption werden davon kaum profitieren. Der Preis für die immer schnellere und technisch immer optimaler realisierte Verfügbarkeit von Informationen scheint unaufhaltsam die zunehmende Oberflächlichkeit zu sein, genauer: die durch genau diese Technik bedingte Unmöglichkeit, ohne einen Medienbruch tiefer in die Materie einzudringen. Eine vertiefte Lektüre wäre ja nur mit einem Medienbruch möglich; und genau dieser Zwang 27)
28) 29)
»Die Problematik einer Wissensverzerrung ist offensichtlich«, kommentiert dieses selektive Einscannen der Gutenberg-Galaxis der Medienphilosoph Frank Hartmann, in: Frank Hartmann, Globale Medienkultur: Technik, Geschichte, Theorien, Wien 2006, S. 214. Dieses mögliche Szenario betrifft natürlich auch alle anderen Scan-Projekte wie etwa Amazon Search Inside oder das deutsche Projekt »Volltextsuche Online«. Andreas von Bubnoff, The Real Death of Print, in: Nature, Ausgabe 438, Dezember 2005, S. 550-552, hier S. 552 (eigene Übersetzung ins Deutsche). Die Ergoogelung der Wirklichkeit 25
zur Änderung der Geschwindigkeit scheint kognitiv dazu zu führen, dass immer mehr Menschen das Universum der Ergoogelung nicht mehr verlassen: Wer will schon, wenn er in 0,12 Sekunden einen entlegenen Denker wie »Silvio Ceccato« in der Google-Buchsuche aufgespürt hat, dann vier Wochen auf ein antiquarisches Buch desselben aus einer italienischen Bibliothek warten? Der Medienbruch Online/Offline bzw. Web/Print bedeutet, dass es wohl für die User zunehmend unplausibler wird, nach den Online-Quellen auch noch Offline-Quellen zu bemühen. Dies könnte in weiterer Folge bedeuten, dass sich der Google-Effekt in der Google-Buchsuche wiederholen wird: In Bibliotheken liegt nur noch das, was die Buchsuche findet. Dabei sollten wir nicht vergessen: »[...] die gesamte Bücherproduktion der Menschheit seit Gutenberg — und ich meine hier nur die der westlichen Welt — lässt sich auf mehr als einhundert Millionen gedruckte Werke schätzen. Die von Google in Aussicht gestellte Menge, so beeindruckend sie in absoluten Zahlen auch erscheinen mag, ist nur ein Bruchteil dieses unermesslichen Reichtums.« 3° Freilich sollten wir Google nicht verabsolutieren. Es ist möglich, dass der Siegeszug von Google nur von begrenzter Dauer ist. Amazon hat mit http:// a9.com eine eigene Suchmaschine gestartet, und diese ermöglicht etwa auch die gezielte Wikipedia-Suche oder die Suche in Weblogs. Wer heute eine akademische Arbeit akribisch mit Suchmaschinen überprüfen will, sollte neben Google auch schon die Google-Buchsuche und a9 verwenden — oder gleich diverse Meta-Suchmaschinen. Möglich ist es, dass die Ergoogelung der Wirklichkeit nur ein temporäres Phänomen ist, aber Suchmaschinen als Einfallstor und Schleuse in die digitale Welt werden wohl bis auf weiteres das bestimmende Prinzip der Wissensorganisation im Web bleiben. Der Selektivität des gegenwärtigen Google-Horizonts wird man sich am besten bewusst, wenn man sich noch einmal folgende Punkte vor Augen führt: Die Google-Buchsuche wird in ihrer Endstufe das Suchen in nicht einmal einem Siebentel (vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger) der gedruckten Bücher der westlichen Welt aus den vergangenen Jahrhunderten ermöglichen. Die Suchmaschine Google findet bei weitem nicht alles, was im Web ist. Und bei weitem nicht alles, was es »gibt«, ist im Web.
30) Jean-Nodl Jeanneney, Googles Herausforderung: Für eine europäische Bibliothek, Berlin 2006, S. 20 f. — Siehe auch das Zitat von Frank Hartmann, Fn. 27.
26 Vorboten
Zahllose Zeitschriften, Editionen, Bücher aus Kleinverlagen oder aus spezifischen Regionen der Welt werden so bis auf weiteres nie online gefunden werden. Wird dieses Wissen durch die zunehmende Ergoogelung der Wirklichkeit sukzessive verschwinden? Die Situation ist ein double bind: Wenn wir die Digitalisierung der Textkultur jetzt stoppen würden, dann würden wir immer das Problem des Medienbruchs und der Dichotomisierung in ein Online- und ein Offline-Universum mit uns herumtragen. Derzeit bekennen alle, möglichst viel digitalisieren zu wollen, aber de facto bleibt der Medienbruch erhalten, er verschiebt sich nur zugunsten des Netzes. Wenn wir alles Alte scannen und alle (aber dann auch wirklich alle!) neuen Texte nur noch online veröffentlichen, hätten wir zwar das Ziel einer voll digitalisierten Wissenskultur erreicht, aber dann stellt sich immer noch die Frage nach den veränderten Lesegewohnheiten: Wollen wir überhaupt da hin, zur instantanen Schnipsel-Kultur der Suchmaschinen-Stichwörter? Was geschieht hier mit unseren Hirnen? Eine Nachdenkpause wäre dringend erforderlich.
3.3
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? Das systematische Quellenproblem des Online-Lexikons
Tippen wir drei Fachbegriffe bei Google ein: »Systemtheorie«, »Kybernetik« und »Funktionalismus«. Bei jedem der drei Begriffe ist der oberste Eintrag der Google-Ergebnisliste der Link zum Online-Lexikon Wikipedia. Dieses hat sich in den vergangenen Jahren rasant entwickelt (Mitte 2006 umfasste die Wikipedia nach eigenen Angaben ca. 4,6 Millionen Artikel in mehr als 200 Sprachen, die von rund 200.000 »Wikipedianern« weltweit verfasst wurden und ständig weiterentwickelt werden 31 ). Schon alleine die Tatsache, dass Google als obersten Treffer zunehmend oft den Wikipedia-Link listet — und dies gerade bei wissenschaftlichen Fachbegriffen —, mag dazu verführen, sich bei der Wikipedia zu »bedienen«. Dies kann — wie im vorigen Abschnitt an einem Beispiel gezeigt — geschehen, indem einfach Textpassagen aus der Wikipedia übernommen und geringfügig sprachlich adaptiert werden. Eine besondere intellektuelle Durchdringung des Themas ist für dieses Verfahren nicht notwendig. Die Online-Enzyklopädie hat somit als Text-Reservoir eine grundlegend andere Bedeutung als ihre Print-Vorgänger erhalten: Noch vor 15 Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, dass akademische Arbeiten einfach eine Aneinanderreihung von ganzen Absätzen aus Brockhaus, Duden oder Meyers Taschenlexikon darstellten. Diese Wissensspeicher dienten der Erstorientierung bei einem Thema, und oft auch nur einer ersten Begriffsbestimmung — 31)
http://stats.wikimedia.org/EN/TablesWikipediaZZ.htm Plagiatsverdacht in der Wikipedia? 27
dies insbesondere bei Fachtermini, die in unterschiedlichen Disziplinen verschiedene Bedeutungen haben. Auf die Erstorientierung in Print-Lexika folgte in der Regel erst die eigentliche Recherche in der wissenschaftlichen Fachliteratur. Mittlerweile ist es allerdings so, dass die Recherche nach der Ergoogelung eines Begriffs oft gleich bei der Wikipedia wieder endet. Beliebt ist etwa die Komplettübernahme einer Biographie von der Wikipedia — etwa, wenn ein Referat zu Jürgen Habermas oder Friedrich Nietzsche vorzubereiten ist. Ein Studierender berichtet: »Ich musst[e] mal ein Referat über Friedrich Nietzsche halten. Und da war das rein zu seiner Biographie schon ganz hilfreich. Da habe ich Wikipedia benutzt, was ja ein bisschen bekannter ist.« 32 Auch hier ist die Unterstellung vielleicht nicht ganz unbegründet, dass die Recherche mit der Wikipedia auch schon wieder abgeschlossen wurde und zahlreiche mögliche Bücher oder Aufsätze mit biographischen Inhalten nicht mehr bemüht wurden. Konkreter zeigt sich diese Mentalität in der folgenden E-Mail einer Studentin, die bei mir anfragte, ob sie aus der Wikipedia zitieren dürfe: »mein beispiel in der letzten einheit bzgl. wikipedia kam [...] aus der praxis: die geschichte der zeitungen standard, kurier und kronenzeitung habe ich schön zusammengefasst auf wikipedia gefunden und von dort zitiert (natürlich richtig). meine frage: kennen sie offline-quellen, in denen ich das ebenfalls schön zusammengefasst finde? die fertigstellung der se-arbeit bei prof. [...] eilt nämlich etwas und ich habe daher nicht die zeit, in zehn verschiedenen büchern nachzuschlagen. «33 Dieses Zitat zeigt nicht nur, wie sehr gewisse Studierende den Medienbruch von Online zu Offline verweigern und wie massiv die Zeitersparnis durch die Wikipedia-Übernahme zu einem noch stärkeren Prinzip des geringsten Aufwands führt. Es zeigt auch sehr deutlich, wie stark sich das Reproduktionsparadigma in den Köpfen bereits durchgesetzt hat: Wenn die Geschichte von drei österreichischen Tageszeitungen bereits »schön zusammengefasst« in der Wikipedia steht, besteht ja nicht der geringste Grund, diese noch einmal zu »zitieren«. Ein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn tritt nicht ein, vielmehr wird lediglich existierendes Material gesampelt oder geringfügig sprachlich bearbeitet.
32)
httpillwww.dradio.de/d1f/sendungenIcampus/405274
33)
E-Mail vom 17. Oktober 2005.
28 Vorboten
Wie schon bei Google gilt: Die Wikipedia-Recherche ist zur Erstorientierung durchaus geeignet. Sie kann einem ersten Überblick dienen, bevor die richtige Durchdringung des Themas beginnt. Links von der Wikipedia können im Sinne einer Schneeball-Recherche durchaus hilfreich sein. Die Verführung der 1:1-Übernahme von Texten ist aber leider omnipräsent. Sollten Lehrende hier nicht mit gutem Beispiel vorangehen? Macht es Sinn, wenn diese etwa in kommunikationswissenschaftlichen Einführungsvorlesungen selbst ganze Absätze aus der Wikipedia übernehmen (und dies vielleicht sogar ohne Anführungszeichen, nur unter Angabe des Weblinks)? An dieser Stelle muss man gleich einen Mythos dekonstruieren: den der bei der Zitation verpflichtenden Datumsangabe bei Webseiten. Solange die Wikipedia keine eingefrorenen Beitragsversionen hat, kann sich sekündlich schlichtweg alles ändern. Wir müssten also streng genommen penibler sein und auch die sekundengenaue Uhrzeit neben dem Weblink angeben oder die zitierte Version aus der Versionengeschichte anführen. Doch das hat erneut wenig Sinn, wenn sich die Quellenlage sekündlich ändern kann. Daraus kann nur logisch folgen, dass Zitate aus der Wikipedia so gut wie gar nicht in wissenschaftlichen Arbeiten vorkommen dürften — und diese Regel sollte ab dem ersten Proseminar gelten. Natürlich sind die vielen Wikipedianer aller Fachgebiete unglaublich schnell bei der Fehlerkorrektur. Ich habe es selbst ausprobiert: Eine kleine Änderung im Beitrag »Marxismus« (»Günthersche Dialektik« statt »Hegelsche Dialektik«) wurde schon nach wenigen Minuten als Vandalismus enttarnt und wieder zurückgenommen. Das Einschleusen einer fiktiven Person in die Wikipedia (»Hans Halberstedt« ) führte binnen eines Tages zu einem Löschantrag (jedoch nicht, weil nachgewiesen werden konnte, dass es die Person gar nicht gibt, sondern es hieß in der Diskussionsseite zum Löschantrag vielmehr: »Relevanz nicht erkennbar«). Selbst die Änderung einer Jahreszahl bei der Baugeschichte eines deutschen Klosters hielt nur einen Tag lang. Und dennoch berichten die Massenmedien immer wieder von Vorfällen, bei denen Fehler in der Wikipedia, bewusster Vandalismus oder bewusstes Tuning von Beiträgen (etwa durch Spin-Doktoren) länger unbemerkt blieben: Beliebt ist das Tot-Schreiben von Personen, das jedoch interessanterweise auch schon in den herkömmlichen Massenmedien aufgetreten ist (ein berühmt gewordenes Beispiel ist die Meldung vom Tod Friedrich Guldas durch die österreichische Presseagentur APA im März 1999 — der Pianist hatte für seine eigene Todesnachricht gesorgt, weil er die Nachrufe zu Lebzeiten lesen wollte). In der Wikipedia wurde etwa der Züricher Informatik-Professor Bertrand Meyer zu Weihnachten 2005 für einige Tage für tot erklärt — möglicherweise ein Streich eines frustrierten Prüflings des Professors.
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? 29
Das Bewusstsein dafür, dass in der Wikipedia zunächst einmal jeder jeden für tot erklären kann, hat sich immer noch nicht durchgesetzt. Artikel werden gerne wie bei Print-Lexika als unverrückbar rezipiert. Freilich ist es, wenn man erfolgreich Vandalismus betreiben will, vernünftiger, etwa den österreichischen Philosophen Josef Mitterer in der Wikipedia für tot zu erklären als Peter Sloterdijk. Es gilt die Regel: Je unbekannter der Totgeschriebene, desto länger könnte der fälschliche Eintrag unbemerkt bleiben. Freilich müssen die »behandelten« Personen in der Wikipedia nicht gleich sterben — es genügt etwa auch eine kleine Änderung in der Biographie. Aus Juxgründen hat etwa ein Amerikaner einem prominenten Journalisten unterstellt, eine dubiose Rolle bei den Kennedy-Morden gespielt zu haben. Auch über diese Änderung wurde weltweit berichtet. Freilich ist es in der Mediengesellschaft immer so, dass solche Änderungen oder Verfälschungen an sich eher Peanuts sind und erst der sich selbst verstärkende Effekt der Massenmedialisierung das Thema zu einem Großereignis aufbläst. Schon viel stärker in Richtung Manipulation aus strategischen Gründen gehen etwa Veränderungen von Politiker-Biographien durch politische Gegner. Einige Wikipedia-Einträge sind offene Werbung oder PR. Auch über solche Problemfälle wurde wiederholt berichtet. Problematisch für die Wikipedia war etwa auch die Tatsache, dass es zwischen 2003 und 2005 jemandem im größeren Stil gelungen ist, Wissen aus alten DDR-Lexika in die Wikipedia einzuschleusen. Diese Texte stellten zudem Plagiate dar: Das Wikipedia-Team gestand in einer Presseinformation, dass »abgeschrieben wurde« bzw. die Artikel »über das Zitatmaß hinausgehen«. 34 All diese Fälle zeigen, dass eine gewisse Restskepsis bei der Wikipedia immer angebracht ist. Welche Folgen könnte es haben, wenn man einen Text für bare Münze nimmt, aber dieser gerade vor wenigen Sekunden aus Juxgründen, aus Rache, aus Gründen des politischen Spin-Doctorings oder schlichtweg aus Gründen der Uninformiertheit verstümmelt wurde? Und selbst bei eingefrorenen Artikelversionen, wie sie derzeit diskutiert werden, wird sich die Frage stellen, was die 1:1-Übernahme von online frei zugänglichem Wissen in eine wissenschaftliche Arbeit an Erkenntnisgewinn bringen würde. — Fazit: Bitte so gut wie keine Zitate aus der Wikipedia (und — man muss es nicht erwähnen — schon gar keine unsauberen Zitate oder gar Plagiate)! Das wahre Problem, das ich hier erörtern möchte, liegt jedoch ganz woanders. Der Vorfall mit den alten DDR-Lexika hat als einziger darauf hingewiesen. Die gesamte Diskussion um die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der Wikipedia-Einträge dreht sich derzeit fast ausschließlich um Fälle von 34)
httpillde.wikipedia.org/wikilWikipedia:DDR-URV/Presseinfo
30 Vorboten
Vandalismus. Damit liegt das Hauptaugenmerk auf den Bearbeitungen von Texten. Diese können eben nicht nur der »Wahrheitsfindung«, der Präzisierung von Erkenntnissen, der berechtigten Korrektur oder der Erweiterung dienen, sondern auch von unseriösen Motiven geleitet sein. Auf geradezu rätselhafte Weise wird in der Diskussion jedoch ausgeklammert, woher eigentlich die Initialzündung zu einem Text stammt, wer den Start-Text mit Hilfe welcher Quellen warum und wie verfasst hat. Ich möchte hier eine These aufstellen, und sie wird wohl auf vehemente Ablehnung bei den Wikipedianern stoßen: Ich gehe davon aus, dass ein mir nicht bekannter Anteil der Beiträge in der Wikipedia Plagiate sind. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und behaupte, dass Selbst- und Fremdplagiate in der Wikipedia systemisch sind, dass sie gleichsam vom Prinzip der Wikipedia begünstigt, ja verlangt werden. Sehen wir uns dazu das derzeitige System der Wikipedia-Artikelentstehung genauer an: Wer einen neuen Beitrag in die Online-Maske eintippen will, wird oberhalb der Textmaske darauf hingewiesen, dass der Artikel ein Mindestniveau erfüllen soll, dass er nicht bloß ein Jux sein soll und keine Werbung darstellen darf. Dann kommt das Textfeld, und hier kann nun jeder weltweit tun, was er will. Wer viel Zeit hat und WikipediaIdealist ist, wird mutmaßlich tatsächlich selbst texten. Wer wenig Zeit hat und etwa einfach nur will, dass ein Stichwort in die Wikipedia aufgenommen wird, wird mutmaßlich ein Eigenplagiat in die Textmaske einfügen, also einen noch auf seiner Festplatte befindlichen unpublizierten oder bereits publizierten eigenen Text in die Wikipedia stellen. Wer keine Angst vor einer möglichen Urheberrechtsverletzung hat (immerhin kann er ja anonym bleiben, wenn er will), kann auch fremde Textbausteine aus dem Web oder von anderswo hier einfügen und damit ein echtes Plagiat in die Wikipedia einschleusen. Unter der Textmaske steht der Hinweis: »Kopieren urheberrechtlich geschützter Werke verboten!« Dieser Hinweis suggeriert, dass nur die 1:1-Totalübernahme, also die deckungsgleiche Kopie eines Werks verboten ist. Von einem Plagiatsverbot ist nicht die Rede. Daneben steht: »Ich versichere hiermit, dass ich den Beitrag selbst verfasst habe bzw. dass er keine fremden Rechte verletzt [...].« Dies kann wohl — analog zu den Geschäftsbedingungen beim Software-Update — getrost übergangen werden. Neben dem Hinweis auf das Kopierverbot steht: »Bitte gib deine Quellen an!« Spätestens hier ist die Verwirrung perfekt: Was ist das nun für ein Text, der Ausgangstext des Wikipedia-Eintrags? Ein in jedem Fall originär von einem Autor selbst formulierter Text, basierend auf seiner wissenschaftlichen Kompetenz im jeweiligen Spezialbereich? Oder eine Collage aus bereits existierenden Quellen, abgeschrieben oder paraphrasiert von Büchern oder Weblinks (die dann im Feld »Zusammenfassung und Quellen« anzugeben sind?)? Oder bloß eine Copy/Paste-Übung aus dem Netz, und
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? 31
genügt bei »Quellen« die Angabe einer einzigen URL, von der man Textsegmente geschwind hineingestellt hat? Das Wikipedia-Prinzip begünstigt die Entstehung eines verzerrten Wissenskosmos zweiter Ordnung, der permanent auf einer unklaren, »postmodernen« Quellenlage beruht: Genuin vom Erstautor Formuliertes und aus bereits existierenden Quellen Abgeschriebenes können nicht mehr streng unterschieden werden. Auf dieses Problem habe ich erstmals im Herbst 2005 in dem Telepolis-Beitrag »Kommen nach den >science wars< die >reference wars Wandel der Wissenskultur durch Netzplagiate und das Google-Wikipedia-Monopol« 35 hingewiesen. Der Artikel ist offenbar ein wenig zu polemisch geraten und provozierte einige heftige Reaktionen — gegen mich wurde sogar von einer engagierten Wikipedianerin und Medieninformatik-Professorin ein PlagiatVorwurf erhoben. Andere wiederum bemühten sich, den Artikel mit zwar durchaus lobenswerter Akribie auseinander zu nehmen, gingen aber in ihrer Argumentation zumindest implizit vom sattsam bekannten grundlegend falschen Wissenschaftsverständnis aus, dass ohnehin irgendwie alles eine Paraphrase, wenn nicht gar ein Plagiat sei (Agon S. Buchholz: »Problemfeld Plagiate und Plagiatsvorwürfe in der Wikipedia « 36 ). Interessant ist bei dieser Replik vor allem Folgendes: Der Autor erlaubt sich ein Urteil über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen eines Plagiats und stützt sich dabei einzig und allein auf meinen Telepolis-Beitrag. Er zerpflückt die von mir erwähnten Beispiele so lange, bis sie fragwürdig erscheinen. Nun sollte es gerade beim Problem des wissenschaftlichen Plagiats eine Grundregel sein, dass überhaupt nur in Kenntnis der Originalquellen (hier: zwei Aufsätze in Sammelbänden) und der des Plagiats verdächtigten Texte (hier: zwei Wikipedia-Artikel) ein Urteil möglich sein sollte. Alles andere ist reine Spekulation. Der Autor zitiert jedoch bei seiner Entkräftung des Plagiatsvorwurfs nicht aus den Originalquellen, diese dürften ihm gar nicht vorgelegen sein. Der Autor beweist damit selbst, dass er den Medienbruch von Online zu Offline für nicht notwendig hält. Er stützt sich in seiner »Beweisführung« nicht auf die Entkräftung des Plagiatsvorwurfs nach Studium der Offline-Originalliteratur, sondern er verbleibt im Online-Universum. Damit tritt erneut ein Niveauverlust des Diskurses ein, und sei er noch so vorgeblich rational. Stein des Anstoßes meines Telepolis-Beitrags waren zwei WikipediaEinträge zu medienwissenschaftlichen Themen — einmal der Eintrag » Journalismustheorien« und einmal der Eintrag »Theorie der Fotografie«. Bei der erstmaligen Lektüre von » Journalismustheorien« erkannte ich sofort, dass hier offenbar ganze Seiten weitgehend wortwörtlich von einer Arbeit des Ilmenauer 35) 36)
http://www.heise.deltp1r4lartike1120/20982/1.html http://www.kefk.net1Wissen1WikipedialProblemfelder/Plagiatefindex.asp.
32 Vorboten
Medienwissenschaftlers Martin Löffelholz abgeschrieben wurden. Das Original wurde 2003 publiziert. 37 Für den Wikipedia-Eintrag » Journalismustheorien« wurde der Unterabschnitt 2 (»Theoretische Konzepte der Journalistik«) herangezogen. Textteile von S. 31 bis 40 wurden manchmal gekürzt, aber immer wieder in Form einer wortidentischen Übernahme ganzer Sätze und Absätze in die Wikipedia »eingespeist«. Zusätzlich lag ein Ideenplagiat vor, da die Einteilung der Journalismustheorien in acht theoretische Stränge von Martin Löffelholz stammte und nicht vom Wikipedia-Beiträger oder von den folgenden Autoren vorgenommen wurde. In der Fassung, die ich entdeckt habe, fehlte noch jeglicher Hinweis auf Löffelholz (der Wikipedia-Beiträger hätte sich auch auf einen Aufsatz von Löffelholz aus dem Jahr 2002 berufen können, in dem diese Systematik erstmals publiziert wurde, auch dies ist aber nicht erfolgt). Zum Zeitpunkt der Publikation des Telepolis-Beitrags befand sich hinter den inkriminierten Absätzen bereits jeweils ein »(nach Löffelholz 2003, S. XY)«. Diese »Zitationsweise« ist bei wortwörtlichen Übernahmen jedoch keinesfalls hinreichend und zudem äußerst irreführend für Studierende (es hätten nämlich alle wortwörtlich übernommenen Sätze als direkte Zitate in Anführungszeichen ausgewiesen werden müssen). Wortwörtlich abgeschriebene Sätze lediglich mit einem Verweis am Absatzende ( »nach Löffelholz«) auszustatten, ist ein deutlicher Verstoß gegen die Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens. Der Beitrag wurde schließlich gelöscht. Er ist jedoch weiterhin im Netz zu finden. 38 Das Plagiat kann somit weiterhin jeder überprüfen. Der Korrektheit halber kontaktierte ich Martin Löffelholz am 30. August 2005 per Mail und fragte ihn, ob er den Beitrag selbst geschrieben habe — denn nur so wäre für mich die weitgehende Übereinstimmung mit seiner Arbeit erklärbar gewesen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich im Wikipedia-Eintrag nicht der geringste Hinweis auf Martin Löffelholz als Quelle. Dieser antwortete mir: »Habe ich kürzlich auch im Netz entdeckt — und kein Wort davon geschrieben, abgesehen davon, dass dort reichlich, zum Teil sogar wörtlich, Texte von mir verwendet werden, auch ohne Verweise.« 39 Für mich war klar, dass der Wikipedia-Eintrag zu »Journalismustheorien«, wenn man ihn als akademische Arbeit abgeben würde, ein eindeutiges Plagiat darstellen würde. Die Urheberrechtsverletzung war für mich gar nicht so entscheidend, viel schlimmer war die Entdeckung, dass nun auch in der Wikipe37)
Martin Löffelholz, Kommunikatorforschung: Journalistik, in: Günter Bentele, Hans Bernd Brosius, Otfried Jarren (Hg.), Öffentliche Kommunikation: Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden 2003, S. 28-53.
38)
http://journalismustheorien.know-library.net
39)
E-Mail vom 30. August 2005.
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? 33
dia Fälle für ein »Kleben-Bleiben« am Originaltext, für ein relativ gedankenloses Paraphrasieren und Plagiieren zu finden waren und diese so entstandenen Texte aber als enzyklopädisches Wissen von neuem Quelle für Zitationen (!) werden können. Mit anderen Worten: Martin Löffelholz hätte nur ein bisschen zuwarten müssen, bis er wohl in einer Seminararbeit eines Studenten im Abschnitt zu Journalismustheorien seinen eigenen Beitrag wiedergefunden hätte. Löffelholz hätte dem Verfasser dann schon seine Originalpublikation zeigen müssen, denn der Verfasser hat ja bloß Copy/Paste aus der Wikipedia betrieben (und diese Quelle mutmaßlich auch noch schön mit einem Weblink am Ende der übernommenen Absätze angegeben). Den Tatbestand des Textklaus von Martin Löffelholz hätte der Student gar nicht gesehen. — Erkennen Sie spätestens hier, dass es um ein Referenzproblem größeren Ausmaßes geht? Auch der zweite von mir beanstandete Eintrag »Theorie der Fotografie« verriet einiges über die Sampling- und Recycling-Mentalität einiger (oder vieler?) Wikipedianer. In diesem Eintrag fanden sich einige wortwörtlich übernommene Absätze aus einer Arbeit von mir aus dem Jahr 1999 40 , die mit dem Thema »Theorie der Fotografie« gar nichts zu tun hatte. Der Wikipedia-Autor (oder ein späterer »Eingreifer«) hatte offenbar lediglich Passagen über Josef Mitterer, Arthur Kroker und Siegfried J. Schmidt als passend für sein Thema befunden. Wortgetreu übernommen wurden mehrere Absätze zwischen S. 199 und 201 meines Aufsatzes. Von S. 199 wurde auch eine Fußnote in den Fließtext »inkorporiert«. Von S. 201 wurden direkte Zitate aus meinem Text für den Wikipedia-Eintrag übernommen. Solche Übernahmen sind in der Wissenschaft nicht zulässig. Erneut — wie von Löffelholz — wurden auch Systematiken und wissenschaftliche Einordnungen von mir wortwörtlich übernommen (etwa die Erwähnung eines »situativen Modells der Nachrichtenkonstruktion«, das ich später in meinem Aufsatz vorstellte). Nur ein einziger Satz von mir wurde belegt, übernommen wurden aber mehrere Absätze und Seiten. Der gelöschte Wikipedia-Beitrag hat auf http://theorie_derjotografie.knowlibrary.net virtuell überlebt. Als akademische Arbeit würde auch er klar ein Plagiat darstellen. Die plagiierten Passagen wirkten in dem Text merkwürdig deplatziert, blieben aber wochenlang im Netz, bis der Telepolis-Beitrag erschien und auch dieser Eintrag gelöscht wurde. Seitdem gibt es interessanterweise zu beiden Themen keine neuen Beiträge mehr. Freilich ist es sehr spekulativ und vielleicht auch unfair, von zwei Fällen auf viele mögliche zu schließen. Aber undenkbar ist ein Induktionsschluss nicht. 40) Die Original-Publikation lautet: Stefan Weber, Was können Systemtheorie und nichtdualisierende Philosophie zu einer Lösung des medientheoretischen Realismus/ Konstruktivismus-Problems beitragen?, in: Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt (Hg.), Konstruktivismus in der Medien- und Kommunikationswissenschaft, DELFIN 1997, Frankfurt am Main 1999, S. 189-222.
34 Vorboten
Wie bei Plagiatsfällen bei akademischen Abschlussarbeiten gilt die Regel: Je mehr man suchen würde, desto mehr würde man wohl finden. 41 Die beiden Wikipedia-Plagiate sind zumindest erste Hinweise auf eine neuartige Arbeitstechnik, die in den folgenden Abschnitten noch genauer durchleuchtet werden soll: Studierende bleiben zunehmend am Originaltext kleben — online wie offline. Entweder sie kopieren ihn online mit Ausschneiden/Einfügen und lassen ihn so stehen, wie er ist bzw. ändern ihn geringfügig um. Oder, sie drucken sich Texte aus oder bemühen Offline-Quellen wie Bücher oder Aufsätze. Interessant ist, dass auch mit diesen dann (zunehmend oft?) ähnlich umgegangen wird: Markierte Sätze werden ab- oder umgeschrieben; die Referenz wird häufig verschleiert. Studierende arbeiten hier wie dort nicht mehr im semantischen oder pragmatischen Bereich, in den Bereichen der Wortbedeutung und des Textverstehens. Ihre Beziehung zum Text ist nicht mehr inhaltlicher, sondern »editorischer« Natur. Das mangelnde Bewusstsein für die Urheberrechtsverletzung, auf das sich die Wikipedia in ihrer Reaktion auf meinen Telepolis-Beitrag bezogen hatte, war gar nicht meine zentrale Sorge. Vielmehr geht es mir um das Entstehen einer second-order-Textkultur, die zunehmend oft aus Plagiaten oder Paraphrasen von bereits existierenden Online- oder Offline-Quellen besteht. In den bisherigen wissenschaftlichen Analysen zur Wikipedia wird das Plagiatsproblem nicht diskutiert. In der Diplomarbeit »Wissen auf wikipedia.org « von 2005 42 wird etwa das Problem der Referenz der Basistexte in der Wikipedia völlig ausgeklammert, nur urheberrechtliche Fragen werden kurz gestreift. Es würde mich nicht erstaunen, wenn sich auch auf den vielen Wikipedia-Konferenzen noch überhaupt kein Bewusstsein für Fälle von Netzplagiarismus in der Wikipedia und die grundlegende Quellenproblematik des Online-Lexikons entwickelt hätte. Ein Grund mag auch sein, dass einige Beobachter das kollektive Umschreib-Prinzip der Wikipedia mit der Zitationspflicht vermengen: Es wird dann so getan, als wäre in der Wikipedia die Unterscheidung zwischen genuinem Text und Zitat, zwischen eigenem und fremdem geistigen Eigentum obsolet geworden, da ja ohnedies jeder in den Text eingreifen könne. Hier liegt jedoch ein Kategorienfehler vor: Es kann eben jeder in einen Text eingreifen, der zwischen Originaltext und Zitat unterscheidet (das Umschreiben eines direkten
41)
42)
Auch Journalisten schreiben mittlerweile ungeniert von der Wikipedia ab. Eine österreichische Jungjournalistin hat etwa unter ihrem eigenen Namen in einem OnlineMagazin einen Beitrag über die großen Sommerloch-Themen der vergangenen Jahre publiziert. Google verriet schnell die Quelle des verdächtigen Textes (auch hier wurde, wie fast immer, weitgehend alles wortwörtlich übernommen):
http://de.wikipedia.org/wiki/Sommerloch. http://www-usenuni-bremen.de/%7Echrofhviki-download.html
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? 35
Zitats aus einer Quelle — wenn das Zitat denn einmal korrekt wiedergegeben wurde — wäre Vandalismus). Ein Wikipedia-Beitrag trägt nie die Signatur eines einzelnen Autors, sondern immer jene vieler Autoren. In diesem Zusammenhang wird auch eine andere Utopie diskutiert: Was würde geschehen, wenn etwa eine Einzelveröffentlichung eines Wissenschaftlers ins Netz gestellt wird und interessierte Kollegen dann diesen Text nach dem Wiki-Prinzip umschreiben/optimieren können? Versuche dieser Art — als Alternative zum herkömmlichen anonymen peer review-Modell 43 — gibt es, und diese dekonstruieren tatsächlich das bisherige Konzept der Autorschaft. Streng genommen müsste ein wissenschaftlicher Beitrag, der durch ein Wiki-System optimiert wurde, dann zumindest den Erstautor und alle anderen »Umschreiber« nennen. Versuche dieser Art sind durchaus spannend und nicht a priori als negativ zu bewerten, wenngleich es mir vordringlicher erscheint, zuerst die Frage nach dem Quellenproblem der Wikipedia-Artikel zu klären. Was müsste zur Problemlösung von Seiten der Wikipedia getan werden? Die Wikipedia bräuchte auf der Seite zur Erstellung eines neuen Beitrags klare Richtlinien, dass die wissenschaftlichen Zitierregeln strikt eingehalten werden müssen und Paraphrasen" wie Plagiate nicht geduldet werden. Zur Qualitätskontrolle müsste nicht nur die (eher formal orientierte) » Wikifizierung« stattfinden, sondern auch eine Art stichprobenartiger Antiplagiats-Check (nicht nur in Online-Quellen, auch in Offline-Quellen, sprich: durch freiwillige Wissenschaftler und nicht bloß durch Software, die im Web nach Vergleichsstellen sucht). Den Studierenden sollte klar gemacht werden, dass die Wikipedia erst dann als verlässliche Quelle gelten wird, wenn sie eingefrorene ArtikelVersionen anbietet.
43)
44)
Plausibler erscheint mir das Modell der open peer review im Netz: Ein Beitrag kann dann online kommentiert/»begutachtet«, aber freilich nicht verändert werden. Die Veränderungen macht der Autor selbst nach einer gewissen Online-Begutachtungszeit. Der Kritiker meines Telepolis-Beitrags irrt, wenn er die Paraphrase als wissenschaftliche Arbeitstechnik in einem Atemzug mit dem Exzerpieren und Zitieren nennt. Die Paraphrase (im Sinne eines bloß geringfügigen Umschreibens eines vorhandenen Textes) mag bis spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts noch in gewissen Disziplinen geduldet worden sein, heute ist dies aber nicht mehr der Fall. Das Paraphrasieren sollte vermieden werden und ist kaum vom Plagiieren zu unterscheiden, heißt es in zahlreichen aktuellen Leitfäden zum wissenschaftlichen Arbeiten. Statt vieler vgl.
http://www.kotvi.sbg.ac.atkontentlfiles/SchriftlArb_05.pdf
36
Vorboten
Und auch dann sollte gelten: Zitate aus der Wikipedia haben nicht mehr und nicht weniger Sinn als Zitate aus dem Brockhaus oder dem Duden: Sie sollten daher nur in Ausnahmefällen in wissenschaftlichen Texten vorkommen, da dieses Wissen ja ohnedies für jedermann zugänglich ist und meist nur die Basis für das darstellen soll, was sich der Studierende dann in der Folge individuell erarbeitet.
Plagiatsverdacht in der Wikipedia? 37
4
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
»Ein Original ist heute, wer zuerst gestohlen hat.« »Ein Plagiator sollte den Autor hundertmal abschreiben müssen.«
Beide: Karl Kraus, »Aphorismen«
Einmal fragte mich ein Studierender: »Wenn ich einen Satz aus der Literatur übernehme und ich ändere ein paar Worte um, ist das dann schon ein Plagiat? « — Die Frage weist auf die immer weiter verbreitete Fehlannahme hin, dass Wissenschaft an sich Abschreiben von Wissenschaft sei — entweder in Anführungszeichen oder gleich ohne. Dass nur in gewissen Fällen (und eben dann als direktes Zitat ausgewiesen!) die bloße Reproduktion einer These oder Erkenntnis aus der wissenschaftlichen Literatur ebenso bedeutend ist wie das, was sich der Leser selbst kritisch dazu gedacht hat, scheint den heutigen Studierenden oft nicht mehr klar zu sein. Sie halten sich mit eigenem Gedachten zurück, es »spricht« nur noch der fremde Text. Mit Friedrich Kittler könnte man von einer Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften sprechen — genauer: aus ihrer Textproduktion. Das wäre dann allerdings alles andere als ein wünschenswertes Programm, sondern vielmehr eine hochproblematische Zeitdiagnose. Gehen wir nochmals zurück zum Beispiel des Wikipedia-Eintrags zur »Theorie der Fotografie«. Wie im vorherigen Kapitel erwähnt, unterstelle ich hier plagiatorisches Vorgehen. Warum? — In einem 1999 veröffentlichten Aufsatz habe ich Folgendes geschrieben: »Die klassische erkenntnistheoretische Frage zwischen Realisten und Konstruktivisten in der Kommunikationswissenschaft lautet: Bilden die Medien die Wirklichkeit ab, oder konstruieren sie sie? Mit anderen Worten: Geht den Medien eine Wirklichkeit voraus, aus der selektiert wird, oder erzeugen die Medien erst durch eigene Operationen Wirklichkeit? « 45 Im Wikipedia-Eintrag war im Unterabschnitt »Position des extremen Konstruktivismus« Folgendes zu lesen (ohne Anführungszeichen und ohne Literaturverweis): 39
u
»Die zentralen erkenntnistheoretischen Fragen der Kommunikationswissenschaft lauten:
•
Bilden die Medien die Wirklichkeit ab, oder konstruieren sie sie?
•
Geht den Medien eine Wirklichkeit voraus, aus der selektiert wird, oder erzeugen die Medien erst durch eigene Operationen Wirklichkeit? «46
Vergleichen wir beide Absätze: Reflexartig neigen wir oft dazu, Gegenargumente zum Vorwurf eines plagiatorischen Charakters zu suchen. Ein berühmtes Gegenargument ist die zufällig gleiche Formulierung. Bei zwei identisch formulierten Fragen hintereinander, besonders bei der unteren ( »aus der selektiert wird«), ist dies extrem unwahrscheinlich. Besonders die wortgetreue Übernahme der zweiten Frage ist verräterisch, weil für einige Konstruktivisten Konstruktivität auch Selektivität bedeuten kann, also Selektionsparadigma und realistische Denkrichtung nicht unbedingt zusammenfallen (nur ich habe das in meinem Aufsatz so interpretiert). Ein weiteres Gegenargument ist die Unbedeutendheit der Inhalte. Auch diese trifft sicherlich auf die erste Frage zu (denn sie findet sich ähnlich formuliert wohl tatsächlich in vielen Literaturstellen), aber nicht auf die zweite. Ein drittes Gegenargument ist das der Kleinkariertheit oder der übertriebenen Wahrnehmung des Anklägers. »Als wenn wir keine anderen Sorgen hätten«, ist dann etwa zu hören. Dieses Denkmuster läuft auf die — immer problematische, ja irrationale — Ignoranz oder Legitimation des kleinen Übels durch Verweis auf noch größere mögliche oder reale Übel hinaus. »Wenn dieser eine abgeschriebene Satz alles ist ... «, dann gebe es wahrhaft bedeutendere Probleme in der Wissenschaft und anderswo, heißt es mitunter. Doch Plagiatsstellen sind nie atomisiert und punktuell zu sehen. Die unzitierte Übernahme eines einzigen Satzes oder Absatzes ist immer ein Fingerzeig, ein Indikator für ein mögliches weiter reichendes plagiatorisches Vorgehen des Autors — Ich werde in den folgenden Abschnitten einen Fall schildern, bei dem etwa eine Dissertation mit »sehr gut« beurteilt wurde, bei der 86 Prozent der ersten 100 Seiten wortwörtlich deckungsgleich mit einer älteren Dissertation sind. Oder einen Fall, bei dem eine Diplomarbeit mit »sehr gut« benotet wurde, bei der 38,4 Prozent des Gesamttextes (Ergebnis einer Zeilenauszählung) nicht belegte 1 :1-Textfragmente aus dem Internet sind — Übernah45)
46)
40
Stefan Weber, Was können Systemtheorie und nicht-dualisierende Philosophie zu einer Lösung des medientheoretischen Realismus/Konstruktivismus-Problems beitragen?, in: Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt (Hg.), Konstruktivismus in der Medien- und Kommunikationswissenschaft, DELFIN 1997, Frankfurt am Main 1999, S. 189-222, hier S. 199. http://theorie_derjotografie.know-library.net
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
men von Hausarbeitenbörsen, von der Wikipedia und von amazon inkludiert. Ignoranten des Plagiatsproblems könnten sich daran stoßen, dass 'es keine verbindliche Definition gibt, »ab wann« ein Plagiat beginnt: Beginnt ein Plagiat mit der nicht belegten Übernahme eines Satzes, eines Absatzes oder einer Seite? Ab wann haben »wesentliche Teile« einer Arbeit plagiatorischen Charakter? Ab 10 Prozent, 20 Prozent oder mindestens 50 Prozent des Gesamttextes? All diese Fragen können immer nur situativ anhand der jeweiligen Arbeit entschieden werden. 38,4 Prozent entdeckter Plagiatsanteil bei einer Diplomarbeit können immer auch ein Hinweis darauf sein, dass noch viel mehr plagiiert wurde — etwa aus nicht überprüfbaren Offline-Quellen (beliebt sind hier auch andere Diplomarbeiten und Dissertationen). Dennoch soll im nächsten Abschnitt versucht werden, möglichst umfassend die Frage zu beantworten: Was ist eigentlich ein wissenschaftliches Textplagiat?
4.1
Eine Plagiatstypologie
Die wohl allgemeinste Definition von Plagiat ist die Ausweisung fremden geistigen Eigentums als eigenes. Diese Definition geht über den rein textuellen Bereich hinaus, sie umfasst auch Problemfelder wie Produktpiraterie oder Plagiate in der Kunst. Eine insbesondere auf Textualität bezogene Definition lautet, dass ein Plagiat dann vorliegt, wenn — im Text selbst verdeckte oder verschwiegene — Bezüge zu anderen Texten nachzuweisen sind. 47 Der Bezug muss insofern deutlich sein, als eine bloß zufällige Übereinstimmung ausgeschlossen werden kann. Ein Beispiel wäre folgender Absatz:
Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viele Plagiate gibt. Jeder kennt Plagiatsfälle. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden. Eine zufällige Deckungsgleichheit mit den ersten Sätzen der deutschsprachigen Übersetzung von Harry G. Frankfurts Arbeit »On Bullshit« ist wohl auszuschließen. Dort heißt es: »Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden.« 48 47) »Plagiate zeichnen sich dadurch aus, dass es sich um verdeckte Bezüge zu anderen Texten handelt [...].« Siehe Eva-Maria Jakobs, Textvernetzung in den Wissenschaften: Zitat und Verweis als Ergebnis rezeptiven, reproduktiven und produktiven Handelns, Tübingen 1999, S. 35. Eine Plagiatstypologie 41
Eine noch enger an Textualität orientierte Definition von Plagiaten wäre: Ein Plagiat liegt dann vor, wenn eine überwiegende syntaktische Deckungsgleichheit mit einem bereits existierenden Text nachzuweisen ist. Plagiatoren ersetzen mitunter Wörter (»Plagiate« statt »Bullshit« wie in meinem fiktiven Beispiel), tauschen Reihenfolgen aus oder ändern Schreibweisen um (»E-Mail« statt »eMail« ). Es sollte jedoch auch für den wissenschaftlichen Laien immer möglich sein, ein Plagiat auf Grund einer syntaktischen Deckungsgleichheit zu identifizieren. Jeder kann es selbst ausprobieren: Wer plagiiert, entlastet sein Gehirn. Er bearbeitet Content in enger Anlehnung an bereits bestehenden Content. Inhaltliche, mit Zusammenhängen befasste Hirnaktivität ist nur insofern notwendig, als die geeigneten Stellen für Plagiate gefunden werden müssen. Und durch Google kann selbst diese Tätigkeit in das so genannte »globale Gehirn« ausgelagert werden. Was bleibt übrig? Oft nur noch die gestalterische Tätigkeit, das Formatieren eines Textes. Fliegenbeinzähler, Zu-Tode-Quantifizierer und Plagiats-Ignoranten könnten nun erneut fragen: Ab wann ist syntaktisch so viel deckungsgleich, dass von einem Plagiat die Rede sein müsste? Ab drei Viertel der Wörter eines Satzes? Oder sollten wir doch lieber in Zeichen rechnen? Ab 50 Prozent der Zeichen eines Satzes? Mit oder ohne Leerzeichen? Solche Fragen sind sinnlos. — Im Folgenden ein Beispiel aus der amerikanischen Literatur, nur um zu zeigen, wie streng dort Plagiarismus definiert wird: »Suppose, for example, that you want to use the material in the following passage, which appears an page 625 of an essay by Wendy Martin in the book Columbia Literary History of the United States. Some of Dickinson's most powerful poems express her firmly held conviction that life cannot be fully comprehended without an understanding of death. If you write the following sentence without any documentation, you commit plagiarism. Emily Dickinson strongly believed that we cannot understand life fully unless we also comprehend death.« 49
48) 49)
42
Harry G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt am Main 2006, S. 9. Joseph Gibaldi, MLA Handbook for Writers of Research Papers, Fourth Edition, New York 1995, S. 26 f. (auf eine Übersetzung habe ich bewusst verzichtet, da ansonsten der präzise exemplarische Charakter verloren gegangen wäre).
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Eine ähnlich konsequente Definition von Plagiarismus findet sich auf der Website der Forschungssektion der Antiplagiatssoftware turnitin: »All of the following are considered plagiarism: • • • • • • •
turning in someone else's work as your own copying words or ideas from someone else without giving credit failing to put a quotation in quotation marks giving incorrect information about the source of a quotation changing words but copying the sentence structure of a source without giving credit copying so many words or ideas from a source that it makes up the majority of your work, whether you give credit or not [...] « 50
Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch: Relativ klar ist, dass die Abgabe einer fremden Arbeit als eigene ein klassisches Plagiat darstellt, es handelt sich um das so genannte »Totalplagiat«. Im Extremfall ändern sich nur zwei Wörter, nämlich Vor- und Zuname des »Autors«. Das Kopieren von Wörtern (besser: Satzteilen, Sätzen) und Ideen konstituiere ebenfalls ein Plagiat, schreibt turnitin. Hier haben wir also erstmals auch den Hinweis auf das so genannte »Ideenplagiat«, dessen zweifelsfreie Identifizierung freilich immer ein gewisses Expertenwissen voraussetzt. »Failing to put a quotation in quotation marks«: Das Nicht-Setzen von Anführungszeichen bei wortwörtlich übernommenen Sätzen konstituiert ebenfalls ein Plagiat. Bei in der Regel zu großzügigen Professoren geht dieses Fehlverhalten bereits als »Zitierfehler« durch. Die Angabe einer falschen Information über die Quelle eines Zitats gilt im europäischen Kontext gemeinhin nicht als Plagiat, sondern als Zitierfehler oder als unsaubere Zitation. Das Kopieren einer Satzstruktur bei gleichzeitiger Änderung von Wörtern erfüllt gemäß turnitin ebenfalls den Tatbestand eines Plagiats — siehe auch mein obiges Beispiel zu Harry G. Frankfurt. Interessant ist er letzte Punkt: ie Mehrheit eines wissenschaftlichen Textes solle gefälligst aus der Feder des Autors stammen — und selbst wenn mehr als 50 Prozent eines Textes ausgewiesene Zitate sind, sei der Text ein Plagiat, gibt turnitin eine strenge Messlatte vor, um zu verhindern, dass gleichsam nur Zitat an Zitat gereiht wird und damit erst recht wieder kaum eine intellektuelle Eigenleistung vorliegt. Freilich ist dies schwer zu quantifizieren; klar ist aber, dass das bloße Aneinanderreihen von Zitaten — mit oder ohne kurze Verbindungssätze — keine sinnvolle wissenschaftliche Arbeit darstellt. Es ist Geschmacksund Formsache, ob man solche Texte dann als Plagiate bezeichnet oder bloß als sinnlose Zitat-Collagen. 50)
http://www.turnitin.com/research_site/e_whatisplagiarism.html
Eine Plagiatstypologie 43
Auch die bundesdeutsche »Plagiatsjägerin« Debora Weber-Wulff sieht den Sachverhalt relativ streng: » Manche Studierende fragen, ab wie vielen Wörtern Übereinstimmung man von [einem] Plagiat sprechen kann. Ohne Haarspalterei betreiben zu wollen, kann man wohl sagen, dass schon ein Satz ausreicht. Eine vollständig kopierte Diplomarbeit, wie sie unlängst an einer süddeutschen Universität eingereicht wurde, ist ein kristallklares Plagiat. « 51 Von der rätselhaften Übereinstimmung eines einzigen Satzes bis zur evidenten »vollständig kopierte[n] Diplomarbeit« (oder Dissertation oder Habilitation) reicht also das mögliche Spektrum des wissenschaftlichen Textplagiarismus. Noch einmal soll vor einem allzu essentialistischen Verständnis von Plagiatsstellen gewarnt werden: Ein einziger deckungsgleicher Satz in einer Arbeit bedeutet wohl nur in den seltensten Fällen, dass tatsächlich bloß ein einziger Satz abgeschrieben und alles andere korrekt referenziert wurde. Vielmehr steht ein solcher Satz immer als ein Hinweis auf eine mögliche plagiatorische Tätigkeit größeren Ausmaßes. Der österreichische Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich schreibt in diesem Zusammenhang: »In Geschichte und Gegenwart der Wissenschaften finden sich verschiedene Abstufungen von Plagiaten: •
•
•
Das totale Plagiat, als unveränderte Übernahme oder als Übersetzung aus einer fremden Sprache, etwas für echte Draufgänger, wurde bislang am häufigsten bei Dissertationen entdeckt. [...] Das partielle Plagiat ist ein wissenschaftliches Cuv6e. Die teilweise Übernahme und Verschnitte fremder Texte ohne Quellenangabe [...] wäre im Prinzip auch durch DV-Programme zumindest teilweise enttarnbar [...]. Die bloße Übernahme der >Substanz<, also ein Ideenplagiat, birgt geringes Risiko. Es ist schwer nachzuweisen. [...]« 52
Debora Weber-Wulff stuft Plagiate wie folgt ab: Copy & Paste in toto, Übersetzungsplagiat, Shake & Paste, Halbsatzflickerei und Strukturübernahme. 53 Für meine Belange schlage ich eine Fusion der Differenzierungen von Fröhlich und Weber-Wulff vor und unterscheide die Spielarten des Textplagiarismus 54 wie folgt: 51)
http://www.spiegel.dehmispiegel/studium/0,1518,222156,00.html
52)
Gerhard Fröhlich, Wie rein ist die Wissenschaft? — Fälschung und Plagiat im rauen Wissenschaftsalltag, in: Hannes Etzlstorfer, Willibald Katzinger, Wolfgang Winkler (Hg.), echt_falsch. Will die Welt betrogen sein?, Wien 2003, S. 72-93, hier S. 82.
53)
http ://plagiat. fhtw-berlin.deiff/03schulehMe.html
44 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Copy/Paste-Totalplagiat: Hier handelt es sich um die 1:1-Übernahme einer gesamten anderen Arbeit. Die »Totalität« des Plagiats kann bei dieser Form auch vom Original her definiert werden (es kann sich etwa ein vollständig kopierter wissenschaftlicher Aufsatz in einer noch größeren Arbeit »wiederfinden« ). Bei Totalplagiaten, die vom Plagiat ausgehend definiert werden, ändert sich nur der Vor- und Zuname des Autors. Ich erinnere mich an einen Fall zu Beginn der neunziger Jahre: Das Internet war an den Universitäten noch kaum bekannt, aber es gab bereits einen regen Tauschhandel mit Disketten: Ein Kommilitone holte zwei politikwissenschaftliche Proseminararbeiten von mir auf Diskette ab — und reüssierte damit tatsächlich. Er änderte bloß den Verfassernamen sowie die Titel der Arbeiten und reichte beide erneut ein. Ein Fall von Totalplagiat — vom Original ausgehend gedacht — flog 2006 in Österreich auf: Der Verfasser einer Diplomarbeit aus dem Jahr 2004 »integrierte« in seine Arbeit den Volltext »Die Geschichte des Netzes: Ein historischer Abriß« von Jochen Musch aus dem Jahr 1997 55 (der betreuende Professor dürfte zudem nicht bemerkt haben, dass die Geschichte des Netzes 2004 bereits eine ganz andere war als noch 1997!). Copy/Paste-Teilplagiat (»Cuvée«): Eine mutmaßlich relativ beliebte Methode ist auch das »Kreuzen« mehrerer Arbeiten zu einer neuen: Aus einigen Abschnitten von zum Beispiel drei existierenden Diplomarbeiten wird so rasch eine neue — erneut muss das Hirn kaum bemüht werden. Die Methode empfiehlt sich bei nicht empirischen Literaturarbeiten. Mühsames Abtippen von der Printvorlage, Scannen und Texterkennung mit Hilfe von OCR-Software oder gleich CD-ROM-Bestellung der Diplomarbeit oder Dissertation im Netz sind die Vorgangsweisen. An einem bestimmten österreichischen Universitätsinstitut ist es ein offenes Geheimnis, dass Diplomarbeiten oft Hybride von bereits existierenden Arbeiten darstellen. Ein prominenter persönlicher Fall ist jener Tübinger Theologe, dessen erste hundert Seiten Dissertation aus dem Jahr 2004 zu 86 Prozent mit meiner eigenen Dissertation aus dem Jahr 1996 übereinstimmten. 56
54)
55)
Vgl. auch erstmals Stefan Weber, Das Textplagiat in den Kulturwissenschaften: Varianten, mutmaßliche empirische Trends, theoretische Verwirrungen. Ein Problemaufriss, in: Information Wissenschaft & Praxis, Schwerpunkt »Plagiate & unethische Autorenschaften«, 57. Jahrgang, Heft 2/2006, S. 103-108. Höchstwahrscheinlich machte er dies mit bloßem Copy/Paste: Der Volltext findet sich auf
http://www.uni-duesseldorf.de/home/Fakultaeten/math_nat/WE/Psychologielabteilungen/ ddp/Dokumente/Publications/1997.Musch.Die_Geschichte_des_Netzes.html 56)
Zur Nachlese des Falls siehe
http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,382779-2,00.html
Eine Plagiatstypologie 45
»Shake & Paste«-Plagiat: 57 Hier wird schon etwas differenzierter vorgegangen: Die inkriminierte Arbeit besteht nicht aus einigen wenigen Kapiteln von anderen Arbeiten, sondern ist ein Flickwerk, eine Collage aus zahlreichen Quellen. Den eindeutigsten mir bekannten Fall deckte ich 2006 an der Universität Klagenfurt auf. In einer E-Mail an die dortige Ombudsstelle für Plagiatsfragen erklärte ich den Sachverhalt zusammenfassend: »Am 20. April 2006 hatte ich der Universität Klagenfurt bzw. ihrer zuständigen Ombudsstelle ein 34 Seiten umfassendes Dokument übermittelt. In diesem wird Wort für Wort nachgewiesen, dass die
Autorin einer mit >sehr gut< beurteilten Diplomarbeit zu >Wickie und die starken Männer< von mindestens 21 nicht gekennzeichneten Internet-Quellen sowie einer in Buchform erschienenen Dissertation teilweise ganze Absätze und Seiten abgeschrieben hat. Die nicht zitierten Web-Quellen des geistigen Diebstahls waren u. a. die Hausarbeitenbörse grin.com , amazon.de , die Wikipedia sowie die Fanpage wickie.ch . [...] Am 30. Mai 2006 wies ich die Universität Klagenfurt darauf hin, dass (Zitat) >das bislang von mir durch die Suchmaschine Google nachweisbare Textplagiat in der betreffenden Diplomarbeit 38,4 Prozent des Gesamttextes ausmacht (nach einer Zeilenauszählung)<. Von allen mittlerweile zehn von mir aufgedeckten Plagiatsfällen stellt die Wickie-Diplomarbeit den gravierendsten und eindeutigsten Verstoß gegen alle Regeln guter wissenschaftlicher Praxis dar.« 58 Strukturplagiat: Hier wird die Struktur einer existierenden Arbeit über-
nommen bzw. oft schlichtweg deren Inhaltsverzeichnis. Dem neuen Autor ist es somit nicht gelungen, sein Thema selbst zu gliedern. Die Arbeit wird somit — auch wenn teilweise andere Literatur zitiert wird — in den meisten Fällen redundant. Strukturplagiate treten meistens nicht alleine auf, sondern zumindest in Kombination mit »Shake & Paste« -Plagiatsstellen im Fließtext. Ein Beispiel dafür wäre die österreichische Diplomarbeit »Jenseits von Realismus und Konstruktivismus«, bei der sich der Verfasser ebenfalls ausführlich bei meiner Dissertation bedient hat. Ein zweites Beispiel ist das bereits erwähnte Löffelholz-Plagiat in der Wikipedia, bei dem acht Unterabschnitte eines Kapitels wortwörtlich übernommen wurden.
57) 58)
Die Wortschöpfung »Shake & Paste« übernehme ich von Debora Weber-Wulff. E-Mail vom 26. Juli 2006.
46 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Ideenplagiat: Der reine Ideenklau ist wohl am schwierigsten nachzuweisen.
•
Am häufigsten kommt es mutmaßlich zu Ideenplagiaten, wenn sich Gutachter bei Forschungsprojektanträgen Ideen für ihre »eigene« Forschung ausborgen. Ideenplagiate in Kombination mit Struktur- und/oder »Shake & Paste«-Plagiaten sind hingegen relativ klar zu identifizieren. Auch Ideenplagiate bedeuten in der Regel eine Redundanz in der wissenschaftlichen Textproduktion. Es ist überdies sinnvoll, diese Plagiatstypologie nach dem technischen Träger beim Original und beim Plagiat weiter zu differenzieren. Vier Möglichkeiten bieten sich an: •
Ein Online-Plagiat von einem Online-Original. Beispiel: Der Text einer Website erscheint unzitiert auf einer anderen. Ein Offline-Plagiat von einem Online-Original bzw. zumindest von einem digital verfügbaren Original. Beispiel: Eine Hausarbeit von der Hausarbeitenbörse grin.com wird in ausgedruckter Form als eigene abgegeben. Ein Offline-Plagiat von einem Offline-Original. Beispiel: In einer in Buchform erschienenen Dissertation wurde von einer anderen, ebenfalls in Buchform erschienenen Dissertation abgeschrieben. Ein Online-Plagiat von einem Offline-Original. Beispiel: Ein Eintrag in der Wikipedia ist ein Plagiat von in Sammelbänden erschienenen wissenschaftlichen Aufsätzen.
•
•
•
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass es auf allen Ebenen — insbesondere aber bei den Typen 1 und 2 (Totalplagiat und Teilplagiat) — auch zu Übersetzungsplagiaten kommen kann. Diese stellen derzeit noch eine große Grauzone dar. Wir wissen relativ wenig über einen möglichen internationalen Tauschhandel mit akademischen Arbeiten. Auch über den faktischen Einsatz automatischer Übersetzungsdienste" in Kombination mit der Nutzung fremdsprachiger Google-Seiten ist noch kaum etwas bekannt. Möglich ist, dass sich hier eine neue Spielart des Plagiarismus abzeichnet. Eine österreichische Journalistin schrieb unlängst dazu: » [...] die plumpe Abschreiberei könnte schon bald von wesentlich schwieriger nachvollziehbaren Plagiatsarten abgelöst werden: Der neueste Trend geht zum Fremdsprachenplagiat: >Ausländische GoogleSeiten durchsuchen, die Texte durch ein Übersetzungsprogramm jagen und Fehler korrigieren<, so die Arbeitsbeschreibung in einem einschlägigen Diskussionsforum. « 60 59) 60)
Etwa http://babelfish.altavista.com . »profil«, Nr. 29, 17. Juli 2006, S. 41.
Eine Plagiatstypologie 47
Tab. 1:
Typologie wissenschaftlicher Textplagiate: Original -4 Plagiat
1. Copy/PasteTotalplagiat
Online --> Online:
Online -+ Offline:
Fallbeispiel Aufsatz auf http://tomkummer.be
1 :1-Übernahme von z. B. grin.com;
Offline --> Offline:
Offline-> Online:
Übersetzungsplagiat: In jeweils allen Varianten möglich!
Fallbeispiel »Die Geschichte des Netzes« in Diplomarbeit 2. Copy/PasteTeilplagiat (»Cuvée«) 3. »Shake & Paste«Plagiat
Fallbeispiel »Beobachterzentrierung und Negative Theologie« Fallbeispiel »Wickie und die starken Männer«
4. Strukturplagiat
Fallbeispiel ErwinSchrödingerStipendienantrag«
Fallbeispiele aus der Wikipedia: »Journalismustheorien«, »Theorie der Fotografie«
Fallbeispiel »Jenseits von Realismus und Konstruktivismus«
Fallbeispiel aus der Wikipedia: »Journalismustheorien«
5. Ideenplagiat ( Eigene Systematik; die bislang im Buch noch nicht erwähnten Fallbeispiele werden in den folgenden Abschnitten noch ausführlicher behandelt.)
Schließlich ist es auch noch möglich, Plagiate gemäß ihrer Genese und ihrer Machart zu differenzieren (erneut sind Überschneidungen möglich, und immer ist der Unterfall Übersetzungsplagiat mitzudenken): Methode des Copy/Paste aus dem Web, oft in Kombination mit Google (um diese Arbeitsweise geht es in diesem Buch primär) Methode des »digitalen Tauschhandels« (E-Mail-Attachments, Texte auf digitalem Träger jedweder Art)
48 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Methode des Einscannens und des automatischen Textwiedererkennens von Offline-Texten (mittels OCR-Software) Ganz klassisch: Methode des Abschreibens von Offline-Texten Und schließlich: Warum überhaupt die Arbeit, auch die plagiatorische, selbst erledigen? Alle hier genannten Arbeitsschritte sowie das »echte« Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit können ja auch von hilfreichen Dritten oder professionellen Ghostwritern erledigt werden ...
4.2
Umfragen zum Plagiarismus: Erhärtet sich die Ein-Drittel-Quote?
Immer wieder taucht die Frage auf, wie groß das Problem denn nun wirklich sei. Und: Ist die Anzahl der Plagiatsfälle tatsächlich gestiegen oder sind nur die Entdeckungsmöglichkeiten besser geworden? Oder stimmt am Ende beides — mehr Plagiatsfälle und darunter relational ein höherer Anteil an entlarvten Plagiaten? Für ganz unterschiedliche Einschätzungen und Befunde sorgt sicher immer wieder der Umstand, dass unterschiedliche Akteure verschiedene Verständnisse vom Vorliegen eines Plagiats haben. Definiert man nur 1:1-Totalübernahmen als Plagiate, wird der prozentuelle Anteil sehr gering sein. Definiert man auch wortwörtliche Übernahmen einzelner Sätze als Plagiate, erhöht sich der Anteil drastisch — und mit der Hereinnahme von Struktur- und Ideenplagiaten werden es nochmals mehr. Aber was ist bei der Berechnung der Plagiatsquote die Grundgesamtheit? Alle wissenschaftlichen Publikationen? Lediglich alle universitären wissenschaftlichen Publikationen? Oder bloß alle akademische Abschlussarbeiten? Oder wiederum alle akademischen Arbeiten ab der untersten Stufe, also auch Seminar- und Hausarbeiten? Nicht zuletzt im Zuge der publizistischen Verkürzung von Forschungsergebnissen bleibt diese Bezugsgröße oft unklar. Zu berücksichtigen ist auch, dass es bisher nur Befragungen von Schülern und Studierenden, in seltenen Fällen auch von Lehrenden gibt. Quantitative oder qualitative Textanalysen zum Plagiatsanteil bei akademischen Arbeiten liegen noch nicht vor. Die Einschätzungen schwanken ganz enorm: Die derzeitige Bandbreite liegt zwischen der Behauptung, Plagiatsfälle lägen — gemessen an allen wissenschaftlichen Arbeiten — im Promillebereich, bis hin zu einem aktuellen Untersuchungsergebnis aus einer Diplomarbeit, dass 60 Prozent der Studierenden aus dem Internet kopieren würden. Ein österreichischer Beamter des Wissenschaftsministeriums behauptete etwa im Februar 2006,
Umfragen zum Plagiarismus 49
»ihm sei jedenfalls derzeit kein einziger Fall bekannt, im Vergleich zur i mmensen Fülle an jährlichen Publikationen sei die Anzahl der Plagiate >vernichtend gering<, liege nur im Promillebereich. Praktiker [...] sehen das etwas anders, berichten diesbezüglich von zweistelligen [...] Prozentsätzen.« 61 Auch bei solchen Vergleichen herrscht oft Unklarheit. Ein Beispiel: Die Aussage, dass etwa 30 Prozent aller Arbeiten von wissenschaftlichem Fehlverhalten betroffen seien, ist grundlegend anders zu werten als die Aussage, dass mindestens 30 Prozent aller Studierenden zumindest einmal bereits ein Teilplagiat begangen hätten. Dazu kommt: Wissenschaftliches Fehlverhalten umfasst viel mehr als Plagiate — darunter fallen auch Ehrenautorschaften, verdeckte Autorschaften und Ghostwriter, Doppel- und Mehrfacheinreichungen und -publikationen von identischen Arbeiten, Bildmanipulationen sowie das »Zurechtbiegen« von empirischem Material bis hin zu glatten Fälschungen. — Nochmals zurück zur oben erwähnten Bandbreite bei der Einschätzung der Plagiatsquote. Der jüngste Befund zum Plagiarismus stammt von der Universität Münster (August 2006): »Eine Umfrage an der Uni Münster legt nahe, dass Web-Plagiate auf dem Campus alltäglich sind: 60 Prozent der befragten Studenten haben schon aus dem Internet kopiert, 20 Prozent übernahmen längere Passagen.« 62 Erneut muss das Ergebnis mit Vorsicht gelesen werden: Entweder, es liegt hier eine publizistische Verkürzung vor, oder — wenn tatsächlich so gefragt wurde (»Hast du schon aus dem Internet kopiert? « ) — es muss damit nicht zwangsläufig ein Plagiat gemeint sein. Man kann ja auch Copy/Paste aus dem Internet betreiben und das ausgeschnittene Textsegment in Anführungszeichen setzen und korrekt belegen. Dennoch sind sich die meisten mit wissenschaftlichem Fehlverhalten beschäftigten Forscher in drei Punkten einig: •
Plagiatsfälle haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.
•
Im Schnitt gesteht jeder dritte Studierende, schon einmal plagiatorisch tätig gewesen zu sein.
•
Ungefähr jede dritte akademische Publikation könnte in irgendeiner Form von wissenschaftlichem Fehlverhalten betroffen sein.
61) 62)
hupillderstandard.atHur1=/?id=2330725 http://de.internet.comlindex.php ?id=2044496
50 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Der österreichische Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich schreibt dazu unmissverständlich: »Faktum ist, dass die Zahl mehr oder minder eindeutig belegter Fälle von Fälschung, Betrug und Plagiat in den Wissenschaften 63 zunimmt. In vielen Ländern.« Zwei Befragungen aus Amerika und England ermöglichen den bislang deutlichsten Einblick in plagiatorisches Verhalten der Studierenden: Donald L. McCabe hat für das »Center for Academic Integrity« (CAI) der Duke University zwischen 2002 und 2005 mehr als 80.000 Studierende und etwa 12.000 Lehrende in den USA und in Kanada mit Hilfe eines Online-Formulars befragt. Und in England hat das Meinungsforschungsinstitut Opinionpanel für »Times Higher Education Supplement« im März 2006 1022 Studierende online befragt. Interessant ist, dass beide Untersuchungen im Wesentlichen die 30-Prozent-Marke stützen. Tab. 2:
Plagiarismus in den USA: Umfrage Donald L. McCabe, USA (n Studierende > 72.950; n Lehrende > 9000):
Betrug bei schriftlichen Aufgaben:
Studierende vor dem ersten Abschluss*
Studierende nach dem ersten Abschluss*
»Das Paraphrasieren/Kopieren einiger Sätze aus einer gedruckten Quelle ohne Beleg«
38 %
25 %
»Das Paraphrasieren/Kopieren einiger Sätze aus einer Web-Quelle ohne Beleg«
36 %
24 %
7%
4%
»Das nahezu wortwörtliche Kopieren von Texten aus einer gedruckten Quelle ohne Beleg«
Lehrkörper"*
80 %
69 %
59 %
* Prozentanteil jener Studierenden, die zugeben, diese Form des Betrugs zumindest einmal im vergangenen Jahr gemacht zu haben. ** Prozentanteil jener Lehrenden, die dieses Fehlverhalten zumindest einmal in den vergangenen drei Jahren beobachtet haben. Quelle: Donald L. McCabe, Cheating among college and university students: A North American perspective, http://www.ojs.unisa.edu.au/journals/index.php/IJEI/article/ ViewFile/14/9, 2005, S. 6 (eigene Zusammenfassung und Übersetzung).
Dass jeder vierzehnte Student zugibt, schon einmal ein klares Plagiat (»das nahezu wortwörtliche Kopieren von Texten«) begangen zu haben, sollte alarmierend genug sein. Dass der Anteil jener, die Web-Plagiate gestehen, sogar geringfügig niedriger ist als der Anteil derer, die Print-Plagiate zugeben, mag nach Donald L. McCabe auf den gegenwärtigen Trend in Amerika zurückzu63)
http://derstandard.aa?ur1=/?id=2330681 Umfragen zum Plagiarismus 51
führen sein, dass Web-Plagiate von den Lehrenden zunehmend oft entdeckt werden und sich Studierende mit Betrugsabsicht eher wieder Offline-Quellen zuwenden (in Europa ist man von dieser Entwicklung sicherlich noch etwas entfernt, da das kompetente Aufspüren von Plagiaten hinter der US-amerikanischen Praxis weit hinterherhinkt). Inwieweit Studenten bei der Verarbeitung von Print-Quellen auch bereits mit Software vorgehen, ist noch unerforscht." McCabe bat die Studierenden auch, die verschiedenen Formen des Textbetrugs nach der jeweiligen Schwere des Vergehens zu beurteilen und förderte ein weiteres beunruhigendes Ergebnis zutage: Mehr als 40 Prozent der Studierenden vor dem ersten Abschluss und rund 30 Prozent der übrigen Studierenden sind der Meinung, dass » >cut and paste< plagiarism« keine schwere Betrugsform darstellen würde (ebenda, S. 8). Eine aktuelle Befragung in Großbritannien (März 2006) erhärtet das Bild aus den USA: Ein gewisser Prozentanteil im einstelligen Bereich gesteht ein echtes Plagiat, und etwas mehr als ein Drittel der Studierenden gesteht zumindest teilplagiatorisches Vorgehen (in den USA) oder ein Ideenplagiat (in GB): Tab. 3:
Plagiarismus in Großbritannien: Umfrage Opinionpanel, GB (n Studierende = 1022):
Praxis:
Prozentueller Anteil jener, die es zumindest einmal gemacht haben
»Das Kopieren von Ideen aus einem Buch«
37 %
»Das wortwörtliche Kopieren von Text aus einem Buch ohne Zitat«
3%
»Das Kopieren von Ideen aus Online-Information«
35 %
»Das wortwörtliche Kopieren von Text aus OnlineInformation ohne Zitat«
3%
Quelle: Opinionpanel Research, The Student Panel (Paper erhalten von Times H igher Education Supplement), Juli 2006, S. 4. 65
Wie in den USA zeigt sich auch in England, dass der Klau aus gedruckten Quellen offenbar sogar noch etwas beliebter ist als der Klau aus dem Internet. Dies ließe den Schluss zu, dass auch Offline-Plagiate ein gewaltiges Problem darstellen, das jedoch mit den digitalen Überprüfungsmethoden beim derzeitigen Stand der Dinge kaum zu lösen ist. Es besteht vielmehr die Befürchtung, dass zahllose Offline-Plagiate für immer unentdeckt bleiben werden — man 64)
65) 52
Laut McCabe gibt es noch keine Studien zum möglichen Einsatz von OCR-Software (Optical Character Recognition) bei Studierenden (persönliche Mitteilung, E-Mail vom 28. Juni 2006). Siehe auch http://education.guardian.co.uk/students/news/story/0„1731578,00.html.
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
müsste zu ihrer Erforschung schon Task Forces an Universitäten einsetzen, die sich aus Experten aus den jeweiligen Fachbereichen zusammensetzen müssten. Unerforscht ist auch eine mögliche Wechselwirkung zwischen Online- und Offline-Plagiaten: Man könnte die Hypothese aufstellen, dass die Technik des Ausschneidens/Einfügens von Textsegmenten aus dem Web eine gewisse Anzahl von Studierenden dazu verleitet hat, dies auch mit Büchern und anderen gedruckten Quellen zu tun. Wenn es stimmt, dass das Internet die Hemmschwelle zur 1:1-Übernahme von Texten gesenkt hat (und dafür spricht doch vieles), dann wäre es möglich, dass damit auch die Hemmschwelle in Bezug auf die Gutenberg-Galaxis niedriger wurde. Es wird oft gemutmaßt, dass Plagiate nur ein Problem gewisser Fächer seien — insbesondere kulturwissenschaftlicher Disziplinen, in 'denen reine Literaturarbeiten akzeptiert werden. Sowohl die Ergebnisse aus den USA als auch aus England lassen jedoch den Schluss zu, dass Plagiarismus in allen Fächern ein quantitativ ähnlich großes Problem darstellt. Mit anderen Worten: In den Naturwissenschaften wird nicht nur gefälscht und manipuliert, sondern offenbar ebenso munter wie in den Kulturwissenschaften plagiiert. 66 Und noch ein interessantes Detail aus der englischen Studie: Das Problembewusstsein für Plagiarismus ist — übrigens analog zu den USA — bei den Studierenden auf der Insel kaum vorhanden. 30 Prozent halten Plagiarismus an ihrer Universität für ein nicht besonders ernstes Problem, 41 Prozent sind gegenüber Plagiaten indifferent, und nur sieben Prozent sprechen von einem »sehr ernsten Problem«. 67 Außerdem neigen Studierende dazu, Plagiatsfälle eher in ihrem Umfeld zuzugeben als bei sich selbst (was wiederum wenig überraschend ist). Obwohl die beiden Befragungen aus Amerika und England die bislang verlässlichsten Untersuchungen zum Plagiarismus darstellen, geisterten in den vergangenen Jahren immer wieder viele weitere Zahlen zum möglichen Anteil an plagiierenden Studenten durch die Medien. In sehr wenigen Fällen wurden auch die Lehrenden befragt; und einige wenige Male beziehen sich die Zahlen auch auf den geschätzten oder tatsächlich festgestellten Anteil an plagiierten Arbeiten. All diese kolportierten Daten basierten oft auf Untersuchungen einer bestimmten Universität oder gar nur auf Schätzungen eines einzelnen Lehrenden. Dennoch sind auch sie Indikatoren für das Ausmaß des Problems (Hervorhebungen innerhalb von Zitaten im Folgenden von mir):
66) 67)
Siehe dazu auch die diversen Fälle in: William Broad, Nicholas Wade, Betrug und Täuschung in der Wissenschaft, Basel — Boston — Stuttgart 1984. OpinionpanelResearch, The Student Panel, 2006, S. 10.
Umfragen zum Plagiarismus 53
Zahlen zum Anteil plagiierender Studierender: •
15 Prozent der befragten Studenten der Bloomsburg University of Pennsylvania gaben schon 1999 zu, das Internet auch zum Mogeln bei Abschlussarbeiten zu verwenden. Im selben Jahr machte folgende Meldung die Runde: Etwa die Hälfte der Studenten, die eine schriftliche Klausur an der University of Edinburgh geschrieben haben, stand in Verdacht, diese aus dem Web abgeschrieben zu haben. Seitdem tauchen an Universitäten immer wieder Fälle auf, bei denen eine signifikant hohe Anzahl von abgegebenen schriftlichen Klausuren exakt dieselben Fehler aufweist — offenbar auf Grund von ein und derselben fehlerhaften Web- oder OfflineVorlage. 68
•
Der »Plage des Plagiierens« widmete sich Florian Rötzer erneut 2001 in der »Telepolis«. Er schrieb: »Nach einer Befragung von 2.200 Studenten an 21 Universitäten gaben letztes Jahr immerhin 10 Prozent zu, Teile von Texten, die sie im Internet gefunden hatten, für eigene Arbeiten verwendet zu haben. 5 Prozent räumten ein, lange Passagen oder gar ganze Texte benutzt zu haben.« 69
•
Die Politikwissenschaftlerin Heidrun Abromeit von der TU Darmstadt machte ihrem Ärger Anfang 2003 öffentlich Luft. Der Heise-Newsticker berichtete von ihrem wenig rühmlichen Fallbeispiel: »Fast 20 Prozent der knapp 50 Studenten hatten die Arbeit zum Thema >Das Europäische Parlament< aus Internet-Quellen abgekupfert.« 70
•
»Eine Studie aus dem Jahr 2003 aus den USA zeigt die Dimensionen: Bei einer Umfrage unter 16.000 Studenten gaben 38 Prozent der Befragten an, Hausarbeiten ganz oder teilweise aus dem Internet kopiert zu haben. 44 Prozent aller Studenten fanden das Mogeln per Internet in Ordnung«, schreibt der Wiesbadener Kurier. 71
•
Und ebenfalls 2003 hat sogar hausarbeiten.de selbst rund 1000 Studierende online befragt: 63 Prozent der Nutzer der Hausarbeitenbörse gaben an, Studenten zu sein, und sieben Prozent der studentischen Nutzer gestanden, »die Seite zum Schummeln zu nutzen« 72 . ( Hier mag die Dunkelziffer doch recht deutlich höher sein.)
68)
http://www.heise.de/tp/r4lartike1/5/5067/1.html (Dieser Beitrag — »Originalität und Plagiat« auf »Telepolis« vom 9. Juli 1999 von Florian Rötzer — ist übrigens einer der ersten mir bekannten Berichte zum Thema.)
69) 70) 71)
http://www.heise.de/tp/r4lartikel/3/3620/1.html httpd/www.heise.delnewstickerlmeldung134467 http://www.wiesbadener-kurier.deljule/objekt.php3?artikeljd=1998153
72)
E-Mail von Patrick Hammer, Grin Verlag, 6. Juni 2006.
54 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
•
Die Medienwissenschaftlerin Joan Bleicher erhob 2004 ihre Stimme: »Bis zu 15 Prozent beziehen wissenschaftliche Artikel aus dem Internet, um damit ungekennzeichnet ihre Arbeiten aufzuwerten. Das sind zumindest die Erkenntnisse der Hamburger MedienkulturProfessorin Joan Bleicher. >Im schlimmsten Fall werden ganze Hausarbeiten aus dem Netz übernommen, ohne dies durch Zitate kenntlich zu machen<, sagte sie in einem dpa-Gespräch. >Meistens handelt es sich aber nur um einzelne Seiten, doch allein das ist schlimm genug.«< 73
•
Eine aktuelle Umfrage zu Plagiaten fand im Juni 2006 auch in Österreich statt. Die Online-Studentenplattform http:llwww.unihelp.cc wollte wissen: »Wie stehst Du zu Plagiaten? Hast Du schon mal Texte ohne Quellenangabe verwendet?« 722 Studenten nahmen an der Online-Befragung teil, und das Ergebnis bestätigte einmal mehr die 30-Prozent-Marke: 31 Pro-
zent antworteten mit Ja. Die vor Drucklegung dieses Buchs aktuellste Umfrage stammt von der Universität Münster, wie oben bereits erwähnt. Sie weist den bislang höchsten Anteil an Studierenden aus, die offenbar aus dem Internet klauen: 60 Prozent der befragten Studenten hätten schon einmal aus dem Internet kopiert, und 20 Prozent auch längere Passagen, berichtete de.internet.com im August 2006. 74
•
Zahlen zum Anteil plagiierter Arbeiten: •
Der Soziologe Wolfgang Krohn von der Universität Bielefeld dürfte einer der ersten Sozialwissenschaftler gewesen sein, die öffentlich zum aktuellen Plagiatsproblem Stellung bezogen haben: Er wies schon 2001 auf eine Plagiatsquote bei von ihm überprüften Hausarbeiten von durchschnittlich 25 Prozent hin. Durch das Bekanntwerden seines Einsatzes von Antiplagiatssoftware sei diese Quote beträchtlich gesunken, berichtet Krohn. 75
•
Immer wieder wurden auch Ergebnisse von Stichprobenkontrollen veröffentlicht: Vier von neun überprüften Arbeiten am Institut für Politikwis-
senschaft der Universität Innsbruck waren gefälscht, meldete orf.at Ende 2005. 76 Meine eigene Stichprobenüberprüfung am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg im Mai 2006 ergab: Elf von 13 Diplomarbeiten waren unsauber. In einigen der beanstandeten Arbeiten wurden zwar die Quellen angegeben, jedoch wurde teilweise am Stück bis 73)
http://science.orfatIsciencelnews/130699 . Die 15-Prozent-Marke bezieht sich auf persönliche Aufzeichnungen von Joan Bleicher (persönliche Mitteilung).
74)
http://de.internet.com/index.php?id=2044496
75)
Tilmann Warnecke, Schluss mit Schummeln, in: Tagesspiegel, 2. September 2004.
76)
http://tirol.orf.at/stories/71779 Umfragen zum Plagiarismus 55
zu drei Manuskriptseiten lang einfach 1 : 1-Text aus dem Web in die Arbeit hineinkopiert. Eine Arbeit entpuppte sich als lupenreines Plagiat, bei drei weiteren bestand zumindest Plagiatsverdacht. Normalerweise sind den einzelnen Universitäten Plagiatsfälle eher peinlich und sie wollen nicht, dass Angaben über das Ausmaß des Problems in die Öffentlichkeit gelangen. Einige Universitäten entschieden sich in jüngster Zeit aber auch für die Flucht nach vorne: An der Oxford University habe es im vergangenen Jahr »zehn schwere Fälle« von Internet-Plagiarismus gegeben, berichtete orf.at 77 im März 2006 — und einige Poster im Web machten sich darüber lustig, dass die Elite-Uni das Problem offenbar erst jetzt bemerken würde. Die Hochschule St. Gallen gab gegenüber dem Boulevard 78 2006 zu, in fünf Jahren 21 Betrugsfälle registriert zu haben. Zahlen zum Anteil der Lehrenden, die das Problem bemerken: »Schüler nutzen das Internet zum Schummeln«, meldete ORF Online (basierend auf Reuters) bereits im Jahr 2000. Anlass war eine schwedische Studie: »Von 1000 befragten Lehrern sagten 37 Prozent, dass ihre Schüler fremde Arbeiten aus dem Internet downloaden würden, um sie in der Schule als ihre eigenen auszugeben. Zugleich gaben 42 Prozent der Lehrer an, dass sie keine Möglichkeit sehen würden, dagegen vorzugehen.« 79 Interessant ist, wie lange das Problem bereits ein Medienthema ist — und wie sehr immer noch viele Lehrende dem Plagiarismus relativ tatenlos zusehen. All diese Zahlen" weisen darauf hin, dass wohl mindestens jeder dritte Studierende schon zumindest einmal in irgendeiner Form plagiiert hat. Ein Rückschluss auf den Gesamtanteil der Plagiate bei akademischen Abschlussarbeiten (etwa ab der Hausarbeitsebene) ist jedoch nur mit großer Vorsicht möglich. Es könnte sein, dass auch ein Drittel aller Arbeiten zumindest Teilplagiate sind — vielleicht sogar mehr, vielleicht aber auch weniger. 81 Kein Zweifel besteht wohl daran, dass die Anzahl der Plagiate in den vergangenen Jahren sehr deutlich gestiegen ist — dies belegen ja auch die obigen Zahlen. Zu vermuten ist des Weiteren, dass sich gerade auf der etwa in Österreich relativ neuen Ebene des ersten akademischen Abschlusses (des Bachelors) das Problem massiv verstärkt hat. 77) 78) 79)
http://science.orfatisciencelnews/143807 http:I/www.blick.chinews/schweiziartikel33039 http://futurezone.orf.at
80)
Weitere Zahlen finden sich auf der Website von Debora Weber-Wulff:
httpillplagiat.fhtw-berlin.delff/03schuldwieviel.html 81)
Dies hängt nicht zuletzt davon ab, ob ein Student ein systematischer Plagiator ist oder nur ein einmaliger Täter. Zu mutmaßen ist freilich: Wer Copy/Paste einmal erfolgreich betrieben hat, wird immer wieder dazu neigen.
56 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Doch nicht nur die Studierenden plagiieren. Die Wissenschaftler selbst gehen leider nicht immer mit gutem Beispiel voran. »Using another's ideas without obtaining permission or giving due credit«, also Ideenplagiate gestanden laut einer in »Nature« im Jahr 2005 veröffentlichten Untersuchung immerhin 1,5 Prozent der Wissenschaftler. Jeder 67. Wissenschaftler gesteht Ideen-Klau? Wenn Sie an eine ganze Fakultät oder Universität denken, ist diese Zahl gar nicht so gering. Befragt wurden bei dieser US-Untersuchung übrigens keine Archäologen oder Theologen, sondern Mediziner. Die »Telepolis« Autorin resümiert: »Ein Drittel der befragten Wissenschaftler gab an, in den letzten Jahren wenigstens einmal eine Verfehlung [...] >begangen< zu haben. Heftiges Fehlverhalten wie Plagiate oder echte Fälschungen gaben nur jeweils weniger als zwei Prozent zu. Daten zurückgehalten zu haben, weil sie vorangegangenen eigenen Forschungsergebnissen widersprachen, gestanden sechs Prozent und den eigenen Forschungsansatz auf Wunsch von Geldgebern verändert zu haben sogar 15,5 Prozent. Ganz düster sieht es auch im Bereich der Datenarchivierung aus, 27,5 Prozent hätten Schwierigkeiten, die von ihnen verwendeten Daten tatsächlich zur Verfügung zu stellen. Insgesamt ist das Bild, das sich aus der Befragung ergibt, erschreckend. Mehr als ein Viertel der Forscher schlampt nach eigenen Angaben mit wissenschaftlichen Daten und immerhin 1,5 Prozent begehen 82 geistigen Diebstahl. « 35 Prozent oder mehr der Studierenden (Teil-)Plagiatoren, mutmaßlich ein Drittel aller akademischen Arbeiten in irgendeiner Weise problematisch, und immerhin auch 1,5 Prozent der Wissenschaftler zugegebenermaßen Ideendiebe? Ein wenig gemütliches Bild der aktuellen Wissenschaftskultur. Wenn wir nun noch jene addieren, die ihr Verhalten bei solchen Umfragen nicht zugeben, dann kann man schnell das Vertrauen in ein angeblich selbstreinigendes, ausnahmslos der Wahrheit und Erkenntnis verpflichtetes System verlieren.
82)
http:I/www.heise.deltp/r4lartike1/20/2027611.html Umfragen zum Plagiarismus 57
4.3
Copy/Paste: Ein neues Paradigma i m interdisziplinären Diskurs 83
Der Bielefelder Soziologe Wolfgang Krohn beobachtet einen »epochalen Wandel im Umgang mit Texten « 84 , ich sprach in meinem Telepolis-Beitrag von »Indizien für einen sich abzeichnenden fundamentalen Wandel der Autorenreferenz« 85 . Bloßer Alarmismus oder doch empirisch beobachtbares Phänomen und damit berechtigte Sorge? Die breite Diskussion ist längst überfällig: Hat das Referenzsystem der Gutenberg-Galaxis und haben die modernen Vorstellungen von Autor- und Urheberschaft, wie sie sich spätestens im 19. Jahrhundert ausdifferenziert haben, heute noch Gültigkeit? Vieles spricht dafür, sich nicht von einem gewissen Einsatz der Netzmedien, einem spezifischen Fehlverhalten der »Generation GCP« neue ethische und juristische Standards diktieren zu lassen. Die neue Art und Weise der Aneignung von Texten beginnt nicht immer in der Universität, auch nicht in der Schule, sondern oftmals ganz woanders: Wenn Kinder ihr Handy bekommen, lernen sie ab einem gewissen Alter ±0 LfE! WiehOp± schnell, formularische Sprüche wie etwa »i Nd,8 yOp ±hE w0O£5 i$ bOICDiN' g!« zu übernehmen. Diese verbreiten sich gleichsam memetisch via SMS; und zahllose Mottos dieser Art werden dann auch auf Nickpages 1:1 aus dem Internet herauskopiert. Schon sehr früh setzt somit ein Verständnis von Text ein, das diesen als etwas generell frei Verfügbares betrachtet. Die Aneignung von textuellem Material geschieht im Wesentlichen genau so wie das Runterladen eines Klingeltons oder eines neuen HandyDisplays. Der kategoriale Unterschied zwischen Texten, die im Sinne des geistigen Eigentums urheberrechtlich geschützt sind, und massenhaften kommerziellen Produkten wird nicht erkannt. Erst in zweiter Instanz verschärft sich das Copy/Paste-Paradigma dann in der Schule. Der österreichische Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich beklagte unlängst: »In der Schule scheint es traurigerweise gang und gäbe zu sein, Referate einfach aus dem Internet zu kopieren oder sie aus verschiedenen Online-Quellen mittels Copy & Paste zusammenzustoppeln.« 86
84)
Die Überschrift wäre ohne diese Fußnote ein Offline-Plagiat. Sie verdankt ihre Herkunft folgendem Aufsatz: Siegried J. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs, in: Derselbe (Hg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1987, S. 11-88. »Focus«, Nr. 32, 7. August 2006, S. 42.
85)
http://www.heise.de/tp/r4lartikel/20/20982/1.html
86)
»profil«, Nr. 29, 17. Juli 2006, S. 41.
83)
58 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Zum Thema Plagiate an Schulen gibt es noch kaum gesicherte empirische Daten. Ich habe mit einigen Schülern gesprochen, und die Bekenntnisse waren offen gesagt erschreckend: Natürlich würden sich die 10- bis 19-Jährigen heute so gut wie alles aus dem Internet holen. Egal, ob ein Referat zu den »Ursachen des Ersten Weltkriegs« oder aber zur »Faszination Marilyn Manson« zu halten ist, die Informationen kommen aus dem Internet. — Die »Informationen«? Genauer gesagt, werden mit Hilfe der Google-Copy-PasteMethode (GCP) ja gar keine Informationen im Sinne weiterverarbeitbarer Fakten gesucht, sondern Formulierungen, Wendungen, Sätze und ganze Absätze. Die Suche findet also viel eher auf der syntaktischen Ebene statt, die Bedeutung der Inhalte ist sekundär. Schüler sind auf der Suche nach Stellen, wo alles »schön zusammengefasst« ist, wie es eine Studentin einmal mir gegenüber formulierte (siehe S. 28): Häppchen- und Schnipselkultur statt zusammenhängendem Text, Fragmentarisierung und Atomisierung des Wissens anstelle von einordnendem Überblick. Eine besondere Neugierde, was die Beantwortung der gestellten Forschungfragen anbelangt, oder Kreativität bei den Recherchemethoden ist nicht mehr notwendig. Google ist das bequeme
Tor zur Welt des schön Zusammengefassten, und die Wikipedia ist zunehmend oft der erste Zwischenstopp. Die Aneignung von Sätzen und Absätzen aus dem Internet scheint erfolgversprechender zu sein und mitunter zu besseren Noten zu führen als das eigene Texten. Ein Posting im Internet bestätigt dies: »Hab in [der] 4. Klasse HAK [Handelsakademie — Anmerkung] eine Arbeit so gut es geht mit eigenen Worten geschrieben und fast gar nichts kopiert, hab nur ne 3 erhalten, während alle anderen, die wirklich nur aus dem Netz kopiert haben, nen 1er bekommen haben. Nächstes Jahr hab ichs auf die selbe Methode probiert und auf einmal Stand eine 1+ auf der Arbeit!? Irgendwas stimmt da nicht ganz mit den Lehrern ?! « 87 Sehen wir uns im Folgenden einige Angebote im Netz genauer an: Webseiten wie http://www.schoolunity.de oder http://www.referate.de bieten den Schülern und Studenten zahllose Möglichkeiten der kognitiven Entlastung bei einer breiten Palette an Themen. 88 Schoolunity nimmt sich kein Blatt vor den Mund und tarnt sich gar nicht erst als netzbasierter Wissensspeicher mit hehren Absichten. 89 Schon auf der Startseite heißt es ganz unverblümt: »Keine Lust selbst zu arbeiten? Durchsuche doch einfach tausende fertige Hausaufgaben und Referate, Facharbeiten oder Biographien und drucke aus, was du brauchst [...]«. 87)
http://kaernten.orfaustories/127891
88)
Das Spektrum solcher Börsen im Netz ist mittlerweile unerschöpflich. Eine stetig aktualisierte Auflistung von Online-Hausarbeitenbörsen findet sich am Ende des Dokuments http://www.frank-schaetzlein.de/biblio/plagiat.htm. Wie etwa der Anbieter http://www.mnetnopol.net mit seinen derzeit rund 400 Volltexten.
89)
Copy/Paste: Ein neues Paradigma 59
Abb. 3:
Arbeit »Der Erste Weltkrieg» auf schoolunity.de:
Quelle: http://www.schoolunity.de/schule/hausaufgaben/suche.php? session=44fd9bea15bd411181fc11c7b36213d2&suchbegriff= Weltkrieg&action=suchen Nun gut: Wir haben keine Lust, selbst zu arbeiten und tippen den Begriff »Weltkrieg« in das Suchfeld ein. Schoolunity bietet 83 fix und fertige Arbeiten zu diesem Thema an. Man lässt sich einen Zahlencode auf sein Handy schi cken, und schon hat man Zugang zu den Volltexten. Nun handelt es sich aber hier erneut um Arbeiten von Schülern, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Macht man sich die Mühe und googelt einige Sätze aus diesen Arbeiten, wird man schnell Irritierendes feststellen: Auch diese sind zu einem unbekannten Prozentsatz reine Netzplagiate: Hier ein Absatz, dort ein Absatz aus dem Netz — und fertig ist die »historische« Arbeit, die ohne Zweifel auch durch Google-Suche und anschließendes Copy/Paste zustande gekommen ist. Schüler, die sich bei Schoolunity und mutmaßlich auch bei ähnlichen Seiten bedienen, plagiieren also Plagiate. Sie fabrizieren zumindest Plagiate zweiter Ordnung. In einigen Fällen stellte ich sogar fest, dass die vermeintliche »Originalquelle« im Netz, die in Referaten auf Hausarbeitenbörsen plagiiert wurde, selbst wiederum ein Plagiat eines Buchs darstellt oder in ihr zumindest aus einem PrintWerk nicht korrekt zitiert wird. Spätestens hier sind dann die Referenzen völlig zusammengebrochen, und wir haben es mit Plagiaten n-ter Ordnung zu tun.
60 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Abb. 4:
Absatz aus einer Fachbereichsarbeit in Geschichte:
Q uelle: http://gymnasium-damme.de/fachbereich-b/Geschichte/kursakt/geschi/
imperialimuilimperialkurz.doc
Ansprüche an Korrektheit und Genauigkeit verlieren sich endgültig im Copy/ Paste-Dickicht des Netzes. Ein historisches, auf Quellen, »Fakten« und ihrer kritischen Einschätzung basierendes Referat verliert damit vollends seinen Sinn. Ein Beispiel: Der zweite Treffer bei der Stichwortsuche »Weltkrieg« ist das Referat »Der Erste Weltkrieg« von einem Grundschüler der Jahrgangsstufe 10. Es genügt, den Beginn des ersten Satzes aus dem Vorab-Text (siehe Abb. 3) zu googeln: »In den Augusttagen 1914 ziehen alle Völker mit der Überzeugung in den Krieg [...1.« Dieser Satz steht unzitiert am Beginn des Referats, müsste also vom Schüler selbst stammen. Zumindest wird — wie bislang in der Gutenberg-Galaxis üblich — unterstellt, dass sich der Schüler die Fakten aus Büchern geholt hat und dann selbst den Satz niedergeschrieben hat. Leider stammt der Satz nicht aus der Feder des Autors (wie in weiterer Folge der gesamte Absatz). Die Google-Eingabe des Satzes führt zu einem Word-Dokument über Imperialismus (siehe Abb. 4) wie auch zur Seite http://www.hersfelder-zeitung.de/heimatland/43_7.htm (aus dem Jahr 2004, dieser Text macht historische Zitate — wie auch das gesuchte Zitat — selbst zum Thema!). In beiden Web-Dokumenten ist der Satz Copy/Paste: Ein neues Paradigma 61
»In den Augusttagen 1914 ziehen alle Völker mit der Überzeugung in den Krieg, die >heiligsten Güter der Nation< zu beschützen und einen schnellen Sieg an ihre Fahnen zu heften. « als direktes Zitat ausgewiesen. Einmal fehlt die nötige Literaturangabe, einmal steht in der Fußnote »vgl. Dr. Karl Dickopf. Fischer Kolleg Geschichte. Frankfurt am Main. 1973. S. 215 «. Leider ist die Setzung der Anführungszeichen im Word-Dokument derart verwirrend, dass nicht einmal klar ist, auf welche Stellen sich die Fußnote eigentlich bezieht. Es lässt sich nur rekonstruieren: Der Satz hat sich über irgendeine Print-Fundstelle (vielleicht war er auch dort ein Zitat?) im Internet verbreitet und eine erstaunliche Reise gemacht. Egal, ob nun in der Hausarbeit auf schoolunity.de von der Hausarbeit über Imperialismus abgeschrieben wurde oder auch umgekehrt, irgendwer hat irgendwann abgeschrieben. (Freilich besteht die sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass beide Schüler zufällig ein und denselben Absatz aus derselben Print-Quelle verwendet haben, aber auch dann wäre die schoolunity.de-Variante immer noch ein Plagiat.) Unabhängig davon, in welche Richtung der »Informationsfluss« verlaufen ist, ist dieses Beispiel meines Erachtens alarmierend: Es zeigt, dass überhaupt kein quellenkritisches Bewusstsein bei der Übernahme von Informationen aus dem Netz vorhanden ist. Offensichtlich werden alle Online-Informationen als prinzipiell gleichwertig und gleich seriös oder authentisch eingeschätzt (da sie ja allesamt Ergebnisse ein und derselben Google-Suche sind). Das quellendifferenzierende Bewusstsein aus dem PrintZeitalter gibt es nicht mehr. Die plagiierenden Schüler und Studenten sind die potenziell plagiierenden Lehrer von morgen. Der Plagiarismus wird zum sich selbst verstärkenden Regelkreis, wenn etwa Lehrende, die ihre Karriere selbst auf Plagiate gebaut haben, jungen Leuten erneut das wissenschaftliche Arbeiten vermitteln sollen. Der krasseste diesbezügliche Fall ist — wie bereits erwähnt — im Frühjahr 2006 am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt aufgeflogen." Einer Universitätsassistentin konnte nachgewiesen werden, dass sie in ihrer Diplomarbeit »Wickie und die starken Männer — TVKult mit Subtext« mindestens 20 Internetquellen für wortgetreue Übernahmen verwendet hat, freilich ohne jeden Hinweis auf den Ursprung der Texte. Die einzelnen Übernahmen reichten von einem Absatz bis zu mehr als einer ganzen Seite. 38,4 Prozent des Gesamttextes im Umfang von 121 Seiten entpuppten sich als reines Plagiat. Es wurden sogar zahlreiche Literaturzitate innerhalb der Texte aus den Originalen in den plagiierten Stellen 1:1 übernommen, wodurch es auch in dieser Arbeit zu einem bemerkenswerten second90) Er wird mittlerweile auch von mir im Web dokumentiert, mit dem Gesamtausmaß der Plagiatsstellen: httpd/www.wickieplagiat.2.ag.
62 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
order-Effekt kam: Um seitenweise Jean Piaget zu zitieren, musste freilich bei diesem überhaupt nie nachgelesen worden sein. 91 Es ist eine kleine Pointe, dass diese — übrigens von Professor Rainer Winter mit »sehr gut« beurteilte und als »innovativ« bezeichnete — Diplomarbeit unter dem Stern der »Cultural Studies« entstand, einer Denkrichtung, die ja inflationär oft von der »Aneignung« von »Medienangeboten« spricht. Dies dürfte die Verfasserin etwas zu wörtlich genommen haben. Auch dass im Untertitel der Arbeit von einem »Subtext« die Rede ist (fast möchte man von einem Quelltext sprechen), entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Der Rektor der Universität Klagenfurt tat nach einem knapp viermonatigen Plagiatsverfahren mitsamt externer Begutachtung das einzig Richtige: Er feuerte die Assistentin und leitete ein Verfahren zur Aberkennung ihres akademischen Grads ein. Die Betroffene hat mittlerweile die Universität auf Wiedereinstellung verklagt. 92 Auch in einem anderen Fall endete es für einen ebenfalls im Lehrberuf Tätigen negativ: Ein Tübinger Informatiker und Berufsschullehrer hatte im Jahr 2004 in seiner Dissertation vier von fünf Kapiteln aus meiner eigenen Dissertation auszugsweise »wieder abgedruckt«. 86 Prozent seiner ersten einhundert Seiten stammten aus meiner Feder. Dem Plagiator wurde zwar der Doktorgrad aberkannt, doch er ist weiterhin als Berufsschullehrer und Informatiktrainer tätig. Fraglich ist, welche Referenzkultur er in seinen Unterrichtsstunden vermittelt. Bei seiner Dissertation »Beobachterzentrierung und Negative Theologie« handelte es sich — ganz im Gegensatz zu »Wickie und die starken Männer« — um ein reines Print-zu-Print-Plagiat. Im Wesentlichen wurden lediglich zwei in Buchform existierende Dissertationen zu einer neuen gekreuzt. Ob dies mit Einscannen und Texterkennung oder aber mit Abtippen geschehen ist, bleibt das Geheimnis des Plagiators. Ein Fall von Offline-zu-Online-Plagiat in der Lehre ereignete sich 2006 an der Universität Wien: Eine Tutorin hatte seitenweise die in Buchform erschienene Habilitationsschrift eines Salzburger Medienwissenschaftlers (dieses Mal war es nicht ich!) eingescannt und die Kapitel in ihrem Online-Tutorial als ihre eigenen ausgegeben. Auch hier stellt sich die Frage, welche wissenschaftlichen Zitierregeln von der Tutorin vermittelt wurden, wenn sie denn selbst einen derart großzügigen Umgang mit den Texten anderer pflegt. Auf meine Intervention hin wurde zumindest ein »Alle Angaben nach XY« den jeweiligen
91)
Im konkreten Fall genügte einfach das unbelegte Einfügen der Texte von
http://arbeitsblaettenstangl-tallenat/KOGNITIVEENTWICKLUNG/PiagetmodellStufen.shtml 92)
in die Diplomarbeit. Gemeinsam mit Rainer Winter hielt sie zuvor an der Universität Klagenfurt die Lehrveranstaltungen »Medienkultur und Lebensformen«, »Mode als kommunikative Praxis« und »Medienkindheit — Medienjugend im 21. Jahrhundert« ab.
Copy/Paste: Ein neues Paradigma 63
Texten vorangestellt. Doch freilich stammten nicht bloß die »Angaben« vom Salzburger Kollegen, vielmehr waren die Volltexte aus seiner Feder. Auch Powerpoint-Folien laden zum Plagiarismus ein. Es ist ebenfalls nicht unproblematisch, wenn in diesem Bereich Fälle von geistigem Diebstahl passieren (das neue Logo oder der eigene Name ist ja im Foliensatz des Kollegen schnell ersetzt!). 2004 ist ebenfalls an der Universität Klagenfurt ein derartiger Fall aufgeflogen: Ein Lehrbeauftragter — heute ein Fachhochschul-Professor — musste sich im Internet und in einer Uni-Zeitung für »die inhaltliche Verwendung und die unzureichende bzw. fehlende Referenz der Lehrmaterialien (Folien)« in einer 2002 abgehaltenen Vorlesung entschuldigen und zugeben, dass diese »zu einem großen Teil, sofern inhaltlich mit den Lehrmaterialien (Folien) der Vorlesung >Informationswissenschaft< von Herrn o. Univ.-Prof. Mag. Dr. [...] kongruent, geistiges Eigentum von Herrn o. Univ.-Prof. Mag. Dr. [...] waren und sind«. 93 Solche Vorfälle lenken den Plagiatsverdacht auch auf eine Gruppe Lehrender, die mit wenig gutem Beispiel vorangeht, weil sie mutmaßlich ebenfalls nach dem Prinzip des geringsten Aufwands arbeitet. Freilich potenzieren solche Fälle Plagiatsdelikte: Wenn Lehrende selbst plagiieren, wird für Studierende ein Milieu geschaffen, in dem authentische Leistung gleichsam als vergebene Liebesmüh erscheint. John Horvath schrieb schon 1998 auf »Telepolis «: »Studenten fällt es schwer, das Problem des Plagiierens ernst zu nehmen, wenn sie sehen, dass die Regeln schamlos von denen gebrochen werden, die sie anmahnen. In einem Fall verlor eine Studentin den Glauben an das Lehrsystem, als ihr Ausbilder sie vor dem Abschreiben warnte, während er ihr ein Beispiel aus seiner eigenen Dissertation vorhielt, das ganze Auszüge aus einem Buch enthielt, das die Studentin kannte. In einem anderen Fall setzte der Chef einer Fakultät (der auch Dekan war) seinen Namen als Co-Autor eines Handbuches ein, das von einem ehemaligen Kollegen [...] geschrieben worden war, ohne dass er das geringste damit zu tun gehabt hätte.« 94 Verdachtsmomente dieser Art würden Bände füllen. In diesem Buch werden nur Fälle geschildert, die sich eindeutig belegen lassen — und mitunter auch Fälle, die selbst durch eine einfache Netz-Recherche nachvollzogen werden können. Wenn ein Studierender einem Lehrenden einen Plagiatsvorwurf macht, könnte es auch sein, dass der Studierende eine irreführende Vorstellung von Plagiaten hat. Vielleicht gibt es also nicht nur Lehrende, die plagiieren und 93)
Nachzulesen unter http:I/www.uni-klu.ac.atlhome/unisono/0501_ohne_U.pdf,
94)
http://www.heise.de/tp/r4/artike112/2317/1.html
64 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
S. 35.
gleichzeitig ihren Studenten sagen, es nicht tun zu dürfen, sondern auch Studierende, die plagiieren und auf Grund ihres Unvermögens, Zitat von Plagiat unterscheiden zu können, dies gewissen Lehrenden unterstellen." Mit diesen Beispielen wollte ich zeigen, dass sich das Plagiatsproblem derzeit von den Schülern bis zu den Lehrenden selbst spannt. Man wagt es kaum, sich vorzustellen, dass eine gewisse Anzahl von Junglehrern selbst ihren akademischen Grad bereits durch Plagiarismus oder unethische Autorenschaft erworben hat und nun bei Schülern einen sehr »toleranten« Umgang mit dem Problem pflegt. Findet ein Niveauverlust im gesamten Bildungssystem statt, der auf Grund mangelnder Qualitätssicherungs- und Qualitätskontrollmaßnahmen derzeit kaum bemerkt wird? Stichwort unethische Autorenschaft: Die einfachste Austreibung des eigenen Geistes aus der Textproduktion, die größtmögliche kognitive Entlastung realisiert immer noch der Ghostwriter. Auch hier haben die neuen Medien für eine leichtere Verfügbarkeit wie auch für eine niedrigere Hemmschwelle gesorgt — daran besteht kaum ein Zweifel, denn: Vor zwanzig Jahren hätte man den »akademischen Ghostwriter« im Telefonbuch oder Branchenverzeichnis schwerlich gefunden. Es wären schon informelle Kontakte vonnöten gewesen. Heute gibt es zahlreiche Angebote dieser Art im Web, die alleine schon durch die technische Zwischenschaltung Anonymität suggerieren. 96 Verwiesen wird mitunter auf ein Netzwerk von Spezialisten aus vielen Fachbereichen — ein Anbieter spricht gar von »über 400 Mitarbeitern«. Es stellt sich somit die nicht unbedeutende Frage, wie viele arbeitslose oder geringfügig beschäftigte Wissenschaftler solchen Ghostwriter-Diensten tatsächlich nachgehen. Hier wäre dringend investigativer Journalismus gefordert, um nachzuweisen (oder auch nicht), dass diese Dienste funktionieren. Eine Journalistin der »Wiener Zeitung« hat im August 2006 berichtet, für 5000 Euro hätte sie eine neu geschriebene Diplomarbeit im Umfang von 100 Seiten problemlos bestellen können. 97 Auch Ghostwriter sind natürlich 95)
96)
97)
Ein befreundeter österreichischer Universitätsprofessor ist allerdings so radikal und behauptet, dass auch jeder dritte Wissenschaftler in Lehre und Forschung zumindest teilweise plagiieren würde (»Wer Plagiate übersieht oder duldet, der plagiiert selbst«). Persönlich halte ich den Prozentsatz für deutlich geringer — siehe auch das Ergebnis der bereits zitierten in »Nature« publizierten Untersuchung, bei der 1,5 Prozent der befragten Wissenschaftler ein Ideenplagiat gestanden haben. Typische Anbieter sind http://www.drfranke.de , http:11www.acad-write.com, http://www.hausarbeiten24.com oder httpillwww.boldt-beratung.delghostwriter. Auch »Kleinanbieter« nehmen zu, wie etwa http://www.ghostwriting-uni.de oder
httpillivww.schreibbuero-lag.at . httpillwww.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID.3940&Alias.wzo&cob. 242349. Ein Interview mit einer ehemaligen Ghostwriterin befindet sich auf Spiegel Online: http://www.spiegeLde/unispiegelistudium/0,1518,399951,00.html.
Copy/Paste: Ein neues Paradigma 65
eine Form des akademischen Betrugs. Ein konkreter Fall wurde Anfang 2006 in Deutschland bekannt: Eine Jus-Studentin hatte sich ihre Prüfungsarbeit im ersten juristischen Staatsexamen von einem »akademischen Ghostwriter« schreiben lassen und dennoch nicht bestanden. Sie erhob vor Gericht Einspruch gegen die Sanktion, die ihr die Universität nach Auffliegen des zweifelhaften Engagements auferlegt hatte (nämlich keine zweite Wiederholungsmöglichkeit) — und blitzte ab. 98 Schließlich gibt es die Möglichkeit, gar nicht erst die schriftliche Arbeit, sondern gleich den akademischen Grad zu kaufen: »Leichte« Wege zum Doktorgrad versprechen etwa folgende Anbieter: http://www.doktor macher.com, http://www.doktormacher.info oder httpd/www.brethauencom. Das Spektrum reicht hier vom Dr. h. c. bis zum in den USA oder in Osteuropa gekauften Grad samt Postversand der Urkunde. Und nicht zu vergessen das penetrante »University Diplomas«-SPAM-Mail, in dem es heißt: »No required tests, classes, books or examinations. [...] Receive your diploma within 2 weeks. « Das Google AdSense/AdWords-Programm sorgt im Übrigen bei fast allen Berichten über Plagiate für das Einblenden von bezahlten Anzeigen von derartigen dubiosen Anbietern. Durch die suchbasierte Google-Werbung werden bei Texten, in denen Wörter wie »Diplomarbeit« oder »Doktorarbeit« vorkommen, automatisch Anzeigen von Titelmachern und akademischen Ghostwritern geschaltet (siehe Abb. 5). Das sind dann häufig schöne Beispiele für die Doppelzüngigkeit des Netzes, das Inhalte noch nicht auf semantischer Ebene verarbeiten kann (sonst würde es solche Anbieter aussieben und besser durch Anzeigen zu Antiplagiatssoftware ersetzen, sofern diese einen Vertrag mit Google haben). Nun kann man den Massenmedien wahrscheinlich kaum einen Vorwurf machen, dass sie Google-Anzeigen schalten, auf deren Inhalte sie wenig Einfluss haben. Aber Universitäten sollten sich wohl keine Links zu Doktormacher-Agenturen bezahlen lassen. Debora Weber-Wulff verdanke ich folgendes Fundstück: Die TU Darmstadt hat unter ihren »Sponsored Links« auch eine Anzeige der Website www.doktormacher.info gelistet. So kann es passieren, dass man etwa nach dem Eintippen des Begriffs »Promotionsordnung« ins Suchfeld oberhalb von »Sorry, no matches were found« den Satz vorfindet: »Der schnelle Weg zum legalen und anerkannten Dr.-Titel in D & Europa «. 99
98)
http:I/derstandard.atHur1=/?id=2293286
99)
E-Mail vom 24. Mai 2005 mit Screenshot.
66 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Abb. 5:
Google-Anzeigen für akademische Ghostwriter:
Quelle: http.Wwww.networld.at/index.html?/articles/0622/10/142169.shtml
Und noch ein Anbieter lockt mit der Möglichkeit der Umgehung eigener Hirnarbeit: http://www.diplom.de ist eine »Agentur für Vermarktung und Verkauf von Diplomarbeiten, Magisterarbeiten und anderen Hochschulstudien« und bietet mehrere tausend Abschlussarbeiten an. Man kann sich dann das jeweilige »eBook« als Ausdruck oder gleich gebrannt auf CD schicken lassen. Plagiatorische Übernahmen werden damit besonders leicht gemacht. Wer von diplom.de klaut, den spürt wohl kein Google-Schnüffler auf. Ein Blick in den Katalog verdeutlicht die unüberschaubare Vielfalt des Angebots: 739 Arbeiten zur »Medien- und Kommunikationswissenschaft«, davon immerhin noch 28 zur »Kommunikationstheorie«. Wie wäre es etwa mit der Diplomarbeit »Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache im Bereich der Institutionen und der Medien. Mit einem Anhang zur Hirnforschung« für 74 Euro? Copy/Paste-Willige können sich eine Diplomarbeit zu einem geeigneten Thema auch bei eBay bestellen. Es erspart Arbeitsschritte, wenn man sich die Arbeit gleich als CD-ROM oder als Mail-Attachment schicken lässt. Das ProCopy/Paste: Ein neues Paradigma 67
cedere ist bekannt: Markieren, Ausschneiden, Einfügen — also alles wie gehabt. Eine Entdeckung des Plagiats ist so gut wie unmöglich. Derzeit gibt es bei ebay.de zwar erst einige hundert Arbeiten zu ersteigern, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass auch das ein Zukunftsmarkt werden wird.
4.4
Ein paar Fälle aus dem Kuriositätenkabinett
Eine der bizarrsten Spielarten des Plagiarismus ist es ohne Zweifel, wenn man nicht nur seinen eigenen Text unter dem Namen einer anderen Person liest, sondern diesen Text auch noch als akademische Arbeit wieder eingereicht bekommt. Die Wiener Politologin Birgit Sauer berichtete vor einigen Jahren von einem derartigen Fall: »Wie sich Zeitknappheit, Arbeitsüberlastung im Studium oder Faulheit mit schlichter Dummheit paaren, kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen: Soll ich lachen, weinen oder hysterisch aufschreien, wenn ich einen meiner eigenen Internettexte als Hausarbeit abgeliefert bekomme? Das ist sicher nur ein Extremfall, aber eine gewisse Naivität scheint mit dem 100 Plagiieren einher zu gehen [...].« Anders als mit Naivität ist es wohl auch nicht zu erklären, dass mein Tübinger Plagiator mich selbst auf seinen Diebstahl meiner Dissertation aufmerksam gemacht hat. In seinem Mail vom April 2005 erfahre ich erstmals von der Existenz des Theologen und Informatikers. Er schrieb: »So ließ ich letztes Jahr eine philosophisch-theologische Abhandlung in einer kleinen Auflage drucken. Auf meiner Suche nach geeigneten Referenten für die obigen Fortbildungen las ich wieder in diesem Buch nach und bemerkte, dass sich wohl in der Hektik der Redaktion ein Fehler eingeschlichen hat: Ein Abschnitt — wohl aus dem Jahr 1999 — wurde versehentlich gelöscht. U. a. wurde Ihr Buch >Dualisierung des Erkennens< meiner Meinung nach nicht angemessen erwähnt. Dies führte zwar dazu, dass Sie mir als ein möglicher Referent für obige Fortbildungen in den Sinn kamen, aber auch dazu, dass ich mich dazu entschloss, meine Abhandlung nicht länger der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Problematisch ist dies nicht, da es bislang noch zu keinem Verkauf derselben kam. Obwohl mir obiger Lapsus fast peinlich ist, halte ich es für eine Frage des guten Stils, Sie hierüber zu informieren. Derzeit arbeite ich an einer überarbeiteten und erweiterten Version meines >Werkes<. Sobald 100) http://science.or/aescience/sauer/85725
68 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
dieses fertig ist, würde es mich auf101 jeden Fall freuen, Ihnen ein Exemplar zukommen lassen zu dürfen.« Bei der »philosophisch-theologische[n] Abhandlung« handelte es sich um die Dissertation des Tübingers und beim »Fehler« in der »Hektik der Redaktion« um die nahezu wortwörtliche Übernahme von knapp 90 Seiten aus meiner eigenen Doktorarbeit (wie bereits erwähnt). Auch so arbeiten Plagiatoren: Sie verraten sich gerne selbst (wie im Tübinger Fall) oder sie plagiieren im großen Stil und streben dann auch noch eine Universitätskarriere an — anstatt kleinlaut in einer Werbeagentur »unterzutauchen« und zu hoffen, dass die Diplomarbeit nie wieder jemand zu Gesicht bekommt (wie im Klagenfurter » Wickie« -Fall). Insgesamt bekam ich bereits vier Mal meine eigenen Texte unter anderem Namen zu lesen, drei Mal bedienten sich Abschreiber aus meiner (offenbar für diese Zwecke höchst beliebten) Dissertation. Ist diese Häufung ein reiner Zufall, oder aber ist meine Doktorarbeit eine besondere Fundgrube für Plagiatoren? Die theoretischen Kapitel scheinen jedenfalls Versatzstücke zu sein, die ein ideales »transdisziplinäres« Recycling erlauben. Vielleicht ist es aber auch bloß meine »gesunde Mischung« aus direkten Zitaten und selbst formulierten Sätzen, die auf gewisse Übeltäter eine besondere Anziehungskraft ausübt: Damit könne man offenbar besonders gut Wissenschaftlichkeit simulieren. Eigene Texte, die als Plagiat von Fremden zur Beurteilung vorgelegt werden; Plagiatoren, die sich beim Bestohlenen selbst verraten; mehrfach verwertete Doktorarbeiten — das ist noch lange nicht alles. Wie wäre es mit einem Text aus dem Zufallsgenerator, der in der community zumindest kurzfristig ernst genommen wird? Ein solcher beeindruckender Testfall für das Wissenschaftssystem erregte im vergangenen Jahr einiges Aufsehen: Drei Informatikstudenten am MIT schrieben ein Computerprogramm, das nach dem Zufallsprinzip ein absolut seriös aussehendes Abstract für einen wissenschaftlichen Konferenzbeitrag erstellt — samt Graphiken und üppigen Literaturangaben, bei denen sogar der jeweilige echte »Autorenname« bei fiktiven Aufsätzen eingefügt wird. Die Studierenden reichten eines ihrer Elaborate für die »World Multi-Conference an Systemics, Cybernetics and Informatics« ein, und das Paper wurde prompt akzeptiert. 102 Die Studenten verwiesen mit ihrer Arbeit auf ein bekanntes Problem des wissenschaftlichen Kongresswesens: Bei Großveranstaltungen mit dutzenden, oft hunderten Referenten werden im Vorfeld
101) E-Mail vom 5. April 2005. 102) Das Erzeugnis hatte den schönen Titel »Rooter: A Methodology for the Typical Unification of Access Points and Redundancy«. Siehe den Bericht http://www.heise.deltp/r4lartike1/20/20003/1.html . Das Tool ist weiterhin auf http://pdos.csail.mit.edu/scigen online zugänglich und kann kostenlos ausprobiert werden.
Ein paar Fälle aus dem Kuriositätenkabinett 69
die Abstracts kaum noch genau gelesen. Bis zu einem gewissen Grad sind zudem auch die Inhalte beliebig geworden. Auch aus dem Wissenschaftsjournalismus werden Plagiatsfälle von unglaublicher Kuriosität berichtet. 2003 erschien in der Zeitschrift »medizinjournalist « ein Beitrag mit dem Titel »Versagt der Medizin-Journalismus? « Der Autor ist — wie die Klagenfurter Autorin der »Wickie«-Diplomarbeit — strikt nach der GCP-Methode vorgegangen und hat damit seine Frage selbst laut und deutlich mit Ja beantwortet. Denn fast jeder Absatz findet sich wortwörtlich im Netz wieder — geklaut wurde von science.orf.at über medizinpublizisten.de bis zu diabetesstiftung.de. 103 Interessant ist hier nicht nur, dass sogar einem Interviewpartner plagiierte Textsegmente, die er freilich nie gesagt hatte, in Form von direkten Zitaten in den Mund gelegt wurden. Der Autor hat sogar folgende beiden Sätze 1:1 plagiiert: »Gerade im Medizinjournalismus ist jede Quelle sorgfältig zu prüfen. [...] Ross und Reiter sind in jeder Publikation zu benennen.« (Online-Gegenüberstellung, S. 12) — Indes warte ich auf die erste plagiierte Arbeit über das Plagiat ... Es geht noch komischer und dreister: Offenbar gibt es richtige Netzplagiats-Nomaden in der Wissenschaftsszene. Huang Yi, angeblich Professor in China, hat sich gegen Ende der neunziger Jahre um einige besondere Fälle von Textklau verdient gemacht: Er ist nach dem Prinzip des »Vaters« der modernen Plagiatoren vorgegangen, nach Elias A. K. Alsabti. 104 Musste Alsabti noch abtippen, so bediente sich Huang Yi einfach der Methode der 1:1-Übernahme von Papers aus dem Internet. Debora Weber-Wulff hat den Fall dokumentiert: »Ein Fall ist Huang Yi, angeblich Professor an der Nanjing University of Posts and Telecommunications in China. 1998 hat Huang Yi das Paper >Zero-tree Wavelet Coding — Using Fractal Prediction< auf einem Kongress vorgetragen und publiziert. Der Aufsatz stammt jedoch von 103) Die gesamte Gegenüberstellung von Plagiat und Original findet sich hier:
http://www.evibase.de/dokumente/medizinjournalist.pdf. 104) Bei diesem »berühmten« irakischen Medizinstudenten handelt es sich um einen der größten Plagiatoren der jüngeren Wissenschaftsgeschichte. Alsabti hat gegen Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts mutmaßlich insgesamt 60 (!) Beiträge für medizinische Journale großteils von bereits vorhandenen Aufsätzen aus anderen Journalen abgeschrieben. Der Fall ist dokumentiert in: William Broad, Nicholas Wade, Betrug und Täuschung in der Wissenschaft, Basel — Boston — Stuttgart 1984, S. 41-67. Broad/Wade schreiben: »Mit jedem Monat, der ins Land ging, erschien eine weitere Gruppe von Alsabtis Artikeln in verschiedenen Zeitschriften überall auf der Welt. Seine Methode war von bestechender Schlichtheit. Er pflegte einen bereits veröffentlichten Aufsatz abzutippen, den Verfassernamen durch seinen eigenen zu ersetzen und das Manuskript zur Veröffentlichung an irgendeine obskure Zeitschrift zu senden. Mit seiner Taktik legte er die Herausgeber von Dutzenden wissenschaftlicher Zeitschriften rings um die Welt herein.« (Ebenda, S. 49)
70 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Kai-Uwe Barthel, Sven Brandau, Wolfgang Hermesmeier und Guido Heising und wurde bereits 1997 auf der IEEE International Conference an Image Processing (ICIP 97), Santa Barbara, präsentiert. Huang Yi hat weiterhin das Paper von Stephen Welstead >Self-organizing neural network domain classification for fractal image coding< (1997) zusammen mit Zhao-ming Yu im Universitäts-Forschungsführer 1999 als sein eigenes ausgegeben. Im Jahre 2000 hat er auf einer IFIP-Tagung >3D Motion Estimation of Head and Shoulders in Videophone Sequences< vorgetragen, die jedoch bereits 1999 von Markus Kampmann publiziert wurde. Offizielle Schreiben an die Tagungsleitung und an die Universitätsleitung hatten keinerlei Reaktion zur Folge, obwohl immerhin Kampmann eine Entschuldigung vom Plagiator bekommen hat. Die Artikel sind teilweise immer noch online verfügbar.« 105 Totalplagiate online und offline, Shake & Paste-Plagiate, zufällig erzeugte Paper — das Spektrum des Textbetrugs ist groß. Wie oft in den weit verzweigen Spezialdisziplinen der Wissenschaft solche Praktiken vorkommen, ist noch völlig unerforscht. Für die Wissenschaftsforschung auf alle Fälle ein spannendes Forschungsfeld! Es bleibt nur die Frage, wer Projektanträge für Forschungen dieser Art befürworten würde. Anders gefragt: Spricht die Ablehnung von Forschungsprojektanträgen zum Plagiarismus (worüber mir wiederholt berichtet wurde) doch dafür, dass mehrere Wissenschaftler »Dreck am Stecken« haben und sie nicht wollen, dass man ihnen in die Karten schaut?
4.5
Der Induktionsschluss bei Plagiaten
Bis heute halten sich in der akademischen Welt sehr hartnäckig irreführende Vorstellungen über das Vorliegen eines Plagiats. So hat etwa die österreichische Hochschülerschaft (ÖH), immerhin die gesetzlich verankerte Studentenvertretung, im Sommer 2006 eine Regelung gefordert, dass erst eine Arbeit, »bei der mehr als ein Viertel unzitiert aus einer anderen Quelle verwendet wird, als Plagiat gilt«. 1 " An dieser Forderung erkennt man die Unsicherheit der Studierenden, was die eindeutige Identifizierung eines Plagiats anbelangt. Offen bliebe ja nicht nur, ob auch dann ein Plagiat vorliegt, wenn bei einer Arbeit mehr als ein Viertel unzitiert aus mehreren anderen Quellen verwendet wird. Die Regelung würde überdies auch bedeuten, dass ein Studierender 105) Debora Weber-Wulff, Gabriele Wohnsdorf, Strategien der Plagiatsbekämpfung, in: Information Wissenschaft & Praxis, Schwerpunkt »Plagiate & unethische Autorenschaften«, 57. Jahrgang, Heft 2/2006, S. 90-98, hier S. 92 f.
106) http://www.ots.at/presseaussendung.php?schluesse1=OTS_20060810_0TS0084 Der Induktionsschluss bei Plagiaten 71
berechtigt wäre, bei einer 100 Seiten umfassenden Magisterarbeit 24 Seiten 1:1 und unbelegt aus dem Internet zu übernehmen. Ob wesentliche Teile einer Arbeit plagiatorischen Charakter aufweisen und ob es dann auch zu akademischen und/oder urheberrechtlichen Konsequenzen kommen könnte, kann jedoch nur im Einzelfall entschieden werden. Grundlegend gilt die Faustregel, dass nur ein einziger plagiierter Satz auf eine generelle plagiatorische Arbeitsweise hinweisen könnte. Dieser Induktionsschluss ist grundsätzlich wohl immer möglich, und vermutlich können in vielen Fällen die Originalstellen, von denen abgekupfert wurde, nie eruiert werden. Nur die naiven Betrüger (und einige drastische Fälle davon werden in diesem Buch geschildert) kopieren ganz simpel Texte aus dem Web, die sie mit Google gefunden haben. Die geschickteren lassen sich Diplomarbeiten von anderen Universitäten schicken, arbeiten mit besonders entfernter Spezialliteratur, engagieren Ghostwriter oder lassen sich Texte aus Fremdsprachen übersetzen. Der Induktionsschluss bei Plagiaten bedeutet immer: Ein 1:1 kopierter Satz, der auch in der Originalliteratur zu finden ist, ist bereits verdächtig. (Dass »vergessen« wurde, diesen zu belegen, ist extrem unwahrscheinlich, wie jeder weiß, der selbst schreibt.) Im Folgenden einige Beispiele, die zeigen, wie aus einer verdächtigen Passage immer mehr und mehr wurden. Ich hatte es von Mitte 2002 bis Mitte 2006 mit insgesamt elf klaren Plagiatsfällen zu tun. In fast allen Fällen war es zunächst ein einziger Satz, der mit oder ohne Anführungszeichen in die Suchmaschine Google eingegeben wurde und zu einer Übereinstimmung führte, oder aber den ich aus meinen eigenen Arbeiten zweifelsfrei wieder erkannte. In der Folge stieß ich dann bei allen inkriminierten Arbeiten auf mitunter zahlreiche weitere Ungereimtheiten: 1 : 1Kopien ganzer Absätze und Seiten aus dem Web, nicht belegte Sätze und Absätze aus der Printliteratur, falsche oder unsaubere Zitierweisen, stümperhaft zusammengestellte Bibliographien, unkorrigierte Übernahmen von Tippfehlern aus der Originalliteratur im Fließtext innerhalb von Plagiatsstellen, Manipulationen bei einzelnen Schreibweisen, Wendungen oder Aufzählungen innerhalb von Plagiatsstellen, die auf die Intentionalität des Plagiators hinweisen usw. Zwei Beispiele für besonders eindeutige intentionale Übernahmen: Meine allererste persönliche Bekanntschaft mit dem Plagiarismus machte ich einige Monate vor dem Erscheinen der Uni-Spiegel-Serie »Eine Professorin auf Plagiat-Jagd « 107 von Debora Weber-Wulff, der rückblickend ersten großen Sensibilisierungsoffensive in den deutschsprachigen Medien. Im Juni 2002 erhielt ich eine E-Mail von einer Wiener Kognitionspsychologin, in dem sie das Erscheinen ihres ersten Buchs ankündigte, eine kurze Schrift in einem Heidelberger Verlag für systemisches Denken. Etwas stutzig musste ich als Kurz107) http://www.spiegel.delunispiegel/studium/0,1518,221507,00.html und folgende.
72 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
fassung des Buchs einen wortwörtlichen und unzitierten Absatz aus S. 15 meiner Dissertation " lesen — und noch dazu nicht irgendeinen Text, sondern vielmehr die zentrale, forschungsleitende Idee meiner Doktorarbeit. Diese Arbeit war 1996 in Buchform bei einem Wiener Verlag erschienen und lag der Psychologin vor. Neugierig geworden, besorgte ich mir einen Antrag der Dame für ein Erwin-Schrödinger-Stipendium beim österreichischen Forschungsförderungsfonds (FWF), den sie einem Kollegen zur Ansicht überreicht hat. Dort entdeckte ich nicht nur meinen Absatz unzitiert wieder (nur diesmal ins Englische übersetzt), sondern eine Handvoll weiterer plagiierter Absätze. Besonders eindeutig war die folgende Übernahme: Im Internet, und zwar genau auf der Website jenes Forschungslaboratoriums", an dem die Psychologin ihre Stipendienzeit verbringen wollte, war zu lesen: »Traditionally, work in human perception has been disconnected from research on more sophisticated cognitive functioning. [...] distinctions [...] between >low-level<, simple, >merely< perceptual processes, and >high-level<, >true< cognition. This distinction is echoed by philosophers who differentiate sense data from cognitive inferences about sense data. Our research is based on the premise that this distinction is misleading and counterproductive. « (Hervorhebungen zu Illustrationszwecken von mir) Die Antragstellerin schrieb unzitiert und damit in ihrem eigenen Fließtext: » [...] work in human perception is traditionally disconnected from research on more sophisticated cognitive functioning, differentiating between >low-level<, >merely< perceptual processes, and >high-level<, >true< cognition. This distinction is echoed by philosophers who differentiate sense data from cognitive interferences about sense data. This project is based on the premise that this distinction is misleading and counterproductive.« (Hervorhebungen zu Illustrationszwecken von mir) Die »Autorin« hat nicht nur das Wort »inference« (Folgerung, Ableitung) im Zuge des Abschreibens offenbar versehentlich durch »interference« ersetzt, sondern auch gleich » Our research« des amerikanischen Forschungslaboratoriums in »This project« umgeschrieben. 11° Die Ersetzung von »Our research« durch »This project« beweist eindeutig den bewusst manipulativen Charakter 108) Stefan Weber, Die Dualisierung des Erkennens: Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie, Wien 1996. 109) »Statement of Purpose« des »Percepts and Concepts Laboratory« der Indiana University. Das Statement ist mittlerweile zu Beginn des folgenden Dokuments nachzulesen:
http://sitemaketumich.edu/psych749/files/2004-10-04_visualizationandimagination.pdf. Der Induktionsschluss bei Plagiaten 73
Abb. 6:
Original — Lizentiatsarbeit an der Universität Bern:
31 izarbut Medienrezeption - UTA Telekonn AG Datei eterbeten Ansecht ravonten Extras ,
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Beziehung Eine Antwon auf diese Kritik könnte die difterennerlere Medrennerkungsauffassung des dynamisch-transaktionalen Ansatzes von Froh 8 SChOnbaCh geben (1982, S 84-85 vgl. Kapitel 2.2.3. 1 ) "Medienwirkungen resultieren aus multiplen, transagierenden Stimulationen und Reaktionen, die im Zeitverlauf insbesondere die Wahrscheinlichkeiten verändern, mit denen einzelne Faktoren des Wirkungspotentiale der Medien wie des Rezeptionspotentials der Rezipienten zum Zuge kommen.' In der vorliegenden Arbeit spreche ich von Mediervezephon in nachfolgend definiertem Sinne, wobei ich die Mediennutzung vete auch die Medienwirkung der Medienrezeption sozusagen als Anfangs- und Schlusspunkt im interaktiven - oder bezeichnender - transaktionalen Prozess, subsumiere.
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Prozesse wahrend und r ". • m Reuphonsprozess eure F definieren Medrenreze tion a •
iurele Vomnenenten wie Art und Frequenz der Mediennutzung, sie umfasst aber auch die kognitiven und emotionalen dar unmittelbaren Rezeption. Nicht nur der Rezipient, sondern auch das Medium und seine Botschaften e fielen 119990 0 1992' haben ein Modell der Medienrezeption entwickelt das in Ka der 2.23 vor estellherd. Sre
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Nachdem die Begriffe Mediennutzung, evirkung und -rezeption vorgestellt und ihre Zugehörigkeit zu gewissen Forschungstraditionen dargestellt wurde, sollen im folgenden wichtige Theorien und Ansätze zur Erklärung des Mediengebrauchs erläutert werden.
2.2 überblIck über die Theorienlandschafl zum Mediengebrauch Eine einheitliche Therme zum Mediengebrauch von Emdern und Jurendachen existiert bis dato nicht Es werden in der Literatur iedoch unterschiedliche Modelle zur 4.1
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2_1 21:51
Quelle: http://visorunibe.chf-agnet/kaptheoriekh.htm http://v/sorun/be.chf-agnet/kaptheor/ekh.htm
des Plagiats, wodurch eine »vergessene Fußnote« oder Ähnliches ausgeschlossen werden kann. Insgesamt konnten der Autorin zumindest fünf 1:1 entwendete Absätze aus Online- und Offline-Quellen sowie eine generell unsaubere Zitierweise und mehrere Ungereimtheiten im Literaturverzeichnis nachgewiesen werden. Der FWF wurde in zwei Schreiben akribisch darüber informiert; die Antragstellerin musste jedoch nach den Einwänden nur ihren Antrag überarbeiten und erhielt im zweiten Anlauf ihr Stipendium in einer »abgespeckten« Version von sechs Monaten Laufzeit. — Ein »Kompromiss«, der wahrscheinlich heute auf Grund einer generell strengeren Gangart bei Plagiaten nicht mehr möglich wäre. Von der Forscherin wurde seitdem in der Wissenschaftsszene nichts mehr gehört. Das bislang naivste und beschämendste Plagiat unter allen elf Fällen war die bereits erwähnte, mit »sehr gut« beurteilte Diplomarbeit »Wickie und die starken Männer« an der Universität Klagenfurt im Jahr 2004. Die Arbeitsweise der Autorin ähnelte jener der Wiener Psychologin, wenngleich der Umfang des nachweisbaren Plagiats noch um vieles größer war als beim oben geschilderten Fall. 110) Der Fall wurde von mir auch hier dokumentiert: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19921/1.html. 74 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Abb. 7:
Plagiat — Diplomarbeit an der Universität Klagenfurt:
Quelle: N. N., Wickie und die starken Männer — TV-Kult mit Subtext, Klagenfurt 2004, S. 15 f.
Die »Wickie«-Autorin hat hier — neben vielen anderen Entwendungen — mehrere Sätze aus der 1998 an der Universität Bern eingereichten Lizentiatsarbeit »Medienrezeption im schulischen Kontext« wortwörtlich übernommen, und zwar höchstwahrscheinlich direkt aus der HTML-Fassung. An diesem Beispiel lässt sich das mutmaßliche Vorgehen der Autorin gut illustrieren: Sie dürfte exakt nach der GCP-Methode gearbeitet haben. — Zur Rekonstruktion des möglichen Verfahrens: Wenn wir auf Google das Wort »Medienrezeption« eintippen, sind bereits der vierte und der fünfte Treffer auf der Ergebnisliste zwei Verweise auf besagte Schweizer Arbeit aus dem Jahr 1998 (schon allein
Der Induktionsschluss bei Plagiaten 75
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Tab. 4:
Auflistung »meiner« bisherigen Plagiatsfälle 2002 bis 2006:
Datum der Entdeckung:
Datum der Begehung:
Art der Entdeckung:
Name des Plagiators:
Art der Arbeit:
Titel der Arbeit:
Plagiiert von:
Konsequenz:
Juni 2002
2002
Eigenverrat per Mail
N. N.
Antrag für Erwin-Schrödinger-Stipendium beim FWF
»Non-Dualismus und die Folgen für die Kognitionswissenschaft«
Dissertation Weber; Internetquellen
Stipendium für sechs Monate im zweiten Anlauf erhalten
April 2005
1999— 2003?
Eigenverrat per Mail
N. N.
Dissertation, Doktorat magna cum laude, Uni Tübingen
»Beobachterzentrierung und Negative Theologie«
Dissertation Weber; Dissertation Oberrauch
Aberkennung des Doktorgrads
September 2005
2001
Eigenverrat
N. N.
Bakk.-Arbeit, Uni Salzburg
»Das Online-Medium«
http://www.ecin.de/ marktbarometer/kunden/ index.html
Aberkennung des Bakk. Komm.-Grads
Oktober 2005
2005
Hinweis eines Kollegen
N. N.
Online-Text auf
»What does 'media construct reality‹ mean?«
Aufsatz Weber:
Text entfernt
http://tomkummer.be
http://www.mediamanual.at/en/ pdf/Weber etrans.pdf
Februar 2006
2000
Recherche im VerbundKatalog
N. N.
Diplomarbeit, Uni Wien
»Jenseits von Realismus und Konstruktivismus«
Dissertation Weber; Buch Mitterer
Aberkennung des Magistergrads
April 2006
2004
Hinweis eines Kollegen
N. N.
Diplomarbeit, Uni Klagenfurt, Note sehr gut
»Wickie und die starken Männer — TV-Kult mit Subtext«
Zahlreichen Webquellen inkl. Seminararbeit von grin.com , amazon, Wikipedia u. a.; Dissertation Eßer 1997 als Buch
Kündigung; Aberkennung des Magistergrads läuft
Juni 2006
2004
Eigenverrat/ Recherche
N. N.
Diplomarbeit, Uni Salzburg
»Online Medien: Österreichs Tageszeitungen i m Internet«
http://www.uni-duesse/dorf.de/ home/Fakultaeten/math naUWE/ Psychologie/abteilungen/ddp/ Dokumente/Publications/ 1997.Musch.Die_Geschichte des_Netzes.html u. a.
Laufendes Verfahren
uale!6% iaq ssnipssuowinpui AaG
Tab. 4:
Auflistung »meiner« bisherigen Plagiatsfälle 2002 bis 2006 (Fortsetzung):
Name des Plagiators:
Art der Arbeit:
Titel der Arbeit:
Plagiiert von:
Konsequenz:
Recherche
N. N.
Diplomarbeit, Uni Salzburg
»Österreichs Zeitungen und Zeitschriften im Internet«
http://www.ams.or.at/wien/biz/ vision/archiv/rund21.htm; http://www.hausarbeiten.de/ faecher/hausarbeiUkoi/576.html u. a.
Nicht bekannt, ob Verfahren stattfindet
2006
Recherche
N. N.
Online-Tutorial, Uni Wien
»Populärer Journalismus«
Buch Renger
Quelle angegeben
Juni 2006
2004
Hinweis einer Kollegin
N. N.
Diplomarbeit, Uni Salzburg
»Die lnstrumentalisierung der Sexualität am Beispiel des Umgangs mit Homosexualität in Österreich im Dritten Reich ...«
Zahlreichen Offlinequellen — ungenügend oder nicht zitiert
Laufendes Verfahren
Juli 2006
2006
Recherche
N. N.
OnlineWebmagazin
Story zum Sommerloch
http://de.wikipedia.org/wiki/ Sommerloch u. a.
Nicht bekannt
Datum der Entdeckung:
Datum der Art der EntBegehung: deckung:
Juni 2006
2003
Juni 2006
(Stand: August 2006)
dies spricht für eine hochgradige Verzerrung durch den Google-Suchalgorithmus, denn diese Arbeit dürfte wohl kaum zu den grundlegendsten und wichtigsten Texten im Bereich der Medienrezeptionsforschung gehören). Der vierte Treffer (Stand: August 2006) ist genau jener Link, den die Autorin für ihre Collage verwendet hat: http://visonunibe.cht-agnet/kaptheoriekh.htm. Im Original steht hier etwa der Satz: »Die Autorin wird sich in der vorliegenden Untersuchung vor allem auf dieses Modell der Medienrezeption stützen [...].« (siehe Abb. 6, S. 74). Dies wurde von der Klagenfurter Universitätsassistentin umgeschrieben in: »Vor allem mit diesem Modell der Medienrezeption möchte ich in der vorliegenden Untersuchung meine Ergebnisse stützen [...].« (siehe Abb. 7, S. 75). Die Aneignung eines Textes in der Ich-Form ist eine besonders eindeutige Art des intentionalen Plagiats. Diese macht aus einem Textplagiat expliziten Betrug. (Später in der Diplomarbeit wird auch noch in der Ich-Form eine Filmsequenzanalyse angekündigt, die jedoch aus einer Dissertation aus dem Jahr 1997 abgeschrieben wurde.) Beim nächsten Satz im Beispiel sieht man, wie sich mutmaßlich ein Grammatikfehler durch das unreflektierte Umschreiben eingeschlichen hat: Im Original heißt es »Gestützt auf die Konzeption dieses Modells ...«, im Plagiat steht »Basierend auf die Konzeption dieses Modells ...«. Die Übernahmen in der (mittlerweile eingezogenen) Diplomarbeit »Wickie und die starken Männer« sind besonders drastische Beispiele des GCPSyndroms mit anschließendem unreflektierten Umtexten. Sie stehen paradigmatisch für die Entwicklung einer Kultur ohne Hirn, einer hirnlosen Textkultur und einer hirnlosen akademischen Kultur, in der die Simulation von Wissenschaftlichkeit das wissenschaftliche Forschungsinteresse und die Neugierde des Forschers abgelöst hat. Jeder einzelne »meiner« elf Plagiatsfälle (siehe Tab. 4, S. 76-77) verstößt auf seine Weise fundamental gegen die Grundregeln der guten wissenschaftlichen Praxis. Sieben von elf Fällen waren Plagiate aus dem Netz (manchmal auch in Kombination mit Offline-Plagiatsstellen) - vier Mal hat der Plagiator ein ausschließliches Recycling von Buchtexten betrieben. Das Spektrum der Netzplagiate reichte von Totalübernahmen (etwa die 1:1-Kopie eines Aufsatzes von mir auf http://tomkummer.be ohne Namensnennung oder die 1 : 1Übernahme eines Beitrags von http://www.ecin.de in eine Bachelor-Arbeit) bis zum Shake&Paste-Plagiat, wie es anhand der obigen Fallbeispiele geschildert wurde. Abschließend ein weiteres Beispiel für ein Offline-Plagiat, das ebenfalls zur Aberkennung eines akademischen Grads führte: Erneut hat der Autor einer Diplomarbeit aus dem Jahr 2000 mehrere Seiten aus meiner Dissertation aus dem Jahr 1996 abgeschrieben, geringfügige sprachliche Adaptionen durchgeführt und die Zitierweise vom amerikanischen System ins Fußnotensystem 78 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
umgeändert. Eine besondere geistige Eigenleistung ist auch hier nicht zu erkennen, vielmehr ein rein »editorisches« Vorgehen (siehe Abb. 8 und 9, S. 80-81).
4.6
»Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
»Lentos — Skandal um Plagiat«: Wenn sich der Medienforscher und Netzaktivist Florian Cramer mit dieser Überschrift in einem offenen Brief vom Juli 2005 an die Netzgemeinde wendet, muss schon gewaltig etwas im Argen sein. Was war geschehen? Die Herausgeber des Katalogs »Just do it! Die Subversion der Zeichen von Marcel Duchamp bis Prada Meinhof« wollten mit diesem ein — wie es im Verlagsprospekt heißt — »Text-Bild-Kompendium« zur gleichnamigen Ausstellung im neuen Linzer Kunstmuseum Lentos schaffen. Die Themen — »von der Appropriation bis zur Anti-Copyright-Bewegung« und »irritative Umdeutungen und Aneignungen« — hatte das Herausgebertrio jedoch etwas zu wörtlich genommen: Die Autoren zahlreicher im »Kompendium« perlenartig nacheinander abgedruckter Texte wurden nämlich nie um Wiederabdruck-Genehmigungen gefragt, zudem wurden sogar ihre Autorennamen durchgängig nicht erwähnt. — Eine gelungene Illustration des postmodernen Cut-and-Paste-Verfahrens oder doch bloß eine Ausbeutung von Autoren und eine Verletzung ihrer Urheberrechte? Stellt die »Leistung« der Herausgeber eine avantgardistische Praxis in Bezug auf den sich abzeichnenden Umgang mit Texten dar (das freie Flottieren von Textsegmenten jeder Art im Netz und deren beliebige Manipulierbarkeit durch alle) oder wurde hier unter dem Deckmantel einer kritisch-künstlerischen Haltung einfach auf wenig arbeitsintensive und lieblose Art und Weise ein Buch mit Text gefüllt? Florian Cramer beschreibt im Brief an die Herausgeber seinen Fall: »Wie ich vor wenigen Tagen herausfinden durfte, besteht das von Ihnen herausgegebene Buch >Just do it! Die Subversion der Zeichen von Marcel Duchamp bis Prada Meinhof< (Edition Selene Wien, 2005) auf den Seiten 137-160 aus meinem Aufsatz >Vom freien Gebrauch der Nullen und Einsen — Open Content und Freie Software<, den ich im Jahr 2002 geschriebe[n] habe und der unter anderem unter der Adresse
http://www.stuttgart.de/stadtbuecherei/druck/oc/cramer_opencontent. htm veröffentlicht ist. Dieser Text erscheint im Buch leicht gekürzt und anonymisiert, ohne Autoren- und Quellenangabe, als Teil eines 246seitigen Gesamttextes, für den das Lentos Kunstmuseum verantwortlich zeichnet. « 111
111) Florian Cramer, »Lentos — Skandal um Plagiat«, offener Brief vom 11. Juli 2005, S. 1.
»Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
79
Abb. 8:
Original — Dissertation an der Universität Salzburg:
subjektunabhängige Realität, also über die 'Welt der Dinge an sich' (...), etwas sagen läßt. Und genau damit ist schon zuviel gesagt. (...) Diese Probleme stellen sich nicht, wenn man die Realität als Bestandteil der Wirklichkeit konzeptualisiert (...). Es gibt nur eine Wirklichkeit, die Erfahrungswirklichkeit des Subjekts (...)" (KURT 1994, 337 ff.). Also: „Unsere Welt: und das ist alles." (SCHMIDT 1994a, 138)" Die Realität kommt in der Wirklichkeit vor 2. „Wenn ich aber annehme, daß die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn, der Konstrukteur, existiert. Diese Welt wird als 'objektive', bewußtseinsunabhängige oder transphänomenale Welt bezeichnet. Ich habe sie der Einfachheit halber Realität genannt und sie der Wirklichkeit gegenübergestellt (...)." (ROTH 1994c. 288) Also: „Unus non sufficit orbis." Die Wirklichkeit kommt in der Realität vor. Ich vergleiche nochmals beide Positionen, da dieses Problem meines Erachtens die Grundfrage, um welche es in dieser Arbeit geht, im Kern trifft: Beide, Kurt und Roth, argumentieren konstruktivistisch und beobachterrelativ. Roth meint, der Konstrukteur von Wirklichkeit, also der Beobachter, könne nicht in derselben Wirklichkeit „vorhanden" sein, die er konstruiert, da dies zu einem infiniten Regreß führen würde (in der konstruierten Wirklichkeit ist ein Konstrukteur, der die Wirk9 lichkeit konstruiert, und in dieser Wirklichkeit ist ein Konstrukteur, der... usw.)' . Deshalb nimmt Roth den Konstrukteur aus der Wirklichkeit heraus und versetzt ihn in die erlebnisjenseitige Realität. Doch kurioserweise befindet sich für Roth in dieser Realität nicht (wie im klassischen Dualismus) die „Res cogitans", also der Geist, sondern: das Gehirn! 20 (Dies hängt damit zusammen, daß Roth seinen metaphysisch-dualistischen Konstruktivismus mit einem Physikalismus vereinen möchte, was zu dieser abenteuerlichen und vielfach kritisierten Position führt.) Roth landet also im klassischen, metaphysischen Dualismus von „unserer" Innenwelt und jenseitiger Außenwelt — er will Paradoxien beseitigen (vgl. ROTH 1994c, 19 ff.) und halst sich damit umso schlimmere Paradoxien auf. Dagegen betont Kurt, daß jede Rede über die Realität gler die „Dinge an sich" nur innerhalb der Wirklichkeit des Beobachters stattfinden kann. Der Konstrukteur von Wirklichkeit ist innerhalb der konstruierten Wirklichkeit anzusiedeln — und dies muß keinesfalls zu einem logischen Dilemma führen, da der Konstruktivismus 21 Paradoxien nicht eliminieren, sondern schon eher kultivieren wi11. Die sogenannte Paradoxie, daß ich selbst Teil meiner konstruierten Welt bin, ist der blinde Fleck des Bewußtseins. Dieser verweist aber nicht auf eine bewußtseinsjenseitige Realität. Aktuelle konstruktivistische Ansätze scheinen zwischen beiden Positionen zu oszillieren (vgl. etwa die Ausführungen über Wirklichkeit und Realität in
22 Quelle: Stefan Weber, Die Dualisierung des Erkennens: Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie, Wien 1996, S. 22. 80 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Abb. 9:
Plagiat — Diplomarbeit an der Universität Wien:
Quelle: N. N., Jenseits von Realismus und Konstruktivismus, Wien 2000, S. 25.
»Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
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Dürfen die Herausgeber diesen Text, nur weil er im Internet verfügbar ist, ohne Quellenhinweis verwenden? Haben sie am Ende ähnlich gearbeitet wie die Autorin der fragwürdigen »Wickie«-Diplomarbeit und einfach Stichwörter zu ihrem Thema gegoogelt und die gefundenen Web-Texte dann für ihren Sammelband verwendet? Wie wäre diese »kulturelle Leistung« einzuordnen? — Florian Cramer weist am Ende des Originaltextes 112 darauf hin, dass dieser der »Open Publication License « 113 unterliegt und »gemäß ihrer Bestimmungen frei kopiert und weiterverwendet werden« darf. Dies heißt jedoch gerade nicht, dass die Referenz des Textes bei der Übernahme nicht angegeben werden muss, sondern ganz im Gegenteil: Die »Open Publication License« umfasst sogar präzise Bestimmungen für die Angabe der Referenz wie auch für die Kennzeichnungen von Änderungen im Text. Die Herausgeber des Kompendiums »Just do it!« haben also nicht nur aus der Sicht der Print-Logik Texte plagiiert (da sie Autoren ihrer Autorschaft beraubt und Quellen nicht angegeben haben), sie haben auch gegen die Open-Content-Bestimmungen des Netzes verstoßen. Die ebenfalls vom Textplagiat betroffene Inke Arns brachte die Kritik am Lentos-Projekt auf den Punkt: »Generell handelt es sich hierbei um ein Missverständnis und [einen] Missbrauch der Konzepte [...] >Culture Jamming<, >Appropriation< und >Subversion von Zeichen<. Bei diesen Praktiken geht es nicht um einen Freibrief zur kostenlosen Selbstbedienung bei KollegInnen, sondern — v. a. im netzaktivistischen Bereich — um eine Strategie der Entwendung von Zeichen (z. B. Markennamen, CIs, Logos) zwecks Unterwanderung der Autorität großer Korporationen. Es geht um die kritische, künstlerische Verfremdung und Wiederaneignung herrschender Codes, nicht um unkritisches postmodernes Recycling und auch nicht um Arbeitseinsparungen für Kuratoren und Kritiker, die sich so wenig Mühe wie mög114 lich machen wollen.« Hatten die Ankläger in der Lentos-Affäre einfach Probleme mit der Selbstanwendung theoretischer Einsichten der Postmoderne? Vom Tod des Autors, vom Tod des Subjekts, vom Konstrukt der Autorenschaft, von der Vielstim112) http://unvw.stuttgart.de/stadtbuecherei/druck/oc/cramer_opencontent.htm 113) http://opencontent.org/openpub. Siehe etwa auch http://undnugnu.org/copyleft/gpl.html sowie für aktuellere Umsetzungen die Creative-Commons-Lizenzen:
http://creativecommons.org/licenses. Auch hier wird unmissverständlich erklärt: Freie (und in einigen Lizenzen auch kommerzielle) Verbreitung ist ausdrücklich erwünscht, aber für alle Standardlizenzen gilt ebenso: »Sie müssen den Namen des Autors/Rechtsinhabers nennen.« 114) Inke Arns, »Just do it — be neoliberal! Geistiger Diebstahl«, offener Brief vom 3. Juli 2005, S. 1. — Mittlerweile werden die »Beiträger« zumindest auf der Verlags-Website genannt, siehe http://tvunv.selene.at/buchdetail.php?id.1486show=neuerscheinung.
82 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
migkeit eines jeden Textes, ja auch vom Konstruktcharakter des Plagiats 115 ist gerne und oft die Rede. Postmoderne und zum Teil auch konstruktivistische Denker haben das dekonstruiert, was wir in unserer so genannten naiven, essenzialistischen Wahrnehmungswelt sehen: etwa einen Einzelautor, der einen genuinen Text in seinen PC tippt (wie ich gerade ebendiesen an einem kühlen Sommerabend in Salzburg). Postmoderne Theorie liebt es, den Subtext hinter oder unter dem Text zu sehen — die Spuren, das Gewebe, die verdeckten Bezüge: etwa, dass ich so und nicht anders schreibe, weil ich so und nicht anders sozialisiert wurde, weil ich in meinem bisherigen Leben diese und nicht jene Literatur gelesen habe, weil ich in diesem und nicht jenem Zitierkartell sei, mich in diesem und nicht jenem wissenschaftlichen Diskursuniversum auszudrücken gelernt habe etc. Dabei wird ein Kategorienfehler gemacht: Das vermeintlich Subtextuelle wird erneut ontologisiert und vor allem verabsolutiert/generalisiert: Es sei »immer schon« vorhanden, durchziehe »alle Texte« oder — wie es in der Intertextualitätstheorie heißt: Jeder Text bilde einen Interferenzraum aus anderen Texten. Empirisch nachweisbar ist das — wie viele »Befunde« der Postmoderne — freilich nicht, aber man ist ja auch als postmoderner Denker generell empiriekritisch. Postmoderne Theorie wird damit sehr oft zur heißen Luft, zur reinen Faselei. 116 Die Kritik ontologischer Dualismen in der Postmoderne ist gerade nicht differenziert und durchdacht — wie etwa in der non-dualistischen Philosophie —, vielmehr führt sie zu einer Auflösung jeglicher Möglichkeit der Distinktionspragmatik. »Autor«, »Subjekt«, »Schöpfer «, »Text «, »Original«, »Plagiat«, »Fälschung« — laut postmodernem Denken alles fragwürdige Kategorien. Als Ersatz bietet die Postmoderne das Rhizom, die Präzession der Simulakra und ähnliche Konzepte an, die nicht operationalisierbar sind. Postmodernes Denken will uns auf zwei Latenzen hinweisen: zum einen auf die Vielstimmigkeit des Textes, zum anderen auf die Multiplizität der Autorschaft. Zugespitzt formuliert: Intertextualitätstheorie zeigt auf, dass auch dort zitiert wird, wo kein Zitat steht. Subjektkritische Ansätze behaupten, dass auch dort kein Subjekt schreiben würde, wo vermeintliche Einzelautorenschaft vorherrscht. Selbst kaum in den Verdacht postmodernen Denkens geratende Wissenschaftsforscher bezeichnen den Einzelautor mitunter als 115) Ein Wissenschaftsforscher sagte zu mir einmal: Seine konstruktivistischen Kollegen hätten generell Probleme damit, ein Plagiat zu identifizieren. 116) Zur Kritik aus naturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Alan Sokal, Jean Bricmont, Eleganter Unsinn: Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen, München 1999. Die »science wars« zwischen strengen Natur- und essayistisch orientierten Kulturwissenschaften verlagern sich heute, so meine These, zunehmend zu den »reference wars« zwischen Wissenschaftlern, die an der Unterscheidung von Original und Plagiat strikt festhalten wollen, und jenen, die diese auf Grund ihres vermeintlichen Konstruktcharakters dekonstruieren wollen.
»Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
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»narzisstische Illusion«. 117 Sie meinen dies aber — hoffentlich — eher empirisch denn erkenntnistheoretisch, etwa unter Verweis auf den immer noch anhaltenden Trend zur Gruppenautorenschaft oder Kontribuentenschaft in den Naturwissenschaften und technischen Fächern. Um eine Problematisierung und in der Folge Dekonstruktion der Unterscheidung von Original und Plagiat haben sich nicht nur Intertextualitätstheorie und weitere postmoderne Strömungen verdient gemacht. Im konstruktivistischen Diskurs wurde etwa folgender Slogan geboren: »die kopie ist das original der wirklichkeit.« 118 Wenn ich nun zum Beispiel behaupten möchte, die konsequente Kleinschreibung dieses Slogans sei im Original so, dann meine ich damit gemäß These den hier wiedergegebenen Satz, da ja die Kopie das Original ist (wir sehen: damit überhaupt die Rede davon sein kann, dass die Kopie das Original ist, bedarf es bereits der Voraussetzung der Unterscheidung von Original und Kopie). Damit sind die Referenzen gekappt, und beliebige Wiedergaben mit Originalitätsanspruch werden möglich. Unsaubere, ja willkürliche Zitation und Plagiarismus finden so ihre theoretische Legitimation 119 — was haben wir damit gewonnen? Der Plagiatsvorwurf selbst wird von gewissen modischen Theoretikern kritisch beobachtet: In einigen feministischen Strömungen gilt er als patriarchalischer Akt 120 und wird deshalb von vornherein verurteilt. Auch CulturalStudies-Denker verweisen mitunter darauf, dass mit dem Plagiatsvorwurf kritische Wissenschaftler mundtot gemacht werden sollen. — Beide Denkbewegungen verlagern den Plagiatsvorwurf von vornherein auf die Meta-Ebene, sie abstrahieren von der reinen Substanz, von der »essenzialistischen« Frage nach einer (partiellen oder totalen) Isomorphie zwischen zwei Texten. So wird im postmodernen Denken im Extremfall erst recht eine radikale Dichotomisierung zwischen Inhalt/Text und Aussagen über den Inhalt/Text möglich: Der Plagiatsvorwurf kann unter Verweis auf den Konstruktcharakter oder die
117) So Gerhard Fröhlich in http://science.orfat/science/news/134620. 118) Siegfried J. Schmidt, Kunst: Pluralismen, Revolten, Bern 1987, S. 56. 119) Vgl. auch Klaus Beekman, Die Legitimation des Plagiats bei Avantgardisten und Postmodernisten, in: Klaus Beekman, Ralf Grüttemeier (Hg.), Instrument Zitat: Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam — Atlanta 2000, S. 327-353. — Wie man insbesondere die Intertextualitätstheorie perfekt zur Legitimation eines urheberrechtlich relevanten Plagiats im Literaturbetrieb missbrauchen könnte, skizziert Marietta Böning in einer fiktiven Argumentationsführung, allerdings basierend auf einem realen Fall: der plagiatorischen Übernahme von vier Gedichten und weiteren Textsegmenten Bönings durch den Autor Franzobel. Vgl. Marietta Böning, Zwischen Freiheit der Kunst und Urheberrechtsverletzung — Wenn der Intertextualitätsbegriff zum Plagiieren missbraucht wird, Wien 2005, Manuskript. 120) Bei einem »meiner« elf Plagiatsfälle warf jedoch eine Wiener Schwulen- und Lesbenforscherin einer Salzburger Politologin ein Plagiat vor — ein wohl schwieriger Fall für diesen Denkansatz. 84
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Kontextbedingtheit des Plagiatsvorwurfs oder auf die Verstrickung des Anklägers in Machtgefüge immer schon entkräftet werden. Postmodernes Denken feiert das Sampling, das Remake, das Recycling, die Appropriation, die Plunder Culture in der Kunst: in der Musik, in der Literatur, in der Bildenden Kunst, und sowieso in der Medien- und Netzkunst. 121 Copy/Paste- bzw. Cut-and-Paste- oder Drag-and-Drop-Verfahren sind Basistechnologien in der Gegenwartskunst. Und für die moderne Sampling-Kunst ertönte unlängst gar der Schlachtruf: »In diesem Sinn kann [...] nur gefordert werden: Noch mehr Sampling, noch mehr Recycling!« 122 Und Raymond Federman empfahl dem Literaturbetrieb: »PLAGIARISMUS ist nicht nur zugelassen, er ist angeraten.« 123 Postmoderne Theorie und Literaturpraxis legitimiert und forciert also mitunter Plagiate — allerdings für die Kunst und nicht für die Wissenschaft. Oft wird jedoch aus der postmodernen Praxis des Plagiierens geschlossen, dass diese Kulturtechnik so negativ dann doch nicht sein kann und dass man sie auch in einem gewissen Sinn theoretisch verallgemeinern könne. Zwei Beispiele dazu von Florian Rötzer: » Möglicherweise aber hat auch die (postmoderne) Kunst schon lange das Plagiieren hoffähig gemacht, schließlich verdankt sich tatsächlich ein Gutteil der Originalität dem neuartigen Verknüpfen von Gedanken, was bereits die klassische Definition des Witzes im Sinne von Klugheit 124 ist. Kombination statt Genie. « Hier schwingt wieder deutlich die Vorstellung mit, dass doch irgendwie alles (oder zumindest ein »Gutteil«) nur eine Rekombinanz, ein Re-Modeling von bisherigem sei. Die logische Inkonsistenz, dass kaum ein Wissensfortschritt möglich wäre, wenn alles immer nur ein Neu-Arrangieren aus einem bereits gegebenen Möglichkeits-Pool wäre, wird nicht gesehen. — Ganz ähnlich das Argument auch hier:
121) Siehe etwa Stefan Bidner, Thomas Feuerstein (Hg.), Sample Minds: Materialien zur Samplingkultur, Köln 2004. — Auch ich habe mit einem Aufsatz über die »Plunderphonics«-Bewegung zu dieser Euphorie beigetragen: Stefan Weber, PlunderCulture©: Über Rekombinanz von Redundanz in der musikalischen Avantgarde, in: Ebenda, S. 357367. Ich lege jedoch Wert auf die Feststellung, dass sich diese Freude am subversiven Potenzial und auch am Hörvergnügen bei Copy/Paste-Künstlern wie »Tape-Beatles«, »Negativland« oder »People Like Us« ausschließlich auf das Kunstsystem bezieht. 122) Reinhard Braun, Re-Cycling, Re-Formating, Re-Morphing, Re-Sampling, ..., in: Stefan Bidner, Thomas Feuerstein (Hg.), Sample Minds: Materialien zur Samplingkultur, Köln 2004, S. 276-283, hier S. 283. 123) Zitiert nach: Anne-Kathrin Reulecke, Ohne Anführungszeichen: Literatur und Plagiat, in: Dieselbe (Hg.), Fälschungen: Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt am Main 2006, S. 265-290, hier S. 282.
124) http://untnuheise.de/tp/r4/artikel/3/3620/1.html »Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
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»Plagiieren könnte man aber — und muss man vielleicht auch? — [...] als Voraussetzung jeder Kultur begreifen. Sie wird durch Lernen und Aufnehmen oder Aneignen übernommen und weiter gegeben, während durch Kombinieren oder Samplen, Variieren und andere Methoden der Veränderung Neues entstehen kann, auch wenn es sich erst nur um Nuancen handelt. Die heute in der Kritik stehende Übernahme von Inhalten durch Copy & Paste scheint einer Aneignung oder Verdauung zuwiderzulaufen, weil man sich ja mit dem Übernommenen nicht weiter beschäftigen muss. Man lernt nicht mehr, so heißt es, man setzt auf das ausgelagerte Gedächtnis im Internet und bedient sich dessen, um 125 Arbeit zu reduzieren.« Peter Weibel verabsolutiert noch eindeutiger — und dehnt seine These auch auf die Wissenschaft aus: » Man muss die Begriffe Kopie, Aneignung, Plagiat demokratischer sehen. Es gibt in der Kunst keine grandiose Originalität. Jeder übernimmt und führt fort: Das ist nichts Neues, das ist seit Jahrhunderten so. Die so genannte originelle Neuerung ist immer ein Derivat. [...] Das ist in der Naturwissenschaft so, das ist in der Entwicklung der Kunst 126 nicht anders. « Vielleicht wäre es an dieser Stelle geraten, ein wenig systemtheoretischluhmannianisch zu denken: Es mag durchaus einen gewissen Zusammenhang zwischen postmoderner Legitimation des Plagiats und einer Häufung an Plagiatsfällen (etwa im Literaturbetrieb und in der Wissenschaft) geben. Es mag auch Sinn machen, Copy/Paste als Kulturtechnik in verschiedenen sozialen Systemen zu begreifen (in der Kunst, in der Wissenschaft, auch in der Politik, wenn Politiker etwa die Reden anderer plagiieren usw.). Die moralisch-ethische Bewertung von Copy/Paste findet in den einzelnen Sozialsystemen jedoch grundlegend unterschiedlich statt. Mit anderen Worten: Was in der Kunst als Avantgarde gelten mag (zum Beispiel das geklaute Schnipsel aus einem existierenden Daten- bzw. Informationskosmos), kann in der wissenschaftlichen Textkultur deren Ende bedeuten. Es gibt keinen logischen Weg vom Plagiat als Stilmittel oder Provokation in der Kunst zum Plagiat als vermeintlich sinnvolle Technik in der Wissenschaft — zumindest so lange nicht, solange die derzeitigen Parameter gelten, wie sie in den Regelwerken zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis vorgeschrieben sind. Wer sich diesen Spielregeln in der Wissenschaft nicht unterwirft, ist Konzeptkünstler und kein Wissenschaftler. 127 125) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22673/1.html 126) »Der Standard«, »Dossier Abschreiben», 25. Februar 2005, S. 2. 127) Ähnlich zu Tom Kummer im Journalismus.
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Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Das Referenzproblem beschäftigt derzeit zumindest vier soziale Systeme grundlegend: Das Ausbildungssystem (bei Luhmann »Erziehungssystem« ), die Kunst, die Wissenschaft und auch den Journalismus (bei Luhmann die »Massenmedien«). Im Bildungssystem stellt Copy/Paste von Texten eine grundlegende Bedrohung dar, weil damit einer Textkultur ohne Hirn im hier dargestellten Sinn Vorschub geleistet wird. In der Kunst mag die Kultur des Klauens subversiv sein, wenn sie sich etwa der großen Marken und Logos der »global players« bedient oder für die Referenzproblematik in epistemologischer Hinsicht sensibilisieren will. In der Wissenschaft ist der grassierende Textplagiarismus hochproblematisch, und auch im Journalismus gibt es ernsthafte Probleme: mit der zunehmenden Intransparenz von Quellen bei Texten und Bildern, mit der sukzessiven Ersetzung des Recherchierens und Schreibens durch Content Management (inklusive permanentes Copy/Paste von Texten, sehr oft ohne Quellenreferenz), mit der zunehmenden Fragwürdigkeit des Authentizitätsanspruchs von internationalen Agenturmeldungen und digital beliebig manipulierbaren Bildern. Die erkenntnistheoretische Diskussion zu all diesen Problemfeldern läuft sehr oft als Kontroverse zwischen (naiven) Realisten und (radikalen) Konstruktivisten ab. Und genau mit dieser läuft sie sich auch tot. Eine Alternative wäre eine non-dualistische Medientheorie, die die Frage nach dem Abbildoder Konstruktcharakter eines Medienbildes oder -textes überwinden will. Dies wurde an anderer Stelle ausführlich dargelegt. 128 Doch der Non-Dualismus ist nicht Thema der Kulturwissenschaften. Diese beharren vielmehr auf der Problematisierung klassischer Denkkategorien ohne Entwicklung einer expliziten Denkalternative. So heißt es etwa in der Ankündigung eines Ernst-Mach-Forums zum Zitats- und Plagiatsproblem: »Kulturwissenschaftliche Theorien werfen ein neues Licht auf diese Frage: Kann überhaupt der Anspruch auf Authentizität erhoben werden? Oder wird die individuelle Autorenschaft im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb im Vergleich zu anderen Wissenskulturen überbewertet? « 129 Auch solche Denkbewegungen leisten indirekt dem Plagiat Vorschub. Für die gegenwärtigen Kulturwissenschaften scheint folgende derzeit nicht hintergehbare Konstellation schwer zu akzeptieren zu sein: Hier ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit oder ohne Einsatz der Großhirnrinde. Da ein Text, von diesem geschrieben (getippt, gelesen, korrigiert, formatiert). Diese Konstellation ist
128) In Anlehnung an Josef Mitterer. Siehe Stefan Weber, Non-dualistische Medientheorie: Eine philosophische Grundlegung, Konstanz 2005.
129) http://www.oeaw.ac.at/kkeemf detail.html »Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
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einfach zu realistisch, zu trivial, sie entspricht zu sehr dem Common Sense, da muss schon ein Schuss Kontra-Intuition hinein: Der Einzelautor als Illusion, die Überbewertung der Autorenschaft, der Tod des Autors, der Text als Mosaik von Zitaten, die Polyphonie des Textes usw. Es wimmelt nur so von Konstrukt-Thesen in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Literatur zu Fälschung und Plagiat. Ein Beispiel: » Mit der Konstruktion der Autorschaft und Konzeptionalisierung des >Geistigen Eigentums< im juristisch gefassten Urheberrecht entsteht als Kehrseite das Plagiat in seinem vollen Sinn. Dem Plagiat liegt daher immer auch das Konstrukt der autonomen Autorschaft zugrunde, selbst dann, wenn mit dem Plagiatsnachweis gerade gezeigt werden soll, dass eine solche Autorschaft nicht vorliegt.« 130 Wie in vielen gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Texten wird der Konstruktcharakter des zu beschreibenden »Sachverhalts« als gegeben vorausgesetzt. Es wird so gut wie nie klar, was mit »Konstrukt« eigentlich gemeint ist, der Kampfbegriff wird einfach inflationär verwendet. — Essayistisch wird munter weiter theoretisiert: »Das Plagiat ist ein >Querschläger<, da es in unterschiedlichen [...] Diskursen zum Tragen kommt und gerade daraus seine Wirksamkeit bezieht. [...] Die Rede über das Plagiat in der Literatur ist eine verschobene Rede über das Unheimliche des Einflusses. Sie verweist auf ein Wissen darum, dass der Einfluss, den andere Texte auf einen Schreibenden haben, tendenziell unendlich und unkontrollierbar ist, so dass die Verfolgung eines Plagiats das Versprechen in sich trägt, die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem eben doch ganz exakt lokalisieren zu können. «131 Irgendwie ist hier Skepsis rauszuhören: Die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem lasse sich eben doch nicht so genau bestimmen, weil ja alles ein Konstrukt sei ... — Eigentlich sind große Teile der Rhetorik der gegenwärtigen Kulturwissenschaften Bullshit. Mit dem permanenten Verweis auf den Konstruktcharakter von Dualismen (wie Original/Plagiat, Echtheit/Fälschung, eigenes geistiges Eigentum/fremdes geistiges Eigentum) ist nichts gewonnen, außer einer Legitimation von stümperhaften Referenzpraktiken bzw. von Praktiken mit mangelnder Referenz, außer der Möglichkeit, beliebige Aussagen über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen eines Plagiats zu treffen usw. 130) Anne-Kathrin Reulecke, Ohne Anführungszeichen: Literatur und Plagiat, in: Dieselbe (Hg.), Fälschungen: Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt am Main 2006, S. 265-290, hier S. 289. 131) Ebenda, S. 289 f.
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Die kulturwissenschaftliche Rhetorik erweist sich als Verhüllungs- und Vernebelungsstrategie klarer Verhältnisse. So, wie sie in Vorträgen und Aufsätzen gerne nur narrativisiert, nur Geschichten erzählt und keine Empirie betreibt, so reflektiert sie auch nichts zu Ende und leistet keine Arbeit am Begriff. Vielmehr wird ja oft gleich von vornherein bestritten, dass ein Begriff in der Einzahl existiere oder es überhaupt möglich sei, einen Begriff zu definieren. Ein typischer kulturwissenschaftlicher Absatz zum Thema wäre somit: »Das Plagiat gibt es nicht. Ein Plagiatsvorwurf ist immer schon ein Konstrukt, das das Konstrukt der Autorschaft voraussetzt. Ein Bezug auf eine Wirklichkeit außerhalb dieser Konstrukte, etwa auf den Text-an-sich, ist nicht möglich.« Verordnung an alle Kulturwissenschaftler, Postmodernisten und andere Fasler von Beruf: Lesen Sie Josef Mitterers »Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip«. Aber Dualismuskritik ohne Konstruktthese erscheint den Kulturwissenschaftlern und Postmodernisten derzeit undenkbar. Für eine alternative Theorie des Plagiats würden sich in der Summe folgende Eckpfeiler ergeben: •
Der klassische erkenntnistheoretische Disput über den Realitäts- oder Konstruktcharakter von Original und Plagiat, von Autorschaft und Plagiatsdelikt sollte zugunsten einer non-dualistischen Denkalternative (nach Josef Mitterer) überwunden werden. Diese entlarvt das Realismus/Konstruktivismus-Problem als Scheindebatte, 132 als bloße Redensart, die zu einer Pattsituation im Diskurs führt. Leider ist die gegenwärtige Kulturwissenschaft fast ausnahmslos konstruktivistisch, aber nicht non-dualistisch orientiert.
•
Das, was die Intertextualitätstheorie zu erfassen versuchte, aber in der Praxis nur zu einer Schwammigkeit der Begriffe führte, kann etwa mit Ludwik Flecks Konzepten des Denkstils und des Denkkollektivs viel besser erklärt werden. Anstelle weiter wirr von »Mosaiken von Zitaten« zu reden, kann eine Diskursanalyse von homogener wissenschaftlicher Textualität auch mit Fleck ansetzen, ohne die wichtigen Unterscheidungen von genuinem Text, Zitat, Verweis und Plagiat in einem postmodernen Einheitsbrei aufzulösen.
•
Intertextualitätstheorie, Konstruktivismus, Postmoderne, Cultural Studies und andere sind Theorien des 20. Jahrhunderts. Die Rahmenbedingungen haben sich durch das grassierende Copy/Paste-Problem in Wissenschaft und Bildung und die Bedrohung der gesamten Textkultur grundlegend verändert. Vieles, was etwa in den neunziger Jahren über das Netz oder den Cyberspace theoretisiert wurde, ist heute nicht einmal mehr heiße Luft. 132) httpd/www.heise.de/tp/r4/artikel/7/7699/1.html »Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit«
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Eine gegenwärtige Theorie des Plagiats müsste sich deshalb auch den Luxus leisten, der reflexartigen Ablehnung jeglichen kulturpessimistischen Gedankengangs zu trotzen.
4.7
Ursachenforschung
Plagiate, wohin man blickt: Wem oder was ist noch zu trauen? Selbst gegen Wladimir Putins Dissertation aus dem Jahr 1997 wurde 2006 ein Plagiatsvorwurf erhoben, und das deutlichste Beispiel für ein Produkt-Imitat wird alljährlich mit dem »Plagiarius« -Negativpreis ausgezeichnet. Plagiiert wird mittlerweile so gut wie alles: Von Armaturen über Bremsbeläge bis zu Uhren, vom Erfrischungsgetränk über Schoko-Osterhasen bis zu den Gondeln von Venedig. 133 In den achtziger und neunziger Jahren wurde die gesellschaftliche Wirklichkeit häufig mit der Unterscheidung Realität/Fiktion wahrgenommen. Diese Unterscheidung hat an Sprengkraft verloren. Heute wird — zumindest in der Wissenschaft und in der Wirtschaft — immer deutlicher mit dem Schema Original/Plagiat beobachtet. Der Plagiarismus ist aktuell nicht nur in der Wissenschaft ein Thema, sondern auch — freilich unter anderen Vorzeichen — in der Wirtschaft (von der Gastronomie bis zur Computerindustrie). Doch darum geht es in diesem Buch nicht. Das Plagiieren als studentischer Trendsport wäre wohl am leichtesten mit der Theorie der Memetik zu erklären: Copy/Paste als Mem (in Analogie zum Gen), als sich in der Gesellschaft selbst fortpflanzende und selbst verstärkende Operation. 134 Da Copy/Paste so bequem kognitiv entlastet, hat sich dieses Mem besonders rasch und flächendeckend ausbreiten können. Das Internet trägt keinesfalls die Alleinschuld am Textklau. Viele Faktoren — technische, soziale, kulturelle — haben dazu geführt, dass Copy/Paste und Textplagiate zu neuen Kulturtechniken avanciert sind. Achtzehn Gründe möchte ich im Folgenden in Form von kurzen Thesen anführen: 135 1) Bereits die Kindheit und die frühe Jugend ist oftmals von der Vorstellung geprägt, dass das Herunterladen und das 1:1-Übernehmen eines Textes derselbe Vorgang ist wie das Herunterladen eines neuen Klingeltons oder
133) Diverse Meldungen über Produktpiraterie aus den vergangenen Monaten. 134) Zu einer neueren, alternativen Theorie der kollektiven Nachahmung (mit »sozialem Druck« als entscheidender Variable) vgl. Florian Rötzer:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20039/1.html. 135) Zu einem alternativen Versuch, die Ursachen von Copy/Paste bereits in der frühen Erziehung und in einem falsch verstandenen Leistungsprinzip zu verorten, vgl. ebenfalls Florian Rötzer: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22347/1.html.
90 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Handy-Displays. Prototypisch wird dies beim Weiterleiten eines Leetspeak-Spruchs mit SMS oder bei der Übernahme von Slogans und Mottos auf Nickpages eingeübt. Auch Graphiken, Animationen, Smileys etc. werden mit Hilfe von Copy/Paste übernommen, was einmal mehr dazu verleitet, mit Texten analog umzugehen. 2) Die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler nimmt ab. Mit einer mangelhaften Kompetenz im Bereich des sinnerfassenden Lesens kommen die Schulabsolventen an die Universität und schaffen es dann nicht mehr, Texte erstens inhaltlich zu erfassen und in der Folge zweitens kritisch zu reflektieren. 3) Die Ablenkung durch die neuen Medien ist in allen Altersabschnitten omnipräsent: E-Mail, Internet, SMS und vor allem Chat fragmentarisieren das Bewusstsein unaufhörlich. Sie entspannen bei weitem nicht nur, sondern lösen vor allem auch Stress aus. Die Konzentrationsfähigkeit nimmt ab und damit auch die Fähigkeit, längere zusammenhängende Sätze zu schreiben. Schon während der Schulzeit siegt am PC natürlich das Computerspiel über die Lern-CD-ROM. Und auch später dann im Studentenleben ist es immer noch angenehmer, Online-Partnerbörsen zu durchstöbern oder sich durch endlose Fotomeilen aus dem Nachtleben zu klicken, als Seminararbeiten einzutippen. 4) Die konkrete Möglichkeit des Copy/Paste aus dem Internet hat natürlich generell dazu geführt, dass die Hemmschwelle bei der Übernahme von Texten anderer deutlich gesunken ist. Das Internet erleichtert 1:1-Aneignungen im Vergleich zu allen bisherigen Medien. Die Verführung ist durch die Verfügbarkeit unendlicher Textmengen in Sekundenbruchteilen groß geworden. Ob hier moralische Bedenken vorhanden sind, ist eine Sozialisationsfrage: Bei der Generation Google gibt es jedenfalls kaum noch solche moralischen Barrieren. Zudem klaffen die technischen Möglichkeiten einerseits und die kognitiven Verarbeitungskapazitäten andererseits derzeit weit auseinander: Copy/Paste ist mitunter auch ein Verfahren zur Reduktion von Komplexität, weil es auf andere Art gar nicht mehr gelingen würde, eine multiple Quellenlage in ein neues Ganzes zu bringen. 136
136) Einigermaßen kurios sind dann Denkbewegungen, die in der Informationsgesellschaft nicht einen Überfluss, sondern — in kontraintuitiver Weise — einen Mangel an Informationen beobachten. Dann wird in einem Noch-mehr-an-Informationen (und damit einem Noch-mehr-an-Medien) der Ausweg aus der gegenwärtigen Krise gesehen. Vgl. etwa Maria Pruckner, Die Komplexitätsfalle: Wie sich Komplexität auf den Menschen auswirkt: vom Informationsmangel bis zum Zusammenbruch, Norderstedt 2005.
Ursachenforschung 91
5) Zahlreiche Lehrende an den Schulen sind derzeit blind für die bereits weit fortgeschrittenen technischen (Betrugs-)Kompetenzen ihrer Schüler und übersehen ergoogelte Hausarbeiten und Referate systematisch. Die Schüler lernen mitunter, dass ergoogelte Arbeiten zu besseren Noten führen als selbst geschriebene. Der Schwindel wird somit oft schon in der Schule systemisch. 6) An manchen Universitäten gibt es immer noch Studienrichtungen und Institute, die keine Einführungen in wissenschaftliche Arbeitstechniken vorgesehen haben und anbieten. Somit wird es kaum möglich, die Studierenden vom Text-Aneignungs-Paradigma, mit dem sie in der Schule erfolgreich waren, wegzubringen. Oder aber sie haben in der Schule völlig irreführende Vorstellungen von korrektem wissenschaftlichen Arbeiten entwickelt, die dann nicht mehr korrigiert werden. 137 7) In einigen Fällen wird wissenschaftliches Arbeiten explizit falsch vermittelt (so werden Studierende z. B. zum systematischen Paraphrasieren angeleitet 138 ). Oft wird die zentrale Unterscheidung von Zitat und Plagiat nicht deutlich genug oder falsch vermittelt. In einem Lehrbehelf der Universität Klagenfurt wird etwa nahe gelegt, dass es genügt, einige wenige Wörter zu ändern, um einen Vgl.-Verweis anbringen zu können. Hier wird die Paraphrase flugs zur Vorstufe zum echten Plagiat, das dann entsteht, wenn auch noch das »Vgl.« weggelassen wird. Ein Beispiel aus dem zweifelhaften Lehrbehelf: Es wird in der Unterlage erwähnt, dass sich bei einem Wissenschaftler im Originaltext seines Buchs auf Seite 177 folgender Satz befinde: »Schon immer sind Bücher (Druckwerke) nur eine Aggregatform des kollektiven Wissens gewesen [...]«. Im Lehrbehelf steht, dass es sinnvoll ist, diesen Satz wie folgt »sinngemäß« zu zitieren (siehe S. 2 der Unterlage aus dem Jahr 2002, Punkt 4, persönlicher Ausdruck): Das Buch ist — neben anderen — nur eine Aggregatform des kollektiven Wissens (vgl. S. 177). Fazit: Sehr geringfügiges Umschreiben von Originaltexten wird hier als wissenschaftliches Arbeiten verkauft. Ein Kleben-Bleiben-am-Text wird zur Methode. 8) Auch die Unkreativität mancher Lehrender an den Universitäten begünstigt den Plagiarismus: Wenn das tausendste Referat über das Leben Friedrich Nietzsches zu halten ist oder zum x-ten Mal die Geschichte des Internets »geschrieben« werden soll, dann liegt es — in Kombination mit manch 137) »Mein« Tübinger Dissertationsplagiator und (ehemaliger) promovierter Theologe sagte auf die Frage der Journalistin von »Zeit Wissen«, ob er denn das wissenschaftliche Arbeiten nicht gelernt hätte, ganz unverblümt: »Nö!« (Persönliche Mitteilung der Journalistin, September 2005) 138) Wie etwa an der Universität Klagenfurt. Seit Jahren steht dort ein falscher Lehrbehelf im Netz, siehe http://wwwu.uni-klu.ac.at/hjele. 92
Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
anderen der hier erwähnten Punkte — für gewisse Studierende nahe, das Rad nicht noch einmal neu erfinden zu wollen. Oft fühlen sich Lehrende auch ausgebrannt und verlangen von den Studierenden kaum noch Leistungen. Ehrgeiz wird nicht mehr belohnt. 139 Redundanz begünstigt den Plagiarismus. Immer wieder wird deshalb zu Recht gefordert, mehr Kreativität bei der Vergabe und gemeinsamen Entwicklung von Themen walten zu lassen. 9) Nicht so sehr das viel zitierte Betreuungsmissverhältnis, 14° sondern vielmehr die Betreuungsinkompetenz fördert den Plagiarismus. Ein gewisser Prozentsatz der Professoren weigert sich leider bis heute zu googeln oder beherrscht die Google-Funktionen einfach nicht richtig. 141 Andere wiederum reichen die Stapel der Abschlussarbeiten widerwillig an ihre Assistenten weiter. Zudem werden oft Themen von Betreuern angenommen, bei denen sie wissenschaftlich gar nicht ausgewiesen sind. Wenn die Studierenden merken, dass die Lehrenden gar nicht Bescheid wissen, fördert das den Betrug. 10) Die abnehmende Lesekompetenz bei den Schülern und Studierenden trifft auf eine fortschreitende Verweigerung des dose reading bei den Lehrenden. Vielleicht lesen diese noch die Einleitung und den Schlussteil, vielleicht schauen sie in manchen Fällen überhaupt nur mal schnell Inhalts- und Literaturverzeichnis an (man will ja zumindest immer wissen, ob man zitiert wurde). Dies ist die sich wechselseitig verstärkende akademische Abwärtsspirale: Je schlechter die Texte werden, desto weniger werden sie auch noch gelesen. Und je weniger gelesen wird, desto schlechter können die Texte werden. (Fast alle hier erwähnten Faktoren sind übrigens derart reflexiv und sich selbst verstärkend zu denken.) Die beinharten Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie regieren auch zunehmend die wissenschaftliche Textkultur. Intellektueller Tiefgang, ein verlangsamtes und kritisches Lesen sowie ein vertikales Erschließen der Quellen sind kaum noch möglich. Es ist jedoch nicht nur so, dass die armen gestressten Professoren so wenig Zeit hätten, vielmehr schaffen sie 139) Wie sagte ein österreichischer Professor einmal so schön zu mir: »Erfolg ist für wissenschaftliche Karriere eher hinderlich.« 140) Dieses Klischee wird seit Jahren von Massenmedien und Studentenvertretern in immer neuen Auflagen reproduziert. 141) Und generell ist zu sagen, dass beim »digitalen Wettrüsten« zwischen Lehrenden und Studierenden in den vergangenen Jahren die Studierenden deutlich die Nase vorn hatten: Als längst zahllose wissenschaftliche Journals online als Volltexte und tausende akademische Abschlussarbeiten im Netz verfügbar waren, kamen viele Lehrende immer noch überhaupt nicht auf Idee, nach Konkordanzen mit Web-Dokumenten zu suchen. Dies betrifft meiner Einschätzung nach besonders massiv den Zeitraum zwischen ca. dem Jahr 2000 und heute. Langsam zeichnet sich nun eine Bewusstseinsveränderung ab.
Ursachenforschung 93
es oft nicht, ihre Zeit richtig zu organisieren. Dazu kommt der InstantanTerror von Mail und Internet. Einige Forscher geben unumwunden zu, dass derzeit Oberflächlichkeit regiert: »Lassen wir uns blenden und blenden einander? Erschließen wir in Aufsätzen und Büchern wirklich Quellen? Erreicht er uns wirklich, der Gedankenstrom früherer Forscher? Sind es nicht meist dürre, mechanisch hingestreute Pflichtverweise, mit denen wir unsere Berichte aufblähen? Seien wir ehrlich, so geht es doch: Schlüsselwort nennen — Schlüsselaufsatz nennen — und fertig ist die 142 >Zitation<. Fürs Nachlesen war wieder mal keine Zeit.« Ein solches Produktionsmilieu färbt natürlich auf die Studierenden ab. Es ist dann nahe liegend, auf die Lektüre von Originalquellen zu verzichten. Wozu noch Kant lesen, wenn es schon so viele schöne Kant-Zitate im Internet gibt? Hier ist der Weg von der Arbeitseinsparung zum Plagiat nur noch ein kurzer. Das Internet sorgt aber auch für eine gewisse Ahistorizität. Es zählt das instantan Verfügbare. Der Weg zu real existierenden historischen Quellen verliert an Bedeutung, was dazu verführen mag, Zitate gleich aus der Sekundärliteratur (und sei es auch online) zu übernehmen. Auch die Plagiatsforscherin Debora Weber-Wulff bekennt in Anlehnung an einen kritischen Essay von Mark Deuze: » Wir sind Teil einer Abschlusszeugnis-Erzeugungsmaschinerie geworden, es geht kaum noch um den wissenschaftlichen Diskurs. Bedingt durch die Menge an zu beurteilenden Texten haben wir uns angewöhnt, die Texte nicht mehr sehr gründlich zu lesen. Die Studierenden müssen wieder das Gefühl bekommen, dass die Professorin [bzw. der Professor] wirklich an der Einzelarbeit interessiert ist.« 143 Eine in diesem Zusammenhang beunruhigende Hochrechnung publizierten zwei amerikanische Wissenschaftler im Jahr 2003: Sie untersuchten, wie sich ein und dieselben Tippfehler in den bibliographischen Angaben bei Literaturlisten fortpflanzten und kamen über stochastische Modellierung zu der Schätzung, dass mutmaßlich nur 20 Prozent jener Wissenschaftler, die ein bestimmtes Werk zitieren, auch das Original gelesen haben. Die übrigen 80 Prozent dürften die Literaturangabe bloß von der »reference list« eines anderen Beitrags, in dem das Werk bereits zitiert wurde, kopiert haben. 144 142) Gunter Reus, Avisiert, in: Aviso, Nr. 40, Dezember 2005, S. 1. 143) Debora Weber-Wulff, Gabriele Wohnsdorf, Strategien der Plagiatsbekämpfung, in: Information Wissenschaft & Praxis, Schwerpunkt »Plagiate & unethische Autorenschaften«, 57. Jahrgang, Heft 2/2006, S. 90-98, hier S. 92.
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Und zum Thema »mechanisch hingestreute Pflichtverweise« noch eine Anekdote: Ein Professor für Medienwissenschaft überraschte mich einmal mit seiner besonderen Zitationspraxis: Einige Monate, nachdem ich ihm meine Dissertation in Buchform geschenkt hatte, fand ich mehrere Mottos, die ich meinen Kapiteln vorangestellt habe, in einem längeren Aufsatz von ihm wieder — strategisch ganz ähnlich positioniert. — Grundsätzlich ist auch hier immer Redlichkeit geboten: Zitiert wird nur, was (a) materiell als Druckwerk vorliegt oder virtuell auf dem Bildschirm vor einem steht und (b) was auch gelesen wurde. Zitatzitate sind nur dann erlaubt, wenn das Original nicht mehr erhältlich ist (im geschilderten Fall wurde mein Buch als Quelle bei den übernommenen Mottos nicht angegeben, versteht sich). Lehrende müssen grundsätzlich immer mit bestem Beispiel vorangehen. Wenn sie dies nicht tun, öffnen sie dem Plagiarismus Tür und Tor. 11) Ein gewisser Anteil der Studierenden ist einfach fau1. 145 Die kognitive Entlastung, die Copy/Paste ermöglicht hat, wird aber kaum in andere, sinnvolle Dinge umgesetzt, sondern eher in Simsen, Chatten, Shoppen und »Shaken« (neu für: Tanzen). Die neue Mentalität der Studierenden zeigt sich etwa in folgendem Webforen-Eintrag: »SOS Wahlpflichtfächer. Weiß jemand nach den Ferien leichte Scheine für die man net viel lernen muss bakkende naht bitte infos« 146 12) Ein gewisser Anteil der Studierenden ist schlichtweg zu dumm oder ungebildet für ein akademisches Studium. Man sollte gerade hier kein Blatt vor den Mund nehmen: Dummheit und Arroganz treten gerne gemeinsam auf. Und gerade die notorisch Lernunwilligen oder -schwachen hatten oft schon in der Schule damit Erfolg, sich irgendwie durchzuschwindeln. Sie haben gelernt, ihre eigenen (fehlerhaften) Ansichten oder (mangelhaften) Kenntnisse zu immunisieren. Besonders beliebt ist bei dieser Gruppe die grundsätzlich »kritische« Haltung gegenüber der Wissenschaft: Die Ablehnung
144) M. V. Simkin, V. P. Roychowdhury, Read Before You Cite!, http://arxiv.org/ftp/cond-mat/papers/0212/0212043.pdf, 2002; M. V. Simkin, V. P. Roychowdhury, ht Copied citations create renowned papers?, tp://arxiv.org/ftp/cond-mat/papers/0305/0305150.pdf, 2003. 145) Die ironische Anleitung zum Erfolg mit Müßiggang findet sich etwa in: Corinne Maier, Die Entdeckung der Faulheit: Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun, München 2005. In der gegenwärtigen Situation würde wahrscheinlich der Ratgeber » Mit null Aufwand zum akademischen Grad« ein Bestseller werden. Er würde das ganze Spektrum von Schwindelmöglichkeiten bei Klausuren, Trittbrettfahrertum bei Gruppenarbeiten, gefinkeltem Online- und Offline-Plagiarismus bis zu akademischen Ghostwritern und gekauften Doktortiteln umfassen. — Vielleicht sollte dies ja mein nächstes Buch werden? 146) »bakkende«: Gemeint ist das Ende des Bakkalaureatsstudiums (österreichisch für Bachelor). Quelle: http://www.unihelp.cc, SMS-Box, 19. Dezember 2005.
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von komplexen Gedankengängen, Beschwerden über zu viele Fremdwörter, über zu schwere Prüfungen etc. sind dann an der Tagesordnung. Man hält sich für besonders klug, weil man allzu Intellektuelles ablehnt. Für einen gewissen Prozentsatz sind wissenschaftliche Texte per se unverständlich und werden deshalb lieber gleich mit Copy/Paste »behandelt«. — Zur Ehrenrettung mancher Studierender muss man aber auch sagen, dass gewisse wissenschaftliche Texte tatsächlich unverständlicher und/oder sinnloser Bullshit sind (mehr dazu später). 147
13) An vielen Universitäten und Fachhochschulen wird das Ziel der Ausbildung (im Sinn von Wissens- und Kompetenzgewinn) zunehmend ersetzt durch Titelmarketing. Es zählt nur noch ein Ziel: der Abschluss, das Zertifikat. Der Weg dorthin ist sekundär. Studieren aus Interesse wird zur Ausnahmeerscheinung. Auch die Verschulung der Studienpläne durch die neuen starren Bachelor-Kurzstudien bzw. die Umstellung auf das triadische System (Bachelor, Master, Doktor) trug zu dieser Entwicklung bei. 148 »Schein-Studenten« mag es schon länger gegeben haben, aber es ist wohl empirisch nicht ganz unbegründet, hier von einer deutlichen Steigerung in den vergangenen zehn Jahren zu sprechen. 14) Die Ersetzung des Bildungsziels durch Titelmarketing ging mit dem Einzug des »Kunden-Paradigmas« an Universitäten und Fachhochschulen einher. Und leider ist es nur ein kleiner Schritt vom Kunden zum Konsumenten. Ein Kunde ist grundsätzlich eher jemand, der durch fetzige Animationen und oberflächliche Powerpoint-Aufzählungen berieselt werden will als jemand, der einhundert Seiten selbst schreiben muss. Der Student von heute will unterhalten werden. Und nicht zuletzt die Cultural Studies haben uns ja gelehrt: Unterhaltung ist niemals etwas Negatives! 15) Dies führte allgemein zu einer Kultur der Heuchelei, des Fakes, der permanent aktivierten Meta-Ebene: Die Simulation wissenschaftlicher Diskursivität wird wichtiger als die ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Thema. Die Präsentation von Inhalten — etwa im Professionalität suggerierenden Stil von Fernsehmoderatorinnen — wird bedeutender als 147) Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass in einigen Fällen wohl tatsächlich Schreibblockaden und diverse (andere) psychische Störungen dazu führen können, dass Copy/Paste-Praktiken oder das Engagement eines Ghostwriters als einzige mögliche Wege zur fertigen Abschlussarbeit gesehen werden. 148) An der Universität Salzburg war in einem Fachbereich, der den Bachelor eingeführt hatte, davon die Rede, dass dieses neue Kurzstudium den »Bedarf an kurzzeitig ausgebildeten (praxisorientiert, nicht zu wissenschaftlich, nicht zu kritisch) Arbeitskräften« decken sollte (Quelle: Studentenorgan »Der Punkt«, Nr. 52, Dezember 2002, S. 4). Die abwertende Konnotation von Wissenschaft durch Wissenschaftler (»zu wissenschaftlich«) ist ein Indikator für einen rätselhaften Selbsthass im System (welcher Arzt wäre »zu ärztlich«?). 96 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
die Inhalte. Es zählt der Effekt, der Mehrwert jenseits der »trockenen« Inhalte. Eine Entfremdung und Abkopplung von den Inhalten findet statt. Oftmals geht dies bis zum ausgeprägten Hass auf die studentische (Zwangs-)Arbeit. Damit werden die Studierenden auf die gegenwärtige Arbeitswelt gut vorbereitet, in der oft die Simulation von Kompetenz mehr zählt als die Kompetenz. Das ist der Post-Baudrillard'sche Zustand der heutigen Gesellschaft: Keine Präzession der Simulakren, sondern vielmehr eine memetisch sich fortpflanzende Kultur der Heuchelei. Die Kultur des Fakes schafft das Milieu für alle möglichen Formen des Betrugs, für die explizite Verarschung des Systems (wie etwa beim Totalplagiat, für deren Entdeckung die Professorin eh »zu blöd« sei). .
16) Der Evaluationsterror begünstigt den Niveauverlust: Lehrende, die von Studierenden ordentliche Leistungen verlangen, werden oft schlechter evaluiert als jene, die die allgemeine Milde zur Ideologie erkoren haben. Durch diesen kybernetischen Kreislauf kommt es zum Niveauverlust: Lehrende, die ein hohes Niveau sichern wollen, werden tendenziell nicht mehr beschäftigt oder geben freiwillig auf. Jene, die eine harmlose, gefällige Show anbieten, werden tendenziell positiver evaluiert und damit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit wieder engagiert. Der Evaluationswahn betrifft nicht nur die Lehre, sondern auch in Form der peer reviews die Vortrags- und Publikationstätigkeit der Wissenschaftler. Wenn etwa in einem »Call for papers« für ein »offenes Panel« einer wissenschaftlichen Fachtagung bereits im vorhinein »ausformulierte Beiträge von max. 40.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) « 149 angefordert werden, so ist es wahrscheinlich fraglich, wer sich unter diesen Bedingungen noch die Mühe machen wird, einen selbst verfassten, völlig neu formulierten Beitrag ins Rennen zu schicken. Ein solches Verfahren begünstigt zumindest partielle Autoplagiate (auch, wenn erklärt werden muss, dass es sich um einen Originalbeitrag handelt). 17) Die ganze gegenwärtige akademische Ausbildung ist eingebettet in eine zunehmend prekäre Welt. Wer heute studiert, muss dafür bezahlen, macht permanent die Selektionserfahrung und wird zudem150 noch in eine höchst Oft arbeitet die unsichere und prekarisierte Arbeitswelt entlassen. »Generation Praktikum« nicht nur unbezahlt, sondern muss — etwa unter dem Deckmantel der »Lehrredaktion« — dann auch noch einen finanziellen Beitrag für Arbeit leisten. In dieser Situation nehmen Engagement und 149) »Call for papers« für das »offene Panel« der Jahrestagung der DGPuK (Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft), Hamburg, 4. bis 6. Mai 2005.
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Idealismus ab, und vielen scheint es absurd, sich »wirklich« für ein Thema zu interessieren, sich »wirklich« in eine wissenschaftliche Materie hineinzuknien. Eine länger andauernde Phase des wissenschaftlichen Arbeitens — wie etwa bei einer Diplomarbeit — erscheint als verlorene Zeit, weshalb nach zeitökonomischeren Alternativen gesucht wird. Studierende wissen: Die Abschlussarbeit wird nicht gelesen, sie bringt kein Geld, sie bringt beruflich nichts ein. 18) In sehr seltenen Fällen ist das Plagiat kein kontextbedingter Täuschungsversuch, sondern ein bewusstes (möglicherweise sogar: theoriegeleitetes) Statement: Es ist quasi intrinsisch motiviert. Die geschilderte Plagiatsaffäre rund um den »Just do it! «-Katalog wäre so ein Beispiel. Auch hier können jedoch wieder extrinsische Faktoren unterstellt werden, die jenseits der hehren künstlerischen Absichten liegen: wie etwa schlichtweg Faulheit der Kuratoren oder eine ablehnende Haltung gegenüber dem Medium Text an sich. Welche Ursachen geben aber die Plagiatoren selbst für ihr Verhalten an? 1) Fälle von »Kryptomnesie« 151 : Manchmal behaupten Plagiatoren, sie hätten schlichtweg vergessen, dass die Ideen oder Formulierungen von jemand anderem stammen würden. Einige behaupten, sie hätten ein »fotografisches Gedächtnis«, hätten die Passagen »mental eingescannt« und dann später geglaubt, es seien ihre eigenen Formulierungen gewesen. Bei längeren 1:1-Übernahmen ist dies kaum jemals glaubwürdig. Ein Spezialfall des »Vergessens« ist ein von manchen Studierenden gut gepflegter Mythos: Sie fragen gerne, ob es schon ein Plagiat darstelle, wenn man bloß einmal irrtümlich eine Fußnote vergisst oder in letzter Sekunde noch eine Quelle aufnimmt, diese aber dann nicht belegt. Selbst die offizielle österreichische Studentenvertretung nährte diesen Mythos. In einer Presseaussendung fragte sie unlängst die Öffentlichkeit:
150) Ein Professor schrieb mir einmal: »Genießen Sie Ihre Zeit an der Uni, die Realität da draußen holt Sie noch bald genug ein.« Heute gehen Studierende missmutig durch ihr Studium und sehen nicht mehr die (wenigen) Freiräume, die ihnen (noch) geboten werden. — Und im Übrigen: Wer so viel Prekarität sieht, sollte daran erinnert werden, dass es auch in den achtziger und neunziger Jahren üblich war, neben dem Studium Geld zu verdienen. Eine 40-und-mehr-Stunden-Woche war auch damals nichts Ungewöhnliches (so etwa meine eigene Erfahrung). Heute dienen Zeitmangel und Belastung durch Nebenjobs oft als Rechtfertigungen bei Plagiaten. 151) Vgl. auch Gerhard Fröhlich, Wie rein ist die Wissenschaft? — Fälschung und Plagiat im rauen Wissenschaftsalltag, in: Hannes Etzlstorfer, Willibald Katzinger, Wolfgang Winkler (Hg.), echt_falsch. Will die Welt betrogen sein? Wien 2003, S. 72-93, hier S. 82: Fröhlich versteht unter »Kryptamnesie« (bei ihm Schreibweise mit »a«) die »fälschliche Selbstzuschreibung von Ideen nach Vergessen der Quelle«.
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»Gilt es bereits als Plagiat, wenn ich wenige Zeilen vergesse zu zitieren? Wird mir mein Titel aberkannt, wenn in letzter Sekunde eine Quelle hinzukommt, die ich vergesse anzugeben? « 152 Nun ist es aber im Akt des Schreibens nahezu unmöglich, von einer Quelle »wenige Zeilen« abzuschreiben und dann das Zitat zu vergessen (man müsste sich ja gleichsam bereits im Vorhinein entscheiden, auf die doppelten Anführungszeichen zu verzichten, womit eine intentionale Handlung und kein unbewusstes Vergessen vorliegen würde). Wenn in letzter Sekunde eine Quelle hinzukommt, dann ist sie ja bereits dazugekommen, wie kann dann noch die Angabe der Quelle vergessen werden? Oder gestehen Studierende, die solche Fragen stellen, am Ende selbst Copy/ Paste-Praktiken mit anschließender Entscheidung, was als Zitat und was als nicht belegter »Originaltext« ausgewiesen wird? Eine spezielle Spielart von Kryptomnesie ist schließlich die Rechtfertigung des Plagiators, er hätte die Gedanken in einem Original so gut gefunden, dass sie gleichsam zu seinen eigenen wurden. Einer »meiner« Plagiatoren schrieb in einer E-Mail an mich als Begründung für seine Tat, dass »Ihre Gedanken — je länger ich Ihr Buch las, tatsächlich immer mehr zu den meinen wurden«• 153 Die wortwörtliche Übernahme ganzer Seiten (inklusive von Literaturzitaten und persönlichen Einschätzungen) lässt sich mit dem Verweis auf das Anregende eines Buchs aber nicht erklären. 2) Grundlegendes Fehlen der Unterscheidung von eigenem und fremdem geistigen Eigentum: Ein gewisser Anteil der Plagiatoren hat wohl diese basale Unterscheidung wissenschaftlichen Arbeitens überhaupt nicht verstanden. » Meine« allererste Plagiatorin schrieb in einer Mail an mich unübertroffen selbstentlarvend: »Und — ja — die Formulierung ist genau die Deine [...]. Nur — ich finde da gar nichts dabei — man denkt doch Gedanken nicht um des copyrights wegen. Mir geht es um das Weiterdenken [...]. Warum also das große Geschrei?? « 154 Einzig und allein in Wikis — und in kooperativen Enzyklopädien wie der Wikipedia — besteht kein Anspruch auf individuelles Copyright bei jedem einzelnen Satz. Auch in klassischen gedruckten Enzyklopädien sind die Einträge in der Regel nicht mit Autorennamen versehen (sondern nur mit Literaturhinweisen). Dennoch darf man nicht einmal von dort einfach abschreiben. Überall anders gilt bereits textinhärent das Prinzip der Unter152) http://www.ots.at/presseaussendung.php?schluessel=OTS_20060810_0TS0084&ch= panorama 153) E-Mail vom 13. April 2006. 154) E-Mail vom 10. Juni 2002.
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scheidung von eigenem und fremdem geistigen Eigentum strikt. Dies betrifft auch Ideenplagiate bei Forschungsanträgen. 3) Technische Probleme oder Computerfehler: Plagiatoren geben auch gerne der Technik die Schuld am Plagiat: Word habe die Fußnoten gelöscht, oder: der Absatz, der auf die Literatur verweist, sei verschwunden, heißt es dann gerne — wie etwa im Falle meines Tübinger Plagiators. 4) Generelles Bestreiten des Problems: Plagiierende verstehen mitunter auch die Aufregung gar nicht, die der Plagiierte betreibt: Dieser solle sich doch vielmehr »geehrt« fühlen oder es »toll« finden, dass sein Text wortwörtlich übernommen wurde. Dies sei schließlich ein Beleg für die Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeit. All diese Begründungs- und Rechtfertigungsversuche eint, dass es den Plagiatoren in der Regel nicht möglich ist, schlichtweg ihren Fehler oder Betrugsversuch einzugestehen. Diese Ausreden sind Belege für eine mangelnde Fehlerkultur im Sinne von Einsicht in fehlerhaftes Verhalten oder zumindest von Bereitschaft zum kritischen Hinterfragen des eigenen Tuns. Kaum ein Plagiator hat im Nachhinein erkannt, was er da eigentlich getan hat. In der Regel ist der Aufdecker oder der, von dem plagiiert wurde und der das Plagiat dann angezeigt hat, der »Böse«, der »Kleinkarierte«, der »Karrierevernichter«, der »Rächer«, der »Nestbeschmutzer«. Das alles klingt nicht besonders rosig. Es fragt sich an dieser Stelle, was gegen den Plagiarismus und für die Bewusstseinsbildung getan werden kann. Davon handelt der nächste Abschnitt.
4.8
Lösungsansätze
Ziel dieses Buchs ist, dass es überflüssig wird, weil das Plagiatsproblem an den Universitäten verschwunden ist. Meine Motivation ist damit sehr unzynisch, ich sehe keinen »Nutzen ungelöster Probleme«, um mit dem Soziologen Dirk Baecker zu sprechen. Um das Plagiatsproblem zu lösen, bedarf es eines Bündels an Maßnahmen. Wie im vorangegangenen Abschnitt geschildert, hat das Problem zahlreiche Ursachen. Eine Engführung auf eine Ursache oder eine Lösung wird wenig bringen. Antiplagiatssoftware alleine etwa bringt im »Kampf« gegen den Plagiarismus nicht viel. Im Folgenden diskutiere ich 16 Maßnahmen, die zur Problemlösung vorgeschlagen werden. Die entscheidende Maßnahme wird nicht erwähnt, weil sie eigentlich so grundlegend und selbstverständlich sein sollte: Es muss (wieder) ein Klima des Vertrauens zwischen Studierenden und Lehrenden herrschen. Die Kultur der Heuchelei, die Bereitschaft zum Fake muss
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aus der akademischen Welt verschwinden. In einer Kultur des respektvollen Vertrauens, in der es um wissenschaftliche Fragen und nicht um die Simulation von Wissenschaftlichkeit geht, wird die Plagiatsquote rasch sinken. Betreuer müssen einen »Riecher« für Plagiate entwickeln. Wenn sie diesen nicht haben, müssen sie dringend geschult werden. 155 Das selektive Googeln sollte zur Selbstverständlichkeit gehören wie das Überprüfen des Literaturverzeichnisses. 156 Freilich gilt grundlegend: Plagiatsprävention ist immer besser als Plagiatsentlarvung im nachhinein. Eigentlich müsste das akademische System so konstruiert sein, dass ein Plagiat gar nicht erst entstehen kann. Das gegenwärtige Plagiatsproblem weist darauf hin, dass das System in seiner momentanen Verfasstheit große Lücken und Defizite aufweist. Die Möglichkeiten des Betrugs sind weiter fortgeschritten als die der Kontrolle und Verhinderung. Im — eben noch wichtigeren — Bereich der Plagiatsprävention wird viel zu wenig getan. Vielleicht bräuchten wir einen »Anti-Plagiats-Koffer« für alle Unterrichtenden an Schulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum? Viele der im Folgenden genannten Punkte wurden von zahlreichen Universitäten noch nicht umgesetzt. Aus meiner Sicht wäre es sehr wichtig, alle Maßnahmen zu realisieren, um eine weitere Verbreitung der Textkultur ohne Hirn einzudämmen: 1) Richtlinien zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis Der Deutsche Hochschulverband hat bereits im Juli 2002 eine Resolution zur »Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis in der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden« erlassen. Man kann aus heutiger Sicht sagen, dass das Problem somit vom Hochschulverband durchaus frühzeitig erkannt wurde. In der Resolution wurden auch sehr klare Worte gefunden:
155) Siehe dazu die gewinnbringende Online-Lerneinheit von Debora Weber-Wulff: http://plagiat.fhtw-berlin.de/ff/04auffinden/einleitung.html. Zentrale Indikatoren für das mögliche Vorliegen eines Plagiats sind Brüche jedweder Art: stilistisch, inhaltlich, auch Änderungen im Layout, in der Schreibweise von Eigennamen und Fachbegriffen usw. Segmente von besonders elegant formulierten Sätzen, die eigentlich nur wissenschaftliche Experten im jeweiligen Fach schreiben könnten, aber ohne Referenz im Fließtext stehen, sollten gegoogelt werden (zuerst mit Anführungszeichen, um wortwörtliche Übernahmen aus dem Netz zu überprüfen und dann — wenn diese erste Suche negativ war — ohne Anführungszeichen, um mutmaßlichen Wort-Umstellungen auf die Spur zu kommen). Fast alle »meine« Netzplagiatsfälle habe ich enttarnt, indem ich bloß einen einzigen verdächtigen Satz bei Google eingetippt hatte. Debora Weber-Wulff berichtet von einer ganz ähnlichen Vorgangsweise. 156) Doch Googeln ist nicht mehr der alleinige Standard. Ich verdanke Gerhard Fröhlich den Hinweis darauf, dass viele Datenbanken von wissenschaftlicher Literatur im Netz bereits die Suchfunktion »related documents« anbieten, mit der es möglich ist, Dokumente mit ähnlichen Zitationsstrukturen zu finden. Auch diese Funktion könnte in naher Zukunft zur Plagiatsbekämpfung sehr wichtig werden.
Lösungsansätze 101
»In einigen wissenschaftlichen Disziplinen stellt sich ein Teil der Studierenden diesem Anspruch [einer guten wissenschaftlichen Praxis — Anmerkung) nicht, sondern legt statt einer schriftlichen Arbeit, die auf eigener geistiger Leistung beruht, ein Plagiat vor, indem Texte Dritter ganz oder teilweise, wörtlich oder nahezu wörtlich übernommen und als eigene wissenschaftliche Leistung ausgegeben werden. Ein solches Vorgehen widerspricht nicht nur guter wissenschaftlicher Praxis, es ist auch eine Form des geistigen Diebstahls und damit eine 157 Verletzung des Urheberrechts.« In der Resolution wird explizit empfohlen, Suchmaschinen zur Überprüfung von möglichen Netzplagiaten zu verwenden und auch Antiplagiatssoftware wie etwa www.turnitin.com einzusetzen. Es wurde sogar geraten, nach mindestens sechs gleichen Wörtern hintereinander zu suchen (S. 2). Die Resolution endet mit folgenden Empfehlungen: »Alle Fakultäten sind aufgefordert, verbindliche Regelungen im Falle nachgewiesenen Plagiats zu treffen, ihre Studierenden bereits im ersten Semester darauf hinzuweisen und diese Regeln konsequent anzuwenden. Wünschenswert wäre auch ein Verhaltenskodex mit Darstellungen der Konsequenzen bei Verstoß, den Studierende bei der Immatrikulation von der Universität überreicht bekommen.« (S. 3) Bislang sind erst wenige Universitäten dazu übergegangen, etwa Verfahren beim Umgang mit Offline- und Netzplagiaten explizit in ihre Prüfungsordnungen aufzunehmen und diese den Studierenden auch klar zu kommunizieren. So verwundert es nicht, dass kaum ein Unrechtsbewusstsein vorhanden ist. Es wäre aus meiner Sicht tatsächlich ratsam, allen Studierenden zu Beginn ihres Studiums ein gemeinsam von den Universitäten erarbeitetes Dokument zu überreichen (etwa: »Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis«). Dieses Dokument müsste auch über das Verfahren bei einem Plagiatsverdacht und die Sanktionen beim Feststellen eines Plagiats klar Auskunft geben. Es könnte einen allgemeinen Teil enthalten, der für alle Wissenschaftsdisziplinen gilt (ein Plagiat ist ja in keinem Fach ein Kavaliersdelikt), und einen speziellen Teil pro Fach oder Institut inklusive der dort üblichen Zitierkonventionen. 2) Verhaltenskodex/Kodex zur Sicherung der akademischen Integrität Das Festschreiben von Verhaltenskodizes hat wie erwähnt der Deutsche Hochschulverband bereits 2002 gefordert. Die amerikanischen Universitäten sind deutlich weiter, was einen solchen »Code of Academic Integrity« 157)
http://www.hochschulverband.de/presse/plagiate.pdf
102 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
anbelangt. Auf den Webseiten zahlreicher Universitäten sind diese Kodizes an prominenten Stellen veröffentlicht, sie umfassen zumeist die Delikte Betrug (fraud oder cheating), plagiarism, Erfindung (fabrication) und Fälschung/Manipulation von Daten (falsification). Teilweise wird sogar online klargemacht, was als Plagiat gilt, inklusive etwa Plagiate bei Computerprogrammen. 158 Auch die grundlegenden Zitierregeln werden auf solchen Webseiten — zumindest jeweils für die Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften relativ vereinheitlicht — dargestellt. Es würde tatsächlich Sinn machen, den Studierenden zu Studienbeginn eine derartige Broschüre zu überreichen und/oder diese online zu veröffentlichen. Mit seiner Unterschrift würde jeder Studierende zudem eine Garantie abgeben, den Verhaltenskodex zu kennen und einzuhalten. 3) Warnblätter vor Plagiarismus und Merkblätter zur Unterscheidung von Zitat und Plagiat Dass das Plagiatsproblem oft schon zur »Chefsache« geworden ist, verraten bereits die Start-Webseiten mancher Universitätsinstitute. 159 Häufig wird das Korsett bereits enger geschnürt: Interne Plagiatsverfahren werden angedroht, im Wiederholungsfall soll die Diplomarbeitsbetreuung verweigert werden. In Deutschland gilt auch oft bereits, dass nach einem Plagiat die Wiederholung einer Arbeit in derselben Lehrveranstaltung nicht mehr möglich ist. Merkblätter zum richtigen Erstellen wissenschaftlicher Arbeiten, zum korrekten Zitieren und zur Unterscheidung von Zitat und Plagiat 160 finden sich mittlerweile auf zahlreichen Instituts-Webseiten als PDFs zum Downloaden. Jene Institute, die diese Hausaufgaben noch nicht erledigt haben, sollten dies schleunigst nachholen. 4) Aufnahme des Themas in alle Einführungslehrveranstaltungen Voraussetzung für die Umsetzung dieser Forderung ist das Anbieten von Einführungen in die wissenschaftlichen Arbeitstechniken in allen Fächern. Das ist derzeit immer noch nicht der Fall, wie etwa Studentenvertreter zu Recht kritisieren. Erst dann kann auch gefordert werden, dass das Problemfeld Plagiate viel stärker als bisher in diesen Lehrveranstaltungen thematisiert wird. Das, was Debora Weber-Wulff mit ihrem Online-Kurs »Fremde Federn finden « 161 für Lehrende realisiert hat, müsste nun auch für Studierende verfasst werden: »Zitat und Plagiat im Zeitalter der 158) Siehe etwa http://www.princeton.edu/pdpub/integrity/pages/plagiarism.html. 159) Siehe etwa hier: http://www.uni-klu.ac.at/mkOktudium/pdf/plagiat01.pdf. 160) Ein gutes Beispiel stammt von der Universität St. Gallen: http://www.studium.unisg.ch/ org/lehre/files.nsf/SysWebRessources/SO_MB_Plagia/$ FILE/Plagiatsmerkblatt.pdf. 161) http://plagiat.thtw-berlin.de/ff/00splash/00splash.html
Lösungsansätze 103
Online-Quellen« wäre ein längst überfälliges Lehrbuch, das eigentlich zum Standard-Einführungsbuch für jeden Studierenden werden müsste. 5) Eidesstattliche Erklärungen bei allen schriftlichen Arbeiten Solche eidesstattlichen Erklärungen sind an vielen Instituten bereits seit Jahrzehnten üblich, manche haben sie aber auch erst unlängst im Zuge der anbrechenden Plagiatsdiskussion eingeführt (Beispiel: der Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg erst im Jahr 2004). Auf dieser Erklärung unterschreibt der Studierende, dass er alle Quellen, die er verwendet hat, korrekt angegeben hat. Im Folgenden ein Beispiel für eine schlechte und ein Beispiel für eine gute Formulierung. An einem Fachbereich der Universität Salzburg gilt derzeit (August 2006) folgender Wortlaut einer eidesstattlichen Erklärung: »Hiermit versichere ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Seminararbeit/Bakkalaureatsarbeit/Magisterarbeit ohne fremde Hilfe und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Quellen und Hilfsmittel angefertigt und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhalt162 lich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.« Eine Unterschrift unter diese Erklärung schließt nicht aus, dass ein Studierender zehn Seiten aus dem Web 1:1 in seine Arbeit hineinkopiert hat, wenn er die Quelle denn »als solche kenntlich gemacht« hat. — Schon viel konsequenter ist jene Erklärung, die mittlerweile an einem Institut der Universität Wien verbindlich ist: »Die nicht belegte Verwendung der geistigen Arbeit anderer, insbesondere die nicht zitierte Übernahme oder Paraphrasierung von Passagen aus deren Werken, konstituiert ein Plagiat. Die auszugsweise oder gänzliche Aneignung fremder Arbeiten zur bewussten Erschleichung eines Leistungsnachweises kann studien- und zivilrechtliche Konsequenzen zeitigen. Ebenso ist die erneute Abgabe eigener oder fremder Texte sowie von Arbeiten, die nur geringfügig modifiziert wurden, zum selben Zweck unzulässig. « 163 6) Automatische digitale Einreichung von Arbeiten und Überprüfung mit Antiplagiatssoftware Die digitale Abgabe aller akademischen Arbeiten ab der Seminararbeitsebene und die anschließende Überprüfung mit einer Plagiatssoftware sollte so rasch wie möglich an allen Universitäten Standard werden. Plagiatssoftware kann die eigene Überprüfung nicht ersetzen (dies ist ein weit verbreitetes Missverständnis). Sie nimmt dem Betreuer nur Arbeit ab, indem sie 162) http://www.kowi.sbg.ac.at/content/files/eidesstattliche_erklaerung.pdf 163) http://www.univie.ac.at/Publizistik/Abgabeformular/PKW.pdf 104 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
den digitalen Textvergleich automatisch erledigt und die Konkordanzen in einem Bericht markiert zur Verfügung stellt. Freilich muss der Betreuer dann diese Übereinstimmungen interpretieren. 164 Antiplagiatssoftware erfüllt somit zwei Funktionen: 1 ) Sie nimmt dem Betreuer die Arbeit des »Ausgoogelns« eines wissenschaftlichen Textes ab. Sie vermag das zu leisten, was ein Betreuer kaum jemals machen wird, nämlich: jeden Satz einer Arbeit zu googeln. Einige Systeme arbeiten auch mit zahlreichen weiteren Suchmaschinen neben Google. 2) Wenn die Plagiatssoftware von allen in ihrem System bislang eingereichten Arbeiten eine Datenbank anlegt, wird auch ein Textvergleich mit vielen weiteren Arbeiten möglich. Somit wird bereits klar, dass Antiplagiatssoftware beim Textvergleich mit bisherigen eingereichten Arbeiten nur dann Sinn macht, wenn alle Universitäten dieselbe Software benutzen. Antiplagiatssoftware findet somit nur Übereinstimmungen mit Texten, die online aufgespürt werden oder im System bereits eingereicht wurden. Alle möglichen Quellen, die nur offline verfügbar sind oder die noch nicht getestet wurden, können nicht überprüft werden. Es ist nicht auszuschließen, dass sich aus den genannten Gründen der Vereinheitlichung des »Antiplagiatskampfs« in den nächsten Jahren ein System durchsetzen wird, das dann nahezu weltweit von allen Universitäten verwendet werden wird. — Debora Weber-Wulff hat die verschiedenen Anbieter getestet. 165 Der Trend geht deutlich zu Einreichdiensten, bei denen 164) Mein Test der bundesdeutschen Antiplagiatssoftware http://www.docoloc.de hat etwa Folgendes ergeben: Ich habe ein Word-File eines Aufsatzes von mir zur Überprüfung eingereicht, das auch als PDF online erhältlich ist. Docoloc fand zwar den Aufsatz im Netz, markierte aber nur eine Reihe von übereinstimmenden Sätzen, obwohl beide Dokumente über weite Strecken — bis auf redaktionelle Änderungen vor der Drucklegung und Erstellung der PDF-Version im Netz — wortidentisch waren. Eine Kollegin von mir machte dieselben Erfahrungen. Sie schreibt: »Besonders schön war das Ergebnis zu einem Text, der im Netz steht — ein paar Teile wurden zwar gefunden (59 %), aber nachdem der Text 1:1 im Netz steht, müssten doch 100 % rauskommen.« (E-Mail vom 14. Juli 2006) Freilich ist nicht ausgeschlossen, dass diese doch sehr selektiven Funde mit Einschränkungen bei der Testlizenz zusammenhängen. 165) Die Ergebnisse des Tests sind hier nachzulesen: http://plagiat.fhtw-berlin.de/ff/05hilfen/programme.html. Mit »gut« wurden http://www.turnitin.com und http://plagiarism-finder.de bewertet. Weitere Systeme sind etwa http://www.ithenticate.com, http://www.canexus.com und http://www.copyscape.com (letztere Seite vergleicht allerdings nur Webseiten untereinander). — Die mittlerweile zahlreichen Anbieter werden auch hier kommentiert und bewertet: Debora Weber-Wulff, Gabriele Wohnsdorf, Strategien der Plagiatsbekämpfung, in: Information Wissenschaft & Praxis, Schwerpunkt »Plagiate & unethische Autorenschaften«, 57. Jahrgang, Heft 2/2006, S. 90-98, S. 96 f.
Lösungsansätze 105
die Studierenden ihre Arbeiten zuerst gar nicht dem Betreuer, sondern der Software zum automatischen Plagiats-Check schicken — turnitin.com und mydropbox.com 166 (für das sich etwa die Universität Wien ab dem Wintersemester 2006/07 entschieden hat) wären solche Systeme. Weber-Wulff beschreibt den Vorgang: »Alle Studierenden schicken ihre Aufsätze dann eben nicht direkt an die Lehrkraft, sondern an das Plagiatssuchsystem, das zunächst eine Plagiatsrecherche durchführt. Der Bericht über die Ergebnisse wird dann der Lehrkraft zusammen mit dem Aufsatz zur Verfügung gestellt. Es wird also automatisch jeder Aufsatz geprüft.« 167 Ein solches Modell macht durchaus Sinn, wenngleich im Moment noch nicht geklärt ist, ob mit der automatisierten Einreichung und Aufnahme der Arbeit in die Datenbank der Plagiatssoftware die Urheberrechte des Autors verletzt werden: »Ohne ein Einverständnis der Studierenden verstößt das Versenden grundsätzlich gegen datenschutzrechtliche und urheberrechtliche Bestimmungen. Datenschutzrechtliche Probleme ließen sich zwar durch die Anonymisierung der Arbeiten umgehen. Aus urheberrechtlicher Sicht ergeben sich allerdings schwerwiegende Bedenken gegen die Inanspruchnahme eines Plagiatsdienstes, auch wenn sich die Frage aus derzeitiger Sicht nicht mit endgültiger Gewissheit beantworten lässt. « 168 Ein negativer Effekt des zunehmend flächendeckenden Einsatzes von Antiplagiatssoftware könnte der Trend zum digitalen Wettrüsten werden: Wer an der Universität mit allen Mitteln ohne eigene Textarbeit reüssieren möchte, könnte etwa versuchen, an den plagiierten Stellen so lange herumzufeilen, bis die Plagiatssoftware nichts mehr findet (ein Zugang zur jeweiligen Software dürfte nicht schwierig sein, gewisse Systeme vergeben sogar gratis Testlizenzen, wenn man sich als Lehrender ausgibt). Freilich ist nicht einmal auszuschließen, dass sich die Umgehung von Plagiatssoftware erneut »institutionalisiert«. So wie es derzeit Ghostwriter-Dienste im Netz gibt, könnte es schon bald Anbieter geben, die von sich behaupten, sie würden eingereichte Arbeiten durch alle Antiplagiatssoftware-Systeme am Markt durchlaufen lassen und dann so lange optimieren, bis nichts mehr gefunden wird. Vor solchen Auswüchsen einer digitalen Aufrüstung muss gewarnt werden — denn erneut wäre dies eine Textkultur ohne Hirn.
166) http://www.mydropbox.com/services/safeassignment.php 167) http://plagiat.fhtw-berlin.de/ff/OShilfen/turnitin.btml 168) http://plagiat.fhtw-berlin.de/ff/05hilfen/turnitin.html 106 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
Auch das Problem der Fremdsprachenplagiate wird derzeit von der Plagiatssoftware noch nicht gelöst. Somit bleiben diese Systeme vorerst lediglich eine Ergänzung zur weiterhin unabdingbaren manuellen Korrektur durch den Betreuer — unter Einsatz seines eigenen »Riechers«, seiner Intuition, seiner Intellektualität und seiner fachlichen Kompetenz.
7) Ombudsstellen zur Aufklärung von wissenschaftlichem Fehlverhalten In Reaktion auf die zahlreichen nachgewiesenen Fälschungen bzw. Bildmanipulationen der deutschen Krebsforscher Friedhelm Herrmann und Marion Brach hat die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) im Jahr 1998 angeregt, an allen Universitäten Ombudsstellen für Fälle von vermutetem wissenschaftlichen Fehlverhalten einzurichten. Im Jahr 2005 berichtete der Professor für Wissenschaftsjournalismus Holger Wormer, dass dies an allen Universitäten Deutschlands erfolgt sei. 169 Sehr wesentlich ist das Wissen um die Existenz dieser Ombudsstelle: Sie sollte auch online klar kommuniziert werden, 170 damit sich Ankläger gleich an die richtigen Personen wenden können und nicht Angst haben müssen, dass ihre Anzeigen irgendwo inneruniversitär versickern oder ungewollt weitergeleitet werden. Gleichzeitig muss der Informantenschutz garantiert sein, wie dies etwa an amerikanischen Universitäten üblich ist. 8) Ethikkommissionen Nachdem sich die Ombudsstellen ja nur mit der Überprüfung eines begründeten Verdachts von wissenschaftlichem Fehlverhalten beschäftigen, sollten sich nachgeschaltete Ethik- bzw. Disziplinarkommissionen mit den weiteren Folgen von nachgewiesenen Verstößen auseinander setzen. Die Österreichische Rektorenkonferenz hat dies in ihren »Richtlinien zur Sicherung einer guten wissenschaftlichen Praxis« (die über weite Strecken den Empfehlungen der DFG folgen) sogar explizit empfohlen: »Bestätigt sich der Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten, ist der Rektor davon in Kenntnis zu setzen, um geeignete Maßnahmen (z. B. über eine Ethik- oder Disziplinarkommission) einzuleiten.« 171 An zahlreichen US-Universitäten sind derartige Ethikkommissionen längst üblich. Sie beschäftigen sich dann eben nicht nur mit der Bewilligung von medizinischen Versuchsreihen, sondern auch mit ethischen Verstößen in den humanities wie etwa Plagiatsfällen.
169) Vortrag auf der Tagung »Copy, Shake, Paste« im Frühjahr 2005, siehe
http://science. orfat/science/news/134620. 170) Siehe etwa für die Universität Klagenfurt: http://www.uni-klu.ac.at/main/inhalt/843.htm.
171) http://www.uni-klu.ac.at/main/downloads/Richtlinien_Sicherung_wiss.Praxis_ORK.pdf
Lösungsansätze 107
9) »Task Force Plagiate« Eine »Task Force Plagiate« — in Analogie zur »Task Force F. H.« der DFG im Anschluss an den Krebsforscher-Skandal — wäre wohl wirklich der letzte und härteste Schritt. Wenn sich Hinweise darauf verdichten würden, dass zwischen etwa dem Jahr 2000 und heute an den deutschsprachigen Universitäten ein zweistelliger Prozentanteil zumindest teilweise plagiierter Arbeiten angenommen und dann positiv beurteilt wurde, würde sich eine solche Task Force empfehlen. Beim derzeitigen Wissensstand ist es nicht klar, wie viele Abschlussarbeiten plagiierte Stellen in erheblichem, also beurteilungsrelevantem Ausmaß enthalten. Wie mehrfach erwähnt, gehen einige Schätzungen von 20 bis 30 Prozent aus. Sollte dieser Verdacht erhärtet werden können, wäre es anzuraten, dass alle Universitäten Task Forces einrichten, die Arbeiten stichprobenartig rückblickend untersuchen (ich habe, wie bereits erwähnt, an einem Fachbereich an einer österreichischen Universität 13 Diplomarbeiten genauer angesehen, davon wurde in elf Arbeiten unsauber zitiert; eine Arbeit war ein eindeutiges Plagiat und für zwei weitere bestand Plagiatsverdacht). 172 10) Härtere Sanktionen: Studiensperren, Exmatrikulationen, Geldstrafen Zunächst sollte diskutiert werden: Wen wollen wir wie bestrafen? Genügt schon eine »Ersttat« (also das Plagiieren erheblicher Teile in einer Seminar-, Diplom- oder Doktorarbeit), oder haben wir nur die Wiederholungstäter im Visier? Und was sollen dann die Folgen sein? Ein Beispiel für ein transparent gemachtes Verfahren: An der Universität St. Gallen hatte ein Diplomand der Wirtschaftswissenschaften im Jahr 2003 eine über weite Strecken plagiierte Semesterarbeit eingereicht. Die Disziplinarkommission entschied, dass der Student »mit sofortiger Wirkung von den Lehrveranstaltungen der Universität im laufenden Wintersemester« ausgeschlossen wird und überdies die Verfahrenskosten in Höhe von 1000 Schweizer Franken bezahlen muss. 173 Ich denke nicht, dass eine solche Sanktion zu weit geht. Wenn ein Plagiat in nachweisbar betrügerischer Absicht eingereicht wurde, warum sollte das Verfahren an der Universität dann nicht ähnlich zu einem »echten« Gerichtsverfahren ablaufen? Der betroffene Student wurde »nur« ein Semester lang von der Universität gesperrt. Diskutiert werden 172) Ein österreichischer Professor einer anderen Universität berichtete im Sommer 2006, er habe von insgesamt 200 abgegebenen Arbeiten zehn für verdächtig gehalten und sich näher angesehen, davon seien dann sieben »nicht in Ordnung« gewesen, siehe den Webstream auf http:///younorfat/stmwebcam/bheute/player2.php?day=
2006-08-12&offset=00:08:05. 173) http://www.studium.unisg.ch/org/lehre/files.nsf/SysWebRessources/SOinfo_DKEntscheid_Plagiat_17Dez03/$FILE/DK-Entscheid_Plagiat_17Dez03.pdf 108 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
mittlerweile auch hierzulande Sperren von zwei bis zu drei Jahren bei groben Plagiatsfällen wie an vielen Universitäten in Amerika oder in den skandinavischen Ländern bereits üblich. 174 Derzeit ist es in fast allen Fällen nur so, dass der des Plagiats überführte Täter die Arbeit neu schreiben muss. Wir sollten offen diskutieren, ob diese Regelung als Sanktion ausreichend ist und ob sie dann nicht viel eher zur Inanspruchnahme von Ghostwriter-Diensten verführt. Einen konsequenten Weg ging die Universität Münster: Das Dekanat des Fachbereichs Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften legte fest — im Übrigen abgesichert durch das nordrhein-westfälische Hochschulgesetz —, dass »ein Plagiat als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße in der Höhe bis zu 50.000,00 €« geahndet werden kann. 175 Bei besonders schwerwiegenden Täuschungen ist auch eine Exmatrikulation vorgesehen. Kurios genug, dass sich eine Studentin knapp ein Jahr nach dieser Kundmachung im Sommer 2006 erdreistete, tatsächlich ein Totalplagiat einzureichen — noch dazu kopiert von einer Hausarbeitenbörse. Die Dame musste jedoch keine Strafe zahlen, sie hat sich vielmehr »freiwillig« exmatrikuliert. 176 Solche Maßnahmen und publik gewordenen Einzelfälle sind ohne Zweifel dem Klima an den Universitäten nicht gerade förderlich, aber Plagiate sind es noch viel weniger. Vernünftig wäre wohl ein allgemein verbindlicher Sanktionenkatalog bei Plagiaten, den die nationalen Rektorenkonferenzen, Hochschulverbände oder Forschungsförderungsgesellschaften den Universitäten empfehlen würden. In diesem könnten dann — gestaffelt nach der Schwere des Plagiats und der Anzahl der »Rückfälle« — Studiensperren, Beteiligungen an Verfahrenskosten, Geldstrafen, Exmatrikulationen, aber auch Möglichkeiten der Veröffentlichung des Falls und des Datenaustauschs innerhalb der Universitäten in einem gewissen Rahmen festgelegt werden. In Österreich ist die Rechtslage derzeit sehr unbefriedigend. § 89 Universitätsgesetz ( »Widerruf inländischer akademischer Grade«) lautet etwa: »Der Verleihungsbescheid ist vom für die studienrechtlichen Angelegenheiten zuständigen Organ aufzuheben und einzuziehen, wenn sich nachträglich ergibt, dass der akademische Grad insbesondere durch gefälschte Zeugnisse erschlichen worden ist.« 177 Es ist nicht auszuschließen, 174) Auch der Senat der Universität St. Gallen hat beschlossen, dass bei schweren Plagiatsfällen ein maximal dreijähriger Ausschluss von der Universität verhängt werden kann. Siehe
http://www.studium.unisg.ch/org/lehre/files.nsf/SysWebRessources/SO_MB_Plagiat/ $FILE/Plagiatsmerkblatt.pdf. 175) http://egora.uni-muenster.de/pol/admin/bindata/Plagiate.pdf 176) http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/329815 Lösungsansätze 109
dass in den vergangenen Monaten oder Jahren ein akademischer Grad öfter auf Grund einer gefälschten Abschlussarbeit denn auf Grund eines gefälschten Zeugnisses aberkannt wurde. Das Gesetz müsste somit den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen und auch Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis erwähnen (Fälschung, Plagiat, Mehrfacheinreichung). Auch eine explizite Verankerung des Plagiatsbegriffs in das Urheberrecht wäre wohl überfällig. 178 11) Forcierung der Digitalisierung der Wissenschaftskommunikation — Beschleunigung von Open-Access-Initiativen Wie schon im Kapitel über die »Ergoogelung der Wirklichkeit« erörtert, scheiden sich in dieser Frage momentan die Geister: Die einen sehen im Einscannen von Millionen von Büchern der Gutenberg-Galaxis und in der Virtualisierung der gesamten Wissenschaftskommunikation (E-Journals, PDFs statt Printausgaben oder zumindest in Ergänzung zu diesen) ein grundlegendes Problem: Das Lektüreverhalten wird sich auf unabsehbare Weise verändern. Möglich ist, dass nur noch Stichwörter gesucht werden und im Umfeld dieser dann die passenden Zitate extrahiert und neu collagiert werden. Damit würde die Rezeption immer oberflächlicher werden, und erneut wäre die Textkultur bedroht. Andere sehen wiederum gerade in einer voll digitalisierten Wissenschaftskommunikation eine enorme Chance, wie etwa der Linzer Kulturphilosoph Gerhard Fröhlich: Wenn »alles« online ist und Suchmaschinen, Datenbanken oder Antiplagiatssoftware auch jede entlegenste Fußnote jedes speziellen Journals auf der Welt finden, kann das Plagiatsproblem tatsächlich dem Computer überantwortet werden. Aber was ist im Hier und Jetzt zu tun, wie gehen wir mit dem derzeit real existierenden Medienbruch Online/Offline um? Man ist durchaus erstaunt, wie viele wissenschaftliche Zeitschriften bereits online im Volltext verfügbar sind und wie oft der Zugriff auf PDFs — in vielen Fällen auch ohne Subskription — möglich ist. Andere Webseiten wiederum bieten nur Abstracts an, und für die Volltexte muss man immer noch die Printversion abonnieren. Und wiederum andere, oft nicht in den Zitationsindizes befindliche kleinere Journale existieren nach wie vor nur als hard copy. Die Open-Access-Frage (und auch die verwandte OpenContent-Frage!) in der Wissenschaftskommunikation sollte dringend mit 177) http://www.unigesetz.at 178)
»Der Begriff des Plagiats kommt im Urheberrechtsgesetz (UrhG) nicht vor«: Daran erinnert ein Rechtsgutachten im Auftrag der Universität Wien (Gutachten »Plagiat im universitären Bereich«, 10. Februar 2006, fünf Seiten). Das Gutachten macht indes aber auch klar: »Handelt es sich um eine Urheberrechtsverletzung, ist diese an sich sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich verfolgbar.« (S. 4)
110 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
dem Google-Copy-Paste-Problem enggeführt werden. Wenn es grundsätzlich gewünscht wird, dass wissenschaftliche Zeitschriften nur noch online erscheinen und Volltexte für jeden frei zugänglich sind 179 (ein Argument wären ja immer auch die Einsparungen für Druck, Verlag, Vertrieb usw.), dann sollte die Diskussion über die Rezeptionsgewohnheiten bei Online-Texten jetzt voll einsetzen und die Frage nach den Änderungen in der »Referenzkultur« dringend mit diskutiert werden. Persönlich bin ich unentschieden: Einerseits möchte ich nicht in blinde Technophilie verfallen und den Prozess der Virtualisierung, der ohnedies von den großen Playern Google und amazon auf der Überholspur vorangetrieben wird, einmal mehr beschleunigen wollen, andererseits macht die Utopie einer voll digitalisierten Wissenschaftskommunikation sicherlich Sinn, wenn damit die automatisierte Überprüfbarkeit aller neu eingereichten Arbeiten auf die Einhaltung der guten wissenschaftlichen Praxis möglich wird.
12) Modelle des kulturellen Gegensteuerns: Einführung in »alte« bzw. »klassische Kulturtechniken« In einem Weblog in der Folge einer meiner »Telepolis«-Artikel über Plagiate las ich einen äußerst bedenkenswerten Vorschlag: »Eingerichtet gehört [...] dann noch ein Fach: Einführung in alte Kulturtechniken (mit der Hand schreiben, Zeitung lesen, Büchereien nutzen ...).« 180 Dieses Fach würde sich tatsächlich neben einer Einführung in die wissenschaftliche Arbeitstechnik in allen Disziplinen anbieten. Es würde genau jene Fähigkeiten umfassen, die derzeit tendenziell verloren gehen: Die Nutzung von real-materiellen Archiven und Bibliotheken; Quellenpräzision Nicht so sehr das schnelle, auf Hypertexte fokussierte überfliegende Lesen in Netzmedien, sondern das verlangsamte, konzentrierte, reflektierende und kritische Lesen von Printmedien (von Büchern über Zeitschriften bis zu Zeitungen) und Netzmedien 181 Das Exzerpieren (handschriftlich oder direkt in den PC getippt)
179) Als Beispiel seien die Online-Journals der »Public Library of Science« erwähnt:
http://www.plos.org. 180) http ://www.sinn-h aft.adweblog/weblogarchiv/0001 8 8 .html 181) Der Zug geht genau in die andere Richtung. Schlagwörter sind seit längerem eher »Turbolesen« oder »Powerreading«, und Anbieter im Netz versuchen Geld mit Trainings zu machen, die ihren Teilnehmern ein noch schnelleres Lesen versprechen, siehe etwa
http://www.scanreading.de. Lösungsansätze 111
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Das kritische Be- und Hinterfragen eines gelesenen Textes und Entwickeln darauf aufbauender eigener Ideen • Kreatives Schreiben (handschriftlich und am PC) • Das Vortragen/Referieren/Präsentieren ganz ohne Powerpoint und andere Medientechniken; klassische Rhetorik • Rationale Argumentationsführung bei Diskussionen und Kontroversen Ein vollständiger neuer Fachhochschulstudiengang könnte damit eröffnet werden: Close Reading, kreatives Schreiben, Argumentationsführung, Rhetorik ohne High-Tech. Würden die Absolventen eines solchen Studiengangs nicht von der Wirtschaft (und von der Wissenschaft, der Politik, den Medien ...) dringend gebraucht werden? Oder zählen nur noch Schnelllesen, Plagiate und bunte Effekte — Multimedia-Shows statt Tiefgang? In Österreich wird permanent ein neuer Studiengang zu neuen Medien erfunden, und alle reden von E-Learning, Micro-Learning, mobile Learning, Telematik, Mediamatik, Mediendesign usw. Wie wäre es mit einem Fokus auf die guten alten Kulturtechniken, auf die man offenbar heute nicht mehr bauen kann, weil sie in der Schule nicht mehr (ausreichend) vermittelt werden? 13) Alternativen zum derzeitigen Betreuungsprocedere Die Berliner Plagiatsexpertin Debora Weber-Wulff hat vorgeschlagen, dass Studierende nicht nur einfach ihre Abschlussarbeiten abgeben sollen, sondern immer auch den Prozess ihrer Entstehung mit dokumentieren müssen. Sie regt »Prozess-Portfolios« an, um den Akt des Recherchierens und Schreibens zu dokumentieren. 182 — Zwei Vorbehalte aus meiner Sicht: Zum einen können auch solche Dokumentationen sehr leicht gefälscht werden — wer will schon überprüfen, ob sich Diplomanden die angegebene Literatur tatsächlich in besagtem Zeitraum ausgeborgt haben oder an diesem oder jenem Tag wirklich wie angegeben brav geschrieben haben? Zum anderen sind wohl die jeweils individuellen Arbeitsrhythmen der Studierenden zu akzeptieren: Jemand, der in zwei Nächten 50 Seiten zu Papier bringt, muss deshalb nicht unbedingt gleich ein Plagiator sein. Auf alle Fälle ist es dringend geboten, das Betreuungsklima zwischen Lernenden und Lehrenden zu verbessern. In meiner Studienzeit waren Diplomanden- und Dissertantenseminare üblich, in denen bei weitem nicht nur langweilige Kurzreferate gehalten wurden (die erst recht wieder zu Copy/Paste verleiten). Vielmehr herrschte dort eine echte »Wissenschaftskultur«: Diplomanden und Dissertanten trugen ihre sich wandeln182) Debora Weber-Wulff, Gabriele Wohnsdorf, Strategien der Plagiatsbekämpfung, in: Information Wissenschaft & Praxis, Schwerpunkt »Plagiate & unethische Autorenschaften«, 57. Jahrgang, Heft 2/2006, S. 90-98, hier S. 96.
112 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
den Projekte frei vor, darüber wurde teils heftig diskutiert; und wir lasen sogar darüber hinaus noch Texte zur Wissenschaftstheorie und -ethik aus einem extra angefertigten Reader — heute eine kaum mehr denkbare »Zumutung«. (Der Linzer Kulturphilosoph Gerhard Fröhlich regte immer wieder an, die Studenten einen frei gesprochenen Vortrag über ihre Projekte oder fertigen Arbeiten halten zu lassen — dann würde man schnell merken, wer sich mit fremden Federn schmückt und wer nicht. Dieser Vorschlag ist ohne Zweifel vernünftig.) 14) Alternativen zu akademischen Abschlussarbeiten in der bisherigen Form Auch darüber sollte offen diskutiert werden: Ist eine akademische Abschlussarbeit im Umfang von 100 bis 500 Seiten mit üppigem Fußnotenapparat und mit der Grundstruktur »Einleitung — Theorieteil — Hypothesen — Empirieteil — Schluss« noch zeitgemäß? Oder könnte — freilich immer im Rahmen der wissenschaftlichen Belegkultur und der guten wissenschaftlichen Praxis — auch anders gearbeitet werden? Vielleicht sollten akademische Abschlussarbeiten deutlich kürzer werden, und dafür sollte wieder mehr aus der Feder des Autors stammen. Oder aber man ändert den Gesamtdiskurs, und Abschlussarbeiten hätten die Auflage, sich immer auch der Lösung eines gesellschaftlichen Problems aus Sicht der jeweiligen Disziplin zu widmen. Sie hätten dann also immer eine Verankerung im Sinne einer Praxisrelevanz — und zwar sowohl bei historischen Themen und bei rein theoretischen wie auch bei empirischen Arbeiten. Diese Kombination würde die Motivation, selbst zu texten, wohl deutlich erhöhen. (Diese Idee gilt freilich primär für die Kulturwissenschaften.) Gar nicht oft genug kann daran erinnert werden, dass es beim wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt nicht darum geht, lediglich ergoogeltes Wissen wiederzukäuen. Ein Klagenfurter Philosophie-Professor hat in einer Lehrveranstaltungs-Ankündigung daran erinnert: »Es geht weniger um die Vermittlung von langweiligen Definitionen und einer Fülle von Stoff, die auch eine einfache Recherche im Netz liefern kann, als vielmehr um eine kritische Auseinandersetzung mit den Problemen und Positionen der Wissenschaftstheorie mit Hilfe von aktuellen Beispielen.« 183 Es ist genau diese eigene kritische Auseinandersetzung mit dem Thema, die in der Textkultur ohne Hirn vielen Studierenden besonders schwer fällt. Gerade hier sollte angesetzt werden — in Form von Feedback-Trainings (Lernen, Kritik zu üben und auf Kritik zu reagieren), von Seminaren zu kreativem Schreiben etc. Freilich ist es logische Voraussetzung für sol183) http://www.uni-klu.ac.aduniklu/studienfivkarte.jsp?rlykey=48645 Lösungsansätze 113
tet wurde dass und nicht bloß eine oberflächliche Recherche. Und das berührt che Trainings, zuvor bereits eine theoretische Durchdringung geleiswieder Faktoren wie quellenkritisches Bewusstsein, Lesekompetenz und andere, die unter den »alten« Kulturtechniken genannt wurden. 15) Offenere Fehlerkultur bei den Betreuern Oft fehlt den Betreuern der Mut oder die Zivilcourage, sich ein übersehenes Plagiat einzugestehen. Ein nicht unbedeutender Punkt ist der Hang gewisser Wissenschaftler, Fehler lieber zu vertuschen. Dabei wäre es eigentlich kein großes Problem zu bekennen, etwas übersehen zu haben. »Lebenslanges Lernen« wird von gewissen Professoren für nicht relevant gehalten. Insofern lernen sie nicht aus ihren Fehlern, sondern verdrängen sie lieber. Einige Beispiele: Auf meine konkrete Anfrage, warum eine Salzburger Professorin einen nachweisbaren Plagiatsfall übersehen habe, erhielt ich lediglich eine allgemein gehaltene »Politiker-Antwort«: »So hoffen wir, diesem inakzeptablen Missstand besser entgegen wirken zu können, wenngleich wir wissen, dass wir auch damit das Problem nicht vollständig ausschließen können. Da ist es gut zu wissen, dass außer uns auch noch andere ein aufmerksames Auge auf 184 diese Dinge haben.« Auf meine Rückfrage, dass mit dieser Antwort aber nicht auf den angezeigten Plagiatsfall eingegangen werde, erhielt ich keine weitere Reaktion. (Einige Wochen später entschied ich mich in dieser Causa für den Gang an die Öffentlichkeit.) Nach meiner Entdeckung des »Wickie und die starken Männer«-Plagiats an der Universität Klagenfurt stellten sowohl der Institutsvorstand als auch der betreuende Professor das Plagiat öffentlich in Abrede, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits 25 Seiten der Arbeit als eindeutiges Netzplagiat nachweisen konnte. »An diesen Vorwürfen ist nichts dran«, wurde Institutsvorstand Matthias Karmasin zitiert. 185 »Von einem Plagiat kann keine Rede sein [...]«, hieß es tags darauf. 186 Die Vorwürfe seien »völlig unzutreffend«, meinte auch Betreuer Rainer Winter. 187 Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits mehrere Plagiatsfälle aufgedeckt, und in drei Fällen war damit auch die Aberkennung eines akademischen Grads verbunden. Es war also nicht davon auszugehen, dass ich lüge oder 184) E-Mail vom 23. September 2005. 185) »Kleine Zeitung«, 12. April 2006. 186) »Kurier«, 13. April 2006.
187) http://www.ots.at/presseaussendung.php?schluessel=0TS_20060412_0TS0036&ch= medien 114 Die Austreibung des Geistes aus der Textproduktion
auch nur übertreibe (im Folgenden stellte sich ja heraus, dass in der Diplomarbeit noch viel mehr abgeschrieben wurde). Gäbe es an den Universitäten eine transparente Fehlerkultur, dann hätte man das Plagiat zumindest nicht kategorisch in Abrede gestellt, sondern zuerst eine genaue Prüfung durchgeführt und dann Stellung bezogen. Selbst diese erneute Prüfung wurde zunächst vom Institutsvorstand Matthias Karmasin öffentlich abgelehnt. Man kann nur hoffen, dass sich diese — mutmaßlich weiter verbreitete — reflexartige Zurückweisung eines begründeten Plagiatsvorwurfs nur in der Öffentlichkeit vollzieht. Würde das Wissenschaftssystem intern genauso funktionieren, wäre es mit seiner Selbstreinigungskraft nicht sehr gut bestellt, und ein Gang an die Öffentlichkeit wäre bei Fehlverhalten von vornherein unvermeidbar. 16) Übergeordnete Qualitätskontrolle versus Universitätsautonomie? Diese Überlegung führt zur Frage, ob in allen Fällen überhaupt universitätsinterne Gremien wie Ombudsstellen, Schlichtungsstellen, Ethik- oder Disziplinarkommissionen ausreichen, um Plagiatsfälle lückenlos aufzuklären und für die richtigen Konsequenzen zu sorgen. Vielleicht sollte auch über nationale übergeordnete Stellen zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis nachgedacht werden. Diese würden zwar dem derzeit tonangebenden Paradigma der vollen Universitätsautonomie widersprechen, aber vielleicht hat ja diese nicht nur Vorteile gebracht. Es ist auch keine befriedigende Situation, dass derzeit die Evaluation der einzelnen Hochschulen vorwiegend den Hochglanz-Magazinen mit ihren Uni-Rankings überlassen wird. Wenn es etwa in Österreich — nach amerikanischem Vorbild — einen »Student Council« gibt, der sich mit Beschwerden von Studierenden beschäftigt, dann sollte es meines Erachtens auch eine zentrale Anlauf- und Beschwerdestelle für wissenschaftliches Fehlverhalten geben (wie etwa auch in Deutschland den »Ombudsman der DFG« 188 ).
188) http://wwwl.uni-hamburg.de/dfg_ombud Lösungsansätze 115
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Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
»Zu Pessimismus besteht kein Anlass.« Editorial des Sammelbands »Websprache.net«, 2005 »Von einem Verfall der Sprache könne man deshalb nicht sprechen.« Pressemeldung zur Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache, 2005
»Und sie dreht sich doch«, soll Galilei gesagt haben. Heute droht zwar kein Todesurteil mehr, aber immer noch herbe Kritik, wenn man über die neuen Medien sagt: »Und sie verdummen doch.« — Hasse ich die Netzmedien? Bin ich am Ende ein Internet-Illiterat, so wie jene Professoren, die den Computer ablehnen, weil sie ihn nicht bedienen können? Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich liebe die neuen Medien. »Welcome to the Wired World« grüßte die Linzer »ars electronica« 1995, und ich war — wie schon seit Jahren — euphorisch mit dabei. 1998 habe ich dann selbst Hand angelegt, eine eigene Website eingerichtet und eine wissenschaftliche Mailingliste betrieben. Mittlerweile sehe ich um mich herum — und vor allem an den Schulen und Universitäten — die massiven Nachteile, die die neuen Medien gebracht haben. Diese schonungslos im Kontext des Plagiatsproblems anzusprechen, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte dieses Buchs. Beginnen möchte ich mit der Frage: Wie sieht ein typischer Morgen in Ihrem medialisierten Leben aus? Entweder Sie drücken nur einen Knopf, um multimedial angeschlossen zu sein, oder noch viele einzelne: also Computer einschalten, E-Mails abrufen — freilich von allen Mailadressen, eventuell Google News-Suche, durch den Videotext online oder am TV-Gerät durchzappen, die morgendlichen Fernsehnachrichten angucken, Handy auf laut stellen, eventuell das Festnetztelefon auf laut stellen, den CD-Player oder iTunes am PC anwerfen — noch nicht genug, was fehlt noch? Vielleicht die Digitalkamera, der eigene Weblog, das eigene Profil auf der Online-Partnerbörse, Gästebucheinträge lesen, kurz mal in den Chat, die Spielkonsole, der PDA und bald das eBook — der »Readius« oder das »Librie« ? Zählen Sie es einmal zusammen: Wie viele Mediengeräte besitzen Sie? Und wie viele Medienkanäle bedienen/ konsumieren Sie? Hatten Sie auch schon einmal das Gefühl, dass das in der Summe zu viele Medien sind? Erweitern wir mit dieser Medialisierung — um 117
mit Marshall McLuhan zu sprechen — tatsächlich unser Nervensystem, oder erweitern sich umgekehrt die Medien — um mit Arthur Kroker zu sprechen — gleichsam memetisch-parasitär mit Hilfe von unseren Nervensystemen (und die Medienindustrie darf sich freuen)? Welche Medien brauchen wir, um gut zu leben, und welche sind eigentlich obsolet? Viele unserer Mediengeräte und -kanäle nagen permanent an der Konzentration, sorgen für einen dauerhaften Multi-Channeling-Zwang, der zu Stressreaktionen führt. Dazu gibt es mittlerweile eine Reihe glaubhafter Untersuchungen. Das Google-Copy-PasteSyndrom (GCP) ist ein — besonders bedrohlicher — Auswuchs der neuen Medien. Es geht einher mit einem Verlust an Sprachkompetenz, an Lesekompetenz, mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Die Hoffnung, dass mit dem global brain Zeit und Energien frei werden für sinnvollere Tätigkeiten (als etwa das Eintippen von 100 Seiten Diplomarbeit), hat sich nicht erfüllt. »Alles wird immer schlimmer«, sagen heute nicht mehr nur die Neomarxisten, die die — zweite, dann »richtige« — sozialistische Revolution noch erleben wollen. 189 Was geschieht in unserer Kultur gegenwärtig durch die Auslagerung unseres Wissens in die Netzmedien? Die folgenden Abschnitte sind kein Pamphlet gegen die Medien. Sie sind ein Pamphlet gegen zwei Selbstverständlichkeiten, die sich sowohl im (medien-)wissenschaftlichen Denken als auch in unserem Common Sense tief eingenistet haben. Diese beiden Selbstverständlichkeiten sind: 1) Ein Immer-mehr-an-Medien ist der natürliche, quasi von der Evolution bestimmte Lauf der Dinge. Diese Entwicklung kann nicht gestoppt werden. Jeder Versuch, die Marschrichtung zu stoppen, wäre anachronistische Naturromantik, konservatives Retro-Bewusstsein und damit nicht der Zeit entsprechend. 2) Ein Blick zurück auf 2000 Jahre Medialisierung zeigt, dass die warnenden Stimmen immer unrecht hatten: Die Schrift hat nicht am Gedächtnis der Menschen genagt, das Buch hat nicht zur Vereinsamung geführt, die televisuellen Bilder haben den Menschen nicht seines Verstands beraubt, also sind auch alle derzeitigen Befürchtungen in Bezug auf die neuen Netzmedien unbegründet. Und ja, es ist durchaus möglich, dass sich meine Worte in zehn oder erst recht in 50 Jahren anachronistisch anhören werden, weil wir längst in der voll digitalisierten Welt leben und alle Alternativen vom Tisch sind. Die Triebfeder dieses Buchs sind jedoch gegenwärtige Probleme (Stichwort GCP). Es mag sein, dass diese in einigen Jahren oder Jahrzehnten auch gelöst sein werden, durch 189) So ein Salzburger Universitätsprofessor im Gespräch.
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mehr oder durch weniger Medialisierung; genau dann hätte dieses Buch seinen Zweck erfüllt. — Geht es um ein »Wir amüsieren uns zu Tode« für die Generation Google? Eigentlich wäre dieser Vergleich fast ein Kompliment. »Antimedialismus« im Denken wird zumeist als etwas verstanden, das es zu überwinden gilt. Ein Naserümpfen in Anbetracht der neuen Medien gilt generell als verpönt. Der Medienphilosoph Frank Hartmann schreibt etwa: »Das Nachdenken über Medien als Bedingung für das Denken und die Kultur findet sich bei den auf Wahrheit verpflichteten Philosophen von Anfang an. Meist jedoch in Form eines strikten Antimedialismus, der die Medien als etwas wahrnimmt, das nur Oberfläche, Suggestion, Simulation produziert und somit den Blick aufs Wesentliche verstellt. So in Platons Dialog Phaidros, der die schon nicht mehr ganz junge Erfindung der Schrift als etwas kritisiert, das negative Folgen für das 190 menschliche Gedächtnis zeitigt. « Die betreffenden Passagen bei Platon werden gerne zitiert, wenn es um einen »Beweis« für eine von der späteren Geschichte widerlegte Einschätzung eines neuen Mediums geht. Daraus wird dann oft abgeleitet, dass Medienpessimismus immer fehl am Platz sei. In Platons »Zwiegespräch über die Redekunst« sagt Sokrates zu Phaidros: »Denn wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde191 Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft.« Betrachten wir diese Stelle nüchtern, so zeigt sich, dass diese Behauptung so falsch nicht ist: Es ist ohne Zweifel anzunehmen, dass in rein oralen Kulturen die Mnemotechnik eine wichtigere Rolle spielte als in literalen Kulturen. Was nicht schriftlich festgehalten, sondern nur oral tradiert wird, muss memoriert werden. Dieser Gedächtnisfundus oraler Kulturen ist durch die Schrift verloren gegangen. Mediale Innovationen bringen somit nicht nur einen Gewinn (die schriftliche Fixierung), sondern auch einen Verlust. Aus dieser Aussage einen Medienpessimismus oder Antimedialismus heraus zu lesen, der dann für den gesamten weiteren Verlauf der abendländischen (Medien-)Philosophie bestimmend gewesen wäre, ist eine Interpretation, die ich nicht nachvollziehen kann. — Sokrates bemerkt des Weiteren:
190) Frank Hartmann, Medienphilosophische Theorien, in: Stefan Weber (Hg.), Theorien der Medien: Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz 2003, S. 294-324, hier S. 298. 191) Platon, Phaidros oder Vom Schönen, Stuttgart 1979/2002, S. 86.
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»Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber etwas fragst, so schweigen sie stolz. Ebenso auch die geschriebenen Reden. Du könntest glauben, sie sprächen, als ob sie etwas verstünden, wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an.« 192 Sokrates spricht hier also die negativen Effekte einer medialen Fixierung/Aufzeichnung an und vergleicht diese mit der Malerei. Heute würde man sagen, die mediale Bilderwelt töte die eigene Imaginationskraft, die visuelle Fantasie ab. In der Mutation/Transformation einer jeden mündlichen Rede im Akt der Überlieferung wird gerade ein Gewinn gesehen. Auch dies kann man eigentlich schwerlich bestreiten, und erneut stellt sich für mich die Frage, welche Lesart der betreffenden Textstellen eigentlich der Anlass dafür war, diese als Ausgangspunkt des abendländischen Medienpessimismus — und vor allem seines grundlegenden Irrtums — zu sehen. 193 Die Beweiskette für den fortwährend irrenden (und gleichwohl beständigen) Antimedialismus geht dann weiter von Platons Höhlengleichnis über Kants Bilderkritik bis hin zu Postmans Fernsehkritik, um es etwas verkürzt darzustellen. 194 Eine Denkvoraussetzung sitzt somit tief in unseren Köpfen: Der Medienkritik haftet ein gewisser Mief an, nämlich jener, dass sie nur von einem sich irrenden, adaptionsunfähigen Schöngeist kommen könne, der sich ein Urteil über eine Medieninnovation erlaubt, das von der Zukunft in allen Fällen widerlegt werden wird. 195 Wie erwähnt, wird in der Medienwissenschaft gerne vom »Riepl'schen Gesetz« gesprochen, wonach neue Medien alte nicht verdrängen würden. Einige Wissenschaftler sagen heute, dass dieses Gesetz im Online-Zeitalter definitiv überholt sei. Aber vielleicht ist auch das »Gesetz« vom sich immer irrenden Medienpessimismus heute überholt? Wenn wir auf die achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückblicken, sehen wir genau das Gegenteil: Ungebremste Euphorie in Bezug auf die Ankunft des »Cyberspace«, des »Datenhighways« — wie zunächst die 192) Platon, Phaidros oder Vom Schönen, Stuttgart 1979/2002, S. 87 f. 193) Das unorthodoxe Lesen der griechischen Philosophen habe ich auch — inspiriert von Silvio Ceccato — an anderer Stelle versucht, und zwar mit den Vorsokratikern und deren dualistischer Voraussetzung von Ding und Empfindung des Dings bzw. von Objekt der Wahrnehmung und Wahrnehmung des Objekts, vgl. Stefan Weber, Non-dualistische Medientheorie: Eine philosophische Grundlegung, Konstanz 2005, S. 84 ff. 194) So aber auch Frank Hartmann, Medienphilosophische Theorien, in: Stefan Weber (Hg.), Theorien der Medien: Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz 2003, S. 294-324, hier S. 298 ff. 195) Wir könnten nun auch sehr radikal fragen: Ist die Welt überhaupt durch die Medialisierung in den vergangenen 2000 Jahren »besser« geworden? 120 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
Metaphern hießen. Einige Theoretiker träumten von der Fusion von Internet und Virtual Reality (was ist eigentlich daraus geworden?), das immersive Eintauchen in das Netz wurde mit diversen Drogenerfahrungen verglichen (Timothy Leary und Co.), die Psychedelic-Ära der Sechziger feierte ein kurzes Revival, und ich kann es bestätigen: Netzkunst war am Anfang wirklich spannend und subversiv, und die Pionierzeit im Netz eine atemberaubende Erfahrung. Aber was ist heute daraus geworden? Multimedia-Pioniere wie etwa das Künstlerduo »Station Rose« verwenden etwa ungebrochen den Slogan »Cyberspace is our land« in ihrer Kommunikation nach außen. Doch ist er das noch, ist der Cyberspace noch das Terrain gewisser Künstler? (Gibt es überhaupt den »Cyberspace« ?) Oder wirken solche Behauptungen im Zeitalter von iPods, amazon, Wikipedia, der Generation Google und digital literacy ein wenig anachronistisch? Der Technologieforscher Karl Kollmann erinnert in einem ungeschminkten Aufsatz daran: In den neunziger Jahren gab es die weit verbreitete Utopie, dass die so genannten »neuen Medien« »eine neue Kommunikativität und demokratischere Diskussionskultur« mit sich bringen würden, dass sie generell die »Qualität der Kommunikation« verbessern würden. 196 Doch in welchen Bereichen gab es eine Qualitätsverbesserung? — Kollmanns Fazit ist unmissverständlich: » Während in der Frühphase der EK [Elektronischen Kommunikationsformen — Anmerkung] die diskursive Kommunikationsform überwog und häufig auch als Erweiterung und Demokratisierung von Kommunikation im Sinn eines >consumer empowerment< oder >citizen empowerment< verstanden und erwartet wurde, dominieren heute quantitativ offenbar die zwei neuen >verknappten< Formen, die einerseits instrumentellen, andererseits aufmerksamkeitsorientierten Charakter haben. Beide mögen wohl eine Steigerung der Effizienz in der Kommunikation bringen, ob aber auch eine Verbesserung der Lebensqualität der Beteiligten, bleibt fraglich.« 197 Aus heutiger Sicht würde ich sogar die Steigerung der Effizienz von Kommunikation in Abrede stellen. Viele Pioniere und Euphoriker aus den Anfangstagen des Netzes sind heute frustriert: In Mailinglisten haben sich etwa Phänomene wiederholt, die auch von den traditionellen Massenmedien bekannt sind (bei diesen ist von opinion leaders die Rede, in den Mailinglisten waren es die RAMs, die radical active members, die so lange den Ton angegeben hat196) Karl Kollmann, Veränderungen in der Elektronischen Kommunikation: Was die quantitativen Nutzungszahlen bei den Neuen Kommunikationstechnologien nicht verraten ..., in: Forum Qualitative Sozialforschung, http:/l/www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00kollmann-d.pdf, 2000, hier S. 1 f. 197) Karl Kollmann, ebenda, S. 9.
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ten, bis sie ganze Listen zu ihren Privataffären verwandelten und schließlich zum Einschlafen brachten). Netzkunst und Netz»kritik« existieren heute, damit es weiter Subventionen für sie gibt. Von kritischem oder subversivem Potenzial ist wenig zu spüren. Ein künstlerischer Kommentar zur zeitgenössischen Copy/Paste-Kultur bzw. zur Generation Google findet höchstens als Affirmation der Sampling-Kultur statt. Im Folgenden möchte ich mir deshalb einige Nutzungsweisen der neuen Medien — wie auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Nutzungsweisen — etwas genauer ansehen. Der Verdacht lautet, dass sich weder die Nutzung der neuen Medien noch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Nutzung qualitativ verbessert hätten — ganz im Gegenteil. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass die neuen Medien unsere Lebensqualität in vielen Bereichen verschlechtert haben (und damit auch die Textqualität und die Qualität der Wissenschaft, die sich mit den neuen Medien beschäftigt). Die weiterreichende These lautet: Einer Textkultur ohne Hirn leistet nicht nur der gegenwärtige grassierende Netzplagiarismus Vorschub. Cyber-Neusprech bzw. »Weblisch«, Chat- und SMS-kontaminiertes Bewusstsein, affirmative Bagatelle-Forschung, Technophilie und Bullshit-PR für neue Medien schaffen ein Milieu, in dem eine Kritik des Internets systematisch ausgeblendet wird und wir uns unaufhörlich und immer deutlicher in eine allgemeine Abwärtsspirale des Niveauverlusts hineinbewegen. Ich beginne meinen Streifzug mit dem Neusprech des Internet-Zeitalters, mit »Weblisch«.
5.1
»?©h b®aüchö , dicli< wiö di€ £üft iüm ätmör;1«: Copy/Paste bei Weblisch-Formeln
»vOI kr@$$« oder »He Hasch du msn?? KiZz :)« oder: »ej gurlie ...... thiz iz ma new nP..... merk dir tallu ui I 1 bye bye hoLLa bäQ phAtTE saCHE ...... nExt WeEk yEahH mAnn mOfA iA iA luV uh sO enDlezZ«: Liest sich ein bisschen wie eine Parodie auf die Cyber-Generation, stammt aber alles aus Nickpages von Jugendlichen und dürfte somit durchaus ernst gemeint gewesen sein. Das Kind hat derzeit viele Namen: Weblis(c)h, Netlis(c)h, Websprache, Cyber-Neusprech, Cyberspeak, Cybertalk, Netzjargon, computer slang, kidtalk — 198 Medienpädagogen, Jugendkundler und Sprachwissenschaftler wollen uns klarmachen, dass es sich hierbei um »kreative Ausdrucksweisen«, um »Protest gegen korrekte Schreibweisen« oder einfach um ein »spielerisch198) Zu ergänzen wären natürlich Leetspeak, 1337 (leet) u. a. Von mir selbst stammen noch Tastaturisch bzw. Keyboardisch, siehe http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19751/1.html. Des Weiteren zum Thema augenzwinkernd http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19497/1.html.
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lustvolles Herumexperimentieren mit Sprache« handle. 199 Partikulär gesehen mag dies alles stimmen (und Wissenschaftler, insbesondere die Medien- und Kulturwissenschaftler, haben einen Hang zum Partikulären und verlieren dabei gerne den Gesamttrend aus den Augen). Was aber geschieht, wenn die »normale«, elaborierte Schriftsprache gar nicht mehr erlernt wird, sondern gleich eine Einübung in die so genannte »Leetspeak« erfolgt?" ° — In der Medienberichterstattung wird entwarnt: »Das Ende der deutschen Sprache ist dennoch nicht zu befürchten: [...] >Die Jugendlichen probieren einfach einen kreativen Umgang mit der Sprache< [...]. Dieses Wandeln zwischen sprachlichen Stil-Ebenen ist für eine Generation selbstverständlich, die es gewohnt ist, sich Aufsätze aus vielen verschiedenen Internet-Quellen zusammenzustoppeln. «201 Die Ideologie der allgemeinen Entwarnung — und damit letztlich immer: eines Bestreitens der Niveauverlusts- und Verdummungsthese — ist in den Massenmedien und vor allem in der Wissenschaft oft derart tonangebend, dass sich kritische Stimmen fast schon ketzerisch oder esoterisch anhören. Dazu folgendes Beispiel: »Andererseits wird eine Sprachverwilderung produziert, die dem Bewusstsein Schaden zufügt. Die Zeiten, in denen etwa ein Briefschreiber um Stil gerungen hat und um Diktion bemüht war, scheinen vorbei zu sein. Kommuniziert wird mit Hilfe von Silben und Kürzeln. An die Stelle sprachlich differenzierter Sätze tritt eine Message, die an Gebell gemahnt. Im Vergleich zum Cyberspeak ist Orwells >Neusprech< eine Literatursprache! Und selbst die Sprechblasen der Comics haben mehr Fleisch als die Kürzel der Chatter. Was, bitte, bedeutet etwa die folgende Message: Hi — *g* — Mobitel — CU — *1 0 1*, ? « 202 199) Zwei Beispiele: In einer Mail an mich spricht eine Medienpädagogin von »neuen kreativen Sprachformen« (E-Mail vom 23. Mai 2005). Im Zusammenhang mit dem österreichischen »voi oag/voi geil/voi krass etc.«-Mem (voi = voll) meinte ein Sprachwissenschaftler: »Das ist ein spielerischer Umgang mit Sprache.« Siehe
http://www.heise.de/tp/r4/artike1/19/19524/1.html. 200) Leetspeak: Begriff für die Ersetzung normaler Buchstaben durch Zahlen, Sonderzeichen und Symbole. Siehe auch Robert Sedlaczek, leet & leiwand: Das Lexikon der Jugendsprache, Wien 2006; Stefan Weber, »Däs hier iz MaiNe LaYdee söu sweet«. Phänomen Cyber-Neusprech: Zum (rasenden) Sprachwandel durch den Netzjargon, in: Medienimpulse — Beiträge zur Medienpädagogik, Heft 53, Themenheft »PISA und Medienkompetenz«, 2005, S. 28-38, auch online unter http://www.mediamanual.at/ mediamanual/themen/pdf/medien/53 _Weber_Phaenomen_Cyber_Neusprech.pdf. — Beachtenswert ist u. a. die enorm rasche internationale Verbreitung dieses Phänomens. 201) »Salzburger Nachrichten«, 15. Juni 2005, S. 3. 202) Manfred Schlapp, Reelle und virtuelle Stiere, http://www.uibk.ac.atIvoeb/om64.html#schlapp, 1999.
»ieh bOaüghe >di0( wie die £üft zÜm ätmeN« 123
Wir dürfen an dieser Stelle nie vergessen: Sowohl Entwarnung als auch Warnung sind zunächst Behauptungen, die oft ideologisch durchdrungen sind oder — wie im Falle der Massenmedien — einfach unreflektiert von Wissenschaftlern oder »Experten« übernommen werden. Aber auch zahlreiche Wissenschaftler sagen einfach nach, was andere vorsagen: dass das »Abendland nicht untergeht«, denn das haben ja schon die Griechen prophezeit, und die Erde drehe sich nachweislich immer noch; dass die These vom Sprachverfall »falsch« sei; dass man überhaupt mit dem »Verlustvokabular« nicht weiterkomme etc. — Aber was sagen diese Ideologen der Entwarnung im Subtext? Letztlich doch, dass alles immer besser werde. Dies ist aber nichts anderes als die Hinnahme jeder Entwicklung, die Affirmation von allem und jedem, oder genauer: Die Wissenschaft verspielt von vornherein ihr kritisches Potenzial und überlässt die medienkulturelle Entwicklung der Unterhaltungs- und High-TechIndustrie sowie spontan-emergenter (nicht steuerbarer) Sprünge im Medienverhalten der Menschen. Nun gibt es aber sehr wohl empirische Untersuchungen, die NegativSzenarios stützen: Untersuchungen zur Zunahme des Arbeits- und Freizeitstresses durch die neuen Kommunikationstechnologien, zum Problem der Info-Flut, zur Internetsucht, zu Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen bei Schülern, zur sozialen Isolation, zur Abnahme der Lesekompetenz bei Schülern, sogar zum Zusammenhang zwischen E-Mail-Nutzungsintensität und Intelligenzquotient etc. Wie werden diese Befunde von den Ideologen der Entwarnung interpretiert? Dazu komme ich im nächsten Abschnitt ausführlicher, an dieser Stelle zurück zum Phänomen des Weblisch: Noch viel alarmierender als Leetspeak, als Dialektales in der Schriftsprache, als Sternchen-Akronyme wie *fg* oder Inflektiv-Konstruktionen wie *freu* ist jedoch die unübersehbare Tendenz zum Formularischen: Immer mehr junge Computeruser (und vor allem auch Simser) übernehmen wortidentisch Sprüche und Slogans in ihren Botschaften. Text-Appropriation wird hier schon früh eingeübt. Einige Beispiele: i©h b®a4he »AH« wie diE £üf t iüm ätmerS1 ihR LaaChT miiCh aLLe aus weiiL iiCh anDeeRs Bin iiCh LaaChe { euuCh } auus weiiL iihR aLLe GLeiiCh seiiD. kkiN MA$ch IST aine TräI werT ünD dtr eiNzia deR weRT iSt wirD a aü,§, daFür TüN da$S Dü Ritma£S weil n müS $T
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[ Du ] denkst [ Ich ] bin eine TuSSi!? WARUM !? Nur weil ich etwas aus meinen Aussehen und meiner Intilligenz mache!? BaBy das was du zeigst ist PURER*** NEID * * *!! 203 Interessant ist gerade beim letzten Beispiel auch die Beobachtung, dass durch Copy/Paste bei SMS- und Nickpage-Formeln gedankenlos Fehler ( »Intilligenz« ) weiter verbreitet werden. Man wird schwerlich bestreiten können, dass die Aneignung dieser Formeln den User davon entlastet, sich selbst kreativ den Kopf über einen Slogan oder ein Motto zerbrechen zu müssen. Die Jugendlichen lernen bereits hier, Formeln von unbekannter Herkunft als Ausdruck eigener Befindlichkeit, als eigenes Statement auszugeben. Es handelt sich gleichsam um »first steps« in Sachen Copy/Paste. Eine Kritik dieser Praxis stünde ganz in der Tradition von Platons Phaidros. So wie Sokrates die Schrift als etwas kritisiert hat, das dem Gedächtnis schadet, wäre das memetische Wuchern des Formularischen in der Leetspeak-Kultur als ein Prozess zu deuten, der sowohl kognitive Unterforderung (und nicht: »Entlastung«) mit sich bringt als auch die Einübung von Textklau in seiner rudimentärsten Art erlaubt. Das Formularische ist ein typisches Kennzeichen oraler Kulturen. 204 Es ist interessant, dass es nunmehr im Leetspeak bzw. Internet-Neusprech in 203) Beispiele aus http://www.websing/es.at und h ttp://www.uboot.com. Diese Texte wurden freilich nicht von jedem neu mühsam mit dem Sonderzeichensatz eingetippt, sondern wandern wie Meme herum. 204) Walter J. Ong, Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 30 ff. und S. 39 ff. — Weitere Eigenschaften oralen Denkens sind nach Ong: Redundanz und Nachahmung anstelle von Originalität, Situativität anstelle von Abstraktion, Emotionalität statt Objektivität, Nähe zum Alltag, kämpferischer Grundton u. a. Es bleibt zu hoffen, dass damit nicht auch die typischen Eigenschaften der Generation GoogleCopy-Paste beschrieben sind, denn dies wäre ein Rückschritt in der intellektuellen Entwicklung um mehr als 2000 Jahre. Ong weiter: »Orale Kulturen pflegen Begriffe in einem situativen, operativen Bezugsrahmen anzuwenden, der wenig abstrakt ist, so dass sie dem Leben der Menschen nahe bleiben.« (Ebenda, S. 54) Hoffentlich sind damit nicht auch die Formuliergewohnheiten und Schreibpraxen gewisser Mickymaus-Forscher im Umfeld der Cultural Studies bzw. ihrer dubiosen »Alltagsforschung« charakterisiert.
»iCh b®aüOe >de< wie di€ £üft 2C1rn ätrnM« 125
dieser Form wiederkehrt. Dass mit ihm eine weitere intellektuelle Verflachung einhergeht, erscheint mir evident, obwohl es konkret zu diesen aktuellen sprachlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Kognition noch keine verlässlichen Untersuchungen gibt. »hey mOoii mauSuiii vieL wons des hiaZz list donn .... guad....woiid frogn das mid uns kinoO GEST OWA DU HOIST NID OGHEB TJoO HDGDL NADII gema amoOi zom weida gest mid uns am sa zell seefest und donn woicha dorffste...p1Zz ldd i ruaf dii amoOi viel ruafst du mi hiaZ oh ld«: 205 Ist die Befürchtung ganz unbegründet, dass jemand, der zumindest in den neuen Medien auf diese Weise schreibt (siehe auch Abb. 10), Schwierigkeiten mit der Grammatik in der herkömmlichen Sprache haben wird oder hat? Wird es später möglich sein, den Autor dieser Zeilen etwa während des Studiums zu einer halbwegs akzeptablen Wissenschaftsprosa zu bringen? Zweifel dieser Art sollten meines Erachtens dringend von Sprach- und Medienwissenschaftlern diskutiert werden. Doch das Weblisch grassiert, ohne dass die Wissenschaft dem Phänomen allzu viel Beachtung schenken würde. Abb. 10: Leetspeak-Formularisches auf uboot.com:
Quelle: http://xxxkiffertussixxx.uboot.com
205) http://dreamkiss2004.uboot.com
126 Textkultur ohne Hi rn statt Global Brain
Und hier noch eine Klarstellung: Mir geht es weder um die Wiederherstellung der Oralität noch um die Rettung der Literalität. Weder gehe ich davon aus, dass die Schrift alle Vorteile der oralen Kultur zerstört hätte, noch sehe ich die Schrift als unvermeidliche, nicht hintergehbare Form des sprachlichen Ausdrucks. Mir ist sehr wohl bewusst, dass in Zukunft vermehrt Formen der nicht schriftlichen sprachlichen Kommunikation zum Einsatz kommen könnten, etwa über automatische Stimmerkennung, Bild-Telefonie und RealtimeVideo-Konferenzen. Erneut erinnere ich daran, dass es mir hier um eine Problemanalyse in der gegenwärtigen Zeit geht: um ein derzeit grassierendes Phänomen (das GCP-Syndrom); aber auch um ein meines Erachtens viel zu wenig reflektiertes Heranwachsen der Jugend mit einer Vielzahl an Medien, die immer (positiv) als Instrumentarien der kognitiven Entlastung oder (negativ) als Wegbereiter des Niveauverlusts und Kulturverfalls interpretiert werden können. Derzeit, so mein Argument, überwiegen sehr deutlich die negativen Aspekte, und dem müssen sich Wissenschaft, Massenmedien und Öffentlichkeit deutlicher als bisher stellen. Weblisch, fragmentarische Chat- und SMSKommunikation sowie Bullshit-PR für neue Medien sind die Rahmenfaktoren, die Kontextbedingungen des GCP-Syndroms. Sie erschweren eine Kritik an den GCP-Praktiken und schaffen ein Milieu, in dem sich das GCP-Syndrom ohne großen Widerstand fortpflanzen kann.
5.2
SMS-, Mail- und Chat-kontaminierte Lese- und Schreibkultur
Die Medien- und Sprachwissenschaftler haben ihre Einschätzung in den vergangenen Jahren kaum geändert: Kultur- und Medienpessimismus sowie diverse Verfallsszenarien irren. Wer diese dennoch äußert, ist entweder verstaubter Alt-68er oder unwissender Journalist. Besonders letztere Annahme passt gut in die medienwissenschaftliche Vorstellung von Journalismus. Kulturwissenschaftler zitieren gerne aus Zeitungen und »beweisen« dann, dass die Journalisten Unrecht hatten. Einige Beispiele: Eine Sprachwissenschaftlerin kommentiert wie folgt kritisch einen Artikel aus der »Zeit «: »Vertreter einer kulturpessimistischen und medienkritischen Sichtweise befürchten die Vereinzelung des Individuums, einen Verlust von Sprachund Kommunikationskompetenzen, ja sogar eine >ernsthafte Bedrohung der Sprachfähigkeit des Menschen< [...]. [...]
SMS-, Mail- und Chat-kontaminierte Lese- und Schreibkultur 127
Explizit formuliert dies Böhme [...]:
>Lesen, das verlangt intuitiv den Sinn eines Textes im Ganzen zu erfassen, um ihn von daher in seinen Eigenheiten zu verstehen. Studenten dagegen geben heute, aufgefordert zur Interpretation eines Textes, Paraphrasen entlang einer Reihe hervorgehobener Stichworte [ab]. Schreiben, das hieß, eine Idee argumentativ oder erzählend [zu] entfalten. Studenten heute, die beispielsweise Seminararbeiten schreiben müssen, geben eine Art Patchwork ab, einen Flickenteppich von Zitaten und aphoristischen Überlegungen. Auch hier: das Resultat der Arbeit mit Computern. Man speichert ab, was man liest, gibt ein, was einem ein fällt, und am Ende wird ein Text zusammengeschnitten.< Vernichtend fasst Böhme zusammen:
>Diese Unfähigkeit muss irgendwo herkommen: Es ist etwas Wesentliches geschehen. Und dieses Wesentliche ist der Umgang mit Computern.< Die hinter dieser kritischen Position stehende Befürchtung spiegelt die Sorge wider, durch den Gebrauch des Computers seien Kommunikationskulturen bedroht, die grundlegende Fundamente kultureller Identität darstellen. «206 Ist die Sorge von Gernot Böhme — veröffentlicht 1999 in der »Zeit« — in Anbetracht der heutigen Copy/Paste-Kultur unbegründet? Hat sich nicht hier vielmehr die Wissenschaftlerin Caja Thimm geirrt? Böhme beschreibt genau jene Textkultur ohne Hirn, in der die akademische Welt heute angekommen ist: Gedankenlose Paraphrasen und wüstes Web-Sampling (auf der Basis von GCP) anstelle von eigenen Ideen und eigenen Formulierungen (auf der Basis von Texten, die korrekt zitiert werden). 1999/2000 waren das Copy/PasteProblem und der sich langsam abzeichnende Netzplagiarismus noch kaum ein öffentliches Thema, umso »prophetischer« klingen die Aussagen Böhmes. Mittlerweile ist dies anders, und man könnte meinen, die Sprach- und Medienwissenschaftler hätten dazu gelernt. Doch in dem Sammelband »Websprache.net« (2005) finden sich dieselben diskursiven Strategien wie bei Thimm. Es werden einige Sätze aus den Massenmedien zitiert, um anschließend darauf hinzuweisen, dass die Sorge um den Sprach- und Kulturverfall bloß eine Skandalisierungsrhetorik der Medien sei und sie deshalb unbegründet wäre: .
206)
Caja Thimm, Einführung: Soziales im Netz — (Neue) Kommunikationskulturen und gelebte Sozialität, in: Dieselbe (Hg.), Soziales im Netz: Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet, Opladen — Wiesbaden 2000, S. 7-16, hier S. 9.
128 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
»>Richtige Grammatik ist [...] zur Glückssache geworden, vom orthografischen Durcheinander seit der Rechtschreibreform ganz zu schweigen. Die Handy-Kurzmitteilungen und der E-Mail-Verkehr haben bereits ihre Spuren hinterlassen: Eine eilige, phonetisch gebrauchte Umgangssprache verdrängt die korrekte Schriftsprache< (Neue Osnabrücker Zeitung vom 29. 11. 2003). Gegenüber hartnäckig festsitzenden Vorurteilen, die die Folie kulturpessimistischer und sprachpuristischer Haltungen bilden, geben allgemein linguistische und sprachsoziologische Untersuchungen zu durch die digitale Revolution ausgelösten sprachlichen Entwicklungen keine Hinweise auf einen durchgreifenden Sprachverfall.« 207 Lesen wir genau: Kulturpessimismus und Sprachpurismus könnten nur vor dem Hintergrund von Vorurteilen entstehen. Vorurteile sind meist nicht- oder vorwissenschaftliche, etwa ideologische Annahmen über einen Gegenstand. Mit diesem rhetorischen Schachzug bleiben für die Wissenschaften nur noch Deskription und/oder Optimismus übrig. (Wäre nicht auch der Kultur- und Medienoptimismus ein Vorurteilsdiskurs? Etwa ein kapitalistischer?) So gesehen, kann Wissenschaft gar keine Hinweise auf einen »durchgreifenden Sprachverfall« liefern: Wonach nicht gefragt wurde, das kann auch nicht beantwortet werden. Was oben nicht Forschungsfrage war, kann unten nicht rauskommen. Typisch für den medienwissenschaftlichen Diskurs ist auch das folgende Beispiel: »Anstatt bewahrpädagogisch und technikdeterministisch einen vermeintlichen >Sprachverfall< durch neue Medien zu beklagen, ist es aus handlungs- und lebensweltorientierter Perspektive interessant, die medienspezifische Ausgestaltung von Botschaften durch die Kommunizierenden vergleichend zu analysieren [...].« 208 Der Sprachverfall, zur Sicherheit gleich in Anführungszeichen gesetzt und mit »vermeintlich« attribuiert, kann also gar nie Ergebnis einer empirischen Untersuchung sein: Er ist nur Ausdruck einer »Klage« und wird von vornherein vom empirisch-analytischen Vorgehen abgesetzt. Meine These lautet: Die Medienwissenschaft erforscht den Umgang mit neuen Medien derart partikulär und atomisiert, dass »durchgreifende« VeränPeter Schlobinski, Editorial: Sprache und internetbasierte Kommunikation — Voraussetzungen und Perspektiven, in: Torsten Siever, Peter Schlobinski, Jens Runkehl ( Hg.), Websprache.net: Sprache und Kommunikation im Internet, Berlin — New York 2005, S. 1-14, hier S. 9 f. 208) Nicola Döring, Pädagogische Aspekte der Mobilkommunikation, http://www .nicola-doering.de/publications/paedagogik-mobil-doering-2004.pdf, 2004, S. 4. 207)
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derungen — egal in welche Richtung — gar nicht festgestellt werden können. So bleibt nur die reflexartige, eingeübte Ablehnung des Kulturpessimismus übrig. Es fehlt zudem an Langzeitstudien, die etwa Veränderungen in den Bereichen von Gesamtwortschatz, Satzkonstruktionen etc. in den verschiedenen Medienkanälen entlang der Zeitachse feststellen könnten. So bleiben die Medienwissenschaften eigentlich genauso fragmentarisch wie die Hirne der Cyber-Kids. — Im Folgenden sollen einige Resultate der auf diese Weise operierenden Medienforschung aus den Bereichen Computerspiele, SMS, Handynutzung, E-Mail und Chat diskutiert werden. In der von Achim Bühl herausgegebenen Studie »Cyberkids. Empirische Untersuchungen zur Wirkung von Bildschirmspielen« (2000) finden wir zunächst erneut die bereits hinlänglich bekannte diskursive Strategie der Abgrenzung von einem Pessimismus, der in den Massenmedien kolportiert wird. Diesmal ist der »Spiegel« Wortspender. Zuerst kommt das Negativ-Zitat, dann der korrigierende Werbetext der Wissenschaft:
>>> Wer sich online bewegt, nehme die Welt in Form von Info-Schnipseln wahr, für komplexe Zusammenhänge seien Computer und Internet nicht geschaffen. Das Denken der Online-Kids werde ein InstantDenken sein, schnell und ohne jede Tiefe.< Doch gegen derartige Positionen läßt sich einwenden, dass nicht zuletzt im Internet ein vielfältiges digitales Lehrmaterial bereitsteht, welches gerade durch die multimediale Aufbereitung komplexe Zusammenhänge pädagogisch adäquat vermittelt.« 209 In diesen und ähnlichen Zitaten wird eine interessante Funktion von Mediensoziologie sowie von Sprach- und Kulturwissenschaft offenkundig: Das Verpacken von Sachverhalten in lang verschachtelte Sätze, die bloße Deskriptionen aus der Distanz suggerieren, aber im Subtext doch eher eine Form der Techno-PR darstellen. Dazu gäbe es unzählige weitere Beispiele. Es verwundert wenig, dass eine im Buch veröffentlichte Teilstudie zur Wirkung von Computerspielen bei 23 Grundschülern ergeben hat, dass »keine Vereinsamungstendenzen« zu erkennen sind: »Grundsätzlich läßt sich resümieren, dass die Wirkungen, die von Bildschirmspielen ausgehen, nicht so gra«210 vierend sind, wie im Vorfeld angenommen wurde. Diese Studie reiht sich somit nahtlos in den Mainstream der Mediensoziologie ein. Ihr grundlegendes 209) Achim Bühl, Die Generation @ — Eine Einführung, in: Derselbe (Hg.), Cyberkids. Empirische Untersuchungen zur Wirkung von Bildschirmspielen, Münster 2000, S. 1-16, hier S. 14. 210) Martin Müsgens, Die Wirkung von Bildschirmspielen auf Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren. Ein empirischer Feldversuch, in: Achim Bühl (Hg.), Cyberkids. Empirische Untersuchungen zur Wirkung von Bildschirmspielen, Münster 2000, S. 17-70, hier S. 65.
130 Textkultur ohne H irn statt Global Brain
Merkmal ist, dass sie so lange differenziert und parzelliert, bis so gut wie jede Hypothese zurückgenommen werden muss. Übrig bleiben dann maximal »schwache Wirkungen«, »Multikausalität«, »Multimodalität« usw. Freilich finden sich in den Massenmedien nicht nur kulturpessimistische Statements, die dann gerne von Medienwissenschaftlern kritisch kommentiert werden. Mindestens genauso oft findet sich in den Medien im Zuge der publizistischen Generalisierung (und nicht: Verkürzung!) auch eine spezifische Variante des Bullshittens, um mit Harry G. Frankfurt zu sprechen: also Aussagen, die weder wahr noch falsch sind, sondern einfach beliebigen Nonsens darstellen. So etwa folgender Satz: »Wer seine Jugend mit Computerspielen verbringt, hat im wirklichen Leben mitunter bessere Berufschancen, heißt es in 211 Der Satz bezieht sich auf eine US-Studie, einer Studie aus dem Jahr 2004.« die angeblich nachwies, dass computerspielende Chirurgen mit ihren Händen geschickter seien als Computerspiel-Abstinente. Hier zeigt sich wieder einmal sehr deutlich: Forschungssetting, Stichprobe und vermutete Korrelation konstruieren eine empirische Wirklichkeit, die dann beliebig verkürzt, generalisiert und/oder ideologisiert werden kann. Heute »wissen« wir also nicht nur: Negative Effekte durch Computerspiele lassen sich kaum nachweisen, im Gegenteil, wir wissen nun sogar: Computerspiele machen beruflich erfolgreicher! Andere Beispiele für empirische Partikularisierungen finden sich in medienwissenschaftlichen Studien zur Verwendung von SMS. Hier geht es allerdings nicht um die Veränderungen zwischen »materieller« Briefkultur (etwa der früheren Zettelkultur unter den Schulschreibtischen) 212 und den Daumenbotschaften via SMS, sondern etwa um die Frage, ob Abkürzungen (wie z. B. »Di« oder »viell.« ) und Akronyme (wie z. B. »Ig «, »cu« oder »MfG« ) tatsächlich so oft in SMS-Botschaften vorkommen, wie dies die Massenmedien angeblich suggerieren. Das Ergebnis eines Forschungsprojekts dürften Sie richtig erraten haben: »Es zeigte sich, dass [...1 mit Ausnahme von Ad-hocAbkürzungen kaum SMS-spezifische Kurzformen nachweisbar sind, die eine kollektive Identitätsfunktion erfüllen könnten [...j « 213 Dabei hätte es gerade im Bereich der SMS-Textkultur viel spannendere Fragen gegeben als das Problem, ob »HDGDL« (für »Hab' dich ganz doll lieb!«) schon weit verbreitet ist oder nicht. So zum Beispiel die Tendenz zum Formularischen, oft in Verbindung mit einer Kryptisierung des Zeichensatzes in 211) »Salzburger Nachrichten«, 13. Juni 2005, S. 3. 212) Freilich wurde diese auch nicht näher erforscht, hier wäre man wohl auf Erinnerungsarbeit angewiesen. 213) Nicola Döring, »Kurzm. wird gesendet« — Abkürzungen und Akronyme in der SMSKommunikation, http://www.nicola-doering.de/publications/sms-kurzformen-doering-2002.pdf, 2002, S. 3.
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Richtung einer Leetspeak (siehe voriger Abschnitt) — und dies etwa in Korrelation mit Alter und Geschlecht. So hat die Studie »Daumenbotschaften« ergeben, dass sich Handynutzer unter 16 Jahre häufig untereinander derartige Formeln schicken. 214 Auch Döring berichtet, dass »mit der größeren Menge romantischer Textproduktion Standardisierungstendenzen einhergehen etwa durch die Verwendung vorformulierter SMS-Liebesverse [...] «. 215 An anderer Stelle heißt es: »Some SMS users report receiving identically-worded love messages from different people.« 216 Im Kontext der Copy/Paste-Kultur wäre es empirisch höchst interessant, hier forschungstechnisch anzusetzen. Leider sind die bisherigen Befunde mehr als fragmentarisch. Dass die SMS-Textkultur eine reduzierte Sprache mit sich bringt, ergibt sich alleine schon durch die Limitierung der Gesamtzeichenanzahl. Die Häufigkeit von Abkürzungen und Akronymen zu erforschen, ist meines Erachtens überhaupt nicht der entscheidende Punkt. Viel interessanter wäre es etwa, mögliche Rückwirkungen der SMS-Sprache auf den sonstigen Sprachgebrauch zu erkunden. Eine Forschungsfrage könnte sein, ob die SMS-Kürzelsprache allgemein zu einer Fragmentarisierung des Sprachgebrauchs und -verstehens führt. Auch Missverständnisse in einzelnen SMS-Fäden wären ein interessantes Forschungsfeld. Die These wäre hier, dass die fragmentarische Kürzelsprache vermehrt zu Rückmeldungen zwingt und Missverständnisse erhöht 217 ; dass der Gewinn durch die Verkürzung somit eine Kehrseite hat: die Zunahme des kommunikativen Ärgers und Stresses. Wir dürfen des Weiteren nicht vergessen, dass es sich bei der SMS-Kultur um eine ungemein rasante Entwicklung handelt, die sich erst in den vergangenen zehn Jahren vollzogen hat. Im Feld der Wechselwirkungen von SMS-Textkultur, elaborierter Sprache und kognitiven Fähigkeiten gäbe es also eine Unmenge an offenen Forschungsfragen. Doch solange die Studien nur auf partikulärer syntaktischer und lexikalischer Ebene bleiben, werden kaum Aussagen über allgemeine Tendenzen möglich sein. Im Folgenden ein Beispiel einer SMS — immerhin getippt und versandt (mit Web-SMS) von einer über-20-jährigen Studentin der Medienwissenschaft, die mittlerweile einen akademischen Grad erlangt hat:
214) Andrea Nowotny, Daumenbotschaften: Die Bedeutung von Handy und SMS für Jugendliche, http://www.mediensprache.net/networx/networx-44.pdf, 2005, S. 29 ff. — Eine Fundgrube für zahllose Leetspeak-Formeln sind wie bereits erwähnt etwa die Nickpages auf http://www.uboot.com. 215) Nicola Döring, ebenda, S. 18. 216) Nicola Döring, »Have you finished work yet?:)« Communicative functions of text messages (SMS), http://www.receivervodafone.com/06/articles/pdf/05.pdf, 2002, S. 3. 217) Diesen Punkt erwähnt Döring immerhin in ihrem Aufsatz »Kurzur. wird gesendet«.
132 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
»hob grod PMdMF ghobt, is voi der schmarrn — muss an varianzen, modi usw herumrechnen — check i net [...] trotzdem gehts ma voi guat. hob irgendwie voi den flow [...] *gg* liegt viell. am we?? ka ahnung! greetz [...] « 218 Woran mag es liegen, dass mir bei Lektüre dieser SMS schlagartig Kulturverfallsthesen äußerst plausibel erscheinen? — Nochmals zum Kontext: Die Kürzel- und Schnipsel-Kultur der SMS-Sprache trifft auf eine generelle digitale Welt vorgefertigter Versatzstücke: Klingeltöne, Handy-Displays, LeetspeakSprüche und Podcasts wie etwa (mein persönlicher Favorit:) einen »MeditativPodcast mit Naturklängen und einer ruhigen Stimme zur Entspannung an stressigen Tagen«. 219 Alles ist ein Ready-Made, homogenisiert und standardisiert — aber dies doch oft mit dem scheinbaren Freiheitsgrad einer individuellen Mutation (»customized ringtone«). Paradoxien sind inbegriffen, denn wer bemerkt sie schon? »Gib deiner MOBILBOX deine persönliche Note. Jetzt im WAP unter MobilBox Sprüche einsteigen und einen der vorgegebenen Sprüche herunterladen! « 220 Das ist genau jenes Milieu, in dem sich die Copy/PasteKultur ohne Hirn rasend schnell ausbreiten kann. Während etwa das Handy zunehmend auch als Werkzeug zur Schummelei verwendet wird, kümmert sich die deutschsprachige Medienwissenschaft lieber um den Zusammenhang zwischen Handylogo-Downloadverhalten, Alter und Geschlecht. Sie hat dabei Bemerkenswertes herausgefunden — so etwa, dass Burschen für ihre Handy-Displays lieber Auto-Motive downloaden als Mädchen: »Die Themenwahl (z. B. Klingelton mit Pop-, Rock- oder KlassikMelodie; Logo mit Tier-, Liebes-, Sex-, TV- oder Auto-Motiv) korreliert eng mit individuellen Interessen, Geschlecht und Alter. « 221
218) SMS-Mitteilung vom 14. März 2005. Ich habe es in den vergangenen Jahren öfters erlebt, dass Leute Kürzel versenden (wie hier etwa »PMdMF«, eine interne Abkürzung für eine Lehrveranstaltung), die nicht eindeutig sind. Auch »we« kann in dieser SMS Wetter oder aber Wochenende heißen. Simser machen sich mitunter offenbar wenig Gedanken über den Empfänger. — Wie heißt es im Konstruktivismus? Der Empfänger bestimmt die Information. Die Generation SMS scheint daran kaum zu denken. Auch hier wird deutlich einer Textkultur ohne Hirn Vorschub geleistet; und ich frage mich ernstlich, wie Studierende, die so schreiben (und denken?), wissenschaftliche Abschlussarbeiten verfassen können. 219) http://www.podcast.de
220) Werbe-SMS vom 20. Mai 2005. 221) Nicola Döring, Klingeltöne und Logos auf dem Handy: Wie neue Medien der UniKommunikation genutzt werden, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Heft 3, 2002, S. 376-401, hier S. 376 (Abstract). SMS-, Mail- und Chat-kontaminierte Lese- und Schreibkultur 133
Stattdessen bleibt ein anderer Schauplatz von den deutschen Medienforschern relativ unbemerkt: Das Handy als Mittel zur Schummelei bei Prüfungen in Schulen und Universitäten. Bei der bereits mehrfach erwähnten US-Langzeitstudie zur akademischen Integrität wurde zwischen 2002 und 2005 erstmals folgende Variable in den Fragebogen aufgenommen: das »Verwenden eines elektronischen/digitalen Geräts als unerlaubte Hilfe bei Tests und Prüfungen«. Fünf Prozent der Studierenden vor dem ersten Abschluss gaben zu, ein derartiges Gerät im Jahr vor dem Zeitpunkt der Befragung zumindest einmal illegal verwendet zu haben. Die Dunkelziffer könnte weit höher sein, denn Studienautor Donald L. McCabe bemerkt: »The 5 % figure probably understates the actual problem and, since it is still a relatively new phenomenon, it is very 222 possible there will be some further growth in this behavior in the future. « Die Schweizer Boulevardzeitung »Blick« — die gewisse Medienwissenschaftler wohl nur zur Abgrenzung zitieren würden — beschreibt ein mögliches Vorgehen so: »Auch in Prüfungen schummeln die Studenten — mit Hightech. Die angehenden Akademiker >googeln< sich ihr Wissen per Handy herbei. In Zeiten von Wireless LAN ist das ganz einfach. Und das geht so: Student Tim (22) sitzt in der Prüfung Digitaltechnik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur. Er hat sein Handy dabei — obwohl das verboten ist. Tim versteckt es unter dem Tisch, geht damit ins Internet — und sucht sich via Google die Antworten auf die Prüfungsfragen.« 223 So naiv dies hier beschrieben wird, so naiv sind wohl auch Lehrende, die das für unmöglich halten. Der Journalist Andreas Unterberger berichtet von einem konkreten Fall eines Handy-Schwindels an einer österreichischen Schule, der noch dazu nicht einmal sanktioniert wurde: » Manche Berichte lassen es [...J als durchaus berechtigt erscheinen, wenn das Misstrauen gegen die Schulen wächst. Da hat gerade eine empörte AHS-Lehrerin von einem besonders eklatanten SchummelVersuch bei der Matura berichtet: Ein Schüler recherchierte bei der Vorbereitung auf die mündliche Prüfung direkt im Prüfungssaal via Handy und wurde vom Vorsitzenden dabei erwischt. Konsequenz: Null. Außer dass der junge Mann halt eine andere Frage bekommt. Man wird's doch noch versuchen dürfen. Ob dadurch der Respekt vor Leistung und Schule gesteigert worden ist? «224 222) Zahl und Zitat aus: Donald L. McCabe, Cheating among college and university students: A North American perspective, http://www.ojs.unisa.edu.au/journals/index.php/IJEI/ article/ViewFile/14/9, 2005, S. 3. — Mit einem »elektronischen/digitalen Gerät« sind hier freilich nicht nur Handys, sondern auch PDAs u. Ä. gemeint.
223) http://www.blick.ch/news/schweidartikel33039 134 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
Copy/Paste-Texte und Handy- oder PDA-Schummel bei Klausuren sind zwei Seiten einer Medaille: des Missbrauchs der neuen Kommunikationstechnologien zur Simulation von Leistung. Im Moment ist nur zu hoffen, dass der Realtime-Schwindel mit digitalen Geräten weniger weit verbreitet ist als der Netzplagiarismus bei Hausarbeiten — und dass die Lehrenden hier besser hinschauen, als sie dies bei ergoogelten Textsegmenten im Moment tun. Kommen wir nach Computerspielen, SMS und Handy kurz zum Medium E-Mail. Allzu intensive E-Mail-Korrespondenz könne den Intelligenzquotienten senken, hat eine britische Untersuchung 2005 ergeben. 225 Ich lasse den Leser entscheiden, ob das folgende Beispiel einer E-Mail dieses Ergebnis stützen könnte: »umbringen tut es uns nicht ;-) ...... wollts dir halt nur mal sagen *gg*. eigentlich ist es ja auch recht schön, wenn fans merchandise erstellen ......was für fans ;-). hab grad mal geschaut ....... ein neues album ......na das is ja fein *freu*. der titel des neuen werkes gefällt mir auch sehr gut :-). bei uns is das wetter leider auch nich grad rosig .... regnet schon seit tagen :-(. ich hoff mal, dass die sonne bald wieder raus kommt ;-). ja ich sonne mich ;-). sind übrigens grad dabei nen [...]club bzw. community zusammen zu stellen ;-). wünsch dir noch nen schönes wochenende. gruß [...] « 226 Es ist unschwer zu erkennen, dass der Absender nicht gewillt ist oder gar nicht mehr in der Lage ist, ganze Sätze zu schreiben. Die Spezifizität des Mediums zeigt hier meines Erachtens sehr deutliche Auswirkungen in Form einer Limitierung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, der Satzlängen und der intellektuellen Durchdringung der Botschaften. Ein zweites Beispiel stammt aus einem Diskussionsforum zum Thema Plagiate: »was sollns sonst sein ... soll jeder Student eine wilde Forschungen veranstalten und dann seine Ergebnisse niederschreiben??? Jede Arbeit ist eine Zusammenfassung von anderen. Ma beschäftigt si mit was und schreibts wieder nieder ... Soll zeigen, dass mas verstanden hat ... I versteh die ganze Aufregung echt net ... So SCHWACHSINNIG ... echt 227 unnötig ... Lückenfüller ...« 224)
OTS-Mail »Pressestimmen« vom 28. Juni 2005.
225) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19944/1.html: »Wer viele Emails und SMS schreibt
und liest, dem wird eine >Infomanie< bescheinigt. Bei den nach Informationen oder nach Kommunikation Süchtigen soll der Rückgang [des Intelligenzquotienten — Anmerkung] gar bis zu zehn Prozent betragen, wollen die britischen Psychologen vom Institute of Psychiatry an der University of London in ihrer Studie herausgefunden haben.« 226) E-Mail vom 23. Juli 2005 (vom Empfänger an mich weitergeleitet).
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Auch hier zeigt sich klar die Neigung zur (nicht Korrektur gelesenen) Halbsatz- bzw. Schnipselsprache 228 in Verknüpfung mit Dialektalem. Überdies scheint mir — wie anhand von zahllosen Beispielen belegt werden könnte — immer auch eine spezifische Haltung mittransportiert zu werden. Die Auswirkungen des Mediums auf die Formulierung der Inhalte und auf die Inhalte selbst sind unübersehbar. Mutmaßlich hängen Schnipsel-Sprache und kleingeistige Abwehr- bzw. Rechtfertigungshaltungen, die mitunter sehr affektiv aufgeladen sind, eng zusammen. Mit Ong wäre auch hier eine Rückkehr zu oralen Kulturelementen zu beobachten: emotional statt rational, subjektiv statt objektiv, involviert statt distanziert (typische Wendungen in Postings und Mails dieser Art sind »jetzt muss ich mich schon wieder voll aufregen ...«, »so eine Sauerei ...«, »echt voll die Gemeinheit ...«). Ein anderer E-Mail-Effekt: Die so genannte »Infomanie«, die Sucht nach Informationen und damit die erhöhte Nutzungsintensität korreliert offenbar negativ mit dem Tiefgang und der Qualität der Information und Kommunikation. Nicht nur bei alltäglichen Usern, sondern auch bei Journalisten, die übrigens vermehrt über Arbeitsstress durch E-Mail und Internet klagen, 229 ist eine zunehmende Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit in der Rezeption von EMails und allgemein von Online-Informationen festzustellen. Auch in meinem Umfeld kann ich bestätigen: Die präzisen Leser von E-Mails sind meistens nicht jene, die permanent online sind. SMS- und Mailkultur sind die Vorspiele zur ultimativen Fragmentarisierung und Parzellierung des Bewusstseins, die in der Chatkommunikation erreicht wird. In der bisherigen Computerkultur — und auch noch bei E-Mail — galt: zuerst (obschon immer kürzer) denken, dann (obschon immer schneller) tippen. Im Chat gilt: Zuerst tippen, dann (kaum Zeit zu) denken. Damit wird natürlich eine Tendenz hin zum unreflektierten, nicht mehr analytisch durchdrungenen Artikulieren von Ansichten gefördert. Typische Floskeln wie »mag ich jetzt nicht genau erklären« oder »hab ich noch nicht drüber nachgedacht« weisen darauf hin, dass Chatten dieses Verbleiben in der Oberflächlichkeit permanent begünstigt. Tippfehler werden aus Zeitgründen ebenfalls systemisch. Der Chat lehrt: Im Instantan-Flow der Medien gibt es keine Fehler und auch keine Fehlerkorrektur mehr. Zudem sind Missverständnisse und das 227) http://derstandard.at/url=/?id=2547584 228) Hat bislang eigentlich ein Sprach- oder Medienwissenschaftler gemessen, inwieweit jeweils in den Medien E-Mail, Web(forum) und Chat die Sätze im Vergleich zur »materiellen« oder elaborierten Schriftlichkeit aus anderen Kontexten kürzer werden und dies wiederum mögliche Rückwirkungen auch auf diese elaborierten Sprachformen hat? 229) Stefan Weber, So arbeiten Österreichs Journalisten für Zeitungen und Zeitschriften, Salzburg 2006, 10 ff.: Für 50 Prozent hat der Arbeitsstress durch E-Mail und Internet eher zugenommen, für 22 Prozent hat er eher abgenommen und für 28 Prozent ist er gleich geblieben (n = 296).
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unüberschaubare Überlagern mehrerer Gesprächsfäden die Norm. Chatter müssen permanent rückfragen und ihre eigene Medialität thematisieren, was die Selbstreferenzialität des Mediums im Vergleich zu anderen deutlich erhöht. Erneut gilt: Die Sprach- und Medienwissenschaft untersucht kaum systematisch, wie sich die kommunikativen Möglichkeiten des Mediums Chat auf die kommunizierten Inhalte und das beteiligte Bewusstsein bzw. die »kognitiven Systeme« auswirken. Sie beharrt lediglich seit Jahren auf der These, dass Chatkommunikation (wie auch Mail- und SMS-Kommunikation) keine Auswirkungen auf die so genannte »elaborierte Schriftlichkeit« hätte. In einer exemplarischen Untersuchung von Mail-, Foren- und Chatkommunikation kam Angelika Storrer schon im Jahr 2000 zu folgendem Ergebnis: »Bislang gibt es eigentlich keinen Grund zur Annahme, dass der pragmatische Umgang mit Schriftlichkeit, der vor allem auf schnelle und effiziente Kommunikation setzt und dabei auf Elaboration verzichtet, negative Auswirkungen auf die Anfertigung von Schrifttexten hat, bei denen Textplanung und sprachliche Elaboration wichtig sind. [...] Vieles spricht dafür, die neuen Kommunikationsformen positiv als Erweiterung der medialen Optionen zu werten, die für die Erreichung kommunikativer Handlungsziele zur Verfügung stehen. «230 Es gab aber auch schon im Jahr 2000 vereinzelt kritische Stimmen. Karl Kollmann etwa schrieb in seiner Analyse der Chat-Kommunikation: »Im Vergleich zur traditionellen Emailkommunikation sind in Chats die Inhalte nachrangig, primär sind hier die Effekte des Auftritts, die zweifellos in einer recht stenographischen Sprache >versteckt< sein mögen. Es geht hier um Aufmerksamkeit und um Unterhaltung, um persönliche mediumadäquate oder chatadäquate PR, nicht mehr um Gedanken oder Diskurs (Inhalte).« 231 Der Mainstream der deutschsprachigen Kulturwissenschaft bleibt jedoch bei seinem positiven Urteil, wie im Sammelband »Websprache.net« 2005 eindrucksvoll nachzulesen ist:
230) Angelika Storrer, Schriftverkehr auf der Datenautobahn: Besonderheiten der schriftlichen Kommunikation im Internet, in: G. Günter Voß, Werner Holly, Klaus Boehnke (Hg.), Neue Medien im Alltag: Begriffsbestimmungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes, Opladen 2000, S. 153-175, hier zitiert nach http://www.hytex.uni-dortmund.de/storrer/papers/traffic.pdf, S. 18. 231) Karl Kollmann, Veränderungen in der Elektronischen Kommunikation: Was die quantitativen Nutzungszahlen bei den Neuen Kommunikationstechnologien nicht verraten ..., in: Forum Qualitative Sozialforschung, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00kollmann-d.pdf, 2000, hier S. 7. SMS-, Mail- und Chat-kontaminierte Lese- und Schreibkultur 137
»Die schriftsprachlichen Varianten in der Chat- oder SMS-Kommunikation sind somit nicht defizitäre Standardschreibungen, sondern adäquater, funktionaler Ausdruck veränderter Schreibpraxen vor dem Hintergrund der computer- und handybasierten Technik einerseits (speziell der Tastaturbedienung) und der sprechsprachlichen Konzeptionalität andererseits. « 232 Mit Hilfe dieses wissenschaftlichen Diskurses wäre auch das GCP-Syndrom wie folgt zu erklären: »Die Varianten des Google-Copy-Paste-Syndroms verweisen nicht auf Defizite in der Recherche und im eigenständigen Schreiben, sondern sind adäquater, funktionaler Ausdruck veränderter Recherche- und Schreibpraxen vor dem Hintergrund der Computertechnik und des Internets einerseits (speziell des Interfaces Tastatur) und der Verfügbarkeit von Content jedweder Art im Web andererseits. « Ideologische Voraussetzung (immer unter dem Deckmantel wissenschaftlichdistanzierter Deskriptivität) ist auch hier: Die Technik verändert sich rasant, dieser rasante Wandel wird »fälschlicherweise« als negativ erlebt, »in Wirklichkeit« aber sei die Entwicklung positiv zu sehen im Sinne einer Erweiterung der kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten. Dieses Denkmuster durchzieht weite Teile der gegenwärtigen Medien-, Kultur- und Sprachwissenschaften. So verwundert es wenig, dass in der Folge auch die Medienpädagogik auf den Zug aufspringt und — mehr noch — auf die Überholspur gerät: Flugs begrabt man das Buch, spricht nicht mehr von Lesekompetenz, sondern von Medien- oder gleich Multimedienkompetenz. Die Fokussierung auf das Buch als primären Kulturträger wird aufgegeben, plötzlich geht es um hypertextuelles, geschwindes, vernetztes Lesen. Wer braucht da noch mühselige lineare Narrative? Der Trugschluss dabei: Das, was hier vermeintlich geschult werden soll, ist bei den Schülern bereits im Übermaß vorhanden; viel wichtiger wäre es, die Rezeptionsgewohnheiten auch wieder in die Richtung klassisch-linearer Narrative zu verändern. Doch der Neue-Medien-Fetisch macht blind. Der österreichische »Buchklub« etwa hat sich in die Richtung eines »Medienklubs« ( ?) erweitert. Der Klub-Geschäftsführer erklärt das in der österreichischen Presse so: >»Die Lesekompetenz geht in Richtung vernetztes Lesen.< Ein Buchmuffel müsse nicht unbedingt ein Lesemuffel sein. Der Buchklub habe 232) Peter Schlobinski, Editorial: Sprache und internetbasierte Kommunikation — Voraussetzungen und Perspektiven, in: Torsten Siever, Peter Schlobinski, Jens Runkehl (Hg.), Websprache.net: Sprache und Kommunikation im Internet, Berlin — New York 2005, S. 1-14, hier S. 8.
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darauf reagiert und sei zum >Medienklub< geworden.« 233 Freilich werden Bücher dann nur noch halbherzig in den erweiterten Medienbegriff integriert. Forciert wird dagegen vernetztes Lesen, das jedoch seit der frühen Computersozialisation in der Kindheit bei vielen bereits vorhanden ist. Die Pädagogik und die Didaktik setzen voll auf die neuen Medien — und vergessen dabei die alten Medien und Kulturtechniken: Keine Lehrveranstaltung mehr ohne begleitendes E-Learning-System, ohne digitale » assignments « 234 , ohne Online-Diskussionsforum, das ohnedies nur unter Zwang funktioniert, ohne Powerpoint-Files oder PDFs zum Downloaden, ohne Links, Streams, Files, Sounds, Filme. Die reale Lehrsituation wird damit oft schon redundant, zur lästigen Pflichtübung. Ein Erkenntnisgewinn findet in realen Situationen zunehmend weniger statt — die Zeit im Hörsaal dient zur Überbrückung bis zur nächsten Computer-Session. Doch werden dort dann neue Erkenntnisse gewonnen? — In dieser Situation setzen technophile Pädagogen auf ein Noch-mehr-an-Medien. Erstaunt las man etwa vor einigen Wochen in einer österreichischen Tageszeitung: »Der weit verbreiteten Meinung, dass sich Chat und SMS negativ auf die Schreib- und Lesekompetenz von Schülern auswirkt, erteilt jetzt die Pädagogische Akademie Salzburg eine Absage.« Ganz im Gegenteil: »Handy und Internet sollen Kids zum Lesen motivieren.« 235 Dass diese Technologien auch der Grund sein könnten für eine Abnahme der Lesekompetenz, wird als Denkmöglichkeit ausgeschlossen. Dagegen wären die Befunde zur Lesekompetenz der Schüler alarmierend. Neben den besorgniserregenden nationalen Ergebnissen der PISA-Studie weisen noch weitere Untersuchungen darauf hin — zwei Beispiele, einmal aus Salzburg und einmal aus Hannover: »In Salzburg gilt jeder siebte Volks- und Hauptschüler als Risikoleser: Das sind Kinder und Jugendliche, die mit zehn bzw. 15 Jahren noch nicht sinnerfassend lesen können. «236 233)
»Salzburger Nachrichten«, 15. Juni 2005, S. 3. Und selbst diese Ankündigung scheint unter die Rubrik Bullshit-PR zu fallen, denn er heißt immer noch Buchklub, siehe http://www.buchklub.at.
234) Um schriftliche Präsenz-Klausuren in überfüllten Hörsälen künftig zu vermeiden, wird der nächste Schritt die flächendeckende Einführung von Online-Klausuren sein. Diese funktionieren jedoch nur nach dem Vertrauensprinzip. Es darf vermutet werden, dass sich der Anteil der Schummler dann einmal mehr erhöhen wird. Das ist die Vision der voll virtualisierten Universität, für mich eine Schreckensvorstellung: Alle Lehrbehelfe stehen im Netz, der Studierende löst seine Klausuraufgaben online mit Copy/Paste und Umschreiben, die Plagiatssoftware läuft automatisch darüber — und vielleicht ganz am Schluss auch noch ein automatisches Benotungsprogramm und eine E-Mail-Mitteilung mit der Note. Die Lehrenden hätten dann endlich wieder Zeit für Forschung — aber was erforschen sie? Pokemon? »Wickie und die starken Männer«? 235) »Kurier«, 3. Juni 2006, S. 13. 236) Ebenda.
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»Die Befunde zeigen, dass etwa 18 % der hannoverschen Grundschulkinder bestenfalls gesuchte Wörter in einem Text erkennen können. Das sind Kinder, die man als extreme Risikoschüler verstehen muss, weil deren Defizite in der späteren Schulzeit kaum noch korrigiert werden. Fast die Hälfte der Schüler erreicht nicht die Kompetenzstufe 3. Erst auf dieser Stufe kann man von einer brauchbaren Lesekompetenz sprechen.« 237 In dieser Situation wird der Geschäftsführer des österreichischen Buch-, pardon: Medienklubs mit folgenden Aussagen zitiert: »Verabschieden wir uns vom traditionellen Lesebegriff! Die derzeitige Diskussion über die Lesekompetenz der Jugendlichen konzentriert sich aufs Buchlesen und hängt sozial-romantischen Erinnerungen nach. Tatsache ist: Viele Jugendliche (vor allem Burschen) lesen zwar nicht gern Bücher, aber sie lesen öfter und besser, als Erwachsene meinen. Denn sie lesen — ganz selbstverständlich und gern — in den neuen Medien. Sie nutzen Internet, PC, Computerspiele und oft auch Zeitschriften, sie kommunizieren lesend untereinander per SMS, E-Mail, Chats.« 238 Erwähnt wird jedoch nicht, was die Jugendlichen mit welchem Genauigkeitsgrad in diesen neuen Medien lesen. Quantitativ messbare Nutzungszeiten werden offenbar mit Qualität gleichgesetzt. Doch ist ein dreißigminütiger Chat im Steno-Stil auch nur irgendwie äquivalent mit dreißig Minuten Karl-KrausLektüre? Vereinzelt trifft man auch auf Studien, die ungeschminkt die Wahrheit aussprechen (meist dann nicht von Medien- und Sprachwissenschaftlern, sondern von Markt- und Meinungsforschungsinstituten). Das österreichische »market«-Institut hat etwa im August 2005 500 österreichische Lehrer telefonisch befragt und ein deutliches Stimmungsbild enthüllt: Nach Ansicht der Lehrer werden die Schüler immer unkonzentrierter, und »das kontinuierlich sinkende Niveau der Sprachkultur wird bemängelt«: » [...] dafür sollte weniger Zeit am Handy, am Computer oder vor dem Fernseher verbracht werden — diese modernen Technologien wirken
237) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19731/1.html. Beide Untersuchungsergebnisse
hängen freilich nicht nur mit den neuen Medien, sondern zumindest auch mit Migrationshintergründen zusammen. 238) Zitiert nach Theo Hug, PISA und andere Erinnerungen: Beiträge der Medienpädagogik zur Vermeidung von »educational lags«. Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Reformen unter den Auspizien des »mediatic turn«, in: Medienimpulse — Beiträge zur Medienpädagogik, Heft 53, Themenheft »PISA und Medienkompetenz«, 2005, S. 9-13, hier S. 10.
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sich negativ auf das Sprachverhalten der Jugendlichen aus! [...] Intensive Handynutzung ist aus der Sicht der Lehrkräfte ein Problem und führt vielfach dazu, dass junge Menschen kaum noch ganze Sätze verwenden [...] — das Handy macht halbe Sätze zum rhetorischen Standard vieler Jugendlicher. «239 SMS, E-Mail und Chat — das sind oftmals Kommunikationskanäle der verzweifelten Sinnstiftung in Faulheitsphasen, in denen der Geist eigentlich etwas »Hochgeistigeres« tun sollte, aber eben die digitale Zerstreuung bevorzugt. Man chattet eben lieber noch eine weitere Stunde, bevor man sich in ein Skriptum vertieft, einen Text redigiert oder in einem dicken Buch nachschlägt. Insbesondere im Chat ist die Kommunikation oft gnadenlos selbstreferenziell: Thema ist, dass es kein Thema gibt außer der Medialität des Chattens. »The 24 medium is the message « ° hat wohl noch nie so gestimmt wie im Chat-Zeitalter. E-Mail und Chat verweisen auf eine »sekundäre Oralität« 241 , in der sich Oralität und Literalität mit ungewissem Ausgang vermengen. Nahezu visionär schrieb Walter J. Ong noch vor dem Siegeszug der Computer- und Netzmedien unter Vorwegnahme der »virtual communities«: »Diese neue Oralität besitzt eine überraschende Ähnlichkeit mit der alten, sowohl was die Mystik der Partizipation, als auch was ihre Förderung des Gemeinschaftssinnes, ihre Konzentration auf die Gegenwart und auf den Gebrauch von Formeln anbelangt [...].«242 Wir müssen ernstlich die Frage diskutieren, welche konkreten Fortschritte uns der alltägliche Einsatz von SMS, E-Mail und Chat gebracht hat. Es könnte sein, dass wir feststellen werden, dass wir mit diesen Medien häufig nur um ihrer selbst willen kommunizieren. Natürlich mögen E-Mail und Internet auch das Potenzial haben, eine Öffentlichkeit zu erreichen und Menschen für Themen zu sensibilisieren. Es gibt durchaus dieses »emanzipatorische Potenzial«, aber im alltäglichen Gebrauch überwiegt die gnadenlose Selbstreferenz. Und diese Erkenntnis wäre nun nicht systemtheoretisch, sondern durchaus medienund technokritisch zu interpretieren. Die deutschsprachige Sprach-, Medien- und Kulturwissenschaft verweigert zu großen Teilen die These, dass die sprunghafte Verbreitung der neuen Medien — 239) http://oww.market.at/upload/documentbox/News0517.pdf, hier S. 2 ff. 240) Dieses Zitat sollte schließlich in jedem ordentlichen Buch zu einem Medienthema zumindest einmal vorkommen! 241) Für Walter J. Ong wird die »sekundäre Oralität« durch Telefon, Radio und Fernseher konstituiert, vgl. Walter J. Ong, Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 135 ff. Aus heutiger Sicht wären die Netzmedien zu ergänzen. Man könnte mitunter auch von »dialektaler Literalität« sprechen. 242) Ebenda, S. 136.
SMS-, Mail- und Chat-kontaminierte Lese- und Schreibkultur 141
und insbesondere die Textkultur von SMS und Chat — das Denken, Sprechen und Schreiben einer ganzen Generation rasend schnell verändert hat. Sie verweigert zweitens die Annahme, dass diese Veränderungen auch Auswirkungen auf die so genannte elaborierte Schriftlichkeit jenseits dieser neuen Medien haben. Sie verweigert drittens und nahezu prinzipiell die Denkmöglichkeit, dass diese Auswirkungen überwiegend negativer Natur sind. Freilich möchte ich nicht bestreiten, dass etwa auch das Medium Chat schreibunwillige Schüler zum Schreiben motivieren kann. Von der Medienpädagogik wird jedoch oft ausgeblendet, was die Schüler dann schreiben. »Hauptsache, es wird überhaupt noch getextet« kann niemals genügen, denn würden wir das etwa auch in Bezug auf das GCP-Syndrom sagen, wäre dies wohl früher oder später der Tod der (wissenschaftlichen) Textkultur. Die Textkultur ohne Hirn ist jene, die ihr Sprachgefühl an Google delegiert und Ironie im Text an den winking smiley. Sie ergoogelt sich ihr Wissen, betreibt Copy/Paste, verbreitet Formularisches, lässt Fehler unkorrigiert und kommuniziert in Halb- bis Viertelsätzen. Sprache wird zum Lautgebell. Diese Schreibenden und Lesenden sind wahrscheinlich nicht mehr jene, die sich über Sprachnormen hinwegsetzen, sondern sie beherrschen sie gar nicht erst. Der vermeintlich »kreative Umgang« 243 mit Sprache könnte sich als grassierende Unfähigkeit erweisen, sich überhaupt noch in einem geraden vollständigen deutschen Satz ausdrücken zu können. Dies ist im Moment nur eine Hypothese, aber sie müsste dringend empirisch überprüft werden. Oder ist jeder Verdacht in diese Richtung tabu?
5.3
Bullshit-PR und heiße Luft: in neuen Medien und über neue Medien
Bullshit-PR für neue Medien ist weit verbreitet: Sie reicht von den immer breit lächelnd oder wie gebannt ins Handy-Display guckenden jungen Beaus in den Hochglanz-Handy-Zeitschriften bis zum Neue-Medien-Wettbewerb gegen die »digitale Kluft«, der angeblich die Welt durch die flächendeckende Verbreitung des Internets retten will. Bullshit-PR findet sich auf den Webseiten zahlloser New-Economy-Firmen — wie etwa einer Firma namens »Immunologix«, die Unternehmen im kybernetisierten Zeitalter durch die Bildung virtueller Antikörper sicherer machen möchte. Bullshit-PR macht etwa auch für das 243) Den es zu einem gewissen (meines Erachtens aber sehr geringen) Prozentsatz sicherlich auch geben mag. Einer meiner Freunde macht sich etwa im Medium E-Mail ständig mit einer eigenen, bewusst fehlerhaften Sprache über den Netzjargon lustig. Er schreibt etwa: »Vollkommen ubertrieben ist naturlicht Idee, das Email doof macht. Es gar nixt glaubt, wie Menschen sich entwuckeln konnen.« (E-Mail vom 22. August 2006)
142 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
superschnelle Rezipieren Werbung und behauptet in Rundmails, das Lernen werde im digitalen Zeitalter vom »angenehmen Erleben von Informationen aller Art« abgelöst. 244 Bullshit-PR wirbt etwa auch mit »Mein erstes Power Learning vergess ich nie!« und fragt sich, »was Unternehmen und Marken sexy macht«. Diese PR wird gerne von »führenden Institutionen« in ihrem jeweiligen Bereich betrieben, die die »Wettbewerbsfähigkeit« ihrer Region garantieren und einen Beitrag zum »Standortvorteil« leisten sollen. 245 Bullshit-Neusprech macht zudem aus Konferenzen »Vision Events«, auf denen sich »Key Innovation Leaders« und »Super Spreaders« treffen. Bullshit-PR steht immer und ausnahmslos im Dienste eines ökonomisch-technologischen » Mehr-an-...«: an Medien, an Infrastruktur, an Technologien, an Investitionen, an Profit. Doch was ist Bullshit? Laut Harry G. Frankfurt eine diskursive Strategie, um weder Wahres noch Falsches, sondern schlichtweg jeden beliebigen Nonsens behaupten zu können: »Der Bullshitter ist außen vor: Er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen. Anders als der aufrichtige Mensch und als der Lügner achtet er auf die Tatsachen nur insoweit, als sie für seinen Wunsch, mit seinen Behauptungen durchzukommen, von Belang sein mögen. Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen. «246 Damit wird klar: Auch jeder akademische Copy/Paster ist ein Bullshitter. Bullshit ist immer auch angewandter Trivial-Konstruktivismus: Man hat ein Argument im Kopf (etwa: jenes von der Verbesserung der Welt durch die neuen Medientechnologien), und sucht dann die »stützenden Argumente«. Freilich funktioniert nicht nur die Medien- und Techno-Hype-PR nach diesem deduktiven Prinzip, sondern eigentlich die gesamte PR und Werbung: »Fakten« können in der postmodernen Welt für beinahe jede Behauptung erfunden oder zumindest zurechtgebogen/manipuliert (»biased«) werden. Eine Dekodierung des ideologischen Gehalts, eine oppositionelle Lesart ist bei allen Formen der Techno-Bullshit-PR dringend erforderlich. Es sind — um mit Roland Barthes zu sprechen — sekundäre semiologische Systeme, also Mythen, die hier transportiert werden: Was wollen uns all diese fröhlichen Menschen in den Hochglanzprospekten mitteilen, die lustvoll (und immer 244) Das lassen wir uns auf der Zunge zergehen: vom Lesen und Lernen zum »angenehmen Erleben von Informationen«: passive Unterhaltung/Berieselung statt aktiver Rezeption. — E-Mail vom 20. August 2006. 245) Zitate von diversen Unternehmenswebsites. 246) Harry G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt am Main 2006, S. 63.
Bullshit-PR und heiße Luft 143
auch leicht dümmlich) auf ihr winziges Handy-Display starren? Welche Mission verfolgen New-Media-Awards und Neue-Medien-Kunstfestivals? 247 Freilich, es geht um nichts anderes als ums Geschäft (oder: um den Erhalt von Subventionen). Die Technologie ist der Träger des Geschäfts (oder der Subvention), aber wir sollten glauben, dass mit einem Mehr-an-Medientechnik unser Leben besser wird. Es geht dabei immer auch um den sich wechselseitig konstituierenden Hype. Vieles in der New Economy und in der Neue-MedienSzene trägt sich selbst »freischwebend« analog zur Logik des Verlinkens: Eine so genannte Win-Win-Situation wird hergestellt, wenn A einen Link zu B macht und B einen Link zu A. So entsteht Aufmerksamkeit und die Unterstellung von Wichtigkeit als wechselseitiges Konstrukt, und sei es noch so virtuell und geheuchelt. Bullshit-PR gehört systemtheoretisch betrachtet ins Wirtschaftssystem. Neben Bullshit-PR für neue Medien taucht ein benachbartes Phänomen im Wissenschaftssystem auf: die Tendenz zur reinen Faselei, zur heißen Luft in den Diskursen über neue Medien. Während Bullshit-PR in der Computerbzw. Neue-Medien-Industrie gedeiht, blüht wissenschaftliche Bullshit-Rhetorik in der Medienwissenschaft auf. Oft werden beide ununterscheidbar. Dann klingen Forschungsprojekte plötzlich wie schlechte Werbeslogans für neue Medien mit missionarischer Geste (»iTV 4 all«, »EUKidsOnline«, »Neue Medien — Jugend aktiv«, »PRO:ICT — Promoting ICT to Female Students«) 248. Bullshit-Rhetorik in den (Kultur-)Wissenschaften ist ein interessantes Problem, das sowohl mit der hochgradigen Ausdifferenzierung der Wissenschaften in zahllose »Diskursuniversen« oder Denkstile (nach Ludwik Fleck) als auch mit der Entstehung von beliebigen »Privatsprachen« in der Postmoderne zusammenhängt: Wissenschaftliche Textproduktion wird zunehmend oft zur Simulation oder Heuchelei von wissenschaftlicher Diskursivität. Die nun folgenden Beispiele dienen auch der Erheiterung — ich freue mich über eine E-Mail an
[email protected] von jedem Leser, der mir dabei helfen kann, auch nur ansatzweise zu verstehen, was im Folgenden jeweils gesagt werden will. Der Medientheoretiker (und neuerdings auch: »Koevolutionstheoretiker « 249 ) Manfred Faßler schreibt in seiner Arbeit »Zeit(T)Akte«: Mittlerweile gibt es ja nicht nur awards für interaktive Kunst oder für »Multimedia 4 Kids«, sondern auch awards für awards: die besondere Auszeichnung für den award. Es gibt auch das Phänomen des inversen award: Hier macht dann nicht der Preis Werbung für das ausgezeichnete Produkt, sondern das (bereits erfolgreiche) Produkt wirbt für den Preis. Die Grenzen zwischen Aufmerksamkeitsökonomie, Win-Win-Situationen und reiner Heuchelei zweiter Ordnung sind mitunter fließend. 248) Vier Beispiele von http://www.icts.sbg.ac.at, http://www.kowi.sbg.ac.at und http://www.salzburgresearch.at. Auch Buchtitel wie etwa »medi@girls« oder »Generation @ im Chat« müssen in diesem Zusammenhang nicht weiter kommentiert werden. 247)
144 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
»Vor allem dann, wenn die aufgerufenen Termini >Performanz< (als Aktionsbeschreibung) und >Performativität< (als Formbeschreibung) nicht selbstverständlich preisgeben, ob mit ihnen Projekt, Konzept, Experiment, Spiel, Aufklärung, Einzigartigkeit o. ä. gemeint ist. Zwischen Begründung und Beobachtung liegt nicht nur die Differenz von Intention und Empirie. Das Spannende ist, dass es simultan um ein Produkt, ein Ergebnis und ein Ereignis geht.« 25° Auch der Medientheoretiker Ramon Reichert formulierte höchst Elaboriertes in einem Text mit dem Titel »Homo laborans« (erschienen in einer Tageszeitung!): »Es wird argumentiert, dass repressive Systeme antiproduktiv sind, insofern sie auf die Bewirtschaftung des vom Arbeitsmarkt ausgesperrten >sozialen Kapitals< verzichten. Armutsdelinquenz verschwende systematisch Humanressourcen. Kontrollgesellschaftliche Überlegungen haben sich allerdings schon bald der akademischen Philologie der Deleuze'schen Begriffsprägung entwunden. Es sind die Debatten der Kommunitaristen (Barber, Etzioni oder Beck), mit denen sich der Wechsel von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft vollzieht. In ihren Programmen soll das Gefängnismodell auf die Gesellschaft der New Economy ausgedehnt, die sachliche Apparatur für leidenschaftslose Repression verfeinert und mithilfe von Überwachungstechnologien erweitert werden. Mit der zunehmenden Privatisierung von Gefängnissen wird versucht, die delinquente Reservearmee an billigen Arbeitskraftrekruten zu bewahren und diese manövrierfähige Masse an Arbeitskraft einem produktiven Leistungsregime zu unterwerfen. Damit wird erneut im Gefängnis ein neues Gesellschaftsmodell manifest gemacht, nämlich jenes des gefügigen, flexiblen und Anreizen gehorchenden Arbeiters, ein Modell, das wir täglich in den Medien als normatives Leitbild zur Kenntnis nehmen müssen. «251 Mein persönlicher All-Time-Favorit ist jedoch ein Abstract der Kulturwissenschaftlerin Sabine Müller für ihren Vortrag »Das Theater des Flaneurs. Aspekte einer ohrenphilologischen Rekonstruktion intimer Kollektivität«, gehalten am 27. Januar 2003 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien:
249) So die Berufsbezeichnung bei einem Vortrag im Kunstraum Innsbruck, »medien.kunst.tirol«, 10. März 2006.
250) http://web.uni-frankfurt.deb09/kulturanthrold/inst/mafajexte/Zeit(t)Akt..pdf 251)
»Der Standard«, 31. Juli 2004, Album Dossier, S. A2. Dank an Frank Hartmann für das Beispiel.
Bullshit-PR und heiße Luft 145
»Die enge Verstrickung der Erfolgsgeschichte des Flaneur-Konzepts mit der von wechselnden Paradigmen begleiteten Forderung nach kulturwissenschaftlicher Transdisziplinarität soll zu einer Reformulierung seiner Scharnierfunktion zwischen Erzähl- und Kulturtheorie genutzt werden. Zu diesem Zweck werden Ergebnisse der soziopolitisch orientierten Theatralitätsforschung als Bindemittel erprobt: zwischen Richard Sennetts öffentlichkeitsgeschichtlichen Überlegungen zu den Aporien intimer Kollektivität (Bürgerrecht auf Schweigen und Antitheatralität) und Michail Bachtins ohrenphilologischer Dialogizitätstheorie. «252 Verdammt: Was ist hier in wen verstrickt, wer ist Bindemittel wofür, wo ist das Scharnier, und was ist seine Funktion? Und, ja: Worum geht es eigentlich hier? Die Addition einiger Theorie-Versatzstücke erfreut sich offenbar in gewissen kulturwissenschaftlichen Diskursen großer Beliebtheit. So auch bei Susanne Lummerding: » Meine transdisziplinäre Herangehensweise im Sinn einer kritischen Repräsentationstheorie verbindet Ansätze strukturaler psychoanalytischer Theorie mit Ansätzen neuerer Hegemonie- bzw. Demokratietheorie sowie der Film- und Medientheorie, der Gender- und der Cultural Studies, um Perspektiven auf aktuelle Medienkonstellationen zu eröffnen, die sich jenseits technikdeterministischer oder kulturpessimistischer Einschätzungen bewegen.« 253 Das Geschwafel von Transdisziplinarität mag mitunter als Drohung verstanden werden, als Ankündigung eines postmodernen Theorien-Wirrwarrs, in dem ernsthafte Wissenschaft durch simulatorische Worthülsen ersetzt wird: heiße Luft statt Substanz. Die Sprache wird nicht zum Enthüllen, zur Aufklärung, sondern zum Verhüllen, zur Verkomplizierung verwendet. Die meisten der oben zitierten Sätze verweisen nur auf sich selbst, genauer: auf ihre Funktion, wissenschaftliche Diskursivität zu simulieren. Dazu noch ein Fundstück — mit fast parodistischen Ausmaßen: »[...] wird Kommunikation als eine Dynamik auf sozialen Räumen im Rahmen der neueren, evolutionären Systemtheorie, namentlich der Theorien selbstorganisierter Kritikalität im Sinne der Santa-Fe-Schule, eingeführt. Dynamiken werden dabei zu emergenten informationsver252) http://www.ifk.ac.at/calendar.php?e=89 253) Aus der Kurzbeschreibung zum Druckkostenantrag für die Publikation des Forschungsprojekts »agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen«:
http://www.fwfac.at/de/abstracts/abstract.asp?L.D&PROJ.D3627. 146 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
arbeitenden Systemen, welche die sozialen Räume auf dem Grund eines Interaktionsnetzwerkes strukturieren, das als Skelett des Raumes aufgefasst werden kann. Dadurch wird zudem die Einführung eines stark verallgemeinerten Agentenbegriffs ermöglicht. Es ist in der Hauptsache die vertikale Wechselwirkung zwischen der mikroskopischen und makroskopischen Prozessebene, welche die emergenten Eigenschaften sozialer Wirkungsentfaltung prägt.« 254 Es gäbe noch zahlreiche Beispiele, und ein Buch ä la Sokals »Eleganter Unsinn« über die gegenwärtigen Medien- und Kulturwissenschaften müsste erst noch geschrieben werden. In unserem Kontext aber ist interessant, wie in gewissen kulturwissenschaftlichen Strömungen wissenschaftliche Diskurse zu esoterischen Privatsprachen verkommen sind. Statt auf Begriffsschärfung und Differenzierung zu setzen, regiert Theorie-Faselei und beliebiges Collagieren von aufgeschnappten Termini. Der Copy/Paster hätte hier eine besonders gute Ausrede: Er musste den Text ja 1:1 markieren, ausschneiden und einfügen, denn verstanden habe er rein gar nichts, aber irgendwie klang es doch nach Wissenschaft ... Ob Forschungsprojekte mit Titeln wie »Ort ohne Ort: das Schiff« oder »Ambivalenzen der Ansichtskarte: zwischen Lokalität und Globalität« und Vorträge wie etwa »Sorge um die Entsorgung oder wo überwintert die Funktion« oder »Der Hund als Emblem« auch unter die Kategorie Bullshit fallen, vermag ich in Ermangelung näherer Informationen nicht zu beurteilen. Und fast hätte ich es vergessen: Eine beliebte postmoderne Denkfigur ist ja auch das Eingeschrieben-Sein-des-Einen-in-das-Andere, was zu den üblichen Vortragsund Aufsatztiteln wie etwa »Medienäther — Äthermedien« oder »Körpermedien — Medienkörper« führt. Auch hier herrscht Bullshit-Verdacht. Die Produktion von postmoderner heißer Luft durch eine gewisse Gruppe von Wissenschaftlern und die Reaktion mancher Studierender mit dem GoogleCopy-Paste-Syndrom sind symptomatisch für die gegenwärtige akademische Kultur der Heuchelei: Copy/Paste als Reaktion auf Bullshit-Diskurse, auf gut Deutsch: die Verdopplung der Scheiße.
254) Kurzbeschreibung einer Lehrveranstaltung (!): http://www.kowi.sbg.ac.adindex.cfm?
menuid=42&submenuid=0&caching=0&vvz_nr=-953075849&par=11&Jahr= 2006&Sem=WS Bullshit-PR und heiße Luft 147
5.4
Medienwissenschaft als Mickymausforschung
»TV macht Schönheitsoperationen salonfähig« und »Freunde sind wichtiger als Harry Potter«: zwei prototypische Schlagzeilen von dieser besonderen Forschungsfront. »Die Kinder sehen >Wickie und die starken Männer< gerne, weil die Sendung lustig und spannend ist«; und Schüler lesen Harry Potter »vor allem, weil sie sich dabei unterhalten«: zwei Zitate aus Diplomarbeiten, die in diese rätselhafte neue Rubrik fallen. 255 Vier Beispiele einer Spielart von Medien- und Kommunikationswissenschaft, die in den vergangenen Jahren im Umfeld von Cultural Studies und qualitativer Medienforschung salonfähig wurde. Sie scheint mittlerweile an zahlreichen Universitäten weit verbreitet zu sein. Ihr auffälligstes Merkmal ist die Produktion von trivialen, schon vorher klaren »Erkenntnissen« mit geringstmöglichem empirischen Aufwand. Solche Mickymausforschung 256 ist ein ideales Schlupfloch für willige Bullshitter — insbesondere gesellt sich empirische Mickymausforschung (im Sinne eines hypertrivialen Settings) gerne zu plagiierter Theorie. Mickymausforschung bestätigt immer nur das, was wir schon wissen oder zumindest vermuten, sie geht über den Common Sense nie hinaus, ist redundant und strikt affirmativ: Nichts ist etwa verpönter als Kritik an Medien(angeboten). In der plagiierten Diplomarbeit »Wickie und die starken Männer« macht die Autorin zum Beispiel gleich zu Beginn klar: »Diese Serie kann meiner Meinung nach den kindlichen Horizont erweitern und genügt höchsten Ansprüchen. « (S. 3 ) Mickymausforschung arbeitet immer »qualitativ«, beforscht gerne unverdächtige Kinder und Jugendliche und interessiert sich für harmlose Medienangebote wie etwa Zeichentrickserien, Comics oder Fantasy-Romane und deren jeweilige »Helden«. Sie wird offenbar überproportional gerne von weiblichen Studierenden und Lehrenden betrieben. Ihre weiteren Merkmale sind die Belanglosigkeit der Ausführung und das Zustandekommen von BagatelleBefunden. Wie kam es zur Mickymausforschung? Es war und ist ein Hauptanliegen der Cultural Studies, Medienrezeption als aktiven Prozess (als »Aneignung« von Medienangeboten) im Alltag der Menschen mit qualitativen, »weichen« Methoden zu untersuchen. Mittlerweile hat sich dieses Anliegen aber in eine Eigendynamik verwandelt, die viel eher einen Niveauverlust der gesamten 255)
Zitate aus: Newsletter der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), Nr. 11, Juni 2004; Diplomarbeit »Wickie und die starken Männer«, Universität Klagenfurt, 2004, S. 94; »PLUS«, Zeitschrift der Universität Salzburg, Juni 2003. 256) Der Begriff »Mickymausforschung« stammt von mir. Damit meine ich unbedeutende Mini-Forschung, Forschung im Briefmarkenformat, wissenschaftlicher Diskurs reduziert auf Sprechblasentexte etc. — Der Begriff ermöglicht mehrere Assoziationen.
148 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
Medienwissenschaft als irgendwelche neuen Erkenntnisse mit sich bringt. Unter dem Deckmantel der Alltagsforschung werden seit einigen Jahren Diplomarbeiten zum Harry-Potter-Leseverhalten in einer einzigen österreichischen Gemeinde, zur Rezeption einer österreichischen Krimiserie in Portugal oder — als bisheriger Höhepunkt der Entwicklung — zum Einfluss der Medien auf das eigene Surfverhalten beim Sommerurlaub auf Bali geschrieben. 257 Raymond Williams, der etwa mit »Culture« (1981) einen durchaus elaborierten Entwurf für die Cultural Studies vorgelegt hat, würde hier wahrscheinlich einen Missbrauch der Grundidee wittern. Die obigen Beispiele betrafen Diplomanden. Doch auch bestimmte Lehrende — aus den Cultural Studies wie auch aus verwandten Richtungen — gehen nicht unbedingt mit gutem Beispiel voran. Sie präsentieren etwa einen »Werkstattbericht« über qualitative Forschung zur österreichischen Fernsehserie »Vier Frauen und ein Todesfall«, bezeichnen dabei die Aufzählung von Charaktereigenschaften der Figuren als »Inhaltsanalyse« und verweisen durch Abspielen von Statements im Dialekt auf elf »qualitative Interviews«, die geführt wurden. 258 Sie halten etwa auf einer wissenschaftlichen Tagung zum Thema »Music Was My First Love: Wissenschaftliche Perspektiven auf Musik und Medien« einen Vortrag mit dem schwer zu toppenden Titel »Mehr als Musik: Die sieben Dimensionen des Eurovision Song Contests« 259 . Auch Wirtschaftssponsoring scheint zu einer Verflachung der Inhalte und in diesem Fall auch zu einer Durchdringung der Interessen beizutragen: Auf einer groß angelegten Klagenfurter CulturalStudies-Tagung referierte 2005 auch ein Vertreter der Telekom Austria, und zwar zum Thema »Die neue Multimedia-Station der TA [Telekom Austria — Anmerkung] im Alltagsleben von Leuten«. 260 Den Anschluss an die Cultural Studies wollte man hier offenbar durch die Aufnahme des Begriffs »Alltagsleben« in den Titel sicherstellen. Mickymaus-Erkenntnisse finden sich auch in Veröffentlichungen von etablierten Medienwissenschaftlerinnen. Nicola Döring etwa schrieb als Fazit einer Studie zum Klingelton- und Handylogo-Download-Verhalten von Jugendlichen: 2S7) Siehe auch diverse weitere Arbeiten im Katalog http://www.uni-klu.ac.admkO/katalog. Der volle Titel der Surf-Diplomarbeit lautet: »Die Rolle (bzw. Bedeutung) der Medien für das Wahrnehmen (bzw. Erleben) des Wellenreitens im Sommer 2006 auf Bali — eine autoethnographische Studie«. Interessant ist hier auch die Bezeichnung »autoethnographisch« für einen mutmaßlichen persönlichen Reise- bzw. Urlaubsbericht. Die Universitäten sollten sich dringend die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz derartiger Arbeiten stellen. 258) Präsentation einer Professorin, Universität Salzburg, 19. Oktober 2005.
259) http://www.ijk.hmt-hannover.de/musik-und-medien 260) http://www.uni-klu.ac.at/mk/CS2005/doc/cs-Programm-031005.pdf Medienwissenschaft als Mickymausforschung 149
»Indem Handy-Nutzerinnen und -Nutzer ihre Endgeräte mit Klingeltönen und Logos ausstatten, [...] eignen sie sich ihr Endgerät gestalterisch an, bekräftigen sie ihre Identität, pflegen sie soziale Beziehungen und strukturieren interpersonale Kommunikation [...]. Gleichzeitig sorgen sie auch dafür, dass Symbole der glokalisierten Populärkultur jenseits der Massenmedien-Rezeption in die Lebenswelten integriert werden: Da erklingt dann der Sound von >Dallas< auf dem Schulhof oder 261 sieht man das BWM-Logo auf dem Handy des Fahrgastes im Bus.« Auch an anderer Stelle sympathisiert die Autorin mit den technophilen Kids, diesmal mit Handy-»Poeten«, was erneut zur schonungslosen Affirmation gerinnt: »Umgekehrt wird die alltägliche SMS-Textproduktion zuweilen von den Nutzern selbst bewusst ästhetisiert (z. B. durch Metaphern oder Reime), so dass die Nutzer/innen zu Gelegenheitsdichtern werden: klausur war supergeil — hier regnets aber du bist mein sonnenschein. Gerade die formale Restriktion der Zeichenbeschränkung regt offensichtlich einige Nutzer zur spielerischen, mehr oder minder kreativen Sprachgestaltung an. «262 Und die Salzburger Medienpädagogin Ingrid Paus-Hasebrink hat rund 200 Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren — teilweise mit Handpuppeninterviews — zum Pokemon-Phänomen befragt. In ihrem Fazit schreiben sie und eine Ko-Autorin: »[...] Pokemon wird vielmehr zum Ausdruck für eine eigene (Kinder-) Welt, zu der Erwachsene kaum mehr Zugang haben. Kinder schaffen sich mit ihnen eine eigene >Wissenswelt<, mit der sie Alltagskompetenz innerhalb ihrer Peer-Groups erlangen und vertreten. Die Pokemon werden zu einem Symbol einer neuen, ausgesprochen kommerziell bestimmten kinderkulturellen Ausdrucksweise. Sie sind >ihre Welt<, in der sie sich kompetent und lustbetont bewegen können. « 263
261)
262)
»BWM-Logo«: Mutmaßlich war hier das Logo des Münchener Autobauers gemeint. Quelle: Nicola Döring, Klingeltöne und Logos auf dem Handy: Wie neue Medien der UniKommunikation genutzt werden, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Heft 3, 2002, S. 376-401, hier S. 398 f. Nicola Döring, »Kurzm. wird gesendet« — Abkürzungen und Akronyme in der SMSKommunikation, http://www.nicola-doering.de/publications/sms-kurzformen-doering2002.pdf, 2002, S. 19 f.
150 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
Abgesehen von den offenkundigen Redundanzen stellt sich auch hier die Frage nach dem Erkenntnisgewinn oder genauer: ob irgendein Forschungsfortschritt stattgefunden hat. Die Befunde der Mickymausforschung — egal, ob zu Klingeltönen, SMS-Sprüchen oder Pokemon-Figuren — weisen nicht nur auf einen bedenklichen Niveauverlust der Medienwissenschaft hin. Sie erschweren wohl auch eine differenzierte Betrachtung der neuen Medientechnologien bei den Studierenden: Ich wage die Behauptung, dass Copy/Paste-Praktiken in derartigen Kontexten besonders verbreitet sind; und einige Hinweise dafür gibt es ja auch unter »meinen« Plagiatsfällen (plagiierte »Wickie«-Diplomarbeit in Klagenfurt, plagiierte Bakkalaureatsarbeit in Salzburg sowie plagiierte Diplomarbeit in Salzburg — und alle drei von Cultural-Studies-Forschern betreut und benotet). Die Theorie der Medienaneignung hat die nicht zulässige Aneignung von fremden Medientexten offenbar begünstigt. Die Cultural Studies scheinen heute für ein Milieu zu sorgen, in dem akademisches Fehlverhalten mitunter relativ unbemerkt gedeihen kann. Eine Gegenbewegung ist dringend erforderlich. 5.5
Technophilie als Ideologie
Nicht nur Bullshit-PR für neue Medien, heiße Luft über neue Medien und Mickymausforschungs-Tendenzen in der Medienwissenschaft haben ein Milieu geschaffen, das die negativen Aspekte des Internets systematisch ausblendet. Dazu kommt auch noch das Problem, dass Technophilie als Ideologie in wissenschaftlichen Diskursen offen in Erscheinung tritt. Einige Autoren scheinen von einer regelrecht naiven Techno-Euphorie beflügelt zu sein. Erik Möller etwa schreibt: »Die zunehmende Vernetzung und Medialisierung unserer Kultur könnte aus rein wissenschaftlicher Sicht faszinierender kaum sein.« 264 Ist sie dies tatsächlich aus »rein wissenschaftlicher« Sicht, oder nicht vielmehr aus der Sicht eines Techno-Freaks bzw. Cyber-Adepten? — Der Endzustand einer durch und durch medialisierten Welt, einer Allgegenwart der Medien und Durchdringung jedweden Lebensbereichs mit ihnen wird gerne als Heil, als digitales Nirwana angesehen. Michael Gleich etwa ist ein Anhänger dieses Heilsversprechens: 263) Ingrid Paus-Haase [heute Paus-Hasebrink — Anmerkung], Ulrike Wagner, Das Phänomen Pokdmon: Wie gehen Kinder, Eltern, Erzieherinnen und Lehrer damit im Alltag um?, in: Achim Baum, Siegfried J. Schmidt (Hg.), Fakten und Fiktionen: Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten, Konstanz 2002, S. 351-366, hier S. 365. — An einer Stelle im Aufsatz werden die Kinder als »Probanden« bezeichnet, was eher auf harte empirische Sozialforschung hinweisen würde (S. 353). 264) Erik Möller, Die heimliche Medienrevolution: Wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern, Hannover 2005, S. 210.
Technophilie als Ideologie 151
»Unser Hunger nach Informationen ist geweckt. Jetzt wollen wir ihn stillen, immer und überall. Die Antwort heißt Evernet, für ewig online. Es wird die reifere Version des heutigen Internet sein. [...] Erst wenn auch Fühlen, Hören und Riechen an diesem Kontakt beteiligt sind, werden wir tatsächlich zu entspannten Flaneuren der Netze, surfen, tauchen ein, schwimmen, baden unsere Sinne in den Medien. Eines Tages verlässt das Internet die Erde und wird galaktisch. «265 Letztere Vision wäre als Idee gar nicht so schlecht, denn dann wären wir das Internet wieder los. Derweilen aber bleibt uns das irdische Problem der Ideologie der Technophilie. Es mag bei Netzaktivisten und Wissenschaftspublizisten noch bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar sein, bei Professoren der Medienwissenschaft aber verwundert es schon einigermaßen, wenn uneingeschränkt Techno-PR im Werbeslogan betrieben wird: »24 Stunden Aufenthalt in der Traumstadt 2014. Der urbane User, eingebettet in eine vollständig vernetzte Medienumgebung. New Usage Experience, New Product Experience, New Media Experience, Brand Reality sind die Schlagworte. Der Konsument 2014 als Akteur, als involvierter User. Wie verhält er sich? Wie unterhält er sich? [...] Das Handy als Personal Assistant? [...] Was will er über die Marken wissen, die ihn umgeben? Wie wählt er seine Politiker? Werte? Währungen? [...] By the way: Gibt es On-Air TV, Hollywood-Studios und die Plattenindustrie 2014 noch? « 266 Erneut scheint die voll medialisierte Umwelt die ultimative Heilsvorstellung zu sein, und die Medien stehen als entscheidender Garant für ubiquitäres und ewiges Glücksgefühl. Der Mensch im immersiven Flow bzw. Stream der Medien — wollen wir da hin, würde das unsere immer noch körperliche Sterblichkeit erträglicher werden lassen? Je öfter ich mir dieses Zitat der »Future University« durchlese, desto deutlicher empfinde ich diese vollständig vernetzte Medienstadt 2014 als Bedrohung, als blankes Horrorszenario. Nicht umsonst ist in ihr der Mensch ein »Konsument«, zwar ein aktiver User, aber dennoch kommt zuerst sein Interesse für Marken, dann kommt die Politik und erst nachgereiht kommen die Werte. Ist das die Welt, die wir uns mit einem Immer-mehr-an-Medien und einem Immer-mehr-an-Technik schaffen wollen? Ein wenig erinnern all diese Zukunftsvisionen an den mahnenden vierten und letzten Teil der Fernsehserie »Die Piefke-Saga«, in der das vermeintlich reale, 265) Michael Gleich, Web of Life: Die Kunst vernetzt zu leben, Hamburg 2002, S. 278 f. Auch dieses Buch ist von der Vision des global brain getragen. 266) Programmfolder zur »CCID Future Universiry for Innovation Leaders«, Universität Frankfurt am Main, 2004, S. 4.
152 Textkultur ohne H irn statt Global Brain
perfekte Urlaubsparadies nur noch ein abgründiger Fake ist — oder auch an Filme wie »Die Truman Show« und »Matrix«. Wer in einer solchen Welt der reinen Medieneffekte leben will, der sollte sich schleunigst fragen, was er glaubt, damit gewonnen zu haben. Kunstfestivals sind längst Erfüllungsgehilfen dieser technophilen Ideologie geworden. Egal, ob Memetik, neofaschistoid angehauchte Soziobiologie 267 oder Komplexitätstheorie zum Thema gemacht wird, Festivals wie etwa die »ars electronica« in Linz haben ihre einstige kritische und subversive, mitunter anarchische Dimension längst verloren. Sie sind zum Standortfaktor geworden und sind zumindest implizit immer PR-Events im Dienst der Computerindustrie. Im Kontext der »ars electronica« werden heute Workshops mit Titeln wie »Power Girls — Lust auf Technik « 268 mitveranstaltet, und das künstlerische wie theoretische Rahmenprogramm ist eine Wiederkehr des Immergleichen. Ein uneingeschränktes Lob der neuen Medien findet sich auch in zahlreichen wissenschaftlichen Studien der so genannten »grauen Literatur«. Die Autoren einer Schweizer Studie zu »Arbeits- und Lebensformen in der Zukunft« überschlugen sich etwa 2001 förmlich mit Lobeshymnen auf die Netzmedien. Im Kapitel »Ein goldenes Zeitalter« ist nachzulesen: »Für junge Netizens sind Internet und Computer fun. Bessere Lehrmeister als Spiel und Spaß gab es noch nie. Die Glotze ist passiv, bestenfalls rezeptiv. Internet und Multimedia fördern und fordern, sind aktiv und kreativ. Sie fördern Lesen, Schreiben, Rechnen, Musik und Kunst. Sie fordern heraus zu analysieren, zu prüfen und Probleme zu lösen. Sie verführen zum Denken, zum Spinnen von Ideen, zu formulieren, zu gestalten, zu komponieren, Rollen zu spielen. Sie bilden. In der neuen Dimension Cyberspace gewinnen Kinder jene Freiräume zurück, die ihnen mit Lernmüll überfrachtete Abläufe von Schulen [...] gestohlen haben. «269 Nachdem nunmehr — und übrigens zum wiederholten Male auch in diesem Buch! — »geklärt« wurde, dass Computerspiele eher bilden als Zur-SchuleGehen und traditionelles Lernen, verwundert es umso weniger, dass die Techno-Adepten mindestens zwei weitere Entwicklungen auf dem Lernsektor 267) Mit dem Auftritt des umstrittenen amerikanischen Biologen Randy Thornhill, der Vergewaltigung als evolutionär »sinnvolle« Strategie begreifen will, hat die »ars electronica« für mich im Jahr 2000 ihre Glaubwürdigkeit verspielt, siehe
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/8/8667/1.html. 268) http://www.aec.at/de/global/news.asp?iNewsID=879 269) Robert Nef u. a., Arbeits- und Lebensformen in der Zukunft, http://ger.libinst.ch/publications/texts/alz.pdf, 2001, S. 97 f.
Technophilie als Ideologie 153
uneingeschränkt forcieren wollen: E-Learning und mobiles Lernen bzw. MLearning sind die beiden Zauberworte. Die technophile mobiles-Lernen( mittlerweile auch Microlearning-)Ideologie geht von der irrigen Annahme aus, am Handy-Display sei die komplexe Vermittlung von Lehrstoffen möglich, ja es sei darüber hinaus sogar sinnvoll, das Handy beim Lösen von Aufgaben einzusetzen. Schöne neue Medienwelt, eine Medienwissenschaftlerin begleitet uns wieder in ihr: »Didaktische Chancen mobiler Endgeräte liegen etwa darin, dass Lernende durch die Handhabung eines eigenen Gerätes aktiviert und motiviert werden, dass sie flexibler individuell und in Gruppen lernen können, dass Information, Kommunikation und auch Produktion mit Hilfe der Geräte ortsunabhängig möglich sind.« 270 Oder: »M-Learning kann schließlich zum lebenslangen Lernen in der Freizeit beitragen, etwa indem Nischenzeiten (z. B. Wartezeiten) genutzt werden.« 271 Dass Lernen unablässig mit Fokussierung und Konzentration verbunden ist und diese gerade an jenen öffentlichen Plätzen, an denen M-Learning zum Einsatz kommen sollte, kaum jemals möglich sind, wird selbstverständlich verschwiegen. 272 Die Rede ist mitunter vom »konstruktivistischen« 273 , »selbstinstruktiven«, »interaktiven« oder gar »polylogischen« Lernen. E-Learning an Hochschulen (das meint derzeit: Folien zum Downloaden, Chats mit Lehrenden, Diskussionsforen, digitale Dropbox für schriftliche Aufgaben, bei größeren
270) Nicola Döring, Pädagogische Aspekte der Mobilkommunikation,
http://www.nicola-doering.de/publications/paedagogik-mobil-doering-2004.pdf, 2004, S. 6 f. 271) Ebenda, S. 8. 272) Mobiles Lernen — gut zu beobachten etwa in Zügen — habe ich bislang ausnahmslos so wahrgenommen: Der Schüler oder Studierende »lernt« ein paar Minuten am Laptop oder PDA, und dann schaut er (eine Stunde oder einige Stunden) zur »Belohnung« einen Film an oder ballert in einem Computerspiel. Längere konzentrierte Lernphasen habe ich noch nie wahrgenommen. (Typisch ist auch das daumenkinoartige Durchblättern eines Buchs oder Skriptums und dann der rasche Griff zum iPod, der eben doch weitaus Angenehmeres verspricht.) 273) So wie die Intertextualitätstheorie zur Legitimation des Plagiats verwendet werden kann, scheint der Konstruktivismus im Didaktik-Kontext für die Vorstellung herhalten zu müssen, dass sich eine Informationsübertragung unter operativ geschlossenen kognitiven Systemen von vornherein ausschließt. Damit wird ein Nicht-Dazulernen durch Inputs von außen quasi legitimiert und mit der Vorstellung vom rein subjektinternen Informationsaufbau nur halbherzig kompensiert. Wird Wissen nur noch als Eigenleistung des vermeintlichen »Empfängers« konzipiert, trifft sich dies gut für die Lehrenden: denn diese sind dann ja für das Wissen (und auch für seine Richtigkeit — pardon: Viabilität) eigentlich nicht mehr verantwortlich. — In meiner Lesart stellt der Konstruktivismus ohnedies eher einen empirischen Trend, eine Gegenwartsdiagnose dar: Es wird immer schwieriger, in die Köpfe der Leute etwas reinzukriegen.
154 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
Lehrveranstaltungen auch Webstreams) grassiert als scheinbar unaufhaltsames und kaum hinterfragtes Allheilmittel. Es geht so weit, dass bereits in Stellenausschreibungen an Universitäten ein »starkes Commitment« zum E-Learning verlangt wird, 274 während es auf der anderen Seite immer noch eine Gruppe älterer Professoren gibt, die sich weigert, den Computer zu benützen (und denen mutmaßlich permanent erfolgreich Netzplagiate untergejubelt werden). Powerpoint ist in so gut wie allen Lehrveranstaltungen zum Standard geworden — doch wer hat bereits untersucht, wie sich diese Häppchen-, Aufzählungs- und Stichwortkultur in Überdosierung auf unsere Großhirne auswirkt (Stichwort Powerpointitis)? In Projekten wie »Schulen ans Netz«, »Virtueller Campus« u. v. a. werden solche Überlegungen gerne ausgeklammert. — Nur wenige Didaktikexperten weisen vorsichtig auf Kritik am E-Learning hin: »Die kritischen Stimmen, die eine Zunahme der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine und eine Verarmung der sozialen Kontakte heraufbeschwören, sind bei der Entwicklung von Lernwelten zu beachten. [...] Bildungspolitisch ist die Gefahr der technologischen Verselbstständigung ohne Inhaltsorientierung gegeben [...].« 275 Bei einem Weiterbildungsseminar an der Universität Salzburg wurde 2005 folgendes Szenario als nachahmenswertes Best-Practice-Beispiel erwähnt: In der Vorlesung »Theorien und Metatheorien der Erziehung« stellte der Professor den erstsemestrigen Studierenden die Aufgabe, eine Definition von »Erziehung« aus dem Internet herauszusuchen und diese dann ins Diskussionsforum der E-Learning-Plattform zu stellen. Anschließend wurde über die gesammelten Definitionen mit dem Professor online diskutiert — in Form von kurzen Nachfragen und in Häppchen-Kommunikation. Stolz verwies man in der Weiterbildung auf die zahlreichen Beiträge im virtuellen Forum. Doch die Sache hat einen erkennbaren Haken. Durch die gleichsam primitive Aufgabenstellung, eine Definition aus dem Internet herauszusuchen, werden die Studieren-
den via E-Learning unreflektiert an die Google-Copy-Paste-Praxis herangeführt. Abschließend möchte ich bemerken: Beim Problemfeld E-Learning geht es gar nicht nur um soziale Kontaktarmut oder um zunehmenden TechnoFetischismus bei gleichzeitig zunehmender Irrelevanz der Inhalte. Es geht noch um weit mehr: Auch Untersuchungen zum steigenden Technikstress 276 oder 274) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20974/1.html 275) Rita Kupetz, E-Learning, in: Torsten Siever, Peter Schlobinski, Jens Runkehl (Hg.), Websprache.net: Sprache und Kommunikation im Internet, Berlin — New York 2005, S. 266-289, hier S. 286. 276) Siehe etwa zuletzt wieder die Debatten anlässlich der CeBIT 2006:
http://www.netzeitung.de/internet/386598.html. Technophi I ie als Ideologie 155
zur positiven Korrelation von Verdummung und PC-Nutzung 277 werden von den Ideologen der Technophilie gerne ignoriert. Dabei wäre es höchste Zeit, die Debatte offen zu führen: Was hat E-Learning den Schulen und Universitäten in Bezug auf die Qualität von Lehre und Forschung und vor allem in Bezug auf Wissensniveau, Kompetenzen und Qualifikationen der Absolventen gebracht? Andersrum gefragt: Was war so schlecht am »isolierten« Lernen, warum geht der Zug gleichsam automatisch in die Richtung »kooperatives« und Neue-Medien-basiertes Lernen? Was bringen all die Projekte, die die Digitalisierung von Schulen, Universitäten und dazugehörigen Bibliotheken immer noch forcierter vorantreiben wollen? Einige (wenige) Bildungsforscher fordern bereits: volle Kraft zurück. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Copy/Paste-Kultur und der negativen kognitiven Auswirkungen des Internets sehe auch ich es als gebotener an, in der nächsten Zukunft wieder primär in alte bzw. klassische Kulturtechniken zu investieren. Dies bedeutet nicht, dass alle Virtualisierungs- und Digitalisierungsprojekte gestoppt werden müssen (dies wäre ohnedies unmöglich und gar nicht Sinn der Sache). Aber wir müssen dringend wieder eine Balance schaffen zwischen den »alten« Kulturtechniken (wie genaues, sinnerfassendes, reflektierendes und kritisches Lesen, profundes Recherchieren, genuines Formulieren/Schreiben, Argumentationsführung und Rhetorik) und den neuen (schnelles, erstorientierendes, vernetztes, hypertextuelles Lesen, Internet-Recherche mit ausgeprägtem quellenkritischen Bewusstsein, multimediale Aufbereitung und Darstellung von Inhalten). Dass die neuen Medien ergänzend kreativ genutzt werden können und sollen, ist völlig unbestritten. Dass sie derzeit allerdings im großen Stil zur Simulation von Wissen missbraucht werden und deshalb die gesamte Text- und Wissenskultur in Gefahr ist, sehe ich als genauso erwiesen an.
277) »Je mehr am Computer, desto dümmer«, titelte »Spiegel Online« im Jahr 2005. Zwei Münchner Forscher hatten die PISA-Daten auf ihre eigene Art und Weise interpretiert und kamen zu folgendem Schluss: »Computer gehen nicht mit besseren, sondern zumeist mit schlechteren Leistungen in den Pisa-Kompetenzen einher [...]. Computer im Kinderzimmer drücken die Noten, weil auf ihnen mehr gespielt als gelernt wird.« Siehe http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,378164,00.html.
156 Textkultur ohne Hirn statt Global Brain
5.6
Eine Hoffnung
Fassen wir die Problemlage noch einmal abschließend zusammen. Was haben die neuen Medien E-Mail, WWW, Chat und Handy bei der Generation Google-Copy-Paste bewirkt? Konzentrationsprobleme und Aufmerksamkeitsstörungen »Information Overload«/Infoflut, Technikstress, vor allem E-Mail-Stress und der Zwang zur Instantan-Kommunikation, »Infomanie« Zunahme der Halbsatz- und Viertelsatzkommunikation, Sprache als Neusprech-Gebell, Homogenisierung und Standardisierung durch (Leetspeak-) Formeln/Slogans Fragmentarisierung/Parzellierung/Miniaturisierung der Inhalte — Unfähigkeit, das Ganze zu erfassen und kritisch zu reflektieren Google-Copy-Paste-Syndrom anstelle von Recherchieren, Lesen und Schreiben, Interpassivität278 (delegiertes Lesen und Schreiben) anstelle von (Inter-)Aktivität Was wäre zu tun? Naturromantisch wäre zu antworten: auf die Wiese legen und ein Buch von vorne bis hinten langsam und mit kritischem Bewusstsein durchlesen. »Informationsdiäten« und »netzfreie Zeiten« (wie früher autofreie Sonntage) wären wohl für manchen tatsächlich ein Weg zur Besserung. Die Ausbildung in klassischen Kulturtechniken, die derzeit zugunsten technophiler Experimente immer mehr verliert, müsste dringend (wieder) zur Chefsache an Schulen und Universitäten werden. Bildungspolitik und Universitäten sind aufgerufen, zunächst zu überprüfen, wie weit das Google-Copy-Paste-Syndrom bereits fortgeschritten ist. Bei Verifikation meines Verdachts müsste rasch gehandelt werden: Ein Studiengang »Klassische Kulturtechniken« wäre wohl ein Renner. Über Alternativen zur herkömmlichen wissenschaftlichen Textproduktion bei Abschlussarbeiten müsste ebenso unverzüglich nachgedacht werden. Aber ich möchte nicht sehen, dass in ein paar Jahren ein zweistündiger Kollektiv-Chat die schriftliche Klausur ersetzt haben wird, sondern dass die Studierenden sich wieder in eigenen Worten Gedanken machen, etwa zur Lösung eines fachspezifischen gesellschaftlichen Problems. Ich möchte nicht noch ein Buch schreiben müssen: » Vom Buch zum Bullshit oder: Wie sich Content in Exkrement verwandelte«. Denn es ist schon ein anderer Titel in Vorbereitung. Nicht weniger kritisch.
278) Nach dem Begriff von Robert Pfaller (Hg.), Interpassivität: Studien über delegiertes Genießen, Wien — New York 2000. Eine Hoffnung 157
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
6
6.1
Abbildungen Abb. 1:
Der Wikipedia-Eintrag »Systemtheorie« ....................................... 19
Abb. 2:
Abschnitt »Systemtheorie« aus einer Seminararbeit
Abb. 3:
Arbeit »Der Erste Weltkrieg« auf schoolunity.de ........................... 60
Abb. 4:
Absatz aus einer Fachbereichsarbeit in Geschichte
.....................
.......................
20 61
Abb. 5:
Google-Anzeigen für akademische Ghostwriter ............................. 67
Abb. 6:
Original — Lizentiatsarbeit an der Universität Bern .......................
74
Abb. 7:
Plagiat — Diplomarbeit an der Universität Klagenfurt ...................
75
Abb. 8:
Original — Dissertation an der Universität Salzburg ....................... 80
Abb. 9:
Plagiat — Diplomarbeit an der Universität Wien ........................... 81
Abb. 10: Leetspeak-Formularisches auf uboot.com ................................... 126
6.2
Tabellen ................................... 48
Tab. 1:
Typologie wissenschaftlicher Textplagiate
Tab. 2:
Plagiarismus in den USA ............................................................ 51
Tab. 3:
Plagiarismus in Großbritannien ................................................... 52
Tab. 4:
Auflistung »meiner« bisherigen Plagiatsfälle 2002 bis 2006 ............................................................................ 76
159
Stefan Weber
Das Google-Copy-PasteSyndrom Wenn rund dreißig Prozent der Studierenden bei Umfragen zugeben, dass sie Textklau aus dem Internet betreiben, dann läuft etwas aus dem Ruder. Die gegenwärtig grassierende Copy-PasteMentalität bedroht die gesamte wissenschaftliche Textkultur. Ein grundlegender Wandel der Kulturtechnik zeichnet sich ab: von der eigenen Idee und der eigenen Formulierung hin zur »Umgehung des Gehirns« und zur Textbearbeitung bereits vorhandener Segmente im Web. »Das Google-Copy-Paste-Syndrom« ist das erste deutschsprachige Sachbuch, das sich dem Kopieren-und-Einsetzen-Phänomen sowie den Folgen des Google-Wikipedia-Wissensmonopols widmet. Der Autor beobachtet kritisch die Ergoogelung der Wirklichkeit und
TELEPOLIS
die fortschreitende Austreibung des Geistes aus der Textproduktion. Er fragt, wie die Medienwissenschaft auf dieses Problem -
Die Telepolis-Bücher zur Netzkultur basieren auf den thematischen Stärken und dem internationalen Autorenkreis des OnlineMagazins Telepolis. Die Reihe konzentriert sich auf jeweils ein Thema mit speziell in Auftrag gegebenen Artikeln anerkannter Fachjournalisten und Wissenschaftler. Telepolis finden Sie im WWW unter www.telepolis.de
wenn überhaupt - reagiert. Netzplagiate gefährden Ausbildung und Wissen. Cyber-Neusprech oder »Weblisch«, Chat- und SMS-kontaminiertes Bewusstsein, affirmative Bagatelle-Forschung, Technophilie und BullshitPR für neue Medien schaffen zudem ein Milieu, in dem eine Kritik des Internets und seiner Verwendung systematisch ausgeblendet wird. Dieses Buch richtet sich nicht nur an Lehrende in Schulen und Universitäten, die sich mit diesem neuen Problem konfrontiert sehen. Es ist so geschrieben, dass es auch für ein breites Publikum, das die neuen Medien verwendet, eine kritische Lektüre bietet.
ISBN-io 3-936931-37-2 ISBN-13 978-3-936931-37-2
Thema • Neue Medien/Internettechnologie
Leser €
16,00 (D)
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16,50 (A)
• Technisch und gesellschaftspolitisch
Interessierte