PATRICK WYNES
Das Erbe des Andrew Benson Es geht um 20 Millionen Dollar – und Kommissar X löst das Geheimnis der Long ...
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PATRICK WYNES
Das Erbe des Andrew Benson Es geht um 20 Millionen Dollar – und Kommissar X löst das Geheimnis der Long Johns Zu seiner Linken konnte Jo Walker in diesem düsteren Stollensystem schwach Ben David erkennen, der ab und zu Feuerstöße aus seiner MP abgab. Maxwell stand daneben und schoß blind in den Gang, mehr zur eigenen Beruhigung als aus der Hoffnung, etwas zu treffen. Jo Walker schlich weiter. Hoch über sich konnte er das schwache Licht des Tages sehen. Zu seiner Rechten plötzlich eine Bewegung. Der Schlag traf Jo so heftig, daß er das Gleichgewicht verlor und kippte. Er schnappte nach Luft, wollte atmen, doch seine Lungen gehorchten ihm nicht mehr. Der Schlag genau auf den Solarplexus lahmte Kommissar X, und jetzt sah er in die kalten Augen des Killers. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Kommissar X daran, wie dieser Alptraum begonnen hatte…
»Wo du wolle? Du sagen ich fahren.« ›el taxista‹ Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Die Hauptpersonen: Andrew Baxter Benson gibt im Sterben Kommissar X einige Rätsel auf. Gina Benson gerät als Enkelin des Toten in die Schußlinien der Geheimdienste. Tarkowski ist ein Killer mit Spezialwerkzeug und Spezialbegabung. Ben Tassi ist hinter Bensons Erbe her. Tom Rowland begleitet Jo Walker auf einer höchst seltsamen Mission. Jo Walker ist Kommissar X
Takehiro Yamaguchis ganzer Stolz war sein Garten. Er hatte ein mittleres Vermögen an Geld in diesen Garten gesteckt; Grund und Boden im Weichbild von Tokio stellen das teuerste Erdreich dar, das man in ganz Japan kaufen kann, vielleicht sind die Grundstückspreise hier sogar höher als irgendwo sonst auf der Welt. Takehiro Yamaguchi hatte aber nicht nur Geld in den Garten investiert; er hatte auch seine Seele dareingelegt, seinen guten Geschmack, die Essenz eines langen, erfüllten Lebens. Japanische Gärten sehen anders aus als Gärten in England oder in Frankreich. Sie sind kleiner, manche nur ein paar Dutzend Quadratmeter groß. Und sie gehorchen einer ganz eigenen, unverkennbar japanischen Philosophie. Die einzelnen Teile des Gartens stehen miteinander in einem Zusammenhang; sie ergänzen sich, sie bilden Spannungen und lösen sie wieder. Nichts, selbst die Details, wird dem Zufall überlassen. Die höchste Kunst des Gärtnerns ist erreicht, wenn ein solcher Garten zugleich die Hand des Meisters verrät und den Eindruck macht, vollkommen natürlich gewachsen zu sein. Elemente eines solchen Gartens sind nicht nur Bäume, Büsche, Hecken und Blumen und deren Arrangement. Dazu gehören auch Steine, sorgfältig plaziert, es gehören Gewässer dazu und Gräser, Gefäße und ebenso die Wandungen, die den Garten gegen die Außenwelt hin abgrenzen. Die Kunst besteht darin, das Vorhandene geschmacksicher zu erweitern, die Natur nicht zu zwingen, sondern sie gewissermaßen zu Höchstleistungen anzuspornen – und das freiwillig. In vielen japanischen Gärten findet sich traditionsgemäß nicht nur ein Tsukubai, ein Wasserbecken, sondern auch ein Shishi Odoshi, eine Wildscheuche.
Von Gästen in einem japanischen Haus wird erwartet, daß sie die Räume rein an Leib und Seele betreten. Der Garten wurde den Gästen immer schon dargeboten als Entspannung des Geistes, dazu gab es einen Krug Wasser, damit die Gäste sich die Hände waschen konnten. Aus diesem Krug Wasser entwickelte sich im Lauf der Jahre das Tsukubai, das kunstvoll arrangierte Wasserbecken. Auch das Shishi Odoshi gehört zu den Wasserkünsten. Es besteht aus einem dünnen Bambusrohr, das sein Wasser in ein schräggestelltes Stück dickeren Bambus leitet; das vordere Teil dieses Bambus ist weitgehend ausgehöhlt und laffenförmig zugeschnitten. In dieser Höhlung sammelt sich das ausfließende Wasser- bis sein Gewicht das vordere Teil des dicken Bambusrohres senkt und nach unten drückt. Nun läuft das Wasser aus, das hintere Teilstück gewinnt die Oberhand und fällt schlagartig zurück. Es ist in Japan üblich, dieses Zurückfallen zu gestalten; man sorgt dafür, daß der Bambus auf etwas treffen kann, was Geräusch macht, einen Stein, ein Stück Holz oder anderes. Meist kommt dabei ein scharfes, klackendes Geräusch heraus, das das Wild erschrecken und verscheuchen soll. In der Kultur des japanischen Gartens hingegen dient das Shishi Odoshi anderen Zwecken; das Klacken unterbricht die Stille im Garten, strukturiert mit seinem Rhythmus die unhörbar verfließende Zeit und erinnert den Besucher des Gartens sanft und unaufdringlich daran, daß jedes Leben bemessen ist. Im Garten von Takehiro Yamaguchi am Stadtrand von Tokio stand ein Shishi Odoshi ganz besonderer Art. Das zurückfallende Stück Bambus prallte bei diesem Shishi Odoshi nicht auf Stein oder Holz, sondern auf ein Stück schwarzen, pockennarbigen Metalls. Yamaguchi hatte dieses Metallstück vorgefunden, als er das Grundstück gekauft und hergerichtet hatte, und er hatte es einfach im Boden belassen und für sein Shishi Odoshi verwendet. Denn bei jedem Aufprall des Bambusses auf die metallene Spitze entstand ein sanfter, hallender Ton, unnachahmlich und einzigartig, und viele Besucher des Gartens beneideten Takehiro Yamaguchi schon um diese Shishi Odoshi. Im Winter, wenn das Wasser reichlich fließt, ertönt dieser seltsame Gong alle 132,5 Sekunden; im Sommer, wenn das Land trockener ist und das Wasser nicht so reich vorhanden, ertönt der Gong alle 234 Sekunden. Mit großer Regelmäßigkeit. Jeder, der es hört, ist davon bezaubert. Und keiner weiß, was das in der Erde vergrabene Ding ist, das da
als Klangkörper eines Shishi Odoshi in einem Garten in Tokios Randgebieten dient… * Der Busen der Blonden war sehenswert. Er war auch gut zu sehen. Das Mädchen mit den D-Körbchen bewegte sich langsam und schläfrig. Es hatte den Mund halb geöffnet. Die Augen blickten einladend und schwül. Mit betont langsamen Bewegungen streifte die Blonde den Netzstrumpf vom linken Bein. Benson hatte wenig Augen für das Mädchen. Er hatte mitbekommen, daß die Kleine kurzsichtig war, deswegen der schummrige Schlafzimmerblick. Außerdem hatte sie in der rechten Backe noch den Kaugummi stecken, den sie vor dem Auftritt zwischen den Kiefern gemanscht hatte. In einem guten Strip-Laden hätte der Chef das bemerkt und dem Mädchen das Kaugummikauen abgewöhnt. Aber dieser Laden war nicht gut. Die Fleischportionen waren nur groß, nicht etwa gut. Immerhin gab es genügend Gäste, die hinüberstierten zu der Drehbühne, auf der sich die Blonde mit mäßiger Könnerschaft entblätterte. Die Musik dazu kam von der Kassette. Die unechten Lustgeräusche ebenfalls. Benson gab dem Barkeeper ein Zeichen. Eine halbe Minute später stand der nächste Drink vor dem Mann. Auch der Schnaps in diesem Schuppen war zweitklassig. Benson sah sich um. Das übliche. Leute aus dem Milieu, Zuhälter und Nutten, auf der Suche nach Kundschaft. Touristen aus dem Umland, die auf der sündigen Meile den Duft der großen, finsteren Unterwelt schnuppern wollten. Sie wurden geneppt, aber das wollten sie wohl auch. Die Flasche »Hausmarke« – Billigst-Sekt, mit selbstgebasteltem Etikett überklebt – kostete siebzig Dollar. Der Rest des Ladens ließ sich anhand dieses Maßstabes gut einschätzen. Die Männer, auf die Benson wartete, waren noch nicht da. Benson lächelte. Natürlich nicht. Er war früher gekommen, wie immer. Man mußte die örtlichkeiten kennen, besonders in diesem zwielichtigen Gewerbe. Benson hatte viel gelernt in den letzten Jahrzehnten. Von Fischern, von Perlentauchern, von Kopra-Händlern und weniger seriösen Geschäftsleuten. Nummer eins kam. Er war zu fein angezogen für diesen Schuppen, fiel Benson auf.
Viel zu fein. Die Herren von der anderen Seite bemühten sich in letzter Zeit um Gentleman-Attitüde. Benson machte ein knappes Zeichen. Sein Kontaktmann sah ihn und kam langsam zur Bar. Die Blonde hatte inzwischen enthüllt, daß sie überall blond war, fand, es seien der Enthüllungen genug vorgekommen, und verschwand unter mäßigem Händeklappen hinter dem Vorhang. Die Musik wurde hörbar und ungeschickt gewechselt. Das nächste Mädchen tauchte auf und begann mit seiner Nummer: Simba, die feurige Tropenkatze. Benson hatte das Mädchen auf dem Flur gesehen. Sie hatte zwar schokoladenbraune Haut, sprach aber mit IdahoAkzent und hatte von Afrika und dem Tropenwald unter Garantie nie mehr gesehen als eine Postkarte. »Setzen Sie sich…« Benson sah sein Gegenüber an. Was er erwartet hatte. Ein schmales, überlegenes Lächeln unter dem dünnen Schnurrbart. Zwei Goldzähne. Ein Geruch nach Juchten. Und Augen, die kälter waren als das Eis des Nordpols. Ein Killer. Allerdings ein schlechter. Er war zu sehr von sich überzeugt. Benson hatte einen Blick dafür. Sein Gegenüber hatte getötet, mit eigener Hand, Wahrscheinlich hatte er Gefangene abgestochen. Das richtige Töten ließ er vermutlich andere machen. »Wir haben eine Nachricht bekommen…« Bensons Gesprächspartner hatte einen leichten Oxford-Akzent. Seine Finger waren lang und schmal. Sie spielten mit einem schweren, massivgoldenen Dunhill-Feuerzeug. »Sie kommt von mir«, sagte Benson ruhig. Er nippte an seinem Drink. »Sie auch etwas?« fragte er und sah sein Gegenüber an, über den Rand des Glases hinweg. Der großgewachsene Mann schüttelte nach kurzem Zögern den Kopf. »Meine Religion verbietet mir den Alkohol«, sagte er dann. »Kommen wir zum Geschäft. Was haben Sie anzubieten? Fassen Sie sich bitte kurz. Meine Zeit ist kostbar.« Meine auch, dachte Benson. Nur noch ein paar Monate… Benson winkte sein Gegenüber heran. Dann beugte er sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Rücken des Mannes versteifte sich. Das Lächeln auf seinen Lippen gefror.
»Ein ausgesprochen blöder Witz«, sagte er. »Noch dazu ein ziemlich alter.« Benson lächelte nur. In diesem Geschäft muß man Gesichter knacken können wie Codes. Bensons Gesicht sagte: »Ich weiß, wovon ich rede.« Sein Gegenüber winkte den Barkeeper heran. »Bourbon!« stieß er hervor. »Einen doppelten.« Benson lächelte weiter. Undurchdringlich. Und selbstsicher. »Sie machen keine Witze?« Kalt sagte Benson: »Nicht, wenn es um zwanzig Millionen Dollar geht.« Der Bourbon kam. Bensons Kontaktmann goß ihn mit Tempo hinter die Binde. Aus den Augenwinkeln heraus stierte er nach dem Mädchen auf der Bühne. Es bäumte sich in schlecht gespielter Ekstase auf. »Sie wollen allen Ernstes behaupten, Sie könnten…« Benson legte einen Finger über die Lippen. »Ich weiß, was ich gesagt habe.« Über die Schulter seines Gesprächspartners hinweg konnte Benson den Eingang der Bar sehen. Dort tauchte gerade Nummer zwei auf. Benson erkannte ihn sofort als das, was er war. Geheimdienstmann. Natürlich ließen auch Bullen, wenn sie ein Lokal betraten, schnell den Blick herumwandern, aber sie taten es offen, nicht so schnell und konzentriert wie der neu angekommene Gast. Benson spürte ein leises Prickeln im Nacken. Jetzt wurde das Geschäft heiß. Sein Gegenüber kniff die Augen zusammen und sah Benson lauernd an. »Sie meinen das wirklich ernst?« Benson nickte gelassen. Mit den Augen gab er dem anderen Mann ein Zeichen. Der verstand und kam näher. Benson lächelte. Diesen Augenblick hatte er sich insgeheim schon Tage vorher ausgemalt. »Wenn ich die Herren einander vorstellen darf…?« Ein Anblick für die Götter. »Said ben Tassi«, sagte Benson und deutete auf den ersten seiner Verhandlungspartner. »Mordechai ben Lavi.« Die beiden Kontrahenten betrachteten einander aus kalten, tödlichen Augen. Ben Tassi war Araber, und das sah man ihm an. Der Israeli sah
aus wie aus dem Rasselehrbuch der Nazis: groß, breitschultrig, blauäugig und blondhaarig. Benson wußte, daß es in der israelischen Armee genug solcher Männer gab, um eine Division der Waffen-SS damit zu bestücken. Soviel über den Schwachsinn der Vorurteile. »Ich kenne ihn«, sagte der Israeli nach einem knappen Blick auf den Araber. »Worum geht es?« Benson beugte sich vor und flüsterte dem Mann ins Ohr, was nun nicht mehr als Geheimnis gelten konnte. Wenigstens nicht in einschlägigen Kreisen. Der Israeli lächelte dünn. »Ein Witz«, sagte er. »Und dazu noch nicht einmal ein neuer…« Benson grinste. »Das gleiche hat Ihre Konkurrenz gerade auch gesagt«, amüsierte er sich. Einen Augenblick lang trat Schweigen ein. Das Musikband war verstummt, die drehbare Plattform, auf der die Sex-Akrobatik stattfand, war verwaist. Es war, als höre das ganze Lokal zu… Aber nur ein paar Sekunden lang. »Okay«, sagte Mordechai ben Lavi und lächelte Benson an. »Reden wir übers Geschäft…« * Jo Walker hielt das Whiskyglas in die Höhe und prüfte die Farbe des Getränks in seinem Glas. Mit den Augen winkte er den Barmann heran. »Sir?« Jo Walkers Augen glitzerten kalt. »Ich hatte Malt Whisky bestellt«, sagte er ruhig. »Nicht dieses Zeug.« Der Barmann zuckte zusammen. Ganz offensichtlich wollte er einen Ausdruck der Empörung aufsetzen und sich gegen die stillschweigende Unterstellung verwahren, er hätte den Drink gepanscht. Ein Blick in Jo Walkers Augen brachte ihn davon ab. Er schluckte. »Ein Versehen, mein Herr. Wird sofort korrigiert…« Der Barmann nahm das Glas vorsichtshalber mit, als er davoneilte. Eine halbe Minute später stand der richtige Whisky vor Jo Walker. Jo kostete. »Einwandfrei«, diagnostizierte er. Der Barmann grinste freudlos, dann entfernte er sich, um den gepanschten Drink einem weniger sachkundigen Gast aufzutischen.
Jo Walker, alias Kommissar X, hatte die Hotel-Bar nicht zum Vergnügen aufgesucht. Nicht nur zum Vergnügen. Er erwartete einen Kontaktmann. Tom Rowland, Jos alter Freund vorn NYPD, hatte Jo Walker gebeten, sich nach Besten zu bemühen. »Aus alter Freundschaft«, hatte Rowland gesagt; es war erstaunlich, welch milde Flötentöne der Captain der Mordkommission anschlagen konnte, wenn er um einen Gefallen bitten mußte. Ansonsten hatte sein Organ Megaphon-Qualität. »In Boston gibt es einen alten Kumpel von mir, Eric Bender heißt der Mann. Der hat mir gesagt, er sei einer sehr, sehr heißen Sache auf der Spur. Und daß er Hilfe brauchen könnte, inoffiziell.« »Etwas Genaues?« hatte Jo wissen wollen. »Irgend etwas kocht«, hatte der Captain der Mordkommission gesagt. »Ich weiß nicht genau was, aber ich höre es leise brodeln. Und wir sollten zusehen, daß diese Sache nicht überkocht.« »Und was ist Sache?« hatte Jo Walker trocken gefragt. Rowland hatte nur die Brauen gehoben. »Das solltst du ja gerade herausfinden«, hatte seine Antwort gelautet. »Ich habe nur ein paar vage Tips, die ich an keinen Kollegen in Boston weitergeben kann. Du könntest mir einen Gefallen damit tun, Jo! Bender weiß in der Regel, wovon er spricht.« Jo Walker hatte nur geseufzt. Jetzt seufzte er wieder. Bender, der Mann, auf den er wartete, hatte sich verspätet. Um zwei Whiskys. Bender war als pünktlich im Dienst bekannt; ein ehemaliger Kripobeamter, der über hervorragende Kontakte zur Unterwelt verfügte. Und der sich auch im Schattenreich der Geheimdienste sehr gut auskannte. Wenn dieser Mann sich verspätete, konnte das nichts Gutes bedeuten. Jo Walker zahlte und verließ die Bar. Das »Majestic« gehörte nicht zur internationalen Spitzenklasse. Deswegen ging es dort ruhig zu. Keine lärmenden Touristen, die die Großen dieser Welt zu imitieren versuchten. Und keine Reporter. Ein Lift brachte Jo Walker auf die Höhe seines Domizils. Sechster Stock. Die Fahrt verlief nach Bostoner Art, neu-englisch – gedämpft, gelassen und gediegen. Die Kabine säuselte förmlich in die Höhe. Deswegen fand Jo Walker auch hinreichend Zeit, den Text zu lesen, der man in vielen Aufzügen fand. Er stand auf einem Schild, das in dezentem Messing glänzte. (Oder doch Gold?) Es ist verboten, Personen in Aufzügen zu befördern, in denen das
Befördern von Personen verboten ist. Eine absolute Null-Aussage. Gänzlich inhaltslos. Würdig einer Regierungserklärung. Dunkelblauer Teppichboden dämpfte die Schrittgeräusche. Ein Etagenkellner verschwand um eine Ecke, als Jo Walker sein Zimmer erreichte. Die Tür stand offen. Jo Walker griff zur Waffe, entsicherte sie. Er lauschte. Es war seine Nase, die ihm sagte, daß er zu spät kam. Jo kannte den Geruch. Jeder, der diesen Geruch öfter und gründlich geschnuppert hatte, kannte ihn. Frisch vergossenes Blut. Es macht einen eigentümlichen, metallischen Geschmack auf der Zunge. Es schmeckt nach Tod. Im Inneren war es dunkel. Jo Walker zögerte einen Augenblick. Der Etagenkellner. Jo Walker rannte los, setzte dem Mann nach. Zehn Schritte und er stand an der Ecke. Hinter der Ecke stand der Servierwagen. Ein Chateaubriand kühlte oben auf dem Wagen vor sich hin. Die Sauce béarnaise hatte bereits eine sichtbare Haut bekommen. Der Wagen stand also schon ein paar Minuten lang hier. Und keine Spur von dem Kellner. Jo Walker steckte die Waffe zurück ins Halfter. Der Job war garantiert bereits erledigt worden. Für Kommissar X gab es in den nächsten Minuten wohl nichts mehr zu tun. Nur noch für den Leichenbeschauer. Jo kehrte zur Zimmertür zurück, stieß sie ganz auf. Ein paar Häuser entfernt flackerte Neonlicht; ein Sex-Club pries seine leichtverderbliche Ware in grellen Farben an. Rote, grüne, blaue Farben ergossen sich durch das Fenster in den Raum. In diesem Licht konnte Jo Walker den Toten sehen. Er lag auf dem Rücken. In seiner Brust stak das Messer, mit dem man ihn niedergestreckt hatte. Jo Walker ahnte, um wen es sich handelte. Bender, höchstwahrscheinlich. Jo Walker berührte mit dem Ellenbogen den Kippschalter neben der Tür. Die Zimmerbeleuchtung flammte auf. Es war Bender. Aber er lebte noch. Sein Kopf drehte sich langsam zur Seite. Blut quoll in schwachen, ersterbenden Stößen aus seinem Mund. Mit der rechten Hand winkte er Jo Walker heran. Jo kniete neben dem Sterbenden nieder. Das Messer rührte er nicht an. Es hätte nichts mehr geholfen. Jo Walker wußte das. Ben-
der wußte es auch. Das fahle Gesicht des Mannes überzog sich mit einem Lächeln. »Haben Sie ihn erkannt?« fragte Jo Walker. »Nein«, brachte Bender über die Lippen. »Aber…« Er verstummte, holte Luft. In seinem Brustkorb war ein dumpfes Gurgeln zu hören. »Worum geht es eigentlich?« wollte Jo Walker wissen. »Belle de Mai!« Jo Walker runzelte die Stirn. »Ein Pferd?« Bender schüttelte den Kopf. Er öffnete wieder die Lippen. Aber bevor er noch einen Laut von sich geben konnte, ging ein Zucken durch seinen Körper. Der Kopf fiel zurück. Die Augen brachen. Jo Walker holte tief Luft und stand auf. Ein Toter unmittelbar zu seinen Füßen. Und keine Ahnung, worum es überhaupt ging. Nur eines war klar: Es ging um Mord, und wenn Jo Walker sich nicht größere Schwierigkeiten einhandeln wollte, mußte er aus diesem Zimmer verschwinden. Er schaltete sogar das Licht wieder aus, als er den Raum wieder verließ. Ein letzter Blick über die Schulter. Glänzende Neonreflexe auf dem Teppichboden des Hotelzimmers. Das Licht kam von draußen, wo das nächtliche Leben der Großstadt pulsierte. Der Reflex stammte von der Flüssigkeit auf dem Teppichboden. Vom Blut des Eric Bender. * Tom Rowland gab keinen Kommentar ab, als Jo Walker anrief und ihm vom Tod des Kontaktmannes berichtete. Solche Dinge gehörten manchmal zum Geschäft. Und zu den Gepflogenheiten des Geschäfts gehörte es auch, über Todesfälle kein großes Aufhebens zu machen. »Die Mai-Schöne«, übersetzte Captain Rowland den letzten Hinweis, den Jo noch hatte bekommen können. , »Klingt nach dem Namen eines Pferdes. Gab es da nicht einmal…?« » Une de Mai«, erinnerte sich Jo Walker. »Richtig. Ein Rennpferd. Seinerzeit recht erfolgreich. Aber ich glaube nicht, daß er einen Gaul gemeint hat. Gibt es im Computer ein Stichwort, das so heißt?« Vermutlich hatte Rowland, Jo Walkers knurriger Freund, ein Termi-
nal in der Nähe stehen. Die Antwort kam jedenfalls prompt. »Unbekannt.« »Hmm. Soll ich am Ball bleiben, oder überlassen wir Benders Fall den Kollegen mit den Bostoner Abzeichen?« »Kommt darauf an. Der Killer. Was war er für ein Typ? Unterwelt? Oder aus der Geheimdienstszene?« »Schwer zu sagen«, antwortete Jo Walker. »Ich tippe auf einen Mann aus den Diensten. Anfänger.« »Warum?« Jo Walker lächelte verächtlich. Tom Rowland konnte es nicht sehen. Bildtelefone waren noch nicht Standard beim New York Police Departement. »Er hat einen groben Fehler gemacht. Er hat mich gesehen.« »Und das ist der Fehler?« »Nein. Daß er mich nicht ebenfalls umgelegt hat.« Rowland ließ ein humoriges Knurren hören. »Also, ein Anfänger«, gab er zu. »Bleib dran, Jo. Brauchst du sonst noch etwas?« »Nichts, was du mir geben könntest«, sagte Jo Walker trocken. * »Mann«, sagte der Mann hinter dem Tresen. Er roch nach Aktenstaub und billigem Rasierwasser. »Wie stellen Sie sich das vor?« »Ganz einfach«, antwortete Jo Walker. »Sie schlagen nach. Schiffe haben Namen. Namen stehen in einem Verzeichnis. Das Verzeichnis befindet sich in diesem Amt. Noch Unklarheiten?« »Haben Sie eine Ahnung, wie viele Pötte auf den Weltmeeren herumschippern?« »Vermutlich mehr, als das Amt hier Beamte hat. Auch wenn das unglaublich klingen sollte.« »Haben Sie wenigstens einen Anhaltspunkt? Unter welcher Flagge fährt das Schiff?« Jo Walker grinste und steckte sich eine Zigarette an, um den Geruch in dieser muffigen Bude zu übertönen. »Vielleicht unter gekreuzten Knochen und dem Totenschädel?« Jo Walkers Blick bedeutete dem Mann hinter dem Schalter, daß die Zeit der Spaße vorbei war. Der Mann machte sich an die Arbeit. Sie dauerte drei Stunden und endete mit einem Fiasko. »Nichts. Kein Schiff dieses Namens bekannt, Mister. Vielleicht läuft der Kahn tatsächlich unter einer Exotenflagge.« Jo Walker drückte die letzte Zigarette aus.
»Ich werde den Pott schon finden«, sagte er. Boston würgte am Nachmittagsverkehr, als Jo Walker auf die Straße trat. Es nieselte, die Straßen glänzten feucht. Jo Walker zwängte sich an einem Imbiß einen Happen in den Magen, dann machte er weiter. Seine Nase sagte ihm, in welche Richtung der Hase vielleicht lief. Er suchte Benedict Bertini auf. Benedict Bertini malte. Gar nicht einmal schlecht. Aber seine Kunst würde er nur selten los. Statt dessen malte er anderes im Auftrag – Reklametafeln. Große, bunte, üppige Frauen, in allen Stadien des Ausgezogenseins. Und – je nach Etablissement – in anderen Stadien. Bertini war siebzig, ein dürres Männlein. Man traute ihm kaum zu, mit den gewaltigen Fleischbergen fertig zu werden, die er auf Pappe und dünne Spanplatte malte. Er war gerade damit beschäftigt, einem monströs großen Busen Glanzlichter aufzusetzen, als Jo Walker in seinem Atelier auftauchte. Einen Pinsel zwischen die Zähne geklemmt, stand Bertini da. Er musterte kritisch sein Werk. Dann setzte er noch einen Feuchtigkeitsreflex auf die einzige schwarze Stelle, die es auf dem überlebensgroßen Bild gab. Jo Walker diagnostizierte Kennerschaft. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr? Wollen Sie Kunst, oder das da?« »Nur eine Auskunft…!« Aber auch der Maler Bertini, einer der bestinformierten Männer in diesem Gewerbe, kannte keine Dame, die den Künstlernamen Belle de Mai verwendete. »Kenne ich nicht«, sagte der Mann nach langem Nachdenken. »Nie gehört. Aber wenn Sie was Besonderes suchen…?« Jo Walker schüttelte den Kopf. »Es widerstrebt mir«, sagte er gelassen, »für diese Art von Vergnügen zu bezahlen.« Das hagere Männlein in dem farbbeklecksten Kittel vor ihm grinste. »Das habe ich schon viele sagen hören. Die meisten haben trotzdem gezahlt. Später. Und mehr. Und für weniger.« »So ist das Leben«, murmelte Jo Walker. »Manche Rechnung wird spät präsentiert.« Die Mai-Schönheit erwies sich als spröde, mußte Jo Walker feststellen. Sie zwang ihn dazu, sich wie ein Cop oder Kripo-Mann die Absätze krummzulaufen. Jo Walker haßte Fälle, die so begannen. Aus dem Kleinkram wurde nämlich nicht selten eine hochgefährli-
che Angelegenheit. Jo Walker hatte da seine Erfahrungen. Belle de Mai… Ein Schiff war es nicht, und es verbarg sich auch keine Stripperin hinter dem Namen. Jo Walkers allerersten Verdacht hatte schon Tom Rowland mit seinem Polizei-Computer ausgeräumt. Es gab auch keine Aktion und keine Operation, die diesen Code-Namen gehabt hätte. Was blieb noch? Jo Walker rauchte eine Zigarette und dachte nach. Der Taxifahrer vor ihm schlängelte den Pontiac durch den Spätnachmittagsverkehr von Boston. Im Spiegel konnte Jo Walker die grimmige Miene des Mannes sehen. Kein Wunder. Bei diesem Stoßverkehr machte es keinen Spaß mehr, Auto zu fahren. Selbst wenn Jo Walker jetzt in seinem eigenen Schlitten… In diesem Augenblick und bei diesem Gedanken machte in Jo Walker etwas »klick!« Er tippte dem Fahrer auf die Schulter. »Gibt es hier eigentlich einen Yachthafen?« Der Fahrer drehte leicht den Kopf, sah Jo Walker scheel an. »Sie sind hier in Boston, Mister. Klar, natürlich gibt’s einen Yachthafen.« Jo Walker nickte. »Nichts wie hin!« bestimmte er. * Marineblaue Jacke mit Clubemblem, darunter ein weißer Rollkragenpulli. Kashmere, natürlich. Jakketkronen. Ein teurer Geruch umwehte den Mann. Er sah aus, wie man sich einen nordischen Seebären vorstellte – klein, dick, rund, kahlköpfig, Brillenträger. Er hieß Berszinsky und war der Vorsitzende des Yachtclubs. Da Jo Walker dem Mann natürlich nicht seine Lizenz als privater Ermittler gezeigt hatte, genoß Kommissar X das Vergnügen, aus einer Höhe von knapp einhundertsechzig Zentimetern von oben herab behandelt zu werden. Der Kleine schaffte es. Mühelos. »Wir geben keine Auskünfte«, sagte er mit gepflegter Stimme; ein Unterton von peinlicher Berührtheit schwang darin mit. »Nicht an die Presse, auch nicht…« Jo Walker zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen. Offenbar hatte der rundliche Vorsitzende mit einer anderen Reaktion gerechnet. Er stutzte. Dann rief er:
»Worum geht es eigentlich?« Jo Walker blieb auf der Schwelle stehen. Im Clubrestaurant hing ein schwacher Geruch nach altersmüdem Frittenfett. Langsam drehte sich Jo Walker um. »Um Mord«, sagte er freundlich und sah zu, wie der Clubvorsitzende die Information verdaute. »Und um den unvermeidlichen Skandal danach…« Der Dicke hörte nur »Skandal«. Das Wort mochte er nicht. Den Skandal selbst noch weniger. Wahrscheinlich hatte er in irgendeiner Form Dreck am Stecken. »Ja, wenn es das ist…« »Es ist das. Kennen Sie ein Schiff, ein Boot, eine Yacht, die Belle de Mai heißt?« Volltreffer. Gar kein Zweifel. Der Dicke machte ein Gesicht, als habe man ihn gezwungen, eine Kröte zu schlucken. Lebend. Und mit Mint-Sauce. »Ein solches Schiff liegt hier vor Anker«, bequemte er sich dann zu sagen. »Ich führe Sie hin, wenn Sie wollen.« »Ich will«, sagte Jo Walker. »Wer ist der Skipper?« Aha. Die Kröte war nicht das Schiff. Die Kröte war der Skipper. Man konnte förmlich sehen, wie sich die Eingeweide des noblen Clubvorsitzenden in Knoten legten. Palsteaks, vermutlich. Es war schon dunkel. Und es regnete. Eine Stimmung wie in einem englischen Kriminalfilm. Fehlte nur noch der Nebel. Dazu schnelle Schrittgeräusche, dann der gellende Schrei… Jo Walker schlug den Kragen des Trenchcoats hoch. Der Fall entwickelte sich schleppend. Aber wenigstens hatte er jetzt einen Faden in der Hand. Hoffentlich den roten. »Ein gewisser Benson. Ein fürchterlicher Mensch. Paßt gar nicht zu uns. Irgendwie ungepflegt und ungehobelt.« »Warum lassen Sie ihn dann überhaupt ein?« Der Vorsitzende machte ein gequältes Gesicht. »Er ist Mitglied im Königlich Australischen Yachtclub. Da kann man schlecht…« »Verstehe. Ist das sein Schiff?« Der Vorsitzende war stehengeblieben. »In der Tat. Ein schönes Schiff, wirklich. Englischer Stil, mindestens sechzig Jahre alt. Hervorragend. Ein Unterwasserschiff, wie geleckt. Aber heruntergekommen. Sehr heruntergekommen. Wenn Sie mich fragen…!« Jo Walker überhörte die Aufforderung. »Wo kann man diesen Benson finden?«
Der Vorsitzende schluckte heftig. »Im Love-Inn«, sagte er angewidert. »Das ist so ein Schuppen, so einer… Ganz billig. Sie verstehen?« Jo Walker verstand. »Woher wissen Sie, daß Benson dort zu finden ist?« »Weil er jeden Abend dort verbringt. Und nachts um drei läßt er sich ein Taxi kommen, das ihn dann hier abliefert. Widerlich, einfach widerlich.« »Können Sie mir den Mann beschreiben?« Der Vorsitzende des Clubs holte tief Luft und fing an… * … sechzig, vielleicht noch älter. Groß, hager. Blondes, kurzgeschnittenes Haar. Blaue Augen. Jeans, Boots, Jeanshemd, Jeansjacke – natürlich nicht von Armani. Jo Walker hätte den Mann auch ohne die Beschreibung des dicken Nobel-Yachters erkannt. Das Love-Inn war eine Spelunke der billigen und daher kostspieligen Art. Schäbig. Die Touristen wollten das so. Der Sex, der hier geboten wurde, war billig. Die Getränke waren mies. Nicht einmal die Ganoven, die sich hier ein Stelldichein gaben, taugten etwas. Jo Walker brauchte nur drei Sekunden, um die Gäste zu sortieren. Da waren die Zuhälter und ihre kleinkriminellen Kumpane. Ein paar Dealer der untersten Sorte. Die konnten gefährlich werden wie eingekreiste Ratten. Nutten der Hartgeldklasse. Dazwischen die Touristen, die ein bißchen Unterwelt schnuppern wollten. Männer mit zu dicken Portemonnaies. Frauen, denen man die prickelnde Neugier auf Verbotenes ansehen konnte. In dieser Meute wirkte Benson wie eine Eiche unter Pappeln. Benson saß an der Bar, hielt einen Whisky in der Hand. Aus müden, aber flinken Augen musterte er alles, was um ihn herum geschah. Der Mann war geistig hellwach, auch wenn er wie ein Penner aussah. Jo Walker trat langsam näher. Zwischen ihm und dem alten Mann standen ein paar Gestalten, die Kommissar X nur von hinten sehen konnte. Sie gefielen ihm nicht. Die Schulterpartien waren einen Hauch zu breit. Und die Bewegungen einen Schlag zu energisch. »Sie gestatten?«
Eine kalte, glatte Stimme. Deutsch mit einem leichten slawischen Akzent. In Jo Walkers Kopf gellten die Alarmsirenen auf. Der Mann vor ihm kurvte um einen Tisch. An ihm vorbei konnte Jo Walker Benson sehen. Der alte Sailor rührte sich nicht. Aber seine Augen waren aufgeschreckt. Jo Walker griff nicht zur Waffe. In dieser Umgebung hätte es ein Blutbad gegeben. Und weder die Bostoner Polizei noch Tom Rowland mochten es, wenn Jo Walker seine Auftritte mit zahlreichen Leichen und Schußwunden garnierte. April Bondy mochte es auch nicht. Jo Walker tippte dem Mann unmittelbar vor ihm sanft auf die Schulter. »Sie gestatten?« Bevor der Mann auch nur wußte, wie ihm geschah, hing er bereits in der Luft. Jo Walker hatte einen Hebelwurf angesetzt. Wie ein Flikkenbündel flog der Mann gegen eine Gruppe von Zuhältern, die an einem Tisch saßen. Die anrüchigen Gentlemen von der Straßenzunft spielten, wie Jo Walker aus den Augenwinkeln heraus sehen konnte, eine kreuzbrave Partie Bridge. Kaum zu glauben. Über den Buben, der ihnen überraschend auf den Tisch geknallt wurde, zeigten sie sich gar nicht erfreut. Der Tisch barst auseinander, Gläser und Karten flogen herum. Damen kreischten, Frauen schrien. Es war ein heilloses Chaos. Jo Walkers Angriff kam völlig unvorbereitet. Freund und Feind wurden gleichermaßen davon überrascht. Unter den Gästen waren einige, die sich selten eine Chance entgehen ließen, in einer zünftigen Keilerei mitzumachen. Egal gegen wen. Egal warum. Binnen zweier Minuten war die schönste Massenschlägerei im Gange. Und niemand wußte jetzt noch, warum er austeilte oder einstecken mußte. Jo Walker ausgenommen. Er kümmerte sich nicht um die Prügelnden. Auch nicht um die Damen. Deren eine stand auf einem Tisch, schrie nach der Mama und kippte wenig später mitsamt dem Tisch. Das letzte, was Jo Walker noch sah, waren zwei blaue Krampfadern auf weißem Gebein, bevor die Lady in einem Leiberberg verschüttet wurde. Jo Walker kämpfte sich durch. Er tat es diskret. Ein kleiner Haken hier, ein Handkantenschlag dort.
Die Stripperin stand am Rand der Bühne, die Hände in die fülligen Hüften gestemmt, der Busen vor Zorn wogend. Was sie zu sagen hatte, ging im Getöse der Schlägerei unter. Es war vermutlich nicht jugendfrei. Jo Walker arbeitete sich vor. Auf Benson zu, der sich verbissen und geschickt seiner Haut wehrte. Der Mann hatte seine Erfahrungen auf diesem Gebiet, aber mit sechzig ließ die Kampfkraft ein wenig nach. Selbst Mike Tyson würde in diesem Alter manches einstecken müssen. Zwei Gegner standen noch zwischen Jo und dem alten Skipper. Den einen schickte Jo Walker auf den schmierigen Boden der Kaschemme, den anderen setzte Benson außer Gefecht. Einem Mann einen Barhocker zwischen die Beine zu dreschen, war gewiß nicht fein. Dafür aber wirkungsvoll. »Raus hier!« schrie Jo Walker. Von irgendwoher kam eine Flasche geflogen. Billiger Schampus. Jo Walker griff die Flasche aus der Luft und schickte sie postwendend zurück. »Wer zum Teufel sind Sie?« »Jo Walker«, stellte Jo sich vor. Er tauchte unter einem Schwinger weg und setzte dem Angreifer einen Haken in die Herzgegend. Danach war an dieser Front Ruhe. »Jo… wer?« Jo Walker wollte schon den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als er sah, wie Benson zwei Schritte vor ihm zusammenzuckte. Und dann zusammenbrach. Jo Walker drosch zwei Typen aus dem Weg, um an Benson heranzukommen. Der alte Mann griff sich an den Kopf. Genauer gesagt: an das rechte Ohr. Jo wußte Bescheid. Er beugte sich über Benson, der ihn aus glasig werdenden Augen ansah. »Sie werden in achtzig Sekunden tot sein, Benson«, sagte Jo Walker mit lauter Stimme. Er mußte fast schreien, um sich verständlich zu machen. »Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, tun Sie’s besser jetzt…« Benson bewegte schwach die Lippen. Und Jo Walker las mit… * »Du willst mich verscheißern, nicht wahr?«
»Keine Spur, alter Freund«, antwortete Jo Walker. »Er sagte wortwörtlich take care of my Long Johns. Und das heißt, lieber Freund, im Klartext…« »Kümmern Sie sich um meine langen Unterhosen. Ich kann auch Englisch. Long Johns – das ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für lange Unterhosen. Macht das einen Sinn?« »Es wird langsam kalt draußen«, gab Jo Walker zu bedenken. Rowland sah ihn verweisend an. »Und die Autopsie?« »Was ich erwartet hatte«, sagte Jo Walker; seine Hand war völlig ruhig, als er sich eine Zigarette anzündete. »Ein Geschoß von Tarkowski. Unverkennbar. Eine Eisnadel, mit hohem Druck verschossen. Macht keinen Radau, wirkt binnen einer Minute absolut tödlich. Und hinterläßt kein identifizierbares Geschoß. Natürlich kann so ein Geschoß den Schädel nicht durchschlagen, außer am Ohr.« »Und darauf hat Tarkowski gezielt?« »Und getroffen. Danach ist er im Gewühl verschwunden. Hätten wir die Leiche von Benson kommentarlos der Polizei von Boston überlassen, wäre der Mord nie entdeckt worden.« Der gewichtige Captain der Mordkommission Manhattan C/II rieb sich die Nase. »Zwei Morde«, sagte er nachdenklich. »Bender und Benson. Tarkowski ist im Spiel. Die Leute, mit denen sich Benson vorher getroffen hat…?« »Araber«, sagte Jo Walker. »Ich habe den Barkeeper befragt. Er drückte sich allerdings etwas weniger sachlich und neutral aus.« »Araber und Russen. Ein amerikanischer Toter…« Es klopfte. »Herein.« Ein Bote erschien und gab einen dicken, versiegelten Umschlag ab. Tom Rowland quittierte, wartete, bis der Bote den Raum verlassen hatte, und öffnete dann. »Aha. Informationen über Benson.« »Jetzt wird es spannend.« Der stämmige Captain las langsam und gründlich. Jo Walker konnte sehen, wie die Augen seines Gegenübers sich bewegten. Er konnte auch sehen, wie sie sich ein wenig zusammenzogen. Und dann jäh weit wurden. Und auch so blieben. »Willst du wissen, wer dieser Benson ist?« »Gewesen ist«, verbesserte Jo Walker. »Nur wegen der Genauigkeit. Er ist schließlich tot.« »Richtig. Und zwar seit dem 7. August 1945. Präziser gesagt: An
diesem Tag ist Flight Lieutenant Andrew Baxter Benson, stationiert auf dem Eniwetok Atoll im Pazifik, von einem Einsatz mit seinem B17-Bomber nicht zurückgekehrt. Er gilt als vermißt, ebenso wie seine Besatzung und seine Maschine.« Schweigen legte sich auf den Raum. »Vom Alter her würde es passen. Diese Flieger waren damals wie heute ziemlich jung. Benson könnte heute siebzig sein, er sah ein wenig jünger aus.« Der Captain nickte. »Und sonst?« fragte Jo Walker. »Irgendwelche Hinweise. Aktenvermerke?« Der Captain schüttelte den Kopf. »Keine besonderen Hinweise«, sagte er. Jo Walker machte einen Zug an seiner Zigarette. Daß sich in seinem Magen ein reichlich übles Gefühl auszubreiten begann, hatte allerdings nichts mit der Zigarette zu tun. »Was denkst du?« Jo Walker zögerte. »Zum einen«, sagte er dann. »Warum bewahren die Knilche vom Pentagon diese Akte überhaupt auf? Was ist an einem vermißten Weltkrieg-II-Piloten so interessant? Und zweitens…« »Ich höre…« Jo Walker leckte sieh die Lippen. »Mir gefällt die Nachbarschaft nicht«, sagte er dann. »Nachbarschaft? Wozu?« »Zum 6.8.1945, da fiel nämlich die erste Atombombe auf Hiroshima. Und zum 8.8.1945. Da knallte es atomar über Nagasaki…« Schweigen. Dann nickte Captain Tom Rowland zögernd und sehr langsam… »Du glaubst, daß es da Zusammenhänge gibt?« Jo zuckte die Schultern. »Möglich«, antwortete er knapp. »Irgend etwas ist jedenfalls an diesem Benson dran gewesen, sonst hätte man ihm nicht Tarkowski auf den Hals gehetzt.« Ron Myers lockerte seinen Kragen; es war heiß in dem Büro, weil sich die Klimaanlage wieder einmal nicht regulieren ließ. »Kann mir einer verraten, wer dieser Tarkowski ist? Ein Clown?« Jo lächelte müde. Rowland übernahm es, seinen Kollegen aufzuklären. »Alexander Tarkowski, genannt Sascha«, zitierte er aus dem Gedächtnis. »Fünfzig Jahre alt, Exilrusse, jedenfalls behauptet er das. Spricht mit leicht slawischem Akzent. Hat zahlreiche Falsch-
Identitäten. In der Branche als Berufskiller bekannt und bei entsprechenden Auftraggebern geschätzt. Zur Last gelegt werden ihm mindestens dreißig Morde.« Myers stieß einen halblauten Pfiff aus. »Und den Burschen hat man noch nie gekriegt und verurteilt?« wollte er wissen. »Bei dreißig Opfern?« Jo steckte sich mit bedächtigen Bewegungen eine Zigarette an, machte einen tiefen Zug und blies den Rauch langsam in Richtung Klimaanlage; die pustete ihn umgehend, ein paar Grad wärmer, wieder zurück. »Tarkowski ist kein normaler Killer«, sagte Rowland knurrend. »Er hat seine besonderen Methoden, er hat seine Vorlieben und Eigenheiten. Beispielsweise diese Spezialwaffe mit den Eisnadeln; das entspricht seinem Verständnis von sauberer Arbeit. So ist Tarkowski. Er operiert selten oder nie in Unterweltskreisen. Sein Metier ist das der Geheimdienste.« Myers kniff die Augen zusammen. »Politischer Mord?« »So könnte man es nennen«, antwortete Jo Walker; die Zigarette schmeckte ihm nicht mehr, er drückte sie aus. »Da sich die unterschiedlichsten Kreise aus ebenso unterschiedlichen Gründen dieses Mannes bedienen, genießt er entsprechende Protektion. Einschließlich gewisser Kreise, die unserer Regierung nahestehen oder doch wenigstens nahestehen sollten.« »Die Firma?« Jo Walker zuckte die Schultern. Mit »Firma« war die Central Intelligence Agency gemeint, nach dem Krieg hervorgegangen aus dem OSS, dem Office for Strategie Studies. Die Zentrale der CIA in Langley, Virginia, zu finden. In den Jahren seit John Fitzgerald Kennedys Amtsantritt hatte sich die CIA den Ruf erworben, es in mancher Beziehung mit Recht, Gesetz und Moral nicht wesentlich genauer zu nehmen als das ostdeutsche Ministerium für Staatssicherheit oder das Komitet Gosudarstwennoy Presobasnosti, allgemein bekannt unter dem Kürzel KGB. Auch der CIA wurde nachgesagt, politische Attentate und Morde geplant zu haben; geradezu legendär, was Skrupellosigkeit in der Planung und mangelnde Professionalität in der Ausführung anging, war der Plan gewesen, Fidel Castro mit Hilfe einer vergifteten Zahnpasta zu ermorden. »Das könnte heiß werden«, knurrte Rowland; er griff nach der halbleeren Flasche Cola, die auf dem Schreibtisch stand, und setzte sie an den Hals.
»Bbblaach!« machte er dann und verzog das Gesicht. »Wenn es etwas gibt, das ich hasse, dann ist es abgestandene warme Cola.« Jo Walker kratzte sich hinter dem Ohr. »Okay«, sagte er. »Ich bin in Boston gewesen, ich habe deinen Mister Bender gefunden, er ist tot, und dieser Benson, der Besitzer und Skipper der Belle de Mai, ist ebenfalls tot, ermordet von Tarkowski. Was nun?« Rowland sah Jo Walker an. Die Augen des Captains wurden wieder dackelrund. »O nein«, sagte Jo und hob abwehrend die Hände. »Ich bin gerne bereit, dir einen Gefallen zu tun, auch mehrere, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Aber das nicht. Ich bin Kriminalist, kein Geheimdienstmann.« »Aber du bist gut«, sagte Rowland. sanft. »Unser bester Mann. Und unabhängig vom Behördenapparat.« »Irrtum«, sagte Jo. »Wenn die Behörde will, dann bin ich die längste Zeit Privatdetektiv gewesen. Und bei, diesen Fällen weiß man nie, welchen Behörden man in die Quere kommen kann. Ich bin kein Spezialist für solche Sachen, Tom – das sollen ander machen.« Rowland lächelte schwach. »Du weißt, was jetzt passieren wird in Boston?« fragte er und sah Jo unverwandt an. »Die Polizei von Boston wird den Fall untersuchen«, sagte Tom Rowland leise. »Und in ein paar Wochen wird der Fall dann unerledigt zu den Akten gelegt. Sollten die Kollegen etwas herausfinden, wird es im Behördengestrüpp der Dienste hängenbleiben. Jedenfalls besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß Eric Benders Mörder ungeschoren davonkommt.« »Er wäre nicht der erste«, antwortete Kommissar X. »Tom, mir ist äußerst unwohl bei dem Fall. Ich habe nicht gern mit Geheimdiensten zu tun.« Rowland sah Jo eindringlich an. »Ich bin zusammen mit Eric Bender Streife gegangen«, sagte er halblaut. »Verdammt«, knurrte Jo. »Kommt jetzt diese Tour?« »Er hat mir das Leben gerettet, ein paarmal.« »Und wie oft hast du ihn gerettet? Garantiert öfter, so wie ich dich kenne.« Tom Rowland war die Diskussion sichtlich leid; er fuhr das größte Geschütz auf, über das er gerade verfügte – eine Art Festungsartillerie der Moral. »Eric Bender war ein Freund von mir, Jo.«
Jo grinste; er wußte, wann er geschlagen war. »Offensichtlich«, sagte er voller Sarkasmus, »macht es dir nichts aus, wenn sich deren Zahl vermindert. Okay, ich werde wieder nach Boston fliegen. Um deiner schönen Augen willen.« Tom Rowland grinste zurück, und Jo Walker wurde das Gefühl nicht los, auf eine sehr freundschaftliche Art und Weise geleimt worden zu sein. * Die Belle de Mai war wirklich ein feines Schiff; selbst ein Laie wie Jo Walker konnte das sehen. Viel gutes und edles Holz war an diesem Schiff verbaut worden, es hatte einen fast noblen Charakter. Ein prachtvolles Stück seemännischer Arbeit aus der Zeit, als es noch keinen glasfaserverstärkten Kunststoff im Bootsbau gegeben hatte; und noch keine Yuppies in den Vorständen der Segelclubs. In mehr als einer Beziehung hatte das Zeitalter der Königin Victoria etwas für sich gehabt, fand Jo. Der positive Eindruck von der Belle de Mai löste sich allerdings in dem Augenblick auf, als Jo das Deck des Schiffes betrat. Auf dem Deck lag Müll herum – leere Flaschen, aufgerissene Kartons, in denen einmal Tiefkühlpizzen gesteckt hatten. Leere Konservendosen, und am Ende des Großraums baumelte, der noblen Gesellschaft des Yachtclubs zum Hohn, ein aufgeblasenes Kondom. Jo Walker konnte verstehen, daß der Vorsitzende des Clubs nicht sehr viel von Andrew Baxter Benson gehalten hatte. Der Mann hatte es offenbar geliebt, seine Zeitgenossen vor die wohlfrisierten Köpfe zu stoßen, je hohler, desto lieber. Jo verstand allerdings genug vom Segeln, um eines beurteilen zu können: Was die Technik des Bootes anging, hatte Benson nicht geschlampt. Das stehende Gut war neuwertig und in bester Ordnung, das laufende Gut sauber aufgeschossen. Jo hatte den Verdacht, daß der Müll an Deck nur Tarnung war. Es war dunkel. Jo hatte eine Taschenlampe mitgenommen und suchte nach dem Niedergang. Die Tür am Ende der hölzernen Treppe war einmal von der Polizei versiegelt gewesen; Jo konnte die Reste erkennen. Jemand war vor ihm an Bord gewesen und hatte sich urngesehen. Der Mörder? Jo öffnete die Tür behutsam. Der Schein seiner Taschenlampe fiel in die Kabine.
Diese Unordnung hatte Benson höchstwahrscheinlich nicht auf dem Gewissen – das waren andere gewesen. Die Kabine sah aus wie Byzanz nach dem Besuch der Kreuzfahrer Anno Domini 1204; das Unterste war zuoberst gekehrt, alles kurz und klein geschlagen. Was immer die Besucher auch gesucht haben mochten, es sah nicht danach aus, als hätten sie es gefunden. Statt dessen hatten sie sich an Bensons Hab und Gut ausgetobt. Seekarten lagen zerrissen auf dem Boden, die Frontplatte des Funkgerätes war abgerissen, aus dem Inneren quollen die Kabeleingeweide hervor. Splitter, Scherben, Trümmer – das war alles, was Jo sehen konnte. »Saubere Arbeit!« murmelte er. Wonach mochten die unliebsamen Gäste gesucht haben? Rauschgift? Wohl kaum. Die Zeiten, in denen Rauschgifte in Kilomengen begehrte Beuteobjekte gewesen waren, gehörten der Vergangenheit an. Heutzutage wurde Koks in Tonnen verfrachtet und ab und zu auch von der Polizei gefunden. Jo ließ den Strahl seiner Taschenlampe durch den Raum wandern. Die Schapps waren leergefegt, ihr Inhalt türmte sich auf dem Boden. Hier wieder Reinschiff zu machen, würde ein paar Tage Zeit und viel Arbeit kosten. Jo wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er hinter und über sich ein Geräusch hörte. Ein anderer hätte sich vielleicht gewundert. Jo Walker aber konnte hören, um was für ein Geräusch es sich handelte. Es war ein ekelhaftes Geräusch, das sich ins Rückgrat schlich und dafür sorgte, daß sich die Nackenhaare aufstellten. Es war das Geräusch, mit dem der Hahn eines verflucht großen Revolvers gespannt wurde. »Keine Bewegung, Mister.« Eine Frauenstimme, sie klang ziemlich jung. Und ein bißchen nervös. Jo mochte es gar nicht, wenn man mit einer Waffe auf ihn zielte, ganz besonders dann nicht, wenn es sich bei dieser Waffe um eine Art Taschenartillerie handelte, vom Kaliber .44 oder noch größer. Eine solche Waffe riß bei einem Treffer Löcher, die man eher als Breschen hätte bezeichnen können. Und ganz besonders haßte es Jo Walker, wenn die Person, die auf ihn zielte, nervös war. Nervöse Menschen machten mitunter Fehler, und in diesem Fall konnte ein Fehler tödlich sein. »Ganz ruhig!« sagte Jo laut, und er wußte nicht, ob er damit sich selbst meinte oder das Mädchen in seinem Rücken. »Ich hebe die
Hände, und dann drehe ich mich ganz langsam um. Einverstanden, Lady?« »Okay, aber machen Sie keinen Mist. Ich drücke ab, das verspreche ich Ihnen.« Jo hob langsam die Hände. Die junge Frau stand in seinem Rücken, am oberen Ende des Niedergangs. Von dort hätte sie sich fast schon anstrengen müssen, um an Jo vorbeizuschießen, wenn sie abdrückte. Jo drehte sich herum. Er sah nur eine – unverkennbar weibliche – Silhouette, die sich schwarz gegen das Dunkelblau des Himmels abzeichnete. Und er sah den metallischen Schimmer auf dem Lauf des Revolvers glänzen. Jo hatte sich nicht geirrt; es war ein schweres Kaliber, das auf ihn zielte. Die Lady meinte es ernst; Jo konnte genau in die Mündung der Waffe sehen. Die Frau war nervös, aber die Hände, die die Waffe hielten, wirkten ruhig. »Okay, und jetzt werden Sie sich mit der Lampe ins Gesicht leuchten, damit ich Sie sehen kann. Versuchen Sie keine Tricks – wenn Sie mich zu blenden versuchen, schieße ich sofort.« »Mein Betragen wird mustergültig sein, Lady«, sagte Jo. Er beleuchtete sein Gesicht von oben. Das sah erheblich besser aus als eine Bühnenbeleuchtung von unten, die aus jedem Gesicht eine Dämonenfratze machen konnte. »Mit der anderen Hand öffnen Sie ihre Jacke. Ich will sehen, ob Sie bewaffnet sind.« »Ich bin«, sagte Jo. »Eine .38er Special, Smith & Wesson. Ich habe eine Erlaubnis zum Tragen dieser Waffe, denn ich bin Privatdetektiv.« »Sie können mir viel erzählen«, gab die junge Frau zurück. Jos Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, er konnte ziemlich gut sehen. Erkennbar war als erstes, daß es sich bei diesem Mädchen – die Lady war garantiert erst vor kurzem zwanzig Jahre alt geworden, wenn sie überhaupt so alt war – um eine Nachfahrin des verblichenen Andrew Baxter Benson handeln mußte. Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen. Außerdem war selbst bei dieser Beleuchtung zu sehen, daß die Lady bildhübsch war. Bis auf den Revolver, den sie in der Hand hielt, und dessen Mündung unablässig genau auf Jos Bauch zeigte. Wenn diese Kanone losging…
»Mein Name ist Walker, Jo Walker«, stellte Kommissar X sich vor. »Ich war dabei, als ihr Vater getötet wurde.« »Wohl kaum«, sagte das Mädchen. »Pa ist beim Perlentauchen von einem Hai erwischt worden. Vermutlich meinen Sie meinen Großvater.« »Dann den Großvater«, sagte Jo. »Darf ich Ihnen meine Lizenz zeigen?« »Die könnte gefälscht sein«, gab das Mädchen zurück. Jo zuckte die Schultern. »Okay«, sagte er resignierend. »Sie allein bestimmen, was getan wird.« Das Mädchen sah Jo an, und Jo glaubte, ein schwaches Schluchzen hören zu können. »Haben Sie wirklich gesehen, wie mein Großvater…?« Der Satz erstarb in einem langen Seufzer. Zur gleichen Zeit senkte sich die Waffe, bis die Mündung auf das Holz des Niedergangs zeigte. Jo erlaubte sich vorsichtig ein unverdächtiges, weil geräuschloses Aufatmen. »Ich war dabei«, sagte Jo. »Aber ich konnte es nicht verhindern. Falls es Ihnen hilft – er hatte einen schnellen und wahrscheinlich schmerzlosen Tod. Trotzdem war es Mord.« »Mord?« Die junge Frau riß die Augen weit auf; Jo konnte sehen, daß diese Reaktion nicht gespielt war. Bensons Enkelin hatte keine Ahnung, daß ihr Großvater von einem berufsmäßigen Killer getötet worden war. »Aber die Polizei hat gesagt…« Die Frau schüttelte verwundert den Kopf. »Ich verstehe das nicht.« Jo machte zwei Schritte den Niedergang hinauf, dann genügte ein rascher Griff, um dem Mädchen die Waffe abzunehmen. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, der rasch erstarb, als Jo sie nicht angriff oder bedrohte. Die Waffe war im übrigen gesichert gewesen, aber das konnte man einer Mündung im Dunkeln nicht ansehen. Jo schüttelte den Kopf, stieg zwei weitere Stufen hoch und legte die Waffe auf das Deck. »Was hat die Polizei gesagt?« wollte er wissen; er angelte eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche. »Auch eine?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Großvater sei bei einer Kneipenschlägerei umgekommen, haben die Beamten gesagt. Und ich habe es natürlich geglaubt. Es wäre ja nicht das erstemal gewesen, daß Großvater sich geprügelt hätte. Und das in seinem Alter.«
»Für einen Mann von siebzig war er ziemlich fit«, gab Jo zu bedenken. »Woher wissen Sie, wie alt Großvater war?« fragte das Mädchen skeptisch. Jo lächelte, während er sich eine Zigarette ansteckte. Die rituelle Handlung gab ihm die Zeit, die junge Frau zu mustern, die ihm gegenüberstand. Sie war Mitte Zwanzig, schätzte Jo, und sie war ein Leben im Freien gewohnt; ihre Haut war tief gebräunt,! ein reizvoller Kontrast zu den ziemlich kurzgeschnittenen blonden Haaren. Ihre Augen waren von einem hellen Blau, das in dem Gesicht ähnlich auffiel wie die blitzend weißen Zähne. Die junge Frau trug Jeans und ein Sweatshirt, das eine beachtliche Figur bedeckte. »Aus seiner Militärakte«, antwortete Jo. »Wie heißen Sie übrigens, wenn ich fragen darf?« »Gina«, antwortete die junge Frau. »Eigentlich Angelina, wie meine Mutter, aber meistens werde ich Gina gerufen.« »Lebt Ihre Mutter noch?« Gina zuckte die Schultern. »Was weiß ich?« fragte sie. »Sie ist verschwunden, als ich vier Jahre alt war. Ich habe nie mehr von ihr gesehen als die Fotos, die Dad von ihr gemacht hat. Warum wollen Sie das alles wissen? Und wieso überhaupt Mord?« Jo hob abwehrend eine Hand. »Eine Frage nach der anderen«, sagte er. »Zum ersten: Ihr Großvater ist ermordet worden, ich weiß es. Daß die Polizei von Boston Ihnen etwas anderes gesagt hat, hat seine Gründe.« »Welche?« Jo schnippte die Reste der Zigarette ins Dunkel der Nacht. Die Kippe zog eine Funkenspur wie eine Feuerwerksrakete hinter sich her, nur viel bescheidener, bis sie mit einem sanften Zischen im Wasser des Bostoner Hafens versank. »Das herauszufinden, ist mein Job in dieser Sache«, sagte Jo. »Kennen sie die Vergangenheit Ihres Großvaters?« Gina nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Großvater hat in der Army gedient, in der britischen, und nach dem Krieg ist er in der Südsee geblieben. Er hat nach Perlen getaucht, er hat nach Schätzen gesucht. Mit seinen Booten hat er die ganze Südsee bereist, und es gibt zwischen Hawaii und Bora-Bora keinen Archipel und keine Insel, auf der man ihn nicht kennen und schätzen würde…« Sie senkte den Kopf.
»Oder jedenfalls geschätzt hat«, sagte sie dann leise. Ihre Augen füllten sich ein wenig mit Tränen. »Wissen Sie, Großvater war eine Gestalt wie aus einem Roman von Jack London oder James A. Michener. Er liebte die See, er liebte die Menschen, und er liebte sein Boot. Er trank manchmal viel, gelegentlich zuviel, und dann prügelte er sich. Aber selbst die Leute, mit denen er sich geprügelt hat, mochten ihn. Überall, im ganzen Pazifik. Da können Sie jeden fragen. Außerdem: Es gab nicht den geringsten Grund, ihn zu töten. Er besaß doch praktisch nichts.« Gina machte eine weit ausholende Bewegung, die das ganze Boot umfaßte. »Das hier, dieses Boot, war sein ganzer Besitz. Er hat nie mehr auf dem Konto gehabt als ein paar Dollar. Und er ist glücklich dabei gewesen.« Jo kratzte sich hinter dem Ohr. »Hört sich nach einer regelrechten Südsee-Idylle an«, sagte er nachdenklich. »Das war es auch«, erklärte Gina Benson. »Bestimmt. Ich bin bei Großvater aufgewachsen, auf seinen Booten und mit seinen zahlreichen Freundinnen.« Sie lächelte schwach, als sie sich erinnerte. Es war offensichtlich, daß sie ihren Großvater geliebt hatte, mehr, als junge Mädchen ihre Großeltern heutzutage zu lieben pflegten. »Ich wußte alles über das Kartenspielen, über Reffs in den Segeln, wenn es stürmt, über die Gewinnung von Kopra, woran man echte von falschen Perlen unterscheiden kann, was zwischen Mann und Frau passiert – und das alles, bevor ich lesen und schreiben konnte oder einen dauerhaften Zahn im Mund hatte.« Jo grinste verwegen. »Lassen Sie das keinen beamteten Pädagogen hören«, sagte er. »Hört sich nicht gerade nach einer Regelschule an.« Gina Benson zuckte die Schultern. »Es war das Leben«, sagte sie einfach. »Bestimmt vom Wetter, vom Rhythmus von Ebbe und Flut, von der gegenwärtigen Laune – aber ganz bestimmt nicht von Fahrplänen, Steuerterminen oder anderen Dingen dieser Art. Ich habe es geliebt.« Sie sprach den letzten Satz sehr langsam, zögernd aus; sie drehte sich herum, so daß Jo ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber er konnte hören, daß sie weinte, und er hätte es auch ohne zu sehen oder zu hören gewußt. »Es macht keinen Sinn«, murmelte Jo, mehr für sich als für das Mädchen. »Nicht den geringsten Sinn.«
Gina Benson schniefte laut; sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel des Pullovers ab, aber Jo konnte die feuchten Spuren in ihrem Gesicht glänzen sehen. In der Luft dröhnte es; vom Flughafen her zog eine Düsenmaschine über die Stadt hinweg, wahrscheinlich ein Jumbo vom Kaliber 747. Es hörte sich an, als wolle der Vogel in unmittelbarer Nähe landen; ein Geräusch, das einem auf den Magen schlagen konnte, wenn man es nicht gewöhnt war, zumal der Schall sich geradezu beklemmend langsam durch das nächtliche Dunkel zu bewegen schien, als käme die Maschine nicht von der Stelle. »Ein Südsee-Abenteurer«, murmelte Jo Walker. »Und dazu Tarkowski…« »Den Namen habe ich nie gehört«, sagte Gina Benson. »Ist er etwa der…« Jo nickte. »Ja«, sagte er einfach. Das Mädchen starrte ihn aus großen Augen an. »Sie wissen, wer der Mörder ist?« Wieder nickte Jo Walker. Es gab Fälle, die so beschaffen waren wie dieser. Alles sah sehr einfach aus – da war die Leiche, da war der Mörder, folglich wurde nur noch eine Jury gebraucht und ein Richter, eventuell auch jemand, der das Urteil vollstreckte. Aber gerade an diesem letzten Personenkreis hatte es noch nie gefehlt; bei der Justizverwaltung der einzelnen Bundesstaaten häuften sich die Briefe von deinem netten Nachbarn nebenan, in denen er sich eifrig darum bewirbt, dich oder wen auch immer schnell, gründlich und mit Eifer ins Jenseits zu befördern, wenn man ihm dazu die gesetzliche Erlaubnis und Handhabe gibt. Die meisten dieser Briefeschreiber sind sogar gern bereit, auf das ebenfalls gesetzlich vorgeschriebene Honorar für die Dienstverrichtungen eines Henkers zu verzichten – dreimal darf geraten werden, aus welcher Quelle solcher Edelmut sich heimlich nährt. »Ja, und da unternehmen Sie nichts?« Gina Benson schüttelte fassungslos, den hübschen Kopf. Sie bewegte fahrig die Hände. Sie setzte an, etwas zu sagen, aber die Worte erstickten ihr in der Kehle. »Sehen Sie«, sagte Jo langsam. »Natürlich könnte man den Mörder nun einfach verhaften. Wahrscheinlich wartet er sogar darauf, daß jemand so dumm ist. Denn schon in der Vorverhandlung, beim ersten Haftprüfungstermin, wird der Richter wissen wollen, wann, wo, womit und so weiter Ihr Vater getötet worden ist. Und vor allem: Warum dieser Angeschuldigte das Verbrechen begangen haben soll. Und
jetzt frage ich Sie – kennen Sie ein Motiv?« »Woher soll ich wissen, was im Kopf eines Mörders vorgeht?« fragte Gina Benson scharf. »Sie, Gina Benson, brauchen das nicht zu wissen«, gab Jo zurück. Er stand auf; die Unterhaltung fing an, akademisch zu werden und brachte die Ermittlungen keinen Schritt weiter. »Aber wenn Sie der District Attorney wären, der Bezirksstaatsanwalt, dann würden Sie das Motiv gerne kennen, bevor Sie Anklage erheben. Denn Sie müssen dieses Motiv glaubwürdig einer Jury und der Presse verkaufen, um eine Verurteilung des Angeklagten zu erreichen. Und wenn Sie das Motiv nicht kennen oder doch wenigstens vermuten können…« Jo deutete die Geste an, die auf die römischen Kaiser zurückging; der nach unten gekehrte Daumen. »Das ist doch wohl nicht wahr…!« stieß Gina Benson hervor. »Ich kann das einfach nicht glauben. Sie…« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Kommen Sie«, sagte Jo und erinnerte sich daran, daß er nicht nur Kriminalist, sondern auch Mann und Gentleman war. »Ich bringe Sie nach Hause.« Gina Benson stieß ein trockenes Schluchzen aus. »Das Boot war mein Zuhause«, sagte sie leise. »Ich habe nur ausnahmsweise, wegen des Mordes, in einem Hotel gewohnt.« »Dann bringe ich Sie in dieses Hotel«, sagte Jo. Er legte behutsam einen Arm um die junge Frau mit den kurzgeschnittenen blonden Haaren. Sie ließ es sich gefallen. Äußerlich war sie ruhig, aber Jo konnte unter seinen Händen ihre Flanken spüren, und dort war die Erregung überdeutlich. »Kommen Sie«, sagte Jo. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Es klang normal, unauffällig. Überall und jederzeit im Hafen gab es Geräusche – das Tuckern von Bootsmotoren, die tiefen Rufe großer Sirenen, das Kreischen von Taljen und Blöcken (wenigstens im Yachthafen). Vor allem natürlich ein unaufhörliches leises Plätschern, wenn die kleinen Wellen in den Hafenbecken gegen die Bordwand schlagen. So selbstverständlich war dieses charakteristische Geräusch, daß die meisten Segler es nach einiger Zeit praktisch gar nicht mehr bewußt wahrnehmen konnten. Aber wie viele Vorgänge in der Natur hatte der Wellenschlag seinen eigenen Rhythmus, auch wenn der sich unaufhörlich änderte. Und das schwache Klatschen von Wasser gegen Holz oder Metall hatte nicht in den Rhythmus hineingepaßt. »Gehen Sie schon weiter«, sagte Jo. »Ich muß noch etwas holen,
das ich liegengelassen habe.« Gina Benson zögerte unmerklich, aber sie folgte Jos Anweisung. Zwei Schritte brachten sie zum Heck der Belle de Mai, von dort aus genügte ein weiterer Schritt, sie auf den Pier steigen zu lassen. In dem seltsamen Licht, das über dem Yachthafen lag, war Gina Benson nun recht deutlich zu sehen. Jo huschte zum Niedergang zurück, geduckt, damit man ihn nicht sehen konnte. Wieder das Plätschern, wieder arhythmisch. Es kam von der Wasserseite her, und das Geräusch konnte nach Lage der Dinge nur eines bedeuten – jemand näherte sich dem Boot vom Wasser her. Und da Jo kein Schlauchboot ausmachen konnte, mußte der Besucher gewissermaßen zu Fuß gekommen sein. Jo hielt den Atem an. Jetzt wurden die Klänge deutlicher. Jemand kletterte an der Bordwand hoch und versuchte sich an Bord zu ziehen. Gina Benson – Jo konnte sie von seinem Standort aus gut erkennen – hatte das Geräusch gehört; ihre Augen weiteten sich. Jo machte heftige Gebärde, die nur das Mädchen sehen konnte, und glücklicherweise wurden seine Arm- und Handbewegungen verstanden. Gina Benson setzte sich langsam in Bewegung und spazierte den Pier entlang, den Weg zurück, den sie wahrscheinlich auch gekommen war. Jo wartete. Das Plätschern war jetzt so laut, daß Jo sich sicher sein konnte – es war ein Taucher, der sich mühsam hochzuziehen versuchte. Jo dachte nicht eine Sekunde daran, dem Mann zu helfen. Oder war es eine Frau? Der Fremde erreichte das Deck. Er bemühte sich, nicht gesehen zu werden, aber Jo konnte ihn dennoch ohne Mühe ausmachen. Ein Mann, gehüllt in einen schwarzen Neoprenanzug. Der Mann trug eine Tauchermaske vor den Augen, aber er führte keine Flaschen mit sich. Jo nickte in seiner Deckung. Nicht übel, der Mann. Wahrscheinlich hatte er die Tauchflaschen mit der komprimierten Atemluft auf dem Boden des Hafenbeckens abgestellt, unmittelbar unter dem Boot von Andrew Baxter Benson. Das gab dem Besucher mehr Beweglichkeit an Bord. Im Notfall brauchte er nur über die Reling zu setzen, zu tauchen und die Flaschen wieder an sich zu nehmen. Jo wußte, daß er auf der Hut sein mußte. Die Vorgehensweise seines Gegenübers verriet, daß Kommissar X es nicht mit einem Anfänger zu tun hatte. Ins Wasser springen, tau-
chen, nach den Flaschen greifen – das hörte sich einfach an, aber es erforderte viel Kaltblütigkeit und Nervenstärke, diesen Plan auch auszuführen. Jo Walker hielt den Atem an. Der Taucher lauschte. Auf dem Pier war zu hören, wie Gina Benson sich entfernte. Jo konnte sehen, daß der Ankömmling zufrieden nickte. In seinem Neoprenanzug sah er beeindrukkend aus. Diese Montur machte ohnehin breite Schultern und betonte die Taille, aber dieser Mann sah garantiert auch ohne schwarze Gummihaut beeindruckend sportlich aus. Auf dem feuchten Neopren schimmerte das Wasser und verstärkte noch den Eindruck von Gefahr und Bedrohung. Jedenfalls mußte Jo den Mann ernst nehmen. Der Taucher war nur mit einem Messer bewaffnet, nein, mit zweien. Eines steckte am linken Handgelenk, der Griff war der Hand zugewandt, damit man ihn schneller und leichter greifen konnte. Die andere Klinge war am rechten Bein befestigt. Und bei beiden Waffen handelte es sich nicht um Dekorationsstükke, sondern um Spezialmesser aus damasziertem Stahl – unerhört biegsam, dabei äußerst scharf und hart, durchaus vergleichbar dem legendären Original des Bowie-Messers. Eine unausrottbare Western-Legende besagte, der Waffenschmied habe mit dem Originalmesser zunächst einmal eine Stunde lang Holz gehackt und sich an anschließend damit rasiert. Was das Kurzschwert am Bein des Tauchers betraf, hatte es wahrscheinlich einen ähnlichen Ruft, Jo blieb geduckt. Er lauschte und hörte. Der Taucher bewegte sich schnell und vorsichtig; der Mann verstand sein Handwerk. Jo hörte ihn über das Deck schleichen. Jo preßte die Waffe, mit der das Mädchen ihn bedroht und in Schach gehalten hatte, an den Bauch, und er holte nach, was das Mädchen vergessen hatte – die Waffe zu entsichern. Da er die .38er Special an den Leib gepreßt hielt, war das leise Klicken, das diesen Vorgang begleitete, selbst für sehr scharfe Ohren nicht mehr zu hören. Der Taucher hatte sich an Bord orientiert, er strebte dem Niedergang zu. Jo fand den Zeitpunkt gekommen, in das Geschehen einzugreifen. Er richtete sich vorsichtig auf. Der Mann war nur noch zwei Schritt von Jo entfernt. Nach dem, was Jo Walker bisher in diesem Fall in Erfahrung hatte bringen können, schien es ihm nicht ratsam zu sein, den Mann einfach nur anzusprechen und mit der Waffe zu bedrohen.
In diesem unerbittlichen Mörderspiel arbeiteten hochkarätige Spezialisten mit, die auch gelernt hatten, mit solchen Situationen fertig zu werden, Jo hatte daher keine andere Wahl – er mußte den harten Weg gehen. Ein weiterer, raumgreifender Schritt brachte ihn auf Griffweite an seinen vermummten Gegner heran. Dann ein Handkantenschlag und der Mann war… Nein, er war nicht. Der Mann war ein Könner seines Faches. Was er gehört oder gesehen hatte, konnte Jo nicht einmal ahnen; aber er hatte etwas wahrgenommen. Noch während Jos linke Handkante mit Schwung die Nacht durchschnitt, wirbelte der Mann herum. Jo sah etwas aufblitzen, dicht vor seinem Gesicht, und während sein Handkantenschlag sein Ziel fand, ratschte etwas über Jos Bauch hinweg – etwas, das schmal war und wie Feuer brannte. Jo zog das Knie hoch, um den Angriff abzuwehren, der ihm gegolten hatte. Es war eine nahezu lautlose Balgerei im Dunkeln, die sich in Bruchteilen von Sekunden abspielte. Jo kannte jetzt keine Hemmungen mehr und schlug mit dem Kolben seiner Waffe zu, aber der Mann, der ihn attackierte, war viel zu wendig und zu schnell, um sich leicht und einfach außer Gefecht setzen zu lassen. Im Gegenteil, er ging zum Angriff über, und er ließ keinerlei Zweifel daran, daß er gewillt war, Jo Walker kaltblütig und Schnell zu töten. Jo bekam den Revolver aus der Hand geprellt, ein jäher Schmerz schoß durch seinen rechten Arm. In seinem linken Knöchel knackte etwas ekelhaft laut, als er sich um seine Achse drehte. Dafür fand Jos Linke ein Ziel, und auch am linken Knie konnte Jo einen Herzschlag später einen Aufprall spüren. Jos Treffer zeigte Wirkung; sein Gegenüber schnappte zum erstenmal hörbar nach Luft. Jo setzte sofort nach. Er setzte die Rechte ein, dazu Füße und Knie. Mit einem Wirbel von Schlägen und Tritten trieb er seinen leicht angeschlagenen Gegner vor sich her, und mit jedem Treffer, den Jo landen konnte, wurde der Widerstand geringer, aber nur wenig. Der Bursche, mit dem Jo es zu tun hatte, war nicht nur topfit, bestens trainiert und ausgebildet, er war auch unheimlich zäh. »Mister Walker, was ist da eigentlich los?« Jo reagierte nicht auf den Ruf von Gina Benson; offenbar war die junge Frau zum Boot zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen. Sie hatte einen Handscheinwerfer dabei, eines jener schmalen
Taschenlichter, mit denen die Cops ausgerüstet waren – klein, aber sehr leistungsfähig. Das bekam vor allem Jos Gegner zu spüren, denn als Gina den Scheinwerferstrahl durch das Dunkel wandern ließ, bekam er den Schein der Lampe genau in die Augen: Er zwinkerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber das genügte für Jo Walker. Er setzte zwei knallharte Wirkungstreffer an, die dem Vermummten die Atemluft aus dem Leib droschen, dann ließ Jo die Fäuste sinken. Sein Gegenüber war geschlagen. Der Atemreflex war gelähmt, die Muskeln mußten unglaublich schmerzen – der Mann war nicht mehr fähig, etwas zu seiner Verteidigung zu unternehmen. Nur seine Augen waren noch wach und einsatzbereit. Jo sah in ein paar dunkle, fast haßerfüllte Augen, und er wußte plötzlich, daß dieser Mann gewillt war, ihn zu töten – auch wenn Jo den Grund dafür nicht kannte. Jo griff schwer atmend nach seiner Waffe, die auf den Planken der Belle de Mai lag. Jo richtete die Automatic auf den Mann in dem dunklen Neoprenanzug. »Okay, Freund«, brachte Jo keuchend über die Lippen. »Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?« Gina hielt ihre Taschenlampe so auf den Mann gerichtet, daß er kaum etwas gegen das Licht sehen konnte. Jo war das nur recht – nicht gerade der berüchtigte Dritte Grad, aber auf seine Art auch ganz wirksam. Der Mann schüttelte nur den Kopf. Jo sah ihn aufmerksam an. Sobald der Bursche wieder zu Puste kommen konnte, war der nächste Treffer fällig. Jo ließ die Augen kurz über das Deck wandern. Er brauchte ein Ende, mit dem er den Mann fesseln konnte; denn der würde bestimmt die erstbeste Gelegenheit benutzen, wieder ins Geschehen einzugreifen. Leider war auf den ersten Blick nichts für diesen Zweck Brauchbares zu sehen. »Vorwärts!« knurrte Jo; seine Lungen schmerzten, als wolle sich jede einzelne Zigarette, die Jo jemals geraucht hatte, wieder einen Weg ins Freie bahnen. In Augenblicken wie diesem beneidete Jo Walker die Nichtraucher. »Rede schon, Mann. Ich kann auch anders.« Der Mann öffnete die Lippen, aber er sagte nichts. Statt dessen spuckte er Jo ins Gesicht. Jo gab ein Knurren von sich. »Mistkerl«, schimpfte er und erinnerte sich einer alten Verwün-
schung, die er einmal gelesen hatte. »Alle Zähne sollen dir aus dem Maul fallen, elender Kerl; bis auf einen, der soll dir bleiben – fürs Zahnweh.« In den Augen von Jos Gegenüber blitzte etwas auf. Aber dieses Etwas erlosch jäh. Der Mann zuckte zusammen. Im gleichen Augenblick hörte Jo das dumpfe Geräusch eines Einschlags. »Licht aus!« schrie Jo. Er warf sich zur Seite. Schwer stürzte der Mann im Neoprenanzug auf Jo, und Jo wurde von dem Aufprall halb erdrückt. Er versuchte den Mann abzufangen, vergeblich. Ein Ächzen konnte Jo noch hören, und in der letzten Zehntelsekunde vor dem Erlöschen des Lichts konnte Jo auch sehen, was seinem Gegner zugestoßen war. Aus dem Rücken des Mannes ragte ein Pfeil. Genauer gesagt: die Spitze eines Harpunenspeeres. Jo fand, daß es an der Zeit war, sich abzusetzen. Offenbar tobte sich rings um die Belle de Mai ein regelrechter Kleinkrieg aus, und für solche Auseinandersetzungen fehlten Jo die Waffen. Außerdem mußte er auf das Mädchen Rücksicht nehmen. »Gehen Sie in Deckung, Gina!« rief Jo zum Pier hinauf. »Hier wird scharf geschossen. Versuchen Sie, eines der Gebäude zu erreichen, und dann rufen Sie die Polizei. Aber machen Sie schnell…« »Verstanden«, gab das Mädchen zurück. Jo rollte den Mann zur Seite, der schwer und naß auf ihm lag. Wer immer der Mann gewesen sein mochte – jetzt war er tot. Der heimtückische Schütze aus dem Dunkel hatte präzise getroffen. Tarkowski war es nicht gewesen, jedenfalls nicht nach Jos Einschätzung. Der Harpunenschuß war entweder von einem der anderen Boote gekommen – aber dann war die Entfernung für einen sicheren Schuß viel zu groß. Oder aber der Schütze hatte sich der gleichen Annäherungsmethode bedient wie der Getötete und hielt sich im Wasser verborgen. Vielleicht war er auch in diesem Augenblick gerade damit beschäftigt, seine Waffe neu zu laden… Jo war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Er robbte sich unter dem Leichnam hervor und kroch vorsichtig über die Planken. Das sah zwar nicht ganz so schneidig aus, wie die New Yorker Presse sich für gewöhnlich Kommissar X bei der Arbeit vorstellte, dafür aber war es wirkungsvoll. Jo krabbelte über das Heck hinweg hinüber zum Pier.
Im Wasser rührte sich nichts. Außer… Da waren irgendwelche Geräusche, die aus dem Inneren des Bootes zu kommen schienen. Ganz sicher war sich Jo nicht. Trotzdem nahm er die Beine in die Hand. Und das keinen Augenblick zu früh. Jo rannte los, und in der Zehntelsekunde, in der er davonschnellte, schlug eine Handbreit neben seinem Kopf ein Harpunenpfeil in das dunkle Holz eines Polles. Das Geschoß war unterarmlang, und das Metall des Schafts wippte im Holz melodramatisch hin und her. Es sah sehr beeindruckend aus. Jo wußte natürlich, daß der Schütze jetzt wieder ziemlich viel wertvolle Zeit zum Laden brauchen würde – vorausgesetzt, der Mörder blieb bei dieser an sich recht brauchbaren Waffe, und das war nicht anzunehmen. Jo kam auf die Beine und rannte los. Ein paar Schritte voraus sah er Gina Benson, die halb geduckt auf dem Pier kauerte und hinüberstarrte zum Boot. Sie hatte die rechte Hand zur Faust geballt und vor den Mund gepreßt, ein deutliches Zeichen dafür, daß sie sehr wohl mitbekommen hatte, was an Bord der Belle de Mai passiert war. Jo machte eine heftige Gebärde. »Los!« schrie er und winkte auffordernd. »Laufen Sie, Gina!« Das Mädchen reagierte geistesgegenwärtig und schnell; es begann ebenfalls zu laufen. Die beiden hatten das Ende des Piers noch nicht erreicht, als es hinter ihnen hell und laut wurde. Der Feuerschein einer Explosion strahlte auf, Jo spürte, wie eine unsichtbare Riesenfaust nach ihm griff, ihn packte und wie eine Spielzeugpuppe durch die Luft wirbelte. Jo kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Er wäre auch nicht zu hören gewesen, denn das Krachen der Detonation übertönte jedes andere Geräusch. Jo landete hart an einer Bretterwand, von seiner rechten Schulter jagte ein heftiger Schmerz durch den ganzen Körper. Die Druckwellen der Detonation droschen unbarmherzig auf seinen Körper ein, trieben ihm die Luft aus den Lungen. Jo sah einen grellen Feuerball auf dem Wasser entstehen, mächtige Gegenstände in Schwarz wirbelten durch die Luft und landeten klatschend im Wasser. Fenster barsten klirrend und schickten Myriaden von Splittern als summende Geschosse durch die Nacht. Jo barg den Kopf in den Armen. In den nächsten Sekunden konnte er nichts mehr tun, nur abwarten, bis es wieder ruhiger wurde. Als Jo sich vorsichtig wieder aufrichtete, war von der Belle de Mai
nicht mehr viel zu sehen. Dort, wo das Schiff vertäut gewesen war, loderte eine Flammensäule in den nächtlichen Himmel, die die Umgebung des Piers in ein flackerndes, unheimliches Licht tauchte. »Gina!« Keine Reaktion. »Gina, wo sind Sie?« Jo hörte ein leises Wimmern. Er folgte dem Geräusch und fand Gina Benson an einen hölzernen Pfeiler gelehnt. Über ihrem Kopf baumelte an einem Haken ein Rettungsring in Rot und Weiß. Jo kniete neben dem Mädchen nieder. Ihr Gesicht war blutüberströmt, die Haare klebten dunkel am Kopf. Gina hatte die Augen geschlossen und wimmerte leise. Jo untersuchte sie kurz. Keine größeren äußeren oder inneren Verletzungen. Das Mädchen zuckte nicht zusammen, als Jo sie berührte; das Blut auf ihrem Gesicht stammte aus kleineren Schnittwunden an der Stirn, die üblicherweise entsetzlich zu bluten pflegten, selbst wenn sie völlig harmlos und unbedeutend waren. Jo fand in seiner Jacke – in den Resten seiner Jacke, mußte er anmerken – ein Taschentuch und wischte damit Ginas Gesicht halbwegs sauber. »Wie geht es Ihnen?« fragte er leise. Das Mädchen öffnete die Augen und sah Jo Walker an. Sie schluckte heftig. »Jetzt weiß ich, daß Sie recht hatten«, sagte Gina Benson mit schwacher, ein wenig zitternder Stimme. Ihre Augen hielten Jo fest. »Werden Sie diesen Fall klären?« Jo holte tief Luft. »Ich werde es in jedem Fall versuchen«, sagte er halblaut. »Ich werde Ihnen dabei helfen«, versprach Gina Benson; sie versuchte aufzustehen, sackte aber wieder in sich zusammen. Der Schock hatte ihr alle Kraft geraubt. Jo stand auf und schritt die wenigen Meter zurück zur Anlegestelle der Beile de Mai. Das Schiff – besser das, was von dem Schiff Übriggeblieben war – brannte lichterloh. Jo Walker fand das aus mehr als einem Grund sehr bedauerlich. Die Belle de Mai war ein schönes Schiff gewesen; mehr als das, sie hatte zwei Menschen, Andrew Baxter Benson und seiner Enkelin Gina als Zuhause gedient. Und jetzt war sie zum Schauplatz eines Mordes und eines Mordversuches geworden – und Jo Walker, alias Kommissar X, hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, worum es in diesem merkwürdigen
Fall eigentlich ging. * Gina Benson brauchte Zeit, um sich von dem Schock zu erholen, den ihr die Vernichtung der Belle de Mai versetzt hatte; Jo brachte sie in sein Hotel, mietete ein Zimmer für das Mädchen und brachte sie ins Bett. Normalerweise war Jo Walker nicht sehr angetan von chemischen Hilfsmitteln, aber in diesem Fall half er Ginas Schlafbedürfnis mit ein wenig Äthanol und Barbitursäurederivaten nach. Erfolgreich – als Jo nach einer halben Stunde das Zimmer der jungen Frau verließ, lag sie in tiefem Schlummer. Sie schnarchte sogar, wie ein sterbendes Walroß, fand Jo. Er grinste, als er die Tür hinter sich schloß. Danach suchte Jo sein eigenes Zimmer auf. Auf Besuch war er allerdings nicht vorbereitet. Der Mann hatte es sich in einem der Sessel von Jos Appartement gemütlich gemacht; auf dem flachen Tisch, der zur Einrichtung gehörte, stand die Flasche Whisky aus der Minibar des Zimmers. Es fehlten zwei Daumenbreiten; die entdeckte Jo in dem Glas, das der Mann in der Hand hielt. »Kommen Sie herein, Walker!« sagte der Mann ruhig. Jo kannte diese Typen. Er hatte es schon mit Pennern zu tun gehabt, mit Junkies und Punkern, mit Halbstarken und rebellierenden Schwarzen, mit besoffenen Cops und anderen menschlichen Widerwärtigkeiten des Lebens. Aber kaum ein Menschenschlag brachte es fertig, Kommissar X derartig den Blutdruck anschwellen zu lassen wie diese Typen. Groß, breitschultrig und kräftig, ziemlich gut, aber nicht auffällig gekleidet, selbstverständlich immer korrekt mit Weste und Hut. Der Blick ausdruckslos bis überheblich, die Kiefer in ständiger Beschäftigung mit Kaugummi (nicht immer, aber häufig). Unter der Achsel eine -38er Smith & Wesson special, und in der Brieftasche der Ausweis der Erhabenheit – wahlweise ausgestellt vom FBI, von der CIA oder von irgendeiner anderen Behörde, die sich über schlecht bezahlte Cops erhaben dünkte. Jo kniff die Augen ein wenig zusammen. »CIA?« Die Jungs vom FBI waren in der Regel körperlich ein wenig leistungsfähiger als die Knaben von den Diensten; in der »Firma« war man auf geistige Leistungen stolz, nicht auf Schießkünste oder Karate. Solche Fertigkeiten wurden vom Handwerkspersonal der Geheim-
dienste gebraucht, nicht von der Führungselite. »Richtig!« sagte der Besucher. »Baker ist mein Name, auf schnellstem Wege aus Langley gekommen. Scheint, als hätten Sie schon auf jemanden von uns gewartet, Walker.« Allein die Anrede genügte vollauf, Jos Blutdruck in die Höhe zu treiben. Baker, der mit Sicherheit anders hieß, vielleicht Miller, musterte Jo halbwegs freundlich. »Sieht aus, als hätten Sie’s auch schon mit der anderen Seite zu tun gekriegt«, ließ sich Baker vernehmen; wahrscheinlich hatte er sich in seiner beruflichen Karriere noch nie die Hände schmutzig machen müssen, es sei denn auf der Herrentoilette. »Und als wäre es Ihnen nicht besonders gut bekommen. Verstehe ich, verstehe ich -die Arbeit für einen Dienst ist etwas anderes als die Schnüffeleien eines sogenannten privaten Ermittlers, wie?« Jo blieb äußerlich ruhig. »Was wollen Sie, Mister Baker?« Jo hatte keine Lust, sich von diesem Lackel anstecken zu lassen und seine guten Manieren zu vergessen; wenn Baker sich wie ein Rüpel aufführen wollte, war das seine Sache. »Ihnen nur einen Tip geben, Walker«, sagte der Mann aus Langley; er sprach mit wohlwollender Herablassung. »Sie haben dummerweise ihre neugierige Nase in den Fall Benson gesteckt. Verständlich, gewiß, schließlich waren sie bei seiner Liquidation dabei…« »Ermordung«, warf Jo ruhig ein. Baker zuckte die Schultern. »Meinetwegen, der Unterschied ist im Ergebnis nicht besonders groß«, meinte er und zeigte ein überlegenes Grinsen. »Jedenfalls für Mister Benson. Ich bin nur gekommen, um Ihnen klipp und klar zu sagen, Walker, daß wir diesen Fall bearbeiten. Wir, die Central Intelligence Agency…« »Die Abkürzung ist mir geläufig«, gab Jo zurück. Er hatte Lust, sich ebenfalls einen Whisky zu genehmigen, aber nicht in der Gegenwart dieses beamteten Dreistlings. »Okay, dann wissen Sie ja Bescheid. Sie halten sich von jetzt an aus dem Fall heraus…« Baker ließ den Satz so ausklingen, daß er sich ein vielsagendes »oder…« sparen konnte; Jo hatte die Drohung ohnedies verstanden. »Ich denke nicht daran«, sagte Jo Walker. »Ich habe einen Klienten, der mich beauftragt hat.« Baker machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wer immer der Kerl ist – vergessen Sie ihn. Falls Ihnen ein Hono-
rar entgehen sollte, sagen Sie’s uns, wir werden Sie entschädigen. Die Firma ist in solchen Fällen nicht kleinlich.« Was Jos Lächeln zu bedeuten hatte, schien Baker entweder nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. Er blieb gelassen sitzen, die Beine übereinandergeschlagen, und nippte an Jos Whisky. »Kommt nicht in Frage«, antwortete Jo. Baker stieß einen Seufzer aus, der nach »immer diese Schwachköpfe« klang. »Mister Jo Walker«, sagte Baker; aus der Anrede wurde schon deutlich, daß er jetzt seine rhetorische Trickkiste bis zum Boden plündern würde. »In diesem Fall geht es um Belange der nationalen Sicherheit. Die Abteilung der Agency, die mit diesem Fall befaßt ist, erstattet nur dem Nationalen Sicherheitsrat und dem Präsidenten selbst Bericht. Glauben Sie wirklich, daß Ihre Befugnisse und Kenntnisse ausreichen, in diesem Spiel mitzumischen?« Jo verzichtete darauf, dem aufgeblasenen Anzugträger mitzuteilen, welche Ansichten und Meinungen er in Bezug auf den Nationalen Sicherheitsrat und die Agency hatte. »Ich bleibe dran«, sagte Jo kalt. »Außerdem ist mir die Gegenseite schon auf den Fersen. Sie kommen zu spät, Mister Baker – Ihre Konkurrenz hat sich bereits bemüßigt gefühlt, auf mich zu schießen und Bensons Boot in meinem Beisein in die Luft zu blasen. Ob ich will oder nicht, ich bin bereits im Spiel, und ich pflege meine Karten selbst auszuspielen, wann immer ich es für richtig halte.« Bakers verblüfftes Gesicht verriet, daß er von den Ereignissen der letzten Stunden im Yachthafen nicht das geringste wußte; wahrscheinlich waren seine Wissenslücken auf anderen Gebieten noch weitaus beeindruckender. Jo versuchte es mit einem Köder. »Aber vielleicht können Sie mir Ihr Angebot schmackhafter machen, wenn Sie mir wenigstens verraten, worum es überhaupt geht?« Baker verzog das Gesicht. Das Lächeln sollte überlegen wirken, aber es fiel so schwach aus, daß Jo zu ahnen begann – auch Baker wußte nicht, worum es ging. »Absolute und unbedingte Geheimsache«, sagte er wichtigtuerisch. »Sie werden das verstehen.« Jo deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Raus!« sagte er nur. »Und zwar sofort – Mister Baker. Und der ›Firma‹ können Sie mitteilen, daß ich den Mörder von Benson nicht nur kenne – es ist der sicherlich auch Ihnen wohlbekannte Killer Tarkowski…« Bakers Augen weiteten sich ein wenig. »Das wissen Sie?«
»Ich bin dabeigewesen«, sagte Jo rauh. »Und ich werde in der nächsten Zeit genügend Material und Beweise sammeln, damit dieser Mann vor Gericht gestellt und verurteilt werden kann.« In den Mündwinkeln von CIA-Mann Baker tauchten die Anzeichen eines boshaften Schmunzeins auf. »Wenn Sie sich da nur nicht verrechnen, Mister Walker«, sagte Baker amüsiert; er stellte das Glas mit dem Whisky beiseite und stand auf. »Übrigens: Ihr Whisky ist nicht der beste…« »Ich weiß«, lächelte Jo sarkastisch. »Es ist nur der für die Gäste.« Wenigstens mit dieser Bemerkung hatte Jo einen Treffer gelandet; das konnte er sehen, als Baker sein Appartement verließ. Jo schloß leise die Tür hinter dem Mann. Es ging auf zwei Uhr nachts zu, und Jo war hundemüde. Aber noch konnte er nicht einschlafen. Jo schenkte sich einen Whisky ein, natürlich war der Drink zu warm, aber das störte jetzt nicht sehr. In Gedanken faßte Jo die Tatsachen zusammen, die er bislang in Erfahrung gebracht hatte: Da war der Mord an Andrew Baxter Benson, ausgeführt von einem Killer, der sich auf Geheimdienstarbeit spezialisiert hatte. Benson aber hatte die letzten dreißig Jahre seines Lebens weitab von der sogenannten Zivilisation in der Südsee verbracht; zwar konnte man auf Geheimdienstler in jedem Winkel der Erde treffen, in der Sahara ebensogut wie in den Eiswüsten der Antarktis, aber die Weiten des Pazifik waren doch von den Umtrieben der Spione weitgehend verschont geblieben. Wo also war die Verbindung zwischen Benson und der CIA? Was hatte Tarkowski in diesem Fall zu suchen? (Eine pikante Frage am Rande: Wer mochte Tarkowski angeheuert haben? Es war nicht ausgeschlossen, daß ebenfalls die CIA dahintersteckte; die Methoden der Firma schlossen Aktionen wie diese durchaus ein.) Einen Augenblick lang erwog Jo eine Verbindung mit der Vergangenheit von Benson. Der Mann war Bomberpilot gewesen – aber das lag weit zurück. Er war abgestürzt, galt amtlich als tot, aber das besagte nicht viel. Vielleicht hatte er bei einem seiner Einsätze eine Bruchlandung gebaut, und er und seine Kameraden hatten sich entschlossen, den Yankees und den Japsen Lebewohl und den braunen Mädchen Willkommen zu sagen. Das war nach Jos Einschätzung die naheliegendste Möglichkeit; in keinem anderen Einsatzgebiet hatten die Streitkräfte der USA während des Zweiten Weltkrieges so hohe Ausfälle durch Desertation gehabt wie in der Südsee.
Aber war das ein Grund, einen alten Mann von siebzig Jahren umzubringen? Ganz bestimmt nicht. Wo also lag der Pferdefuß? Jo fand keine Antwort auf die Frage, sosehr er sich auch bemühte; verdrossen trank er noch einen Whisky, dann legte er sich ins Bett, und nach einer Viertelstunde war er eingeschlafen. Aber er schlief schlecht in dieser Nacht. Sehr schlecht. In seinen Träumen ging es fast so mörderisch zu wie bei der Belle de Mai; nur daß Jo in den Träumen entschieden mehr abbekam als er in der Realität hatte einstecken müssen. Ein Vorzeichen? * Detective Lieutenant Hunter – ein passender Name in dem Job, fand Jo – hatte ein gelbliches, hageres Gesicht; von der Nase liefen zwei stark ausgeprägte Falten hinab zu den Mundwinkeln. Ein deutliches Zeichen, daß Lieutenant Hunter Probleme mit seinem Magen hatte. »Ich habe private Schnüffler noch nie gemocht«, knurrte Hunter und warf den Drehbleistift auf den Schreibtisch. Der Schreiber landete auf einem der zahlreichen Aktenbündel, die sich auf der Platte türmten. Boston galt zwar als eine der nobelsten, weil ältesten, und angeblich auch kultiviertesten Städte an der Ostküste der Vereinigten Staaten, aber an den Umgangsformen der Cops änderte das wenig. Die waren nahezu überall in den Staaten gleich; schließlich waren auch die Cops fast überall gleich überlastet und schlecht bezahlt. Jo nahm den giftigen Ausbruch kommentarlos hin. »Sie erzählen mir da ziemlich merkwürdige Dinge, Mister Walker«, sagte der Lieutenant grimmig. »Zuerst einmal behaupten Sie, dieser wilde Segler Benson sei nicht an einem Schlaganfall gestorben, sondern ermordet worden. Komisch, daß die Sachverständigen in den Labors das ganz anders sehen.« Diese Sachverständigen waren inzwischen von der CIA entsprechend vergattert worden: Stichwort Sicherheit, was immer das auch sein mochte. »Dann erzählen Sie mir, daß das Boot von diesem Benson, diese Mabel…« »Nicht May Belle, sondern Belle de Mai…«, verbesserte Jo ohne Aussicht auf Wirkung. »Dieses Boot soll also aufgebrochen und durchsucht worden sein.
Dann ist ein Mann aufgetaucht und hat Sie angegriffen. Dieser Mann, dessen Identität Sie nicht angeben können, ist dann wenig später von einem noch anderen Mann, ebenfalls Taucher in der Nacht, über den Haufen geschossen worden. Und das wie bei Moby Dick mit einer Harpune. Und als ob das nicht genügt, fliegt das ganze Boot in die Luft und brennt aus, so daß es für Ihre abenteuerliche Geschichte keinerlei Zeugen oder handfeste Beweise gibt.« Jo sah das anders. »Was den Fall Benson angeht, halte ich mich zurück«, sagte er. »Die Leiche des harpunierten Tauchers werden Sie ja wohl inzwischen gefunden haben, entweder im ausgebrannten Wrack der Belle de Mai, oder im Hafenbecken. Ist vielleicht heute nacht ein Taucher angeschwemmt worden?« Lieutenant Hunter sah Jo schnel an. »Ein toter Taucher?« »Ein Mann in einem Neoprenanzug«, sagte Jo. »Falls er Papiere bei sich haben sollte, werden Sie vermutlich feststellen, daß er Israeli ist.« Hunter kniff die Augen zusammen. »Woher wollen Sie das wissen?« Jo grinste unverschämt. »Weil ich ihn mit einer uralten Verwünschung aus dem Jiddischen geärgert habe«, sagte er amüsiert. »Und ganz offenkundig hat er mich sehr gut verstanden, das habe ich seinen Augen angesehen.« »Hmm«, machte Lieutenant Hunter. »Wir haben tatsächlich eine Leiche in der Morgue, auf die Ihre Beschreibung passen würde. Männlich und beschnitten, das ist ja wohl eindeutig.« »Nicht ganz«, sagte Jo. »Beschneidungen sind auch im muslimischen Glaubensbereich weit verbreitet, aus diesem Grund daher nicht völlig eindeutig. Aber falls der Tote mein Mann ist, müßte er eine Rückenverletzung haben.« »Hat er«, murmelte Hunter. »Und vorne, und an der Seite, am Kopf, an den Beinen, überall. Der Mann ist in eine Schiffsschraube geraten, bevor er gefunden wurde, und entsprechend sieht er aus. Es könnte ihr Mann gewesen sein. Kann sein, sage ich, aber es muß nicht. Okay, ich glaube Ihnen. Und wie geht es nun weiter?« Jo zuckte die Schultern. »Erstens«, sagte er ruhig, »erstatte ich hiermit Anzeige wegen vorsätzlichen und heimtückischen Mordes, begangen an dem Taucher. Zweitens erstatte ich Anzeige wegen Brandstiftung und Sprengstoffvergehens, alles gegen Unbekannt.« Hunter stieß ein trockenes Lachen aus.
»Und Sie glauben ernsthaft, daß bei dieser Anzeige etwas herauskommt?« Jo nickte mit Bestimmtheit. »So oder so«, sagte er. »Die Gentlemen werden sich melden.« »Bei der Polizei?« Jo schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Bei mir. Oder bei Miß Benson.« Hunter begriff noch nicht ganz. Er kratzte sich ausgiebig hinter dem rechten Ohr. Jo kam die Bewegung sehr bekannt vor. In seinem Freundeskreis gab es eine Katze, die kratzte sich auf die gleiche Weise, vor allem nach getaner Arbeit, sprich einem ausführlichen Schläfchen. »Und wie hängt das alles zusammen?« fragte Hunter verwirrt. »Sie tischen mir hier zwei Morde auf…« »Drei«, sagte Jo hart. »Vergessen Sie Ihren Exkollegen Eric Bender nicht. Und dazu zwei Mordversuche – reicht das aus, um die Polizei von Boston tätig werden zu lassen.« Hunter kniff die Augen zusammen. »Sie werden von mir hören, Mister Walker«, sagte er. Es klang nicht wie ein Versprechen. Eher wie eine Drohung. * Gina Benson lag noch in tiefem Schlummer, als Jo ins Hotel zurückkehrte. Auf dem kurzen Gang zwischen der Appartementtür und der Tür zum Wohnraum stand ein Rollwagen. Jo hob eine der metallenen Halbkugeln an und schnüffelte. Rührei mit Lachs und Aal, genau das, was Jo jetzt brauchte. Und starker Kaffee, am besten literweise. Jo schob den Wagen in das Wohnzimmer und stieß einen schrillen Pfiff aus, der Tote hätte erzittern lassen. »Aaaghhh«, konnte er aus der Richtung des Schlafzimmers hören. »Reise-Reise!« rief Jo lautstark. »Aus den Kojen, aus den Matten, sonst brech’ ich euch…« Jo unterbrach sich. Dieser Spruch war wohl nicht das Richtige, um eine junge Dame aus den Federn zu holen. »Backen und Banken!« rief Jo. »Botschaft angekommen?« »Angekommen…!« Gina Benson tauchte in der Tür zum Schlafzimmer auf. Sie trug ein Pyjamaoberteil und struppige Stachelhaare und sonst nicht viel, wie Jo feststellen konnte, als sich die junge Frau räkelte und streckte. Sie wischte sich die Augen und gähnte ausgiebig.
»Woher kennen Sie diese Seemannssprüche?« fragte Gina schläfrig. »Reise-Reise und so?« »Allgemeinbildung«, sagte Jo; er erinnerte sich an den Freund, der ihn mit dieser Sprache vertraut gemacht hatte. Der Freund hatte kein Seemannsgrab gefunden; Gangster hatten ihn im Hudson versenkt. »Das Frühstück ist fertig, und ich habe einen ausgewachsenen Seebärenhunger.« Gina Benson lächelte, dann wurde ihr Gesicht mit einem Schlag wieder ernst. »Richtig«, sagte die junge Frau. »Sie sind das…!« Mit einem Satz war sie in ihrem Schlafzimmer; als sie drei Minuten später zurückkehrte, war sie ein wenig mehr angezogen und auch sonst zugeknöpfter. Die unbefangene Stimmung der ersten Augenblicke war verflogen; die Vernunft hatte wieder einmal zugeschlagen. Jo setzte sich und griff nach einer Scheibe Toast. »Gut geschlafen?« wollte er wissen. Gina ließ sich in den gegenüberliegenden Sessel fallen. »Muß wohl«, sagte sie und gähnte wieder. »Wie spät ist es inzwischen?« »Kurz nach zehn«, antwortete Jo. »Der Aal ist prächtig. Sie sollten ihn versuchen.« »Haben wir nichts Wichtigeres zu besprechen als den Wohlgeschmack irgendeines verdammten Schlangenfischs? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie mir gestern gesagt, mein Großvater wäre ermordet worden. Einen weiteren Mord habe ich mit angesehen, und beinahe wären wir beide in die Luft gesprengt worden. Da haben Sie nichts anderes im Kopf als Räucheraal und Rührei?« Jo zuckte die Schultern. »Wissen Sie, was ein großer Zen-Meister, vielleicht sogar der sechste Patriarch höchstpersönlich gesagt haben soll, als man ihn nach der wirklichen Essenz des Zen fragte?« »Nein«, antwortete Gina und griff nach der Glaskanne mit dem Kaffee. »Aber sie werden es mir wohl gleich verraten – nach dieser Eröffnung.« »Er sagte nur, das Geheimnis sei dieses: Er esse, wenn er hungrig sei, und er schlafe, wenn er müde sei.« »Aha«, antwortete Gina. »Sehr erhellend. Und was meint er tatsächlich damit?« Jo grinste. »Wenn man’s verstünde, wäre es kein Zen«, antwortete er. »Ich jedenfalls habe Hunger, und das Essen schmeckt mir einfach besser, wenn ich dabei nicht an Sprengstoff und Leichen denken muß. Geht
es Ihnen anders?« Gina Benson war inzwischen wieder ziemlich wach. Sie funkelte Jo an. »Vielleicht fehlt mir einfach die nötige Erfahrung und Übung im Umgang mit Leichen und Sprengstoffen«, sagte sie bissig. Jo lächelte. »Vielleicht«, sagte er höflich und bestimmt, »fehlt es Ihnen eher an Erfahrung im Frühstücken.« Gina sah ihn verdutzt an. »Könnte stimmen«, sagte sie dann leise und senkte den Blick. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht so anschnauzen.« »Schon vergessen«, antwortete Jo. »Was ist – ein Stück von dem Aal?« Gina nickte und lächelte. Das ruhige und gemütliche Frühstück dauerte keine sieben Minuten, dann klopfte es an der Tür. Jo zog die Brauen in die Höhe. »Erwarten Sie Besuch?« Gina Benson schüttelte den Kopf. »Niemanden«, antwortete sie. Jo zuckte die Schultern, holte sich mit Blicken das Einverständnis von Gina Benson und ging dann zur Tür. Den Herrn auf dem Flur kannte er bereits – aus der Spelunke, in der Andrew Baxter Benson ermordet worden war. »Ah, Mister Walker«, sagte der Mann auf dem Flur; ein breites, zufriedenes Lächeln, mit viel Gold dazwischen. »Mein Name ist Said Ben Tassi. Ich bin ein… Nun ja, ich würde sagen, Geschäftspartner von Mister Benson.« »Gewesen«, sagte Jo knapp. Hinter dem Araber standen zwei Männer, augenscheinlich Leibwächter, vermutlich Palästinenser. Sie musterten Jo kalt, ihre Augen waren ohne Ausdruck. Um so beredter waren ihre Jacketts; die schweren Waffen unter dem feinen englischen Tuch waren nicht zu übersehen. »Können wir miteinander reden – Sie, Miß Benson und ich? Mir wäre daran gelegen…« Jo trat zur Seite. Ben Tassi trat ein, dann streckte Jo den Arm aus. »Ihre Spielzeuge bleiben draußen«, sagte Jo trocken. »Miß Benson hat genug Ärger gehabt.« Ben Tassi zog kurz die Brauen zusammen, dann drehte er sich um und bellte ein paar Befehle. Seine Gorillas sahen Jo kurz an – auch so konnte man wahrscheinlich eine Blutsfeindschaft erklären – dann blieben sie auf dem Gang stehen. Jo schloß leise die Tür und geleitete Ben Tassi in das Wohnzimmer.
Der Araber – Jo tippte ebenfalls auf einen Palästinenser, aber die lebten schließlich überall im Orient, wenn auch nicht gerade in Palästina – breitete die Arme aus, als er Gina Benson sah. Es fehlte nur, daß er sie umarmte und abküßte. Die Freude jedenfalls war so falsch wie Ben Tassis Zähne. Gina schluckte und sah über die Schulter des Arabers hinweg Jo an. »Ist das der Mann, der meinen Großvater ermordet hat?« fragte sie leise; sie war ein wenig bleich geworden. Said Ben Tassi zeigte sich empört. »Miß Benson«, sagte er. »Wo denken Sie hin? Ihr Vater und ich standen kurz vor einem äußerst erfolgreichen Geschäftsabschluß…« Gina schluckte heftig. »Hätten Sie und mein Großvater nicht vor einem geschäftlichen Abschluß gestanden – wäre der Verdacht dann nicht so abwegig?« fragte sie leise. Jo unterdrückte ein Grinsen, als er Ben Tassis betroffene Miene sah. Ginas Bemerkung hatte ihn ersichtlich aus der Ruhe gebracht; ihm war wohl klargeworden, daß er sich verplaudert hatte. Noch dazu auf eine Weise, die sehr viel über ihn und seine Geschäfte verraten mußte. Sein Lächeln war verzerrt. »Ein guter Scherz, Miß Benson«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich darf mich setzen? Ihr Großvater also, ich hätte es mir denken sollen. Eine Frau wie Sie als seine Tochter, das wäre zuviel gewesen. Sie sind Ihrem verehrten Großvater übrigens bemerkenswert ähnlich, und fassen Sie das bitte als Kompliment auf. Ich fand Ihren Großvater… Nun, sagen wir, bemerkenswert. Sehr bemerkenswert. Ich darf mich bedienen? Hmmm, vorzüglicher Kaffee. Ich verstehe etwas davon, wissen Sie. Einer meiner zahlreichen Onkel – oder heißt es Onkel, oder Onkels, ich weiß es einfach nicht…« »Bitte, kommen Sie zur Sache«, sagte Gina knapp. Das war nicht nur unhöflich, das war grob. Man sah es am Zusammenzucken des hochgewachsenen Arabers. In seinen Kreisen war es üblich, viel Zeit mit Vorreden und Präliminiarien zu verbringen, bevor man sich dem Kern des eigentlichen Handels näherte. Ben Tassi lächelte kurz. »Der Westen«, sagte er leise. »Und die Jugend. Ach, übrigens, muß Ihr Domestike…?« Eine knappe Handbewegung deutete auf Jo Walker. Jo unterdrückte mit Mühe ein lautes Lachen. Ihm war schon einiges an Beleidigungen um die Ohren gehauen worden; vor allem die irischen Ganoven verfügten über höchst bemerkenswerte Beschimp-
fungen, und Südamerikaner leisteten auf diesem Gebiet auch Außerordentliches – aber in dieser lässigen, beiläufigen Form war Jo noch nie moralisch geohrfeigt worden. Ein Domestike… »Jo Walker ist mein… Berater«, antwortete Gina; dummerweise wurde sie bei diesen Worten auch nicht rot. Ben Tassi zuckte kurz mit den Lippen. »Wie Sie meinen«, sagte er. »Nun, kommen wir zur Sache. Ihr verehrter Herr Großvater war Besitzer einer Sache, an der ich sehr interessiert bin.« Jo mischte sich ein. Er setzte sich auf den freien Platz am Tisch und griff nach seiner Kaffeetasse. Als er sie absetzte, rückte er sich ein klein wenig vor, auf Ben Tassi zu. »Sie – oder Ihre Auftraggeber?« fragte Jo knapp. Ben Tassi zuckte die Schultern. »Der Unterschied ist nicht weiter von Bedeutung«, behauptete er. »Meine Auftraggeber, ich – das ist sozusagen ein und dieselbe Familie.« »Mit Stammsitz in Libyen?« Jo nahm Zucker, und auch die Zukkerdose setzte er wieder auf dem Tisch ab. Ziemlich genau vor Ben Tassi. Der Araber reagierte nicht, mit keiner Miene. Er beherrschte sich eisern, zuckte nicht mit der Wimper – für Jo kam das einem Eingeständnis gleich. Also Libyen… Regiert von Muammar el Ghaddafi, der Erzfeind der Amerikaner in Afrika und im Mittelmeer. Wenn Ghaddafis Abgesandte im Spiel waren, klingelten bei den Geheimdienstleuten in den USA die Alarmsirenen. Diesem Mann und seinen Leuten trauten sie alles zu. Jo mußte unwillkürlich an Rabta denken. Dort hatte Libyen eine sogenannte chemische Fabrik errichten lassen. Gina zeigte ein verlegenes Lächeln. »Mein Großvater hat mich nur in sehr eingegrenzter Form in seine Geschäfte eingeweiht«, sagte sie. »Vielleicht könnten Sie ein klein wenig präziser werden. Waren die Preisverhandlungen übrigens schon beendet?« Ben Tassi sah Gina verwundert an, er lächelte. »Nicht ganz«, sagte er. »Oder doch beinahe? Wir hatten uns auf zwanzig Millionen geeinigt. Fraglich waren eigentlich nur noch die Übergabemodalitäten?« »Die was?«
»Die Art und Weise, in der Geld und Ware den Besitzer wechseln sollten«, erklärte Jo. Er verschob den Aschenbecher noch ein wenig in Richtung auf Said Ben Tassi. Der Araber wurde zusehends nervöser; er sah Jo irritiert an. »Zwanzig Millionen, das ist eine Menge«, sagte Gina, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nun«, meinte Ben Tassi. »Legen Sie das Geld zu zehn Prozent an – ich könnte Ihnen da ein paar interessante Tips geben –, dann bringt es zwei Millionen im Jahr. Die Hälfte wird Ihnen, wenn Sie keinen guten Berater haben, die Steuer abnehmen, bleibt eine Million Dollar, netto. Das sollte zum Leben reichen, selbst wenn man eine verwöhnte junge Frau ist.« Gina Benson erstarrte. Auch Jo Walker hatte Mühe, seine Hände ruhig zu halten. Natürlich hatte Jo angenommen, daß Ben Tassi in seiner Landeswährung gerechnet hatte, wie immer die auch heißen mochte; bei den meisten exotischen Währungen kamen selbst bei normalen Geschäften leicht märchenhafte Summen zusammen. Aber dies… »Sie reden von Dollar? Von US-Dollars?« Ben Tassi nickte. »Selbstverständlich«, sagte er überrascht. »Oder was hatten Sie ge…« Er unterbrach sich; seine Miene wurde von einem Augenblick auf den anderen finster. Er sah Jo Walker an, dann Gina Benson. »Yachr betak!« fluchte der Araber und stand auf. »Sie beide haben keine Ahnung, worum es geht. Nicht wahr? Sie wissen gar nicht, wovon ich rede.« Jo versuchte es mit einem Bluff. »Von der gleichen Ware«, feuerte er einen Schuß ins Blaue ab, »für den sich auch die anderen interessieren.« Ben Tassi kniff die Augen zusammen. »Welche anderen?« Jo zuckte die Schultern. »Wer wohl?« sagte er leichthin und lächelte. »Shin Beth, wer sonst?« Said Ben Tassi ließ einen Stapel orientalischer Verwünschungen los, ein wahres Trommelfeuer von Kehllauten. Es klang sehr wütend, aber das konnte täuschen. Jo hatte schon arabische Liebeslieder gehört, die klangen für westliche Ohren genauso. »Das kann nicht sein!« stieß Ben Tassi hervor.
»Warum?« fragte Jo. »Weil Ihre Männer einen Shin-Beth-Mann gestern nacht ermordet haben? Und versucht haben, uns beide in die Luft zu sprengen?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Ben Tassi unbeherrscht. Er sah Jo wütend an. »Aber ich«, entgegnete Jo trocken. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mister Ben Tassi. Gehen Sie nach Hause, und überlegen Sie sich die Sache noch einmal.« Said Ben Tassi hob beide Hände zum Himmel. »Auf Ehre«, sagte er feierlich. »Ich weiß nichts von gestern abend. Wirklich nicht. Es können nicht meine Männer gewesen sein. Ich schwöre es.« »Beim Bart des Propheten?« »Bei meinem Schweizer Nummernkonto«, sagte Ben Tassi und grinste schief, »das mir nähersteht. Ich weiß nicht, wer wen gestern abend wann, wo und warum getötet hat oder töten wollte, aber es waren ganz gewiß nicht unsere Leute. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, bestimmt.« Das Lächeln, mit dem er Jo betrachtete, wurde abgründig. »Ich würde das niemals erlauben«, sagte er leise. »Sie einfach nur zu sprengen – niemals.« Jo grinste zurück. »Es würde zu schnell gehen, nicht wahr?« »Sie sagen es, Mister Walker«, versetzte Said Ben Tassi; er warf einen Blick auf Gina Benson. Sie starrte den Araber finster und entschlossen an. »Und was diese zauberhafte junge Dame betrifft – es wäre wirklich schade, ausgesprochen schade…« Das Lächeln, das er bei diesen Worten produzierte, war so schmierig und anzüglich, daß Gina blaß wurde. Sie ahnte, was Ben Tassi mit diesen Worten gemeint hatte. »Sie werden mich entschuldigen…«, sagte Ben Tassi. »Denken Sie über mein Angebot nach. Wenn Sie wissen, worum es geht – lassen Sie es mich wissen. Zwanzig Millionen in bar oder steuerfrei auf ein Schweizer Konto…« Er lächelte noch einmal und verließ dann den Raum. Jo sah ihm nachdenklich hinterher. * »Haben Sie begriffen, worum es ihm geht?« fragte Gina Benson erschüttert. »Wahrscheinlich will er sie…«
»Ach was«, sagte Gina und schnitt Jo mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. »Ich meine nicht mich. Ich denke an das, was er vorher gesagt hat. Wofür will er zwanzig Millionen Dollar zahlen? Mein Großvater hat niemals in seinem Leben etwas besessen, was auch nur ein Hundertstel dieser Summe wert gewesen wäre. Zwanzig Millionen Dollar – wofür zahlt jemand soviel Geld? Rauschgift? War das ein Rauschgifthändler?« Jo schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er; unwillkürlich begann er damit, in dem Zimmer auf und ab zu gehen. Er machte das gelegentlich, um den Fluß seiner Gedanken zu befördern. »Ben Tassi handelt nicht mit Drogen. Vielleicht doch, aber dann nicht in diesem Maßstab. Es geht nicht um Drogen, bestimmt nicht.« »Und wer ist Shin Beth? Sie schienen den Mann zu kennen…« »Sherut Bitachon«, antwortete Jo gedankenverloren. »Auf englisch Secret Service, der israelische Geheimdienst heißt so. Und die Abkürzung ist Shin Beth.« »Etwas Ähnliches wie unsere CIA?« Jo nickte. »So ähnlich«, sagte er; sekundenlang huschte ein Grinsen über sein Gesicht. »Nur besser – aber das werden die Burschen in Langley nicht gerne hören.« Gina schüttelte den Kopf. »Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte sie. »Wenn ich mir das zusammenzureimen versuche, dann hat Großvater etwas gehabt oder gewußt, was zwanzig Millionen Dollar wert sein kann, und für das sich Araber und Israelis interessieren…« »Und die CIA«, warf Jo nachdenklich ein. »Und außerdem noch andere.« »Noch mehr?« Jo nickte. »Der Mann gestern im Boot, das war ein Israeli. Und die Kerle, die ihn getötet haben – die sind bestimmt nicht von Ben Tassis Mannschaft gewesen. Ich bin sicher, daß er uns in diesem Punkt nicht angelogen hat.« »Augenblick«, sagte Gina Benson. »Ich zähle nur kurz zusammen, damit wir den Überblick nicht verlieren. Da ist dieser Ben Tassi. Für wen arbeitet der?« Jo wiegte den Kopf. »Wahrscheinlich für Libyen«, antwortete er. »Aber möglich ist auch, daß er…« »Bleiben wir bei Libyen«, sagte Gina und preßte die Kiefer aufein-
ander. »Da sind die Araber. Da ist dieser Sherut Bitachon, die Israelis. Nummer zwei. Da ist unsere CIA, Nummer drei. Da ist dieser Tarkowski – wozu gehört der?« »Keine Ahnung«, gab Jo zu. »Wirklich, ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Nummer vier«, zählte Gina Benson weiter. »Da ist dann noch jemand, der sich bisher nicht gezeigt hat. Die Leute, die das Boot gesprengt haben. Partei Nummer fünf. Fünf verschiedene Parteien sind hinter meinem Großvater her gewesen, und es sieht so aus, als wären sie noch immer hinter etwas her.« Jo nickte. »Sie haben den Sachverhalt sehr präzise beschrieben«, sagte er. »Besser hätte ich es auch nicht gekonnt.« »Und was ist dieses Etwas?« fragte Gina Benson; ihr Unterkiefer zuckte immer heftiger. Sie war den Tränen nahe. »Ich meine, wenn dieser Mister Tassi sofort bereit ist, dafür zwanzig Millionen Dollar zu zahlen, wenn der Israeli dafür sterben mußte, wenn dieser Tarkowski dafür kaltblütig zu töten bereit ist – Jo, ich habe Angst. Fürchterliche Angst.« Jo nickte sanft. »Das kann ich verstehen«, sagte er halblaut. »Mehr, als sie ahnen. Mir macht die Sache auch angst.« Er setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort; den Kaffee rührte er nicht an; sein Blutdruck war auch ohne dieses Hilfsmittel hoch genug. »Was kann ein so einfacher, schlichter Mann, wie Ihr Großvater einer gewesen ist, in seinem Besitz haben, das so wertvoll und so wichtig ist.« Gina schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte sie leise. »Und ehrlich gesagt – ich will es auch gar nicht wissen.« Jo setzte ein dürres Lächeln auf. »Sie irren sich, Gina«, sagte er nachdenklich. »Es ist in Ihrem Interesse, wenn Sie es wissen. Ihr Großvater ist tot, aber wie dieser Ben Tassi gezeigt hat, haben die anderen das Geheimnis der Belle de Mai noch nicht in ihren Besitz gebracht. Kann sein, daß wir es niemals herausbekommen werden, weil das Etwas mit der Belle de Mai in die Luft geflogen ist. Aber ob die anderen Beteiligten das auch glauben werden?« Gina Benson zuckte die wohlgeformten Schultern. »Was kümmert mich das?« fragte sie leichthin. Jo Walker sah sie eindringlich an.
»Es geht Sie sehr viel an«, erwiderte er. »Erinnern Sie sich an Ben Tassi – er wollte Ihnen das Geheimnis abkaufen, weil er glaubte, Sie wüßten Bescheid. Die anderen Partner im Spiel denken vielleicht ähnlich – und die glauben Ihnen vielleicht nicht, daß sie nicht informiert sind.« Gina Benson wurde blaß. »Sie meinen…« Sie stockte, sah hinüber zur Tür, deutete mit der Hand darauf. »Daß da noch mehr kommen. Und nicht nur mit Geld in der Hand?« Jo Walker nickte bekümmert. »Genau das meine ich«, sagte er. »Der nächste Gast kommt vielleicht mit einem Revolver. Oder mit etwas, das noch schlimmer ist.« »Was sollte das sein?« Jo sah Gina Benson an. »Nun, da Sie eine Frau sind – vielleicht ein paar Männer?« Gina Benson mußte sich erst einmal setzen, als sie begriff, was Jo damit meinte. »Ernsthaft?« Jo nickte. »Dann sollten wir etwas unternehmen, Mister Walker«, sagte die junge Frau. »Sie sind mein Beschützer… Grinsen Sie nicht so, ich brauche wirklich Ihren Schutz…« »In meinen Kreisen«, warf Jo grinsend ein, »hat dieses Wort einen sehr unschönen Beigeschmack. Aber fahren Sie fort!« »Was raten Sie mir? Soll ich einfach meine Sachen packen und abhauen, irgendwohin, wo mich keiner kennt?« Jo schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das hilft nicht weiter. Wenn Sie wirklich einen Ort finden, an dem Sie keiner kennt, werden Sie dort nicht sehr glücklich leben. Und die Kerle, die Ihren Großvater ermordet haben, sind Spezialisten auf ihrem Gebiet. Vor allem die Shin-Beth-Leute sind hartnäckiger als die spanische Inquisition. Die haben Eichmann bekommen, und die Attentäter von München haben sie auch aufgespürt und liquidiert – wenn diese Leute Sie finden wollen, dann bekommen die Sie auch.« Gina Benson schluckte heftig. »Und was sonst kann ich unternehmen?« Jo kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich sehe nur eine Möglichkeit«, sagte er nach längerem Nachdenken. »Und die wäre?« Jo Walker alias Kommissar X grinste breit und boshaft.
»Ganz einfach«, sagte er. »Wir rufen eine Versammlung zusammen…« * »Ich will mit dabeisein!« Jo stieß einen tiefen Seufzer aus. Er kannte diese Sorte Frauen. Sie besaßen einen starken Willen, und wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatten, dann war es nahezu unmöglich, bei ihnen einen Sinneswandel herbeizuführen. »Gina«, sagte Walker beschwörend. »Die Sache kann nicht nur lebensgefährlich werden, sie ist sozusagen mit Garantie. Die Leute, die dort zusammentreffen werden, schrecken vor nichts zurück, um ihre Ziele zu erreichen.« Gina Benson sah Jo offen an. »Ich weiß das«, sagte sie halblaut. »Aber ich finde, ich bin es meinem Großvater schuldig. Außerdem – was glauben Sie, wie wir hierhergekommen sind, Großvater und ich? Wir sind gesegelt, und zwar rund um Kap Hoorn. Sie wissen, was das heißt, nicht wahr? Dann versuchen Sie nicht, mir angst zu machen.« »Hier geht es nicht um Sturm und Wetter«, beharrte Jo. »Hier geht es… Ach was, machen Sie doch, was Sie wollen.« »Das hatte ich auch vor«, sagte Gina Benson und lächelte zufrieden. Jo sah auf die Uhr. Es wurde längsam Zeit. Vor zwei Tagen hatte er den Treffpunkt durchsickern lassen; Jo war sicher, daß die Nachricht die Runde gemacht hatte. Wer immer zu diesem absonderlichen, rätselvollen Spiel gehörte, hatte garantiert davon erfahren, gleichgültig, welcher Partei er in dem Spiel angehören mochte. »Kommen Sie!« sagte Jo leise. Er nahm Gina Benson beim Arm; sie zitterte ein wenig, stellte Jo fest. Dann stellte sie sich kurz auf die Zehenspitzen und küßte Jo sanft auf den Mund. »Erst einmal danke, für alles«, sagte Gina Benson. »Und jetzt können wir gehen.« Jo hatte ein Taxi geordert, das ihn mit Gina zum Treffpunkt brachte. Es war ein besonders einladender Platz der Stadt. Jo hatte eine Gegend im Hafengebiet ausgesucht. Dort gab es einen Ort, über dem sich ein halbes Dutzend Fahrbahnen der Stadtautobahn kreuzten und verschlangen, ein bis drei Stockwerke über dem Erdboden. Das Gelände unterhalb dieses Verkehrsknotenpunktes wurde kaum genutzt. Selbst die Stadtstreicher, die es in Boston so gut gab wie in anderen
Städten der reichen Vereinigten Staaten, mieden diesen Platz. Es gab ein paar Dutzend Autowracks dort, viele davon ausgebrannt; zwischen dem Metall häufte sich Müll und Unrat, Ratten huschten auch tagsüber auf leisen Pfoten umher. Selbst an einem hellen Sommertag war es in dieser gespenstischen Unterwelt dämmrig, nur dort kam Licht durch bis auf den Boden, wo es eine Lücke im Gewirr der Fahrbahnen gab. Aus unerfindlichen Gründen waren Teile des Bodens betoniert worden; es gab kleinere und größere Mauern, die keinen bestimmbaren Zweck verfolgten. »Ein Labyrinth«, sagte Gina Benson leise. Jo hielt sie an der Schulter. »Noch können Sie es sich überlegen«, sagte er leise. »Da drin stecken oder werden stecken mindestens ein Dutzend Männer, und sie werden bewaffnet sein. Es ist ein unheimlich kitzliges Geschäft, auf das wir uns einlassen. Und ich bleibe dabei – Sie sollten ins Hotel gehen und abwarten.« »Bis die Polizei kommt, um mir zu sagen, daß Ihre Leiche gefunden worden ist?« Gina Benson schüttelte den Kopf. »Ich komme mit«, sagte sie rauh. Jo konnte sehen, daß sie ihre rechte Hand in die Tasche ihres Trenchcoats gesteckt hatte, und er wußte, daß sie dort eine Waffe trug. Eine Beretta, einen typischen Damenrevolver, höchstens dazu geeignet, lüsterne Halbstarke zu erschrecken. Keinesfalls genügte die Waffe, um einen entschlossenen Mann zu stoppen, der sich auf sein mörderisches Handwerk verstand. »Los!« Die beiden drangen in das Betondickicht vor. Jo hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Aber er wußte: Wenn er nicht auf Gina Benson aufpaßte, würde sie auf eigene Faust handeln, und dann waren ihre Aussichten noch geringer. Nur in seiner Nähe hatte sie wenn überhaupt eine Chance. Es war Abend, über dem Highway brannte die künstliche Beleuchtung. Was hier unten, im Betonorkus dieser Stadt, davon noch ankam, reichte nur für ein trübes Dämmerlicht, in dem sich Menschen wie Schatten vor dunklem Hintergrund bewegten. In gewisser Weise passend, fand Jo. Das Geschäft mit der Spionage war ein Geschäft der Schattenwelt; damit verglichen, waren selbst die Händel der Unterwelt klar strukturiert. Nach wenigen Schritten hatte der Schatten die beiden verschluckt.
Jo bewegte sich langsam. Er wußte, daß ein paar Agenten in diesem Dunkel bereits lauerten; andere würden vielleicht noch kommen. Und das alles nur wegen einer Anzeige in der größten Zeitung der Stadt. »Long Johns preiswert abzugeben…« Dahinter hatte Jo Walker Ort und Zeit des Treffens einrücken lassen. Long Johns. Gerade noch rechtzeitig war Jo dieses Stichwort eingefallen; es war in dieser ganzen Angelegenheit ja auch nur einmal genannt worden. Aber es schien den Kern des Geheimnisses zu umschreiben, und Jo war fest entschlossen, dieses Geheimnis an diesem Abend zu lüften. »Jo!« Jo faßte wieder nach Ginas Arm. »Was gibt es?« »Ich glaube…«. Jo konnte Ginas Stimme anhören, daß sie ein wenig würgte. Sie war auf etwas gestoßen. »Wo?« »Auf dem Boden!« Jo machte einen Schritt nach vorn, bis er neben Gina stand. Undeutlich konnte er auf dem Boden einen Körper erkennen. Ein Mann, wie es schien, in einem leichten Mantel gehüllt. Jo faßte zu, drehte den Mann herum. Es war Said Ben Tassi, und er war tot. Und es stand auch fest, wer sein Mörder gewesen war. Aus dem rechten Ohr von Ben Tassi sickerte ein wenig Blut; Jo konnte es nur sehr schwach sehen, aber um so leichter fühlen. Tarkowski. Jo schluckte heftig. Wenn dieser Mann sich hier herumtrieb, dann war größte Vorsicht geboten. Jos Besorgnis um Gina Benson wuchs mit jeder Minute. »Was… oder wer… ist es?« Ginas Stimme kam stockend. Offenbar hatte sie sich die Angelegenheit doch etwas anders vorgestellt; ein Sturm vor Kap Hoorn, so gefährlich er sein mochte, war auch etwas anderes als ein kaltblütiger Killer. »Said Ben Tassi«, sagte Jo und richtete sich wieder auf. »Er wird Sie nicht mehr behelligen. Er ist tot.« »Großer Gott«, murmelte Gina. Sie sah um sich. Jos Augen hatten sich inzwischen leidlich an die Lichtverhältnisse gewöhnt; das hieß allerdings nicht, daß er gut und weit hätte sehen können. Auch die Optik schien in dieser Betonwelt ihre ganz eigenen Gesetze zu haben.
»Dort drüben«, sagte Jo leise. »Kommen Sie!« Jo hatte einen Verschlag aus Beton entdeckt, nur knapp dreißig Meter entfernt. Zur rechten, mehr als hundert Meter weg, tanzten kleine Flammen um einen Haufen brennender Gummireifen. Zur linken schwelte irgendwo ein Müllbrand und schickte erstickenden Qualm in die Szenerie. Das Ganze hatte etwas Unwirkliches, fast Apokalyptisches an sich. Geduckt huschten Jo und Gina durch den Dschungel aus Wracks, Blechhaufen, Müllbergen, leeren Kartons und was es an Wohlstandsbeweisen sonst noch gab. Wahrscheinlich gab es in Boston Menschen, die nachts zu diesem Knotenpunkt fuhren und ihren Müll einfach über die seitlichen Begrenzungen hinweg in die dunkle Tiefe kippten – unbekümmert, was aus dem Zeug dann wurde oder wer es möglicherweise auf den Kopf bekam. Jo schmunzelte innerlich, während er sich durch dieses – in doppeltem Sinne – Land der Schatten bewegte. Mit der Wahl dieses Treffpunkts hatte er seinen Gegnern einen argen Streich gespielt. Die Männer und Frauen in den Geheimdiensten der Welt waren fast durchweg stolz auf ein gewisses Niveau; wahrscheinlich verdankten sie dieses Anspruchsdenken Ian Fleming und seiner geistigen Geburt: James Bond. Geheimagenten legten Wert auf gediegene Kleidung, auf Schuhe von Gucci, auf exklusive Parfüms, auf erstklassiges Essen, und natürlich bevorzugte jeder seinen speziellen Drink. Es mußte nicht unbedingt ein trockener Martini sein, gerührt, nicht geschüttelt; es durfte auch edler Pure Malt Whisky sein oder Cognac, der in jedem Fall älter sein mußte als der Mann, der ihn trank. Jo Walker hingegen war aus seinem Beruf auch Schmutz und Unrat gewöhnt; die Fälle, die sich in diesem Milieu der Slums und der Abfallhaufen entwickelten, waren zwar nicht sehr häufig, aber es gab sie. So betrachtet, gewährte dieser unheimliche, übelriechende und abstoßende Ort Jo Walker einen gewissen Standartvorteil. Sich in der dämmrigen Unterwelt zu orientieren, die aus einem Science-Fiction-Film hätte stammen können, war alles andere als einfach. Aus unerfindlichen Gründen verliefen Betonmauern durch das Gelände, gab es dicke Klötze aus Backsteinen oder armierte Fundamente; offenbar hatte sich bei der Planung der Hochstraßen jeder Architekt nach Belieben austoben dürfen. Sie hatten gebaut, was das Stadtsäckel und der Beton nur hergaben. »Wir werden uns ein Versteck suchen«, sagte Jo leise. Er sah auf die Uhr. Sie waren früher gekommen als verabredet gewesen war.
»Hier?« Gina Benson schauderte. Jo hatte inzwischen eine Art Wohnung erspäht. Irgend jemand, vielleicht ein Junkie oder ein Berber, hatte einen Winkel von zwei Betonmauern entdeckt und für sich hergerichtet. Die Mauern waren schulterhoch und bildeten einen spitzen Winkel. Als Dach hatte der unbekannte Baumeister einige Kartons aus wasserfester Pappe ausgewählt und über den Winkel gelegt; Schrotteile sorgten dafür, daß das Dach nicht verrutschen konnte. Jo führte Gina Benson zu dem Versteck. Es lag in einem Schattenbereich, war also kaum zu entdecken. Im Inneren der improvisierten Höhle roch es nach den Düften der Armut: kalter Zigarettenrauch, Schweiß und Alkohol, außerdem kam noch ein kräftiger Geruch nach öffentlicher Bedürfnisanstalt hinzu. Gina Benson verzog angewidert das Gesicht, als Jo sie in die Höhle drängte. Auch er verschwand in dem Loch. Er konnte die junge Frau verstehen; diese Höhle war wirklich übel. Jetzt begann das Warten. Angefangen hatte dieser Fall in einer Nepp-Spelunke am Hafen. Zwischendurch hatte er im Yachthafen gespielt, und es ging um irgend etwas, das zwanzig Millionen Dollar wert sein konnte und auf den Kodenamen Long Johns hörte. Der Himmel allein mochte wissen, wie sich diese Bruchstücke zu einem wirklichkeitsnahen Bild zusammenfügen ließen; Jo Walker jedenfalls konnte es einstweilen nicht. Er stieß Gina Benson an. »Da kommt jemand«, sagte er. »Jetzt ganz still. Nicht bewegen, keinen Laut.« In der Tat näherte sich jemand dem Versteck der beiden Wartenden. Der Jemand war ein Mann, der sich sehr langsam und zögerlich durch den Unrat bewegte; es war seinen Bewegungen anzusehen, wie sehr er diese Aufgabe verabscheute. Jos Augen hatten sich inzwischen an die trüben Lichtverhältnisse dieser Unterwelt aus Beton und Asphalt gewöhnt. Er konnte Einzelheiten ausmachen. Ein Mann, über vierzig, gekleidet in einen Anzug und einen Trenchcoat, wie in einem Film aus der Schwarzen Serie. Allerdings sah er darin nicht ganz so beeindruckend aus wie Humphrey Bogart. Männer, die kleiner als 170 Zentimeter und schwerer als 75 Kilo sind, sollten den Trenchcoat lieber anderen überlassen; sie sehen darin eher aus wie ein Sack Muscheln mit einem Strick darum. Vor allem dann, wenn der Trenchcoat, wie in diesem Fall, mindestens
eine Nummer zu klein gewählt war. Der Mann trug – Jo konnte es schwach erkennen – eine Krawatte. Unter der linken Schulter trug er eine schmale Mappe, die rechte Hand pendelte unruhig an der Seite. Nach diesem unfreiwilligen Hinweis aus der Körpersprache brauchte Jo viel Ahnung, um die leichte Ausbeulung unter der linken Schulter des Mannes richtig zu identifizieren: Der Ankömmling trug eine Waffe in einem Schulterhalfter. Er machte allerdings nicht den Anschein, als sei er versessen darauf, diese Waffe auch einzusetzen. Jo blieb in seinem Versteck und ließ den Mann an sich vorüberwandern. Immer wieder sah der Besucher sich um; er schien etwas oder jemand zu suchen. Jo kroch aus dem Versteck hervor, leise und geduckt, und machte ein paar Schritte im Rücken des Mannes. Erst als er weit genug von Gina Bensons Standort entfernt war, richtete Jo sich zu ganzer Größe auf. »Hier bin ich«, sagte er freundlich. Der Mann vor ihm erstarrte zu einer Säule. Dann bewegte er sich sehr langsam. »Ich würde das nicht tun, Mister«, sagte Jo Walker trocken. »Ich halte eine 38er auf Ihren Rücken gerichtet, und trotz des Trenchcoats kann ich genau sehen, daß Sie nach Ihrer Waffe zu greifen versuchen. Wenn Sie es darauf anlegen, können wir die Sache natürlich auch so austragen. Ich warte.« Die Muskelbewegungen unter dem Trenchcoat hörten auf. Der Mann begann sich langsam um seine Achse zu drehen, sehr langsam. Er hatte die rechte Hand ausgestreckt und leicht erhoben. Jo erkannte ein blasses Durchschnittsgesicht, mit aschblonden, schon ein wenig schütteren Haaren; die Augen waren so hell, daß man sie kaum erkennen konnte. »Sie sind Mister Walker?« Jo nickte knapp. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« fragte er; es hatte den Anschein, als habe sein Gegenüber kein Ohr für den leisen ironischen Unterton in Jos Stimme. »Maxwell ist mein Name«, sagte der Mann. Er trat einen zögernden Schritt auf Jo zu. »Ich komme wegen… Nun, Sie wissen schon.« »Ich weiß«, sagte Jo kalt. »Wie lautet Ihr Angebot?« Maxwell machte ein trauriges Gesicht. »Angebot? Mister Walker, ich glaube, Sie mißinterpretieren Ihre Lage.«
»Tue ich das?« fragte Jo amüsiert. »Ich bin hier, um Sie in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, daß Sie sich strafbar machen, wenn Sie die Sache, um die es hier geht, nicht ohne Verzug an einen Bevollmächtigten der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika aushändigen.« »Und das wären Sie?« wollte Jo wissen. Er hatte sich, offen gestanden, einen Bevollmächtigten der Regierung der USA ein wenig eindrucksvoller vorgestellt. Dieser Mann hier hätte jederzeit als älterer Bruder von Dan Quayle durchgehen können. »Ich komme vom Pentagon, Mister Walker«, fuhr Maxwell fort; immer wieder sah er sich um, und sein Gesicht verriet, daß er in immer stärkerem Maße mit Übelkeit zu kämpfen hatte. Jo lächelte in sich hinein. Es gab Männer, die so knallhart waren, daß sie noch mit einem halben Dutzend Bleigeschossen in Brust und Bauch standen und kämpfen konnten. Aber selbst diese Schwarzenegger-Typen waren nahezu handlungsunfähig, wenn sich ihnen ganz simpel der Magen umdrehte oder es in einem ihrer Backenzähne leise puckerte. »Sollten Sie tatsächlich vorhaben, Lang Johns einer fremden, auswärtigen Macht zukommen zu lassen, Mister Walker, müssen Sie mit einer Anklage rechnen, unter anderem wegen Hochverrats…« »Sieh an«, sagte Jo. Es war ein dummer Spruch, und er wußte es auch. Aber ihm fiel nichts anderes ein. Um Hochverrat ging es in diesem Fall also auch. Was um alles in der Welt hätte ein Mann, der seit beinahe vierzig Jahren den Boden der USA nicht mehr betreten hatte – Gina Benson hatte Jo erzählt, daß ihr Großvater es aus naheliegenden Gründen strikt vermieden hatte, auch nur einen Fuß auf ein US-Schiff zu setzen – was für eine Art von Hochverrat hätte ein solcher Mann schon begehen können? »Mehr haben Sie mir nicht anzubieten?« fragte Jo spöttisch. »Da sind die anderen schon großzügiger.« Jo hob den Blick. Jemand näherte sich, offen und aufgerichtet. Der Mann trug eine abgewetzte Uniformjacke, wie man sie in jedem besseren Jeans Shop erstehen konnte, dazu Jeans, Stiefel – und in der rechten Hand eine kurzläufige Uzi-Maschinenpistole. Jo tippte auf einen Israeli. Der Mann hatte die rechte Hand auf Schulterhöhe gehoben, der Lauf der Uzi zeigte hinauf in den Himmel. Von oben dröhnte der Verkehr als breiiger Lärm herunter, wie eine Art akustischer Schleim legte er sich auf die Landschaft. »Da kommt übrigens die Konkurrenz«, sagte Jo. Maxwell drehte
sich herum, und im Bruchteil einer Sekunde war die Uzi gesenkt, und die Mündung zeigte auf den Bauch von Mister Maxwell, dem Bevollmächtigten der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Bevollmächtigte wurde noch ein wenig blasser. »Sie müssen Walker sein«, stellte der Ankömmling fest. Ein Mann von knapp vierzig Jahren, mit der Ausstrahlung eines nüchternen Profis; er hätte vom Aussehen her ebensogut ein Kartoffelfarmer in Idaho sein können – und Jo folgerte daraus, daß dieser Mann äußerst gefährlich war. Nur die schlechten Profis benehmen sich so, wie sich der kleine Sammy Profis vorstellt. »Bin ich«, sagte Jo. »Shin Beth?« Der Ankömmling nickte. »Nennen Sie mich Ben David«, sagte er. »Einfach Ben David. Komme ich rechtzeitig zu den Verhandlungen?« »Mister Walker«, empörte sich der Bevollmächtigte. »Sie werden doch nicht etwa…? Können Sie sich nicht vorstellen, was es für die Lage im Nahen Osten bedeuten würde…?« Ben David sah Jo an. »Falls Sie auf den Libyer warten«, sagte er ruhig, »den habe ich kaltgestellt.« Ben David deutete mit dem Daumen hinter sich. Jo wußte, daß Ben Tassis Leiche hinter seinem eigenen Rücken lag. Also war noch jemand in dieser Unterwelt unterwegs. Tarkowski. »Tot?« Ben David schüttelte den Kopf. Die Uzi hatte er inzwischen wieder hochgenommen. Aber seine Augen musterten unentwegt das Gelände. Es sah vollautomatisch aus, wie bei einem Radargerät. Ben David sah Jo offen an. »Reden wir Klartext«, sagte er ruhig. »Wenn Sie die Lang Johns an die USA zurückgeben wollen, werden Sie natürlich keinen lausigen Dime dafür kriegen. Aber das ist Ihre Entscheidung. Wir wären bereit, dafür angemessen zu zahlen – wenn auch natürlich keine zwanzig Millionen Dollar.« Jo lächelte schwach. »Und wenn die Gegenpartei soviel bietet?« wollte er freundlich wissen. Ben David lächelte nur. Er hatte eine sehr eindrucksvolle Art zu lächeln. Das Lächeln stellte unzweifelhaft klar, daß er es ernst meinte. Tödlich ernst. »Sie werden keinen Platz auf der Welt finden«, sagte er gelassen, »an dem Sie das Geld in Ruhe verbrauchen könnten. Ich würde Sie
finden, wo immer Sie sich auch verstecken.« Jo wußte, daß dies keine leere Drohung war. »Warum lächeln Sie, Mister Walker? Finden Sie mein Angebot so lächerlich?« Es war etwas ganz anderes, das Jo schmunzeln ließ – die einfache Tatsache, daß er trotz dieser intensiven Verhandlung immer noch nicht wußte, was sich nun eigentlich hinter dem Kodebegriff Lang Johns verbarg. Grotesk, aber leider wahr. Der Israeli machte einen halben Schritt auf Jo zu. Wahrscheinlich rettete ihm diese Bewegung das Leben. Jo hörte nicht mehr als ein leises Zischen, dann einen dumpfen Schlag. Ben David reagierte sofort. Seine linke Hand fuhr nach oben, zu meinem Kopf; gleichzeitig senkte sich seine Rechte, und der Mann fuhr herum. Ehe Jo auch nur richtig begriffen hatte, was geschah, hatte der Shin-Beth-Mann seine Waffe bereits im Anschlag. Gelbe Flammenzungen tanzten auf der Mündung der Uzi, als der Israeli eine Salve in das Dämmerlicht hinein abfeuerte. Jo konnte hören, wie die Kugeln auf Metall und Beton prallten und dann als Querschläger mit häßlichem Schrillen davonschwirrten. Ein Karton wurde von zwei Kugeln getroffen, machte einen förmlichen Satz in die Luft und ließ eine Wolke von bräunlichem Staub aufwirbeln. »Äh«, machte Maxwell. Immerhin begriff er so viel von der Lage, daß er sich auf den Boden warf, nachdem er seine Waffe gezögen hatte. Jo sah zu, daß er außer Reichweite dieser Kanone kam; Maxwell war vermutlich für seine Gefährten gefährlicher als für eventuelle Gegner. Jo ging in die Knie und richtete die Mündung seiner .38er in die Richtung, aus der der Angriff gekommen war. Sehen konnte er nichts. Kein Wunder. Der versteckte Killer hieß – sein Geschoß bewies das eindeutig – Tarkowski. Hätte der Israeli sich nicht im entscheidenden Augenblick bewegt, hätte ihn das Eisgeschoß präzise da getroffen, wo Tarkowski es haben wollte: genau in die Ohrmuschel, dorthin, wo der Knochen zwischen Außenwelt und Gehirn sehr dünn ist; und wo man eine Wunde nicht ganz so schnell bemerkt. Er hatte dennoch nicht schlecht getroffen; das Geschoß aus Eis hatte zwar nicht das Ohr des Israeli getroffen, wohl aber seinen Kopf. Die Auftreffwucht reichte zwar nicht aus, den Schädelknochen zu
durchschlagen, aber die Wirkung war dennoch erheblich. Jo sah, wie der Israeli schwankte, in die Knie brach. Dann kippte Ben David zur Seite. Getroffen, aber noch nicht außer Gefecht gesetzt. Jo sah, wie er sich auf den Rücken wälzte und mit der freien linken Hand in seinen Taschen suchte, wahrscheinlich nach Ersatzmagazinen für seine leergeschossene Uzi. Maxwell richtet sich halb auf und gab zwei Schüsse aufs Geratewohl ab. Sie blieben ohne Wirkung. Jo machte sich auf den Weg. An seinem gegenwärtigen Standort konnte er nichts erreichen, bestenfalls fing er sich eine Kugel ein. Wenn man Tarkowski stellen wollte, mußte man anders vorgehen. Jo bewegte sich in einem Bogen. Er wollte versuchen, von hinten an den Killer heranzukommen. Natürlich hatte der gewitzte Tarkowski längst die Position gewechselt, wahrscheinlich schon ehe der Israeli auch nur den ersten Schuß aus seiner Uzi hatte abgeben können. Tarkowski war ein Könner in seinem mörderischen Fach. Nach einigen Dutzend Metern verfing sich Jo Walker in den eigenen Tricks. Der Boden vor ihm war dick mit einem übelriechenden, schwarzen Schleim bedeckt, von dem Jo lieber gar nicht wissen wollte, woraus er bestand. Jo hatte jetzt die Wahl. Er konnte entweder weiterrobben und sich dabei den teuren Anzug ruinieren, oder er richtete sich auf und arbeitete sich geduckt weiter. Das war mühsam und kräftezehrend, aber dabei kamen lediglich seine Schuhsohlen mit dem unappetitlichen Zeug in Berührung. Jo entschied sich für den zweiten Weg. Er machte ein paar anstrengende Schritte in der Hocke. Es klappte. Meter um Meter arbeitete sich Jo nach vorn. Von Tarkowski keine Spur. Jo wußte ohnehin nicht, ob er den gefürchteten Profikiller sofort erkennen würde, wenn er ihm begegnete. Von Tarkowski gab es kaum Fotos, und die wenigen, die es in den Archiven der Polizei gab, waren so schlecht, daß sie sich praktisch kaum verwenden ließen. Außerdem waren die meisten dieser Bilder älter als zwanzig Jahre. Aber Jo Walker wußte – der nächste Mann, den er in dieser Stunde treffen würde, mußte Tarkowski sein. Jo richtete sich ein wenig mehr auf, spähte umher. Zu seiner Linken konnte er schwach Ben David erkennen, der ab und zu Feuerstöße aus seiner Maschinenpistole abgab. Deutlich waren diese Schüsse von denen aus Maxwells .38er zu unterscheiden,
die der Pentagon-Mann wohl mehr zur Erbauung der eigenen Tapferkeit denn zur Bekämpfung des Feindes abgab. Hoch über sich sah Jo das schwache Licht des Tages; man konnte sich fühlen, als steckte man in einer modernen Gruft von immensem Ausmaß. Zu seiner Rechten… Der Schlag traf Jo so heftig, daß er das Gleichgewicht verlor und hintenüber kippte. Volltreffer. Jo schnappte nach Luft, aber nur seine Lippen bewegten sich. Tarkowski hatte einmal mehr genau gezielt – anders ließ es sich nicht erklären, daß er Jo genau auf den Solarplexus getroffen hatte. Bei einem stehenden Ziel, wie Jo es gerade abgegeben hatte, war ein Verfehlen fast unmöglich. Jos Lungen verkrampften sich vor Schmerz. Er wollte atmen, aber seine Muskulatur gehorchte ihm nicht mehr. Jo schaffte es gerade noch, die rechte Hand zu verkrampfen. Aus seiner Waffe löste sich ein Schuß, der ziemlich gerade und völlig wirkungslos in den Himmel ging, dann fiel die Waffe aus Jos Hand. Er lag auf dem Rücken, wie ein Maikäfer, und er konnte wie das Insekt auch nicht mehr viel tun, außer mit allen vieren um sich zu strampeln, und zu schlagen. Jo rollte sich auf die Seite, damit er etwas anderes zu sehen bekam als den von Beton abgeriegelten Himmel; über Boston lagen graue Regenwolken, so daß sich Beton und Wolken kaum voneinander unterscheiden ließen. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Jo ermahnte sich selbst, denn er wußte, daß in dieser Lage seine Nerven alles entschieden. Er brauchte Sauerstoff, und je mehr er sich in Panik steigerte, um so größer wurde der Bedarf. Er bekam aber jetzt keine Luft, wahrscheinlich minutenlang. Die Panik konnte durchaus dazu führen, daß er unnötigerweise die Besinnung verlor – und das konnte wirklich fatal werden. »Er scheint ihn erwischt zu haben…!« Das war, wie Jo deutlich hören konnte, die Stimme von Maxwell, und sie kam näher. »Bleiben Sie in Deckung, Sie Narr«, fluchte Ben David hinter dem Mann her. Jo versuchte verzweifelt etwas zu sagen, aber außer einem schwachen, mißtönenden Krächzen kam kein Laut über seine kraftlosen Stimmbänder. Dann tauchte plötzlich Maxwell in Jos Gesichtsfeld auf, das Gesicht vor Eifer gerötet, in der linken Hand die Aktenmappe, in der
rechten Hand die Waffe. Er sah ziemlich besorgt aus – und sehr lächerlich, fand Jo. »Haben Sie den Killer getötet, Sir?« wollte Maxwell wissen. »Wir haben den Schuß gehört, und danach war es dann ganz still, und deshalb…« »Äacchh«, machte Jo. Nun erschien auch der Israeli. Er stand neben Jo und sah auf ihn hinab. Und er erkannte schnell, was passiert war. »Verdammt…!« stieß der Shin-Beth-Mann hervor. Zu mehr Worten kam er nicht mehr. Es zischte zweimal schnell und leise, und dann sah Jo die beiden Männer zeitlupenhaft langsam umsinken. Fast noch langsamer kam es Jo vor, als er sah, wie sich der Zeigefinger des Israeli um den Abzug der Uzi krümmte, mehr und mehr, bis der Druckpunkt gefunden war. Jo wälzte sich mit aller Kraft zur Seite. Keinen Augenblick zu spät. Die Uzi ratterte los und spie ihre letzten Geschosse aus. Sie schlugen neben Jo in den Boden, und er konnte spüren, wie eine der Kugel an seiner Kleidung zupfte. Dann war glücklicherweise das Magazin leer, und als die Uzi in der Hand des zusammenbrechenden Ben David genau auf Jo Walkers zuckenden Bauch zeigte, fiel kein Schuß mehr. Jo stieß abermals ein Ächzen aus. Die beiden Männer lagen halb auf ihm, und er konnte sich kaum rühren. Vor seinen Augen flimmerte es, der Sauerstoffmangel wirkte wie ein Rausch und beeinträchtigte Jos Wahrnehmung. Und dann sah er eine dritte Gestalt erscheinen, die sich über ihn beugte. Alexander Tarkowski, Kosename Sascha – die in Rußland übliche Kurzform von Alexander. In der Branche nur bekannt als Tarkowski, und das sagte einiges aus. Der Familienname ohne jeden schmükkenden Beinamen, und das in den USA, in dem Gott und die Welt sich mit Vornamen anredete… Tarkowski lächelte. Er sah älter aus als er war. Vielleicht lag es an der Beleuchtung, aber er sah aus wie ein freundlicher älterer Herr von über sechzig, mit grauen Haaren, ein paar weiße Fäden waren darin schon zu sehen. Die Augen waren dunkel, das ganze Gesicht auf seltsame Weise belanglos. Der Killer sah aus, wie ein netter alter Mann üblicherweise aussieht. Die Sorte, die ganze Nachmittage lang auf einer Parkbank sitzt,
gemütlich in einer Zeitung liest, mit traumverlorenem Gesicht – (Da war doch irgend etwas) –, den jungen Frauen nachsieht, lange Zigarren raucht, mit den Cops ein gemütliches Schwätzchen über die guten alten Zeiten hält und den Jungs den Fußball zurückkickt, wenn sich der Ball zu der Parkbank verirrt. So sah Sascha Tarkowski aus – abgesehen von den Augen. Diese dunklen, fast schwarzen Augen waren, so kam es Jo vor, gänzlich ohne Ausdruck. Als hätte der Mann keine Seele, keinerlei Gefühl. Tarkowski warf einen kurzen Blick auf Jo. Er lächelte, ohne daß seine Augen mitlächelten. Dann beugte er sich kurz zu den beiden Männern hinab, die er mit wohlgezielten Schüssen niedergestreckt hatte. Auch jetzt lächelte er. Offensichtlich war er mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden. Jos Stimmbänder begannen wieder zu gehorchen, der Krampf in seiner Muskulatur ließ nach. Aber das hieß nicht, daß er gegen Tarkowski eine Chance gehabt hätte. »Äächeem«, machte Jo, er räusperte sich. »Die beiden leben«, sagte Tarkowski ruhig, »falls es das ist, was sie wissen wollen, Walker. Ich wurde nicht dafür bezahlt, sie zu töten.« Wieder dieses kalte, unbarmherzige, ja unmenschliche Lächeln. Es sah gespenstisch aus. Schlimmer als das Grinsen von Stephen King persönlich. Tarkowski sah kurz nach seiner Waffe, aber er ließ Jo keinen Augenblick aus den Augen. »Auch eine?« fragte er und fischte mit der linken Hand eine Pakkung Zigaretten aus der Tasche seines Mantels. Der Mantel war dick, zeigte ein Fischgrätmuster und paßte bestens in diese Umgebung; ein Mann mußte schon von Natur aus sehr gut aussehen, wenn er in dieser Montur nicht wie ein Penner oder Wermutbruder wirken wollte. Eine perfekte Tarnung, gab Jo innerlich zu. Jo schüttelte den Kopf. »Eine Kugel wirkt schneller«, versuchte er zu scherzen. Bei den Zigaretten handelte es sich um eine blaue Packung aus Frankreich, und sie enthielt jene dicken Zigaretten mit ihren mörderisch starken, schwarzen Tabaken. Nicht zu unrecht wurden diese Dinger international als Sargnägel bezeichnet. Tarkowski antwortete mit einem flüchtigen Lächeln; es machte klar, daß er wußte, was Humor ist, daß er begriffen hatte, daß Jo einen kleinen Scherz gemacht hatte – und daß er ansonsten mit solchen Nebensächlichkeiten nichts im Sinn hatte.
Jo konnte es sehen: Es war keinerlei offene oder versteckte Angeberei dabei, als Tarkowski sich lediglich mit der linken Hand eine Zigarette aus der Packung zog und mit einem Streichholz anzündete. Es waren lediglich die Bewegungen eines Mannes, der zwei Ziele gleichzeitig verfolgte, mit gleicher Aufmerksamkeit und Konzentration. Jo hatte trotz dieses Kunststücks nicht eine Zehntelsekunde eine Chance gehabt, Tarkowski zu erwischen oder zu überrumpeln. »Okay, Walker«, sagte Tarkowski. »Okay«, sagte Jo; seine Stimmbänder gehorchten wieder. »Wieviel bin ich wert?« Tarkowski zuckte die Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich habe auch keinen Auftrag, Sie umzulegen. Allerdings werde ich es tun, wenn Sie nicht kooperieren. Also, wo ist die Ware?« Jo schluckte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte er ehrlich. »Ich weiß nicht einmal, wovon überhaupt die Rede ist.« »Sehr witzig«, sagte Tarkowski. »Aber vielleicht brauchen Sie so etwas für ihre Eitelkeit. Es gibt solche Leute. Also – zuerst werde ich auf ihren linken Fuß schießen, dann auf den rechten und so fort. Ich vermute, daß selbst ein harter Kerl wie Sie zu singen anfangen wird, wenn er sich mit seiner fortschreitenden Neutralität konfrontiert sieht.« »Sehr witzig«, sagte nun Jo Walker. Er ahnte, was sich hinter der letzten, geschraubten Formulierung verbarg. Tarkowski wollte ihm auch in den Unterleib schießen. »Ich mache nie Witze, Mister Walker«, sagte Alexander Tarkowski. »Nie. Vergessen Sie das in den nächsten Minuten nicht.« Jo schluckte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was gespielt wurde – aber er konnte es nicht beweisen. Und dafür sollte er sich nun stückweise zerschießen lassen? Es war absurd – hätte Jo auch nur geahnt, um was es in diesem widerwärtigen Fall ging, vielleicht hätte er allen Mut aufgebracht und trotz allem geschwiegen. Aber gefoltert zu werden, wenn man beim besten Willen nichts weiß und sagen kann – das war mehr als hart zu ertragen. Allein der Gedanke war eine Folter an sich, und er zermürbte jeden Widerstandswillen. »Ich…«, begann Jo. Tarkowski schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Keine Ausreden und Erklärungen mehr. Die er-
ste Frist ist abgelaufen.« Jo sah, wie Tarkowskis Spezialwaffe ein wenig zur Seite schwenkte. Es hatte keinerlei Sinn, zu zappeln oder sich zu wehren – ein Mann wie Tarkowski traf garantiert. Jo spannte die Muskeln an, um den kommenden Schmerz ertragen zu können. Dann fiel der Schuß. Tarkowskis Augen zeigten zum erstenmal einen Ausdruck. Den, der Verblüffung. Auf seiner Stirn erschien ein hellroter Fleck, und dann brach Alexander Tarkowski vor Jos Augen zusammen. Hinter ihm tauchte Gina Benson auf, mit beiden Händen ihre Beretta-Pistole haltend. Eine typische Damenpistole, dachte Jo. Nicht dazu geeignet, einen Mann zu stoppen. Es sei denn, mit ruhiger Hand, von hinten und auf kürzeste Entfernung. »Tut mir leid«, sagte Gina Benson, bevor sie sich abwenden mußte, weil ihr schlecht wurde und sie sich übergeben mußte. »Ich konnte nicht anders…« Jo Walker nickte langsam, während er sich aufrichtete. »Deswegen werde ich Ihnen keine Vorwürfe machen«, sagte er. »Bestimmt nicht.« Auch nicht der Tatsache wegen, daß es jetzt im Fall Andrew Baxter Benson überhaupt keine Spur mehr gab. * »Memeno homo, quia pulvis esset et in pulverem reverteris…« Jo verstand den lateinischen Text nicht so genau, aber er kannte den Sinn. Bedenke Mensch, daß du aus Staub gemacht bist und zu Staub zurückkehren wirst. Im Fall von Andrew Baxter Benson war dieser Satz ganz besonders richtig, fand Jo. Denn Bensons Leichnam sollte verbrannt werden, so hatte er es sich gewünscht. Und seine Asche sollte Gina, seine einzige und Lieblingsenkelin, irgendwo in der Südsee verstreuen. Gina Benson war blaß. Sie nickte kurz, und die Angestellten schlossen den schweren eichenen Sarg. Ginas Unterkiefer zuckte heftig. Jo ahnte, was sie empfand. Andrew Baxter Benson sah nicht aus, wie man sich einen Toten vorstellte. Ein Teil war sicherlich auf die
Bemühungen der Leichenbestatter zurückzuführen, die ihre ganze Kunst daran setzten, eine Leiche so lebendfrisch wie nur möglich aussehen zu lassen. Am meisten lag es an Benson selbst. Er war so eingesargt worden, wie er gelebt hatte – mit einem Drei-Tage-Bart, einer Mütze auf dem Kopf, gekleidet in eine nicht ganz saubere Hose aus Segeltuch und einen hellblauen Overall mit einem aufgestickten Anker. Und an den Füßen hatte er leichte Slipper aus Leinen getragen. Der Bestattungsunternehmer warf einen fragenden Blick hinüber zu den Trauergästen. Es waren nur zwei – Gina Benson und Jo Walker. Gina Benson nickte. Der Todeskaufmann gab ein Zeichen, Orgelmusik erklang aus verdeckt angebrachten Lautsprechern. Eine marmorne Tafel an der Wand mit dem Feder-Symbol darauf stieg sanft nach oben, dahinter senkte sich eine Metallwand herab. Die Hitze des Feuers war einstweilen noch schwach, Jo konnte kleine Flammen züngeln sehen. Während die Orgel spielte, schob eine Automatik den Sarg auf den Rost. Und während die Orgelakkorde brausend und erhaben wurden, loderten die Flammen wild empor, und die Öffnung schloß sich langsam wieder. Gina Benson faßte nach Jos Arm. Sie lächelte unter Tränen, als sie sehr langsam und zögernd mit ihm zum Ausgang schritt. »Seltsam«, sagte sie leise, »woran man in einem solchen Augenblick denkt. Nicht an irgendwelche großen, schicksalhaften Sachen. Nur an Kleinigkeiten. Und komischerweise an Sachen, die mich geärgert haben. Daß er nie seine Zahnpastatube zugeschraubt hat, die alte Schlampe. Ich wünschte…« Ihre Stimme wurde schwächer. »Ich wünschte, ich könnte mich noch ein paar Jahre darüber ärgern«, sagte sie stockend. »Über die schiefgelatschten Schuhe, die ich immer saubermachen mußte. Ich würde gern noch einmal für ihn kochen, auch wenn er immer herumgenörgelt hat. Oder seine Wäsche für ihn waschen. Oder was sonst…« »Ich verstehe«, sagte Jo leise. Dann blieb er plötzlich stehen. Denn er hatte tatsächlich verstanden – endlich. * »Du machst Witze, Jo«, stieß Tom Rowland hervor. Jo schüttelte
den Kopf. »Er hat es nicht nur im übertragenen Sinn so gemeint, sondern wortwörtlich«, sagte Jo Walker. »Take care ofmy Long Johns. Ich sollte mich um seine langen Unterhosen kümmern.« Tom Rowland verzog das Gesicht. »Und deswegen fliegen wir beide jetzt nach Japan?« Jo nickte. »Paßt es dir nicht? Ich brauche einfach jemanden, der im Zweifelsfall amtlich auftreten kann«, sagte er. »Und die Kosten werde ich später unter Spesen mit der Regierung der USA abrechnen.« »Du hättest Maxwell mitnehmen sollen«, sagte Rowland. Die 747 senkte sich langsam auf den Flughafen von Tokio hinab. Der schneebedeckte Gipfel des Fujiyama schimmerte im Licht der Mittagssonne; es war ein Anblick, der es mit dem Tadsch Mahal und Mozarts Kleiner Nachtmusik aufnehmen konnte: von einer Qualität, die auch durch noch so viel Kitsch nicht wirklich zerstört werden kann. »Nun ja«, sagte Jo zögernd. Er wiegte den Kopf. »So ganz sicher bin ich mir natürlich nicht.« »Und wenn du dich irrst?« »Komme ich auf das Titelblatt des Time-Magazine«, sagte Jo trokken. »Als Narr des Jahrzehnts.« Tom Rowland stieß einen tiefen Seufzer aus, während er sich umständlich anschnallte. »Gut, jetzt sind wir so gut wie in Japan«, sagte der stämmige Captain der Mordkommission des New York Police Departement. »Kannst du nun endlich mit der ganzen Geschichte herausrücken?« Jo zögerte noch immer. »Also gut«, sagte er. »Obwohl es wahrhaftig keine Heldengeschichte ist. Ich habe gebrüllt und getobt, und Gina hat geheult und gekreischt, und ich habe noch nie in meinem Leben ein größeres Tollhaus gesehen.« Rowland grinste. »Da solltest du mal einen Geburtstag unter Iren verbringen«, sagte er. »Aber weiter – du hast getobt, und dann?« »Dann haben Sie das Feuer heruntergedreht und den Sarg wieder herausgeholt«, erzählte Jo. Die Maschine sackte gerade in ein Luftloch. Oder hatte es einen anderen Grund, daß sich ihm plötzlich der Magen umzudrehen schien? »Wir haben den Sarg geöffnet. Gina ist vorsichtshalber draußen geblieben, es wäre zuviel für sie gewesen.« »Laß mich raten – ihr habt den Toten ausgezogen, bis auf die Un-
terhosen?« »Bis auf die langen Unterhosen«, sagte Jo. Er sprach sehr leise, um zu verhindern, daß die anderen Passagiere etwas mitbekamen von dem Gespräch. Es handelte sich zwar überwiegend um Japaner, aber die Wahrscheinlichkeit, daß ein Japaner Englisch sehr gut verstand, war um einige Zehnerpotenzen höher als die, daß ein Gaijin Japanisch auch nur brockenweise verstand. »Großer Gott«, murmelte Tom Rowland. »Wie makaber.« »Das kann man wohl sagen«, murmelte Jo. »Die Blicke der Leute in dem Bestattungsunternehmen waren – ich kann es kaum beschreiben – mörderisch.« »Das liegt am Beruf«, murmelte Tom in dem Bemühen, einen Witz anzubringen. »Weiter – und dann?« »Er trug tatsächlich lange Unterhosen«, sagte Jo. »Selbstgefertigt, wie es schien. Baumwolle bedruckt. Willst du sie sehen?« Tom Rowland, gewöhnt daran, Wasserleichen aus dem Hudson zu ziehen und sich mit Lokalpolitikern zu unterhalten – an die größten Ekligkeiten des Lebens also hinreichend gewöhnt – schüttelte sich und lief sogar ein wenig rot an. »Bist du verrückt geworden?« zischte er. »Jetzt? In einem vollbesetzten Jumbo? Unter lauter Japanern?« Jo grinste breit. »Die werden sich nichts daraus machen«, sagte er. »Im Gegenteil – wahrscheinlich würde ihnen der Stoff sogar gefallen. Sieh hin und überzeuge dich selbst.« Tom Rowland schluckte, als Jo ein Stoffbündel hervorzog und ausrollte. Er schluckte noch heftiger, als er begriff, was er da sah – eine Art Meßtischblatt, auf Baumwolle gedruckt. Unten rechts – sofern man bei dem sehr seltsam zugeschnittenen Fetzen unten rechts genau markieren konnte – stand etwas geschrieben. Auf japanisch. Darunter in Englisch: City of Tokyo. * Jo Walker sah auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht zu. Alle braven Söhne Nippons waren jetzt im Bett – wenn auch nicht notwendigerweise im eigenen. Tom Rowland saß am Steuer des Mietwagens und schnarchte vor sich hin; der Captain war reichlich mit der Gabe gesegnet, wenn es not tat, sich an jedem Platz und zu jeder Zeit ein erfrischendes Nik-
kerchen gönnen zu können. Jo stieß seinen alten Freund an. »Es ist soweit«, sagte er. Tom wachte auf und war binnen weniger Sekunden hellwach. »Wo sind wir?« fragte er verwirrt. »In Tokio«, antwortete Jo. »Und zwar hier…« Er deutete auf die seltsame Karte. Jeder Weg, jeder Pfad, jede noch so kleine Gasse war darauf eingetragen. Offenbar hatte sich Benson die Karte erst vor kurzer Zeit besorgt; sie war neueren Datums, und das gab Jo auch die Sicherheit, daß Benson genau gewußt hatte, wo man etwas fänden konnte. »Auf der anderen Seite von dieser Mauer«, sagte Jo. »Dort muß es sein. Der Besitzer und seine Familie scheinen nicht zu Hause zu sein, also können wir es versuchen.« »Hausfriedensbruch, Ruhestörung, vielleicht auch Sachbeschädigung, Einbruch – Jo, das kann uns ein paar Jahre bei Wasser und trockenem Brot einbringen.« Jo grinste. »Trockenem Reis, Tom. Wir sind in Japan. Und Reistage, habe ich gehört, sind unheimlich schlankheitsfördernd.« Rowland knurrte eine Verwünschung. Die beiden Männer brauchten nur ein paar Augenblicke, dann hatten sie die Mauer überwunden; sie schien ohnehin mehr als Zierat, denn als ernsthafte Abwehr von irgend etwas gedacht zu sein. »Da sind wir«, sagte Tom Rowland. »Und was nun – großer Gott, Jo, in was schleppst du mich da hinein?« Tom zuckte zusammen. Ein klakkendes Geräusch war zu hören. Jo sah, wie Tom nach seiner Waffe griff. »Kein Grund zur Panik«, sagte Jo schnell. »Das ist nur ein Shishi Odoshi, eine Wild-Scheuche.« »Eine was?« »Ich zeig dir’s«, sagte Jo und griff nach seiner Taschenlampe. Nach wenigen Sekunden war die Quelle des Geräuschs gefunden. »Siehst du, hier kommt Wasser heraus und läuft in dieses Bambusrohr. Und wenn der obere Teil des Rohres vollgelaufen ist, fällt er nach unten, und dabei dreht sich das Bambusstück halb um seine Achse. Dann läuft das Wasser aus, der Bambus schnellt wieder zurück, um sich erneut vollaufen zu lassen und dann wieder abzusakken…« »Klingt, als würdest du den Lebenswandel eines Berbers beschreiben«, sagte Tom. »Und wozu ist das hier gut?« »Da ist irgend etwas, was einen Ton gibt, wenn das untere Ende
des Bann… des Bam… Tom, ich glaube, wir haben es gefunden.« »Was gefunden?« Jo Walker holte tief Luft. »Bensons Long Johns«, sagte er leise. »Hilf mir graben. Los, komm…« Die beiden Männer buddelten wie verrückt. Nach einer Viertelstunde hatten sie einen Teil des metallenen Körpers freigelegt. »Sieht aus wie eine verdammte Riesengranate«, sagte Tom Rowland. »Wohl ein Erinnerungsstück, wie?« »Großer Gott«, murmelte Jo. »Ja, jetzt begreife ich, worum es in diesem Fall ging. Allmächtiger, wenn ich nur daran denke…« Jo holte tief Luft. »Am sechsten August 1945«, sagte er leise, »hat der Bomber Enola Gay unter Kommandant Tibbets über Hiroshima eine Bombe abgeworfen, eine Atombombe.« »Ich weiß«, sagte Tom. »Und zwei Tage später fiel eine auf Nagasaki.« Jo nickte. »Es hieß«, sagte er, »daß die USA damals nur drei Bomben hergestellt hätten – eine, die in Alamogordo in der Wüste von New Mexico getestet worden ist, eine für Hiroshima, eine für Nagasaki. Die Alamogordobombe hatte keinen Namen, aber die anderen beiden wohl – die eine wurde Little Boy genannt, die andere Fat Man. Was bisher strengstes Geheimnis gewesen ist – es gab noch eine vierte Bombe, und die wurde, vermute ich, Long Johns genannt.« Tom Rowland schluckte. »Du meinst?« Jo nickte. »Benson war damals Bomberpilot. Er muß die Maschine gelenkt haben, die die vierte Bombe abwerfen sollte – und zwar über Tokio. Offenbar hat diese Bombe nicht gezündet, und es scheint, als wäre Benson auch noch abgeschossen worden. Jedenfalls ist er mit der Maschine verschollen, und nach dieser Pleite hat er sich offenbar nicht wieder nach Hause getraut.« »Kein Wunder«, sagte Tom Rowland grimmig. »Wenn ich eine Atombombe…« Er fuhr hoch, deutete auf den Geräuschgeber des Shishi Odoshi. »Du meinst, dieses Ding wäre…« »Die vierte Bombe«, sagte Jo Walker. »Namens Long Johns. Benson hat nach ihr geforscht und sie wohl auch gefunden.« »Warum hat er nichts gesagt?« Jo zuckte die Schultern.
»Wie, glaubst du, wird die japanische Öffentlichkeit reagieren, wenn sie aus der Presse erfährt, daß die USA doch versucht haben, ihren Kaiser und ihre Hauptstadt zu atomisieren?« »Es gäbe einen Skandal sondergleichen«, sagte Tom. »Und jetzt verstehe ich auch, was Ben Tassi und die anderen von Benson wollten – eine fix und fertige Atombombe.« »Die Israelis, damit kein anderer sie bekommt, die Libyer, um irgendein Ding damit drehen zu können, Palästinenser – jedermann kann heutzutage eine Atombombe brauchen, sogar die Drogenbarone in Kolumbien hätten gern eine. Auf seine alten Tage hat Benson wohl noch versucht, sein Wissen zu Geld zu machen und die Bombe zu verkaufen, vielleicht, um seiner Enkelin ein Vermögen hinterlassen zu können. Es hat nicht geklappt.« Tom deutete auf das Shishi Odoshi. »Und die ganzen Jahre hindurch hat dieses Ding hier auf der Spitze einer scharfen Atombombe herumgehämmert?« Jo Walker nickte. »So ein Shishi Odoshi hat den Zweck, Ruhe und Frieden in das Leben des Gartenbenutzers zu bringen«, sagte er. »Und das hat es wohl getan.« »Und was machen wir jetzt?« »Das Ding wieder einbuddeln«, sagte er. »Die amerikanische Botschaft informieren, damit sie Fachleute herschicken und die Bombe diskret bergen können – der Rest ist dann Routine.« »Routine…«, murmelte Tom Rowland und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was Kommissar X so Routine nennt…« Jo Walker lächelte nur. ENDE
Bereits nächste Woche erscheint KOMMISSAR X Band 1634: Barney Brooks
Der tanzende Tod Deutscher Erstdruck
Eine Showtänzerin wird erstochen aufgefunden, einer zweiten ergeht es kaum besser, Panik breitet sich im Ballett aus, und die Mädchen weigern sich, unter einer solchen Bedrohung weiter aufzutreten. Kommissar X erscheint als der Retter in der Not, die Show kann weitergehen. Aber schnell merkt er, daß es leichter ist, einen Sack Flöhe zu hüten, als auf ein ganzes Ballett munterer Mädchen aufzupassen. Jo Walker erfährt handgreiflich, in was für ein Wespennest er gestochen hat, als er versucht, die Hintergründe der geheimnisvollen Morde aufzuhellen. Und er kommt beinahe zu spät, als sich die Tänzerinnen zum großen Finale rüsten – allerdings nicht auf der Bühne, sondern in den stillen Straßen des nächtlichen Boston… Ständig steigende Spannung in einem faszinierenden Milieu läßt diesen Roman atemberaubend werden. Ihr Kiosk oder der Bahnhofsbuchhandel halten ihn pünktlich für Sie bereit! Ihre Krimi-Redaktion KOMMISSAR X erscheint wöchentlich in der Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, 7550 Rastatt, Telefon (07222) 13-1. Druck und Vertrieb: Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG. Anzeigenleitung: Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig, 7550 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rolf Meibeicker. Zur Zeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 15. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m. b. H. Niederalm 300, A-5081 Anif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich! Printed in Germany. Juni 1990