KLEINE JUGENDREIHE
Ka mil Gizycki
Das einsame Atoll Zweiter Teil
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1962
1 3 . J...
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KLEINE JUGENDREIHE
Ka mil Gizycki
Das einsame Atoll Zweiter Teil
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1962
1 3 . J a h r g a n g , 2 . Au g u s t h e f t Polnischer Originaltitel: Na samotnym atolu Deutsch von Viktor Mika Umschlag: Karl Fischer Holzschnitte: Heinz Rodewald Gekürzte Fassung des gleichnamigen Romans. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Alfred Holz Verlages Berlin
Veröffentlicht 1962 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W B, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3-285,70/6S Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden III-9-5
Inhalt des ersten Teils: Im Juli 1943 torpediert ein japanisches Unterseeboot das neuseeländische Kopraschiff „Matariki“. Der Artillerist Steni Skiba, ein in Neuseeland aufgewachsener Pole, wird von der Druckwelle der Explosion ins Meer geschleudert. Zunächst hält ihn eine Schwimmweste über Wasser, dann stößt er auf drei aneinandergefügte Baumstämme, die er als Floß benutzen kann. Einige Tage treibt das Floß auf der Südsee umher. Schließlich wirft eine Springflut, den Schiffbrüchigen über eine Korallenbarriere in die Lagune eines Atolls. Groß ist Stenis Freude, als er eine palmenbewachsene Insel entdeckt. Doch leider erweist sich die Insel als unbewohnt. Steni ernährt sich von Kokosnüssen, Fischen und Schalentieren. Es gelingt ihm, Feuer zu erzeugen; glücklich gibt er seinem Eiland den Namen „Feuerinsel“. Nach und nach verfertigt er sich primitive Jagdgeräte, baut sich eine Hütte und ein Boot. Eines Tages bricht er zu einer fernen Insel auf, die er vom Wipfel einer Palme aus gesichtet hat. Doch auch diese Insel ist unbewohnt. Allerdings wachsen hier außer Palmen auch andere Bäume und die Knollenpflanze Taro. Bei der Erforschung der Insel stürzt Steni in eine finstere Grotte. Schon glaubt er, darin umkommen zu müssen, als ihm Leuchtkäfer durch ihre Flugrichtung den Ausgang zeigen. Wohlbehalten gelangt Steni ins Freie. Er beschließt, auf der Grotteninsel zu bleiben, und baut sich wieder eine Hütte…
Tagein, tagaus beschäftigte ich mich mit Hausarbei-
ten, aber die Grotte vergaß ich nicht. Ich wollte sie bei Fackelschein genau erforschen, denn mich interessierte ihre Entstehung. Aus starken Kokosfasern fertigte ich mir eine Strickleiter an und ließ sie in die Grotte hinunter. Auch warf ich in die Höhle eine Menge Kokosnußschalen, die zum Feuermachen bestimmt waren. Dann versah ich mich mit einem Vorrat an Fackeln und kletterte hinab. Die lodernden Flammen des Nußschalenfeuers erhellten das Innere der geräumigen Grotte. Den nahezu ebenen Boden bedeckte eine dicke Schicht feinen Korallensandes, der im Feuerschein rosarot schimmerte. Nachdem ich recht viel Schalen ins Feuer geworfen hatte, nahm ich ein paar Fackeln und begann in den Winkeln herumzuschnüffeln. Zuerst fand ich nichts Besonderes, ich wunderte mich nur über die vielen Bruchstücke verschiedenster Muscheln und großer Krabbenpanzer. In einer Nebenkammer entdeckte ich dann aber etwas, was mir für einen Augenblick den Atem verschlug. Beim flackernden Schein meiner Fakkel gewahrte ich zwei Menschenschädel, die mich aus schwarzen Augenhöhlen ansahen! Der Anblick war so unerwartet und gespenstisch, daß ich erschrocken zurückfuhr. Dabei stieß ich aber mit dem Kopf so heftig gegen die Felswand, daß ich tausend Sterne tanzen sah und mir die Fackel aus der Hand fiel. Der stechende Schmerz zwang mich, die schreckliche Entdeckung für einen Augenblick zu vergessen. Unwillkürlich faßte ich an meinen Kopf und begann die verletzte Stelle zu reiben. Als ich unter den Fingern
eine große Beule wachsen spürte, mußte ich über meine eigene Dummheit lachen. Denn wovor erschrak ich eigentlich? Es waren doch Schädel von Menschen, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten! Ich hob die glühende Fackel auf, und als sie erneut mit heller Flamme brannte, schaute ich mich weiter um. Auf dem schneeweißen Korallensand lagen ebenso weiße Menschenknochen. Ich konnte leicht feststellen, daß es die Gebeine zweier Menschen waren, welche zu ihren Lebzeiten hohe Ehrenstellen bekleidet haben mochten. An den Knochen der Unterarme sah ich kunstvoll verfertigte Armbänder aus Tridacna- muscheln, und auf den Rippen große halbmondförmig geschnittene Perlmuscheln, die Ringkragen ähnelten. Neben den Schädeln bemerkte ich eine beträchtliche Anzahl wunderschöner, sehr seltener Porzellanmuscheln der Gattung Nassa Camelus. Diese Muscheln hatten auf der Außenseite kleine Löcher, die davon zeugten, daß sie einst, auf Fäden aufgereiht, als Kränze die Stirn der Menschen geziert hatten, deren Überbleibsel in dieser Höhle ruhten. Solche Kränze werden bis heute von den Häuptlingen mancher polynesischen Volksstämme getragen und sind das äußere Zeichen ihrer Würde. Plötzlich entdeckte ich zwischen den Gebeinen zwei etwa fünf Zoll lange Knochenstachel des Rochens. Sie waren fingerdick und hatten viele Einschnitte, die sie einer Harpunenspitze ähnlich machten. Ich nahm die Stacheln vorsichtig in die Hand, sah sie mir genau an und legte sie wieder beiseite.
„Verdammt noch mal!“ entfuhr es mir. Sollten etwa die Stacheln die Todesursache dieser Menschen gewesen sein? Welch schreckliche Tragödie mußte sich hier einst abgespielt haben! Die Stacheln sind eine schreckliche Waffe der Rochen. Diese knöchernen Dornen werden bis zu dreißig Zentimeter lang und sind mit scharfen Widerhaken versehen. Sie wachsen einzeln oder auch zu mehreren am Ansatz des langen, peit-schenähnlichen Schwanzes der Rochen. Die Stachelspitze ist
unerhört scharf und dringt selbst bei einem leichten Schlag in das Fleisch des Angreifenden ein. Der äußerst spröde Stachel bricht schnell ab und bleibt in der Wunde stecken. Für den Rochen ist das kein Unglück, weil in kurzer Zeit ein neuer Stachel nachwächst. Anders verhält es sich mit dem Geschöpf, das den abgebrochenen Stachel in seinem Körper hat. Die Widerhaken gestatten es nicht, den Stachel von der Seite herauszuziehen, an der er ins Fleisch eingedrungen ist; man kann es nur von der entgegengesetzten Seite tun. Trifft ein solcher Stachel den Menschen in den Schenkel, so ist es noch nicht so gefährlich, dringt er aber in den Bauch oder in die Brust ein, so hat das unweiger-
lich den Tod zur Folge, sofern nicht ein guter Chirurg zur Stelle ist, der sofort eine Operation vornehmen kann. Manche polynesischen Volksstamme hatten früher die Rochenstacheln als Spitzen für ihre Kriegslanzen benutzt. Die Stacheln wurden ganz lose am Schaft befestigt, rissen bei dem gelindesten Stoß ab… und bohrten sich dann immer tiefer in den Körper des Getroffenen. Die Tatsache, daß ich Rochenstacheln zwischen den Knochen der Skelette gefunden hatte, erklärte wohl die unmittelbare Todesursache dieser Menschen, keineswegs aber die näheren Umstände der Tragödie. Wer weiß, vielleicht hatte der Tod der beiden Männer die Inselbewohner bewogen, dieses Atoll zu verlassen? Das schien mir durchaus möglich, denn Orte, wo Häuptlinge begraben lagen, waren nicht selten Tabu, das heißt, man durfte sie nicht bewohnen, ja, nicht suchen oder von ihnen sprechen. Neben den Skeletten sah ich einige riesige Tridacnamuscheln, in denen Halsketten und feingeschnitzte Schmuckgegenstände lagen. Die Menge des Schmucks bestätigte mir erneut, daß die beiden Verstorbenen zu ihren Lebzeiten einen sehr hohen Rang innerhalb ihres Stammes bekleidet hatten, In einer kleineren Muschel fand ich einige hundert Perlen, jedoch die größte Verwunderung und gleichzeitig ungeheure Freude erweckte in mir eine riesige Muschel, die bis obenhin mit Steinen gefüllt war – mit harten, rauhen Steinen von sonderbaren Formen. Ein Stein sah wie eine Spindel oder besser wie eine runde Feile aus, ein andere erinnerte an die Klinge eines langen Messers, Die übri-
gen hatten die Form von Walzen, Kegeln oder Rechtecken. Ich vermutete, daß es steinerne Werkzeuge waren, die dazu gedient hatten, Muscheln zu bearbeiten und aus Knochen Spitzen für Speere und Harpunen anzufertigen. Bald überzeugte ich mich, daß meine Vermutung richtig war, denn auf dem Boden der Schale fand ich mehrere aus Haifischzähnen meisterhaft verfertigte Bohrer. Kaum jemand vermag zu ermessen, was diese Steine für mich bedeuteten! Auf den von mir entdeckten Inseln des Atolls gab es nicht die Spur eines Steines. Nur Korallenfelsen, Korallenriffe und Korallensand. Jetzt, da ich harte Steine hatte, konnte ich mir eine Reihe von Gegenständen machen, die mir das Vegetieren in dieser Einöde erleichterten. Als ich die Kammer weiter durchsuchte, fand ich noch über ein Dutzend Harpunenspitzen, die aus den Knochen eines Tieres gearbeitet waren, sowie zwei dicke zu der Form eines Beiles zurechtgefeilte Stücke von Tridacnamuscheln. Bei genauer Besichtigung der Grottenwände machte mich ein großer Fleck neugierig, der durch seine dunkelbraune Farbe von den grauen Felsen abstach. Mir schien, als sei dort eine weite Spalte, die man mit kleinen, in dicke Guanoschichten eingesetzten Korallenstücken zugemauert habe. Ich versuchte vorsichtig mein Messer hineinzubohren, und zu meinem Erstaunen begann die hartgewordene obere Schicht zu zerbröckeln und abzufallen. Da nahm ich einen spitzen Stock, den ich mir aus einem Tohonuast zurechtgehauen hatte, und löste wie mit einer Brechstange größere Stücke heraus. Nach mehrstündiger Arbeit hatte ich ein
tiefes Loch zuwege gebracht. Auf einmal fand die wuchtig hineingestoßene Stange keinen Widerstand. Als ich sie herauszog, schlug mir frische Luft entgegen, und gedämpftes Tageslicht drang durch den Spalt herein. Die Öffnung führte mich auf eine felsige Korallenterrasse, die zum Strand der Bucht schräg abfiel. Ich hatte nicht die Absicht, die Ruhe der Verstorbenen zu stören, war aber der Meinung, daß ich mir manche der in ihrem Grabgewölbe liegenden Gegenstände getrost aneignen könne. Daher nahm ich mir alle Steine und knöchernen Harpunenspitzen sowie einige größere Stücke Schildpatt, die ich zwischen den Halsketten fand. Hierauf verstellte ich den Zugang zum Grabgewölbe mit Korallenblöcken und hieb durch den Hibiskus bis zu meiner Hütte einen Weg aus. Die Grotte sollte mir als Vorratslager und im Falle eines Orkans als Zufluchtsort dienen. Und wieder flossen die Tage ruhig und einförmig dahin, ausgefüllt mit Beschäftigung im Haushalt und anderer Arbeit. Nun hatte ein richtiger Dauerregen eingesetzt. Vom Fischfang kehrte ich durchnäßt wie ein Schwamm zurück, und in der Hütte triefte beinahe alles vor Feuchtigkeit. Die Luft war schwül, fast treibhausartig übersättigt vom Fäulnisgeruch der Hölzer und Tiere. Während dieser monotonen, regnerischen Tage arbeitete ich an der Herstellung verschiedener Werkzeuge. Ich zerschlug eine Tridacnamuschel und feilte mir aus den Bruchstücken einige Meißel, die ich später mit Holzstielen versah. Auf die gleiche Weise kam ich
auch zu ein paar ganz guten und handlichen Beilen. Natürlich konnten sie nicht mit Stahlbeilen wetteifern, aber für meinen Bedarf reichten sie vorerst aus. Aus Kokosnußschalen schnitzte ich mir einige wohlgelungene Löffel, und aus einem Stück Schildplatt bastelte ich mir zwei Gabeln und sogar einen anständigen Kamm. Dieser Toilettengegenstand machte mir besondere Freude, denn mein Schopf hatte fürchterliche Dimensionen angenommen und war wirr wie eine Getreidegarbe, die man durch eine Dreschtrommel gejagt hat. Außerdem baute ich mir einen Webstuhl. Zu diesem Zweck hatte ich einen ansehnlichen Vorrat an trockenem Palmenholz in der Grotte gestapelt. Mit Hilfe der Muschelbeile und -meißel ging der Bau des Webstuhlgerüstes rasch vorwärts. Die Weberbäume machte ich aus glattgeschälten Pandanusstämmen, und den Weberkamm tischlerte ich mir aus ganz dünnen Leisten zusammen, die ich von Kokosstielen abgespaltet hatte. Den meisten Kummer bereitete mir das Verfertigen der Schäfte, eigentlich der Röhrchen, durch die man das Kettgarn hindurchzieht. Dünne Muscheln erwiesen sich für diesen Zweck als ungeeignet, weil sie beim Bohren der Löcher leicht zerbröckelten und auch das Garn schnell durchscheuerten. Ich mußte daher Plättchen aus Schildpatt verwenden. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für eine mühselige Arbeit war! Da ich keinen Schraubstock hatte, beanspruchte die Herstellung dieser Plättchen ganze zwei Monate; schließlich besaß ich davon dreihundert Stück, und zwar hundertfünfzig für jeden Schaft.
Zwei Tage vor dem neuen Jahr war der Webstuhl fertig. Er arbeitete ganz gut, und das Gewebe war – für meine Verhältnisse – wohlgelungen. Es hatte allerdings gewisse Unebenheiten, Höcker und sogar Knoten, aber das Garn war ja nicht fabrikmäßig hergestellt, sondern mit meinen nicht besonders erfahrenen Fingern aus Pandanusfasern gesponnen. Ich war auf mein Werk jedenfalls ungemein stolz. Nicht nur, weil ich einen Webstuhl gebaut und das nötige Material hergestellt hatte, um meine Nacktheit zu bedecken, die ja auf diesem einsamen Atoll bei niemandem Anstoß erregte. O nein! Die Hauptsache war das Bewußtsein der eigenen Leistungsfähigkeit und Willenskraft, die mich befähigten, in dieser Einöde auf einem gewissen kulturellen Niveau zu leben und alle meine Vorhaben durchzuführen. Ebenso freute es mich, daß ich während meines bisherigen, noch kurzen Lebens die Augen stets offengehalten hatte. Was hätte ich wohl zuwege gebracht, wenn nicht die mir angeborene Wißbegier gewesen wäre, die mich trieb, mir die Menschen, ihre Arbeit und ihre Werkstätten anzusehen? Das eigenhändig gewebte Material reichte mit knapper Not aus, mir daraus Shorts zu nähen. Sie waren freilich kein Meisterwerk der Schneiderkunst, sahen aber wahrscheinlich doch besser aus als Robinson Crusoes Ziegenfellhosen. Eine sehr gute Nadel hatte ich mir aus einer Thunfischgräte gemacht, in die ich mit dem spitzen Zahn eines jungen Pfeilhechtes das Öhr für den Faden gebohrt hatte. Mittlerweile ging die Regenperiode ihrem Ende zu.
Die Sonne schien immer öfter und länger, und es regnete immer seltener und kürzer. Auch setzten wieder die Gewitter ein, die den Eintritt der Trockenperiode verkündeten. Eines Tages, als ich gerade mit der Fertigstellung eines neuen Bootes beschäftigt war, brach ein schreckliches Unwetter los. Ich zog das Boot schnell in die Grotte, von wo aus ich mit bangem Herzen der grauenvollen Vernichtung zusah, die der Orkan anrichtete. Der Sturmwind bog die Palmen wie schwankes Rohr und fegte mit ihren Kronen die Erde. Durch die Luft flogen Blattschäfte, Äste und Blätterbüsche, und nicht selten sausten pfeifend große Kokosnüsse wie Geschosse vorüber. Immer wieder erscholl das Krachen brechender Baume oder der dumpfe Aufschlag eines niederstürzenden Stammes. Von der Lagune drang ein bedrohliches Getöse herüber, das sich manchmal in ein ungeheuerliches Brüllen, verwandelte, Selbst die Bucht, die sonst immer still und glatt war wie ein Spiegel, glich jetzt einem brodelnden Kessel. Dumpfe Donner erschütterten wie Salven aus tausend Panzergeschützen die Luft, sie kamen schnell näher, aber ihr größter Knall ging südlich am Atoll vorbei. Tausende von Blitzen durchzuckten das schwarze, den Himmel verhängende Gewölk und blendeten meine Augen, ununterbrochen grollte der Donner, bald in tiefem, gedämpftem Baß, bald höllisch krachend, die Grundfesten der Insel erschütternd. Plötzlich wurde es stockfinster, und Gießbäche von Regen stürzten herab. Zwischen Himmel und Erde richtete sich gleichsam eine Wasserwand auf, sie nahm
mir völlig die Sicht. Die Umrisse der Palmen verwischten sich, im klatschenden Geräusch der aufschlagenden Tropfen erstarb das Brausen des Sturmes, und das Donnergrollen wurde zu einem kaum hörbaren Gebrumm. Und dann hörte alles auf einmal auf. Der Regen, der Sturm und das Gewitter. Nur fern am südlichen Horizont ballten sich noch schwarze Wolken zusammen, und ein ganz leises Echo wiederholte flüsternd das gedämpfte Tosen des aufgewühlten Ozeans. Mühsam drang ich durch die gestürzten Bäume zu der Stelle hin, wo vor ein paar Stunden meine Hütte gestanden hatte. Ich sage „gestanden hatte“, denn jetzt war von ihr gar keine Spur übriggeblieben. Nur eine Wand lag da, zugedeckt von einer entwurzelten Palme. Weder Dach noch Hängematte noch Veranda noch irgendein Stück vom Webstuhl war vorhanden! Der Orkan hatte alles hinweggefegt und auf dem Platz der Verwüstung lediglich die schweren Tridacnamuscheln zurückgelassen. So viel Arbeit, so viel Anstrengung waren zunichte gemacht! Im ersten Augenblick überkam mich ein schrecklicher Zorn und dann eine große Unlust. Wozu sich abquälen, wozu arbeiten, wenn das nächste Gewitter wieder alles zerstört. Ich hatte das Empfinden, mir sei ein großes Unrecht zugefügt worden, und ich fühlte mich geradezu unglücklich. Aber plötzlich entsann ich mich der Worte meines Onkels, bei dem ich nach dem Tode meiner Eltern ein neues Heim in Neuseeland gefunden halte. „Denke daran, Junge“, hatte der Onkel gesagt, „es ist
niemals so schlimm, als daß es nicht noch schlimmer hätte sein können!“ Als ich diese Worte zum erstenmal hörte, kam es mir vor, als mache sich der Onkel über mich lustig, später jedoch begriff ich ihre tiefe Wahrheit. Wäre es denn nicht auch jetzt schlimmer gewesen, wenn ich, anstatt in der Grotte Schutz zu suchen, mich vor dem Gewitter in meine Hülle geflüchtet hätte? Den Tod konnte ich gewiß nicht als das größte Unglück ansehen, aber wenn die niederstürzende Palme mir einen Arm gebrochen hätte oder ein Bein oder gar das Kreuz lahm geschlagen? Mit einem gebrochenen Arm oder Bein wäre ich wohl noch irgendwie zurechtgekommen, aber mit einem zerschlagenen Kreuz? Ich hätte langsam Hungers sterben müssen. Ohne mich von der Stelle rühren zu können, sterben in vollem Bewußtsein eigener Machtlosigkeit! Ich war aber gesund, voller Kraft und Lebenslust. Warum sollte ich mich darüber grämen, was mir das Unwetter vernichtet hatte? Mochte es der Teufel holen! Der Sturm hat mir die Hütte zerstört… Nun, ich werde mir ein festeres Haus errichten! Er hat mir den Webstuhl zerschlagen… Nun, ich werde mir einen besseren bauen! Ich war kein Neuling mehr, ich hatte während meines Einsiedlerdaseins viele Erfahrungen gesammelt, also durfte mich solches Mißgeschick nicht zerbrechen, sondern mußte in mir Unnachgiebigkeit und Härte erzeugen. Natürlich galt es für mich, völlig von vorne anzufangen, aber das war nicht mehr so schwer. Ich wußte ja,
wie ich die Arbeit anzupacken hatte. Außerdem waren mir die wertvollsten Dinge erhalten geblieben, da ich sie in der Grotte bei mir gehabt hatte – nämlich die steinernen Feilen, einige Beile und Meißel, die Bohrer sowie die Taucherbrille. Die Brille benutzte ich beim Fischfang in der Bucht, deshalb trug ich sie meistens bei mir. Dagegen waren meine ganze Kleidung von der „Matariki“ und die Kapokweste samt dem Vorrat an Pandanusgarn und Kokosfasern spurlos verschwunden. Nun richtete ich mir meine Wohnung in der Grotte ein. Das tat ich nicht sonderlich gern, denn trotz guter Ventilation war es darin etwas schwül, und ich spürte den eigentümlichen Geruch von Guano. Außerdem herrschte ziemliche Dunkelheit in der Höhle, denn das Tageslicht gelangte nicht in alle Winkel. Aber dafür war die Wohnung sicher und bot Schutz vor den Orkanen. Zuerst galt es, einige primitive Harpunen anzufertigen, Ich mußte mir auch neues Geschirr aus Nüssen machen, einen neuen Herd aufstellen und ein neues Taro-Feld anlegen. Der Sturm hatte nur das Kraut der Pflanze vernichtet, die kartoffelähnlichen Knollen waren glücklicherweise wenig beschädigt, Einige Tage lang rackerte ich in einem höllischen Tempo von früh bis spät, aber ich kann mit Stolz sagen, daß ich meine Wirtschaft auf die Beine stellte! Einigen Ärger hatte ich freilich mit den Kokoskrabben, die ganz frech in meinem Nußlager hausten. Ich mußte diese Plage jedoch dulden, denn ich brauchte ja Öl zur Herstellung von Seife und auch für die Lampen, die ich aus großen Porzellanschnecken gemacht hatte; den
Docht für die Lampen lieferten mir die Wollfasern der im Sträucherdickicht gefundenen Fetzen meiner Shorts. Über Mangel an Trinkwasser konnte ich mich vorerst nicht beklagen, denn täglich vor dem Morgengrauen fiel kurze Zeit Regen und füllte die riesigen Tridacnamuscheln mit Wasser. Es war also gar nicht so schlimm, wie es anfangs ausgesehen hatte! Der Orkan hatte auch einen Tohonubaum umgestürzt. Es war ein herrlicher, schnurgerader Stamm, knorrenfrei, über zwölf Meter lang, mit einem Durchmesser von fast anderthalb Metern. Ein herrliches Material für ein seefestes Boot! Ja, wenn ich eine Säge besessen hätte, eine stählerne Axt, Meißel und andere Zimmerwerkzeuge – nicht einen Moment würde ich gezögert haben, obwohl ich ganz genau wußte, daß diese Arbeit Monate dauern konnte! Aber wieviel Zeit brauchte ich, um den Bootsbau mit Muschelbeilen durchzuführen? Ein Jahr, zwei oder auch drei Jahre? Beim Anblick des ungeheuren Stammes, seiner hoch emporragenden, sternförmig ausgebreiteten Wurzeln, die dicker waren, als der Stammansatz der ältesten Palme, beim Anblick der riesengroßen Krone mit ihren mächtigen Ästen – ja, da war ich im ersten Augenblick erschrocken, denn meine Idee kam mir wie ein verrückter Einfall vor. Konnte denn ein Mensch mit gesundem Verstand auch nur daran denken, diese Riesenarbeit durchzuführen, wenn er nur ein brüchiges Muschelbeil besaß? Abgesehen von den mächtigen Ausmaßen des Baumes, ist das To-
honuholz fester und härter als das der Eiche. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich einige Tage lang keinen Mut fand, dem Baumstamm einen Schlag mit dem Beil zu versetzen. Aber schließlich tat ich es doch, und als ich mich überzeugt hatte, daß mein Muschelbeil härter war als der Tohonu, ging ich mit allem Ernst an die Arbeit. Das Stammende des Baumes, das auf dicken Wurzeln ruhte, befand sich ziemlich hoch über der Erde. Die Wurzeln waren weit verzweigt, weil doch der Baum in der flachen Erdschicht, die den Korallenfelsen bedeckt, keine senkrecht in den Boden eindringenden Pfahlwurzeln bilden kann. Ich schlug oberhalb des Wurzelstocks ein ziemlich großes Loch und füllte es mit Glut. Das mit trockenen Kokosnußschalen genährte Feuer fraß langsam das noch feuchte Holz, ich hieb die verkohlten Teile ab und trug auf diese Weise dazu bei, daß die Glut schneller in den Stamm eindringen konnte. Und dennoch brauchte ich einen Monat, um den Wurzelansatz durchzubrennen. Auf die gleiche Weise verfuhr ich mit der Krone. Das Durchbrennen dauerte hier jedoch bedeutend länger, weil ich noch einige dikke Äste entfernen mußte, aber nach drei Monaten hatte ich bereits einen sauberen Stamm daliegen. Den Stamm wollte ich – auf beiden Seiten behauen und danach aushöhlen. Aber diese Arbeit, erforderte viel Zeit und Aufmerksamkeit; deshalb verschob ich sie bis zum Eintritt der Regenperiode. Vorerst baute ich über dem Stamm ein Dach auf hohen Pfählen, hauptsächlich, damit das Holz langsam austrocknete und unter den heißen Sonnenstrahlen nicht platzte, au-
ßerdem auch, um während der Regenperiode ungehindert arbeiten zu können. So werkte ich jeden Tag stundenlang an dem Baumstamm. Gewöhnlich kehrte ich mittags zur Grotte zurück, badete, kochte mir ein Mahl und saß dann ungefähr bis fünfzehn Uhr, also während der größten Hitze, im Schatten, besserte die Geräte aus oder machte mir Garn und Schnur. Ich bereitete auch das Material für den neuen Webstuhl, denn das Boot mußte doch ein Segel haben! Außerdem flocht ich Fischreusen und feilte aus Perlmuschelstücken Blinker, mit denen sich große Fische ausgezeichnet angeln ließen. Die Blinker hatten Haken, die aus Schildpatt verfertigt und mit Hibiskusbast an der Muschel befestigt waren. Nachmittags, wenn die glühende Hitze nicht mehr so lästig war, ging ich zum Baumstamm hinüber und nährte das Feuer mit Reisig und Nußschalen; später häufte ich Material für das Dach an und hieb Pfähle und Dachsparren zurecht. Wenn die Sonne tief im Westen stand, begab ich mich zur Bucht, zog die Reusen heraus oder schwamm mit einer Harpune zu den Felsenriffen. Dann kochte ich mein Mahl, und nach dem Abendessen hatte ich Zeit, die Beile zu schärfen, die Werkzeuge zu reparieren und alle Haushaltsarbeiten zu erledigen. Später, wenn das Kreuz des Südens schon hoch am schwarzen Himmelsgewölbe funkelte, streckte ich mich auf meinem Lager aus und versank sofort in tiefen Schlaf. Die Arbeit war das beste Mittel, die Einsamkeit, die mir immer mehr zusetzte, zu überstehen und die Erinnerungen zu verscheuchen, die mich mit einer gerade-
zu verbissenen Beharrlichkeit bedrängten. So ging die Trockenperiode vorüber. Wieder tobten Unwetter, die Vorboten der anbrechenden Regenzeit, sie richteten jedoch glücklicherweise keine größeren Schäden an. Die Stürme erinnerten mich an das, was ich im Getriebe der Arbeit vergessen hatte, nämlich an den Jahrestag meiner Landung auf dem Atoll! Ich hatte diesen Tag vielleicht auch deshalb verpaßt, weil ich in meinen Kalenderpfahl zwar täglich einen Strich einkerbte, aber nicht das Datum einschnitt. Gewiß lohnte es sich nicht, den verspäteten Jahrestag mit einem Fest oder Bankett zu ehren, eine kurze Bilanz war die verflossene Zeit jedoch wert. Die Meereswogen hatten mich vor einem Jahr halbtot auf das Atoll geworfen. Ich hatte nichts besessen, außer dürftiger Kleidung, einem Messer und der Taucherbrille, verfügte nicht über die Erfahrung eines Schilfbrüchigen und hatte auch niemals das Leben eines auf seine eigenen Kräfte angewiesenen Einsiedlers geführt. Und dennoch hatte ich auf diesem menschenleeren Atoll ein ganzes Jahr verlebt! Und ich hatte es sogar einigermaßen gut und bequem verlebt. Heute besaß ich Feuer, Süßwasser, einen sicheren Zufluchtsort. Werkzeuge, Netze, Harpunen, vor allen .Dingen aber sehr viel Erfahrung und die Gewißheil, daß ich durch Willenskraft und Beharrlichkeit jede Widerwärtigkeit zu überwinden vermochte. Ich hätte nie geglaubt, daß mir der Bau eines stabilen Bootes so viele Schwierigkeiten bereiten würde!
In den Schuljahren und später in Segelkursen hatte ich mir ziemlich große Kenntnisse im Modellbau erworben. Es mußte mir also eigentlich recht leicht fallen, das erforderliche Boot zu bauen. Wie anders aber sah die Wirklichkeit aus! Vor mir lag ein gewaltiger Stamm – in der Hand aber hielt ich nur ein sprödes Muschelbeil. Ich wußte einfach nicht, wie ich an diesen Koloß herangehen sollte, die Riesenhaftigkeit der Arbeit schreckte mich. Natürlich begriff ich, daß ich aus dem Stamm nur ein ausgehöhltes Boot, den sogenannten Einbaum machen konnte, aber dieser Einbaum war ja nicht für eine Fahrt auf einem ruhigen Binnensee, sondern auf dem Ozean bestimmt! Er mußte daher eine geeignete Form und Ausrüstung haben. Nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, mir die Erfahrung der polynesischen Seefahrer zunutze zu machen und mein Boot nach den Mustern zu bauen, die ich in der Südsee häufig gesehen hatte. Das polynesische Boot für große Entfernungen besteht aus einem ausgehöhlten Stamm und ist mit einem Seitenschwimmer versehen, der das Schiff sogar auf sehr stürmischem Ozean im Gleichgewicht hält. Auf der Plattform, die das Boot mit dem Schwimmer verbindet, steht der Mast, und das Segel hat nicht nur die Aufgabe, das Schiff voranzutreiben, sondern dient auch zum Steuern. Da ein Boot dieses Typs nicht wenden kann, sondern durch Stellen des Segels gleich rückwärts fährt, sind seine beiden Enden als Bug gezimmert. Das Entrinden des Stammes ging noch verhältnismäßig schnell vonstatten, aber das in der regenfreien Zeit
getrocknete Holz war so hart geworden, daß die Muschelbeile kaum fingernagelgroße Splitter heraushieben. Im Laufe der paar Stunden, die ich täglich dem Bootsbau widmen konnte, vermochte ich niemals mehr als ein Stück von der Größe meiner Hand abzuschlagen. Es war nicht schwer auszurechnen, daß meine Arbeit an dem Boot etliche Jahre dauern würde, wenn ich keine andere Methode erfand. Die Bearbeitung des Stammes sollte mir das Feuer erleichtern. Mit Glut konnte ich die Partien des Stammes verkohlen, die ein langes und mühseliges Behauen erforderten. In der Praxis jedoch erwies sich diese Methode als äußerst schwierig, denn es war fast unmöglich, die Glut an der erforderlichen Stelle anzubringen. Ich kam bald zu der Überzeugung, daß ich mit einer kleinen, aber sehr intensiven Flamme aus wenigen Kohlenstücken arbeiten müsse. Aber dazu brauchte ich unbedingt einen Ventilator oder Blasebalg. An einen Ventilator war nicht zu denken. Anders sah es mit einem kleinen handlichen Gebläse aus. Man konnte es verhältnismäßig leicht herstellen, und dazu brauchte man nur eine Kleinigkeit – ein Stück Leder! An Häuten fehlte es in meinem Reich natürlich nicht, das Übel lag bloß darin, daß sie sich auf dem Rücken der Haie und Rochen befanden, die in der Lagune ihr Unwesen trieben. Ich brauchte sie diesen Tieren nur abzuziehen…! Auf Haie hatte ich bis jetzt keine Jagd gemacht, weil ihr Fleisch nicht besonders wertvoll ist, auch besaß ich einen ziemlich großen Vorrat an Haifischzähnen, die ich im Grabgewölbe der Grotte gefunden hatte und als
Bohrer benutzte. Ihre Haut brauchte ich bislang nicht, denn sie ist mit kleinen Knochenkörnern besetzt und eignet sich daher nicht für Riemen oder Gürtel. Auch auf Rochen hatte ich keine Jagd unternommen, obwohl ich diese Raubfische öfter in meiner Bucht zu Gesicht bekam. Sie zerstörten mir häufig die Reusen, die ich zwischen den Felsenriffen aufstellte, welche die Bucht von der Lagune trennten. Einige Male sah ich die von den Seefahrern „Seeteufel“ genannten Riesenrochen, darunter ein Ungeheuer, das schätzungsweise neun Meter breit und mitsamt dem Schwanz sieben Meter lang war. Ich hatte gehört, daß manche Rochenarten bis zu einem Meter lange Schwanzstacheln haben, aber ein solches Schaustück war mir nie vor Augen gekommen. Die Haut des Rochens wird sehr geschätzt. Auf dem Rücken zwar ist sie dick und besitzt knöcherne Plättchen, am Unterleib aber ist sie glatt und weich und erinnert an Ziegenleder. Das war mir genau bekannt, denn von der „Matariki“ aus hatten wir ein paar ansehnliche Exemplare dieser Gattung gefangen. Ich brauchte einen Blasebalg, also mußte ich einen Rochen erlegen! Auf die erste Jagdexpedition begab ich mich ungefähr zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Ich legte mich an den Felsenriffen auf die Lauer und wartete geduldig auf die aus der Lagune zurückkehrenden Rochen. Sie kamen wie immer pünktlich und schwammen einer nach dem anderen durch das Korallentor in die Bucht. Ich schleuderte eine Harpune in den letzten. Mein Geschoß, dessen Ende aus einem scharf zugespitzten
Knochen bestand und zahlreiche ausgefeilte Widerhaken besaß, drang tief in den braunen Rücken des Fisches ein. Den Bruchteil einer Sekunde stockte der Rochen, dann aber schoß er aus dem Wasser heraus, überschlug sich in der Luft und stürzte wie ein Stein in die Tiefe zurück. Die Harpunenleine rollte sich mit rasender Geschwindigkeit ab, und wenn ich ihr Ende nicht fest in der linken Hand gehalten hätte, wäre sie im Wasser verschwunden. Der Ruck war jedoch so stark, daß es mich beinahe von den Beinen gerissen hätte. Langsam, ganz langsam begann ich die Leine einzuholen. Anfangs ging es leichter, als ich gedacht hatte, dann aber spannte sich die Leine wie eine Saite, und ich konnte sie keinen Zoll höher ziehen. Ich wollte nicht zu stark zerren, um nicht die Harpune aus dem Körper des widerstrebenden Fisches herauszureißen. So ließ ich denn die Leine locker hängen in der Hoffnung, der Rochen würde infolge Erschöpfung und Blutverlust von allein hochkommen. Meine Hoffnung erwies sich aber als trügerisch. Es verging etwa eine Stunde, die Sonne begann sich hinter dem Horizont zu verstecken, aber der Rochen tauchte und tauchte nicht auf. Ich zog daher die Leine mit einem kräftigeren Ruck an, und plötzlich gab sie so leicht nach, daß ich einen Purzelbaum schlug und in die Lagune fiel. Ich arbeitete mich schnell wieder auf das Felsenriff hinauf, aber da sah ich das andere Ende der Kokosleine im Wasser schwimmen… ohne Harpune und ohne Fisch. Als ich die Leine eingeholt hatte, stellte ich fest, daß sie kaum noch den dritten Teil ihrer
ursprünglichen Länge besaß und wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten war. Verärgert und betrübt kehrte ich in die Grotte zurück. Ich hatte eine der besten Harpunen und eine Leine verloren, die Arbeit vieler Wochen war umsonst gewesen. Nach dem Abendessen durchdachte ich sorgfältig den ganzen Fall und auch den neuen Jagdplan. Es gab für mich keinen Zweifel: die Barriere zwischen Bucht und Lagune hatte zahlreiche Spalten, Löcher und sogar Höhlen, die den Meeresgeschöpfen als Wohnstätte oder bei einer plötzlichen Gefahr als Unterschlupf dienten. Solche Höhlen sind besonders bei Kraken. Muränen und anderen Räubern beliebt, die in ihren Verstecken den vorbeischwimmenden Tieren auflauern. Ich nahm selbstverständlich nicht an, daß ein Krake sich erdreisten würde, einen verletzten Rochen anzugreifen. Das wäre ja seitens des Kopffüßlers glatter Selbstmord, denn ein verwundeter und durch die Schmerzen in Raserei versetzter Rochen ist hundertmal gefährlicher als ein wütend gewordener Hai. Mit Erfolg hätte jedoch eine Muräne den Rochen anfallen können, dieser Vampir, der sich in den unterseeischen Klüften der Korallenriffe einnistet. Dieser Fisch ähnelt einer Schlange und wächst zu einer beträchtlichen Größe heran. Auf seinem verhältnismäßig kleinen Kopf leuchten mit phosphoreszierendem Schimmer große Augen, und das vorgeschobene, einem Gänseschnabel ähnliche Maul hat Reihen von Haken-Zähnen, die so scharf sind wie Rasiermesser. Die Muräne überfällt ihre Opfer mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit und frißt sich in deren Körper wie
ein Wurm in den Apfel. Keine Macht ist imstande, die Muräne von ihrer Beute loszureißen; ein Mensch darf es nicht wagen, dieses Untier ohne entsprechende Waffe anzugreifen, denn es ist nicht nur kolossal gewandt und stark, sondern seine Zähne enthalten ein schrecklich wirkendes Gift. Der glatte Schnitt der Leine brachte mich auf den Gedanken, daß hier dieses raubgierige Scheusal am Werk gewesen sei, denn eine an der Felsenkante durchgescheuerte Leine hätte ja zerfranst sein müssen. Ich beschloß nun, die Rochen auf ihren Jagdrevieren in der Bucht zu suchen. Dort hatte ich während meiner häufigen Jagden unter Wasser eine riesige Sandfläche ausfindig gemacht, die dicht bei dicht mit Bänken verschiedener kleiner Krebse bedeckt war. Zu diesen Bänken kamen allerlei Galttungen von Fischen und fraßen sich in solchem Maße voll, daß sie sich nicht einmal mehr vom Boden zu erheben vermochten. Die Rochen, die zur Nachtzeit jagten, nutzten diese Trägheit aus und steuerten nach ihrer Ankunft aus der Lagune direkt auf die Krebsbank zu, wo sie ein reich gedeckter Tisch erwartete. Eines Tages fuhr ich wenige Stunden vor Sonnenuntergang mit meinem kleinen Boot in die Bucht und steuerte auf jene Sandbank zu. In meinem Kahn lagen zwei neue Harpunen mit Spießen aus Knochen einer Riesenschildkröte. An den Harpunenstangen waren sehr lange Kokosleinen angebracht, die ich am Steven festgebunden und am Bug in der Art zusammengerollt hatte, wie es auf Walfangschiffen gemacht wird. Am Heck des Kahns lagen ein großer Driftanker, der aus
einer dichtgeflochtenen Matte verfertigt und mit großen Schwimmern aus Miki-Miki-Holz versehen war; außerdem breite Schwimmflossen, die ich aus dünnen Kokosblättern geflochten und mit Fischblasen überzogen hatte. Diese Flossen konnte ich mir wie Pantoffeln auf die Füße stülpen und mit Bändern an den Beinen festschnüren. Sie erleichterten wesentlich das Schwimmen unter Wasser und gaben den Händen völlige Bewegungsfreiheit. Als ich an Ort und Stelle war, befestigte ich die Flossen an meinen Füßen, warf den Anker über Bord, setzte die Taucherbrille auf, klemmte mir mit einer Holzklammer die Nase zu und ließ mich geräuschlos ins Wasser hinunter. Im Tauchen hatte ich bereits große Erfahrung, daher schwamm ich schon bald dicht über dem Boden dahin. Natürlich hoffte ich nicht, um diese Zeit einen auf dem Sande liegenden Rochen auszukundschaften, ich wollte nur noch einmal das Gebiet der kommenden Jagd überprüfen, um im entscheidenden Augenblick keine unangenehmen Überraschungen zu erleben. Das Wasser war klar wie Kristall, die Sonnenstrahlen drangen tief in die Flut, so daß ich jede Einzelheit genau erkennen konnte. Auf dem Boden der Bucht krochen träge große Schnecken, ihre zarten Leiber in farbenreichen Gehäusen geschützt, und an ihnen vorbei eilten Krabben, die nach Nahrung suchten. Hier und da sah ich Kolonien stacheliger Seeigel, und daneben schimmerten fleischige, wie mit blauer oder roter Farbe lackierte Seesterne. Auf dem Sande lagen eine Menge gesprenkelter Schollen. Sie schienen leblos,
aber ihre weit hervorstehenden Augen verfolgten aufmerksam jede Bewegung der an ihnen vorbeiziehenden Geschöpfe. Etwas weiter schwimmt ein Schwarm blauer Fischlein, die gleichsam mit goldenem Sand bestreut sind. Ganz sacht bewegen sie ihre atlasglänzenden weißen Schwanzflossen, auf denen große violette Flecke zu sehen sind. Sie nähern sich mir, mich mit ihren großen saphirblauen Augen anstarrend und ihre rüsselförmigen Mäulchen wie erstaunt öffnend… und plötzlich – bestürzt über den Anblick eines ihnen unbekannten Ungeheuers – stieben sie auseinander und verschwinden spurlos wie ein Schwarm Mücken, den ein Windstoß über einem Waldpfad weggefegt hat. Und in diesem Augenblick entdecke ich über den Wasserpflanzen einen Rochen. Der Fisch sieht wie ein großes quadratisches Stück schmutzigen Tuches aus, erinnert aber durch die Bewegungen seiner Seitenflossen an einen fliegenden Vogel… Ich schwamm nach oben, um Luft zu schöpfen und mich für die Jagd vorzubereiten. Die Rochen kehrten also bereits aus der Lagune zurück, sie würden sich bald auf den Boden senken und die vollgefressenen, schläfrigen Schollen mühelos auflesen. Eine gute halbe Stunde saß ich im Boot. Dann brach ich erneut zur unterseeischen Erkundung auf. Mich beunruhigte jedoch der Umstand, daß die Sonne schon tief am Himmelsgewölbe stand, das Wasser daher seine Durchsichtigkeit verlor und der Meeresboden sich in graue Dämmerung zu hüllen begann. Ich suchte fieberhaft in allen Richtungen, aber wie zum Trotz konnte
ich keinen Rochen erblicken. Sollten die Tiere etwa die Gefahr gewittert und sich verzogen haben? Schon wollte ich das Suchen aufgeben, als mir plötzlich das Herz höher schlug. Unmittelbar hinter einem großen Büschel purpurroter Seerosen erblickte ich einen riesigen dunkelbraunen Fleck, der von dem nun grauen Korallensand scharf abstach. Meine Schwimmflossen vorsichtig bewegend, schwamm ich nach oben und sah mich in der Bucht um. Das Boot lag ziemlich weit entfernt, ich mußte es etwas näher an die Jagdstelle bringen, damit die Harpunenleine lose herunterhing und mich nicht in meinen Bewegungen behinderte. Das Heranbugsieren des Kahns kostete mich wohl über zehn Minuten, dagegen ging das Aufspannen des Driftankers ganz schnell. Dann wickelte ich einen Teil der auf dem Bug liegenden Leine ab und tauchte mit der angeseilten Harpune in die Tiefe. Der Rochen hatte seine Stellung ein wenig geändert und sich in seiner ganzen Stattlichkeit auf dem Boden ausgebreitet. Als ich über ihn hinwegschwamm, um eine geeignete Angriffsposition zu finden, machte er eine ungestüme Bewegung und begann mit seinem peitschenlangen Schwanz nach allen Richtungen zu schlagen. Ich gestehe, ohne mich zu schämen, daß ich es bei dem Anblick dieses Ungeheuers, das bedeutend größer war, als ich ursprünglich angenommen hatte, mit der Angst zu tun bekam und mich zurückziehen wollte. Der Rochen maß mindestens zweieinhalb Quadratmeter und mochte an die hundertfünfzig Kilo wiegen!
Wie sollte ich mich mit meiner leichten Harpune an so eine Bestie herantrauen? Ich überwand jedoch meine Angst, schwamm von hinten heran, streckte die Harpune vor und jagte dem Fisch mit der ganzen Wucht meines Körpergewichts die Spitze dicht am Kopfansatz tief in den Rücken. Nach meinem Jagdplan wollte ich den Harpunenschaft im Moment des Zustoßens loslassen und schnell an die Oberfläche tauchen. Es kam jedoch anders: Als der Rochen die Harpunenspitze in seinem Körper spürte, trachtete er nicht, zu entfliehen, sondern griff mich an und versuchte, mich mit seinem schrecklichen Stachel zu erreichen. Ich hielt den Harpunenschaft krampfhaft fest, um den rasenden Fisch nicht an mich heranzulassen, und wurde von ihm so hin und her geschleudert, daß ich glaubte, er reiße mir die Arme aus. Mehrere Male spürte ich den schmerzhaften Schlag der Spitze seines furchtbaren Schwanzes auf meinem Körper, doch das verstärkte nur meine Wachsamkeit und Verbissenheit. Ich wußte, der Stachel befindet sich an der Schwanzwurzel, also durfte ich den Rochen um keinen Preis so nahe heranlassen, daß er mich mit dem Stachel erreichen konnte. Und plötzlich fiel mir ein, was die Polynesier über diese Meeresscheusale erzählten: Angeblich schleuderten die Rochen ihre Stacheln sogar auf ziemlich große Entfernungen hinaus, denn man habe solche Stacheln in Palmenstämmen an Küsten gefunden, ja sogar in den Wänden der Fischerhäuser, die am Ufer der Lagune standen. Natürlich hatte ich an diese Märchen nicht geglaubt, aber jetzt wurde mir doch recht unbehaglich zumute…
Und der Rochen tobte! Er stieß mich auf den Boden und drückte mich in die spitzen Stacheln der Seeigel, dann warf er mich mit furchtbarer Kraft in einen Busch Wasserpflanzen, die hundertmal stärker brannten als Brennesseln. Die Schmerzen waren so höllisch, daß ich unwillkürlich den Harpunenschaft losließ. Kaum hatte ich das getan, überschlug sich der Riesenkörper über mir, und ein langer Knochendorn blieb in dem dicken elastischen Stiel einer Wasserpflanze unmittelbar neben meinem Arm stecken. Der Kampf dauerte nur etliche zehn Sekunden, mir aber kam es wie eine Ewigkeit vor. Ich war dem Ersticken nahe. In den Lungen spürte ich entsetzlichen Druck und heftige Schmerzen, in meinen Schläfen hämmerte das Blut. Ich hatte keine Kraft mehr und begriff, daß der Rochen siegen würde. Zu meinem Glück bemerkte das Ungeheuer seinen Vorteil nicht. Instinktiv bewegte ich die Beine und tauchte mit einigen Flossenschlägen empor. Ich blieb rücklings auf dem Wasser liegen und sog gierig die frische Luft ein. In diesem Augenblick war ich weit entrückt von allem, was rings um mich geschah; das einzige, wonach es mich verlangte, war Luft, viel, sehr viel Luft! Aus diesem Vergessen weckte mich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch. Es hörte sich an, als werde Wasser durch ein Sieb gegossen. Das Geräusch wurde stärker und kam immer näher. Trotz unsäglicher Schmerzen in meinen Rückenmuskeln erhob ich mich und versuchte, mich im Wasser in stehender Lage zu halten. Dank der Flossen gelang es mir gut, und ich konnte mich nach der Geräuschquelle umsehen.
Vor Freude hätte ich beinahe laut aufgeschrien! In einer Entfernung von kaum dreißig Metern fuhr langsam mein Boot, und hinter ihm pflügte der gleich einem Regenschirm aufgespannte Anker eine schäumende Furche im Wasser. „Aha, die Harpune hält!“‘ rief ich lachend wie ein Schüler, dem ein guter Streich gelungen war. Ich hatte also richtig kalkuliert. Der riesige Rochen zog den Kahn zwar hinter sich her, konnte ihn aber nicht ins Wasser hinunterziehen, denn der Anker leistete starken Widerstand; außerdem war die Leine länger als die Entfernung zwischen dem Wasserspiegel und dem Boden der Bucht. Aber selbst wenn es dem Fisch auf irgendeine unerklärliche Weise gelänge, den Kahn hinunterzuziehen, würden die großen Schwimmer den Anker oben halten und die Stelle angeben, wo sich meine Jagdbeute befand. Ich überwand die furchtbaren Schmerzen, die mir bei jeder Bewegung in die Muskeln schnitten, schwamm zum Boot hinüber und saß nach wenigen Augenblicken darin. Wenn ich sagte „saß“, so ist das mehr als übertrieben, denn ich lag eigentlich auf dem Bauch und zog mir aus den Waden, aus den Gesäßbacken und aus dem Rücken die abgebrochenen Stacheln der Seeigel heraus, die tief im Fleisch steckten. Bei dieser Operation mußte ich die Zähne fest zusammenbeißen, denn das Salzwasser drang in die Wunden ein und steigerte die Qualen hundertfach. Sobald ich mich einigermaßen von den Igelstacheln befreit hatte, ging ich daran, die Harpunenleine einzuziehen. Offenbar war der Rochen schon sehr erschöpft, vielleicht auch durch erheblichen
Blutverlust, jedenfalls leistete er keinen allzu großen Widerstand und kam langsam nach oben. Erst unmittelbar unter der Oberfläche begann der Fisch von neuem zu toben. Mit einer Hand hielt ich die Leine fest, an deren Ende sich das Ungeheuer hin und her warf, mit der anderen nahm ich die zweite Harpune und wartete auf einen günstigen Moment. Als der Rochen in einer tollen Pirouette fast bis zur Hälfte aus dem Wasser heraussprang, schleuderte ich die Harpune mit aller Wucht und traf den Fisch genau zwischen die Augen. Der Stoß war so stark, daß die Spitze den Kopf völlig durchdrang und der Schaft fest in der Wunde steckenblieb. Ich glaubte, damit sei der Kampf zu Ende. Leider war es nicht so. Der Rochen stürzte in die Tiefe und zog die auf dem Bug zusammengerollte Leine so schnell mit sich, daß sie wie eine Saite sang. Die Leine riß aber auch mich hinab, denn ich vermochte sie nicht so rasch vom Handgelenk zu wickeln. Auf der blitzschnellen Reise in den Abgrund schluckte ich eine ganze Menge abscheuliches Salzwasser. Ich befreite mich aber schleunigst von der Leine, schwamm sofort nach oben und verwünschte dabei im stillen meine Unvorsichtigkeit, die mich das Leben hätte kosten können. Inzwischen war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, und Dämmerung verwischte die Umrisse der Insel. Ich saß im Boot, mein ganzer Körper schmerzte. Die Augen tränten mir vor Salzwasser, und meine von der Leine zerschundene linke Hand blutete stark. Zum Glück hatte ich im Boot ein Gefäß mit Trinkwasser, so daß ich mir die Augen auswaschen
konnte; die Hand verband ich mir mit einem Streifen Pandanusgewebe. Während ich mich mit Räucherfisch stärkte, bemerkte ich, daß der Kahn ruhig an einer Stelle lag und die vorhin gespannte Leine schlaff hinunterhing. Ich zog sie versuchsweise an. Welche Freude!… Sie ließ sich leicht einholen, und schließlich zeigte sich unweit des Bootes im Wasser ein großer weißer Fleck, der nichts anderes war als der tote Rochen. Das Ungeheuer war mit dem Bauch nach oben aufgetaucht. Ich zog den Rochen ans Boot heran und riß den Schaft der zweiten Harpune aus seinem Leib, dann begann ich ihn zum Ufer zu bugsieren. Das nahm sehr viel Zeit in Anspruch, aber noch mehr rackerte ich mich ab, dieses Monstrum auf den Strand zu zerren. Dann machte ich Feuer und begann beim hellen Schein der Flammen dem Rochen die Haut abzuziehen. Der riesige Hautflatschen seines Bauches reichte für mehrere Blasebälge, denn er war wesentlich größer als das Fell einer Kuh. Ich rieb die Haut mit Salz und Asche ein und hängte sie an einer luftigen Stelle auf Stangen. Sodann zerteilte ich den Rochen. Die wertvolleren Fleischteile nahm ich mit. Der Rest konnte am Strande liegenbleiben, denn ich wußte sehr gut, daß sich bald unzählige Krabben mit dem Aas beschäftigen und mir nur fein gesäuberte Gräten zurücklassen würden, aus denen ich mir dann viele nützliche Dinge machen wollte. Erst gegen Morgen streckte ich mich auf meinem Lager aus. Ich kann nicht sagen, daß die ersten Tage nach der
Rochenjagd zu den angenehmen gehörten. Genau umgekehrt. Noch heute geht mir ein Schauer durch den ganzen Körper, wenn ich daran zurückdenke. Ich erwachte völlig zerschlagen und so krank, daß ich mich kaum aufrichten konnte. Hohes Fieber plagte mich, und brennender Ausschlag hatte meinen ganzen Körper mit purpurroten Schwellungen bedeckt. Die noch im Fleisch steckenden Stacheln der Seeigel riefen auf dem ganzen Rücken Geschwüre hervor und so entsetzliche Schmerzen, daß jede Bewegung zur unerträglichen Qual wurde. Ich konnte weder auf dem Rücken liegen noch auf dem Bauch, und sitzen konnte ich auch nicht. Mein Zustand wies auf eine Vergiftung des ganzen Organismus hin. Wahrscheinlich war ich auf eine giftige Abart von Seeigeln gestürzt, von denen es auf dem Grunde der Bucht eine Menge gab. Ich war mir über den Ernst meiner Lage völlig im klaren. Allein, ohne jede Hilfe, ohne Medizin lag ich da. Niemand konnte mir Wasser reichen, niemand die Stacheln herausziehen, die noch in den Schultern steckten. Ich wußte nicht, was für ein Gift die unterseeischen Brennesseln enthielten, doch stellte ich an meiner Flaut fest, daß es schrecklich war. Die verbrannten Stellen hatten die Farbe einer dunkelroten Kirsche. Sie schwollen an und juckten so höllisch, daß ich mich unwillkürlich kratzen mußte; durch das Kratzen aber entstanden schmerzhafte, eiternde Wunden. An Fischfang und Kochen war natürlich nicht zu denken. Aber vor dem Essen empfand ich ohnehin nur Widerwillen. Ich hatte ziemlich viel getrocknete und
geräucherte Fische, hatte Mehl aus Taroknollen und mehrere Fischblasen voll Kokoskrabbenöl, und obwohl ich wußte, daß ich essen mußte, um bei Kräften zu bleiben, wurde mir schon beim ersten Bissen übel. Mich überkam eine seltsame Trägheit, Hoffnungslosigkeit, ja sogar eine Art boshafter Freude. Wozu sollst du eigentlich kämpfen, sagte ich mir, da du sowieso sterben mußt? Mein lieber Junge, du schläfst hier in der Grotte ruhig ein, und wenn irgendwann ein neuer Schiffbrüchiger auf dieser Insel aufkreuzt, wird er sich vielleicht genauso den Kopf zerbrechen, um das Geheimnis deines Todes zu lösen, wie du dich bemüht hast, das Vorhandensein der Skelette in dieser Grotte zu enträtseln. Ich hatte öfters behaupten hören, ein Ertrinkender sehe im letzten Augenblick sein ganzes Leben an sich vorüberziehen. Ich bin niemals dem Ertrinken nahe gewesen und kann mir darüber kein Urteil erlauben, aber gerade während meiner Krankheit brach alles, was ich auf dem Grunde meines Herzens hütete, mit einer mir unbegreiflichen Gewalt hervor. Sollte etwa das Ende meines Lebens gekommen sein?’ Vor meinen fiebrigen Augen zogen abgerissene Bilder meines Lebens mit solcher Deutlichkeit vorbei, als wären sie auf einem Filmband festgehalten. Ich sah mich als wenige Jahre zählenden Knaben in meinem Heimatdorf in Polen. Mit einer Schar ebensolcher Knirpse, wie ich es war, saß ich auf der Schulbank. Die ersten Buchstaben, die mir das Tor zur Zauberwelt der Wissenschaft und der Bücher öffneten, lehrte mich meine Mutter, Lehrerin an der Dorfschule,
deren Leiter mein Vater war. Das Bild erstand so lebendig vor mir, daß ich geradezu die Gesichtswärme meiner Mutter und das feine Kitzeln ihrer wuscheligen, weizenblonden Haare auf den Wangen spürte. Ich blickte in ihre großen Augen, die, klar wie das Himmelsblau, mich voll mütterlichem Stolz und voll Liebe anschauten. Mit wunderbarer Deutlichkeit zogen auch die schmerzlichsten Erinnerungen vorbei. Ich hatte mein siebentes Jahr noch nicht vollendet, als meine Eltern starben. Während ihrer Krankheit hatte mich eine Lehrerfamilie aus dem benachbarten Dorf zu sich genommen. Als ich nach Hause zurückkehrte, waren die Eltern schon tot. Ich konnte nicht verstehen, warum sie so regungslos, so feierlich dalagen, warum sie mir nicht die Hände entgegenstreckten, warum sie nicht lachten und mich nicht küßten, wie sie es immer getan hatten, so oft sie aus der Stadt oder von einem Besuch bei den Nachbarn zurückkamen. Ich war allein geblieben, allein wie ein Pfahl eines umgestürzten Zaunes, denn es stellte sich bald heraus, daß meine Mutter keine Angehörigen und mein Vater nur einen einzigen Bruder irgendwo weit in Australien oder Neuseeland hatte. Fremde Menschen nahmen sich meiner an, ein Lehrer, der selbst ziemlich viele Kinder besaß. Die Behörde hatte ihn zu meinem Vormund bestimmt. Wenn mir seine Familie auch anfangs, unmittelbar nach dem Tode meiner Eltern, viel Mitgefühl und Herzlichkeit erwies, gab man mir später doch deutlich zu verstehen, daß ich ein „unnötiger Ballast“ sei.
Aber dann war etwas geschehen, was wie ein Märchen aussah. Eines Tages suchte ein stattlicher Herr mit graumeliertem Haar meinen Vormund auf. Ich hatte gerade Kühe auf die Weide getrieben, als ein Auto vor der Schule hielt und jener Herr ausstieg. Die älteste Tochter des Vormunds kam atemlos zu mir angelaufen. Ich fürchtete dieses Madchen wie Feuer, denn sie war gegen mich am abscheulichsten, stieß mich mit den Ellbogen, schimpfte mich wegen jeder Kleinigkeit aus und wälzte die Schuld für die Streiche ihrer jüngeren Geschwister immer auf mich ab. „Stasiek! Komm sofort nach Hause!“ rief sie schon von weitem. „Aber geh nicht in diesen Lumpen ins Zimmer, sondern wasche dich vorher und zieh dir saubere Kleider und Schuhe an.“ „Und wer wird auf die Kühe aufpassen?“ fragte ich. „Kümmere dich nicht darum. Lauf schnell, dein Onkel aus Amerika ist gekommen.“ Ich lief querfeldein. Durch ein Loch im Zaun kroch ich in den Garten und rannte am Stall vorbei zur Küchentür. Um die Ecke des Stalles biegend, stieß ich gegen meinen Vormund und jenen Herrn, der mit dem Auto gekommen war. Der Zusammenprall war so heftig, daß ich mit der Nase auf dem Boden landete. Dabei muß ich wohl auf einen Stein gefallen .sein, denn als die Männer mich aufhoben, war mein Gesicht mit Blut besudelt. Auf diese Weise hatte ich also die Bekanntschaft meines Onkels gemacht. Er war aber nicht aus Amerika nach Polen gekommen, sondern aus England, wo er irgendwelche mit seiner Arbeit in Neuseeland verbun-
denen Angelegenheiten erledigt hatte. Der Onkel hatte große Ähnlichkeit mit meinem Vater, er war nur etwas älter, aber ebenso fröhlich, lebhaft und voll Lebensfreude, nur sein Polnisch hatte einen eigenartigen, harten Tonfall. Vom Tode meiner Eltern hatte ihm ein Freund meines Vaters geschrieben, er wußte auch alles über mich. Ich war noch keine zehn Jahre alt als ich Polen verließ. Nach vielen Reisetagen erblickten wir die zahlreichen kleinen Inseln, Felsen und Riffe, die an der Nordküste Neuseelands verstreut liegen. Die ärztliche Untersuchung und die Zollrevision in Auckland nahmen keine lange Zeit in Anspruch, aber erst abends kamen wir in dem kleinen einstöckigen Haus an, das meinem Onkel gehörte. Es befand sich in einem wunderschönen Garten auf einem stillen Platz am Berghang hinter der Stadt. Die ersten Tage meines Aufenthalts in Auckland waren für mich toll. Alles hier war mir neu, fremd, sonderbar und teilweise unverständlich. Die riesige Stadt mit ihren Hochhäusern, ihren breiten Straßen voll Autos, mit ihren blumenüberschütteten Parkanlagen, diese von Menschen wimmelnde, rührige, bunte Stadt machte auf mich einen ungeheuren Eindruck, um so mehr, als ich doch nun ständig hierbleiben sollte. Der Onkel hatte noch zwei Wochen Urlaub, und er benutzte ihn dazu, mich – zunächst wenigstens oberflächlich – mit Neuseeland bekanntzumachen. Mein Onkel war ein alter Junggeselle. Er verließ sein Haus für ganze Monate, um Bodenuntersuchungen in den Gebieten vorzunehmen, wo der Bau neuer Straßen
geplant war. Ich konnte ihn nicht begleiten, weil ich zur Schule ging. Der Unterricht bereitete mir keine Schwierigkeiten, mit besonderer Vorliebe lernte ich jedoch Mathematik. In den oberen Klassen wurde ich in diesem Fach schließlich der Beste und gab jüngeren Kameraden Nachhilfestunden. Wenn sich mein Onkel in Auckland befand, war ich mit ihm jeden Tag zusammen. Wir sprachen immer polnisch und lasen häufig Bücher polnischer Schriftsteller, die sich der Onkel aus der Heimat kommen ließ. Ich hatte noch anderthalb Schuljahre vor mir, als mich ein furchtbares Unglück traf. Durch ein starkes Erdbeben zwischen den Städten Hastings und Napier kam eine Gruppe von Ingenieuren ums Leben, die dort eine neue Straße trassierten. Unter den Getöteten war auch mein Onkel. Den Tod meines einzigen Verwandten, meines besten Fürsorgers und Freundes, empfand ich sehr schmerzlich, und lange Zeit konnte ich diesen Verlust nicht verwinden. Mein Leben freilich ging in der schon beschrittenen Bahn weiter. Zu meinem Vormund wurde entsprechend dem Testament des Onkels – sein Freund, ein Rechtsanwalt, bestellt, der mit einer den Engländern angeborenen Gewissenhaftigkeit alle Erbschaftsangelegenheiten ordnete. Ich erhielt das Häuschen in Auckland, außerdem hatte der Onkel eine ansehnliche Geldsumme auf der Bank hinterlassen. Schließlich kam für mich der Tag des Examens. Ich beendete die Schule und konnte nun meinen Wunsch-
traum verwirklichen und mich als Student in der Fakultät für Schiffsbau eintragen lassen. Mein Onkel hatte von diesem Knabentraum gewußt und sich ihm nicht widersetzt, sondern ihn sogar geschickt gefördert. Wie schmerzlich empfand ich daher in dem für mich so frohen Augenblick, als ich zum ersten Male die Schwelle der Hochschule überschritt, das Fehlen dieses Menschen, der mir ein Vater geworden war. Es stand schlecht um mich, sehr schlecht. Meine Krankheit verschlimmerte sich zusehends. Ich war so schwach, daß es mich viel Anstrengung und Zeit kostete, auf allen vieren einige Schritte weit zu kriechen. Wahrscheinlich lag ich öfters ohne Bewußtsein, denn ich verlor die Übersicht in der Zeitrechnung, und mehrmals, wenn ich aus Fieberphantasien in die Wirklichkeit zurückkehrte, konnte ich mich nicht erinnern, auf welche Weise ich eigentlich in die Grotte gekommen war und was ich darin tat. Eines Tages jedoch war ich wieder bei klarem Bewußtsein. Ich lag, halb sitzend, auf der Matte in einem Zustand sonderbarer Erstarrung, da man den Körper nicht mehr spürt und auch keine Beschwerden hat. Mein Lebenslicht brannte offenbar zu Ende. Eine Garbe von Sonnenstrahlen fiel durch die Öffnung und malte auf den sandigen Boden der Höhle ein Lichtband, das die Grotte mit einem erstaunlich zarten Zwielicht erfüllte. Von der Lagune drang das gedämpfte Rauschen der Wellen herein, und bisweilen hallte das zänkische Gekreisch der Vogelschar, die sich offenbar am Strande um die Beute schlug, vom Höhlengewölbe wider.
Ich lag mit halbgeschlossenen Lidern in Erwartung des Todes. Ich fürchtete diesen letzten Augenblick nicht, denn ich wußte, daß er einmal kommen mußte. Nur stellte ich mit einer gewissen Verwunderung fest, daß es mir um mein Leben nicht leid, tat. Unwillkürlich mußte ich mit Bitterkeit über mich selbst lächeln. Denn wie konnte so etwas überhaupt möglich sein? In mir war doch immer soviel Lebensfreude, soviel Widerstandskraft gewesen, ich hatte auf den Wogen des Ozeans und dann auf diesem menschenleeren Atoll doch so verbissen um dieses Leben gekämpft… Sollte die Resignation durch den nahenden Tod unterbewußt hervorgerufen worden sein? Plötzlich spürte ich, wie ein fremder Körper meine Zehe derb berührte. Ich machte die Augen auf und sah an meinem Fuß eine Viereckkrabbe. Dieses Krustentier, größer als die Faust eines erwachsenen Mannes, bewegte aufgeregt seine Bartfühler und näherte sie immer wieder meinem Fuß. Die mächtigen Scheren der Krabbe waren erhoben und öffneten sich wie eine richtige Schere. Mit seinen teleskopförmigen Augen schien das Tier aufmerksam die Umgebung zu prüfen. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich kannte diese Krustentiere sehr gut. Sie kamen aus dem Sand hervor, sobald die Wellen den Kadaver eines Haifisches oder irgendeines anderen größeren Fisches an den Strand geschwemmt hatten und kämpften um die Beute sogar mit den Vögeln. Zum Teufel! dachte ich, sollte mich dieses Vieh schon für eine Leiche halten und mein Fleisch kosten wollen? Meine Resignation war spurlos verschwunden,
und an ihre Stelle trat Zorn. Ich werde mich doch nicht lebend auffressen lassen! begehrte ich heftig auf. Aber ich war weder fähig aufzuschreien noch imstande, eine Hand oder ein Bein zu rühren, um die Krabbe zu verscheuchen. Wie gelähmt lag ich da, die Muskeln wollten den Befehlen des Gehirns nicht gehorchen. Die Viereckkrabbe wurde inzwischen immer dreister. Sie betastete mit ihren Fühlern meinen ganzen Fuß, zupfte da und dort mit ihren Scheren kräftig an der Haut und kletterte schließlich mir nichts, dir nichts auf mein Schienbein und marschierte zum Schenkel. Ich spürte den festen Druck ihrer Füße, doch konnte ich trotz größter Willensanstrengung nicht einmal zucken. In hoffnungslosem Entsetzen stierte ich auf die Scheren des Feindes. Ich wußte, daß die Krabbe eine riesige Kraft in den Scheren hat und mir damit mühelos die Finger abzwacken oder ein Stück Fleisch herausreißen konnte. Der Kadaverfresser kam bis zur Mitte des Schenkels und hielt plötzlich an. Die Teleskope seiner Augen spürten scheinbar meinen Blick, denn sie erhoben sich in Richtung auf mein Gesicht, und die langen Fühler reckten sich gleich Antennen, die unsichtbare Wellen suchen. Das dauerte jedoch nicht lange. Auf einmal packte mich die Krabbe mit einer Schere am Schenkel und zerrte wütend daran. Rasender Schmerz durchfuhr meinen Körper, aber da machte mein bis dahin kraftloser Arm eine jähe Bewegung, und die Krabbe flog, von meiner Hand weggefegt, wie ein Geschoß durch die Luft und zerschellte
mit einem Knall an der Grottenwand. Aus der Rißwunde am Schenkel quoll Blut, aber gleichzeitig wich auch meine Kraftlosigkeit. Wahrscheinlich hatte der Organismus, durch Krankheit und langes Fasten erschöpft, irgendeines kräftigeren Ansporns bedurft, um aus seiner Lethargie aufzuwachen und von neuem den Willen zum Leben zu bekommen. Mühsam, immer wieder ausruhend, wälzte ich mich von meinem Lager und kroch auf allen vieren zu der Muschel, die mein Trinkwasser enthielt. Aber leider war die Muschel leer. Ich hatte das Wasser anscheinend während des Fiebers ausgetrunken. Wieder strengte ich alle meine Muskeln an und kroch vorwärts, trotz der reißenden Schmerzen in Schenkel und Schultern. Schließlich hatte ich den Grottenausgang erreicht. Einen Moment blendete mich der grelle Glast der Sonnenstrahlen, die vom Korallensand zurückprallten, und Atemlosigkeit zwang mich zum Rasten, bald aber gewöhnten sich die Augen an die Helligkeit, und die Lungen sogen die frische, von einer leichten Brise gekühlte Luft ein und begannen wieder ruhiger zu atmen. In der Nähe des Grotteneingangs standen mehrere Tridacnamuscheln, die ich aus meiner einstigen Hütte hierhergezogen hatte. Während der Regenperiode füllten sich diese Muscheln mit Wasser. Anscheinend hatte es jedoch während meiner Krankheit nicht geregnet, denn zwei Muscheln waren ganz leer, und nur die dritte, von einem Hibiskusstrauch beschattet, enthielt auf dem Boden einige Liter Wasser. Ein kranker und durstiger Mensch überlegt nicht, was
er tut. Ich bedachte nicht, daß mein Wasservorrat erschreckend klein war und ich nicht wußte, wann ihn der Regen auffüllen werde. Ich hatte nur den sehnlichen Wunsch, meine fiebertrockenen Lippen mit Wasser zu benetzen. Ich beugte mich daher über die Muschel, tauchte die Lippen ein und trank in langen Zügen das heilsame Naß. Das Wasser war warm und hatte einen unangenehmen Fäulnisgeruch, aber dennoch floß mit jedem Schluck neues Leben in meine Adern. Die Genesung dauerte über einen Monat. Weil ich mich gut ernährte und in dieser Zeit meine Kräfte schonte, wurde ich ziemlich rasch gesund. Zusammen mit der Gesundheit kehrte auch die Lebensfreude zurück, obwohl ich zugeben muß, daß meine Einsamkeit mir immer beschwerlicher, ja geradezu unerträglich wurde. Als ich mich schon verhältnismäßig wohl fühlte, machte ich mich an das Gerben der Rochenhaut. Zur Herstellung von Gerbstoff benutzte ich die Rinde eines der Mimose ähnlichen Strauches. Vom Gerben verstand ich nicht viel, hatte mir aber aus meinen Kinderjahren gemerkt, wie ein Nachbar meines Vormundes, ein ehemaliger Gerbergeselle, das Fell auf die sogenannte „Waschbüttenart“ gerbte. Ich besaß freilich keine Waschbütten, dafür aber die riesigen Tridacnamuscheln, die ich für diesen Zweck benutzten konnte. Ich weichte also die ausgetrocknete Haut zuerst im Wasser ein, reinigte sie gehörig und tat sie in eine Lösung aus Holzasche. In dieser Lösung lag die Haut fast eine Woche, danach ließ sich die schleimige Oberhaut mit einem Holzmesser leicht abkratzen. Um die
Haut von den Aschenresten zu säubern und sie weich und geschmeidig zu machen, legte ich sie in eine sämige Flüssigkeit aus Guano, der bekanntlieh alkalische Elemente enthält. Nach diesem „Ausbeizen“ war die Haut fertig zum Gerben. Ich goß in mehrere wassergefüllte Tridacnamuscheln verschieden große Mengen eines vorher zubereiteten Extraktes aus kleingeschnittener Mimosenrinde und legte dann die Haut nacheinander aus einem schwächeren Bad in ein immer stärkeres. Der Gerbprozeß dauerte drei Monate, aber das Leder war nach dem Trocknen und gründlichen Durchwalken so weich, daß man daraus nicht nur Blasebälge, sondern sogar Kleidungsstücke hätte anfertigen können. Ich war bereits wiederhergestellt, denn meine Wunden auf dem Rücken vernarbten, die Haut am Handgelenk, die mir bei der denkwürdigen Rochenjagd von der Harpunenleine abgeschürft worden war, hatte sich neu gebildet, und auf dem Schenkel blieb lediglich eine große Narbe zurück, das Andenken an die Kadaverfresser-Krabbe. Während der Krankheit hatte sich jedoch eine gewisse Wandlung in meinem Wesen vollzogen. Ich hörte auf, vor Erinnerungen Angst zu haben, und brauchte mich nicht müde zu arbeiten, um sie zu verscheuchen. Sie waren jetzt nicht mehr eine Qual, sondern sogar eine Linderung meines Einsiedlerlebens. Mich verdroß nur, daß ich nicht wußte, was in der Welt geschah. War der Krieg zu Ende? Was mochte jetzt in Polen geschehen? Was in Neuseeland? Ob jemand von meinen Freunden noch lebte?
Wie jeder Kulturmensch interessierte auch ich mich für dag Weltgeschehen. Früher hatte ich mir einen Tag ohne Zeitungen, ohne Radionachrichten nicht vorstellen können. Jetzt war ich allein. Alle Verbindungen mit den Menschen waren zerrissen. Die Regenperiode und die schweren Sommerstürme gingen vorüber. Als die Tage schöner wurden, begann ich meine Arbeit am Boot. Der aus der Rochenhaut gemachte Blasebalg erwies sich als ein geradezu unschätzbares Werkzeug. Die Arbeit ging rasch vorwärts. Bis zum Ende der Trockenzeit war ich mit dem Abbrennen und Behauen der beiden Seiten fertig; ich hatte also noch den Klotz auszuhöhlen. Nach Eintritt der nächsten Regenzeit verbrachte ich den größten Teil des Tages in der Grotte mit Haushaltsarbeiten. Abends saß ich am Feuer und spielte Spinnerin. Es war eine hoffnungslos langweilige aber unbedingt notwendige Arbeit. Ohne Garn erhielt ich doch keine Leinwand für ein Segel und ohne Segel hätte mein Boot auf dem offenen Ozean keinen Wert! Ich spann also ausdauernd, und die Garnwinden wurden mit jedem Tag dicker. Sobald die schönen Tage kamen, arbeitete ich wieder am Einbaum und war gegen Mitte der Trockenperiode mit dem Aushöhlen des Bootes fertig. Mit Hilfe eines Flaschenzuges zog ich den Einbaum bis an den Strand auf die vorbereiteten Walzen aus Palmstämmen, auf denen das Boot nun leicht in die Lagune hinunterzuschieben war. Ich konnte mir das Vergnügen nicht ver-
sagen, den Einbaum sofort auszuprobieren, obwohl noch der Seitenschwimmer fehlte. Das Boot hielt sich gut auf dem Wasser, war aber ziemlich schwer zu manövrieren, denn ich hatte keine seiner Länge entsprechenden Ruder. Den Schwimmer stellte ich aus einem Puraubaum her. Er war verhältnismäßig schwer, hielt aber das Gleichgewicht des Einbaums vortrefflich. Ich setzte Pflöcke in den Schwimmer ein und band daran später das Gerüst der Plattform fest. Die meisten Sorgen hatte ich mit dem Mast. Auf keiner Insel meines Atolls befand sich ein so hoher, dünner und elastischer Baum, wie ich ihn für diesen Zweck brauchte. Das Behauen eines Kokospalmstammes hätte ungemein viel Schwierigkeiten bereitet und sehr lange gedauert; darum entschied ich mich für einen Pandanus. Freilich hatte ich auch damit genug Scherereien, denn ich mußte die vielen Luftwurzeln abhauen, auf denen erst in etwa zwei Meter Höhe über der Erde der Stamm steht. Dann beseitigte ich die Auswüchse, entrindete und glättete den Stamm und zog ihn schließlich an den Strand. Den Mast in die Plattform einzusetzen, war auch nicht leicht. Nach vielen mißglückten Versuchen beschloß ich, einen hohen Dreifuß zu bauen, den Mast mit Hilfe des Flaschenzugs hochzuheben und ihn dann in das vorbereitete Loch in der Plattform hinunterzulassen.
Alle diese Hilfsvorrichtungen waren sehr zeitraubend und beanspruchten viel Kraft. Was hatte ich zum Beispiel allein schon für Mühe, den Dreifuß aufzustellen! Um die ungeheuer schweren Palmstämme hochheben zu können, mußte ich mehrere Winden bauen, tief in den Strand eingraben und mit großen Korallenblöcken stützen. Manchmal kehrte ich von der Arbeit so ermattet zurück, daß ich nicht einmal zu Abend aß, sondern mich auf mein Lager warf und sofort in bleischweren Schlaf fiel. Als ich endlich alle Schwierigkeiten überwunden hatte und mein Schiff, mit einem Mast versehen, vom Stapel lief, empfand ich Freude und Stolz. Ich hatte doch alles mit meinen eigenen Händen gemacht, ohne jemandes Hilfe! Die ganze folgende Regenperiode verbrachte ich am Webstuhl. Ich webte ein Segel, eigentlich lange, einen halben Meter breite Bahnen, die ich später aneinandernähte. Das Gewebe war verhältnismäßig dick, dafür aber auch fest. Ich arbeitete rastlos. Ich saß nun schon das fünfte Jahr auf diesem menschenleeren Atoll und wollte endlich fort und zu den Menschen zurückkeh-
ren. Wie sehr sehnte ich mich danach, mit jemandem zu lachen und Menschengesichter um mich her zu sehen! Ich wollte doch wissen, was in der Welt geschah, wollte am Leben der menschlichen Gesellschaft teilnehmen und für sie arbeiten. Auf meinem Atoll war ich völlig verwildert. Ich besaß keine Kleidung, ging also nackt, denn die Shorts, die ich mir einst aus Pandanusfasergewebe genäht hatte, waren völlig zerfetzt. Die Schuhe waren längst zerrissen, also ging ich barfuß und verletzte mir häufig die Füße an den scharfen Korallen. Meine langen Haare waren ebenso wirr wie der Schopf eines Papua, und ein Vollbart bedeckte mein Gesicht. Anfangs hatte ich mich mit meinem Jagdmesser rasiert, später ließ ich es jedoch sein, weil das in der Wirtschaft benutzte Messer stumpf geworden war und sich zum Bartschneiden nicht mehr eignete. Wenn ich mitunter mein Spiegelbild im klaren Wasser sah, wandte ich mich voll Mißbehagen ab. Endlich war das Segel fertig. Die Trockenzeit hatte begonnen, eine leichte Brise forderte geradezu auf, in die Lagune hinauszufahren. Ich belud mein Schiff mit Nahrungsmitteln und Wasser, nahm Harpunen, Reusen und Angeln sowie den Feuerbohrer und einige trockene Brettchen mit und lief aus der Bucht aus. Obwohl ich im Segeln auf offener See Erfahrung hatte, war für mich das Manövrieren eines mit einem Schwimmer ausgestatteten Bootes gar nicht so einfach. Das Schiff lag gut auf dem Wasser, schwamm leicht und schnell, aber nicht dorthin, wohin ich wollte. Ich kreiste daher stundenlang auf der Lagune und beobach-
tete genau das Verhalten des Bootes bei verschiedenen Einstellungswinkeln des Segels. Nachdem ich einige Tage auf der Schildkröten- und der Feuerinsel zugebracht und mir ein langes Ruder angefertigt hatte, das mir als Steuer dienen sollte, fuhr ich auf der Lagune direkt nach Süden. Diesen Teil des Atolls kannte ich nur sehr oberflächlich, aber vielleicht befand sich gerade hier die von mir gesuchte Verbindung der Lagune mit dem Ozean. Daß eine solche Verbindung vorhanden sein mußte, darauf wiesen die verschiedenen großen Seetiere hin. In der Lagune hielten sich zum Beispiel keine Delphine auf, aber zu bestimmten Jahreszeiten zeigten sie sich scharenweise und verschwanden nachher wieder. Der Südrand des Atolls war eine einzige riesengroße Untiefe. Hinter dieser Untiefe erstreckte sich ein breites Feld von Korallenfelsgruppen, und in der Ferne leuchtete weiß die Barriere, von der das gedämpfte Rauschen des Ozeans herüberdrang. Ich sah keine Möglichkeit, die Korallenfelder zu durchqueren, denn das Wasser war dort zu flach. Die zahlreichen, auf dem Boden kriechenden Seeskorpione, die langen behaarten Würmer, die Kolonien stacheliger Seeigel und Schlangensterne verlockten auch keineswegs dazu, barfuß einen Spaziergang zu unternehmen: ich verzichtete daher darauf, die Barriere von dieser Seite aus zu erreichen. Mehr nach Osten fahrend, geriet ich in ein Labyrinth von Kanälen und breiten Sunden. Auf diesen Kanälen trieb ich mich nahezu drei Wochen herum, doch das Suchen schien hoffnungslos zu sein. Inzwischen ging
mein Wasservorrat dem Ende zu, ebenso die Kokosnüsse. Fische hatte ich reichlich, ich sehnte mich jedoch nach Taros, nach einem Stück Vogelfleisch. Eines Tages, als ich bereits zur Grotteninsel zurückfahren wollte, hörte ich in der Nähe ein lautes Platschen. Ich wußte, daß es sorglos spielende Delphine sein mußten, und beschloß, auf diese Säugetiere Jagd zu machen. Um sie nicht vorzeitig zu verscheuchen, ließ ich das Segel herunter und fuhr in der Richtung des Plätscherns, das Schiff mit dem Ruder vorwärtsstoßend. Ich schob mich mühsam durch etliche Seitenkanäle, gelangte in einen breiten Strom und hielt unmittelbar vor seiner Mündung in eine ansehnliche Bucht. Dort trieb eine ziemlich große Schar Delphine lustig ihre Possen; alle Augenblicke sprangen sie in mächtigen Bogen heraus und stürzten mit lautem Klatschen ins Wasser zurück. Die Tiere müssen sich völlig sicher gefühlt haben, denn sie waren mit ihrem Spiel so sehr beschäftigt, daß sie mich erst bemerkten, als ich bereits ganze nahe herangerudert war. Meine Harpune zischte durch die Luft und schlug tief in den Körper eines dicken Kalbes ein, das die Gefahr augenscheinlich nicht erkannt hatte und in schönem Bogen aus dem Wasser gesprungen war. Das getroffene Tier sperrte sein schnabelähnliches Maul weit auf, stieß einen eigenartigen durchdringenden Pfiff aus und fiel schwer in das aufschäumende Wasser, die Harpunenleine mit sich ziehend, an der ein Schwimmer aus Miki-Miki befestigt war. Die Bucht war von hohen Korallenfelsen umgeben
und hatte nur den einen Ausgang zum Strom. Die Delphine konnten demnach nur auf diesem Wege fliehen, und obwohl der Strom sehr tief war, mußte ich sie sehen, wenn sie an meinem Boot vorbeischwammen. Ich wartete geduldig eine Minute, zwei, fünf, zehn – aber von den Delphinen war keine Spur zu sehen. Ich bemerkte auch nirgends den Schwimmer aus MikiMiki, der, an einer verhältnismäßig langen Leine befestigt, doch aus dem Wasser hätte auftauchen müssen. Schließlich bekam ich das Warten über. Ich steuerte mein Schiff an die Umrandung der Bucht, befestigte es an einem Felsvorsprung und kletterte eine Geröllhalde hinauf. Bei dem Anblick, der sich mir oben bot, stockte mir der Atem. Das Geröll bildete das Vorfeld einer breiten Barriere, hinter der die unbegrenzte blaue Flut des Ozeans zu sehen war. Eine ganze Weile weidete ich mich an dem Anblick, dann überquerte ich die Barriere und blickte in die Tiefe. Unmittelbar neben der Barriere war so etwas wie eine lange, schmale Lagune, durch Felsenriffe gegen den Ozean geschützt. Plötzlich erblickte ich auf dem ruhigen Wasser dieser Lagune etwas Sonderbares: einen weißen Gegenstand, der meinem Harpunenschwimmer zum Verwechseln ähnlich sah. Dieser Gegenstand bewegte sich von Zeit zu Zeit wie von einem unsichtbaren Faden gezogen. Dann wallte das Wasser jäh auf, und die spindelförmige Gestalt eines Delphins tauchte empor. Das Tier warf sich noch kurze Zeit in den letzten Zuckungen hin und her, drehte sich schließlich auf den Rücken und blieb liegen, den hellgelben Bauch nach oben gekehrt.
Vor Verblüffung faßte ich mir mit beiden Händen an den Kopf. „Wie kommt denn das?“ stieß ich hervor. „Die Bucht hat doch keinen Ausgang zum Ozean, und der Delphin kann nicht über die Barriere gesprungen sein! Auf der Welt gibt es doch keine Wunder…“ Plötzlich begriff ich es. Zweifellos führte aus der Bucht ein unterseeischer Weg hinaus, der den Delphinen, Haifischen, Rochen und anderen Meeresgeschöpfen gut bekannt war! Ich eilte von der Barriere, rutschte über das Geröll hinunter und gelangte zu meinem Schiff. Fieberhaft riß ich das Halteseil los, stieß das Boot ab und fuhr langsam am Rande der Bucht entlang. Plötzlich – ich umfuhr gerade einen ziemlich großen Felsvorsprung – spürte ich eine heftige Erschütterung. Das Schiff drehte sich, als sei es von einer starken Strömung oder von einem Strudel erfaßt worden, und schlug mit dem Schwimmer gegen den Felsen. Krachend platzten die Bänder, die das Balkengefüge der Plattform zusammenhielten, der Mast schwankte, neigte sich und blieb mit der Fallleine an einem vorspringenden Korallenriff hängen. Fast in demselben Augenblick löste sich die Plattform von dem Schwimmer, klatschte ins Wasser und kippte das Boot bedrohlich auf die Seite. Ich riß mein Messer aus der Scheide, zerschnitt schnell die Seile, die das Boot mit den Balken der Plattform verbanden, raffte das Segel zusammen und stieß mit dem Fuß die Balken ins Wasser. Das Boot richtete sich wieder auf, aber der Schwimmer und die Balken gerieten in eine für mich unsichtbare Strömung und ver-
schwanden hinter dem Felsvorsprung. Bei dieser Havarie verlor ich alles, was sich auf der Plattform befunden hatte: alle Harpunen, die Muschelbeile, die Hängematte und sonstiges Gerät. Mir blieben nur das Boot mit dem umgestürzten Mast und dem Segel, einige Kokosnüsse und das Zubehör zum Feuermachen. Bevor ich die Bucht verließ und mich auf die Rückreise begab, deckte die Ebbe den Durchgang von der Lagune zum Ozean vor mir auf. Es war eine Art Tor, dessen Gewölbe während der Flut unter Wasser lag. Bei tiefstem Wasserstand konnte ein Boot mit einem Schwimmer bequem hindurchfahren, allerdings ohne Mast. Diese Entdeckung entschädigte mich reichlich für den Verlust, den ich bei der Havarie erlitten halte. Auf der Rückfahrt zur Grotteninsel schmiedete ich einen Plan für mein weiteres Vorgehen. Zunächst mußte ich mich auf Schildkrötenjagd begeben, um die für Harpunen benötigten Knochen zu erbeuten. Sodann wollte ich das Boot für die Reise auf dem Ozean vorbereiten. Der Unfall mit dem Seitenschwimmer zeigte mir, daß ich die Plattform nicht stark genug zu befestigen vermochte und daß mein Schiff beim ersten Stoß gegen ein Felsenriff von neuem zerschlagen würde. Ich beschloß daher, statt eines Schwimmers einen Zwillings-Einbaum zu bauen und dann über beide Boote ein Deck zu legen, auf dem auch Platz für eine Hütte wäre. Mit Rücksicht auf das niedrige Torgewölbe in der Barriere mußte ich den Mast so anbringen, daß ich ihn herunterlassen konnte.
Der erste Teil meines Planes gelang über Erwarten gut. Bei der Feuerinsel fand ich auf einer Sandbank das Skelett eines großen Sägefisches. Der verlängerte knöcherne Oberkiefer, der einer zweiseitigen Säge ähnlich sieht, war über einen Meter lang. Ich mußte mich sehr abquälen, ehe ich ihn von dem Skelett abzureißen vermochte. Die Anstrengung lohnte sich aber reichlich, denn ich gewann ein ausgezeichnetes Material für Harpunen und andere Werkzeuge. Während ich mich damit herumquälte, die Säge vom Skelett abzureißen, trugen sich über der Schildkröteninsel seltsame Dinge zu. Mit entsetzlichem Geschrei kreisten dort Möwenschwärme, stürzten sich in die Tiefe und stiegen wieder hoch in die Luft. Jeder der sich emporschwingenden Vögel hielt im Schnabel ein sonderbares Etwas, das einem Frosch ähnelte. Eine Schar Fregattvögel fiel auf die gewohnte Weise über die Möwen her. Diese ließen ihre Beute fahren, und die Fregattvögel fingen sie blitzschnell auf. Die abstürzenden Geschöpfe drehten sich komisch in der Luft und sahen manchmal wie kleine Untertassen oder Scheiben aus. Sobald ich die Säge abgerissen hatte, begab ich mich auf die Schildkröteninsel. Da begriff ich, was die Möwen angelockt hatte. Über den Strand krabbelten Tausende und aber Tausende kleiner Schildkröten, die sich eben erst aus ihrem Pergamenthäutchen befreit und aus dem Sand herausgearbeitet hatten. Instinktiv begannen sie sofort ihre Wanderung zum Wasser. Wegen ihres noch weichen Panzers waren sie eine schmackhafte und leichte Beute für die Vögel, die schreckliche Ver-
heerungen unter ihnen anrichteten. Tausende der kleinen Schildkröten kamen durch die Vögel um, aber Tausende erreichten doch das rettende Wasser. Sie schwammen mit erstaunlicher Gewandtheit, konnten aber noch nicht tauchen, daher fischten die Möwen viele von ihnen heraus. Viele wurden auch von den Raubfischen gefressen, die sich hier in solchen Mengen eingefunden hatten, daß ihre ungestümen Bewegungen das Wasser zum Schäumen brachten. Die Nacht verscheuchte die Vögel und beendete wenigstens das von den Feinden aus der Luft angerichtete Gemetzel. In immer neuen Scharen kamen die kleinen Schildkröten aus dem Sand hervorgekrochen und wanderten dem Wasser zu, das ihr eigentliches Element ist. Ich blieb einige Tage auf der Insel, denn es gelang mir, eine Riesenschildkröte zu töten, die unvorsichtigerweise ziemlich weit auf den Strand gelaufen war. Bei der Zerlegung des Tieres stellte ich fest, daß es sich um ein Weibchen handelte, das hierher gekommen war, um Eier zu legen. Ich hatte daher mehrere Tage herrliches Rührei, denn ganz frische Schildkröteneier stehen Hühnereiern in nichts nach. Auf die Grotteninsel kehrte ich zurück mit einem großen Vorrat an geräuchertem Schildkrötenfleisch, einem ansehnlichen Bündel Knochen für Harpunen und einem Panzer von der Größe eines Troges. Für den Zwillingseinbaum wählte ich den Stamm eines Puraubaumes. Ich besaß im Herstellen eines Einbaumes bereits so große Erfahrung, daß die Arbeit schnell und reibungslos vonstatten ging. Eine ungeheure Hilfe war mir das Beil, das ich mir aus einem Teil
des Sägefischkiefers gefertigt hatte. Über diese Arbeit ging die Trockenzeit und danach die Regenperiode vorüber, und die nächste Trockenperiode brach an. Mein Schiff war nun fertig. Die Probefahrt fiel zufriedenstellend aus. Alle Bindungen hielten tadellos, und die mitunter starken Wellenschläge beschädigten sie nicht im geringsten. Ich durchkreuzte die Lagune mehrere Stunden. Schließlich kehrte ich in die Bucht zurück, und als ich das Schiff vor der Grotte verankert hatte, brach ich wie ein Kind in Tränen aus. Ich schäme mich nicht, es zu sagen. Ich weinte vor Freude, und diese Tränen brachten meinen Nerven Entspannung. Nach so vielen Jahren der Einsamkeit konnte ich endlich das Atoll verlassen. Begreift doch nur! Ich konnte fahren, wohin ich wollte, und vielleicht würde ich Menschen finden…! Empfindeleien liegen jedoch nicht in meiner Natur, deshalb ging ich bald wieder an die Arbeit. Ich bereitete die Pfähle und Sparren für die Hütte vor und sammelte Palmblätter für das Dach und für ein Lager. In das Deck hieb ich passende Löcher für die Pfähle der Hütte, um später auf dem Ozean keine Überraschungen zu erleben. Die beiden Einbäume füllte ich mit Kokosnüssen, und in einem auf dem Deck befestigten Korb brachte ich dicke Taroknollen unter. Ich verlud auch alle Werkzeuge, Harpunen, Seile, Reusen und Angelruten, die Hängematte, einen Vorrat Seife und trockene Späne, geräuchertes Schildkrötenfleisch, Wasser und überhaupt alles, was mir auf meiner langen Reise zustatten kommen konnte.
Dann nahm ich Abschied von der Grotte und der Insel – und verließ die Bucht. Vorher führte ich jedoch noch eine kleine Zeremonie durch: Ich besprengte mein Schiff mit Kokosmilch und gab ihm den Namen „Pfeil“. Zunächst steuerte ich zur Schildkröten- und zur Feuerinsel. Ich mußte doch auch von diesen beiden Eilanden Abschied nehmen, um so mehr, als ich dort meine erste Zuflucht gefunden hatte. Dann segelte ich nach Südosten. Im Kanallabyrinth der Korallenfelder fand ich schnell den Weg zu der Strömung. Hier verankerte ich den „Pfeil“ und wartete auf die Ebbe. Sie begann in sehr früher Morgenstunde. Sobald die Sonne aufgegangen war, riskierte ich es, mich von der Ebbeströmung führen zu lassen. Die Strömung trug mich von selbst unter das Torgewölbe. Das ging aber so schnell, daß ich mich gerade noch auf das Deck werfen konnte, um mir nicht an dem Gewölbe den Schädel einzuschlagen. Den Wind ausnutzend, entfernte ich mich immer weiter von der in der Sonne leuchtenden Barriere. Aber je kleiner die Umrisse des Atolls erschienen, desto trauriger wurde mir ums Herz. Fast sechs lange Jahre hatte ich auf diesem Fleckchen Erde im Kampf um mein Leben zugebracht. Mir hatten viele Dinge gefehlt, die für einen zivilisierten Menschen unentbehrlich sind, vor allem die Gesellschaft anderer Menschen – doch gerade der unnachgiebige Kampf um die Existenz verband mich mit dieser Koralleneinöde! Ich hatte das Atoll freiwillig verlassen und während vieler Jahre schwer gearbeitet, um von dort fortzu-
kommen. Aber jetzt ergriff mich eine sonderbare Wehmut, ein Leid um etwas, das unwiderruflich zu Ende war… Am folgenden Tag, fast zur Mittagszeit, sah ich am östlichen Himmelsstrich ein winziges weißes Wölkchen. Es stand unbeweglich an ein und demselben Fleck, was bei heiterem Wetter geradezu absonderlich war. Ich steuerte den „Pfeil“ nach Osten und beobachtete das Wölkchen aufmerksam. Je näher mein Schiff herankam, um so größer, um so breiter wurde es, bis es schließlich eine Kreisform annahm. Vor Aufregung bohrte ich fast die Fingernägel in das harte Holz des Steuerbalkens, und das Herz schlug mir in der Brust wie ein im Netz gefangener Fisch. Ich spürte, wie sich meine ausgetrocknete Kehle krampfhaft zusammenzog, und plötzlich entrang sich mir ganz unwillkürlich der Schrei: „Land! Land!“ Die kleine kreisförmige Wolke war der untrügliche Vorbote eines Atolls, und auf diesem Atoll mußten doch Menschen leben! Mir war, als kröche mein Schiff auf den Wellen wie ein Seestern auf einer Austernbank, und ich wollte doch am liebsten gleich den Fuß an Land setzen und den ersten besten Menschen, den ich traf, aus Leibeskräften umarmen. Endlich schimmerte am Horizont der blendendweiße Strich des Korallensandes und der schäumenden Wellen. Zwischen den Felsenriffen und einem spitzen lnselzipfel fand ich eine breite und bequeme Durch-
fahrt, die bei gutem Wetter bestimmt keinerlei Gefahr bot. Das Meer war jedoch stark bewegt, und ich hatte ziemliche Schwierigkeiten, hindurchzukommen. Als es mir schließlich doch gelang, traf mich die erste Enttäuschung. Die Lagune war völlig leer. Ich sah weder ein Fischerboot noch sonst ein Zeichen der Anwesenheit von Menschen. Bei den letzten Strahlen der untergehenden Sonne fuhr ich an der Inselküste entlang. Überall herrschte Öde. Die Insel war unfruchtbar, ohne Pflanzenwuchs, ohne Leben. In der immer dichter werdenden Dämmerung gelang es mir noch, eine kleine Bucht zu finden, in die ich mein Schiff hineinsteuerte. Dann trug ich einige Armvoll Kokosschalen ans Ufer und machte Feuer. Ich starrte jedoch vergeblich in die Dunkelheit. Nirgends tauchte als Antwort auf mein Signal ein Licht auf. Nur am Himmel blinkten unübersehbar viele Sterne, und das Kreuz des Südens funkelte mit diamantenem Glanz… Das Atoll bestand aus mehreren Inseln und Inselchen. Die flachen kleinen Eilande ragten nicht mehr als zwei bis drei Meter über dem Wasserspiegel empor. Die meisten von ihnen waren spärlich mit Büscheln braunen Grases und verkrüppeltem Unkraut bewachsen, und nur auf zwei größeren entdeckte ich mehrere armselige Pandanusbäume und etwa ein Dutzend sehr alter Kokospalmen. Jedoch verwunderte mich die riesige Menge leerer Perlmuschelgehäuse, die nicht nur einzeln verstreut auf dem Sande lagen, sondern auch in großen Haufen, als wären sie von Menschenhand ge-
sammelt. Das Atoll war menschenleer, und doch stieß ich hier auf Menschenspuren. Es war kein robinsonscher Fußabdruck im Sand, sondern eine aus Korallensteinen fest gefügte Unterkunft, die ganz bequem ein paar Menschen aufnehmen konnte. Auf dem sandigen Boden dieses Asyls standen einige Kisten mit vielen verschiedenen Gegenständen. Hier entdeckte ich einen guten eisernen Kochkessel, einige noch nicht benutzte Säcke für Kopra. Etliche eiserne Fischerpfeile für die Jagd, Ein flaches Stück Eisen, ein Stahlbeil und eine Rolle dickes Manilaseil. Daß ich diesen Schutzraum vorfand, verblüffte mich nicht, denn die Bewohner des Tuamotu-Archipels richten öfter auf unbewohnten Inseln Lager ein und lassen darin nicht nur die zur Ausbesserung ihrer Boote notwendigen Werkzeuge, sondern auch Lebensmittelvorräte zurück. Die Insel, auf der sich die Unterkunft befand, konnte gewiß niemand zur Kopraernte herbeilocken, das Dutzend alter, halb vermoderter Kokospalmen war völlig wertlos. Offenbar kamen aber manchmal Perlensucher her. Sie holten die Muscheln vom Boden der Lagune herauf, öffneten die Gehäuse, nahmen die Perlen mit und ließen die Muscheln zum Austrocknen auf dem Sand zurück. Später wurden die sauberen und gut ausgetrockneten Gehäuse gesammelt und als wertvoller Rohstoff für Perlmutt nach einem Sammelort gebracht und an Knopffabriken verkauft. Als ich so die Haufen sorgfältig gesammelter Muschelgehäuse betrachtete, fragte ich mich unwillkürlich, wo ich mich denn eigentlich befände. Ob mich
der Wind nicht allzuweit nach Süden abgetrieben hatte? Die Antwort war leicht zu ermitteln. Die wirklichen Perlen-Atolle sind ganz öde Korallenfelsen, auf denen lediglich armseliges Gras vegetiert. Sie befinden sich am südlichen Rande des Tuamotu-Archipels auf riesengroßen Sandbänken, die mit unzähligen Felsenriffen übersät sind. Das Atoll, wo ich mich jetzt aufhielt, war nicht ganz so arm an Pflanzenwuchs und ruhte nicht auf Sandbänken, denn die Außenufer der Inseln und die Riffbarrieren erhoben sich aus unermeßlichen Tiefen des Ozeans. Also lag es irgendwo an der Grenze zwischen den fruchtbaren, bewohnten und den unfruchtbaren, menschenleeren Inseln. Meine Lage war demnach nicht die schlechteste; würde ich nach Norden segeln, so besäße ich große Aussicht, auf Menschen zu stoßen. Jawohl, ich würde nach Norden segeln, aber zuerst wollte ich auf dem Atoll abwarten, bis der immer näher rückende Sturm vorüber wäre. Der Wind des vergangenen Tages hatte sich inzwischen zu einem Sturmwind entwickelt, die Luft wurde immer schwüler, und der Himmel überzog sich bei Sonnenuntergang mit einem schmutziggelben Nebel, durch den nur spärlich das Licht des verlöschenden Tages hindurchsickerte. Ich nutzte die noch leidliche Sicht aus und zog den „Pfeil“ ins seichte Wasser am sandigen Ufer der Insel. Dort machte ich das Schiff mit einigen Seilen an einem Palmenbaum fest, der dem Sturmwind tapfer Widerstand leistete. Die Nacht war stockfinster, kein Stern leuchtete. An-
scheinend hatten die Wolken den ganzen Himmel bedeckt. Die Luft wurde immer schwüler und machte mich sonderbar matt und schläfrig; sie kündete das nahende Gewitter an. Ich packte einige Lebensmittel in einen Korb und wanderte in die Schutzhöhle. Den Raum in Ordnung zu bringen und mir Essen zu kochen dauerte nicht lange. Danach breitete ich die Koprasäcke auf dem sandigen Boden aus und legte mich zur Ruhe. Lange Zeit lauschte ich dem düsteren Tosen der Wellen, die gegen die Felsenriffe und die steinige Küste der Insel schlugen, bis mich schließlich tiefer Schlaf überwältigte. Ich wurde von anhaltendem Getöse und Donnergepolter geweckt. Die dicken Wände bebten, und von dem kuppelförmigen Gewölbe fielen Sand und Kies herab. Tief am Himmel wälzten sich zerfetzte Haufen schwarzer Wolken dahin, alle Augenblicke zerrissen vom Zickzack der Blitze. Mitunter waren die elektrischen Entladungen so massenhaft, daß die ganze Himmelskuppel in blendend grellem Licht aufloderte. Dann verdeckte eine ungeheure Sturzflut die ganze Welt mit Wasserwänden. Der Wolkenbruch zog rasch nach Südwesten ab, der Sturmwind schlug jedoch mit verdoppelter Macht gegen das Atoll. Er fegte den Sand in Wolken von der Insel fort; oder er kreiste wie eine Windhose und riß ganze Haufen der angesammelten Muscheln in einem ungeheuren Trichter hoch und schleuderte sie mit so furchtbarer Kraft auf die Erde, daß sie zu Staub zermalmt wurden. Als ich das entsetzliche Heulen des Sturmwinds und das immer drohendere Getöse der Wogen hörte, fiel
mir plötzlich ein, daß ich seit meiner Landung auf diesem unfruchtbaren Atoll keinen einzigen Vogel gesehen hatte. Die Abwesenheit der geflügelten Geschöpfe war um so seltsamer, als ja die Inseln voll waren von Vogelspuren: Nester, Guano, Eierschalen und Federn. Sollten die Vögel den herannahenden Hurrikan etwa geahnt und deshalb das Atoll schon frühzeitig verlassen haben? Das Verschwinden der Vögel, die sich nicht einmal vor starken Stürmen fürchten, beunruhigte mich ernsthaft. Sollte es womöglich bedeuten, daß sich dieses Atoll auf dem Kurs des katastrophalen Orkans befand, den die Polynesier „metangi hurifena“ nennen, was in unserer Sprache wörtlich „erdumwerfender Wind“ heißt? Der in der Äquatorgegend entstehende „metangi hurifena“ konnte mit einer Geschwindigkeit bis zu etlichen zehn Meilen je Stunde dahinrasen und alles vernichten, was auf seinem Wege lag. Häufig bildeten sich dort, wo er auftrat, Wasserhosen. Sie versenkten Schiffe, schlugen Holzkutter in Trümmer und verödeten fruchtbare Inseln. Wie zur Antwort auf meine beunruhigende Frage wurde die Wucht des Sturmes so gewaltig, daß die dikken Wände des Schutzraumes schwankten und zitterten. Durch das schreckliche Gebrüll des Hurrikans und durch den mächtigen Donner der Wogen vernahm ich ein trockenes Bersten über meinem Kopf, und große Korallenklumpen stürzten mit dumpfem Aufprall neben mir in den Sand. „Die Decke fällt ein!“ schrie ich und sprang, ohne zu bedenken, was mich draußen erwartete, aus dem
Schutzraum hinaus. Die furchtbare Wucht des Sturmes warf mich zu Boden und drückte mir die Kehle zu. Dann überschlug ich mich in der Luft und stieß gegen etwas Hartes. Eine Sekunde lang spürte ich entsetzliche Schmerzen am Kopf, dann versank alles in ein Nichts. Ich muß wohl lange bewußtlos gelegen haben. Als ich endlich die Lider aufschlug, blendete mich der Glanz der Sonnenstrahlen, die sich durch den Vorhang zerrissener Wolken hindurchstahlen. Ich schloß die Augen, genoß die Sonnenwärme und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es fiel mir nicht leicht. Im Kopf fühlte ich eine dumpfe Leere, an der linken Schläfe spürte ich so unerträgliche Schmerzen, als wollte mir der Schädel platzen. Plötzlich schoß mir ein wunderlicher Begriff durch den Kopf, der sich wie eine lästige Fliege in meinem Bewußtsein festsetzte: „metangi hurifena“. Was war das? Was bedeuteten diese sonderbaren, einst irgendwo aufgefangenen Worte? Ach ja! erinnerte ich mich. „Metangi hurifena“ ist doch der „erdumwerfende Wind“. Der Taifun. Der Hurrikan. Derselbe Hurrikan, der… Und jetzt erst drang das grauenvolle Brüllen des Ozeans an mein Ohr, und gleichzeitig zeichneten sich unter meinen geschlossenen Lidern die Ereignisse der letzten Nacht mit ungewöhnlicher Klarheit ab: das niederstürzende Gewölbe im Schutzraum, der Sprung in die Finsternis, das Fortgeschleudertwerden durch den Sturmwind und dieser entsetzliche Aufschlag, der mir das Bewußtsein raubte…
Nach Anstrengungen, die einer wahren Tortur glichen, gelang es mir endlich, mich zu setzen. Der Sturm hatte mich auf eine große Sanddüne geschleudert, die er am Ufer der Lagune zusammengeweht hatte. Mit dem Kopf war ich gegen einen Korallenklumpen geprallt, der locker im Sand lag. Wäre ich auf einen fest im Boden steckenden Felsen geschlagen, so hätte das für mich den Tod bedeutet. Ich war am ganzen Körper so lahm geschlagen, zerkratzt und verletzt, daß mir jede Bewegung unbeschreibliche Qualen bereitete. Diese Leiden wurden noch durch den scharfen Sand gesteigert, der in jede Wunde gedrungen war und ein unerträgliches Stechen und Brennen hervorrief. Ich biß aber die Zähne zusammen, kroch auf allen vieren vorwärts und erkletterte den nächsten Korallenhügel. Ich blickte nach vorn… und erstarrte vor Entsetzen! Mein Schiff in der Lagune war weg. Verschwunden war auch die Palme, an der ich es festgemacht hatte. Dort, wo der Baum gestanden hatte, toste jetzt Wasser. Obwohl der Verlust des Schiffes mich furchtbar traf, war ich auch von dem Anblick der Lagune erschüttert. Die Felsenriffe, die im Norden die Lagune gegen den Ozean geschützt hatten, waren völlig verschwunden. Ein riesiger Strom voller Strudel und Wirbel wälzte sich heran, bald aufwallend wie kochendes Wasser, bald riesige Fontänen hochschleudernd, die mit schrecklichem Getöse herunterstürzten und Fetzen schwammigen Gischtes weithin verspritzten. Ich wollte ein größeres Blickfeld haben und versuchte aufzustehen. Die Beine versagten mir. Ich schwankte
und fiel auf die Knie. So quälte ich mich lange, endlich aber überwand ich die Schwäche der Glieder und erhob mich. Am anderen Ende der Insel hatten die ungeheuren Wogen des Ozeans die schwache und niedrige Korallenfelsbarriere zerschlagen und sich ein Flußbett ausgehöhlt. Nun wälzten sich die Wassermassen über die Insel und flossen in die Lagune. Der Fluß vergrößerte sich mit jedem Augenblick; binnen kurzem hatte er sich in einen rasenden Strom verwandelt, der fast die Hälfte der Insel überflutete und auch die andere Hälfte zu überschwemmen drohte. Auf der Insel gab es keinen einzigen Baum mehr. Verschwunden waren alle Kokospalmen, verschwunden auch die armseligen Pandanusbäume, die sich doch mit ihren zahlreichen Luftwurzeln kräftig im Boden festhielten und selbst den stärksten Stürmen erfolgreich trotzen konnten. Vergeblich suchten meine Augen den steinernen Schutzraum. An der Stelle, wo der Bau unlängst noch gestanden hatte, lag jetzt ein Haufen Korallentrümmer. Das Atoll war dem Untergang geweiht. Alles hatte der Ozean vernichtet, zerschlagen, verschlungen! Wie lange konnte sich dieser schmale Inselstreifen, der jetzt mein letzter Zufluchtsort war, noch halten? Eine Stunde? Zwei? Oder einen halben Tag? Auf alles gefaßt, wählte ich eine tiefe Spalte zwischen den Hügelfelsen und bettete mich bequem auf den dorthin verwehten Sand. Ich war so erschöpft, daß mir gleichgültig war, wann das Ende käme. Ich wußte ja, daß ich nicht über den Ozean schwimmen konnte…
Der Hurrikan stürmte von neuem gegen das Atoll los, diesmal jedoch von Süden her. Ich weiß nicht, wie lange er dauerte, denn ich verlor bald alle Orientierung. Immer wieder stürzten Wassermassen in meine Felsenspalte, betäubten mich völlig und nahmen mir den Atem. Instinktiv, aus Selbsterhaltungstrieb, krallte ich die Finger in die porösen Wände der Korallenfelsen und hielt mich halb bewußtlos daran fest. Als sich alles endlich soweit beruhigt hatte, daß meine gequälte Lunge tief Atem schöpfen konnte, öffnete ich die mit Salz verklebten Lider und sah zum Himmel auf. Hoch oben funkelten die Sterne in so starkem Glanz, wie man ihn nur aus heiteren tropischen Nächten kennt. Der Hurrikan war vorüber. Oder sollte es wieder die Stille vor einem neuerlichen Angriff der Elemente sein? Auf diese Frage konnte ich keine Antwort mehr finden, denn mich überfiel eine so mächtige Schläfrigkeit, daß sich in ihr alles verwischte. Ich war mir über die Entsetzlichkeit meiner Lage völlig im Klaren, aber sollte ich deshalb die Hände in den Schoß legen und bittere Tränen weinen? Sollte ich meinen „Leichtsinn“ verdammen, der mich das bezaubernde und fruchtbare Atoll auf der Suche nach Menschen verlassen hieß? Oder sollte ich mir etwa wegen des verlorenen Schiffes die Haare raufen? Gewiß war der Verlust sehr schmerzlich. Aber was geschehen war, gehörte der Vergangenheit an. Ich mußte leben, mich den neuen Daseinsbedingungen anpassen und neue Kräfte und Erfahrungen für den weiteren Kampf sammeln! Meine Lage war schlimm, aber im Grunde…
nicht die schlimmste. Ich hatte das Stahlbeil und einige Fischerpfeile wiedergefunden, konnte mir also Nahrung beschaffen. Auch war der eiserne Kessel ganz geblieben, der mir zunächst zum Kochen meines Essens diente und den ich später, wenn das Trinkwasser in den Tümpeln auf der Insel verdunstete, in einen Destillationsapparat verwandeln wollte. Der Ozean warf Holzstücke und Bretterteile auf die Insel, vielleicht würde er auch einmal einen größeren Klotz anschwemmen, aus dem ich mir ein Floß machen könnte. Ich durchforschte alle Felsenspalten der äußeren Küste und holte alles Holz heraus. Es war außerordentlich viel, und neben zerbrochenen Ästen von Purau, Pukatea und Miki-Miki fand ich auch einige Bohlen, die an Teile eines großen Seebootes erinnerten. Etwas weiter lag auf den Korallenriffen eine entwurzelte Kokospalme. Nachdem ich mit einem Fischerpfeil einen etliche Pfund schweren Seebarsch erlegt hatte, machte ich neben den Trümmern des Schutzraums Feuer, um in der heißen Asche meine Beute zu braten. Als ich aufstand, um etwas trockenes Holz zu holen, sah ich plötzlich am Horizont einen schwarzen Gegenstand, der sich auf den Wellen auf und ab bewegte. Zunächst dachte ich, es sei ein riesiger Rochen, der mit seinem mächtigen Körper auf das Wasser schlägt, um die Fische zu betäuben, bald jedoch erkannte ich meinen Irrtum. Mit einigen Sätzen erreichte ich das Ufer und kletterte auf das höchste Felsenriff. Aufmerksam beobachtete ich die Bewegungen des sonderbaren Gegenstandes, der sich mal hoch oben auf den Wellenkäm-
men zeigte, mal in den tiefen Mulden verschwand. Die Luft war erstaunlich klar, so konnte ich denn trotz der großen Entfernung die Umrisse gut unterscheiden. „Das ist doch ein Boot!“ rief ich aus. Ein Boot, das auf den Wellen treibt, denn man sieht keine Menschen darin! Das Boot schwamm parallel zur Insel und verriet nicht die geringste Neigung näher zu kommen. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommen will, wird eben der Prophet zum Berge schwimmen, sagte ich mir lachend. Der Ansturm der Brandung war stark; ich paßte daher den Moment ab, wo sich eine Welle wieder zurückzog, und glitt auf ihr wie auf einer Rutschbahn ins Meer hinein. Vor der nächsten Welle tauchte ich und ruderte dann schließlich mit aller Kraft vorwärts. Je näher ich an den merkwürdigen Gegenstand kam. um so größer wurde mein Erstaunen. Ist das ein Boot? Nein! Oder etwa ein Floß? Auch nicht! Als ich schon ziemlich nahe heran war, verschwanden alle Zweifel: Vor mir auf den Wellen schaukelte ein großes Rettungsschlauchboot. Ich war derart ermattet, daß ich längere Zeit keine Kraft fand, mich auf das Schlauchboot hinauf zu arbeiten. Als ich mich schließlich etwas verschnauft hatte, mich an den Seilen hochzog und in das Boot hineinsah, war ich so verblüfft, daß ich beinahe wieder ins Wasser gefallen wäre. In einer Ecke zwischen den wulstigen, mit Luft gefüllten Schlauchborden lag eine Frau! Sie war um die Hüllen an einem Sicherungsgurt festgeschnallt, einen ebensolchen Gurt hielt sie in ihren
krampfhaft zusammengeballten Händen. Ich kletterte schnell in das Boot, schnallte den Gurt ab, drehte die Frau mit dem Gesicht nach oben und fühlte ihren Puls. Er schlug nur sehr schwach, so schwach, daß ich ihn kaum spüren konnte. Die Frau war ohnmächtig, aber ein kleiner Lebensfunke glimmte noch in ihr. Ich bettete die Schiffbrüchige bequem auf den Boden des Bootes und suchte dann alle Aufbewahrungsstellen durch, von denen es in diesen Rettungsbooten eine Menge gibt. In den Taschen, die an der Innenseite der Bordwand angebracht sind, befindet sich gewöhnlich ein für mehrere Tage berechneter Vorrat an Trockenproviant. Ebenso sind Verbandzeug und eine kleine Apotheke mit den notwendigsten Instrumenten vorhanden. Ich fand nur einige Tafeln Schokolade, etwas Verbandzeug, Schere, Pinzette und ein Pulver. Das Boot hatte zwei Ruder. Während der verhältnismäßig langen Fahrt zur Insel beobachtete ich die bewußtlose Frau und bemühte mich, aus Gesicht und Kleidung irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Das kleine, ovale Gesicht mit den regelmäßigen Zügen hatte eine schön gewölbte Stirn und einen hübsch geschnittenen Mund, obwohl die fest zusammengepreßten Lippen von Eigensinn, ja sogar von Kratzbürstigkeit zeugen konnten. Nach der Haarfarbe zu urteilen, gehörte die Frau zu einem der nordischen Völker. Sie konnte Engländerin, Schwedin oder Norwegerin sein, natürlich auch Polin, denn dieser aschblonden Haarfarbe begegnet man in Polen häufig. Aber wie sollte denn eine Polin an dieses vergessene Ende der
Welt kommen? Die Frau mochte neunzehn bis dreiundzwanzig Jahre alt sein, war schlank, schmächtig, aber schön gewachsen und machte den Eindruck einer sportlichen und mutigen Person. Am linken Handgelenk trug sie am goldenen Armband eine Amerikanische Präzisionsuhr, was wiederum die Vermutung zuließ, daß ich eine Amerikanerin vor mir hatte. Mittlerweile waren wir in der Lagune angelangt, und als wir die Insel erreicht hatten, sprang ich aus dem Boot und zog es ans Ufer. Danach lief ich zu meinem Lagerplatz, scharrte Sand zu einer Liegestatt zusammen, bedeckte ihn mit Koprasäcken und brachte die noch immer bewußtlose Frau auf dieses Lager. Dann holte ich Wasser aus einem der kleinen Teiche und benetzte der Kranken das Gesicht. Man kann sich leicht vorstellen, welche Freude ich empfand, als die Kranke plötzlich seufzte und ein wenig den Mund öffnete. so daß ihre ebenmäßigen Zähne zu sehen waren. Ich schlug sofort eine Kokosnuß auf und hielt die Schale voll kühler belebender Flüssigkeit an die Lippen der Frau. Die ersten Tropfen rannen ihr aus den Mundwinkeln aufs Kinn herab, dann verschluckte sie sich, aber im nächsten Augenblick bekam sie schon etwas Kokosmilch mühelos hinunter. Die Lider der Kranken zuckten und öffneten sich ganz langsam wie mit großer Anstrengung. Zwei große blaue Augen sahen mich an, noch mit einem Schleier von Geistesabwesenheit verhangen. Nach und nach aber kam Leben und Glanz in die Augen, erst spiegel-
ten sie ungemeine Verwunderung wider und dann Entsetzen. Ich lächelte die Kranke an und sagte auf Englisch: „Nun, wie geht es Ihnen? Haben Sie bitte keine Furcht, es droht Ihnen nichts mehr!“ Außer deutlicher Angst bemerkte ich jetzt in den Augen der Frau etwas wie tiefes Nachsinnen. Sie antwortete mir jedoch mit keinem Wort, deshalb wiederholte ich meine Frage in französischer Sprache. Wieder erhielt ich keine Antwort, aber über die Lippen der Kranken huschte ein winziges Lächeln des Staunens und eines leisen Unglaubens. Ich schlug eine neue Nuß auf und fragte die Kranke in der Zeichensprache, ob sie noch trinken möchte. Als sie es durch ein Kopfnicken bejahte, schob ich ihr einen Arm unter den Rücken, richtete sie ein wenig auf und hielt ihr die Schale an die Lippen. Sie trank die süßliche Kokosmilch mit solcher Hast, als habe sie Angst, ich könne ihr dieses belebende Naß wegnehmen. Dann erklärte ich ihr in der Gebärdensprache, daß ein Kranker so viel Flüssigkeit auf einmal nicht zu sich nehmen dürfe, weil es ihm leicht schaden könne, steckte ihr jedoch ein Stück Schokolade in den Mund. In dem Moment malte sich in ihren Augen eine so unvorstellbare Verblüffung, daß ich beinahe laut aufgelacht hätte. Mit Freude bemerkte ich nun auch, daß der Schrecken, mit dem sie mich bis dahin angesehen hatte, spurlos verschwunden war. Gleich darauf erlebte ich eine so große Überraschung, daß ich einfach meinen Ohren nicht trauen wollte. Denn siehe, mein
Schützling sagte mit schwacher, aber wohlklingender Stimme: „Muchas gracias, Senor!“ Damals kannte ich die spanische Sprache noch nicht, aber diese Worte verstand ich. Sie bedeuteten: „Vielen Dank, mein Herr!“ Das „Senor“ hatte sie mit einem gewissen Zögern gesagt, und unter normalen Umständen hätte es einen beleidigenden Nebenklang gehabt, ich nahm es aber nicht übel. Wie hätte ich mich denn auch ärgern können, da ich doch nun endlich eine Menschenstimme hörte! Auf diesen Augenblick hatte ich sechs Jahre gewartet! Ich war so glücklich, daß ich vor Freude am liebsten getanzt und geschrien hätte; da ich die Frau aber nicht erschrecken wollte, drückte ich ihr die ganze Tafel Schokolade in die Hand, trug alle Kokosnüsse heran und legte sie ihr neben die Beine. Ich machte ihr aus Ästen und Brettern eine Rückenstütze, damit sie bequem in halbsitzender Stellung ruhen könne, und deckte sie mit Säcken zu. Danach lief ich mit Fischerpfeilen zu den Klippen. Die Sonne stand schon tief im Westen, als ich Feuer machte und die erbeuteten Fische in der heißen Asche briet. Die Schiffbrüchige schlief. Ich dachte über die neue Lage nach. Höchstwahrscheinlich war die Fremde an schwere Lebensbedingungen nicht gewöhnt. Mit ihr auf diesem unfruchtbaren Atoll zu bleiben und zu warten, bis eventuell Perlensucher hierherkämen, hatte keinen Sinn. Das Trinkwasser ging zur Neige, und es war schwerlich anzunehmen, daß die Wellen des Ozeans ständig Kokosnüsse auf die Insel schwemmen
würden. Die einzige Nahrung konnten hier nur Fische, Krebse und verschiedene Muscheln sein, aber würde die zarte Frau eine solche Kost vertragen? Der appetitanregende Geruch der gebratenen Fische unterbrach meine Überlegungen. Ich war hungrig wie ein Hai, denn seit dem Morgen hatte ich keinen Bissen im Munde gehabt. Mit einer wahren Wonne grub ich daher die Zähne in das duftende, lockere Fleisch der Makrele, die ich aus der Asche gezogen hatte, und aß mit hemmungsloser Gier. Plötzlich drang an mein Ohr ein sonderbarer, schon lange nicht gehörter Laut. Ich sah zu der in der Nähe schlafenden Frau hin – und die Hände sanken mir mitsamt dem Fisch kraftlos herunter. Die Fremde schlief nicht mehr, sondern starrte mich mit tränenden Augen an… und schien vor Lachen direkt zu ersticken! Sie ist verrückt geworden, schoß es mir in den Sinn, aber der völlig geistesgegenwärtige Gesichtsausdruck der Lachenden widersprach dieser Vermutung. Da packte mich eine solche Wut, daß ich plötzlich polnisch hervorstieß: „Was grinst du denn, du baskischer Halbteufel?“ Und was dann geschah, war einfach unbeschreiblich. Die Frau schnellte hoch, setzte sich auf und starrte mich einen Moment in höchster Verblüffung an. Dann strahlten ihre Augen. Sie lächelte, und ich hörte wieder ihre weiche Stimme: „Ah… Sie… Sie sind auch Pole?“ Ich bin sonst ein ruhiger, beherrschter Mensch, und man kann mich nicht so leicht aus der Fassung bringen, aber als ich an diesem Abend auf der Koralleninsel den Klang der polnischen Sprache hörte, hätte nicht viel
gefehlt und ich wäre zu einer Salzsäule erstarrt! Die Verblüffung war so überwältigend, daß mir der Bratfisch aus den Händen rutschte und ins Feuer fiel. Gewiß ist auf der Welt alles möglich, aber wahrscheinlich hätte weder das Heulen einer Schiffssirene an der Inselküste noch ein in der Lagune niedergehendes Flugzeug mich so überwältigt wie diese paar Worte. Diese paar Worte in polnischer Sprache, auf einem einsamen unfruchtbaren Atoll, verloren in der unermeßlichen Einöde des Stillen Ozeans am äußersten Ende der Welt! Ich muß wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn die Frau sah mich aufmerksam an, beugte sich ein wenig zu mir vor und fragte mich mit sorgenvoller Stimme, wieder polnisch: „Was haben Sie? Was ist mit Ihnen?“ Diese Frage brachte mich wieder zur Besinnung und überzeugte mich, daß die Stimme Wirklichkeit und nicht eine Sinnestäuschung war. Ich schnellte vom Feuer hoch, sprang zu der Frau, faßte sie ungestüm bei den Händen und rief: „Wer sind Sie? Wo kommen Sie her?“ Der Druck meiner Finger muß wohl sehr stark gewesen sein, denn die Frau stöhnte auf und befreite mit einem kurzen Ruck ihre Hände. Die bleich gewordenen Handgelenke reibend, sah sie mich einen Augenblick wie einen ungehobelten Wilden an und sagte dann ruhig: „Ich bin Polin, aus Peru, und heiße Maria Zawada. Wie ich hierherkomme?“ „Zawada… Zawada… Maria Zawada… aus Peru“,
flüsterte ich nachdenkend. Und plötzlich entschleierte sich in den Winkeln meines Gehirns eine Szene an Bord der „Matariki“: Bootsmann Zawada zeigt mir gerührt ein kleines Bild auf Glanzpapier, auf dem ich einen eckigen Backfisch sehe… Das waren doch tatsächlich die Gesichtszüge jenes Backfisches, jetzt aber weich, zart, wie von der Hand eines großen Künstlers geschaffen,
„Dann… dann sind Sie wohl… Marysia, die Nichte des Bootsmanns Franciszek Zawada?“ brachte ich stockend hervor. Jetzt war für das Mädchen der Augenblick maßloser Verwunderung gekommen. Sie beherrschte sich jedoch schnell und fragte: „Woher kennen Sie Bootsmann Zawada?“ „Wir dienten zusammen auf der ,Matariki’. Das war ein Schiff, das die Japaner versenkten…“ „Oh, das ist mir gut bekannt“, unterbrach sie mich, „mein Onkel hat mir von dieser schrecklichen Geschichte viel erzählt. Aber das ist doch schon lange her, es war noch während des Krieges!“ „Er hat es selber erzählt?“ fragte ich erstaunt. „Dann
lebt er also? Hat sich gerettet?“ „Freilich lebt er“, bestätigte das Mädchen. „Er hatte sich zusammen mit einigen Kameraden gerettet und die Insel Farakawa erreicht, wo sie von den Polynesiern sehr gastfreundlich aufgenommen wurden. Mein Onkel befindet sich auch jetzt auf dieser Insel, und ich…“ „Sie sagten: noch während des Krieges“, unterbrach ich sie. „Ist denn der Krieg zu Ende?“ „Wieso? Wissen Sie das nicht? Wo waren Sie denn?“ fragte sie verwundert. „Der Krieg war doch 1945 aus.“ „Sehen Sie“, sagte ich traurig lächelnd, „ich weiß nichts von dem, was in der Welt geschieht, denn seit der Katastrophe der ,Malariki’ habe ich auf einem menschenleeren Atoll gelebt. Sie sind der erste Mensch, den ich sehe und mit dem ich spreche – nach sechsjähriger Einsamkeit… Ich bin Stanislaw Skiba, ein Pole aus Neuseeland, ein Schiffbrüchiger.“ „Skiba? Steni Skiba?“ rief das Mädchen erfreut aus, ergriff mich bei der Hand und sah mir in die Augen. „Nein! Das ist ja unmöglich…“, fügte sie zweifelnd hinzu. „Steni Skiba ist doch durch ein Torpedo umgekommen!“ Was sollte ich tun? Ich mußte ihr in kurzen Worten meine ganze Geschichte erzählen, von der Katastrophe der „Matariki“ bis zu dem Orkan, der mich auf diesem öden Atoll gefangensetzte. Das Mädchen hörte mir mit gespanntem Interesse zu, und als ich ihr erzählte, auf welche Weise ich sie aus dem Ozean herausgeholt hatte, drückte sie fest meine Hände und sagte ganz schlicht:
„Ich danke Ihnen! Gleichzeitig bitte ich Sie um Entschuldigung, daß… daß ich Sie… für einen Wilden gehalten habe!“ „Für einen Wilden?“ fragte ich verwundert. „Na ja! Bedenken Sie! Ich wache aus meiner Ohnmacht auf und sehe plötzlich vor mir ein schrecklich behaartes Gesicht…“ Um das Gespräch auf eine andere Bahn zu lenken, unterbrach ich das Mädchen: „Aber wie sind Sie, eine Einwohnerin Perus, hier in diese Gewässer geraten und dann noch als Schiffbrüchige?“ „Oh, das ist eine lange Geschichte!“ rief das Mädchen aus. „Ich müßte, so wie ein Indianer, bei der Urgroßmutter beginnen! Aber weil ich Durst habe und hungrig bin… bitte ich Sie zuerst um Trinken und Essen!“ Ich erfüllte den Wunsch Marysias, und schlug rasch eine Kokosnuß auf; als sie die Milch ausgetrunken hatte, reichte ich ihr einen von den Fischen, die auf den heißen Steinen schon gut durchgebraten waren. „Essen Sie nicht zu hastig!“ warnte ich sie. „Einen ausgehungerten Magen muß man ganz langsam ans Essen gewöhnen!“ Das Mädchen nickte, machte sich aber mit einem solchen Appetit über den Fisch her, daß auch ich mir noch etwas aus der Asche heraussuchte. Und als wir unser Festmahl schließlich beendet hatten und das Feuer wieder in hellen Flammen loderte, begann Marysia zu erzählen; „Zuerst, muß ich Ihnen berichten, was in der Welt geschieht, denn Sie haben ja sechs Jahre auf einem
einsamen Atoll gelebt und wissen nichts. Also: Japan, Deutschland und Italien wurden besiegt. 1945 gingen die Kriegshandlungen zu Ende, und die Welt atmete erleichtert auf. Polen ist wieder ein freier Staat, aber von den Nazis nahezu völlig zerstört; ich habe es in den peruanischen Zeitungen gelesen und in verschiedenen Illustrierten sogar Aufnahmen von vernichteten Städten gesehen. Grauenvoll sieht es dort aus! Einige Monate nach Kriegsende besuchte mich mein Onkel in Lima. Er sagte mir, daß er die Seefahrt satt habe und sich in Polen niederlassen möchte, sofern ich mitginge. Ich hatte die Schule beendet und studierte schon an der Malerakademie. Daher antwortete ich ihm, daß ich nach Beendigung der Hochschule gern mitfahren würde, wohin er nur möchte, vorläufig jedoch sei es mir unmöglich. Der Onkel war ein wenig betrübt, aber er ließ sich überzeugen, daß es für mich bedeutend leichter sei, in Peru mein Studium in spanischer Unterrichtssprache zu beenden, die ich von Kindheit an spreche, als in Polen von neuem zu beginnen, wo ich mich zunächst sehr fremd fühlen würde.“ „Sie sprechen aber ausgezeichnet Polnisch!“ unterbrach ich sie. „Na, das ist übertrieben!“ protestierte Marysia. „Jedenfalls habe ich mein Studium beendet, und da mein Onkel mir versprach, ich könne, wenn es mir in Polen nicht gefalle, wieder wegfahren, habe ich mich natürlich einverstanden erklärt. Ich bestieg ein Schiff und fuhr nach Tahiti.“ „Weshalb nach Tahiti? War es denn nicht einfacher
durch den Panamakanal und über den Atlantik?“ „Vielleicht“, gab sie zu. „Aber der Onkel hatte als Treffpunkt Papeete bestimmt, von wo wir zuerst nach Neuseeland und Australien und dann nach Polen fahren wollten.“ „Ihr Onkel hat Sie demnach in Papeete erwartet?“ „Nein! Er hinterließ mir nur die Nachricht, daß er für einen Monat nach der Insel Farakawa auf dem Tuamolu-Archipel gefahren sei und ich diese Zeit benützen könne, um Tahiti kennenzulernen, Skizzen zu machen… In Papeete zeichnete ich interessante Typen der Polynesier, aber als ich erfuhr, daß man die Polynesier reinen Blutes nur noch auf den Tuamotu-Inseln antreffen könne, kaufte ich mir ein Billett für den Schoner ,Katopua’, der nach Farakawa auslief. Abends – wir saßen gerade beim Essen – stieß der Schoner mit solcher Wucht gegen irgendein Hindernis, daß wir von den Stühlen fielen. Eine Panik entstand, und die Passagiere, wir waren acht Personen, stürzten in ihre Kabinen, um die Rettungsgürtel zu holen. Danach liefen wir schnell aufs Deck, und dort erfuhren wir, daß der Schoner mit einem riesigen Rauhhai zusammengeprallt sei und sich in den Körper des Ungeheuers gebohrt habe. Der Hai war an die siebzehn Meter lang, und das Schiff aus seinem Leib herauszubekommen, dauerte sehr lange. Der Zusammenstoß hatte das Steuer beschädigt, und der Wind begann uns vom Kurs abzutreiben. Gegen Morgen brach ein Sturm aus. Achtundvierzig Stunden kämpfte der tüchtige Schoner mit dem rasenden Element. Dann geschah alles in unheimlichem Tempo. Plötzlich hörte ich das Krachen bersten-
der Bretter, das Knirschen von Eisen und das Hereinschwappen des Wassers. Ich taumelte, oder besser, ich kroch in den Gang hinaus, und dort vernahm ich das schrille Pfeifen der Alarmsirene. Durch welches Wunder ich die Tür zum Deck aufbekommen habe, weiß ich nicht. Zwei polynesische Matrosen, die das Schlingern des Schiffes umgeworfen haben mußte, arbeiteten sich unter einem großen Gummiboot hervor, das sie wahrscheinlich seeklar hatten machen wollen. Als sie mich erblickten, ergriffen sie mich sofort, packten mich in das Boot und schnallten mir einen darin angebrachten Sicherungsgurt um den Leib. Im nächsten Augenblick warf uns ein entgegengesetztes Neigen des Schiffes auf die Kommandobrücke. Der Aufschlag muß mich wohl betäubt haben, denn als ich zu mir kam, befand ich mich mit dem Gummiboot auf den stürmischen Wogen des Ozeans. Später, nach endlosem Schaukeln auf dem tosenden Wasser, bekam ich Fieber, quälender Durst marterte mich, bis ich zuletzt mitsamt der ganzen Welt in einen seltsamen Abgrund versank. Und dann… dann kam ich wieder zur Besinnung… nunmehr dank Ihrer Hilfe.“ Ich hörte dem Bericht Marysias aufmerksam zu und freute mich, daß sie nicht klagte und lamentierte. Ich war ja selber ein Schiffbrüchiger und wußte sehr wohl, was dieses tapfere Mädchen durchgemacht haben mußte. Obwohl unser Aufbruch beschlossen war, mußte ich ihn aus zwei Gründen verschieben. Der erste war Marysias Krankheit und der zweite die ungünstige Windrichtung.
Um Marysia stand es sehr schlimm. Sie war zwar in den ersten Stunden nach Wiedererlangung ihres Bewußtseins gesprächig, voll Humor und Lebensfreude, dann aber bekam sie Fieber und wurde so schwach, daß ich eine Lungenentzündung vermutete. Häufig verlor sie die Besinnung, phantasierte, murmelte unverständliche spanische Worte, sprang mitten im Schlaf von ihrem Lager auf und versuchte zu fliehen. Mitunter setzte sie sich plötzlich auf, starrte mich entsetzt aus verschleierten Augen an und fiel dann mit einem Aufschrei ohnmächtig in den Sand. Leider wußte ich über Krankheiten wenig. In der Apotheke des Bootes fand ich Aspirin, Chinin und andere Medikamente, aber ohne Angabe, gegen welche Krankheit sie helfen. Daher gab ich meiner Patientin Aspirin und Chinin, sparte auch nicht mit Kokosmilch. Ob nun die Tabletten ihr geholfen haben oder ob der kräftige Organismus des Mädchens die Krankheit überwand, jedenfalls beruhigte sich Marysia allmählich und verlor die Fieberflecke auf den Wangen. Immer öfter versank sie in friedlichen Schlaf. Als ich eines Tages ihr abgezehrtes Gesicht betrachtete, schlug sie plötzlich die Augen auf und sah mich bei vollem Bewußtsein an. Ich beugte mich über die Kranke und hielt ihr eine Schale voll Kokosmilch an die Lippen. Das Mädchen trank in kleinen Schlückchen, dann murmelte sie undeutlich irgend etwas und schlief so fest ein, daß sie erst am Abend des nächsten Tages aufwachte. Die Krankheitskrise war vorüber, von nun an kehrten Gesundheit und Kräfte rasch zurück. Marysia wohnte in einer Hütte, die ich für sie schon
am ersten Tage ihrer Krankheit aus Ästen und Brettern aufgestellt hatte. Meine eigene Lagerstätte befand sich etliche Schritte weiter. Es war ein rechteckiger Platz, den ich mit einer niedrigen Mauer aus Korallensteinen eingefaßt hatte. An einer Wand richtete ich mir eine Schlafstelle ein, die ich mit einer dicken Sandschicht polsterte; in der Mitte des Lagerplatzes befand sich der Herd, ein wenig abseits – die Räucherkammer. Ich stand morgens mit der Sonne auf, nahm einige Fischerpfeile und lief zu den Felsenriffen. In den zahlreichen kleinen Buchten fand ich immer eine größere Anzahl schöner Fische. Nach der Jagd badete ich in der Lagune, lief am Strande entlang, um mich zu erwärmen, und las dabei alle eßbaren Meeresgeschöpfe auf, die von der Flut an Land geworfen worden waren. Auf den Lagerplatz zurückgekehrt, machte ich Feuer und bereitete das Frühstück. Meine Hauptnahrung waren natürlich Fische, die ich zwischen heißen Steinen briet. Die Vorspeise bestand aus schmackhaften Garnelen, Muscheln und Trepangs. Marysia bekam vom Augenblick ihrer Genesung an Fischsuppe oder Brühe von irgendeinem Vogel, sofern es mir gelungen war, einen mit Steinwürfen zu erlegen. Außerdem gab ich ihr saftiges Fischfilet, danach Kokosmilch und ein Stück Schokolade. Nach dem Frühstück begab ich mich an die Küste der Insel, wo ich die Felsenriffe durchsuchte. Dort fand ich gewöhnlich Holz und Wasserpflanzen, die der Ozean angeschwemmt hatte, bisweilen auch einige Kokosnüsse. Ich zog alles ans Ufer und trug es zum Lagerplatz,
wo ich das Holz je nach Eignung sortierte, die Wasserpflanzen wie Heu trocknete und dann zum Räuchern der Fische benutzte. Auch auf den anderen Inseln des Atolls durchstöberte ich alle Winkel und zog heraus, was der Ozean an brauchbaren Dingen angespült hatte. Die gefundenen Nüsse häufte ich emsig an und hütete sie wie ein Geizhals sein Geld. Sie enthielten doch eine unschätzbare Flüssigkeit, die zum Leben auf diesem Atoll und für die bevorstehende Seereise unbedingt notwendig war! Als Marysia schon so kräftig war, daß sie auf einen Stock gestützt zum Lagerplatz gehen konnte, aßen wir zusammen zu Mittag. Sie bemühte sich, mir bei der Zubereitung des Essens zu helfen, und tat es mit so viel Anmut und Humor, daß mir so ein Mittagessen immer eine große Freude war. Abends saßen wir am Feuer, und dann erzählte Marysia von Peru, von Lima, von ihrer Kindheit, ihrem Studium, von der herrlichen, im Jahre 1551 gegründeten Universität San Marcos, von zahlreichen Museen, von denen eines mit alten peruanischen Ausgrabungen sie am stärksten angezogen hatte. Sie beschrieb mir auch ihre Ausflüge in die Kordilleren, von wo sie stets beladen mit Mappen voller Skizzen zurückgekehrt war. Ich lernte fast das ganze Leben Marysias kennen. Sie war frühzeitig Waise geworden und inmitten fremder Menschen erzogen. Durch Beharrlichkeit und Fleiß hatte sie ihr Talent entwickelt. Während ich ihren Plaudereien zuhörte, arbeitete ich an der Ausrüstung für das Boot. Aus mehreren Koprasäcken nähte ich ein Segel. Als Nadeln benutzte ich
Thunfischgräten und statt Garn die Sehnen von Vögeln. Den Mast für das Boot machte ich aus einer Bambusstange, die ich eines Morgens auf den Felsenriffen gefunden hatte. Aus dem Gewebe einiger Säcke zog ich Fäden und drehte daraus die nötigen Seile. Einmal nach dem Mittagessen hörte ich Marysias Stimme: „Steni! Lassen Sie bitte einen Augenblick das Schnurzeug sein und kommen Sie her!“ Über diese Aufforderung einigermaßen erstaunt, befestigte ich die Leine und ging zu dem Mädchen. „Knien Sie bitte hin!“ befahl sie. Ich sperrte verblüfft die Augen auf, fügte mich jedoch. Marysia drückte meinen Kopf auf ihre Knie, und schon hörte ich das Klappern einer Schere und spürte den kalten Stahl auf meinem Schädel. „Rühren Sie sich nicht, sonst verletzte ich Sie noch!“ warnte sie mich und setzte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, hinzu: „Ich kann diesen strubbeligen Busch auf Ihrem Kopf nicht mehr sehen! Es ist höchste Zeit, daß er herunterkommt, damit Sie endlich wie ein Mensch aussehen.“ Nach jedem Schnitt fiel ein Büschel langer Haarsträhnen auf die Erde, und bald hatte sich neben meinen Knien ein ansehnlicher Berg Wolle angesammelt. Auch mein Vollbart und Schnurrbart kamen an die Reihe, dabei hatte ich beinahe ein Stück Ohr und Nase eingebüßt. Als die Operation glücklich überstanden war, das Mädchen mich auf Armlänge von sich zurückschob und ihr Werk bewunderte, wurde mir so kreuzdumm zumute, daß ich, um meine Verwirrung zu
verbergen, zur Lagune eilte und ins Wasser sprang. Am nächsten Tage während des Fischfangs betrachtete ich mich im Wasser und stellte fest, daß Marysia nicht für einen Sechser Talent zur Friseuse besaß! Sie hatte meine Haare so meisterhaft geschnitten, daß mein Kopf nun lauter Treppen, Treppchen, Büschel und kleine Glatzen aufwies. Der Bart auf den Wangen und am Kinn war in gleicher Weise beschnipselt, so daß ich recht auffällig einem Pudel ähnelte, den man mit einer Heckenschere bearbeitet hat. Ich nahm es dem Mädchen natürlich nicht übel, um so weniger, als ich mich ohne die bis auf die Schultern herabfallenden Haare sehr wohl fühlte. Das Boot war für die Reise schon sorgfältig vorbereitet. Es konnte bequem fünf Personen aufnehmen, ich hatte daher genug Platz, für Marysia eine Art Zelt aus Säcken zu bauen. Am Heck stellte ich eine flache Kiste hin, die ich mir aus einigen Bretterstücken zusammengebastelt hatte, und füllte sie mit Asche. Darauf legte ich einen flachen eingebuchteten Stein, auf dem sehr gut ein kleines Feuer brennen konnte. Als Brennmaterial hatte ich etliche Bund kleingehacktes Holz vorbereitet. Unsere Lebensmittelvorräte bestanden aus gut geräuchertem Fleisch von Seevögeln, geräucherten Fischen und dreißig Kokosnüssen. Endlich kam der heißersehnte Tag. In der Nacht vorher war ein kurzer, nicht allzu gefährlicher Sturm über das Atoll hinweggegangen, danach begann ein frischer Wind aus Südosten zu wehen. Wir fuhren nach einem guten Frühstück ab und waren in bester Laune, denn der Morgen war wunderschön, und das Wasser in der
Lagune kräuselte sich mit kaum merklichen Wellen! Glücklich passierten wir den breiten, gischtig brandenden Durchgang. Dann erfaßten uns die langen Wellen des Ozeans. Unser Boot schwamm flink unter dem windgeblähten Segel dahin. Das Gewoge war freilich ziemlich stark, deshalb schaute ich mit einiger Sorge zu Marysia, die ganz blaß geworden war und sich krampfhaft am Mast festhielt. Meine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als überflüssig; das Mädchen wurde nicht seekrank. Nach einigen Stunden hatte sie sich an das Schlingern gewöhnt, so daß sie mich am Segel ablösen konnte. Nach dem Abendessen legten wir den Dienst fest. Marysia sollte als weniger erfahrene Seglerin den Kurs am Tage überwachen und ich in der Nacht. Zu meinen Pflichten gehörte noch das Feuermachen, das Zubereiten des Essens und die Sorge um den frischen Proviant. Häufig fielen fliegende Fische auf das Boot herunter, außerdem besaß ich ja mehrere Angelhaken; ich hatte sie aus den Nägeln der im Schutzraum zertrümmerten Kisten angefertigt. Als wir gegessen hatten, plauderten wir noch lange. Marysia glaubte fest daran, daß unsere Reise glücklich enden würde, daß wir mit ihrem Onkel, dem Bootsmann Zawada, zusammenkämen und wir später gemeinsam nach Neuseeland führen, wo ich ihr alle Sehenswürdigkeiten dieses interessanten Landes zeigen müßte. Marysias Stimme hatte einen bestrickenden Reiz, und ich hörte ihr mit wahrer Freude zu. Ihr Geplauder war mit gesundem Witz und feinem Humor gewürzt, es
langweilte nie. Aber als die empfindliche Kühle der Nacht über dem Ozean zu wehen begann, mußte Marysia mit ihren Wunschträumen aufhören und, wenn auch ungern, in ihr Zelt wandern, wo sie übrigens schnell einschlief. Auch ich war sehr müde, kämpfte jedoch gegen die Schläfrigkeit an und horchte aufmerksam auf die vom Ozean kommenden Geräusche. Ich kannte sie sehr genau und unterschied mit Leichtigkeit, ob es das Platschen herausspringender Delphine war oder das Klatschen eines sich über Wasser wälzenden Rochen, das klägliche Schreien einer verspäteten Möwe oder das heisere Ächzen eines Gewittervogels. Unzählige Sterne funkelten am Himmel in kräftigem bläulichem Glanz, und es schien, als hingen sie so niedrig in der Luft, daß man nur die Hand auszustrekken brauchte, um sie zu greifen. Den Abglanz der Sterne sah man im Wasser als lange bewegliche Leuchtbänder, die sich auf dem schwarzen Grund des grenzenlosen Ozeans wie hell schimmernde kleine Schlangen wanden. Das eintönige Schaukeln des Bootes und die Täuschung, der Himmel mitsamt den Sternen schwinge mit, das monotone Rauschen des Ozeans und die erdrückende Leere ringsum wirkten so einschläfernd, daß sich meine Lider immer öfter über die Augen senkten und der Kopf wie von einer unsichtbaren Last heruntergedrückt auf die Brust fiel… Plötzlich war mir, als zerre mich jemand am Arm, und an meine Ohren drang ein ganz weit entferntes Rufen:
„Steni! Ein Segel! Mensch, wachen Sie doch auf! Ein Segel!“ Ich hob mühsam die bleischweren Lider und sah dicht über mir das besorgte Gesicht Marysias, gleichzeitig aber gewahrte ich, daß die Sonne schon hoch am azurblauen Himmel wanderte. „Was ist passiert, Marysia?“ fragte ich schläfrig. „Ein Segel!“ rief sie. mit der Hand weit in die Ferne des Ozeans zeigend. „Dort! Ein Segel! Ach. Steni! Stehen Sie auf! Dort ist ein Segel zu sehen.“ Jetzt erst erfaßte ich den Sinn ihrer Worte. Ich sprang auf hielt mich mit der Hand am Mast fest und schaute in die von meiner Gefährtin gezeigte Richtung. Im ersten Augenblick konnte ich nichts Besonderes wahrnehmen, dann aber, als sich meine Augen an den flimmernden Widerschein der Sonnenstrahlen auf dem Wasser gewöhnt hatten, erblickte ich ganz weit am Horizont einen gelblichen Fleck, der bald auftauchte, bald wieder verschwand und dem Segel eines polynesischen Fischerbootes ähnlich sah. Ich zog die Schotleine an, die mir im Schlaf aus den Händen geglitten war und als unser Segel vollen Wind hatte, steuerte ich in die Richtung des mutmaßlichen Bootes. Unser Fahrzeug war leicht und am Heck ordnungsgemäß belastet, darum glitt es auf der Flut dahin wie ein Segelschlitten auf blankem Eisfeld. Das ferne Segel war immer besser zu erkennen, kam immer näher, bis wir endlich auch den schwarzen Rumpf eines großen Bootes und darin menschliche Gestalten sahen, die uns neugierig und wohlwollend betrachteten.
Ende der gekürzten Fassung