Seewölfe 140 1
Fred McMason 1.
Captain Stan Ellen und der YoungBootsmann Blake starrten mit trüben Augen über das Wass...
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Seewölfe 140 1
Fred McMason 1.
Captain Stan Ellen und der YoungBootsmann Blake starrten mit trüben Augen über das Wasser, das sich endlos vor der Insel dehnte, am Horizont flimmerte und übergangslos mit dem Himmel verschmolz. Es war wieder einmal ein besonders heißer Tag, ein Tag voller Hoffnungslosigkeit, Hunger und Durst. Vor ein paar Tagen waren sie hier gestrandet, Verdammte der Meere, und von da an war es immer schlimmer geworden. Die Mannschaft war gestorben, krepiert an Skorbut, verreckt an verseuchtem Bilgewasser, elend eingegangen an Krankheiten, die sie nicht zu bekämpfen vermochten. Der vorletzte, der starb, war der Erste Offizier Wintham gewesen, der letzte der Rudergänger Hentrop. Mit letzten Kräften hatten sie eine Grube auf der Insel ausgehoben und den Mann, der an einem Rattenbiß gestorben war, in dem Sand beerdigt. Ellen und Blake waren allein, irgendwo im Indischen Ozean, irgendwo auf einer winzigen Insel, auf der es kein Wasser gab. Nur ein paar Früchte hatten sie gefunden, und die zehrten sich jetzt auch langsam auf. Vor ihnen lag das Schiff, die „Black Pearl“, das Totenschiff, wie sie es nannten, denn es hatte ihnen nur Unglück gebracht. Der Captain ließ sich neben Hentrops Grab schwer in den Sand fallen. Er dachte an Selbstmord, an ein schnelles Ende. Er wollte nicht den höllischen Tod der anderen sterben, das war viel zu schmerzhaft und dauerte zu lange. Eine Kugel durch den Kopf schießen, dachte er, dann war es gleich vorbei, dann hatte er Ruhe. Aber er fand den Mut nicht dazu, denn irgendwo in seinem Innern war da eine Stimme, die ihn bewog, weiter auszuharren. Vielleicht kreuzte doch noch ein Schiff diese Route am Ende der Welt, vielleicht regnete es einmal kräftig, und
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dann hätte er sein Leben vorzeitig weggeworfen. Sein Gesicht glich einer Totenmaske. Unter dem verfilzten Bart schimmerte die Haut gelblich und ledern. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Stan Ellen war abgemagert bis auf die Knochen, und wenn er hustete, spuckte er Blut. Young-Blake, der Bootsmann, sah auch nicht besser aus. Aber er verfügte über eine unwahrscheinlich harte Kondition. Den Jungen bringt so schnell nichts um, dachte Ellen. Mitunter hockten sie stundenlang schweigend am Strand und blickten auf das ruhige Wasser. Nur selten mal stand einer von ihnen auf, holte sich eine Nuß, zerschlug sie, trank die Milch und aß das Fleisch. Dann kehrte er wieder zu derselben Stelle zurück, legte sich in den Sand und döste vor sich hin. So geht es nicht weiter, dachte auch Blake, so auf keinen Fall. Immer nur dösen, immer auf etwas warten. Verdammt, sie waren zwei Kerle, und sie lebten noch. Sollten sie vielleicht deshalb resignieren und sich selbst aufgeben? Sie konnten angeln, Fische braten, die Insel noch genauer nach Früchten absuchen und sich beschäftigen. Sie durften nicht einfach untätig herumhocken und den Tod erwarten. Ihre Stimmungen und Launen wechselten jäh. Einmal war Stan Ellen wieder der Größte, dann wieder schlaffte er ab, und wenn Blake über sich selbst hinauswuchs, resignierte der andere. Ein Zustand zum Kotzen, fanden sie. Diesmal war Ellens Stimmung auf dem Nullpunkt. Er glich einem lebenden Toten, der im Sand hockte, und der nur deshalb noch nicht umgefallen war, weil kein Windhauch wehte, der ihn umwarf. „So geht das nicht weiter, Cap“, sagte Blake leise. „Auf was warten wir denn? Auf das große Glück oder darauf, daß hier aus dem Boden eine Quelle sprudelt? Wir sollten etwas unternehmen, fischen, jagen, oder, zum Teufel, das lausige Segel setzen
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und nach einer anderen Insel Umschau halten.“ Ellen lachte hohl. „Sieh mal an“, sagte er, „auf einmal will der Bootsmann weitersegeln. Vorher hast du genau das Gegenteil behauptet. Du änderst deine Meinung ziemlich rasch.“ „Vorher war auch alles anders, Cap.“ Er sprang auf und sah Ellen finster an. „Ich will nicht verrecken, Sir, hörst du! Ich glaube, du hast dich bloß mit den Roteiros geirrt, es gibt einen Kurs, der zum Land führt.“ „Ich glaube“, erwiderte Ellen müde, „die Spanier haben diese Karten absichtlich verfälscht, ich komme mit den Dingern nicht so richtig zurecht. Außerdem müßte dir dein Verstand sagen, daß zwei abgezehrte Kerle wie wir das Schiff nicht mehr segeln können. Soll etwa einer am Ruder stehen und der andere die Segel trimmen?“ „Wir haben nur noch ein Segel, da gibt es nicht viel zu trimmen, und das Ruder können wir festlaschen.“ Ellen winkte matt mit der Hand ab und verzog das Gesicht. „Wir verrecken draußen auf See“, prophezeite er. „Hier können wir wenigstens noch Gras fressen, aber draußen gibt es nichts mehr, gar nichts.“ Blake bewegte sich mit müden Schritten auf und ab. Immer wieder sah er in den Himmel oder blickte zum Horizont, ob da nicht mal eine Wolke auftauchte, die Regen versprach. Es gab keine Wolken, nur der Sonnenglast lag flirrend über dem Wasser. Das einzige Geräusch verursachten die kleinen Wellen, die flüsternd an den Strand liefen, noch einmal murmelten und sich dann zurückzogen. Bis zum Mittag taten sie nichts anderes als im Schatten zu hocken, zu dösen und zu warten. Und dabei beneideten sie ihre Kameraden, die neben ihnen ruhten — für immer, die es nicht mehr interessierte, ob man die Insel verließ oder nicht. Am Nachmittag fing Blake einen handtellergroßen Fisch, den er mit einer winzigen Garnele geködert hatte.
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„Die beißen hier unheimlich schnell, wenn man die kleinen Krebse an den Haken hängt, Cap. Los, wir angeln zu zweit.“ Es dauerte eine Weile, bis er Ellen überredet hatte. Das Angeln war schon einmal erfolglos verlaufen, aber da hatten sie es auch mit Rattenfleisch versucht, an das die Fische nicht herangingen. Jetzt wateten sie ein Stück ins flache Wasser hinaus, tasteten den Grund ab und fanden Garnelen, die meisten halb so groß wie ein kleiner Finger. Ellen wurde zusehens munterer, und nach einer Weile war er mit Feuereifer dabei. Dann verfielen sie auf die Idee, Muscheln zu suchen. Wenn man sie roh aß, stillten sie vorübergehend den Durst, und bevor sie die Fische brieten, saugten sie sie aus. „Man kann überleben“, sagte Blake, „man muß nur den Willen dazu aufbringen. Nimm dir ein Beispiel an den Ratten, Cap, die geben auch nicht auf, die versuchen alles, um sich am Leben zu erhalten.“ „Willst du mich etwa mit einer Ratte vergleichen?“ fragte Ellen scharf und gereizt zurück. Wenn er schon etwas von Ratten hörte, sah er rot. Die Biester hatten das Schiff verlassen und waren in Scharen an Land geströmt, wo sie sich sogleich verkrochen. Außerdem war der Rudergänger Hentrop an einem Rattenbiß gestorben. „So war das nicht gemeint, Cap! Verflucht, dreh mir nicht jedes Wort im Maul rum!“ „Schon gut“, sagte Ellen. Er blickte auf die dünne Leine, an der er jetzt zerrte, und etwas später zog er ebenfalls einen handtellergroßen Fisch aus dem Wasser. Später brieten sie die Fische, nachdem sie ein kleines Feuer entfacht hatten, und dann gingen sie daran, das kleine Beiboot auszuschöpfen. „Es ist fast dicht“, sagte Ellen, „es hat sich von selbst abgedichtet, wie ich es gesagt habe.“ „Wir könnten ein bißchen an Deck aufräumen, dann haben wir etwas zu tun und vergessen unsere trüben Gedanken“, schlug Blake eifrig vor, und der Captain nickte schließlich.
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Doch die Unordnung an Deck war so groß, daß es Tage dauern würde, bis alles klariert war, und etwas später gaben sie es auf. Sie hatten lediglich unter pausenlosen Flüchen ein neues Segel angeschlagen, weil das alte reichlich zerschlissen war. Ellen blickte erbittert auf sein Schiff, die „Black Pearl“, und stieß eine leise Verwünschung aus. „Was ist nur aus uns geworden“, murmelte er, „die Mannschaft vor die Hunde gegangen und das Schiff ein halbes Wrack. Ich sehe sie noch vor mir, die Männer. Endicot, Wintham, Blair und den dreimal verdammten Koch. Und wo sind sie jetzt?“ „Das wissen wir doch alle beide, wo sie sind. Die meisten liegen auf dem Grund, und die anderen sind dort drüben begraben. Was bringt uns das ein, wenn wir ständig von ihnen faseln?“ Ellen hörte den Young-Bootsmann gar nicht. Er saß da, die Hände vor das Gesicht geschlagen und hing Erinnerungen nach, die der Pesthauch des Todes immer wieder verdrängen wollte. Er liebte diese schwermütigen Erinnerungen, sehnte sie gewaltsam herbei und dann wurde ihm leichter. Er sah das Schiff in Gedanken auslaufen, die Mannschaft war erwartungsvoll angetreten und hatte sich auf das große Abenteuer gefreut. Frische junge Gesichter, harte Kerle darunter, auch ein paar Weichlinge, und dann war da der dreimal verdammte Koch, wie sie ihn alle nannten, als sich herausstellte, daß es mit seiner Kochkunst gar nicht so weit her war. Später hatte das Unglück sie Meile um Meile verfolgt, die Begleitschiffe gingen verloren, eins sank, das andere verschwand spurlos, die Crew wurde krank, Trinkwasser verfaulte, der Tod griff um sich und raffte einen nach dem anderen dahin. So weit dachte Ellen aber nie. Seine Erinnerungen brachen immer dann ab, wenn es schlecht um Schiff und Mannschaft stand. Sein körperlicher Zustand verschlechterte sich nicht weiter, aber er ging seelisch vor die Hunde, wie Blake schaudernd erkannte.
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Und es ging verdammt rasch mit Stan Ellen bergab. Meist starrte er jetzt ausdruckslos in unbekannte Fernen, und wenn Blake ihn etwas fragte, erschien nur die ganz schwache Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen. Doch er antwortete nie, sagte auch von sich aus nichts mehr und wartete nur, daß Blake ihm ein paar Früchte brachte oder ihm einen Fisch briet. Einmal hatte es leicht geregnet, und dem Bootsmann war es gelungen, ein paar Liter Wasser aufzufangen. Das hielt sie auch weiterhin am Leben, doch Ellen hatte nicht ein einziges Mal gefragt, woher das Wasser stammte. Er ist wie ein hilfloses Kind, dachte Blake entsetzt und schüttelte sich wie im Fieber. Ellens schwere Depressionen erreichten ihren Tiefpunkt. Seit mehr als vier Tagen hatte er jetzt kein einziges Wort mehr gesprochen. Blake wurde es immer unheimlicher. Er hatte das Gefühl, ganz allein auf der weiten Welt zu sein. 2. Auf der „Isabella VIII.“ hatten sich die Gemüter immer noch nicht beruhigt, seit man entdeckt hatte, daß die vermeintlich schwarze hölzerne Madonna aus purem Gold bestand. Daher ließ sich auch das enorme Gewicht erklären. Carberry hatte die Höhle hinter dem Wasserfall entdeckt, und es war seine Insel, wie er immer wieder betonte. Ein abwechslungsreicher Spaß nur war es, daß Dan O'Flynn die kleinen unbekannten Inseln nach den Seewölfen nannte, aber sie alle fanden diesen Spaß köstlich. Und dies hier war die Profos-Insel, und ausgerechnet hier mußten sie auf den Schatz stoßen. Drüben, in der Höhle am Wasserfall, lagen zwei Skelette, die beide noch die Blessuren eines harten Kampfes trugen. In dem einen Totenschädel steckte ein Schiffshauer, im anderen Schädel befand sich ein großes Loch, von einer Muskete gerissen. Zwischen den Toten stand eine Truhe mit Goldmünzen, daneben lag ein verrottetes
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Ledersäckchen, ebenfalls mit Gold gefüllt. Die schwarze Madonna, einer Galionsfigur nachgebildet, die niemandes Interesse erweckt hätte, entpuppte sich jetzt als der größte Schatz. Die Seewölfe ahnten nicht, daß sie auf dieser „Profos-Insel“ nicht allein waren, und ständig von einem Mann belauert wurden, der sich schon seit einiger Zeit hier befand und jetzt entdeckt hatte, daß hinter dem Wasserfall ein großer Schatz gefunden worden war. Das wurmte den ausgesetzten Reverend Thornton, und so beschloß er, etwas zu unternehmen. Die Kerle hatten am Strand wohl sein Floß entdeckt, es genau untersucht, dann aber angenommen, daß es von irgendwoher angetrieben sei. Jeder der Seewölfe betatschte die schwere Figur, die Carberry, Tucker und der ehemalige Schmied von Arwenack ins Boot trugen. Der einzige, der sich zurückhielt, war Old O'Flynn, der in dem ganzen Fund eine Versuchung des Teufels sah, zumal der Profos Edwin Carberry ihn schon vorher tüchtig auf den Arm genommen hatte. Der Schiffszimmermann Ferris Tucker zog noch einmal sein Messer aus dem Gürtel, kratzte hier und dort ein bißchen an der Figur herum und nickte, als es an den abgeschabten Stellen hell aufglitzerte. „Überall Gold“, sagte er, „das Mädchen besteht von oben bis unten aus purem Gold, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.“ „Hast du auf meiner Insel was anderes erwartet?“ fragte der Profos und grinste breit. Old O'Flynn maß den Profos mit mißtrauischen Blicken. „Ich will ja nicht unken“, sagte er dumpf, „aber ich an deiner Stelle würde diesen Teufelspakt für null und nichtig erklären, Ed. Denk an deine Seele!“ Carberry hörte geduldig zu. Seit er dem Alten etwas vorgeflunkert hatte, war der rein aus dem Häuschen und sah wieder einmal überall Gespenster. „Ich werde daran denken“, versprach Ed.
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„Sieh mal“, ereiferte sich Old O'Flynn und zog Carberry ein wenig zur Seite. „Wir hatten etwas Ähnliches mal auf der ,Empress of Sea' gehabt. Das geht niemals gut, Ed.“ Jetzt geht das Theater mit der lausigen „Empress of Sea“ schon wieder los, dachte Ed gottergeben. Den Alten schien dieser längst versoffene Kahn in allen seinen Träumen zu verfolgen. „Willst du die Geschichte mal hören?“ fragte Donegal. „Meinetwegen, laß hören, aber übertreibe nicht wieder.“ „Ich habe noch nie übertrieben“, sagte der Alte. „Ich hab sogar alles immer noch abgeschwächt. Aber das war so: Wir hatten da auf unserem Schiff einen Seemann, arm wie eine Kirchenmaus, der hatte noch nie ein Goldstück gesehen, nur gehört hatte er davon. Eines Tages liefen wir eine der kleinen nordischen Inseln an, und die Mannschaft vertrat sich die Beine. Und was soll ich dir sagen: Als der Seemann wieder an Bord zurückkehrte, klimperten zwanzig Goldstücke in seiner Hosentasche!“ „Na, so was“, sagte Ed lahm. „Zwanzig Goldstücke“, wiederholte Donegal eindringlich, „pure Goldstücke, so viel, daß man damit ein ganzes Schiff ausrüsten konnte. Und diese Goldstücke hatte er so mir nichts dir nichts einfach in der Tasche. Er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen“, flüsterte Donegal, „und zwar erschien der Satan einmal in der Gestalt eines armen Vagabunden und einmal als Priester verkleidet. Dafür hat er seine Seele verkauft, genau wie du.“ „Ich?“ fragte Ed entgeistert. „Du hast mir doch selbst gesagt, daß hinter dem Wasserfall ein Gehörnter steht. Er ist mit einem Schiff aus Pech und Schwefel auf diese Insel gelangt und kann nicht mehr zurück.“ „Richtig, das habe ich gesagt.“ „Dann wird es dir genauso ergehen wie dem Seemann von der ,Empress of Sea'. Am Sankt Peterstag hat er ihn geholt.“ „Einfach so?“
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„Nein, viel schlimmer! Aus irgendeinem Grund gab es Streit an Bord, und der Seemann stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf die Decksplanken. Die öffneten sich sofort unter ihm, ein großes gezacktes Loch entstand im Deck, und der Seemann fuhr mit einem grausigen Schrei zur Hölle.“ „Und euer Kahn ist dann abgesoffen, was, wie? Kein Wunder, wenn die Planken so morsch waren.“ Old O'Flynn lachte hämisch. „Von wegen morsch! Hinter ihm schlossen sich die Planken sofort wieder, als wäre nichts geschehen, und auch das Loch im Kielschwein verschloß sich, ohne daß auch nur ein einziger Tropfen Wasser in das Schiff drang. Da wußten wir alle, daß ihn der Teufel geholt hatte.“ Wie immer, wenn der Alte längere Zeit mit eindringlicher Stimme sprach und seine Augen dabei unheilvoll funkelten, versammelte sich unauffällig der größte Teil der Crew um ihn. Einige lauschten andächtig, andere hörten nur zu, um Donegal zu verulken. und ein paar gab es, die glaubten fast jedes Wort. „Also“, sagte Smoky respektlos, „was auf dieser ,Empress of Sea' nicht schon alles passiert ist! Da tun sich die Planken auf, und da werden Seeleute direkt vom Schiff geholt, und dann taucht der Satan persönlich in der Gestalt eines Vagabunden auf.“ „Und eines Priesters, habe ich gesagt!“ rief Old O'Flynn. „Jeder gläubige Seemann weiß das, nur du nicht. Der Teufel nimmt alle Gestalten an, die es gibt. Deshalb scheut er auch vor einem Priestergewand nicht zurück. Nur auf das heilige Kreuz verzichtet er, weil das Brandstellen auf seinem Körper hinterl ...“ Plötzlich wurde Donegal kreidebleich, dann wechselte seine Gesichtsfarbe ins Grünliche, er sank leise stöhnend an dem Schanzkleid zusammen und kriegte glasige Augen. Niemand nahm dem Alten ab, daß er einen Anfall hatte. Old O'Flynn,. das alte Rauhbein, warf nichts um, der war aus Eisen.
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Langsam drehten sich Köpfe in die Richtung, in die der Alte blickte und es wurde ganz still, so still wie es auf der „Isabella“ noch nie gewesen war. Unter dem Eindruck von Donegals beschwörenden Worten fuhr ihnen jetzt fast ausnahmslos ein gehöriger Schrecken in die Knochen, denn der Teufel persönlich stand am Strand und schaute aus flammenden Augen herüber. Das schlimmste jedoch war, daß er eine Soutane trug und kein Kreuz auf dieser Soutane baumelte. Smoky, eben noch mit der Klappe ganz vorn, bekreuzigte sich hastig und verzog das Gesicht. Er hätte Donegal jedes Wort geglaubt, wenn nur diese scheußliche Erscheinung verschwunden wäre. Das konnte nur der Teufel sein, persönlich, als Priester verkleidet, denn wie sollte sich sonst wohl ein Priester ausgerechnet nach Profos-Island verirren? Der Teufel in dem Priestergewand schritt weiter über den Strand, bis er auf gleicher Höhe mit der „Isabella“ war. „Gott segne euch, Brüder!“ rief er laut und hob die Hand zum Kreuzzeichen. Donegal wurde es schlecht. Er zog seinen Schädel hinter das Schanzkleid, bibberte vor sich hin und ließ sich nicht mehr sehen. Natürlich hatte der Satan es nur auf Carberry abgesehen, dachte er, aber vielleicht nahm er so ganz nebenbei auch noch ein paar andere Seelen mit, wenn er schon einmal da war. Nur den Seewolf, Big Shane und Donegals Sprößling Dan regte das nicht sonderlich auf. Ziemlich gelassen nahmen sie die Erscheinung des Höllenfürsten hin. „Was ist denn das für ein merkwürdiger Vogel?“ fragte Hasard in die entsetzliche Stille hinein. „Ein Priester“, sagte Dan trocken. „Der Teufel“, flüsterte Old O'Flynn tödlich entsetzt. „Ein leibhaftiger Spuk“, raunte Smoky. Der Priester schritt jetzt segnend auf den nüchtern und klar denkenden Kutscher zu. Auch die anderen am Strand standen regungslos da und starrten den so plötzlich an der Landzunge aufgetauchten frommen
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Mann entgeistert an. Sie wähnten aber nicht den Teufel in ihm, sie waren nur überrascht, daß der Schiffbrüchige hier plötzlich auftauchte und dazu noch Priester war. Hasard stieg gedankenschnell ins Boot, gefolgt von Carberry und ein paar anderen. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, sagte er. „Ich bin gespannt ob es der Mann vom Floß ist.“ „Für meinen Alten ist es der Teufel persönlich“, sagte Dan grinsend. „Findest du es nicht auch merkwürdig, daß seine Geschichten fast immer mit peinlicher Genauigkeit zutreffen? Manchmal wird mir selbst angst und bange.“ „Allerdings“, mußte auch Hasard zugeben, aber er sah dahinter nicht mehr als einen dummen Zufall. Der Priester wandte sich jetzt dem Boot zu, das knirschend auf den Sand lief. Huldvoll lächelnd hob er die Hände, und seine Stimme zerfloß fast vor Rührung. „Gott hat mir Engländer beschert“, sagte er zur Begrüßung, „liebenswerte ehrliche Männer mit ehrlichen und frohen Gesichtern. Laßt euch segnen, o Brüder im Herrn! Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. Amen!“ Offenbar hatte der fromme Mann ein Gespür dafür, denn er ging auf Hasard zu und gab ihm die Hand. „Ihr müßt der Kapitän dieser netten Leute sein“, sagte er salbungsvoll. „Man sieht es an eurer Würde und an der Seele Frömmigkeit.“ Hasard hatte sekundenlang das Gefühl, einen toten weichen Fisch oder einen feuchten Schwamm in der Hand zu halten. Der Händedruck des Mannes war flau, und Hasard, der sich mit Leuten auskannte, fühlte instinktiv, daß die Augen dieses Gottesmannes nicht ehrlich in die Welt blickten. In seinen Pupillen lauerte etwas, das sich noch nicht erkennen ließ. Aber er hatte einen Schiffbrüchigen vor sich, obwohl es dem Mann anscheinend an nichts gemangelt hatte, denn er sah gut genährt aus, hatte ein braunes Gesicht und wasserhelle Augen.
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„Mein Name ist Philip Hasard Killigrew“, sagte er. „Ja, es stimmt, ich bin der Kapitän dieses Schiffes, obwohl ich mir schlecht vorstellen kann, daß meine Seele soviel Frömmigkeit nach außen abstrahlt. Wir haben Ihr Floß gefunden, ich nehme jedenfalls an, daß es Ihr Floß war.“ „So wahr mir Gott helfe. Ich bin Reverend Thornton, Captain Killigrew. Killigrew, Killigrew“, sagte er grübelnd, „den Namen kenne ich doch. Einen Sir John Killigrew aus England, irgendwo auf einer Feste. Na, es fällt mir noch ein. Sind Sie mit dem Killigrew verwandt?“ „Das muß eine Namensgleichheit sein“, log Hasard. „Falls Sie Hunger und Durst haben, Reverend, bitte ich Sie aufs Schiff. Wie lange befinden Sie sich schon auf dieser Insel?“ Thornton winkte gnädig ab. „Hunger und Durst sind nicht alles, mein Sohn, das hat Zeit. Ich habe mich von den Früchten genährt, die mir der Herr servierte, und von dem Wasser getrunken, das er mir in seiner großen Güte schenkte.“ Der Reverend seufzte schwer, nachdem seine hellen Augen schnell die einzelnen Männer gemustert hatten. Diese Kerle waren ganz und gar nicht nach seinem Geschmack, fand er. Der Kapitän war keiner von den Dummköpfen, dem man etwas vorflunkern konnte. In seinen Augen stand ein unheimlich waches Mißtrauen, und auch die anderen warfen sich nicht gleich unterwürfig vor ihm zu Boden. „Wie lange?“ fragte er. „Wochen, Monate? Ich weiß es nicht, für mich blieb die Zeit stehen. Gott ließ keinen Sand mehr durch die Uhren rieseln, nicht für mich.“ „Na ja“, sagte Dan trocken. „Er hat ja auch genug andere Dinge zu tun, da kann er sich nicht um jeden einzelnen und seine Sanduhr kümmern.“ Der Reverend lief etwas rötlich an. Sekundenlang verschlug es ihm glatt die Sprache, als er den jungen Kerl ansah, der sich betont gleichgültig gab. „Richtig, richtig“, sagte er pikiert und leicht verärgert. So ganz langsam wollte er sich an sein eigentliches Ziel heranpirschen, doch er
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erkannte, daß er hier höllisch aufpassen mußte, denn die Burschen waren gewitzt und ausgekocht. Sie erkannten seine Autorität einfach nicht so richtig an, wie er zu seinem wachsenden Unbehagen feststellte. „Sie haben sicher eine Menge zu erzählen, Reverend“, sagte der Seewolf. „Wie sind Sie auf diese Insel gelangt? Möchten Sie nicht Ihre Geschichte erzählen?“ „Es ist eine lange und blutige Geschichte“, sagte Thornton und senkte den Blick seiner Augen in den Sand. „Ich schäme mich, wenn ich daran denke, ich schäme mich für die Spanier, deren Bekanntschaft ich mit Gottes Hilfe gerade noch entgehen konnte. Zum Glück ist es schon eine Weile her, als sie hier landeten.“ Jetzt spitzten alle die Ohren. „Spanier, hier, auf dieser Insel?“ fragte Hasard. „Was hatten die hier zu suchen?“ „Später, Kapitän Killigrew, das ist nicht weiter wichtig, es handelt sich nur um das berüchtigte ,Goldene Kalb', diesen verfluchten Götzen, den der Mensch anbetet. Ich will weiter ausholen. Sie sollen alles erfahren.“ Thornton hatte den ersten Samen ausgesät, die Neugier war da, und wurde immer stärker. Bald würde aus dem Samen ein Gewächs werden. Er versprach sich schon jetzt einen dicken Anteil, ohne einen Finger gerührt zu haben. Diese Männer hier waren keine wilden brutalen Piraten, hier herrschten Zucht und Ordnung, dieser Killigrew hatte sie alle im Griff. Mittlerweile hatten sich immer mehr der Seewölfe um den vermeintlichen Reverend geschart. Carberry und der Schiffszimmermann warfen sich einen Blick zu. „Gott hat uns einen neuen Fletcher beschert“, sagte der Profos leise und grinste dabei. Auch Ferris Tucker grinste. „Der stößt mir heute noch auf mit seinen frommen Sprüchen“, sagte er ebenso leise. „Allerdings halte ich den Kerl nicht für ehrlich, der hat etwas vor.“ Carberry nickte und sah den Reverend an, der salbungsvoll sprach und den Blick seiner hellen Augen mitunter zum Himmel
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richtete, als empfange er von dort Eingebungen. Auch die anderen blieben wach und misstrauisch. Thornton war ein Typ, der sich allen durch seine Gesten und seine salbungsvollen Worte von selbst offenbarte, und davon hatten die Männer noch nie viel gehalten. Inzwischen kriegte der Seewolf eine haarsträubende Geschichte zu hören. Thornton berichtete von der großen Reise, davon, daß sie etliche Spanier gekapert hätten und von allem Möglichen. „Wie passierte das mit dem Floß?“ fragte Hasard, denn der Gottesmann hatte dieses Thema immer wieder hinausgeschoben und drückte sich sichtlich vor einer Antwort. „Auch das ist eine lange Geschichte“, sagte er und überlegte fieberhaft, wie er sich da herauswinden konnte. „Hat man Sie ausgesetzt, Reverend?“ fragte Matt Davies direkt. Thornton hob entsetzt die Hände. „Einen Priester setzt man nicht aus“, sagte er etwas von oben herab. „Das Schiff ging unter, langsam, es dauerte ein paar Tage, aber wir wußten es und konnten uns darauf einrichten. So hat unser Zimmermann kleine Flöße gebaut für den Fall, daß wir das Schiff verlassen mußten. Und siehe da: Der Herr hatte ein Einsehen und rettete uns.“ Hasard eisblaue Augen forschten in Thorntons Zügen. „Gab es bei Ihnen an Bord keine Beiboote?“ fragte er. „Natürlich gab es ein Beiboot, aber das wäre zu eng geworden, schließlich waren wir mehr als zwanzig Mann, und daher verteilten wir uns auf das Boot und mehrere Flöße. In meiner Bescheidenheit verzichtete ich darauf, das große Boot zu benutzen. Ein paar andere und ich nahmen mit den Flößen vorlieb. Wir befanden uns ja in Sichtweite der anderen, und wir dachten, es könne nichts passieren. Die See war ruhig, es ging kein Wind. Erst in der darauffolgenden Nacht begann das Unheil.“
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Der Blick in Hasards Augen wurde fast träge. Er glaubte dem Kerl kein einziges Wort. Aber der Seewolf gab sich verbindlich und gelassen, er wollte auch noch den Rest hören. Er stellte auch absichtlich keine Fragen, und das schien den Reverend zu verwirren. Beim Erzählen stockte er, geriet ins Stottern. und dabei fiel sein Blick auf Luke Morgan, der ihn unverschämt angrinste. Die Kerle glauben mir nicht, dachte er. Aber sie konnten nichts wissen, sie konnten nicht einmal Vermutungen anstellen. „In jener Nacht briste es auf“, erzählte er weiter, „und innerhalb kurzer Zeit löste sich unser Verband auf, der Kontakt brach ab, und wir haben uns nicht mehr gesehen.“ „Und das Schiff war untergegangen?“ fragte Hasard. „Es war bereits am Sinken. Ratten hatten Löcher in den Rumpf gefressen, die Vorpiek war undicht, und die See sprühte in ganz feinem Strahl herein.“ „Und das ließ sich nicht beheben?“ fragte Tucker ungläubig. „Nein, da half alles nichts. Unser Zimmermann und seine Gehilfen taten alles Mögliche, doch es war aussichtslos.“ „Woher wollen Sie denn eigentlich wissen, Reverend, daß die anderen alle gerettet wurden?“ fragte Hasard. „Ja, äh, ich nehme das an. Unser Captain sägte, daß es hier viele Inseln gäbe, und dann ist es doch nur natürlich, daß auch die anderen Land erreicht haben.“ „Ja, das ist anzunehmen“, sagte Hasard und dachte sich seinen Teil über den Reverend. Irgendetwas verbarg der Mann vor ihnen, das war sicher, und vielleicht würde sich später auch einmal herausstellen, was der Bursche vor ihnen verbarg. „Wie war das mit den Spaniern?“ erkundigte sich der Seewolf weiter. „Sie erzählten davon.“ Thornton hatte sich eine nette glaubhafte Geschichte aufgebaut, sie im Handumdrehen aus den Fingern gesogen, aber wenn er die Männer jetzt so anblickte,
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dann fand er, daß seine Geschichte eigentlich nicht viel wert war. In der Theorie sah das immer ganz anders aus als in der Praxis. Nun gut, die Sache mit den Schätzen hatte noch Zeit, da wollte er nichts übereilen, und außerdem durfte er kein auffälliges Interesse zeigen. Daher winkte er ab. „Eine Bande lausiger spanischer Räuber und Piraten landete hier. Sie luden eine Schatztruhe aus und eine große hölzerne Figur, die sie zu der Höhle trugen.“ Thorntons abgewinkelter Daumen wies lässig auf den brausenden Wasserfall. Hasard kniff jetzt die Augen zusammen und warf einen nachdenklichen Blick auf Ben Brighton. Wenn der Reverend von der Höhle und den Schätzen wußte, dann gehörte ihm auch ein Anteil davon, überlegte Hasard. Andererseits aber war es durchaus möglich, daß der Reverend sie beobachtet hatte und deshalb alles über die Grotte und ihren Inhalt wußte. Hasard hatte noch einen anderen Gedanken. Die Gebeine in der Höhle waren schon sehr alt, die Truhe halb verrottet und das Ledersäckchen vermodert. Was sich hier am Wasserfall abgespielt hatte, mußte also schon einige Jahre zurückliegen, und solange war der Reverend auf keinen Fall hier. „Haben Sie die Grotte gesehen?“ fragte er. Da beging Thornton seinen ersten entscheidenden Fehler. „Die Neugier ließ mir später keine Ruhe“, sagte er. „Ich mußte einfach nachsehen, was sich in der Höhle alles befand.“ „Hatten Sie das nicht beobachtet?“ „Nicht alles, die Spanier waren äußerst mißtrauisch und suchten vorher gründlich die Insel ab. Ich hatte ja Zeit, und daher versteckte ich mich, bis sie wieder lossegelten.“ Die Sache stank zum Himmel, fand Hasard. Aus welchem Grund sollten spanische Piraten eine Schatztruhe oder die schwarze Madonna hier verstecken? Das ergab nicht den geringsten Sinn. Ob der Reverend wußte, daß sie die Sachen längst entdeckt hatten?
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Sie belauerten sich gegenseitig. Gab Hasard zu, daß sie die Schätze bereits geborgen hatten, würde der listige Reverend auf Fangfragen wohl kaum hereinfallen. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Ein paar der Seewölfe blickten scheinheilig zu dem Wasserfall hinüber und heuchelten Interesse, aber der Reverend musterte sie überlegen und grinste sich eins. Hasard sah dieses heimliche Grinsen und wußte Bescheid. Er mußte diesem Kerl das Wasser abgraben, und so sagte er unvermittelt ernst: „Wir haben die Höhle gefunden, Reverend.“ Carberry grinste hinterhältig, Tucker drehte sich grinsend um, und einige andere grinsten ganz offen. Thornton hüstelte, hob etwas hilflos die Schultern und spürte wie ihm kleine Schweißbäche übers Gesicht liefen. „Mit Gold kann man die Welt nicht kaufen“, sagte er entsagungsvoll, „es ist Teufelswerk und bringt nichts als Unheil. Äh, wenn Sie- die Figur gefunden haben, wird Ihnen bestimmt nicht entgangen sein, daß sie aus Gold ist.“ „Nein, das ist uns nicht entgangen“, sagte Hasard. Er spürte, wie dieser Bursche sich verzweifelt an etwas klammerte, das ihm immer mehr entglitt. Doch dann brach Thornton das Gespräch ab, so als würde ihn die Höhle und der Inhalt nicht interessieren. Er wollte Zeit gewinnen, doch der Seewolf vermasselte ihm auch diese Tour. „Es ist eine der größten und gewaltigsten Höhlen, die ich je gesehen habe“, sagte er. „Ich verstehe nur nicht, daß die Spanier hier ein ganzes Lager angelegt haben. In der Höhle befinden sich Taue, Planken, zwei kleine Masten und dicke Bohlen. Haben Sie dafür eine Erklärung, Reverend?“ Thornton wischte sich über das Gesicht. Himmel, stellte dieser Kerl Fragen! Der brachte ihn ganz schön ins Schwitzen. „Vielleicht haben sie das getan, weil sie hierher zurückkehren wollen“, sagte er schnell. „Ja, natürlich, anders kann es gar nicht sein. Schließlich werden sie auch
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einmal ihre Schätze wieder abholen wollen.“ „Ja, vermutlich sind sie von einem anderen Schiff gejagt worden und haben die Beute vorerst in Sicherheit gebracht.“ „So wird es sein“, erwiderte Thornton erleichtert. Was, zum Teufel, überlegte er fieberhaft, war jetzt nur mit dieser lausigen Höhle los? War sie jetzt groß oder klein, oder wollte dieser Killigrew ihn nur auf die Probe stellen? Er fand keine Antwort darauf. Für den Seewolf und seine Männer stand jetzt eindeutig fest, daß dieser Reverend sie belogen hatte. Er war nie in der Höhle gewesen und hatte nichts weiter getan, als sie beobachtet und danach drei und drei zusammengezählt. Allerdings ergab das noch lange nicht sechs. Seine merkwürdige Rechnung war nicht aufgegangen. Thornton heuchelte Interesse an den rauchenden Meilern, bewunderte das Schiff und lenkte rasch von dem Thema ab, das so heiß war wie ein Brander. Er spürte die spöttischen und nachdenklichen Blicke der Männer fast schmerzhaft in seinem Kreuz brennen, und so schlenderte er am' Strand entlang, begrüßte diesen und jenen Mann freundlich und klopfte fromme Sprüche. Carberry schüttelte den Kopf. „Wenn dieser lausige Kerl ein Reverend ist, dann bin ich das Kielschwein der ‚Isabella'. Mit dem stimmt doch vorn und hinten nichts überein. Der hat uns beobachtet und ist auf deinen Trick mit der Höhle prächtig hereingefallen.“ Auch die anderen hielten mit ihrer Meinung nicht zurück. „Ein infamer Lügner“, sagte Brighton, „der will nur seinen Anteil und sonst nichts, und ich wette ebenfalls, daß er kein Reverend ist und nie einer war: Den hat man ausgesetzt, und uns wird nichts anderes übrigbleiben, als ihn an Bord zu nehmen.“ „Das befürchte ich leider auch“, sagte Hasard. „Bisher hat er uns noch nicht darum gebeten, aber das wird nicht mehr
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lange dauern: Oder er wartet, bis wir ihn bitten.“ Sie warfen sich unbehagliche Blicke zu. „Ein Rübenschwein ist das, ein lausiges“, sagte auch Ferris Tucker. „Wenn der bei uns an Bord ist, wird die ‚Isabella' zehn Meilen gegen den Wind stinken. Müssen wir den eigentlich mitnehmen, Hasard?“ „Sollen wir ihn allein zurücklassen? Er ist ein Schiffbrüchiger, ausgesetzt oder nicht, das können wir nicht beweisen. Und seine Gier nach den Schätzen wundert mich auch nicht sonderlich. Ich kenne kaum jemanden, der nicht wild auf Gold ist und versuchen würde, sich seinen Anteil auf irgendeine miese Art zu erschwindeln. Jedenfalls ist mir der Kerl ein Rätsel, aber wir werden ihn schon noch ausholen.“ Der Bursche, der ihnen allen Rätsel aufgab, tummelte sich immer noch am Strand, schlenderte mal hierhin, mal dorthin, betrachtete den Gambianeger Batuti wohlwollend und gönnerhaft und fragte nach Einzelheiten. Nur über sich selbst sprach er wenig, denn das wurde ihm immer gefährlicher. Die Männer gingen weiter ihrer Arbeit nach, und auch der Reverend half beim Fischen und Früchtesammeln. Insgeheim war er froh, wieder ein Schiff unter dem Hintern zu haben, das ihn von dieser Insel fortbrachte. Allerdings mußte er den Kapitän noch darum bitten, aber so wie es aussah, stand dem nichts im Wege. Spät am Abend glaubte er, schon halbwegs in die Crew integriert zu sein, und er sonnte sich in dem Gefühl, ein feines Leben an Bord führen zu können, denn hier gab es alles, was man zum Leben benötigte, und als Gegenleistung nervte er die Männer mit seinen frommen Bibelzitaten und Sprüchen. 3. Young-Bootsmann Blake hielt es nicht mehr aus. Er trat vor Stan Ellen hin und blickte ihn an. „Sag doch ein einziges Wort, verdammt!“ schrie er. „Öffne ein einziges Mal das Maul, Cap.“
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Stan Ellen rührte sich nicht. Er starrte weiterhin in unbekannte Fernen und hatte einen Blick, vor dem Blake sich allmählich zu fürchten begann. „Du Idiot!“ sagte Blake verächtlich. „Du widerlicher Idiot, du verfluchter Feigling.“ Ellen gab immer noch keine Antwort. Er schien den Bootsmann nicht zu sehen. Blake trat leicht mit dem Fuß nach dem sitzenden Mann. Einmal mußte der Cap doch reagieren, dachte er wütend. Doch der Cap reagierte selbst auf den Tritt nicht. Voller Zorn lief Blake nach achtern zur Kapitänskammer, riß dort den Degen von der Wand, lief wieder zurück und setzte die scharfe Spitze Ellen auf die Brust. „Wenn du jetzt nicht wenigstens ein Wort sagst, durchbohre ich dich damit.“ Er heulte fast vor Wut und ohnmächtigem Zorn, als Ellen nicht einmal auf die Degenspitze blickte. Blake warf die Waffe auf die Planken, wo Sie zitternd im Holz steckenblieb. Diesmal aber reagierte der Captain. Sehr langsam wandte er den Kopf und betrachtete wie ein kleines Kind den wippenden Degen. Seine Augen folgten jeder Bewegung, bis der Degen nicht mehr zitterte. Erst da erlosch Ellens Interesse, und er kehrte wieder in seine eigene merkwürdige Welt aus Erinnerungen zurück, eine Welt, die Blake verschlossen blieb und die er nicht begriff. Blake mußte jetzt irgendetwas unternehmen, sonst wurde er genau so wahnsinnig wie der Cap, das spürte er ganz deutlich. Er kehrte an Land zurück, sammelte die restlichen Früchte, die es noch gab, und jagte einer Schildkröte hinterher, bis es ihm gelang, sie zu fassen. So, aus, überlegte er, hier gab es nichts mehr zu holen, sie mußten fort, weg, irgendwo hin, egal wo sie landeten, aber diese Insel kotzte ihn jetzt an, er konnte sie nicht mehr sehen. Die Früchte warf er dem Cap vor die Füße, der immer noch so regungslos auf den Planken hockte, vor sich hinstarrte und kein Wort sprach.
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Ellen sah die Früchte nicht. Er schien durch sie hindurchzublicken, wie er durch alles hindurchblickte. „Leck mich am Arsch“, sagte Blake laut und deutlich. Dann, als keine Reaktion erfolgte, tippte er sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und drehte sich um. Etwas später quälte er sich damit ab, das einzige Segel zu setzen, das sie noch hatten. Er fluchte, schrie und bettelte, Ellen möge ihm, verdammt noch mal, helfen, aber sein Geschrei stieß auf taube Ohren. Blake betrachtete seinen Vorgesetzten jetzt immer mehr mit ängstlichen Blicken, belauerte ihn und wagte es kaum, sich umzudrehen, aus Angst, dieser Wahnsinnige könnte plötzlich aufspringen und ihm ein Messer ins Kreuz stoßen. Dann sah er das winzige Wasserfäßchen an Deck und grinste. Er würde den Cap schon zum Sprechen bringen, denn Durst hatte er ganz sicher in den nächsten Stunden, und Blake schwor sich, ihm nur dann einen Schluck zu geben, wenn Ellen ihn darum bat. Und verdammt wollte er sein, wenn er ihm auch nur einen Tropfen gab, solange der Cap nicht redete. Das Segel stand jetzt, doch der Wind blähte es kaum. Jedenfalls reichte es nicht zum Segeln. Blieb noch der Anker, der auf Grund lag. Den konnte er allein niemals hochhieven, aber wozu brauch: ten sie eigentlich einen verdammten lausigen Anker? Wenn sie jemals anderes Land erreichten, sollte die alte Tante getrost auf den Strand laufen. Nein, sie brauchten wirklich keinen Anker mehr. Blake riß den Degen aus den Planken, sprang mit der gezückten Waffe auf den apathisch da hockenden Cap zu und stieß einen brüllenden fürchterlichen Schrei aus. Ellen sah an ihm vorbei, unbeeindruckt, teilnahmslos. Auf dem Vorschiff nahm Blake grinsend Maß, holte weit mit den Degen aus und kappte die Ankertrosse. Dabei grinste er bösartig und begann auf dem Schiff hin und her zu tanzen, den Degen spielerisch
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von sich gestreckt, gegen imaginäre Schatten kämpfend. Nicht nur Stan Ellen ist verrückt, dachte er, ich bin auch verrückt, ich kann nicht mehr klar denken und tue unsinniges Zeug, Blödsinn, dumme Spielereien. Anschließend ging er wieder zu Ellen zurück, starrte ihn aus rotgeränderten Augen an und lachte hämisch. „Wir segeln, Cap!“ brüllte er. „Wir beide, du und ich, segeln jetzt um die Welt. Mit einem alten Nachttopf, der an allen Stellen leck ist, den sogar die Ratten verlassen haben, weil sie genau wissen, daß er bald absäuft. Und wenn wir absaufen, Cap, dann werden wir auf dem Grund des Meeres hocken und mit den Seeweibern spielen. Hörst du den Wind in der Takelage, Cap? Hörst du wie er durch die Pardunen pfeift, wie sich die Segel blähen, und siehst du auch die riesige Bugwelle? Ha, das ist mein Werk, Cap. Scheiß auf den Anker, den verdammten. Oder brauchst du einen Anker, Cap? He, brauchst du vielleicht einen Anker?“ Er lachte wie toll, schlug sich auf die Schenkel, hüpfte um den reglos dasitzenden Ellen herum, beleidigte und verfluchte ihn, schrie dann wieder lachend auf, bis sein Gesicht ganz ernst wurde und eine Träne aus seinem rechten Auge fiel. Nachdem er sich ausgetobt hatte, ging er nach achtern, stellte das Ruder in die Mitte und band es fest. Ja, jetzt war er der Cap, der Herr über ein Schiff, über einen lausigen Nachttopf, der gar nicht daran dachte, sich von dieser Scheiß-Insel wegzubewegen, der störrisch auf der Stelle liegenblieb und sie nicht mehr weitertragen wollte. Das Schlimmste für den YoungBootsmann war, daß er genau erkannte, wie der Wahnsinn ihn langsam, aber sicher ebenfalls befiel. Er kam in Intervallen und verschwand dann stundenlang wieder. Er redete sich ein, Ellen sei an allem schuld, und wenn ihn die Wutanfälle packten, hüpfte er wieder und wieder um ihn herum, streckte ihm die Zunge raus und faselte von Wasser und davon, daß es ganz kühl und frisch sei.
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Ab und zu spie er ihm ins Gesicht, wenn keine Reaktion erfolgte. Stunden später trieb die „Black Pearl“ endlich von der Insel weg. Eine sanfte Strömung packte sie und schob sie hinaus. Blake lehnte am Schanzkleid und sah der Insel mit gemischten Gefühlen nach. Jetzt war er ganz auf sich allein gestellt, und bald würde es keinen Landstrich mehr geben, nur noch die See, die unendliche weite verdammte See, die er so haßte. Immer wenn sein Kopf klar war, durchsuchte er das ganze Schiff, und dabei geriet er auch in die Vorpiek. Schon auf dem schmalen Gang dahin stand Wasser, und er spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Das Leck fand er nicht, aber an einzelnen Stellen sah er, wie es ganz fein hereinstäubte, ein feiner sprühender Nebel aus Seewasser war es, der durch unsichtbare Ritzen drang. Blake schlug die Hände vors Gesicht und hastete zurück. „Nicht mehr lange, und wir saufen ab, Cap“, sagte er, „wir sind vorlastig, und — ach, du hörst mir ja doch nicht zu, du alter Trottel.“ Ellen hat ein höhnisches, ja fast teuflisches Lächeln auf den Lippen, dachte er. Ein hinterhältiges infames Grinsen ist es, als habe der verrückte Kerl etwas vor. Blakes Augen suchten in aufkeimender Panik die See ab. Die Insel war längst nicht mehr zu sehen und das, was er genau voraus für einen feinen Landstrich hielt, war nichts anderes als eine kleine Nebelbank am Horizont. Blake holte die Lederpumpe, brachte sie nach vorn und begann, das eingedrungene Wasser hinauszubefördern. Nach ein paar Stunden, in denen er wie ein Tier geschuftet hatte, verlor er die Lust. Es hatte doch keinen Zweck mehr, es wollte sich kein Erfolg einstellen. Nicht einmal um eine Daumenbreite hatte sich das Wasser verringert. Er fühlte wieder die heiße Welle in seinem Körper aufsteigen und dachte bei sich: Lieber Gott, laß mich bloß nicht so werden
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wie Ellen, bloß nicht dem Wahnsinn verfallen! Wenn er den Cap ansah, würgte es ihn. Das Grinsen auf seinen Lippen hatte sich verstärkt. Seine unnatürlich weit aufgerissenen Augen folgten jetzt jeder seiner Bewegungen, ohne daß sich sein Kopf bewegte. Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, den verrückten Cap einfach über Bord zu werfen. Er gestand sich ein, daß seine Angst vor Ellen immer größer wurde, und er spürte überdeutlich, daß der Cap etwas Schlimmes vorhatte. „Willst du Wasser, Cap?“ fragte er in der Hoffnung, Ellens Zustand würde sich doch noch ändern. Er erhielt keine Antwort, obschon Ellen jedes Wort deutlich verstehen mußte. Sollte er ihm Wasser geben? Oder sollte er warten, bis Ellen darum bat? Er konnte sich lange nicht entscheiden, aber dann holte er doch eine Muck und füllte sie. Er hielt sie Ellen dicht vor die Augen, doch der blickte nicht auf das Wasser, sondern auf ihn, und dieser unheimliche Blick jagte ihm wieder einen kühlen Schauer über den Rücken. „Wasser, Cap“, sagte er heiser. „Hier, trink einen Schluck!“ Als Ellen auch nach einer Weile nicht reagierte, packte ihn erneut der Zorn. Mit einem wütenden Schrei schleuderte er ihm den Inhalt der Muck in das Gesicht. Der Cap rührte sich nicht, er schloß nicht einmal in einem automatischen Reflex die Augen, er streckte auch nicht die Zunge heraus, um die Tropfen von seinen Lippen zu lecken. Blake ging nach achtern, durchwühlte die Kammer und fand die Roteiros, die sie den Spaniern abgenommen hatten. Er fand sich mit den Kurskarten auch nicht besser zurecht als Ellen, und so warf er das Roteiro wütend auf die Planken. Erst jetzt verspürte er den leichten Windzug und blickte nach dem Segel. Der Wind hatte merklich aufgefrischt, das Segel war gebläht und die „Black Pearl“ wurde von dem achterlichen Wind sanft geschoben. Zwar geriet sie immer wieder aus dem Kurs, doch sie lief —
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irgendwohin. Blake ließ sie laufen, ihm war es egal, ob das Segel richtig stand oder falsch, ob das Schiff aus dem Kurs gierte oder vor dem Wind lief. Er konnte es allein nicht bedienen und so ließ er es laufen. Mit Gottes Hilfe erreichte er vielleicht doch noch eine Insel. * In dieser Nacht schlief er in der Kapitänskammer und träumte wirres ungereimtes Zeug. Das Sonnenlicht durch die bleiverglasten Fenster weckte ihn, als es sich auf dem Wasser spiegelte. Blake stand auf und schlich gebeugt an Deck. Es hatte sich nicht viel verändert, das Schiff lief mit schwacher Fahrt dahin, die Sonne schien, und der Himmel war von zarter Bläue. Alle Knochen täten ihm weh, er hatte Hunger und Durst und fühlte sich so elend wie schon lange nicht mehr. Er ging zu Ellen, um nach ihm zu sehen, doch Ellen war verschwunden, er hockte nicht mehr auf den Planken. Ein eisiger Schreck durchzuckte den Bootsmann. Er sah sich nach allen Seiten um, konnte den Cap aber nirgends entdecken. Er holte sich den Degen und belauerte das Schott auf dem Vorschiff. Schon gestern hatte er gewußt, daß Ellen etwas vorhatte, und jetzt gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte er sich irgendwo versteckt, oder er war in seinem Wahnsinn über Bord gesprungen. Wenn der Cap sich versteckt hatte, konnte das nur heißen, daß er den Bootsmann überfallen oder umbringen wollte, so redete es Blake sich immer wieder ein. Er sah in der Segellast nach, blickte in die Taurollen, aber er fand den Cap nicht. Also mußte er im Vorschiff sein, da, wo sie die Toten herausgeholt hatten. Ein entsetzlicher Gedanke. Blake hatte die Räume nicht mehr betreten, seit sie da vorn aufgeklart hatten, und er würde sie auch nie mehr betreten, das wußte er genau.
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Er sah nach dem Wasserfäßchen, dem kostbarsten Gut, das er noch hatte und fand es unberührt. Auch die Schildkröte befand sich noch an Bord und döste in der Kuhl. Blake sah sie mit hungrigen Augen an, er hatte sie sich bis zuletzt aufheben wollen, wenn der Hunger ihn von innen fraß, aber jetzt wußte er, daß er sie schon heute verzehren würde. Ellen, Ellen, dachte er immer wieder. Wo, zum Teufel, konnte der Wahnsinnige stecken, und was hatte er vor? Da sah er, wie sich das Schott zu den Mannschaftsräumen ganz leicht bewegte. Dahinter also lauerte der wahnsinnige Captain. Gedankenschnell war Blake am Schott und legte den schweren Holzriegel vor. Dann stieß er den Degen leicht in die Bohlen und hämmerte mit den Fäusten dagegen. „Hast du dir gedacht, Cap!“ schrie er laut. „Aus dem Hinterhalt wolltest du mich überfallen, du erbärmlicher Hund! Aber jetzt habe ich dich, ich laß' dich nur heraus, wenn du mich bittest und du wieder vernünftig bist.“ Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die schwere Bohlentür und lachte laut. Dabei fiel sein Blick auf das leicht geblähte Segel. An der Rah darunter, an der sie kein Segel fuhren, hing Stan Ellen an einem soliden Hanfstrick. Er baumelte dort und bewegte sich um seine Achse, und dabei streckte er Blake die Zunge heraus. 4. Am folgenden Morgen wurden die Reste der Holzkohle eingesammelt und an Bord gebracht. Hasard hatte vor, danach ankerauf zu gehen. „Ich wollte mir noch einmal die Höhle ansehen“, sagte Thornton, der die Nacht an Bord verbracht hatte. Seine Frage hatte er immer noch nicht gestellt, ob er an Bord bleiben dürfe. Das belustigte Funkeln in den Augen des Seewolfs entging ihm.
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„Selbstverständlich gern“, sagte Hasard freundlich und ging mit Thornton zu dem Wasserfall. Kurz davor blieb er stehen. „Sie wissen ja, wo es ist“, sagte er. Thornton nickte und fragte sich, ob die Kerle vielleicht in ihrem Eifer ein paar Goldstücke übersehen hatten, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war. Hinter den Felsen und dem Wasserfall sah er sich ratlos um. Er sah keine Höhle, nur das dichte Gewirr aus nassen, schmierigen Lianen und die glitschige Wand. Völlig verblüfft stand er da und suchte alles ab. Durch den Vorhang aus brausendem Wasser sah er den schwarzhaarigen Kapitän stehen und in seine Richtung blicken. Verdammt, dachte er. Ob der Kerl etwas gemerkt hatte? Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu. Es war ihm peinlich, zugeben zu müssen, daß er die Höhle nicht fand, die er angeblich doch entdeckt und betreten hatte. „Nanu“, hörte er plötzlich neben sich die freundliche Stimme dieses Killigrews. „Finden Sie den Eingang nicht mehr, Reverend Thornton? Ich denke, Sie waren in der Grotte?“ „Ja, äh ...“ sagte Thornton kläglich. „Es ist so verwirrend, und außerdem kriegte ich Wasser in die Augen. Ich sehe kaum noch etwas.“ „Dort hinunter, auf die kleinen Felsen“, sagte Hasard. „Vergessen Sie nicht, den Lianenvorhang zu zerteilen.“ „Richtig, jetzt sehe ich auch wieder besser, vielen Dank.“ Thornton wischte sich über die Augen und grinste verlegen. „Weil Sie gerade hier sind, Sir, ich habe eine Bitte an Sie.“ „Ich höre.“ „Ich möchte Sie bitten, mich mitzunehmen. Ich weiß, ich verlange viel, aber ich möchte nicht auf dieser Insel bleiben, allein, Sie verstehen, Mister Killigrew?“ „Natürlich verstehe ich das“, erwiderte der Seewolf. „Aber darüber reden wir nachher, wenn Sie die Höhle besichtigt haben. Vielleicht überlegen Sie es sich dann noch einmal.“
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Mit diesen Worten konnte Thornton überhaupt nichts anfangen. Sie verunsicherten ihn nur. Weshalb sollte er seine Meinung ändern? Das kapierte er nicht. „Wie Sie wünschen, Sir“, sagte er steif und förmlich. Hasard ging wieder zurück, setzte sich in den warmen Sand und grinste vor sich hin. Es dauerte nicht lange, da kehrte Reverend Thornton zurück. Er war gebrochen an Leib und Seele, und Hasard hatte selten ein dümmeres Gesicht gesehen als das, was Thornton zur Schau trug. Ganz geknickt war der Mann, und er hüstelte verlegen. Statt einer großen Höhle mit Tauwerk und Masten hatte er nur eine sehr kleine Grotte mit zwei Skeletten gesehen, bei deren unverhofftem Anblick sich ihm der Magen zusammenkrampfte. Er stand vor Hasard und starrte beschämt zu Boden. Seine Finger drehten unsichtbare Fäden zu einer Rolle. Der Seewolf sah ihn scharf an. „Wir sollten etwas deutlicher miteinander reden“, sagte er kalt. „Ich bin sicher, daß Sie mir etwas mitzuteilen haben.“ Thornton blickte immer noch zu Boden. Selten hatte ihn ein Mann so beschämt wie dieser Killigrew, und das fraß und nagte in ihm und ließ ihm keine Ruhe. „Ich bin ...“ sagte er leise und wollte weiterreden, doch Hasard winkte ab. „Wenn Sie mit uns segeln wollen, dann kehren wir jetzt an Bord zurück. Dort werden Sie vor versammelter Mannschaft eine kleine Rede halten, wer Sie wirklich sind und was Sie wollten, und wenn Sie nicht die Wahrheit sagen und mich weiter anlügen, dann, mein lieber angeblicher Reverend, werden Sie Muschelstudien betreiben. Das heißt, ich lasse Sie kielholen! Haben Sie das verstanden, oder muß ich deutlicher werden?“ Thornton rang mit sich. Er wollte hier weg, um jeden Preis jetzt erst recht, seit er die Insel mit zwei Gerippen teilen mußte. Er nickte kläglich, und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Beschämt versicherte er : „Ich habe verstanden, Sir!“
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Ein Blick in die eisblauen Augen seines Gegenübers ließ ihn leicht erschauern. Nein, diesem Mann konnte er keine Märchen erzählen, der war mißtrauisch und wachsam, der nahm ihm sein Lügengespinst nicht ab, der hatte ihn gleich von Anfang an durchschaut und aufs Kreuz gelegt, mit dem war nicht gut Salz lecken. „Ich möchte auch keine frommen und salbungsvollen Sprüche mehr hören“, sagte Hasard noch, worauf Thornton kläglich nickte. Der Strand war mittlerweile abgeräumt. Man sah nur noch die beiden schwarzen Stellen im Sand wo der Kutscher seine Holzkohle hergestellt hatte. Früchte, mehrere Schweine und frisches Wasser befanden sich ebenfalls an Bord. Sechs Mann kehrten an Bord zurück, schweigend, den Blick auf Thornton gerichtet, den sie jetzt wohl oder übel mitnehmen mußten, obwohl er wie ein Fremdkörper auf sie wirkte. Der Profos, der am Schanzkleid lehnte, sah aus düsteren Augen auf den Mann, der wie ein Häufchen Unglück im Boot hockte. „Sieht so aus“, sagte er zu Ferris, „als würde dieses Rübenschwein wirklich mit uns segeln. Der Kerl paßt mir nicht, ich kann ihn nicht leiden. Er ist ein verdammter Lügner und Aufschneider, aber wir können ihn auch nicht hilflos zurücklassen.“ „Mir paßt er auch nicht“, sagte Tucker, „und ich werde das Gefühl nicht los, daß wir mit dem noch eine Menge Ärger kriegen werden.“ Das Boot legte an und die Männer enterten schweigend auf, zwischen ihnen Thornton, der den Blick zu Boden richtete. „Auf die Stationen!“ schrie Ben Brighton. „Anker auf und ...“ „Einen Augenblick noch“, unterbrach ihn der Seewolf. „Bevor wir weitersegeln, hat dieser Mann noch ein paar Worte zu sagen. Stellen Sie sich da oben aufs Quarterdeck, Thornton, und sagen Sie den Männern, was los ist. Aber beeilen Sie sich!“ Thornton war es, als steige er die Stufen zum Galgen hoch. Viele Augenpaare
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musterten ihn gleichgültig. Er stand da, verkrampfte die Hände ineinander und trat nervös von einem Bein auf das andere. Der alte Donegal O'Flynn musterte ihn grimmig. Dieser Kerl in der Priesterrobe hatte ihm einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt, den der Alte so schnell nicht vergaß. Thornton begann mit stockender Stimme zu reden. „Mein Name ist Thornton“, sagte er leise, „und ich muß zugehen, daß ich kein Reverend bin. Ich war Seemann auf der ,Black Pearl', und dort hat man mich ausgesetzt.“ Er sprach nicht weiter und starrte zu Boden. Erst Hasards harte Stimme ließ ihn zusammenzucken. „Erklären Sie das den Männern, die haben ein Recht darauf, es zu erfahren.“ „Sie erkannten, daß ich kein Priester war und sie belogen hatte.” Thornton rang mit sich, aber die Geschichte mit dem Wasser konnte er nicht erzählen. Wenn die Kerle das alles erfuhren, würden sie ihn gnadenlos von Bord und zurück an Land jagen, das sah er an ihren Gesichtern. „Deswegen hat man Sie ausgesetzt?“ fragte Hasard. „Ja, der Kapitän befahl es. Er sagte, er wollte keinen Lügner an Bord haben, der sich vor der Arbeit drückt.“ Hasard fand das sehr seltsam, und auch die anderen sahen sich schweigend an. Das war für sie noch lange Grund, jemanden einfach auszusetzen. Ein paar kräftige Hiebe hätten da nach Ansicht aller viel besser geholfen. Aber sie konnten ihm nicht das Gegenteil beweisen, noch nicht jedenfalls. „Ich habe euch beobachtet“, sagte Thornton weiter, „und als ich das Gold und die anderen Schätze sah, erfand ich die Geschichte von der Höhle. Ich dachte, so kriege ich einen Anteil, weil ich sie ja angeblich entdeckt hatte. Aber ihr habt es gemerkt, und — und ich schäme mich.“ „Profos, du wirst diesen Mann unter deine Fittiche nehmen“, sagte Hasard. „Gib ihm andere Kleidung, er soll sofort diese
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Priesterkleidung ablegen und dann teile ihm Arbeit zu. Er soll sich sein Brot verdienen, bei uns an Bord wird nicht gefaulenzt.“ „Aye, aye, Sir!“ sagte der Profos. „Anker auf und Segel setzen!“ rief Hasard. Carberry winkte den Neuen heran und sah ihm in die Augen. „Auf ein Wort, du Bierfiedler“, sagte er. „Ich bin der Profos und Zuchtmeister von diesem Schiffchen, und was ich sage, außer dem Kapitän, dem Bootsmann und dem Deckältesten, wirst du anstandslos befolgen und tun. Und wenn du faulenzt oder wieder diese Bibelsprüche auf Kiel legst, dann werde ich dir die Haut vom Hintern ziehen und sie zum Trocknen in den Großmars hängen, kapiert?“ „Verstanden, Profos“, sagte Thornton. Insgeheim ärgerte er sich zu Tode, daß er seine alte faule Rolle nicht weiterspielen konnte. Dieser Kerl, der Profos, war einer von der ganz harten Sorte, da brauchte man nur einmal hinzublicken, um das zu erkennen. Schon die Art, wie der riesige Bursche sein Rammkinn vorschob, ließ nicht den geringsten Zweifel offen, daß er seine Worte sehr ernst zu nehmen hatte. „Da drüben ist das Land“, sagte Ed, „noch kannst du es dir überlegen. Und nun stell dich mal an die Nagelbank und zeige, was du gelernt hast, hopp, hopp!“ Thornton verschwand eilig, aber beim Klarieren der Nagelbank stellte er sich ziemlich ungeschickt an. „Himmel, was haben wir uns da nur eingehandelt“, sagte Matt Davies zu Big Old Shane. „Der Kerl versteht sein Handwerk ja nicht einmal zur Hälfte.“ „Kein Wunder“, entgegnete der graubärtige Riese. „Wenn der sich dauernd als Priester ausgab, brauchte er ja auch nicht zu arbeiten. Das ist ein ganz fauler Hund, Matt, der möchte am liebsten noch von uns gefüttert werden.“ Als der Anker eingeholt war und die Segel standen, ließ der Profos Kleidung für Thornton holen. Der Neue erhielt ein Hemd und eine Segeltuchhose, und als er seine Priesterkleidung abgelegt hatte, stand er an Deck herum und tat so, als wäre er
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emsig beschäftigt. Er arbeitete, ohne etwas zu tun. Mal sah Carberry ihn auf Backbord herumhängen, mal wieder fand er ihn auf Steuerbord, wo der Kerl sich bückte, ein zusammengerolltes Tau aufhob und es auf die andere Seite brachte. Dem Profos entging das nicht, und so krümmte er nach einer Weile wieder den Zeigefinger. Er wollte den Kerl nicht kujonieren, aber er sah auch nicht ein, daß der sich dauernd drückte, sich zwar bereitwillig zeigte, aber dennoch nichts tat. „Geh nach vorn zum Kutscher, Thornton“, sagte er, „das Kombüsenschott ist offen, du siehst es von hier aus. Der Kutscher braucht noch einen Mann zur Aushilfe, er hat eine Menge zu tun. Er wird dich schon einweisen.“ „Küchenarbeit habe ich noch nie verrichtet, Sir.“ „Ich bin als Säugling auch nicht zur See gefahren“, sagte Ed, „und später hat es dann ganz von selbst geklappt.“ Sein narbiges Gesicht verfinsterte sich drohend. „Wenn dir die Arbeit aber nicht gefällt, dann kannst du hier gern den Profos spielen, und ich helfe in der Kombüse. Wir werden uns ganz sicher einig. Und nun glotz nicht den Wind aus den Segeln, Kerl, und verschwinde. Meine gute Laune hält meist nur ein oder zwei Glasen an. Ab mit dir!“ Thornton kannte den Profos noch nicht, sonst hätte er es nicht mal gewagt, zu sagen, daß er von Küchenarbeit nichts verstünde. Doch als er jetzt in das narbige, wüste Gesicht blickte, lernte er den Profos schon besser kennen. Er wurde klein und häßlich und nickte hastig. „Eine Frage noch, Sir. Welche Richtung segeln wir? England?“ Carberry wies mit der ausgestreckten Hand nach vorn. „Siehst du die Blinde dort und den Klüver?“ „Ja, Sir.“ „Denen segeln wir immer hinterher. So haben wir es von Anfang an gehalten und sind überall hingekommen, wohin wir
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wollten. Eine prächtige Einrichtung, so ein Klüver.“ „Wirklich, Sir“, stotterte Thornton und hatte es plötzlich eilig, aus des Profos` unmittelbarer Nähe zu verschwinden. Auch der Kutscher nahm ihn ziemlich ungnädig auf. Dieser Thornton hatte so eine Art an sich, die allen mißfiel, und daher schickte er ihn erst einmal mit dem Abfallkübel an Deck. „Dieser Kerl verbreitet ständig so eine kleine Pestwolke um sich“, sagte er etwas später zu Ed. „Man kann das gar nicht richtig erklären. Er stinkt nicht richtig, aber um ihn herum befindet sich etwas. Man hat dauernd das lausige Gefühl, beklaut oder belogen zu werden.“ „Da hast du ein wahres Wort gesagt, Kutscher. Das ist ein Lausekerl, der seine Großmutter dem Teufel verschachert, egal, was immer das auch einbringt. Behalte ihn gut im Auge.“ Die „Isabella“ hatte jetzt die „Profos-Insel“ hinter sich gelassen und ging auf Westkurs. Die Segel wurden nachgetrimmt. Der Wind blies handig aus Nordnordost, aber die See war bis auf eine leichte Dünung ruhig. Auf dem Achterdeck stand der Rudergast Pete Ballie am Ruder. Er war immer der erste, der das Ruder übernahm, sobald die „Isabella“ auslief und in See ging. Daran würde sich in den nächsten vier Stunden auch nichts ändern. Dan O'Flynn zeichnete weiter an seinen Kurskarten, unterstützt von dem Bootsmann Brighton und Hasard. Ferris Tucker und Big Old Shane waren dabei die Ruderanlage zu kontrollieren. Auf der Insel hatten sie kaum Zeit dazu gehabt, doch die Ruderanlage war einwandfrei in Ordnung, und der Bolzen der die Kette zusammenhielt war noch fast neu, der würde eine Weile halten. Diesem Kettenbolzen schenkte der Zimmermann immer seine ganz besondere Aufmerksamkeit, denn wenn er einmal brach, war die „Isabella“ manövrierunfähig, und das konnte sich bei einer Begegnung mit einem Spanier verhängnisvoll auswirken.
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Der Schimpanse Arwenack war diesmal nicht in luftige Höhen aufgeentert, in seinem Affenhirn kreisten die Gedanken um zweierlei Dinge: Zum einen lauerte er auf eine Gelegenheit, dem Kutscher ein paar der süßen Früchte zu stibitzen, zum andern wollte er den Neuen beschnüffeln, und diese Gelegenheit bot sich jetzt gleich in doppelter Hinsicht in der Kombüse. Der Kutscher musterte den Affen mißtrauisch und behielt ihn im Auge, denn wenn Arwenack sich so harmlos gab, hatte er meist etwas im Hinterhalt. Dieses unauffällige Herumgehocke irritierte den Kutscher, und mitunter hatte er das Gefühl, einen ganz besonders intelligenten Affen vor sich zu haben. „Du hast doch deine Ration schon weg, du haariges Biest“, sagte er zu Arwenack. Doch der schien ihn gar nicht zu hören. Dicht vor dem Schott hockte er auf den Planken und strich sich mit beiden Händen immer wieder über den Schädel, als wolle er sein borstiges Fell glatt streichen. Ab und zu verzog er gräßlich das Gesicht, bleckte die Zähne und knurrte leise wie ein Hund. Der Kutscher konnte diese Leidensmiene nicht länger ansehen, daher zerteilte er eine saftige Marau und hielt sie dem Affen hin. Arwenack riß ihm die Frucht, aus der der Saft quoll, aus der Hand und sprang mit einem Satz auf das über der Kombüse befindliche Deck. „Blödsinn, daß man so ein Vieh noch mit durchfüttern muß“, sagte Thornton säuerlich. „Weshalb habt ihr den nicht einfach an Land gejagt und auf der Insel gelassen? Der frißt euch doch alles weg und klaut bestimmt noch.“ „Weil er ehrlicher ist als die meisten Menschen“, erwiderte der Kutscher ungerührt. „Und jetzt sieh zu, daß du den anderen Abfallkübel auch noch über Bord bringst!“ Thornton grummelte etwas, schnappte sich den anderen Abfall und trat aus dem Schott. Mit einem lauten Schrei ließ er den Kübel fallen, denn Arwenack war ihm ins Kreuz gesprungen, fletschte die Zähne und
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klatschte Thornton die Marau auf den Schädel. Die süße klebrige Brühe lief ihm in die Augen und über das Gesicht, und er versuchte fluchend, nach dem Affen zu treten. Doch Arwenack hatte längst die Position gewechselt und bombardierte das Objekt seiner Griesgrämigkeit mit den Küchenabfällen, die auf den Planken lagen. Der Affe steigerte sich fast in einen Rausch hinein, was seine Abneigung gegen Thornton deutlich zum Ausdruck brachte. Dem verdutzten Mann flog fast alles um die Ohren, was so ein Abfallkübel enthielt. Als das Bombardement vorbei war, sah Thornton aus, als hätte er in dem Abfallkübel übernachtet. Er war von oben bis unten bekleckert, verschmiert und verdreckt und fluchte in allen Tonarten. Der Kutscher hielt sich den Bauch vor Lachen und ignorierte Thorntons. giftige Blicke. „Dieses Mistvieh, dieses elende“, schimpfte Thornton. Der Kutscher zuckte nur mit den Schultern und sah dem Affen nach, der jetzt hinter Batuti herlief und nach der Hand des großen Gambianegers griff. „Er kann dich eben nicht leiden“, sagte er lakonisch. Und in Gedanken fügte er hinzu: Wir anderen auch nicht. Thornton säuberte das Deck, als er Smokys mißbilligenden Blick bemerkte, und diesmal tat er es voller verbissenem Eifer, denn er war selbst schuld an dem Unglück, er hätte den. Abfallkübel eben nicht an Deck stehen lassen sollen. Während jeder seiner Arbeit nachging, segelte die „Isabella“ auf ihrem westlichen Kurs weiter. Die Insel des Profos verschwand am Horizont. Sie fuhren jetzt in den großen Indischen Ozean hinein, der sich endlos vor ihnen ausdehnte. 5. Der einsamste Mensch auf der ganzen Welt war der Bootsmann Blake, der sein Entsetzen immer noch nicht überwunden hatte.
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Von Grauen geschüttelt sah er zu Ellen, dem ehemaligen Captain, der sich in einem Wahnsinnsanfall erhängt hatte. „Weshalb hast du mir das angetan, Cap?“ murmelte er erstickt. „Weshalb hast du das getan?“ Er hatte nicht erwartet, daß Ellen jemals seinen Platz verlassen würde, er, der schon seit Tagen auf den Planken hockte und vor sich hindämmerte, seit der Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen hatte. Und doch mußte Ellen einen klaren Kopf gehabt haben, als er in die Wanten aufgeentert war, sich ein Tau um den Hals gelegt hatte und dann in die Tiefe gesprungen war. Jetzt hing er da, fern aller Ängste, Hunger und Durst. Blake konnte es nicht mehr mit ansehen., Der Magen krempelte sich ihm um, er taumelte zum Schanzkleid und erbrach sich. Er empfand tiefen Haß auf die Welt, auf sich selbst, auf die Leute die an Land hockten und ganz besonders auch auf den Captain Stan Ellen, der sich so hämisch aus dem Leben geschlichen hatte. War das der Preis, den Blake jetzt zahlen mußte? Die Quittung für die Demütigungen, die er Ellen angetan hatte? Ellen mußte ihn ganz bewußt allein zurückgelassen haben, und sein Tod bedeutete für Blake nichts anderes als die unausgesprochenen Worte Ellens: Häng dich doch auch auf! Die „Black Pearl“ driftete weiter. Sie lag auf Süd- oder Südwestkurs, so genau wußte Blake das nicht, es war ihm auch völlig egal. Sollte sie in die finstere Hölle segeln! Er wußte auch nicht, daß er den Kurs nur ein klein wenig verändern mußte, denn dann wäre er auf Land gestoßen. So aber segelte das Schiff ins Nichts hinein, immer weiter in den Indischen Ozean, immer tiefer nach Süden, wo es kein Land mehr gab, außer dem eisigen Kontinent, den Blake nicht kannte und von dem er auch nichts wußte.
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Der Hunger auf die Schildkröte war ihm jetzt ebenfalls vergangen, er spürte nur noch eine tiefe gähnende Leere in sich, eine totale Gleichgültigkeit, und es war wohl das beste, so überlegte er, sich ebenfalls zum Sterben hinzulegen. Er trank einen Schluck Wasser aus dem Fäßchen, das er wie seinen Augapfel hütete, aber das Wasser schmeckte lauwarm und fad, und ihm wurde nur noch übler. Gegen Mittag, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, befielen ihn wieder heftige Krämpfe und Schmerzen. Er lag auf den Decksplanken und trommelte mit den Fäusten darauf herum, schrie, tobte, rief nach Ellen und wollte es nicht wahrhaben, daß er der einzige noch lebende Mann an Bord war. Etwas später hatte er Erscheinungen, Halluzinationen. Die Umwelt veränderte sich, das Schiff war von Leben erfüllt. Von überall her hörte er donnernde Stimmen, die durcheinander sprachen. „Du bist an allem schuld!“ schrie Ellen von der Rah herab. „Dun allein hast mich in den Tod geschickt.“ Und die Männer aus dem Vorschiff, standen jetzt vorn an Deck und schüttelten die Fäuste in seine Richtung. „Kielholen, den Lump! An die Rah mit ihm! Über Bord mit dir, Blake, du hast unsere Ruhe gestört!“ So ging es pausenlos weiter. Mal wurde die Sonne winzig klein und entfernte sich in rasender Eile vom Himmel, mal linste der Mond listig durch die Wolken und lachte ihn aus. Blake hielt sich die Ohren zu, als das Höllenkonzert immer lauter wurde. Am Schanzkleid zog er sich hoch, doch dann warf er sich blitzschnell an Deck zurück, denn ganz dicht vor ihm ragte der Bug eines riesengroßen Schiffes aus dem Wasser. Er war nur noch ein paar Yards von der „Black Pearl“ entfernt. Holz krachte und splitterte, es gab einen ungeheuren Rammstoß. Die Rahen stürzten herunter an Deck, und die Segel begruben ihn mit ihrer schweren Last unter sich.
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Dann ging das Schiff unter und tauchte in gläsernes Wasser, in dem Blake bis. auf den tiefen Grund blicken konnte. Er hielt sich an einer zerfetzten Planke fest und sauste lachend in die glasklare bläuliche Tiefe. Als die Planke sich in den weißen Grund bohrte, sah Blake wieder klar. Er hatte nicht geträumt, das wußte er genau, aber was war es dann gewesen? Weit und breit war nichts als Wasser zu sehen. Vom Himmel brannte weißgelb die Sonne nieder und laugte das Deck aus. Blake sah deutlich, daß sich einige Planken unter der Gluthitze leicht verbogen hatten. Fingerbreite Ritzen befanden sich zwischen den Planken. Er stöhnte leise und wischte sich müde den Schweiß aus dem Gesicht. Vor diesen Anfällen schauderte ihn. Sie waren unheimlich realistisch, klar und deutlich und greifbar nahe für ihn. Er hatte das Schiff bis in alle Einzelheiten gesehen, hörte auch das fürchterliche Krachen, und doch hatte sich wenig später alles wie ein Spuk aufgelöst. Er blickte zu Ellen hoch, der wie eine Puppe aussah und den jeder Luftzug leicht pendeln ließ. Dann raffte er allen Mut zusammen und stieg in die Wanten. Er konnte es nicht länger mit ansehen. Der Tote mußte weg, er störte ihn und erinnerte ihn immer wieder an sein eigenes Schicksal. Er animierte ihn richtig, es ihm gleich zu tun. Der Weg nach oben über die Webleinen nahm kein Ende. Er hatte das Gefühl, in den Himmel zu steigen, der Sonne entgegen, die ihn mit ihren glühenden Strahlen versengte. Tief unter sich sah er das Schiff, winzig klein das Deck, unbeholfen schob es sich durch die See. Das Knarren der Blöcke und Taljen marterte seine Ohren. Das leise Singen des Windes, der durch die Pardunen kaum hörbar pfiff, ließ ihn fast wahnsinnig werden. Aber er schaffte es, den Tampen durchzuschneiden, den Ellen an der Rahnock befestigt hatte. Es mußte den Cap unheimliche Kräfte gekostet haben.
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Der Körper sauste in die Tiefe und verschwand in der See. Haarscharf neben dem Schanzkleid schlug er außenbords auf. Blake starrte ihm nach. Seine Augen brannten, seine Hände waren wundgescheuert, sein Herz klopfte wie rasend. Der Abstieg dauerte noch länger, denn immer wieder wurde ihm schwarz vor den Augen und feurige Ringe kreisten vor seinem Gesichtsfeld. Unten ließ er sich auf das Ladeluk der Kuhl fallen, streckte sich der Länge nach aus und starrte aus blicklosen Augen in den blauen Himmel. Es gab niemanden mehr an Bord, nur ihn noch. Der tote Cap hatte jetzt seine letzte Ruhe gefunden. Außer Blake und der trägen Schildkröte befand sich niemand mehr an Bord. * Blake wußte nicht mehr, wie viele Tage vergangen waren, seit er die Insel verlassen hatte, auf der jetzt die Ratten hausten. Jeder Tag begann wie der vorhergegangene. Die „Black Pearl“ schob sich unermüdlich durchs Wasser, lief aus dem Ruder, drehte sich, kehrte auf ihren alten Kurs zurück und wiederholte das nervtötende Spiel von neuem. Morgens stieg die Sonne aus dem Meer, schien über den Himmel zu wandern, nachdem sie Blake an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, und verschwand dann wieder in der See. Er kontrollierte sein Wasserfaß. In dem Fäßchen war nur noch ganz schwach der Boden bedeckt. Er setzte es an seine aufgequollenen Lippen und wollte trinken. Dann entschied er anders. Er stellte es wieder in den Schatten zurück, schüttelte stumm den Kopf und weinte leise. Er war ein alter Mann geworden, ein uralter Mann, und wenn er sich ans Kinn griff, erschrak er. Sein Bart war länger als seine Hand, und er fragte sich, weshalb man in diesem Greisenalter noch leben konnte. Aber er
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schien etwas Besonderes zu sein, oder vielleicht wollte der Tod ihn auch nur piesacken, bevor er ihn holte. Auch seine Hände sahen merkwürdig aus. Faltig und voller Runzeln waren sie und paßten gar nicht zu den aufgedunsenen Armen. Früher war er schlank gewesen, aber jetzt ähnelte sein Bauch einem Wasserfaß, obwohl er in den letzten Tagen kaum etwas gegessen hatte. Sein körperlicher Zustand wechselte ständig, sein seelischer war noch furchtbarer, wenn ihn die Einsamkeit drückte. Dann stand er stundenlang an Deck, schrie sich die Kehle heiser und wartete auf den Zufall, daß irgendwo Land in Sicht käme oder sich ihm ein anderes Schiff näherte. Als er es vor Hunger nicht mehr aushielt, fiel er über die Schildkröte her. Ihr Fleisch hielt ihn ein paar weitere Tage lang am Leben und es löschte auch in geringem Maße seinen Durst. Aber jetzt war alles zu Ende. Er hatte den Vorhof zur Hölle erreicht, wo ihn der Teufel lachend erwartete. In dem Fäßchen befand sich kein Tropfen mehr, es war knochentrocken, so trocken wie die aufgesprungenen Schiffsplanken. Er wunderte sich, daß die „Black Pearl“ immer noch nicht untergegangen war. Sie hatte doch im Vorschiff und der Piek Unmengen Wasser gezogen. Ob sich die Beplankung wieder von selbst abgedichtet hatte? Sie war zwar immer noch kopflastig und segelte wie eine lahme Ente, die Blei im Hals hatte, aber sie soff nicht ab, sie hielt sich. Der Durst trieb ihn wieder an die Grenze des Wahnsinns. Sein Blut floß nur noch träge durch die Adern, die Hitze höhlte ihn aus, und an diesem Tag war es ganz besonders schlimm. Die flirrende Luft trug ihm Geisterschiffe zu, die immer kurzfristig am Horizont auftauchten, unter voll gebraßten Segeln dahinfuhren und nach einer Weile verschwanden. Blake lud unter unsäglichen Qualen zwei Kanonen, als wieder eins der Schattenschiffe auftauchte. Bis die Lunte
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in seiner zitternden Hand glomm, vergingen Stunden. Dann zündete er die erste. Der Donner ließ ihn fast taub werden, und eine Wolke aus Qualm und Dreck hüllte ihn ein. Er grinste, als die Erscheinung sich auflöste, und feuerte auch noch die andere ab. Der Rückstoß verbreiterte die Ritzen zwischen den Planken noch weiter, aber Blake sah es nicht mehr. Ohnmächtig sank er auf Deck nieder. Er wußte nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, als er nach einem Stück Segelfetzen griff und damit winkte. Er hatte sich längst aufgegeben. 6. Auf der „Isabella“ spitzten die Männer die Ohren. Ganz schwach rollte ein tiefes Murmeln über die See, wie weit entfernter Donner hörte es sich an. Hasard blickte zum Horizont. Aber da gab es nichts zu sehen, keine noch so kleine Wolkenbank, die ein Gewitter mit sich brachte, war zu sehen. „Kanonendonner“, sagte Brighton. „Genauso hörte es sich an.“ „Ja, nach dem Abschuß einer Kanone. Ein Gewitter kann es jedenfalls nicht sein, sonst würden wir etwas sehen.“ Der Seewolf blickte zum Großmars hinauf. Stenmark stand oben hinter der Segeltuchverkleidung und suchte mit dem Spektiv die See nach allen Richtungen ab. „Was siehst du, Stenmark?“ rief Hasard hinauf. „Nichts, Sir, gar nichts!“ „Scheint aus nördlicher Richtung zu stammen“, sagte Dan, „aber das kann auch täuschen. Ich tippe aber trotzdem auf Norden.“ Etwas später wiederholte sich das Rollen. Es war wie ein Grummeln, wie das weit entfernte Grollen eines Vulkans. Aber hier gab es kein Land mehr, es konnte sich daher nach Meinung fast aller nur um Kanonendonner handeln. „Damals hat sich so ähnlich ein Seebeben angekündigt“, sagte Carberry
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nachdenklich, der den Niedergang zum Achterkastell erklomm und oben an der Balustrade stehenblieb. „Weiter fehlt uns auch nichts als ein Seebeben, aber es läßt sich trotz allem nicht ausschließen.“ Hasard hob die Hand, als Carberry noch etwas sagen wollte. „Ruhe, Ed. Vielleicht wiederholt es sich, dann können wir die Richtung genauer bestimmen.“ Sie lauschten minutenlang, doch das Murmeln wiederholte sich nicht mehr. Alles blieb still. „Nach einem Seegefecht hörte sich das jedenfalls nicht an“, sagte Tucker und runzelte die Stirn. „Oder was meinst du, Al?“ wandte er sich an Al Conroy, den Waffen- und Stückmeister an Bord. „Wohl kaum, Ferris. Zwei Schuß —was soll das? Vielleicht gibt es hier Piraten, die ein Schiff mit ein oder zwei Warnschüssen gestoppt haben oder es versuchten.“ „Mann, da können wir doch gleich kräftig mitmischen“, sagte der Hitzkopf Luke Morgan begeistert. „Vielleicht wehrt sich ein Spanier gegen Piraten, dann knöpfen wir uns erst den Don vor und nehmen anschließend den anderen auseinander. Hier, meine Pranken haben schon lange keinen lausigen Don mehr beharkt.“ „Vorläufig wissen wir noch gar nichts“, bremste Hasard seinen Eifer. Er sah es schon an Lukes Augen, daß der Mann wieder einmal so hitzig wie ein Brander war. Hasard wandte sich seinem Bootsmann Ben Brighton zu. „Laß Besan- und Vorsegel wegnehmen, Ben. Wir legen uns ein wenig auf die Lauer, vielleicht geschieht etwas.“ Brighton gab den Befehl an den Profos weiter, und im selben Augenblick erschien Al Conroy grinsend und rieb sich die Hände. „Gefechtsbereitschaft, Sir?“ fragte er. „Warum denn so hitzig, he? Ihr könnt es wohl kaum erwarten. Noch ist gar nichts erwiesen. Und außerdem nehme ich an, daß die Culverinen ohnehin gefechtsbereit
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sind. Du hast sie doch heute morgen noch kontrolliert.“ „Ich meinte auch mehr die Stückpforten,. die sind nämlich noch nicht geöffnet.“ Hasard verbiß sich das Grinsen. Einen Eifer legten diese Burschen heute wieder an den Tag, der war ja geradezu beängstigend. Klar, sie wollten wieder kämpfen, Abwechslung, einen Don aufbringen vielleicht, und ihn selbst juckte es auch schon mächtig in den Fäusten. Aber er schüttelte den Kopf, als er Al Conroys enttäuschten Blick sah. „Sobald etwas auftaucht, Al, vorher nicht.“ „Aye, aye, Sir!“ Die „Isabella“ lief jetzt wesentlich langsamer, nachdem Besen- und Vorsegel nicht mehr standen. Eine knappe halbe Stunde verging, da ertönte Stenmarks Ruf aus dem Großmars: „Mastspitze zwei Strich Steuerbord voraus!“ Die Blicke der Männer folgten der angegebenen Richtung, aber sie sahen noch nichts. Es vergingen ein paar weitere Minuten, bis man vom Achterdeck aus einen kaum sichtbaren winzigen Span erkennen konnte. Noch sah das Ding einem Mast nicht ähnlich. „Das Schiff scheint unseren Kurs zu kreuzen“, sagte Hasard. „Es bewegt sich fast in Nordsüdrichtung. Wir lassen nur noch das Großsegel stehen, Ben, alles andere ins Gei. Ich möchte mir dieses Schiff ansehen.“ „Aye, aye, Sir. Das Schiff scheint nur den einen Mast zu haben, wenn ich das richtig sehe.“ „Hat es auch“, sagte Dan lakonisch, dessen Augen besser und schärfer sahen als die der anderen. „Es scheint nicht richtig zu segeln“, sagte Dan nach einer Weile, „der Kurs ändert sich öfter.“ Das Schiff, das da vom fernen Horizont heranglitt, gab ihnen Rätsel auf, und so blieb noch genügend Zeit für Spekulationen, bis man es deutlicher sehen konnte.
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Hasard blickte durch das Fernrohr, dessen Optik das Schiff ruckhaft heranholte. „Der hatte mal drei Masten“, sagte er, „aber zwei sind zersplittert, und an dem einen fährt er nur ein Segel.“ „Dann ist es das Schiff, das soeben beschossen wurde“, folgerte Al Conroy. „Zwei Schüsse haben wir gehört, zwei Masten fehlen. Das müssen Meisterschützen gewesen sein.“ „Mir gefällt das trotzdem nicht“, sagte Hasard. „Man schießt einem Schiff doch nicht zwei Masten weg und läßt es dann weitersegeln. Das ergibt keinen Sinn.“ „Vielleicht ist es geflüchtet.“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Wenn wir nur zwei Schüsse gehört haben, das Schiff aber selbst beschädigt ist, dann kann es seinem Gegner ja keinen Schaden mehr zugefügt haben. Der Gegner wäre demnach unbeschädigt und könnte das angeknackste Schiff leicht verfolgen. Da stimmt etwas nicht.“ Ferris Tucker bat sich von Hasard das Spektiv aus. Er sah nur einmal kurz hindurch, dann reichte er es wieder zurück. „Der Bauweise nach ist es ein Engländer“, sagte er bestimmt, denn als Zimmermann hatte er den besten Blick dafür. Hasard mußte ihm recht geben. Es war zweifellos ein englisches Schiff, das sich da näherte, auch wenn es keine Flagge führte. Die Bauweise erinnerte etwas an die der „Isabella“, nur war das Schiff trotz seiner Masten ein wenig kürzer und hatte auch nicht die überlangen Masten, wie die „Isabella“ sie fuhr. „Vorlastig, schwer in der See liegend“, sagte Hasard. „Es bewegt sich nur lehr langsam, und verdammt, ich kann keinen einzigen Mann an Bord erkennen.“ „Ein lausiger Hinterhalt“, sagte O'Flynn. „Das wäre nicht das erste Mal, daß wir so etwas erleben.“ „Auch das glaube ich nicht, Donegal“, erwiderte Hasard nachdenklich. „Die Masten fehlen tatsächlich, und wenn wir nicht aufgegeit hätten, dann wären wir schon längst am Horizont verschwunden. Nein, nein, das ist noch ganz anders.“
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Er gab dem Rudergänger ein Zeichen mit der Hand. „So weit Ruder legen, Pete, daß die Galeone unseren Kurs vor dem Bug kreuzt. Geh etwas höher an den Wind.“ Drei Meilen mochte das fremde Schiff noch entfernt sein, und immer noch war durch das Spektiv kein Mann zu erkennen. „Es ist, als segele der Teufel dieses Schiff“, sagte der alte O'Flynn unbehaglich. „Sollen wir der Galeone nicht mal die englische Flagge zeigen, Hasard?“ Hasard hob die Schultern und sah den Alten an. „Weshalb? Wenn doch keiner an Bord ist, kann die Flagge ja auch niemand sehen.“ „Vielleicht lauern die Burschen diesmal nicht hinter dem Schanzkleid, sondern halten sich in den Kammern auf, und nur einer von ihnen beobachtet uns.“ Der Seewolf wollte auch diese Möglichkeit nicht ausschließen. Immerhin hatten sie schon die übelsten Überraschungen auf diesem Gebiet erlebt, aber er konnte sich mit diesem Gedankengang des alten O'Flynn nicht anfreunden. Rein zufällig warf er einen Blick aufs Vordeck. Jetzt, da nur das große Segel noch stand, hatte er einen ungehinderten Blick nach vorn. Er schob das Spektiv ein wenig zusammen und richtete es auf den Mann, den sie auf Profos-Island an Bord genommen hatten. Thornton benahm sich in der Tat etwas merkwürdig. Sein Blick war starr auf das Schiff gerichtet, sein Mund öffnete und schloß sich, und seine Hände zitterten leicht. Sollte etwa ... Hasard spann diesen Gedanken nicht weiter, dafür warf er einen zweiten Blick auf Thornton. Der Mann wandte sich jetzt ab und starrte zu der Schiffsseite hinüber, wo es absolut außer Wasser und Himmel - nichts zu sehen gab. Total verkrampft wirkte er, verstört und irritiert. „Profos!“ rief Hasard. „Sir? Was liegt an?“ „Schick mir Thornton aufs Achterdeck. Sofort!“
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Carberry drehte sich um, sein Zeigefinger stach zum Vorschiff. „Thornton zum Kapitän aufs Achterdeck!“ brüllte er so laut, daß alle zusammenzuckten. Thornton, der ein Gefühl im Magen hatte, als hätte er einen ganzen Ameisenhaufen verschluckt, nahm die Beine in die Hand und rannte los, wie von Furien gehetzt. Der Mann, den sie den Seewolf nannten, sah ihn hart an, als er das Achterdeck erreichte und keuchend vor Hasard stehenblieb. „Bitte, Sir“, sagte er eifrig. „Wie hieß das Schiff, von dem man Sie ausgesetzt hat?“ wollte er wissen. Thornton glaubte, es erkannt zu haben, aber er war sich nicht ganz sicher, und der Name am Bug ließ sich ohne Spektiv noch nicht entziffern. Blitzschnell überlegte er und wog das Für und Wider ab. Dort drüben befand sich offenbar kein Mensch mehr an Bord. Die Crew, schon lange vorher vom Tode gezeichnet, mußte bis auf den letzten Mann gestorben sein. Also konnte dieser Killigrew auch nicht mehr in Erfahrung bringen, was sich dort wirklich abgespielt hatte. Er konnte den Namen ruhig nennen, ganz sicher gab es keine Überlebenden mehr. „Brauchen Sie immer so lange für eine Antwort?“ Die Stimme des Seewolfs ließ ihn zusammenfahren. „Verzeihung, Sir, es war die ,Black Pearl.“ „Ist sie das?“ fragte Hasard knapp und deutete auf das langsam nähertreibende Schiff. „Ich bin mir nicht ganz sicher, Sir!“ „Das sollten Sie aber, wenn Sie auf dem Kasten gefahren sind.“ „Es - es sieht so verändert aus, Sir. Sie könnte es sein, natürlich, aber dann ist sie ziemlich weit aus dem Kurs gelaufen.“ „Ihre Geschichten sind auch ziemlich weit aus dem Kurs gelaufen“, sagte der Seewolf. „Ich bin gespannt, ob sich Ihre letzte Geschichte als wahr erweisen wird. Wenn es die ,Black Pearl' ist, werden wir es vielleicht erfahren.“ „Aye, Sir, es ist wahr.“
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Hasard drehte sich um und beachtete den Mann nicht mehr. Carberry stieß ihm den Daumen leicht in die Rippen. „Wenn der Captain den Blick von deiner Figur wendet“, sagte er gemütlich, „dann heißt das, du kannst dich wieder an deine Arbeit scheren und bist vorerst entlassen. Und wenn du das nicht kapiert hast, wiederhole ich es gern noch etwas lauter.“ Thornton kniff die Lippen zusammen und warf Carberry einen drohenden Blick zu, aber Ed rang das nicht mal ein müdes Grinsen ab. Noch immer ließ sich der Name des Schiffes nicht ablesen. Hitze und Seewasser hatten an ihm genagt, außerdem war er wohl noch nie neu überpinselt worden. „Achtung! Da bewegt sich etwas!“ rief Stenmark aus dem Ausguck an Deck. Aus seiner luftigen Höhe hatte er den besseren Überblick. Bis die anderen es ebenfalls sahen, vergingen wiederum ein paar Minuten. „Ein Mann“, sagte Dan, und Hasard nickte. „Er schwenkt einen Lappen oder ein Stück Segeltuch, so genau kann ich das nicht erkennen.“ Der Mann, er war anscheinend der einzige an Deck, warf den Lappen oder das Stück Segeltuch auf- die Planken, stand noch einen Augenblick schwankend da und schlug dann der Länge nach an Deck, wo er regungslos liegenblieb. „Da ist nichts faul an Bord“, sagte Hasard laut, „da hat mit Sicherheit eine Krankheit gewütet. Wir müssen sofort helfen.“ Die „Isabella“ begann mit ihrem Manöver und ging auf den anderen Bug. Der Seewolf hatte vor, parallel zu der halbwracken Galeone zu segeln, den Kurs anzugleichen, nebenherzusegeln und sich mit dem Schiff an die Galeone zulegen. Da er von Natur aus und trotz dieser fast eindeutigen Lage immer ein mißtrauischer Mann war, ließ er ein paar der Seewölfe mit Musketen und Pistolen bewaffnen und strategische Punkte auf dem Schiff beziehen, Punkte, von denen aus man alles unter Feuer nehmen und die ein möglicher
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Gegner selbst nur schlecht erreichen konnte. Die „Isabella“ fiel ab und glich den Kurs an die Galeone an, die schwerfällig durch das Wasser torkelte und so aussah, als würde sie sich in nicht mehr allzu ferner Zeit auf den Kopf stellen und die unergründliche Tiefe unter sich aufsuchen. Das Marssegel wurde zu einem Drittel aufgegeit, so daß die „Isabella“ jetzt weniger Tuch als der andere Engländer fuhr. „Sie ist es“, sagte Hasard, „die ,Black Pearl`, von der unser lieber Thornton stammt.“ Der Kutscher war von Ben Brighton ebenfalls längst alarmiert worden. Er hatte heißes Wasser bereitet, und stand jetzt inmitten seiner Tiegel und Töpfe, Salben und Flüssigkeiten, die außer ihm selbst kein anderer kannte. „Ich helfe dir, ihn zu verarzten“, sagte Thornton zu dem Kutscher, aber der winkte gleich ab. „Nein“, sagte er breit, „du hilfst mir ganz sicher nicht. Dafür bin ich allein zuständig.“ Er scheuchte Thornton weg, mit dem Kerl hatte er nichts im Sinn, der verarztete den einzigen Überlebenden vielleicht gleich so, daß er später kein Wort mehr sagen konnte. In dieser Hinsicht war der Kutscher das personifizierte Mißtrauen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die „Black Pearl“ den ranken Rahsegler einholte und sie auf gleicher Höhe waren. „Hautnah heran jetzt an die Tante“, sagte der Seewolf zu dem Rudergänger, für den das Manöver kein Problem war. Yardweise schob sich die „Isabella“ heran. Die Seewölfe standen bereit. Sie hatten Enterhaken und Tampen in den Fäusten. Deutlich war das Deck des anderen jetzt zu erkennen. Es sah aus wie ein Trümmerhaufen, als hätte eine Horde Piraten es überfallen und verwüstet. Bei dicker See wäre der Kasten längst abgesoffen. „Himmel, ich sehe keinen anderen Menschen“, sagte Carberry. „Nur den
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Mann auf den Planken. Dort muß sich etwas Grauenhaftes abgespielt haben.“ Er warf einen Blick zu Thornton hinüber, dem deutlich die Angst im Gesicht geschrieben stand. Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß Thornton ein äußerst schlechtes Gewissen hatte. „Nein, die Tante hält sich nicht mehr lange“, sagte auch Ferris Tucker fachmännisch. „Da sind schon die Planken verzogen, und die Piek zieht Wasser. Ein bißchen harter Wind, und der Kasten geht auf Tiefe. Zum Fürchten sieht das Schiff aus.“ „Ob Mann noch leben?“ fragte Batuti mit gerunzelter Stirn. „Sieht aus wie Totmann.“ Ja, so sieht er aus, dachten alle. Wie ein toter Mann, dessen letzte Kräfte gerade noch einmal ausgereicht hatten, seinen möglichen Rettern zu winken. Seit er auf die Planken gefallen war, hatte er sich kein einziges Mal gerührt. „Werft die Haken!“ rief Ed. Enterhaken an langen Tauen flogen hinüber, polterten über das Deck und wurden eingeholt, bis sie sich hinter dem Schanzkleid im Holz verfingen. Smoky hatte ein paar zusammengedrehte Tampen als Fender ausbringen lassen, um den Anprall der beiden Schiffe zu mildern. Aber selbst das wäre kaum nötig gewesen, denn Pete Ballie segelte das Schiff so zartfühlend an die Bordwand des anderen, daß nicht mal ein Knirschen hörbar wurde. . Mit den Tauen stoppten sie langsam ab, holten Lose durch und setzten Vor- und Achterspring, bis die „Black Pearl“ fest vertäut war. Der Kutscher war der erste, der an Bord des unheimlich wirkenden Schiffes sprang. Neben dem Mann ließ er sich auf die Planken nieder und drehte ihn vorsichtig herum. „Hölle, sieht der aus“, sagte er entsetzt. „Der hätte schon seit Wochen tot sein müssen. Gary, bring eine halbe Muck voll Wasser, aber schnell!“ Ein eingefallenes Gesicht blickte den Kutscher an. Ein verfilzter langer Bart
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bedeckte es, und darunter war die Haut rissig, aufgeplatzt und voller Geschwüre. In dem halboffenen Mund befanden sich nur noch drei oder vier Zähne. Hasard hatte Ben das Kommando übergeben und das Achterschiff verlassen, da keine unmittelbare Gefahr bestand. „Smoky, Ferris, Dan, Batuti, durchsucht das Schiff. Seht überall nach, ob es noch Überlebende gibt. Wir sind wirklich im allerletzten Augenblick zusammengetroffen.“ „Wir hätten schon vor einer Woche zusammentreffen sollen“, murmelte der Kutscher. Er hatte den bärtigen, fast dürren Mann, der einen dicken aufgedunsenen Bauch hatte, halb aufgerichtet und nahm Gary Andrews die Muck mit Frischwasser ab. Zunächst benetzte er nur die Lippen des Mannes, dann goß er ihm tropfenweise das kühle Wasser ins Gesicht. „Besteht Hoffnung, Kutscher?“ fragte Hasard. „Wohl kaum, der Mann hat alle Mangelkrankheiten, die es gibt. Er ist halb verhungert und verdurstet, und er kriegt auch sicher nichts runter. Sein Magen ist bloß noch halb so groß wie ein Hühnerei. Thornton müßte ihn doch kennen, oder?“ Thornton hatte bei des Kutschers letzten Worten niederträchtig gegrinst, doch jetzt bemühte er sich um ein ernstes Gesicht. Blake ist es, dachte er, dieser verdammte Kerl, von dem er mehrmals erwischt worden war, wie er Wasser und Proviant geklaut hatte, und wegen dem es den entsetzlichen Krach gegeben hatte. Hoffentlich fährt er zur Hölle, dachte er, dann bin ich aus allem 'raus und brauche keine unangenehmen Fragen zu fürchten. „Das ist schwer zu sagen“, meinte Thornton. „Es könnte der Captain sein, der Erste oder vielleicht auch der YoungBootsmann. Die sahen sich alle ziemlich ähnlich, aber ich tippe auf den Bootsmann Blake.“ „Haben Sie sich gut mit ihm verstanden?“ fragte Hasard. Die wollen mir hier eine Schweinerei anhängen, überlegte er. Die bringen mein
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Verschwinden von dem Schiff mit der Abwesenheit der anderen Seeleute zusammen. „Wenn es Blake ist“, log er betrübt, „ja, mit ihm kam ich immer gut aus. War ein feiner Kerl.“ Hasard glaubte kein Wort. Er sah Dan, Smoky und den anderen nach, die im Vorschiff verschwanden. Während der Kutscher sich immer noch um den Bewußtlosen bemühte, kehrte Dan zurück. „Dort vorn lagen mit Sicherheit ein paar Tote“, sagte er naserümpfend. „Der Geruch ist unerträglich, aber es ist niemand da, weder tot noch lebend. In der Kombüse befindet sich nichts, kein Stäubchen Mehl, nicht mal eine lausige Kakerlake, und die Piek steht bis an das Süll voll Wasser. Trinkwasser konnten wir vorn auch nirgends entdecken.“ „Ich habe es mir fast gedacht“, sagte Hasard. „Hier muß sich eine Tragödie abgespielt haben, die wir kaum begreifen können.“ „Wir sehen achtern und mittschiffs noch nach“, sagte Dan, ehe sie wieder davongingen. Inzwischen hoben sie den bärtigen Mann auf und brachten ihn an Bord der „Isabella“. Will Thorne spannte ein Segeltuch auf, damit der Mann im Schatten liegen konnte. Der Kutscher bemühte sich mit allen Kräften. Er massierte ihm die Schläfen mit Alkohol, benetzte seine aufgesprungenen Lippen weiter mit kühlem Wasser, goß es ihm über den Schädel und massierte seine Brust. Es trat kein Erfolg ein, das einzige Lebenszeichen, das der Mann von sich gab, waren seine schwachen Herztöne, und die waren auch nicht regelmäßig und kaum wahrnehmbar. Es sah wirklich nicht so aus, als würden sie ihn durchbringen. Smoky und Dan durchsuchten inzwischen die achteren Räume. Bevor sie ein Schott aufstießen, blieben sie einen Augenblick stehen, in der Erwartung,
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auf etwas Grauenvolles zu stoßen — Leichen oder Skelette. Doch es fand sich nichts. Das Schiff war tot bis in den letzten Winkel, es gab kein Leben an Bord. „Was mag sich hier nur abgespielt haben?“ fragte Dan den Decksältesten. „Wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, Dan, ich glaube, dieser Miesling ist an allem schuld.“ „Du meinst, er steckt dahinter?“ fragte Dan. „Nein, das glaube ich nicht. Sie haben ihn doch ausgesetzt.“ „Das sagt er, aber weißt du es?“ „Doch, ich glaube es. Sie haben ihn ausgesetzt, und dann begann hier das Trauerspiel.“ „Merkwürdig, daß nur ein einziger Mann übrigblieb, der das alles überlebt hat. Wenn ständig einer starb, blieb ihm ja nichts anderes übrig, als die Toten ins Meer zu werfen.“ „So lange, bis er endgültig allein war. So ähnlich muß es sich wohl abgespielt haben.“ Auch in der Kapitänskammer fand sich nichts Eßbares, es gab keine einzige Flasche Wein, keinen Tropfen Branntwein oder Rum, nichts, das zum Trinken geeignet war. „Die haben nicht mal Ratten an Bord“, sagte Smoky. „Die werden sie in ihrem Hunger wohl gefressen haben“, erwiderte Dan und wußte nicht, wie sehr er der Wahrheit nahekam. Die Segellast enthielt ebenfalls nichts, außer ein paar stark angemoderte Taue. die nicht geteert waren. Blieben noch die Laderäume, aber die hatten Batuti und Ferris schon geöffnet und sahen nichts anderes als dunkle Wasserbrühe, die ein halbes Yard hoch über die Bohlen schwappte. Ein paar der Bohlen hatten sich gelöst und schwammen träge hin und her. „Armer Mann“, sagte der Gambianeger mitfühlend. „Haben nicht so gut wie Seewölfe, wo alle gesund. Haben viel Pech gehabt, vielleicht sind auf Wasser immer verkehrt gesegelt. Aber armes Mann haben
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noch Kraft gehabt Kanonen zu laden und zweimal zu schießen.“ „Woher willst du das denn wissen?“ fragte Ferris. „Das kann auch ein anderes Schiff gewesen sein, es steht noch nicht fest.“ „Für Batuti stehen fest. Batuti riechen an Culverine. Ganz frisch abgefeuert, Batuti niesen müssen.“ „Ja, du hast recht“, sagte Ferris und blickte Dan und Smoky entgegen, die mit den Schultern zuckten, um anzudeuten, daß sie auch nichts entdeckt hatten. Schließlich fanden sie noch das kleine Wasserfäßchen. Die Dalben waren unter der Hitze teilweise aufgeplatzt. Wenn man in das Fäßchen Wasser hineingoß, würde es an allen Ritzen wieder herausrinnen. Erschüttert sahen sie sich an. „Wie lange hatte der wohl nichts zu trinken?“ fragte Smoky. „Man kann es bei dieser Affenhitze doch keine drei Tage aushalten.“ Dan ging noch einmal zum Quarterdeck, weil er dort etwas auf den Planken liegen sah. Als er sich bückte, entdeckte er zu seiner Verblüffung engbeschriebene Seiten, die der Besitzer in Leder gebunden hatte. Er hob seinen Fund hoch und blätterte ihn erregt durch, dann stieß er einen leisen Schrei aus und lief wieder in die Kuhl. „Spanische Roteiros“, sagte er andächtig. „Mann, ich habe spanische Kurskarten gefunden! Junge, Junge! Wo mögen die wohl her sein?“ „Von den Spaniern vermutlich“, sagte Ferris trocken. „Du hast ja keine Ahnung, was wir da entdeckt haben, Mann“, sagte Dan. „So weit kannst du überhaupt nicht denken! Das ist der Fund des Jahrhunderts, das Geheimnis der Spanier, wie sie ihre Längenkreise berechnen.“ „Wirklich?“ fragte Ferris, und jetzt war er ehrlich überrascht. Roteiros! Kurskarten ähnlich denen, wie Dan sie seit geraumer Zeit anfertigte. Und die Spanier besaßen verdammt genaue Seekarten, genauere jedenfalls als die Engländer. „Dann haben sie einen Spanier überfallen und die Karten erbeutet“, folgerte Ferris
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sofort. „Wenn ihr euch mal genau umseht, dann werdet ihr entdecken, daß hier hart gekämpft worden ist. Man hat die Spuren größtenteils zwar beseitigt, aber ein Fachmann erkennt sie auf Anhieb.“ Dan hatte es eilig, seinen Fund zur „Isabella“ zu bringen. Er sprang auf sein Schiff zurück und warf einen Blick auf den Bärtigen, an dessen Zustand sich nichts geändert hatte. Schweigend, aber mit rotem Gesicht, überreichte er Hasard die spanischen Roteiros. Den Seewolf durchzuckte es wie ein Blitz. „Donnerwetter“, murmelte er beeindruckt. „Damit müssen wir uns nachher ausgiebig beschäftigen. Das ist das Geheimste vom Geheimen das die Spanier besitzen, und freiwillig haben sie das niemals an die Engländer herausgerückt.“ „Das glaube ich auch nicht“, versicherte Dan. „Mit Hilfe dieser Karten müßte es uns gelingen, den neuen Kurs nach England zu finden, denn die Spanier sind in ihren Aufzeichnungen immer verdammt genau.“ Hasard blätterte die Kurskarten durch, runzelte die Stirn und gab sie Dan wieder zurück. „Etwas stimmt daran nicht“, sagte er. „Es sieht aus, als seien einige Kurse falsch eingetragen, das habe ich eben auf den ersten Blick bemerkt, aber ich kann mich auch irren.“ „Weshalb denn das?“ „Taktik, Dan, nichts weiter. Um die Finder oder Räuber dieser Roteiros absichtlich in die Irre zu führen. Sie sind wissentlich gefälscht, aber nach einem ganz bestimmten System.“ „Glaubst du, daß wir das 'rausbringen, Sir?“ fragte der junge O'Flynn zweifelnd. „Wenn wir unseren Grips anstrengen, ganz sicher.“ „Na, das werde ich tun, das verspreche ich dir. Wie geht es unserem Findling inzwischen?“ „Sehr schlecht. Er ist so gut wie tot, ich sehe es mehr am Gesicht des Kutschers als an seinem eigenen. Und dann scheint es
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mir, als würde sich dieser Thornton noch darüber freuen.“ „Weil er etwas zu verbergen hat, der lausige Stint. Aber wir werden das noch erfahren.“ „Nur wenn der Mann überlebt, sonst nicht. Ist dir irgendetwas Besonderes dort drüben aufgefallen?“ „Kein Toter, keine Ratte, nicht einmal eine triefäugige Kakerlake befindet sich an Bord. Fest steht nur, daß der Mann die Culverinen abgefeuert hat, die Kanonenschlünde stinken noch wie üblich.“ „Aber er kann uns doch gar nicht gesehen haben.“ „Vielleicht hat er aus letzter Verzweiflung gefeuert.“ Sie alle zuckten plötzlich zusammen, denn der Bärtige richtete sich ruckartig auf und stieß einen Schrei aus wie ein todkrankes Tier. Dann fiel er schlaff zurück und rührte sich nicht mehr. „Ist — ist er tot?“ fragte Thornton den Decksältesten. Er erhielt keine Antwort, doch dann schüttelte Smoky fast unmerklich den Kopf und sah Thornton in die Augen, der dem Blick des Decksältesten auswich. „Ich glaube nicht“, sagte er leise. „Wir werden ihn ganz sicher durchbringen, und ich nehme an, dann wird er uns eine Menge zu erzählen haben.“ Den Bemühungen des Kutschers nach lebte der Bärtige noch immer. Zuerst wollte der Kutscher den Mann unter Deck bringen lassen, doch dann entschied er sich, daß er noch eine Weile hier oben bleiben sollte, bis er erneut Lebenszeichen von sich gab und man ihn gefahrloser transportieren konnte. Hasard war ebenfalls auf das andere Schiff hinübergeflankt und sah sich an Deck um. Der Kasten war nicht mehr zu retten. Selbst wenn sie pausenlos lenzten, würde er es nicht mehr schaffen. Er warf Ferris einen fragenden Blick zu. Tucker begriff und schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Wenn die See so ruhig bleibt wie jetzt, gebe ich dem Schiff noch höchstens drei
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oder vier Tage. Man hört es ständig knacken und arbeiten. Das Deck müßte regelmäßig mit Wasser begossen werden, aber auch dazu ist es jetzt längst zu spät. Auf der ‚Isabella' wird mindestens jeden dritten Tag das Deck gewaschen, kontrolliert und nachgesehen, und aus diesem Grund hält es sich auch so prächtig. Würden wir auch nichts mehr daran tun, dann ...“ Er sprach nicht weiter, Hasard kannte den Rest. Wer rastet, der rostet, hieß ein Sprichwort, und hier auf See konnte man das wortwörtlich nehmen. Trieb die „Isabella“ monatelang ohne Besatzung und Pflege dahin, dann würde schon bald und sehr schnell ein Geisterschiff aus ihr werden, ein halbes Wrack. „Wir setzen wieder die Segel“, entschied Hasard und rief es dem Profos zu. „Und was geschieht mit der ,Black Pearl`? Lassen wir sie allein Weitersegeln, oder versenken wir sie?“ „Wir durchsuchen sie noch einmal gründlich von vorn bis achtern. Dann lösen wir uns und überlassen sie sich selbst. Vielleicht treibt sie einmal irgendwo an und kann einem Schiffbrüchigen als Zuflucht dienen, wenn sie sich solange über Wasser hält.“ Die Segel blähten sich im Wind und die Reise ging weiter. Auf dem Achterdeck war Dan damit beschäftigt, das Geheimnis der spanischen Roteiros zu enträtseln. 7. Bis zum späten Nachmittag war einiges geschehen. Die Seewölfe hatten die geheimnisvolle „Black Pearl“ noch einmal gründlich durchsucht, aber nichts gefunden, was des Mitnehmens wert gewesen wäre. Die Roteiros, so perfekt sie auch angefertigt waren, blieben teilweise immer noch ein Rätsel, denn Hasard vermutete, daß es dazu ein paar extra Seiten gab, die die Verschlüsselungen erklärten. Die Dons hatten gut vorgesorgt, um ihr Geheimnis zu hüten. Kein Wunder, daß der Captain der „Black Pearl“ anhand dieser Roteiros in
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die Irre gelaufen war. Er hatte seinen Kurs vermutlich falsch berechnet und wäre in die eiskalten Zonen getrieben, ohne noch einmal auf Land zu stoßen. Dem Bärtigen ging es noch nicht besser, doch der Kutscher versicherte, daß der Mann ein paar Tropfen Wasser getrunken hätte und er glaubte, ihn am Leben zu erhalten. „Werft jetzt die Leinen los“, sagte Hasard, „und laßt das Schiff slippen!“ Da Vor- und Achterspring als doppelte Bucht festgemacht waren, brauchte bei der relativ raschen Fahrt auch kein Tau gekappt zu werden. Das Auge der Taue befand sich auf den eigenen Pollern und war über die doppelte Bucht auch dort wieder befestigt. Die Taue slippten durch, wanden sich schlangengleich um die Poller der „Black Pearl“ und sausten an Bord zurück. Big Shane, der jetzt am Ruder stand, löste sich elegant von dem Totenschiff, das jetzt zurückfiel. Im Kielwasser der „Isabella“ blieb es zurück, bestückt mit dem einen Segelfetzen, ein verlorenes hölzernes Gebilde, nur noch schwach seetüchtig. Wer wußte, wo es eines Tages antrieb, wer es fand und dann wieder vor einem neuen Rätsel stand, das er nicht lösen konnte! Inzwischen hatte der Kutscher zusammen mit Tucker und dem Profos den Bärtigen nach achtern in die Gästekammer getragen. Ab und zu stöhnte der Mann laut, einmal schlug er die Augen auf, stammelte ein paar Worte, die niemand verstand und verlor wieder das Bewußtsein. Der Kutscher schüttelte immer wieder den Kopf, wenn er dieses abgezehrte und verwahrloste Bündel Mensch betrachtete. „Ich begreife das einfach nicht“, sagte er zu den Männern. „Der hat eine Kondition wie zehn ausgewachsene Haie. Den Kerl hält doch nur noch ein Wunder am Leben.“ Old O'Flynn hielt die erste Wache in der Kammer, die jetzt durch zwei Öllampen erhellt war. Er sollte dem Kutscher die geringste Kleinigkeit melden. „Und wenn er aufwacht“, sagte Ed, „dann erzähl ihm bloß keine Geschichten von der
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,Empreß of Sea` oder wie dein lausiger Kahn hieß, sonst fällt er wirklich gleich tot um.“ „Daß ihr Läuseknacker das nie begreifen könnt“, wetterte der Alte. „Immer sagt ihr nach dem Namen diesen dämlichen Satz: ‚Oder wie dein lausiger Kahn hieß!' Verflucht noch mal, er heißt wirklich ,Empreß of Sea`, die Kaiserin der See, ihr Heringe, und sie war das beste Schiff, das ich kannte.“ „Fast so groß wie das Beiboot der ‚Isabella' soll sie gewesen sein“, sagte Carberry andächtig und blickte den Alten grinsend an. Old O'Flynn hob drohend die Faust. „Eines Tages werdet ihr sie sehen, wenn wir wieder in England sind, vielleicht, und vor lauter Ehrfurcht werdet ihr euch alle in die Hosen kacken. Und nun schert euch zum Teufel!“ Auf dem Deck kratzte sich der Kutscher grinsend die Bartstoppeln am Kinn und sah den Profos an. „Sir Freemont hat mir einmal gesagt, daß man in der Erinnerung selbst den größten Mist verherrlicht. Das hat was mit der Seele zu tun, weißt du, Ed? Ich wette, sie haben Old O'Flynn früher, als er noch Moses war, von morgens bis abends verprügelt, er hat bestimmt verdammt viel durchgemacht und erlebt, aber jetzt, in seinem Alter, da findet er das alles herrlich. Da erzählt und glaubt er dann, statt Prügel hätte es den ganzen Tag nur Kuchen und Rum gegeben. Manche tun das, die faseln dann immer von den gleichen Dingen. Sir Freemont, zum Beispiel, bei dem ich Kutscher war, der ...“ Der Kutscher sah den Profos irritiert an. „Ist was, Ed?“ fragte er. „Jaaa“, sagte der Profos langgezogen. „Du faselst mir auch etwas zuviel von Sir Freemont. Wer weiß ob du da überhaupt Kutscher gewesen bist, vielleicht hast du bloß die Nachttöpfe von seinen Patienten rausgetragen und in die Gosse gekippt. Das hat auch was mit der Seele zu tun, weißt du?“ „Du narbiger Hammerhai“, sagte der Kutscher voller Inbrunst. „Gegen dich bin
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ich ein gebildeter Mensch, und einer der gut aussieht noch dazu, wie die Weiber sagen. Und was bist du gegen mich?“ „Na, was denn?“ fragte Ed grinsend. „Hast du schon mal durch das Spektiv geglotzt und dir den Mond betrachtet? Nee, was? Auf solch einen Gedanken würdest du nicht im Traum verfallen.“ „Was, zum Teufel, hat der Mond mit mir zu tun?“ „Der sieht genauso brutal und roh aus wie du. Dessen Fresse ist auch ein einziges Meer voller Narben.“ Carberry starrte den Kutscher sprachlos an. Er fand einfach keine Worte mehr. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gehört. Der Kutscher rieb sich die Hände. „So“, sagte er zufrieden, „das mußte ganz einfach einmal gesagt werden, sonst wirst du eine Nummer zu groß, Edwin Carberry.“ „Ja, da soll doch gleich dieser und jener ...“ murrte der Profos verblüfft. „So ein Rübenschwein, was, wie? Marschiert diese triefäugige Küchenschabe nach achtern und knurrt mich an, mich, den Profos, der eine eigene Insel hat.“ Kopfschüttelnd blickte er dem Kutscher nach, der mit stolzgeschwellter Brust nach vorn ging. Vom Achterdeck aus sah Carberry dem Geisterschiff nach, das immer kleiner wurde. Richtig unheimlich sah der Pott aus, wie er so dahinsegelte, von keinem Menschen bedient, von keinem Lebewesen gesteuert und nur noch dem Kurs von Meer, Wind und Strömung folgend. Ein verlorenes Schiff, auf dem die Geister umgingen. Ed schüttelte sich leicht, als er das Achterkastell betrat, wo Hasard, Dan und Big Shane sich immer noch mit den geheimnisvollen Roteiros beschäftigten. Carberry sah auf den Kompaß, nickte dem Rudergänger zu und trat zu den anderen Männern. „Wohin führt uns der Westkurs jetzt?“ fragte er. „Genau nach Westen“, sagte Dan schnoddrig und grinste. Ed grinste auch,
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aber sein Gesicht war sehr schief dabei, und so beeilte Dan sich, um hastig zu versichern: „War nicht so gemeint, Ed, wir sehen mit den Roteiros noch nicht ganz klar. Wenn wir von nun an auf Westkurs bleiben, stoßen wir auf eine Insel, die auf den Kurskarten zwei Namen trägt. Thamilia und Celonia, nein Ceylonia, heißt sie“, verbesserte Dan sich. „Zwischen dieser Insel und dem Festland gibt es eine Straße, mehr eine breite Passage, und da segeln wir hindurch, wenn es geht.“ „Weshalb sollte es nicht gehen?“ „Wir wissen nicht, was die Zeichen bedeuten.“ Hasard deutete auf die Stelle, wo die Spanier kleine, kaum sichtbare Kreuze in die Passage eingezeichnet hatten. Carberry beugte sein narbiges Gesicht darüber, dann sah er hoch. „Das sind vermutlich abgesoffene Schiffe, die in der Passage strandeten“, sagte er. Dann stieg er grinsend zur Kuhl hinunter. „Es könnte sogar recht haben“, sagte der Seewolf verblüfft. „Jedenfalls klingt das ganz logisch. Ich wäre auf diesen Gedanken nicht verfallen.“ „Ja, möglich wäre es immerhin“, gab auch Dan zu. „Wir könnten allerdings auch den Kurs ändern, hart nach Süden laufen und später auf Südsüdwest gehen, das hieße aber, wir müßten diesen Riesenozean in seiner ganzen Länge durchqueren.“ „Das hat die ,Black Pearl` vor uns vermutlich auch getan“, meinte der Seewolf. „Nein, wir bleiben auf Westkurs, Dan. Damit haben wir eine bessere Übersicht und die Möglichkeit, unterwegs auf einen Spanier zu treffen, die diese Route befahren. Wir segeln weiter in Richtung India und versuchen, die Passage zu durchsegeln. Gelingt uns das aus welchen Gründen auch immer nicht, umsegeln wir die Insel Ceylonia auf Südkurs und drehen später wieder bei.“ „Aye, aye, Sir, das ist wohl am besten.“ Während sie weiterhin über den Roteiros brüteten, erschien der Moses Bill. „Sie möchten mal nach achtern gehen, Sir, der Kutscher hat mich geschickt. Der Bärtige spricht vor sich hin.“
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Hasard nickte Ben zu, warf einen Blick auf den Strand der Flögel und folgte dem Moses zur Kammer. Dort empfing ihn der Kutscher freudestrahlend. „Er hat Wasser getrunken, Sir, nachher flöße ich ihm etwas Brühe ein. Gleich wird er wieder reden.“ Lange Zeit tat er ihnen aber nicht den Gefallen. Erst als der Seewolf sich wieder abwenden und hinausgehen wollte, hörte er den Bärtigen mit seltsam klarer Stimme reden. „Du bist ein lausiger Hund, Cap. Die Ratten, siehst du die vielen Ratten? Ganze Trauben. O, Himmel, laß mich nicht auf dieser Scheiß-Insel verrecken.“ Der Bärtige zitterte plötzlich an allen Gliedern. Dann, mit einem ganz überraschenden Ruck setzte er sich kerzengerade auf. Seine Augen waren weit geöffnet, er blickte den Seewolf, den Kutscher und dann den Moses an. Hasard trat näher heran und sah ihm in die Augen, die erstaunlich klar waren. „Verstehen Sie mich? Sie heißen Blake, nicht wahr? Hören Sie gut zu: Sie sind in Sicherheit, gerettet!“ „Gerettet!“ wiederholte Blake. Und dann: „Wasser, Wasser!“ Der Kutscher setzte ihm die Muck an die Lippen und gab ihm zu trinken, dabei drehte er sich um. „Ich glaube, er versteht nicht, was wir sagen. Er sieht uns wahrscheinlich auch nicht. Aber es wird schon werden“, meinte er zuversichtlich. „Diese Insel ist schlimm, sehr schlimm“, sprach Blake wie zu sich selbst weiter. „Wintham ist tot, Hentrop auch, die verfluchten Ratten, sie haben das Schiff angefressen.“ Danach sank er wieder zurück, schloß die Augen und atmete tief und ruhig. An Deck winkte der Seewolf Thornton heran. „Wer war Wintham und wer Hentrop?“ fragte er den Mann. „Wintham war der Erste Offizier und Hentrop der Rudergänger. Hat er die Namen gesagt?“
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„Ja, das hat er, und noch einiges mehr, Mister Thornton. Ich an Ihrer Stelle würde mir überlegen, ob Sie Ihre Erzählung nicht noch ein wenig korrigieren wollen.“ „Ich habe die Wahrheit gesagt, Sir, ganz bestimmt.“ „Wissen Sie etwas von einer Insel?“ „Nein, Sir, wir haben keine Insel angelaufen. Vielleicht sind sie später auf eine Insel gestoßen, als - als ich nicht mehr an Bord war.“ „Das wäre möglich“, sagte Hasard kurz und hatte immer noch das Gefühl, daß Thornton etwas vor ihm verbarg. Thornton faßte sich ein Herz, ihm lag schon lange diese Frage. auf der Zunge, aber er hatte sich nicht getraut, sie zu stellen. Der schwarzhaarige Mann flößte ihm Respekt ein, er strahlte Autorität aus Und verstand es, sich durchzusetzen, ohne daß er brüllte, schrie oder tobte. „Sir, darf ich etwas fragen?“ „Fragen Sie!“ „Sir - ein paarmal wurde der Name Seewolf hier erwähnt. Ich hörte auch, wie der Mann mit dem Holzbein Sie Seewolf nannte. Aber das ist vielleicht ein Zufall. In England wurde viel von einem Mann gesprochen, den man den Seewolf nannte. Ganz England sprach von ihm, und auch heute noch kennt den Namen jedes Kind. Sie sind Engländer, Sir, und nun höre ich diesen Namen wieder. Besteht da vielleicht ein Zusammenhang, Sir?“ Hasards Lächeln war ein bloßes Verziehen der Mundwinkel, dann lachte er einmal stoßartig auf. „Ja, ich bin dieser Killigrew, den man den Seewolf nennt. Aber lassen Sie sich dadurch nicht stören, Mister.“ Thornton stand wie gelähmt da, es verschlug ihm die Sprache, er spürte, wie eine Kältewelle durch seinen Körper raste und sein Magen sich zusammenzog, als hätte eine Riesenfaust ihn getroffen. Der Seewolf ! Schauergeschichten jagten durch seinen Schädel, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was hatte er in England alles über diesen Seewolf gehört! Die schlimmsten Geschichten waren da in
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Umlauf, und in jeder steckte ganz sicher ein Körnchen Wahrheit. Er schluckte hart, als er an Sir Doughty dachte. Diesen Adligen hatte Kapitän Drake köpf en lassen -weil der Seewolf dessen Intrigen aufgedeckt hatte. Und das fürchterliche Narbengesicht hatte als Henker fungiert! Fassungslos starrte er auf den breiten Rücken des Mannes, der mit selbstverständlicher Lässigkeit wieder nach achtern ging. Himmel, dachte Thornton wie betäubt. Wenn der erfuhr, daß er auf der „Black Pearl“ Trinkwasser und Proviant geklaut hatte, würde dieser Höllenhund von einem Seewolf ihn ebenfalls köpf en lassen. Der Kältewelle, die durch seinen Körper raste, folgte ein Hitzestau, der ihm in den Schädel stieg, bis er eine knallrote Birne kriegte. Fieberhaft überlegte er. Blake hatte geredet, im Fieber vermutlich, aber bald würde er klar sein, und wenn er ihn hier an Bord fand, würde er alles sagen, was er wußte. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Er mußte Blake umbringen, um jeden Preis, sonst war er selbst an der Reihe, denn diese Kerle kannten keine Gnade, das hatte er in England oft gehört. In den Geschichten, die sich um den Seewolf und seine harte Mannschaft rankten, hingen Meuterer und Spanier massenweise an den Rahen, da wurde jeder täglich einmal ausgepeitscht, da wurden Hafenkneipen rigoros zertrümmert und Spanier massenweise versenkt, nachdem man ihnen die Schätze geraubt hatte. * In dieser Nacht, als die „Isabella“ weiter auf Westkurs lief, fand Thornton keinen Schlaf. Er hatte sich in der lauen Nacht einen Platz an Deck gesucht, doch schließlich suchte er die Segellast auf und legte sich auf das Tuch. Er hatte nicht mehr viel Zeit, er konnte nicht mehr lange warten, sonst hing er auch bald da oben an der Großrah.
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Ab und zu, wenn die Glasen geschlagen wurden, schlich er sich aus der Last und blickte über das leere Deck. Er wußte, daß einer der Seewölfe im Großmars hockte, aber der sah ganz sicher nicht ständig an Deck, sondern hatte eine andere Aufgabe. Und der Mann am Ruder konnte ihn nicht sehen. Dann blieben aber immer noch ein oder zwei Männer übrig, die Wache gingen. Verflucht, dachte er, deswegen kriegten sie den Seewolf auch nie zufassen. Der sah seine Feinde schon, noch bevor sie an der Kimm auftauchten. Hier war es ganz anders als auf der „Black Pearl“. Dort hatte es nachts nur den Rudergänger und den Ausguck gegeben, und der Ausguck hatte oft gepennt. Hier pennten nur die, denen es erlaubt war, die anderen wagten nicht einmal, vor sich hin zu dösen. Auf strenge Zucht und Ordnung hielt dieser Seewolf, das mußte man ihm lassen. Die Nacht war finster, und das erleichterte Thorntons Vorhaben zu einem großen Teil. Wenn Blake starb, würde es keinem auffallen, denn der Mann war so geschwächt, daß sein Tod ganz normal aussehen mußte. Thornton wartete, bis der Mond wieder hinter einer leichten Wolkenbank verschwunden war, dann schlich er leise nach achtern zu der Kammer, in der Blake sich aufhielt. Er wußte nicht, welcher der Männer jetzt Wache ging. Er sah nur ganz schwach einen Schatten auf der anderen Seite, der am Schanzkleid lehnte, sich dann umdrehte und in die Kuhl ging. Lautlos bewegte Thornton sich weiter, bis er das Schott erreichte. Er drückte prüfend dagegen, bis es sich öffnete. Dann tastete er sich mit größter Vorsicht weiter, bis er die Kammer fand. Durch die Ritzen fiel schwacher Lichtschein. Eine Öllampe verbreitete trübes Licht, und ihrem Schein erkannte er Blake in der Koje, der sich unruhig bewegte.
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Thornton schraubte den Docht der Lampe weiter zurück, bis er den Mann gerade noch erkennen konnte. Mit einem Satz war er an der Koje, legte dem Young-Bootsmann die Hände um den Hals und drückte zu. Blake stieß ein Röcheln aus, seine Hände zuckten hoch und fuhren Thornton ins Gesicht. Thornton ertrug den Schmerz und preßte weiter. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Blake sich so heftig zur Wehr setzen würde und noch soviel Kraft hatte. Der Bootsmann kriegte Thorntons eine Hand zu fassen, packte den kleinen Finger und bog ihn hart zurück, bis Thornton vor Schmerz losließ. Dann stieß er einen hohen gellenden Schrei aus. Thornton schlug auf den Mann ein, doch dann gab er auf, als der Bootsmann ein zweites Mal schrie, wieder durchdringend und grell. Thornton wurde von Panik ergriffen. Wenn ihn hier jemand erwischte, war alles aus. Er stieß das Schott auf, fluchte leise und unterdrückt und stürzte hinaus. Auf dem Schiff wurde es augenblicklich lebendig. Himmel, dachte Thornton entsetzt, wo kamen die Kerle nur so plötzlich alle her! Anscheinend hatte keiner von denen geschlafen. Stimmen riefen durcheinander, Füße trappelten über Deck, und Thornton konnte gerade noch unter die Nagelbank entwischen, bevor ihn jemand sah. Als wieder einer an ihm vorbeirannte, erhob er sich und stieß mit dem Mann absichtlich zusammen. Es war Smoky, der lauthals losfluchte. „Was ist passiert?“ fragte er. „Ich weiß nicht“, sagte Thornton, „plötzlich läuft hier alles durcheinander. Ein Schrei, glaube ich.“ Lampen flackerten auf, der Kutscher hastete ebenfalls vorbei, und der Seewolf erschien. Der Schrei von Blake hatte das ganze Schiff schlagartig alarmiert. Hasard und der Kutscher betraten die Kammer zuerst.
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Blake saß auf seiner Koje, die Augen weitaufgerissen, und schien völlig gesund zu sein. „Hallo“, sagte Hasard überrascht. Blake grinste schwach und fuhr sich mit der linken Hand über den Hals. „Ein verfluchter Traum“, sagte er mühsam. „Was - wo bin ich hier überhaupt? Seid ihr Geister?“ Auch die anderen Männer die in die Kammer drängten, sahen Blake erstaunt und verblüfft an. Hasard schraubte den Docht der Lampe höher, und als Blake nun die fremden Gesichter sah, zuckte er zusammen und hob abwehrend die Hände hoch. Ganz offensichtlich hatte er Angst. „Raus!“ herrschte Hasard die anderen an. „Geht in eure Kojen, es ist nichts weiter passiert.“ Er wandte sich dem Mann zu, der die fremde Umgebung mit zunehmender Verwunderung musterte. „Sie sind Blake, nicht wahr?“ fragte der Seewolf. „Ja - und Sie? Ich träume wohl?“ „Nein, alles ist in bester Ordnung.“ „Woher kennen Sie mich?“ „Davon später“, sagte Hasard freundlich. Er sprach leise und beruhigend, um den verstörten Mann nicht zu erschrecken. „Sie befinden sich an Bord der ,Isabella VIII.'. Ich bin der Kapitän Hasard Philip Killigrew. Wir fanden Sie als einzigen Überlebenden an Bord der ,Black Pearl`. Erinnern Sie sich?“ Blake sah aus rotgeränderten Augen auf den Seewolf, dann wanderte sein Blick weiter und erfaßte den Kutscher, der zufrieden vor sich hin grinste. Immerhin ging es seinem Patienten gut. „Ja, ich entsinne mich“, sagte Blake schwer. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte der Kutscher hastig. Die Verwunderung aus Blakes Gesicht wich nicht. Er fand sich in seiner neuen Umgebung immer noch nicht zurecht, aber das war kein Wunder nach allem, was er hinter sich hatte.
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„Ich habe Durst - und Hunger“, setzte er hinzu. „Sie haben mich also gerettet? Ich hielt das nicht mehr für möglich, Kapitän. Ich möchte mich bedanken, ich glaube, ich war ziemlich fertig.“ „Das kann man wohl sagen. Unser Feldscher hier ...“ Er wollte auf den Kutscher deuten, aber der war schon wieder verschwunden, um Essen und Trinken zu holen. „Er ist gleich wieder da, einen Augenblick.“ „Engländer“, sagte Blake und schüttelte immer wieder den Kopf. „Ich kann es nicht fassen. Ja, ich weiß, ich trieb ganz allein auf dem Schiff durch das Meer, die anderen waren alle tot, zuletzt erhängte sich der Kapitän, er war wahnsinnig.“ Hasard nickte, er konnte dem Mann ungefähr nachfühlen, was er erduldet hatte. „Sie sollten sich jetzt nicht zu sehr anstrengen, Mister Blake“, sagte er. „Sie sind verdammt schwach. Sie werden jetzt etwas essen und trinken, nicht viel, damit Ihr Magen nicht gleich rebelliert. Danach schlafen Sie sich aus, und morgen werden wir über alles reden.“ „Ich fühle mich ganz gut, nur ...“ „Sehr schwach, ich weiß.“ „Nein, es ist etwas anderes, Kapitän. Ich wurde wach, weil sich jemand in dieser Kammer aufhielt. Er - er wollte mich erwürgen.“ Hasard lächelte nachsichtig. Für ihn stand fest, daß der Mann an Verfolgungswahn litt, das konnte gar nicht ausbleiben, wenn er lange Zeit auf einem Schiff allein gewesen war, nichts zu essen und zu trinken gehabt und überall Gespenster gesehen hatte. „Lächeln Sie ruhig“, sagte Blake, „ich weiß es besser. Erst als ich schrie, rannte der Kerl weg.“ Ja, Blake hatte geschrien, laut sogar, überlegte Hasard. Aber das war sicherlich auf einen Traum zurückzuführen. Wer sollte den ohnehin fast toten Blake schon erwürgen wollen? Das war völlig absurd.
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Blake blieb jedoch hartnäckig bei seiner Behauptung, und ließ sich durch nichts davon abbringen. Dann fiel Hasard siedendheiß etwas ein. Sollte Thornton der Mann gewesen sein? Es kam kein anderer dafür in Betracht. Für die Crew verbürgte sich Hasard selbst, für sie bestand nicht der geringste Grund, Blake zu töten. Aber Thornton konnte einen Grund haben, nämlich den, daß Blake die Wahrheit über ihn sagte. Davor konnte Thornton Angst haben. „Ich werde das feststellen“, versprach Hasard, aber dann erschien der Kutscher, und Blake fiel hungrig und durstig über das her, was der Kutscher mitgebracht hatte. „Langsam, langsam“, sagte der Kutscher. „Das hält Ihr Magen nicht aus, Mann! Sie werden sterben.“ Nach dem wenigen, was Blake zu sich genommen hatte, überfiel ihn wieder die Erschöpfung, und obwohl er anscheinend noch etwas fragen wollte, hatte er nicht mehr die Kraft dazu. Übergangslos schlief er ein. Hasard ließ die Lampe brennen und ging mit dem Kutscher an Deck. In kurzen Sätzen erzählte er dem Feldscher, was Blake eben berichtet hatte. „Thornton hatte einen Grund, ganz sicher“, sagte der Kutscher. „Von uns hat niemand etwas zu verbergen, aber der miese Kerl mit Sicherheit. Hat ihn denn keiner von der Wache gesehen?“ Hasard befragte ein paar Männer, bis er auf den Decksältesten Smoky stieß. „Thornton kann es nicht gewesen sein“, erklärte Smoky. „Mit dem bin ich noch zusammengestoßen, als die anderen längst nach achtern rannten. Er schlief unter der Nagelbank und stand erst auf, als ich heranlief.“ „Das könnte auch ein Trick gewesen sein.“ „Dann muß er sich aber verdammt beeilt haben“, sagte Smoky. „Hol ihn her, Smokyl“ Etwas später stand Thornton vor dem Seewolf und spürte, wie die Angst in seiner Kehle hochstieg.
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„Was taten Sie vorhin auf dem Achterdeck?“ fragte Hasard ruhig. „Ich war nicht auf dem Achterdeck, Sir, ich schwöre es. Ich bin durch das Geschrei und Getrappel wach geworden, und als ich aufstand, um zu sehen, was da los war, stieß ich mit dem Vorschiffmann zusammen. Er kann es bezeugen.“ „Ja, so war es“, sagte Smoky. Hasard ließ aber noch nicht locker. „Wie erklären Sie sich dann, dass der Rudergänger Sie erkannt hat, Thornton?“ „Sir, bei der Seele meiner Mutter, ich war nicht dort. Der Rudergänger muß sich geirrt haben.“ „Nun, vielleicht hat er das wirklich“, sagte. Hasard, aber er war davon überzeugt, daß der Kerl log. Der Seewolf ließ Bob Grey Posten vor dem achteren Schott beziehen, damit sich ein derartiger Vorfall nicht mehr wiederholte. Und daran glaubte er kaum. Wenn es Thornton wirklich gewesen war, dann würde er es ganz sicher kein zweites Mal versuchen. Der Mann war fürs erste kuriert. Bald darauf kehrte auf dem Rahsegler wieder Ruhe ein. Bis auf ein paar begaben sich die Seewölfe nach vorn, der Rest der Mannschaft schlief unter freiem Himmel an Deck. 8. Unermüdlich jagte die „Isabella“ unter vollen Segeln nach Westen. Der Wind hatte noch etwas aufgebriest, und an diesem Morgen rollte eine sanfte, langgestreckte Dünung über das Meer, die den Bug des Schiffes gleichmäßig auf und ab tanzen ließ. Die nächtlichen Wolkenfelder hatten sich verzogen, der Himmel strahlte azurblau, und der Wind briste sanft, der sie in Richtung Westen trug. Blake ging es gut. Der Kutscher hatte ihm den verfilzten Bart gestutzt, aber rasieren konnte er ihn nicht, denn seine Haut bedeckten immer noch unzählige Wunden.
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Etwas später brachte er ihn an Deck, wo Young-Bootsmann Blake mit lautem Hallo von den Seewölfen begrüßt wurde. Carberry nahm sich sofort seiner an. „Wie neugeboren siehst du aus, Mann“, sagte er, und stellte dem Bootsmann die Crew vor. Blake fand auf Anhieb Sympathien, und er selbst fühlte sich im Kreis dieser wilden Kerle auch sofort wohl. Nur einer hielt sich bescheiden und still im Hintergrund, einer, den Hasard schon seit einer geraumen Weile beobachtete, Thornton war eifrig auf dem Vordeck beschäftigt und wandte den an' deren den Rücken zu. Natürlich hatte er Blake gesehen, und jetzt knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Als Hasard sah, daß der Kerl sich nicht rührte, verließ er das Achterkastell und ging zur Kuhl hinunter. „Sie haben jetzt fast alle gesehen, Blake“, sagte er, „bis auf Ihren lieben Freund. Mich wundert, daß er gar nicht zur Begrüßung erscheint.“ Blake verstand kein Wort, er sah aber, daß die anderen hinterhältig grinsten und folgte ihren Blicken. Er sah einen Mann auf den Planken des Vordecks knien, der ihnen den Rücken zuwandte und emsig mit dem „Gebetbuch“ und einer Handvoll nassen Sand die Planken schrubbte. Alle waren auf die Begrüßung gespannt, denn die Geschichte hatte sich mittlerweile dank des Kutschers überall genau herumgesprochen, und jetzt wurde die Spannung fast unerträglich, als Hasard rief: „Hallo, Mister. Treten Sie an zur Begrüßung. Hier will Ihnen jemand die Hand schütteln.“ Thornton erhob sich total verkrampft, nutzte das Untersegel als Deckung aus und marschierte widerwillig in die Kuhl hinunter. Dann sah er Blake ins Gesicht. Auf der „Isabella“ hörte man überdeutlich den Wind durch die Pardunen streichen, hörte das Ächzen und Knarren von Taljen und Blöcken, Geräusche, die man sonst
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kaum hörte. Jetzt klangen sie überdeutlich und laut. Blake riß die Augen auf, dann öffnete sich sein Mund zu einem fassungslosen Staunen. Sein Körper versteifte sich, und die Männer sahen, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Thornton grinste schief, blickte zu Boden und streckte dann die Hand aus. „Hallo, Bootsmann Blake“, sagte er schwach. Blake übersah die Hand, die Thornton langsam zurückzog. Aber seine Augen sprühten Blitze, und er sah den Seewolf an, dann die anderen und schüttelte fassungslos den Kopf. „Das gibt es nicht“, sagte er. „Wie kommt diese widerwärtige Ratte hier an Bord?“ Thornton kroch in sich zusammen, er spürte die Ablehnung, die von den Seewölfen ausging, gleichzeitig aber auch die Welle von Sympathie, die sich Blake zuwandte. Verlegen, unsicher und erbärmlich stand er da und zog das Genick ein. „So ausgezeichnet schien Ihr Verhältnis zu Blake wohl nicht zu sein, Thornton, wie?“ hörte er die Stimme des Seewolfs. „Seit Sie hier an Bord sind, hören wir von Ihnen eine Lügengeschichte nach der anderen. Ich glaube, wir lassen uns das nicht mehr lange gefallen, mein Freund.“ „Sir, er hat mich immer gemein behandelt“, versuchte Thornton sich herauszureden und deutete anklagend auf den Bootsmann, der ihn voller Zorn und Verachtung musterte. Hasard lehnte sich an die Nagelbank und sah Blake an. „Erzählen Sie uns doch mal etwas von dem netten Geistlichen“, bat er freundlich. „Daß er sich als Priester ausgab, obwohl er keiner ist, haben wir schon herausgefunden. Aber warum habt ihr dann ausgesetzt?“ „Weil ich mich als Priester ausgab, und sie es merkten!“ schrie Thornton verzweifelt. Blake lachte stoßartig auf. „Daß er kein Priester war, wußten wir selbst, obwohl wir den Kerl aus einem absaufenden Schiff retteten. Das war
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überhaupt kein Grund für den Kapitän. Auch nicht, daß er ein fauler Hund war, der sich vor jeder Arbeit drückte und deshalb die Geschichte mit dem Priester erfand.“ Er sah die Seewölfe der Reihe nach an und lachte bitter. „Wir waren am Ende mit Proviant und Wasser, einige waren krank, und das Trinkwasser und der Proviant wurden streng rationiert. Ihr werdet das sicher aus Erfahrung kennen.“ „Und ob!“ rief Matt Davies aus. „Das hat jeder von uns schon mehr als einmal erlebt.“ „Dieser Kerl da“, sagte Blake, „der lungerte ständig um das Wasserfaß herum und klaute sich eine Muck voll Wasser nach der anderen. Auch Lebensmittel stahl er, und er wurde ein paarmal dabei erwischt, obwohl er es immer wieder abstritt. Er ist mitschuldig am Tod der anderen, denn er hat sich immer gemästet, gefressen und gesoffen was in ihn reinging. Schließlich wurde es unerträglich mit ihm, und als er uns mit seinen falschen frommen Sprüchen nervte, wenn wir ihn beim Klauen erwischten, hatte Stan Ellen genug. Er setzte ein Bordgericht zusammen, und der größte Teil der Crew stimmte dafür, daß Thornton einen luftigen Platz an der Rah kriegen sollte. Ellen erschien diese Strafe als zu hart, und so ließ er ein Floß zimmern, gab diesem falschen Betbruder auch noch ein Wasserfaß mit und ließ ihn aussetzen. Das ist die Wahrheit, so und nicht anders hat es sich verhalten.“ „Lüge!“ kreischte Thornton. „Er lügt, dieser räudige Bastard! Er kann mich nicht leiden, und er hat mich schon an Bord immer schikaniert. Ich mußte die dreckigsten Arbeiten tun.“ „Sie lügen schon wieder“, sagte Hasard kalt. „Als angeblicher Reverend hatten Sie doch überhaupt nichts zu tun. Demnach konnte Blake Sie auch nicht schikaniert haben, wenn Sie nicht arbeiteten. Wir kennen Ihre frommen Sprüche, mit denen Sie uns auf der Insel beglückten.“ Thornton wich unter dem Blick der eisblauen Augen zurück und sah die
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Verachtung auf den Gesichtern der Seewölfe. „Jetzt ist mir alles klar“, sagte Blake wieder. „Ich habe heute nacht nicht phantasiert. Er war es, der mich umbringen wollte, aus Angst, ich würde die Geschichte erzählen. Aber ich bin noch nicht fertig. Bei der Verhandlung an Bord, ging Thornton an dem Wasserfaß vorbei, trat den Zapfen voller Wut heraus und sagte wortwörtlich: ,Aber wie steht es geschrieben? Auge um Auge, Zahn um Zahn.' Dabei grinste er hinterhältig, als ein Teil des restlichen Wassers auf die Planken plätscherte. Das hat ihm niemand verziehen, weiß Gott nicht!“ Thornton stieß einen schrillen Schrei aus, riß einen Belegnagel aus der Nagelbank und schlug ihn blitzschnell, ehe es jemand verhindern konnte, Blake über den Schädel. Der Bootsmann krümmte sich, hielt die Hände über den Kopf, ächzte laut und sank dann zusammen. Da sauste Carberrys riesige Faust wie eine Ramme durch die Luft. Der harte Schlag trieb Thornton quer durch die ganze Kuhl. Er stolperte über eine aufgeschossene Leine und überschlug sich. Ed war schon bei ihm und riß ihn hoch, während sich die anderen um den Bootsmann kümmerten. Der Kutscher hatte ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Ungläubig sah er die Seewölfe an, dann fiel sein Blick wieder auf Blake, der sich nicht mehr rührte. „Er – er ist tot“, sagte der Kutscher tief bewegt. „Mein Gott, dieser Hurensohn hat ihn erschlagen. Der Teufel soll diese Ratte holen.“ Niemand wollte es glauben, jeder bückte sich nach Blake und sah den bärtigen Mann verständnislos an. „Irrst du dich auch nicht, Kutscher?“ fragte Hasard erschüttert. „Nein!“ Der Kutscher heulte fast. ..Er lebt nicht mehr, der Schlag war zu hart gewesen.“ Die Gesichter der Seewölfe wurden hart, wirkten unnatürlich verkrampft. In ihren Augen stand eine stumme Drohung, die nichts Gutes für Thornton verhieß.
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Den hatte der Profos immer noch im Griff. Mit dem linken Oberarm hatte er seinen Hals eingeklemmt, und so schleppte er ihn wieder in die Kuhl und warf ihn wie ein Bündel Lumpen auf die Kuhlgräting. Der Kutscher bewegte die Hände und stieß wilde Flüche aus. „Jetzt hatten wir den Mann soweit wieder in Ordnung, und dann kommt dieser Dreckskerl und tötet ihn! Himmel, was hatte der alles entbehren müssen, dem Wahnsinn nahe, vor Hunger und Durst fast krepiert wie ein Tier, und jetzt, da er alles fast überstanden hatte, nein -das begreife, wer will, ich nicht!“ So wie es aussah, wollten sich die Seewölfe fast gleichzeitig auf den Mörder stürzen, doch Hasard hielt sie zurück. Auch er hätte diesen Thornton am liebsten windelweich geprügelt, kielgeholt, oder auspeitschen lassen, und es kostete ihn große Überwindung, es nicht gleich und auf der Stelle zu tun. Er ergriff den wimmernden Kerl am Kragen und hob ihn mühelos hoch. Seine Blicke bohrten sich wie scharfgeschliffene Dolche in die Augen Thorntons. „Du bist eine der miesesten Ratten, die jemals den Fuß auf dieses Schiff gesetzt haben“, sagte er kalt und gab Thornton eine harte Ohrfeige. „Du bist nicht einmal den Strick wert, an dem man dich hängen sollte, und selbst die Rah ist dafür zu schade. Die Crew hat dich von Anfang an abgelehnt und ich auch, aber du warst in Not und brauchtest Hilfe, und deshalb haben wir dir geholfen.“ Thornton wimmerte noch lauter und wand sich im Griff des Seewolfs. Aber was Hasard einmal gepackt hatte, das ließ er nicht mehr los. „Sieh ihn dir an, sieh ihn dir genau an, damit du weißt, was du getan hast, oder ich vergesse mich!“ Thorntons Gesicht war bläulich angelaufen, Carberrys Schlag hatte sichtbare Spuren hinterlassen, aber er wagte es nicht, auf den Toten zu blicken. Hasard stieß ihn mit einem heftigen Ruck dem Profos entgegen. „Wenn der Wind so anhält“, sagte er zu den Männern,
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„erreichen wir in etwa fünf Tagen die Insel Ceylonia, wie die Spanier sie nennen. Dort geht dieser Kerl an Land, ob er will oder nicht. Er soll sehen, wo er bleibt und wie er zurechtkommt, bei uns an Bord ist kein Platz für ihn.“ „Häng' ihn doch einfach an die Rah, Sir!“ schrie Luke Morgan, der Hitzkopf. „Dann sind wir allen Ärger los.“ „Bei uns wird niemand an die Rah gehängt, Luke“, sagte der Seewolf ruhig. „Er wird anders bestraft.“ „Ja, damit er auf dem nächsten Schiff, das ihn rettet, wieder mit dem gleichen Mist anfängt, sich durchlügt, klaut und Leute erschlägt. In Ordnung, Sir, der Kutscher soll ihn am besten noch einsalben und mit Kräutern behängen, damit ihm nichts fehlt. Mich kotzt das an, Sir. Wenn ich der Kapitän wäre, würde er jetzt dort oben mit des Seilers Tochter Hochzeit feiern.“ „Du bist aber nicht der Kapitän, Luke, und deshalb verbiete ich dir, hier weiter herumzuschreien.“ Hasard sprach immer noch ganz ruhig, er konnte Luke in seinem Jähzorn verstehen — und die anderen auch. „Aye, Sir, ich habe verstanden!“ Luke Morgan drehte sich um und ging wütend und „voll aufgebraßt“ wie Ed es nannte, nach vorn. „Profos!“ sagte Hasard. „Du wirst diesen Kerl hier in der Vorpiek auf die Gräting binden.“ „Aye, aye, Sir!“ schrie Ed. „Er erhält einmal am Tag eine Muck voll Wasser und mittags einen Schlag Essen. Mehr nicht. Ist das klar?“ „Ganz klar, Sir!“ Thornton wollte wieder schreien oder etwas sagen, aber Carberry verstärkte den Druck seiner Hand ein wenig und sagte: „Wage es nicht, dein Maul zu öffnen, du Halunke! Einen Ton, und ich drehe dir den Hals nach hinten.“ Er stieß Thornton vor sich her, bis sie die Piek erreichten. „Zum Glück ist genügend Bilgewasser drin“, sagte Ed. „Damit du auch etwas davon hast, du Bastard. Die Ratten werden dir Gesellschaft leisten, denen kannst du
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dann deine frommen Sprüche vorbeten. Los, auf die Gräting mit dir!“ Smoky war ihnen gefolgt und brachte dünne Taue mit. Carberry fackelte nicht lange. Er band dem Kerl Hände und Beine fest, prüfte nach, ob alles gut saß und sah ihn ein letztes Mal an. In dem Blick lag alle Verachtung, die der Profos zum Ausdruck bringen konnte, und der Decksälteste Smoky spuckte bitter in das Bilgewasser. „Verfaulen lassen sollte man dich“, sagte er laut. Dann wurde das Schott zugedonnert, und Thornton fand sich in zäher Finsternis wieder. Hier in der Piek empfand er besonders deutlich die Bewegungen des Schiffes. Er hörte das Wasser am Bug rauschen, spürte, wie das Schiff gemächlich in der Dünung rollte und sich leicht auf die Seite legte. Sank der Bug tiefer ein, vernahm er ein leises Rauschen, und unter der Gräting schob sich eine übelriechende Welle nach vorn, die dort kurz stehenblieb und bei der nächsten Bewegung, dem achterlichen Absacken, wieder zurückrollte. Jedes Mal überschwappte es ihn leicht, und seine Angst, in dieser finsteren nassen Höhle lebendig begraben zu sein, wurde immer größer. Wie mochte das erst sein, wenn das Schiff durch harte See lief? Dann würde sich der Druck des Wassers verstärken und ihn jedesmal stark überbrausen. Das kann einen Mann zum Wahnsinn treiben, dachte er betäubt. Und Ratten gab es hier auch noch. Ab und zu hörte er es leise und protestierend pfeifen, und dann schloß er jedesmal vor lauter Angst die Augen. Er wußte, daß er diese Tortur nicht lange durchhalten würde. Mit der Zeit mußte man hier unten wahnsinnig werden. * Die Betroffenheit unter den Seewölfen war immer noch nicht gewichen. Es war alles so schnell gegangen, niemand hatte es sofort mitgekriegt, und so hatte auch keiner
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eingreifen können. Der alte Segelmacher Will Thorne hatte mit dem Moses Bill eine Plane geholt und Blake darauf gebettet. Jetzt stand er mit gesenktem Kopf vor dem Toten und konnte es nicht fassen. „Armer Kerl“, sagte er leise. „Das hast du ganz sicher nicht verdient.“ Ferris Tucker schüttelte den Kopf. „Ich habe noch gesagt, daß wir mit diesem Thornton eine Menge Ärger kriegen werden, und ich habe recht behalten. Hätten wir die Laus nur auf der Insel gelassen.“ „Das hilft jetzt alles nicht“, sagte Hasard. „Wer konnte das schon ahnen!“ Der Kutscher, der den Mann hochgepäppelt hatte, beugte sich schon zum vierten Mal über ihn und horchte dessen Brust ab. „Er ist wirklich tot“, sagte er betroffen. „Ich hoffe immer noch, daß ich mich geirrt habe, ich will es einfach nicht wahrhaben.“ Er richtete sich auf und schüttelte seine Faust zum Vorschiff hin, in Richtung der Piek. Dann trat er stumm beiseite. „Soll ich ihn einnähen, Sir?“ fragte der Segelmacher. „Ja, Will, tu das. Wir werden ihn am Nachmittag der See übergeben. Shane wird dir dabei helfen.“ „Das tue ich allein“, sagte der Alte schlicht. „Es ist nicht das erste Mal, daß ich es allein getan habe. Gott sei seiner Seele gnädig. Dieser Mann tut mir leid, aus ganzem Herzen.“ Stumm standen die harten Kerle herum und sahen zu, wie Will den Toten in das Segelleinen nähte. Blakes Tod hatte sie alle erschüttert, obwohl sie den. Mann kaum kannten, aber sie kannten den größten Teil seiner Geschichte, und als Seeleute konnten sie mit ihm fühlen und waren ihm dadurch eng verbunden. * Am späten Nachmittag wurden Mastspitzen an der Kimm gesichtet, aber das Schiff segelte auf entgegengesetztem
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Kurs am Horizont vorbei und verschwand bald darauf. Als es nicht mehr zu sehen war, ließ Hasard die „Isabella“ in den Wind laufen und backbrassen. Der tote Bootsmann wurde der See übergeben, und Philip Hasard Killigrew sprach das Gebet. Thorne hatte die eingenähte Leiche des Bootsmanns mit einer Siebzehn-PfünderEisenkugel beschwert, damit sie auf den Grund sank und die Haie sie nicht holen konnten. Das menschliche Paket verschwand in der See und tauchte unter. Young-Bootsmann Blake hatte seine letzte Ruhe gefunden. Tief unten auf dem Grund des Meeres ruhte er jetzt, und alle Entbehrungen hatten für ihn ein Ende. Die Stimmung an Bord des Rahseglers blieb an diesem Tag gedrückt. Niemand sprach ein überflüssiges Wort. 9. Gegen Abend des fünften Tages wurden in der See kleine schäumende Wirbel gesichtet. „Untiefen“, sagte Hasard, „oder Atolle. Ab sofort wird der Ausguck doppelt besetzt, und ein Mann bezieht Posten auf dem Vorschiff. Haltet mir ja die Augen offen!“ Auf Steuerbord tauchte etwas später wieder eine Schaumkrone aus dem Wasser. Die langrollende Dünung brach sich daran, schäumte auf und bildete einen weißen Wirbel. „Das sind Korallenriffe“, sagte Dan. „Ich schlage vor, wir hängen außer dem Großsegel alles ins Gei, Sir!“ „Wieviel Meilen laufen wir?“ fragte Hasard Jeff Bowie, der mit der Lotleine hantierte. „Knapp sieben, Sir!“ „Dein Vorschlag ist angenommen, Dan. Sieben Knoten sind für dieses Gewässer ganz beachtlich. Wenn wir da auf eins der kaum sichtbaren Barriereriffe laufen, dann schlitzen wir uns von vorn bis achtern auf. Die Korallen sind schärfer als Ferris' große Axt.“
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„Hier müssen wir uns durchmogeln“, sagte Dan. „sonst gibt es wirklich ein Unglück. Es wird auch nicht mehr lange dauern, dann erreichen wir die Insel Ceylonia. Das hier sind die Vorboten.“ Hasard dachte an die kleinen Kreuze auf den Roteiros. Wenn die Annahme des Profos stimmte, daß es Wracks waren, dann war das hier eine Höllensee, die der Teufel persönlich geschaffen hatte. Das Üble daran war, daß man viele Riffe nicht sah. Den Atollen, die sich deutlich aus der See hoben, konnte man immer noch rechtzeitig ausweichen, aber einem Riff, das zwei oder drei Yards unter Wasser lag, nicht mehr. Zudem setzte die kurze Dämmerung ein, und in diesen Breiten, knapp fünfhundert Meilen vom Äquator entfernt, folgte schnell die Nacht. Hasard gab dem Profos Anweisungen, bis auf das Großsegel alles aufzugeien. Sie mußten sich mit allergrößter Vorsicht hier hindurchmogeln, wie Dan ganz richtig bemerkt hatte. Die Atolle wurden zahlreicher. Königlichen Kronen gleich, hoben sie sich aus der See scharf ab, und mehr als einmal bemerkte der Ausguck, daß sie nur haarscharf an einem Riff vorbeigesegelt waren. „Es hat keinen Zweck“, sagte der Seewolf nach einer Weile. „Die Passage, auf die wir jetzt vermutlich zusteuern, läßt sich bei Nacht nur durchsegeln, wenn man das Schiff riskiert. Und weil wir nur das eine haben, halte ich es für sinnvoller, vor Anker zu gehen. Das Risiko, daß wir uns aufschlitzen, ist zu groß. Wie denkst du darüber, Big Shane?“ wandte Hasard sich fragend an seinen väterlichen Freund, den ehemaligen Waffenschmied. „Wir haben keine sonderliche Eile“, sagte der Graubart bedächtig, „uns verfolgt niemand, und wir leiden auch nicht an Wassermangel. Ich halte es für vernünftig, zu ankern, und den morgigen Tag abzuwarten.“ „Segel ins Gei, fallen Anker!“ befahl Hasard. Jetzt war allen etwas wohler. Es war immer etwas Unheimliches, bei Dunkelheit
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ein Meer zu durchsegeln, das voller heimtückischer Riffe steckte. Jeden Augenblick konnte es ein häßliches Knirschen geben, und dann war es zu spät. Der Anker rauschte in die Tiefe, die hier knapp zwölf Faden betrug, mitunter auch nur sechs. Hasard blickte durch das Spektiv nach Westen, aber dort sah er nur ein paar feine dunkle Striche, für die er keine Erklärung fand. Es konnte weit entferntes Land sein oder vielleicht auch ein paar einsame Palmen, die auf einem Atoll wuchsen. Auch Dan O'Flynn sah nicht viel mehr. Der Wind nahm spürbar ab, und bald wehte nur noch eine laue Brise durch die Dunkelheit, die von den aus der See ragenden Atollen geisterhaft erhellt wurde. Für den alten O'Flynn war das wieder ein Grund zum Unken. „Ich möchte nicht wissen, wie viele Schiffe hier schon zerschellt sind“, sagte er. „Hier haust der Teufel persönlich, die Atolle sind seine knochigen Finger, die er aus der Hölle nach oben gereckt hat, das könnt ihr mir glauben. Und er holt sich eine ahnungslose Mannschaft nach der anderen.“ Carberry grinste den Alten an, der sich wieder einmal in Eifer redete, und so konnte er das Spotten nicht lassen. „Mit der ,Empreß of Sea`, oder wie der Kahn hieß seid ihr natürlich immer über die Atolle weggesegelt, was, wie? Die hatte ja einen Boden, der bestand aus Granit, und die Kerle an Bord waren aus Eisen, die hat das nicht gestört.“ „Die ,Empreß of Sea` befuhr die nördlichen Meere, du Stint“, sagte der Alte giftig, „und da gibt's keine lausigen Atolle. Und, verflucht noch mal, sag nicht immer so dämlich oder wie der Kahn hieß'. Wie oft soll ich das noch sagen!“ „Schon gut, Donegal“, sagte Ed lachend, „du mußt das nicht immer alles so blauäugig sehen.“ Einer nach dem anderen zog sich langsam in sein Quartier zurück, und schließlich palaverte Old O'Flynn nur noch mit seinem Sohn Dan, der immer lauter gähnte, bis er ebenfalls davonschlich.
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Fred McMason Auf der „Isabella“ kehrte Ruhe ein. *
Am Morgen, noch in der Dämmerung, gab es eine höllische Überraschung, die allen in die Knochen fuhr. Im Licht des heraufziehenden Tages fühlten sie sich urplötzlich in die SargassoSee versetzt. Weil sie lange und ausgiebig geschlafen hatten, waren sie schon sehr früh auf den Beinen. Einer nach dem anderen starrte zunächst sprachlos über das Meer. Hart auf Backbord war Land zu erkennen, ferne Palmen, die sich im lauen Wind bogen, und langgedehnte weiße Strände. Das Land befand sich etwa eine Meile entfernt. Das war es aber nicht, was sie so erschreckte. „Ein Schiffsfriedhof“, sagte Dan, und dachte wieder an die Kreuze auf den Roteiros. „Himmel, in was sind wir denn da hineingeraten?“ Scheu sahen sich die Männer an und blickten dann wieder aufs Meer. Den weißen Stränden vorgelagert waren große und kleine Atolle, und auf diesen Atollen die scheinbar schäumten und kochten, lagen Wracks. Wracks mit zersplitterten Masten, zerborstenen Rümpfen, aufgeschlitzten Schiffsleibern. Es war ein Anblick, der sie innerlich aufwühlte und erschauern ließ. Manche der Schiffe lagen auf der Seite, andere waren auf die Riffe gesegelt und steckten hoffnungslos fest, als wären sie aufgedockt worden. Geisterschiffe, Wracks, wie im Meer der toten Seelen, wo sie das Fürchten gelernt hatten. „Achtzehn Schiffe“, zählte Hasard auf. „Ein Glück, daß wir rechtzeitig vor Anker gingen, sonst würden wir jetzt auch dort irgendwo sitzen. Da fährt einem der Schreck ja noch nachträglich in die Knochen.“ Old O'Flynn erschien ebenfalls an Deck, aufgeschreckt durch die lauten Rufe, und blickte sich erschüttert um. Schnell
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bekreuzigte er sich und musterte jedes einzelne Wrack. „Ob es da noch Leben gibt?“ fragte er den Seewolf. „Das glaube ich nicht, Donegal. Die Schiffe, die hier strandeten, wurden von den Mannschaften längst verlassen. Ihnen allen blieb noch genügend Zeit, bis auf einige Ausnahmen vermutlich, in die Boote zu steigen und das Land zu erreichen. Nein, diese Wracks sind leer und ausgefleddert. da gibt es auch nichts mehr zu holen. Glaubst du ... Was hast du denn, Donegal?“ Der Alte öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton heraus. Sie sahen, wie sich sein pergamentartiges Faltengesicht verzog und bleich wurde. Ein paar Male setzte er zum Sprechen an, aber er kriegte keinen Ton über die Lippen und deutete nur immer wieder mit zitternden Fingern zu einem der Wracks hinüber, die in unmittelbarer Nähe um und auf den Atollen wie Geisterschiffe gruppiert waren. Dan griff seinem Vater unter den Arm. Sein Gesicht war besorgt. „Dad“, sagte er und schüttelte ihn leicht, „was fehlt dir? Die Wracks sind alle gleich, und Geister gibt es keine auf ihnen.“ „Da – da ...“ stammelte der Alte mit zuckenden Lippen. Seine Augen waren entsetzt hervorgequollen, und er röchelte. Der Kutscher erschien und packte ihn am Arm. „Ruhig, alter Junge“, sagte er. „Das ist das Herz, ganz ruhig bleiben, Donegal.“ Er wollte ihn sachte wegführen, aber plötzlich wurde der Alte mobil, riß sich los und fauchte den Kutscher an. „Laß mich in Ruhe, du lausiger Küchenbulle! Verdammt, verdammt, das ist nicht das Herz, du Ochse!“ Ratlos sahen sie O'Flynn an, der sich so merkwürdig benahm wie noch nie in seinem Leben. Er hüpfte herum, schrie und brüllte, und dazwischen heulte er richtige Tränen, die ihm aus den Augen kullerten und in seinen Bartstoppeln hängenblieben.
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„Mein Gott“, sagte Dan entsetzt, „ich glaube, jetzt spinnt er wirklich. Hilf ihm doch, Kutscher!“ „Da! Seht ihr sie denn nicht, ihr Heringe!“ schrie der Alte mit hoher Stimme. „Ja, geht euch denn kein Licht auf, ihr blinden Stockfische! Das ist sie, das ist sie!“ „Wer, zum Teufel, ist sie?“ brüllte Carberry zurück. „Die ,Empreß of Sea` ist es!“ schrie der Alte noch lauter zurück, und wenn sie ihn nicht gehalten hätten, wäre er vor lauter Rührung über Bord gesprungen, so aufgeregt war er. „Der Zweimaster dort drüben?“ fragte Hasard ruhig. „Ja, natürlich.“ O'Flynn dachte nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. Er war total aus dem Häuschen und führte sich auf wie ein kleines Kind. „Ich denke, die segelt in den Nordmeeren“, sagte Ed verblüfft. Hasard ließ sich das Spektiv geben und blickte hindurch, doch der Alte riß es ihm aus der Hand und schaute mit gierigen Augen auf das halbzerfallene Wrack. „Ja, sie ist es!“ schrie er immer wieder. „Sie ist es, die ,Empreß` die Kaiserin der Meere. Seht sie euch an, so sah sie aus, mein Schiff ist es, jawohl, auf dem Kahn habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht. Fiert das Boot ab, ihr Idioten, ich muß auf der Stelle zu ihr hin!“ Hasard blickte den Alten ruhig an. „Reg dich wieder ab, Donegal“, sagte er. „Man kann den Namen am Bug noch lesen. Es ist ein Spanier, und er heißt ,Santa Arabella'. Sieh ihn dir selbst an!“ „Was schert mich der Name!“ O'Flynn keifte fast. „Es ist die ,Empreß', sonst fresse ich mein Holzbein. Warum, zur Hölle, ist das Boot noch nicht unten! Soll ich hier verfaulen?“ „Ed, laß abfieren“, sagte Hasard. ..Damit Donegal endlich mal seinen Irrtum einsieht.“ „Irrtum?“ schrie . der Alte mit knallrotem Kopf. „Da lach' ich ja wie der Satan. Das ist sie, das ist sie“, wiederholte er eigensinnig.
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Zu viert fierten sie das Boot ab, sonst gab der Alte ja doch keine Ruhe. Aber sie nahmen sich vor, ihn später gehörig zu hänseln, wenn er wieder zurückkehrte. Er hatte einen Fimmel, mehr nicht, und er war aufgebraßt wie nie in seinem Leben. Sein Holzbein pochte pausenlos auf die Planken. „Ferris, du gehst mit, du verstehst was davon“, verlangte er. „Und du Rotznase gehst auch mit“, sagte er zu seinem Sohn. „Und wenn du noch einmal über das schöne Schiff lachst, dann lasse ich mein Holzbein auf dir tanzen - auf jedem, der lacht“, setzte er grimmig hinzu. „Und wenn er noch so alt ist. Euch werde ich es schon zeigen.“ „Einen Augenblick“, sagte Hasard. „Jetzt will ich es ganz genau wissen, ich gehe auch mit. Die beiden O'Flynns, Ferris, der Moses und ich. Ferris, nimm die Axt mit.“ „Wollt ihr mein schönes Schiff zerstören?“ fragte der Alte empört und deutete auf den halbzerfallenen Trümmerhaufen, der so kläglich auf dem Riff lag. „Vielleicht willst du den Mast als Andenken mitnehmen“, sagte der Seewolf grinsend, denn er glaubte von Old O'Flynns Behauptung kein einziges Wort. Wie sollte das Schiff auch in diese Ecke der Welt gelangt sein, wenn es nur die Nordmeere befahren hatte? Obwohl der Alte durch sein Holzbein behindert war, befand er sich zur Verblüffung der anderen als erster im Boot, und als es ihm nicht schnell genug ging, griff er nach dem Riemen und legte sich heftig ins Zeug. „Langsam!“ brüllte Ferris. „Das Boot ist noch vertäut.“ „Dann wirf es gefälligst los, du rothaariger Riesenaffe!“ Der Eifer, den der Alte an den Tag legte, amüsierte die anderen immer mehr. Nur mühsam verkniffen sie sich das Grinsen. O'Flynn hatten einen Spleen, was Geister betraf, aber hier setzte er allem die Krone auf, darin war die ganze Crew einer Meinung. Wie besessen pullte er weiter, es ging ihm alles zu langsam.
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Das Wasser war tintenblau. In der Tiefe erkannte Hasard deutlich scharfgezackte Korallenriffe. Dunkle langgestreckte Körper kreisten unter der Oberfläche. „Daß mir keiner über Stag geht“, warnte Hasard. „Hier wimmelt es von Haien.“ Der Alte hörte überhaupt nicht hin. Er pullte auf das Wrack los, drehte alle Augenblicke den grauhaarigen Schädel und verging fast vor Rührung und Sehnsucht. An dem kleinen Atoll legten sie an. Spitz stachen abgestorbene Korallen aus dem Wasser, dazwischen gab es wieder tiefe Lachen und gefährliche Wasserlöcher. Tucker band das Boot an einer aus dem Wasser ragenden Zacke fest. Dann bewegten sie sich vorsichtig und unsicher über das Atoll auf das Wrack zu. Sturm, Strömung und Wogen hatten das Wrack immer höher auf die scharfkantigen Korallen geschoben und es sanft auf die Seite gelegt. Der Zahn der Zeit hatte an dem Zweimaster genagt, Wind und Wellen hatten den Rest besorgt, und die Korallen hatten es zerstört und aufgeschlitzt. Nach allen Seiten standen die Planken heraus, die beiden Masten waren nur noch armselige Stümpfe, die sich anklagend zum Himmel reckten. Der Alte vergoß eine Träne nach der anderen, streichelte das zerfaserte, splittrige Holz, tätschelte die geborstenen Planken und murmelte unaufhörlich vor sich hin. „Ja, das ist sie“, murmelte er andächtig und nickte erinnerungsschwer. „Die liegt schon seit Jahren hier“, sagte Ferris, „seit mindestens zwei oder drei Jahren, wenn nicht noch länger. Und hier, Donegal, kannst du deutlich den Namen lesen. Es ist ein Spanier, du hast dich geirrt.“ „Es ist die ,Empreß` schrie der Alte und stampfte ärgerlich mit dem Holzbein auf, daß er fast das Gleichgewicht verlor. Dan enterte geschickt auf, bis er das Deck erreichte und sah sich um. Zum Fürchten sah das Schiff aus. Es war ein richtiges Wrack, aus dem Deck ragten überall
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scharfkantige, angemoderte Planken heraus. Er riß zwei davon mit der bloßen Hand heraus und schob sie nach unten, damit sein Vater aufentern konnte.. Hasard und Tucker schoben nach, und dann stand O'Flynn an Deck, bekreuzigte sich, murmelte und grummelte und schüttelte immer wieder den Kopf. „Hier war mein Platz“, sagte er und deutete auf das Vordeck, das man kaum noch betreten konnte, ohne einzubrechen. „Hier war jahrelang mein Platz. Ich kann es nicht glauben, daß es hier gestrandet ist. Wie kam es hur hierher?“ „Spanier kommen oft hierher“, erwiderte Hasard und handelte sich dafür einen giftigen Blick ein. „Zum Teufel mit den Spaniern“, sagte der Alte. „Ferris, du hast doch deine Axt dabei. Kratz mal die Farbe ab, darunter steht der richtige Name. Vielleicht haben die lausigen Dons den Kahn gekapert, in der Nähe von Frankreich vielleicht, und sind mit ihm hierhergesegelt.“ Das, was der Alte als Farbe bezeichnete, blätterte sofort ab, als Tucker mit der Axt daran schabte. Darunter erschien faulendes Holz, aber kein anderer Name. Doch auch das hielt den Alten nicht davon ab, weiterhin zu behaupten, es wäre sein Schiff. Eigensinnig und stur blieb er dabei. „Tut mir leid“, sagte Ferris. „Mir nicht, ich weiß, daß es mein Schiff ist.“ „Aber Dad, jetzt hör doch ...“ sagte Dan. „Halt dein Maul!“ schrie O'Flynn. „Wage nicht, mir noch einmal zu widersprechen.“ Diesmal war sogar Dan eingeschüchtert. Der Alte unternahm einen Rundgang. Einmal brach er durch die Planken und sie mußten ihn mit vereinten Kräften herausziehen, wobei er lästerliche Flüche ausstieß und erklärte, daß es eine verdammte Schande sei, den Kasten hier verfaulen zu lassen. Die Räume des Schiffes waren auch nur noch mit Vorsicht zu betreten. Überall roch es nach Moder, nach fauligen Muscheln, nach uraltem Holz, und ab und zu krachte und knisterte es.
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Von vorn nach achtern ging der Alte, dann umgekehrt und schließlich landeten sie ganz unten, wo sich der einzige Laderaum befand. Von hier aus konnte man teilweise ins Wasser sehen. Man sah die langen Algen, die sich angesetzt hatten, und die Muscheln, die den Kahn fraßen und zerstörten, wo er im Wasser hing. Die Bohlen gaben unter jedem Schritt nach, und langsam begann sogar Hasard ungeduldig zu werden. „Was suchst du denn noch, Donegal?“ fragte er sanft. „Du mußt doch langsam einsehen, daß du dich geirrt hast! Das Schiff hat sicher nur starke Ähnlichkeit mit der ,Empreß`.“ „Gib mir mal die Axt“, sagte der Alte, statt einer Antwort. Dort, wo die Mastversteifungen ins Kielschwein gingen, begann er plötzlich zu hacken. Die anderen standen unbehaglich herum. Sie fühlten sich auf diesem halbverfaulten Eimer nicht wohl. Er trug kaum noch ihr Gewicht, und wenn man durchbrach, landete man zwischen den scharfen Korallen. Ein plötzlicher Schrei, den der Alte ausstieß, ließ die drei zusammenfahren. „Ha!“ brüllte er. „Hab ich es nicht gesagt, was? Hier, reißt mal eure Glotzböcke auf! Was steht hier? Das hält noch tausend Jahre das Kielschwein, und der Name ist so tief eingebrannt, daß ihn selbst der Teufel nicht 'rauskriegt.“ Sie konnten gar nicht in seine Nähe, denn jetzt hackte er weiter, voller Eifer, und der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht. Als Tucker ihn ablösen wollte, schüttelte er nur stur den Kopf. Endlich knirschte es, und dann brach ein mehr als yardlanger Teil aus dem noch verhältnismäßig harten Holz heraus. „Das nehme ich mit“, verkündete O'Flynn, „das könnt ihr mir später sogar in den Sarg legen oder ins Meer nachfeuern, davon werde ich mich mein Leben lang nicht mehr trennen.“ Das Holzstück wog knapp einen Zentner, doch das alte Rauhbein hob es spielerisch hoch und reichte es Tucker.
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Deutlich lesbar befand sich der Name darin, mehr als eine Daumenbreite tief eingebrannt. „EMPRESS OF SEA“ „Ich glaube, mir hat einer mit dem Hammer vor den Schädel geschlagen“, sagte Tucker stöhnend. Hasard schluckte erst einmal. Diesen Brocken mußte er nach und nach verdauen, das ging nicht so plötzlich. „Donnerwetter“, erklärte er schließlich, und legte Old O'Flynn die Hand auf die Schulter. „Ich nehme alles zurück, Donegal, was ich gesagt habe. Es ist tatsächlich das Schiff, auf dem du gefahren bist, und die Dons müssen es wirklich gekapert haben.“ Auch Dan entschuldigte sich wortreich bei seinem Vater. Der Alte aber hob stolzgeschwellt die Brust, riß Tucker den Holzbrocken aus der Hand und preßte ihn an sich wie einen Säugling. „Und alles, was ich über mein Schiff erzählt habe, ist wahr“, sagte er, „und ich werde euch verdammt noch mehr Geschichten erzählen, und ihr werdet sie gefälligst auch glauben, sonst soll euch der Teufel holen!“ Vor Rührung schossen ihm wieder Tränen in die Augen. Oben an Deck blieb er noch lange und versonnen stehen, streichelte wieder das Holz, sah zum Vordeck und tätschelte die alten morschen Planken. „Wir werden uns nie wiedersehen“, hörten sie ihn murmeln. „Aber das hier war die schönste Zeit meines Lebens, die werde ich nie im Leben vergessen. Ja, das waren noch Zeiten“, schwärmte er laut. „Zeiten, die nie mehr wiederkehren. Hier floß noch Milch und Honig an Bord, hier wurde jeden Tag Rum gesoffen.“ „Wo hattet ihr den denn her?“ fragte Dan grinsend. „Ah — Branntwein meine ich natürlich. Echten, goldenen Branntwein. Für jeden Mann täglich eine Flasche.“ Dan kratzte sich den Schädel, sah den Seewolf und Ferris Tucker an und grinste weiter.
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„Ja, das müssen Zeiten gewesen sein“, sagte er tückisch. „Richtig weh ums Herz wird einem da, wenn man Dad so hört. Wo gibt's so etwas noch heute? Nicht einmal auf der ‚Isabella’. Da gibt’s viel weniger. Was habt ihr ein prächtiges Leben geführt, Dad!“ „Ja, das kann ich wohl sagen“, erwiderte der Alte. „Richtig goldene Zeiten waren das.“ „Mit goldenem Branntwein“, setzte Dan hinzu. Als er einen mißtrauischen Blick seines Alten auffing, setzte er ein direkt wehleidiges Gesicht auf, damit Dad nicht wieder in Zorn geriet und sich veräppelt fühlte. Der Alte konnte sich von dem Wrack kaum trennen, und Hasard. ließ ihn gewähren. Er wollte nicht die verherrlichten Erinnerungen eines alten Mannes stören, der alles nur noch durch rosarote Wolken sah, und so mahnte er auch nicht zum Aufbruch, bis Old O'Flynn sich endlich selber einen Ruck gab und das Schiff verließ. * Als sie an Bord zurückkehrten, gab es verblüffte Gesichter. Old O'Flynn war der Mittelpunkt, um den sich alles drehte, und dabei schämte er sich nicht, diesmal ganz besonders dick aufzutragen. Jeder durfte einmal den Holzbalken in die Hand nehmen, ihn aber nicht zu lange halten, sonst wurde der Alte nervös. Und jeder durfte den Namen bewundern und hörte so viel den goldenen Zeiten des alten Rauhbeins, bis es ihm zum Hals heraushing und dem Alten selbst nichts mehr einfiel. Als sich die Gemüter endlich einigermaßen beruhigt hatten, und der Alte versonnen auf dem Achterkastell stand und sein altes Schiff durch das Spektiv ansah, nahm Hasard den Profos zur Seite. „Bring den Kerl ins Boot, Ed“, sagte er. „Wir rudern ihn dort drüben an Land, und dann soll ihn der Teufel holen, sonst werden die Leute noch unruhig, und das ist der Kerl, weiß Gott, nicht wert. Er kriegt
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Proviant und Wasser, obwohl auf der Insel dort alles zu wachsen scheint, was man zum Leben braucht. Ein paar Mann sollen das Boot beladen. Wasser, Früchte, eine Axt — nein, keine Axt, sonst schlägt er dem nächsten gleich den Schädel ein. Er soll sich selbst helfen, er hat kein Mitleid verdient.“ „Ganz meine Meinung, Sir“, sagte Ed und ging nach vorn. Er band Thornton von der Gräting und schob ihn vor sich her. „Dir Rübenschwein sollte man den Hintern kalfatern“, sagte er, „aber du kriegst sogar noch Wasser und Proviant. Und halt ja dein Maul, sonst zerreißen dich die Männer in der Luft.“ Thornton gab keine Antwort. Er war erschöpft, durchnäßt und hatte fürchterliche Angst, daß alles nur ein Trick sei und man ihn doch noch hängen würde. Oder sie stachen ihn an Land ab, hinterrücks, wie er sich einbildete. Ernste, drohende und unheilverkündende Gesichter musterten ihn, als er ins Boot stieg. Dort befand sich ein größeres Wasserfaß, Proviant für mehr als eine Woche und eine Hose aus Segeltuch. Dreimal ausgesetzt, dachte er immer wieder, das hält kein Mensch aus. Der liebe Gott mußte es auf ihn ganz besonders abgesehen haben. Erst hatten sie ihn von der „Black Pearl“ gefeuert, dann wollte ihn der verdammte Don in seiner Weiterfahrt nicht stören, und jetzt feuerten sie ihn auch hier 'raus. Aber so ganz traute er der Geschichte noch nicht, denn der Narbenmann murkste ihn bestimmt gleich ab, sobald sie Land erreichten und keiner mehr hinsah. Seine Angst wuchs mit jedem Riemenschlag, der sie von dem Schiff mit den schweigenden Männern wegführte. Voller Entsetzen sah er sich die Umgebung an. Überall lagen wie riesige Tote Schiffe und Masten herum, Wracks, wie er sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Aber dahinter war auch Strand, und da gab es Palmen. Vielleicht hatte er aber auch
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wieder Glück und landete in einem kleinen Paradies. „Ist das eine Insel?“ fragte er zaghaft. „Stell das selbst fest, du Rübenschwein?“ fuhr ihn der Profos an und warf ihm einen unheilvollen Blick zu. „Du kannst jede Nacht auf einem anderen Wrack pennen, und vielleicht findest du da auch noch Schätze. Thornton starrte immer wieder auf das Messer, das der narbige Profos im Hosenbund stecken hatte. Nicht mehr lange, und er würde es grinsend herausziehen und ihm den Hals durchschneiden. Er hatte von dieser Crew schon so viele schlimme Sachen gehört, daß es ihn immer wieder grauste. Sie ruderten an einem Atoll vorbei, und hier sah Thornton seine große Chance. Scheiß auf das Wasser und den Proviant, dachte er. Auf der Insel gab es sicher Wasser und Früchte. Wenn er jetzt über Bord sprang, tief wegtauchte, konnte ihn der Profos nicht erwischen. Er konnte hinter dem Atoll verschwinden und Land erreichen. Bis der Narbige den Kahn herumgepullt hatte, war er längst weg. Außer dem Profos war niemand da, die anderen hatten keinen Finger gerührt, um ihn an Land zu bringen. Vielleicht schossen sie mit Kanonen auf ihn, überlegte er. Die reichten ganz sicher so weit, aber die Stückpforten waren geschlossen und mußten dann erst hochgezogen werden. Nein, er wollte es riskieren. Lieber jetzt gleich und sofort, hier an dieser Stelle. Er saß auf der Ducht wie ein Unglücksrabe, grinste kläglich und zeigte zum Strand hin. „Vorsicht“, sagte er, „da ist ...“ Carberry drehte tatsächlich den Schädel herum. Im ersten Moment glaubte er, Thornton wollte ihn vor einem Riff warnen. Thornton richtete sich jedoch auf und sprang mit einem wilden Satz in das klare Wasser. Ed war verblüfft. Mit allem hatte er gerechnet, aber damit nicht.
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Das schwere Boot trieb noch ein Stück weiter, ehe der Profos die Riemen bremsend ins Wasser hielt. Thornton tauchte sofort weg, schwamm deutlich sichtbar unter Wasser auf eine riesige bunte Korallenbank zu und hielt sich dort an den scharfgezackten Dingern fest. Dicht vor ihm befand sich eine dunkle Höhle, und als der Profos sich in seinem Boot aufrichtete, sah er, wie etwas Dunkles aus der Höhle blitzschnell herausschoß. Wie ein riesiger Aal sah das Biest aus, fast zwei Yards lang und von einem Umfang wie ein starker Oberschenkel. Es war eine Muräne, die sich in ihrer Höhle gestört fühlte oder einen Angreifer sah. Thornton hielt sie im ersten Schreck für einen Hai, drehte sich unter Wasser um, und wollte sich von der Korallenbank abstoßen. Aber das schlangengleiche Biest fiel ihn an, biß blitzartig zu, schnellte wieder zurück und stürzte sich erneut auf den schreienden und tobenden Mann. Sie ließ selbst dann nicht los, als Thornton auftauchte, wie ein Irrer schrie und mit beiden Händen aufs Wasser schlug. Die Muräne verbiß sich in ihn, wand sich in Windungen durch das Wasser und hieb immer wieder zu, nachdem sie sich kurz von ihrem Opfer löste. Carberry sprang aus einem reinen Reflex ins Wasser. Er konnte nicht anders handeln, es gab für den Profos keine Alternative. Noch im Schwimmen riß er das Entermesser aus dem Hosenbund und paddelte schnell auf die Stelle zu, wo Thornton einen verzweifelten Kampf mit dem schlangengleichen Tier austrug. Die Muräne löste sich, griff wieder und wieder an, und ließ ihr Opfer nicht mehr aus den Fängen. Das Wasser kochte und brodelte an jener Stelle und färbte sich rot. Da war Carberry heran. Dicht vor ihm befand sich der große glatte Körper, und einmal sah er von der Seite das kalte ausdruckslose Auge, das ihn gleichgültig anstarrte. Es ist ein Höllenbiest, dachte der Profos entsetzt.
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Er sah, wie Thornton auftauchte, dann wieder unterging und in heftige Zuckungen verfiel. Wahrscheinlich war es zu spät. Ed hatte mal gehört, daß diese Biester giftig waren und ihr Biß einen Menschen in verhältnismäßig kurzer Zeit töteten. Er hieb mit dem Messer nach dem glatten Körper. Die Muräne schnellte herum, riß das gefährliche Maul auf und schnappte nach Carberry. In ihrem Element war sie jedem Gegner haushoch überlegen, und bei ihrem blitzschnellen Angriff sah der Profos kaum noch eine Chance. Haarscharf stieß das Maul an ihm vorbei, und sein Messer ritzte ihre Haut leicht an. Als Thornton sich noch einmal krümmte, und wieder diesen hohen dünnen Schrei ausstieß, schnellte sie sich erneut herum, biß noch einmal zu und glitt geschmeidig in die Tiefe zu ihrer Höhle zurück. Nur der Kopf sah noch heraus und der pendelte zielsuchend hin und her. Carberry wollte auf Thornton zu schwimmen, doch ganz plötzlich tauchte neben ihm ein Schatten auf, ein zweiter folgte, und gleich darauf hatte Ed das lausige Gefühl, das Wasser um ihn herum würde in einer gigantischen Wolke explodieren. Erst jetzt sah er die Pulverwolke, die von der Bordwand der „Isabella“ dunkel aufquoll, und die Fontäne im Wasser, die langsam in sich zusammenfiel. Himmel, die Kerle hatten einen SiebzehnPfünder auf die Reise geschickt, der ihn fast aus dem Wasser hob. Aber die Haie hatte der Einschlag blitzartig davonstieben lassen. Noch einmal sah er nach Thornton, doch der Mann war zweifellos bereits tot. Er konnte ihn auch nicht mehr erreichen, denn er sah den Körper tief unter sich immer weiter absacken, an dem scharfkantigen Riff vorbei. Thornton sah aus, als schwebe er direkt der Hölle entgegen. Er sank tiefer und tiefer und verlor sich in der buntschillernden Korallenhölle, bis Carberry ihn nicht mehr sah.
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Auch die verdammte Muräne war verschwunden, und Ed hütete sich, in ihrer Nähe vorbeizuschwimmen. Er erreichte das Boot, zog sich hoch und ließ sich einfach hineinfallen. Dabei hatte er mehr Glück als Verstand, er hörte zwanzig durcheinander brüllende Stimmen und sah den riesigen Körper, der gerade wieder wegtauchte. Fast im letzten Augenblick hätte der Hai Ed noch das Bein abgerissen, so gierig war er hinterhergeschwommen. Ziemlich entnervt pullte Ed zurück. Der Schrecken stand ihm noch :m Gesicht, als ihn hilfreiche Hände ruckartig an Bord der „Isabella“ hievten. Er spürte wie durch einen dicken Watteberg hindurch, daß ihm pausenlos Hände ins Kreuz schlugen, ihn Fäuste knufften und ihm immer wieder ins Ohr gebrüllt wurde. „Habt ihr alles gesehen?“ fragte er erschöpft. „Ja, durch das Spektiv“, sagte Hasard ernst. „Auch die Haie, die du nicht bemerkt hast. Fast hätte dich der eine noch erwischt.“ Ed schüttelte sich das Wasser aus den Klamotten und winkte ab. „Möchte den Hai sehen, der sich an den Profos wagt“, sagte er, „die ersticken ja schon, wenn sie mich nur sehen.“ Damit war für ihn das Thema erledigt. * Etwas später ging die „Isabella” ankerauf, lavierte vorsichtig durch die zahlreichen Atolle und fand die Passage, die zwischen der Insel und dem Festland weiter in den Indischen Ozean führte. An der Nordseite der Insel konnten sie noch einmal ihre Vorräte ergänzen, denn vor ihnen lag ein weiter Weg. Es galt, einen Weg nach England zu finden und den riesigen Ozean zu überqueren. Aber das war für die Seewölfe und ihren Kapitän das geringste Problem. Sie hatten schon ganz andere Ozeane überquert, wie sie sich gegenseitig lachend versicherten...
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