Nina Schindler
Das Überlebensbuch für Eltern
Wer kennt nicht die mitleidigen Blicke seines Kindes, wenn die Mutter mal...
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Nina Schindler
Das Überlebensbuch für Eltern
Wer kennt nicht die mitleidigen Blicke seines Kindes, wenn die Mutter mal wieder nichts kapiert hat? Und immer wieder diese furchtbaren Aufräumdramen. Die Gespräche über den Erwerb der für die meisten Kinder lebensnotwendigen, weil im Trend liegenden neuen Turnschuhe laufen nach dem immer gleichen Ritual ab, genauso wie die Verhandlungen über die Höhe des Taschengeldes... Das Elternsein ist manchmal ziemlich kompliziert und dann wieder einfach schön - vor allem, wenn genervte Väter und Mütter die witzigen Geschichten aus Nina Schindlers Alltag mit vier Kindern lesen. Sie beobachtet genau und hat immer eine Pointe parat. Sodass nach dem Aha-Effekt das befreite Lachen kommt. ISBN 3 499 60961 4 Februar 2001 Rowohlt Taschenbuch Verlag Umschlaggestaltung Büro Hamburg, Susanne Reizlein
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Nina Schindler hat vier Kinder und lebt als Autorin in Bremen. Neben Büchern für Erwachsene gibt es von ihr mehr als zwanzig Kinderbücher.
Da lieben wir nun unser Kind und wollen ihm etwas Gutes tun. Eifrig durchforsten wir einschlägige Kataloge auf der Suche nach pädagogisch und ökologisch erlaubtem Spielzeug, das nicht nur dem Baby hilft, seine fünf Sinne zu entdecken, sondern auch seine Intelligenz entwickelt und fördert und aber das ist eher ein egoistischer Elternwunsch - seine immer länger werdenden Wachzeiten zu möglichst ruhigen Zeiten gestaltet. Doch oft sind es weniger die Babys, die sich freudig auf das Angebot stürzen - sondern die älteren Geschwister schauen gerührt auf die Rasseln, Holzreifen, Klappergeräte und andere aufregende Konstruktionen aus Holz, Schnur und Jute und verdrehen verzückt die Augen, wenn das Stehaufmännchen beim Sich-Aufrichten klingelt. Dringende Appelle an Großeltern, Tanten und Onkel, den Geschenkesegen einzudämmen und das Geld lieber für notleidende Kinder zu spenden, stoßen gemeinhin auf taube Ohren. Es wird wieder Weihnachten oder Geburtstag, und es prasselt erneut das von Experten dem jeweiligen Lebensalter des Kindes zugeordnete Spielzeug nieder: Wir geraten von der Bausteinphase zu der erweiterten Bauphase, wo nämlich putzige kleine Plastikmännchen mit unendlich vielen Attributen an Kleidung, Werkzeug und vor allem Waffen die Piratenschiffe, Forts, Burgen oder Raumschiffe bevölkern. Nur ab und zu taucht darunter auch ein weibliches Wesen Eltern mit Stirnrunzeln vermerkt, von den Kindern fröhlich ignoriert wird. Dazwischen werden für teures Geld ab und zu diese unglaublichen schlauen -3-
und haltbaren - Supergags in Form von Und immer wieder Registrierkassen, Baggern oder Parkdiese furchtbaren hochhäusern angeschafft, an denen man auch immer wieder selbstvergessene Aufräumdramen Erwachsene sehen kann, wie sie zum Beispiel Plastikmünzen in Schlitze stecken und begeistert an der Kurbel drehen, bis es so fröhlich bimmelt. Und immer wieder diese furchtbaren Aufräumdramen! Die Großen wollen schließlich durch achtsame Pflege des teuren Spielgutes durch die Kleinen dasselbe auch entsprechend gewürdigt sehen - es kann doch wohl nicht angehen, dass die echte Käthe-KrusePuppe wie ein Lumpenhaufen in der Ecke liegt! Alle wollen sehen, wie das Kind lieb mit seinen Besitztümern spielt, über das es mittlerweile sowieso jeden Überblick verloren hat. Mittlerweile platzt das Kinderzimmer aus allen Nähten, heimlich werden in Abwesenheit der Besitzer Razzien durchgeführt, und es wird Spielzeug entsorgt, weil sonst das Kind vielleicht nicht mehr bis zum Bett durchgedrungen wäre. Regelmäßige Flohmärkte im Stadtteil bieten den etwas älteren Kindern dann eine hervorragende Gelegenheit, nicht mehr aktuelles Spielzeug abzustoßen. Es sollte jedoch möglichst vermieden werden, anschließend noch einen Bummel über eben diesen Flohmarkt zu unternehmen, denn sonst werden die eben verdienten Kröten gleich wieder für Spielzeug angelegt, von dem andere Kinder sich gerade befreit hatten, und die schönen Lücken im Spielzeugregal sind sofort wieder gestopft. Manchmal versuchen die Erwachsenen es auch mit Argumenten. Das hört sich dann etwa so an: «Schau mal, deine Kinderküche nimmt so viel Platz weg, die könnten wir doch eigentlich verschenken!» «Nääää!!!» Die solcherart attackierte Tochter rüstet sich zur Gegenwehr. «Aber du hast doch schon ganz lange nicht mehr damit gespielt! Weißt du was, wir räumen dieses ganze Küchenzeug -4-
erst mal auf den Boden, und wenn du nach einem halben Jahr festgestellt hast, dass du es nicht gebraucht hast, dann können wir die Küche weitergeben.» «Nee, Mama, also das geht nicht. In der Mikrowelle schlafen meine Barbies!!»
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Wir erwarten unser fünftes Kind. Obwohl ich schon vier Mal meine Atemübungen gewissenhaft gemacht habe und mittlerweile vier verschiedene Presstechniken kenne, gehe ich eifrig wieder zur Schwangerschaftsgymnastik. Ich liebe die Entspannungsübungen, nur leider schlief ich damals meistens schon nach den ersten drei hingehauchten Anweisungen ein. Doch diesmal wird wenig entspannt und kaum geturnt, sondern hauptsächlich geredet. Die jungen Mütter stellen sich ausgiebig vor. «Ich hab schon ein Kind», verkündet eine stolz. «Das war eine äußerst schwere Geburt. Aber Linda und ich», sie wirft einen dankbaren Blick zur Hebamme, der uns andere aus dieser köstlichen Gemeinschaft ausschließt, «wir haben das dann mit der Zen-Technik wieder hingekriegt.» Und dann legt sie los und erzählt in allen Einzelheiten, wie diese schwere Geburt von der ersten Wehe bis zum letzten Pressen verlief. «Genau wie bei mir», ihre Nachbarin mischt sich ein, entschlossen, uns an ihren einzigartigen Erfahrungen ebenfalls teilhaben zu lassen. «Wir hätten den Arzt gar nicht gebraucht, was, Linda?» Linda nickt gütig lächelnd ihren alten Kundinnen zu. Ich schaukele unauffällig auf den Fersen hin und her und hätte so gern ein bisschen geturnt.
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Aber nein. Jetzt geht es um Zuschüsse vom Sozialamt, wer kennt welche Sachbearbeiterin und wie kriegt man Staatsknete für die Windeln. Das ist bestimmt von entscheidender Wichtigkeit, was die künftige Haushaltsführung der werdenden Mutter angeht, also seufze ich nur leise in mich hinein. Schließlich soll ich mich vorstellen. «Vier Kinder», sage ich ganz leise und ganz schnell. «Zwei in der Klinik und zwei Hausgeburten.» «Wieso Klinik?», fragt mich mein Gegenüber streng. «Das hatte der Arzt so entschieden. Wegen Steißlage und so», stottere ich beschämt. «Außerdem gab's da, wo wir früher wohnten, keine Hebammen, die Hausgeburten machten. Deshalb.» «Aha.» Die anderen wenden sich wieder wichtigeren Fragen zu, wie Stillzeit und Mullwindeln, Breirezepten und -7-
Tragetüchern. Ich verlagere das Das schlafen sie während Gewicht meines dicken Bauches der Schwangerschaft an, etwas und träume so vor mich hin damit das Baby den und stell mir vor, wie es wäre, wenn Elternduft in der Nase wir alle stumm auf den Rücken hat. lägen und mit den Beinen strampelten. «... Schaffell», höre ich plötzlich und schrecke auf. «Was ist mit dem Schaffell?», frage ich arglos in die Runde. Auf allen Gesichtern der hier im Kreis versammelten Frauen sehe ich ungläubiges Staunen. «Was denn, du hast kein Schaffell?» «Nee», muss ich gestehen und merke, welches Entsetzen dieses kleine Wort auslöst. «Aber wie hast du denn deine anderen Kinder zum Schlafen gekriegt?», fragt mich die junge Mutter mit der Zen-Erfahrung. «Na, mit Wiegen und Singen und so eben», stammele ich völlig verunsichert. «Und wann hast du dein letztes Kind gekriegt?», erkundigt sich die Kursteilnehmerin neben mir misstrauisch. «Vor vier Jahren», gestehe ich. Die anderen schauen sich vielsagend im Kreis um. Nun werde ich aufgeklärt. Bewusste Mütter und Väter kaufen bereits Monate vor dem errechneten Geburtstermin ein Schaffell, natürlich gereinigt und dennoch naturbelassen. Das schlafen sie wochenlang an, damit das Baby dann den Elternduft schon immer in der Nase hat, wenn es hingelegt wird. Erstens liegt es so pelzweich, und zweitens duftet es richtig. Ich staune und beschließe sofort den Kauf eines solchen Schaffells. Das stimmt meine schwangeren Gefährtinnen mir gegenüber wieder gnädig und sie geben mir reichlich Tipps, wo frau die besten Felle ganz günstig kriegen kann. Beim Rausgehen zupft mich eine junge Frau am Ärmel: «Sag mal, und die haben echt geschlafen, deine Kinder? So ganz ohne Schaffell?» -8-
Fasziniert und hingebungsvoll lauschen Eltern auf die ersten Töne, die ihre lieben Kleinen ausstoßen. Dabei handelt es sich zunächst hauptsächlich um das altbekannte Babygebrüll mit der Botschaft: «Wenn ich nicht gleich etwas zu schlucken kriege, schreie ich, bis dir das Trommelfell platzt oder du deine Migräne kriegst oder der Hauswirt kündigt.» Da alle drei möglichen Folgen unter allen Umständen vermieden werden sollten, bekommen die Eltern in dieser Phase oft Ähnlichkeit mit einem Pawlowschen Hund. Beim ersten Geräusch springen sie auf und sind nicht mehr zu bremsen, denn alle Versuche, dem Befehl zu trotzen, einfach sitzen zu bleiben, hat das Kind immer ganz klar l: 0 für sich entschieden. Doch dann kommen die ersten Gurgler, Krächzer, Summer und Fieper, eben alles, was sich der kleine Sonnenschein so durch die Stimmritzen zwingt. Es ist immer wieder erstaunlich, bei welch seltsamen Tönen ein seliges Grinsen das Gesicht der Eltern überzieht, während stolz verkündet wird: «Hörst du? Jetzt hat er/sie Mama gesagt.» Mama kann sich wie öchöch oder Papa wie hüipi anhören: Das stört die glücklichen Eltern keineswegs, denn sie haben sich in ihr Baby hineingehört und wissen in tiefster Seele, was es sagen will. Doch der allmähliche Spracherwerb lässt sich nicht aufhalten. Klangvolle Silben werden in der Familie mit bestimmten Mitteilungen in Zusammenhang gebracht, alle sind sich einig: Das Kind kann sprechen. Das ist ein sehr befriedigender Stand der Dinge, die Kommunikation, von der alle Welt spricht und -9-
deren Versagen so vielen Therapeuten Florian schaut mich und Ärzten die Taschen füllt, ist in Gang an, offensichtlich gekommen, es besteht die Hoffnung, dass will er mir etwas die Beteiligten sich demnächst Dinge mitteilen. mitteilen werden, die auch kompliziertere Sachverhalte als volle Windeln, leere Teller oder Nachbars Lumpi zum Inhalt haben. Doch immer sind uns die Kinder eins voraus, zumindest ist das mein Eindruck, nachdem Florian und ich diese Radtour neulich gemacht haben. Florian ist eineinhalb und freut sich die meiste Zeit noch wortlos seines Lebens. Doch von Grund auf gutartig, lässt er es hin und wieder zu, dass man ihn mit sprachlichen Anliegen bedrängt. Deshalb radle ich zunächst singend mit ihm auf dem Deich entlang, das hat er gern, und dann hat er seine Ruhe. Nur entgegenkommende Radfahrer sehen etwas verstört drein, wenn sie an uns vorüberfahren. Auf den Wiesen unterhalb des Deichs grast eine Kuh. Florian schaut mich an, offensichtlich will er mir etwas mitteilen. Die dritte Strophe vom «Hasen Augustin» unterbleibt. Ich lausche. «Da!» Florian zeigt auf die Kuh. «Hund!» «Nein, Flöchen, das ist kein Hund. Das ist eine Kuh!» Florian nickt freundlich. Ich stochere nach: «Eine Kuh, Flo.» Er schaut mich weiterhin freundlich an und schweigt. Dann passieren wir eine ganze Herde Wiederkäuer. Florian sieht aufmerksam in ihre Richtung, dann wendet er sich mir wieder zu und sagt strahlend: «Kuh!» «Tja», gebe ich zu, «fast. Das sind Kühe. Weißt du, Flo, eine Kuh und noch eine Kuh - das sind Kühe.» «Kuh», beharrt Flo. «Nee», wiederhole ich sehr geduldig. «Eine Kuh und noch eine und noch eine: Das sind Kühe.» Florian sieht mich finster an. Das Strahlen ist vergangen. Er -10-
kraust die kleine Stirn. Dann erklärt er mit fester Stimme: «Hund!.» Das hab ich nun davon.
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Was ist das immer für ein Jubel, wenn sich bei dem Kleinkind das erste weiße Pünktchen am Kiefer zeigt! Schon tagelang ist die Mutter oder der Vater mit der Fingerkuppe sacht über die Stelle gefahren und hat getastet, ob sich schon was tut denn meistens geht den ersten Hackerchen ja ein ziemliches Gebrüll voraus, damit nur ja niemand den wichtigen Moment verpasst. Schließlich sind die Milchzähne alle da, und man hat sich an den Anblick der Perlenzähnchen gerade gut gewöhnt und die Zahnpflege als tägliches Ritual zur Bedingung aller Bettkantengeschichten gemacht, da fällt auch schon wieder der Erste aus und das süße Kindergesicht erhält für kurze Zeit einen unglaublich frechen, pfiffigen Ausdruck. Danach beginnt die schwierigste Zeit: Es kommen die bleibenden Zähne, und das hat weitreichende Konsequenzen. Was jetzt gebohrt und gezogen wird, ist weg fürs Leben! Doch zunächst mal stehen die neuen Zähne schief und krumm in dem winzigen Kiefer und passen überhaupt noch nicht in das kleine Gesicht. Und bald wird offenbar, dass die Natur sich hier zu gut versorgt hat, und nun müssen die Fachleute ran, damit das Kind später auf den Fotos auch mal «cheese» sagen kann, ohne dass Tante Frieda in Ohnmacht fällt..
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Die Fachleute, die deshalb nun aufgesucht werden, heißen Kiefer Orthopäden und haben sehr komplizierte Abmachungen mit den Krankenkassen, was bedeutet, dass bei Nichtbefolgung der ärztlichen Anweisungen die Fachleute das diesen Kassen melden, und dann müssen die Eltern das nicht erreichte Ziel selbst bezahlen. Mit solchen Methoden wird ein wunderbarer Teamgeist in alle Beteiligten eingepflanzt, und nun ziehen sie an einem Strick, beziehungsweise reden den Kindern ein, dass die seltsamen Nachthauben aus Stoffstreifen und Metallbügeln nicht etwa die Vorstufe zur Entwicklung hin zu Daniel Düsentrieb sind, sondern dem Zweck der Zahnregulierung dienen. -13-
Besser sind diejenigen dran, die Die Spange klappert bei diese funkelnden Blechklammern auf jedem Schritt, als säßen die Zähne geklebt bekommen, womit ein paar Knöchelchen eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem locker. Beißer aus dem James-Bond-Film nicht ganz von der Hand gewiesen werden kann. Doch auch diese Brackets müssen nun nach wie vor beim Zähneputzen scharf kontrolliert werden. Am bequemsten haben es die Kinder mit dem herausnehmbaren Gestell, das allerdings auch seine Tücken hat. Wenn nämlich z. B. das zahnregulierte Kind beim Essen im Restaurant sein dentales Hilfsmittel dezent in seine Serviette eingewickelt hat und eins der Geschwister nach eben dieser Serviette schnappt und nun die Spange quer durchs Lokal segelt. Oder sie wird in dieser apfelförmigen und immer irgendwo angeknacksten Plastikdose verstaut, dann klappert sie nett bei jedem Schritt, als säßen ein paar Knöchelchen beim Kind nicht fest. Ganz fürchterlich hat es uns einst im Ausland erwischt. Nach einem heftigen Hahnenkampf zwischen den Brüdern kam Flo heulend an und hielt mir seine Zahnspange, in nunmehr zwei Einzelteile zerfallen, unter die Nase. Es bedurfte nun des Besuchs bei einem Zahnarzt in der Nachbarstadt, um zu klären, ob dieser Plastikgaumen klebbar war und ob Sekundenkleber im Mund nicht zu irgendwelchen Vergiftungen führte. Es gab diverse dicke Bücher zu wälzen, nachzuschlagen, ein Kollege wurde telefonisch um beratende Unterstützung angegangen, und schließlich kam das Resultat solch hingebungsvoller Sorge um Patienten, die noch nicht mal im Besitz eines ordentlichen Krankenscheins waren: Es durfte geklebt werden. Also, zur Drogerie und dann endlich der Kauf des Wundermittels. Nach wenigen Sekunden hatte Flo sein Gebiss wieder hübsch umrahmt und war der unmittelbaren Sorge enthoben. -14-
Da dämmerte mir zum ersten Mal ein Widerspruch beim Tathergang: «Sag mal, wieso hat Johnnie dich eigentlich an den Mund getreten?» «Na ja, also... hat er doch gar nicht.» «Was?» «Der hat mich ganz normal getreten...» «Aber die Spange?» «Na, die hatte ich in der Hosentasche.»
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Irgendwann in einem Kinderleben kommt die Zeit, da sind sich die lieben Kleinen auch ohne wirtschaftswissenschaftliche Schulung über den Warenwert und das übliche Tauschmittel völlig im Klaren. Nur mit Münzen kriegt man Automaten dazu, diese nach purer Chemie duftenden Kaugummibälle auszuspucken oder gar eins dieser hübschhässlichen Plastikgeschenke. Für die dringend benötigten Lego- oder Playmo-ergänzungen oder gar Inline-Skates müssen dann schon Scheine hingeblättert werden, und die Kinder ärgern sich über die verständnislosen Eltern, die diese bunten Papierchen mit der zauberhaften Kaufkraft nur zögernd rausrücken. Dabei weiß jedes Kind, dass man schließlich in jeder Bank Geld kriegt: Man braucht ja nur an den Automaten zu gehen. Aber dieses Geld geben die Großen dann leider oft für so überflüssige Dinge wie Winterreifen oder Kochtöpfe aus. Für Kinder ist es ohnehin unbegreiflich, dass die unbegrenzte Verfügungsgewalt über Münzen und Scheine nicht automatisch zur Anhäufung von Gummibärchen und Schokolade führt - aber Erwachsene sind nun mal höchst seltsame Wesen, davon können Kinder ein Lied singen. Deshalb gibt es nur eine Möglichkeit, sich selber in den Besitz des Gegenwerts von kariesverdächtigen Nahrungsmitteln zu setzen: Das Kind verlangt sein Taschengeld. Beim Taschengeld hört der Familienfriede urplötzlich auf. Bis heute sind mir keine Kinder bekannt, die mit der Höhe ihres Taschengeldes einverstanden sind. Zufrieden sind wahrscheinlich nur Millionärssöhne und -töchter, aber die -16-
gehören nicht zu unserem Bekanntenkreis. Die mir bekannten Kinder führen zu Hause ganze Klassenlisten von Mitschülerinnen und Mitschülern an, die alle viel mehr Taschengeld kriegen als sie, die außerdem sowieso viel nettere und verständnisvollere Eltern haben, weil die ihren Nachwuchs zum Beispiel großzügig an der Verwendung des Familieneinkommens beteiligen. Unsere Kinder sind besonders arm dran. Mit Leidensmienen sitzen sie bei der halbjährlichen Taschengeldtarifrunde um den Tisch und beklagen sich bitterlich. «Nicht nur, dass es absolut total mickrig ist, was wir kriegen, wir kriegen es auch noch ganz unregelmäßig - so kann man überhaupt nicht planen!», beschwert sich Alexander. Der Vater weist den erbosten Sohn darauf hin, dass die Auszahlung am Sonntagabend an den nicht immer ausreichend verfügbaren kleinen Scheinen und Silbermünzen scheitert, weil beim Wochenendeinkauf nicht darauf geachtet wurde, genügend Wechselgeld übrig zu behalten. Flo schnaubt verächtlich durch die Nase. «Weil ihr schlampt, kriegen wir kein Geld oder viel zu spät - das ist doch das Letzte.» Ich überhöre das leise gezischte «Betrüger» und ebenfalls den freundlichen Hinweis «Wir nehmen auch größere Scheine, wenn's das ist», sondern schicke Alexander zum Kiosk, wonach die geforderte Geldzuteilung klappt und wir im Besitz einer Zeitung sind, die keiner lesen will. Um diese fast wöchentliche Szene zu vermeiden, mache ich mich bei der Sparkasse um die Ecke kundig: Natürlich gäbe es Kinderkonten, und selbstverständlich dürften die kleinen Kunden auch kleine Beträge abheben - nur nicht gerade an den ersten drei Tagen eines Monats. Also richten wir Kinderkonten ein, auf die monatlich das
Bis heute sind mir keine Kinder bekannt, die mit der Höhe ihres Taschengeldes einverstanden sind.
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Taschengeld überwiesen wird, die Sparkasse freut sich, die Kinder betrachten verzückt ihre knallroten Sparbücher und wir seufzen erleichtert: Den Ärger sind wir los. Bestandteil des neuen Taschengeldabkommens ist, dass nun alle für ihre Knete selbst verantwortlich sind, sich an Banköffnungszeiten zu halten haben und die Eltern nie angepumpt werden dürfen. Doch dann wünscht sich Benjamin zum Geburtstag eine Stahlkassette zum heimischen Einlagern seiner abgehobenen Geldsummen. Diese Kassette entzückt ihn dermaßen, dass er sie mit in die Ferien ins Ausland nehmen muss. Da es aber schwierig ist, in Italien deutsche Märker an die Ladenbesitzer zu bringen, verliert die Kassette an Bedeutung, und am Ende der Ferien wird prompt der Kassettenschlüssel in der Hütte vergessen. Wieder zu Hause, erinnert sich Benjamin mit Schrecken, dass er sein Sparbuch auch darin eingeschlossen hat. Die kommenden Wochen und Monate werden für ihn zu einer Marter: In regelmäßigen Abständen landet auf seinem Konto das Taschengeld - aber er kann nicht ran. Die Brüder grinsen und murmeln was von «Zwangssparen», Benni sitzt vor seiner einbruchssicheren Kassette, starrt auf das Schlüsselloch und denkt sehnsüchtig an das rote Büchlein, auf dem sich horrende Beträge sammeln. Als das große Geschenkefest naht, will er sich Geld für die Weihnachtsgeschenke von den Brüdern pumpen, denn den Vertrag mit den Eltern will er nicht brechen und wehrt beleidigt ab, als ich ihm heimlich eine Vorauszahlung anbiete. Bennis Ansinnen stellt jedoch die Brüder vor ernsthafte Liquiditätsprobleme, deshalb erinnert er sich an Basteltipps aus dem Kindergarten, und ich bekomme mal wieder einen dieser formschönen Untersetzer aus hölzernen Wäscheklammern. Pünktlich zu Ostern sind wir wieder in der Hütte. Benjamin sucht den Schlüssel, die Kassette hat er mitgebracht. Die Suche gestaltet sich schwierig, und nur durch einen Zufall wird das kostbare Stück dann endlich gefunden: Es lag die ganze Zeit -18-
unter der Fußmatte im Auto. «Na», sagt Benni mit einem tiefen Seufzer, «irgendwie ist das mit dem Geld ganz schön eklig. Einmal haste welches und kannst nicht ran, dann hast du welches und hättest immer ran gekonnt und wusstest das bloß nicht. Am Besten war es, wenn man gar kein Geld braucht.» «Höm», meint Flo. «Also ehrlich, du: Die Zeiten sind schon längst vorbei.» -19-
Es ist schon komisch, wie perfekt sich die Rollen im ElternKind-Verhältnis umdrehen können. Und anstrengend ist es auch. Wenn nämlich die lieben Kleinen uns die eigenen Sprüche um die Ohren hauen, hört sich das manchmal ganz schön ruppig an und man wundert sich, wieso aus unschuldigem Kindermund dann so ein barscher Ton kommt - woher haben sie das bloß? Dieser Mangel an Verbindlichkeit und Wärme wirkt verstörend, wo wir als Eltern uns doch in dieser Richtung immer allergrößte Mühe gegeben haben! So bekommt man manchmal in Original-Kasernenhofton zu hören: «Wer hat denn hier schon wieder alle Lampen angelassen?» - und das, obwohl hier seit zwei Generationen der Militärdienst verweigert wird"! Oder jemand brüllt entsetzt: «Welcher Ökosünder hat denn wieder die Heizung so aufgedreht?» Da gestehe ich schuldbewusst meine Verfehlung und seufze - denn was wissen die Kinder schon von mangelhafter Blutzirkulation und Eisfüßen? Doch die eiserne Kontrolle der elterlichen Verschwendungssucht geht auch außerhalb der eigenen vier Wände stramm weiter. «Bei Frau Özmir ist der Salat zehn Pfennig billiger als bei Khalill», werde ich gerügt, aber Benni lässt dabei außer Acht, dass Khalils Laden mindestens 500 Meter weiter
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entfernt ist und die Einkaufslogistik verlangt, dass man die schwere Tasche so wenig schleppen soll wie möglich. Gnadenlos wird man auch in Restaurants vor Zuhörern zurechtgewiesen: «Das war viel zu viel Trinkgeld, und ich krieg nie eine Taschengelderhöhung!» Ganz zu schweigen von kleinen Begleitern, die in der Parfümerie die Augen aufreißen und stöhnen: «So teuer is so 'ne Creme? Wo man doch von der gar nichts sieht!» Schon steht man unter Rechtfertigungsdruck und muss nun einwandfrei begründen, dass fortgeschrittene Jahre auch fortgeschrittene Kosmetikpreise bedingen.
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Dann freut es doch ungemein, «So teuer is so 'ne Creme? wenn sich die lieben Kleinen mal Wo man doch von der gar selber ordentlich verhaken! Macht nichts sieht!» die kleine Schwester tadelnd den großen Bruder an: «Du, deine Ovomaltine kostet aber wahnsinnig viel!» Woraufhin der ungerührt erwidert: «Du, das ist das Haltbarkeitsdatum!»
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«Wo ist denn die Butter?», will Florian wissen. «Hier», Benni zeigt vor sich auf den Tisch. «Dann lass sie doch mal rüberwachsen», befiehlt der große Bruder. «Du bist acht ätzend, will ich dir mal sagen, immer bloß Befehle!» Johannes beäugt aufmerksam das Angebot auf dem Tisch: «Eh, Leberwurst, echt cool!» «Geil», freut sich Röschen und angelt sich den Zipfel. «Total geil. » «Was?», frage ich. «Gibt es jetzt auch schon geile Leberwürste?» «Mama, das checkst du nicht!» Flo schüttelt tadelnd den Kopf. «'ne Wurst kann gar nicht geil sein, aber schmecken kann sie geil, wenn sie's tut.» «Aha. Na, dann mach sie mal alle, damit nicht wieder so eine gammelige Pelle in den Kühlschrank zurückwandert.» «Nee, nee, du, ich will auch noch was davon!», verlangt Johannes. «Nö, Banane.» Benni grinst. «Quatsch, da ist doch noch was dran, her damit!» «Null Probleme, da hast du das Teil», sagt Flo und reicht die schlaffe Pelle rüber. -23-
«Ihh, wer hat denn diesen Butter-Syph verbrochen - ist ja voll die Schweinerei!» «Das war ich!», erklärt die kleine Schwester freudestrahlend.
«Ich wollte noch ganz viel rauskratzen. Und was ist eigentlich Syph?» «Äh, Syph ist, äh - Mama, sag du ihr das doch mal.» «Also, Röschen: Syph ist neudeutsch und bedeutet dreckig.» Ich bin sehr zufrieden mit meinen Übersetzerinnen-Fähigkeiten. «Die neue Jagdwurst ist echt zum Abwinken», meldet sich da Florian. «Out, sage ich, megaout!» -24-
«Die neue Jagdwurst: echt zum Abwinken. Out sage ich, megaout.»
«Wieso?», sagt Benni. «Ich find die geil.» «Hör auf mit dem blöden ‹geil›, das heißt jetzt genial», wird er von Johannes milde korrigiert. «Oder echt
krass.» «Wieso?» «Wieso! Wieso! Geil ist out, genial ist in.» Benni knöttert derweil mit vollem Mund: «Also, das sag ich euch: Ende im Gelände. Schicht im Schacht. Den nächsten Einkauf mach ich nicht. Soll doch Flo dann kaufen, was er will. Von mir aus eben auch was ganz Geniales. Und nach Hause schleppen.» «Wieso? Einkaufen ist doch echt easy, da gibt's noch ganz andere Jobs.» «Ach, und welche?» «Ich muss zum Beispiel die abgesoffene Festplatte von Papa nachher retten.» Florian weiß, dass er unser Computer-Crack ist, und nutzt seine Sonderstellung gern aus. «Häng dich nicht so raus, du Fetzer! Schmeiß mal lieber die Wurst her!» «Aus die Maus!» «Ihr seid gemein!» «Hör mal», mische ich mich ein. «Wir haben noch Salami im Kühlschrank!» «Ewig Salami, bis zum Abwinken. Danke - keine Böcke.» «Da war auch noch eine Dose mit Leberpastete.» Johannes erhebt sich, und Flo kommentiert: «Ätzend, wer hat hier bloß den Tisch gedeckt? Schlechte Logistik, wenn man sich den Kram dann noch bröckchenweise holen muss.» Johannes kommt mit der Dose zurück. «Soll ich euch mal was sagen? Die hat ein Volltrottel in den Kühlschrank gestellt. Die ist nämlich voll leer!» -25-
«Mama, was ist eigentlich Kultur?» Mit gerunzelter Stirn kommt Johannes ins Zimmer. «Ich kenne eigentlich nur den Kulturbeutel.» Ich suche nach einer schlüssigen Formulierung. «Na, sagen wir mal so, Kultur ist etwas, was man nicht unbedingt zum Leben braucht, aber sie macht es viel schöner und aufregender.» «Ach so», kontert der Sprössling, «du meinst Fußball.» «Äh, na ja, Sport gehört auch dazu, schon.» Ich hole tief Luft, damit das nun Folgende auch mit der nötigen Überzeugungskraft in der Stimme begleitet wird. «Aber sieh mal, Kultur bedeutet auch Malerei, Musik und Literatur. Eben was ihr «Da war doch neulich alles in der Schule lernt.» so 'n Lied mit Rosen. «Nee, das fällt meistens aus. Und Können wir das außerdem -» Johannes sieht mich zweifelnd nochmal?» an. «Ich finde Fußball sowieso besser.» Natürlich lässt sich überhaupt nichts dagegen sagen, dass unsere Söhne alle Fußballfans sind. Doch als sie beim nächsten Bundesligaspiel bei jedem Tor von Werder Bremen wie die Stehaufmännchen einer nach dem anderen in die Höhe springen, erkundige ich mich nach dem Sinn dieser Aktion. «Mama, das ist doch la Ola, die Welle», werde ich von den Werder-Fans aufgeklärt. «Damit ehrt man seine Mannschaft.»
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Angesichts dieser offensichtlichen Begeisterung und dem Defizit an anderen kulturellen Vergnügungen reift in mir ein heimtückischer Plan. Es muss doch eine Möglichkeit geben... Also kaufe ich für die nächste große Ferienreise eine Kassette mit klassischer Musik, die Arien aus «Figaros Hochzeit», zufälligerweise meine Lieblingsoper. Leider sollte sich das fast als Rohrkrepierer erweisen, denn kurz nachdem ich sie zum ersten Mal heimlich eingeschoben habe und die süßen Klänge durch unser mit Menschen und Gepäck voll gestopftes Auto schwingen, verirrt sich der Vater in Mailands Industrievorstädten, und während 40 Grad im Schatten unbarmherzig auf unser nicht klimatisiertes Auto niederbrennen, wird bald Protestgeschrei laut: «Was 'ne Katzenmusik! MUSS das sein? Können wir nicht die Simpsons-Kassette hören?», und so weiter. Ich konstatiere das als Fehlschlag meines Kulturprogramms und lege das Zeugnis abendländischer Opernkultur wieder in seine Hülle. Doch o Wunder! Einige Tage später pfeift es erst der eine unter der Dusche, dann brummt es ein anderer beim Abtrocknen, und schließlich fragt Benjamin: «Da war doch neulich so 'n Lied mit Rosen. Können wir das nochmal?» Wir können, und am Ende der Ferien singen dann alle begeistert bei den Arien und Duetten mit, und sogar der Vater kennt jetzt die Handlung der Oper, wenigstens in groben Zügen. Da ist es doch nur logisch, dass wir im nächsten Winter mit der gesammelten Kinderschar zum ersten gemeinsamen Opernbesuch aufbrechen, denn «Figaros Hochzeit» steht auf dem Spielplan. Wir informieren unsere direkten Nachkommen über die Unterschiede zwischen dem Besuch einer Oper und eines
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Popkonzerts, dass zum Beispiel lautes Mitsingen und rhythmisches Klatschen nicht gern gesehen wird und dass man bis zur Pause auf dem Platz bleiben muss. Doch wir hätten uns das sparen können. Mit glänzenden Augen folgen alle vier der Handlung und summen nur ganz leise mit, was nicht weiter gefährlich ist, da wir ziemlich allein auf dem zweiten Rang sind. Als der Vorhang sich nach dem ersten Akt senkt, klatschen sie begeistert Beifall und trampeln nur andeutungsweise mit den Füßen dazu. Johannes beugt sich mit glänzenden Augen zu mir herüber und flüstert: «Meinst du, es freut die auf der Bühne, wenn wir jetzt la Ola machen?»
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«Alle wollen alt werden, doch keiner will es sein», heißt es in einem viel zitierten geflügelten Wort. Das mag ja so sein, aber mich beschäftigt etwas ganz anderes. Alle wissen, dass Kinder zu unserem Leben dazugehören, aber keiner will sie aushalten. Kein Wunder. Es ist ja auch ganz schön anstrengend. Machen wir uns doch nichts vor: Die großäugigen kleinen Engelchen mit Grübchen an den unglaublichsten Stellen und der schon so früh erkennbaren hohen Intelligenz sind laut und lärmend, machen pausenlos Dreck und klauen allen den letzten Nerv. Also selbst schuld, wer sich freiwillig solche Monster anschafft? Na klar, sicher doch. Und das geht auch eigentlich nur freiwillig, zumindest wäre das schon ein großer Fortschritt, wenn das so liefe. Denn die Kosten sind verdammt hoch. Zunächst ist der Nachtschlaf im Eimer. Das trifft die Menschen unterschiedlich hart, je nachdem, wie so die Schlafgewohnheiten sind. Das alles ist allgemein bekannt. Aber kaum jemals warnt einer die werdenden Eltern vor einem wirklichen Übel, das mit den Jahren nicht wie der gestörte Nachtschlaf nachlässt, sondern ganz im Gegenteil stetig zunimmt. Ich spreche von der Spielpflicht. Wohl denen, die rechtzeitig eine Kindergruppe finden, wo sozusagen von Berufs wegen mit den
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Kindern gespielt wird. Ich gestehe es frei heraus: Ich habe noch nie gern Türme gebaut, und schon gar nicht jeden Tag drei Stück. Dafür lese ich gern, oft und viel vor. Pech für das Kind mit der künftigen Architektenseele - oder vielleicht entwickelt die sich bei einem bisschen Widerstand um so kräftiger? Wer weiß. Jedenfalls huldige ich der Überzeugung, dass täglich gelebte Mutterschaft sich nicht an der Anzahl der erbauten Türmchen ablesen lässt. Oder an Lego-Landschaften oder an säuberlich aufgereihten Schmusetieren. Aber dann werden die Winzlinge älter und größer und entdecken die so genannten Brettspiele. Dazu brauchen sie natürlich erwachsene Mitspieler und Mitspielerinnen. Einmal, weil die die Regeln lesen können und damit eine lästige Ursache für Streitereien aus dem Weg ist, zum anderen, weil sie die Regeln auch anwenden und damit eine andere Ursache für mögliche Zankereien entfällt, und zum Dritten, weil im Allgemeinen der Spielspaß größer ist, wenn viele mitmachen. Ich bin ja gar nicht so. Ich mach ja dann auch mit. Aber -30-
«Und wenn dir dann was nicht passt, schmeißt du alle Figuren durch die Gegend.»
Malefiz finde ich nur geeignet, zwischenmenschliche Beziehungen empfindlich und auf Dauer zu unterminieren, und auch Mensch ärgere dich nicht bewirkt eigentlich konstant
das genaue Gegenteil. Als nun Johannes ankommt und wieder einmal eben dieses Mensch ärgere dich nicht spielen möchte, halte ich dagegen: «Das spiel ich nicht mehr mit euch. Flo ist nämlich noch zu klein dafür, der kann das noch gar nicht spielen.» «Doch», sagt Flo ziemlich beleidigt. «Kann ich doch.» «Nee, mein Lieber», widerspreche ich ihm energisch aufgrund leidvoller Erfahrungen, «und wenn dir dann was nicht passt, dann schmeißt du alle Figuren durch die Gegend und drehst das Spielbrett um!» «Hmmm.» Das stimmt, da kann Flo nicht widersprechen. «Aber spielen kann ich's gut.»
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Benni ist zehn und kommt mit einem blauen Auge von der Schule nach Hause. Beim Abendbrot trägt er es stolz zur Schau. Es tut zwar «schrääääklich» weh, aber andererseits steht er im Mittelpunkt des Interesses. «Wau, wo hast du dir denn das eingefangen?» «Och, wir hatten heute auf dem Schulhof einen Streit -» «Worum ging es denn da?» Vor meinem geistigen Auge sehe ich meinen Sohn ein armes Türkenmädchen gegen eine Horde Rowdys beschützen oder sich sonst auf irgendeine Weise zum Wohl der Vernachlässigten, Ausgegrenzten und Benachteiligten einsetzen. Liebevoll streiche ich über das unübersehbare Mal seines mutigen Einsatzes. «Na ja, also, eigentlich ging es um Fußball.» «Wie bitte?» Die Enttäuschung steht mir wohl deutlich ins Gesicht geschrieben: Nichts bleibt mir mehr von meiner Phantasie vom kleinen Robin Hood. «Also, das war so: Thorsten hat gesagt, Werder schafft den Deutschen Meister dieses Jahr bestimmt nicht, und sowieso war Werder am Ende, weil die doch alle guten Spieler verkauft haben.» «Verkauft? Sklavenhandel?» «Mama!» Ein gequälter Aufschrei. «Das sagt man doch so!» «Ach so. Und weiter?» «Na ja, und irgendwie haben dann Hüsseyin und Cengiz auch -32-
auf Werder geschimpft, und dann haben wir ein bisschen gerempelt, und dann haben die ganz gemein zurückgehauen, und dann konnten wir uns das nicht gefallen lassen und haben uns gewehrt, und auf einmal war da eine Riesenklopperei.» Die großen Brüder grinsen, die kleine Schwester schaut Benni bewundernd an. Ich finde, so darf frau das nicht stehen lassen. «Ich sehe schon, ihr findet Prügeln offensichtlich ganz in Ordnung. Aber alle Naselang gegen irgendwelche Kriege und Waffensysteme protestieren, he? Macht euch doch mal klar, dass der Frieden im Alltag anfängt und dass man Streitfragen doch auch durch Reden lösen kann...» «Jaja, und bis dahin hat man zwei blaue Augen oder, wie Benni, vier!» Florian sieht mich mitleidig an. «Manchmal rafft ihr Erwachsenen auch gar nix.»
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Wir stürzen uns in die heftige «Und da hab ich einen Diskussion über Sinn und Zweck von getreten, und da hat er körperlichen Auseinandersetzungen im ganz doll gequietscht Falle von Streitigkeiten. «Ich will auch mal.» Röschen mischt sich ein. «Du bist erst sieben, du kannst noch gar nicht mitreden», wird sie von Johannes zurechtgewiesen. «Kann ich wohl. Nämlich, wie ich neulich vom Turnen nach Hause bin, kamen mir die Kupinskis entgegen, ihr wisst doch, die frechen aus der Roßbachstraße.» «Jaa, klar. Und?» Benni seufzt, er steht nicht mehr im Mittelpunkt. «Na ja, die haben so doofe Sachen gesagt, von wegen knutschen und so. Und dann wollten sie mir meinen Turnbeutel wegnehmen, und da hab ich einen getreten, ganz hoch, wie wir das in der Turnstunde grad an der Sprossenwand so geübt hatten.» «Ja? Und?» Die Brüder sind jetzt richtig neugierig. «Und da hab ich einen getreten, und da hat er ganz doll gequietscht und sich den Bauch festgehalten. Und dann sind alle ganz schnell weg.» Die Brüder sehen sich betreten über den Abendbrottisch hinweg an. «Aua», sagt Flo. «Und, Mama», wendet sich die Amateur-Karate-Kämpferin an mich. «War doch richtig, nä? Manchmal muss man eben treten, oder?» Nun seufze ich. «Schon. Es gibt Situationen, da muss man auch mal treten, klar.» «Aber nicht immer unbedingt dahin», sagt Johannes.
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Ich bin eine erklärte Freundin guter Manieren. Besonders bei unseren Kindern. Ich verderbe mir so manche geruhsame Mahlzeit, indem ich mich weniger um mein köstlich zartes Roastbeef als um die Tischsitten meiner Kinder kümmere. Dazu gehören Hände auf den Tisch, gerade sitzen, nicht in der Nase popeln und den Suppenlöffel nur halb voll machen, damit die gute Suppe nicht wieder beim ebenfalls nicht gestatteten Schlürfen in den Teller pladdert. Jedes Kind ist natürlich Manchmal bin ich zu müde zum von seinem untadeligen Hingucken, oder ich habe meinen Benehmen überzeugt, Laissez-faire-Tag oder ich bin mit herumschluren tun etwas Wichtigerem beschäftigt. (O ja, immer nur die anderen. es gibt immer noch wichtigere Sachen als die guten Tischmanieren unserer Kinder, o ja!) Dann bekomme ich so nebenbei mit, wie die Kinder sich untereinander ermahnen. Jedes Einzelne ist natürlich von seinem untadeligen Benehmen überzeugt, herumschluren tun immer nur die anderen. «Ey, nimm deine Kralle vom Messer, man fasst nur den Griff hinten an», tönt es dann schon mal. Oder: «Wenn du mich noch einmal unterm Tisch trittst, tret ich zurück, aber mit Karacho!» Mit Befriedigung lässt sich feststellen, dass gewisse
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Grundprinzipien des menschlichen Miteinanders offensichtlich verstanden und befolgt werden. Außerdem habe ich Nerven wie Stahlseile und halte viel aus. Aber es würde mir das Herz brechen, wenn es im Familienklatsch hieße, dass unsere Kinder nicht wüssten, wie man eine Gabel hält oder wozu eine Serviette da ist. Mein gesammelter mütterlicher Stolz steht auf dem Plan, wenn ein Familienfest droht und damit unsere Teilfamilie einmal wieder den Röntgenblicken der kritischen Verwandtschaft ausgesetzt ist. Nicht nur, dass wir jahrelang die falsche Partei gewählt und unbedachterweise zu viele Kinder in die Welt gesetzt haben, nein, wir könnten auch den anderen Familien ein schlechtes Beispiel geben. Deshalb -36-
sind solche Unternehmungen immer recht anstrengend. Als ich neulich, passend zu Tante Kläres Geburtstag, eine am Thermometer überprüfbare Grippe bekam, war ich ganz erleichtert, dass der wunderbarste aller Väter mit unseren fünf Kindern allein zu dem Fest fuhr. Spät in der Nacht kehren sie zurück, und etwas schuldbewusst klappe ich meinen Schmöker zu und eile an die Haustür. «Na, wie war's? Ist alles gut gelaufen? Habt ihr uns keine Schande gemacht?», frage ich und hoffe auf gute Nachrichten. Vergebens. «Alles lief ganz gut, aber Papa hat sein Glas mit Rotwein umgeschmissen, und es gab einen Riesenfleck.» Ich schaue den wunderbarsten aller Väter fragend an. «Das stimmt schon. Ich wollte Johannes am Aufsagen von seinem Spruch hindern.» Er lächelt matt und hält sich am Treppengeländer fest. Johannes nickt stolz. «Aber ich war schneller, nä, Papa? War doch 'n schöner Spruch, den hab ich von Daniel.» «Und wie geht der?», frage ich ahnungsvoll. «Du armes Schwein, du tust mir Leid, du lebst ja nur noch kurze Zeit.» Ich stehe starr vor Entsetzen. «Und was hat Tante Kläre da gesagt?» «Sie hat gelacht und gesagt, sie muss erst ihren Hörapparat anstellen. Und da habe ich den Spruch anders gesagt.» «Wie denn?» «Ich freue mich, dass du geboren bist und hast Geburtstag heut.»
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Das Telefon klingelt. Natürlich geht niemand ran. Seufzend werfe ich den Lappen in die Spüle und flitze ran. Ein Freund von Florian: Ob er den mal sprechen könnte? Ich brülle hoch in den zweiten Stock. Nichts. Ich pfeife auf zwei Fingern. Immer noch nichts. Ich vertröste den Anrufer und erklimme fuchsteufelswild den zweiten Stock, reiße keuchend die Tür zu Flos Zimmer auf und sehe einen Vierertrupp dicht gedrängt dasitzen: den Blick starr auf die Mattscheibe gerichtet, zwei halten einen Joystick in der einen Hand und umklammern das Symbol männli- «Telefon, Flo.» - «Nee, geht cher Tatkraft mit der ändern und jetzt schlecht. Ich brech vollführen ruckartige, winzige grad meinen eigenen Bewegungen damit. Ab und an entringt Rekord!» sich ein leises Stöhnen den Mündern der Spieler und Zuschauer, wenn das zappelnde bunte Männchen von einer bunten Seifenblase zum Platzen gebracht wird. «Telefon, Flo. Vielleicht kannst du mal diese wichtige Tätigkeit kurz unterbrechen?» Mein Hohn verpufft. «Nee, geht jetzt schlecht. Wer ist es denn und was will er? Kannst du das nicht klären?» Ich bin kurz davor, einen der Joysticks an mich zu reißen und aus dem Fenster zu schmeißen. «Du bist wohl nicht klar bei Sinnen? Du gehst jetzt sofort und kümmerst dich um deinen Anruf!» -38-
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«Mama!» Ein empörter Aufschrei aus tiefstem Herzensgrund. «Das geht jetzt echt nicht! Ich brech grad meinen eigenen Rekord!» «Wir sprechen uns später, mein Schatz.» Ich habe keine Lust, vor den Kumpanen meiner Kinder als Furie herumzutanzen. Als letzten Racheakt reiße ich noch das Fenster auf, damit den Düften, die den dicht zusammenhockenden Knabenkörpern entströmen, ein bisschen Frischluft beigemischt wird. Dann erledige ich meinen Auftrag und schwöre mir, in Zukunft Butler-Zulage vom Taschengeld einzubehalten. Beim Abendbrot sind wir unter uns, und ich kann wüten. «Sag mal, was fällt dir eigentlich ein, den Telefonanruf zu ignorieren? Seid ihr denn total bekloppt? Ihr solltet euch mal sehen als Computer-Zombies, wir ihr da sitzt und glotzt und glotzt und euch überhaupt nicht von der Stelle bewegt!» «Und was willste, was wir machen sollen?» «Vielleicht hin und wieder mal ein Buch lesen statt immer nur vor dem Bildschirm zu hängen und Knöpfchen zu drücken!» «Ach, und beim Lesen schaust du nicht zufällig immer in eine bestimmte Richtung? Und dabei joggen tust du auch nicht, oder?» Ich weiß nicht, woher unsere Kinder diesen Hang zum Sarkasmus haben, aber ich weiß, wann mir die Argumente ausgehen. «Und außerdem, Mama, du hast doch selbst gesagt, man soll nicht schlecht über Dinge reden, die man gar nicht kennt. Ich zeig dir nachher mal ein Computerspiel, ja?» «Na gut.» Vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich mehr Munition für meine Argumente gegen stundenlanges Computerisieren bekomme. Nach dem Essen versammeln wir uns vor dem Computer, das Spiel des heutigen Abends heißt Sim City, und ich erfahre verblüfft, dass meine Söhne eine ganze Stadt konstruieren werden. Wir gehen als Erstes an die -40-
Energieversorgung. Weil wir Umweltfreunde sind, baut der Sohnemann jede Menge Windräder. Bei der Wasserversorgung klappt eine Vernetzung nicht - na klar, da muss eine zusätzliche Pumpe hin. Wir bauen Straßen - ich bin gegen eine zusätzliche U-Bahn, als ich merke, wie teuer die ist, denn wir bauen mit einem festen Budget. Wir errichten eine Schule und ein Krankenhaus am Park. Nun brauchen wir noch Gewerbefläche, und die wiederum muss an Strom und Wasser angeschlossen werden. Der Realismus und die Komplexität des Ganzen verschlagen mir den Atem, dagegen ist Ökolopoly wirklich Kinderkram. Völlig fasziniert mache ich ebenfalls Vorschläge, die jedoch meistens wegen Inkompetenz zurückgewiesen werden. Zu guter Letzt wird noch eine Brücke vom Hafen hinüber zu dem Industriegebiet errichtet. Tja, und nun entrollt sich die fertige Siedlung vor unserem Blick und gleichzeitig die finanzielle Situation. «Mist», sagt Johannes. «Keine Steuern, bloß Schulden.» «Kein Wunder», sagt sein Bruder, «wenn du in das Industriegebiet keinen Strom verlegt hast. Und außerdem haben diese blöden Windräder nur 4 Megawatt - das bringt doch gar nix.» Ich stehe leise auf und verschwinde. In die Diskussion von Experten sollen sich Amateure besser nicht einmischen.
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«Ich heirate!», verkündet unsere Tochter beim Abendessen. Wir sind - gelinde gesagt - überrascht. «Und wen, wenn man fragen darf?», erkundige ich mich. «Na, Dennis, natürlich», erklärt sie mit der größten Selbstverständlichkeit. «Aha. Und wer ist das?», fragt der Mann, der sich bis vor zwei Minuten unangefochten auf Platz eins in der Zuneigung seiner Tochter wähnte. «Der geht in die orangene Gruppe in unserm Kindergarten. Er ist nämlich schon ein Horti», fügt sie hinzu, als erkläre das alles. «Und, ähem, darf man fragen, warum ihr heiraten wollt?» Der Vater will es ganz genau wissen. Schließlich lässt er ja nicht jeden Dahergelaufenen mit seiner Tochter zum Standesamt marschieren. «Ich heirate», verkündet «Na, weil wir uns lieben, unsere Tochter beim natürlich.» Sie wirft ihm einen Abendessen. Wir sind gelinde misstrauischen Blick zu. «Warum gesagt - überrascht. heiraten sonst die Leute, ha?» «Ach, und Dennis liebt dich auch?» «Hat er gesagt, ja.» «Und woran merkt ihr das?» Ich bin auch neugierig. Die zukünftige Braut polkt die grünen Pfefferkörner aus ihrer Lieblingswurst, den so genannten Pfefferbeißern, und legt sie mit angewidertem Gesichtsausdruck neben ihr Brettchen. Dann wirft sie mir einen Blick zu, in dem ich Mitleid zu erkennen -42-
glaube. «Weißt du das nicht mehr?», gibt sie die Frage an mich zurück und wendet sich ihrem Vater zu. «Oder wissen nur Kinder so mit Liebe?» «Nein, nein», beeilt er sich mit der Versicherung, um vor seiner Jüngsten nicht als totaler Ignorant dazustehen. «Natürlich weiß ich, was Liebe ist. Deine Mama und ich haben schließlich auch aus Liebe geheiratet. Nur waren wir da schon etwas aus dem Kindergarten raus. Ehrlich gesagt, wir waren auch schon mit der Schule fertig.» «Jahaa, weil ihr euch im Kindergarten noch nicht gekannt habt.» Die Logik dieser Behauptung ist nicht zu widerlegen. «Wetten, wenn ihr euch schon im Kindergarten gekannt hättet, hättet ihr auch nicht so lange gewartet.» Schweigend essen wir weiter. Die Reihe der rausgepopelten Pfefferkörner wird immer länger. «Wer sind eigentlich die Eltern von diesem Dennis?», forscht der eifersüchtige Vater weiter. «Der hat nur einen Vater. Aber sonst noch 'ne Schwester, die geht in meine Gruppe», erklärt die Heiratswillige. «Und was macht der Vater, ich meine, was arbeitet der?» Der Vater der selbsternannten Braut lässt nicht locker. Ich muss kichern und ernte einen wütenden Blick. «Ich lass doch meine Tochter nicht mit jedem dahergelaufenen...» Da muss er selber lachen. Beißt von seinem Brot ab
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und guckt verträumt in die Gegend. Schweigend essen wir, ich denke darüber nach, dass diese Szene einmal im Ernst so verlaufen könnte, und mir wird etwas wehmütig, wie das so ist, wenn die Töchter sich verlieben, mit dem Ablösen und auf den eigenen Beinen stehen und überhaupt. Doch dem Vater lässt es noch immer keine Ruhe. So schnell gibt er den Platz eins in der Zuneigung seiner Tochter nicht verloren. «Woran erkennst du denn, dass es wirklich Liebe ist?», erkundigt er sich ziemlich heimtückisch. «Na, da is einem so kuschelig muschelig, als ob man angeknipst wird, wie so 'ne Lampe. Und außerdem», fügt seine Tochter triumphierend hinzu, «bei Dennis gibt es Pfefferbeißer ohne Pfefferkörner, sagt er.»
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«Ich kapier das nicht!», mault der Fünfjährige. «Wieso heißt das Fernsehen, wenn ich doch ein Nahgucker bin?» Da sieht man es: Sogar dem jüngsten Fernsehpublikum macht das Medium Probleme. Und es gibt kaum einen Elternabend von Krabbelgruppe bis zur Oberstufe, wo nicht das Fernsehen mit schöner Regelmäßigkeit auf die Tagesordnung kommt. Weil es überhaupt so gefährlich ist. Weil es die Entwicklung der Kinder hemmt und weil es Gewalt verherrlicht. Weil die Konzentrationsfähigkeit der Kinder Schaden nimmt. Weil sich die eigene Kreativität beim Glotzen nicht entwickeln kann. Und so weiter und so fort. Es soll tatsächlich Eltern geben, die ihre Kinder bis zum sechsten Lebensjahr (einschließlich!) von dem bösen Bildschirm fern halten konnten. Dagegen ist ja gar nichts zu sagen, wenn die lieben Kleinen nicht trotzdem bei Nachbarn alles heimlich mitguckten, und zwar wahllos von «Verbotene Liebe» bis zur Suppenwerbung. Am tollsten ist es natürlich, wenn die Kinder gar nicht gucken wollen (doch, es gibt sie, ich kenne eineinhalb!), weil die Eltern das viel bessere Programm anbieten, oder weil sie andere Interessen haben wie etwa Regenwürmer sezieren oder Löcher in die Luft starren, was ja beides durchaus ehrenwerte Tätigkeiten sind. Wie glaubwürdig allerdings Erwachsene mit Fernsehverboten wirken, wenn sie selbst leidenschaftliche Anhänger des Pantoffelkinos sind,
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wäre einer genaueren Betrachtung wert. Eine gemeinsame Videoorgie kann auch was Tolles sein! Wie so oft im Leben, einigen sich die Betroffenen meistens auf Kompromisse. «Du hast gesagt, ich darf nachmittags eine Stunde gucken!», beschwert sich Rose, schon sieben Jahre alt. «Jaaa», sage ich, «aber nur, wenn du die Sendung im Fernsehprogramm vorher aussuchst! So hatten wir das -46-
abgemacht.» «Aber dann ist die ganze Überraschung weg!» «Du willst ja bloß nicht lesen!», kontere ich, etwas versäuert, weil meine mütterliche List, das Kind aufgrund seiner Fernsehbedürfnisse zum verhassten Lesen zu bewegen, offensichtlich gescheitert ist. Na ja, nicht alles, was bei den Superpädagogen von Edelschulen wie Summerhill funktioniert, muss in Bremen klappen. Wir einigen uns also heute auf ein Video, das ich neulich für sie aufgenommen habe. Ich hole mir mein Strickzeug und setz mich daneben, damit wir hinterher drüber reden, schimpfen oder kichern können - je nachdem. Die Werbespots reißen den schönen Film gnadenlos in Einzelteile, Atmosphäre verflogen. Zusammenhang perdu. Als ich das dritte Mal fix vorspulen will, hindert mich eine empörte Stimme: «Mama! Das muss man auch mal aushaken können!» «Und warum?» «Weil ich sonst nie weiß, ob es eine neue Barbie gibt!» «Aber ich dachte, wir sehen uns einen Film an?» «Jaaa, schon, aber mit allen Nachteilen!»
Am tollsten ist es natürlich, wenn die Kinder gar nicht gucken wollen (doch, es gibt sie, ich kenne eineinhalb).
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Benjamin, gerade zehn Jahre, ist zu seiner ersten Party eingeladen. Melanie hat die halbe Klasse zu ihrem Geburtstag eingeladen, und es soll eine richtige Fete geben. Viel zu früh macht er sich auf den Weg zu seinem Freund, um noch andere Gäste abzuholen und gemeinsam hinzugehen. Offensichtlich ist die Vorstellung, dort allein aufzukreuzen, für alle unerträglich. Genau so im Rudel kehren sie um acht wieder zurück, und Benjamin setzt sich zu uns an den Abendbrottisch. «Na, wie war's denn?» «Och, gut.» «Und wie war die Feier?» «Ganz schön.» «War denn ordentlich was los, stimmungsmäßig und so?», will der ältere Bruder wissen. «Och, nö, ganz normal.» «Warum erzählst du denn nichts? Haste vielleicht jetzt 'ne Freundin?» «Quatschkopp. Nee. Ich mach mir nichts aus Freundinnen.» «Aber Thorben hat erzählt, du würdest jetzt mit Melanie gehen.» Große Brüder sind ekelhafterweise immer besonders gut informiert, wenn alle auf dieselbe Schule gehen. «Der ist auch blöd!» Benni hat einen roten Kopf gekriegt. «Aber ich hab heute zum ersten Mal getanzt. Vier Lieder lang.» «Und dann? Habt ihr dann geknutscht?» -48-
«Nee; Blödmann. Dann haben wir Flaschendrehn gespielt.» «Aha. Und dann habt ihr geknutscht.» «Nee, immer wenn die Flasche stehen blieb, ist der Hund raufgesprungen. Da haben wir gelacht!» «Also» - der andere große Bruder mischt sich in die Nachforschungen ein - «ihr habt nix weiter gemacht wie getanzt und Flaschen gedreht?» «Nee. Das wurde noch ganz gut. Dann hat sich nämlich Ulf an Miriam rangemacht, aber die geht doch mit Janosch. Und da hat Janosch Ulf ein bisschen verkloppt, und dabei ist der aufs Terrarium von Melanies Vater gefallen, und das ist umgekippt, und alle Rennmäuse sind raus. Da haben wir erst mal den Köter in die Besenkammer gesperrt, weil der ganz scharf auf die Rennmäuse war. Dann haben wir versucht, die wieder einzufangen. Aber jedes Mal, wenn wir eine ins Terrarium rein steckten, ist wieder eine rausgeflitzt. Da hatte Thorben eine Idee, und wir haben sie alle in die Badewanne gebracht, weil sie da nicht rauskonnten. Die meisten haben wir eingefangen, und dann ist Melanies Vater nach Hause gekommen und hat sie wieder ins Terrarium gesteckt. Und dabei ist ein Mädchen mit der Hand an einen Kaktus mit Widerhakenstacheln gekommen, und Melanies Mutter musste ihr die alle mit der Pinzette rausziehen. Die hat vielleicht geheult. Das Mädchen, meine ich. Und beim Abendbrot ist Janosch auf die Idee mit dem Senfschießen gekommen, und da haben immer zwei auf eine Senftube gedrückt und geguckt, wer am weitesten damit schießen kann. Bloß dass Melanies Mutter das nicht toll fand. Es war nämlich ein Tischtuch drauf. Dann hat sich Miriam beim Nach-Hause-Gehen mit Ulf geprügelt und ist eine
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Kellertreppe runtergefallen. Da war sie ganz schön sauer. Und bei der Fahrkartenkontsrolle in der Straßenbahn hat Ulf seine Monatskarte nicht gefunden, und der Kontrolleur hat ziemlich -50-
Stress gemacht und wollte ihn verklagen oder so.» «Wowl», sage ich erschüttert. «Das war alles?» «Ja», bestätigt der Sohn und klaut seinem Bruder ein halbes Wurstbrot, das Erzählen hat ihn offensichtlich hungrig gemacht. «Ich hab euch ja gesagt, es war nix los.» «Wowl», sage ich erschüttert. «Das war alles?»
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«Wann ist denn mein Gebooortstag?» Ich schüttele den Kopf. «Hab ich dir doch erst vor 'ner halben Stunde gesagt. In vier Wochen.» Ein tiefer Seufzer. «Och, das dauert und dauert und kommt gar nicht näher.» Es kommt näher. Nun sind es nur noch zwölf Mal schlafen. «Mama, wir müssen die Einladungen machen.» «Na gut. Wen willst du denn diesmal einladen?» «Also, Minke, Svenja, Marijke, Alexa, Marie, Milena, Alina -» «Stoppl Stopp! Das ist doch deine halbe Klasse! Willst du denn diesmal keine Jungen dabei haben?» «Doch, Benka, Klaasi, Timo, Carlos, Benni -» «Stopp! Hör mal auf, so geht das nicht, das sind ja schon über zehn Kinder, wo sollen wir die denn alle unterbringen?» «Och, das geht schon irgendwie. Die müssen alle kommen, weil die einen sind die, die ich einladen will, und die anderen sind die, die ich einladen muss.» Ich bin verblüfft. «Wieso musst du denn?» Die Tochter stöhnt. «Na, weil die mich auch eingeladen haben, und da muss man zurück einladen. Und die anderen sind meine Freunde.» «Ach, und deine Freunde hatten dich nicht eingeladen?» -52-
«Nee, da wussten sie ja noch nicht, dass sie meine Freunde sind!» Meine Tochter schaut mich prüfend an. «Kapierst du das nicht?» «Doch, doch», beeile ich mich, schließlich ist es ja nicht sehr schmeichelhaft, wenn die eigenen Kinder die Mutter für eine Trottelin halten. «Aber das sind zu viele. Du wirst sieben Jahre, also sagt die goldene Regel, dass du sieben Kinder einladen darfst.» «Welche goldene Regel?» «Die goldene Geburtstagsregel.» «So was gibt es in Echt?» «Doch, das gibt's.» Großes Stirnrunzeln und Nachdenken, Abwägen und Verwerfen, aber schließlich wird ein Kompromiss gefunden: Neun Kinder kriegen eine Einladung. Ich seufze: «Gut, dann hätten wir das ja. O.k.?» «Nö.» Rose holt tief Luft. «Jetzt müssen wir noch sagen, was wir machen.» «Was meinst du denn damit?» «Na, ob ein Zauberer kommt oder so.» Erwartungsvoll schaut mich das Geburtstagskind in spe an. «Ein Zauberer? Bei dir piept's wohl! Vielleicht auch noch 'ne Akrobatennummer, oder wie denkst du dir das?» «Au ja, das gab's noch nie!» Begeistertes Nicken. «Du, ich hab eben nur Quatsch gemacht, das meinte ich nicht im Ernst!» «Aber wir brauchen doch was!» «Na klar, wir machen Topfschlagen und Wattepusten und...» «Nein, nein und viele Nein!» Enttäuschtes Gebrüll
Enttäuschtes Gebrüll unterbricht meine Vorschläge: «Bloß du machst so altmodische Sachen.»
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unterbricht die mütterliche Geburtstagsplanung. «Das ist doch doof!» «Wieso doof?» «So was ist gar nix Besonderes! Guck mal, bei Timos Geburtstag waren wir bei McDonald's, bei Meike waren wir im -54-
Kino, bei Benka kam der Zauberer, und Nicole hat gesagt, bei ihrem Geburtstag wird ein Clown kommen, und bloß du, du machst so altmodische Sachen! Dann kommt bestimmt keiner zu mir!» Ich sitze ziemlich belämmert da. Die Tochter heult zum Steinerweichen. «Du, hör doch mal...», vorsichtig streichele ich meiner enttäuschten Rose über die Haare. «Wir müssen doch nicht unbedingt das machen, was die anderen machen.» «Doch!» «Nee, müssen wir nicht. Wir machen einfach was eigenes. Sieh mal, solche Zauberer und Clowns und so, die sind alle sehr teuer. Das kostet bestimmt 200 Mark oder so. Stell dir mal vor, was du für 200 Mark alles kaufen kannst! Und überhaupt, sonst bleibt ja gar kein Geld für Geschenke übrig.» «Hm.» Rose überlegt. Dass die Geschenke für den Geburtstag draufgehen könnten, findet sie überhaupt nicht gut. «Aber solche altmodischen Spiele, das geht doch nicht...» «Wieso nicht?» Ich habe eine Idee. «Mach halt ein Kostümfest. Die Kinder kommen als Kinder von früher verkleidet, und dazu passen dann auch die altmodischen Spiele.» «Au ja!» Rose ist begeistert. «Was für ein Glück, dass du schon so schrecklich alt bist und die noch alle kennst!»
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«So, alle mal herhören!» Die Tafelrunde sieht mich erwartungsvoll an, Flo und Benni hören sogar mitten im Kauen auf. «Ha?» «Wassen los?» «Ich hab die Nase voll. Das ist los. Alle Klos im Haus stinken zum Himmel, und zwar nur, weil ihr immer noch im Stehen pinkelt. Es ist längst bewiesen, dass da immer eine Menge danebengeht.» «Ich setz mich immer hin.» Rose grinst sehr zufrieden ihre Brüder an. «Ja, du! Du bist ja auch 'n Mädchen!» «Ach, und ich?» Der Vater mischt sich ein. «Ich setz mich auch hin, aber dass ich 'n Mädchen bin, ist mir neu.» «Hrrgch, tu doch nicht so. Du setzt dich ja bloß hin, weil du Zeitung lesen willst!» Johannes angelt nach der letzten Salamischeibe. «Gar nicht wahr!» Sein Erzeuger ist empört. «Ich setz mich hin, seitdem wir das damals mit deiner Mutter verabredet haben! Die Gründe sind doch leicht einzusehen!» «Hm, na ja, meistens setz ich mich ja auch hin, bloß wenn es schnell gehen muss, dann -» Benni zuckt die Achseln. «Im Stehen bist du halt schneller.» «Wie schade, dass ich nie in diesen Genuss kommen werde.» Ich hole tief Luft. «Hiermit gebe ich kund, dass fortan die drei Stehpinkler je ein Klo putzen werden, und zwar zwei mal die -56-
«Fortan werden die drei Stehpinkler je ein putzen, und zwar zweimal die Woche.»
Woche. Putzzeug und Pülverchen stehen in dreifacher Ausfertigung bereit.» Ich lächele meine Söhne strahlend an. «Also abgemacht?» «Mama!» «Das ist ungerecht!» «Das seh ich überhaupt nicht ein -», platzen sie empört los. Ich winke ab. «Ende der Durchsage. Ihr habt's gehört. Wer nicht sitzen will, muss putzen. So, meine Herren, es darf weitergegessen werden.» «Ach, und du? Du musst jetzt gar nicht mehr putzen?» «Nö», entgegne ich kühl. «Zwanzig Jahre lang sollten reichen, find'ste nicht? Und wenn du jetzt noch Röschen angeiferst, dass sie mitputzen soll, entziehe ich dir das Wort. Alles klar?» Die Verurteilten senken die Köpfe und kauen weiter. An ihren Stullen und an dem großen Unrecht, das ihnen soeben zugefügt ward. Das ist drei Jahre her. Die Söhne gewöhnten sich ans Hinsetzen bei der Verrichtung der bewussten Tätigkeit. Wir dichteten: «Bei uns ist nicht ein Supermann, wer nur im Stehen pinkeln kann. Ein richtiger Mann in aller Stille setzt sich behutsam auf die Brille», und hängten das Gedicht in Schönschrift auf Bütten und gerahmt ins Gästeklo. Mittlerweile prangt da sogar ein Aquarell, das auch Analphabeten in die Kunst der richtigen Haltung einführt. Doch gerade die Bekehrten wandeln sich ja meist zu Missionaren, und Missionare sind für ihre Umwelt oft eine rechte Pein. Wie an dem Abend, als wir im fröhlichen Kreis mit unseren Freunden feierten und plötzlich in unserer Mitte ein wütender Siebenjähriger in anklagendem Ton verkündete: «Irgendein Ferkel hat falsch gepinkelt. Die Brille im Gästeklo war hochgeklappt!» -57-
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«Hör mal, meine Süße, so geht das aber nicht weiter!» Ich sehe meine Jüngste bedeutungsvoll an. «Was denn, Mama?» «Na, nun tu doch nicht so! Dein Zimmer sieht scheußlich aus! Alles durcheinander, wie Kraut und Rüben!» «Da ist überhaupt kein Kraut und keine Rüben!» Rose ist empört. «Nein, das sagt man nur so, wenn man kaum noch über den Boden laufen kann, ohne dass man auf was drauftritt.» «Mama! Hast du was kaputtgemacht? Mensch, da musst du ganz vorsichtig sein!» «Wie bitte? Nein, ich hab nirgendwo «Na ja, das ist so. draufgetreten. Aber das ist ja gerade der Punkt. Bei Milena räumt Wenn du nicht bald aufräumst, dann geht immer die Mutter bestimmt noch was kaputt! Also?» Ich schaue auf!» meine Tochter erwartungsvoll an, aber die wehrt entschieden ab. «Würd ich ja gern, Mama, ehrlich, aber ich bin heute mit Milena verabredet!» «Du kannst dir in diesen Saustall doch keine Freundin einladen! Ihr könnt in dem ganzen Tohuwabohu doch gar nicht mehr spielen!» «Wolln wir ja auch gar nicht.» Rose streicht mir tröstend über den Arm. «Wir haben uns bei Milena verabredet.» «Aha, siehste, bei der ist immer aufgeräumt! Nimm dir doch mal ein Beispiel an deiner Freundin!» -59-
«Nee, Mama, das ist eher ein Beispiel für dich.» «Wieso?» Ich gucke verblüfft auf meine Tochter runter, die ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trippelt. «Na ja, das ist so. Em. Bei Milena räumt immer die Mutter auf, deshalb.» Rose tätschelt meinen Arm beruhigend weiter. «Aber mach dir keine Sorgen, ich weiß, dass du darauf keinen Bock hast.»
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«Ach ja? Das weißt du. Weißt du auch, dass man mit sechs Jahren seinen Saustall auch ganz allein aufräumen kann? Ganz ohne Mutter?» «Aber vielleicht mit den Brüdern?», erkundigt sich die Tochter hoffnungsvoll. «Nein, auch ohne Brüder. Ich sagte: Allein!» Erschöpft von der Auseinandersetzung lasse ich mich auf einen Küchenhocker sinken. Dann hole ich nochmal tief Luft: «Und überhaupt, du denkst doch nicht etwa, dass andere gern deinen Mist wegräumen? Was du da alles ausgestreut hast, das kannst du auch gefälligst wieder einsammeln. So!» Ich schließe die Augen. Zwanzig Jahre Streit wegen unordentlicher Kinderzimmer haben mir den Spaß an solchen Auseinandersetzungen ganz schön verdorben. «Ach, Mama, reg dich doch nicht auf. Ich mach das schon. Irgendwann.» Die Tochter wendet sich zum Gehen. «Halt, hier geblieben! Was heißt hier ‹irgendwann›? Jetzt ist irgendwann! Du gehst nicht weg, bevor mindestens der Fußboden da drin wieder begehbar ist!» Bedauernd schüttelt die Unordnungsstifterin den Kopf. «Das geht nicht. Du sagst doch selbst immer, Versprechen muss man halten. Und ich hab Milena versprochen, dass ich heute zu ihr komme.» Triumphierend macht sie kehrt und stapft zu ihrem Zimmer. «Ich hol nur noch eine Kassette. Die hab ich ihr auch versprochen. «Bitte», sage ich giftig, «wenn du in dem Müll noch eine finden kannst!» «Och», sagt Rose, die Hand schon auf der Türklinke, «ich weiß eine, die ich nicht suchen muss.»
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Manche Kinder lispeln, andere nicht. Woher die Lispler das Lispeln haben, weiß niemand so recht. Wenn weder die Eltern noch die älteren Geschwister Lispler sind, fragt man sich wirklich, wie ein Kleinkind darauf kommt. Manchmal klingt es ja auch witzig. Aber wenn das lispelnde Kind dann vier Jahre oder älter ist, werden wir unruhig. Nun ist die süße Babyzeit ein für allemal dahin und nun wäre es doch «Toll, nä? Krieg ich schön, wenn das Kind ordentlich jeth dath Müthliding?» sprechen würde. Sozusagen vorschulkindgemäß. Das Kind hustet uns was. Es lispelt fröhlich weiter. Wir verziehen theaterreif unsere Münder und zeigen, wie man es anstellt, dass die Zunge hinter den Zähnen bleibt. Flo lacht sich halbtot über diese komischen Grimassen und lispelt weiter. Wir sind ungebrochen in unserer Sprechlern-Mission, rufen uns gegenseitig kleine sinnige Sätze zu wie «Susi, sag mal süße Sahne» und führen immer wieder den Trick mit der Zahnmauer vor, hinter der die Zunge nicht hervorkommen soll. Flo macht brav die Zahnmauer und sagt «Susi, sag mal süße Sahne» und fragt dann: «Und wath krieg ich jetht dafür?» Wir sehen uns Rat suchend an, zucken hilflos mit den Schultern und gehen den übrigen Tagesgeschäften nach. Flo grinst, freut sich, dass diese Intervention in seine Sprechgewohnheiten mit Erfolg abgeschmettert wurde, und geht seinerseits seinen Tagesgeschäften nach. -62-
Wir haben die Botschaft verstanden. Beim nächsten MiniSprechtest habe ich einen aus ernährungsphysiologischer Sicht unbedenklichen Müsliriegel parat und locke. «Komm, mach nochmal die Zahnmauer und sag mal ‹Zehn Ziegen ziehen zum Zaum, dann kriegst du das hier.» Flo beäugt den Riegel misstrauisch, denn ein Lutscher wäre ihm lieber. Aber auch ein Riegel ist besser als nix, und er macht brav die Zahnmauer, sagt ‹Zehn Ziegen ziehen zum Zaum, schnappt sich den Riegel und fragt: «Und wath wollten then Thiegen am Thaun?» Ich seufze und berichte abends dem Vater des ImmernochLisplers von dem Teilerfolg meiner Bemühungen. Wir kommen überein, diese Zungenturnübungen fürs Erste einzustellen. Schließlich ist das Kind gesund, und das ist ja wohl das wichtigste, und außerdem gab es auch schon berühmte Persönlichkeiten, die gelispelt haben und die das am Berühmtwerden und Erfolgreichsein keineswegs gehindert hat. Flo ist etwas enttäuscht über das Ausbleiben von FolgeAktivitäten, denn so schlecht war der Müsliriegel auch nicht. Außerdem hat er einen Freund, der ist ganz heiß auf diese Dinger und wäre möglicherweise bereit, einen Riegel gegen einen seiner Lutscher zu tauschen. Also muss das lispelnde Kind selbst aktiv werden. «Mama, ich hab geübt.» «Das ist schön, mein Schatz. Was denn?» «Na, richtig reden.» «Ach?» Ich bin hoch erfreut und beuge mich erwartungsvoll zu meinem bislang lispelnden Sprössling runter. Flo nickt heftig mit dem Kopf und bleckt die Zähne, damit ich auch ganz deutlich die Zahnmauer sehen kann. Dann holt er tief Luft und stößt mit Nachdruck hervor:
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«Ter-Min-Ka-Len-Der! Wasch-Lap-Penl Bett-Vor-Le-Ger!» Ich bin geplättet. Flo ist stolz. «Toll, nä? Krieg ich jeth dath Müthliding?»
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Ich erzähle das Märchen von «Fallada»: Von der Königstochter, die mit der bösen Kammerfrau zu ihrem Bräutigam, dem jungen Königssohn, «Diese Prinzessin ist reitet und unterwegs von der Kammerfrau so was von blöde, das gezwungen wird, mit der die Kleider zu tauschen. Wie die Kammerfrau dann halte ich nicht aus.'» Königin werden will und die Königstochter zum Gänsehüten schickt. Wie der alte König dann hinter das Geheimnis der Gänseliesel kommt und die böse Kammerfrau für ihre Verbrechen bestraft wird. Und wie dann schließlich die Hochzeit stattfindet und die Königstochter und der Königssohn nun glücklich leben bis an ihr Ende. Tja. Roses Gesicht ist während des Zuhörens immer finsterer geworden. Jetzt schnauft sie verächtlich. «So eine blöde Ziege!» «Ja», sage ich. «Die Kammerfrau war wirklich ein ganz gemeines Aas.» «Nee, die doch nicht!» Rose schüttelt den Kopf. «Diese Prinzessin ist so was von blöde, das halt ich nicht aus!» «Wieso denn das?» Ich bin ganz baff. «Na, wieso lässt sich denn die dumme Pute einfach die Kleider abnehmen? Warum boxt sie ihre Kammerfrau nicht mal feste in den Bauch?»
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«Hm.» Von der Seite habe ich das Märchen noch nie betrachtet. «Vielleicht war die Kammerfrau viel stärker und die Prinzessin hatte keine Chance?» «Püh, Quatsch. Dann hätte sie ja vorher mal ein bisschen Karate machen können oder so. Das machen Frauen heute, wenn sie keine Schlaffis sind.» «So?» Ich habe noch nie bei einem Karatekurs mitgemacht und hatte das auch nicht vor. Heißt das, dass ich ein Schlaffi bin? «Na klar.» Rose runzelt die Stirn. «Aber auch wenn sie kein Karate kann, sie kann doch reden. Warum sagt sie dem -66-
Bräutigam nicht, was passiert ist?» «Das hätte die Kammerfrau doch bestritten!» «Jaaa, aber dann hätten sie's doch bloß wie bei Aschenputtel machen müssen. Wem die Kleider am besten passen, die hat gewonnen.» «Und wenn beide genau die gleiche Größe haben?» So schnell gebe ich mich nicht geschlagen. «Dann hätte sich die Prinzessin einen Anwalt nehmen müssen. Der hätte ihren Pass oder so besorgt und - sssst! - war alles klar gewesen.» «Na ja, wenn du es so siehst...» Ich gebe auf. Manche Märchen sind anscheinend überholt. Schlaffe Prinzessinnen, die nicht boxen können und keine Karategürtel besitzen und nicht wissen, wie man sich einen Anwalt nimmt, haben heute offensichtlich kein Publikum mehr. «Du brauchst deshalb ja nicht traurig zu sein!» Rose gibt mir schnell ein Küsschen. «Das ist ja noch nicht mal das blödeste Märchen.» «Sondern welches?» Ich mache mich daraufgefasst, dass ein weiteres meiner geliebten Märchen aus der Kinderzeit auf dem Müllhaufen der Powerfrauen landet. «Das ist doch klar. Das doofste ist Rotkäppchen. Ich würde einem Wolf oder Mann oder so doch nie verraten, wo meine Oma wohnt.» Meine Tochter schüttelt den Kopf. «Und wenn da muss einer schon mehr hinlegen als so einen dammeligen Blumenstrauß.»
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«Nie bist du dal», schleudert mir der zehnjährige Sohn entgegen, obwohl ja gerade die Tatsache, dass er mich so anfauchen kann, das Gegenteil beweist. Aber wie soll man logisch argumentieren, wenn jemand so offensichtlich sein Bedürfnis nach mütterlicher Nähe bekundet? «Benni hat Recht», mischt sich jetzt der ältere Bruder ein. «Ich find das auch nicht gut, dass du uns allein lässt. Wozu hat man denn eine Mutter, wenn man dann ganz allein da hockt?» Das arme Opfer klappert Mitleid erregend mit den Augenlidern. «Immer gehst du dich amüsieren, und wir sollen allein klarkommen.» Immer. Das lasse ich mir einrahmen und hänge es an die Wand. Zum ersten Mal seit Wochen will ich abends mit einer Freundin ins Kino. Da Vater auf Geschäftsreise ist, sollen sich die lieben Kleinen und Großen ausnahmsweise mal allein ins Bett bringen Ihr könnt ja bis halb neun noch fernsehen», mache ich ein großzügiges Angebot. «Hachl Bis halb neun! Da ist doch kein Film schon zu Ende! Da kann man es auch gleich bleiben lassen.» «Na gut, also bis neun.» Ich war noch nie besonders prinzipienfest in solchen Sachen. «Aber dass ihr mir um
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Viertel nach im Bett seid! Versprecht ihr mir das?» Die Kinder verkneifen sich ihr Grinsen, weil sie mich wieder rumgekriegt haben, und ich ziehe los. Während des Films kann ich mich nur schwer auf die Handlung konzentrieren, und hinterher beim Glas Wein gestehe ich meiner Freundin mein schlechtes Gewissen. «Weißt du, sie haben ja auch irgendwo Recht. Der Alltag rollt so über uns weg, und wir haben schon lange nicht mehr was Richtiges zusammen -69-
unternommen.» Da kommt mir eine Idee. Morgen werde ich einen Kuchen Morgen werde ich einen backen, und wenn die Kinder aus Kuchen backen, und wenn Ganztagskindergarten und schule um die Kinder nach Hause vier nach Hause kommen, dann kommen, dann machen wir machen wir es uns mal so richtig es uns so richtig gemütlich. gemütlich. Wir werden klönen und vielleicht ein Spiel spielen oder zusammen einen Spaziergang machen - so ganz in Familie und die Kinder sollen spüren, wie wichtig sie mir sind. Am nächsten Tag renne ich von Pontius zu Pilatus, um alle Zutaten zu einem Schwarzwälder Kirschkuchen zusammenzubekommen, stehe zwei Stunden in der Küche, und schließlich steht das Prachtstück auf dem Tisch. Punkt vier ist dieser Tisch gedeckt, der Tee ist fertig und ich harre meiner Lieben, von denen die Älteren auf eine Ganztagsschule und die Jüngeren in den Hort gehen. Als Erster ruft Johannes an. «Ich wollte dir nur sagen, ich gehe noch zu Sebastian, der hat ein ganz geiles neues Computerspiel. Wann soll ich denn zu Hause sein?» Ich murmel etwas von sieben Uhr. «Übrigens, ich hab 'ne Schwarzwälder Kirschtorte gebacken.» «Toll! Dann hebt mir was auf. Tschüs!» Als Nächster kommt Benni nach Hause. Es gibt ein Riesengepolter im Flur, ich eile die Treppe hinunter und höre, wie er laut auf seine Brüder schimpft, weil sein Fußball nicht auffindbar ist. «Julian und ich haben uns nämlich verabredet, wir wollen auf die Sportanlage und Elfmeterschießen üben.» Ich erzähle von der Torte. Benni zögert jedoch nur kurz: «Die schmeckt doch auch zum Abendbrot. Also, bis nachher!» Aber ich flitze bereits ins Wohnzimmer, denn das Telefon bimmelt wieder. Die Jüngste fragt, ob sie mit ihrem Freund Klaasi nach dem Hort auf den Spielplatz kann: «Mama, guck mal raus, es ist so schönes Wetter!» Na klar kann sie mitgehen. -70-
Kurze Zeit später sitzen Florian und ich allein am Tisch. Er kaut mit beiden Backen, und ich rühre in meiner Tasse. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Nachdem er das zweite Tortenstück verdrückt hat, räuspert sich mein Gegenüber: «Du, eigentlich hab ich mich heute mit Nils verabredet. Ich wollte dich aber nicht so allein lassen, wo du dir ausnahmsweise mal so 'ne Mühe gemacht hast. Aber jetzt ist das doch o. k., wenn ich gehe, ja?» Natürlich ist das o. k. Ich bin wieder allein, schaue auf die kerzengeschmückte Tafel und freue mich, dass meine Kinder alle so ein ausgefülltes Leben haben. Und morgen gehe ich ins Kino, ätsch! Und ganz ohne Gewissensbisse!
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«Heute war es vielleicht komisch in Bio.» Benjamin grinst und schaufelt eine Riesenportion Lasagne in seinen Mund. «Wieso? Nun sag schon!» Die großen Brüder sind neugierig, schließlich ist der Biologieunterricht ja nicht gerade bekannt dafür, dass er komisch ist. «Na», Benni kaut und schluckt, «Frau Steiner hat uns lauter solche Filme gezeigt über Eierstöcke und Hodensäcke und den ganzen Kram.» «Ach so», der sechzehnjährige Johannes wirft dem etwas jüngeren Florian einen viel sagenden Blick zu. «Ihr seid also gerade mit der Aufklärung dran?» «Miriam will nicht, dass da so «Aufklärung?» Benni runzelt viel Krabbelzeug in ihr die Stirn und vergisst erst mal rumzischt!» die volle Gabel. «Was ist denn das?» «Wieso? Hat sie euch nicht gesagt, dass das Aufklärung ist? Ihr lernt doch alles über Mann und Frau und wie sie ein Kind machen können und so...» «Nee, davon hat sie noch nix gesagt.» Benni schüttelt entschieden den Kopf. «Heute hatten wir nur Eier und Hoden, aber sonst noch nichts.» «Und was war daran so schrecklich komisch?» Ich bin auch neugierig. Immerhin - Sex in der Schule, über den es was zu lachen und nicht nur zu lästern gibt, das interessiert mich auch. -72-
«Na ja, also das war so. Frau Steiner zeigte uns einen Film, da zischten immer diese bunten Männchen hin und her und schleppten Gene und all so'n Zeug von dahin nach dorthin und lauter so Sachen. Und dazwischen redeten sie immer miteinander, was sie noch tun müssen und so. Da hat Michi auf einmal getuschelt, jetzt weiß er endlich, warum es in seinem Bauch manchmal knurrt, das wären bestimmt diese ganzen Spermas und so -» «Das heißt Spermien, du Döskopp», hilft Florian freundlich aus. «Ist ja egal. Also, dann hat Miriam gesagt, sie will nicht, dass da so viel Krabbelzeug in ihr rumzischt, und sie will nie was mit Männern haben. Da hat Frau Steiner gesagt, das war alles nur bildlich, damit wir es besser verstehen.» «Und?» Irgendwie vermisst Johannes die Pointe. Ich auch. «Da hat Michi gesagt, vielleicht ist das der Trick von diesen Bauchrednern, dass die immer mit ihren Eierstöckern oder so palavern, und da haben wir ganz doll lachen müssen. Stell dir mal vor, so ein Bauchredner quatscht mit seinem Schmusetier und in Wirklichkeit antworten die Eier und Sper-, na was auch immer.» «Hm.» Diese Vorstellung ist für uns bereits aufgeklärte Menschen am Tisch sichtlich neu. «So'n Blödsinn.» Johannes nimmt sich noch eine Portion Lasagne. «Warum erklärt die euch nicht klipp und klar, was da wirklich in den Bäuchen ist?» «Vielleicht weil sie immer rot wird. Jedenfalls hab ich nachher
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in der Pause von allen zwanzig Pfennig kassiert und hab ihnen genau erklärt, wie das ist, also wenn der Mann und die Frau ein Kind machen und den ganzen Kram.» «Ach?» Ich bin perplex. «Und woher weißt du das so genau? Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass du mich mal danach gefragt hättest. Oder hast du Papa -?» «Nee.» Benni wirft seinen großen Brüdern einen verschwörerischen Blick zu. «Das weiß ich alles schon lange. Und 'n bisschen Taschengeld kann man ja immer brauchen.» «Soso.» Pikiert schaue ich zu der Fünfjährigen hin, die aufmerksam zugehört hat. «Und demnächst lässt du dir von Röschen auch noch die Aufklärung bezahlen, oder?» «Ach, Mama, in der Familie ist doch alles umsonst.» Benni wendet sich Rose zu. «Also, Rose, wenn du es auch wissen willst, also, rein sexuell gesehen ist das nämlich so -» «Ah, äh, will ich gar nicht. Markus hat uns das schon alles im Kindergarten erzählt. Ich weiß schon alles. - Mama, ich bin fertig mit Essen - kann ich jetzt spielen gehen?» Ich nicke ahnungsvoll. «Und zu wem?» «Zu Markus. Der weiß immer so spannende Sachen.»
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«Das hier ist eigentlich gar keine richtige Küchel», behauptet meine sechsjährige Tochter mit streng gerunzelter Stirn. «Ach, und wieso nicht?» Verblüfft schaue ich mich in meiner Küche um, in der immerhin seit mehr als fünfzehn Jahren die Mahlzeiten für sieben hungrige Mäuler zubereitet werden. «Na, weil wir kein Telefon hier haben.» «Ein Telefon? Braucht man das in einer Küche?» «Na klar», erklärt sie unbeirrt. «In meiner Küche hab ich doch auch eins.» Das stimmt. In Roses Plastikküche hängt seitlich ein natürlich zeitgemäß schnurloses - Telefon am Haken. «Und außerdem hast du noch nicht mal eine Mikrowelle!» Stimmt auch. Ich war bislang nie der Ansicht, dass ich eine gebraucht hätte, und außerdem ist das mit der Strahlenbelastung bis heute ja noch nicht eindeutig geklärt. «Weißt du, wir finden, dass wir auch so ganz gut zurechtkommen -», beginne ich mit meiner Rechtfertigung, doch Rose unterbricht mich ungeduldig: «In meiner Küche gibt es aber eine Mikrowelle. Und was Kinder in der Küche haben, brauchen doch die Großen auch, oder?» «Nee, das finde ich nicht. Bloß weil so ein Spielzeugdesigner gedacht hat, er muss lauter solchen Technokram einbauen, muss ich doch noch lange nicht auch so einen Apparat haben.»
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«Mama! Manchmal bist du echt hinterm Mond. Du hast ja nicht mal einen Wäschetrockner!» Das stimmt. Ich habe mich bisher dafür eher heimlich gelobt, einmal wegen der Gymnastik beim Wäscheaufhängen und zum ändern wegen des Stromsparens. Ich habe nicht gewusst, dass ich mir damit den Respekt meiner technikbegeisterten Tochter verscherzt habe. «Ach ja? Vielleicht erzählst du mir auch, was noch alles bei uns fehlt?» «Na, zum Beispiel die Fernseher in den Kinderzimmern. Im Barbiehaus gibt es im Schlafzimmer auch einen Fernseher!», verkündet sie triumphierend. Ganz klar, die Spielzeugindustrie weiß, wie sie die künftigen -77-
Wohnungseinrichterinnen auf üppigen Konsum einstimmt. «Und wenn ich im «Manchmal bist du echt Bett gar nicht mehr fernsehen will?», hinterm Mond, Mama. Du hast ja nicht mal eine erkundige ich mich neugierig. Mikrowelle!» «Das ist egal. Das braucht man einfach.» «Ich nicht!» Langsam gerate ich in Fahrt. «Und ich lass mir auch nicht von irgendjemandem diktieren, dass ich im Bett fernsehen muss! Fällt dir sonst noch was ein?» «Da fehlt noch viel. Du hast keine elektrischen Lockenwickler wie Monas Mutter. Das sieht echt toll aus. Und du rasierst dir auch nicht die Beine, dabei gibt es dafür einen ganz schicken Rasierer. Annas Mama lässt Anna manchmal den Rasierapparat halten und Anna sagt, das summt so schön. Und ein elektrisches Messer hast du nicht, und keinen Eierkocher.» «Halt mal, Moment. Aber Papa hat neulich einen Joghurtbereiter gekauft!» «Schon, aber du hast rumgemotzt und ihn in den Keller gestellt, weil du so was überflüssig findest. Also haben wir einen, aber du benutzt ihn nie.» «Ach nee? Du meckerst, und dabei magst du gar keinen Joghurt!» «Nö, aber das ist ja egal. Ich hab ja nur gesagt, dass du keine richtige Küche hast. Und das stimmt.» Ich bemühe mich um Gelassenheit. «Dafür hast du eine Mutter, die sich nicht vom Werbefernsehen sagen lässt, was sie kaufen soll. Das ist doch auch was wert, oder?» «Find ich nicht. Man soll nämlich mit der Zeit gehen.» «Ach ja? Und wer sagt das?» «Na, eben das Werbefernsehen.»
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Es ist zwölf Uhr nachts, ich bin todmüde, aber das Bad ist besetzt. «Wann seid ihr denn endlich fertig?», erkundige ich mich bei Johannes und seinem Kumpel Max, beide im besten Teenageralter zwischen 15 und 17. «Das dauert noch, komm ruhig rein», werde ich großmütig eingeladen. Drinnen sind die beiden Jungmänner mit dem Austausch ihrer intimsten Geheimnisse zugange und geben sich gegenseitig großmütig Kosmetik-Tipps. Ich drücke Zahnpasta auf meine Zahnbürste und lausche begeistert. «Da hilft nur eins: Seesandmandelkleie», behauptet mein Sprössling mit Blick auf die Samthaut seines Freundes. «Echt? Und dann kriegt man keine Pickel mehr?» «Das kannst du so nicht sagen. Aber wenn, dann sind sie wenigstens sauber. - Übrigens», wendet er sich an mich, «du wolltest mir doch den Mitesser am Kinn wegmachen!» Ich richte mich auf, stecke die Zahnbürste fest in die Backentasche und suche mit geübtem Blick direkt unter der Badezimmerleuchte nach dem störenden Parasiten. «Halldochmschdill», mit Zahnbürste in den Kiemen ist das Sprechen schwierig. Ich habe noch ein schwarzes Pünktchen entdeckt. Stolz über meinen raschen Erfolg, führe ich auf dem Fingernagel das Beutestück vor.
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Max ist sehr beeindruckt. «Hab ich auch so was?» Ich lege die Zahnbürste am Waschbecken ab. «Lass mal gucken.» Im gnadenlosen Licht der Badezimmerlampe wird seine Existenz unübersehbar: ein schwarzer Punkt mitten auf dem Nasenrücken. Fasziniert betrachtet Max sich den riesigen Mitesser im Spiegel und verlangt dann von mir die sofortige Entfernung. Johannes schaut nun seinerseits gespannt zu und geizt nicht mit Ratschlägen: «Mann, das ist ein höllischer Schmerzl Aber da musst du durch! Das musst du aushaken!» Derweilen habe ich meine Fingernägel platziert und drücke behutsam zu. -80-
Max zuckt zusammen. Johannes spricht ihm Mut zu. Max strafft die Schultern. Ich habe das Talgkügelchen zwischen meinen Nägeln geortet und erledige meinen Auftrag. Max wird bleich. Wortlos halte ich ihm den Pfropfen unter die nunmehr etwas gerötete Nase. Er ist zutiefst beeindruckt und bedient sich bei meinem Eau de Cologne. Aber man soll die ersten Regungen hinsichtlich aktiver Körperpflege nicht durch pingelige Ermahnungen im Keim ersticken, also sage ich nichts dazu. «Mannomann.» Beide Knaben sind begeistert. Ich nehme verstohlen meine Zahnbürste wieder auf, aber nun ist das Waschbecken von den Jungmännern besetzt, die eifrig ihr Gesicht mit Seesandmandelkleie rubbeln. Anschließend wird die nunmehr porentief gereinigte Haut auch noch eingekremt. Befriedigt mustern die teuer duftenden Körperpfleger ihre speckglänzende Pelle im Spiegel. «Und morgen zeigst du uns den Trick mit dem Ring, ja?» fragt Johannes. «Du weißt doch, wie man an die ganzen Mitesser neben der Nase kommt1.» Ich habe das Zähneputzen inzwischen über der Badewanne erledigt und gelobe das Vorführen des Ringtricks. Dann flüchte ich aus dem Bad, derweil die junge Generation verschiedene Duschgels unter der Brause ausprobiert. Am nächsten Morgen betritt Johannes das Bad, als ich mich gerade abtrockne. «Mama, das war ja bloß Katzenwäsche!», werde ich streng gerügt. «Du solltest mehr auf Körperpflege achten. Und außerdem gibt es jetzt eine tolle Sache gegen Falten irgendwas mit Liposomen.»
Die jungen Männer rubbeln eifrig ihr Gesicht mit Mandelkleie.
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«Sebastian muss das nie!» oder «Torsten braucht so was nicht zu machen!» ist Dauerton in Familien mit mehreren Söhnen. Und offensichtlich sind unsere vier besonders schlimm dran. «Kein Junge in meiner «Kein Junge in meiner Klasse muss so Klasse muss SO viel zu viel zu Hause helfen!», stöhnte neulich Hause helfen wie ich.» wieder Flo, der 13-Jährige. «Soso», signalisiere ich erst mal Gesprächsbereitschaft. «Und wer, bitte, macht bei denen den Dreck weg?» «Na, was weiß ich! Ne Putzfrau oder die Mutter.» «Das heißt, du fändest es ganz in Ordnung, wenn ich immer euren Dreck wegmachen würde?» «Na ja, äh, em...» «Ist das nicht genug, dass ich schon immer dieses ganze Haus aufräume und -» Ich ereifere mich. Schließlich kommt dieses Thema ja regelmäßig auf die Tagesordnung, und wir haben alle eine gewisse Übung im Abspulen unserer Argumente. «... ja, ja, ich weiß schon: und die Wäsche machst du auch immer und so weiter und so fort.» «Ja, wenn du's schon weißt, warum beschwerst du dich dann?» «Wir könnten ja schließlich auch eine Putzfrau haben wie alle anderen.» «Welche alle anderen? Du willst mir doch nicht einreden, -82-
Ekrems und Sutargas Mütter hätten Putzfrauen engagiert?» «Nö. Die nicht. Aber Ekrem und Sutarga, die müssen ja nun mal ganz bestimmt nicht zu Hause helfen.» «Ach, und wer wischt hinter diesen Herren her und kratzt die Klos wieder sauber?» «Weiß ich doch nicht.» «Aber vielleicht hast du eine Ahnung. Oder müssen diese Herren nie aufs Klo?» «Doch, doch. Na, gut, du hast gewonnen, da machen es die Mütter.» «Und du findest das in Ordnung?» «So richtig in Ordnung nicht, aber bequemer.» «Dann hast du Pech gehabt.» Mein Mitleid mit Flo ist durch 20 Jahre Haushalt für eine siebenköpfige Familie absolut auf dem Nullpunkt. Leider funktioniert genau in diesem leidigen Bereich Lernen durch Vorbild überhaupt nicht, denn ich kann es einfach nicht glaubwürdig demonstrieren, dass Staubsaugen, Wischen, Putzen und Abwaschen angenehme Tätigkeiten sind, deren Erledigung zu tiefster innerer Befriedigung führt. Das Einzige, was wahrscheinlich all die Jahre glaubhaft rüberkommt, ist diese unbändige Wut, wenn nach stundenlanger Asterei das Haus in fünf Minuten wieder in den alten Lotterzustand zurückversetzt wird. Dann kann man mich wahrscheinlich noch in der übernächsten Straße brüllen hören. Doch Flo hat für heute noch nicht ganz aufgegeben. «Und warum haben wir keine Putzhilfe? Das leisten sich doch andere auch.» «In Ordnung. Möchtest du's bezahlen?»
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«Mama, sei doch nicht albern. Dafür reicht mein Taschengeld nicht. Das sind im Monat doch Hunderte.» «Eben.» «Was meinst du mit ‹eben›?» «Na, dass wir's auch zu teuer finden. Und dass eine Absprache in der Familie war, dass wir lieber einmal im Monat essen gehen für das Geld.» «Hach, und wann waren wir das letzte Mal? Das war auch -84-
bloß so 'ne Versprechung.» Doch ich habe gelernt, schnell zu reagieren. «Eigentlich wollten wir nächstes Wochenende mit euch zum Chinesen.» «Na ja. Dann muss ich wohl.» Resigniert greift Flo nach Eimer und Schrubber und stapft die Treppen hoch. Das wäre wieder mal überstanden. Nun macht mir nur noch eine Sache Sorgen. Unsere Jüngste räumt seit zwei Wochen freiwillig ihr Zimmer auf und neulich wurde sie sogar beim Putzen erwischtl Und das mit fünf Jahren! Von mir kann sie sich das wohl kaum abgeschaut haben. Sollte dieser Reinlichkeitswahn am Ende doch in den weiblichen Genen drinstecken? Aber warum, zum Teufel, wurde ich dann dabei übergangen?
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«Also eigentlich», sinniert Benjamin, während er sich viel zu dicke Salamischeiben absäbelt, «eigentlich sind wir wie die Familie in der Fernsehserie ‹Nicht von schlechten Eltern›.» «Ha?», erkundigt sich Florian, und auch Johannes legt eine Pause beim Mampfen ein und schaut den kleinen Bruder erwartungsvoll an. Die Vorabendserie ‹Nicht von schlechten Eltern› ist momentan ihre Lieblingsserie, und etwaige Ähnlichkeiten zwischen echten Fernsehgeschichten und uns sind natürlich ein faszinierender Gesprächsstoff. «Na klar.» Benni ist sich seiner Sache sicher. «Beide leben wir in Bremen.» «Jaha, das schon», gibt Flo zu. «Aber die wohnen bestimmt in so 'nem vornehmen Viertel wie Schwachhausen und nicht in der Neustadt.» «Aber beide wohnen wir im eigenen Haus!» «Und wenn schon! Die haben einen richtigen Garten und alles, und wir wohnen in so einem ollen düsteren Reihenhaus.» «Hehehe!», mische ich mich ein. «Das olle düstere Reihenhaus ist edelster Jugendstil.» «Aber duster. Was hast du denn noch auf Lager, Benni?», erkundigt sich Flo. «Na, beide haben viele Kinder.» «Die haben aber nur vier, wir sind fünf.» «Aber beide haben nur eine Tochter.» -86-
«Bloß bei denen ist es die Zweitälteste und bei uns ist sie die Jüngste», hakt Johannes ein. «Deshalb kann sich Rose ja auch noch nicht in ihren Lehrer verlieben.» Flo denkt nach. «Aber andererseits könnte das bei ihr ja noch kommen. Sonst noch was?» «Klar.» Benni hat offensichtlich schon längere Zeit über diese Parallelen nachgedacht. «Beide haben einen netten Vater.» «Aber sonst sind sie ganz schön verschieden: Bei denen ist er bei der Marine, und unser ist Psychologe.» «Quatsch, du Dummi, unser ist Therapeut.» «Na gut, sagen wir, beide müssen sich um Leute kümmern.» Diese Gemeinsamkeit verwirrt mich. «Seit wann kümmert sich ein Marineoffizier um Leute? Ich denke, der kümmert sich um Schiffe?» «Mama, lenk nicht ab. Jetzt kommst du dran.» Johannes hat Feuer gefangen. «Beide Mütter sind Lehrerinnen und gehen auf die Schule ihrer Kinder.» «Ich bin nicht auf eure Schule gegangen, ich hab da unterrichtet! Und außerdem hab ich damit inzwischen aufgehört.» «Das stimmt.» Flo unterstützt mich. «Die im Film gehen auch aufs Gymnasium und wir gehen auf 'ne Gesamtschule.» «Ja schon. Aber da ist noch was ganz doll Gleiches: Bei beiden ist der älteste Sohn nicht vom Vater. Also, ich meine, der hat auch einen Vater, aber einen ändern. Die Mutter bringt den ersten Sohn sozusagen mit in die Ehe.» Ich staune. Sollten die Filmleute doch bei uns abgeschrieben haben? «Nur bei denen wurde es erst verheimlicht, und dann erfährt es der Sohn ziemlich ruckartig, aber unser Alex hat das von Anfang an gewusst, dass Hans nicht sein Vater ist», weist Flo auf einen - wie ich finde - sehr markanten Unterschied hin.
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«Trotzdem. Ihr müsst doch zugeben, dass da wirklich was dran ist an dem, was Benni rausgefunden hat.» Johannes schaut verträumt in die Gegend. «Wenn wir doch auch mal so aufregende Sachen erleben würden wie die... Eine Hehlerbande an der Schule ausspionieren... oder einen türkischen Vater dazu bringen, dass seine Tochter einen deutschen Freund haben darf...» «Hähähä, und? Hatten wir noch nie was Aufregendes? Weißt du noch, wie Papa nachts gehört hat, als einer Mamas Rad von der Veranda klauen wollte und im Schlafanzug hinter dem Typ her ist und ihm das Rad wieder abgejagt hat? Und 'ne Klaubande an unserer Schule hatten wir auch schon mal. Mit Kripo und allem Drum und Dran.» «Sag ich ja.» Benni kaut genussvoll an seiner Stulle. «Bei uns ist es genauso wie bei denen im Film, nur ganz anders.»
«Sag ich ja. Bei uns ist es genauso wie bei denen in der Vorabendserie.»
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Wer selber Sprösslinge im Alter zwischen zehn und zwanzig hat, weiß, welche furchtbaren Auseinandersetzungen mit der Schuhbekleidung oft verbunden sind. Mit dem schlichten Begriff «Turnschuh» lässt sich auch nur noch sehr ungenügend beschreiben, was sich inzwischen hinter diesem hochgestylten, aus den raffiniertesten Materialien und in der optisch und technisch ausgefeiltesten Methode zusammengeschusterten, oder vielmehr designten, Schuhwerk verbirgt. Die Gespräche über den Erwerb solcher für die meisten Kinder absolut lebensnotwendiger Gegenstände vollziehen sich nach einem oft geübten Ritual. Die Gespräche über den Erwerb «Till hatte heute neue solcher für die meisten Kinder Turnschuhe an», erzählt Florian lebensnotwendiger Gegenstände beim Abendessen. «Ganz vollziehen sich nach einem oft günstiges Angebot, superbillig.» geübten Ritual. «Hmm.» Ich weiß sowieso, was als nächstes kommt, also spare ich meine Puste. «Meine sind auch schon wieder hin. Eigentlich kann ich die gar nicht mehr tragen.» «Wieso das?» Das ist mein Stich wort zum Nachhaken. «Deine sind doch erst, warte mal, die haben wir doch nach den Ferien gekauft.» «Jaa. Und das ist schon vier Monate her.» «Moment mall Du willst mir doch nicht sagen, dass du diese hochgelobte Markenware in popeligen vier Monaten -90-
durchgetreten hast??» «Also, ich hab sie immer eingekremt und so. Aber so viel halten die eben auch nicht aus.» «Wieso?», frage ich giftig. «Mit Turnschuhen sollte man eigentlich rumturnen können, wie schon der Name sagt.» «Mama!! Das sind keine Turnschuhe! Das sind Crosstrainer!» (Oder was es sonst gerade an angesagten Spezialtretern so gibt.) «Und was dann? Kann man mit Crosstrainern nicht auf der Straße laufen? Sind die dafür zu schade? Warum hast du sie
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mir dann neulich abgeschwatzt, wenn sie für den Alltag gar nicht taugen?» Spätestens dann greift einer der Brüder ein, wohlwissend, dass er als nächster um ein neues Paar anstehen wird. «Mama, Flo hat Recht. Das sind schon ganz doll stabile Schuhe, aber die sind eher für die Halle.» «Und warum heißen sie dann Crosstrainer?», frage ich verbissen. Dazu reichen meine Englischkenntnisse noch allemal, dass ich weiß, dass sich so was nicht auf Hallensport bezieht. «Und überhaupt», fordere ich dann, «zeig sie doch mal her, damit ich sehen kann, ob sie nichts mehr taugen.» «Doch, die taugen schon noch. Das ist es nicht. Ich würde die
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dann eben nur noch für den Hallensport nehmen und die neuen für draußen.» «Halt!» Jetzt ist für mich höchste Zeit, energischer dagegen einzuschreiten. «Wir haben den Ankauf von neuen Schuhen noch überhaupt nicht beschlossen.» «Aber Till hat doch auch...» «Till ist ein Einzelkind. Dem können seine Eltern von mir aus jede Woche neue Schuhe kaufen, wenn die das Geld dazu haben. Wir haben es nicht. Du hast ein Paar voll funktionsfähige Turnschuhe und damit basta.» «Hör mal, das ist aber ein ganz besonders günstiges SuperSonderangebot. So billig komme ich nie mehr an das Modell ran!» «Das ist mir egal, dann zahl sie eben von deinem Taschengeld. Von uns gibt's nichts. Finito. Deine Schuhe sind in Ordnung, für den Turnunterricht hast du auch welche -» «Nee.» Jetzt fährt er sein unschlagbares Geschütz auf, das Argument, mit dem wir Eltern in solchen Fällen immer wieder umgenietet werden, zumindest die nächsten Jahre noch. «Die drücken. Ehrlich. Die werden mir jetzt jeden Moment zu klein, und wo's die doch so günstig gibt, gerade...» Ich weiß, wann ich geschlagen bin. «Na gut, dann zeig mir morgen mal die Wunder quelle.» Sie kaufen das Super-Sondereinmalig-Modell zum Vorzugspreis von neunundneunzig Mark. Am nächsten Tag frage ich ihn, als er aus der Schule kommt: «Na, Flo, haben deine Kumpels denn nun gemerkt, was du für tolle Dinger anhast?» «Hmmm. Ehem. Nicht so direkt. Kolja hat gesagt: Du hast ja jetzt auch dieses Auslaufmodell.»
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«Wann stirbst du eigentlich?» fragt mich unsere Fünfjährige, so, wie das auch ihre älteren Geschwister einst taten, bis sie spitzbekamen, dass diese Frage erstens nicht beantwortbar ist und zweitens die Leute erschreckt. Dabei habe ich heute noch Glück gehabt, dass Rose an ihre Frage nicht das verräterische Wörtchen «endlich» angehängt hat. «Das kann ich dir leider nicht sagen. Ganz abgesehen davon, dass ich es vielleicht gar nicht so genau wissen will.» «Warum?» Dass man etwas nicht wissen will, ist ihr bisher noch nicht untergekommen. «Warum willst du das denn überhaupt wissen?», frage ich «Opi ist schon tot. Und zurück und lenke so geschickt vom Urgroßvater auch. Wer ist exakten Datum meines todsicheren denn älter tot?» Hinscheidens erst mal ab. «Na, weil ich von dir erben will. Ist doch logo. Ich krieg doch deinen ganzen Schmuck, Mama, nä? Die Jungs brauchen den doch nicht, nä? Den krieg alles ich, ja?» «Wenn du willst.» Ich schlucke. Solche plötzlichen Konfrontationen mit der eigenen Sterblichkeit sind manchmal ganz schön niederschmetternd. «Aber vielleicht kannst du ja noch ein bisschen warten. Oder muss ich deshalb sofort abkratzen r» «Nö. Ich wollte ja nur mal wissen.» Beruhigt wendet sich die selbsternannte Erbin all meiner Klunker wieder wichtigeren Dingen zu, wie Barbiepuppen in ungemein hässliche Klamotten -94-
zu zwängen und mit Plastikschmuck zu behängen. Schmuck ist nun mal momentan ihre ganze Seligkeit. Aber so ganz fertig mit dem Thema ist sie noch nicht. «Opi ist schon tot», erinnert sie mich unnachgiebig. «Ja.» Wirklich nicht mein Lieblingsthema. Aber man soll ja nicht verdrängen. Nun wende ich mich betont wieder meinem Buch zu. Keine Chance. «Urjohanna auch schon. Und Urgroßvater auch. Wer ist denn älter tot?» «Was? Was meinst du damit?» «Na, wer war denn zuerst in diesem Himmel oder so?» «Das weiß ich nicht. Niemand weiß über den Himmel genau Bescheid.» «Doch. Klaasi. Klaasi hat gesagt, die toten Menschen kommen in den Himmel.» Wer bin ich schon, dass ich es wagen könnte, gegen solche Koryphäen anzustinken? Ich sage erst mal gar nichts mehr. Aber dadurch schaffe ich mir das leidige Thema nicht vom Hals. «Bloß kommt da nicht jeder rein, hat Klaasi gesagt. Man muss vorher ziemlich nett sein, sonst ist es futsch mit dem Himmel.» «Na, dann kannst du dich ja schon mal mit dem Nettsein anstrengen. Wie war's, wenn du mich jetzt weiterlesen lassen würdest?» «Hmmhm. Gleich. Können wir auch mal auf eine Beerdigung?»
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«Warum das denn?» «Ich will mal sehen, wie das ist, wenn die in den Himmel kommen oder nicht. Bei Opi war ich noch so klein, das weiß ich nicht mehr, wie das war.» «Das kann man nicht sehen. Deshalb weiß ja auch keiner so genau darüber Bescheid.» «Doch, Klaasi schon.» «Na ja. Außerdem sind Beerdigungen immer eine ziemlich traurige Sache, weil man sich dann von den toten Menschen verabschieden muss. Die sind dann ja für immer weg.» «Und warum hat dann Tante Mia neulich gesagt, ihr hättet bei Urjohannas Begräbnis so schrecklich gelacht?» «Wo hast du das denn wieder aufgeschnappt?» «Neulich, als Tante Mia da war. Da habt ihr davon geredet. Was war denn da, Mama? Warum habt ihr da gelacht?» «Ach, das war schon verrückt. Weißt du, deine Kusine Alexa war damals ungefähr so alt wie du jetzt und durfte mit in die Kapelle. Und während der Pfarrer redete und alles ganz feierlich war, hat sie dauernd Tante Mia am Ärmel gezupft und gefragt: ‹Was ist denn da vorn in der Schatzkiste?› Und da mussten wir gleichzeitig lachen und heulen.» «Wieso? Was war denn in der Schatzkiste?» «Na, die Urjohanna natürlich.» «Was? Habt ihr die mit ihrem ganzen Schmuck da reingetan?»
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«Ich will nicht schon wieder nach Italien!» Florian starrt wütend auf sein Leberwurstbrot, bevor er heftig hineinbeißt. «Und warum nicht?» Ich hole tief Luft. «Bloß weil ihr da die Hütte gekauft habt, müssen wir immer da hinfahren. Ich will auch «Bloß weil ihr da die Hütte mal woanders Ferien machen!» gekauft habt, müssen wir da «Das sind ja schöne Sprüche!», immer hin. Ich will auch mal ereifert sich der Vater. «Als wir so woanders Ferien machen.» alt waren wie ihr -» «- jaja, da wusstet ihr wahrscheinlich noch nicht mal, wo Italien liegt!», beendet Johannes den Satz und grinst. «Nö, das nun nicht. Aber die Leute fuhren nicht hin. Jedenfalls die meisten nicht.» Ich angele mir eine Scheibe aus dem Korb. «Die fuhren eben woanders hin, na und?» «Irrtum, mein Lieber! Es wurde zu Hause geblieben.» «Was? Die ganzen Ferien? Immer zu Hause?» «So ist es. Die ganzen langen sechs Ferienwochen immer zu Hause.» «Aber das waren doch gar keine richtigen Ferien!» «Doch. Erst mal war keine Schule. Das ist ja die Hauptsache an Ferien, oder?»
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«Schon. Aber dann, ich meine, was habt ihr ohne Schule den ganzen Tag gemacht?» «Wenn gutes Wetter war, sind wir ins Schwimmbad gegangen.» «Jeden Tag?» «Jeden Tag.» «In das popelige Freibad? Wo es keine Rutsche gibt und nur einen Dreier?» «Genau in dieses popelige Bad. Wir fanden es toll.» «Und wenn schlechtes Wetter war?» Ich schaue meinen Liebsten an und grinse. Er grinst zurück. «Irgendwie habe ich da so eine einseitige Erinnerung. In diesen Feriensommern war immer gutes Wetter, höchstens mal ein Gewitter.» -99-
Johannes seufzt. «Das ist eher euer schlechtes Gedächtnis. Aber gut, was habt ihr gemacht, wenn ihr nicht ins Schwimmbad seid?» Ich zucke die Achseln. «In die Leihbibliothek gegangen. Oder uns bei Freunden getroffen und Theater gespielt. Oder bei Franzens Tischtennis gespielt, die hatten in der Garage eine Platte aufgestellt, und deshalb durfte das Auto nicht mehr rein.» «Und du?» Florian wendet sich seinem Vater zu. «Och, in unserem Dorf gab's kein Schwimmbad. Da musste man erst nach Kassel fahren, das war aber teuer. Ich habe mit meinen Kumpels Frösche gezüchtet und Baumhäuser gebaut.» «Und?» «Was und?» «Na, was habt ihr sonst noch gemacht?» «Das war's eigentlich. Damit waren wir die ganze Zeit beschäftigt. Gelangweilt haben wir uns jedenfalls kaum, also nicht, dass ich mich daran erinnern könnte.» «Selektive Wahrnehmung, klarer Fall. An das schlechte Wetter und an die Langeweile wollt ihr euch eben einfach nicht mehr erinnern, damit ihr eure Kinder ärgern könnt.» Johannes überlegt. «Also, ich kann mir Ferien ohne Verreisen gar nicht vorstellen.» «Ich auch nicht!» Florian schiebt das nächste Leberwurstbrot ein. «Alles besser, als hier rumzuhängen, wenn alle ändern Kinder weg sind.» «Auch wenn es nur nach Italien geht?» Der Vater versteckt sein Gesicht hinter der Serviette. Johannes schaut nachdenklich in sein leeres Glas. «Immerhin ist es dort auch immer warm. Wenigstens hab ich so mal später Erinnerungen, die glaubwürdiger sind als eure. Wenn meine Kinder mich fragen, dann stimmt das mit den warmen Sommern wirklich.» -100-
Moment mal, da ist jemand an der Haustür, he, es hat geklingelt, geht doch mal eben jemand aufmachen, ich hab die Hände voller Teig! Flo! Es hat GEKLINGELT. Wer ist denn da? Nein, ich weiß nicht, wann Johannes aus der Schule kommt. Herrgott, weil ich es nicht weiß! Soll ich vielleicht alle eure Stundenpläne auswendig im Kopf haben?! Schau doch selbst am Pinnbrett. Na also, dann sag Basti, er soll um fünf nochmal wiederkommen, dann müsste Johnnie da sein. Vorsicht, Rose, nein, den Teig kann man nicht essen. Weil es Hefeteig ist, darum. Der schmeckt nicht roh, und außerdem ist das ungesund. Ich habe gesagt, den Teig kann man nicht essen. Also gut, probier und verdirb dir den Magen, ist mir doch egal. Er schmeckt? Na, wunderbar. NEIN, DU KRIEGST TROTZDEM KEINEN MEHR. Flo, komm bitte und hol deine Schwester aus der Küche, sonst krieg ich die Pizza nie in den Ofen. Was für eine? Na, eine normale mit Tomaten und Pilzen. Ja, auch Salami. NEIN, SCHINKEN NICHT. Warum? Weil ich keinen hier habe. Na gut, dann kauf eben noch welchen, nimm Rose mit und bring auch noch Milch und Brot mit. Was weiß ich, wo das Portemonnaie liegt. Wahrscheinlich im Flur auf der Kommode. Nicht? Na dann auf dem Regal im Esszimmer. Auch nicht? Komisch. Oder war von euch wieder jemand dran und hat sich heimlich bedient? -101-
Na entschuldige, ich hab ja wohl meine Erfahrungen mit euch, es wäre «Bist du von allen guten ja nicht das erste Mal, oder? Geistern verlassen? Du Vielleicht ist es vor dem Spiegel im kannst doch Herrn Schlafzimmer? Nee? Wann hatte ich Sukowski nicht sagen, dass es denn das letzte Mal? Heute ich auf dem Klo sitze!» morgen, als das Paket kam. Das habe ich hoch in mein Arbeitszimmer gebracht. Schau doch mal, ob es beim Paket liegt, ich bin ja nicht zum Auspacken gekommen, weil Anke kam und das Fernsehprogramm wollte. Natürlich hat sie eins. Eigentlich. Aber das von dieser Woche hat die Katze gefressen oder sonst was damit gemacht. Jedenfalls hat sie unseres. Erinnerst du mich bitte dran, wenn wir es heute Abend suchen. Gut, war's also da. Dann nimm dir zehn Mark raus. Na schön, dann eben den Zwanziger. Nein, nicht zwei Brote. Dann wird bloß eins wieder hart und die hohen Herrschaften haben alle diese empfindlichen Zähne und keiner isst es außer mir. Nein danke! Eins reicht. Du sollst Röschen mitnehmen. Verdammt, der Teig will nicht. Nein, ich habe für mich geflucht, nicht über dich. Wieso seid ihr noch nicht los? Nun geht schon, ich geh selber ans Telefon. Scheiße. BENNIE! BENNIE! Stell das Gespräch runter! Wieso stellst du das Gespräch nicht runter? Nicht, nicht in Papas Büro, du Dämel, ich bin hier im Esszimmer. Nein, lass nur, ich geh runter. Schiet, es ist aufgelegt. Na, wenn es wichtig war, dann meldet der sich wieder. Bennie, ich geh jetzt aufs Klo. Wenn es klingelt, Tür oder Telefon, musst du ran, klar? Sag mal, Bennie, bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch Herrn Sukowski nicht sagen, dass ich auf dem -102-
Klo sitze. Ja, natürlich war es wahr, aber das erzählt man doch nicht wildfremden Menschen. Nein, auch keinen Nachbarn! Na, weil sich das nicht gehört. Junge, du klaust mir den letzten Nerv. Also, das nächste Mal sagst du: Einen Moment bitte, meine Mutter kommt gleich. Und bittest Herrn Sukowski rein. Nein, natürlich nicht nur Herrn Sukowski. Alle, die grade was von uns wollen, nur die Zeugen Jehovas nicht. Warum? Weil die mir noch mehr Nerven klauen als du. Nein, die sind nicht im dritten Schuljahr, das sind erwachsene Leute. Die wollen andere zu ihrem Glauben bekehren. Wieso fragst du mich das, habt ihr nicht Religion in der Schule? Bringen die euch denn gar nichts bei? Was? Alle Vögel sind schon da? Nein, mein Schätzchen, im Moment möchte ich es nicht so gern hören, später, ja? Toll, was du alles kannst, ja. Machst du bitte Flo die Tür auf, wenn er kommt? Ich geh eben ans Telefon. Hallo Alex. Was? Welche Bescheinigung? Nein, ich hab nichts unterschrieben. Für BAföG? Ja, musst du das denn nicht längst beantragt haben? Wieso verschwitzt? Sag mal, wozu habt ihr eigentlich Abitur, wenn ihr nicht mal die einfachsten Sachen auf die Reihe kriegt? Nein, ich will jetzt KEINE Grundsatzdebatte über den Zweck und Nutzen des Abiturs. Wo hast du mir den Zettel hingelegt? Aufs Fernsehprogramm? Schöner Platz! Ach, du lieber Himmel! Das hat ja Anke. Wo ist denn da der Zettel hingeraten, Moment, bleib mal dran, ich gucke. Ja, Flo, stell das da hin. Nein, die Pizza ist noch nicht im Ofen, du kriegst deinen Schinken noch drauf. Was? Ich suche eine Bescheinigung von Alexander. Die hat vorhin auf dem Fernsehprogramm gelegen, aber als ich es Anke gegeben habe, war da nix mehr. Alex? Ich ruf dich nachher zurück, ich muss den Wisch erst -103-
noch suchen. Was heißt hier «meine Ordnung»? Mach du es doch mal besser, später mit deinen Kindern. Nein, ich bin nicht beleidigt, ich bin stocksauer. Jawohl.
Benni, sag mal, wo willst du hin? OHNE JACKE? Bei dem Wetter? Also entweder du ziehst dir was an, oder du bleibst drin. Das ist mir egal, du heißt eben NICHT Boris Becker. Wieso bin ich da schuld dran? Sei doch froh, Mensch, dass es einen Benni gibt, du Trottel. Hallo, Johnnie. Basti war da. Weiß ich doch nicht, was der gewollt hat. Gut, aber mach schnell. Rose, geh vom Teig weg, den brauchen wir als Pizza. Geh spielen, bis ich das Blech im Ofen hab. Dann komm ich hoch und wir räumen euer Zimmer auf. Natürlich muss das wieder mal aufgeräumt werden, wie war's, wenn Bennie und du schon mal damit anfangen würdet? Also, mir macht das auch keinen Spaß. Wie bitte? Du räumst mein -104-
Zimmer auf und ich deins? Nein danke, kleine Dame, das war schlau, aber wir bleiben bei der ersten Regelung: Rauf jetzt, und schon mal angefangen. Sag mal, Bennie, hast du heute hier so einen Zettel rumflattern sehen? Irgendwas Gedrucktes, von Alex, so'n Behördenkram. Dann schau doch mal in den Papierkorb. Ja? Toll. Was? Draufgemalt? Wer denn? Röschen, dass du aber auch alles voll kritzeln musst. Oder findest du die Kratzer hier am Schrank schön? NEIN, ICH NICHT. Gut. Nein, Johnnie, es wird jetzt nicht ferngesehen. Weil ich will, dass oben aufgeräumt wird. Wieso autoritär? Habt ihr das heute in der Schule gehabt? Egal, ich bestimme jetzt ganz demokratisch, dass aufgeräumt wird. Nein, geh weg, jetzt telefoniere ich. Hallo, Alex? Ach Thorben, guten Tag. Kannst du mir mal bitte meinen Sohn geben? Wieso ist der nicht da? Ihr seid ja mal eine WG. Nie wisst ihr, wo der andere ist. Kannst du ihm bitte einen Zettel hinlegen, dass wir seinen gefunden haben. Was? Seinen Zettel. Nein, du sollst das auf deinen schreiben. Entschuldige, auch wenn du mich jetzt für völlig verkalkt hältst: Bitte sag ihm auf einem Zettel, dass sein Zettel wieder da ist. Ja? O. k. Danke. Tschüs. So was. Ist der Bengel einfach weg und lässt mich hier suchen. Nein. Hab ich doch eben schon gesagt: Fernsehen ist out. Schau dir halt ein Buch an oder Löcher in die Luft oder mach Hausaufgaben. Wo das Programm ist? Weiß ich nicht. Frag doch Flo. Was soll ich? Du, bleib sachlich, ja. Ich hatte das Programm? Wie werd ich denn. Ich bin doch die hier, die nie zum Gucken kommt. Wozu brauch ich dann ein Programm. Flo? Ach so, ja, das stimmt. Anke hat es sich vorhin geborgt. Nein, du gehst nicht rüber, ich brauch dich hier. Röschen, du sollst keinen Teig fressen. Danke für die freundliche Hilfe: Also, Röschen, du sollst -105-
keinen Teig essen, dein Bruder hat es lieber vornehm. Ich bin überhaupt nicht gereizt. Ich will endlich die Pizza in den Ofen schieben und die Kinderzimmer oben sehen aus wie Sau, auch deins, junger Mann. Das ist mir egal, dann lass die Kleinen eben nicht rein. Nun geh schon an die Tür, ich hab die Hände voll. Ach Alex, du kommst in eigener Person? Nett. Ja, du kannst mitessen, ich hoffe, es reicht dann auch noch für die ändern. Nimm das Röschen jetzt mit nach oben, Johnnie, und fang schon mal an mit Aufräumen. Dann eben nicht, aber NIMM SIE MIT. So, ich hab deinen Wisch gefunden. Hier. Wo soll ich unterschreiben? Papa kommt erst heute Abend. Weiß ich nicht genau. Was ist das dort oben für ein Krach? HÖRT SOFORT AUF! MIT ALLEM! Nein, nicht mit Aufräumen, ich meine mit Zanken. Alex, geh du doch mal hoch und besänftige sie. Sei ein lieber großer Bruder. Nein, lass nur, ich geh schon ran. Ja, guten Tag. Nein, mein Mann ist nicht zu Hause. Bitte rufen Sie ihn doch in der Praxis an. Dann sprechen Sie es einfach auf den Anrufbeantworter. Nein, ich weiß nicht, wann er nach Hause kommt. Also gut, dann geben Sie mir Ihre Nummer, bis wann soll er Sie zurückrufen? Bis ZWÖLF? Na gut, ich hab's notiert. Auf Wiedersehen. Manche Leute sind ganz schön dreist. Darf man denn überhaupt kein Privatleben mehr haben? FLO! FLO! FLORIAAAN! Warum kommst du nicht? Walkman? Ich schmeiß die Dinger nochmal ins Feuer. Flo, du gehst eben zu Anke und holst das verdammte Programm. Nein, JETZT. SOFORT. Ja, hallo? Ach, Insa. Welche Klavierstunde? Ach ja? Gut, dann müssen wir sie eben verschieben. Wart mal, ich geh mal -106-
mit dem Telefon zum Pinnbrett. Nee, Montag geht nicht, da hat Benni Fußball. Und Dienstag hat Johnnie Judo. Gut, nehmen wir den Mittwoch, war ja sowieso mein einziger freier Nachmittag. Nein, nein. Ist schon o. k., das war nur eine Prise Galgenhumor. Nein, Freitag geht überhaupt nicht, da sind zwei zu einem Kindergeburtstag. Gut, also ich mach einen Zettel übers Klavier: statt Donnerstag diesmal Mittwoch. Das sehen sie ja dann, wenn sie üben, aber ich werd's schon nicht vergessen. Tschüs und viel Spaß bei dem Workshop. Was ist denn da oben los? Wer ermordet wen? Also was ist hier? Das soll aufgeräumt sein? Das ist ja wohl ein Witz, und zwar ein schlechter. Wo ist Johnnie, der sollte sich doch ein bisschen kümmern. So, Hausaufgaben? Da lachen ja die Hühner, die will ich aber nachher sehn. Nein, nicht die Hühner. Diese so genannten Hausaufgaben. Wieso misstrauisch? Das ist klug durch Erfahrung, mein Lieber, weiter nix. So, Benni, du machst die Puzzles, Röschen räumt die Minicars weg. Wieso? Weil ich es sage. Warum nicht? Auch wenn du NICHT damit gespielt hast. Benni hat auch nicht alle Puzzles ausgeräumt. Verdammt, gibt denn dieses blöde Telefon nie Ruhe! Nein, ich geh ran. Stell es mir nicht hoch, ich komme runter! Wieso hast du es denn hochgestellt? Ich hab doch... na, egal, ich hör dich. Hallo Liebster! Armer Schatz, so schlimm? Nee, hier ist alles paletti. Nö, wie immer. Irgendeine Klientin hat angerufen, wart mal, hier ist ihre Nummer. Hab ich doch, aber sie hatte was gegen Anrufbeantworter. Später? Wie spät? Ach. Ja, natürlich sind dann die Kinder im Bett. Ja, ich gebe ihnen einen Gute-Nacht-Kuss von dir. Was? Ich soll mir die Zeit nicht lang werden lassen, bis du kommst? Keine Angst. Da geben sich eine Reihe Leute so viel Mühe, mir die Langeweile -107-
zu vertreiben. Nein, ich bin nicht sarkastisch. Ja, ich dich auch. Bis dann. WENN'S DA OBEN NICHT SOFORT LEISER IST, fahre ich nach Frankfurt zu meiner Freundin und nehme alle eure Lieblingsvideos mit!
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Da meinen wir Großen in unserem erwachsenen Unverstand, dass wir wüssten, was Logik ist. Klar doch: die Fähigkeit des folgerichtigen Denkens. Aber Kinder setzen uns diesbezüglich oft auf den Topf: Sie wissen nämlich noch viel besser, was logisch ist. Da gibt es zum Beispiel die politisch korrekten Großen, die aber an der korrekteren Logik der Kinder scheitern: Der Vater sitzt mit dem sechsjährigen Sohn und der dreijährigen Tochter in der Wanne und alle platschen fröhlich rum. Da schlägt Benjamin vor: «Ich spiele Wer kennt nicht die jetzt mit Rose Mutter und Kind.» mitleidigen Blicke Darauf der fortschrittliche Vater: «Und seines Kindes, wenn die warum nicht Vater und Kind?» Mutter mal wieder Bennie klärt ihn geduldig auf: «Das geht nichts kapiert hat? doch nicht. Rose ist die Mutter und ich bin das Kind.» Wer kennt nicht die mitleidigen Blicke seines Kindes, wenn die Mutter mal wieder nichts kapiert hat? Nachdem Benni zum ersten Mal bei seinem Freund übernachtet hatte, konstatiert der Vater beim Abendessen: n n A «Also, jetzt hast du also zum ersten Mal aushäusig geschlafen.» «Neee», sagt Bennie mit solch einem Ichweißjaduweißtesnichtbesser-Blick. «Inhäusig. Ist doch Winter.» -109-
Dann gibt es auch noch so etwas wie die Logik der Bedürfnisse: Das heißt, wenn man einen Grund finden will, wird man auch fündig. Flo überlegt, ob er mit dem Judo aufhören will. Ich frage ihn, was an dem Training denn so unangenehm ist. «Das musst du verstehen, Nina, wir üben am Freitag, das ist ausgerechnet am Wochenende.»
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«Aber im nächsten Jahr hast du doch eine andere Trainingszeit! » «Jahaa. Dann ist es am Dienstag. Nee, du, das ist schlecht. Das ist ja mitten in der Woche!» Und dann gibt es noch die Rivalitätslogik, die machen die Kinder aber untereinander aus. Benni möchte seine Spaghettis von mir kleingeschnitten bekommen. Flo erklärt stolz: «Ich schneid nicht, ich roll.» Benni: «Rollen find ich blöd.» Daraufhin Flo ziemlich verächtlich: «Wie findsten was blöd, was du gar nicht kannst?» Und schließlich gibt es manchmal eine kindliche Logik, da wird es mir warm ums Herz - wenn nämlich zum Beispiel der Zehnjährige nach einem Fernsehfilm behauptet: «Na, das war aber ein ganz frauenfeindlicher Film!» Ich bin verblüfft. «Aber da spielten doch überhaupt keine Frauen mit!» «Eben.»
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Mit dem Elternsein ist es so und dann auch wieder ganz anders. Gewissermaßen beides zugleich. Also ziemlich kompliziert. Aber so ist es eben. Einerseits will man ja, dass die lieben Kleinen liebe Große werden. Angesichts und angeruchs der Windelhaufen sehnt man die Zeit herbei, wo der rosa Wonneproppen seine dringenden Bedürfnisse eines Tages selbst erledigen wird - nur liegt er dann in seiner ganzen umwerfenden Niedlichkeit nicht mehr vor uns und Mit dem Elternsein ist es wir können den Winzling auch nicht so und dann auch wieder ganz anders. mehr so nach Herzenslust knuddeln. Gewissermaßen beides «Lass mich ma», sagt unser zugleich. Sonnenschein und trollt sich und bestimmt jetzt selbst, wann er wie viel an elterlicher Zärtlichkeit noch entgegenzunehmen bereit ist. Seufz. Dann sind da die grässlichen Zeiten, wo ein durch ein Übermaß an Hausaufgaben verstörtes Kind letzte Zuflucht bei den Eltern sucht: «Könnt ihr mir mal bitte den Dreisatz erklären?» Eigentlich wollten wir den neuen Roman weiterlesen, aber selbstverständlich sind wir zur Stelle und erklären, bis wir den blöden Dreisatz auch selber wieder auf der Pfanne haben. Gleichzeitig sehnen wir die Zeit herbei, wo die Kinder ihre Fragen bezüglich des Schulstoffs nur noch mit den
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diesbezüglichen Lehrpersonen klären und wir aus dem Schneider sind und doch schmerzt der gönnerhafte Ton, wenn das Kind freundlich abwinkt und erklärt: «Nee, lass mal, das verstehst du nicht. Wir sind da heute weiter als ihr damals.» Wir wünschen uns die mündigen jungen Staatsbürger mit der eigenen Meinung, aber manchmal ist das gar nicht so einfach. Viele Familienmitglieder bedeuten auch viele verschiedene Meinungen. Der Vater ist wütend, weil die Kinderschar die Essensplanung am Wochenende torpediert: «Das ist immer derselbe Mist in dieser Familie - nie könnt ihr euch darauf einigen, was ihr essen wollt. Einer ist immer dagegen!» «Nee», sagt die Jüngste. «Nicht immer. Aber immer öfter.» -113-
Kinder wissen meist sehr genau, dass die Erwachsenen zwar an Zentimetern größer, ihre Seelen aber um vieles zarter sind und deshalb eines besonders schonenden und pfleglichen Umgangs bedürfen. Deshalb lernen sie rasch, unangenehme Wahrheiten mit verschiedenen abschwächenden Techniken zu präsentieren, wie zum Beispiel die des Rückgriffs auf Familienklatsch. «Duuu, du findest doch auch schon immer, dass Tante Inge einen doofen Geschmack hat, nä?» Die leicht verdutzte Mutter «Duuu, du findest doch auch antwortet dann möglicherweise: schon immer, dass Tante Inge «Na ja, sagen wir mal so - Tante einen doofen Geschmack hat, Inges Geschmack und meiner nä?» unterscheiden sich voneinander.» (Schließlich will ich ja nicht, dass meine Verurteilung von Tante Inges Hang zum Gelsenkirchener Barock mir vom eigenen Sprössling später auf einer großen Familienfeier mal grinsend vor aller Ohren vorgehalten wird nach dem Muster: «Ihr habt aber neulich auch gesagt, dass Onkel Herbert zu dick geworden ist!») Doch Johannes gibt sich mit dieser höchst diplomatischen
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mütterlichen Antwort nicht zufrieden und hakt nach: «Du hast dich aber über die Vase von Tante Inge zu deinem Geburtstag nicht so doll gefreut, oder?» Das ist eine Falle! Ich muss jetzt ehrlich antworten, aber ich darf mich nicht kompromittieren. Ich hole tief Luft: -115-
«Aaaalso, sagen wir mal so: Tante Inge bevorzugt einen anderen Stil, und deshalb passen Dinge, die sie schön findet, nicht unbedingt in unsere Wohnung.» Puh. Das habe ich doch ganz gut hingekriegt. Johannes stößt ebenfalls erleichtert die Luft aus. «Na, dann ist es ja nicht so schlimm.» «Was ist nicht so schlimm?» «Na, dass ich Tante Inges Vase zerdeppert hab. «Er blinzelt ein bisschen. «Man könnte sagen, ich hab dir einen Gefallen getan.» «Wie meinst du denn das?» Ich bin perplex und außerdem auch nicht ganz damit einverstanden, wie ich nachträglich zur Komplizin beim achtlosen Umgang mit Porzellan gemacht werde. Johannes grinst. «Ein störendes Element ist verschwunden. Und du -», er kichert, «- du hast jetzt einen Grund, dir eine neue zu kaufen. Eine ganz nach deinem Geschmack.» «Irrtum.» Ich verkneife mir das Lachen. «Du musst den Schaden ersetzen. Wenn du was kaputtmachst, dann musst du das wieder gutmachen.» «Hm», meint er und verzieht grübelnd das Gesicht. «Aber ob ich so eine Vase wie die von Tante Inge auch finde? Wo könnte es die wohl geben?»
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Ein gut funktionierender eigener Körper wird ja meistens erst dann zum Thema, wenn er nicht mehr so einwandfrei arbeitet und den Dienst irgendwo verweigert. Dass das auch verzögerte Reaktionen zur Folge haben kann, wird deutlich, als Rose beim Mittagessen erzählt: «Ich hab in der Schule erzählt, dass ich an den Ohren operiert werde. Da sind alle erschrocken. Ich bin auch erschrocken.» Eben noch hat sie sich als was Besonderes Aber natürlich ist die gefühlt, und auf einmal ist sie das Objekt Verlockung groß, gemeinschaftlichen Mitleids - fürwahr ein eine Art sekundären erschreckendes Erlebnis. Krankheitsgewinn Insgesamt nimmt sie ihre kleinen Malaisen aus den Wehwehchen mit stoischem Gleichmut hin, aber natürlich zu schlagen. ist die Versuchung groß, eine Art sekundären Krankheitsgewinn aus den Wehwehchen zu schlagen. Das führt dann zu Dialogen folgender Art, wenn das Kind nach einer Woche Krankenlager zwar wieder in die Schule, aber auf gebührendes Mitgefühl noch nicht verzichten will: «Und du meinst wirklich, dass du schon wieder mitturnen kannst?», frage ich. «Na klar.»
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«Und du bist auch gar nicht mehr krank?» «Na ja, manchmal ist mir schwindelig und ich hab Kopfschmerzen und manchmal ist mir schlecht und ich muss ein bisschen kotzen - aber sonst bin ich total fit!» Mit leichtem Widerstreben lasse ich dann solch einen Ausbund an Tapferkeit zur Schule und den just an diesem Tag damit verbundenen Leibesübungen ziehen und vergewissere mich den ganzen -118-
Vormittag über, dass ich im Falle eines Anrufs aus der Schule auch gleich am Apparat bin. Es kommt kein Anruf, aber pünktlich nach der sechsten Stunde kommt das Kind. «Na, wie war's?» «Toll.» «Und wie fühlst du dich?» «Prima.» «Du bist also wieder ganz gesund?» «Na ja, also manchmal tut mir der Kopfweh und kodderig ist mir auch, aber sonst geht es mir echt klasse. Bloß Schulaufgaben kann ich eigentlich noch nicht wieder machen. Dazu bin ich noch zu elend.»
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Der etwas andere Blick von unten nach oben ist manchmal wenig schmeichelhaft, manchmal verblüffend oder komisch, aber immer wieder bietet er Anlass zum Sinnieren. Der nachlässige oder verwirrende Umgang mit Zahlen beruht sicherlich zum Teil auf schierer Unkenntnis ihrer Gesetze, aber manchmal schwingt bei dem ziemlich willkürlichen Umgang mit Zeit, Raum, Größe und Superlativen auch eine etwas seltsam anmutende Weltsicht mit, die erst mal bedacht werden will. Da möchte Benjamin zum Beispiel was ganz Liebes sagen und schaut strahlend zu seiner Mutter auf: «Ninchen, du bist eigentlich ziemlich groß für dein Alter, ha?» Und als er mein «Klar, man ist ja immer so verdattertes Gesicht sieht, setzt er alt, wie man sich fühlt. Na, noch einen drauf: «So eins vierzig dann bist du sicher schon oder so, nech?» eine Million!» Oder Johannes hat mal wieder schlechte Nachrichten aus der Schule mitgebracht: «Also, bald gibt's 'ne Eiszeit, nämlich wenn der Golfstrom nicht mehr fließt, dann wird hier alles eiskalt.» «Na», sage ich, «und wann soll das sein? In zehntausend Jahren?» «Nee, du, das ist schon in hundert Jahren so weit.» «Na, dann brauch ich mir ja darüber wohl nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Dann bin ich längst nicht mehr da.» -120-
«Nee.» Johannes nickt. «Dann sitzt du schon längst in der Toskana.» Wenn die Söhne sich über das Äußere und das Alter der Mutter austauschen, kann man oft staunen. «Also», sagt Johannes. «Du siehst heute so jung aus, Nina, so irgendwie Jugendstil...» Sein jüngerer Bruder will ihn übertreffen und kräht: «Also ich finde, Nina sieht noch viel jünger aus, so von hinten sieht sie aus wie zwanzig. Von vorn dann eher wie vierzig.» Johannes daraufhin diplomatisch: «Na, ich würde eher dreißig sagen.» «Wenn ich aber ganz gern wie vierzig aussehe?», frage ich neugierig. «Ach so», sagt Johannes, «klar, man ist ja immer so alt, wie man sich fühlt. Na, dann bist du bestimmt schon eine Million!» Den Knüller brachte aber Rose, als sie neulich ihrer schrecklichen Taiwan-Barbiepuppe eins dieser fürchterlichen Rüschen-Glitzer-Spitzenkleider anzog, sie hochhob und mir strahlend entgegenstreckte: «Also, Nina, wenn's die Barbies schon in deinem Jahrhundert gegeben hätte, hättste auch gern mit gespielt, nä?» Tochter, ich glaube, es wird Zeit, dass du rechnen lernst. Und was macht man mit einem von einem tiefen Seufzer begleiteten Satz wie: «Du bist die liebste Mama, die ich niemals gehabt habe.» War das nun Freud oder nur ein Versprecher? Reminiszenzen der Eltern an eigene Kindheitserlebnisse lassen die Gören nicht unbedingt als Argument gelten. Die Kinder sind entrüstet: Beim Eisladen kostet die Eiskugel jetzt sechzig Pfennig statt fünfzig. Vater Hans schwelgt in Erinnerungen: «Also ich kann mich noch daran erinnern, als das Eis bloß zehn Pfennig kostete!» -121-
«Hmmm», sagt Röschen. «Und als ich ein Kind war, kostete es dreißig Pfennig.»
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