PETER SCHMIDT
DAS PRINZIP VON HELL UND DUNKEL
Science Fiction Roman Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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PETER SCHMIDT
DAS PRINZIP VON HELL UND DUNKEL
Science Fiction Roman Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4284 Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1986 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1986
Umschlagbild: Klaus Holitzka Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-31294-5
Dr. Wargas ist einer der wenigen in Mitteleuropa, die den katastrophalen Ost-West-Konflikt überlebt haben. Die meisten wurden von einem unbekannten Virus dahingerafft – vermutlich eine B-Waffe. Ein Gen-Konzern in Lyon hat den Menschen der Zukunft kreiert. Er ist nicht nur resistent gegen das Virus, sondern verfügt auch über alle Eigenschaften, die für ein friedliches Zusammenleben notwendig sind. Die Erde soll nie mehr gefährdet werden durch die Aggressivität des Homo sapiens, deshalb macht man Jagd auf die Überlebenden, auf Dr. Wargas. Doch dieser gibt nicht auf. Er geht den merkwürdigen Spuren nach, auf die er gestoßen ist. War der Gen-Konzern vielleicht nicht ganz schuldlos an dem globalen Konflikt, um durch diesen Krieg alle weiteren Kriege zu verhindern, um ihren genetisch maßgeschneiderten Menschentyp durchzusetzen, der – vielleicht – eine bessere Zukunftschance hat?
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
1 Der Doktor sah zum Schachteingang hinauf. Er führte den Zahnstocher zwischen die Zähne. Es war einer der Gegenstände, die sie ›Relikte‹ nannten und jetzt kaum noch zu finden. Wie bei den meisten Dingen des täglichen Lebens mußte man lange in den ausgeplünderten Geschäften danach suchen. Die warme Mittagssonne schob sich über den Dachfirst und schien ihm ins Gesicht. Abgehängt, dachte er zufrieden. Keine Spur von seinen Verfolgern. Er musterte die obersten Leitersprossen. Manchmal machte das Spiel ihm sogar Spaß. Alter Fuchs, du hast sie wieder einmal abgehängt. Diese Halbsynthetischen (so nannte er sie scherzhaft für sich selbst) haben nicht halb soviel Grips wie wir ›Relikte aus der Vorzeit‹. Der Schacht endete oben in einer schmalen Betonbrücke mit rostigem Geländer. Verrostet wie alles aus Eisen, das so lange Zeit ohne Anstrich überdauert hatte. Sie spannte sich zwischen den grauen Wänden eines höher gelegenen Wohnblocks. Ihr Ende war von der Straße aus sichtbar, und es gab keinen anderen Weg hinunter (keinen, den er kannte). Er würde jeden Verfolger auf der Brücke oder am Schachteinstieg entdecken. Spätestens aber, wenn er die Leiter herabstieg. Dann hatte er noch immer genügend Zeit, um durch die Seitenstraßen zu verschwinden, wo es zahllose aufgebrochene Läden und Warenhäuser gab, ein Labyrinth, in dem sie ihn niemals finden würden. Niemals…
Trotzdem war es sicherer, noch eine Weile abzuwarten. Außerdem übertrieb er. Ihre Intelligenz unterschied sich nicht von der früherer Generationen; eher im Gegenteil. Sie kontrollierten die Stadtruinen in Dreiergruppen, und manchmal kehrten sie unerwartet zurück und nahmen einen in die Zange. Wargas setzte sich auf eine Mülltonne an der Häuserwand und betrachtete seine gedrungene, kurzbeinige Gestalt in der zerbrochenen Schaufensterscheibe. Dies hier war einmal die lichtumstrahlte Fassade eines Supermarktes gewesen: jetzt sproß aus den Wandritzen gelbes Gras, und durch die leeren Fensteröffnungen pfiff der Wind. Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß. Sie hatten ihn morgens in den Ruinen der Ruhr-Universität aufgestöbert, wo er sich gerade über die wissenschaftliche Videothek hermachte, und dann treppauf, treppab gejagt, wie schon so oft. Dabei verlor er mindestens zwei Kilo. Nicht nur aus Angst, sondern weil sie zäh und ausdauernd waren, trainiert bis in jede Muskelfaser, obwohl sie mit ihren gewöhnlichen grauen Straßenanzügen, den altmodischen Hüten oder blauen Schirmmützen wenig sportlich wirkten. Eher wie alternde Agenten aus der Vorzeit; was daran lag, daß sie meist die Erfahreneren, die alten gewieften Hasen für die Jagd in den gesperrten Bezirken einsetzten. Sonnenlicht fiel durch eine eingebrochene Decke ins Innere des Ladens, als das Gewölk wieder aufriß, und brachte ihn und das Bild der gegenüberliegenden Straßenzeile zum Verschwinden. Eine graue Fassadenreihe mit Wohnungen, die sehr abgewohnt und wie vieles in dieser zusammengewachsenen Industriemetropolis schon nach dem zweiten Kriege erbaut worden waren: einförmige Hauswände, verschmutzt von der Patina der Abgase, mit ebenso einförmigen Fenstern, in denen jetzt nur noch vereinzelte, zerrissene Gardinen hingen. Fensteröffnungen wie
tote Augen – wie leere Blicke, die der Vergangenheit nachtrauerten. Wargas Gedanken kehrten zu seiner Gestalt in der Schaufensterscheibe zurück, dem untersetzten Mann auf der Mülltonne, der plötzlich wieder erschien, als sich Wolken vor die Sonne schoben. Obwohl er dreiundfünfzig Jahre alt war und einen deutlichen Bauchansatz besaß, fühlte er sich ihnen körperlich noch immer gewachsen; er benötigte nicht einmal eine Brille. Er hatte viel an Übergewicht verloren, seit er sich vor ihnen auf der Flucht befand, und wenn ihm nicht gerade wieder einmal die Silberoxidbatterien ausgingen (er fand jetzt nur noch überlagerte Batterien, wenn er die Bestände der Geschäfte durchstöberte), fühlte er sich sogar wohler als zur alten Zeit, bevor hier alles durch einen Abkömmling der Meningokokken vor die Hunde gegangen war. Damals, geraume Zeit, bevor er sich ganz seinem Lieblingsgebiet, der Neurochirurgie am örtlichen Krankenhaus gewidmet hatte, er betrieb noch eine gutgehende Praxis, war ihm im täglichen Umgang mit seinen Patienten immer deutlicher geworden, wie wenig sich mit seiner ärztlichen Kunst ausrichten ließ, wenn man keine stärkeren Mittel gegen den chemischen Schmerz einsetzte als jene, die ihnen gewöhnlich auf Rezept zur Verfügung standen. Er tastete nach dem kleinen silbernen Gefühlsabschalter im Schädelknochen über seinem rechten Ohr. Es war ein kaum acht Millimeter dicker Stift, der gerade so weit herausragte, daß man seinen Schalter mit den Fingerspitzen bequem drehen konnte; seine Kappe war geriffelt. »Optisch garantiert nicht störend«, hatte es auf den Reklameplakaten geheißen (manchmal stieß er an den Anschlagsäulen noch auf solche Plakate). Vorausgesetzt, man besaß genügend Haare über den Ohren.
Wenn er die passende Silberoxidbatterie fand, ließ es sich auch für einen der alten Generation aushalten, weil es weniger eine Frage der Verträglichkeit als der unangenehmen Empfindungen war: der Gerüche vor allem. Man setzte der Nahrung schon seit langer Zeit chemische Neutralisatoren zu. WEDAs neuer Mensch empfand die atmosphärischen Belastungen als normal; er hätte für all das nichts weiter als ein verständnisloses Lächeln aufgebracht, nahm Doktor Wargas an. Wenn er dem, was er über die Neuen herausgefunden hatte, glauben durfte. Sie wußten nichts von der Vergangenheit, jedenfalls nicht viel. Man hielt sie sorgsam vor ihnen geheim. Für Wargas war das Ding eine Notwendigkeit; er würde sich nie an den Gestank gewöhnen können, nicht in hundert Jahren, davon war er überzeugt. Und er hätte diese Ruinenstadt sogar verlassen und sich ins freie Land gewagt, wo sie ihre neuen Gartenstädte, ihre ›Blumenorte‹ bauten, um irgend jemandem aus der alten Generation, dessen Leiche er aufstöberte oder ausgrub, seinen Apparat aus dem Schädel zu operieren, wenn es darauf ankam. Schon im Jahre achtzehn war es nur eine Erleichterung für die Besserverdienenden gewesen, das sogenannte gemeine Volk hatte sich den Luxus eines Gefühlsabschalters nie leisten können, vorausgesetzt, es wollte nicht für viele Jahre auf Dinge des täglichen Gebrauchs verzichten, von Luxusgütern ganz zu schweigen. Allerdings hatten kurz vor dem Dritten Weltkrieg einige Leasing-Firmen damit begonnen, gegen langfristige Verträge Geräte zu vermieten; zu horrenden Mietgebühren, versteht sich. Selbst die Kommunisten waren schließlich auf den Geschmack gekommen: nach anfänglicher Skepsis, und sie hatten ihre wertvollen Devisen für den Kauf der neuen Technologie geopfert, denn es war ein Ausweg, und es schien ihnen sogar der einzig gangbare Weg, die Fehler der Planerfüllung zu überspielen, ohne sofort eine Subkultur abhängig machender
Tranquilizer und bewußtseinsaufhellender Drogen zu riskieren, wie in den westlichen Großstädten. Anfangs hatte es Schwierigkeiten mit den feinen Silberdrähten gegeben, die vom Bereich des Ohrknochens in das limbische System, den Sitz der Emotionen, und von dort weiter in die höheren Zentren des Kortex führten, weil sie bei heftigen Bewegungen rissen. Schon bei der zweiten Generation gab es diese Schwierigkeiten nicht mehr, von der Energiequelle abgesehen, auf die solche Geräte immer angewiesen sein würden. Sie erzeugten auch keine Apathie oder Müdigkeit wie die Vorgängermodelle. Das alles hatte man längst mit Bravour aus der Welt geschafft – ebenso, wie sich ihre Erfinder samt ihrer revolutionären Entdeckung gegen alle unangenehmen Einflüsse der Zivilisation schließlich aus der Welt geschafft hatten. Alter Spötter, dachte er. Du solltest dich hier nicht über die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit lustig machen. (Es war eine üble Angewohnheit und während der langen einsamen Abende in den verlassenen Häusern der Riesenstadt sein einziger Zeitvertreib; er kannte die Filme der Videotheken jetzt auswendig; außerdem gab es kaum noch brauchbare Zwölf-Volt-Batterien). P-Meningokokkus – eine in der DNS vom natürlichen Bakterienstamm weiterentwickelte Art –, sie besaß damals für die Strategen der bakteriologischen Kriegsführung den unschätzbaren Vorteil, durch eine Synthese aus Pneumokokken und Meningokokken Gehirnhaut- und Lungenentzündung gleichzeitig zu übertragen (eine Super-Super-Infektion) – »P-Meningokkos«, wie er ihn fast liebevoll nannte, hatte nicht mehr als einige wenige Resistente übriggelassen, und angesichts dieser neuen Spezies war es völlig unangebracht, sarkastisch zu sein. Kein Zweifel, daß man in Lyon jetzt endlich die fehlerbehaftete Phase A mit ihren lächerlichen dreiundzwanzig Klon-Typen überwunden hatte und ein ganz respektables
menschliches Wesen produzierte: harmonisch, friedlich, intelligent, kreativ – vor allen Dingen aber differenziert. Es war ihnen gelungen, durch geringfügige Veränderung der Erbmasse immer verschiedenartigere Menschentypen zu erzeugen, die in ihrer Vielfalt fast den früheren glichen. Allerdings, ohne ihre Fehler und Schwächen zu besitzen. Jeder Erzieher, jeder Lehrer oder Psychologe, jeder Politiker oder Friedensforscher der alten Zeit wäre an dem Vorsatz gescheitert, sei es durch Erziehung und Umerziehung, durch gesellschaftliche Normen oder Appelle auch nur ein halbwegs so intaktes Wesen wie das gegenwärtige zu schaffen. Erst durch einige recht simple Einsichten in den Zusammenhang von Charakteranlagen und Gen-Chirurgie (für die WEDA in Lyon noch im Jahre 2003 als erste Firma der Medizingeschichte den Nobelpreis in Biologie erhalten hatte), war es gelungen, den alten Evolutionstraum zu verwirklichen. Wargas bezweifelte keinen Moment, daß es der richtige, der einzige Weg war, eine neue Phase in der Evolution, die sich der Mittel der Technik und der modernen Medizin bediente, um das zu erreichen, was durch freien Willen, durch Einsicht, Aufklärung und Appelle nie möglich gewesen wäre. Er hatte einige Zeit gebraucht, bis er begriff, wie ungewöhnlich die Entwicklung in der Tat verlief – Wächter und Melanchton im ehemaligen Debattierklub des Krankenhauses, vor allem Melanchton, hätten ihre helle Freude daran gehabt, ihn zu widerlegen, aber sie waren tot, der eine von einer schnell verlaufenden Lungenentzündung hinweggerafft, der andere ein Opfer seiner entzündeten Gehirnhaut. Es war auch nicht ganz einfach zu verstehen, auf den ersten Blick in den Augen der Alten recht zweifelhaft wenn nicht sogar obskur: Nach all den Zwischenstufen biologischer und geistiger Art, über die tierische Existenz, über Moral und Religion (erbärmlicher Krücken, wenn man sah, was sie angerichtet hatten), schließlich
über das Zeitalter der Aufklärung, den neuzeitlichen Atheismus und die Periode liberaler Rechtsstaaten, sollte sich die Natur nun plötzlich der ärztlichen Kunst und medizinischen Technik bedienen? Gewiß war das vorausgegangene Stadium an seinen eigenen Schwächen zugrunde gegangen. Es hatte an den letzten Zielen scheitern müssen wie alle vorhergegangenen Entwicklungsstufen, weil es von Anfang an nur Durchgang war – und weil es den alten Werten nicht mehr über den Weg traute. Nach all diesen Phasen was das Unfaßliche geschehen und ein Wachstum eingeleitet worden, das den gewöhnlichen Mitteln der Mutation und Selektion niemals offengestanden hätte. Man bewegte sich auf den Trümmern der Vergangenheit, für die man nur Verachtung übrig hatte, aber sie bildeten das Fundament. Wargas interessierten die geschichtsphilosophischen Hintergründe brennend; leider gab es niemanden außer dem imaginären Partner seiner Selbstgespräche, den er von ihrer Wichtigkeit hätte überzeugen können. Er glaubte den ganzen scheinbar wirren und hilflos tastenden Evolutionsstrang plötzlich überschauen zu können. Schon das allein, diese Einsicht, rechtfertigte es, zu überleben. Er nahm an, daß WEDA in Lyon, daß die führenden Köpfe dort, die ›Eierköpfe‹, die man niemals oder nur ganz selten zu Gesicht bekam, sich über das alles im klaren waren wie er selbst. Er hoffte es. Er setzte es voraus. »Wir leben in einer uneinigen, verstörten, verwirrten Welt«, hatte es noch vor zwei Jahren geheißen; nun war sie offensichtlich auf dem besten Wege, die Fehler der Vergangenheit abzuwerfen.
2 Er ging unter den überhängenden schwarzen Armen einer Lichtreklame hindurch und im Schatten der löchrigen Markisen weiter, die vor den Schaufenstern ausgefahren waren: manche mit herabhängenden Streifen, so als habe jemand versucht, sie feinsäuberlich an den gelben, roten und weißen Farbstreifen aufzutrennen; einige ihrer Enden rollten sich vor ihm in der Bordsteinrinne. Nur wenige Schaufensterscheiben waren in der Reihe noch heil. Wie überall sah man das gewohnte Durcheinander aus aufgerissenen Kartons und verstreuten Waren: Farbeimern, billigem Spielzeug, Toilettenartikel. Quarzuhren in bunten Plastikgehäusen. Vor ihm auf dem Gehsteig stand ein Kinder-Dreirad. Es erinnerte ihn daran, daß er Vera Melanchton einige Blumen auf ihr kümmerliches Grab in den Höfen am Depot stellen würde. Kunststoffblumen, die der Wind verwehte, so, wie er alle ihre Vorgängerinnen verweht hatte. Das Depot lag am Bahnhof. Irgendwo in der Nähe würde er auch übernachten. Er wechselte ständig den Platz, weil es zu riskant war, wieder in die Wohnung zurückzukehren. Es ließen sich immer Spuren entdecken, sie brauchten nur genau hinzusehen. Eine frisch geöffnete Konservendose, Kaffeefilter, die noch feucht waren, geronnene Milch; dann die Lagerstatt, das Feuer, Ölkannen, noch warme Herde, weil es weder Gas noch Strom zum Kochen gab. Ein halb aufgerauchter Zigarettenstummel (keiner der Neuen rauchte) konnte ihn ebenso verraten wie die Petroleumlampe, deren Glühstrumpf neu aussah. Nur wenn er in die Bergwerke ging, kehrte er manchmal zurück. Dort unten in ein paar hundert Metern Tiefe kam so leicht niemand hin; man mußte die Förderkörbe durch Handkurbeln bewegen oder sich an Seilleitern hinunterlassen.
Im Winter hielten sich die Temperaturen, was je nach Tiefe das Heizen erleichterte oder überflüssig machte, und es gab genügend Lampen und immer noch taugliche Akkus, mit denen man die kleinen elektrischen Schienenautos betreiben konnte, um durch Sohlen und Strecken zu fahren und irgendwo aus einem anderen Schacht ans Tageslicht zu kommen, einem Ort, den er noch nicht kannte. Obwohl es gefährlich war, hatte er sich in einigen Häusern Depots angelegt, kleinere und größere: für Dinge des täglichen Bedarfs, Kerzen, Zündhölzer, Sicherheitsnadeln, auch Lebensmittel, die er nicht erst mühsam zusammensuchen mußte, wenn er Appetit bekam. Vieles war ohnehin verdorben, überlagert. Schokolade bekam einen weißlichen Belag und schmeckte muffig, Konservendosen blähten sich auf, wenn sich Gase entwickelten, oder rosteten durch; das Schlimmste von allem aber war, daß es kein frisches Brot gab; nur eingetrockneten Zwieback, Dosen-Graubrot aus Militärbeständen und gelegentlich etwas Knäckebrot, das sich aus mysteriösen Gründen frisch gehalten hatte – vielleicht, weil es in seiner Aluminiumfolie von der Sonne, die durch die eingestürzten Lagerdecken schien, nachgeröstet worden war. In der Nähe eines dieser größeren Depots würde er sich heute nacht einrichten, wenn er Veras Grab besucht hatte. Weit genug vom Bahnhof entfernt, wo sie zuerst nachforschten, weil sie meist vom Zentrum ausgingen und dann erst in die Randbezirke ausschwärmten. Er blieb stehen, weil ihm die Seite gefiel, die er in der Universitätsbibliothek aus einem alten Roman gerissen hatte; er nahm das gefaltete Papier heraus und warf einen Blick darauf, dabei beschattete er seine Augen mit der Hand, denn die Sonne brannte stärker als in früheren Zeiten. Er hatte sich nie an ihr neues grelles Licht gewöhnen können.
»Fortschritt wird vielleicht von Historikern wahrgenommen; er kann nicht von denen empfunden werden, die wirklich in diesen vermeintlichen Vorwärtsgang verwickelt sind. Die Jungen werden in die fortschreitenden Umstände hineingeboren, die Alten nehmen sie binnen weniger Monate oder Jahre für gegeben. Fortschritte werden nicht als Fortschritte empfunden.« – Nun, das war diesmal anders (Wargas ließ das Blatt achtlos fallen; es interessierte ihn nicht mehr). Für frühere Zeiten mochte es stimmen. Jetzt galten andere Gesetze. Selbst die Neuen empfanden sich als Fortschritt. Nicht, daß man es ihnen eingeredet hätte. Sie benötigten keine Ideologie. Wenigstens an dem gemessen, was vor ihrer Zeit üblich gewesen war. Vor ihm ragte ein schiefer Eisenträger aus dem Boden, etwa zwei Stockwerke hoch. Er stand in der Mitte eines kleinen Platzes neben der Straßenkreuzung, rostbraun, im Profil etwas breiter als gewöhnliche Eisenträger, aber ohne jede Zierde, das Ende glatt abgetrennt, und war so postiert, daß man ihn sehen mußte, wenn man aus dem Bahnhof kam. Er schien das musische Verständnis der Stadtväter belegen zu wollen. Schrottabfall oder ein Meisterwerk der modernen Kunst? Nicht weit entfernt davon war das Arbeitsamt. Es hatte in den letzten Jahren vor dem Krieg, als sich die Wirtschaftskrise zuzuspitzen begann, zwei Seitenflügel anbauen müssen, um den Andrang zu bewältigen. Doktor Wargas erinnerte sich noch deutlich, wie viel Kritik es wegen dieser ›Skulptur‹ gegeben hatte, die manche für den überspannten Geschmack eines avantgardistischen Bildhauers hielten, der vielleicht doch nichts weiter war als ein geschickter Spieler mit der Dummheit jener sogenannten Kunstverständigen… Jetzt unterschied sich das Ding nicht mehr von den rostigen Eisenträgern des Häuserblocks, der hinter ihm zerfiel. Eine graue Gebäudereihe, einförmige, zerschossene
Fassaden, mit Büros und Geschäften im Untergeschoß, deren Inventar ein emsiges Ameisenheer von Sammlern schon in den ersten mageren Monaten nach dem Kriege abtransportiert hatte, um dann nie wieder zurückzukehren und die Stadt ihrem Schicksal zu überlassen, dem Staub und Rost und der Trostlosigkeit – sah man von den ›Säuberern‹ ab, deren Aufgabe es war, ihn und die anderen Überlebenden zu jagen. Sie streiften weiter in ihren altmodischen Anzügen durch die Straßenschluchten: wie schemenhafte Gestalten einer überlebten Zeit. Fast alle Eingänge waren ohne Türen, in den Zwischenetagen fehlten Geländer, und die Aufzugsschächte besaßen keine Fahrstühle. Das machte ihnen die Arbeit leicht. In der Kleidermode war die neue Ordnung bemerkenswert konservativ, wenn nicht steril. Keine Spur von den bunten synthetischen Stoffen, den zahllosen Farben und Formen, die man sich vorgestellt hätte. WEGAs Anweisung – eigentlich war es gar keine Anweisung im strengen Sinne des Wortes, sondern nur eine Empfehlung – lautete, die alten Kleiderbestände aus den Textilfabriken der Vorzeit zu nutzen, solange ihre vollautomatisierten Werke in der nördlichen Industriezone noch im Aufbau waren. Eine Zone der Roboter, in der sich alles mit geisterhafter Präzision bewegte, von Kontrollrobotern kontrolliert, die ihrerseits von Kontrollrobotern kontrolliert wurden (er nahm an, daß es irgendwo ein Ende hatte und daß jemand an einem Monitor saß, ein menschliches Wesen, das den obersten der Kontrollroboter kontrollierte). Immerhin war damit der alte marxistische Anspruch fast befriedigt worden, den Menschen von der mechanischen Arbeit so weit freizustellen, daß er seinen eigentlichen Bedürfnissen leben konnte, was immer das war; seiner Kreativität, seinen Ideen und seiner Schöpferkraft. Im ersten Jahr nach dem Kriege hatten die purificateurs, die ›Reiniger‹ oder ›Säuberer‹, wie sie anfangs von WEDA in Lyon
genannt wurden (bis man auf die Idee verfiel, das Märchen vom ›Seelenaustausch‹ zu verbreiten), noch mit schweren Waffen auf alles geschossen, was sich in den Häusern der gesperrten Zone bewegte und nicht dem Appell nachgekommen war, sich zur Auswertung und Einstufung seiner Erbanlagen in das Laborzentrum der neuen Gartenorte zu begeben. Daher die eingestürzten Häuser, die zerschossenen Fassaden und eingefallenen Decken. Denn der bakteriologische Krieg hatte die Städte unbeschädigt gelassen und nur ihre Lebewesen betroffen: Menschen und Säugetiere. Selbst die Rattenplage war bei einer Inkubationszeit von wenigen Tagen oder Stunden für den P-Meningokkus ein leichter Gegner gewesen. Schon bald waren WEDAs Purificateurs jedoch dazu übergegangen, weniger Lärm zu veranstalten, und statt mit Panzerfäusten und Granatwerfern Dächer und Fassaden zu beschädigen – ihr Donner war bis in die grünen Täler jenseits der Ruhr zu hören –, durchkämmten sie jetzt das Gelände nach einzelnen Überlebenden mit einer geradezu freundlich erscheinenden Waffe, die sie ›Seelenaustauscher‹ nannten. Seiner Ansicht nach ein simpler Gehirnwellenblockierer. Doktor Wargas war überzeugt, daß es höchstens noch drei oder vier Überlebende in der alten Ruhr-Metropole gab, wenn überhaupt. Er war seit vier langen Monaten niemandem mehr begegnet. Die letzte war ein verrücktes altes Mädchen gewesen. Sie kauerte hoch droben im Fenster eines ausgeräumten Kaufhauses: ein Bein um das glaslose Fensterkreuz geschlungen, das andere von der Fensterbank baumelnd, während sie mit der linken Hand ihr strähniges, gelbes Haar im Nacken zurecht schob, als sie ihn unten auf der Straße entdeckte. Er erkannte sofort, daß es keine der Neuen sein konnte. Und dann – sie winkte ihm gerade zu wie eine alternde Hure, die mit ihren Tageseinnahmen weit im Rückstand war, zeigte verzerrt
lächelnd (eine Grimasse, die verführerisch sein sollte) auf ihre geschminkten Lippen und schien etwas zu krächzen, das er wegen der Höhe nicht verstand –, rissen sie unvermittelt vier, fünf graubekleidete Arme aus dem Inneren der Etage zurück… ihre Beine kippten nach hinten über die Fensterbank, und sie war verschwunden. Wargas fand sie später in einem der seitlichen Treppenhäuser, die bei Feuer als Fluchtwege gedient hatten. Als er ihren Kopf drehte und in ihr altes Gesicht sah, entdeckte er, daß es eine seiner früheren Patientinnen aus der neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses war. Wertloses Material für die Säuberer. Keinerlei Anlaß, sich mit ihrem Erbgut zu beschäftigen und jene Informationen auszustanzen, die ihre Verrücktheit und ihre Fallsucht verschuldet hatten. Es gab genügend andere. Es gab die besten Erbsubstanzen, die jemals existiert hatten, und sie wurden ständig verfeinert und abgewandelt, übertragen und wieder verfeinert. Er erinnerte sich, daß sie an einer speziellen Form der Epilepsie gelitten hatte, verbunden mit anderen Bewußtseinsstörungen (unheilbarer Fall), und er hatte Durchtrennung des Corpus Callosum empfohlen, das den Kortex in zwei Hemisphären trennt, um die Symptome zu mildern, was schließlich doch nichts weiter bewirkt hatte als eine Trennung des intuitiven und des diskursiven Bewußtseins. Irgendwann hatte ihr intuitives, gefühlshaftes Bewußtsein endgültig über das begriffliche gesiegt, es dorthin geschickt, wohin es vielleicht auch gehörte: nämlich zum Teufel. Seitdem lebte sie ihren Sehnsüchten und Begierden. Wargas rechnete sich aus, daß man dieser Komplikation – allerdings ein ungewöhnlicher Fall – mit dem Gefühlsabschalter beikam. Was wäre dann gewesen? Sie hatten sie mit dem Gehirnwellenblockierer getötet. Einem zwei Finger dicken Metallhelm voller Elektronik, der einem
einfach über den Kopf gestülpt wurde und einen sanften Tod garantierte. Sie waren keine Barbaren. Wargas kannte das Gerät aus ihren Nachrichtensendungen. Es war über Bildschirm vorgeführt worden, um es populär zu machen. Man empfahl es als Lösung, wenn ein Neuer entdeckte, daß sich in seine Gene ein Fehler eingeschlichen hatte (was gelegentlich vorkam) und er Verhaltensweisen produzierte, die ihm und der Gesellschaft schaden konnten. Angeblich war es ein Seelenaustauscher, der den Geist des Toten dem Zentrallaboratorium von WEDA in Lyon zuleitete, oder den Seelenbanken in einem der anderen Zentren. Eine Behauptung, die sicher in das Reich der Fabel gehörte. Doktor Wargas konnte sich nicht vorstellen, daß die Entwicklung, und sei es auch zu einem noch so späten Zeitpunkt, so weit fortschreiten würde, daß dies möglich war. Die Nahtstelle von Physiologie und Bewußtsein blieb unerforschbar. Es war eine Grenze der Erkenntnis, ein Geheimnis, das sich die Schöpfung nie entreißen lassen würde. Also würde es auch nie verfügbar sein, um damit seine Spielchen zu treiben. Es gehörte in das Reich der Wunschträume. Die Begegnung einige Tage zuvor war ein kaum weniger seltsamer Knabe gewesen. So, als sei der Rest der Welt, die verbotene Randzone, jetzt nur noch von skurrilen Gestalten bevölkert. Der Doktor war ihm zwischen den Kleiderständern eines Herrenausstatters weit oben im Nordwesten der Stadt begegnet. Plötzlich hatten sie sich Auge in Auge gegenübergestanden. Ein stoppelbärtiger Mann mit rasiertem Kopf (wahrscheinlich hatte er in irgendeinem Frisiersalon ein Haarschneidegerät aufgetrieben und sich wegen der Kopfläuse den Schädel kahlgeschoren). Sie musterten sich verblüfft und erkannten im selben Moment, daß sie keine Purificateurs sein konnten. Der andere trug ein buntgemustertes Hemd, wie es
früher in den Staaten Mode gewesen war. »Hallo«, sagte er mit deutlichem amerikanischen Akzent. Er war etwa vierzig Jahre alt, besaß ein hageres Kinn und hatte stark gerötete Augen, die vermutlich von der grellen Sonne entzündet waren. »Sie haben die Katastrophe überlebt?« fragte er. Als sei das eine Frage! Wargas nickte nur. Obwohl sie keinen Grund hatten, sich gegenseitig umzubringen oder einander zu mißtrauen, schielte Wargas abwechselnd zur Hand des anderen in der Jackentasche und nach der umgehängten Leinentasche, ob sich darin vielleicht eine Waffe befände. »Ich war hier auf Besuch bei deutschen Verwandten, als es passierte…« Wargas nickte ein weiteres Mal. »Drüben in den Staaten wäre ich jetzt zu atomarem Staub zerfallen.« Er zeigte unbestimmt auf die andere Rheinseite und lächelte schwach. »Oder ein radioaktiv verseuchtes Monster. Hier habe ich das Virus überlebt.« »Es waren Bakterien«, berichtigte Wargas. »Diese Reise war meine Rettung.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Sie leben nicht in der Rheingegend, oder? Wir wären uns schon irgendwann über den Weg gelaufen.« »Bin hier nur auf Kleidersuche«, bestätigte der Doktor. »Weiter im Zentrum ist alles ausgeplündert.« Der Amerikaner zeigte durch die Scheiben auf ein braunes Backsteingebäude mit außen umlaufenden Etagengängen und vollständig erhaltenen Geländern. »Die Säuberer kommen selten hierher. Ich wohne in der Fabrik drüben, unter dem Dach. Es ist ziemlich sicher. Das Gebäude ist ein – wie sagt man in Ihrer Sprache – Schweizer Käse? Durchlöchert, meine ich. Es
gibt genügend Schlupflöcher, durch die man fliehen kann, wenn sie kommen. Vielleicht sollten Sie mich einmal besuchen?« Er schwieg und blickte ihn erwartungsvoll an. »Schon möglich«, nickte Wargas. »Falls ich wieder in diese Gegend komme.« Zu zweit war es gefährlicher als allein. Zwei Personen machten einfach mehr Lärm als eine, bewegten sich in entgegengesetzten Richtungen, hinterließen mehr Spuren. Vor allen Dingen aber sprachen sie miteinander, und ihre Stimmen hallten aus den Fenstern und durch die leeren Straßenschluchten. »Die Winterabende sind jetzt sehr lang. Wir könnten eine Partie Schach spielen.« »Ich werde kommen.« Wargas nickte. »Irgendwann im Dezember.« Der andere nickte ebenfalls, nahm die Kleiderstapel, die er auf der Theke säuberlich gefaltet zurechtgelegt hatte, schob sie in einen danebenliegenden Kleiderbeutel und hängte sich das Ganze samt seiner Leinentasche über die Schulter. »Bis dann«, sagte er und verschwand durch die Hintertür. Wargas beobachtete, wie er vorsichtig nach rechts und links die Straße hinunterstarrte, den Kopf vorgeschoben wie ein witterndes Tier, und dann das Pflaster überquerte – noch einmal aus alter Gewohnheit nach links und rechts blickend, als könnte irgendein Fahrzeug kommen… Immerhin zeigte der Tod der Frau, wie vorsichtig er sein mußte. Man hatte das ganze Stadtgebiet zur verbotenen Zone erklärt. Wegen ›Seuchengefahr‹. Aber der wirkliche Grund war ein anderer. Sie fürchteten sich vor der Vergangenheit! Sie wollten verhindern, daß die Neuen aus Zeitungen, Büchern oder Filmen erfuhren, was in der alten Zeit wirklich getrieben worden war. Sie glaubten zwar an die Macht der Gene, aber sie trauten der Verführungskraft der Worte alles mögliche zu. Es
war ja vorstellbar, daß eines ihrer Blumenkinder auf andere Gedanken kam, von den Freuden der Geschlechtlichkeit erfuhr, die ihnen für immer verschlossen bleiben sollten, oder von der Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit und Genußsucht der alten Generation. Ihrem Zynismus, ihren Lügen und Selbsttäuschungen, ihren uneinholbaren Idealen, ihrer Bequemlichkeit und Raffsucht, ihrem Mißtrauen – kurz: ihren Verrücktheiten, die so verbreitet gewesen waren, daß man sie für normal gehalten hatte.
3 Der Doktor sah zum Himmel. Es würde bald dunkel sein. Er brauchte noch Plastikblumen. Nachts durch die Treppenhäuser einer leeren Stadt zu steigen, eine Taschenlampe in der Hand, Korridore voller offener Türen entlang, hinter denen sich diese Kerle mit ihren altmodischen Hüten und Schirmmützen verbargen, zerrte zwar nur an seinen Nerven, wenn er den Gefühlsabschalter zurückdrehte oder auf Null stellte, aber es machte auch blind für alles Schöne auf dem Weg. So weit war die Technik dieser Dinger nie fortgeschritten, daß sie negative Gefühle, Stimmungen oder Emotionen ausfilterten, die positiven aber zuließen. Es gab nur ein Entweder-Oder. Man beraubte sich aller Gefühle oder schaltete ihre Intensität herunter. Doch die Welt, sowohl jene der Sinneswahrnehmungen wie auch die der Gedanken und Erinnerungen, verlor dann jeden Reiz. Man war noch in der Lage, die Zweckmäßigkeit oder den Sinn seines Handelns abzuschätzen; doch es blieb eine bloß intellektuelle Einsicht. Ein kalter Gedanke. Wahrnehmung, als fotografiere man die Dinge ab; Gerüche ohne Reiz oder Abstoßung; Laute nicht mehr als geordnete Folgen von Tönen; selbst
Schmerzempfindungen verloren ihre negative Gefühlstönung und wurden zu bloßen Empfindungen dieser oder jener Art: Von Druck, Spitzigkeit, Kontakt. Kälte zum Beispiel blieb eine ›kalte‹ Empfindung, aber man fror nicht, litt nicht darunter. Ein Zustand, der leichtsinnig machte. Man riskierte mehr. Das Bewußtsein war nicht getrübt, ganz im Gegenteil: weil die Emotionen fehlten – Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Trauer oder Eifersucht, befand man sich in jenem Zustand klarer, reiner Bewußtheit, der das Ziel vieler Religionen gewesen war. Doktor Wargas dachte voller Resignation daran, daß Vera Melanchton von alledem eine überreichliche Portion besessen hatte. Bei aller Verliebtheit, die ihn jetzt noch manchmal plagte: es war realistischer, sich das einzugestehen. Daran änderte auch der Umstand nichts, daß ihr Tod ihn tief getroffen hatte. Sicher bedauerte er wie niemand sonst auf der Welt, daß sie auf diese makabere Weise getrennt worden waren – durch einen winzigen Unterschied in der Abwehrkraft, eine simple Verschiedenheit in der Basenfolge der DNS, die nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gewesen wäre. Vielleicht waren ihre offenkundigen Schwächen der Grund dafür, daß sie sich wie er als Ärztin am Krankenhaus für Zellbiologie interessiert hatte und bereits im Jahre vier nach Lyon gefahren war, um sich über WEDAs Zukunftsprognosen zu informieren und als eine der ersten für eine Genuntersuchung zur Verfügung zu stellen. Nicht, weil sie die Absicht gehabt hätte, sich zu verändern, was nicht möglich war, sondern um dem Geheimnis ihrer ›bösen‹ Neigungen auf die Spur zu kommen, ihren Launen, Sprunghaftigkeiten, ihrem Hang zur Eifersucht und Kleinlichkeit. Doktor Melanchton, ihr Vater, hatte diese Besessenheit, die er einen ›pseudowissenschaftlichen Spleen‹ nannte, im Debattierklub des Krankenhauses gründlich kritisiert; er pflegte kein gutes Haar daran zu lassen. Wie er denn auch in seiner Tochter nie viel mehr als eine etwas bessere
Operationsschwester gesehen hatte, die ihm mit den Instrumenten nur deshalb so geschickt zur Hand ging, weil sie seine Arbeitsweise und seine Gewohnheiten von Jugend auf kannte. Melanchton, ein heller, bläßlicher Typ, dünn und hoch wie eine Bohnenstange, war schon in jungen Jahren faltig wie ein Sechzig jähriger gewesen. Eher das Äußere eines leptosomen Mathematikers als eines Arztes. Sein schmales Gesicht sah wenig vertrauenerweckend aus, es strahlte mit seinem verbissenen Zug um den Mund nicht gerade jene Zuversicht aus, die Patienten in eine der Heilung förderliche Stimmung versetzte. Niemand hätte es für möglich gehalten, daß er und seine ebenso bläßliche Frau eine so dunkelhäutige sinnliche, kleine Person hätten zeugen können. Spiel der Gene, dachte Wargas seufzend. Ein Mädchen von dieser Agilität! Alles, was sie tat, verfolgte sie mit brennendem Interesse, vereinnahmend und immer in Gefahr, die Beherrschung zu verlieren, wenn man ihr widersprach. Es gab keine Halbheiten, weder im Guten noch im Bösen. Und jedes Scheitern, auch das geringste, bedeutete eine Katastrophe. Der Doktor hatte den Eindruck, ihr hervorstechendster Zug sei gewesen, daß sie sich nie zu einer gelasseneren Haltung hatte durchringen können. Er betrat den Hauseingang, vor dem so viel Bauschutt lag, daß er ihn mit zwei großen Schritten umrunden mußte und dabei eine blecherne Tonne streifte, deren Deckel scheppernd gegen die Hauswand schlug. Lärm, dachte er ärgerlich. Überall Lärm und Getöse. Jedes Geräusch bedeutete Gefahr. Nach einem raschen Blick an der Fassade hinauf wandte er sich der Tür zu. Sie hing in einer Angel. Er stieß dagegen, und sie bewegte sich und schlug innen gegen die Flurwand – kam jedoch sofort wieder zurück. Ein trocken quietschendes Geräusch, als mahle der Rost des Scharniers auf Stein…
Wargas stieß noch einmal mit dem Fuß dagegen, behielt ihn aber jetzt auf dem Boden, damit sie nicht zurückschlagen konnte, und sah in den dunklen Flur. Er erinnerte sich, daß es oben ein ganzes Lager asiatischer Stoffblumen gab, weitaus besser als Plastikblumen; irgendeine vergessene Lieferung. Im ersten Stock. Ein Raum voller Kartons mit japanischen Schriftzeichen, Waren, die noch niemand entdeckt hatte oder die für wertlos befunden worden waren. Er ging bis zur nächsten Tür – vorsichtig, jeder Schritt ein zögerndes Tasten durch die Finsternis –, sie war nur angelehnt, und drückte sie auf. Licht flutete durch ein großes Bürofenster an der Stirnwand herein und erhellte auch den Flur und das Gelandet mit einem Teil des Treppenabsatzes. Das Büro selbst war bis auf einige nackte Möbel aus hellem Holz leer. Er wandte sich wieder dem Flur zu. Eine ausgeräumte Holzkiste stand im Weg; daneben lagen Kleider ausgebreitet: wertloses Zeug. Lumpen, vor Schmutz starrend. Anscheinend war jemand nach seinem letzten Besuch hier gewesen und hatte sich im Schutze des Hausflurs neu eingekleidet. Gegenüber, zwischen dem eingestürzten Autosalon und der Wäscherei, gab es ein Bekleidungsgeschäft. Neben den Lumpen – einer roten Strickjacke und dunklen Flanellhosen, wie sie Frauen trugen – lagen zwei zerbrochene Taschenspiegel. Gleich zwei… dachte er. Muß eine sehr eitle Person gewesen sein. Er dachte in der Vergangenheitsform. Vielleicht war sie längst tot. Ja, das war wahrscheinlich. An der Wand gegenüber hing eines der alten grünen Plakate (sie hatten Grün dazu gewählt, eine Farbe, die Beruhigung ausstrahlen sollte!). Es war der Aufruf, sich zur Untersuchung seiner Gene im Laborzentrum einzufinden. Er lautete: Letzter Aufruf an alle Personen unter 26 Jahren, die sich noch in der Stadt versteckt halten: Es besteht der begründete
Verdacht, daß Sie die bakteriologische Katastrophe überlebt haben, weil Sie nach dem Jahre 2001 geboren sind und Ihre Erbanlagen von den WEDA-Laboratorien bereits auf eine erhöhte Widerstandskraft gegen die Erregerart P-Neiseria meningitidis (P-Meningokokken) eingestellt wurden. In diesem Fall beglückwünschen wir Sie. Sie haben nichts zu befürchten. Ältere Anwohner werden gebeten, sich zwecks Bestimmung ihrer Charaktereigenschaften (DNS-Test) unverzüglich in der Abteilung Seelenaustausch einzufinden. Zuwiderhandlung wird mit schweren Strafen geahndet.
Wargas griff schnaufend nach der abstehenden Ecke am oberen rechten Rand des Plakates und riß es herunter… Trockener Verputz rieselte auf seine Schuhe. Es roch nach verschimmeltem Kleister. WEDA hatte bereits im Jahre 2001 als ›Angebot gegen die fortschreitenden Umweltbelastungen‹ eine Gen-Behandlung befürwortet, die Erbanlagen von Ungeborenen in einem sehr frühen embryonalen Stadium so zu verändern vermochte, daß sie eine erhöhte Widerstandskraft besaßen. Schwangere Frauen waren nach anfänglichem Zögern in Scharen zu WEDAs aus dem Boden schießenden Laboratorien gekommen, um ihre ungeborenen Kinder behandeln zu lassen. Sie waren dann auch deutlich weniger krankheitsanfällig – was das Stockholmer Nobelpreiskomitee im Jahre drei zu der ungewöhnlichen Entscheidung veranlaßt hatte, WEDA als Gemeinschaftsleistung für seine bahnbrechende Entdeckung den Nobelpreis in Zellbiologie zu verleihen. Er ging zum ersten Mal in der Medizingeschichte an eine Firmengruppe. Als im Jahre sechsundzwanzig der Krieg ausbrach, waren über drei Millionen unter fünfundzwanzig Jahre alte Menschen gegen den bakteriologischen Angriff gefeit gewesen; entlang der wie mit
einem Lineal schräg durch Mitteleuropa gezogenen Linie von WEDA-Laboratorien. Es bewies, was einzelne Firmen, wenn sie die wirtschaftliche Macht und Überlegenheit eines bedeutenden Konzerns besaßen, erreichen konnten. WEDAs Eierköpfe hatten Europa vor dem Untergang gerettet. Geruch von verwestem Fleisch hing in der Luft, als er auf dem Treppenabsatz anlangte. Sicher eine Ratte, die man bei der großen Säuberungsaktion einige Monate nach Kriegsende übersehen hatte. Hinter der hölzernen Wandverkleidung, nahm er an. Sie waren gezwungen gewesen, Leichen und Tierkadaver wegen des Gestanks einzusammeln, sie in dichte Lehmgruben zu werfen und mit Kalk zu bestreuen. Später, als das zu mühselig wurde, war man dazu übergegangen, alles zu verbrennen. Doktor Wargas hielt es für sicher, daß ein großer Teil des Staubs, der jetzt noch auf die Stadt herunterrieselte, von diesen Leichenverbrennungen stammte. Die Schwerkraft brachte ihn herunter und Sturm und Wind jagten ihn wieder in die Atmosphäre hinauf – und so fort in unaufhörlichem Kreislauf. Früher waren es Autos, Hauskamine, Werksschlote und Kokereien gewesen, jetzt besorgten das die Leichen. Denn die automatischen Werke im Norden produzierten mit ausgeklügelten Filter Systemen. WEDA in Lyon hatte strenge Richtlinien erlassen; aber wie Wargas aus den Nachrichten wußte, hätten sich die Konstrukteure der Neuen ohnehin an das Gebot der Reinerhaltung von Luft, Wasser und Boden gehalten. Es lag in ihrer Natur. (Was sich allerdings bei den Flußläufen nahe der Werke nur selten durchhalten ließ.) Sie besaßen zwar eine weitaus größere Widerstandsfähigkeit gegen chemische Einflüsse als der alte Mensch – in dieser Beziehung übertrafen sie sogar alle Erwartungen –, doch ihr angeborenes Ordnungsund Sauberkeitsbedürfnis hinderte sie daran, etwas zu
entwerfen oder zu konstruieren, das irgendwann unabsehbare Folgen haben könnte. Es war eine fremde, neue Welt. Doktor Wargas interessierte sich brennend für sie. Er hatte es aber nie gewagt, die neuen Blumenorte zu betreten, um sich das Wunder aus nächster Nähe zu besehen. Leider verbreiteten sein Armeempfänger und der kleine Fernsehapparat, die er in einem sicheren Versteck aufbewahrte, viel zu wenig Nachrichten aus dem Alltag der Neuen. Es verwunderte nicht weiter, da sie ihn selbst am besten kannten und nicht noch einmal vorgeführt bekommen wollten, was sie ohnehin schon wußten. So beschäftigten sich denn auch die Nachrichten hauptsächlich mit Fragen der ›genetischen Stabilität‹ mit dem Vergleich der Charaktereigenschaften von ›Bruderpaaren‹ oder dem ›Einfluß des Lebensweges und persönlichen Schicksals auf ererbte Eigenschaften‹. Eher vorsorglich behandelte man die Vergangenheit mit ausgewählten Einzelheiten, vor allen Dingen hinsichtlich der Umstände, die zur Entwicklung von WEDA geführt hatten. Er empfand es als wohltuend, daß man keinerlei Personenkult trieb. Nie erschien einer von WEDAs Eierköpfen auf dem Bildschirm und präsentierte sich als Retter der Welt, etwa der oberste Eierkopf (Wargas bezweifelte, daß es überhaupt einen obersten Eierkopf gab, sie schienen sich demokratisch zu einigen, ihr Vorstand besaß nur die Weisung, den äußeren Ablauf der Beratungen zu leiten). Freundliche, meist kahlköpfige Gesichter aus der alten Zeit, jeder ein Spezialist in seinem Fach, eine Kapazität, eine Koryphäe. Er erinnerte sich, daß der Älteste, ein rosiger und offenbar sehr alter Mann, seine Hände zitterten beim Sprechen, einmal während einer Studiosendung geäußert hatte, das Leben unter ihnen spiele sich wie in einem Kloster ab: in äußerster Bescheidenheit und innerer Einkehr. Sie besäßen kein persönliches Eigentum und strebten es auch nicht an.
Er beteuerte mit wissendem Lächeln (in dem schon der Argwohn lag, man könnte ihm nicht glauben), daß er, obwohl der alten ›fehlerhaften Generation‹ angehörend, ganz seinen Ideen lebe. Das sei Erfüllung genug. Danach wurde das Bild WEDAs eingeblendet. Ein vierzig Stockwerke hohes, dunkles Backsteingebäude. Endlose Reihen kleiner Fenster, hinter denen ihre Denkerzellen lagen, nur unterbrochen von den größeren Fenstern der Zentrallabors; und über und unter ihnen in der ganzen Breite verlaufende Simse, ebenfalls aus dunkel patiniertem Backstein, die ihm von weitem den Eindruck eines gigantischen geriffelten Blocks verliehen. In seiner Düsternis besaß es tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Klosterburg früherer Zeit, und man malte sich leicht aus, obwohl das Innere nie gezeigt wurde, wie ihre Geistesarbeiter sich in den Wandelgängen bewegten, die Arme auf dem Rücken verschränkt, tief in Gedanken versunken, ihre Köpfe grüblerisch vorgebeugt, wissenschaftliche Formeln wie lateinische Litaneien murmelnd… Und über alledem, über der dunklen Steinburg und ihren wandelnden Bewohnern, wie ein Regenbogen der erlauchte Glanz des Nobelpreises. Es gab keine Ermahnungen oder Ratschläge in den Sendungen. Lediglich Richtlinien, deren Nutzen jedermann einsah, und an die man sich hielt, weil man sie einsah. Ein Umstand, der den Doktor immer wieder verblüffte. Es waren eher Informationen als Appelle. Ein Teil der Nachrichten betraf Erkundungsreisen nach Australien, Afrika und Asien. Aber sie ergaben selten Neues. Das Ergebnis war immer das gleiche: die Radioaktivität verminderte sich nur geringfügig, sie lag ähnlich hoch wie in den Staaten. Der günstigste Platz für eine Neubesiedlung war Neuseeland. Wäre Europa nicht von den Raketen verschont geblieben, weil einige Militärstrategen – man wußte bis heute nicht, von wem, jede Seite beschuldigte die andere – es
angesichts der Weltkrise für wünschenswert gehalten hatten, einen sogenannten bakteriologischen Zwischenfall zu provozieren, der es ihnen erlaubte, sich hinter der Version vom ›Angriff der Gegenseite‹ zu verschanzen und ›zurückzuschlagen‹ (ein Minutenspiel der Raketen, es würde auf immer das Geheimnis jener Leute an den Frühwarnschirmen bleiben, wo die ersten Startsignale aufgeblitzt waren), dann gäbe es heute nicht einmal mehr dieses armselige Völkchen von vier Millionen zwischen Bremen und Marseille, zwölf über das Land zwischen der Nordseeküste und dem Mittelmeer verstreuten Zentren von etwas mehr als dreihunderttausend Einwohnern, dachte er. Nichts weiter als ein besiedelter Streifen, vierzig Kilometer breit, wie ein über den Atlas gelegtes Lineal schräg durch Mitteleuropa, der sich die großen Flußläufe zunutze machte: Teile des unteren Rheins, der Mosel, Saone und Rhone und die Einzugsgebiete ihrer Nebenflüsse, weil ihr Wasser jetzt rein von jeder Nutzung durch Fabriken war. Allerdings ließ es sich auch bei ausgeklügelter Filtertechnik in den Industriezonen nicht vermeiden, Flüsse und Seen wie bisher in Kloaken zu verwandeln. Das alte Problem. Tribut an den Fortschritt. Aber es schadete niemandem, nicht einmal der Fauna: man begann jetzt sogar, Kaninchen und andere Kleinsäuger in den Genen anzupassen, um ihre Widerstandskraft gegen chemische Belastungen zu erhöhen. Er hielt sich die Nase wegen des penetranten Kadavergestanks zu und drückte die Klinke des Lagerraums.
Zweites Kapitel
1 Als Wargas gefunden hatte, was er suchte, drei bauschige Seidenblumen, rot und blau schillernd, je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtete (so schillernd wie Veras Charakter) – er glättete sie sorgfältig und rollte sie in Seidenpapier ein, das er aus einem der Kartons zog, dann steckte er sie in die Innentasche seiner Jacke –, hörte er plötzlich Motorgeräusch von der Straße. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Es war das vertraute Geräusch, das ihn an eine ferne Zeit voller straßenverstopfender Blechlawinen erinnerte, die sich im Schneckentempo vorwärts bewegten. Ein Gedanke, der ihn elektrisierte. Das Geräusch kam näher. Dem Klang nach offenkundig ein Personenkraftwagen. Wie ist das möglich? dachte er. Es gab keinen Tropfen Sprit mehr in der Stadt. In den ersten Monaten, als alles umgestellt wurde, hatte man jede Energiequelle ausnutzen müssen, und selbst die großen Raffinerielager in der ehemaligen nördlichen Industriezone waren ein Opfer der Aufbauphase geworden. Wargas näherte sich dem Fenster; er sah auf die Straße. Voller Unbehagen stellte er sich vor, daß die Purificateurs jetzt auch schon Fahrzeuge benutzen könnten, um ihn zu jagen. Ihre kleinen Elektromobile zum Beispiel. – Aber nein, es war ausgeschlossen. Das Geräusch stammte von einem Benzinmotor. Außerdem wäre es unpraktisch gewesen, sie benutzten eine der Magnetbahnen bis zum Stadtrand und
nahmen sich ihre Bezirke zu Fuß vor, weil sie ohnehin zahllose Treppen steigen und Gänge und Zimmer durchsuchen mußten. Während er noch darüber nachdachte, argwöhnisch und auf der Hut wie immer, sah er den Wagen auch schon um die Verkehrsinsel biegen. Es war eine offene, viersitzige Limousine, silbergrau und verbeult, voller Rostflecken an den Kotflügeln, und sie sah aus, als habe ihr früherer Besitzer das Verdeck mit dem Schneidbrenner abgetrennt, um sie als Kabriolett benutzen zu können. Der junge Mann am Steuer war hellblond, von nordfriesischem Typ und mager, sein Hemd flatterte im Fahrtwind. Das Mädchen daneben trug ein glänzendes Stirnband über dem brünetten, glatt zurückgekämmten Haar, und der Junge legte lachend den freien Arm um ihre Schultern, während sie mit quietschenden Reifen am Metropol-Kaufhaus vorüber nach rechts einbogen und verkehrt herum in eine schmale Einbahnstraße rollten. Ihr Wagen schaukelte stark, die Stoßdämpfer schienen beschädigt zu sein; seine Vorderräder hüpften an der Bordsteinkante hoch und kamen mitten auf dem Bürgersteig vor einem Schaufenster zum Stehen. Wargas kannte das Geschäft, eine verwinkelte kleine Buchhandlung, in der er sich früher mit wissenschaftlicher Literatur versorgt hatte. Seine Scheibe war zwar heil geblieben, die Auslage aber schon lange ausgeräumt. Der Inhaber, ein jüdischer Emigrant aus der Sowjetunion, hatte Wert auf individuelle Bedienung gelegt. Aber das war lange her. Er nahm an, daß seine Leiche längst irgendwo mit Kalk bestreut unter der Tonerde ruhte – oder als Staubwolke über die Stadt wehte. Die Purificateurs hatten sich um alles Lesbare besonders gründlich gekümmert. Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen waren angezündet worden, ihre Magnetbandarchive und Textspeicher gelöscht. Die Lager der Buchhandlungen hatte man geräumt
und an für die Öffentlichkeit unzugänglichen Stellen deponiert, vermutlich hinter dicken Mauern. Doch es gab immer noch Bücher, die übersehen worden waren. Ein ungewöhnlicher Glücksfall hatte ihn den Schlüssel zur Universitätsbibliothek finden lassen. Wargas war eingefallen, daß sich in der ehemaligen Wohnung des Hausmeisters wahrscheinlich ein Notschlüssel befand, in einem roten Kästchen mit Glasscheibe, wie vorgeschrieben. Tatsächlich hatte damals bei der allgemeinen ›Bestandsaufnahme‹ niemand daran gedacht, und es war ihm gelungen, drei Tage lang in der Bibliothek unbemerkt ein und aus zu gehen, ehe sie ihn schließlich doch entdeckten. Sicher keine Purificateurs, überlegte er. Dazu waren sie zu jung. Und zu unbekümmert. Auch keine aus der alten Generation. Von ihnen sah man gewöhnlich nur die Schatten. Er schätzte das Mädchen auf höchstens fünfundzwanzig Jahre (allerdings konnte er sich auf diese Distanz und vom Fenster aus nur schwer ein Bild machen). Der Junge mochte erst um die Zwanzig sein. ›Halbsynthetische‹ also, dachte er (obwohl sie so wenig synthetisch waren wie er). Geschöpfe WEDAs. Aber was hatten sie hier zu suchen? Im allgemeinen hielten sie sich streng an die Anweisung, der verbotenen Zone nicht einmal bis auf Sichtweite nahe zu kommen. Ihr Begleiter winkte ihr zu, als er ausstieg. Das Mädchen schien zwar willens zu sein, sonst wäre es wohl nicht mitgefahren, nun, so dicht vor dem Ziel, aber doch zu zögern. Wargas wußte aus den Nachrichtensendungen, daß es keine wirkliche Strafe für sogenannte Vergehen gab, mit einer, allerdings sehr seltenen Ausnahme. Man appellierte an Einsicht und Vernunft und setzte darauf, daß die Meinung der anderen einen schnell zur Räson bringen würde, weil sie, als nicht ›abweichlerisch‹ Empfindende, wegen ihrer Sensibilität und Feinfühligkeit (die manchmal, vor allem, was grundsätzlich
moralische Fragen anbelangte, fast an Rührseligkeit grenzte), besonders empfindlich auf jeden Verstoß reagieren würden. Es war jedenfalls das Bild, das sich der Doktor gegenwärtig von ihnen machte. Moralität nicht so sehr aus freiem Willen, der seine Trägheit und seine angeborenen oder erlernten Schwächen überwand, sondern weil man dazu eine Neigung verspürte. Der Junge nahm die Stufen des Buchladens mit einem Sprung und war gleich darauf verschwunden. Das Mädchen folgte ihm langsamer – und sah zögernd in den dunklen Innenraum… Er besaß keine Türen mehr, damit die Purificateurs ungehindert ein und aus gehen konnten. An solchen Stellen vermuteten sie immer Flüchtlinge: als ziehe es die Alten unwiderstehlich zum Ort ihrer früheren Verbrechen zurück, dorthin, wo man ihre kulturellen Verranntheiten nachlesen konnte. Dabei hatte sich schon in der Zeit vor der Jahrtausendwende außer Wissenschaftlern oder Studenten und den ewig unverbesserlichen Bücherwürmern kaum noch jemand für Literatur interessiert. Ein Schritt, ein winziger Anstoß, der sie in den Zeitungen und Magazinsendungen als ein trockenes und viel anstrengenderes Vergnügen abwertete, verglichen mit den flimmernden bunten Bildern, und das Lesen wäre völlig aus der Mode gekommen, da es die meisten ohnehin so empfanden. Seiner Überzeugung nach war es nur deshalb nicht ganz entbehrlich geworden, weil man sonst keine Straßenschilder, Digitaluhren, die Etiketten der Schnapsflaschen oder seine Gehaltsabrechnung hätte entziffern können. Das alles hatte sich erst in der Weda-Zeit gebessert, nachdem Lyons Eierköpfe dazu übergegangen waren, den Genen ihre eigenen literarischen und feingeistigen Vorlieben einzupflanzen. Seit man mit Hilfe von elektronischen Schablonen und elektronenmikroskopischen Feinstlasern kleinste Einheiten aus dem genetischen Material herauslösen und durch das ›Finder‹-Verfahren beliebig wieder einsetzen
konnte, hatte sich die Technik bis an die Grenze des überhaupt Denkbaren verfeinert, weit entfernt vom vorsintflutlichen Zellkernaustausch mit Mikropipette und Hohlnadel. Es war möglich, Interessen, Vorlieben, Neigungen zu kombinieren, soweit sie überhaupt kombinierbar waren und solange sie nicht zu mit einander im Streit liegenden Interessen oder Gefühlsspannungen führten. Im Grunde gab es nur eine einzige ernst zu nehmende Strafe für ein Vergehen wie das des jungen Pärchens, wenn sie auch äußerst selten angewandt wurde: Unter WEDAs Seelenaustauschern zu enden, diesem Ding, das in Wirklichkeit, davon war er überzeugt, ein simpler Gehirnwellenblockierer war; nur etwas stärker als das Gerät, das er zur Unterdrückung von Theta-Wellen am Krankenhaus benutzt hatte. Bei schlechtgelaunten Erwachsenen, vor allem jenen mit einer starken Neigung zu zerstörerischem Verhalten, überwogen die Theta-Wellen und konnten sich über weite Hirnbezirke verbreiten. D. Hill hatte schon vor langer Zeit, im Jahre 1950, als Wargas noch nicht einmal geboren war, entdeckt, daß es eine Gruppe von Psychopathen mit einer sehr speziellen, charakteristischen Theta-Entladung gab, die er ›dysrhythmisches aggressives Verhalten‹ nannte. Indem sie mit den Geräten der neuen Generation an seinem Krankenhaus unterdrückt wurden, unterdrückte man auch ihr physisches und psychisches Korrelat: man unterdrückte die bösen oder verrückten Gedanken und beeinflußte das im Körper, was sie hervorbrachte, auf welche Weise auch immer. WEDA schien sich dieses Effektes nun zu bedienen, um in einem technisch weiterentwickelten Verfahren die Aktivität des Gehirns auf schmerzlose Weise ganz einfach einzustellen – das Böse – oder was ihre alten Männer für das Böse hielten – abzuschalten. Gewiß hatte er in seiner eigenen Arbeit, die auf etwas ganz Ähnliches abzielte, einige Erfolge aufzuweisen gehabt, auch in
der Neurochirurgie. Seit ihre Methoden verfeinert waren, beschränkte sie sich nicht mehr auf steinzeitliche Schädelöffnungen, Operationen, wie man sie schon bei Ausgrabungen gefunden hatte. Viel Leid, zahllose spätere Fehlentwicklungen und persönliche Katastrophen ließen sich mit ein paar Schnitten vermeiden, wenn sie nur fachgerecht ausgeführt wurden. Aber es blieb der verhängnisvolle Einfluß der Umwelt. Das tausendfache Beispiel von Gewalt, Mord und Korruption, von Eigensucht, Eskapismus und Unfrieden. Aus der persönlichen Katastrophe wurde leicht die gesellschaftliche. Während sein eigenes Bemühen in all den Jahren nicht viel mehr eingebracht hatte, als einige Symptome zu unterdrücken (Flickschusterei am Bewußtsein, das alles) und, im günstigsten Fall, eine Neuorientierung des Patienten einzuleiten, schaffte WEDA die Probleme durch eine Änderung der angeborenen Voraussetzungen aus der Welt… Sie riskieren es, dachte er mit einer eigenartigen Mischung aus Erstaunen und Irritation und sah wieder auf die Straße und den parkenden Wagen hinaus. Sie riskieren den Tod im Gehirnwellenblockierer. Das war noch nie vorgekommen. Er hatte nicht ein einziges Mal beobachten können, daß außer den Säuberern jemand die alte Stadt betrat. Wenn er sie überhaupt zu Gesicht bekommen wollte, mußte er sich mit einem guten Fernglas auf einen Hochhausturm der ehemaligen Universität legen (er befürchtete nur, das Blitzen der Gläser in der Sonne könnte ihn verraten); von dort aus, vom Stadtrand, sah man in die grünen Täler jenseits des Flusses, der eine inoffizielle Grenze darstellte. Niemand verbot ihnen, das andere Ufer zu betreten, keine der drei Brücken war gesperrt. Doch es brachte einen nur allzuleicht in den Verdacht, Interessen zu hegen, die jeder Einsichtige mißbilligen mußte. Man hätte beobachtet werden können. Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zur Straße mit den
ersten beiden Häuserzeilen, hinter denen, am gegenüberliegenden Hang jenseits des botanischen Gartens, die Gebäude des Observatoriums und die Kuppel des Auditorium maximum folgten. Doktor Wargas konnte vom Dach der alten soziologischen Fakultät aus (er saß manchmal bei klarem Wetter dort) Teile ihrer neuen Wohnanlagen erkennen: terrassenförmig angeordnete acht- bis zwölfstöckige Gebäude, die sich in Farbe und Form der Landschaft einpaßten, und weiter südlich, entlang des Rheins und nach Frankreich hinein, sah es nicht anders aus, wie er aus den allerdings zu seltenen Bildern im Fernsehen wußte. Der hervorstechende Eindruck dieser Orte war ein beinahe subtropisches Grün. Da sich das Klima durch Umwelteinflüsse in den letzten fünfzig Jahren um einige Grad erhöht hatte, gediehen Pflanzen, die man früher vor allem in südlicheren Regionen angetroffen hatte, im Mittelmeerraum und in Südamerika: der Flamboynat mit seinen scharlachroten, gelbgestreiften Blüten oder der Drachenbaum; Tajenastren, meterhohe, dickfleischige Agaven und kaktusähnliche Euphorbien vermischten sich mit alteingesessenen Eichen und Ulmen. WEDA in Lyon förderte diesen Vegetationsreichtum, man war bestrebt, aus allen Weltregionen, soweit sie die atomare Katastrophe und den Fallout überstanden hatten, Pflanzen anzusiedeln. Bei guter Sicht erkannte er, daß fast sämtliche Steinwände von Ranken überwuchert waren – ein idealer Schmuck, und zugleich Kälteund Wärmeschutz. Da Waren und Lebensmittel über unterirdische Transportbänder und Magnetbahnen angeliefert wurden, trübte nichts den Eindruck einer Gartenstadt, und Doktor Wargas konnte halbe Tage damit zubringen, auf den Dächern der Randzone liegend das Leben und Treiben zwischen Bänken und Brunnen zu beobachten, den öffentlichen ›Malwänden‹, an denen man seine bildnerische Gestaltungskraft erprobte, den literischen Lesungen, den
Musik- und Pantomimegruppen. Ein beliebter Zeitvertreib war das ›Gen-Spiel‹, bei dem man anhand farbiger Tafeln, auf denen die DNS mit ihren charakteristischen Ketten von spiralig angeordneten Nukleotiden und verbindenden Basen, deren Folge den genetischen Code bestimmte, ähnlich einem Schachspiel neue Kombinationen erfand und sie mit den der geltenden Lehre entsprechenden physiologischen und charakterlichen Anlagen verglich. Sieger war, wer die meisten Treffer zu einer Neuschöpfung erzielte; solche Kombinationen hatten Aussicht, von WEDA in Lyon als Modelle verwendet zu werden – und eines Tages würde man ihnen vielleicht als leibhaftige Menschen begegnen. Er fand das alles höchst interessant und überzeugend. Doktor Wargas erinnerte sich dann der alten Zeiten, als der Gestank der Schlote über das Land wehte und sich nach Norden, zum Rhein hin, Hochöfen und Fördertürme aus dem ewigen Dunst von Schwefeldioxid und anderen Abgasen erhoben, für den diese Gegend berüchtigt gewesen war; der Baumbestand war dezimiert, die Durchschnittstemperatur erhöht, die oberen Schichten der Atmosphäre waren verseucht und die Ozeane um einen knappen halben Meter angestiegen; seit der Abholzung der Amazonas-Urwälder hatte die Verkarstung, Versteppung und Verwüstung zugenommen, die Sauerstoffdichte sich vermindert; der Dünnsäurepegel der Weltmeere hatte küstennahe Fische ungenießbar gemacht; Knochenleiden und Hauterkrankungen nahmen zu; Nierenschäden waren an der Tagesordnung; Mißbildungen bei Neugeborenen die Regel, soweit WEDA (er faßte instinktiv nach der silbernen Kappe über seinem Ohr, wenn ihn die Erinnerung überkam) sich nicht bereits ihrer Erbanlagen angenommen hatte… Falls die beiden es darauf anlegten, den Purificateurs in die Arme zu laufen, hatten sie alles Erforderliche dazu getan: sie waren lärmend die Straße mit einem altmodischen Benzinmotor
entlanggefahren, parkten auffällig auf dem Bordstein, und jetzt schepperte im Inneren des Ladens sogar ein Fenster, oder eine Glastür schien in tausend Splitter zu zerfallen, weil der Junge sie einschlug. Er hatte keine Ahnung, wie weit die Befugnisse der Säuberer in einem solchen Fall gingen, ob es ein Verfahren gab oder Aburteilung auf der Stelle. Daß sie die Seele des Schuldigen ihrer Seelenbank zuleiteten, erschien ihm eher wie die Mär vom Geist jenes Ahnen, der in den Bäumen lebte. Immerhin verfehlte die Drohung ihre Wirkung diesmal, denn das Mädchen folgte dem Jungen trotz des Lärms hinein, und Wargas beeilte sich, durch das stockfinstere Treppenhaus ohne sich den Hals zu brechen auf die Straße zu gelangen, weil er neugierig war, was sie wohl dort trieben. Er erinnerte sich, daß der Laden in der Mitte des Verkaufsraums eine Wendeltreppe besaß, die zur ersten Etage führte – und daß man von dem Vorbau eines höher liegenden Parkhauses gut durch seine Fenster sehen konnte… Es wird doch kein Schäferstündchen sein? Überlegte er. Dazu brach man keine Scheiben entzwei. Nach allem, was er wußte, paarten sie sich nicht mehr. Die Sexualität, Quelle der Lust und des Leidens zugleich, war ihnen auf immer genommen worden. Eine Erleichterung, wie er vermutete, wenn er an seine eigenen, nicht selten unerfreulichen Erfahrungen mit Vera dachte. Sie gebaren zwar noch, aber die Einpflanzung der Erbanlagen erfolgte mit Hilfe elektronischer Schablonen; nur eine winzige Operation, ein Eingriff wie das Plombieren von Zähnen. Auf die Verschmelzung des männlichen und des weiblichen Kerns nach gewöhnlicher Manier konnte man inzwischen verzichten. Doktor Wargas hatte erfahren, daß eine außerordentliche Verfeinerung der platonischen Liebe die Folge war (was niemanden daran hinderte, zärtlich zu sein; es war weniger die
Austreibung der Sinnlichkeit als das Ende der exzessiven Fleischeslust, die nur in die Versklavung heftiger Gefühle führte). Wenn man bedachte, daß einige Perversionen wie Nekrophilie, Sodomie, Sadomasochismus damit auf der Strecke blieben, stimmte das nicht gerade unversöhnlich. Lust und Hebung des Selbstwertgefühls, wie sie die Sexualität vermittelte, schienen von WEDA auf überzeugende Weise durch andere, letztlich bekömmlichere Freuden ersetzt worden zu sein: Ausgeglichenheit, Harmonie, Toleranz, Wohlwollen, Freundlichkeit, Erfüllung. Da Sexualität in fast allen Religionen als notwendiges Übel, eigentlich aber als Selbstbefleckung angesehen worden war (von der Manie zur Katastrophe nur ein kleiner Schritt, wenn man an das Elend dachte, das sie, ebenso wie Religion und Politik, verursacht hatte), war es nicht schwer gewesen, diese Abneigung und Enthaltsamkeit, die sonst vor allem alte Leute und Priester heimsuchte, für den neuen Zweck zu verstärken und sie zu einem standardisierten Wesenszug werden zu lassen. Im Grunde war, seit man das ›Finder‹-Verfahren beherrschte und die neue Laser- und Schablonentechnik besaß, nicht viel mehr dazu notwendig gewesen, als den genetischen Code noch weiter zu entschlüsseln und sie in der Erbmasse als diese bestimmte Kombination von Basenfolgen zu identifizieren. Jedenfalls sah es nach den Diagrammen und Schaubildern, die man gelegentlich im Fernsehen zeigte, ganz einfach aus. Jeder aufgeweckte Schuljunge hätte ihre Technik beherrschen können. Er überzeugte sich mit einem schnellem Blick, daß die Straße sicher war und lief geduckt zur anderen Seite. Ganz sicher konnte man allerdings nie sein, weil die Purificateurs manchmal irgendwo hinter den offenen Fenstern auf dem Fußboden zu sitzen pflegten, um abzuwarten und bei dem geringsten Geräusch ihren Kopf über die Fensterbank zu schieben.
Sie waren einen Großteil ihrer Zeit zur Untätigkeit verdammt: das frustrierte, machte zornig und schärfte ihr Gehör wie bei einer Fledermaus (der Doktor war ohnehin überzeugt, daß sie die Flöhe husten hörten, weil man ihre Hörfähigkeit genetisch der Empfindlichkeit von Hunden angeglichen hatte; auch ihre übergroßen, beweglichen Ohren sprachen dafür). Wie schon so oft, erschrak er deshalb vom Geräusch seiner eigenen Schritte, als er, am Geländer einer Kellerbar entlang, deren Reklameschild ›Intime Massagen‹ versprach, über ein leeres Tankstellengelände hastete und dann, nach etwa dreißig Metern, die schützende Auffahrt der Großgarage erreichte. Er nahm mit einem Anlauf die Schräge. In den Einstellplätzen standen noch Fahrzeuge, als seien sie von ihren Besitzern zum Einkauf zurückgelassen worden: chromglänzend und nur mäßig verschmutzt. Die Betongewölbe hatten sie vor Staub und Witterungseinflüssen bewahrt. Ein Palmzweig aus Kunststoff lag auf dem Fußboden. Der Doktor stolperte darüber hinweg. Wo kommt das Zeug her? dachte er, sich ungläubig umblickend. Wahrscheinlich auch noch geweiht! Früher hatten solche Zweige, über dem Stubenkreuz oder der Türschwelle, als Schutzmittel gedient. Seit die Kirchen vernagelt waren, gab es das Anbeten eines höheren Wesens nicht mehr, dieses demütigende Herr-Knecht-Verhältnis (es hätte ein Gefühl der Unterlegenheit erzeugt; aber der neue Mensch hatte nach WEDAs Überzeugung keinen Anlaß dazu).
2 Einmal hatte er sogar ein Kamilavkion gefunden, jene schwarze, zylinderförmige Kopfbedeckung mit einem Schleier hinten, wie sie Geistliche orthodoxer Kirchen trugen.
Er blickte vorgebeugt über die Plattform in das gegenüberliegende Fenster. Es war kaum mehr als drei, vier Meter entfernt. Nahe genug, um durch seine zerschlagenen Scheiben ihre Stimmen zu hören. Die hohe Seiten wand des Parkhauses nahm dem Raum zwar einiges Licht; doch soviel konnte er noch erkennen: das Mädchen saß am Tisch, nur wenige Schritte vom Fenster entfernt, und las in zwei Folianten, dunkelbraunen ledergebundenen Bänden mit Goldprägung. Ihre Pappschuber lagen daneben. Die Beine des Jungen waren kurz zu sehen, als sie im hinteren Teil das Zimmer durchquerten, anscheinend kannte er sich aus und suchte in den Regalen nach weiterem Lesestoff. Wargas versuchte, den Titel auf dem einen, liegenden Band zu entziffern – er lag verkehrt herum –, doch in diesem Augenblick hob das Mädchen langsam das Gesicht, blickte nachdenklich von den offenen Buchseiten auf – und der Doktor erstarrte. Es war ein klares Gesicht, mit dunklem Teint, dunklen braunen Augen und ungeschminkt, ein wenig zu vollkommen, um sinnlich zu sein, trotz der aufgeworfenen Lippen; zu vergeistigt, um im Bett ganz Körper sein zu können. Schön aber kalt, hätte er in früheren Zeiten geurteilt, denn er war empfänglich für schöne Gesichter; aber dazu kam er nicht, das Bild hielt ihn gefangen, und er starrte mit halbgeöffnetem Mund auf die Gestalt am Tisch, auf ihre vorgebeugten fraulichen Linien, ihre Hüften, die ein wenig zu breit waren, aber nur ein wenig (ganz wie er es kannte), ihre wohlgeformten Beine, ihre kleinen Füße, die unter dem Tisch nervös mit einem ausgezogenen Schuh spielten, als spiegelten sie die Erregung ihrer Gedanken über das Gelesene wieder – bis dem Doktor durch einen schmerzhaften Druck auf der Brust bewußt wurde, daß er vor Sprachlosigkeit den Atmen angehalten hatte. Er atmete schnaufend durch – zwei tiefe Züge –, dann wich er instinktiv in den Schatten des Mauerdurchbruchs zurück. Eine
Bewegung, die er sogleich als lächerliche Narrheit eines alten Mannes empfand. Unsinn, sie war tot. Und wenn er sich verbarg, dann nur, weil er erschrocken war. Er hatte sie selbst beerdigt. Sie lag nahe im Depot in einem der Höfe am Bahnhof, und er würde ihr gleich Blumen auf das Grab stellen. Sie ist wie ihr Spiegelbild… dachte er. Nur viel jünger – über zwanzig Jahre jünger. Ihre erste Begegnung, als sie ihm, eine hübsche und schon ganz erwachsen wirkende Medizinstudentin, im Haus ihres Vaters begegnet war, kam Wargas in den Sinn – nach einer Nacht, die sie, er wußte nicht mit wem, irgendwo zwischen altem Gerumpel, vielleicht in der schummrigen Stuhlkammer hinter dem Tanzsaal, verbracht hatte, und er verglich diese Erinnerung wieder und wieder mit dem Mädchen am Tisch. Damals war ihr Kleid staubig und zerknautscht gewesen, obwohl sie (was sonst konnte man bei einem Puritaner wie Melanchton erwarten?) hartnäckig beteuerte, mit ihren Studenten nur getanzt zu haben. Es hatte ihn ziemlich amüsiert, da er sehr frei darüber dachte (bis er selbst davon betroffen war). Melanchtons kleinliche Predigt – als sei seine Tochter eben erst flügge geworden – ließ ihn spekulieren, wie viel anders er sich selbst verhalten hätte, obwohl er kinderlos war und es sein Leben lang aus Überzeugung bleiben würde; nun sogar gezwungenermaßen. Auch wenn er die sexuelle Freiheit, die sich damals in zahllosen einschlägigen Etablissements der Städte niedergeschlagen hatte, insgeheim als eine Verirrung verachtete. Diese Neuauflage des alten Sodom und Gomorrha. Obwohl er selbst kein Kostverächter war, glaubte er auch in seiner Art bestätigt gefunden zu haben, daß die alten Religionen ganz recht daran taten, unmäßiger Lust und Begierde einen Riegel vorzuschieben: der Charakter war wie ein nicht für Erdbeben erprobtes Gebäude, das bei starken Gefühlserregungen leicht einstürzte.
Während er noch seinen Erinnerungen nachhing, stellte der Junge einen weiteren Packen Bücher vor sie hin. Sie blickte dankbar auf. Er schlug mit der flachen Hand leicht auf einen der ledernen Buchrücken – und eine dicke Staubwolke breitete sich vor ihnen aus. Beide lachten in heimlichem Einverständnis. Wargas sah jetzt auch das Gesicht des Jungen. Er mochte tatsächlich einige Jahre jünger sein. Im Gegensatz zu ihr ein leeres und unintelligentes Gesicht, wohlgeformt und ebenmäßig, aber eher von der nichtssagenden Schönheit eines Disko-Jünglings. Seine Zähne standen ein wenig vor. Warum sie ihn nur repliziert haben? dachte er. Sicher deutete es darauf hin, daß er weniger dumm und einfältig war, als er aussah. Aber selbst wenn er ein mathematisches Genie oder eine künstlerische Begabung war: man hätte wenigstens seine Zähne richten können. Der Junge schlug einen anderen Band vor Vera auf, er zeigte mit begeisterter Handbewegung auf etwas, das ihm gleich darauf ein triumphierendes Lachen entlockte… Herrgott noch mal, jetzt habe ich sie in Gedanken tatsächlich Vera genannt, dachte Wargas und strich sich irritiert über die Stirn. Er versuchte die Schrift auf dem Buchrücken zu entziffern. Trotz seiner scharfen Augen bereitete es ihm einige Mühe. Geschichte des Dreißig… des Dreißigjährigen Krieges, ergänzte er, während das Mädchen auch schon den Folianten drehte, so daß er die Schrift aus den Augen verlor, ihn aufschlug und einen anderen beiseite schob. Ihre Fingerspitze fuhr über die Zeilen, sie las vorgebeugt, und ihre Lippen murmelten etwas, das er nicht verstand. Dann blätterte sie weiter. Erstaunen lag in ihrer Miene – wie bei einem Kind, das etwas Verbotenes entdeckt und überrascht ist, wieviel sich dahinter verbirgt und als wie gewaltig und groß sich die Welt entpuppt, dachte er unwillkürlich. Einige der nächsten Seiten waren Kupferstiche. Sie winkte ihren Begleiter heran, und beide beugten sich über
die Bilder mit einem Ausdruck kindlicher Freude, in dem zugleich Betroffenheit lag. Es schien sich um Darstellungen von Schlachten zu handeln: Pferde und Reiter, Zelte und einem großen Feldlager, die Porträts zweier Heerführer, wenn er richtig vermutete. Der Bärtige mit dem langen weißen Kragen mochte Wallenstein sein. Plötzlich begriff er. Sie hatten das Antiquariat geplündert. Ein paar Schränke an der Hinterwand des Lagers, die von den Purificateurs übersehen worden waren. Wargas war oft von dem jüdischen Händler auf jene Schätze hingewiesen worden, die besonders gehütet oben in einem zweiten Lager aufbewahrt wurden. »Eine Wertanlage«, pflegte er augenzwinkernd zu versichern und kraulte geschäftstüchtig seinen Bart. »Mit den Jahren immer kostbarer. Wenn Sie nicht zugreifen, tut’s ein anderer.« Sie waren liegengeblieben. Damals interessierte sich schon niemand mehr für alte Geschichte, man hatte genug damit zu tun, die Gegenwart im Auge zu behalten, deren Generäle sich in finsteren atomaren Drohungen ergingen. Da Wargas ganz von seinen Fachbüchern und wissenschaftlichen Zeitschriften in Anspruch genommen war, pflegte er nie mit mehr als einem halben Ohr hinzuhören. Doch er erinnerte sich jetzt, daß dieses zweite Lager hinter einer Tür lag, durch deren große Scheibe man auf kleine Stapel antiquarischer Schulbücher sah, weniger wertvoll als die Bände, die er in einem sicheren Wandschrank verwahrt hatte. Alte Geschichte also. Das war es, was sie interessierte. Wahrscheinlich auch die neuere. Es bestätigte nur, was er schon wußte. Ihre Erinnerung aus der Zeit vor dem Krieg war ein blinder Fleck, ein Nichts. WEDA hatte allen, die bei Ausbruch des Krieges älter als fünf oder sechs Jahre waren in den ersten Wochen mit den Notrationen der fahrenden Küchen Storantinium 3 verabreicht, eine Weiterentwicklung von Storantinium 2, das um 2010
entdeckt worden war. Er kannte es recht gut aus seinen neurologischen Arbeiten. Es war eine Substanz, die Langzeiterinnerungen auf Dauer zu blockieren vermochte, wenn man sie in richtigen Abständen und ausreichender Dosierung verabreichte. Die Neuen schienen durch eine Einstellung ihrer Erbanlagen besonders gut darauf anzusprechen. In den ersten Tagen nach dem Kriege, als ihm noch niemand nach dem Leben trachtete und man eben die ersten Aufrufe erließ, sich in den Laboratorien einzufinden, war er selbst das Opfer einer solchen Suppe geworden, unten an der Essensausgabe vor seiner ehemaligen Praxis. Die Kraftwerke arbeiteten nicht mehr, es gab weder Strom noch Gas, und er war froh, etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Also hatte er sich wie andere zur Schlange gestellt, dankbar die warme Suppe gelöffelt, in der Weißbrotstücke und Rosinen schwammen; und schon wenige Stunden später, auf der Suche nach Vera, als es längst keine Straßen, Plätze und Wohnungen mehr ohne Leichen gab, hatte er verwirrt festgestellt, daß sein Gedächtnis versagte… Anfangs schrieb er es der Seuche zu, als sei er nun auch erkrankt, als hätten die vergangenen Tage nicht bewiesen, daß er durch eine unfaßliche Gunst des Schicksals von ihr verschont blieb. Aber es waren untypische Symptome: keine Nackensteifigkeit, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, kein Fieber, kein Erbrechen wie bei Gehirnhautentzündung. Auch kein Schüttelfrost, kein Husten mit rostbraunem Auswurf, beschleunigtem Atem und Brustschmerzen wie bei den Lungenentzündungen, deren Opfer ihm an jeder Straßenecke begegneten. Sein Kopf war völlig klar. Er wußte, wo seine Wohnung und seine alte Praxis lagen, weil er gelegentlich dort hineinschaute, um seinem Nachfolger guten Tag zu wünschen; er wußte von Vera und daß sie nach einer Nachtschicht im Krankenhaus nicht mehr aufzufinden gewesen war; er wußte, daß die Nachricht von der Seuche hysterisch gewordene
Menschenmassen auf das freie Land getrieben hatte, obwohl Lautsprecher durch die Straßen fuhren und unaufhörlich versicherten, daß es dort keine Rettung vor dem P-Meningokokkus gab, weil er sich mit der Luft und dem Trinkwasser zugleich verbreitete – weil Seen und Flüsse und Trinkwasserreservoirs von ihm verseucht waren und weil man ihn millionenfach mit der Luft einatmete. Und er wußte, daß die verteilten Tabletten wirkungslos waren. Wasserwerfer folgten den Lautsprecherwagen durch die Straßen und jagten die Flüchtlinge in ihre Häuser zurück. Das alles war ihm so deutlich wie zuvor. Doch was weiter zurücklag, schien in einer eigentümlichen Grauzone der Erinnerungslosigkeit zu versinken, in der manchmal Bilder und Namen wie Bruchstücke in einem Nebel aufblitzten. War Stalin der Führer des Dritten Reiches? Oder Churchill? Gleich darauf vergaß er diese beiden Namen wieder. Hatte Napoleon bei Waterloo gesiegt? Oder war es Friedrich der Große gewesen? Die eigene Vergangenheit entzog sich ihm. Wann war er geboren? Er erinnerte sich nicht mehr an sein Alter! Dunkel ahnte er, daß er seine Studienjahre in Heidelberg und… – ja, wo? – verbracht hatte. Sobald seine Gedanken eine dieser alten Erinnerungen anrührten, schien sie sich auch schon aufzulösen. Glücklicherweise begriff er rasch, was seinen Gedächtnisausfall hervorrief und mied daraufhin ihre Essensausgaben wie die Pest. Er kannte den süßlichen Geschmack des Storantiniums. Es schmeckte wie überlagerter Puderzucker, dem man eine Prise ebenso abgestandener Muskatnuß beigefügt hatte. Allmählich waren seine Erinnerungen zurückgekehrt. Da die Storantinium-Gaben in solchen Abständen wiederholt werden mußten, daß sie genau der Gesetzmäßigkeit des Gedächtnisses entsprachen – man konnte den zurückliegenden Zeitraum jeweils verdoppeln, so wie es genügte, einen erlernten Stoff in doppelten Abständen zu wiederholen, um ihn nicht mehr zu
vergessen –, wurde das Mittel auch jetzt noch gelegentlich verabreicht. Doch der verdoppelte Zeitraum würde schon bald die gewöhnliche Lebensspanne überschritten haben. Wenn man das Mittel beim zweiten Mal am dritten Tage verabreichte, war die Spanne nach der zehnten Einnahme bereits auf über vier Jahre angewachsen. In den Nachrichtensendungen wurde nie etwas anderes verbreitet als die Version vom ›nuklearen und bakteriologischen Zwischenfall‹. Ihr Gedächtnis war ausradiert, nun füllte man es mit neuen Inhalten: Niemandes Schuld, allenfalls Leichtsinn. Eine technische Katastrophe. Die Rückständigkeit der damaligen Wissenschaft. Falls das Wort ›Schuld‹ in ihrer Sprache überhaupt existierte. Er hatte vor einiger Zeit entdeckt, daß Begriffe, wie ›Sünde‹, ›Verbrechen‹, ›Strafe‹, ›Sakrileg‹, ›Frevel‹, ›Delikt‹ oder ›Verstoß‹ in den Nachrichten nicht vorkamen. Für Übertretung sagte man ›unvernünftige Handlung‹. Den Seelenaustauscher ablehnen, hieß ›falsche Wege gehen‹, oder ›sich Lösungen verbauen‹ – als ginge es um den Irrtum innerhalb einer mathematischen Aufgabe. Davon, daß der alte Mensch seine Aggressivität nur mühsam mit Gesetzen und Geboten und einer Moral im Zaum gehalten hatte, die leicht auf der Strecke blieb, sobald sie an die Freiheit und nicht nur an den Vorteil irgendeiner Art appellierte – sei es der Selbstbespiegelung, sich als guter Mensch zu sehen, weil es den Ruf und das Zusammenleben mit den Nachbarn schädigte oder weil man nicht mehr an ein Jenseits glaubte –, von all diesen Schwächen ahnten sie nichts. Ihre Gedanken waren rein. Reiner und unverdorbener als Kinderseelen, deren Böswilligkeit und Egoismus schon in der Wiege erwachte, sie waren bei der Geburt so wenig unbeschriebene Blätter, wie ein x-beliebiges Tier ohne rücksichtslosen Selbsterhaltungsinstinkt und Egoismus auf die Welt kam, und was sie von den Tieren unterschied, war nach Wargas’ Überzeugung vor allem, daß sie
eines Tages imstande sein würden, sich ihrer Freiheit bewußt zu werden. Bewußt zu werden, in der Regel nicht mehr. Der letzte Krieg – und die Geschichte aller Kriege – bewiesen es. Genügend Friedfertigkeit war den Alten nicht gegeben gewesen – und sie hatten sie sich auch nicht genommen. Doch das hinderte ihre Nachfahren nicht, neugierig zu sein. Neugierde war ein Teil der Kreativität. Und da WEDA nicht danach strebte, seelenlose, stumpfsinnige Automaten zu erzeugen, sondern Menschen, die jenen der alten Generation in allen Vorzügen mindestens ebenbürtig, in der Freiheit von Fehlern und Schwächen aber weitaus überlegen waren, schien es kein anderes Mittel zu geben, als sie gewaltsam von den verführerischen Taten und Ideen der Vergangenheit fernzuhalten. Wargas fröstelte, er beugte sich vor und sah um den Pfeiler der Beton wand. Das Mädchen und der Junge waren verschwunden.
3 Er ging eilig zu einem der seitlichen Treppenhäuser, die auf die oberste Parkebene führten. Es dunkelte bereits. Da keine Straßenlaternen mehr brannten, war es nachts bei zugezogenem Himmel jetzt so finster, daß man kaum die Hand vor Augen sah. Der dunkle Stein schien das restliche Himmelslicht aufzusaugen. Aber noch war es hell genug, und er hoffte von dort oben entdecken zu können, wo sie ihren Wagen abstellten, wenn sie den Stadtrand erreicht hatten. Er nahm an, daß sie ihn öfter benutzten, denn der Junge hatte sie zielstrebig in die Buchhandlung geführt, offenbar war er nicht zum ersten Mal hiergewesen. Das Fahrzeug würde ihn wieder auf ihre Spur bringen, falls sie noch einmal in die Stadt zurückkehrten. Er dachte an den Palmzweig. Als Wargas das oberste Parkdeck erreichte und unter sich die Straßenzüge im Westen musterte, sah er, daß sie gerade die Einmündung der alten Einkaufszone passierten und dann in die Verwaltungsstraße einbogen. Düstere Gerichtsbauten aus dem neunzehnten Jahrhundert und zwei neuere graue Betongebäude mit Abteilungen der ehemaligen Akademie säumten den aufgerissenen Asphalt. Wo die Fahrbahn gepflastert war, gab es Buckel und Risse, der Frost der beiden vergangenen Winter hatte ihre Steine aufgeworfen. Schiefe Bäume streckten ihre Äste mitten in den Gehweg. Dahinter begann der Park; er war nur klein, mit einem Rondell, auf dem jetzt Unkraut wucherte. An seiner Rückseite lag das Gelände einer verfallenen Großbrauerei. Die Häuser der Randzone waren kurz vor dem Kriege gesprengt und mit Bulldozern abgetragen worden, um auf ihrem Platz ein Stadion für die olympischen Spiele im Jahre
2028 zu errichten, es sollte das größte der westlichen Welt werden. Der Krieg hatte verhindert, daß es dazu kam. Jetzt war dort eine helle, unbebaute Lehmfläche, auf der ihre dunklen Gestalten sich wie winzige Spielzeugfiguren abhoben. Sie fiel zum Flußufer hin leicht ab, und an einigen Stellen befanden sich tiefe Bohrlöcher von mehr als einem halben Meter Durchmesser. Sie müssen das Fahrzeug in einer der beiden Maschinenhallen abgestellt haben, überlegte er. Die Hallen standen quer zur Blickrichtung, er konnte ihre Einfahrten nicht einsehen, und als ihr Wagen den provisorischen Fahrweg genommen hatte, eine bucklige Lehmrinne, die zum Bauplatz führte, war er an der anderen Seite der Hallen nicht wieder zum Vorschein gekommen. Statt dessen sah er ihre beiden geduckten Gestalten jetzt über den Bauplatz laufen, einer hinter dem anderen. Der Junge lief voraus, blieb aber einige Male stehen und zeigte warnend auf die tiefen Löcher im Lehm. Das Mädchen stolperte und fiel hin. Sie riefen sich etwas zu, ihre Stimmen hallten über das Feld. Ziemlich riskant, dachte Wargas kopfschüttelnd. Nur die einbrechende Dämmerung bewahrte sie davor, von der anderen Flußseite aus bemerkt zu werden. Der Doktor sah vereinzelte Fußgänger am Ufer. Aber da die Dunkelheit hereinbrach, strebten sie alle dem Zentrum mit seinen Vergnügungsanlagen zu. Das Wasser war hier so weit abgesunken, daß man den Fluß auf einer schmalen Sandbank und großen Kieseln überqueren konnte. Es mochte der Grund dafür sein, daß sie gerade diese Stelle wählten und nicht die Brücke hundertfünfzig Meter flußabwärts, wo man leichter entdeckt werden konnte. Er erinnerte sich, daß weiter hinten, jenseits des anderen Uferweges bei den ersten Bäumen, eine Spielzone mit zwei gravitationslosen Trampolinkammern begann, deren Seiten und Decken aus federnden Kunststoffbespannungen bestanden.
Kleine Stehtische, an denen man Tschauka, eine Pflanzenwurst und helle, in Öl geröstete Teigfladen verzehrte, waren rund um die Anlage angeordnet. Das Material der Kammern war durchsichtig, ihr Inneres von fahlem, blauem Licht erfüllt, und als er genauer hinsah, konnte er auch jetzt wieder die schemenhaften Gestalten der Springer ausmachen: wie sie Saltos im schwerelosen Innenraum der Würfel vollführten, dann mit den Beinen oder Armen gestreckt an eine der durchsichtigen Wände stießen – und zurückfederten, von geheimnisvoll wirkenden Kräften in die Mitte des Raumes geschleudert… Solche Trampolinkammern waren immer von großen Menschenmengen umlagert, von Zuschauern und von Springern, die auf ihren Einsatz warteten. Offenbar steuerten der Junge und das Mädchen sie an, weil es leicht war, dort in der Menge unterzutauchen. Auch für einen ausgebildeten Säuberer, der sie beim Überqueren des Flusses beobachtet hatte, würde es schwer sein, sie unter all den Menschen wiederzufinden (er nahm nicht an, daß jemand anders sie angezeigt hätte, selbst wenn er ihr Treiben mißbilligte). Gar nicht so ungeschickt, dachte Wargas. Als sie die ersten Umstehenden erreicht hatten, ohne daß ihnen jemand folgte, wandte er sich zufrieden nickend dem Ausgang zu. Über ihrem Grab lag eine der durchsichtigen länglichen Kunststoffglocken, wie sie seit zwanzig Jahren verwendet wurden. Das Beet darunter pflegte man mit künstlichen Moosen und Blumengebinden auszuschmücken und an den Seiten, wo der Kunststoffdeckel in den Marmor des Sargblocks überging, mit weißen oder farbigen Seidenstoffen zu drapieren. Da die Scharniere eingerostet waren, ließ sich der Deckel nicht mehr anheben, deshalb steckte Wargas seine Blumen wie üblich in eine trichterförmige Aussparung im oberen Drittel, die ursprünglich als Behältnis für das Grablicht zu Allerheiligen gedient hatte. Das alles nahm nicht mehr als ein, zwei Minuten
in Anspruch. Schon längst war ihm jede Form der Andacht vergangen. Es geschah auch nicht aus Trauer, sondern gewissermaßen in dem Gefühl, sein Gedächtnis nicht wie die anderen verloren zu haben, wenn er manchmal hierher zurückkehrte. Als er fertig war, sah er an den hohen Backsteinmauern hinauf, die den Hof umgaben, und die Erinnerung überkam ihn, als sei dies der Ort, von dem er stammte und an dem er seine Vergangenheit wiederfinden könnte – und als sei er kein Ruheloser, Getriebener ohne einen Flecken, den man Zuhause nannte. Es waren die Rückwände großer Kaufhäuser. Fensterlose, unregelmäßige Backsteinwände mit winzigen Lüftungslöchern. Hier fühlte er sich sicher, da niemand den Hof einsehen konnte. Sein einziger Zugang bestand in einem schmalen Weg zwischen den Hauswänden, den er sorgfältig durch drei hohe Mülltonnen verstellte, wenn er kam und ging. In den ersten Tagen nach der Seuche hatte man Grabstellen an solchen Orten freigegeben, weil die Friedhöfe bald überbelegt waren; bis man dazu überging, ihre Leichen in Massengräbern zu beerdigen und später, als sich auch dazu niemand mehr fand, auf den öffentlichen Plätzen der Stadt zu verbrennen. Er hatte sie selbst in dieses Grab gebracht. Nach zwei Tagen vergeblichen Nachforschens fand er sie schließlich dort, wo er sie schon längst hätte suchen sollen; obwohl eine fünfundvierzigjährige Frau bei einem um zwanzig Jahre jüngeren Kerl ohnehin nicht glücklich werden würde (wie er hoffte). Selbst dann nicht, wenn er das bessere Replikat ihrer alten Liebe war. Er erinnerte sich noch deutlich des schäbigen und ernüchternden Eindrucks, den sie auf ihn gemacht hatte, als er sie zusammengekauert am Ende der steilen Treppe fand, vor der Tür jener armseligen Mansarde, die der junge Baibach bewohnte, seit er ebenso wie sein Vater (falls man ihn so nennen wollte) nur noch schwer ein Engagement bekam. Die
Schauspielkunst war schon in den Jahren vor dem Kriege mehr oder weniger aus der Mode gekommen. Man bevorzugte Pantomimen und Ballette. Auf eine Weise, die sich niemand recht erklären konnte, nahm man damit bereits vorweg, was in der jungen Generation dann als selbstverständlich angesehen wurde: daß die Theaterkunst von Konflikten lebte und deshalb, wenn das Leben dieser Konflikte entbehrte, nicht mehr interessant sein würde, sich mit Fehlern der Vergangenheit abzugeben, Fehlern und Schwächen, die ohnehin niemand nachvollziehen konnte. Zu jener Zeit, als Baibach auf den Gedanken kam, sich replizieren zu lassen, war er ein überall geschätzter, wenn auch schon alternder Schauspieler. Ein schlanker Mann mit graumelierten Schläfen, etwas senil (seine Rechte zitterte von der Parkinsonschen Krankheit), aber immer noch attraktiv, obwohl seine Attraktivität bereits von den Erfolgen der Vergangenheit zu zehren begann. Nach zwei Tagen, die sie recht und schlecht in einem Hotel an der Küste verbrachten, hatte er sie – wie in einer jener Schmierenkomödien, in denen er auftrat –, verschmäht, um sich den zahllosen anderen zuzuwenden, die vor seiner Garderobe warteten. Wargas sah weniger echte Leidenschaft darin, als vielmehr einen Rückfall in ihre alte Jugendschwärmereien, oder auch den schon beinahe krankhaften Hang, sich mit allen Mitteln ihre Freiheit und Unabhängigkeit beweisen zu müssen. Doch dann wurde er eines Besseren belehrt. Als sie dem jungen Baibach zum erstenmal gegenüberstand, nach über zwanzig Jahren, die er, ohne daß sie von ihm wußte, in einem WEDA-Heim bei Lyon zugebracht hatte, verliebte sie sich ebenso hoffnungslos in ihn wie zuvor in seinen Vater (vielleicht lag es an der Art, wie er einst Rise Like Birds… gesungen hatte, jene bekannte Schlagerschnulze der zwanziger Jahre). Der Wunsch alternder Schauspieler, sich in ihren Replikaten zu verewigen, war um die
Jahrtausendwende zur Sucht geworden. Niemand ahnte, daß WEDA keine reinen Klone, sondern in den Erbanlagen veränderte Menschen reproduzierte. Sie glichen ihren Vorbildern äußerlich, doch ihr Charakter und ihre Begabungen unterschieden sich; und tatsächlich waren die künstlerischen Fähigkeiten des jungen Baibach noch beeindruckender als die des Alten. Sein Mitleid ging jedoch nie so weit, sich wirklich mit ihr einzulassen, auch wenn er sie wegen der lächerlichen Figur, die sie abgab, insgeheim bedauert haben mochte. Noch im Tode, als ihre Krankheit schon das letzte Stadium erreicht hatte, war ihr keine Demütigung zu groß erschienen, wenn sie nur in seiner Nähe sein konnte. Als der Doktor sie auf der Treppe vor Baibachs Tür fand, lebte sie nicht mehr. Er hob ihre Augenlider an und sah das charakteristische Zeichen des P-Meningokokkus in ihrer Iris: eine Reihe rostbrauner Punkte, wie winzige Blattläuse, die sich zur Pupille hin verdichteten. Von einem Nachbarn, der ebenfalls Blut und Schleim spuckend in der Etagenwohnung unter seiner Mansarde lag, erfuhr er, daß Baibach am Morgen die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen hatte…
Drittes Kapitel
1 Es war beschwerlich, in der Dunkelheit den Weg zu finden. Das Depot lag in einem Kellergewölbe – einem ehemaligen Weinausschank. Jetzt standen auf den Holzböcken nur noch ein paar armselige Fässer ohne Deckel, von den Decken hing eine ramponierte Karnevalsdekoration, und wo einmal die Theke mit ihren Zapfhähnen und Spülbecken gewesen war, gähnte nur ein schwarzes Loch im Beton. An der Stirnwand des schmalen Aufenthaltsraumes der Kellner, eher Korridor als Zimmer, standen zwei geräumige Kühltruhen mit chemischer Kühlung, wie sie um 1990 eingeführt worden waren. In ihnen bewahrte er seine Sachen auf. Sie war vollgestopft mit Konserven, Rasierklingen, Seife, Schnürsenkeln, Kerzen, Trockenbrennstoff aus Armeebeständen und zahllosen anderen Kleinigkeiten für den täglichen Bedarf. Ein Stück tiefgefrorenes Rindfleisch, ein Lendenstück, das er in der einen der beiden Truhen lagerte, deren Kühlung noch funktionierte und die deshalb nur verderbliche Lebensmittel enthielt, war sein ganzer Stolz. Wie bei einem Gourmet, dem es fast mehr auf das Wissen und seine Wissenschaft vom Essen ankam als auf das Essen selbst, regte es immer aufs Neue seine Phantasie an. Er nahm es manchmal heraus, hielt es sekundenlang in der Hand und stellte sich vor, wie ein Teil davon in der Pfanne brutzelte – steckte es dann aber wieder sorgfältig zurück, damit es nicht antaute und verdarb. Die Neuen lebten fleischlos und rein vegetarisch. Es gab jedoch Fleischersatz, wie die Wurst aus der neugezüchteten Tschaukapuanze, einem dickblättrigen Gewächs mit klebrigen
gelblichen Knollen, das ebenso nahrhaft war und ganz ähnlich schmeckte. Andere Lebewesen zu verspeisen, die kaum anders fühlten als sie und den gleichen Schmerz empfanden, wenn sie starben, wäre ihnen unmöglich gewesen. Erst WEDA hatte die alte Erkenntnis ernstgenommen, daß landwirtschaftliche Nutzung ökonomischer war als Tierhaltung im großen Stil. Ein anderer Teil der Truhe enthielt zwei Maschinenpistolen mit der dazugehörigen Munition. Es waren Waffen aus einer Polizeistation. Der Doktor hatte sie sich beschafft, als plündernde Banden in den ersten Tagen nach der Katastrophe durch die Stadt gezogen waren, Resistente oder jene, die dem P-Meningokokkus etwas länger widerstanden als normal. Die Tür des Raumes verdeckte eine geschnitzte spanische Wand. Bisher war ihm noch niemand auf die Schliche gekommen. Er hatte sich ein Klappbett besorgt, ein Militärbett, das aus einem dünnen Rohrgestell mit Leinenbespannung bestand. Es war nicht bequem, aber sein Kreuz gewöhnte sich mittlerweile an alle möglichen und unmöglichen Unterlagen. Im Sommer war es, als plötzlich ein Unwetter hereinbrach, der Steinfußboden einer Metzgerei gewesen, und einmal sogar eine kurze Holzbank in den Gängen des Sozialgerichts. Auf dem Schemel am Kopfende stand ein altertümlicher Wecker zum Aufziehen, der ihn morgens mit blechernem Läuten weckte. Wargas braute sich einen starken schwarzen Tee auf (er schmeckte bereits muffig), süßte ihn mit viel Zucker und trank ihn in kleinen Schlucken, weil er noch etwas lesen wollte, aber sich eigentlich schon zu müde dazu fühlte. Er drehte das Licht der Petroleumlampe größer und nahm den alten Bericht über die Folter heraus, ein dickes Handbuch, das vom ›Komitee zur Abschaffung politischer Verfolgung‹ verfaßt worden war. Es stammte aus dem Jahre 2024, und wurde damals bereits in der dreiundzwanzigsten, ergänzten Ausgabe
aufgelegt. Manchmal las er darin, um seine melancholischen Anwandlungen über das Ende der alten Zeit im Zaume zu halten (er hätte den Gefühlsabschalter dazu benutzen können, obwohl seine Silberoxidbatterie schon schwach war, aber manchmal fühlte er sich herausgefordert, es ohne das Ding zu schaffen – Jahrtausende lang hatte man Leid und Schmerz ohne solche Hilfen ertragen, das brachte ihn sich selbst gegenüber und jenen schattenhaften Gestalten der Vergangenheit, die ihn in der Einbildung umstanden, in Verlegenheit). Auch wenn er selbst ein Verfolgter war, erschien ihm doch das gegenwärtige System – bei allen Schwächen, die ihm in der Übergangsphase anhafteten – unendlich viel besser als das alte. Damals hatte es allein in einem Jahr an vierzig Fronten der Welt Kriege gegeben (eine Zahl, die nicht einmal einen Rekord darstellte), kleine und große Zwiste, die verbalen Drohungen und Streitereien über Bodenschätze, Grenzziehungen, Einmischungen in innere Angelegenheiten und ideologische Fragen nicht eingerechnet. Das Ringen um Einflußsphären und Rohstoffquellen war nie zur Ruhe gekommen, und bei den Abrüstungsverhandlungen hatte ein Schritt vorwärts drei Schritte rückwärts eingebracht. Nach dem begrenzten Atomkrieg in Vorderasien schien es, als sei angesichts von Millionen Toten für lange Zeit Friede eingekehrt. Doch es war nicht mehr als eine kurze Atempause. Die letzten Greueltaten in den südamerikanischen Ländern hatten jeden Optimisten eines Besseren belehrt. Wenn in einem einzigen Jahrhundert zweihundertzwanzig Millionen Menschen durch Kriege sterben konnten, dann durfte man an der Schwelle zur Jahrtausendwende nicht erwarten, daß sich daran etwas Grundlegendes ändern würde, es sei denn, ein paar beherzte Männer wie jene in den Laboratorien von WEDA sannen auf Abhilfe. Dabei nahmen die Verfasser des Handbuchs an, daß der ›heimliche Krieg‹, jener politischer wie auch privater Art, was seine Opfer anbelangte, noch ausschweifender gewesen
war. Niemand zählte die Geschlagenen und Gedemütigten. Und wie viele waren Hungers gestorben? Wie viele in Gefängnissen und Konzentrationslagern als politisch Verfolgte umgekommen? Es gab keine verläßlichen Statistiken, nur Schätzungen. Vermutlich lagen sie eher zu hoch als zu niedrig. Man hätte glauben können, eine hochtechnisierte Gesellschaft verwende auch hochtechnisierte Folterwerkzeuge (was keine Entschuldigung gewesen wäre). Gelegentlich war das der Fall. Aber in aller Regel wandte man jene Methoden an, die schon im frühen Mittelalter beliebt gewesen waren. Ein immer wieder wirksames Foltermittel war, den Kopf des politischen Gefangenen so lange in eine Tonne mit Wasser zu drücken, bis er – kurz vor dem Ertrinkenstod – mit beiden Händen wild gegen den Rand schlug: ein Zeichen gab, daß er bereit war, sein Geständnis zu unterschreiben, den Hungerstreik abzubrechen oder auf andere Weise seine Gesinnung zu ändern. Solche Einzelheiten aus dem Handbuch des Komitees zur Abschaffung politischer Verfolgung machten es ihm leicht, seine melancholischen Anwandlungen im Zaume zu halten. Nein, er trauerte der Vergangenheit nicht nach. Sie schien vor allem aus Greueltaten bestanden zu haben. Hexenverfolgungen, Religionskriege und Pogrome hatten einander abgelöst. Es gab keine Kriege, sei es der einen oder der anderen Art, aus denen man seine Lehre zog. Er ließ das Buch zu Boden sinken, starrte noch eine Weile zur Decke und fiel dann in einen bleiernen Schlaf.
2 Das Tosen des Gitterrostes auf dem Kellerfenster im Raum nebenan weckte ihn. Einen Augenblick lang, während er schlaftrunken hochfuhr, glaubte er, es sei der Wecker. Dann wurde ihm sofort klar, daß es Schritte waren. Und Schritte bedeuteten Gefahr. Er stand auf – ein wenig schwankend, wie schon so oft in der letzten Zeit (als habe er zuviel getrunken), ein leichtes Sausen in den Ohren (vielleicht vom Kreislauf, dachte er) –, ging zur einen der beiden Kühltruhen und öffnete ihren Deckel. Das graue Metall der Maschinenpistole, die obenauf lag, ihr schwarzer Bogengriff und ihr geriffelter Lauf gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit. Es mochte trügerisch sein; aber noch brachte ihn nichts von der Überzeugung ab, daß WEDAs Säuberer einer solchen Waffe nicht gewachsen waren. So, wie ihre Schritte Gefahr bedeuteten, bedeuteten die Waffen Sicherheit. Waffen waren etwas, das dank Storantinium nicht einmal mehr dem Namen nach in ihrer Sprache existierte, seit sie es aufgegeben hatten, mit Panzerfäusten und Granatwerfern auf die Flüchtlinge in der Stadt zu schießen. Waffen waren Gegenstände, die nirgends mehr vorkamen, und Gedanken, die ein gewöhnlicher Mensch nicht bildete, da sie ihm überflüssig erscheinen mußten. Es wäre eine ebenso unnütze Vorstellung gewesen, wie sich ein Bild von den Werkzeugen der Lebewesen auf einem fremden Stern zu machen. Er horchte vorgebeugt – doch das Geräusch des Gitterrostes wiederholte sich nicht. Vielleicht sind sie schon auf der Kellertreppe, überlegte er. Oder sie ahnen gar nichts von meinem Quartier hier unten… Wie auch immer: falls sie kamen, würde er sie an dieser Stelle erwarten, nirgendwo anders. Wargas zog einen der beiden
Holzstühle heran und setzte sich in die Mitte des Raumes, die Waffe schräg auf den Oberschenkeln. Einige Minuten verstrichen und nichts geschah. Wenn sie darauf warten, daß ich das Mauseloch verlasse, haben sie sich geirrt, dachte er wütend und mit einem Anflug von plötzlicher Aggressivität. Es gab hier unten genug Wasser und Proviant, um eine ganze Woche oder noch länger durchzuhalten. Die eine der beiden Truhen enthielt sogar noch zwei große Dosen dänisches Exportbier; Halbliterdosen, schon etwas angerostet, da Aluminium für Dosen während der zweiten großen Welle des Rüstungswettkampfs um die Jahrtausendwende sehr knapp geworden war. Wahrscheinlich würde es längst sauer sein. Doch das spielte keine Rolle. Er trank nicht zum ersten Mal überlagertes Bier. Dann genügte es, einfach den Gefühlsabschalter einzustellen. Das Bier behielt zwar sein säuerliches Aroma, aber was an der Empfindung unangenehm war, verschwand. Es war nicht wie manchmal nach Mandeloperationen, wenn die Geschmacksnerven für Zucker oder Saures versagten. Allerdings genoß man das Bieraroma auch nicht. Aber dafür wurde man betrunken. Und wenn er den Gefühlsabschalter in jenem Stadium gebrauchte, war es wie die plötzliche Wirkung eines Sturztrunks. Das Gehirn war bereits vernebelt, man mochte schwanken, doch dann kam jene selige und einlullende Wirkung, die einen aller Sorgen enthob. Schnaps ließ sich jetzt nur noch selten auftreiben. In den ersten Tagen der Seuche, als einige zu verstehen begannen (andere wollten es bis zu ihrem Tode nicht begreifen), daß es keine Rettung gab und die üblichen Antibiotika gegen den Erreger versagten, hatte eine unglaubliche Plünderung der Spirituosenhandlungen und Weinlager eingesetzt. Auch den Fabriken erging es nicht besser, sie wurden ausgeräumt, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot: wo die Türen den Äxten
nachgaben und die Wachtposten nur geringen Widerstand leisteten. Man hielt es nicht einmal für nötig, ihre Leichen zu verstecken, es gab nichts mehr zu verbergen. Viele Polizeistationen hatten sich aufgelöst. Bei anderen regierte das bloße Faustrecht; und in den großen Städten im Norden oder Süden sah es ganz ähnlich aus. Nur im zentralen Rathaus hielt sich ein kleines Einsatzkommando, ein Krisenstab, der immer noch Lautsprecherwagen und Wasserwerfer aussandte. Aber die Menge, die sich wie durch Zauberkraft an den Straßenecken zusammenballte, war nicht mehr zu bändigen. Als erliege sie den uralten Gesetzen ziehender Herden, bildeten sich sofort Spitzen mit Anführern, die Parolen ausgaben. In der Stadt blieb keine Schnapsbrennerei vor ihnen verschont. Andere verhökerten ihr Vermögen für eine Flasche amerikanischen Whiskys oder französischen Kognaks. Noch höher in der Gunst standen süße Mischungen und Liköre, da sie sich leichter in großen Mengen konsumieren ließen. Tranquilizer waren schon im Jahre 2010 wegen des schwunghaften Schwarzhandels mit wenigen Ausnahmen für medizinische Zwecke verboten worden. Nach internationaler Übereinkunft wurden sie seit damals nur noch von den Vincent-Laboratorien in Nordfrankreich, einer Tochtergesellschaft des WEDA-Konzerns, hergestellt. Wenn man keinen Gefühlsabschalter besaß, war Alkohol neben starken Betäubungsmitteln das einzige, was einem eine gewisse Erleichterung beim Sterben verschaffen konnte. Sobald das Lungengewebe und die Lungenbläschen erst einmal mit entzündlicher Ausschwitzung aus den Blutgefäßen durchsetzt waren, gab es keine Rettung mehr. Er erinnerte sich jetzt wieder des makabren Bildes, als er in den langen Gängen der Krankenhäuser, während er Vera suchte, auf ganze Menschenschlangen von Betrunkenen gestoßen war, eine Kette, die sich an den Händen hielt und schunkelte und unvermittelt in
lautstarkes Lamentieren darüber ausbrach, welche unerhörte Leichtsinnigkeit es war, daß die Wasserwerfer in den Straßen verseuchtes Wasser versprengten. Solche plötzlichen Ausbrüche von Fröhlichkeit, die mit Argwohn wechselten, waren eine Folge der Bewußtseinsstörung, wie sie bei einer Meningitis auftrat. Man nahm anfangs an, der Erreger würde ähnlich der gewöhnlichen Gehirnhautentzündung als Tröpfcheninfektion übertragen, und die Ostblock-Streitkräfte schienen deshalb gezielt alle Trinkwasserreservoirs der Städte infiziert zu haben. Bierbrauer und Limonadenhersteller machten nie gekannte Umsätze. Bis sich herumgesprochen hatte, daß auch jene erkrankten, die ausschließlich von Wasser aus Flaschen und Dosen lebten, da sich der Erreger ebenso leicht mit der Luft verbreitete. Eine dicke Frau im Gang der Geburtsklinik hatte gerufen: »Es ist die Pest… die schwarze Pest ist wiedergekehrt.« Dabei war sie dem Doktor in den Arm gefallen, offenbar, weil sie ihn von einer früheren Behandlung her kannte. »Unsinn, es ist die Gehirnhaut«, hatte er erklärt und ihren Arm weggedrückt. »Dann helfen Sie uns!« »Niemand kann jetzt noch helfen.« Darauf war sie in hysterisches Gelächter ausgebrochen. »Es ist die Pest.« Sie hielt sich ihren steifen Nacken und sah ihn aus eigentümlich trüben, glanzlosen Augen herausfordernd an. In ihrem Blick war bereits das Anfangsstadium des Deliriums zu erkennen. Eine kleine Gruppe bedrängte ihn, als die Frau wütend auf ihn zeigte. Jemand griff nach seinem Arm. Wargas riß sich los und ging weiter. Es war eine Klinik aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts in alter Steinbauweise; gekalkte Gänge mit dunklen Lacksockeln und Gewölbedecken, an denen
sich Wasserflecken zeigten. Er beeilte sich, hinauszukommen. Vera war nirgends zu entdecken. Aber zwei Tanzende versperrten ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg, die Haare strähnig in der Stirn. Ihre Gesichter waren fiebrig gerötet. Es ist wie in der geschlossenen Abteilung einer Anstalt, dachte er entsetzt. Jemand, ein junger Mann mit nacktem Oberkörper, erbrach sich an der Wand und wich zugleich vor ihr zurück, als sei sie der leibhaftige Teufel; ebenfalls ein Symptom der Krankheit. Er hielt seine Brust vor Schmerzen. Wargas kannte den weiteren Verlauf der Seuche. Sie entwickelte sich ganz ähnlich wie die klassische epidemische Meningitis – bis auf den Augenbefund und einen trockenen Husten, der sich dann rasch zur tödlichen Lungenentzündung ausweitete. Manchmal begann sie auch mit der Lungenentzündung, und die Symptome der Meningitis blieben aus. Es schien vor allem dann der Fall zu sein, hatte er herausgefunden, wenn der Patient in seiner Jugend bereits einmal an epidemischer Gehirnhautentzündung erkrankt war. Damals gelang es ihm nur mit Mühe, den Verrückten zu entkommen. Es gab keine Rettung für sie, und er bereute seinen Leichtsinn, der Frau eine solche Antwort gegeben zu haben; es war besser, ihnen nichts davon zu sagen. Die unmittelbare Folge würde sein, daß sie, falls man sie überhaupt von der Richtigkeit der Diagnose überzeugen konnte, hingingen und jemanden umbrachten, der ihnen schon lange im Wege gestanden hatte; oder sich bereicherten, wo immer sie konnten, als sei es möglich, etwas mit ins Grab zu nehmen. Er hatte von Fällen gehört, bei denen Verrückte mit irgendeiner Urkunde ins Katasteramt gingen (oft war sie auf durchsichtigste Weise gefälscht), weil sie das Grundstück ihres eben verstorbenen Nachbarn beanspruchten. Und das, obwohl sie bereits alle Symptome der Krankheit zeigten, wie Nackensteifigkeit,
Bewußtseinstrübungen, Fieber, Erbrechen, Schüttelfrost, starken Kopfschmerzen, die sich bis zur Raserei steigern konnten, und rötlichen Auswurf. Wargas streckte das Bein, auf dem die Maschinenpistole lag. Sein rechter Fuß war eingeschlafen. Hinter ihm, nur wenige Meter entfernt, tropfte Regenwasser durch die Decke. Er beobachtete das gleichmäßige Aufschlagen der Wassertropfen – wie sie, wenn sie den Steinfußboden berührten, in winzige Perlen zerstoben. Und plötzlich wurde ihm bewußt, daß es draußen zu regnen begonnen hatte… Es bedeutete, daß er hier unten sicher war. Jedenfalls für eine Weile. Regen mieden die Purificateurs, als sei es der Leibhaftige; als erscheine ihnen das Böse in der Form von Wasser, so wie es dem jungen Mann in der Klinik als grüngestrichene Wand begegnet war, während er sich erbrach. Dann wurden sie mit einem Male sehr lebendig und sahen zu, daß sie ihre kostbare Haut in Sicherheit brachten. Regenwolken trugen noch immer Radioaktivität aus anderen Kontinenten heran, und ob ihre Toleranzgrenze überschritten war, hing davon ab, woher sie kamen. Am gefährlichsten waren osteuropäische Winde. Die amerikanischen Raketen hatten wegen ihrer größeren Treffsicherheit und überlegenen Elektronik den Ostblock nach sauberen Planquadraten ausradiert, während einige der sowjetischen Raketen für den mittleren Westen in Alaska heruntergekommen waren. Daß die Neuen den Tod kaum weniger fürchteten als er, erfüllte ihn manchmal mit Erleichterung und schien ihm der Beweis ihrer Menschenähnlichkeit oder sogar Menschlichkeit (wenn er sich auch gleich darauf einen Narren nannte, Menschlichkeit von Todesangst abhängig zu machen, denn nach seiner Überzeugung beruhte sie auf freier Wahl – trotz widriger Umstände, seien es angeborene oder äußere Behinderungen – und nicht auf Angst, auch nicht auf der Angst, die irgendein
Gesetz oder Gebot oder die Religionen einflößten). WEDA arbeitete zwar daran, durch neue Gen-Kombinationen jene älteste Plage des Menschen genau wie den Schmerz auf ein so erträgliches Maß herunterzuschrauben, daß er in der ruhigen Überzeugung starb, sein Leben gelebt zu haben und sich bereitwilliger der ›Seelenbank‹ zur Verfügung stellte, sobald es notwendig oder an der Zeit war. Etwa, weil sich seine Gene den neuen Belastungen gegenüber als nicht gewachsen erwiesen, oder weil er abnormes Verhalten oder Wünsche zeigte, die auf den Durchbruch der alten Raubtiernatur hindeuteten. Es gab immer noch Fälle von Aggressivität, von Wut, Eifersucht oder Intoleranz. Aber sie waren selten, und aus den wenigen Hinweisen, die ein gewöhnlicher Fernsehzuschauer oder Rundfunkhörer wohl nicht einmal zu deuten verstand, entnahm er, daß man sehr sorgfältig darauf bedacht war, solche Personen zu isolieren. Es gab Laboratorien, die sich speziell der Untersuchung und Behandlung von Gen-Fehlern widmeten. Zugegeben: manchmal kamen ihm Zweifel. Die Auslese der Irrläufer war ein Stein des Anstoßes. Der Doktor in ihm (ein Skeptiker von Geburt, der überall Eigensucht und bösen Willen vermutete) dachte dann an die unrühmlichen Beispiele der Vergangenheit, das Unternehmen ›Lebensborn‹ der Nationalsozialisten um ›Kinder guten Blutes‹ zu zeugen, oder an die Versuche, eine Rasse vor der anderen zu bevorzugen, indem man sie von den demokratischen Freiheiten fernhielt und sie so in der Unmündigkeit beließ. Aber WEDAs Menschen waren keine ›großen, blonden Europäer‹, dazu bestimmt, die Welt zu beherrschen. Und niemand verwehrte einem Schwarzen, sich replizieren zu lassen. Der Vergleich hinkte auch in anderer Hinsicht. WEDA war kein tyrannischer Konzern, der sich der Weltherrschaft bemächtigte, seine alten Männer wollten das Beste. Ihre Absicht bestand in der lobenswerten und ehrenvollen Idee, einen Menschen zu
schaffen, der nicht mehr in Versuchung geriet, sich selber auszulöschen. Es war tatsächlich der Weg zur Apotheose. Nicht einmal ein Königsweg, dachte er, sondern nur das einzige Schlupfloch der Evolution. Denn nach aller Erfahrung gab es keine andere wirklich erfolgversprechende Möglichkeit, sie vor sich selbst zu schützen, als am Anfang einigen Zwang auszuüben. Eines Tages würden sie in Freiheit ihrer Wege gehen. Es war keine bedrohliche Macht im Hintergrund, keine despotische Willkürherrschaft, wie man hätte vermuten können. Er hatte sich in ihren Nachrichtensendungen davon überzeugt. Trotzdem ertappte er sich manchmal bei dem alten unwiderstehlichen Puerilismus, ihnen um jeden Preis intrigante Motive und übelwollende Ziele unterzuschieben. Er durchschaute es als jenes anerzogene Mißtrauen, das den Alten zur zweiten Natur geworden war. Er mußte sich davon freimachen, alles nach den bösen Erfahrungen der Vergangenheit zu beurteilen. In Lyon hatte man die Zeichen der Zeit verstanden – das beteuerte er sich selbst immer wieder – und nicht gezögert, eine günstige Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen. Er war begierig, zu hören, was der Amerikaner in der Fabrik darüber dachte. Wenn er kein Radio besaß, wußte er kaum etwas von alledem, ahnte nicht, was in den Orten um die Stadt vorging. Wargas malte sich seine Verblüffung aus, wenn er davon erfuhr. Vielleicht war das ein Grund, ihn zu besuchen? Eher jedenfalls, als sein Vorschlag, an den langen Winterabenden Schach zu spielen (es interessierte ihn nicht mehr, sein Gehirn für eine so nutzlose Sache zu strapazieren; es kam ihm wie Kraftvergeudung vor). Ohne WEDA wären sie alle tot. Diese Tatsache schien vieles in ein anderes Licht zu rücken. Es gab ihnen zwar noch nicht das Recht, über Menschenleben oder das Wissen um ihre geschichtliche Herkunft zu entscheiden. Doch nach allem, was man aus der Geschichte lernen konnte, würde eine weniger
harte Hand unweigerlich in die Fehler der Vergangenheit zurückführen. Eine unendliche Wiederkehr der alten Tragödie war die Folge. Er hatte einige Zeit gebraucht, um sich mit diesem Gedanken anzufreunden. Schon jetzt genoß jeder in ihren Städten, wenn er sich den Idealen entsprechend entwickelte, ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit. Und solche Ideale waren keine Frage des Geschmacks, sondern das Ergebnis bitterer Erfahrungen. Es gab keine Einschränkungen, wenn man davon absah, daß das Wissen um die Fehler der Vergangenheit ihnen für immer verschlossen bleiben sollte.
3 Der Doktor lugte vorsichtig über den Rand des Kellerschachtes. Er besaß Stufen, auf denen noch die alten Lederkissen zum Aufschlagen der Fässer lagen, und einen Deckel, den man von unten mit einem rostigen Eisenriegel verschließen konnte. Der Regen hatte nachgelassen. Das Trottoir war menschenleer. Er sah zum Eingang des Weinlokals hinüber: es lag etwas zurückgesetzt in einer dunklen Passage, deren Bodenfliesen mit Glassplittern von zerschlagenen Schaufensterscheiben übersät waren. Der Gitterrost, dessen Schlagen er gehört hatte, war nur ein Kellerloch neben ihm. Falls sie nicht gegenüber in den Häusern stecken, ist die Luft rein, überlegte er. Aber warum sollten sie das? Wenn sie ahnten, daß er hier war, wären sie gleich heruntergekommen. Sie konnten nichts von seinen Waffen wissen. Für sie war er nichts weiter als ein ungefährlicher alter Mann, der um sein Leben lief. Ein Unbelehrbarer, der sich den Wohltaten von WEDAs Seelenbank entziehen wollte (er war allerdings nicht ganz sicher, ob sie selbst an dieses Märchen glaubten).
Er klappte den Eisendeckel ganz zurück, wobei Staub und Rost auf seinen kahlen Schädel herabrieselten. Als seine Knie den Bürgersteig berührten und er sich aufrichtete, überkam ihn wieder ein Schwindel wie beim Aufstehen. Vor seinen Augen flimmerte es dunkel, und in seinen Ohren sauste und rauschte es. Kreislaufstörung, dachte er… oder das verdammte Essen. Die chemischen Neutralisatoren, die man der Nahrung zugefügt hatte, damit sie genießbar wurde. Er machte einige zögernde Schritte und lehnte sich dann gegen einen Pfeiler neben der Hauswand. Schweiß bedeckte seine Stirn. Es war absurd, sich vorzustellen, daß er als einer der wenigen Alten den P-Meningokokkus überstanden hatte und eines Tages an irgendeiner lächerlichen Krankheit zugrunde gehen würde, die nur deshalb unbehandelt blieb, weil er sie nicht diagnostizieren konnte. In den Apotheken und Krankenhäusern gab es genügend Medikamente. Niemand kümmerte sich mehr darum. Er spürte, daß der Anfall vorüberging; dann überkam ihn immer eine tiefe, fast unnatürliche Ruhe. Sobald der Schwindel nachließ, war er wieder ganz in Ordnung und fühlte sich jeder Anstrengung gewachsen. In der Universitätsbibliothek hatte er vergeblich nach einer Erklärung für seine Symptome gesucht. Immer, wenn es vor den Augen zu flimmern begann, verspürte er einen merkwürdigen chemischen Geschmack im Mund und oberen Teil der Speiseröhre; vermutlich kam er aus dem Magen. Er schloß aber auch nicht aus, daß es die Lunge war. WEDAs Laboratorien sollten in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte auf medizinischem Gebiet gemacht haben. Deshalb hörte er manchmal ihre allwöchentlichen Gesundheitssendungen ab. Eine junge Frau mit rötlichem Haar und dem Gesicht eines Engels erklärte ihren Zuschauern den Zusammenhang von genetischem Code und Krankheiten. Selbst Schizophrenie und Diabetes ließen sich auf überzeugende
Weise einschränken (sie erläuterte das alles mit hinreißender Klarheit). Wenn es ihm auch schmerzlich seine eigene Unvollkommenheit bewußt machte, war er doch jedes Mal begierig darauf, sie zu sehen; schon wegen ihres schönen Gesichts. Der Phänotypus, das Erscheinungsbild des Organismus, wie es durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse geprägt wurde, sei ein kompliziertes Wechselspiel (das hatte man allerdings schon lange gewußt). Wer den kleinen Spielraum der Freiheit ausnutze und sich so verhalte, wie es seiner Gesundheit angemessen sei – mit einem Wort: vernünftig –, brauche kaum noch befürchten, krank zu werden (auch das war keine Neuigkeit). Es handelte sich denn auch vor allem um Aufklärung über kleine Nachlässigkeiten, die manchmal vorkamen, weil man leichtsinnig wurde und auf die Überlegenheit und Kraft seiner Gene vertraute; man vergaß sich die Zähne zu putzen; aß ungenießbare Pflanzen; oder vergriff sich an den Storantinium-Cocktails. Wegen der vielfach überhöhten Dosis ließ dann auch das Kurzzeitgedächtnis nach. Man schenkte ihn zwar nur unter Kontrolle aus, gerade deshalb aber glaubten sie, es sei ein besonders kostbarer Jungbrunnen – obwohl das von WEDA nie behauptet wurde. Anscheinend gab es Mittel und Wege, sich den Trank illegal zu beschaffen. Eine andere Komplikation trat manchmal auf, wie der Fernsehengel an Schaubildern erläuterte. Die Neuen der letzten Entwicklungsphase bekamen kein Milchzahngebiß mehr, doch dafür fielen ihnen plötzlich, im sechsten bis achten Jahr, zur Zeit des gewöhnlichen Zahnwechsels, ihre sogenannten bleibenden Zähne aus, dann vergingen einige Wochen, manchmal acht oder zehn Monate, bis ihnen Zähne der dritten Generation nachwuchsen. Es mochte auf ein Zeichen der Höherentwicklung hindeuten, da es eine ganze Entwicklungsstufe übersprang, war aber auch nicht ohne
Probleme, und die engelhafte Moderatorin erklärte einem in ihrer kehligen deutsch-französischen Mischsprache, die sich jetzt immer mehr durchsetzte, wie man für den Übergangszeitraum seine Prothese gebrauchte, wie sie gereinigt wurde und wo man sie bekam. Es gab andere kleine Leiden. Aber die Symptome, die er bei sich feststellte, waren nie erwähnt worden. Es beruhigte ihn jedoch, daß er jetzt nach seiner Erfahrung wieder für einige Tage beschwerdefrei sein würde (obwohl er trotz seiner Angst manchmal mit dem Gedanken spielte, sich einfach in ihre Orte und eines der medizinischen Laboratorien zu begeben: Wenn er es geschickt anfing, konnte er sie wegen seines Alters und Aussehens vielleicht täuschen und glauben machen, einer von WEDAs Eierköpfen auf der routinemäßigen Inspektionsreise aus Lyon zu sein. Dazu hätte er allerdings eine Perücke tragen müssen, um den silbernen Knopf in seinem Schädelknochen über dem rechten Ohr zu verbergen – das Kainszeichen, das ihn unweigerlich verriet). In der Zeit nach der Jahrtausendwende waren viele neue Krankheiten aufgetaucht, die in einem ursächlich noch nicht genau erforschten Zusammenhang mit den Umweltbelastungen standen. Quecksilber, Blei und Cadmium nahmen dabei neben den neuen chemischen Verbindungen der Jahrtausendwende einen geradezu lächerlich geringen Platz ein. Er schloß auch nicht aus, daß die Radioaktivität bei seinem Leiden eine Rolle spielte. Sie war zwar nicht sehr hoch, doch ihre Wirkung ließ sich nie bis in alle Einzelheiten voraussehen. Man wußte von Entwicklungshemmungen und Mißbildungen, vom Einfluß auf die Keimdrüsen und blutbildenden Organe und von der wachstumsanregenden Wirkung auf Krebs und Sarkome. Selbst die Gen-Technik konnte nur lindern und nicht völlig vor Schäden bewahren, obwohl noch vor etwas über vierzig Jahren bezweifelt worden war, daß es ihr überhaupt je gelingen könnte,
eine derart präzise Veränderung der Erbanlagen zu bewirken. Noch im Jahre 1977 hatte Joshua Lederberg, ein bekannter Nobelpreisträger für Medizin, behauptet: »Keine Methode der genetischen Modifikation wird jemals so zuverlässig sein, daß sie, ohne ein inakzeptables Risiko monströser Nebeneffekte, beim Menschen angewandt werden könnte.« Joshua bestätigte, »daß die meisten genetischen Defekte sehr verbreitet sind – wir alle tragen einige solcher Gene in jeder unserer Zellen – «, doch er hielt den Gedanken für völlig utopisch, sie könnten radikal beseitigt werden. Die Entwicklung hatte ihn darin, wie andere falsche Propheten vor ihm, in kürzester Zeit überrollt. Doktor Wargas fand die beschränkte Phantasie mancher Gelehrter geradezu grotesk: vor hundert Jahren hätten sie die Möglichkeit einer drahtlosen Bildübertragung über viele Kilometer mit dem ganzen Ernst ihrer wissenschaftlichen Existenz bestritten, und von der Heilkraft der Antibiotika ahnten sie damals so wenig wie Aristoteles vom Telefon. Es hinderte aber niemanden, immer neue Spekulationen zu wagen, was in der Zukunft unmöglich sein würde. Er hatte nur Angst, daß es eines Tages genau dann passierte, wenn sie ihn jagten. Es war seine Achillesferse, der Punkt, den man vergessen hatte, in den Styx, den Fluß der Unterwelt, einzutauchen. Wargas frühstückte in einer ehemaligen Hotelküche. Es bereitete ihm Vergnügen, mit dem Kunststofftablett an den Metallbehältern der Theke vorüberzugehen und einzusammeln, was genießbar geblieben war: bittere Pomeranzen-Marmelade, Beutelchen mit Trockenmilch, in Folien abgepackte Frühstückskekse. In einer der Edelstahlwannen entzündete er dann ein Feuer aus den zerbrochenen Stühlen, füllte einen Kessel mit Wasser aus den Nottanks, setzte ihn auf und gab drei Teelöffel Kaffee-Extrakt in die Tasse. Er pflegte das Wasser
sehr lange zu kochen, es dauerte immer eine halbe Ewigkeit, weil er nie sicher sein konnte, ob das Zeug aus den Tanks noch genießbar war. In den Jahren vor dem Krieg war es zur Pflicht geworden, Notvorräte anzulegen, und die meisten Gebäude verfügten über Wasservorräte, mit denen ihre Bewohner einige Monate hätten überleben können. Sie wurden nach einiger Zeit ausgepumpt und zu amtlich festgelegten Zeiten neu gefüllt. In der Regel hatten sie den hygienischen Bestimmungen entsprochen und waren mit Chlorgas gesäubert worden. Aber man konnte sich nicht darauf verlassen. (Einmal war er fast an einer toxischen Bakterienruhr mit heftigen Koliken krepiert, er hatte sich nur noch mühsam in eine Apotheke schleppen können.) Im allgemeinen waren die behördlichen Gebäude und Hotels sauber; kleinere Küchen, billige Gaststätten und Imbißlokale mied er jedoch seitdem, wo es ging. Ebenso die Kneipen, aus deren Leitungen einem ein atemberaubender Hefegestank entgegenschlug, sobald man ihre Zapfhähne öffnete. Er goß heißes Wasser auf den Kaffee-Extrakt, gab etwas Trockenmilch und Würfelzucker hinzu und setzte sich dann mit dem Tablett in einen der tiefen Fauteuils aus weinrotem Velours, die überall in der dämmrigen Hotelhalle zwischen abgestorbenen dickblättrigen Pflanzen verstreut standen. Die schweren samtartigen Vorhänge waren zugezogen, nur hier und da fiel ein Lichtstreif auf den Parkettboden, und während er von den Keksen aß und seinen Kaffee trank, hatte er das Gefühl, in völliger Sicherheit zu sein, denn er würde jeden Eindringling aus dem Dämmerlicht heraus sofort entdecken, sobald er am anderen Ende der Halle, in einer der seitlichen Türen oder auf der Treppe des Aufgangs erschien. Er saß mitten im Raum, neben einem Pfeiler, balancierte das Tablett auf den Knien und streckte behaglich seine Beine aus.
Schräg über ihm hing ein Bild, das eine tabakblonde junge Frau zeigte, die lasziv in ebenso einem Velours-Fauteuil saß und ein Glas Sekt in den schlanken weißen Händen hielt; sie trug ein tief ausgeschnittenes, dunkelrot glänzendes Satinkleid, das zu ihrer sinnlich-schläfrigen Haltung paßte. Eines jener elektronischen Farbfotos, wie sie damals überall zu Hunderten im Umlauf waren. Jedermann pflegte sich bei jeder Gelegenheit abzulichten, um seine Existenz für alle Zeiten nachweisbar zu konservieren. Solche Bilder kosteten nur Pfennige. Man benötigte keine Apparate mehr, sondern riß lediglich die mit einem Zeitwerk versehene Ablichtfolie auf. Wahrscheinlich war es die Frau oder Tochter des Hoteliers. Ihr Bild erinnerte Wargas daran, daß diese Hotels am Ende des alten Jahrtausends Stätten ausschweifender Gelage und Feste gewesen waren: so, als wiederhole sich die Fin-de-siècle-Gesellschaft durch geheimnisvolle Gesetze an jedem Ende des Jahrhunderts und erst recht zur Jahrtausendwende; als sei sie dann sogar noch ausschweifender und überfeinerter oder überhaupt nur noch genußsüchtig (falls man es sich erlauben konnte); wobei die kulturelle Überfeinerung vor allem darin bestanden zu haben schien, von der Unausweichlichkeit des nächsten Krieges überzeugt zu sein und das in Vortragsabenden und kleinen Theaterstücken zum Ausdruck zu bringen. Sie handelten alle mehr oder weniger ahnungsvoll vom Kommenden, von der Katastrophe, die vorgezeichnet schien, und von den Folgerungen, die jeder für sein persönliches Leben daraus ziehen würde: zu leben und zu genießen, solange man noch eine Möglichkeit dazu besaß. Er war einmal spätabends von Vera in das Hotel gelotst worden, ohne zu ahnen, daß der alte Baibach dort eine Vorstellung gab. Damals hatte man die Sessel und einige zusätzliche Stühle an den Rändern der Halle aufgestellt, und Baibach deklamierte mit erhobener Stimme den Text eines jungen Dichters:
Vergeht, vergeht das erkorene, Feuchtkalte Erdenwas Im heißen Feuer unserer Nacht Und lodert durch Deinen Haß Zur Himmlischen Empore, Auf der schon neues Leben wacht. Es war in der typischen Weise der Zeit abgefaßt, die sich in Andeutungen und dunklen Ahnungen erging. Sein Tonfall glich dem von unzähligen anderen weinerlichen und vor Selbstmitleid triefenden Gedichten. Das »erkorene feuchtkalte Erdenwas« war offenbar der Mensch, »erkoren« appellierte an seine Freiheiten und Möglichkeiten, und »heiße Feuer unserer Nacht« bedeutete nichts anderes als jene durch Haß, Dummheit und Machtgier verursachte atomare Katastrophe, der dann, wie es tatsächlich geschehen war, das neue Leben folgte. Daß dieses neue Leben in himmlischen Gefilden wachte, weit entfernt vom kläglichen Erdenwas unter ihm, ließ allerdings auf eine erstaunliche prophetische Gabe schließen. Vera hatte hingerissen gelauscht und Wargas den Sinn des Textes interpretiert. Hingerissen, wie er annahm, vor allem wegen der hohlwangigen Gestalt dort auf dem Stuhl. Wenn er statt des Gedichtes Rise like Birds gesungen hätte, würde der Eindruck nicht lächerlicher gewesen sein. Seine erhobene Hand zitterte von der Parkinsonschen Krankheit, als versuche sie auf diese klägliche Weise dem Gedicht einen gewissen Takt zu geben; doch es war nicht mehr als der Takt der Senilität. Er trug einen schäbigen grauen Anzug – an den Taschenrändern schon glänzend und abgegriffen und mit ausgebeulten Knien –, nur noch ein Schatten der eleganten Garderobe, für die er bei seinen früheren Auftritten bekannt gewesen war. Einige Jahre zuvor hatte man begonnen, die Mode
der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wiederzuentdecken, jene steifen Hüte und biederen grauen Anzüge, Einreiher und Hosen mit Umschlägen und langen Festkleidern, später dann Petticoats und Miniröcke, vieles allerdings aus den rauhen, anspruchslosen Stoffen der vollautomatischen Fertigung, bei denen es weniger auf Qualität als auf Quantität ankam. Baibach trug einen Gabardine-Anzug, der geradewegs aus dieser Zeit in den Anfang des neuen Jahrtausends katapultiert zu sein schien: wie von einem Zeitreisenden, der sich in einer fremden Umgebung wiederfand. Den unberechenbaren Sprüngen und Vorlieben der Mode folgend, waren auch die andern im Stil jener Epoche gekleidet. So, wie sie wohl einige Jahre später, wäre nicht der Krieg dazwischengekommen, eine andere, ebenso nostalgische Mode gewählt hätten. – Als Baibach mit seinem Vortrag endete, applaudierte man ihm heftig; und der warf – sei es aus Ironie oder um ihn, den Doktor, zu brüskieren – eine Kußhand in Veras Richtung; seine Finger zitterten wie gewöhnlich ihr seniles Stakkato dazu, was Wargas bei allem guten Willen, sich nicht von kleinlichen Gefühlen hinreißen zu lassen, dann doch als ausgleichende Gerechtigkeit erschien… Zahlreiche harmlose Demütigungen verwundeten mit der Zeit mehr als ein einziger, krasser Affront, den man schnell wieder vergaß. Wenn der Gegner allerdings so zittrig war, daß seine Beleidigungen die Harmlosigkeit eines Clowns annahmen, stellte sich bei ihm glücklicherweise schon bald Mitleid ein. Er dachte an Baibachs vergeblichen Versuch, ihn mit einem kleinen Lehrfilm für das Medizinische Seminar der Universität in seiner Rolle als Arzt zur lächerlichen Figur zu machen. Der Doktor hatte eine vielbeachtete Arbeit über Die Funktion der Verdickung des Corpus Callosum beim weiblichen Gehirn veröffentlicht und ein neurologisches Modell entworfen, das die Unterschiede von männlicher und weiblicher Aggressivität
erklärte. Da dem Schauspieler irgendein Kerl, mit dessen Frau er verkehrte, nachts einen Stein durch sein Schlafzimmerfenster geworfen hatte und er Wargas verdächtigte, weil er ihm wegen seiner Impulsivität nicht über den Weg traute, versuchte er sich nun zu rächen, indem er den Doktor, der sich ungern für derartige Lehrfilme hergab, als senilen und zittrigen alten Arzt darstellte (wie um von seiner eigenen Zittrigkeit abzulenken); dem während der Demonstration an einer Silikonnachbildung der Gehirnlappen die Spitze des Zeigestocks in einer Falte des Hypothalamus steckenblieb – was er mit der etwas dümmlichen Bemerkung quittierte, man treffe das weibliche Gehirn noch immer leichter mit dem Stock als durch eine wissenschaftliche Theorie. Er spielte dabei auf einen kritischen Kommentar im Allgemeinen medizinischen Monatsblatt an. Der Regisseur hatte den kleinen Zwischenfall als Auflockerung des trockenen Lehrstoffs stehen lassen, und aus seinen Bemerkungen wußte Wargas, daß Baibach glaubte, er habe ihn mit diesem Streich und der Nachahmung seiner näselnden Stimme vor den Studenten auf überaus subtile Weise lächerlich gemacht. – Das alte Spiel von Haß und Gegenhaß, von Animosität und Unduldsamkeit; im Großen wie im Kleinen; und vielleicht war die Zeit wirklich überreif gewesen, damit ein Ende zu machen. Wargas setzte das Tablett vor seine Füße auf den Parkettboden ab und ließ es dort stehen. Anfangs hatte er aus alter Ordnungsliebe immer alles abgeräumt und sich sogar dabei ertappt, daß er Teller und Tassen gespült in die Schränke zurückstellte. Aber dann war ihm das angesichts der Größe der Stadt, in der doch alles verrotten und verkommen würde, als eine völlig unnütze Ordnungsliebe und Plackerei erschienen. Es gab genügend sauberes Geschirr in den Schränken. Ein einzelner würde es in hundert Jahren nicht verbrauchen können. Allerdings bemühte
er sich, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. Deshalb betrachtete er das Tablett einen Augenblick lang nachdenklich, ehe er sich auf den Weg hinaus machte – und stieß es dann mit einem Fußtritt unter den nächsten Sessel.
Viertes Kapitel
1 Wie immer warf er einen sorgfältigen Blick auf die Straße, ihre dunklen Hauseingänge mit den fehlenden und offenstehenden Türen und auf die langen Reihen blinder oder eingeschlagener Fenster. Oft verharrte er länger als eine halbe Minute, bis sein Gefühl ihm sagte, daß die Luft rein war. Das Sonnenlicht strich über kalte Fassaden mit unregelmäßig abgeplatztem Putz: Einschußlöcher, wie sie schon nach beiden Weltkriegen an den Häusern zu finden gewesen waren, die vor ihnen dort gestanden hatten. (Alles schien sich zu wiederholen, die Pest im Kopf der Menschen ebenso wie der zerschossene Stein.) Wolken jagten tief über die Stadt dahin, in der nächsthöheren Schicht mit seltsam irisierenden Rändern, und mit ihnen wechselten ihre Schattenbilder auf dem nassen Asphalt. Die dreizehnstöckige Quaderfassade einer Versicherungsgesellschaft schmiegte sich wie ein in Fels gehauenes Profil an den mehr als dreimal so hohen Kubusbau der Zentralen Arbeiterwohlfahrt. Eine Holztreppe führte zum Dachgartenpark des flachen Glasgebäudes zu seiner Linken, über dessen Geländer sich die vertrockneten Wipfel junger Grauerlen neigten. Vom Dach der ›Bierinsel‹, dem Betonmastlokal am Kreisverkehr, flogen zwei schwarzgraue Dohlen auf, und aus den Dachrinnen gegenüber erklang das »Kjack-Kjack« ihrer Artgenossen. Vögel hatten ihm schon oft einen gehörigen Schrecken eingejagt, wenn sie, dreist, wie sie ohne Feinde geworden waren, in den Abfällen der Häuser herumstöberten
oder unvermittelt in einer düsteren Gasse vor ihm wegflogen. Die Purificateurs flogen zwar nicht auf, aber dafür schlichen sie wie Katzen, und sie erschienen ebenso plötzlich. Manchmal steckten sie auch in den endlosen Kolonnen parkender Wagen am Bordstein zu beiden Seiten der Straße. Deshalb glitt sein Blick jetzt über ihre staubbedeckten Windschutzscheiben. – Er konnte nichts entdecken. Falls sie es darauf anlegten, würde er sie erst bemerken, wenn er ganz dicht heran war. Sie brauchten sich nur hinter die Rücklehnen zu ducken oder ihre Vordersitze so weit herunterzukurbeln, daß man sie durch die Scheiben nicht mehr sah. Er ging langsam den Weg zwischen auf die Straße geworfenen Möbeln entlang – einer auseinandergebrochenen weißen Lackkonsole, zwei hölzernen Stühlen und einem Regalteil, dessen Rückwand beim Sturz aus dem Fenster über den Gully gerutscht war –, und seine Hand tastete unwillig nach dem geriffelten Knopf des Gefühlsabschalters, weil ihm Unordnung körperliches Unbehagen bereitete. Es mochte an seiner Erziehung liegen oder an den langen Jahren seiner Praxis als Arzt, in denen er sich dazu gezwungen hatte, jeden Handgriff systematisch und mit Bedacht zu tun. Obwohl er sich von Natur aus eher für impulsiv und schlampig hielt. Als er den Knopf bis zum Anschlag drehte, war kaum noch etwas von der Wirkung zu spüren. Batterien, dachte er – er benötigte dringend eine neue Silberoxidbatterie! Das war leichter gesagt als getan. Es gab kaum noch welche. Und dann auch noch eine bestimmte Größe und Stromstärke. Sie waren so kostbar wie frisches Brot oder Fleisch oder reines Wasser. Ohne Gefühle ließ sich alles ertragen. Gedanken waren neutral. In diesem Zustand würde er ohne viel Aufhebens in den Tod gehen können: mit der gleichen Gemütsruhe, mit der jemand seine Zähne putzte oder die Mülleimer leerte.
Manchmal pflegte er in einer der obersten Fensternischen auf dem Glockenturm der Michaeliskirche zu sitzen und im Zustand völliger Gefühllosigkeit über die Dächer der Stadt zu blicken. Einen ganzen Nachmittag oder länger. Es war wie im Opiumrausch: Er saß dann da, gegen die Einfassung gelehnt, seine Beine angewinkelt, ohne jede Regung, ja, ohne das geringste Bedürfnis, auch nur einmal den kleinen Finger bewegen zu müssen, denn es gab keine schmerzenden Gliedmaßen, keinen Druck vom harten Sitzen, kein Rückgrat, das sich bemerkbar machte, keine Langeweile, und die unter ihm verlaufenden Straßenschluchten waren ein in Stein gegrabenes Muster ohne Reiz, aber auch ohne die Häßlichkeit der neuen Architektur. Was diesen Zustand vom Opiumrausch unterschied, war das Fehlen seiner dumpfen Behaglichkeit und Betäubung, die dann in schwere Träume überging. Alles war klar, überdeutlich, ohne die übliche Gefühlsbrille, ohne jeden Gaukel, ohne Illusion. So stellte er sich einen Weisen vor, der sich aller Anfeindungen und Verlockungen der Dinge entledigt hatte – um den Preis, von ihnen betroffen oder angezogen zu sein. Eine reine Seele, die im Raume schwebte… Als er neben der alten Eisenwarenhandlung war, bog er nach links in eine Gasse voller umgeworfener grauer Mülltonnen. Sie lagen da, als seien sie von übermütigen Kindern umgestürzt worden – und als würde gleich jemand aus dem Hauseingang kommen und sie schimpfend und drohend wieder aufrichten. Das einzelnstehende Haus zwischen den beiden unbebauten Grundstücken vor ihm besaß eine schmale Fassade mit hohen Bogenfenstern. Es hatte bis zum Kriege einer Elektronikfirma aus Übersee gehört. Er erinnerte sich, daß ihr Elektrolager immer gut sortiert gewesen war. Da man Spezialbatterien in Kühlfächern zu lagern pflegte, war die Chance groß, noch eine halbwegs brauchbare zu erwischen. Er ging um das Haus herum und blickte vom Hof aus an den Fenstern hinauf. Hinter den
Scheiben rührte sich nichts. Dann betrat er den Hausflur. Vor der Kellertreppe, am Wandsockel neben der Fußleiste, lag eine verendete Krähe. Anders als Säugetiere, hatten Vögel den P-Meningokokkus meist überstanden, und dieser hier schien auf natürliche Weise zugrunde gegangen zu sein. Durch die eingeschlagene Tür im Parterre warf er einen prüfenden Blick in den Laborraum. Er sah verwüstet aus. Irgendwann mußte eine Sturmbö seine Papiere und kleinen grauen Kunststoffbehälter, in denen sich Mikrochips und Schaltungsfolien befanden, von den Arbeitstischen gefegt haben. Zwischen den Tischbeinen lagen zwei elektronische Pump-Pipetten, wie er sie früher zum chemischen Ausbrennen von Nervenzellen verwendet hatte. Was ihn interessierte, steckte wahrscheinlich eine Etage höher in der mit einer Kühlanlage versehenen Schubladenwand, aus der man sich wie in einer Apotheke bedienen konnte. Manchmal fand er in den Uhrenabteilungen der großen Kaufhäuser noch halbwegs brauchbare Batterien. Aber auch diese Zeiten waren jetzt fast vorüber. Der Raum oben wirkte wie das Konsultationszimmer eines Arztes. Er erinnerte ihn an seine alte Praxis. In der Ecke stand ein uraltes Lichtmikroskop, dessen weiße Lackfarbe am Sockel abblätterte. Wargas zog eine Lade in der grünen Kunststoffwand auf, sie waren alle unverschlossen – und ein kalter Hauch aus der chemischen Kühlung strich über seine Finger. Na, ausgezeichnet, dachte er. Ein Zeichen dafür, daß sie noch funktionierte! Er kramte eine Weile in den Behältern, bis er seine Batteriegröße gefunden hatte. Von dieser Sorte waren nur noch vier vorrätig – und er spielte mit dem Gedanken, sie alle einzustecken; aber es war wohl vernünftiger, die drei anderen in der Kühlung zu lassen. Daß außer ihm noch jemand in der Stadt auf der Jagd nach Batterien war, hielt er für unwahrscheinlich
(der Amerikaner hatte keinen Gefühlsabschalter getragen). Er schob die Lade zu und sah sich nach einem Spiegel um. Leider war der Apparat so dumm konstruiert, daß man die Knopfzelle nicht in das herausdrehbare Rohr des Einstellknopfes stecken konnte was technisch ohne weiteres möglich gewesen wäre, sondern sie vor einem Spiegel vorsichtig mit dem Plus-Zeichen nach vorn in das Außenrohr im Schädelknochen über dem Ohr bugsieren mußte. Am leichtesten ließ sich das bewerkstelligen, wenn man dazu das stumpfe Ende eines Bleistiftes benutzte, bis der Federdruck im Apparat zu spüren war. Dabei hielt man den Kopf leicht angeschrägt, da die Batterie sonst herausfiel. Wargas ging nach nebenan in den Waschraum. Im Becken lag eine rostige Rasierklinge, und die blaue Seife in der Ablage sah aus, als sei sie eben noch benutzt worden. Zwei schmuddelige Handtücher hingen neben dem Spiegel. Da es keine Elektrizität gab, riß er das Fenster weit auf, um in dem halbdunklen Raum besser sehen zu können. Er betrachtete seinen kahlen Schädel, den teigigen Zug um seine Nasenfalten und seine weißliche Haut, die aussah, als litte er an hochgradigem Jodmangel. Häßliche Gesichter verursachten ihm immer ein Ekelgefühl. Weniger, weil sie nur unästhetisch waren, sondern weil sich alle Schandtaten des Lebens in ihnen wiederfinden ließen. Als Arzt besaß er einen ausgeprägten Blick dafür – und er war ehrlich genug gegen sich selbst, bei seinem eigenen Gesicht keine Ausnahme zu machen. (Im Debattierklub des Krankenhauses hatte er oft geäußert, daß die Gesichter der Menschen sich um die Jahrtausendwende auf geheimnisvolle Weise den von Lastern und Wahnsinn regierten Zügen in den Bildern Bruegels des Älteren annäherten: ›Die alte Bäuerin‹ und ›Die Blinden‹ waren ebenso wiedererstanden wie ›Das Schlaraffenland‹ oder ›Der Triumph des Todes‹.) Gesichter, pflegte man früher zu sagen, waren Spiegel der Seele, und was ihm da aus dem
Waschraumspiegel entgegenblickte, sah keineswegs schmeichelhaft aus. Er ließ seine gespreizten Finger unzufrieden an den Mundwinkeln entlanggleiten, beugte sich über das Waschbecken und neigte den Kopf nach rechts – die alte Batterie fiel in seine aufgehaltene Hand. Er warf sie in den Abfallkorb. Dann bewegte er den Kopf zur anderen Seite, ließ die Knopfzelle in das Röhrchen fallen, schlug, weil ihm ein Bleistift fehlte, zweimal leicht mit den Fingern gegen seine Schläfe und schraubte die geriffelte Einstellschraube mit ihrem langen Achsenstück wieder ein. Er drehte sie bis zum Anschlag… Jede Gefühlswahrnehmung fiel schlagartig von ihm ab. »Hab’s lange genug entbehrt«, seufzte er erleichtert. »Zu lange.« Gleich darauf hatte sich das elektronische Signal in seinem Nervensystem auch schon so weit ausgebreitet, daß nicht einmal mehr das ihm noch Befriedigung verschaffte, eine stoische Leere bemächtigte sich seiner. Erst jetzt wurde er sich der angespannten Stimmung bewußt, in der er sich nach dem Aufstehen befunden hatte. Nun, nachdem sie nicht mehr da war… Man litt, ohne es recht zu wissen! Manchmal erlebte er eine blitzartige hochgradige Euphorie kurz vor dem Augenblick, in dem Gefühle und Stimmungen ganz aussetzten, ähnlich den Erlebnissen von Sterbenden, die durch irgendeinen Umstand wieder ins Leben zurückgekehrt waren und von einem rauschhaften Glückszustand berichteten, bei dem die Seele sich vom Körper gelöst zu haben schien. Als sei alles, was das Leiden auf Erden ausmachte, nur durch die Heftigkeit und Unangemessenheit der Gefühle hervorgerufen, und wenn es einen paradiesischen Zustand gab, dann wäre es eigentlich jener, in dem man sich endlich von diesem Ballast befreit hatte. Das reine und echte Nirwana der buddhistischen Philosophie, in dem nicht einmal
mehr Seligkeit herrschte, sondern nur noch Bewußtheit. Wargas bezweifelte, daß diese Gemütsverfassung, falls man sie überhaupt so nennen konnte, auf die Dauer erstrebenswert war. Ohne Gefühle beraubte sich die Natur ihrer größten Möglichkeit, war der Kosmos eine Stein- und Gaswüste. Dann gab es weder Sinn noch Schönheit, und die Erde flog ohne jede Rechtfertigung durch den Raum. Nichts in der Welt würde Gefühle jemals ersetzen können. Nicht einmal der Wille Gottes. Das Gerät war leicht zu bedienen und trug sich gut, vorausgesetzt, der Chirurg hatte die Fräsung des Schädelknochens um Zehntelmillimeter genau gearbeitet. Eine gewisse Gefahr lag in dem Leichtsinn, der sich zu Anfang einstellte. Man mußte wissen, daß man eine heiße Ofenplatte nicht mit den Fingern berühren durfte, aber so lächerlich einfach das klang und so selbstverständlich es immer gewesen war, vergaß man es ohne Schmerzempfindungen nur allzu leicht. Deshalb empfahl die Anleitung der Herstellerfirma, sich langsam und stufenweise an den Gebrauch zu gewöhnen und unter gar keinen Umständen mit der stärksten Einstellung zu beginnen. Meist reichte schon eine einfache Dämpfung unerwünschter Emotionen, um sie unter Kontrolle zu bringen. Wer leicht erregbar oder cholerisch war, verwendete die Stufe 2 der Grobregulierung. Für Alte und Gebrechliche, Asthmakranke, Depressive und Melancholiker war das Gerät zweifellos ein wahrer Segen. Operationen vereinfachte es wie kein Narkosemittel vor ihm (man hätte tatsächlich ohne jeden Schmerz und ohne die geringste Gemütsbewegung zusehen können, wie einem ein Bein abgesägt wurde). Da sich ausnahmslos alle negativen Wahrnehmungen damit ausschalten ließen, Gefühle der Einsamkeit ebenso wie schlechte Laune, die Qualen der überaus heißen Sommer seit dem letzten Jahrzehnt oder der schale Geschmack chemischer Neutralisatoren in der
Nahrung, sah man leicht ein, daß eine Großserienfertigung zu erschwinglichen Preisen – abgesehen von den immer noch hohen Operationskosten – viel Leiden aus der Welt geschafft hätte. Es war eine technische Krücke, kaum vergleichbar den Erfolgen der Gen-Manipulation, aber es war ein Weg. Wargas schaltete das Gerät ab; bis er auf dem Turm war, würde er seine Batterie lieber schonen. »Wie man mit seinen Gefühlen zurechtkommt, ist das ganze A und O dieses schäbigen Gewerbes, das man Leben nennt«, murmelte er, während er das Treppenhaus hinunter und dann die breite Straße entlangging, auf deren Asphalt und Gehsteige treibende Wolkenfetzen ihre Schattenbilder warfen. Bei aller Vorsicht war er doch versessen darauf, den Neuen zu begegnen, um zu sehen, ob sie tatsächlich solch ein Wunder an Ausgeglichenheit und Harmonie waren, wie behauptet wurde: ob sie auf die technische Krücke eines Gefühlsabschalters verzichten konnten. Manchmal kamen ihm Zweifel, und er stellte Mutmaßungen darüber an, wie hoch das Risiko, in ihre Orte zu gehen, wirklich war. Vermutlich suchte man ihn überall eher als dort. Es genügte, wenn er behauptete, der alten Wissenschaftlergarde anzugehören, die in Lyon überlebt hatte. Das sicherte ihm sogar Respekt und jede Art von Freizügigkeit. Er würde manchmal Rede und Antwort über seine Wissenschaft stehen müssen; aber schließlich verstand er ja einiges von dem Gewerbe. Daß ihn jemand erkannte, war unwahrscheinlich. Nur das Kainszeichen hinter seinem Ohr bedeutete eine wirkliche Gefahr. Man hatte den Apparat im Fernsehen vorgeführt, seine Funktion erklärt und vor jedem gewarnt, der ihn trug, weil solche Personen angeblich von einer resistent gewordenen Art des P-Meningokokkus infiziert waren, gegen die es auch jetzt noch kein Medikament gab. Es mußte aber eines geben. Wenigstens gegen die ursprüngliche Art des Erregers, überlegte er, sonst
hätten sie damals in Lyon nicht überleben können. Es war auffallend, daß die Seuche ausgerechnet vor den Labortüren WEDAs haltgemacht hatte. Aber selbst, wenn er sich als einer von WEDAs Eierköpfen ausgab, blieb das Risiko natürlich hoch. – Mit einer Perücke würde es vielleicht gehen, überlegte er. Es reizte ihn, dem Mädchen wiederzubegegnen, das Vera so ähnlich sah.
ZWEITER TEIL
Erstes Kapitel
1 Als er auf den Kirchturm stieg, ahnte er noch nicht, wie schnell sich sein Wunsch erfüllen sollte. Es war einer der Glockentürme im neugotischen Stil (der ›zweiten Neugotik‹), eine Nachahmung aus solidem Felsstein, ohne Aufzug und ohne jeden Komfort; denn man hatte in den vergangenen zwanzig Jahren entdeckt, daß die modernen Kirchen dem Glauben feindlicher waren als jemals irgendein Bauwerk zuvor. Selbst in den Glaskästen der Verwaltungsgebäude befiel einen nicht jene Hoffnungslosigkeit und Glaubensferne wie in den – dazu noch meist verschlossenen – Kirchenräumen aus Kunststoff und lackiertem Eisen mit ihren Aluminium-Tabernakeln und Taufbecken aus ›Chromstahl 18/8‹, die um 1990 in Mode gekommen waren. Feuchte Kälte schlug ihm aus dem Halbdunkel der schmalen Wendeltreppe entgegen. Als er etwa die Hälfte ihrer Stufen geschafft hatte, lehnte er sich gegen den Stein, um zu verschnaufen, und sah durch eine der schießschartenartigen Aussparungen hinunter in den Seilschacht. In früheren Zeiten – Jahrhunderte vor ihm – sollten magere Mönche an den Glockenseilen gehangen und sich verzweifelt bemüht haben, sie in Bewegung zu bringen. Jetzt erledigte das eine, allerdings schon ziemlich rostig aussehende, Zugmaschine am Boden des Schachtes: eine Kurbelmaschine mit Federwerk, und wenn er Lust gehabt hätte, die Glocken über die Stadt schallen zu lassen, um seine Anwesenheit kundzutun, wäre das
ohne weiteres möglich gewesen. Er hatte sich schon oft die fassungslos lauschenden Gesichter der Purificateurs auszumalen versucht – ihre hochgestellten Fledermausohren –, wenn das Getöse begann. Es war so etwas wie eine Entschädigung dafür, daß er niemals hoffen konnte, eines Tages vor ihnen Ruhe zu haben. Aber dann hätte er für immer auf sein luftiges Aussichtsplätzchen dort oben im Turm verzichten müssen, und das wollte er nicht. Wie gewöhnlich setzte er sich in das breite Bogenfenster an der Ostfassade. Es besaß außen, fast in Reichweite unter ihm, ein niedriges, umlaufendes schwarzes Eisengitter. Er hockte sich mit verschränkten Armen hin, das eine Bein neben der Brüstung. Von oben betrachtet, war die Leere der Straßen und Häuser noch gespenstischer, als wenn man sich in ihnen befand; dort unten stieß man bei jedem Schritt auf irgendein altes Plakat, das eine Veranstaltung ankündigte, auf Gegenstände – Schirme, Taschen, Zeitungen, Kleidung über den Stühlen der Cafés –, die liegengeblieben waren, als sei ihr Besitzer nur kurz weggegangen. Hier oben dagegen nahm die dumpf vor sich hin brütende Steinmasse einen abstrakten, amorphen Zug an, und je gestaltloser sie wurde, desto unheimlicher mit dem vergehenden Licht. Zum Horizont hin verschwammen die Straßenzüge im Dunst. Eine geschlossene Wolkendecke hatte die treibenden Wolkenfetzen abgelöst und verfinsterte den Himmel. Es sah wieder nach Regen aus. Die Säuberer würden ihre kostbare Haut in Sicherheit bringen. Das verschaffte ihm eine Atempause. Er fürchtete den Regen nicht (er schrieb seine Schwindelanfälle eher chemischen als radioaktiven Einflüssen zu). Der Kirchturm stand neben einer von der Sommerhitze verbrannten Rasenanhöhe, etwa im Zentrum der Stadt. Schon um die Jahrtausendwende waren ihre ehemals selbständigen Orte so weit zusammengewachsen, daß an der nächsten
Hauswand ein anderer Städtenamen begann, manchmal verlief er auch mitten durch ein Zimmer. Nach und nach hatte man es als eine einzige große Stadt empfunden, die sich vom Mittellauf der Ruhr im Südosten bis zum Rhein im Nordwesten erstreckte. Schräg unter sich sah er den unkrautüberwucherten Damm der S-Bahn. Auf dem kleinen Parkplatz links davon standen die zerfallenen Buden und Stände einer kleinen Kirmes, ihr regungsloses Karussell, die rostige Fahrfläche eines Autoskooters ohne Stützen und Dach; der Mast des Musikzeltes war auf die Schienen gestürzt und überragte schräg den Damm. Er war diese Strecke manchmal mit Vera zum Schauspielhaus gefahren – obwohl er wußte, daß ihre Begeisterung weniger der Aufführung von Schatten in der Nacht oder einem ähnlichen Schmarren als dem alten Knaben galt, der darin mit mühsam unterdrückter Zittrigkeit den korrupten Richter spielte. Er hatte lange nicht begreifen können, was sie an Baibach so faszinierte. Bis ihm eines Tages eine vergilbte Zeitungsnotiz in die Hände gefallen war. Das Blatt steckte innen im Deckel einer Ledermappe. Sie hatte ihn gebeten, sie von ihrem Schreibtisch zu nehmen und ins Krankenhaus zu bringen, weil sich darin Notizen über einen komplizierten Fall von Gedächtnisverlust befanden, der ihr viel Kopfzerbrechen bereitete. (Solche unerklärlichen Gedächtnisausfälle waren in der letzten Zeit immer häufiger aufgetreten.) Sie hatte auch nachts noch in der durch einen Mauerdurchbruch zusammengelegten Wohnung daran gearbeitet, die sie damals gemeinsam bewohnten: im Lichtkreis ihrer altertümlichen Stehlampe (Lampen mußten anheimelndes Licht verbreiten; sie war sehr empfindlich gegen alles, was ihre ›Arbeitsstimmung‹ beeinträchtigte, und Licht gehörte dazu). Es war nicht seine Art, in anderer Leute Papiere zu schnüffeln, aber der Zeitungsausschnitt schob sich über den Deckelrand, als er mit der Mappe unter dem Arm den Fahrstuhl betrat. So fiel sein
Blick auf ein Foto, das den brennenden Dachstuhl des BELAWARE zeigte, der Niederlassung einer amerikanischen Hotelkette: Rauchschwaden stiegen aus den geöffneten Fenstern – er erinnerte sich auch ohne die Zeitungsnotiz an das Feuer –, und in einem der Fenster, zum Glück war es geschlossen, sah man das gegen die Scheibe gepreßte Gesicht eines kleinen Kindes; unmöglich auf diese Entfernung zu entscheiden, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Der explodierende Gaskessel in der Trockenhalle unter dem Dach hatte die oberen Etagen in Brand gesetzt. Als Gäste aus den Hotelfahrstühlen auf die Straße strömten und einige von ihnen entsetzt zu dem Kind oben am Fenster zeigten – niemand machte Anstalten, sein Leben in den Flammen zu riskieren –, lief Baibach an den letzten Flüchtlingen vorüber noch einmal durch das raucherfüllte Treppenhaus hinauf, und obwohl schon eine einfache Brandnarbe am Hals oder im Gesicht seiner schauspielerischen Karriere für immer ein Ende bereitet hätte, überwand er sich, und es gelang ihm, die Zimmertür einzutreten und das Kind unverletzt auf die Straße zu tragen. Der Verfasser des Artikels war denn auch des Lobes voll, versagte sich jedoch nicht den respektlosen Hinweis und die spitze Bemerkung, daß Baibach in der Vergangenheit eher durch kleinliche Dispute mit Schauspielerkollegen oder zweifelhafte Bettgeschichten aufgefallen war, deren Publicity er geschickt für sich ausnutzte. Was bewegte einen Egozentriker wie ihn, der bei jeder Gelegenheit Trinksprüche auf die eigene Person ausbrachte, sein Leben zu riskieren? Er hatte weder das Kind noch seine Familie gekannt, und allem Anschein nach sah er es auch niemals wieder. Als Wargas die mit schwarzer Tinte hingekritzelten Fragen am Rande des Artikels las – Veras Handschrift zweifellos –, verstand er plötzlich, daß diese unerwartete Anwandlung von Opfermut sie tief beeindruckt hatte. Welche Erklärung gab es
dafür? Ein Sinneswandel? – Wahrscheinlich nicht, denn er ging schon bald wieder zur Tagesordnung über und lieferte die üblichen Schlagzeilen wegen eines Faustkampfes mit dem Kritiker seiner Theaterrolle in Wer dreimal liebt. War er hilflos zwischen gegensätzlichen Neigungen hin und her gerissen? Einer, den im vorgerückten Alter das Gewissen plagte oder der den Wert der Hingabe an früher nur belächelte Ideale entdeckte? »Was gibt jemandem den plötzlichen Entschluß ein, gut und aufopfernd zu sein?« hatte sie unter das Foto gekritzelt. Das Mysterium der Gedanken, dachte Wargas. Woher kamen sie? Selbst die Neuropsychologie wußte darauf keine Antwort. Solange er sie kannte, und das war schließlich schon seit ihrer Studienzeit, hatte sie mit einer Beharrlichkeit, die man nur besessen nennen konnte, dem Geheimnis ihrer eigenen sprunghaften Neigungen nachgespürt, jener Zerrissenheit, die sie einmal rachsüchtig und ein andermal zu einem Ausbund an Vergebung werden ließ. Wargas war sich nicht ganz sicher, aber er vermutete, daß ihre Reise damals zu WEDA nach Lyon mehr von dem Streben nach Selbsterkenntnis als von echtem wissenschaftlichen Interesse oder von der Vervollständigung ihrer Studien geleitet gewesen war. Pseudowissenschaftliche Besessenheit – in dieser Einschätzung stimmte er dem alten Melanchton, ihrem Vater, ausnahmsweise zu. Damals, im Jahre 2004, war sie knapp vierundzwanzig Jahre alt und alles andere als eine vertrocknete Wissenschaftsjungfer, die sich für elektronenmikroskopische Lasertechnik, elektronische Schablonen zum Ausstanzen von DNS-Kombinationen oder die Feinheiten des ›Finder‹-Verfahrens beim Einsetzen neuer Erbinformationen interessierte. Wenn sie trotzdem wie so viele andere zu WEDA reiste, war es überhaupt nur wegen des glücklichen Umstands möglich, noch nicht jener Gruppe von Frauen über fünfundzwanzig anzugehören, deren Zellkerne man als derart von Medikamenten und Umweltgiften deformiert
ansah, daß jede Untersuchung ihrer Tauglichkeit wie eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten erscheinen mußte. Melancholische Anwandlungen überkamen ihn manchmal, wenn er zu ausgiebig daran dachte. An sein ganzes vertracktes Schicksal (das er im übrigen ohne große Wehleidigkeit betrachtete). Gewiß, er hätte sich nach einer anderen umsehen können. Aber er war nicht der Kerl, dauernd neuen Weibern nachzujagen; das alles wurde ihm schnell lästig. Er hätte die Ruhe einer ›geordneten Beziehung‹ vorgezogen, was immer das war. (Wahrscheinlich ein Hirngespinst.) In seiner Umgebung, und nach seiner Erfahrung überhaupt, hatte es keinen Fall gegeben, wo zwei sich nicht irgendwann die Köpfe einschlugen: mit Briefbeschwerern, bloßen Fäusten oder auch subtileren Mitteln. Es gab genügend Methoden, dem anderen das Leben zur Hölle zu machen. Irgendwo tief in ihrem Innern schien etwas immer noch mehr Gefallen daran zu finden, ein Feuer zu entfachen, als in Frieden seiner Wege zu gehen, wartete die Fackel nur darauf, angezündet zu werden. Wenn er zu gründlich darüber nachdachte, pflegte er (wie jetzt) den silbernen geriffelten Knopf hinter seinem Ohr bis zum Anschlag zu drehen, und seine Gedanken bekamen sofort die Klarheit einer sauberen Glasscheibe. Es entzog jeder Wirrheit die Grundlage, wie den Baumwurzeln das Wasser. Dann gelang es ihm sogar, sich ohne Magenkrämpfe jenes Abends zu erinnern, als sie angeblich entdeckt hatte, daß er auch nur »einer der üblichen schweinischen Kerle« war, der sich an seinen Patienten vergriff. Es ging um die wirren Reden einer Dreißigjährigen auf dem Roßhaarsofa seines Konsultationszimmers; sie behauptete, von ihm auf unsittliche Weise berührt worden zu sein. Bei der Untersuchung ihrer Wirbelsäule. Wargas erinnerte sich, daß sie ein knochiges weißes Geschöpf war, ungefähr so anziehend wie das einfältige Mädchen mit den
wollenen Kniestrümpfen aus der geschlossenen Abteilung, das ihm manchmal morgens den Kaffee brachte, weil man Arbeit noch immer als eines der wirksamsten Mittel betrachtete, jemanden auf die Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft vorzubereiten (diese Scheingemeinschaft aus einander Mißtrauenden – und jedenfalls nicht so unermeßlich weit, wie man behauptete, von den armen Irren da unten Entferntes, die in den Keller des Krankenhauses verfrachtet wurden, weil es dort keine Fenster gab, aus denen sie sich hätten stürzen können). Er wäre bereit gewesen, diesen Spleen wie all die anderen auf sich beruhen zu lassen, hätte sein ›Leugnen‹ in ihren Ohren nicht so verhängnisvoll herausfordernd geklungen, daß sie ihre Koffer packte und für eine Woche zu Verwandten aufs Land flüchtete. Alles schien immer gleich den Charakter einer Schmierenkomödie anzunehmen. Ihre Gespräche ebenso wie das, was sich nach den Nächten anbahnte: am frühen Morgen, wenn der ohnehin nur noch fade Reiz und die Erregung verflogen waren und dem nüchternen Licht Platz gemacht hatten, der Ernüchterung, der Routine und den kleinen Pflichten. Diese krampfhaften Grimassen, die das äußerste an Konzession waren. Die Leere der gemeinsamen Essen. Manchmal fand er auf ihrem Notizblock eine hingekritzelte Zeile, die unvermittelt abriß. Als habe sie ihrem hinuntergeschluckten Unmut auf jene Weise Luft gemacht, die sie am besten beherrschte. Sätze wie: Das alles endet mit einer Katastrophe, er wird schon sehen, was er… Oder: Ich verwünsche die Geburt seiner Mutter und die Geburt der Mutter seiner Mutter… Was jeden Außenstehenden zu der ungläubigen Frage veranlaßt hätte, ob er denn auch wirklich kein Ausbund an Gemeinheit und Selbstsüchtigkeit war, wie man aus ihren Äußerungen vermuten mußte. Im kalten Neonlicht der Ambulanz hatte er sie manchmal, wenn er müde aus der Station kam, für die Erscheinung einer anderen Welt gehalten. Als sei
sie nur eben aus dem metallenen Himmel heruntergestiegen, um ihm, Wargas, zu zeigen, was eine Harke war. Und die Gründe für das alles? Es schien keine zu geben – so lange man auch suchte. Es konnte weder an der schlampigen Art liegen, wie er seine Schlafanzüge über die Stuhllehnen warf, noch an seinem ausschweifenden Hang, sich in wissenschaftliche Literatur zu vergraben. Er hätte sich geändert, zweifellos. Das geringste Zeichen. Er glaubte, daß er das Recht auf eine Vorgabe besaß. Er war nicht durch und durch schlecht, wie sie behauptete. Sondern ein gewöhnlicher alter Arzt, schon über die Jahre des Haarausfalls hinaus, mit einem Ansatz zum Bauch und der Bereitschaft, sich zu bessern. So gut und schlecht wie alle Menschen. Er erinnerte sich nicht, über das Stadium des Apfelstehlens in der Kindheit oder die ungerechte Herabsetzung wissenschaftlicher Arbeiten eines Konkurrenten während jener Zeit, in der er sich im Krankenhaus seinen Platz eroberte, hinausgegangen zu sein. Eine Nachlässigkeit hier, ein Gefälligkeitsgutachten dort. Kunstfehler, die vertuscht wurden. Unfreundlichkeit gegenüber seinen Untergebenen. Ein vergessener Verlobungstag (denn sie hatten nie geheiratet). Müdigkeit im Bett. Das war alles. Der Himmel mochte wissen, was sie sonst noch an ihm bemängelte (offenbar reichte es nie, um ihn ganz zu verlassen); Meinungsverschiedenheiten, Streitigkeiten in ihrem gemeinsamen Beruf, gewiß, die gab es zur Genüge; ein offenes Wort hätte ihn wahrscheinlich nachdenklich gemacht, zur Besinnung gebracht (die Rückfälle eingeschlossen) und schließlich doch geändert. Davon war er überzeugt – aber was hieß das: überzeugt? So überzeugt wie jeder Verblendete vor ihm? Das alles berührte ihn nicht mehr, wenn er hier oben saß, einen feinen Silberdraht im Gehirn, um den man sich keine Sorgen wie in den Pioniertagen der Technik machen brauchte. Denn
nach den Angaben seiner Herstellerfirma war er in eine »hochbiegsame, niemals austrocknende organfreundliche Folie aus Salym« eingegossen… Ein knarrendes Geräusch ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. Er blickte auf das Dach des Kirchenschiffs unter sich. Seine Schieferplatten und Regenrinnen glänzten in dem Nieselregen, der plötzlich eingesetzt hatte. Zuerst glaubte er, daß ein Windstoß die Glockenseile im Turm gegeneinanderschlug. Doch es wiederholte sich nicht. Dann sah er das Dachfenster: Es war an dem eisernen Gestänge hochgestellt, das man von unten, etwa in der Höhe des Hauptaltars, mit einem Seil bedienen konnte. Soweit er sich erinnerte, diente es dazu, etwas mehr natürliches Licht auf den Altar fallen zu lassen, wenn die Messe gelesen wurde… die Messe gelesen… Er dachte an den Palmzweig auf dem Garagenboden. Und das Kamilavkion, das er gefunden hatte. Wargas ging zur Nordostseite des Turms, von dort aus konnte er besser auf das Dach sehen. Die Fensterklappe hatte sich zweifellos bewegt. Noch vor wenigen Augenblicken war sie geschlossen gewesen, keine Frage. Und das Geräusch paßte zum Knarren des Gestänges an der Einfassung. Er war sich jetzt völlig sicher, daß es nicht von den Seilen unter ihm stammen konnte. Wargas beugte sich weit über die Brüstung, und jetzt sah er im Dämmerlicht über den Stufen des Altars eine Bewegung; er wollte zurückweichen, weil er befürchtete, man könnte ihn als Silhouette gegen das Himmelslicht noch leichter entdecken als er selbst den Mann da unten neben dem Tabernakel. Aber die Gestalt im dunklen Talar rührte sich nicht, hielt nur ein aufgeschlagenes Buch in den etwas vorgestreckten Händen und murmelte Laute, die er nicht verstand. Lateinisch, nahm er an, wenn sie auch mit so verhaltener Stimme gesprochen wurden,
daß der Doktor sich dessen selbst nach über einer Minute erstarrten, ungläubigen Zuhörens noch nicht ganz sicher war. Er bewegte sich etwas zu Seite, um mehr in dem Raum unter dem Fensterausschnitt sehen zu können. Aber alles, was er erblickte, waren die Altarstufen. Der Priester dort unten sprach offenbar wie üblich zu einem weiter entfernten Publikum in den Bänken, nur wer dieses Publikum war und um wieviel Personen es sich handelte, das konnte er nicht einmal ahnen. Der Mann im Talar schien noch jung zu sein. Er trug einen gestutzten grauen Vollbart. Seine Bewegungen waren gesetzt, ohne Hast wandte er sich mit dem Buch, zweifellos eine Bibel, zum Altar und legte es dort ab, denn als er sich wieder dem Kirchenraum zudrehte, waren seine Hände leer, und er erhob sie und schlug in etwas unbeholfener Weise das Kreuz, aber doch würdevoll genug, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß es sich nicht um Scharlatanerie oder um einen dummen Scherz handelte. Dann verschwand er gemessenen Schritts aus Wargas’ Gesichtsfeld, und der Doktor starrte noch immer ungläubig in den von fahlem Licht erfüllten Kirchenraum unter der Dachklappe, auf die Natursteinstufen und das Aluminium-Tabernakel. Bis er sich des feinen Regens bewußt wurde, der seine Jacke durchnäßte… dann erst beugte er sich in den Schutz des Fensters zurück. Sie kamen aus den neuen Orten, daran zweifelte er keinen Augenblick (die Alten huschten wie Gespenster umher und hatten anderes im Sinn als ihre fast vergessene Religion). Und es schien ja auch in dieser Region außer dem Amerikaner und ihm niemanden mehr zu geben. Trotzdem war er plötzlich sehr begierig, sich dessen zu vergewissern. Falls sie sich dort unten nicht versteckt hielten, was ihm unwahrscheinlich erschien, weil er ihnen sonst bei seinen früheren Streifzügen längst hätte begegnen müssen, würden sie nach dem Gottesdienst die Kirche wieder verlassen.
Er kannte jeden Winkel in der Stadt. Nicht nur aus Zeitvertreib oder Langeweile, sondern weil es lebenswichtig sein konnte, versuchte er sich Einzelheiten einzuprägen – ob Vorhänge zugezogen gewesen waren, ob eine Tür geöffnet oder geschlossen war, wie Sessel oder Stühle gestanden hatten. Er hatte nie eine Spur ihrer Anwesenheit in der Kirche bemerkt. Und wovor hätten sie sich verbergen sollen? Wargas ging um die Turmplattform zur Fensterseite, von der aus er auf den Haupteingang hinuntersehen konnte, hielt sich jetzt aber vorsichtig im Schutze der Wand, während er die Straße und die gegenüberliegende Häuserseite musterte. Irgendwo da draußen mußte es einen Posten geben. So arglos konnten sie nicht sein, diese einfachste Vorsichtsmaßnahme außer acht zu lassen. Es hätte ihnen auf ein Signal hin ermöglicht, durch die Sakristei zu fliehen, falls Säuberer auftauchten. Solange er jedoch die Fenster und Hauseingänge drüben auch musterte – es rührte sich nichts. Alles wirkte ausgestorben: die langen Reihen Balkons mit ihren Gittern und schwarzen Türöffnungen an den verwitterten Fassaden ebenso wie ihre kleinen Fenster oder die altertümlichen dunklen Laubengänge des Blocks. Südlich der Kreuzung begann ein verlassener Parkplatz, mit einem einzelnen, schief auf der räderlosen Vorderachse stehenden Lastwagen. Seine Gummiplane war angesengt und an einer Stelle bis zum Gerüst geschmolzen, denn auf der weiten Asphaltfläche hatte es während der Seuche Leichenverbrennungen gegeben. Dahinter grenzten Rohbauten an, kahle Fassaden, Betondecken auf Säulen, zwischen denen man verlassene Gärten sehen konnte. Die lehmigen Bodenwellen vor ihnen waren von Abfall und Unkraut übersät, und an den dickblättrigen Pflanzen haftete der feine dunkelgraue Staub des Aschenregens.
Während er noch versonnen über die Häusersilhouette blickte, hörte er aus der Straße unten Motorengeräusch. Erst undeutlich, schwoll es an, kam unregelmäßig knatternd näher, und dann bewegte sich auch schon das schaukelnde Gefährt vom Buchladen mit seinen beschädigten Stoßdämpfern und dem abgeschnittenen Verdeck um die Ecke und auf das Portal der Kirche zu. Diesmal war das Mädchen allein, es steuerte den Wagen selbst. Sie trug wieder ihr glänzendes Stirnband über dem glatt zurückgekämmten Haar, und auch jetzt noch, obwohl er sie schon einmal gesehen hatte, dachte er für eine Sekunde ungläubigen Staunens, es sei Vera, so sehr glich sie ihr (jener Vera damals am Fuße der Treppe, als er ihr als junge Medizinstudentin nach einer durchgebrachten Nacht im Haus Melanchtons zum ersten Mal begegnet war – durchgebracht mit irgend jemand in der schummrigen Stuhlkammer hinter dem Tanzsaal oder sonstwo, dessen Namen sie nicht preisgeben wollte). Der Doktor sah zu, wie sie ausstieg, den Wagen schräg vor den Stufen geparkt, und ohne sich umzublicken durch das Portal ging. Gott, sie wissen nicht, was sie tun, dachte er kopfschüttelnd. Sie wissen nicht, wie leichtsinnig sie sind… Obwohl er den Apparat schon beim Knarren des Dachfensters abgedreht hatte, fuhr seine Hand noch einmal nervös zu dem geriffelten Knopf hinter seinem Ohr, während er eilig die Turmtreppe hinunterstolperte. Sobald die Situation gefährlich wurde oder Aufmerksamkeit erforderte, zog er es vor, sich lieber mit den guten alten Gefühlen abzuplagen. Er ging an eines der Fenster im ersten Stock, denn von dort aus würde er sie besser beobachten können. Seine Hände zitterten vor Erregung, und er schnaufte unwillig, weil Schwäche jeder Art ihm ein Greuel war. In allem ein Perfektionist, genügte bereits ein simpler Ausrutscher, um ihn für die erste Stufe des Niedergangs oder Verfalls zu halten. Zu seiner Überraschung
kam das Mädchen schon nach wenigen Augenblicken wieder heraus. Die schwere Portaltür krachte hinter ihr ins Schloß, und sie setzte sich an das Steuer zurück. Kaum acht oder zehn Meter von ihr entfernt sah er zu, wie sie die Umgebung musterte. Ihr Blick schweifte über den Parkplatz mit seinem einsamen Lastwagen, der angesengten Plane, der Vorderachse ohne Räder, glitt dann zu den Laubengängen – und schien sich im Dunst jenseits der Dächer zu verlieren. Einmal gähnte sie. Ihre Finger trommelten auf das Lenkrad. War es Ungeduld, Langeweile? Oder verfügten die Neuen gar nicht über so triviale Regungen? Es hätte ihn brennend interessiert. Aber er konnte nicht gut hinuntergehen und sie danach fragen. Sie legte mit einer Gebärde, die er nicht deuten konnte, den Kopf zurück, und ihr dunkles Haar fiel über die Sitzlehne. Plötzlich entdeckte sie eine zusammengerollte Zeitschrift im Handschuhfach des Wagens. Sie mußte dort schon seit dem Kriege gelegen haben, anscheinend war sie von den Purificateurs übersehen worden, als sie alles Schriftgut eingesammelt hatten, das irgendwelche Hinweise auf die Geschichte und die moralischen Schwächen ihrer Vorfahren gab. Das Heft ragte nur gerade eben aus dem Fach, neben einem Paar alter Schweinslederhandschuhe und einer Sonnenbrille. Sie streifte den Gummiring ab, der es zusammenhielt, und als sie das Magazin aufschlug, erkannte der Doktor an den Hochglanzfotos, daß es eine Modezeitschrift war. Ein ziemlich grellfarbiges Magazin mit jenen Verrücktheiten der Kleidung, wie sie kein gewöhnlicher Mensch trug; es sei denn, um damit ein Journal zu spicken: Aberwitzige Federhüte, drapierte, glänzende Überwürfe in schreienden Farben, hohe Schaftstiefel, auf denen ins Leder eingearbeitete winzige Spiegelfacetten glitzerten.
In früheren Zeiten hätte ein Mädchen ihres Alters sicher mit einiger Faszination darin geblättert, erst recht beim ersteh Mal. Der Hang, sich zu schmücken, als eine der stärksten weiblichen Neigungen, dachte er. Sie war auch nicht ohne Geschmack gekleidet, einfach zwar, und von geradezu aufdringlicher Reinlichkeit in all dem Schmutz, der sie umgab (keimfrei wie Operationsschwestern, fiel ihm unwillkürlich ein), was ihr fast die Unwirklichkeit der Modelle in den Modemagazinen verlieh. Doch keine Regung ließ erkennen, daß sie sonderlich beeindruckt war. Eine Aura unerschütterlicher Abgeklärtheit (schon beinahe Entrücktheit) umgab sie, als könnten ihr weder die schreienden Bilder noch der Unrat und Verfall ringsum etwas anhaben. Ihr Gesicht strahlte wieder jenen Zug aus, der zu vollkommen war, um sinnlich zu sein. Ein Engel, stellte er ungläubig fest und strich sich über das stoppelige Kinn. Vera in der Gestalt eines Engels. Die Hand des Engels regte sich, warf plötzlich das Magazin auf den Rücksitz, wo es aufgeklappt liegenblieb, und betätigte mit ohrenbetäubendem Geheul die Hupe. »Großer Gott«, murmelte er entsetzt, »sie wissen wirklich nicht, was sie tun…« Er horchte dem Klang nach, der sich an der gegenüberliegenden Hausfassade brach und aus den Straßenschluchten widerhallte. Es mußte auch den verschlafensten Säuberer im Umkreis eines halben Kilometers aufwecken, so still, wie es hier gewöhnlich war. Aber anscheinend steckten sie irgendwo anders, kilometerweit entfernt, sonst wären sie schon wegen des Motorengeräuschs aufmerksam geworden. Plötzlich kam ihm der Einfall, sie könnten vielleicht über die Tagespläne der Säuberer aus irgendeiner Quelle informiert sein, von der er nichts ahnte, und wären deshalb so sorglos, denn ihr Verhalten damals in der Dämmerung am Fluß zeigte, daß sie sich der Gefahr ihres Ausflugs in die verbotene Zone wohl bewußt waren. Dann
konnte er sich auch die Schritte morgens auf dem Gitterrost über dem Weinkeller erklären, sie stammten von ihnen. Seine Sorge war ganz unbegründet gewesen. Diese Leute brachten niemanden um. Ja, wenn alles, was in den Nachrichten über sie verbreitet wurde, nur halbwegs zutraf, dann würden sie es kaum über sich bringen, ihn zu verraten. Trotzdem schreckte er jetzt davor zurück, sich auf dem Turm bemerkbar zu machen. War es eine Vorahnung, die ihm sagte, daß er sich sonst einer großen Chance beraubte? Der größten, die er in dieser Lage und in seinem Alter noch erwarten durfte? Er zuckte mit den Schultern und blieb im Schatten des Fensters. Ihrem Hupen folgten Schritte auf der Treppe. Dann sah er den graubärtigen jungen Mann – jetzt ohne Talar, in einfacher Kleidung, wie sie Mode war, die Portalstufen hinuntergehen. Zwei andere Personen waren hinter ihm, ein etwas zu dick geratenes, aber immer noch hübsches Mädchen und der junge hellblonde Mann vom Buchladen. Der Junge hob lachend den Arm, weil das Mädchen am Steuer tadelnd auf die Armbanduhr zeigte. »Ach was«, sagte der Junge. »Schließlich sind wir nicht Sklaven der Zeit, oder?« »Du weißt, daß die Pause gleich vorüber ist«, erwiderte das Mädchen mit einer Stimme, die den Doktor aufhorchen ließ. »Wenn nur einer der beiden Posten schon wieder auf der Brücke ist, müssen wir bis zum Einbruch der Dunkelheit warten.« »Was macht das schon«, meinte er. »Hier ist es nicht besser und nicht schlechter als anderswo.« »Es ist gefährlich«, sagte sie. Wargas horchte noch immer dem Klang ihrer Worte nach. Veras Stimme, dachte er. »Ich glaube, man übertreibt.« »Es gibt einige, die schon verschwunden sind«, sagte das dicke Mädchen. »Drei oder vier.«
»Aber nicht wegen der verbotenen Zone«, widersprach der blonde Junge. »Steigen wir besser ein«, sagte der Mann mit dem Vollbart. Er schien etwas älter zu sein als die anderen – oder wirkte nur so, weil seine Stimme gesetzter und ruhiger klang. Wargas begriff plötzlich, daß es um den Posten an der Brücke einige Kilometer flußabwärts ging. Der Fluß beschrieb dort einen Bogen von der Stadt weg, und um die Mittagszeit pflegten die beiden Wachen manchmal länger als zulässig im Ort zu pausieren. Es war weniger ihrer Pflichtvergessenheit zuzuschreiben als vielmehr der Tatsache, daß ohnehin nie etwas geschah. Im Grunde war es fast ein Widerspruch, überhaupt Posten aufzustellen. Ebenso, wie es den Bestrebungen WEDAs sicher zuwiderlief, Purificateurs einzusetzen. Es geschah aus Rücksicht auf die Vergangenheit. Hätte das Alte nicht neben dem Neuen gestanden, der Fortschritt neben der Unterentwicklung, der Friede neben dem Krieg, die Standhaftigkeit neben der Verführung, die Liebe neben dem Haß, die Toleranz neben der Unduldsamkeit, dann wären sie überflüssig gewesen, weil es keine schädlichen Vorbilder gab, von denen man lernen konnte. So aber bestand immer eine Gefahr, verdorben zu werden. Man hätte besser daran getan, die alten Städte dem Erdboden gleich zu machen. Mit Stumpf und Stiel auszurotten, was übriggeblieben war. Der Doktor fragte sich, wie sie nur auf den absonderlichen Gedanken kamen, eine Messe abzuhalten. Das Wissen darum mußte aus Büchern stammen. Es gab niemanden, der ihnen vom Ablauf des Rituals hätte berichten können, niemanden, der in liturgischen Fragen bewandert war. Es sei denn, er nahm WEDAs Märchen ernst, daß einige der Alten, die von den Säuberern gefangen worden waren, auf mysteriöse Weise in den Seelenbänken weiterlebten. Aber wie hätten sie dann ihr Wissen preisgeben sollen? Nein,
das alles stammte aus Büchern. Die Bibel in den Händen des Priesters und ihr Besuch in dem jüdischen Buchladen waren ein Beweis dafür, daß sie sich um Informationen über die Vergangenheit bemühten: daß sie mehr als erwünscht wißbegierig und lernwillig waren. Und verderbbar, dachte Wargas. Er selbst stand den Religionen mit jener Skepsis gegenüber, die einen angesichts der Zustände in der alten Welt zwangsläufig befallen mußte. Wenn Gott, wie einer der neueren Philosophen einmal spöttelte, schließlich nichts besseres eingefallen war, als die Atombombe und Adolf Hitler zu schaffen, dann mußte man entweder an seiner Existenz und Allmacht oder an seinem guten Willen zweifeln. Je fanatischer der Glaube, desto erschreckender die Geschichte der Greueltaten. Und wenn diese Welt nur als ein Probierstein der Freiheit anzusehen war, ein Feld der Bewährung, das schließlich ohne Gewißheit und lediglich durch die Krücke des Glaubens (keine geringere Krücke als jene des Gefühlsabschalters) moralischere Menschen hervorbringen sollte, dann konnte er auch ohne den Glauben, ohne seinen Preis im Jenseits, ein anständiges Leben führen. Falls es überhaupt möglich war, gegen den Willen seiner Gene gut zu sein, was er allmählich bezweifelte. Die Willensfreiheit, gewiß. Aber gegen den dauernden Ansturm ererbter Neigungen? Er dachte an seinen ständigen wissenschaftlichen Disput im Debattierklub des Krankenhauses – jene langen durchwachten Nächte in dem ganz mit grünen Teppichen ausgelegten und mit schweren grünen Rideaus verhängten ehemaligen Schlafsaal der Nervenstation, endlose Gespräche, bei denen auch Vera manchmal zugegen war (obwohl ihr Vater sie nie als gleichwertigen Diskussionspartner ernst nahm) –, die oft nur um eine einzige Frage kreisten, nämlich ob der Vererbung eine entscheidende Rolle zugesprochen werden sollte. Wächter und Melanchton vertraten die marxistische Auffassung. Nicht aus
Geistesverwandtschaft, sondern weil ihnen die Rolle der Anlagen unerwünscht und gefährlich erschien, und sie beriefen sich auf das Beispiel individueller Unterschiede bei eineiigen Zwillingen: Der gesellschaftliche Einfluß stellte den entscheidenden Faktor dar. Dann hatte seine Arbeit immer nur Flickschusterei sein können, Behandlung der Symptome: die Durchtrennung der Nervenbahnen, das Herausschneiden von Geschwülsten, die Ausätzung von Nervenknoten und Gehirnzellen nur das hoffnungslose Streben eines uneinsichtigen alten Narren, der nicht begreifen wollte. Aber warum, so fragte er sich, reagierte man so und nicht anders auf Einflüsse? Warum tat man es aggressiv und nicht mit Lachen, wenn es aggressiv geschah? Und warum geschah es nicht mit Aggression, wenn man es lachend tat? Warum nicht mit Gleichgültigkeit anstelle von Begeisterung, warum nicht mit Glauben anstelle von Zweifeln oder umgekehrt? Man konnte nicht immer weiter zurückgehen. Irgendwann wurde haltgemacht, und das waren die Gene. Der Einfluß der Gesellschaft in diesem Zusammenspiel blieb unbezweifelbar. Allerdings war er das Ei und nicht die Henne. Das schmälerte kaum seine Macht. Auch WEDAs Eierköpfe fürchteten den großen Rivalen der Gene – ihre Angst vor der Vergangenheit bewies es, und wenn sie in der Zukunft ein Problem sahen, dann war es sicher dieses: der Erinnerung keinen Raum mehr zu geben, keinen Ort, an dem sie ihren schädlichen Einfluß geltend machen konnte. Aber schließlich würde ein von Natur aus friedfertiger Mensch seine Händel eher ohne Mordgelüste austragen, und die Gefahr, ihn zu einer aggressiven Handlung zu bewegen, war um ein Vielfaches geringer; er würde sich einfach auf wohltuende Weise von den gewalttätigen Seelen der Vergangenheit unterscheiden.
In alledem spielte für den Doktor die Religion eine gefährliche Rolle: Sie führte, ganz anders als ihre ursprüngliche Absicht, zu kleinlicher Frömmelei, zu Intoleranz und Fanatismus.
2 Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie abgefahren waren, ging er hinunter, um die Kirche etwas genauer zu inspizieren. Der Altarraum lag so da, wie er ihn kannte. Unwirkliches Licht erfüllte ihn; ein Zwielicht, denn der Himmel hatte jetzt aufgeklart, und Sonnenlicht fiel zugleich durch das offene Dachfenster und die hellgrün getönten Kirchenfenster. Neben der Mensa hing das Gestänge der Klappe mit seiner Kordelverlängerung. Er suchte zwischen den Kunststoffbänken nach irgend etwas – einer vergessenen Mütze, einem Taschentuch, einem Buch –, aber sie hatten keine Spuren hinterlassen. Im Weihwasserbecken entdeckte er nicht die geringste Feuchtigkeit. Nur das Wachs bei beiden hohen Altarkerzen war noch ein wenig warm, als er es mit den Fingerspitzen berührte. Er ging hinüber in die Sakristei. Das Tischchen unter dem Heiligenbild war leer. Wargas blickte sich suchend um. Etwas fehlte. In der Mitte der weißgekalkten Wand stand ein alter Mahagonischrank auf hohen, geschwungenen Beinen, durch dessen schiefe Türritzen Mottenkugelgeruch zu strömen schien – derselbe, von dem eine feine Wolke über den Altarstufen gehangen hatte. Er öffnete die Tür – sie knarrte laut – und fuhr mit der Hand zwischen die dunklen Priesterkleider. Tatsächlich: in der Vertiefung des Schranks, auf einem über seine ganze Breite verlaufenden Regal, lag die Bibel. Er nahm sie heraus. Es war eine gewöhnliche katholische Bibel. Nicht in Leder, sondern in genarbte Kunststoffolie
eingebunden. Die passende Nachtlektüre, dachte er und zog eine spöttische Grimasse, während der darin blätterte. Er hatte lange nicht mehr in der Bibel gelesen (seit jenem Tage, als kaum noch etwas ihm die Überzeugung zu nehmen vermochte, daß sie alle durch eine atomare Katastrophe umkommen würden). Mit vorsichtiger Neugier fuhr sein Blick über die Seiten. So, als könnte ihn, was da stand, ebenso verderben wie die Neuen: ihnen den Glauben an die Seelenbank durch den noch fragwürdigeren Glauben an ein Jenseits ersetzen, für das man hier auf Erden durch gottgefällige Taten würdig wurde oder das man auf immer verfehlte, um in der Hölle zu braten. Einige Seiten der Bibel waren vergilbt, besaßen gelbliche Wasserflecken oder Eselsohren, und manche Sätze waren mit dünnen Bleistiftlinien unterstrichen, als seien sie, womöglich schon von seinem früheren Besitzer, besonders gründlich studiert worden. »Hauptsächlich Stellen aus der Bergpredigt«, sagte er halblaut und pfiff durch die Zähne. Bekenntnisse, Wünsche, wenn es hoch kam – also immer noch ein Funken Anstand in den Hirnen. Aber es hatte nichts genutzt. Kein echtes Verlangen. Die Absicht in Ehren. Es war nicht der Weg. Wenn es eine Hoffnung gab, dann lag sie nicht im guten Willen, nicht in der Einsicht, nicht in der Beteuerung oder dem Vorsatz, die Finger von Höllenwaffen zu lassen, nicht der Völlerei zu frönen, wenn andere verhungerten, nicht verweichlicht und dekadent zu sein, gelangweilt und indifferent, auf sein eigenes schäbiges Wohl bedacht, wehleidig an seinen kleinen Schmerzen hängend, wenn andere ausgebeutet, unterdrückt, gefoltert und ermordet wurden. Die Welt war an ihren Schwächen zugrunde gegangen, und ihr Tod hätte sich mit rätselhafter Beharrlichkeit bis in alle Ewigkeit wiederholt, um in immer neuen Anläufen die unüberwindliche Hürde einer verführerischen Wissenschaft und Macht mit schlechten Anlagen und schwachem Willen zu
nehmen, bis irgend etwas geschah – eine Prothese vom Himmel fiel – und Gott ein Einsehen hatte, das klägliche Spiel der ewigen Wiederkehr zu unterbrechen. Generationen wären aufgestiegen und an immer derselben Barriere gescheitert: an jener Mauer, die furchtbare Waffen aufrichteten, sobald der wissenschaftliche Fortschritt bei ihnen angelangt war. Das Wissen wuchs, aber ihre Moral konnte nicht Schritt halten, blieb auf der Strecke. Und nun hatten einige beherzte Männer die Gelegenheit genutzt, um das Übel mit der Wurzel auszurotten. Seine Finger strichen über die so oft und nutzlos zitierten Sätze, fuhren den Satzwendungen nach, die wie unerreichbare oder doch unbegehbare Bergpfade in eine Höhe führten, der es an normaler Atemluft fehlte und in der – ohne besondere Anpassung – auch jene kurzatmig werden würden, die willens waren, den Gipfel zu erreichen. Dann warf er einen flüchtigen Blick auf ihre Heiligenbilder aus dem Martyrologium Romanum im Anhang – magere, asketische Männer mit den Falten der Versagung im Gesicht, fast alle ohne Heiligenschein, kaum dazu ausersehen, die Welt zu retten – und legte die Bibel achselzuckend in das Versteck zurück: Ein andermal… Ihre Absicht in Ehren. Seine Hand streifte den rauhen Verputz der Wand. Ganz links im Regal entdeckte er eine hohe Blechdose. Dem Etikett nach kalifornische Walnüsse. Wahrscheinlich verfault oder verschimmelt wie beinahe alles heutzutage. Meist lohnte es sich nicht, sich mit ihren eingerosteten und widerspenstigen Verschlüssen abzuplagen. Dann, als er sie schräg in der Hand hielt, bemerkte er, daß ihr Deckel nur lose aufgelegt war. Er schüttelte sie neben seinem Ohr. Es klang metallen – wie von einem Schlüssel. Er stülpte die Dose um, und ein langer Doppelbartschlüssel fiel mit dem Schraubdeckel in seine aufgehaltene Hand. Wargas drehte ihn im spärlichen Fensterlicht, besah ihn von allen Seiten und blickte sich suchend um. Wozu mochte er dienen? Es gab keinen zweiten Schrank in
der Sakristei, und er entdeckte nirgends eine Tür ohne Schlüssel. Die Wände sahen nicht so aus, als wenn sich in ihnen ein Safe verberge. Er hob das Heiligenbild ab; aber dahinter war nur das hellere Viereck des Verputzes. Vielleicht von der Portaltür, dachte er achselzuckend und steckte ihn ein. Schon wieder draußen im Kirchenraum, blieb er noch einmal stehen und wandte sich um. Sein Blick fiel auf einen schmuddeligen Läufer aus Baumwollersatz, der vor dem Tischchen mit dem Heiligenbild lag. Einer Eingebung folgend ging er mit zielstrebigen Schritten in die Sakristei zurück und hob ihn an. Darunter war eine rohgezimmerte Holzklappe. Vermutlich führte sie in ein Kellerversteck, vielleicht in die geheime Vorratskammer des letzten Pfaffen. Sicher gab es da unten keinen Kirchenschatz. Es hätte ihn auch gleichgültig gelassen. Die Zeiten, in denen man für Gold und Edelsteine etwas bekommen konnte, waren vorüber. Es gab niemanden mehr, der einem für eine Tiara, die Papstkrone, auch nur zwei Schnitten frisches Graubrot geboten hätte. Wargas probierte den Schlüssel in dem schweren Eisenschloß aus – er paßte – und hob die Klappe an. Da es stockfinster war, hielt er sein Feuerzeug über den Kopf, während er vorgebeugt eine schmale Holztreppe hinunterstieg, die eher einer schrägen Leiter mit Brettersprossen glich. Sie knarrte bei jedem Schritt (die metallharten Kunststoffnägel der Neuzeit knarrten im Holz noch mehr als Eisennägel: beinahe alles schien sich in den Jahrzehnten vor dem letzten Krieg zu seinen Ungunsten verändert zu haben). Etwas Dunkles baumelte vor ihm von der Decke. Es war eine reich mit falschen Perlen und Edelsteinen geschmückte Scheiben-Monstranz an einer hölzernen Rosenkranzkette. Muffiger Kellergeruch wehte ihn an, als er weiterging. Er hob den Arm, ließ den Schein des Feuerzeugs auf die Regale ringsum fallen… und hielt vor Verblüffung inne:
Buchrücken reihte sich an Buchrücken, schweinslederne Folianten, weinrote Lederausgaben mit Goldprägung wie billige broschierte Ausgaben. Einige Bände zweifellos älter als er selbst. Das älteste Stück überhaupt schien eine Lutherbibel zu sein, ein gewaltiges Buch, armdick, in schweres dunkelbraunes Leder eingebunden, voller Flecken, die Prägung schon verblassend. Auch Werke in den durchscheinenden Plastikeinbänden der Neuzeit entdeckte er; zu seinem Erstaunen sogar einige aus den sektiererischen Bewegungen der Jahrtausendwende: Sprüche voller dunkler Prophezeiungen und apokalyptischer Andeutungen, wie sie Baibach damals in der Hotelhalle deklamiert hatte. Es war eine umfangreiche theologische Bibliothek mit Werken der verschiedenen christlichen Kirchen. Griechisch-orthodoxe Bände standen neben römisch-katholischen, griechisch-unierten, mormonischen und koptischen; bei der koptischen Literatur fand er sogar ein altes medizinisches Handbuch und ein schmales Heftchen mit Zaubertexten – Litaneien, die etwas beschworen, das auch durch noch so viele Nöte und Wünsche nicht wirklicher werden würde. Jemand schien über lange Zeit sehr zielstrebig und gründlich alles erreichbare religiöse Schrifttum zusammengetragen zu haben. In einem der Regale entdeckte er verschiedene Priestergewänder und Kirchengerät: Kelche, Votivkerzen, Weihrauchharz, zwei fein gearbeitete Aspergills mit langen Silberketten, ein Ziborium aus Messingersatz, auch ein schwarzes, schon etwas speckiges Kamilavkion, wie er es damals auf dem Gehsteig vor der Tür einer kleinen Schusterei gefunden hatte. Das alles war sicher nicht von den letzten Priestern der Kirche gesammelt worden. Sie sind also schon wieder zugange, dachte er (und er wußte nicht, ob es ihm eher ein ernüchtertes Lächeln als Zähneknirschen und Resignation abverlangen sollte). So holten sie die Vergangenheit ein. Als gäbe es etwas Ruheloses
in ihnen, geistige Fingerspitzen, die sich verbrennen wollten. Der Ort, an dem paradiesische Unwissenheit herrschte, schien von den Rändern her schrumpfen zu wollen. Ein Traum, der sich verflüchtigte. Die Vergangenheit zog man nicht wie einen faulen Zahn.
3 Es war der letzte Sommertag im September, um sechzehn Uhr zweiundvierzig, so hatte er auf einem astronomischen Kalender im Metropol-Kaufhaus gelesen, begann der Herbst, und er schritt mit einem Leinenrucksack, die länger werdenden Schatten hinter sich, nach Westen. Zweimal hätte er sich in dem Gewirr kleiner Straßen fast verirrt. Doch wenn man sich nach der Sonne richten konnte, fand man auch aus den tiefsten Straßenschluchten wieder heraus, sobald nur irgendwelche Plätze oder Häuserlücken kamen, von denen aus man genügend Himmel sehen konnte. Er war auf dem Weg, ein Depot aufzufüllen, das gut dreieinhalb Stunden Fußmarsch entfernt beim ehemaligen Stadtteil Osterfeld tief unten in der Strecke eines alten Steinkohlenbergwerks lag: sein größtes Depot überhaupt. Eigentlich hatte er es nur für den äußersten Notfall angelegt; deshalb mied er es gewöhnlich, um die Säuberer nicht unnötig auf seine Fährte zu locken. Es sollte ein sicherer Flecken für alle Fälle sein, an den er sich jederzeit zurückziehen konnte. Früher war manchmal in den Nachrichten von einer Sprengung der Stadt die Rede gewesen (um die letzten Überlebenden aus ihren Rattenlöchern zu vertreiben, argwöhnte er, nichts weiter; leere Drohungen! Er bezweifelte, daß die Neuen das Wort ›Sprengung‹ überhaupt verstanden, deshalb konnte sich die Warnung nicht an sie richten). Dann, eines Tages, vielleicht,
weil sie kaum noch jemanden in den Verstecken vermuteten, waren ihre Warnungen plötzlich ausgeblieben. Eine solche Riesenstadt sprengte man nicht einfach in die Luft, es sei denn, mit Atombomben. Doch dafür lagen ihre Orte zu nahe, sie hätten sich selbst verseucht. Außerdem brauchten sie die Warenlager der Stadt, denn ihre automatischen Werke konnten trotz beachtlicher Fortschritte noch immer nicht alle Bedürfnisse befriedigen. Zwar waren sämtliche großen Lager und Fabriken ebenso wie die Geschäfte und Kaufhäuser an den Hauptstraßen längst ausgeplündert, aber in den Seitenstraßen, dem Gassengewirr der alten Bergarbeitersiedlungen im Norden oder in den engen Straßen der Vororte fand sich noch manches, wenn man nur gründlich genug suchte. Es schien ihm aber vernünftiger, ihre Drohung, auch wenn sie seiner Meinung nach nicht ernst gemeint war, zu beherzigen. Einige Tonnen herkömmlicher Sprengstoff würden die Innenstadt in Schutt und Asche legen können. Das Lager im Bergwerk machte ihn auch von Unwetterkatastrophen oder Überschwemmungen unabhängig. Es gab jetzt oft verheerende Regenfälle und sintflutartige Gewittergüsse wie in den Tropen. Der Rhein suchte sich, seit viele Uferbefestigungen unterhöhlt und zerfallen waren, bei jeder Schneeschmelze ein neues Bett. Da es keine Instandsetzungsarbeiten mehr gab, hatten sich mancherorts Verbindungen zu den Altarmen gebildet, und eine Reihe neuer Inseln war entstanden. Auen und sumpfige Niederungen, in denen man höllisch aufpassen mußte, weil man sich sonst verirrte und in Wirbel und Strömungen geriet, wuchsen bis dicht an den Stadtrand mit seinen Häuserfronten heran, und die alten, jetzt allerdings von Geröll und Schlamm überspülten Asphaltwege des früheren Damms waren innerhalb der Mäander die einzigen sicheren Zugänge. Von einigen hatte er bei dem vergeblichen Versuch, mit einfachen Reusen Fische zu fangen, um seinen Speisezettel aufzubessern,
Wegezeichnungen angefertigt. Bäume und halb versunkene Sträucher dienten ihm als Markierungen. Der Gedanke, sich irgendwann ein Lager aus gepökeltem Fisch anzulegen, beschäftigte ihn noch immer. Obwohl er nicht ganz sicher war, nahm er an, daß es jetzt wieder Rotaugen, Zander und Hechte im Rhein gab. Mit jedem Tag, den er den Krieg überlebt hatte, wurde es schwieriger, sich zu versorgen. Er betrachtete das Depot als seine eiserne Reserve und eine letzte Zuflucht, weil es ihm besonders sicher schien. Deshalb hatte er dort unten Konserven mit langer Lagerfähigkeit, in Blechbehältern verlöteten Zwieback, viele Kilo Traubenzuckertabletten, Tafelwasser in Dosen und Sardinenbüchsen, soviel er nur auftreiben konnte, gehortet; Sardinen, das hatte er bald herausgefunden, waren lange über die angebebene Haltbarkeitsdauer genießbar, besonders, wenn man sie vor dem Verzehr noch einmal trocknete und in neuem Öl briet. Auch achthundert Kerzen und mehr als zwei Zentner Gaskartuschen lagerten in dem Versteck. Es war ein Verschlag aus dicken Hölzern, den er sich selbst gebaut hatte, wehrhaft wie ein altes Fort: mit schießschartenartigen Luken, einer Zugbrücke über dem tiefen, von Kohlenwasser durchsetzten Schlammgraben, der quer durch die Strecke lief, und doppelten Tür Sicherungen. Die Mühsal, so viele Dinge nach unten zu schaffen, wurde durch das Gefühl der Sicherheit und Unabhängigkeit belohnt. Sein größter Wunsch war es noch immer, eine komplette kleine Notarztstation einzurichten. Er fand jedoch keine brauchbare mehr, weil in den ersten Tagen der Seuche viele Arzteinrichtungen von enttäuschten Kranken auf die Straßen geworfen worden waren. Offenbar hatte es ihnen Vergnügen bereitet, mit den Füßen darauf herumzutreten. Wenn man in siebenhundert Metern Tiefe an der Einmündung der Strecke aus dem Förderschacht kam, ging der Weg noch einmal halb so weit über schmale Rinnsale, weggesackte oder
überschwemmte Schienen – manchmal auch über die Trümmer eingestürzter Decken und durchgefaulter Stempel hinweg –, bis zu einer Art Alarmanlage, die er angelegt hatte, ein Labyrinth aus mit Aluminiumleisten versehenen Wandplatten, wie sie früher für transportable Bauunterkünfte verwendet worden waren. Diese Wandplatten waren in mehreren Reihen seitlich und hintereinander lose angeordnet und dicht über dem Boden durch Stolperdrähte so verbunden, daß sie unweigerlich wie ein Kartenhaus mit ohrenbetäubendem Krachen zusammenstürzen würden, wenn sich jemand zum ersten Mal den verwinkelten Durchgang suchte. Sollte er sich gerade in dem Verschlag befinden, seiner ›Burg‹, die aus mehreren Zimmern und dem eigentlichen Lager bestand, zeigte das Einstürzen dieser Wandfalle unweigerlich an, daß sich ein Feind näherte; und wenn er selbst von außen kam, konnte er fast sicher sein, dort niemanden anzutreffen, falls die Wände noch standen. Ein wenig kam ihm seine Bretterinsel (sie grenzte hinten an den durch einen Wassereinbruch überschwemmten Teil der Strecke) wie Robinsons Insel vor, wenn er auch wenig um einen Freitag gab; ganz im Gegenteil: seine Einsamkeit ließ ihm Zeit, um mit sich und den neuen Zuständen ins reine zu kommen (er hatte immer einen gewissen Hang zur Eigenbrötelei besessen, auch in seinen besten Tagen mit Vera, und vielleicht war es ein Grund dafür, daß ihre Liebe so blaß und wankelmütig geblieben war, wie die der sogenannten Christen, denen es ganz natürlich erschien, ihre sonntägliche Gottesdienstidylle der Sorge für die Schwachen und Leidenden vorzuziehen). Der Gedanke, dort unten an Altersschwäche zu sterben, im trüben Kerzenschein und ohne einen Menschen, auf dem Klappbett, das er sich aus dem Förderhaus des Bergwerks besorgt hatte, erschien ihm jedenfalls tröstlicher als ein gewaltsamer Tod über Tage unter dem Gehirnwellenblockierer.
Manchmal, wenn ihn einer seiner rätselhaften Schwindelanfälle überkam, spielte er mit dem Gedanken, sich ganz in sein Refugium zurückzuziehen und einfach der Dinge zu harren, die da kommen würden. Diese Einstellung – sich von der Zukunft überraschen zu lassen – war womöglich ein Fehler, der die alte Welt zugrunde gerichtet hatte, das sah er wohl ein. Meist erledigte sich sein Problem allerdings von selbst, weil ihn wieder jene Sammelleidenschaft packte, das Warenlager mit immer neuen und oft unnützen Kleinigkeiten zu vervollständigen, als müsse er von jeder Spezies wie Noah von den Tieren in die Arche etwas in das Depot schaffen, um nichts zu vermissen, wenn über ihm die Welt in Stücke flog, und er kehrte wieder ans Tageslicht zurück, durchstreifte die abgelegenen Straßen und Hinterhöfe. Es mochte eine ganz unbegründete Angst sein. Doch der Krieg hatte wohl in allen Überlebenden das Trauma hinterlassen, was einmal geschehen sei, könnte sich wiederholen: eine unsinnige Vorstellung, weil es keine Machtblöcke mehr gab, die einander bekämpften. Derartige Ideen scherten sich wenig um Vernunft und gingen ihre eigenen Wege. In Wargas Gepäck befanden sich außer zwei dicken medizinischen Handbüchern drei Dutzend Glühstrümpfe für die Kartuschenlampen. Eine besondere Kostbarkeit, da sie fast so hell leuchteten wie elektrisches Licht. Er schritt unermüdlich aus, immer der Sonne entgegen, die um diese Zeit schon tief stand und weitaus greller und blendender schien als in den Tagen seiner Geburt. Obwohl bereits in den siebziger Jahren bekannt gewesen war, daß Fluorkohlenwasserstoffe durch ihre Freisetzung von Chloratomen die Ozonschicht zerstörten, hatten selbst eine drastische Zunahme der Hautkrebserkrankungen und eine höhere Mutationsrate im ersten Viertel des Jahrhunderts niemals zu einer weltweiten Vereinbarung führen können.
Er wählte die kleineren Seitenstraßen, auch wenn der Weg sich dadurch fast verdoppelte, weil sie ihn zwangen, kreuz und quer zu gehen. Die Purificateurs konnten zwar überall sein, es hatte sich aber doch gezeigt, daß sie Haupt- und Durchgangsstraßen bevorzugten. Er kam an den Verkaufsständen einer Marktgasse vorüber, in der die Kästen mit Gemüse noch so standen, als seien sie eben erst verlassen worden, schmuddelig zwar (sie waren allerdings nie sehr sauber gewesen) und mit völlig vertrockneten Waren, von denen der Wind einiges – Petersilie und Salatköpfe – in die Gosse geweht hatte, aber noch mit ihren bunt gestreiften Dächern aus wasserdichtem Plastikgewebe. Er ging weiter, an dem monolithisch wirkenden, ganz aus glattem weißen Marmor errichteten Turm der Gedächtniskirche vorüber, der den Toten des ersten Atomkriegs gewidmet war, und dann über die schmale Brücke eines Abwasserkanals. Wenig später kam rechts ein hohes Brauereihaus mit dem größten Schankraum des Kontinents – so hatte die Werbung gelautet –, in dem sich bis zu zweitausend Menschen an der in einem riesigen Viereck umlaufenden Theke betrinken konnten. Er erinnerte sich noch deutlich des Stimmengewirrs, das immer unter der hohen, mit imitierten Holzplatten getäfelten Saaldecke geherrscht hatte; auf der Galerie standen rohe Holztische, an denen Obdachlose für den Eintrittspreis von ein paar Glas Bier oder Wein ihre Tage und Nächte verbrachten. Alte Frauen und Männer schliefen, ihren Kopf auf den verschränkten Armen, selbst im größten Lärm, als sei es ein friedliches Bett. Sich zu betrinken, war in der damaligen Zeit beinahe der einzige Ausweg für arme Leute, weil sie sich den Luxus eines Gefühlsabschalters, selbst wenn er nur gemietet wurde, nie hätten leisten können. Wargas warf einen flüchtigen Blick über die verfallene Theke mit ihren blinden Zapfhähnen und zerbrochenen Stühlen ringsum an den dunkel gestrichenen Wänden, als er den Eingang passierte, und
er wandte sich angeekelt ab. Sein Blick fiel auf einen kleinen Laden am Ende der steil abfallenden Straße. In diesem Augenblick hätte er lieber wieder umkehren mögen, so sehr bedrängte ihn die Erinnerung, als er das verwitterte Namensschild las. Borgmann, dachte er voller Unbehagen. Wie habe ich mich nur hierher verlaufen können… Familie Borgmann; er drehte an dem geriffelten Knopf hinter seinem Ohr. Es wäre ein Grund gewesen, diesen Weg zu meiden – und sicher war es Grund genug, den Gefühlsabschalter anzustellen. Das Lädelchen wäre jedem anderen ganz harmlos erschienen: eine der kleinen schmierigen Firmen zum Verkauf von Kindern aus der dritten Welt, wie sie bereits gegen Ende des zweiten Jahrtausends überall üblich waren. Seit die Überbevölkerung in den unterentwickelten Ländern katastrophale Ausmaße angenommen hatte, war der Verkauf von Kindern an kinderlose Ehepaare in den reichen Ländern sanktioniert worden. Zwar stand er anfangs unter staatlicher Kontrolle, und man hatte streng darauf geachtet, daß sich keine gewissenlosen Profitmacher des Geschäftes bemächtigten. Doch wie sollten arme Familien in Indien, Zentralafrika oder Südamerika erkennen, ob die Papiere von Ankäufern gefälscht waren oder nicht? Viele konnten nicht einmal lesen, geschweige denn ein echtes von einem falschen Papier unterscheiden. Behördenstempel waren leicht nachzumachen. Sie erhielten ohnehin nur eine winzige Kopfgeldprämie, alles Weitere scherte sie nicht. Ein nutzloser Esser weniger: das war ihr Hauptinteresse. So gelangten zahllose Kinder in die Verkaufsstellen, die unter der Hand gehandelt wurden. Borgmanns galten als seriöse Vermittler zu jener Zeit. Für jedes verkaufte Kind erhielten sie eine Provision, und sie schienen gut davon leben zu können.
Als sie den Doktor baten, ein kleines Mädchen von den Philippinen zu behandeln, das an Epilepsie litt, hätte nur ein Eingeweihter hinter der verwitterten und schmuddeligen, für damalige Verhältnisse aber seriös wirkenden Fassade eine der am besten gehenden Schwarzhandelszentralen der Stadt vermutet. Die Auslage zeigte Fotos von hungernden Kindern: blasse Gerippchen und aufgedunsene Bäuche, mit denen um Spenden für ein Kinderhilfswerk geworben wurde. Das Mädchen war zu einem horrenden Preis verschachert worden – wie alle schwarz verkauften Kinder, die keiner amtlichen Kontrolle unterstanden. Nachdem seine Adoptiveltern entdeckt hatten, daß es krank war, forderten sie ihr Geld zurück und drohten Borgmann anzuzeigen. Deshalb wandte er sich in seiner Not an den Doktor. Er war bereit, die Kosten der schwierigen Operation zu tragen, unter der Hand, wie üblich, weil sie immer noch billiger sein würde als eine Rückzahlung der Kaufsumme. Man mochte den gesetzlich erlaubten Verkäufen skeptisch gegenüberstehen, aber das Geld kam der Entwicklungshilfe zugute, es half weiteren Hunger und neue Geburten verhindern. Ohne Adoption wäre ein großer Teil der Kinder sicher zugrunde gegangen wie unzählige andere, die keine Käufer fanden. Deshalb hatte Wargas darin immer das kleinere Übel gesehen, obwohl er die ablehnende Haltung vieler Andersdenkender verstand. Ein beliebtes Argument, für das er allerdings wenig Verständnis aufbrachte, war die »Durchsetzung der eigenen Rasse mit fremdem Blut«. Denn diese Kinder wurden schließlich groß, sie heirateten und vermischten sich mit Einheimischen. Nur wenige kehrten in ihre Geburtsländer zurück, weil dort das Elend umging. Neben der Verseuchung des Planeten, dem katastrophalen Baumsterben der neunziger Jahre, den Ölkriegen, dem Umschlagen der Atmosphäre, der Zunahme von erbgeschädigten Kindern, die von Geburt an ein
Leben als Krüppel führten oder der atomaren Bewaffnung kleinerer Staaten waren Hunger und Überbevölkerung zu unlösbaren Problemen geworden. Es war interessant, zu sehen, daß man auf alle diese Fehlentwicklungen schon vor vielen Jahren hingewiesen hatte. Wargas erinnerte sich noch deutlich an Zeitungssammlungen, dicke Auswahlbände, die zur damaligen Zeit ungeheure Verkaufszahlen erreichten, in denen sich nachlesen ließ, mit welcher Klarheit Wissenschaftler und Journalisten der siebziger und achtziger Jahre imstande gewesen waren, jede dieser Entwicklungen vorauszusehen oder auf mögliche Gefahren hinzuweisen. Weltorganisationen tagten in ständigen Ausschüssen, über zahllose Resolutionen waren kleine, halbherzige Schritte erreicht worden, aber aus Gründen, die niemand wirklich verstand, wollte man sie nicht dem Egoismus, der Kleinlichkeit, der Gewohnheit oder Gleichgültigkeit zuschreiben, war eine radikale Umkehr ausgeblieben. Er blieb an der Schaufensterscheibe stehen. Hier, vor der Auslage, hatte Borgmann ihm das Kind übergeben. Ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen auf den ersten Blick, kaum vier Jahre alt (denn weniger hübsche und ältere Kinder hatten keine Chance, einen Käufer zu finden), und er war mit dem Mädchen an der Hand in einen Elektrobus gestiegen und zur Klinik gefahren. Für eine so komplizierte Operation benötigte man unbedingt einen Mitarbeiter, erst recht, wenn sie schwarz und ohne Operationsschwestern ausgeführt wurde. Offiziell wäre sie auch gar nicht möglich gewesen, da die erforderlichen Papiere fehlten. Außerdem konnte er den Betrag gut gebrauchen. Das Leben war um diese Zeit teuer geworden, er spielte mit dem Gedanken, sich eine eigene Praxis einzurichten, in der er freier und finanziell erfolgreicher arbeiten würde. Viele Industrieprodukte und fast alle Luxusgüter hatten sich durch die Verknappung des Rohöls stark verteuert. Vorrichtungen zur
Abschirmung von Umweltbelastungen ließen manche Preise jährlich um zwanzig bis vierzig Prozent ansteigen. Arbeitslosigkeit durch Automatisierung und die fortschreitende Verarmung der Dritten Welt trugen nur dazu bei, daß kleinere Stückzahlen von früher selbstverständlichen Gütern höhere Preise erzeugten. Das alles machte es damals immer schwieriger, den gewohnten Lebensstandard zu halten. Deshalb würde er mit Vera operieren und sie sogar die schwierige Durchtrennung des Corpus Callosum ausführen lassen, damit sie nicht das Gefühl hatte, sie habe ihren Anteil nur aus Großzügigkeit bekommen. Eine Isolierung der beiden Gehirnhälften nach seiner Methode, bei der bestimmte Bahnen des Corpus Callosum erhalten blieben, war in einigen Fällen das wirksamste Mittel gegen Epilepsie. Als sie nachts in der Klinik operierten, kamen sie mit der Schädelöffnung und Bestimmung des Nervengeflechts auch gut voran – bis unvermittelt der Strom ausfiel und das Notstromaggregat nach zwei, drei kurzen Aufblitzern seinen Geist aufgab. Sie versuchte die übrigen Bahnen im Licht eines starken Handscheinwerfers durchzutrennen. Dabei mußte sie zwei gleich aussehende Nervenstränge verwechselt haben. Er selbst war wegen des Ärgers mit der Lichtanlage unaufmerksam gewesen. Als sie es entdeckten, war es zu spät. Es war eine Leitung zum Kortex, dem Sitz der höheren geistigen und motorischen Fähigkeiten. Das Kind würde fortan schwachsinnig und bewegungsbehindert sein – ein Pflegefall. »Ich hab’s verpatzt«, sagte sie, »also werde ich mich auch darum kümmern.« Er erinnerte sich noch deutlich an die reglose Gestalt des Kindes, seinen wie ein Fetus im Mutterleib in der Narkose zusammengekrümmten Umriß dort unter dem Laken im nachlassenden Licht des Batteriescheinwerfers, den sie
provisorisch an einen Haken neben der Operationslampe gehängt hatten. »Nein, ich werde es übernehmen«, widersprach er. »Ich hätte dich nicht operieren lassen dürfen. Du hast zu wenig Erfahrung. Es war mein Fehler.« »Du kannst nicht gut deine Arbeit hier im Hospital aufgeben. Aber ich könnte es – ich könnte halbtags arbeiten. Wir hätten immer noch genug zum Leben.« »Nicht wenn ich endlich meine Praxis eröffne. Das Kind würde nebenan in der Wohnung bleiben, und ich könnte öfter nach ihm sehen.« »Unsinn, es kann sich nicht für so viele Stunden selbst überlassen bleiben.« Niemand war bereit, das Mädchen zu nehmen, als es die Tage in der Klinik überstanden hatte. Fast alle Pflegeheime lehnten seine Aufnahme wegen Überfüllung ab, es gab zu viele genverkrüppelte Kinder durch Umweltgifte und Spätschäden von Medikamenten. Die Entdeckung chemischer Neutralisatoren in der Nahrung war um einige Jahre zu spät gekommen. Das Kind sprach schleppend für sein Alter, es blieb wie erwartet in der Entwicklung zurück, und seine Bewegungen wirkten ungelenk. Borgmann verweigerte jede Bezahlung der Operation, er berief sich darauf, daß er die Rückzahlung der Kaufsumme allein tragen müsse, was Belastung genug sei. Borgmanns Frau fertigte ihn an der Tür ab. Sie konnten sich Unverschämtheiten leisten. Da es zwar ein unerlaubter Verkauf, aber auch eine illegale Operation gewesen war, lenkte der Doktor ein. Ein Verfahren hätte ihn seine Approbation kosten können. In den ersten Wochen blieb Vera zu Hause, sie richtete die Wohnung ein und betreute das Kind. Eines Tages brachte sie es in die Praxis eines Bewegungstherapeuten, er stellte schon bald fest, daß die Heilungsaussichten gering waren. Wargas’ Praxis ging schlechter als erwartet. Sein Ruf, einer der
zuverlässigsten Neurochirurgen im Umkreis zu sein, zahlte sich nicht aus. Trotzdem nahm ihn seine Arbeit so ein, daß er sich kaum um das Mädchen kümmern konnte. Es wäre nur auf Kosten seiner Patienten möglich gewesen. Er zahlte die teuere Praxiseinrichtung ab. Bei alledem war nicht zu verkennen, daß ihre erzwungene Rolle als Mutter ihr jeden Funken Lebensmut nahm, bedrückt und mit allen Anzeichen von Resignation und Müdigkeit tat sie ihre Pflicht. Wenn er abends in die Wohnung kam, saß das Kind auf dem Fußboden und schlug mit einer Stoffpuppe (einem Geschenk des alten Melanchton aus ihrer eigenen Kindheit) sinnlos auf bunte Kunststoffbauklötze ein, die Vera zu einer Pyramide aufgebaut hatte: meist hielt es seine Puppe an einem Bein und verstreute mit dem bestickten Kopf die Bauklötze in jeden Winkel des Zimmers. »Es ist aggressiv«, stellte sie entsetzt fest. »Nicht aggressiver als andere Kinder.« »Ich habe heute dreimal seine Höschen gewechselt. Und das Bettzeug wird kaum noch trocken.« »Es gibt ältere Bettnässer.« »Dieses Spielzeug macht es nur konfus.« »Du solltest nicht nur Pyramiden bauen. Versuchs mit Häusern oder Puppenküchen.« »Es begreift gar nicht, was ein Haus ist.« Er wischte sich zerstreut und müde über die Stirn: er hatte seit zwei Nächten nicht mehr geschlafen. »Mein Leichtsinn damals bei der Operation… – ja, ich verstehe, was du sagen willst.« »Unsinn! Du weißt, daß es meine Ungeschicklichkeit war.« »Nein, der Stromausfall war an allem schuld.« »Wir hätten nicht operieren sollen.« »Ich verdamme den Tag, an dem ich mir diese lächerliche Praxis aufgehalst habe. Sie behindert nur meine Forschungsarbeiten. Ohne sie würde ich mich ganz der
Erziehung des Kindes widmen – und du könntest ins Krankenhaus zurückgehen. Dein Vater sucht noch immer vergeblich nach einer fähigen Assistentin.« Er wußte, daß es nicht aufrichtig gemeint war, denn der Anblick des verständnislos dreinblickenden Kindes jagte ihm jedes Mal einen Schauder über den Rücken. »Ja, plötzlich bin ich unersetzlich in seinen Augen.« »Wenn wir nur jemanden fänden«, sagte er nachdenklich. »Ich könnte die Praxis aufgeben, und du wärst wieder an deinem alten Arbeitsplatz.« »Will Borgmann es nicht? – Ich meine… wenn wir ihn dafür bezahlen? Es gibt Menschen, die mehr Zeit und Sorgfalt für einen Pflegefall aufbringen wollen, Menschen, denen das alles besser liegt…« So war das Kind zu Borgmann zurückgekehrt. Der alte Halsabschneider fand prompt eine »sozial gesinnte Familie«, nachdem man sich auf den Preis geeinigt hatte, und kassierte dafür. Es waren ältere Leute in der Vorstadt. Sie hausten in einem einzigen Zimmer mit hohen Fenstern und brüchigem Balkon, der auf die Innenhöfe ging; ihre behinderte Tochter war vor kurzem an Kinderlähmung gestorben. Wargas hatte sie einmal besucht, etwa zwei Monate nach der Praxisauflösung und Veras Rückkehr an die Abteilung, und ihnen einen größeren Geldbetrag zugesteckt. Anfangs verdächtigte er sie, daß sie von solchen Pflegefällen lebten. Aber sie konnten es kaum fassen und starrten die ganze Zeit über auf den silbernen Knopf hinter seinem Ohr, der ihnen als ein Zeichen unvorstellbaren Reichtums erschien. Es waren anständige Leute. Das Kind würde es gut bei ihnen haben.
Zweites Kapitel
1 Er schritt schneller aus. Die Sonne versank bereits hinter den Dächern. Solche Erinnerungen nahmen ihn mehr mit, als er sich eingestand. Trotzdem drehte er manchmal wie zum Trotz den Gefühlsabschalter zurück. Dann war der Schlag nur um so heftiger, hüllte ihn ganz ein, so daß er mit erhobenen Armen wie jemand, der sich verschluckt hatte an einer Hauswand stehenblieb, um Atem zu holen, und das Gefühl überfiel ihn wie eine unbarmherzige Macht: als stecke es noch in den Synapsen, als habe es sich nicht wirklich aufgelöst, sondern es sei nur die Verbindung unterbrochen, die es ins Bewußtsein brachte, und nun dränge es um so heftiger in jede Nervenfaser. Einmal setzte er den Rucksack ab, weil er ihm zu schwer geworden war. Seine Füße schmerzten vom buckeligen Straßenpflaster, und das grelle Licht der Sonne über dem Horizont blendete ihn, wenn die Straßen in ihrer Richtung verliefen oder Häuserlücken und freie Plätze kamen. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Merkwürdig, dachte er, das war ihm in all den Monaten noch nie passiert. Aber sein einziger Gesprächspartner wäre der Amerikaner in der Fabrik gewesen, gute drei Kilometer vor ihm, noch hinter dem Bergwerksschacht. Sein Hals war trocken, und seine Zunge fühlte sich rauh und pelzig an, wie schon so oft nach einem Schwindelanfall. Wargas blieb stehen und sah durch die halbblinden Scheiben eines kleinen Ladens, der Säfte angeboten hatte, konservierte Obstsäfte in großen Blechbehältern, die aus dem Ausland kamen. Falls die
chemische Kühlung funktionierte, gab es hier etwas zu trinken. Er blickte sich um – die Straße war menschenleer, nirgendwo ein Anzeichen, daß sich Purificateuers versteckt hielten. Er trat mit seinem Stiefel in die Türscheibe… und sie fiel scheppernd nach innen. Es gab tatsächlich eine chemische Kühlanlage. Aber sie mußte schon vor Monaten ausgefallen sein. Er öffnete einen der Blechbehälter, auf dem »Apfel-Birnen-Orangenmischung« stand mit dem Dosenstecher und goß etwas Saft in eines der Gläser, die über dem Thekenrost hingen. Gar nicht einmal so übel, dachte er, als er die fade süßlich schmeckende Flüssigkeit trank. Besser als das schale Tankwasser. Er steckte drei Zwei-Liter-Behälter zu den Büchern und Packungen mit Glühstrümpfen in seinen Rucksack und machte sich wieder auf den Weg. Die Finsternis brach jetzt so plötzlich herein wie in den Tropen, deshalb beeilte er sich, den Eingang des Bergwerkschachtes zu erreichen. Der Strahl einer Taschenlampe in den Straßen würde ihn leicht verraten. Keine Frage der Geduld oder der Ernsthaftigkeit, dachte er. Unsere Liebe hat nie weiter gereicht als bis zum eigenen Schatten… wohin auch immer man sah. Das war es, was sie zerstört hatte. Eine Gewißheit, so alt wie das Versagen. Wenn man sich prüfte und sich fragte, was man wirklich wollte, und man war ehrlich genug und verstand es, seine tieferen Regungen zu betrachten, ohne sie durch Wünsche und Vorurteile zu verzerren, dann zeigte sich, daß man keine Welt der Liebe wollte. Es war eine reizlose, ereignislos und langweilig erscheinende Vorstellung gegen jene Gegenwart der Katastrophen, in der man gewöhnlich lebte; selbst wenn der Verstand ihre Notwendigkeit einsah, versagte das Gefühl ihr die Gefolgschaft, von einigen sentimentalen Augenblicken abgesehen, in denen sie alle Brüder wurden. Viele Jahre lang, während er sich mit der Diagnose von Persönlichkeitsbildern
abplagte, um zu entscheiden, ob eine neurochirurgische Operation Aussicht auf Erfolg haben würde, war das Versagen des Gefühls ein immer wiederkehrendes Zeichen gewesen. Er brauchte nur seine eigenen Verhältnisse zu sehen. Daß jene alten Leutchen, weil Vera plötzlich einer Gewissensregung folgte und immer öfter das Kind sehen wollte, sich schließlich weigerten, sie zu ihm zu lassen, lastete sie ihm, Wargas, an. Sie verdächtigte ihn, er wolle, daß sie es endlich vergesse, und habe seine Pflegeeltern mit etwas Geld bestochen. Aber wenn es um jene Liebe ging, die nicht von zufälligen Gefühlen, sondern vom Willen abhing, dann schien ihr Fehlen eine so weitverbreitete Krankheit, daß man sich guten Gewissens als normal bezeichnen durfte. Es war auf makabre Weise beruhigend, sich in so großer Gemeinschaft zu wissen. Vera ging wie er selbst am Krankenhaus schon bald wieder ihrem gewohnten Beruf nach: mit jenem Ehrgeiz, der keine Halbheiten duldete, weder im Guten noch im Bösen. Und jedes Scheitern bedeutete eine Katastrophe, wenn sie es nicht gerade vorzog, sich als einen Ausbund an Vergebung zu zeigen. Die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur – daß selbst Nero, Hitler und Stalin ihre guten Seiten und menschlichen Züge besessen hatten – hätte damals vordergründig betrachtet noch Hoffnung machen können. Als sei nicht schon allein deshalb alles verloren, weil die Moralität niemals mit dem Wissen und dem technischen Fortschritt Schritt hielt. Einige Unverbesserliche glaubten, es sei ein Keim, der sich nur entwickeln müsse, die Saat, die schon aufginge, wenn man sie durch Wasser und guten Boden gedeihen lasse; aber es war nichts weiter als Widersprüchlichkeit. Jeder Blick auf die Geschichte bewies es. Er hatte damals wenig Zeit, sich über das alles Gedanken zu machen. Wenn er nachdachte, außerhalb seiner Arbeit zur Besinnung kam, kreisten seine Gedanken um weltpolitische Fragen wie die Automatisierung des atomaren
Gegenschlags, bei dem Computer den Verantwortlichen ihre Entscheidung abnahmen, um das Vorrücken des Sozialismus in den unterentwickelten Ländern, oder um eine zweite Welle des weltweiten Waldsterbens, nachdem das erste durch technische Auflagen eingedämmt worden war. Er erinnerte sich, dies alles voller Anteilnahme verfolgt zu haben. Es waren seit langem bekannte Probleme, mit aschegezeichneter Stirn sozusagen; aber selbst Reue und gute Vorsätze versagten vor ihnen, sobald man persönliche Opfer bringen mußte. Wargas erreichte einen von vier dunklen Steinsäulen begrenzten Platz, an dessen Ende der ehemalige ›Palast der Freundschaft mit den Ländern der dritten Welt‹ stand. Sein zinnenartiges Dach glich einer überdimensionalen Krone, und der abblätternde Goldanstrich mit eingelegten farbigen Kristallplatten glänzte in der untergehenden Sonne wie das Wahrzeichen eines weltumspannenden Reiches, obwohl es trotz seines Gepränges und mit all seinen hohlen Worten nicht einmal den Status einer Scheinwirklichkeit erlangt hatte. Delegationen aus den armen Ländern waren dort empfangen worden wie einst die Untertanen ferner Kolonien bei Hofe, und mit derselben Unterwürfigkeit hatten sie ihre Almosen in Empfang genommen, die damals ›Entwicklungshilfe‹ genannt wurden. Es gab vierzehn Säle im Palast: jeder einer anderen Weltregion zugeordnet. Unter dem Zeichen der goldenen Faust, dem Emblem des freien Westens, das um die Jahrtausendwende als Gegenbild zu Hammer und Sichel entworfen worden war, zeigten Wandteppiche die Übergabe der Gaben in ebenfalls von goldenen Fäusten umrankten Kreisen: Werke auf schiffbaren Pontons, fahrbare Krankenstationen, Fabriken und Meerwasserentsalzungsanlagen. Ein aufmerksamer Beobachter, wenn es ihn gegeben hätte, würde sich gefragt haben, hinter welchen Wandteppichen sich all die Kanonenboote und Luftund Bodenkriegsmaschinen verbargen.
Er ging schräg über den weiten Platz – manchmal innehaltend und die dunklen Eingänge und Schatten der Hauswände musternd – und dann durch die Gasse am Palast der Freundschaft, die ein Torbogen mit alten Steinfiguren wie eine schmale Brücke überspannte, bis vor ihm in der Dämmerung das Werksgelände einer Waffenschmiede lag. Seine charakteristischen Sperranlagen, Doppelzäune, Selbstschußanlagen und Kameraaugen gegen Saboteure und Spione, wirkten so täuschend gegenwärtig, als sei alles erst gestern gewesen; nur das grelle Licht zwischen den asphaltierten Fahrbahnen war erloschen. Seltsamerweise suggerierten Gewalt und Krieg noch am ehesten das Leben (als lebe man am intensivsten, wenn man sich mit Fäusten ins Gesicht schlage oder einander durch Bomben auslösche). Er kürzte über einen von brusthohem Unkraut gesäumten Pfad seinen Weg so ab, daß wenig später der Förderturm vor ihm aus der Dunkelheit aufragte. Seine vier gewaltigen Eisenpfeiler waren von abblätterndem Rost überzogen, aber sicher würde es noch viele Jahre dauern, bis er durchgerostet in sich zusammenstürzte. Er ruhte auf Betonsockeln, und als Wargas die Tür zum Schacht öffnete, sah er an einem der Sockel einen tiefen Riß im Boden. Er war etwa drei Meter lang und einen halben Meter breit. Zuerst glaubte er, es sei nur ein Schatten, doch dann bemerkte er, daß der Vorbau zum Schachteingang etwas schief stand. Er stieß die Eisentür auf, die sich ohne Schwierigkeit im Rahmen bewegen ließ, und zündete eine der Petroleumlampen aus dem Regal hinter der Tür an. Dann stieg er in den Fahrkorb und begann sich mit der Handkurbel hinunterzudrehen. Das Gefühl, durch einen dunklen Schacht dem Erdmittelpunkt entgegenzugleiten, hatte ihn immer auf eigentümliche Weise fasziniert: als sei es ein Sinnbild, eine letzte Zuflucht für die Alten – wenn schon nicht nach oben, dann der Hölle entgegen.
Er mochte etwa hundert oder hundertzwanzig Meter tief gekommen sein, als von oben Sand und Steine auf das Korbdach aus Metall prasselten. Gleich darauf fuhr ein ohrenbetäubendes Knirschen durch die Schachtwände, und ein Grollen wie ferner Donner antwortete aus dem Innern der Erde… der Korb verlor das Gleichgewicht und berührte krachend die Schachtwand. Wargas schlug hart mit der Schulter gegen die Kurbel, seine Schläfe streifte den Eisenring der Notbremse. Die Petroleumlampe fiel um und erlosch. – Als er aus seiner Benommenheit erwachte und sich aufrichtete, erfaßte ihn wieder ein Schwindelgefühl. Er verspürte denselben metallischen Geschmack wie bei seinen Anfällen. Schwerfällig setzte er sich auf den Boden des Korbs und tastete nach der Lampe. Als er sie endlich gefunden hatte, war es ihm fast unmöglich, den Zylinder mit seinem Drahtkorb hochzudrücken, seine Finger versagten den Dienst, sie hatten jedes Gefühl für Feinheit und Zusammenarbeit verloren. Das Streichholz, das er nach mühseligem Grapschen und Tasten aus der Schachtel in seiner Hemdtasche fischte, fühlte sich zwischen seinen dick und aufgebläht erscheinenden Fingerkuppen wie eine hauchdünne Nadel an. Überhaupt schien seine Hand auf merkwürdige Weise an einem anderen Platz zu sein als sonst. Es war, als wollte sich sein Ellbogen bewegen, wenn er versuchte, mit der Hand zu greifen, und erst nach und nach kehrten sein Wille und ihre volle Bewegungsfähigkeit in die Gliedmaßen zurück. Das Körperschema, dachte er. Es muß sich durch irgend etwas verschoben haben. Die Flamme des Zündholzes war wie eine kleine Explosion. Herrgott noch mal, was ist mit mir passiert? überlegte er. Wieder überkam ihn Schwindel, obwohl er noch auf dem Boden saß. Mit zitternder Hand hielt er das brennende Streichholz an den Glüh Strumpf.
Während sein Licht die Korbwände erhellte, rumorte es noch einmal aus dem Erdinnern, Sand und kleine Steine trafen das Dach des Fahrkorbs. Wargas sah nach oben. Der Berg arbeitete. Dies war keine Erdbebenszene, aber hin und wieder stürzten Schächte oder Strecken ein, denn die Erde war hier in zahllosen Schichten durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Seine ›Burg‹ unten würde schon standhalten. Er hatte sie durch zusätzliche Stempel abgesichert. Darum machte er sich keine Sorgen. Obwohl seine Schulter schmerzte und über seine Schläfe eine feine Blutspur lief, begann er die Kurbel zu drehen. Er war vielleicht zehn oder zwanzig Meter tiefer gekommen, als der Fahrkorb mit einem Ruck aufs Wasser aufsetzte. Zuerst dachte er, er habe sich nur getäuscht. Aber es war das charakteristische Geräusch. Und wenn er sich bewegte, bewegte sich auch der Korbboden wie ein schwimmendes Schiff. Er öffnete den Riegel eines kleinen drahtvergitterten Fensters in der Korbwand, nahm die Lampe und beugte sich hinaus. Das Wasser schwappte dunkel vom Kohlenstaub unter seinen Tritten. Der Wassereinbruch mußte schon vor einer geraumen Weile alles unter ihm überschwemmt haben, vielleicht durch einen Erdrutsch wie eben, denn als er mit der Lampe die Wand ableuchtete und den Korbboden durch sein Gewicht bewegte, sah er bereits die Linie einer dunkleren Wassermarkierung auf dem Stein. Das wäre das Ende meines großen Depots, dachte er enttäuscht. Er begann den Fahrkorb nach oben zu kurbeln.
2 »Legen Sie sich erst einmal für ein oder zwei Tage ins Bett«, sagte der Amerikaner und reichte Wargas eine Tasse mit muffig riechender Hühnersuppe.
»Ja, das wird das Beste sein.« »Hier sind Sie sicher.« »Stammt dieses Zeug etwa aus dem ›Hühnerpool‹?« fragte der Doktor, während er mit kleinen Schlucken trank. »Aus den großen Abfülltanks, ja.« »Es wird langsam ungenießbar.« »Aus Konservendosen schmeckte es noch scheußlicher, ich heize jedesmal den Kessel in der Fabrik an und lasse es gut durchkochen, ehe ich mir einen Kanister davon abfülle.« »Hühnerpool« war eine bekannte Marke für Suppen mit Huhn, und ihre charakteristische Fernsehwerbung hatte ein über einen endlosen See aus Suppe hinwegflatterndes, glücklich gackerndes Huhn gezeigt. »Ach, funktioniert die Heizanlage denn noch?« »Es gibt einen Achthundert-Liter-Dieselöltank, der von den Säuberungen übersehen wurde.« »Dann allerdings.« Wargas zog die Decke zurecht und legte sich auf das Kopfkissen zurück. An den Wänden hingen drei derbe Leinenrucksäcke, in denen er wie Wargas Proviant und Geräte aus den Lagerhäusern der Umgebung zusammentrug. Der Raum mußte früher das Büro eines leitenden Ingenieurs oder des Besitzers der Fabrik gewesen sein, denn es gab einen Kontrollmonitor mit mehreren Schirmen. Jetzt standen zusätzlich zwei Betten, Küchenschränke, ein Spülbecken und drei kleine Tische darin, auf denen der Amerikaner seine Notizen ausgebreitet hatte. Er schrieb an einem Bericht über die neue Welt. Vor seinem Besuch in Europa war er Korrespondent einer großen New Yorker Zeitung gewesen. Wargas fragte ihn nicht, wer seinen Bericht lesen würde. Sicher verfaßte er ihn nur aus Langeweile. Er beobachtete, wie der andere sich mit seinem rasierten Kopf und den entzündeten Augen über die Papiere beugte; hin und
wieder kritzelte er einen Zusatz an den Rand des Textes. Der untere Teil seines Gesichts, der bei ihrer ersten Begegnung nur Stoppeln gezeigt hatte, war jetzt von einem kräftigen dunklen Vollbart bedeckt. Durch ein breites Fenster sah man in die Fabrikhalle. Das Fenster besaß eine Spiegelglasscheibe und war nur von innen durchsichtig. Falls jemand die Halle betrat, würde er kein Licht entdecken können. Über dem Fenster begann die Stahlträgerkonstruktion des Daches. Weiter hinten, auf dem Eisenträger im Schutze der Dachschräge, erkannte er im Schatten die Umrisse eines Vogelnestes; er hatte noch nicht herausfinden können, welche Art von den natürlichen Überlebenden des Krieges dort nistete. Neben Wargas auf der Konsole stand ein Fernseher. Offenbar hatte der andere wie der Doktor seine Informationen aus den täglichen beiden Sendestunden bezogen. Es kam nur selten vor, daß das Programm verlängert wurde. Der Amerikaner blickte von seinen Papieren auf; er schob einige Blätter übereinander und legte den Stapel beiseite. »Ich glaube nicht an die Version vom bakteriologischen Angriff der Russen«, sagte er gedankenverloren. Es kam so unvermittelt, daß Wargas sich im Bett aufrichtete und ihn überrascht musterte. »Nein, weiß Gott nicht«, fuhr er fort. »Nach allem, was ich in meinen Unterlagen gesammelt habe – Sie müssen wissen, das ich damals für amerikanische Zeitungen als Militärbeobachter arbeitete –, hatten sie alle Versuche mit Bakterien eingestellt, weil sie auf die Überlegenheit von Viren setzten. Und die Amerikaner verfügten meines Wissens nie über eine Spezies wie die des P-Meningokkos, der Gehirnhaut- und Lungenentzündung zugleich hervorruft. Sie experimentierten mit Bakterien kürzerer Inkubationszeit.«
»Glauben Sie wirklich, Sie hätten genug Einblick besessen, um das alles…?« »Ich hatte gute Verbindungen zu höheren Regierungsstellen und Militärkreisen. Mein Bruder arbeitete in den Seattle-Laboratorien. Nach dem endgültigen Scheitern der Abrüstungsverhandlungen in den neunziger Jahren machte ohnehin niemand mehr einen Hehl daraus, daß jede Seite versuchte, Überlegenheit zu gewinnen, gleichgültig, mit welchen Waffen. Die Vernunft war endgültig auf der Strecke geblieben. Wenn es jemals einen Hoffnungsschimmer gab, dann hatte man ihn allenfalls in den großen Friedensbewegungen der achtziger Jahre sehen können, aber die sogenannte Sicherheitspolitik behielt wie immer den Vorrang.« »Ich verstehe nicht«, sagte der Doktor; er setzte sich auf die Bettkante, obwohl ihn sofort wieder ein Schwindelgefühl erfaßte und der metallische Geschmack in seinem Mund zunahm. »Was schließen Sie daraus?« »Daß es von keiner der beiden Seite kam.« »Sondern?« »Es könnte ein Unfall gewesen sein.« Der Amerikaner sah wieder auf seine Papiere. »Oder irgendein Staat der Dritten Welt provozierte den Zwischenfall, weil er sich ausrechnete, die Großmächte würden dabei auf der Strecke bleiben, ich meine: mit atomaren Mitteln antworten, weil sie sich angegriffen fühlten, und schließlich wären die armen Länder die Gewinner des Ganzen, vorausgesetzt, sie überlebten die Katastrophe, was allerdings nicht der Fall war.« »Etwa wegen ihrer wirtschaftlichen Unterlegenheit?« meinte der Doktor zweifelnd. »Sie verfügten über die westliche Technologie. Aber sie waren vom Dollar und anderen westlichen Währungen abhängig. Ihre Einfuhren verbanden sie mit der Weltwirtschaft. Ohne dieses Netz der Abhängigkeit, ohne die Konkurrenz des Westens,
konnten sie damit rechnen, selbst den Platz einer Großmacht einzunehmen. Das wäre schließlich ein Motiv, oder?« »Mich überzeugt es nicht.« »Es ist ein Versuch, die Katastrophe zu erklären. Natürlich gibt es noch andere Erklärungen.« »Welche?« fragte er. »WEDA in Lyon provozierte einen Atomkrieg. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wieso ihre Kinder gegen den P-Meningokokkus gefeit waren?« »Das ist eine absurde Vorstellung.« »Nicht absurder als andere Verrücktheiten auch. Die Veränderung ihrer Erbanlagen war kein Zufall.« »Warum sollten sie so etwas getan haben?« »Einige beherzte Männer in den Laboratorien erkannten, daß die Katastrophe unausweichlich war. Vorausgesetzt, man sah die Zukunft in gewissen Grenzen als prognostizierbar und nicht nur als reines Zufallsspiel an. Erinnern Sie sich daran, daß werdende Mütter seit dem Jahre 2001 ihre ungeborenen Kinder in die neugegründeten WEDA-Laboratorien brachten, um ihre Erbanlagen gegen Krankheiten schützen zu lassen? Es geschah in der Tat, diese Frauen ahnten nur nicht, welche wahre Absicht hinter den Erbveränderungen steckte. Und daß sie weit über das angegebene Maß hinausgingen, daß man insgeheim den neuen Menschen schuf. Schon damals mußte man sich bei WEDA zu einem Entschluß durchgerungen haben. Die Verantwortung des Wissenschaftlers. Alles Leben würde vernichtet sein. Sie taten sich zusammen, sorgten mit ihrer Gen-Technologie für eine Spezies, die überleben würde – natürlich nur unter dem Vorwand, allgemeine Gesundheitsvorsorge zu treffen – und nahmen das vorweg, was ohnehin kommen mußte, weil der alte Mensch unfähig war, sein Wissen und seine technischen Fertigkeiten mit seinen mangelnden psychischen Fähigkeiten in Einklang zu bringen. Er war moralisch zu schwach, und sein
Ende war nur eine Frage der Zeit. Zugleich war es eine Chance, den neuen Menschen zu etablieren und den Lauf der Weltgeschichte auf immer im positiven Sinne zu verändern. Ein gezielter Evolutionssprung, der ohne sie unmöglich gewesen wäre.« »Mit einer solchen Skrupellosigkeit zu handeln, brächten sie nicht fertig.« »Das Gute über das Böse zu erreichen, ist keine geringere moralische Frage, als ruhig zu bleiben und zuzusehen, wie die Menschheit in eine irreparable Katastrophe treibt.« »Sie meinen, sie hätten die Moral auf ihrer Seite?« »Sie luden schwere Schuld auf sich, zweifellos.« Der Amerikaner nickte. »Aber die Alternative war nicht absolut böse, vorausgesetzt, man ging zu Recht davon aus, daß es keine Gewinner eines kommenden Weltkriegs geben konnte. Es war mehr, als es ohne diese – zugegeben nicht leichte – Entscheidung gegeben hätte. Eine simple Kaufmannsrechnung. Sie sind so gut wie ich darüber informiert, daß die radioaktive Verseuchung in den anderen Kontinenten alle Erwartungen übertraf. Heute wissen wir, daß ein Krieg dieses Ausmaßes das Ende gewesen wäre.« Den Doktor schwindelte es, er legte sich auf das Bett zurück und schloß die Augen. Der Amerikaner pflegte morgens ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung zu unternehmen. Er hielt sich körperlich fit. Seiner Ansicht nach existierten weiter unten im Süden, auf Sizilien oder in Mittelitalien, noch kleinere Gruppen von Überlebenden, die nicht aus WEDAs Laboratorien stammten. Er hatte einen italienischen Sender abgehört. Seine Eltern waren Italiener, und er beherrschte die Sprache seiner Vorfahren so weit, daß er sich mühelos mit ihnen verständigen können würde. Der Gedanke, ohne Purificateurs zu leben, erschien Wargas in der Tat verlockend.
»Anscheinend ernähren sie sich hauptsächlich von Makrelen«, sagte der Amerikaner, während sie durch die Wildnis am Rheinufer gingen. Vor ihnen ragten lianenbehangene tote Bäume auf. »Wieso sie überleben konnten, weiß ich nicht. Es muß ein schmaler Küstenstreifen sein, der durch hohe Berge geschützt ist. Das könnte erklären, warum sie vom radioaktiven Fallout aus Jugoslawien und Albanien verschont geblieben sind.« »Aber wie wollen Sie dort hinkommen? Sie wissen, daß es nicht genügend Treibstoff gibt und daß alle. Flugzeuge von den Purificateurs zerstört wurden.« Wargas blieb an einem Baumstumpf stehen. Er war noch immer sehr schwach. Seine Anfälle kamen jetzt in schneller aufeinanderfolgenden Schüben. Der Sturz im Fahrkorb mußte die Verschlechterung ausgelöst haben. »Setzen wir uns«, schlug der Amerikaner vor. Er überließ Wargas den Platz auf dem Baumstumpf und ließ sich selbst am Fuß einer hohen Platane nieder. »Es gibt genügend Autos«, sagte er nach einer Weile, wobei er mit einem Zweig spielte, der zu seinen Füßen gelegen Ratte. »Zwei volle Tanks müßten reichen. Und wenn man erst einmal auf der Autobahn ist…« »Denken Sie an die Alpenpässe. Die Motoren haben Rost angesetzt in all den Monaten, und der Sprit, falls sie welchen finden, ist überlagert, sie würden eine solche Strapaze nicht überstehen.« »Es gibt an jeder Straßenecke andere Wagen.« Wargas hatte selbst schon daran gedacht, aus dieser Stadt wegzugehen, sich weit fern zu halten von den Siedlungen der Neuen. Aber die Fahrt über freies Land war ein noch größeres Risiko, als hier zu bleiben. Ein Wagen würde auf den Landstraßen und Autobahnen leicht bemerkt werden. Es gab überall Beschaffungstrupps, die unterwegs waren, um das
wenige Brauchbare einzusammeln, solange ihre automatischen Werke noch nicht genug produzierten. Und es gab regelmäßige Patrouillen der Purificateurs in den entfernteren Gebieten, weil man Einwanderer fürchtete. Er stand schwerfällig auf, eine ungewohnte Müdigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Der Amerikaner musterte ihn schweigend und sah mit besorgter Miene zu, wie sich Wargas gleich darauf an einem Baum abstützte. In seinen Ohren sauste es. Doch dann, als er eine Weile stand, ging der Anfall langsam vorüber. »Sie sollten das Ding da hinter ihrem Ohr herausnehmen«, schlug er vor. »Es ist eine Operation, die man alleine nicht bewerkstelligen kann. Außerdem hat es wohl kaum etwas damit zu tun. Nein, aber es könnte am verdorbenen Essen liegen. Diese überlagerten Lebensmittel erzeugen Giftstoffe, und einige davon sammeln sich in den Organen oder im Fettgewebe und in den Knochen an. Ich bin älter als Sie, bei mir wirkt es sich eher aus.« »Dann ist alles, was Sie brauchen, frische Nahrung. Etwas Rohkost gefällig?« Er stand ebenfalls auf. »Kommen Sie…! Dort oben hinter dem Hügel liegt ein kleiner Kapellenhof, in dem ich ein paar Steckrüben gezogen habe.« Sie machten sich auf den Weg. Die Kapelle bestand nur noch aus weißen, verschimmelten Wänden, ihr Dach war eingestürzt. Eine niedrige Mauer mit ihrem Tordurchgang in Form eines Altars, deren Türunterteil aus Schmiedeeisen den Altartisch imitierte, umspannte ein Stück Hof, das einmal ein Kräutergarten gewesen war. »Hier kommen sie nicht her«, sagte der Amerikaner, während er voranging. »Diese Orte sind als ›heidnische Stätten‹ verpönt. Ich habe einmal gehört, wie zwei Säuberer sich darüber unterhielten, während ich dort drüben im Schatten der Mauer
stand. Man hat ihnen gesagt, es bringe Unheil, sich mit den alten Göttern einzulassen.« Wargas begriff plötzlich, wieso die Gruppe in der Kirche sich so sicher gefühlt hatte. Da sie den anderen gegenüber einen Informationsvorsprung besaßen, hatten sie dort wenig zu befürchten. »Diese Kerle sind zwar aufgeklärter als die anderen«, fuhr der Amerikaner fort, »aber an Spuk und Götter glauben sie trotzdem, wenn auch nur als negative Kräfte. Die ersten von ihnen kannten sogar Waffen, außer dem Seelenaustauscher, meine ich. Das war wohl unumgänglich damals, als sie die Hausfassaden zerschossen. Eine schlimme Zeit für uns. Aber da es Worte wie ›Granatwerfer‹, ›Dreizentimeter-Flak‹ oder ›Maschinengewehr‹ in ihrer Sprache nicht mehr gibt, scheinen sie auch zu vergessen, daß diese Dinger existiert haben. Es existiert nur, was man ihnen sagt. Erzählt man ihnen vom Klabautermann, dann gibt es Klabautermänner. Sie sind zu arglos, um sich vorstellen zu können, was eine Lüge ist.« Er führte ihn an das Beet, zog eine der Rüben heraus und schnitt mit seinem Taschenmesser eine dünne Scheibe davon ab. »Probieren Sie! Es ist das erste gezogene Gemüse in dieser Gegend seit langer Zeit.« Wargas aß sie langsam und mit Bedacht. Es war eine ordinäre gelbe Steckrübe. Früher hätte er sich dagegen verwahrt, sie in rohem Zustand zu probieren; aber jetzt war sie nach all dem Blechgeschmack der Konserven, dem ranzigen Öl, der beschlagenen Schokolade und den schimmeligen Nüssen ein wahrer Genuß. Das herbsüße Aroma zerfloß auf seiner Zunge. »Ich werde Ihnen einige davon kochen«, sagte der Amerikaner befriedigt. »Das bringt Sie wieder auf die Beine.« Er winkte ihn in den hinteren Teil des Hofes. »Kommen Sie! Hier habe ich Gewürzkräuter und Möhren gesetzt. Leider bin
ich kein Fachmann, sondern nur ein Schreibtischtäter. Unsereins hat große Mühe, etwas zum Wachsen zu bringen. Die Tomaten sind mir vollkommen mißraten – da, sehen Sie!« Der Doktor folgte seiner ausgestreckten Hand zu einigen Stöcken mit verwelktem Grün. Daneben standen ebenso kümmerlich wirkende Kräuter, die er jedoch mit so großer Begeisterung pries, als seien sie botanische Wunder. Für Wargas war das Zeug völlig ununterscheidbar, alles in demselben schmutzig erscheinenden Graugrün mit angebräunten Stellen, als habe es zuviel Sonne abbekommen, aber der Amerikaner behauptete, es seien verschiedene Arten. »Eine Prise davon in die Konserven gerührt wirkt Wunder«, erklärte er. »Sie glauben nicht, wie es den Geschmack verfeinert. – Und warten Sie erst, bis ich meine eigenen Möhren gezogen habe!«
3 Die Tage gingen dahin, und Wargas versuchte seine Krankheit auszukurieren: mit geringem Erfolg. Er blieb bei dem Amerikaner in der Fabrik. Sie schien ihm sicherer als seine eigenen wechselnden Quartiere, obwohl er es früher vorgezogen hatte, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen und niemals zwei Tage hintereinander an derselben Stelle zu wohnen. Die Abende verbrachten sie meist mit einigen Partien Schach. Der Amerikaner betrieb in dem ehemaligen Brunnen der Fabrik einen Dieselölgenerator. Die Maschine machte ziemlichen Lärm, doch so tief im Brunnenschacht hörte man kaum noch ein entferntes Summen. Von der Infektion des P-Meningokokkus hatte er, wie er versicherte, noch weniger verspürt als Wargas, der immerhin in den ersten Tagen der
Seuche von starken grippeähnlichen Symptomen heimgesucht worden war. »Es scheint etwas mit angeborenen Abwehrkräften zu tun zu haben«, erklärte er. »Schon meine Eltern waren unanfällig gegen Infektionskrankheiten.« Der Doktor schätzte ihn als einen kompetenten und unterhaltsamen Gesprächspartner. Sein größter Ehrgeiz galt dem Versuch, Schnaps aus Rüben zu brennen. Doch da er von der Gärung und Destilliertechnik nur vage Vorstellungen besaß, war es regelmäßig mißlungen. Weil er die Reinigung des Rohsprits vergaß, hatte er sich sogar eine leichte Vergiftung zugezogen. Die Anlage selbst war immerhin soweit gediehen, daß man damit arbeiten konnte. Der Doktor baute gesonderte Behälter, um den aldehydhaltigen Vorlauf und den fuselölhaltigen Nachlauf vom Mittellauf zu trennen. Er zeigte ihm das richtige Verhältnis, wie die Maische mit Hefe vergoren, gebrannt und in einem Kondensator niedergeschlagen wurde. Es entstand ein rauh und scharf schmeckender Schnaps, für den sie in der Vergangenheit jeden Hersteller angezeigt hätten. Doch Wargas hatte sich damit einen unerschütterlichen Freund erworben. »Sie können immer auf mich zählen«, beteuerte er. »Was auch passiert.« Offenbar war er ein starker Trinker und hatte den Alkohol mehr vermißt als Steaks oder frisches Gemüse. Er stammte aus den Slums von Washington-New York, der um das Jahr 2015 zusammengewachsenen Riesenstadt an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Sein Vater war im Delirium tremens geendet – damals keine Seltenheit, und hatte in einem Anfall von Bewußtseinstrübung seine jüngere Schwester getötet. »Unsere Familie war immer gewalttätig«, erklärte er. »Eine Geschichte der Greueltaten. Es läßt sich bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückverfolgen.«
Seine Offenheit gefiel dem Doktor. Er machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Neuen: »Das alles ist eine notwendige Entwicklung, auch wenn wir beide Mühe haben, unsere Köpfe zu retten. Die Alten in Lyon sind keine Despoten, es ist ihnen Ernst mit der Demokratie. Sie reglementieren nur, wo es unumgänglich erscheint. Wußten Sie, daß nach und nach alle alten Wissenschaftler in Lyon durch junge Kollegen ersetzt werden? Die Alten treten ab.« Wargas hatte davon gehört. Der andere trank seinen Rübenschnaps aus, während sie im Schein der Petroleumlampe ihre Partie zu Ende spielten. »Ganz ausgezeichnet«, sagte er. »Ich gewöhne mich langsam an den brandigen Geschmack.« »In ein paar Tagen werde ich Sie verlassen und in die Orte gehen«, erklärte Wargas unvermittelt. Der Amerikaner blickte erstaunt auf. »Heute morgen beim Aufstehen habe ich mich dazu entschlossen. Wieder einer dieser Schwindelanfälle. Dann der metallische Geschmack im Mund. Sie kommen jetzt immer öfter und nehmen an Intensität zu. Ich werde mich als Wissenschaftler aus Lyon ausgeben und in einem ihrer Laboratorien untersuchen lassen.« »Aber Ihr Gefühlsabschalter über dem Ohr«, sagte er. »Daran wird man Sie sofort erkennen.« »Nicht, wenn ich eine Perücke trage.« »Sie riskieren Ihr Leben.« »Auch wenn ich abwarte.« »Besorgen Sie sich lieber etwas frische Nahrung, brechen Sie meinethalben in eines ihrer Lagerhäuser am Ortsrand ein, das ist weniger gefährlich.« »Ebensogut könnte ich Kartoffeln von ihren Feldern stehlen. Nein, ich muß wissen, was mit mir los ist.«
»Seien Sie doch ehrlich«, sagte der Amerikaner und schüttete sich mit fahriger Gebärde noch einen Schnaps ein, »es reizt Sie, zu sehen, wie es dort drüben zugeht. Ob es wirklich der Idealstaat ist. Aber das ist ein Spiel mit dem Feuer.« »Falls ich mich in ein oder zwei Wochen nicht gemeldet habe, hauen Sie mich einfach heraus – machen Sie einen Ausfall und greifen Sie an!« schlug er mehr scherzhaft als im Ernst vor. »Das werde ich«, erklärte der andere mit feierlicher Miene. Er hob beteuernd die Hand. »Aber bringen Sie um Gottes willen nicht Ihr eigenes Leben in Gefahr.« »Ich werde ihre sogenannte Seelenbank in Schutt und Asche legen und Sie und die anderen gefangenen Seelen befreien – falls noch etwas von Ihnen übriggeblieben ist.« »Darauf trinken wir«, sagte Wargas und goß sich ebenfalls ein. »Ihr Vorteil ist es, daß sie mit dem Ding da einen schmerzlosen Tod haben werden.« »Falls man es mir nicht vorher wegnimmt.« »Sie sind keine Barbaren. Manchmal glaube ich fast an ihr Märchen vom Seelenaustauscher.« »Erinnern Sie sich, daß Orwell einst eine zukünftige Welt schilderte, die vom tyrannischen Großen Bruder und einem totalitären System beherrscht wurde, das seine Untertanen bis in den entferntesten Winkel der Seele kontrollierte? So oder ähnlich waren wohl die geltenden Vorstellungen von der Zukunft. Niemand hatte damit gerechnet, daß es anders kommen könnte. Der Weltstaat, gewiß: einigen war er schon immer als die Lösung aller Probleme erschienen. Aber man sah nicht, wie er sich verwirklichen lassen sollte. Ich denke, der Mensch wäre noch viele Male an seinem Unvermögen zugrunde gegangen – viele Welten lang, verstehen Sie –, bis das Spiel der Gene irgendwann ein friedliches und vernünftiges Wesen hervorgebracht hätte, das imstande war, sein ungeheueres
technisches Wissen mit Anstand und Verantwortung zu handhaben. Man hat diesen langen Entwicklungsgang bei WEDA einfach abgekürzt.« »Sie glauben, wir hätten uns immer wieder ausgerottet, bis schließlich eine überlebensfähige Art entstanden wäre?« »Vom Steinzeitmenschen bis zum Atomwissenschaftler immer das gleiche Spiel«, nickte Wargas. »Hundert oder tausend oder eine Million mal. Sogar denkbar, daß die Lebensspanne dieser Sonne nicht mehr dafür ausgereicht hätte.« »Ein interessanter Gedanke.« »Lange Zeit über war man davon ausgegangen, Erziehung, politische Systeme oder der gute Wille könnten die Wende herbeiführen. Mag sein, daß der Wille so etwas zustande brächte. Aber wir hatten ihn nicht. Bisher waren wir wie beschränkte Kinder, die nicht über die Faust mit dem Stein hinausblickten – erst wenn er am Kopf des Nachbarn landet und ein anderer zurückkommt, scheint uns, daß irgend etwas faul an der Geschichte ist.« »Was Sie da sagen, erinnert mich an meine eigene Kindheit«, bestätigte er. »Ich wuchs unter den kleinen Banditen der Vorortslums auf.« »Es war überall das gleiche.« »Frieden und Freundschaft interessierten uns nicht. Versuchen Sie einem Kind beizubringen, was an Verständnis und guter Beziehung verlockend sein sollte! – aber wenn Sie ihm zeigen, wie man ein Holzschwert anfertigt…« »Oder eine Steinschleuder.« »Ich schoß einem meiner Spielkameraden damit ein Auge aus.« »Im tiefsten Innern reizten uns die Kriege immer mehr als der Frieden. Gewiß wollten wir nicht, daß unser eigenes Haus dabei zerbombt würde, und wir hätten auch nicht zugegeben, es den anderen zu wünschen. Aber in gewisser Beziehung betrogen wir
uns selbst. Den Katastrophen haftet eine geheime Faszination an. Selbst in der besten Ehe wird man eines Tages der Harmonie überdrüssig und bricht einen Streit vom Zaun. Vielleicht vermochte ein Leben im himmlischen Jenseits so wenig Menschen zu begeistern, weil sie der immerwährende Friede dort oben abstieß, diese Ahnung grenzenloser Langeweile, Eintracht und Brüderlichkeit.« »Das ist auch meine Meinung«, bestätigte der Amerikaner. »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« Sie leerten den Rest der Literflasche, und ihre Zungen wurden schwer. Der andere schien eine Menge zu vertragen. Wargas hielt mit, so gut es ging. Er dachte voller Schaudern an den Kater des Amerikaners morgen früh. Er selbst würde sich leicht mit dem Gefühlsabschalter aus der Affäre ziehen können. Doch der andere zahlte seinen Preis. Man zahlte immer dafür. Auch die scheinbaren Geschenke – wie ohne eigenes Dazutun auf die Welt gekommen und gesund zu sein oder umsorgt zu werden – entpuppten sich als unbezahlte Waren oder als fällige Wechsel, die plötzlich eingelöst wurden, ohne daß man etwas von ihrer Existenz geahnt hatte. Das Prinzip von Geben und Nehmen galt überall. So gab es auch kein Rauschmittel, für das man nicht mit Entzugserscheinungen oder Krankheit oder doch wenigstens mit einem morgendlichen Kater bezahlte. Nur der Gefühlsabschalter schien diesen Grundsatz zu durchbrechen. »Kommen Sie!« sagte der Amerikaner und stand plötzlich auf, ein wenig schwankend und unsicher; seine Hand zeigte unbestimmt durch die Fabrikhalle. »Zwei Straßen weiter ist das Star-Filmtheater. Wenn wir den Notgenerator in Gang bringen, wird es noch ein unterhaltsamer Abend. Zuletzt lief dort eine Dokumentation über Kriege in der dritten Welt. Ein Kassenschlager. Alle Greueltaten der Welt vom Kinosessel aus zu besichtigen!« »Ja, das könnte ein nettes Stück Unterhaltung werden.«
»Und so lehrreich!« Der Amerikaner lachte. Er steckte zwei kleinere Flaschen in die Taschen seiner wattierten Jacke. Wargas beobachtete besorgt, daß sie zuviel Lärm machten, als sie laut diskutierend durch die nächtlichen Straßen stolperten, während der Schein ihrer aufladbaren Taschenlampen über die Gehsteige und Hauseingänge huschte. Diesen Winkel der Stadt kannte er nicht. Die Fassaden waren wegen der Nähe des großen Flusses noch stärker von Wind und Wetter zerfressen als im Zentrum. Ein Schild hing schmutzig und verblaßt an der Kette über dem Fenster des Nachtlokals vor ihnen; es zeigte eine dicke, unbekleidete Frau, die Feuer schluckte. Im Westen, nahe beim Flußufer, ragte der Betonturm des Postsenders in den Septemberhimmel. Der Amerikaner blieb stehen und deutete auf ein Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sein kunstvoller Giebel zeigte eine steinerne Jahreszahl. »Hier war ich zu Besuch, als der Krieg ausbrach. Ein herziges altes Pärchen, Verwandte großmütterlicherseits, die sich während der dritten Weltwirtschaftskrise mit dem Schwarzhandel von Kindern durchschlugen.« Wargas erinnerte sich, daß die dritte besonders schlimme Folgen gehabt und zu Massenarbeitslosigkeit geführt hatte. Der Eingang des Kinos lag nur wenige Schritte entfernt und war mit Balken und Brettern vernagelt. An den unteren Fenstern befanden sich Eisenbleche. Doch der andere führte ihn durch eine holprige Einfahrt über aufgerissenes Pflaster und einen Stapel leerer Obstkisten auf das Dach der Garagen und von dort auf Mülleimer hinunter zur Hofseite. Wegen seiner Magerkeit war er gelenkiger als Wargas. In einem der Fenster standen die Bretter so weit auseinander, daß man sich hindurchzwängen konnte. »Erst zum Generator«, flüsterte er. Es war ein schauriger Platz, kalt und unheimlich, der einen unwillkürlich mit gedämpfter Stimme reden ließ. Einmal glaubte Wargas im
Flur eine Ratte vorüberhuschen zu sehen; aber es war sicher eine Täuschung und nur das Spiel, das die Dunkelheit mit der Phantasie trieb, denn Ratten gab es nicht mehr. Als sich der Generator im Keller in Bewegung setzte, schien das Haus in seinen Grundfesten zu erzittern: feiner Staub rieselte von der Decke. Der Amerikaner ließ die Tür zum Vorführraum offen, damit er die Apparate leichter bedienen konnte, wenn es notwendig wurde, und setzte sich zu Wargas in die hinterste Reihe. »Ich habe den Film schon viermal gesehen. Kein gewöhnlicher Spielfilm hätte mich je dazu gebracht. Nicht eine einzige Szene ist gestellt. Exzellente Kameraarbeit.« Es war eines der Riesenfilmtheater, wie sie im letzten Jahrzehnt wieder in Mode gekommen waren, mit abgeschrägter Sitzebene und einer halbrunden Leinwand so groß wie eine Hausfassade. Der Vorspann zeigte das Emblem der goldenen Faust. »Zuerst der pakistanisch-indische Krieg von 1996«, erläuterte er. »Sehen Sie sich an, wie so ein Neutronensprengkopf wirkt! Vierzigtausend Tote. Das Stadtzentrum wurde vernichtet, aber sein Stadtrand blieb bewohnbar, von der hohen Radioaktivität einmal abgesehen. Diese Wälder dort sind mit dem Entlaubungsmittel TCDD besprüht worden: Anstieg der Krebsrate und Zunahme von Mißbildungen bei Neugeborenen. Viele Herzfehler, Gehirn- und Rückenmarksschäden. Natürlich gab es auch Kinder ohne Augen oder Finger.« Die Einstellung wechselte. »Der blaugrüne Brei in den Bassins ist chemischer Schlamm, mit dem sie das ›Verschwindenlassen‹ politischer Gegner zur Perfektion brachten. Ein menschlicher Körper löst sich darin in höchstens zweiundsiebzig Stunden auf – Haare und Knochen eingeschlossen. Morde ohne Leichen. In Südamerika und Asien sehr begehrt. Die Herstellerfirma hatte
ihren Sitz im Elsaß und verdiente Millionen an der Rezeptur der Chemikalie.« Jetzt wurden in Großaufnahme die Hoden eines Soldaten eingeblendet, von denen Kabelenden zu einem Elektrisierapparat liefen. Der, Mann war mit Lederriemen angeschnallt; seine Beinmuskulatur zitterte vor Angst. »Nach der Genfer Konvention natürlich nicht gestattet, aber ein Soldat muß leiden können. So die offizielle Erklärung.« Wargas sah, daß es ein dunkelhäutiger Soldat war. Schmerz machte in der Hautfarbe keinen Unterschied. »Propagandamaterial«, erklärte der Amerikaner wegwerfend. »Nicht ganz ernst zu nehmen. In Wirklichkeit praktizierte man diese Art der Folter ausschließlich bei politisch Verfolgten. Man wollte den einfachen Soldaten Angst einjagen. Gewöhnlich wurden Nachrichtenträger nur zusammengeschlagen. Zweimal mit dem Gewehrkolben übers Nasenbein, und jeder redet, was verlangt wird… Danach Genickschuß. Aber sehen Sie sich erst die südamerikanischen Kriege an! Was diese Burschen allein mit konventionellen Waffen nach der großen Niederlage der achtziger Jahre zustande brachten, hätte selbst einen General des Zweiten Weltkriegs in Erstaunen versetzt. Meister des Krieges. Durch unsere Waffenverkäufe natürlich. Und dann der Ost-West-Konflikt in der Dritten Welt. Man rechnete, daß er bis zum Jahre 2000 etwa zweihundertvierzig Millionen Menschenleben kostete… In der Periode zwischen den großen Kriegen. Hier sehen Sie übrigens, wie Kuba durch ein mit militärischen Mitteln unterstütztes Seebeben zu einem Achtel im Karibischen Meer versank. Meeresgrundbomben, ausgelöst durch seismographische Fühler. Nicht nachzuweisen, da sie eine Bebenwelle kopierten. Natürlich leugneten die Amerikaner trotz ihrer brillanten Satellitenfotos, etwas damit zu
tun zu haben. Die Folge war ein Stationierung von Mittelstreckenraketen mit kürzester Vorwarnzeit in der Gegend um Mariano und Mantazas, und diesmal gaben sie anders als in der Kubakrise von 1962 klein bei. Fortan lebten sie mit der der atomaren Bedrohung vor ihrer Haustür, aber schließlich hatten sie selbst entlang des Eisernen Vorhangs genug von dem Zeug in Stellung gebracht…« Er nahm einen Schluck aus der Flasche und reichte sie dem Doktor. Das Bild begann zu flimmern und löste sich in eine graue, von gelben Schwaden durchsetzte Wolke auf. Es war keine Störung, sondern nur eine Aufnahme der Explosion von Alexandria, die libysche Terroristen mit achtzig Tonnen Sprengstoff auf zehn Lastwagen verteilt verursacht hatten, ehe der eigentliche ägyptisch-libysche Krieg ausbrach. »TNT-2«, sagte der Amerikaner anerkennend, »mit vierzehnfacher Sprengkraft nach der verbesserten Formel von Laurienne. Schon fast so wirksam wie kleinere Atomsprengköpfe – und ohne jede Radioaktivität. Haben Sie da eben den abgerissenen Arm durch die Luft fliegen sehen?« Dem Doktor wurde übel. Er stand auf und verließ das Theater.
»Warum, zum Teufel, schalten Sie nicht Ihren Apparat ein, wenn Sie die Wahrheit so schwer ertragen können?« fragte der Amerikaner, als sie wieder auf der Straße standen. Wargas zuckte die Achseln. Mächtige Häuserschatten fielen im spärlichen Himmelslicht vor ihnen auf das Pflaster. Ein Vogel klagte über dem Portal der Kathedrale. Für Augenblicke glaubte der Doktor den Geruch von frisch gebackenen Pfannkuchen wahrzunehmen; aber wie so vieles in dieser Nacht war auch das wohl nur ein Traum. Sie setzten schweigend ihren Weg durch die nachtdunklen Straßen fort.
Drittes Kapitel
1 Nur wenige Straßen von der Fabrik entfernt hatte er einen kleinen Perückenladen entdeckt. Seine Tür stand offen, die Auslage war unbeschädigt – wohl weil niemandem diese Art von Verschönerung noch etwas bedeutete, seitdem die Welt in Stücke geflogen war. Schwarze, brünette und hellblonde Perücken boten sich leicht verstaubt auf weißen Glasköpfen an; und an den Wänden sah er – mit langen Hutnadeln aufgespießten Insekten nicht unähnlich – ein weiteres Sortiment von Haarersatz: gelb, rot, grau und silbern, darunter auch Toupets, manche glanzlos und verfilzt wie ausgerissene Stücke Fell. Wargas studierte die Regale, auf denen eingepackte Ware in durchsichtigen Plastikhüllen gestapelt lag. Es war für jede Kopfgröße etwas darunter. »Echthaar«, beteuerte der Aufdruck. Die Armen hatten Haare lassen müssen, um anständig leben zu können. Ihre Kopfhaut als ein Feld, das regelmäßig abgeerntet wurde. So waren die Zeiten. Er wählte eine dunkelbraune mit silbernen Schläfen, ›Hutgröße 58‹. Aber ihre Koteletten standen weit ab, als er sich damit in dem kleinen Spiegel an der Hinterwand des Ladens betrachtete. Vor allem über den Ohren hatte sie dicht anzuliegen. ›58‹ schien ein besonderer Renner gewesen zu sein, denn er fand nur noch eine tiefschwarze, die ihm das Aussehen eines alternden italienischen Kellners verlieh. Ihre Spezialfolie ließ sie ohne weitere Hilfsmittel fest an der Kopfhaut haften.
»Nicht gerade nach meinem Geschmack…«, murmelte er. Doch sie verdeckte den silbernen Stift über seinem Ohr und verrutschte weder beim Bücken, noch wenn er mit den Armen ruderte. Er spazierte einige Male vor dem Spiegel auf und ab, hob und senkte den Kopf, betrachtete sich mit einem Taschenspiegel von der Seite und von hinten: es würde gehen. Selbst wenn man es als falsches Haar erkannte, bedeutete es keine Gefahr und verriet ihn noch nicht. Wer wollte ausschließen, daß einige der alten Wissenschaftler Perücken trugen? Nur in einem war er völlig sicher: Keiner von ihnen besaß eines dieser Geräte, da sie es als ein Zeichen der Dekadenz betrachteten, eine Flucht vor den Problemen der Realität in die Gefühllosigkeit. Er erinnerte sich eines Vortrags im Fernsehen, der ihn sehr beeindruckt hatte. Ein winziger, bleichgesichtiger Mann – Wargas hielt ihn seitdem für den ›Chefideologen‹ der Gruppe – hatte mit einem weitausholenden Exkurs in die Geschichte der Philosophie und Psychologie darzulegen versucht, daß es ohne Gefühle keine Wertungen gab. Gefühle waren so etwas wie eine getönte Brille, durch die man die Wirklichkeit betrachtete. »Ein altes philosophisches Problem«, erklärte er, »ob den Dingen objektive Wertqualitäten zukommen oder ob sie subjektiv sind, und wenn ja, in welchem Sinne subjektiv? Nun, diese Kontroverse, und das ist wohl der einzige wirklich überzeugende Nutzen des Gerätes, wurde eindeutig zugunsten der Subjektivität und des Gefühls entschieden. Die Verbindung von Gefühls- und Gegenstandswahrnehmung, seien es Dinge, Eigenschaften, Verhältnisse oder auch nur Gedanken, ist dabei keineswegs notwendig, sondern, wie die Philosophen sagen: kontingent. Gewiß mag ihr in manchen Fällen eine gewisse Zweckmäßigkeit zukommen, bezieht man sie auf das Überleben des Individuums oder der Art. Schmerz zu empfinden, wenn man sich auf eine heiße Ofenplatte setzt, ist nützlich. Aber es
wäre durchaus denkbar, daß uns Müllhaufen ästhetischer erschienen als Sonnenuntergänge. Wir wissen heute, daß die Wahrnehmung von Objekten mit der Gefühls Wahrnehmung eine Synthese eingeht – ein Trick der Natur, um uns objektive Qualitäten vorzuspiegeln –, sie wird zu einer neuen Wahrnehmung, einem Phänomen aus beiden Bereichen –, und dies ist die eigentliche Wertwahrnehmung, wenn auch das Gefühl an und für sich bereits wertvoll oder, wie der Schmerz, die Trauer, die Melancholie, von negativem Wert ist. Alles bloß Zweckmäßige, die Mittel, haben nur bedingten Wert durch Gefühle. Diese Erkenntnis, die im wesentlichen schon vor ihrer experimentellen Bestätigung vertreten wurde, mußte zur Entwertung der Werte führen. Sie war eine Ursache dafür, daß es bereits einen tiefgreifenden Werteverlust im vorigen Jahrhundert gab. Den traditionellen Werten kam kein absoluter Stellenwert mehr zu, was eine Voraussetzung für den Niedergang der Kulturen war. Aber…« – dabei hob er einen Gefühlsabschalter ins Bild, der vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte – »erst mit diesem Teufelswerkzeug vollendete man das Werk des Wertezerfalls…« Zum erstenmal hörte Wargas einen von ihnen in solcher Weise über die Vergangenheit reden. Schon die Erwähnung des Negativen wurde sorgfältig vermieden. Anfangs hatte er geglaubt, man wolle sie auf diese Weise nur motivieren, jeden Träger eines Gefühlsabschalters sofort den Purificateurs zu melden, wenn er sich in ihren Orten zeigte. Erst später begriff er, daß hinter diesen Erläuterungen eine pädagogische Absicht steckte. Denn die vorgetragenen Unterscheidungen erlaubten es den Neuen, schädliche Gefühle als Irrwege zu erkennen und sich als in den Genen fehlerhaft zu betrachten. Je vollständiger es ihnen gelang, Beziehungen zwischen Gefühlen, soweit sie nicht durch Erziehung oder andere gesellschaftliche Einflüsse erzeugt wurden, und den Konstellationen der Gene zu sammeln,
desto sicherer vermochten sie die wirkliche Wende zu vollziehen. Ob ein Mensch blaue Augen und dunkle Haare besaß, war schließlich völlig belanglos, verglichen mit seinen Gefühlen der Eifersucht, der Intoleranz, Habsucht oder Unduldsamkeit. Zugleich ermöglichte es ihnen, wovon manche Kulturkritiker der Vergangenheit kaum zu träumen gewagt hatten: eine wirkliche Umwertung der Werte. Oft genügte es, anstelle der Dinge die menschlichen Reaktionsweisen zu verändern. Es gab nahrhafte und bekömmliche Pflanzen, deren schlechter Geschmack Widerwillen hervorrief; dann war es einfacher, statt der Nahrung die Geschmacksnerven anzupassen. Arbeitsunlust mußte nicht zwangsläufig durch immer weiter fortschreitende Automatisierung begünstigt werden (obwohl dies die gängige Praxis war). Statt dessen pflanzte man den Genen die Lust an einfacher körperlicher Arbeit ein. Der Doktor nahm aber an, daß hier noch ein Vorurteil der Alten regierte, die geistige und kreative Arbeit der körperlichen überzuordnen. Das Ameisenheer gleichförmiger und mit sich und der Welt zufriedener Arbeiter erschien ihnen wie ein Schreckgespenst aus einschlägigen Zukunftsvisionen. Man hätte nun leicht glauben können, wer schlampig sei, dem müsse nur sein unbehagliches Gefühl an der Unordnung genommen werden. Dann könne er sich behaglicher Faulheit hingeben. Doch ein gewisses Maß an Ordnung blieb die Voraussetzung für andere Wertungen. Da alles miteinander in Beziehung stand, konnte man Wertungen vernünftigerweise nur innerhalb eines Systems verändern. Wenn es Probleme gab, dann bestanden sie darin, solche Wertungen zu bestätigen und zu erzeugen, die immer mehr positive Wertungen hervorriefen und sich widerspruchslos in ein System eingliederten, das allen nützlich war und dem einzelnen ein Höchstmaß an Freiheit und Wohlergehen erlaubte. Menschen, die mit der linken Hand
wieder umstießen, was sie mit der rechten aufgebaut hatten, würden für immer der Vergangenheit angehören. »Mit dem Ding da auf dem Kopf sehen Sie aus wie mein älterer Bruder«, sagte der Amerikaner, als Wargas in die Fabrik zurückgekehrt war. »Nicht sehr schmeichelhaft für mich.« Er erinnerte sich der Bemerkung über die Gewalttätigkeit seiner Familie und wußte, daß der Bruder des anderen sich als unheilbarer Sittlichkeitsverbrecher in einer Nervenheilanstalt erhängt hatte. Seine Opfer waren ältere Frauen gewesen, oft schon Greisinnen. Vor Gericht hatte er geltend gemacht, seine Attacken seien ihnen nicht immer unwillkommen gewesen. Wargas suchte aus dem Kleiderständer ein feines, nadelgestreiftes Sakko heraus. Es würde ihn seriöser wirken lassen. »Wollen Sie es wirklich in diesem Aufzug riskieren? Und wie erklären Sie ihr akzentfreies Deutsch?« »Ein deutscher Elternteil. Diese Leute sind schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Mehrere europäische Sprachen zu beherrschen, ist bei Wissenschaftlern keine Seltenheit.« »Und wenn Sie sich ausweisen müssen?« »Ich glaube, mit einer Täuschung rechnen sie gar nicht. Wir denken immer noch in alten Begriffen.« Der Amerikaner kaute unlustig an einem Stück getrockneter Schwarzwurzel; seinen einzigen Gesprächspartner zu verlieren, bereitete ihm offenbar Unbehagen. Er rechnete nicht mit seiner Rückkehr. »Wie wollen Sie denn hinüberkommen? Soviel ich weiß, werden die Brücken streng bewacht.« »In der Dämmerung durch den Fluß.« »Da kenne ich einen besseren Weg.« Er lächelte geheimnisvoll, ging zum Regal und wühlte in einem Stapel Karten. »Sie gehen ein weitaus geringeres Risiko ein, wenn Sie
den U-Bahn-Tunnel nehmen«, sagte er, nachdem er gefunden hatte, was er suchte. Es war eine Karte der südwestlichen Stadtregion, sie steckte in einer wasserdichten Kunststoffhülle. »Sehen Sie sich das da an!« Sein Finger deutete auf den Gebäudekomplex, der mit »Hygieneinstitut« bezeichnet war. »Die U-Bahn-Strecke endet hier. Der Tunnelschacht auf der anderen Seite unterquert die Ruhr. Zur Verbindung beider Tunnelhälften ist man nicht mehr gekommen, weil der Krieg ausbrach. Die Durchstichstrecke wäre nur noch halb so lang gewesen wie das Gebäude daneben. Angeblich ist es nichts weiter als ein Hygieneinstitut. Aber unter der Erde, wo gewöhnlich Kellerräume sind, verstecken sich drei Etagen einer kompletten Klinik. Sie sollte im Kriegsfall den Führungsstäben des Landes vorbehalten bleiben, wenn alle Krankenhäuser überbelegt waren. Ein Refugium für die Elite also. Den dicken Betondecken nach zu urteilen, sogar halbwegs atombombensicher. Ich habe die Etagen durch Zufall über eine Tür im U-Bahn-Tunnel entdeckt. Man hatte die Leichen dort nicht weggeschafft, weil nur wenige von der Existenz dieser Klinik wußten. Der Gestank in den Gängen war abscheulich, aber alle medizinischen Anlagen scheinen intakt zu sein. Und die Vorräte bestehen aus speziell behandelten Dauerkonserven. Wenn man den Weg durch die Klinik benutzt, kommt man ungesehen ans andere Ufer, denn zur anderen Seite des Tunnels gibt es ebenfalls eine Tür. Ich nehme an, diese Türen waren als geheime Zugänge gedacht.« »Und wo endet die Bahnlinie?« »Nahe beim alten Sportstadion.« »Stehen dort keine Wachen?« »Nein, wozu? Das Stadion ist seit langem verfallen, und den Tunnel halten sie für eine Sackgasse.« »Sie haben das alles bei Ihren Streifzügen entdeckt?«
»Bis ans andere Ufer habe ich mich nicht gewagt. Es war mir zu riskant.« »Aber der Tunneleingang wurde nicht zugemauert?« »Man sieht starkes Licht einfallen, wenn man auf der anderen Seite steht. Es kann nur vom Eingang kommen. Ehrlich gesagt…« Er zögerte – dann hob er mit einer Gebärde die Hand, als sei es jetzt, da der Doktor wegging und nicht mehr zurückkehrte, völlig gleichgültig, ob er sein Geheimnis bewahrte oder nicht. »Ich hatte die Klinik immer als eine letzte Zuflucht angesehen, für den Fall, daß ich eines Tages von hier vertrieben würde. Es gibt dort unten fast alles, was man braucht. Und wenn die Leichen erst beseitigt sind… Wegen der Fluchtwege nach beiden Seiten ist es ein idealer Platz. Außer mir scheint niemand zu wissen, daß zwischen den Strecken eine Verbindung existiert.« »Sie wollen sich dort einrichten?« »Ich habe jedenfalls vorgesorgt.« »Wie steht’s mit der Stromversorgung?« »Ein Notgenerator.« »Und Wasser?« »Große unterirdische Tanks.« Wargas nickte. Er dachte an seinen Bergwerksstollen. Jeder hatte in dieser verlassenen und unwirtlichen Stadt das Gefühl, sich einen Ort sichern zu müssen, den er als sein eigentliches Zuhause ansehen konnte – an dem man sich fühlte, als sei man ›heimgekehrt‹.
2 Sie machten sich schweigend auf den Weg. Es war ungewohnt, so nebeneinander herzugehen (für den Doktor ebenso wie für den anderen), denn beide hatten sich längst an ihre Rolle als
Einzelgänger gewöhnt. Das monotone Tapp-tapp ihrer Schritte hallte in den kalten klaren Morgen – diesen Morgen, der von blendender Helligkeit erfüllt war, die überall auf dem Stein und Staub wie eine unbarmherzige Mahnung lag: als enthülle sie für jene, die nicht hören und sehen wollten, wohin die Welt trieb, wenn man sich seiner inneren Stimme entfremdet hatte; denn daß es in jedem von ihnen einen Rest dieser Stimme gegeben hatte, davon war er überzeugt. Das Band der Straße schien unter ihren Schritten wie die Endlosigkeit. Punkte, die hinter ihnen zerstoben. Sie hinterließen niemals das, was man guten Gewissens ›Vergangenheit‹ oder ›Geschichte‹ hätte nennen können. Auf eine merkwürdig ungreifbare Weise wurde ihre eigene Vergangenheit, obwohl sie doch keinen Tag wie den anderen zubrachten, gestaltlos und schmolz zum Nichts zusammen, wenn sie nicht von der Gegenwart und Vergangenheit der anderen gehalten und gestützt wurde. So war die Existenz der anderen wie ein Spiegel des eigenen Lebens – und ohne sie nur ein durchsichtiges und leeres Stück Glas; denn die Neuen dort drüben in den Orten zählten nicht. Sie waren ihnen trotz aller Nähe so unvertraut wie die Angehörigen eines fernen Urwaldstammes, von denen man nur aus Forschungsberichten gehört hatte. »Durch den U-Bahn-Tunnel dort«, sagte der Amerikaner; er zeigte auf eine eingestürzte Böschung, hinter der die Betonwände der Tunneleinfahrt begannen. Regen hatte die schwarze Erde weggespült und über den Schienenstrang verstreut. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht des Tunnels gewöhnt hatten, sahen sie fahle Lichtsäulen in immer gleichen Abständen über den Schienen stehen. Sie fielen durch die Straßengitter. Vor ihnen an der Wand lagen Kisten und Decken, aus denen jemand sich ein Notlager gebaut hatte (wohl in dem irrtümlichen Glauben, er entgehe dadurch der Ansteckung). Seine Leiche war entfernt
worden. Dann kamen zwei leere, auf freier Strecke stehende Bahnwaggons. Hinter ihnen verzweigte sich der Tunnel. »Nach links«, flüsterte der Amerikaner, »die rechte Abzweigung bleibt auf dieser Uferseite.« Er dämpfte unwillkürlich seine Stimme, denn die Wände verstärkten jedes Geräusch. Vor einer unscheinbaren grünen Eisentür in der Betonwand blieb er stehen. Nur wenige Schritte weiter endete der Weg am feuchtglänzenden Lehm. Die Abbaumaschine mit ihren Transportbändern war von Rost überzogen. Er ging voran, drückte die Klinke – horchte eine Weile in das Dunkel hinter der Tür und machte sich dann an einer Kiste zu schaffen, die unter dem Treppenaufgang stand. Dem Klang eines sehr ruhig und gleichmäßig laufenden Motors folgte das Aufleuchten der Flurlampen. Ein Absaugventilator begann zu summen. »Es ist wegen des Leichengestanks in den Gängen«, erklärte er. Am Ende der Treppe öffnete er einen runden Blechverschluß im Fußboden und entnahm ihm den Türschlüssel. »Ich will Ihnen noch zeigen, wo ich mich eingerichtet habe«, meinte er. »Verstecken Sie sich dort, falls Sie fliehen müssen!« An der Wand im Gang hinter der nächsten Tür saßen zwei zusammengekrümmte mumifizierte Gestalten. Ihr Tod mußte langwierig und schmerzhaft gewesen sein. Wegen der Gehirnhautentzündung hatten sie die Köpfe in den Armen verborgen. »Es half den hohen Herren nichts, sich hier zu verkriechen«, sagte der Amerikaner, und seine Stimme bekam einen unbarmherzigen Klang. Keines der Zimmer, das er ihm zeigte, glich einem gewöhnlichen Krankenzimmer. Sie waren kostspielig möbliert, besaßen Sitzecken, kleine Küchen, und durch die gläsernen Schiebetüren sah man in künstlich beleuchtete Patio-Gärten, die jetzt jedoch wegen der mangelnden Pflege und Bewässerung vertrocknet waren.
»Sehen Sie sich das an!« sagte der Amerikaner. Er öffnete den in die Holzwand eingelassenen Barkühlschrank, und seine Lampe beleuchtete leere Fächer. »Die Herren haben noch einmal kräftig zugelangt, ehe sie den Geist aufgaben. Draußen im Gang stehen Körbe voller leerer Wein- und Schnapsflaschen.« Er führte ihn in das Proviantlager, dessen Regale gut sortiert mit Konserven waren, und von dort in einen der drei Operationssäle. »Nebenan ist ein Behandlungs- und Fitneßcenter. Und das da hinter den schußfesten Scheiben ist die Befehlszentrale, aus der sie die Welt von ihrem sicheren Platz über Funk an die Rathäuser regieren wollten. Es gibt auch einen Swimming-pool. Das Ganze ist eher ein luxuriöses Sanatorium mit Krankenstation als eine Klinik, obwohl man hier komplizierteste Operationen ausführen könnte. Kommen Sie, nun zeige ich Ihnen noch die Bibliothek.« Wargas ahnte, daß er ihm alles so ausführlich zeigte, um ihn doch zum Bleiben zu bewegen. »Wenn ich mich recht erinnere, gibt es sogar einen Diagnosecomputer. Sie könnten Ihre Daten und Symptome eingeben und sehen, was dabei herauskommt.« »Diese Dinger wissen nicht mehr, als was man in sie hineingestopft hat.« »Wieso glauben Sie eigentlich, daß man ihnen helfen wird? Was macht Sie so optimistisch?« »Nichts«, sagte Wargas. »Es ist ein Versuch.« »Dann gehen Sie in Gottes Namen! Ich werde Sie jetzt zum anderen Tunnel bringen.« Er ging voraus. Seiner Miene war anzusehen, wie wenig er vom Leichtsinn des Doktors hielt. Das andere Treppenhaus glich dem ersten außer einigen Baustützen und Bretterverschalungen des Betongusses an den Wänden wie ein Ei dem anderen. Beide Zugänge waren durch eine sinnreiche
Schleuse voneinander getrennt, die es fast unmöglich gemacht hätte, sie als Durchgang zu erkennen, wären die Bauarbeiten nicht bei Kriegsausbruch unterbrochen worden: sie glich einer Drehbühne mit übereinanderschiebbaren Wänden, die offenbar durch den noch unausgepackt auf der Plattform stehenden Elektromotor über eine geheime Steuerungsanlage hätte bewegt werden sollen. Ein Haufen Ziegelsteine versperrte ihnen den Weg. Dann waren sie unten im entgegengesetzten Tunnel, der leicht anstieg. Wasser aus dem darüberliegenden Flußbett sickerte schmutziggrau durch die Betonschale und lief in schmalen, strähnigen Bächen an den Wänden herab. Manchmal waren Bretter über die Wasserrinnen am Boden gelegt. Der Doktor hob die Hosenbeine an und bemühte sich, seine Schuhe sauber zu halten, um nachher nicht wie ein Landstreicher auszusehen. Endlich fiel vor ihnen in der ganzen Tunnelbreite Tageslicht ein, es hatte noch immer den Anschein, als sei es gegen seinen Willen durch einen kaltfärbenden und bläulich schimmernden Kristall gefallen – aber es war nur das übliche kalte Morgenlicht, wenn Wolken vor der Sonne lagen, an das er sich nie gewöhnen würde, weil er noch das Bild des Himmels von früher vor Augen hatte –, und im Näherkommen sahen sie den Ausgang: eine mächtige Lehmbahn, die auf der eigentlichen Fahrbahn von dunklem Schotter bedeckt war. Zwei Bulldozer und ein Lastwagen standen schräg am Hang unter den Bogenwänden, als seien sie nur eben zur Zigarettenpause abgestellt worden. Der Amerikaner blieb plötzlich stehen und drehte sich nach ihm um. Sie waren etwa in der Mitte unter dem Flußbett, und das an den Betonwänden herabrinnende Wasser hatte zugenommen; wegen des lehmigen Grundes war es jetzt gelbbraun.
»Bis hierher. Den Rest müssen Sie allein schaffen.« In seinem Gesicht arbeitete es. Er streckte die Hand aus, dann versuchte er zu lächeln. »Gehen Sie in Gottes Namen!« sagte er rauh und wandte sich mit versteinerter Miene ab. Als der Doktor auf der Lehmbahn war und oben im Tunnelausgang bereits die dunklen Backsteinmauern des alten Sportstadions sehen konnte, blieb er noch einmal stehen, um sich nach der klein gewordenen Gestalt des Amerikaners umzublicken. Der andere hob den Arm, und Wargas bemerkte erleichtert, daß seine Hand sekundenlang wie erfroren in der Luft verharrte.
DRITTER TEIL
Erstes Kapitel
1 Die Straßen, nachdem er den dunklen Backsteinbau des noch aus der Vorzeit stammenden Sportstadions hinter sich gelassen hatten, glichen eher Park- und Gartenwegen als dem, was man sich unter gewöhnlichen Fahrbahnen vorstellte. Hinter Tajenastren und Euphorbien stiegen terrassenförmige acht- bis zwölfstöckige Häuser an, manchmal soweit im rankenden Grün versunken, daß man sie für bewachsene Felswände hätte halten können, wären keine glasüberdachten Veranden und Balkone mit Sonnenschirmen zu sehen gewesen. Einzelne riesige Platanen und Eichen beugten schattenspendend ihre Kronen über die Fahrbahnen, auf denen nur hier und da ein Fahrzeug beinahe lautlos vorüberglitt. An den zahllosen Treppenabgängen – jede Kreuzung besaß mindestens einen – bemerkte er, daß die meisten Straßen untertunnelt waren. Niemand schien ihn zu beachten, obwohl er wegen seines Alters sicher eine auffällige Erscheinung war. An einem kleinen Laden mit weißen Gartentischen auf dem Gehsteig blieb er stehen. Über der Tür stand VITAMINBAR. In die Spiegelrückwand waren Bilder verschiedener Früchte eingeschliffen. Wargas stellte sich zu den anderen an die Theke. »Gemischt oder rein?« fragte ein junger Mann mit weißer Schirmmütze, der die lange Reihe elektrischer Saftpressen bediente. »Gemischt.«
Ein Glas wurde vor ihn hingestellt. Der junge Mann warf ihm einen flüchtig forschenden Blick zu. Wargas murmelte »ausgezeichnet« (das Getränk war wirklich ausgezeichnet), dann fragte er: »Gibt es in der Nähe ein Hotel?« »Oh – nein… aber ein gutes Stück weiter im Zentrum.« »Richtig, man reist hier selten, nicht wahr?« fragte er dreist, um dem anderen jeden Rest von Zweifel daran zu nehmen, daß er sich legal bewegte und keinen Hehl daraus machte, ein Fremder zu sein. Er leerte das Glas. »Sind Sie – aus Lyon?« Wargas nickte, während er ihn durch den Boden des Glases betrachtete. »Herzlich willkommen!« Der junge Mann reichte ihm seine durch das Glas etwas vergrößert aussehende Hand über die Theke. »Wir alle verdanken Ihnen sehr viel.« »Nicht der Rede wert…«, murmelte er und räusperte sich verlegen. Ein Mensch mit verkümmerten Armen und einem kürzeren Bein humpelte draußen an der Scheibe vorüber. Er trug ein grellbuntes Flanellhemd und zog ein hölzernes Wägelchen hinter sich her, auf dem alte Schuhe lagen; trotz seiner Behinderung lächelnd. Sein Gesichtsausdruck war der eines Debilen. »Das ist Wedekind«, erklärte der junge Mann, der Wargas’ Blick durch die Scheibe folgte. »Ein armer Bursche. Seine Gene sind… na, sie sind etwas durcheinandergeraten. Er repariert Schuhe in der kleinen Fabrik nebenan.« Der Doktor hatte geglaubt, solche Fälle würden stets der ›Seelenbank‹ zugeleitet; doch anscheinend war das nicht das Fall. »Wäre der Tod nicht eine Befreiung für ihn?« »Oh, nein. Er ist sehr glücklich.«
»Obwohl er… ich meine, trotz seines Leidens?« »Niemand schätzt ihn deswegen geringer.« »Viele dieser armen Teufel leiden mehr unter dem Mitleid der Nächsten als an ihren Gebrechen.« »Nicht Wedekind. Weil er weiß, daß wir ihn wie jeden anderen behandeln.« Der Doktor nickte und sah auf die Uhr an der Wand. Ihr Zifferblatt besaß nur neun Striche, die üblichen Minuten- und Stundenzeichen fehlten: man hatte sich weitgehend vom Zwang der Uhren befreit. Dann folgte er den anderen hinaus, ohne zu zahlen. Ebenso wie der Minutenzeiger, war auch das Geld abgeschafft worden. Trotzdem erwartete er aus alter Gewohnheit, von hinten angerufen zu werden, als er wieder auf dem Gehsteig stand. Doch es war tatsächlich kostenlos. An einer Schaufensterscheibe drückte er die Koteletten der Perücke zurecht, faßte seine Aktentasche fester unter den Arm und überquerte die Straße. Ein Innenhof, in dem junge Mütter vor Kinderwagen saßen, erregte seine Neugier. Ihre Kinder sahen ihnen weitaus ähnlicher, als es üblicherweise der Fall war. Klone, dachte er – Replikate, die nur deshalb existierten, weil ihre ›Vorlagen‹ für gut befunden worden waren. Es gab keine natürliche Zeugung mehr. Mütter konnten Kinder mit beliebigem Erbgut austragen, in der Hälfte aller Fälle aber replizierten sie sich selbst. Er versuchte sich vorzustellen, welche Gefühle und Gedanken einen bewegten, wenn man einen kleinen Menschen im Kinderwagen oder Sandkasten vor sich sah, der einem selbst in jeder Pore glich. Natürlich konnte er sich trotz des Aussehens unterscheiden, sei es in seinem Charakter oder in der Anfälligkeit gegen Krankheiten. Oder sein Gedächtnis und seine intellektuellen Fähigkeiten waren den eigenen überlegen. Die Entwicklung ging weiter, man arbeitete ständig an verbesserten Erbanlagen.
Wargas setzte sich auf eine Bank und sah schweigend den spielenden Kindern zu. Ein ungewohntes Glücksgefühl überfiel ihn jäh, wieder unter Menschen zu sein. Er begriff plötzlich, daß weder der Amerikaner noch die seltenen Fernsehsendungen ein Ersatz dafür gewesen waren. Doch dann geschah etwas, das ihn sofort ernüchterte. Ein junger Mann kam mit wiegenden Schritten den Weg entlang, er trug einen grauen Anzug. Seine spitzen Ohren glichen auffallend den Fledermausohren der Purificateurs. Als er etwa in des Doktors Höhe war, zögerte er, blieb kurz stehen, sah ihn mit brennendem Blick an, setzte dann aber kopfschüttelnd seinen Weg fort. An der Weggabelung blickte er sich noch einmal um. Wargas ließ einige Augenblicke verstreichen, dann stand er auf und ging in die Richtung des Ortszentrums davon. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, doch gab er sich den Anschein, als habe er keine Eile. Das Hotel fand er erst nach einigem Suchen, obwohl alle Passanten sehr hilfsbereit waren. Die gleichaussehenden Rankenwände verwirrten ihn. Mehr durch Zufall entdeckte er seine Leuchtreklame plötzlich an einer gelbgestrichenen Hauswand. Es hieß bezeichnenderweise ›Zur Einkehr‹ und lag in der Nähe eines sicher erst kürzlich erbauten, aber altmodisch wirkenden Cafés, das den alten Wiener Kaffeehausstil kopierte. An den runden Holztischen drinnen sah er Zeitungsleser und kleine Gruppen, und hinten an der Theke deklamierte jemand etwas, das er wegen der breiten Straße nicht verstehen konnte; von irgendwoher erklang Klaviermusik. Das Zimmer war einfach, aber sauber. Eine Klimaanlage ließ sich zuschalten, da es an der Sonnenseite lag. Die Berglandschaft über dem Bett fand er geschmacklos. Vermutlich stammte sie aus einem Supermarkt der alten Stadt:
eine billige Reproduktion blauer Berge unter rötlicher Sonne. Es mangelte noch an vielem, und so lange begnügte man sich mit dem, was von den Alten übriggeblieben war. Wargas legte sich aufatmend aufs Bett. Das Mädchen an der Rezeption hatte ihm gesagt, abends fände eine Volkszählung statt, und er solle sich mit seinem Namen in die ausliegende Liste eintragen. Ein Kurier fahre durch die Stadt, um alle Zählzettel einzusammeln. Nach dem Ausweis fragte sie nicht; offenbar war es unüblich, sich einzutragen, denn es gab nichts zu verbergen. Wargas hatte den erstbesten französisch klingenden Namen gewählt, der ihm einfiel: George Durell. Er wurde nicht nach dem Alter gefragt, deshalb war es ohne Risiko. Niemand würde herausfinden, daß es keinen Wissenschaftler dieses Namens bei WEDA gab. Die Vorstellung, ein Hotel zu betreiben, in dem jeder kostenlos wohnte, dessen Betten gemacht, Böden und Teppiche gereinigt und Badezimmer gesäubert wurden – von den übrigen ›Unkosten‹ ganz zu schweigen –, kam ihm merkwürdig unwirklich vor. Das Mädchen an der Rezeption – es war kaum älter als sechzehn Jahre, strohblond mit kindlichen Zügen und trug ein schon fast übertrieben wirkendes Lächeln zur Schau, sobald es mit ihm redete – schien gern zu arbeiten. Wenn er das System richtig verstand, ging jeder, der es wünschte, einer Arbeit nach, falls welche verfügbar war. Dabei ließ man sich auf eine bestimmte Zeit ein, die frei gewählt werden konnte. Doch mit seiner Zusage verpflichtete man sich zur Zuverlässigkeit. Andererseits war es jederzeit möglich, sich wieder dem Müßiggang zu überlassen oder auch zu wechseln, von einer kleinen Frist abgesehen, die den reibungslosen Ablauf der Arbeit sicherte. Der Schäbigkeit einiger Einrichtungen nach zu urteilen, lag der Wunsch allerdings noch mit den Realitäten im Streit: man hatte die Befreiung von der Arbeit ein wenig zu früh eingeführt. Die Kleiderschränke, überhaupt alle Holzmöbel, waren
abgewohnt, ihr Lack blind und verschrammt. Der Telemonitor, das Sichttelefon, war eines von der ältesten Sorte, sein Bild flimmerte und setzte manchmal aus, wenn man das Kabel des Hörers bewegte. Selbst die Tassen und Gläser an der Bar schienen eine lange Vergangenheit zu haben: Sprünge, abgesplitterte Kanten und abgebrochene Henkel waren keine Seltenheit. Im Aufenthaltsraum stand ein vorsintflutlich aussehender Konzertflügel, der sicher mehr als zwei Weltkriege überdauert hatte. Selbst einfache Kunststoffgeräte sahen verschrammt aus. Ihre Fabriken produzierten noch längst nicht genug. Dafür war das Essen reichhaltig und ausgezeichnet, wie er feststellen konnte, als er abends im Speisesaal aß. Ein dickliches Mädchen setzte sich unaufgefordert an seinen Tisch. Es war wohl so üblich. Man wahrte keine Distanz. Auch einander Unbekannte begannen sofort ein angeregtes Gespräch, wie er verschiedenen Bemerkungen an den Nachbartischen entnahm. Das Mädchen betrachtete ihn schweigend und mit unverhohlenem Interesse, während es mit vollem Munde kaute. Er nahm an, daß nur sein Alter sie zurückhielt, sofort ein Gespräch anzufangen. Ihre Blicke sprühten vor Neugier. Dabei fragte er sich fortwährend, wieso es ihm so bekannt vorkam. »Ich muß Sie schon irgendwo gesehen haben«, sagte er schließlich. »Sicher im Fernsehen.« Das dicke Mädchen schüttelte den Kopf und erwiderte mit vollem Mund, es sei noch nie im Fernsehen aufgetreten. »Das ist kaum möglich«, erklärte er. »Es muß im Fernsehen gewesen sein.« »Nicht im Fernsehen, nein. Sind Sie von WEDA? Einer ihrer Wissenschaftler? Ich meine, wegen Ihres Alters. Es gibt außerhalb von WEDA keine so alten Menschen mehr. Sie sind alle im letzten Krieg umgekommen. Außer natürlich…«, sie deutete mit dem Kopf in die Richtung der alten Stadt, »Sie
wären einer der Überlebenden. Aber dann säßen Sie wohl kaum hier, oder?« »Gewiß nicht«, bestätigte Wargas. Er schwitzte plötzlich unter seiner Perücke. »Ich war bis zu meinem sechsten Lebensjahr bei WEDA in Lyon. Und dann wieder vor einem halben Jahr. Sie müssen mich dort gesehen haben.« »Ja, schon möglich.« »Arbeiten Sie in der Reaktivierungsabteilung?« »In der…? Ja, genau dort arbeite ich.« »Etwa bei Professor Rouault?« fragte sie begeistert. »Nein, ich…« »Aber das ist ausgeschlossen. Sie müssen mit Professor Rouault arbeiten, wenn Sie in der Reaktivierungsabteilung sind.« »Ich meine… ja, natürlich habe ich bis vor kurzem mit meinem alten Freund Rouault zusammengearbeitet, aber die Abteilung wurde wegen erweiterter Forschungsbereiche in mehrere Sektionen aufgeteilt«, log er und schwieg, da er nicht einmal ahnte, um welche Art von ›Reaktivierung‹ es sich handelte. »Ich verstehe. Sicher, das hätte ich mir denken können.« »Gehören Sie selbst zu den Reaktivierten?« fragte er. Diese Frage löste eine unerwartete Reaktion aus. Sie errötete heftig und begann zu stammeln. »Nein… ich bin – wie kommen Sie nur auf den Unfug. Das ist…« Sie wollte sich erheben. »Bitte bleiben Sie!« Er legte seine Hand auf die ihre. »Es ist mir… ein Fauxpas. Entschuldigen Sie.« Einige Leute an den Nachbartischen sahen zu ihnen herüber, und sie setzte sich wieder. »Sie haben wirklich eine merkwürdige Art von Humor. Waren alle Alten so?«
»Die meisten, ja.« »Dann verstehe ich, weshalb man nach einer Änderung trachtete.« Sie aßen schweigend. Es gab Rotkohl und Pflanzenwurst, dazu gegrillte Tomate. Die Tomate schien eine Neuzüchtung zu sein, denn sie war körnig und schmeckte wie gesüßter Reis. Der Doktor ließ plötzlich seine Gabel sinken – jetzt wußte er wieder, woher er sie kannte. Es war das dickliche Mädchen vor der Kathedrale, nach dem Gottesdienst. Ein wenig erleichterte es ihn, daß er ihr Geheimnis gegen seines ins Feld führen konnte, falls sie entdeckte, daß er keiner von WEDAs Wissenschaftlern war. »Wohnen Sie länger hier?« erkundigte er sich. »Bis ich eine Wohnung gefunden habe, ja.« »Sie arbeiten in der Nähe?« »Nein, aber viele meiner Freunde leben hier. Auch meine Freundin Claudia.« Wargas öffnete den Verschluß seiner Aktentasche. Sie enthielt alle wichtigen Papiere und einige kleine Dinge von Erinnerungswert, die er ungern in der Stadt zurückgelassen hätte: den goldenen Füllhalter, der ein Geschenk zum Abitur war, ein gerahmtes Foto seines Labors und die Ernennungsurkunde zum leitenden Arzt des Instituts. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: es war ein schon recht abgegriffenes Foto Veras, das sie als Studentin zeigte. Er reichte es ihr. »Ist das Ihre Freundin Claudia?« »Ja, aber woher haben Sie denn…? – und die Häuser im Hintergrund erinnern mich an…« Sie schwieg. Jede weitere Bemerkung hätte verraten. Sie erinnern mich an die alte Stadt, ergänzte Wargas in Gedanken. Natürlich konnte sie einem Fremden gegenüber nicht zugeben, daß sie sich dort schon einmal aufgehalten hatte.
»Geben Sie ihr das Bild und sagen Sie ihr, daß ich sie gerne einmal sprechen würde.« »Das werde ich tun.« »Ich bin noch einige Tage im Hotel. Sie erreichen mich leicht, wenn Sie an der Rezeption nach George Durell fragen.« »George Durell«, wiederholte sie gedankenverloren und betrachtete das Foto.
2 Das Leben unter ihnen übte eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn aus; er fühlte sich wohl. Selbst die Heftigkeit seiner Anfälle hatte nachgelassen. Eines Vormittags nahm er die Elektrobahn und besuchte ein vollautomatisiertes Werk am Ostrand, das Kleidung produzierte. Es wirkte gespenstisch, wie die kleinen Industrieroboter selbst komplizierteste Herstellungsabläufe bewältigten. Sie maßen Stoffballen aus, schnitten, hefteten, nähten, als seien es professionelle Schneider. Seltsamerweise orientierte man sich in der Mode an den früheren Vorbildern. Die Halle war ohne Arbeiter, nur hoch oben in einem Glaskasten, von dem aus man die Apparate überblickte, saß ein einzelner Mann an der Leuchttafel. Er schien zu schlafen. Besucher wurden den Gang aus Glaswänden entlanggeführt, und ein noch sehr junges Mädchen, höchstens zwölf Jahre alt, erläuterte die Herstellungsschritte von grauen Anzügen. Wie überall kam man auch in der Fabrik mit einem Minimum an Verwaltung aus. Zwei Computer, die einander ständig überprüften, erledigten den Hauptteil der schriftlichen Arbeiten. Im Ort selbst suchte man vergeblich nach einem Bürgermeisteramt, dem Rathaus und der gewohnten Bürokratie. Falls sie jemals existiert hatte, schien sie sich auf
geheimnisvolle Weise aufgelöst zu haben. Ein Außenstehender sollte annehmen, daß Daten über die Bevölkerung gespeichert, daß Baugenehmigungen vergeben, daß Aufsicht geführt, organisiert und geleitet werden mußte. Doch da es weder Steuern noch Genehmigungsverfahren gab, da so gut wie keine behördlichen Anordnungen existierten, niemand vor dem Standesamt eine Ehe schloß, keine Wehrerfassung, keine Pässe und Ausweise, keine Behörden für Straßenverkehr und Zulassung benötigt wurden, war der Aufwand an notwendiger Organisation, abgesehen vom Laboratorium, dem Fernseh- und Rundfunksender, der Seelenbank und der Dienststelle der Purificateurs gering, und Wargas fand erst nach längerem Suchen in einem Haus, das wie ein gewöhnliches Wohnhaus aussah, die ›Stadtbehörde‹: acht Zimmer mit vier Sekretärinnen, zwei Boten, einem Archivar und drei Computern, wo er erfuhr, daß die Ortversammlung einmal im Monat tagte, um nach dem Urteil von Experten, die dort Vortrag hielten, eine Entscheidung über Fabrikation, Straßenbau, Kanalisation, Energieversorgung und andere städtische Angelegenheiten zu treffen. Ihre Abstimmung vollzog sich demokratisch, durch einfache Mehrheit. Jeder Ort war autonom, trug aber ein gewisses Maß an Verantwortung für die Weitergabe seiner überschüssigen Produkte und entsandte Beobachter und Berichterstatter an den zentralen Beratungstag von Lyon. Das Straßenbild glich mehr dem beschaulichen Treiben in einem Staatsbad oder Urlaubsort. Der Zulieferverkehr spielte sich unter der Erde ab. Für Gen-Spiele gab es, wie er jetzt entdeckte, nicht nur Tafeln, sondern auch kleine Automaten, die meist an Hauswänden in Passagen und Eingängen hingen. Ein wenig störte Wargas das ungewöhnlich altkluge Gebaren der Kinder; aber da sie ihre dritten Zähne bereits zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr bekamen, konnte man wohl nichts anderes von ihnen erwarten.
Sehr kleine Kinder liefen ihm manchmal auf der Straße nach: voller Neugier, denn sie hatten noch nie einen so alten Menschen gesehen, während die Älteren sich trotz des Storantiniums noch dunkel an sie erinnerten. Kinder benahmen sich jedoch stets respektvoll, wenn er stehenblieb und ihnen durch Gebärden zu verstehen gab, daß er sich belästigt fühlte. Es sind nicht mehr die kleinen Bestien, die man von früher her kennt, dachte er. Beim Spielen war es auffallend, wie umgänglich sie sich ohne Ermahnungen verhielten. Er erinnerte sich schmerzlich daran, daß in seiner eigenen Kindheit das Faustrecht regiert hatte, sobald die Eltern nicht mehr in der Nähe waren. Das alles schien den Einfluß der Erbanlagen zu bestätigen. Er sah nirgends Streit. Obwohl es noch Versorgungsmängel gab, hortete niemand Waren, und da politische Ämter keinen Lohn fanden, strebte auch niemand nach Macht. Ihr innerer Frieden drückte sich in ebenmäßigen Zügen aus, die bei den Frauen für Wargas’ Geschmack fast ein wenig zu vollkommen waren, um sinnlich zu sein, und er fragte sich, ob dies nicht die langweiligste Gesellschaft war, die er je kennengelernt hatte – ob nicht Langeweile an die Stelle des Unfriedens getreten war. Aber Lärm und Hektik der alten Zeit waren schließlich nur Wege in die Totenruhe gewesen. Sich an Vollkommenheit zu gewöhnen, sollte doch möglich sein, dachte er. Wargas ging hinter der Fabrik durch ein Feld, auf dem, soweit das Auge reichte, Sojabohnen angebaut waren. Die brusthohen Pflanzen mit ihren behaarten Blättern und violetten Blüten bewegten sich sanft im lauen Wind. Eine tiefe Schläfrigkeit überkam ihn. Er suchte nach einem Stück Rasenfläche am Wegrand und ließ sich nieder. Die Grillen zirpten. Der blaue Himmel, an dem winzige Schäfchenwolken standen, erschien ihm, während er – seine zusammengerollte
Jacke unter dem Kopf – an einem Grashalm kaute, wie eine große friedliche Glocke, die über einem ebenso friedlichen Land lag, das nun, nach soviel Irrungen und Wirrungen, mitsamt seinen Bewohnern endlich Ruhe gefunden hatte. Ich könnte immer hier leben, dachte er. Die alte Stadt jenseits des Flusses kam ihm dagegen wie eine bedrückende und trostlose Steinwüste vor, belastet mit Erinnerungen, die sich von Alpträumen nur dadurch unterschieden, daß die einen Hirngespinste und die anderen wirklich waren. Er fragte sich, wie er es so lange dort hatte aushalten können. Nachdem unendlich viel Blut den Boden unter ihm getränkt hatte, viele Jahrhunderte lang, eine Zeit der Hexenverfolgungen, der kleinen und großen Schlachten, der Wegelagerer, Mörder, Folterer, der Jäger und Gejagten, war es, als habe mit dem blauen Himmel auch die Zeit aufgehört, als sei ihr scheinbar endloser Fortgang nur die unaufhörliche Wiederkehr der Gewalttaten, und ohne sie trete alles in ein Stadium der Zeitlosigkeit ein, dessen äußeres Kennzeichen nun für immer der blaue Himmel sein würde. Er dachte an Vera, und daß sie gestorben und wiederauferstanden war.
Als er abends ins Hotel zurückkehrte, lag eine Nachricht an der Rezeption. »Für George Durell« stand in großen, etwas ungelenken Buchstaben auf dem gelben Umschlag. Er nahm ihn wie eine Kostbarkeit und ging damit in den Leseraum. Das Mädchen hinter ihm lächelte (vielleicht lächelte es nur, weil es immer lächelte, aber er hatte das Gefühl, sie lächele, weil sie es für einen Liebesbrief hielt). Sie beobachtete ihn von der Theke aus, als sich die Tür öffnete und ein Luftzug hereinfegte.
Der Doktor schob instinktiv seine Hand über den ungeöffneten Brief, als müsse er ihn verbergen. Ein älterer Mann trat ein, etwa ebenso alt wie Wargas. Die braune Hornbrille, die sein halbes Gesicht einnahm, war weit zur Nasenspitze gerutscht. Schwarzes dickes Haar sproß aus einem Nasenloch. Er trug einen abgetragenen Popelinemantel, und an seiner rechten Hand, im Griff der etwas zu plump wirkenden Finger, hing eine eckige dunkle Tasche, die aussah wie ein Arztkoffer. »Gesundheitsdienst für Reisende«, erklärte er. »Bitte den Praxisschlüssel.« Wargas sah ihm nach, als er, ohne ihn auf seinem Stuhl zu bemerken, durch eine Glastür verschwand. Er erinnerte sich, am Ende des Korridors ein Schild mit der Aufschrift Konsultationszimmer gesehen zu haben. Der Schreck war ihm beim Anblick des anderen in die Glieder gefahren; wegen seines Alters konnte es sich nur um einen Arzt von WEDA handeln. Anscheinend gab es für Reisende vorsorgliche Untersuchungen. Was verbarg sich dahinter? Etwa eine heimliche Kontrolle? Ohne den Brief geöffnet zu haben, stand er eilig auf. Als er an der Rezeption vorüber auf den Ausgang zusteuerte, sagte das Mädchen: »Der Gesundheitsdienst ist da.« »Danke. Ich benötige keinen Arzt.« »Sie wollen…? Aber es ist üblich, daß Reisende sich untersuchen lassen.« »So?« Er blieb unschlüssig stehen. »Das wußte ich nicht.« »Zum Wohle aller«, beteuerte sie kopfnickend (nach Wargas Geschmack ein wenig zu einfältig). »Damit keine Krankheiten oder Seuchen aus anderen Ländern übertragen werden.« »Soviel ich weiß, gibt es momentan nirgendwo Seuchen«, sagte er und ging hinaus.
Sicher machte er sich damit in ihren Augen verdächtig. Aber durch den Arzt als einer der Überlebenden entlarvt zu werden, war noch gefährlicher. Wargas betrat ein Stehcafé an der Straßenecke. Er sah mit trübsinnigem Blick durch die spiegelblanke Scheibe; nicht nur der Tisch, die Scheiben und Fensterrahmen waren in irritierender Weise sauber, auch auf der Straße lag kein einziger Fetzen weggeworfenen Papiers. Angeborener Ordnungssinn. Für das Konsultationszimmer gab es also einen Schlüssel. Äußerst verdächtig, denn im Hotel wurde nirgends eine Tür verschlossen. Man bekam überhaupt keinen Schlüssel an der Rezeption. Wozu auch? Es war nur in einer diebischen Gesellschaft wie der alten nötig gewesen. Natürlich konnte man das versperrte Konsultationszimmer mit ›Ansteckungsgefahr‹ oder ›hygienischen Vorschriften‹ begründen. Aber was steckte wirklich dahinter? Er beschloß, es bei nächster Gelegenheit herauszufinden. Wargas öffnete den Umschlag, den er noch immer wie eine Kostbarkeit in der Hand hielt. Die Nachricht lautete: Falls Sie meine Mutter gekannt haben, würde ich Sie gerne sprechen. Wäre es Ihnen heute abend gegen achtzehn Uhr am Trampolinzentrum recht? Er erinnerte sich der beiden gravitationslosen Trampolinkammern nahe beim Fluß. Sie befanden sich in der Spielzone, und ihre hohen, würfelförmigen Umrisse würden leicht zu erkennen sein. Es war kurz nach fünf: soviel konnte er auf dem ungewohnten Zifferblatt der Uhr über dem Kaffeeautomaten immerhin ausmachen. Aber wo lag der Fluß? Trotz seines guten Orientierungssinns verlor er zwischen den efeuüberrankten Terrassenhäusern immer den Weg. Gewiß: er konnte sich nach der Sonne richten. Der Fluß lag im Norden. Auf halber Strecke fiel ihm ein, daß man nun womöglich sein Zimmer durchsuchen würde, weil er sich der
Gesundheitskontrolle entzog. Seine Aktentasche mit allen Papieren lag noch im Schrank. Oder war die Kontrolle freiwillig? Vielleicht denke ich nur in alten Begriffen, beruhigte er sich. Als er bei den von fahlem, blauem Licht erfüllten Trampolinkammern ankam, sah er das Mädchen an einem der Tische warten. Springer stießen sich in kühnen Saltos von den elastischen Kunststoffwänden ab. Eine beliebte Variante schien darin zu bestehen, sich in waagerechter Haltung so lange vom Boden und von der Decke zurückfedern zu lassen, bis sich die Geschwindigkeit verlangsamt hatte und man ausgestreckt im Raume schwebte. Er warf einen prüfenden Blick in die Menge (das Mädchen hätte schließlich aus der Existenz des Fotos auch einen anderen Schluß ziehen und die Purificateurs benachrichtigen können), doch niemand beachtete ihn, zumindest nicht offenkundig – und für die Fledermausohren der Säuberer glaubte er mittlerweile selbst dann ein untrügliches Auge zu besitzen, wenn sie Hüte oder Schirmmützen trugen. Er trat hinter sie. Ihr Nackenhaar bewegte sich unter seinem Atem, so nahe war er ihr, als sie sich umwandte und ihn fragend musterte. Wargas sah, daß in ihr silbernes Stirnband der Name ›Claudia‹ eingeprägt war. »Gehen wir zu den Bäumen hinüber«, flüsterte sie. Unter den ausgestreckten Ästen im Schatten zog sie das Bild hervor, es hatte in einem gestrickten Beutel an ihrer Schulter gesteckt. Sie hielt es ihm wortlos hin. »Vielleicht sollten wir einen anderen Platz aufsuchen«, sagte Wargas und blickte sich unbehaglich um. »Dann werde ich Ihnen die Geschichte des Bildes erzählen.« »Zu mir nach Hause?« »Ein Glas Tee wäre nicht verkehrt.« »Sie sind aus Lyon, nicht wahr?«
»Ich halte mich einige Tage hier auf, um private Angelegenheiten zu erledigen«, erklärte er ausweichend. Ihre Wohnung lag nicht weit von der Spielzone. Es war ein vierstöckiger Bau, eingereiht in hufeisenförmig angeordnete Häuser, die sich nach Süden zu einem Parkgelände mit niedrigen Bäumen öffneten. Rasenflächen mündeten an den künstlich angelegten Teich, in dessen Mitte sich auf Felsquadern ein Springbrunnen erhob. Als sie vor ihm die Tür öffnete, war er überrascht, im Gegensatz zu seinem abgewohnten Zimmer und den schäbigen Hoteleinrichtungen wohnliche Zimmer mit hellen Teppichen und zierlichen weißlackierten Möbeln zu sehen. Alles machte einen bequemen und geschmackvollen Eindruck. Sie bemerkte seinen Blick. »Unsere Hotels sind noch in einem desolaten Zustand. Wenn Sie wollen, können Sie für ein paar Tage bei mir wohnen.« Sie öffnete eine Tür. »Dies ist das Gästezimmer.« »Oh, das wäre natürlich… aber macht es Ihnen denn keine Umstände?« »Warum sollte es?« »Ich bleibe gern.« Wargas setzte sich ins Wohnzimmer zurück, nachdem er seine Jacke auf dem Bett abgelegt hatte. Er wusch sich nur die Hände und warf einen Blick in das Buch auf der Nachtkonsole: es war ein Werk über Kindererziehung. Wenig später kam das Mädchen mit einem Tablett herein. Sie tranken rötlichen Tee aus kleinen Tassen, der leicht säuerlich schmeckte. »Und nun erzählen Sie mir von meiner Mutter.« Er nickte und setzte die Tasse ab. »Was wissen Sie über sie?« »Im Grund gar nichts.« »Sie haben Sie nie gesehen?« »Ich bin ein Replikat. Nur zum Teil natürlich, denn meine Erbanlagen wurden verändert. Man machte einen Charaktertest.
Im Alter von zwei Jahren soll sie mich einmal besucht haben. Waren Sie gut mit ihr bekannt?« »Befreundet, ja.« »Was war sie für ein Mensch?« »Nun… ich möchte Ihnen natürlich nicht zu nahe treten. Sie war – wie soll ich es sagen… sie war schon immer dem Geheimnis ihrer bösen Neigungen auf der Spur.« »Die Menschen verhielten sich damals weniger friedlich als heute, nicht wahr?« »Erinnern Sie sich denn an gar nichts mehr?« Sie schüttelte den Kopf; ihr klarer Blick verdüsterte sich und irrte eine Weile durch den Raum, als suche er an den Gegenständen Halt. »Es ist alles sehr lange her.« »Sie war Ärztin. Ich glaube, sie fuhr zu WEDA nach Lyon, weil sie unzufrieden mit sich selbst war. Sie muß damals schon geahnt haben, daß es um mehr als nur die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten ging.« »Ach? Das wußte ich nicht. Waren Sie…? Ich meine haben Sie meine Mutter geliebt?« »Ich denke schon.« »Und sie hat nie von mir gesprochen?« »Nein, nie.« »Dann verstehe ich nicht, wie Sie mich gefunden haben.« »Nun, es gibt Mittel und Wege um…« Er schwieg und überließ es ihr, eine Antwort zu finden. »Sind Sie bei WEDA in der Abteilung für Personendaten? Das würde erklären, wieso Sie meine Freundin und mich…?« »Ein Freund hat mir Ihren Aufenthaltsort genannt – er arbeitet in der Reaktivierungsabteilung«, fügte er hinzu und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Sie errötete heftig, wie er es bei Vera nie gesehen hatte. »Etwa Professor Rouault?« »Mein Kollege Rouault, ja.«
»Dann wissen Sie also, daß ich mich einem Reaktivierungstest unterziehen mußte?« »Man hat es mir gesagt.« Er griff nach der Tasse und trank sie aus. »Allerdings bin ich über das Verfahren selbst nicht informiert, da ich in einer anderen Abteilung arbeite.« »Sie wissen nichts über Reaktivierung?« fragte sie ungläubig. »Der Umfang unserer Forschungsarbeiten macht eine Spezialisierung notwendig.« »Das Ergebnis war nicht sehr schmeichelhaft für mich. Man wird verschiedenen Prüfungen unterzogen und mit Situationen konfrontiert, um zu sehen, wie weit die Veränderung der Erbanlagen wirklich eine Veränderung des Verhaltens bewirkt hat. Maßstab ist das Charakterbild des Spenders, also meiner Mutter. Nehmen wir ein Beispiel – etwa die…«, – sie zögerte – »nun, die Religiosität. Es heißt, daß die Menschen – zumindest einige – damals an ein höheres Wesen glaubten. Man führt uns einige Gedanken und Bilder aus den alten Religionen vor und mißt unsere Werte – Hirnwellen, Puls, Gefühle, chemische Reaktionen des Blutes und die Veränderung des Hormonspiegels. Wer anders als erwartet reagiert, gilt als Reaktivierter.« »Und muß mit Sanktionen rechnen?« »Man bleibt unter Beobachtung.« »Dürfen solche Fehler bei all dem wissenschaftlichen Fortschritt denn vorkommen?« »Es gibt unspezifisch wirkende Gene, deren genaue Funktion noch nicht geklärt ist.« »Das Ergebnis war also wenig schmeichelhaft für Sie?« »Ich zeigte Reaktionen, als man mir von Jesu Versuchung in der Wüste erzählte.« »Sie müssen sich deswegen nicht schämen.« »Ich fand seine Haltung richtig, als er dem Teufel vierzig Tage widerstand, und es rührte mich an.«
»Daran ist nichts Verwerfliches.« »Sie sahen es als ein Zeichen von Religiosität.« »Also hätten Sie selbst in seiner Lage dem Teufel nicht widerstehen sollen?« »Natürlich schon. Aber man fand einen zu hohen ›Identifizierungswert‹ mit Jesu Person.« »Hätte man Ihnen Buddha gezeigt, wäre er der Favorit gewesen.« »Bitte?« fragte sie verständnislos. »Das Verwerfliche der alten Religionen lag in ihren Abweichungen von der reinen Lehre. Keine wirkliche Religion predigt Hexenverfolgungen und Teufelsaustreibungen. Und niemand, der im wahren Sinne religiös ist, könnte gegen die Rüstung und den Hunger gleichgültig bleiben.« »Man erwartet von uns, auch ohne ein höheres Wesen gottgefällig zu leben. Es wäre ein Herr-Knecht-Verhältnis. Über Gottes Existenz können wir nichts wissen.« »Ihre Mutter war nicht sonderlich religiös.« »Sie glich mir äußerlich sehr«, sagte sie und betrachtete noch einmal das Foto. »Wenn ich Sie ansehe, finde ich sie in Ihnen wieder, als stünde sie leibhaftig vor mir. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin schon fast ein alter Mann und möchte Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten – aber das alles läßt mich nicht unberührt…« »Oh, in der neuen Gesellschaft ist es durchaus üblich, daß Jung und Alt sich zusammentun«, meinte sie zur Überraschung des Doktors ohne jede Verlegenheit. »Die körperliche Liebe war wohl das größte Hindernis. Seitdem sie keine Rolle mehr spielt, ist das Alter nur noch eine Äußerlichkeit, und wir schätzen Seelenverwandtschaft höher als alles andere. Ich würde gern etwas über die alte Zeit von Ihnen erfahren.« Sie legte schnell ihre Hand auf seinen Arm. »Natürlich weiß ich,
daß es Ihnen wie allen Alten von WEDA verboten ist, darüber zu sprechen.« »Mit diesen Regeln hab’ ich’s nie sehr genau genommen«, erklärte er achselzuckend. »Dann darf ich mich sehr glücklich schätzen, daß wir uns begegnet sind.« Er nickte und griff gedankenverloren nach seiner Perücke; schließlich ließ sie ihn jünger wirken. Ihr unverhohlenes Interesse gaukelte ihm vor, sie könne nach kurzer Zeit mehr für ihn empfinden, als er je zu hoffen gewagt hatte (seine Hände wurden feucht bei dem Gedanken, die Erinnerung übermannte ihn). Er vergaß sein Alter und begann von Veras Jugend zu erzählen. Erst stockend, dann schneller, und sie hörte ihm atemlos zu, unterbrach ihn jedoch manchmal, um Fragen zu stellen. Ihr Aussehen, der Klang ihrer Stimme, selbst ihre Bewegungen glichen Vera so sehr, daß er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, sie sitze vor ihm. Einmal sprach er sie im Überschwang der Worte versehentlich mit dem Namen ihrer Mutter an, und dasselbe halb spöttische, halb teilnahmsvolle Lächeln, das er kannte wie kein anderes, überzog ihr Gesicht. Früher hatte es ihn manchmal zur Raserei gebracht, aber jetzt, nach so langer Zeit, verstärkte es nur seine Zuneigung…
3 Am späten Abend kehrte er noch einmal zum Hotel zurück. Er wartete in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite ab, bis das Mädchen an der Rezeption für kurze Zeit in den rückwärtigen Räumen verschwunden war. Dann ging er schnell hinüber. Alle Tische im Aufenthaltsraum waren unbesetzt, die leeren Tassen und Gläser noch nicht
abgeräumt. Durch das Scheibenviereck in der Tür des Konsultationszimmers schimmerte Licht. Hinter dem wabenförmigen Muster des Milchglases bewegten sich schemenhaft Gestalten. Er versuchte sich vorzustellen – mit wenig Erfolg –, welche Art von Untersuchung dort betrieben wurde. Daß es Reaktivierungstests gab, machte ihn mißtrauisch. Im Treppenhaus begegnete er einem Mädchen aus der Etage unter ihm. Wie er erfahren hatte, arbeitete es in einem kleinen Süßwarenladen zwei Querstraßen weiter. Jetzt trug es ein in Goldpapier eingeschlagenes Paket. Noch immer konnte er sich nur mit Mühe vom Anblick all der hübschen jungen Mädchen in der Stadt losreißen. Er hatte ihn zu lange entbehrt. Es war ihm peinlich, wenn er sie anstarrte. Doch das Mädchen lächelte nur mit offenem Blick. Als es an ihm vorüber war, blieb es stehen und wandte sich nach ihm um. »Würden Sie dieses Paket wohl Esther geben? Ich muß in die Stadt. Es sind Kerzensterne für die Feier zum St. Valentinstag, und sie soll sie ihrer Freundin Claudia bringen, die einen Hort mit zurückgebliebenen Kindern betreut. Wir haben sie selbst gebastelt.« Offenbar hatte sie im Speisesaal beobachtet, daß er mit dem dicklichen Mädchen bekannt war. »Gern«, sagte er. »Ich kann sie ihr direkt geben, da ich sie persönlich kenne und heute noch besuchen werde.« (Gleich darauf bereute er diese Auskunft, da sie seinen Aufenthaltsort verriet.) Er nahm das Paket. St. Valentinstag, der ›Tag der Liebenden‹, fiel nicht mehr wie früher auf den 14. Februar, sondern war auf den Beginn von WEDAs Arbeit verlegt worden. »Dann werden sie ihre Geschenke rechtzeitig zur Feier morgen früh bekommen. In jedem Stern steckt eine kleine Überraschung.« »Ich wußte nicht, daß Claudia in einem Kinderhort arbeitet?«
»Sie hat dafür ihre Arbeit als Ärztin im Laboratorium aufgegeben. Es fiel ihr nicht leicht, weil man sie für würdig hielt, eines Tages nach Lyon zu gehen. Sie wissen, daß die Alten durch junge Ärzte und Wissenschaftler aus der neuen Generation ersetzt werden. Aber da sie eine besondere Gabe besitzt, solchen Kindern zu helfen, entschied sie sich, zu bleiben.« Im Zimmer angekommen, entdeckte er, daß seine Tasche nicht mehr am alten Platz lag. War sie beim Saubermachen bewegt worden? Sie lag auf dem Tisch. Jemand hatte sie aus seinem Kleiderschrank genommen. Er öffnete beide Fächer und auch die Außentasche, fand aber keinen Hinweis darauf, daß man ihren Inhalt durchsucht hatte. Als er den Kleiderschrank aufzog, schlug ihm der Geruch eines Insektenvertilgungsmittels entgegen. Was auch immer in der Zwischenzeit geschehen war, ob man ihn kontrollierte, weil er sich der Untersuchung entzog, oder ob es sich tatsächlich nur um eine gewöhnliche Desinfektion handelte: er würde keinen Moment länger im Hotel bleiben. Als er die Rezeption mit dem Paket und seiner Tasche passierte, war das Mädchen wieder hinter der Theke. Es wandte ihm den Rücken zu und blätterte in einem Karteikasten. Wargas trat eilig auf die Straße. Das Paket schlug beim Gehen schmerzhaft gegen seinen Oberschenkel, doch er ging weiter, bis er um die Ecke war. An der hohen weißen Mauerwand eines ehemaligen Kirchenhofs blieb er stehen und horchte, ob ihm Schritte folgten… Nur das eintönige Klappern der Windräder hoch über den Dächern lag in der Luft. Spielte seine Phantasie ihm einen Streich? War er zu lange der Verfolgung durch die Purificateurs ausgesetzt gewesen, um noch normal reagieren zu können? – Es liegt daran, daß ich zu alt und zu verdorben bin, um mir eine Gesellschaft vorzustellen, die niemanden verfolgt und
kontrolliert und jeden seiner Wege gehen läßt, der andere nicht behelligt, dachte er. Ein Hort mit zurückgebliebenen Kindern! Aus den seltenen Fernsehkommentaren über dieses Thema hatte er immer den Schluß gezogen, daß solche Kinder zwangsläufig in der ›Seelenbank‹ endeten. Offenbar war das nicht der Fall. Schon der Krüppel vor der Vitaminbar sprach dagegen. Warum sollte gerade er verschont bleiben, wenn es nicht die Regel war, so zu verfahren? Es bestand auch gar kein Risiko, Unfälle im Genmaterial könnten sich weitervererben wie bei der gewöhnlichen Zeugung. Schließlich wurden die vererbbaren Eigenschaften von Spezialisten ausgewählt. Er ging achselzuckend weiter. Plötzlich ritt ihn der Teufel. Er wollte Gewißheit. An der Straßenecke – unter blühendem Oleander – legte er das Paket und die Tasche ab und bedeckte sie notdürftig mit altem Laub (das Goldpapier des Pakets leuchtete zwar immer noch zwischen den Zweigen hindurch; aber schließlich konnte man es als eine Art Probe ansehen, ob hier wirklich niemand etwas stahl); dann kehrte er mit dem gleichmütig schlendernden Schritt eines Mannes zum Hotel zurück, dem es eingefallen war, jetzt auf sein Zimmer zu gehen, als sei nichts geschehen; als gebe es keinen Verdacht gegen ihn; als habe man keine verräterischen Papiere in seiner Tasche gefunden; als habe man ihn nicht vergeblich aufgefordert, sich zur Gesundheitskontrolle einzufinden. Wargas sah durch den Eingang auf die grüne Betonkeramik des Fußbodens, dann glitt sein Blick argwöhnisch aber entschlossen zu den leeren Stühlen und Tischen im Hintergrund, an Durchgängen und dunklen Türöffnungen entlang, während er gleichzeitig eintrat. Die Rezeption war unbesetzt.
Er beugte sich über die Theke und ließ seine Hand so lange durch das Fach darunter gleiten, bis sie auf etwas Metallenes stieß… der Schlüssel für das Konsultationszimmer! dachte er zufrieden, als er ihn hervorgezogen und das Schildchen in seinem Kunststoffanhänger gelesen hatte. Ein gewöhnlicher Schlüssel aus gehärtetem Aluminium mit Magnetsperren, wie man ihn auch früher schon benutzt hatte. Es sah nicht so aus, als könnte er einen versteckten Alarm auslösen. Er ging zur Glastür und schloß auf. Der Raum dahinter erinnerte an ein Arztzimmer früherer Zeiten: Geräte in weißen Blechverkleidungen, Medizinschränke, Diagnosecomputer, die Bestrahlungslampe und an der Wand dem Schreibtisch gegenüber eine am Fuß- und Kopfende mit dunklem Wachstuch bedeckte Couch. Er fühlte sich an seine alte Praxis erinnert. Eine schwarze Kladde auf der Schreibtischplatte lag da, als habe sie nur darauf gewartet, daß er sie aufschlug und die Geheimnisse ihrer Seiten lüftete: das Diagnosebuch. Es war von einem roten Gummiring zusammengehalten, damit die eingelegten Zettel nicht herausfielen. Er blätterte in den alphabetisch angeordneten Namen, bis er George Durell gefunden hatte: Reisegrund unbekannt. Aus Lyon? Abteilung Prof. Rouault? Dann erübrigt sich Untersuchung, stand dort in gut lesbarer, schräggestellter Tintenschrift. Er schlug einen anderen Namen auf und las: Keine Anzeichen von Storantinium-Psychose; klares Erinnerungsvermögen an Herkunftsort und Umgebung; keine Hinweise auf unerwünschte Nebenwirkungen. Das also war es! Eine simple Gesundheitskontrolle, weil man Nebenwirkungen der Gedächtnisdroge befürchtete! Er hatte sie zu Unrecht verdächtigt. Sie benutzten den Aufenthalt im Hotel zwar als Vorwand. Aber nur, um ihre Nachuntersuchungen durchführen zu können. Reisen stellten eine gewisse Belastung
dar, bei der sich Schäden oder Krankheitssymptome eher zeigen würden. Wargas schloß ab und machte sich auf den Rückweg. Er fand seine Tasche und das Paket unberührt… Wegen der Dunkelheit, dachte er. Man kann noch keine Schlüsse auf ihre Ehrlichkeit daraus ziehen… Es mochte auf Mitternacht zugehen, doch es wurde nicht völlig dunkel in der Stadt. Wo nur wenige Laternen standen, waren die Hauswände und Bordsteinkanten mit phosphoreszierender Farbe gestrichen und gaben etwas von dem Sonnenlicht ab, das sie während der hellen Tagesstunden gespeichert hatten. Ein beleuchtetes Schild zwischen zwei kubistisch anmutenden Steinplastiken an der rankenbehangenen Hauswand gegenüber erregte seine Aufmerksamkeit. Sie zeigten ein DNS-Modell in ringähnlichen Umrissen von Körpern, rechts der Frau, links des Mannes, Formen aus aneinandergereihten Blöcken, und das angestrahlte Blechschild in der Mitte lud zu einer der täglichen »Informationsveranstaltungen« ein. EINTRITT JEDERZEIT! flimmerte eine kleine Leuchtreklame über dem halbrunden Eingang im Weg dahinter. Interessiert trat er näher. Ein Blick zurück auf die Straße überzeugte ihn davon, daß seine Angst vor Verfolgern unbegründet war. Der Raum im Souterrain machte mit seiner leisen Musik und anheimelnden Atmosphäre den Eindruck eines Nachtklubs alter Prägung; ein erster Eindruck, nichts weiter, denn vor ihm an den kreisrund angeordneten Tischen redeten junge Leute miteinander, und als das halblaute Gemurmel sich in deutliche Worte teilte, verstand er sofort, daß sie über den Sinn und Unsinn solcher Begriffe wie Verbrechen, Strafe und Sünde diskutierten. Überrascht verharrte er in einigen Schritten Entfernung. Es war eine angeregte Unterhaltung, völlig frei, ohne den Geruch des Heimlichen, sonst hätte man sich nach ihm
umgewandt, als er auf einem der Stühle Platz nahm. Der Mann in der Mitte des Kreises hielt kleine Kunststofftafeln hoch und erläuterte Bedeutungen von Ausdrücken, die gar nicht oder nur wenig bekannt waren. Das Interesse daran ließ sich unschwer an den aufmerksam fragenden Gesichtern ablesen. Er trug einen uniformähnlichen hellbeigen Anzug aus dünner Baumwolle (der sich bei näherem Zusehen als weiß entpuppte), war aber noch zu jung, um zur alten Lyoner Garde zu gehören. Offenbar hatte man einige Jüngere für die Aufgabe der Aufklärung und Unterrichtung ausgewählt. Besonders vertrauenswürdige Personen, nahm er an, die später in Lyon die Nachfolge der Alten antreten würden. »Mir erscheint es unverständlich, weshalb man uns so lange über solche Begriffe in Unkenntnis ließ«, sagte ein etwas langweilig wirkender junger Mann neben Wargas; er fuhr sich mit den Fingern durch das glatt zurückgekämmte Haar – eine nervöse Geste –, als sich alle Augen auf ihn richteten. »Wir haben immer Umschreibungen für Strafe und Schuld gebraucht. Immer hat es diese Gedanken in unseren Köpfen gegeben. Wir besaßen nur keine Worte dafür…« Er schwieg und blickte erwartungsvoll in die Runde. »Ich kenne diese Begriffe seit langem«, sagte ein Mädchen ganz hinten im Kreis, das durch die Köpfe der anderen verdeckt war. Es erhob sich, um fortzufahren, und nestelte dabei an einer aufgenähten Tasche ihres Kleides. »Sie standen in einer alten Zeitung, die über den Fluß geweht wurde. Hier ist sie…« Sie zog ein Blatt hervor und zeigte es der Runde. Zahllose Hände reckten sich interessiert danach. »Eine Zeitung aus der Zeit vor der Katastrophe – vor dem Untergang der alten Welt. Damals waren solche Worte überall gebräuchlich.« »Die Erklärung dafür ist sehr einfach.« Der Mann im Mittelpunkt des Kreises machte eine Pause und hob die Stimme, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und
dem Mädchen Gelegenheit zu geben, sein kostbares Blatt wieder einzustecken. »Schuld, Sünde, Verbrechen; Strafen waren damals an der Tagesordnung, weil das, was durch sie benannt wurde, an der Tagesordnung war. Es verhält sich damit wie mit dem alten deutschen Wort ›Gänsestall‹. Niemand von uns kennt und benutzt es noch, weil es keine Gänse und folglich auch keine Ställe gibt, in denen sie gehalten werden.« »Was sind Gänse?« fragte der junge Mann neben Wargas. »Eine Art weißgefiederter Flugvögel.« »Wie Möwen?« »Nein, eher wie Schwäne.« Zwei Mädchen in der dritten Reihe lachten ungläubig. »Wie denken Sie darüber?« erkundigte sich jemand hinter Wargas und tippte ihm auf die Schulter. »Über Gänse?« »Nein, über die Worte ›Schuld‹, ›Verbrechen‹, ›Strafe‹ und so weiter. Sie sehen älter aus als wir und müssen aus Lyon kommen. Es geschieht nicht oft, daß wir aus erster Hand erfahren, wie es mit uns weitergeht.« »Weitergeht?« fragte Wargas langsam, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen. »Was meinen Sie?« »WEDA hat so etwas wie die Schirmherrschaft über unser Schicksal übernommen.« »Richtig«, sagte er und nickte. »Das ist völlig richtig.« »Wenn man uns nicht alles sagt, zeigt das doch, daß man uns als unmündig betrachtet.« »Eher als gefährdet.« »Aber es gibt hier keine – wie sagt man? – Feinde.« »Der Feind, der wirkliche Feind lauert im Innern«, murmelte Wargas fast unhörbar und erhob sich. »Leider muß ich… es ist Zeit, daß ich gehe.« Er nahm seine Tasche und das Paket.
»Erzählen Sie uns etwas über den Grund des Krieges!« rief ihm das Mädchen aus der dritten Reihe nach, als er schon wieder am Ausgang war. »Und über Gott…«, meldete sich eine tiefe, fordernde Männerstimme neben ihm. Es war der Mann mit dem gestutzten grauen Vollbart, der damals in der Kirche den Priester gespielt hatte. Er hängte seine Jacke an einen Garderobenständer in der Nische und wandte ihm fragend das Gesicht zu. »Bedauere…« – Wargas verließ fluchtartig den Raum. Es focht ihn nicht mehr an, ob er sich damit verdächtig machte. Krieg! Auch davon wissen sie also schon, dachte er und nestelte am silbernen Stift hinter seinem Ohr, gab es dann aber wegen der Fahrigkeit seiner Finger auf. Die Vergangenheit holte sie unaufhaltsam ein. Und sie waren selber neugierig genug, sie nicht daran zu hindern! WEDA schien das erkannt zu haben. Man wäre sonst nicht dazu übergegangen, solche Lehrveranstaltungen durchzuführen. An der Straßenecke wandte er sich noch einmal um. Als erwarte er, daß irgend jemand ihm folgte – vielleicht der Arzt aus dem Hotel (er sah sein Gesicht mit der übergroßen Hornbrille und dem dichten Haar, das aus einem Nasenloch sproß, wie ein überall entstehendes Vexierbild aufblitzen, als er die Augen schloß). Ich muß mein altes Mißtrauen vergessen, ermahnte er sich. Hier ist alles anders (der Gedanke, er würde seine alte Einstellung nie mehr loswerden, erschreckte ihn). Claudia war nicht in der Wohnung, deshalb legte er das Paket auf den Küchentisch und setzte sich gleich in sein Zimmer, nachdem er sich in der Küche einen Teller mit Pflanzenwurst bereitet hatte; in einen hohen, altmodischen Korbsessel unter der Wandleuchte, der hundert Jahre alt zu sein schien. Und als er nach einer Weile unruhigen Dahindämmerns, es mußte schon weit nach Mitternacht sein, erwachte, löschte er das Licht über sich und begann, den Blick auf das efeuüberwucherte
Stadtpanorama, in dem nur noch hier und da ein Lichtpünktchen flimmerte, seine Lage zu überdenken. Er lebte mitten unter ihnen! Die Stadt jenseits des Flusses kam ihm wie eine unglaubwürdige Erinnerung vor, ein schlechter Film. Gab es sie wirklich? Gab es den Amerikaner, der wie eine Ratte im Dachgeschoß der Fabrikhalle hauste? Gab es die Purificateurs mit ihren blauen Schirmmützen über den lächerlichen Fledermausohren? Oder entsprangen sie nur seiner überreizten Phantasie? Hier entdeckte man keine Spur von ihnen. Einsamkeit machte wunderlich. Und manchmal verlor man den Verstand darüber. Sich als Wissenschaftler von WEDA auszugeben, war weitaus einfacher, als er geglaubt hatte, das zeigten seine ersten Kontakte mit den Einheimischen. Wenn er sich vorsichtig und geschickt verhielt und jeden Umgang mit Personen mied, die ihm vielleicht gefährlich werden konnten, mußte es möglich sein, eine Zeitlang unbehelligt in der Stadt zu leben. Wenigstens so lange, bis er eine annehmbare Möglichkeit gefunden hatte, sich untersuchen zu lassen. Ein ungleich höheres Risiko, nahm er an. Wenn er danach in die tote Stadt zurückkehrte, würde das geregelte Leben ihn wieder einigermaßen auf die Beine gebracht haben. Und Claudia? Ich mache mir Hoffnungen, ich mache mir wahrhaftig Hoffnungen! dachte er. Unverbesserlicher alter Narr… Der Gedanke, für immer hier leben zu können, kam ihm nicht. Es wäre naiv gewesen, daran zu glauben. Eines Tages würde man auf ihn aufmerksam werden: eine einfache Rückfrage in Lyon, sein falscher Name, das Kainszeichen hinter seinem Ohr… Aber jetzt hatte er zum ersten Mal Gelegenheit, ihr Leben nicht mehr wie ein Insektenforscher unter dem Vergrößerungsglas zu betrachten – nicht mehr aus der Ferne mit einem Feldstecher vom Dach der alten Universitätsgebäude aus, sondern er war selbst auf die Größe der Insekten geschrumpft
und zu einem von ihnen geworden. Wegen der privilegierten Rolle, die er in ihren Augen spielte, würde er sie sogar durch geschickt gestellte Fragen ausforschen können. Er war begierig, zu erfahren, wie sie in Situationen reagierten, die gewöhnlich Streit hervorriefen. Ob es Klassenunterschiede gab; wer insgeheim die Fäden der Macht in den Händen hielt. Wo die gewohnten Profitmacher steckten, die schließlich doch in versteckten Warenlagern Luxusgegenstände horteten, um sie in der neuen Stunde Null, die irgendwann kommen würde, mit Gewinn loszuschlagen. Doch insgeheim (oder immer noch nur halbherzig eingestanden) wußte er, daß es müßige Erwartungen waren. Es gab diese alten Schwächen nicht mehr. Außer ein wenig Neugier der Geschichte und Religion gegenüber, dem berechtigten Verlangen, alles darüber wissen zu wollen, und außer einigen Genkrüppeln – Unfällen, wie sie überall vorkamen – schien nichts dergleichen zu existieren.
Zweites Kapitel
1 Ein von waagerechten Rillen im Beton durchzogener Häuserwürfel mit schwarzen, Sonnenhitze speichernden Wasserrohren lag dem Straßencafé gegenüber, und mehr durch Zufall hatte er an der dem Fluß zugewandten Hauswand beim Vorübergehen ein winziges Hinweisschild mit der Aufschrift Informationscenter entdeckt. Daneben erstreckte sich ein kaum zwanzig Meter tiefer Park: die gleichmäßig zu den Mauern hin abfallende Linie schnellwachsender exotischer Bäume und Sträucher, denen es im warmen Klima an nichts zu mangeln schien. Eine Plastik, ähnlich den kubistischen Formen, die er gesehen hatte, stand wie ein Altar früherer Zeiten in der von einem Metallgitter gekrönten Parkmauer. Neue, realistisch-symbolische Kunst dachte er, während er sein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit leerte, deren Geschmack an leicht gesüßte Kuhmilch erinnerte, dem Hinweis in der Getränkekarte nach aber aus einem synthetischen Abkömmling des Lecithins bestand. Obwohl das Gebilde in der Mauer wie üblich ein DNS-Modell zeigte – leicht verfremdet hinter der Stirn eines eher affen- als menschenähnlichen Wesens – strahlte es heitere Beschwingtheit aus. Keine Spur mehr von den depressiven rostigen Eisenträgerskulpturen wie jener am Bahnhof der alten Stadt. Allerdings verbreitete es Langeweile. Es war eine Kunst ohne Spannungen. Wenn die Kunst von Konflikten lebte, von den kleinen und großen Katastrophen, dann war dies eigentlich gar keine Kunst, sondern lediglich starre Versinnbildlichung ohne
Gegensatz und Entwicklung. Doch außer Wargas schien es niemanden zu stören. Er sah von seinem Tisch aus zu, wie Einzelne oder kleine Gruppen vor dem Werk des Künstlers stehenblieben, es eine Weile versunken betrachteten, die eine oder andere Einzelheit mit interessierten Handbewegungen deuteten und dann weitergingen. Und je mehr er diesem teils lautstarken teils stummen Dialog folgte, desto stärker wurde seine Gewißheit, daß die Langeweile, die es in seinen Augen verbreitete, ganz und gar sein eigenes Problem war. Wargas erhob sich ärgerlich, um dem Informationscenter seinen Besuch abzustatten. Es interessierte ihn, zu sehen, wieviel Vergangenheit und Gegenwart man dort unterdrückte – unter den Tisch fallen ließ, weil sie nicht opportun erschien! Wer entschied überhaupt, was man wissen durfte? Und nach welchen Maßstäben? Etwa dieser kleine bleichgesichtige Theoretiker, der ›Chefideologe der Gruppe‹, wie er ihn für sich selbst nannte? Im Vestibül des Informationscenters auf einer frei an schweren geflochtenen Nylonseilen hängenden Ebene, die sich durch das Gewicht und die Schritte der Besucher ständig in leichten, aber nicht unangenehmen Schwingungen und Vibrationen befand, entdeckte er gut zweihundert auf Stellwände montierte flache grüne Bildschirme, wie man sie seit der Jahrtausendwende benutzte. Sie boten einen ständigen, endlos scheinenden Fluß von Schriften, Bildern und Filmen aus der neuen Welt. An den Tastenfeldern ließen sich Fragen eingeben, und es war möglich, abgelaufene Informationen zu wiederholen. Paternoster und steile Treppen führten in das Tief parterre. Unterhalb der hängenden Plattform vermutete er die eigentlichen Schulungsräume. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Auf den Galerien des Kathedralengewölbes, das man unter dem würfelförmigen Bau
mit seinen schwarzen Heißwasserrohren kaum vermutet hätte, befanden sich ähnliche, kleinere Bildschirme. Wargas erwartete keine Antwort auf die Frage, welche Seite für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen war. (Die Idee des Amerikaners erschien ihm doch höchst unglaubwürdig.) Trotzdem ging er an einen der freien Schirme und tippte das Wort Krieg ein. Gewalttätige Auseinandersetzung (vergl. »Gewalt«) zwischen Völkern oder größeren Gruppen in der Vergangenheit. Ursache: Gendefekte. Kriegerische Handlungen wurden in der Regel durch verantwortliches politisches Handeln und die Wahrnehmung der Willensfreiheit unterdrückt (vergl. »Innere Überwindung«). Wargas gab Geschichte der Kriege ein. Doch der Bildschirm zeigte nur: Keine Angaben. Etwas geschönt, ihre Vergangenheit, dachte er. Sie waren jetzt weniger rigoros, als noch vor einiger Zeit. Aber die Verführungskraft des alten Wissens schien in ihren Augen eine große Gefahr zu sein. Als er sich abwenden wollte, sah er neben sich ein etwa achtjähriges Mädchen mit schwarzem, hochgebundenem Haar. Es hielt den linken Arm in die zierliche Hüfte gestemmt. Der vorwurfsvolle Blick und seine prustend vorgestülpten Lippen verrieten ihm, daß es ihm zugesehen hatte. »Kannst du es besser?« fragte er. »Sie müssen einzelne Begriffe eingeben, wenn Sie etwas über den Krieg wissen wollen.« Stolz lächelnd tippte es das Wort Fallout ein. Sofort erschien eine rötliche Wüstenlandschaft, über der merkwürdig düstere und rasch ziehende Wolken die Sonne verdunkelten. Ein zugefrorenes Flußdelta tauchte auf, das erfrorene Palmen säumten. Dann wandte sich die Kamera einer Stadt zu, die von Schnee und Frost förmlich zugedeckt
war. Dünne glasartige Eisschichten bedeckten ihre Gehsteige und Fahrbahnen, an den Dachrinnen hingen Eiszapfen, und in den Fensterscheiben leuchteten Eisblumen. Es schien eine amerikanische Stadt zu sein. Gleich darauf bestätigte die Stimme des Kommentators, daß sie in Florida lag, im Hinterland Miamis. Eine Kleinstadt, die von Raketentreffern verschont geblieben war. Gigantische Staubwolken hatten nach der atomaren Katastrophe wie ein Sonnenfilter gewirkt und die Temperatur weit unter den Nullpunkt sinken lassen. Aber was Wargas viel mehr erstaunte und sofort seine Aufmerksamkeit erregte, waren die gekrümmten und zusammengesunkenen Gestalten am Straßenrand und in den Hauseingängen. Einer saß mitten auf der Kreuzung, als halte er dort seine Mittagsruhe… Doch die Kamera schwenkte schon wieder von ihm weg und demonstrierte anhand einiger Tabellen das Ausmaß und die Ursachen der Klimaverschlechterung. »Kann man das letzte Bild aus der Stadt zurückholen? Den Mann auf der Straße?« »Das ist leicht«, bestätigte sie altklug. Ihre Finger spielten mit dem Tastenbild, als habe sie nie etwas anderes getan. Der Film lief langsam rückwärts und stoppte. »Sie können eine Vergrößerung haben?« »Hol mir sein Gesicht heran!« Es war ein derbes, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht mit tiefen Falten. Lederartig, soweit man das unter der Eisschicht, die es bedeckte, erkennen konnte. Das Gesicht eines Farmers oder Landarbeiters, nahm er an. Aber der Schmerz in seinem Ausdruck, die verzerrten Züge ließen keinen Zweifel. Er hielt sich mit einer Hand den Hinterkopf. Und an seinem Kinn waren Spuren von erbrochenem Blut. Das typische Bild eines Menschen, der dem P-Meningokokkus zum Opfer gefallen war. Was bedeutete das? Hatte es sich doch um einen Angriff der Ostblockstreitkräfte gehandelt? Aber warum hätten sie mit
zweierlei Waffen kämpfen sollen? Dazu mit einer Seuche, die leicht außer Kontrolle geraten und weltweit, auch in ihrem eigenen Block, zu einer Katastrophe werden konnte? Es gab damals mehr als genügend Sprengköpfe. Er starrte schweigend auf das stehende Bild. Man hatte keine Überlebenden gewollt. Das war die Erklärung. Nur auf einem schmalen Streifen besiedelten Landes, vierzig Kilometer breit wie ein über den Atlas gelegtes Lineal schräg durch Mitteleuropa, grübelte er. Ein Plan, wie am Reißbrett entstanden. Sonst gab es niemanden mehr, außer einigen überlebenden Gruppen vielleicht in abgelegenen Tälern draußen in der Welt, die der Erreger nicht erreicht hatte. Alle anderen ein Opfer der Bomben und der atomaren Verseuchung. Und sie hatten bereits im Jahre 2001 damit begonnen, Erbanlagen ausgerechnet gegen den P-Meningokokkus zu verändern. Lange Zeit, bevor ihnen als einzigem Genetikkonzern der Geschichte der Nobelpreis für Zellbiologie zugesprochen worden war… »Ist Ihnen nicht gut?« fragte das Mädchen. Es streckte die Hand nach seinem Ellbogen aus. »Nur ein wenig schwindelig.« »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser aus dem Café holen?« »Es geht schon wieder, danke.« »Sind alle Alten aus Lyon so… ich meine, wird ihnen leicht schwindelig?« Wargas schüttelte stumm den Kopf und verließ das Gebäude. Er schwankte und hatte wieder sein Ohrensausen. Außerdem bekam er bohrende Kopfschmerzen. Es ist nur vom Starren auf den Bildschirm, versuchte er sich zu beruhigen. Die grelle Sonne draußen wirkte wie ein Schlag ins Gesicht. Sofort war es, als erhöhe sich der Druck in seinem Schädel, und er lehnte sich schwer atmend gegen den Stamm eines Papayabaums. Nicht
jetzt, dachte er… noch nicht. Ich muß erst einen vertrauenswürdigen Arzt finden. Er drehte am Knopf des Gefühlsabschalters, und der Kopfschmerz ließ nach. Eine tiefe Gleichgültigkeit überkam ihn. Es geht vorüber. Nur etwas Geduld!
Claudias Kinderhort war das flache Gebäude oberhalb der Kaskaden in einem hochstämmigen Birkenpark. Weißer Klinker ließ es zwischen den Stämmen beinahe unsichtbar werden. Sein Dach diente als Liegefläche; eine blaugetönte Glaskuppel schützte vor zu starker Sonnenstrahlung. Als Wargas die Stufen am Rande des Wasserfalls ungefähr zur Hälfte erklommen hatte, sah er Claudia hinter der wandbreiten Scheibe des Schulungsraums stehen und ihm zuwinken. Wieder war es, als begegne er ihrer Mutter. Von weitem glich sie völlig der Gestalt am Fuße der Treppe, als er Vera im Hause ihres Vaters kennengelernt hatte. Nur daß es diesmal keinen Baibach gab, der sie ihm abspenstig machen konnte. Der junge hellblonde Mann am Steuer des Wagens war zu seiner Genugtuung nicht wieder aufgetaucht. Nach allem, was er inzwischen über sie und die anderen wußte, würde es gar kein Entweder-Oder zwischen ihnen geben können: keinen Vorrang des einen vor dem anderen. Seine Eifersucht wäre ganz unbegründet gewesen, auch wenn sie, das fühlte er wohl, auf der Lauer lag wie ein vorsintflutliches Ungeheuer, ein Überlebender aus grauer Vorzeit. Er hätte einiges darum gegeben, sie seine Tochter nennen zu dürfen. Aber es gab keinen Zweifel, daß sie ein Replikat aus den Zellen ihrer Mutter war, ohne einen einzigen Tropfen seines Blutes. Die Gestalt dort hinter der Scheibe war ein Spiegelbild, und als er den Weg oberhalb der Kaskaden erreicht hatte und mit grüßender Handbewegung an dem zu ebener Erde liegenden
Raum vorüberging, wo sich zurückgebliebene Kinder in der Glasur selbstgeformter Tonvasen und Figuren übten, fiel ihm das Kind ein, das sie Borgmann zurückgegeben hatten, weil es ihnen beiden wegen ihrer Karriere im Wege gewesen war – und auch das war ein Spiegelbild, ein wahres, mit verkehrten Seiten. Es wurde ihm schmerzlich bewußt, als er den Hort betrat: Sie hatte für diese Arbeit ihre Zukunft als Ärztin in Lyon aufgegeben. Ein Gefühl der Unterlegenheit bemächtigte sich seiner. Er setzte sich in den tiefen Sessel neben der Tür und beobachtete, wie Claudia die Hand eines Kindes mit dem Pinsel führte, das unbeholfen einen Baum zu zeichnen versuchte – während ein anderes hinter ihnen – ein schon fast erwachsener Junge mit blassem Wasserkopf – von beiden unbemerkt mit gelber und weißer Kreide Strichmännchen auf ihre, Rücken malte. Es steckte blöde lächelnd den Daumen der anderen Hand ins Ohr. Und als es sich von ihm entdeckt sah, warf es einen Farbtopf um – sein Inhalt ergoß sich über den Boden – und verbarg die Hände mit den Kreidestücken hinter seinem Rücken. Das sind die Ausnahmen, die Unfälle, dachte Wargas. Es gibt keine Vollkommenheit. Als Claudias Ablösung gekommen war, nahmen sie den unterirdischen Magnetbahnwagen zur Stadtmitte. Er hatte das Bedürfnis, sie zum Essen einzuladen. Aber solche Gedanken gehörten der Vergangenheit an. Da man alles umsonst erhielt, war es ausgeschlossen, sich auf so billige Weise Sympathie zu erkaufen. Er hatte erfahren, daß es an einigen Artikeln mangelte – an Kaffee, Arzneimitteln, an simpler Baumwolle, weil die Maschinen zur Bewirtschaftung der Felder fehlten –, und irgendein Narr hatte versucht, solche Mangelware gegen einige illegal gehortete Bücher einzutauschen, die aus der alten Stadt stammten. Doch sein Versuch war kläglich in den Anfängen
steckengeblieben. Es gab zu wenig Interessenten für verbotene Geschäfte. Er fühlte sich hilflos, unterlegen, wenn er sich vorstellte, immer hier leben zu müssen. Er schleppte seine Vergangenheit wie einen Makel mit sich herum (und im Grunde war dies ein bohrenderer Schmerz als seine Schwindelanfälle, das Flimmern vor seinen Augen, die Dunkelheit, das Ohrensausen, der chemische Geschmack in seinem Mund, denn es traf ins Zentrum). Morgens, im Badezimmer, war ihm die Hand ausgerutscht, als sie ihn von der Türschwelle aus beobachtete und er mit seinem Hängebauch, seinem teigigen, weißen Gesicht, der halb heraufgezogenen Hose und dem verfilzten Perückenhaar einen lächerlichen Anblick bot. In ihrer Miene glaubte er etwas wie Amüsiertheit zu entdecken. Erst viel später erkannte er, daß es nur hineingedeutet war. Er hatte es als Demütigung empfunden, als sie sagte: Wir haben uns von der äußeren Erscheinung gelöst – du darfst nicht glauben, daß es uns etwas bedeutet. Die Alten sollen darin sehr empfindlich gewesen sein? Mit einer Geste ungläubigen Erstaunens hatte sie ihren Mundwinkel abgewischt und die dünne Blutspur an ihren Fingerspitzen betrachtet. Kein Wort des Tadels, keine Andeutung von Vergeltung. Voller Argwohn nahm er zur Kenntnis, daß die Angelegenheit damit für sie vergessen und erledigt war. »Hast du jemals Alkohol probiert?« fragte er, als sie in die Straße zum Informationscenter einbogen. »Nein, was ist das?« »Ein Getränk. Es berauscht.« »Ein Rauschgift?« »Ja, so kann man es nennen.« »Wir brauchen es nicht, wir sind nicht darauf angewiesen. Man hat uns die Eigenschaft eingepflanzt, unangenehme
Gefühle und Stimmungen durch einfachen Vorsatz zu beseitigen. Ihr Zweck ist erfüllt, wenn sie uns auf das aufmerksam gemacht haben, was sie anzeigen sollen.« »Einfach so?« fragte er zweifelnd. »Man muß es lernen. Es ist Übungssache. Aber wieso weißt du nichts davon?« Sie musterte ihn nachdenklich. »Ich bin vielleicht in der letzten Zeit etwas vergeßlich«, sagte er und griff sich mit einer unbewußten Geste an den Kopf, wo der Gefühlsabschalter saß. »Das Alter.« Seine Finger strichen die Perücke über dem Haaransatz zurecht. »Und Schmerzen? Wie steht es mit starken Schmerzen?« »Nicht anders. Man stellt sie ab. Es ist… ja, es ist eine gewisse Art der Konzentration. Ihr ganzes Geheimnis liegt darin, den richtigen Punkt zu finden. Allerdings darf man nicht nur das Symptom beseitigen, sondern muß Verantwortung seinem Körper gegenüber zeigen, man muß die Krankheit heilen. Sonst wird es zur bloßen Flucht. So wie ein indischer Vogel, der sich vollständig…« Sie hielt inne und schwieg verlegen. »Wieso bis du so gut in der Geschichte bewandert? Stammt es aus dem Informationscenter?« »Nein, es…« »Ja?« »Ich möchte nicht darüber reden.« Sie hat es von ihren verbotenen Ausflügen in die Stadt, dachte er. Und sie brachte es nicht fertig, zu lügen. Sie hätte leicht vorgeben können, wenn schon nicht aus dem Informationscenter, habe sie es aus einer Lehrveranstaltung oder Schulungssendung. »Es ist nicht wichtig.« Er versuchte ein Lächeln (aber es kam ihm verunglückt vor). »Schließlich haben sich die Sitten gelockert, man erfährt so allerlei. Ich meine: Ich weiß, daß es
verschiedene Quellen gibt, die… nun sagen wir, die nicht ganz erlaubt sind.« »Man weiß das in Lyon?« »Es wird darüber diskutiert.« Sie blieb ungläubig stehen. »Keine Sorge. Diese Seelenbänke, mit denen man euch Angst einzujagen versucht, sind wohl nur mehr oder weniger martialisches Gerede, oder?« Es war eine versteckte Frage, aber sie ging nicht darauf ein. »Sehr viele Menschen hier haben sich zusammengetan und kleine Gruppen gebildet, in denen das alte Wissen besprochen wird, manche inoffiziell. Ich würde dich gern zu einer dieser Veranstaltungen mitnehmen? Du könntest dort über ein Thema reden?« »Ich glaube nicht, daß ich…« »Es sind gute Freunde, gute Zuhörer.« »Was ihr von mir lernen würdet, ist nicht der Rede wert – sogar schädlich.« »Wir wären für alles dankbar. Bücher und Filme sind tot, sie sprechen ihre eigene Sprache.« »Ein andermal vielleicht.« Sie legte ihre Arme um seinen Hals und war plötzlich ganz dicht bei ihm. Es überraschte ihn so, daß seine Hände einen Augenblick lang erstarrt in der Luft verharrten, dann schlossen sie sich um ihre Schultern, und er spürte, wie ein lange nicht gekanntes Gefühl seine alten Knochen durchströmte. Ihr Gesicht an seiner Wange war warm, und ihre ruhigen Atembewegungen erinnerten ihn an Vera. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatten die körperliche Liebe abgeschafft. Es gab Zärtlichkeiten, aber die Empfindungen frührer Zeiten würden ihnen nicht zugänglich sein. (Konnte man es ihnen beibringen? Konnte man
sie erwecken? Vermutlich war das ein unverantwortlicher Versuch: wie der eines Trapezkünstlers ohne Trapez.) »Du würdest mir und meinen Freunden einen großen Gefallen tun. Es gibt soviel Wissen, das uns fehlt.« »Zum Beispiel?« fragte er. »Nun, über…« »Religion?« »Auch über Religion, ja.« Sie drängte sich noch dichter an ihn; das verwirrte ihn und machte ihn unbesonnen. Vielleicht war es eine Flucht nach vorn, als er ohne einen Funken Überlegung fragte: »Sind eure Messen drüben in der alten Stadt nicht Religion genug? Eure geheime Kellerbibliothek unter der Sakristei…« Sie ließ ihn jäh los und trat einen Schritt zurück. »Davon weißt du also?« In ihrem Blick war soviel Bestürzung, daß ihm seine Unbedachtsamkeit sofort leid tat. »Aber ich verstehe nicht… wieso ist es geduldet worden, wenn man…?« fragte sie hilflos. Er hatte Schwierigkeiten, sich herauszureden. »Ein Zufall. Ihr wurdet beobachtet. Mach dir keine Sorgen! Niemand wird dich oder die anderen dafür zur Rechenschaft ziehen.« Wargas griff nach ihrem Handgelenk; ein wenig zu hart, bemerkte er ärgerlich. »Laß uns jetzt zu dir nach Hause gehen!« Dann wurde ihm bewußt, daß sie gar nicht wissen konnte, was das in der Vergangenheit gewöhnlich bedeutet hatte. »Es ist gut«, sagte er, um eine Konzession zu machen. »Ja, ich werde kommen. Ich könnte über die Zeit vor der Katastrophe reden. Ich werde euch sagen, was ihr wissen wollt. Alles.« (Und noch mehr, dachte er. Wer höher steigt als er sollte, fällt tiefer als er wollte.) »Nein, ich…« »Gehen wir.«
Sie zögerte, und er ließ sie stehen. (Es war sein untrüglicher Instinkt für den immer gleichen Ablauf solcher Szenen.) Vor ihnen erhob sich die Wand des Informationscenters mit ihren schwarzen Heißwasserleitungen. Seine Gedanken erschienen ihm wie diese Sonnenhitze speichernden Leitungen dort oben, die sich aus den breiten Zuleitungen verzweigten und in Boiler einmündeten; nur daß sich ihre Energie nicht in Explosionen und Handgreiflichkeiten entladen würde. Nach einigen Schritten wandte er sich zu ihr um. Sie folgte ihm, wie ihm Vera gefolgt war: mit demselben halb matten, halb begierigen Ausdruck des Verlangens, zu erforschen, wer sie sei.
2 Er lag in dem halbverdunkeltem Zimmer wie das Urbild jenes Liebhabers, der zwar seine eigenen Ziele erreicht, aber keine Gegenliebe gefunden hatte (nicht jene Art der Liebe, die so unendlich viel einfacher zu erlangen war, als der für die Alten unerfüllbare Anspruch, den sie eigentlich meinte). Er lag auf dem Rücken neben ihr und hörte ihren ruhigen Atem. Die bewegte Kunststoffjalousie ließ Lichtstrahlen über das weiße Mobiliar und ihre aufgerichtete Schulter tanzen. Seine Hand zuckte zurück, als sie sich ihr genähert hatte. Liebe ohne Körperlichkeit? War das kein Hirngespinst (eine Einbildung, die einem erfahrenen Arzt und Menschenkenner höchstens ein abschätziges Lächeln entlocken konnte)? Er betrachtete ihre ungeschminkten Züge – ihr Stirnband war neben dem Bett zu Boden gefallen, und das makellose Gesicht dort auf dem Kissen erschien ihm anziehend und leidenschaftslos zugleich. Das Körperliche schien seine Allmacht verloren zu haben. Er hatte ihr die Liebe beibringen
wollen, aber sie war die Liebe. Es gab genügend Zeichen: die Art ihrer Hingabe, und wie sie auf seine Impulsivität und seine Empfindlichkeiten reagierte. Und sie hatte es auf noch augenfälligere Weise bewiesen, als sie ihm gestand, daß ihre Finger auf den geriffelten Stift in seinem Haar gestoßen waren, auf das Kainszeichen: »Du bist nicht aus Lyon… Deshalb weißt du so wenig über uns. Deshalb all die Fehler, die Lügen, darum konntest du uns beim Gottesdienst beobachten. Du kommst aus der alten Stadt. Aber hab’ keine Angst, ich werde dich vor den Purificateurs beschützen. Hier bist du sicher.« Er hatte versagt, wenn man in alten Begriffen dachte. Aber in neuen Begriffen war es der Sieg über die Abhängigkeiten des Geschlechts. Jene Schalheit danach konnte sich nicht einstellen. Nicht die immer gefräßige Begierde, die ständige Suche, der ewig unerfüllte Wunsch, der immer zwei Schritte voraus war – und der vier Schritte voraus sein würde, wenn man zwei Schritte aufholte. Die Tage danach brachten ihn um so mehr auf – gegen sich selbst, gegen sie, gegen alles –, als er diese lächerliche Zusage gemacht hatte, vor ihrem Kreis zu reden. Es war riskant. Wie ein unruhiges Tier durchstreifte er die Wohnung. Ein einziges unbedachtes Wort konnte ihn verraten. Würden alle schweigen können? Seine Unzufriedenheit und sein Unterlegenheitsgefühl mochten der eigentliche Anlaß dafür sein, daß er das ganze System anzuzweifeln begann… Wie er selbst, wußte sie keine Antwort auf seine Frage – keine befriedigende Antwort –, was WEDA berechtigte, so tief in die Erbanlagen des Menschen einzugreifen, Lebewesen nach ihrem Bild, nach ihren Vorstellungen und Plänen zu erschaffen. Wer entschied darüber, ob dieses Bild wünschenswert war? Mit welchem Recht nahm man ihnen die Freiheit, so zu zeugen, wie es immer geschehen war? Wer wußte, ob ihre Replikate auf Dauer
lebensfähig sein würden, über viele Generationen hinweg? Wer konnte guten Gewissens eine Gesellschaft befürworten, deren Zukunft von technischen Krücken abhing? Denn weil man ihnen die natürliche Zeugungsfähigkeit genommen hatte, weil man unkontrollierten Geburten und unerwünschten Erbmustern vorbeugen wollte, würde sie sofort verschwinden, wenn die Technik dazu verschwand. Eine Katastrophe war jederzeit denkbar. Aber vor allem: Falls sich seine Vermutung, die Idee des Amerikaners, bewahrheitete – was, im Namen der Menschlichkeit, hatten sie getan? Welche Ideen und Umstände konnten so viele Opfer rechtfertigen? Er machte Claudia keine Andeutungen über seinen Verdacht. Er wußte nicht, wie sie auf eine solche Ungeheuerlichkeit reagieren würde. Die Bilder aus der amerikanischen Stadt sprachen eine deutliche Sprache. Alles, was sie auf seine Zweifel zu antworten wußte, war, daß die Katastrophe ihnen keine Wahl gelassen hatte. Und daß die Berichte in den alten Geschichtsbüchern von Greueltaten wimmelten. Daß diese Gesellschaft so unendlich viel friedlicher war (und langweiliger, dachte er), als alles in der vorausgegangenen Zeit. Daß die Bevormundungen WEDAs dagegen eine geringe Rolle spielten. Daß sie das Beste wollten. Und daß sie – ein Satz, den sie in einem der verbotenen Bücher aufgeschnappt hatte – »die Zügel lockerließen und das Pferd selbst die Richtung nach Hause fand, wenn es sich an seinen Weg gewöhnt hatte«. Der Tag kam, an dem er sich lieber todkrank gestellt hätte, als ihr zu ihren Freunden zu folgen. Er sah das dicke Mädchen wieder, den ›Priester‹, und auch den blonden Jüngling, der mit ihr im Wagen gesessen hatte (er versuchte ihn nicht als Rivalen zu betrachten, doch das war leichter gesagt als getan – schon die Erwartung, ihm wie den anderen unterlegen zu sein, ließ die alte
Natur in ihm rebellieren). Es mochten an die fünfzehn bis zwanzig Personen sein, er zählte sie nicht. Ihre Wohnung lag im Dachgeschoß. Aus einem der Fenster sah man die weiße Fassade des Observatoriums, und dahinter stand, in seinem quadratischen Park wie ein altes Museum, das fast unscheinbare grüne Keramikgebäude der Seelenbank. Die Wohnung besaß zwischen dem Salon und der Küche eine gläserne Schiebetür, so fanden alle Platz. Jemand postierte sich unauffällig an der Haustür, um ungeladene Besucher abzuwimmeln. Man schien anzunehmen, daß er aus der Schule plaudern und mehr über WEDAs Pläne und Ziele mitteilen würde, als üblich und erlaubt war. Die schrägen Wände, die mit dunklen Tüchern verhängten Fenster, das fahle Licht, die erwartungsvollen Blicke der Anwesenden im Halbkreis um Wargas auf den Stühlen erzeugten eine verschwörerische Atmosphäre, die ihm sofort den Schweiß auf die Stirn trieb. Seine halbe Rede über, während alle Augen an seinen Lippen hingen, hatte er das unbezwingbare Bedürfnis, sich unter der Perücke zu kratzen, und seine Finger glitten manchmal in die Nähe des Stiftes hinter seinem Ohr, obwohl schon der Gedanke daran leichtsinnig war. Ein Vortrag, der Konzentration erforderte, versandete ohne Gefühle. Er brauchte die Befriedigung einer gelungenen Wendung. Er brauchte Motivation durch Begeisterung, und die Gedanken wurden blaß und nichtssagend, als seien sie mechanisch, wenn sie nicht durch Gefühle unterstützt wurden: es fehlten dann wesentliche Teile. Man vergaß ganze Zusammenhänge, weil das Gefühlsfeld nicht existierte, von dem sie zehrten. Während der anderen Hälfte seiner Rede kam er gar nicht mehr dazu, der Versuchung nachzugeben. Man stellte Fragen, man unterbrach ihn, sobald ein unbekanntes Wort fiel. Anscheinend hatten sie sich WEDAs Wissenschaftler als Ungeheuer oder menschenverschlingende Fabelwesen
vorgestellt, die schwer an der Last ihrer unseligen Veranlagungen trugen, und waren nun erstaunt darüber, daß sie wie gewöhnliche Menschen redeten. Die Schrecken der Vergangenheit, soweit sie ihnen bekannt geworden waren, mußten ihr Verhältnis zur alten Wissenschaftlergarde in Lyon getrübt haben. Waren sie ihnen einstmal als ›Väter‹, als ›weise Alte‹ erschienen, so überwog jetzt in ihren Fragen Skepsis. Er sprach über den Kinderhandel, die Überbevölkerung, über Rüstungsspiralen, Ölkriege, den Hunger, das Baumsterben der neunziger Jahre. »Erklären Sie uns die Eifersucht«, forderte jemand. Wargas sah ihn nicht, da er hinter den Köpfen der dritten Reihe versteckt blieb. »Ich würde ungern über so abstrakte Themen reden. Lieber über konkrete Geschichte, über Daten, Fakten…« »Wenn Sie zu uns sprechen, sollten Sie alles sagen«, meinte das dicke Mädchen vor ihm auf dem Stuhl. »Es gibt keine Tabus«, sagte jemand von der Seite. »Es sollte keine geben«, ergänzte die Stimme in der dritten Reihe. Wargas erinnerte sich jetzt, daß er Gast im Hotel gewesen war: ein Bursche mit den Zügen eines Engels und Fledermausohren. Seine auffallenden Ohren waren ihm bisher verborgen geblieben, da er eine weiche Leinenmütze getragen hatte. Schon an den Tischen des Frühstücksraums hatte er ihm manchmal fragende Blicke zugeworfen. Der Schreck durchzuckte ihn, es könnte sich um einen Säuberer handeln. War es nur eine Provokation, um ihn aus der Reserve zu locken? Er begann langsam und umständlich darüber zu reden, was WEDA zu einer ›dosierten Preisgabe‹ des alten Wissens veranlaßte. Da er ihre wirklichen Argumente nicht kannte, erfand er welche. Er räusperte sich und suchte nach Worten: »Zwei Dinge sind es, die Tabus notwendig erscheinen lassen: Wenn man den Gedanken des Vorbildes anerkennt, dann gibt es
nicht nur positive, sondern auch negative Bilder… die Geschichte ist nun – zugegeben – wenig erfreulich, was die Ideale anbelangt. Will man Tabus lockern, so muß man erproben, zu welchen Reaktionen ihre Preisgabe führt. Man muß schrittweise vorgehen…« Claudia nickte ihm aufmunternd zu, und das ermutigte ihn, fortzufahren: »Eines Tages, ich denke, in nicht allzu langer Zeit…« »Wir sind gefeit gegen solche Versuchungen«, unterbrach ihn jemand, der im zustimmenden Gemurmel der Gruppe nicht ohne weiteres auszumachen war, mit deutlicher Ironie. »Die Schöpfer unterschätzen ihre Geschöpfe«, rief ein anderer. »Sind Geduld und Toleranz nicht etwas, das man Ihnen ebenfalls eingepflanzt hat?« fragte Wargas. »Man hat uns auch ein starkes Empfinden dafür gegeben«, meldete sich der Mann mit dem Vollbart, »Sinnlosigkeit zu meiden. Wir sind gegen eingeschränktes Wissen, weil wir stark genug sind.« »Sagen Sie das Ihren Kollegen in Lyon«, ergänzte das dicke Mädchen. »Man soll uns verstehbare Gründe nennen. Dann sind wir bereit, zu warten.« Das allgemeine Gemurmel steigerte sich. Er bekam es mit der Angst zu tun. War er nicht im Begriff, eine Rebellion anzuzetteln, die sich unmittelbar gegen ihn wenden konnte? Er hob beschwichtigend die Hände und gab Claudia ein Zeichen. Dabei versuchte er aus dem Kreis zu treten. »Tut mir leid. Ich werde Ihre Einwände vortragen. Bis dahin herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit…« Er bahnte sich einen Weg durch die Arme, die sich ihm entgegenreckten. Jemand zog aufmunternd an seiner Jacke. Das Mädchen neben ihm forderte: »Sprechen Sie weiter!« Die Schulter eines großen Kerls streifte seine Perücke, und er bemerkte entsetzt, daß sie hochgerutscht war,
ihre rechte Kotelette hing über seinem Ohr wie ein nasses Filztuch. Er drückte sie an. Dann nahm er Claudia bei der Hand. »Tut mir leid…« Draußen lehnte er sich aufatmend gegen die Flurwand. »Du hast zu früh aufgegeben«, meinte sie ohne Tadel und strich ihm lächelnd über die Stirn, als sei er ein großer Junge. »Du bist impulsiv. Eine Kombination von Unbesonnenheit und mangelndem Durchhaltevermögen. Z-Y-Gene der Variante 12-13 in der Sprache der Mikrobiologie.« Besorgt registrierte sie seine finstere Miene. »Aber nimm es nicht tragisch.« Mit einer unwirschen Handbewegung drückte er ihren Arm weg. Die Wahrheit war schwer zu ertragen. »Laß uns gehen… laß uns von hier verschwinden!« »Niemand hindert uns daran.« »Ein Sturm im Wasserglas. Sie wollen die Freiheit.« »Du hättest mich nicht in diese Situation bringen sollen.« »Ja, es war unbedacht von mir.« Daß sie einlenkte, steigerte seinen Zorn. Er ging einige Schritte voraus und achtete nicht darauf, ob sie ihm folgte. Über dem Dach der Seelenbank blinkte jetzt eine in Girlanden eingehüllte Leuchtreklame mit der stilisierten Darstellung des Gehirnwellenblockierers: eine kopfförmige Kappe aus goldund silberfarbenen Linien, in deren Mitte sich – wohl als Symbol der Seele – ein aus den Farben des Regenbogens zusammengesetztes Oval befand. »Sieh dir dieses Ding an!« sagte er. »Man will euch glauben machen, die Seele existiere weiter. Sozusagen als Konserve. Das ist alter Priesterunsinn. Ein Märchen, wie man es in früheren Zeiten benutzte, um das Volk gefügig zu machen. Man hatte ihm soviel von dem genommen, was ihm im Diesseits zustand, daß es die Hoffnung auf das Jenseits brauchte.« »Es ist eine Seelenbank«, sagte sie und blieb stehen. »Man hat dir diesen Unsinn eingeredet?« Er lachte.
»Sie lebt dort weiter, in gewissem Sinne.« »Etwa körperlos?« »Gewiß. Aber auch nicht ohne ein… nun ja, ohne eine Art Gefäß, einen Träger.« »Reden wir nicht mehr darüber«, sagte er unwillig und ging achselzuckend weiter. »Als technisches Prinzip wurde es erst vor wenigen Jahren soweit vervollkommnet, daß es praktisch nutzbar sein wird. Laß uns hineingehen, ich werde es dir erklären.« Ein einzelner Mann in hellem Sommeranzug saß seitlich der Portalnische an einem winzigen Tisch – wie ein Kartenabreißer früherer Zeiten, dachte Wargas. Aber seine Aufgabe schien die Bedienung des Schaltpults der automatischen Überwachungsund Reinigungsanlage zu sein, denn er deutete nur freundlich nickend in den grünen Keramikgang, der durch Sensoren stückweise vor ihnen in gedämpftes Licht getaucht wurde, als sie sich einige Schritte in ihn hineinbewegt hatten. Klimatisierte Luft schlug ihnen entgegen. Wargas fröstelte (er musterte Claudias Arme, doch trotz ihres ärmellosen Kleides bemerkte er keine Gänsehaut). Er hatte den Eindruck, ein modernes Totenhaus zu betreten. Rechts und links in den Wänden befanden sich schwach beleuchtete Glaskästen mit gekühlten Platinen, kaum größer als Handflächen. Jede der von goldenen und silbernen Adern durchzogenen Kunststoffplatten lag, als wolle man den Eindruck verwischen, sie seien nur elektronische Steuerteile aus dem Innern gewöhnlicher Computer, auf tiefblauen Samtdeckchen in elfenbeinartigen und mit Ornamenten verzierten Schreinen. Ein Bildschirm an der Hinterwand zeigte vergrößerte Ansichten der Schaltbilder und endlose Reihen untereinander verbundener Mikrochips, sobald sie in den Bereich zweier Sensoren traten.
»Vor Jahren noch glaubte man, den ganzen Menschen einfrieren zu müssen, um ihn eines Tages wiedererwecken zu können. Solche Versuche sind fehlgeschlagen.« Sie zeigte auf eine der Platinen: »Dies ist eine exakte elektronische Kopie der Schaltwege des Gehirns und Nervensystems einschließlich aller Zellinformationen, wie sie für das Finder-Verfahren zur Erbübertragung benutzt werden. Die Solarzelle in der Mitte liefert Energie zur Speicherung des Gehirnwellenzustands vor dem Tode. Es sind alle Daten, die das Individuum zu dem machen, was es ist: Erinnerungen, Wille, Intelligenz, Charakter, Gefühlsweisen, Triebe. Jede dieser Platinen ist die exakte Kopie eines Seelenzustandes einschließlich aller bisher bekannten Funktionen. Und es ist mit geringer Fehlerquote möglich, sie durch das Finder-Verfahren in die Erbinformation eines beliebigen Zellkerns einzubringen. Solange diese Datenbank erhalten bleibt, ist jedes einzelne Individuum unsterblich.« »Und das Bewußtsein…?« Er berührte eine der Scheiben mit der Handfläche. Sofort warnte eine aufblinkende Leuchtschrift an der Rückwand des Glaskastens vor Erschütterungen und Temperaturerhöhungen. »Die Wärme deiner Hand«, sagte sie. »Vorsicht! Es ist hochempfindliche Elektronik, deshalb die starken Scheiben. Das Gehäuse schwebt in einem erschütterungsfreien Magnetfeld.« »Haben sie Bewußtsein?« »Nein.« »Also nichts als tiefgekühlte Daten!« »Es sind Kopien, und sie sind zum Stillstand gekommen. Sie denken nicht. Wozu auch?« »Was geschieht bei einem Erdbeben?« »Ein Erdbeben könnte alles zerstören.« Also doch eine Seelenbank? Kein Märchen? Hatte er ihre Gutwilligkeit unterschätzt? Waren sie die würdigen Erben der
Vergangenheit, das beste, was ihnen allen nach der Katastrophe hatte zustoßen können? Ein unerhörter Glücksfall? Eine unvoraussehbare Wendung des Weltgeschicks? Oder waren sie, wie so viele vor ihnen, der Macht und der Hybris verfallen? Wargas lief mit langen Schritten an den Glaskästen entlang, zweifelnd und überrascht zugleich: ein in seinen Argwohn und Unglauben eingesperrtes Tier, das durch Scheiben wie durch Gitterstäbe in die Freiheit sah. Lichter erloschen in seinem Rücken und flammten vor ihm auf. Längst war der Gang hinter ihm in Dunkelheit versunken, Claudia an einer Biegung zurückgeblieben. Seine Schritte hallten auf dem Keramikboden. Gang um Gang die immer gleichen matt beleuchteten Glaskästen. Wie Brutkästen in kaltem Licht, wären es nicht Särge gewesen. Er schlug mit der flachen Hand gegen eines der Fenster, und eine quäkende Sirene heulte auf, bis er sich aus dem Bereich der Sensoren entfernt hatte. Opfer der Purificateurs! Mißliebige, die nicht ins System paßten! Hier wäre er also gefangen, wenn sie ihn gefaßt hätten: die elektronische Kopie eines Seelenzustandes – hier würde er enden, wenn er weiter solche Unvorsichtigkeiten beging, wie den Vortrag eben. Sie wollen die Freiheit, hatte Claudia gesagt. Wer wollte das nicht! Und wenn er und die anderen zuviel davon verlangten? Endeten sie dann hier? Auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen WEDAs ausgeliefert? Schließlich blieb er schwer atmend stehen. In seinen Ohren sauste es. Er wußte nicht, wie weit er gelaufen war. Vor ihm fiel Laternenlicht in den Gang, vom Parkweg, nahm er an. Dann kam eine Biegung, die Decke erweiterte sich zum Keramikgewölbe des Portals, und er sah Claudia im Eingang neben dem Tisch stehen. Der Mann am Schaltpult wandte ihm sein Gesicht zu, er drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger.
»Sie wollen doch nicht, daß diese armen Seelen auf ihre verdiente Auferstehung verzichten müssen, wenn es soweit ist?« Offenbar hatte er das Einsetzen der Warnanlage auf seinem Bildschirm verfolgt. »Wenn es soweit ist? Was meinen Sie?« fragte Wargas und zuckte verständnislos die Achseln. Der andere schwieg. Er musterte ihn erst prüfend, dann voller Nachdenklichkeit. »Gehen wir, komm… bitte komm jetzt!« sagte Claudia und zog ihn eilig weiter. Sie gingen den Parkweg entlang, bis sie in der Querstraße und vom Eingang aus nicht mehr zu sehen waren. »Was meint er damit?« fragte Wargas. Er blieb argwöhnisch stehen und schüttelte sie an den Schultern. »Was wird eines Tages soweit sein?« »Habe ich das nicht gesagt?« Sie strich sich verwirrt über die Stirn. »Es ist merkwürdig. In deiner Gegenwart bin ich unkonzentriert und vergeßlich…« »Mein schlechter Einfluß. Der Einfluß der Alten. Übertragung«, sagte er mit deutlichem ironischem Unterton. Aber sie nahm es offenbar ernst. »Ja, es muß etwas mit Übertragung zu tun haben. Es gibt ein Gesetz. In Lyon nennen sie es ›Das Prinzip von Hell und Dunkel‹. Manchmal heißt es auch ›Das Hell-Dunkel-Prinzip‹. Und sie meinen damit, daß nicht das Licht das Dunkel aufhellt, wie es gewöhnlich geschieht, sondern daß die Dunkelheit das Licht verschlingt, im übertragenen Sinne. Es ist der unselige Einfluß der Vergangenheit, die dunkle Seite der Seele. Wir können euch nicht helfen. Aber ihr könnt uns verderben.« »Unsinn«, erwiderte er verächtlich. »Nichts als Übertreibungen. Sag mir, was er gemeint hat!« Wargas schüttelte sie wieder.
»Du tust mir weh…« Sie machte sich los. »Es ist die Reaktivierung. WEDA arbeitet noch daran. Bisher kann man Anlagen von Kopien nur verpflanzen. Das Leben kommt von selbst. Aber wenn man Teile der Anlagen ersetzt, ist es nicht dasselbe wie der Austausch aller kopierten Erbinformationen im Zellkern des Embryos, es sei denn, man verwendet keine elektronischen Kopien, sondern lebende Kerne. Entfernt man alle Informationen, verschwindet auch das Leben. Was man nicht weiß, ist, wie ein vollständiges System in Bewegung gesetzt wird – wodurch es zu arbeiten beginnt – was es bewegt… Hast du mich verstanden?«
3 Beim Rasieren, wenn er in seinem abgetragenen Unterhemd vor dem Spiegel stand, versuchte er sich mit der Gestalt anzufreunden, die ihm dort entgegensah: mit seinen stark behaarten Oberarmen, dem teigigen Gesicht unter der kahlen Kopfschwarte, dem kränklichen Schimmer in seinen Pupillen. Er hatte sich immer als häßlich empfunden; jetzt, zu unverhoffter Gemeinsamkeit gekommen, wurde er von der Idee verfolgt, sie täusche ihm ihre Zuneigung nur vor. Aber der Gedanke, andere müßten unter seinem Selbsthaß leiden, widerstrebte ihm kaum weniger. Es war unmöglich, ruhig zu bleiben, wenn sie ihm zusah. Eine zwiespältige Situation – er fühlte sich hin und her gerissen. Das silberne Ding hinter dem Ohr, seine Flucht in die Gefühlsleere, stieß ihn plötzlich ab: eine technische Krücke, die Schwierigkeiten nur unterdrückte und sie zu anderer Zeit um so heftiger wiedererstehen ließ – als wirke eine geheimnisvolle Macht daran, alles, was er aus der Waagschale nahm, mit penibler Sorgfalt wieder aufzulegen, sobald seine Stunde gekommen war. Ein Spiel, das er nicht
gewinnen konnte. Bei der Morgentoilette verschloß er jetzt manchmal die Badezimmertür. Des Nachts fuhr seine Hand oft zum Kopf und verkrampfte sich in seinem falschen Haar, als könnte es zwischen dem Bettzeug verlorengehen, und er würde in seiner ganzen Häßlichkeit daliegen, wenn das Mädchen neben ihm erwachte. Am vergangenen Abend war etwas Ungewöhnliches passiert. Er hatte wütend und unbedacht reagiert, weil sie nicht auf seinen Vorschlag eingehen wollte, nur noch halbtags im Kinderhort zu arbeiten. Zuerst war die Streitlust über ihn gekommen wie ein tropischer Regenguß, aufbrausend und abkühlend zugleich. Und dann hatte er plötzlich Angst empfunden: tiefe, ausweglose Angst. Nicht einmal, während er von den Säuberern gejagt wurde, hatte er eine solche aus dem Nichts hervorbrechende Irritation erlebt, die ihm den Atem nahm und jeden vernünftigen Gedanken abtötete. Regungslos – als lausche er wie der Eingeborene eines primitiven Stammes auf ein fernes Donnergrollen, dessen Ursache rätselhaft war, stand er in dem niedrigen Zimmer des Dachbodens, wo sie ihr kleines Labor eingerichtet hatte, unfähig, ein Wort herauszubringen. Er wollte, daß sie bei ihm blieb. Die Abende allein genügten ihm nicht. Noch immer kam es ihm unwahrscheinlich vor, daß sie gerade ihn auserwählt haben sollte. Und daß sie dabei der anderen glich, ohne mit jener strapaziösen Besessenheit ihren bösen Neigungen auf der Spur zu sein – ohne ihre Sprunghaftigkeit; und ohne ihr übertriebenes Gebaren der Vergebung, wenn sie schließlich einlenkte. An einem Nachmittag vor drei oder vier Tagen hatte er sie mit dem Jungen am Arm in die Sporthalle gehen sehen. Es mußte nichts besagen… oder spielte man ihm etwas vor?
Er stellte sie deswegen nicht zur Rede. Er wäre sich schäbig vorgekommen. Aber sein Ärger war wie ein Gefäß, das sich langsam füllte. Als es überlief, warf er ihr vor, ihre Zeit mit Arbeiten zu vertun, die nur eine lächerlich gering anmutende Wiedergutmachung sein konnten. Eines Tages würden diese Kinder fragen, welche Vermessenheit für ihr Gebrechen verantwortlich war. Welche Idee ihr Leiden rechtfertigte. Er bezichtigte WEDA, dem wissenschaftlichen Spieltrieb verfallen zu sein, dem unbedachten Pfuschen in den Geheimnissen der Natur, bis die Welt in Stücke flog. Schon jetzt hatten sie die ersten Scherben zu kitten. Aber sie ließ sich nicht herausfordern. Seine Angriffe prallten an ihr ab wie an jemandem, der lacht, während man auf ihn einschlagen will. Sie verfügen tatsächlich über die Fähigkeit, Gefühle zu kontrollieren, dachte er – und als müsse er ihren fehlenden Gefühlsausbruch auf irgendeine Weise aus eigener Kraft ausgleichen, hatte er plötzlich Angst empfunden…
Drittes Kapitel
1 Er trug ein Tablett mit geröstetem Pflanzensalat ins Zimmer. Eine Kanne synthetische, süße Milch, das übliche Getränk dazu, stand noch dampfend in der Küche. Er hatte sie aus einem Dosenkonzentrat angerührt, aber sie sollte ebenso nahrhaft und gesund sein wie Muttermilch. Nach und nach gelang es ihm immer besser, ihre ungewohnten Speisen anzurichten. Und er gab sich alle Mühe, wenigstens darin anstellig zu sein. Innerhalb weniger Tage lernte er es, fleischlose Kost anzurichten, den Nährwert synthetischer Getränke zu bestimmen und gekochte oder gebratene Pflanzenmasse so mit vorgefertigten Aromamischungen zu würzen, daß sie den klassischen Geschmackskompositionen von ›Ungarisches Gulasch‹, ›Schildkrötensuppe‹ oder ›Argentinischem Hüftsteak‹ entsprach. Claudia saß mit angezogenen Beinen auf der Couch und tippte Angaben in einen kleinen Wahlcomputer. Ihre Fingerspitzen brauchten nur eine der vorgeschlagenen Lösungen zu berühren. Der Apparat analysierte dann anhand ihres Fingerabdrucks, ob das gewählte Ergebnis berechtigt war, in die Auswertung einzugehen. Es handelte sich um Teilnehmerlisten für die Reise zum zentralen Beratertag in Lyon, um turnusmäßige Umbesetzungen in der Stadtbehörde, aber auch um Vorschläge für verbesserte Charaktertests. Eine andere Frage betraf die Züchtung winziger, hochintelligenter Affen. Sie sollten gelenkig und lernfähig
genug sein, um in das Innere komplizierter Maschinen zu klettern und sie zu reparieren, ohne das sie in mühevoller Arbeit zerlegt werden mußten. Gleichgestellte Persönlichkeitsrechte? erschien auf dem Bildschirm, als sie ihre Zustimmung gegeben hatte. – Sie bestätigte, daß ein Tier von dieser Intelligenz auch gleiche Persönlichkeitsrechte haben sollte. »Hast du jemals darüber nachgedacht, wer eure Wahlcomputer kontrolliert?« erkundigte er sich, während er das Tablett auf dem Tisch abstellte. »Wer überwacht sie?« »Um…« – sie suchte nach dem Wort – »Manipulationen zu verhindern? – Niemand. Sie überwachen sich selbst.« Wieder entdeckte er in ihren Augen jenes Blitzen, von dem er nie zu sagen wußte, ob es Spott oder bloße Belustigung war. Oder Argwohn, der sich selber nicht ganz ernstnahm… »Man könnte euch hinters Licht führen.« »Warum? Wozu sollte das gut sein?« »Weil man eigene Interessen durchsetzen will.« Er begann langsam zu essen, ohne Appetit, aber mit gespielter Hingabe, um ihr zu beweisen, daß ihm Essen wichtiger als Streit und Händel war. Er kaute jeden Bissen zweimal. »WEDA?« »Die an der Macht sind.« »Macht…?« Sie musterte ihn grüblerisch. An ihrem Blick erkannte er, daß sie sich vergeblich zu erinnern versuchte. »Staatsgewalt, politische Befugnisse. Möglichkeiten, über Menschen und Verhältnisse zu bestimmen…« »Sie zu mißbrauchen, meinst du?« »Mißbrauchen, ja.« »Aber wozu?« »Aus Lust an der Macht. Und um euch auszubeuten.« »Höhere Mächte würden das nicht zulassen.«
Sie sagte es ganz arglos. Doch er zuckte zurück – das Kamilavkion, der Palmzweig, die theologische Bibliothek, ihr Reaktivierungstest, all die Hinweise auf eine wiederauflebende Religiosität fielen ihm ein. »Hirngespinste.« »Aber wir müssen an sie glauben.« »An Hirngespinste?« »Auch wenn es Hirngespinste wären«, bestätigte sie. »Mythen helfen einem auf dem Weg, sich selbst zu finden. Aber wir dürfen keine Gewißheit haben, sie würde unsere Wahlfreiheit einschränken. Wir sind keine guten Roboter, keine Automaten. Auch keine religiösen Knechte, die aus Hoffnung auf ein Jenseits ihrem Herrn dienen. Deshalb darf er sich nicht zu erkennen geben.« Sie rutschte von der Polsterung, und ein ungekannter Ernst bemächtigte sich ihrer. »Ich persönlich glaube, daß er es ist, der das System in Bewegung setzt, durch den es zu arbeiten beginnt – du erinnerst dich?« »Wieso hat man euch diese vorzeitlichen Ideen noch nicht austreiben können?« fragte er. »Oh, sie arbeiten daran.« »Gegen euren Willen?« »Sie halten es für ein nutzloses oder sogar schädliches Überbleibsel aus der Vergangenheit. Meine Freunde und ich dagegen glauben, es ist ein so tief in der menschlichen Natur verwurzeltes Bedürfnis, daß man es niemals ganz wird auslöschen können. Es ist einfach nicht wie andere Eigenschaften.« »Sondern?« »In unserem Diskussionskreis nennen sie es ein… ja, eine ›Gestaltqualität‹, ein Etwas, das nichts einzelnes ist, sondern die Summe von allem.« »Und von wem stammt diese bemerkenswerte Theorie«, erkundigte er sich ironisch.
»Von Kollmer.« »Der Bursche mit dem Vollbart«, nickte er. »WEDA arbeitet also noch daran?« »Die Alten in Lyon sind nicht vollkommen, eines Tages werden sie begreifen, daß…« »Um seine Stelle einzunehmen? Um selber gottähnlich zu werden in euren Augen?« »Dein… Mißtrauen ist ganz unbegründet.« »Ich will dir etwas sagen.« Er holte tief Luft, um die passenden Worte zu finden. »Noch zu allen Zeiten hat sich bewahrheitet, daß jeder sich die Macht nahm, wenn sie in Reichweite seiner ausgestreckten Hände lag. Die Religionen selbst haben – um den Gewinn oder auch nur das Versprechen von ein wenig Seelenheil – mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht.« Er begann ihr von den Religionskriegen zu erzählen; von den Hexenverfolgungen, den Teufelsaustreibungen; von den religiösen Dogmen; den sinnlosen Kasteiungen und Beschränkungen, die dem Leben auferlegt worden waren; von der Vertröstung auf ein Jenseits, das niemals kommen würde – und von dem Schaden, den man in den Köpfen bedauernswerter Frömmler angerichtet hatte, weil sie felsenfest glaubten, der Sünde verfallen zu sein. Doch sie erhob sich nur ungläubig, das Gesicht von fahler Röte überzogen. Er bemerkte ihre Unsicherheit. »Hast du nichts in deinen Büchern darüber gefunden?« »Das habe ich. Aber es gibt doch…« »Ja?« »Es ist so furchtbar schwer, herauszufinden, was davon ernst gemeint war.« »Ernst gemeint?« Er musterte sie verständnislos. »Weil… weil manche Geschichten einfach nur erfunden sind – und andere nicht.«
»Und andere…?« Plötzlich begriff er. Es war ganz einfach! Er begann schallend zu lachen. Anfangs wehrte er sich noch; aber dann kam es über ihn. Ein Gewitter erschütterte sein Zwerchfell. Dieser Menschenschlag sollte die neue Welt beherrschen? – sollte das vorläufige Ende der Entwicklung sein? – das Ziel, auf das sich die Weltgeschichte durch eine Kette von Katastrophen zubewegt hatte? Was würde mit ihm geschehen, wenn ernsthafte Probleme auftraten? Wenn ›Irrläufer‹ die Macht an sich rissen? Wenn die Alten in Lyon versagten? »Du meinst den Unterschied von fiktiver und wissenschaftlicher Literatur. Deine Theologiegeschichte gehört den wissenschaftlichen Werken an.« Es schien sie nicht zu kränken. Als habe sie nichts von alledem begriffen, stimmte sie in sein Lachen ein… »Ich will dir etwas verraten«, sagte er. Ein Gefühl des Ärgers und der Unterlegenheit stieg in ihm auf und ließ ihn vorsichtig werden; er erhob sich ebenfalls und verschränkte die Arme auf dem Rücken. »Es gibt da noch etwas, das du wissen solltest!« »Über… Gott?« »Nein, über eure Ersatzgötter in Lyon.« »Wir wissen, daß sie fehlbar sind.« »Das ist nicht alles.« »Sie sind guten Willens.« »Mag sein. Aber was ist mit den Mitteln, die sie anwenden?« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Man hat euch gesagt, die Epidemie, der atomare Holocaust, die radioaktive Verseuchung überall in der Welt seien Unglücksfälle gewesen…« Er machte eine Pause und ging zwei, drei unentschlossene Schritte auf den weißen Paternosterschrank zu – als zögere er noch.
»Aber es gibt eindeutige Hinweise, daß WEDA den Erreger der Seuche aussetzte, um einen weltweiten Schlagabtausch mit Interkontinentalraketen zu provozieren. Erst in Europa, dann in der restlichen Welt. Die Amerikaner sollten glauben, der Warschauer Pakt hätte es auf ihre Verbündeten in Europa abgesehen. Ihre Stationierungstruppen waren ausgelöscht: Ganze vierzehn amerikanische Soldaten überlebten in Europa – sie kamen mit einem Headfighter-Bomber beim Rückflug über den Azoren um. Das westliche Bündnis schlug wie erwartet zurück. Erst durch einen Laserangriff auf Raketenbasen im Weltraum, dann auf die militärische Mondstation. Der Ostpakt antwortete mit ›Vergeltungsmaßnahmen‹ und setzte die unterseeische Operationsbasis im Nordatlantik außer Gefecht. Andere Berichte behaupteten, die Sowjets hätten einen atomaren Erstschlag gegen Weltraumstationen der Amerikaner geführt; zur Warnung, weil man das Auftreten der Seuche in Europa für einen militärischen Vorwand hielt: einen ›Anlaß‹, der von den Amerikanern in Szene gesetzt worden war, um losschlagen zu können, ohne als der Schwarze Peter der Weltgeschichte dazustehen. Ihr Argument war einleuchtend: Warum hätten sie ein derartiges Risiko eingehen sollen? Schließlich machte der Erreger nicht am Eisernen Vorhang halt. Selbst bei stärkster Sicherung der Grenzen würde er auch zu ihnen den Weg gefunden haben. So nahm das Verhängnis seinen Lauf. In aller Welt wurden Paktstaaten aufgefordert, ihre Bündnisverpflichtungen einzuhalten. Die wenigen Neutralen gingen im allgemeinen Chaos unter.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum sollte WEDA so etwas getan haben?« »Ich nehme an, weil diese Wissenschaftler der festen Überzeugung waren, die Welt sei nicht mehr zu retten. Sie sahen sich in einer historischen Rolle. Wie andere vor ihnen
hatten sie erkannt, daß die militärische Entwicklung nie durch Vertragslösungen zu kontrollieren sein würde. Und daß die Schäden des technischen Fortschritts irreparabler Natur waren, wenn man nicht ein radikales Ende setzte. Natürlich hatten sie gute Gründe für diese Überzeugung. Mag sein, daß sie lange zögerten, die Menschheit einen solchen Preis zahlen zu lassen. Aber dann handelten sie. Die Genmanipulation eröffnete ungeahnte Möglichkeiten dazu. Sie müssen schon um die Jahrtausendwende mit den Vorbereitungen für eine neue Gesellschaft in Europa begonnen haben. Und sie wollten, daß sie ausschließlich von ihnen beherrscht und gesteuert wurde.« Noch immer spielte Unglauben in ihrem Gesicht: Unglauben, der mit dem Zweifel kämpfte, jemand könnte sie auf diese Weise belügen. »Du mußt dich irren. Wie kannst du so etwas denken!« »Im Grunde habe ich’s nicht mal selbst entdeckt. Ein Freund brachte mich darauf. Damals hielt ich es noch für ein Hirngespinst. Dann sah ich den Film in eurem Informationscenter. Bis dahin wußte ich nicht, daß es auch in anderen Teilen der Welt Epidemien gegeben hatte – nachdem der Krieg längst beendet war! Aber wer hätte den Erreger dann noch nach Amerika tragen sollen – die gleichen Symptome, dieselbe Krankheit –, wäre nicht rechtzeitig Vorsorge dafür getroffen worden?« »Vorsorge? Wieso?« »Man wollte keine Überlebenden.« Seine Antwort hatte eine erschreckende Wirkung: Sie hielt die halb erhobenen Ellbogen an den Körper gepreßt, und ihr dunkles Gesicht füllte sich mit Röte. Ihr Mund war ein wenig geöffnet, als habe sie noch etwas sagen wollen. Dann trat sie einen unsicheren Schritt auf ihn zu… und wandte sich abrupt ab.
Obwohl er das Gefühl hatte, zu weit gegangen zu sein, verspürte er Erleichterung. Auch ein Gefühl der Scham, weil sie nur um solchen Preis zu erreichen war. Er sah dem Mädchen nach, das ihm mit einem Mal noch fremder und unverständlicher erschien, wie es ohne sich umzublicken den Raum verließ. Wenig später schlug eine Tür. Er war allein. Was hatte er angerichtet? Er setzte sich an den Tisch zurück und begann zu essen. Anfangs kaute er nur mechanisch. Gegrillte Pflanzenmasse mit dem strengen Geschmack von Wildbret. Doch beim Essen kam der Appetit. Wie kann ich jetzt essen! dachte er angeekelt und legte die Gabel auf den Tisch zurück.
Er ging ihr nach. Zwischen den hohen alten Bäumen am Ende des Weges, von denen Schlingpflanzen wie armdicke Taue hingen, sah er ihre zierliche Gestalt – schon zu weit entfernt, als daß sein Rufen sie noch erreicht hätte. Baumwipfel schlossen sich über ihm, ein grünes Dach, an dessen Schattenrändern das Sonnenlicht einzelne Strahlenbündel wie durch Brenngläser herunterschickte. Die Luft war drückend, voller nachmittäglicher Schwüle. Sie wird sich etwas antun! durchfuhr es ihn… Ein Gefühl der Übelkeit stieg aus der Magengegend auf, und ihm wurde schwindelig. Für Sekunden sah er sich zwischen den kahlen Hauswänden am Bahnhof. Dort lag auch ihr Grab, die durchsichtige Kuppel mit dem künstlichen Blumenstrauß. Aber wessen Grab? Claudias? Ein Trugbild aus Befürchtungen und Ahnungen. Sein Puls jagte. Wargas stieß den Atem aus und sog so lange die frische Luft ein, bis das Bild zerstob. Er streckte hilfesuchend seine Hände nach den Häusern aus.
Aber dort war niemand. Weder auf den Terrassen noch in irgendeinem Fenster. Nur die leicht bewegten Windräder an ihren hohen Masten über den Dächern; sie wandten sich nach Süden. Dann war wieder dieses Sausen in seinen Ohren; Fetzen von Dunkelheit, metallischer Geschmack, Angst, ausweglose Angst – und schwankend suchte er Halt an einem Baumstamm… ehe die Bewußtlosigkeit wie ein dunkles Tuch über ihn kam…
VIERTER TEIL
Erstes Kapitel
1 Jemand mit einer sehr dünnen, spitzen Nase und durchscheinender gelblicher Haut beugte sich über ihn. Ein alter Mann dem Gesicht nach – aber von jener künstlich wirkenden Jugendlichkeit, die an der Färbung und Art der Haut zu erkennen ist. Vollgestopft mit Verjüngungszellen, dachte Wargas. Er trug einen grünen Ärztekittel, und sein Haar, das weit auf dem Hinterkopf ansetzte, hing ihm als ein zu lang geratener, verrutschter Pferdeschwanz über den Kragenrand. Wargas schätzte ihn auf über achtzig. Allerdings war es schwer zu sagen, denn seine lebhaften Hände wirkten wie die eines Vierzigjährigen. Als er den Blick hob, sah er in die verspiegelte Kuppel an der Unterseite eines Apparates, der über ihm an Schienen unter der Decke lief. Sie mochte gut anderthalbmal so groß sein wie er selbst. »Wo bin ich?« »Bei WEDA in Lyon.« »Warum hat man mich nicht…?« »In die örtliche Seelenbank gebracht?« Er nickte und versenkte die Hände in den Taschen seines Ärztekittels. »Das verdanken Sie der Fürsprache Ihrer Freundin.« »Sie haben wenigstens keine Fledermausohren«, sagte Wargas mit einem Anflug von Humor. »Nein, für die Aufgaben der Purificateurs wäre ich bestimmt zu alt.«
»Hm…« Er betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild in der Kuppel über sich. »Was geschieht jetzt mit mir?« »Sie sind krank. Sie werden das Bett hüten müssen.« »Die Diagnose?« »Kein ganz leichter Befund. Ihre Schwindelanfälle und Bewußtseinsstörungen hängen mit Charaktereigenschaften und Einstellungen zusammen.« »Sie wollen sagen, ich sei psychisch krank?« »Sie leiden an Mangelerscheinungen, und Ihr Organismus ist mit zahlreichen Stoffen verseucht. Aber das ist es nicht allein.« »Wird man mich wieder zusammenflicken?« Er zuckte die Achseln. »Wie gesagt, hängt es mit Ihrem Charakter zusammen. Man wird einiges versuchen. Fälle wie der Ihre sind selten geworden.« »Und danach?« »Man fand bei der Untersuchung den silbernen Stift hinter Ihrem Ohr. Das Zeichen einer dekadenten Epoche.« »Was so gut wie ein Todesurteil ist?« fragte Wargas und drehte sich ihm zu. Erst jetzt bemerkte er, daß ein mit Golddrähten umwickelter Schlauch aus seiner rechten Armvene in die Anlage über ihm führte. »Niemand wird von uns umgebracht.« »Außer, wenn er WEDA im Wege ist?« »Was meinen Sie?« »Zum Beispiel den P-Meningokokkus. Sie haben ihn eingesetzt und die Menschheit bis auf jenen kläglichen Rest vernichtet, der jetzt zwischen Lyon und der norddeutschen Tiefebene lebt.« Die Augen des anderen verengten sich. »War es das, was Sie dem Mädchen gesagt haben?« »Claudia? – Wo ist sie? Ich will sie sehen.« »Das wird nicht möglich sein.« »Weil Sie mich daran hindern, habe ich recht?«
»Es geht ihr nicht gut.« Wargas richtete sich im Bett auf. »Was ist passiert.« Eine dumpfe Ahnung hatte ihn ergriffen. »Sie sind doch Arzt, oder? Sie hätten wissen müssen, was passieren würde.« »Hat sie sich etwa…?« »Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen, ja. Mit einer Überdosis Storantinium. Weil sie die Wahrheit nicht ertragen konnte – oder das, was Sie ihr als die Wahrheit einzureden versuchten.« Wargas wollte aufstehen, aber der Schmerz der Injektionsnadel in seiner Armvene hinderte ihn daran. Außerdem bemerkte er jetzt, daß ein gleich aussehender Schlauch dicht unter seiner rechten Kniekehle in der Wade steckte… »Versuchen Sie nicht, sich von den Schläuchen zu trennen. Es könnte Ihren Tod bedeuten.« »Wie ist Ihr Name?« fragte er und legte sich zurück. »Ich will Ihre Vorgesetzten sprechen.« »Goujon, Doktor Goujon – aber sie sollten doch wissen, daß Ihr Zustand sich jederzeit verschlechtern kann. Aufregung ist Gift für Sie.« »Ich will zu ihr.« »Sie haben schon genug Schaden angerichtet. Außerdem ist sie nicht bei Bewußtsein.« »Nicht bei… was, zum Teufel, haben Sie mit ihr…?« »Sie wurde nach dem Verhör in einen Heilschlaf versetzt. Man fand sie hinter den Parkanlagen draußen bei der Klinik. Gar nicht so weit von der Stelle, wo Sie selbst gefunden wurden. Claudia muß sich das Mittel von einer Freundin beschafft haben. Glücklicherweise ist die Diagnose in solchen Fällen einfach. Wir konnten Ihr ein Gegenmittel injizieren und ihr
Gedächtnis retten. Allerdings sind einige…« Er hielt inne und schwieg. »Ja?« »Einige Gehirnfunktionen wurden durch das Medikament beeinträchtigt – nicht für immer, hoffen wir.« »Sie hoffen es? Aber was tun Sie dafür?« »Warum fragen Sie?« »Ich könnte mir denken, daß Ihnen ihr Wissen gefährlich erscheint – genauso wie meines.« »In der Tat«, bestätigte Goujan, »es stellt eine gewisse Gefahr dar, wenn man bedenkt, welchen Schaden Sie in den Köpfen der Menschen anrichten und welche Reaktionen Sie provozieren könnten.« »Rebellionen, Aufstände…?« »Wohl weniger. Immerhin wissen wir von Gruppen, die sich um andere Wege als die von WEDA autorisierten bemühen.« »Andere Wege?« »Religiöse Zirkel. Aber auch politische Debattierklubs.« »Der liebe alte gute Gott ist Ihnen ein bißchen suspekt, was?« »An dem, was Sie angerichtet haben, erkennt man deutlich, wie gefährlich das Wissen der Vergangenheit ist.« »Eine Vergangenheit, die Sie schließlich zu einem nicht ganz unwesentlichen Teil selbst in Szene gesetzt haben. Ohne Ihr Eingreifen wäre die Welt…« »In Stücke geflogen – früher oder später. Sie wissen, daß eine Waffentechnik, wie man sie zum Ende des Jahrtausends entwickelt hatte, auf Dauer nicht beherrschbar sein würde. Es war ein radikaler Wandel des Denkens erforderlich.« »Dann geben Sie also zu, daß WEDA für den Ausbruch des Krieges verantwortlich ist – daß man in Lyon einen nuklearen Schlagabtausch provozierte, um freie Hand zu haben?« »Es wäre besser gewesen, Sie hätten diese Hirngespinste für sich behalten. Wem haben Sie noch davon erzählt?«
Wargas bemerkte seinen prüfenden Blick. »Niemandem. Ist das von Bedeutung?« »Hatten Sie Freunde in der alten Stadt?« »Selbst wenn es sie gäbe, würde ich sie Ihnen nicht ans Messer liefern.« Er drehte ärgerlich den Kopf zur Wand. »Sind Sie mein Arzt? Oder ist dies ein Verhör?« »Zu den Pflichten eines Arztes gehört es, jederzeit das Beste zu wollen.« »Warum geben Sie mir nicht einfach Storantinium und zerstören mein Langzeitgedächtnis?« erkundigte er sich, lauernd vorgebeugt. »Dann wäre ich für Sie völlig ungefährlich.« »Das ist nicht so einfach, wie Sie glauben. Zwischen dem Kurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis besteht zwar ein grundsätzlicher Unterschied, und es bliebe, grob gesehen, nur Ihr Kurzzeitgedächtnis übrig. Damit haben Sie natürlich recht. Aber es ist eine besondere Situation: Sie wissen um das Problem. Also wird Ihr Kurzzeitgedächtnis jene Informationen, die wir in Ihrem Langzeitgedächtnis löschen, übernehmen. Das geschieht ganz unwillkürlich. Es genügt, daß Sie die Gefahr erkannt haben. Mit anderen Worten – die Löschung ist nur möglich, solange Ihnen niemand gesagt hat, welche Gedächtnisinhalte problematisch sind. Und wenn wir Ihr Kurzzeitgedächtnis löschen, dann sind Sie ein unbeschriebenes Blatt und müssen ganz von vorn anfangen. Das ist so gut, als seien Sie tot. Man hat Ihnen Ihre Individualität, ihr Ich genommen. Sie würden erwachen und nicht einmal ›ich‹ denken können, denn weder das Wort noch der Begriff existierten für. Sie, und Sie würden sie erst wieder wie ein Kind im Umgang mit sich selbst erlernen müssen.« »Eine Art Mord.« »Sie haben sozusagen«, meinte Goujon lächelnd, »vom Baume der Erkenntnis gegessen. Nur als Sie unschuldig waren,
wie vor dem Sündenfall, das heißt, als Sie nicht um den Verlust Ihres Langzeitgedächtnisses fürchten mußten, besonders jener Gedächtnisinhalte, die für uns gefährlich sind, hätte das Storantinium seine Wirkung gehabt.« »Das bedeutet, es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als mich zu töten?« »Oh, fast immer gibt es andere Wege«, wehrte er ab. »Einsicht und guten Willen vorausgesetzt. Sie werden einem Gremium vorgeführt, wie es meistens geschieht, bevor jemand der Seelenbank übergeben wird.« »Eine Art Henkersmahlzeit für die Seele?« Goujon schüttelte den Kopf und schob seine Finger in das überhängende Haar an seinem Nacken. »Davon könnte man nur reden, wenn der Verurteilte sterben müßte. Seine Seele bleibt erhalten…« »Auf einer gekühlten Platine, die nicht belebbar ist«, unterbrach Wargas höhnisch. »… und sogar der Körper wird sorgsam aufbewahrt, bis wir einen technischen Weg gefunden haben, seinen schadhaften Charakter zu korrigieren, um beides wieder zu vereinen.« Als er gegangen war, richtete Wargas sich auf und tastete nach der Nadel in seiner Wade. Er zog sie mit einem Ruck heraus. Ein dünner Blutstrahl ergoß sich über das Laken. Eine Zeitlang horchte er in sich hinein, als könnte die Unterbrechung des Durchflusses sofortige Wirkung zeigen. Doch nichts geschah. Dann zog er auch die Nadel aus seiner Armvene heraus und stieg aus dem Bett. Der Boden bestand aus beheizten Keramikkacheln in dunkelgrüner Farbe. Über dem Fußboden verlief eine, Lichtleiste, die anzeigen würde, wann der Raum nicht betreten werden durfte, weil seine Keramikplatten durch einen Hitzeschock keimfrei gemacht wurden. Er las den
Warnhinweis in deutscher und französischer Sprache der neben der Tür angebracht war: VORSICHT BEI EINGESCHALTETEM LICHT: DESINFEKTION 3000 GRAD! Auch eine Art, um jemanden umzubringen, dachte er und öffnete die Tür zum Gang. Es überraschte ihn nicht, daß sie unverschlossen war. Sein Krankenzimmer besaß keine Fenster, und der einzige Weg, das Gebäude zu verlassen, würde vermutlich an der Eingangskontrolle scheitern. Seine Beine bewegten sich schwerfällig wie die eines alten Mannes; aber der metallische Geschmack in seinem Mund hatte nachgelassen. Ein System, das sich selbst vernichtet, dachte er, während er vorsichtig die offenen Türen passierte und einen prüfenden Blick in die Räume warf. Wenn Goujon recht hatte, dann waren seine Schwindelanfälle, sein Ohrensausen, das Flimmern, der chemische Geschmack Versuche seines Körpers, seinem Gewissen gerecht zu werden. Es wollte nicht, daß er überlebte… Und jene unnatürliche Ruhe nach den Anfällen? Wenn er für einige Tage beschwerdefrei war? Irgend etwas tief drinnen in mir gibt Ruhe, sobald es sich wieder ein kleines Stück Leben angeeignet hat, überlegte er. Als würde meine Zeit von innen her aufgefressen, weil ich weiß, daß ich nichts weiter als ein vorsintflutliches Relikt bin, der Überlebende einer vergangenen Epoche, der niemandem mehr nutzen und nur noch Schaden anrichten kann. Hatte er Claudia nicht um ein Haar in den Tod getrieben? Hatte er nicht versagt, weil es für ihn unmöglich war, ihre Geduld und ihren Großmut zu verkraften? Hätte er ihr nicht früher oder später von jenen kleinlichen Eifersüchteleien, ihren
endlosen Streitereien, ihrem Karrieredenken und all den übrigen haarsträubenden Ungereimtheiten berichtet, die seinen Alltag bis zum Beginn des Krieges ausgemacht hatten – und damit für immer den Keim der negativen Vorbilder in ihre Seele gesetzt? Ganz zu schweigen von den großen Verrücktheiten, die die Gesellschaft jener Zeit zu einem Irrenhaus gemacht hatten. Einem Narren- oder Tollhaus, das seine Insassen nur deshalb nicht als das erkannten, was es war, weil es nichts außerhalb seiner gab, mit dem sie es hätten vergleichen können. Er öffnete eine Aluminiumtür, und vor ihm lag der Operationssaal. Bläuliches Licht, das aus einem Schacht in der Mitte der Decke fiel, ließ die Tische und Geräte wie aus Stein gehauen erscheinen. Ringsum in den Wänden befanden sich Alkoven – Bettnischen, kaum länger als ein Mensch, und wie er zu seinem Entsetzen bemerkte, waren einige von ihnen belegt. Unter den durchsichtigen Kuppeln sah er drei Frauen und zwei Männer liegen. Die Frauen schienen alt, wohl über fünfzig, die Männer dagegen mußten, weil sie noch sehr jung waren, zur neuen Generation gehören. In der Türwand hinter sich entdeckte Wargas Glaskästen mit gekühlten Platinen, jenen ähnlich, die er in der Seelenbank gesehen hatte. Wenn diese armen Teufel jetzt nichts weiter als eingefrorene Leiber und nicht belebbare Platinen waren – unvollkommene Kopien ihres Bewußtseins – dann verdankten sie es den selbsternannten Göttern WEDAs, die irgendwo hoch über ihm in dem Gebirge aus Stein thronten. Ein kaum bezwingbares Bedürfnis überkam ihn plötzlich, sie deswegen zur Rede zu stellen. Aber wo mochten sie stecken? Verschiedene Fahrstühle, das hatte er schon auf dem Gang bemerkt, führten dreißig und mehr Stockwerke hinauf in voneinander getrennte Komplexe: in den Verwaltungstrakt, den Forschungstrakt, den medizinischen Trakt. Ganz oben, dachte er – den wichtigsten Mann findet man immer ganz oben! Oder sollte er ihr Gerede in den
Fernsehsendungen ernst nehmen, daß sie alle wichtigen Entscheidungen gemeinschaftlich trafen? Unschlüssig betrat er einen der drei Fahrstühle. Die automatische Stimme erkundigte sich auf deutsch und französisch nach seinen Wünschen. »Ich suche einen winzigen, bleichgesichtigen Mann. Er ist so etwas wie der Chefideologe in WEDAs Führung. Leider habe ich seinen Namen vergessen…« »Professor Courbet?« fragte die Stimme (es war eine jener mechanisch klingenden Stimmen, die völlig geschlechtslos wirkten). »Ja, ich glaube, das ist sein Name.« »Trakt III A, Etage 42.« »Danke«, sagte er mit übertriebener Höflichkeit, als wisse der Sprechautomat das zu schätzen. Als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte, verursachte die schnelle Fahrt ihm Übelkeit. Stockwerke, in denen Lichter aufblitzten, sausten beängstigend schnell an ihm vorüber. Dann kam eine ganz in Schwarz gehüllte Zone – schwarzgestrichene Wände, geschwärzte Glasscheiben, hinter denen sich der Anzeigetafel nach nicht zugängliche Verwaltungs- und Versuchsbereiche befanden. Mit einer hilfesuchenden Handbewegung tastete er nach seinem Hinterkopf – und stellte überrascht fest, daß der Gefühlsabschalter entfernt worden war… Aus der kahlen Haut hinter dem rechten Ohr ragte gute zwei Millimeter ein fleischfarbener Verschluß hervor, der die leere Bohrung in seinem Schädelknochen verdeckte. Augenblicklich fühlte er sich wieder so hilflos wie früher seinen Gefühlen und Stimmungen ausgeliefert. Er hatte sich kaum noch an jene Zeit erinnert. Schon durch seine bloße Existenz war der Gefühlsabschalter eine große Erleichterung gewesen. Man wußte, daß es einen Schutz vor starken
Schmerzen gab. Ein Entkommen war jederzeit möglich. Die Natur hatte den Körper mit hoher Schmerzempfindlichkeit ausgestattet. Schmerz war um ein Unendliches wahrscheinlicher als Lust oder auch nur gewöhnliche Behaglichkeit. Um jemandem physische oder seelische Schmerzen zuzufügen, bedurfte es lediglich einiger Fußtritte, Elektroschocks oder Beleidigungen. Angenehme Gefühle waren viel schwerer zu erzielen, und sie stumpften leicht ab. Beim Schmerz dagegen lag die Schwelle, an der das Bewußtsein abschaltete, hoch genug, um den Verstand zu verlieren. Die Tatsache, daß der Gefühlsabschalter auch eine Flucht bedeutete, wog dagegen lächerlich gering. Obwohl Wargas erwartete, im Gang auf irgendeine Art von Kontrolle zu treffen, elektronische Sperren oder Wachpersonal, blieb er völlig unbehelligt. Deshalb nahm er an, daß die Eingangskontrolle – in diesem Fall die Aufnahme bei seiner Einlieferung – als ausreichend angesehen wurde. Er las die Schilder an den Metalltüren: Herault, Aude, Bantal, Coty, Seurat… beinahe ausnahmslos französisch klingende Namen; nur ein deutscher war darunter. Wargas trat näher und studierte das Türschild: DR. W. FRANKENBERGER Delegierter ersten Grades am zentralen Beratertag in Lyon Der Raum, nachdem er vorsichtig die Tür aufgedrückt hatte, entpuppte sich als ein Büro mit leeren Regalen, leeren Tischen und zwei Datensichtgeräten, über die Kunststoffhüllen gezogen waren. Der einzige Hinweis auf seinen Inhaber war ein offenbar vergessener Krankenbericht neben einer leeren Wasserkaraffe auf dem Bord der Kochnische. Wargas studierte nachdenklich die Operationsbeschreibung. Frankenberger schien seine Arbeit wegen eines kranken Kniegelenks aufgegeben zu haben.
Nichts von Belang, dachte er enttäuscht. Immerhin gab es einige Fenster, und er sah durch ihre blauverspiegelten Scheiben hinunter auf Grünanlagen, in denen Kinder spielten. Ebenso wie das Büro waren auch die Anlagen und angrenzenden Gebäude von beinahe schmerzhafter Sauberkeit und Sterilität (ich bin nicht für diese Welt geschaffen, dachte er resignierend. Ich bin den Schmutz gewohnt, die Unordnung, das Chaos…). So sehr er sich auch bemühte, während er durch das Dach der tief unter ihm liegenden gläsernen Vorhalle starrte, irgendeine Art von Kontrolle am Eingang zu entdecken: dort unten war niemand. Nicht einmal Fernsehaugen schien es zu geben. In der Halle bewegte sich kein Mensch.
2 In welchem Teil des Gebäudes mochte Claudia liegen? Es interessierte ihn plötzlich mehr, als diesen Courbet zu finden. War es möglich, daß man sie gar nicht hierher gebracht hatte? Nein, sie hatten sie wohl kaum nach Lyon geschafft, um die Folgen eines Selbstmordversuchs zu kurieren. Es lag in WEDAs Interesse, sie beide für immer zu trennen. In ihren Augen hatte er genug Schaden angerichtet. Seine Anwesenheit hier war ein Beweis dafür, daß es nie wieder zwischen ihnen sein würde wir früher. Es sei denn, er floh… Aber jetzt, nachdem man auf ihn aufmerksam geworden war, würde seine Gefangennahme nur eine Frage der Zeit sein. Er hätte sich mit ihr in einer der alten Städte in Sicherheit bringen müssen, weit draußen, wo es keine Purificateurs gab oder wo Kontrollen selten waren. Doch das Leben dort war hart. Die wenigen Vorräte, die man noch fand, gingen zur Neige.
Und unter solchen Umständen schien es ihm fraglich, ob Claudia mit ihm gegangen wäre. Nein, er hatte verloren. Er war am Ende. Nun kam es nur noch darauf an, in Würde zu sterben… Und wenn er alleine floh? Er dachte an den Amerikaner. Sie wußten, woher er gekommen war. Deshalb würden sie die Kontrollgänge in der Stadt verstärken. Damit mußte man rechnen. Nein, auf den Amerikaner und sein Versteck in der Fabrik konnte er nicht bauen. Alles hatte sich verändert, seit WEDA von seinem Verdacht wußte. Vorher war er nur einer der vielen gewesen, dessen Wissen um die Vergangenheit zwar ein gewisses Risiko darstellte. Aber jetzt bestand die Gefahr, WEDA auf immer zu diskreditieren. Was würden ihre hochtrabenden Ziele und Pläne noch wert sein, wenn ein solcher Verdacht um sich griff? Er drückte die Klinke der verspiegelten Glastür. Vor ihm am Ende der blendend hellen Lichtschleuse lag eine zweite Tür aus aluminiumähnlichem Kunststoff. »Identifizieren Sie sich«, forderte die automatische Kontrollstimme des Lautsprechers an der Decke. »Ich… äh…« »Bitte identifizieren!« »Dr. W. Frankenberger.« Einen Moment lang war Stille. Wargas musterte argwöhnisch die Wände. Es schien keine Fernsehaugen zu geben. »Bedauere, Stimmenanalyse negativ. Kein Zutritt zum militärischen Planungstrakt.« »Aber ich bin…« »Ja?« »Sie müssen doch meine Stimme wiedererkennen! Ich bin nur heiser. Wegen einer schweren Erkältung.« Der Sprechautomat schwieg. Wargas nahm an, daß er irgendein Ersatzprogramm zur Identifizierung abrief.
»Nennen Sie einen sicherheitsrelevanten Begriff.« »Einen – was…?« »Bitte sprechen Sie jetzt!« »Es gibt mehrere solcher Begriffe«, sagte er langsam. »Ich weiß nicht recht, welchen Sie hören wollen?« Er fuhr sich unsicher hinters Ohr. »Also gut: Planmäßige Verseuchung Nordamerikas nach dem atomaren Schlagabtausch aus Sicherheitserwägungen.« »Bedauere – korrekte Angabe, aber als Identifizierung nicht ausreichend.« »Sie müssen doch meine Stimme wiedererkennen«, rief er wütend und drohte mit der Faust zu dem grauen Kasten über der Tür hinauf. »Ich bin Dr. W. Frankenberger, Delegierter ersten Grades am zentralen Beratertag in Lyon. Mein Büro ist in dieser Etage…« Er schwieg mißmutig. Anders als Menschen war Computern durch Bluffen nicht beizukommen. »Die Altersbestimmung Ihrer Stimme liegt bei einer Abweichung von 15,09 Prozent.« »Na, großartig. Meine Heiserkeit, verdammt noch mal! Wollen Sie jetzt endlich die Tür öffnen? – Es ist dringend!« »Vielleicht fallen Ihnen noch andere Identifizierungen ein?« Wargas glaubte einen ironischen Unterton aus der Frage des Apparats herauszuhören, aber das war sicher nur Einbildung. »Was halten Sie von persönlichen Angaben? Ich meine biographische Daten, die niemand kennen kann?« »Biographische Daten sind als Ersatz Ihrer Stimmenanalyse zugelassen«, bestätigte der Sprechautomat. »Mir wurde vor zwei Monaten ein Metamol-Kniegelenk eingesetzt. Rechtes Bein. Der ausführende Arzt war Dr. Clusett. Nach zwei Nachoperationen ersetzte man die Knorpelschicht der Kniescheibe durch eine synthetische Beschichtung – der
Name des Materials ist mir leider im Moment entfallen, ich bin schließlich kein Arzt«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Tyroxon, Karnelon oder Carterol?« »Tyroxon.« (Er erinnerte sich, den Begriff im Krankenbericht gelesen zu haben, aber er wußte nicht mehr, ob die Knorpelschicht gemeint gewesen war.) »Aus welchem Grunde wurden Sie operiert?« »Ein… äh… Unfall«, sagte er zögernd. »Sie können passieren.« Die Tür verschwand lautlos in der Wandöffnung, und er sah in einen Saal, der dem Innenraum des Informationscenters glich. Anstelle vieler kleiner Monitore füllte ein einziger Bildschirm seine Rückwand aus. Im ersten Augenblick hatte er das Gefühl, er müsse mindestens die Größe eines halben Fußballfeldes besitzen. Aber das war sicher nur eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Gruppierung der tieferstehenden Computerpulte und die halbkreisförmige Anordnung der Sesselreihen dahinter. Immerhin mochte seine Seitenhöhe an die fünfzehn Meter betragen. Der leicht ansteigende Boden des Saals bestand aus kunststoffbelegten Stufenbahnen. Es war fast völlig dunkel. Nur der von grünem Hintergrundslicht eingerahmte Bildschirm und die Bedienungsbeleuchtung der Computeranlage spendeten etwas Licht. Er brauchte einige Sekunden, um sich nach der blendenden Helligkeit der Kontrollschleuse an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wargas nahm vor dem mittleren Pult Platz. Auf der Tastatur leuchteten nach dem Sitzkontakt Bedienungshinweise zum Einschalten und Programmieren des Systems auf… Aber wonach sollte er fragen? Es mußte etwas sein, das den Zugang zu den militärischen Hintergründen des Krieges erlaubte. Sicher würde der Computer eine Frage wie »Hat WEDA den Ausbruch des Krieges provoziert?« zurückweisen (oder sogar den Alarm
auslösen), weil sie bewies, daß sich ein Unbefugter Informationen verschaffen wollte. Er dachte eine Weile nach. Dann gab er ein: GENETISCHER CODE DES P-MENINGOKOKKUS? Ein farbiges Modell der DNS erschien auf dem Bildschirm. Es zeigte zwei spiralförmig angeordnete Ketten, ein Diagramm ihrer Basenfolgen und die dazugehörige komplementäre Bakterienart, die es ermöglicht hätte, den Erreger zu neutralisieren. Die Existenz des Codes bewies, daß man der Seuche nicht hilflos ausgeliefert gewesen war. Um sicherzugehen, tippte er KONSTRUKTIONSJAHR? ein, und der Bildschirm zeigte die Jahreszahl 2011. Also hatten sie schon fünfzehn Jahre vor Ausbruch des Krieges ein Modell des P-Meningokokkus besessen! Einschließlich seines Gegenmittels. Das genügte. Er brauchte keine weiteren Beweise. Wargas war so tief in Gedanken versunken, daß er die leisen Schritte auf den Stufen hinter sich erst bemerkte, als der andere schon neben ihm stand… Er mußte durch eine der beiden Seitentüren eingetreten sein, denn sonst hätte Wargas das einfallende Licht aus der Kontrollschleuse bemerken müssen. Seine Gestalt wirkte noch kleiner, als er sie vom Fernsehschirm her in Erinnerung hatte. Das hellgrüne Licht der Pultbeleuchtung verwandelte sein bleiches Gesicht in die von scharfen Nasenfalten konturierten Züge eines Gnoms oder Kobolds, wie er früher in jenen Märchen vorgekommen war, in denen die Guten belohnt und die Bösen bestraft worden waren. »Meine Hochachtung, Monsieur Durrel. Oder ist Wargas Ihr richtiger Name?« fragte er mit deutlichem französischen Akzent. »Es ist nicht ganz leicht für einen Außenstehenden, bis
hierher vorzudringen. Wie haben Sie den Kontrollcomputer überlistet?« Ehe Wargas antworten konnte, heulte eine Sirene über dem Durchgang auf, und die Hintergrundsbeleuchtung des Bildschirmes begann zu intermittieren. Dann flammte das Deckenlicht auf und tauchte den Saal in gleißendes Licht. Ein hochgewachsener Mann von etwa fünfundvierzig Jahren kam leicht hinkend herein, aufgeregt mit den Armen gestikulierend. »Jemand muß vor wenigen Minuten unter meinem Namen die Schleuse passiert haben, Courbet…«, rief er und hielt inne, als er Wargas entdeckte. »Wer sind…?« »Das ist Monsieur Wargas, unser neuer Patient«, sagte Courbet; ein Anflug von Verbindlichkeit, die Wargas nicht erwartet hatte, lag in seiner Stimme. Er zeigte auf die Sessel vor den Pulten. »Setzen wir uns doch! Nur keine unnötige Aufregung.« Frankenberger musterte fragend den Bildschirm. »Unser deutscher Freund hat sich sachkundig gemacht«, erklärte Courbet. »Soweit er’s nicht schon vorher war.« »Das ändert nichts«, sagte Frankenberger säuerlich und betastete die Spitzen seines nostalgisch gezwirbelten Schnurrbarts. Eine kalte Schönheit lag auf seinen Zügen, nur unwesentlich entstellt durch die Irritation, hier einen Eindringling angetroffen zu haben. »Sagen wir, es ändert wenig. Bisher haben wir es ihm gegenüber als ein Hirngespinst ausgeben können. – Wer weiß, vielleicht wären unserem Gast bei etwas Überredungskunst schließlich doch noch Zweifel gekommen? Aber Sie haben natürlich recht: In der Sache ändert es kaum etwas.« »Verhandeln Sie hier über meinen Tod?« erkundigte sich Wargas vorgebeugt.
»Seit wir die Seelenbänke eingeführt haben, gibt es keinen wirklichen Tod mehr«, berichtigte Courbet. Ein beschwichtigendes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Und die Opfer des Krieges? Wenn ich richtig sehe, werden Sie als größte Massenmörder aller Zeiten in die Weltgeschichte eingehen. Sie haben mehr als neunundneunzig Prozent der Weltbevölkerung ausgerottet.« »Vergessen Sie nicht, daß der atomare Schlagabtausch die meisten Toten forderte«, erklärte er. »Keiner der beiden Hauptkontrahenten hätte in dieser Weise reagieren müssen. Das übliche Mißtrauen war dafür verantwortlich. Die Unterstellung intriganter Motive, die bekannte Unfähigkeit zu einem konstruktiven Dialog.« Er war aufgestanden und schritt vor Wargas und Frankenberger auf und ab, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Feine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Anscheinend ließ seine Gesundheit zu wünschen übrig, oder sein hohes Alter machte ihm zu schaffen. »China schlug sich auf die Seite der amerikanisch-kanadischen Union, weil es seine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen richtig einschätzte – und weil es zu Recht annahm, daß die östliche Technologie zu rückständig war, um den Krieg gewinnen zu können. Neutralität dagegen hätte es…« »Aus dem Konflikt heraushalten können?« erkundigte sich Wargas mit höhnischem Unterton. »Und das arabische Bündnis? Die Inder? Sie alle kamen durch den P-Meningokokkus um, ebenso wie jene Amerikaner, die den Atomkrieg überlebt hatten.« »Er ist ausgezeichnet informiert«, stellte Frankenberger verdrießlich fest. »Zu gut.« »Ja, ganz offensichtlich. Er hat sich Gedanken gemacht.« Courbet blieb stehen und musterte Wargas lächelnd. Man hätte meinen können, er hege eine gewisse Sympathie für ihn. Sein
Gang war federnd und weit ausholend, als er an eines der Bedienungspulte ging und verschiedene Tasten betätigte. »Das macht es leichter, ihn von der Notwendigkeit unseres Vorgehens zu überzeugen. Wußten Sie, daß das westliche Bündnis um das Jahr zweitausend auf mikroelektronischem Gebiet einen Vorsprung erreicht hatte, der dem Osten jede Möglichkeit nahm, wie üblich durch Industriespionage wenigstens annähernd gleichzuziehen?« Die Saalbeleuchtung erlosch, und das Modell eines winzigen roten Zylinders erschien auf dem Bildschirm. Seine Bauweise erinnerte an einen gewöhnlichen Transistor – mit dem Unterschied, daß sich aus den beiden Enden je zwei flache mehradrige Leitungsbänder verzweigten und daß er allenfalls ein Zehntel seiner Größe besaß. Formeln, die Wargas nicht verstand, erläuterten seine Wirkungsweise. »Nein, natürlich nicht. Es wurde vor der Weltöffentlichkeit so lange wie möglich geheimgehalten. Man fürchtete die psychologischen Auswirkungen in der Bevölkerung. Wenn das Gleichgewicht der Kräfte wirklich auf dem Wege war, für eine sehr große Zeitspanne zum Teufel zu gehen, sollte es so lange wie möglich ein Geheimnis bleiben. Deshalb spielte man Hinweise und Vermutungen herunter. Die Sowjets konnte jederzeit eine Art militärische Torschlußpanik erfassen. Und nicht nur sie, auch die mit ihnen verbündeten oder sympathisierenden Staaten der Dritten Welt.« Er erhob sich aus dem Drehstuhl und deutete auf die Diagramme. »Stellen Sie sich vor, man erkennt definitiv, daß eine Entwicklung irreparabel ist, jedenfalls nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis. Wie hätte Ihre Prognose gelautet? – Nun, die Antwort ist sehr einfach: Früher oder später würde das östliche Imperium zusammenbrechen, und Staaten würden zur anderen Seite überlaufen. Zuerst die sogenannten Brüder im Geiste, dann die eigentlichen Paktstaaten. Es sei denn, sie wären
bereit gewesen, nach den Maßstäben der Weltwirtschaft und im internationalen Handel auf den Stand von Entwicklungsländern zurückzusinken.« »Wovon reden Sie?« fragte Wargas. »Ich verstehe nicht, was das alles…« »Man hatte selbstvernichtende elektronische Programme erfunden«, fuhr Courbet fort. »Das Ding da oben enthält eines von ihnen: mitsamt der erforderlichen elektrischen Ladung, um Schrott aus aller angeschlossenen Elektronik zu machen. Das heißt, es genügte nicht mehr, das Modell eines Rechners oder auch nur Mikrochips in den Osten zu schmuggeln und ihn zu analysieren, um ihn dann in der eigenen Waffentechnik anzuwenden, wie es lange mit viel Erfolg praktiziert worden war. Man hatte die neue Mikroelektronik daraufhin konstruiert, sich bei der Analyse selber zu zerstören. Es bedeutete nichts Geringeres, als daß sich zum erstenmal seit dem Zweiten Weltkrieg eine Lage zu entwickeln begann, in der ein wirkliches Interesse von Seiten des Ostens bestand, den Krieg zu riskieren. Die Abfangtechnologie elektronischer Systeme bei den Amerikanern war auf dem besten Wege, unüberwindlich zu werden. Das notwendige Patt aber wäre nur mit gleichen oder ähnlichen Mitteln zu erreichen gewesen.« Er schwieg und zündete sich eine synthetische Zigarette an, deren scharfer, parfümierter Rauch eines jener Anregungsmittel enthielt, die vor dem Kriege als Nikotinersatz in Mode gekommen waren. Nach wenigen Zügen lebte er sichtlich auf. Das Reden schien ihn jetzt weniger anzustrengen; trotzdem hatten die Schweißperlen auf seiner Stirn zugenommen. »Diese Entwicklung brachte uns in Zugzwang«, fuhr er fort. »Einerseits bestand eine beträchtliche Gefahr, daß die Russen losschlugen, ehe wir unsere eigenen Vorbereitungen beendet hatten. Andererseits durfte der Zeitpunkt der bakteriologischen
Katastrophe nicht noch weiter aufgeschoben werden, da der Westen, wie ich schon sagte, auf dem besten Wege war, militärische Überlegenheit zu erlangen. Eine Reaktion des Ostens wäre dann womöglich nicht mehr provozierbar gewesen. Wir hätten nicht nur die Verantwortung auf uns nehmen müssen, halb Europa zu vernichten, sondern die ganze restliche Welt.« »Macht das noch einen Unterschied?« erkundigte sich Wargas. »In den Augen derer, die diese schwere Entscheidung zu fällen hatten, sicher. Immerhin hätte man eine gütliche Einigung der Blöcke trotz des Mißtrauens auf beiden Seiten als Beweis dafür ansehen können, daß doch noch nicht alles verloren war.« »Das alles setzt die Richtigkeit Ihres Urteils voraus. Die Weltgeschichte wimmelt von Despoten Ihrer Art.« »Zweifeln Sie ernsthaft daran?« Courbet schüttelte den Kopf. »Das System fraß sich selber auf. Lassen Sie uns nicht über die moralische Rechtfertigung dieser Entscheidung streiten. Hungerkatastrophen, Kinderhandel, Hochrüstung, Ausbeutung der Dritten Welt, Umweltbelastungen… die Liste ist endlos. Der Erfolg gab uns recht.« »Mißstände der alten Systeme kommen bei uns nicht vor«, bestätigte Frankenberg er » – und werden niemals vorkommen, denn der neue Mensch besitzt ein höheres Maß an Verantwortungsgefühl und Friedfertigkeit. Seine Kriegsbegeisterung ist auf das gegenwärtig erreichbare Minimum reduziert und kann nur durch extreme Umstände provoziert werden – wenn überhaupt.« »Vorausgesetzt, Überlebende wie ich geben keine schlechten Vorbilder ab?« »Wir arbeiten daran, ein immer höheres Maß an Aufklärung zuzulassen«, erklärte Courbet. »Sie werden das draußen
beobachtet haben. Aber im gegenwärtigen Stadium ist Ihr Wissen noch eine Gefahr.« »Das Prinzip von Hell und Dunkel?« »Sie haben also davon gehört«, stellte Courbet fest. »Durch Claudia, natürlich.« Er nickte. »Sie ist ein kluges Mädchen. Ja, es scheint, als stelle dieses Prinzip eines der wichtigsten neuen Gesellschaftsgesetze dar.« »Daß wir Alten auch etwas Positives einzubringen hätten, käme Ihnen wohl nicht in den Sinn?« »Das wäre?« »Erfahrung zum Beispiel, Wissen. Schließlich wurde alles, worauf Sie aufbauen konnten, durch die Alten geschaffen.« »Ja, unser Wissen und unsere Wissenschaft waren die Voraussetzung dazu.« »Aber von Dankbarkeit keine Spur?« »Gerüchte und Mißverständnisse führen leicht zu unkontrollierbaren Reaktionen. WEDA konnte nur diesen Weg gehen. In den achtziger und neunziger Jahren zeichnete sich die Möglichkeit ab, daß ein Genetikkonzern, wenn er genügend Verantwortung und Initiative zeigte, den Lauf der Weltgeschichte zu ändern vermochte. Ändern im Sinne eines Phasensprungs der Evolution, den weder die Natur noch die Gesellschaft mit politischen Mitteln jemals so zustande gebracht hätte. Es gab eine endgültige Lösung der brennenden Probleme. Zugleich aber standen wir vor der drohenden Katastrophe. In der Geschichte hat es immer wieder Beispiele für die verantwortliche Rolle des Wissenschaftlers gegeben. Viele haben gehandelt, aus welchen Motiven auch immer. Einstein handelte, als er den Bau der Atombombe anregte. Fast alle haben ihre Verantwortung gesehen. Mag sein, daß es sich schließlich als Irrweg entpuppte oder als eigensüchtige Tat, das ist nicht immer leicht zu entscheiden.«
»Ihr Gerede erinnert mich an jene wohlfeilen Sprüche, die alle halbwegs geschickten Despoten für ihre Opfer parat hielten.« »Ziehen Sie keine unpassenden Vergleiche«, wehrte Courbet ab. »Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen früher und heute. Zum ersten Mal haben sich verantwortungsbewußte Wissenschaftler zusammengetan, um die Welt vor dem drohenden Untergang zu retten. Das war nur möglich, weil wir frühzeitig darauf hinarbeiteten, die Kapitalmehrheit des Unternehmens zu erringen. An Ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Unsere Erfolge sind der Beweis. ›Nehmt an, was euch nach reiflicher Überlegung vernünftig erscheint‹, heißt es bei einem der alten Philosophen. Um den Preis zahlloser Menschenleben, zugegeben, haben wir getan, was uns in der gegenwärtigen Lage nicht nur vernünftig, sondern absolut notwendig erschien! Als Arzt wissen Sie, daß das Gute in dieser Welt oft nur durch das Böse zu erreichen ist. Unser größtes Problem war natürlich: Sind Gewalt und Vernichtung gegen jene erlaubt, die nicht gut sein wollen? Oder die nicht gut sein können, sei es aus angeborener Schwäche oder aus Uneinsichtigkeit?« »Ich denke, sie sind es nicht.« »Leicht gesagt. Das ist eine Frage, die Sie für sich selber in den kommenden Tagen entscheiden müssen.«
3 Aus einem unerfindlichen Grund schien Courbet es darauf anzulegen, seine Zustimmung zu gewinnen. In langen Spaziergängen durch die sumpfige Niederung, die sich jenseits des ummauerten Parks erstreckte, versuchte er ihn von der Richtigkeit ihres Handelns zu überzeugen. Er gab sich viel Mühe. Wargas’ neues Zimmer in der Klinikabteilung war
komfortabel eingerichtet. Seine Anfälle hatten dank der ausgezeichneten Behandlung nachgelassen. Goujon verschwieg ihm nicht, daß es nur eine Heilung auf Zeit sein würde. »Sie leiden an einer selten gewordenen Krankheit: Es ist die Reaktion Ihres Nervensystems und des ganzen Körpers auf eine als hoffnungslos erkannte Lage. Ihr Gefühlsabschalter hat die Symptome zu dämpfen vermocht. Früher, ohne dieses Gerät und unter gewöhnlichen Bedingungen, hätte man es eine ›reaktive Depression‹ genannt. Meines Erachtens ist es keine Folge des Krieges, sondern hängt mit Ihrer Einschätzung der Dinge zusammen – weniger Ihrer persönlichen als einem tiefen Zweifel an den gesellschaftlichen Zuständen. Wie viele vor Ihnen hatten Sie die Aussichtslosigkeit der damaligen Situation erfaßt, eingestanden oder uneingestanden.« Ein hakennasiger alter Kerl, der elsässisches Deutsch sprach, brachte ihm sein Essen. Er trug einen abgetragenen Baumwollanzug und schlurfte in Fellpantoffeln. Sein gutmütiges Lächeln und die Beflissenheit, mit der er auf Wargas’ Wünsche einzugehen versuchte, und seien sie noch so unerfüllbar, ließen ihn fast ein wenig dümmlich erscheinen (einem Kranken, der zugleich Gefangener war, konnte man nichts recht machen). Deshalb hielt Wargas ihn anfangs für das Faktotum der Anstalt; um so mehr überraschte es ihn, als er sich als Mitglied des Gremiums entpuppte, das über sein Schicksal verhandeln würde. Seine Hauptarbeit bestand darin, alte Zeitungsberichte zu analysieren. Auf den ersten Blick eine seltsam anmutende Beschäftigung – bis Wargas erfuhr, daß er mit nichts Geringerem als einer Analyse der zulässigen neuen Geschichtskenntnisse beschäftigt war. Das alte Wissen wurde ständig auf seine Verführungskraft hin untersucht. Der Alte hatte nichts dagegen, daß Wargas ihm bei der Arbeit zusah oder ihm mit kleineren Arbeiten zur Hand ging. Er konnte den
Gebäudekomplex zwar nicht verlassen, dafür jedoch das Bibliotheksarchiv benutzen, wo auch Daten über die militärischen Kräfteverhältnisse der Vorkriegszeit gespeichert waren. In der Tat erschien nicht eine einzige von Courbets düsteren Prognosen übertrieben. Der Vorsprung des Westens in militärischer Hinsicht hätte keine Erleichterung gebracht. Die Überlegenheit eines Machtblocks barg ebenso viele Gefahren wie ein mühsam aufrechterhaltenes Gleichgewicht. Wargas bat darum, Lyon besichtigen zu dürfen, den alten Siedlungskern rechts der Saone, die Kathedrale, den erzbischöflichen Palast und die Wallfahrtskirche Notre-Dame auf dem Mont Fourviere. Er wollte noch einmal, wie in seiner Studienzeit, den berühmten Parc de la Tête-d’Or besuchen. Lyon war in den zwanziger Jahren des neuen Jahrtausends durch die bahnbrechenden Entdeckungen der WEDA-Laboratorien zu einem Wissenschaftszentrum ersten Ranges in Europa aufgestiegen, jetzt war es eine ebenso verbotene Zone wie die anderen toten Städte. Courbet lehnte zunächst ab; doch auf Wargas’ Drängen hin teilte er ihm schließlich zwei Purificateurs zu, die ihn durch die Stadt begleiten sollten. Dem Jüngeren der beiden war bei einer Verfolgungsjagd ein Auge ausgeschlagen worden; aber das tat seinem freundlichen Jungenlächeln keinen Abbruch. WEDA stellte seit einiger Zeit Kunstaugen mit beweglichen Pupillen her, die von echten äußerlich nicht zu unterscheiden waren. Der Ältere mochte um die Fünfundzwanzig sein. Seine Fledermausohren waren besonders ausgeprägt, was auf ein scharfes Gehör hindeutete. Hätten Gehirnwellen auch nur die geringsten Geräusche erzeugt, Wargas wäre sicher gewesen, daß er seine Gedanken hätte lesen können. Ein streng dreinblickender Bursche von nordafrikanischem Typ.
Algerischer Abstammung, wie er erfuhr, denn der Jüngere witzelte während der Fahrt, falls Wargas zu fliehen versuche, solle er es am besten über das Mittelmeer in Richtung Oran versuchen… dann könne Blanchet endlich die Heimat seiner Vorfahren kennenlernen. Blanchet, der neben Wargas auf dem Hintersitz des Elektromobils saß, verzog keine Miene. Der immer gleiche, starre Zug lag um seine Mundwinkel. »Lächeln Sie niemals?« fragte Wargas. »Wir sind geschaffen worden, um unsere Aufgabe zu erfüllen«, sagte Blanchet langsam. »Nicht, um über dumme Witze zu lachen.« »Wie fühlt man sich, wenn man für das Töten in die Welt gesetzt wurde? Ich meine, anders als all die anderen, die eher sich selbst aufgeben als jemanden umbringen würden?« Er sagte es in so provozierendem Tonfall, wie er konnte. Und er sah, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Das Lächeln des Jüngeren am Steuer verzerrte sich zur besorgten Grimasse. Er gab Wargas durch den Rückspiegel zu verstehen, daß er besser schwiege. »Hat man Sie so programmiert, daß Sie dabei Vergnügen empfinden?« fuhr er unbeirrt fort. »Wir töten nicht«, sagte Blanchet; die Antwort kam nur widerwillig über seine Lippen. Er wandte das Gesicht ab und starrte düster aus dem Fenster. »Ja, wir versorgen sie nur mit dem Gehirnwellenblockierer«, bestätigte Vallon und zeigte auf die silberne Schale, die in einem Karabinerhaken an seinem Gürtel hing. »Provisorisch, ihr Bewußtsein wird bloß angehalten. Die eigentliche Übertragung auf Platinen erfolgt in der Seelenbank.« »Und das Bolzenschußgerät da in Ihrer Jackentasche?« erkundigte sich Wargas. Er zeigte auf den dunkelbraunen
Kunststoffgriff seiner Waffe, die an einen Revolver früherer Zeiten erinnerte. »Nur für Notfall«, sagte Vallon. »Halt’s Maul!« zischte Blanchet. »Ist das etwa die feine neue Ausdrucksweise?« fragte Wargas mit triumphierendem Unterton. »Wir sind nur im äußersten Notfall imstande, es zu benutzen«, erklärte Vallon. »Es ist eine genetische Blockade. Erst wenn wir selber in Gefahr geraten…« »Nicht bei mir.« Blanchet schüttelte den Kopf. »Ich bin anders als ihr. Ich kann töten, wann ich will. – Denken Sie bloß nicht, Sie hätten eine Chance, zu entkommen!« sagte er zu Wargas gewandt. »Ich würde kurzen Prozeß mit Ihnen machen. Der Gehirnwellenblockierer ist zu schade für Leute Ihrer Art.« »Meiner Art? Wie meinen Sie das?« »Die den anderen mit ihren scheinheiligen Weisheiten den Kopf verdrehen.« »Sie haben alle mächtige Angst vor der Vergangenheit, was?« fragte Wargas. »Wir haben vor nichts Angst.« »Du kannst so wenig nach Belieben töten wie ich«, sagte Vallon kopfschüttelnd. »Ich kann’s! Denk an den Hasen!« »Er hat einen Hasen getötet«, bestätigte Vallon und wischte sich amüsiert über die Haarsträhne an seiner Stirn. »Bei Schießübungen vor zwei Tagen auf dem Damm der alten Schnellzuglinie nach Paris. Und nun glaubt er, es sei dasselbe, als wenn man einen Menschen töte…« »Ich kann’s!« beharrte Blanchet. »Sogar mit bloßen Händen. Ich werd’s dir beweisen – eines Tages.« »Dann sollten Sie ihm das Bolzenschußgerät lieber wegnehmen«, sagte der Doktor. »Ehe er Unheil damit
anrichtet.« Er lehnte sich zurück. »Vielleicht ist es besser, wenn ich Courbet davon unterrichte«, meinte er nachdenklich. »Unterstehen Sie sich…« Blanchet griff nach seinem Jackenrevers und zog ihn mit einer heftigen Bewegung zu sich heran. Die Härte seines Griffs, als sein Arm Wargas’ Nacken umfaßte, nahm zu. Dann umschloß die Linke des anderen seinen Hals, und Wargas, spürte, daß sich der Druck an seinem Kehlkopf Millimeter um Millimeter verstärkte und ihm den Atem nahm… die gespreizte Hand Blanchets bohrte sich langsam aber stetig mit Daumen und Zeigefinger ein. »Laß das!« sagte Vallon, er beugte sich vom Steuerrad nach hinten und griff ihm in den Arm. »Sieh auf die Straße!« »Du weißt, daß er krank ist…« »Nicht kränker als andere.« »Denk an die Seelenbank! Man wird dich zur Rechenschaft ziehen, wenn ihm etwas passiert. Courbet wird…« »Courbet, Courbet… Eines Tages übernehmen wir die Macht.« Blanchets Hand ließ ruckartig von Wargas’ Hals ab. »Ich hab’s bewiesen: Ich hätte ihn töten können. – Oder?« fragte er vorgebeugt. »Sag, daß es wahr ist!« Vallon zuckte die Achseln. »Sag es!« »Ja, ja es ist wahr, zum Teufel noch mal!« »Ihre Gene sind wohl etwas durcheinandergeraten, was?« fragte Wargas, er massierte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kehlkopf. »Glauben Sie nicht, daß ich vor Courbet Angst hätte«, meinte Blanchet, und seine dunklen algerischen Augen musterten ihn flammend und voller Mißtrauen. »Aber es wäre gesünder für Sie, wenn Sie ihm nichts davon sagten.«
Courbet, den Wargas insgeheim noch immer den ›Chefideologen‹ nannte, besuchte ihn jeden Morgen, um mit ihm die nähere Umgebung zu durchstreifen. Die beiden Purificateurs folgten ihnen in einiger Entfernung. Der Jüngere winkte manchmal freundlich herüber, wenn Wargas zurückblickte, als könne er ihn auf diese Weise davon abhalten, seinen Kollegen bei Courbet bloßzustellen. Wargas hatte nicht die Absicht, Courbet von dem Zwischenfall zu erzählen. Der Rausch war vorüber und hatte längst jener Ernüchterung Platz gemacht, die immer folgte, wenn er sich des unseligen Hangs zu Streit und Gewalttätigkeit bewußt wurde, der ihm, wie den meisten der alten Generation, eingepflanzt war. »Eines verstehe ich nicht«, sagte er, während sie den ansteigenden Sandweg hinaufgingen, der schon bald wieder abfiel und an einem durch die Regenfälle der letzten Tage gebildeten See endete. »Warum haben Sie nicht einfach abgewartet, bis der Osten zuschlug? Ich meine, wenn Sie doch überzeugt waren, daß er seinen technologischen Rückstand unmöglich hinnehmen würde? Sie hätten sich die bakteriologische Katastrophe ersparen können?« Courbet schüttelte den Kopf. »Erstens wußten wir nicht, ob und wann es passieren würde, und zweitens hätte ein Atomkrieg in Europa alles zerstört. Nein, wir mußten die Voraussetzung dafür schaffen, daß ein Teil der Bevölkerung überleben würde, genau jener Teil, den wir dafür herangezogen hatten.« »Sie konnten nicht bei Null anfangen?« »Ja, wir benötigten Wohnraum, Labors, Vorratslager, Fabriken…« Die Bereitwilligkeit, mit der er seine Fragen beantwortete, versetzte Wargas in Erstaunen. Es hatte den Anschein, als wolle er ihn zu irgend etwas überreden. Sein Entgegenkommen – ihre gemeinsamen Spaziergänge, die Stadtausflüge, Wargas’
ausgezeichnete Pflege und Versorgung – waren ein deutliches Zeichen dafür. Aber wozu? Welchen Sinn sollte es haben, einem Todeskandidaten die Gründe seines Sterbens zu erläutern? Denn daß er sterben mußte, davon war er überzeugt. Courbet erwähnte es zwar mit keiner Silbe. Doch alles deutete darauf hin. »Und wenn ich Ihnen versichere, daß ich nie wieder ein Sterbenswörtchen über irgendeinen Punkt der alten Geschichte verlauten lasse?« fragte er. »Ich meine: ganz zu schweigen von dem, was ich über die Hintergründe des Krieges weiß?« Er blieb stehen und musterte Courbet fragend. »Es wäre den anderen gegenüber ungerecht«, erklärte der Franzose. »Viele mußten ihr Leben lassen, weil man die Verführungskraft ihrer Vergangenheit fürchtete. Aber das ist es nicht allein…« Er blieb ebenfalls stehen und wartete, bis Wargas herangekommen war. »Ich glaube, man hat Ihnen schon gesagt, daß Sie einem Gremium vorgeführt werden. Diese Versammlung allein entscheidet darüber, was mit Ihnen geschehen wird.« »Eine Art Gerichtsverfahren?« »Nicht eigentlich.« »Sondern?« »Es wird dort keine Schuld zugesprochen.« »Worum geht es dann?« Courbet hob vage den Arm, als sei es noch verfrüht, schon jetzt darüber zu sprechen. »Na hören Sie mal!« sagte Wargas verärgert. »Sie stecken mich in ein komfortables Zimmer, Sie lassen mich durch Ihre Ärzte wieder in Ordnung bringen, Sie spazieren tagelang mit mir durch die Gegend, um mir alle Feinheiten Ihres welthistorischen Verbrechens zu erläutern, und das alles nur,
um mir vor einem Gremium ohne Schuldspruch mitteilen zu lassen, daß ich sterben werde?« »Nun, es wäre… verstehen Sie mich richtig«, sagte er und griff sich unbehaglich in den Kragen. »Sie sollen ganz einfach aus Einsicht die Konsequenzen Ihrer gegenwärtigen Lage ziehen. Unserer Lage«, verbesserte er, »denn wir alle sind davon betroffen.« »Was heißt das – Konsequenzen?« Courbet zuckte die Achseln und trat nach einem Ast, der vor ihm im Uferwasser schwamm. »Erinnern Sie sich, daß es in früheren Zeiten etwas gab, das man ›Offiziersehre‹ nannte?« »Ja, aber ich verstehe nicht?« »Es wäre gut, wenn Sie schließlich dazu kämen, sich als Soldat im Dienste unserer Sache zu sehen.« »Sie sprechen in Rätseln… ich soll…?« Er hielt ganz ungläubig inne. »Jetzt verstehe ich. Sie meinen, ich würde…?« »Es wäre für beide Seiten die angenehmste Lösung.« »Angenehm, daß ich nicht lache! Was soll angenehm daran sein, wenn ich Selbstmord begehe? Weil ich Ihnen damit die Henkersarbeit abnehme?« »Lassen Sie uns da hinübergehen, dorthin, wo die Bank ist«, murmelte Courbet undeutlich. Er stapfte voraus über den morastigen Hang und versank bis zu den Knöcheln im Schlamm. Wargas war sicher, daß ihm seine Aufgabe kein Vergnügen bereitete. Die Eile, mit der er der Baumgruppe vor ihnen zustrebte, sprach für sich. Es hatte den Anschein, als würde er sich lieber aus dem Staube machen. »Sie müssen glauben, ich sei verrückt geworden«, sagte Courbet. »Aber diese Lösung hat mehr für sich, als es auf den ersten Blick scheint.« »So? Ich wüßte nicht, auf welche Weise.« »Nun… zum Beispiel sterben Sie in Würde.«
»Ich sterbe in…? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Sehen Sie, man wird Ihr Bewußtsein auf einer Platine speichern und Ihren Körper konservieren. Unsere Techniker machen gute Fortschritte darin, die letzten Probleme der Übertragungstechnik zu meistern. Wenn Sie interessiert sind, werde ich Ihnen morgen die entsprechende Abteilung vorführen. Ich kann Ihnen versichern, daß die Unsterblichkeit schon sehr bald kein bloßes Hirngespinst mehr ist. Das setzt natürlich einen kontrollierten Tod voraus.« »Was hat mein Selbstmord damit zu schaffen?« »Sie werden mit Ihrer vollen Erinnerungsfähigkeit zurückgerufen. Ein Selbstmord aus freier Entscheidung – aus besserer Einsicht – «, ergänzte er, »würde verhindern, daß Ressentiments unser späteres Zusammenleben belasten. Stellen Sie sich vor, ich müßte Ihnen in einer nicht allzu fernen Zukunft als jemand entgegentreten, der für Ihren Tod verantwortlich war?« »Sie haben eine merkwürdige Art, einem die Dinge schmackhaft zu machen.« »Nach etwas Bedenkzeit werden Sie einsehen, daß es nur zu Ihrem Vorteil ist.« »Mein Selbstmord wäre demnach der Eintrittspreis für die Unsterblichkeit?« »Das Gremium wird Ihren Eintritt in die Seelenbank nur zulassen, wenn Sie freiwillig sterben.« »Das also war es, was Sie mir die ganze Zeit über beizubringen versuchten?« »Wir sind keine Mörder.« »Und wenn ich ablehne?«
Zweites Kapitel
1 Eine Frage, die er sich in den kommenden Tagen selbst beantworten konnte. Bei allem Wohlwollen WEDAs: Sie würden schließlich doch so über sein Schicksal entscheiden, wie es ihnen nötig und zweckmäßig erschien. Sie würden ihn nicht foltern. Und wenn sie zu Courbets Behauptung standen, daß sie keine Mörder seien – daß die Verbrechen des Krieges einer Übergangszeit angehört hatten –, dann würden sie ihn nicht einmal töten. Er konnte sich leicht ausmalen, welche andere Wahl zwischen der Hinrichtung und der ›Einschläferung‹ im Gehirnwellenblockierer bestand. Es war eine lebenslange Gefangenschaft. Isolation. Vielleicht durfte er dann hoffen, irgendwann zu fliehen; möglicherweise auch würden sich die Verhältnisse eines Tages ändern… Doch er war zu alt, um noch soviel Geduld aufbringen zu können. Im Hintergrund dessen, was er für sich selbst trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Courbets den ›Gerichtssaal‹ nannte, hing an hölzernen Stangen ein Gobelin, der fast bis zum rotgefliesten Boden reichte. Es zeigte auf blaßblauem Grund die dunkelblaue Silhouette einer fliegenden Taube; ihr linker, perspektivisch vergrößerter Flügel schien dem Betrachter entgegenzufallen, und der rechte durchpflügte mit kräftiger Aufwärtsbewegung die Luft. Es gab kein Podium. Anders als bei den Gerichtssälen früherer Zeiten tagte das Gremium in einem Oval aus dunklen Bänken, das nur an jenem Platz durch Lücken unterbrochen war, auf dem der ›Angeklagte‹ saß.
Wargas hatte erwartet, Courbet sei der Wortführer. Doch ein kahlköpfiger Mann mit rosigen Wangen, den er nie zuvor gesehen hatte, führte die Verhandlung. Einige andere in der Runde – wie die übrigen alte Gesichter, auf denen feierlicher Ernst lag – kamen ihm dagegen bekannt vor. Niemand trug Roben, alle schienen in der Kleidung jener Tätigkeit gekommen zu sein, die sie gerade verrichtet hatten: in Laboranzügen, Ärztekitteln, Technikerbekleidung; oder in gewöhnlichen Straßenanzügen. Einige musterten ihn, offenbar, weil sie ihn zum ersten Mal sahen, mit kaum verhohlener Neugier. Er war in ihrem Alter, das mochte ihr Interesse erregen. Während Wargas am langen Ende des Ovals saß und seinen Gedanken nachhing, fragte der Alte unter dem Gobelin mit erhobener Greisenstimme: »Monsieur Wargas – darf ich Ihrem Schweigen entnehmen, daß Sie zustimmen…?« Er schreckte auf. »Ja, ich…« Erheitertes Gemurmel unterbrach seine Antwort. Wargas blickte sich betreten um. »Bitte entschuldigen Sie, ich habe nicht verstanden…?« »Ich fragte, wer in Ihrer Lage es schon, vorzöge, sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen«, erklärte der Vorsitzende. Wargas spürte den leisen Spott in seiner Stimme. »Ich würde es vorziehen, diesen Saal als freier Mann zu verlassen«, sagte er und stand erregt auf. Der Stuhl hinter ihm fiel polternd zu Boden. Courbet gab ihm ein beschwichtigendes Zeichen; doch Wargas achtete nicht darauf – wütend fuhr er fort: »Die Vermessenheit, über Menschenleben zu verfügen, wird nur noch durch Ihr Maß an scheinheiliger Humanität übertroffen. Wie können Sie sich unterstehen, sich ein solches Recht herauszunehmen? Und warum sollte ich glauben, daß es
nicht ganz gewöhnliche wissenschaftliche Neugier und Experimentierlust war, die Sie bewogen hatte, so viele Menschen zu opfern?« Er schrie jetzt, obwohl er nicht alles glaubte, was er sagte. Es war, als befände er sich plötzlich in der Position des Anklägers, und er genoß diese Rolle. Seine Sätze kamen schnell und hart. »Im Namen der Menschlichkeit haben Sie sich am Leben versündigt. Sie haben die heiligste Pflicht des Arztes mißachtet, Menschenleben zu retten, wo immer es möglich ist… Sie haben getötet, wieder und immer wieder getötet. Auf eine abscheuliche und schmerzhafte Weise! Wissen Sie überhaupt, was es bedeutet an Gehirnhaut- und Lungenentzündung zu sterben? Hätten Sie selbst auch nur den Bruchteil jener Schmerzen zu ertragen vermocht? Sie sind gewöhnliche Verbrecher, Massenmörder, wie sie die Weltgeschichte zur Genüge kennt…« Seine Stimme versagte, und seine Knie begannen leicht zu zittern, der altbekannte metallische Geschmack machte sich in seinem Mund bemerkbar; aber er versuchte darüber hinwegzusehen. »Despoten, die sich mit dem Mäntelchen väterlicher Weisheit und Gutwilligkeit umgeben…« Seine Stimme versagte erneut. »Bitte mäßigen Sie sich!« warnte der Vorsitzende. Wargas sah, daß er sich betreten über die Stirn fuhr. Erregtes Gemurmel machte sich im Saale breit; Frankenberger beugte sich zu seinem Nachbarn hinüber, und obwohl Wargas auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß, glaubte er das französische Wort execution verstanden zu haben… »Ja, warum bringen Sie mich nicht um – warum töten Sie mich nicht wie all die anderen?« schrie er mit erneuter Kraftanstrengung. »Macht es einen Unterschied, daß diese Verbrechen schon einige Zeit zurückliegen? Vor einem Schöpfer, wenn er doch existieren sollte, werden Sie damit keine Gnade finden – niemals! Wie könnte es eine Verjährung
für Ihre Taten geben, nach der Sie wieder als unbescholtene Mitglieder in die menschliche Gemeinschaft zurückkehren, um plötzlich jene Rechtschaffenheit und Humanität zur Schau zu tragen, die Sie, wie niemals zuvor in der Geschichte, mit Füßen getreten haben!« Er ballte drohend die Faust… doch ehe er fortfahren konnte, spürte er, daß ihn die Kräfte verließen… Er versuchte sich mit der Linken auf der Tischplatte abzustützen, den rechten Arm noch immer erhoben. Aber vergebens: seine Beine sackten weg, und er sank kraftlos auf den Stuhl zurück. Die Sitzung wurde unterbrochen.
Er fand sich auf der Couch in einem hohen Zimmer liegend wieder, dessen schwere Vorhänge wegen der grellen Nachmittagssonne zugezogen waren. Goujon beugte sich über ihn, er trug seinen grünen Ärztekittel. Mit einem Metallstift betastete er den Nervenknoten an der Stirn zwischen Wargas’ Augen und las die Skala ab. »Nur ein Schwächeanfall. Das geht vorüber.« »Wo bin ich?« »In einem Raum neben dem Sitzungssaal. Sind Sie wieder bei Kräften?« »Ja, bringen wir es hinter uns.« Er richtete sich auf und setzte seine Füße auf den Boden. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen raten soll, jede weitere Provokation des Gremiums zu unterlassen«, meldete sich Courbets Stimme aus dem Hintergrund. »Vermutlich ist es reine Zeitverschwendung?« Wargas wandte sich überrascht nach ihm um, er hatte seine Anwesenheit noch nicht bemerkt.
»Es steht Ihnen selbstverständlich frei, Ihre Meinung zu äußern. Das Gremium verträgt durchaus Kritik. Man praktiziert dort die Selbstkritik seit dem Beginn des Krieges. Aber Ihre Angriffe wirkten blasiert und unglaubwürdig. Einverstanden, wenn Sie sich Luft machen wollten – das ist geschehen. Vergessen Sie es jetzt. Nicht Anfeindungen oder Beleidigungen, sondern eine klare Analyse der weltpolitischen Lage hätte sie überzeugen können, Es gab damals genügend Menschen, die an der Hoffnung hingen, jene unselige Konfrontation der Machtblöcke könnte sich eines Tages in Nichts auflösen – ganz einfach wie ein Spuk, und die Friedenstauben würden sich, womöglich durch die Eingebung des Heiligen Geistes, auf sie herabsenken. Wenn das auch Ihre Meinung ist, sollten Sie sie gründlich überdenken. Andere glaubten, es ließe sich mit der Gefahr leben, man würde sich schon mit ihr arrangieren. Dann gab es die große indifferente Masse, die hingeschlachtet werden würde, früher oder später. Im Grunde haben wir nur den Zeitpunkt bestimmt, aber weder das Ausmaß des Leidens noch den Tod. Es ist fraglich, ob bei einem weltweiten Krieg ohne unser Zutun mehr Menschen überlebt hätten. Sie müssen diese Argumente entkräften oder erschüttern«, sagte er eindringlich. »Das ist es, was sie eines Besseren belehren könnte. Wenn Sie darauf keine Antwort wissen, sollten Sie besser schweigen.« Er stand auf und ging voraus, um die Tür zum Saal zu öffnen. Vallon und Blanchet postierten jetzt neben dem Ausgang. Das Gremium erhob sich murmelnd, als sie eintraten. Wargas registrierte es mit Erstaunen. »Ich möchte noch einmal die Ausgangsposition wiederholen«, erklärte der Vorsitzende nach kurzer Pause. »Aber zuvor im Namen der Versammlung eine Entschuldigung: Es ist uns ein Bedürfnis, Ihnen unsere Anteilnahme und unser Verständnis auszusprechen…
Sie dürfen nicht glauben, daß uns Verfahren dieser Art Genugtuung bereiten. Wir würden lieber darauf verzichten.« Wargas nickte matt. »Ja, natürlich«, murmelte er kaum hörbar. »Bitte wieder Platz zu nehmen«, sagte der Vorsitzende. Er fuhr mit erhobener Stimme fort: »Offenbar haben wir zwischen zwei möglichen Lösungen zu wählen. Die eine wäre Ihre lebenslängliche Isolierung und Gefangenschaft, die andere eine… nun, ja« – er zögerte –, »eine gewisse Pause Ihrer bewußten Existenz, bis jene Probleme gegenstandslos geworden sind, um derentwillen Sie eine solche Gefahr darstellen. Viele Hunderte sind in den vergangenen Monaten diesen Weg gegangen, und Sie dürfen versichert sein, daß wir mit größter technischer Sorgfalt vorgingen.« Er hielt abwartend inne und musterte ihn fragend. »Haben Sie für sich selbst schon eine Entscheidung getroffen?« Wargas bemerkte, daß Totenstille im Saale herrschte. »Kann ich… ich meine, werde ich selbst den Zeitpunkt meines Todes bestimmen können?« »Aber gewiß. Übrigens ein völlig schmerzloses Verfahren. Der Gehirnwellenblockierer wird von Ihnen selber ausgelöst, im Bruchteil einer Sekunde ist alles ausgestanden.« »Und meine…« – er hatte Mühe das Wort über die Lippen zu bringen – »Wiedererweckung?« »Die Hauptprobleme wurden theoretisch gelöst«, meldete sich Courbet. Er schlug eine vor ihm liegende Mappe auf. »Wir kämpfen noch mit der technischen Umsetzbarkeit.« »Sie wissen nicht, wie das System in Bewegung gesetzt wird, habe ich recht? Ihre tiefgekühlten Platinen sind keinen Pfifferling wert…« »Es hat große Fortschritte gegeben in letzter Zeit. Wir wissen jetzt definitiv, daß es im Prinzip möglich ist.«
»Was nennen Sie ›definitiv‹?« fragte Wargas und erhob sich wieder. »Würden Sie es auch so nennen, wenn Ihr eigenes Leben auf dem Spiele stünde?« »Oh«, sagte der Vorsitzende lächelnd, »es war unverzeihlich, daß wir Sie nicht schon früher darüber aufgeklärt hatten. Natürlich – das konnten Sie nicht wissen… aber bitte setzen Sie sich doch!« Er beugte sich – noch immer lächelnd – zurück und legte die gespreizten Finger seiner rechten Hand auf den Hals am Kehlkopf, als sei er peinlich berührt über seine Unterlassung. »Auch wir wählen diesen Weg. Jeder einzelne von uns hat sich feierlich verpflichtet, wenn seine Zeit gekommen ist – und darüber entscheiden in der Regel die Ärzte –, sein Bewußtsein der Seelenbank zur Verfügung zu stellen. Vorteile und Nachteile liegen auf der Hand: Man stirbt unter Umständen zu früh, denn bei einem gewöhnlichen Todesfall ist die Platinentechnik nicht anwendbar; andererseits sichern wir uns damit das Weiterleben zu einem späteren Zeitpunkt.« »Schwacher Trost«, murmelte Wargas. Er bewegte abfällig die Mundwinkel und starrte auf seine Hände. Das also war das Ende. Der Tod im Gehirnwellenblockierer. Die Hoffnung auf ein Jenseits, das dann vielleicht nie kommen würde. Eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit jener Art von Vertröstung, die auch die Religionen predigten. Aber er fühlte sich matt und ausgelaugt – zu müde, um endlos mit seinem Schicksal zu hadern – und zu nüchtern und desillusioniert, um noch auf eine vage Fluchtchance zu hoffen. Er wurde älter, und das Leben dort draußen in den toten Städten würde mit jedem Tag mehr eine Strapaze sein, eine hundsgemeine Schinderei sogar, wenn er an seine Krankheit und die knapper werdenden Vorräte dachte… »Bitte, lassen Sie mir etwas Zeit.« »Selbstverständlich. Aber auch wenn Sie jetzt bereit wären, zuzustimmen«, erklärte der Vorsitzende, »könnte Ihre
Entscheidung noch in letzter Minute rückgängig gemacht werden. Sie gehen keinerlei Verpflichtung ein. Wie gesagt, liegt es in Ihrer Hand, den Schalter zu betätigen.« Es war leicht, an dem gespannten Schweigen der Runde abzulesen, welche Antwort man jetzt von ihm erwartete. »Gut«, sagte er, noch benommen von der Anspannung des Zuhörens, und versuchte seiner Stimme einen humorigen Klang zu geben, »gut, gut… wenn Sie glauben, daß mein Weiterleben an den Grundfesten des Systems rüttelt…? Und ehe ich noch weiteres Unheil anrichte? Zum Teufel, ja, wenn es denn sein soll! Ich bin ein alter, kranker Mann. Ich habe viel gesehen, zu viel. Und genaugenommen gibt es nichts mehr, an dem ich wirklich hängen müßte, außer dem Mädchen vielleicht…« Er schwieg. Claudia, dachte er. Der Gedanke an sie ließ ihn wieder schwanken. Was geschah mit ihr? Als habe Courbet seine Gedanken erraten, sagte er: »Es wäre nützlich, wenn Sie ihr einen Abschiedsbrief schrieben, in dem Sie Ihren Verdacht widerriefen und ihr zugleich mitteilten, welchen Weg Sie freiwillig gewählt haben.« »Freiwillig, ja natürlich«, murmelte er mehr mechanisch, als den Sinn der Worte zu begreifen. »Allerdings sollten Sie besser darauf verzichten, jene Informationen, die Sie widerrufen, in Ihrem Brief noch einmal zu erwähnen. Widerrufen Sie nur für alle Fälle. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn sie sich an nichts erinnert, um so besser. Das Storantinium hat ihr Gedächtnis soweit ausgelöscht, daß wir unbesorgt sein können.« »Ja, selbstverständlich«, flüsterte Wargas kaum hörbar. »Danke, meine Herren, danke«, sagte der Vorsitzende und sammelte seine Papiere ein – nach seiner Eile zu urteilen, als befürchte er, Wargas könne es sich noch einmal überlegen. »Damit ist die Sitzung geschlossen. Lassen Sie uns wieder an die Arbeit gehen.«
Er wußte nicht, ob er bereute. Tiefe Ratlosigkeit hatte ihn ergriffen. Für den Todeskandidaten ist vieles, was sonst unbeachtet blieb, ein kostbares Gut. Musik aus einem offenstehenden Fenster, die Gesichter der Mädchen, das Sonnenlicht auf den Zweigen im Park, der von Felsadern durchzogene Boden, selbst der Blick auf die unförmige Silhouette der Seelenbank weit draußen am anderen Ortsende (obwohl er doch eher der Aussicht auf den Galgen glich). Man hatte ihm anheimgestellt, das Datum seines Todes selber zu bestimmen, »innerhalb eines vernünftigen Zeitraums«, wie Courbet vorsichtig erklärte. »Quälen Sie sich nicht unnötig!« riet er ihm. Einmal, als er morgens erwachte, versuchte er sich auszumalen, was geschehen würde, wenn er jetzt ganz einfach aus dem Bett stiege und den 3000-Grad-Schalter zur Desinfizierung der Bodenkacheln betätigte. In Sekunden würde alles vorüber sein. Es genügte, wenn er sich flach auf den Boden legte… Wargas stand auf und tappte auf bloßen Füßen zur Wand. Eine gewisse Genugtuung überkam ihn, als seine Fingerspitzen den rotmarkierten Schalter berührten. Er würde nur noch den Sicherheitshebel in Kopfhöhe umlegen müssen, dann ein Druck – und das Wasser, aus dem sein Körper bestand, löste sich in eine Dampfwolke auf. Eine schwarze Wolke, dachte er. Es muß eine schwarze Wolke sein. Denn das Gefühl der Genugtuung bei dieser Vorstellung hing zweifellos mit dem Gedanken zusammen, daß er es ihnen dann gezeigt haben würde. Daß er sich nicht unterkriegen ließ. Daß man, wie ein Schriftsteller im vorigen Jahrtausend gesagt hatte, zwar vernichtet werden konnte, aber nicht aufgeben durfte. Wenn er das überlebte Exemplar einer dekadenten Epoche war, zu nichts weiter nütze,
als die Voraussetzungen für den neuen Menschen zu schaffen, dann wollte er diesen überholten Typ auch in seiner ganzen Häßlichkeit verkörpern: nur keine Beschönigungen! Vielleicht gehörte es ebenfalls zu jenen abstoßenden Eigenschaften, daß er sich, nachdem er seine Zerstörungsphantasien ausgelebt hatte, müde und unentschlossen ins Bett zurücklegte.
2 Er hatte einen sonnigen Spätnachmittag gewählt. Gegen Abend, so dachte er, starb es sich leichter. Wenn das Licht zur Neige ging, würde auch das Leben leichter auszulöschen sein. Man ertrug den Tod in der Helle des Vormittags am schlechtesten. Aber noch ging die Sonne nicht unter; für den fortgeschrittenen Tag war sie erstaunlich grell. Es mochte an der klaren, dunstfreien Luft über dem Horizont liegen. Vallon steuerte den Wagen, Blanchet nahm neben Wargas auf dem Rücksitz Platz; und Courbet wandte sich öfter vom Beifahrersitz aus nach Wargas um und erläuterte ihm in einer Art, die deutlich seine Befangenheit erkennen ließ, verschiedene Gebäude am Wege. »Das da ist der neue Opernbau – da die Zentralbibliothek! Das erweiterte Informationszentrum…« »Lassen Sie doch die Fisimatenten«, sagte Wargas. »Ich weiß, daß ich sterben werde, und Sie wissen es. Ich werde weder in die Oper noch sonstwo hingehen.« »Nicht für sehr lange«, beschwichtigte Courbet. »Genaugenommen kann man überhaupt nicht von Zeit reden. Allenfalls von sehr wenig Zeit. Da Sie während der Einschläferungsphase kein Zeitgefühl haben, wird es Ihnen
nach Ihrer Wiedererweckung scheinen, als seien Sie nur für einige Sekunden eingenickt.« Wargas lachte verächtlich. »Die Richtigkeit Ihres unbegrenzten Glaubens in den wissenschaftlichen Fortschritt vorausgesetzt«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. Er starrte aus dem Wagenfenster. Die Seelenbank lag am anderen Ortsende, über den Häuserdächern sah man ihre hohe, grüne Kunststeinfassade, ein würfelförmiger Monolith wie ein überdimensionaler Grabstein; dahinter begann die verbotene Zone des alten Stadtteils. Menschentrauben an den Straßenecken erregten seine Neugier; junge Leute wie die Verkündigung der Zukunft; nicht einer unter ihnen älter als dreißig Jahre; Blut aus dem Blut der Alten und doch nicht ihr Blut; Neid erfaßte ihn jäh und schmerzhaft. Er wandte sich ab. Doch dann kehrte sein Blick suchend und gleichzeitig irritiert zurück. Ein Mädchen bewegte sich auf dem Gehsteig, halb verdeckt von Passanten. Es trug ein geblümtes Kleid, und als es ihnen, während sie abbogen, das Gesicht zuwandte, jenes Gesicht unter dem brünetten, glatt zurückgekämmten Haar, das ein wenig zu vollkommen schien, um sinnlich zu sein, war er völlig sicher. Nur das Stirnband fehlte. »Halten Sie!« sagte er. »Halten Sie an, verdammt noch mal! Das da ist Claudia…« »Nein, Sie irren sich.« Courbet schüttelte den Kopf, er legte beschwichtigend seine Hand auf Wargas’ Arm. »Aber ich kenne sie seit vielen Jahren, sie ist…« »Nichts weiter als ein Duplikat.« Sie ist wie Vera, hatte er sagen wollen, aber seine Finger rissen schon am Türgriff. »Herrgott noch mal, seien Sie doch vernünftig!« Er versuchte ihn zurückzuhalten. »Sie ist eine von vielen. Als WEDA mit
seinen Versuchen am Anfang stand, gab es noch nicht so viele verschiedene Typen. Wir waren gezwungen…« Wargas stieß die Tür auf, er ließ sich ohne ein weiteres Wort aufs Pflaster rollen. Wegen der Kurve war die Geschwindigkeit des Wagens nicht sehr hoch. Er prellte sich nur das Knie und kam sofort wieder auf die Beine. Das Mädchen verschwand in der Menge. »Folgen Sie ihm!« hörte er Courbets Stimme hinter sich. Ohne sich umzuwenden lief er der Passage entgegen. Es gab abzweigende halbdunkle Gänge. Hinter den großen Scheiben blitzte das Wasser eines Rasensprengers in der Sonne. Jemand stellte sich ihm fragend in den Weg; aber er nahm nicht einmal wahr, ob es ein Mann oder eine Frau war. Sein Blick heftete sich starr auf den Rücken des geblümten Kleides am Ende der Passage. Nun betrat das Mädchen einen weiten Platz. An der Ostseite begann der Sperrbezirk, abgetrennt durch die Böschung eines trockengefallenen Bachlaufes. Das grelle Licht ließ ihn für einen Augenblick zögern. Ihr Gang! dachte er. Es ist nicht der gleiche Gang! Er erreichte sie und riß sie an der Schulter herum, als sie an der Treppe angelangt war, um einen Zugang zu den unterirdischen Fernbahnhöfen zu betreten. »Claudia…?« »Monsieur?« Sie nahm ohne ein Zeichen des Wiedererkennens seine Hand von ihrer Schulter. »Ich kenne sie nicht«, sagte sie auf französisch. Ihr Gesicht war heller als das von Claudia und leicht geschminkt. Ein neugieriges Lächeln spielte um ihre Lippen. Enttäuscht wandte er sich ab. »Bitte, entschuldigen Sie.« Er sah, daß Vallon und Blanchet am Ende der Passage auftauchten. Der Jüngere war ein Stück voraus. Courbet mußte beim Wagen geblieben sein. Wargas wandte sich dem Graben
zu. Ein hölzernes, brusthohes Geländer versperrte auf der verbotenen Seite den Weg. Ohne Zögern watete er durch den Bachgrund, der nach den Regenfällen der letzten Tage morastig war; er sank bis zu den Knöcheln ein. Als er das Geländer überstieg, wandte er sich kurz nach Vallon um. Der Jüngere war nur noch zwanzig Meter entfernt. Er lief geduckt, mit weit ausholenden Bewegungen, wie ein Weitspringer vor dem Absprung ins Sandbecken. Blanchet lag ein gutes Stück zurück. Die alte Leidenschaft überkam ihn: Er war so oft in der Rolle des Verfolgten gewesen, und er hatte stets gesiegt – obwohl sie körperlich besser trainiert waren. Alter Fuchs, dachte er, du hast sie noch immer abgehängt… Er sah an der Fassade des vor ihm liegenden Hauses hinauf. Es war ein Geschäftshaus mit leeren Auslagen und einer zerstörten Schaufensterscheibe neben dem Eingang. Vor den Fenstern befanden sich winzige, von schmiedeeisernen Gittern begrenzte Balkone, wie sie im vorigen Jahrtausend Mode gewesen waren. Am Ende der einen Halle, dem Plakat an der Wand nach zu urteilen ein Autosalon, schimmerte Licht auf. Wargas zwängte sich durch den Glasbogen der zerstörten Schaufensterscheibe. Die Tür in der Rückwand führte auf einen von blinden Autowracks gesäumten Platz. Dahinter erhob sich der Betonbau des städtischen Zentralparkhauses. Eine zerbrochene Neonschrift wies den Weg zur Auffahrt. Der passende Irrgarten, stellte er befriedigt fest. Außen an der Fassade liefen Gänge für Fußgänger um, in deren Betonwänden sich zahllose Durchgänge befanden. Er erklomm die erste Plattform und stieg durch ein Lüftungsloch. Drinnen mußten sich seine Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Er hastete auf ein grelles Lichtviereck zu und sah nach oben. Der Schacht endete unter einem Glasdach. Eine metallene Wendeltreppe diente als Notausgang. In der dritten
Etage mündete die Zufahrt der Hochstraße ein, deren Betonpfeiler sich weit ausholend über die Rhone schwangen, wie er durch die Eingänge sehen konnte. Na ausgezeichnet, dachte er. Vallons Schritte hallten hinter ihm durch die Gänge. Ein triumphales Gefühl bemächtigte sich seiner, vermischt mit dem Ärger der Enttäuschung. Er war wieder in seinem Element… Nun gut, Claudia würde er wohl niemals wiedersehen. Aber vielleicht waren ihre Duplikate nicht weniger anziehend? Was hinderte ihn daran, sein Leben zu leben? Wargas nickte und schlug mit der Faust gegen den Beton. Der Lebenswille gab ihm neue Kraft. Er lief bis zur Treppe, hastete sie in schnellen Schritten hinauf und warf sich in eine Nische, die neben dem grellen Himmelslicht einer Fensteröffnung in Dunkelheit getaucht war. Er horchte auf Vallons Schritte. Sie waren unter ihm; kaum acht oder zehn Meter entfernt. Über die Metallbrüstung gelehnt gewahrte er zugleich, daß auch Blanchet den Vorhof erreicht hatte. Schwer atmend lehnte Wargas sich gegen die Wand zurück. Geht weiter! dachte er. Sucht nur! Es gibt hier genügend Schlupfwinkel. Die Chancen stehen schlecht für euch. Ein kaum merkliches Geräusch ließ ihn aufschrecken. Plötzlich war Vallon vor ihm, das Licht der untergehenden Sonne fiel auf sein lächelndes Jungengesicht. Er stand schweigend und hochaufgerichtet da und zeigte auf den Gehirnwellenblockierer in seiner Rechten. Als versuchte man, ein ungezogenes Kind zur Vernunft zu bringen, dachte Wargas. Erst als der Doktor sich mit einem schnellen Schritt auf ihn zu aus dem Wandschatten löste, nahm Vallon eine geduckte Haltung ein. Er streckte abwehrend den Arm aus. Die silberne Kappe glänzte in der Sonne. Wargas schlug sie mit der Faust
weg, und sie fiel dumpf polternd zu Boden Ein Geräusch, als schlage man mit dem Hammer auf ein Transistorradio. Betreten musterte Vallon das eingebeulte Gerät. Dann fuhr seine Hand zögernd in die Innentasche des Jacketts. Mehr Angst als Entschlossenheit lag auf seinen Zügen. Gleich darauf ging alles wie im Rausch. Wargas riß seinen Kopf mit der Linken nach vorn und ließ Vallons Stirn hart auf der rechten Faust aufprallen (er war überrascht von seiner Geschicklichkeit, seine Hände reagierten mit schlafwandlerischer Sicherheit). Ein Brennen in den Eingeweiden – das uralte Brennen des Jägers – hatte die Steuerung übernommen, und für Sekunden waren sein Auge, sein Verstand, seine Muskeln nur noch Werkzeug dieses einen flammenden Begehrens, das aus dem Solarplexus kam. Mit seinem ganzen Gewicht stieß er den Körper des anderen zu Boden (die fleischfarbene Verschlußkappe hinter seinem Ohr löste sich dabei durch die Heftigkeit ihrer Bewegungen und rollte über den Beton – und der Gedanke an den herausoperierten Gefühlsabschalter verstärkte noch seine Wut), senkte das linke Knie auf seine Brust und stieß, während die andere Hand Vallons Kehle umkrallte, seinen Kopf an den hellblonden Haaren so oft auf den Betonboden, bis das Knallen der Gehirnschale sich in ein breiiges Geräusch verwandelte… Benommen ließ er von ihm ab. Sein Kopf war leer, aber seine Magengegend füllte sich mit Übelkeit, als er auf das blutige Gesicht des anderen hinunterblickte. Er wollte sich abwenden – doch der Luftzug einer Bewegung hinter ihm ließ ihn erstarren. Ihr Kampf hatte kaum mehr als zehn, fünfzehn Sekunden gedauert. Genug Zeit für Blanchet, der Richtung nachzugehen, die ihm sein geschärftes Gehör wies. Die Lauföffnung des Bolzenschußgerätes bohrte sich in Wargas Nacken. Es war, als habe er das Geräusch von Blanchets Schritten schon lange hinter sich vernommen, aber
seine Nerven hätten ihm noch keine Zeit gelassen, es bis ins Bewußtsein vordringen zu lassen. »Sie?« fragte er langsam und versuchte ein wenig den Kopf nach Blanchet zu drehen; doch der Druck an seinem Nacken verstärkte sich sofort. Er spürte, daß der andere ob der verzerrten Gestalt unter seinen Händen vor Entsetzen nach Luft rang. »Sie wagen es nicht«, murmelte Wargas und versuchte abzuschätzen, wann der passendste Moment war, um die Waffe wegzustoßen. »Man würde Sie dafür auslöschen, Courbet würde Sie…« »Schweig, Hund!« Blanchets Finger glitten suchend über Wargas kahlen Hinterkopf, und sein kleiner Finger griff tief in das leere Bohrloch des Gefühlsabschalters, als versuchte er auf diese Weise das Zittern seines Schädels zum Stillstand zu bringen. Es war die Entschiedenheit in seiner Stimme, die den Doktor aufhorchen ließ. Ja, wie ein Hund. Falls er starb, weil er ein Hundeleben geführt hatte, wollte er auch das Vergnügen haben, sich wie ein Hund zu gebärden; vielleicht war alles, was sein Leben von dem eines Hundes unterschied, daß er sich nicht auf vier Beinen bewegte. Aber dafür hatte er die Erde angebellt, und manchmal auch das Blut. Einen Augenblick lang verspürte er sogar die Kraft, trotz des Fingers in seinem Schädelknochen den Kopf herumzureißen und seine Zähne in das Handgelenk des anderen zu schlagen. Er hätte nicht mehr zu sagen vermocht, ob der Gedanke und die Kopfbewegung eins waren. Etwas drang wie ein stürmender Schatten über die Nackenmuskulatur in sein Gehirn ein, beinahe lautlos, nur vom Geräusch der den Bolzen antreibenden Feder begleitet, die durch Gasdruck ausgelöst wurde, und ehe sein Kopf vornüber fiel, gewahrte er für den Bruchteil einer Sekunde noch einmal
die Sonne im Viereck des Fensters. Es schien, als sei sie wie ein Spiegel seiner eigenen Überraschung, genauso jäh und grell, so sprachlos und voller ungelöster Fragen. Dann fiel er mit dem Gesicht nach vorn und rührte sich nicht mehr.