Arthur 1973
Janov
The
Feeling Child Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler
Das
Revolution der Psyche
1972
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Arthur 1973
Janov
The
Feeling Child Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler
Das
Revolution der Psyche
1972
Gefangen im
befreite
Schmerz
1980
Der neue Urschrei 1991
Kind
Mehr Janov Maaz
Grundsätze einer primär-
Miller
Peglau
Home
therapeutischen Erziehung
Arthur Janov, zunächst Psychotherapeut Freudscher Richtung, entwickelte 1967 – nach siebzehnjähriger Praxis als Therapeut an verschiedenen psychiatrischen Kliniken und als Berater in Fragen kindlicher Verhaltensstörungen – seine als revolutionär geltende Urschreioder Primartherapie. Die in seinem ersten, weithin beachteten Buch »Der Urschrei« (sechste Auflage 1974) dargestellte neue Technik psychotherapeutischer Behandlung erhielt mit der »Anatomie der Neurose« (zweite Auflage 1974) die wissenschaftlich-theoretische Grundlage. Janov gründete 1970 in Los Angeles das
»Primal Institute«, das inzwischen eine große Zahl psychisch Kranker erfolgreich behandelt hat. In seinem Institut bildet Janov Therapeuten aus aller Welt aus.
Ausgehend von mehrjährigen Erfahrungen bei der primärtherapeutischen Behandlung von Erwachsenen, sucht Arthur Janov in dem vorliegenden Buch nachzuweisen, daß psychische Störungen und Verhaltensabweichungen in vielen Fällen auf heute weithin übliche Praktiken der Kinderpflege und -erziehung zurückzuführen sind. Der Begründer der Urschrei- oder Primärtherapie führt eine Vielfalt eigener Beobachtungen und Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler ins Feld, um die sich konsequent aus seiner Theorie ergebende These zu stützen, daß ein Kind bereits vor der Geburt traumatische Schädigungen – etwa durch Rauchen oder falsche Ernährung der Mutter – davontragen kann, die bei Fortdauer widriger Lebensumstände zwangsläufig psychische Störungen zur Folge haben müssen. Nach Janov führen Schmerz und daraus resultierende Angst, auch wenn sie vom Kind begrifflich-rational noch nicht erfaßt werden können, zu Spannungszuständen oder – mit einem von Janov geprägten Begriff – Überlastungen im Organismus, die sich später unter Umständen in Störungen der verschiedensten Art, nicht nur psychischen, äußern können. Dem mit einer Fülle von Beobachtungen und wissenschaftlichen Befunden vorgetragenen Argument, der Aufenthalt im Mutterleib, die Umstände der Geburt und die Erfahrungen während der ersten sechs Lebensmonate seien für die kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, wird sich auch der skeptische Leser kaum entziehen können. Doch Janov hält sich nicht nur bei Erklärungsversuchen für kindliche Entwicklungsstörungen auf, er weist nicht nur auf schädigende Einflüsse zumeist unbefragter Erziehungs- und Sozialisationspraktiken hin – er regt die Eltern auch zu Verhaltensänderungen an, gibt Hinweise, wie man den Bedürfnissen des Kindes im Ablauf der verschiedenen Entwicklungsphasen gerecht werden kann und veranschaulicht in der zweiten Hälfte des Buches, etwa in den Protokollen über Sitzungen mit primärtherapeutisch behandelten Eltern, die verschiedensten alltäglichen Probleme im Umgang mit Kindern.
Mit seiner Hauptforderung, das Kind sich so entwickeln zu lassen, wie es seinen Bedürfnissen entspricht, gehört Janov zweifellos zu den Verfechtern einer repressionsfreien Erziehung. Darüber hinaus stellt sein Buch einen wichtigen Beitrag zu der bisher ungelösten Aufgabe der Neurosenverhütung dar.
A u s d e m A me r i k a n i s c h e n v o n W i l l i K ö h l e r © 1 9 7 3 b y A r th u r J a n o v D i e a me r i k a n i s c h e O r i g i n a l a u s g a b e e r s c h i e n u n t e r d e m T i t e l »T h e F e e l i n g C h i l d « b e i S imo n a n d S c h u s te r , N e w Y o r k D e u ts c h e A u s g a b e : © S . F is c h e r V e r la g G mb H , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 4 U ms c h la g n a c h e in e m E n tw u r f v o n K la u s J a n o r s c h k e
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S a tz u n d D r u c k
G e o r g W a g n e r , N ö r d lin g e n E in b a n d H a n s K lo tz , A u g s b u r g
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100367030
Für Rick und Ellen und für die größte unterdrückte Minderheit der Welt – die Kinder
Danksagung Ich möchte meiner bibliothekarischen Mitarbeiterin Barbara McAlpine danken: sie hat für meine Arbeit viele Stunden darauf verwandt, unklare Literaturangaben nachzuprüfen, sie hat mich auf spezielle Artikel aufmerksam gemacht und war mir überhaupt
eine große Hilfe bei der Suche nach relevantem Material für das vorliegende und meine früheren Bücher. Mein besonderer Dank gilt meiner Sekretärin und Freundin Janet Seefeld, die dieses Buch im wortwörtlichen Sinne zusammengestellt hat. Schließlich möchte ich meiner Frau Vivian danken, meiner wichtigsten Kritikerin und Lektorin. A. J.
Inhalt Einführung 9
1. Gründe für den Wunsch nach Kindern 1 5 2. Das intrauterine Leben 2 0 # H e l e n 3 1 3. Geburtswehen und Entbindung 3 5 # K a i s e r s c h n i t t 3 7 # Madelyn 42
4. Das Urerlebnis der Geburt
44
# Brian 48 #
Prototypisches Geburtstrauma 53 # Jeff 54 # Anita 59 # Kenneth 82 # Zusammenfassung 91
5. Nach der Geburt 9 3
# Fred 98 # Ronald 100 # Louise
104
6. Stillen 1 0 7 #
Evelyn 113
7. Die Bedürfnisse 1 1 7 # O r a l i t ä t 1 1 7 # P s y c h i s c h e u n d physische Bewegung 123 # Das Bedürfnis nach Stimulierung 131 # Körperkontakt 132 # Kritische Perioden 136
8. Die innere Umwelt 1 4 0 # D e r H o r m o n o s t a t 1 4 8 9. Langfristige Auswirkungen früher Erfahrung 1 6 3 10.Körperliche und psychische Bedürfnisse 1 6 8 11.Bedeutung der Forschung für den Menschen 1 7 4 # Beth 182
12.Kindliche Sexualität 1 8 6
# Inzest 189 # Nancy 191
13.Kindliche Ängste - bei Tag und bei Nacht 1 9 4 # Angst vor Wünschen 200
14.Elterliche Bedürfnisse
204
# Elternrolle 217 # Das
kindliche Bemühen 219 # Schlußfolgerungen 224
15.Was ich von meinen Kindern lerne
238 von Vivian
Janov
16.Ricks Kinobesuch 2 4 8 17.Primärtherapeutisch behandelte Familien 2 5 3 Anhang A: Dorothy 317 #
Anhang B: Richard 321
#
Anhang C:
Körpererinnerungen 326 Namenregister 331
Einführung
E in Buch sollte grundsätzlich für sich selbst sprechen; es sollte aus sich heraus verständlich sein und nicht zu sehr auf andere Arbeiten Bezug nehmen. Ich denke, dieses Buch kann für sich selbst sprechen, doch der Leser sollte sich klarmachen, daß es auf der Primärtheorie beruht; eine gründliche Kenntnis dieser in Der Urschrei im einzelnen dargelegten Theorie könnte als Einführung von Nutzen sein. Das Buch ist Ergebnis der Beobachtung von Patienten, die ihre Kindheit wiedererleben. Ihre Gefühle und Erfahrungen lassen uns erkennen, auf wie vielfältige Art und Weise Eltern ihre Kinder schädigen und sie zu Neurotikern machen können. Vielleicht können wir durch ihr Leid lernen, wie wir anderen Kindern Leid ersparen können. Das Buch will dazu
beitragen, kindliches Leid zu verhindern. Wir können Eltern schlechterdings nicht dazu anhalten, noch einmal und diesmal besser zu tun, was sie mit ihren Kindern getan haben, doch wir können jenen Eltern Richtlinien anbieten, die mit ihren Kindern nicht zurechtkommen. Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur habe ich die Ergebnisse der Lektüre mit meinen eigenen Beobachtungen vereint und bin so zu gewissen Schlußfolgerungen über die Erziehung von Kindern gelangt. Die Grundlage bilden jene Erfahrungen und Einsichten, die Patienten im Verlauf der Primärtherapie über ihre Jugend gewonnen haben. Jede weitere Forschung kann nur ergänzen, was diese Patienten über die Kindheit kennenlernen, wenn sie in der Therapie das von Gefühlen erfüllte Kind werden, das zu sein ihnen niemals vergönnt war. In dem vorliegenden Buch verwende ich durchgängig den Begriff »Urerlebnis« oder »Primal«. Damit meine ich die vollständige Wiederbelebung früherer Erfahrungen im Verlauf der Primärtherapie. Ein Urerlebnis ist ein schmerzliches Wiedererleben, häufig eine qualvolle Erfahrung, die den Patienten erlaubt, zu Gefühlen zurückzufinden, die sie nicht zu empfinden wagten in einer Zeit, in der sie noch zu jung, zu schwach waren, um den Schmerz ertragen zu können. Sie fühlen jetzt, in der Therapie, den Haß ihrer Eltern, ihre Gleichgültigkeit und Gefühlskälte. Sie empfinden die schreckliche Angst, zur Schule geschickt, allein einer Operation ausgeliefert, von 9
einem Elternteil verlassen, vom Streit der Eltern hin und hergerissen zu werden oder im Kinderbett ihre Gefühle nur durch Weinen und Schreien äußern zu können. Sie haben wie niemals
zuvor das Bedürfnis, an der Mutterbrust zu saugen. Kurz, sie fühlen erst jetzt die Schmerzen, die sich zeit ihres Lebens in ihrem Körper anstauten, Spannungen erzeugten und folglich zu Symptomen führten. Jedes Urerlebnis bildet ein weiteres Mosaiksteinchen im Gesamtbild der Elternschaft und läßt uns erkennen, was wir tun sollen, was nicht, was wir vermeiden, fördern, sagen oder ungesagt lassen sollen. Nach Tausenden von Urerlebnissen besteht unser Bild von der Elternschaft aus so vielen Einzelelementen, daß es schier unmöglich erscheint, mit Kindern richtig umzugehen; und es mag durchaus unmöglich sein. Der einzig wahre Schutz des Kindes liegt in der psychischen Gesundheit seiner Eltern. Nach unserem Verständnis heißt dies, daß die Eltern selbst von Urschmerzen frei sein müssen. Aufgrund unserer Untersuchungen wissen wir, daß es ein »fühlendes Gehirn« und ein »denkendes Gehirn« gibt. Der denkende Teil des Gehirns kann den fühlenden Teil nur geringfügig kontrollieren, vor allem wenn der fühlende Teil von Schmerzen überschwemmt wird. Vorträge und Anleitungen für neurotische Eltern führen in der Praxis gewöhnlich nicht zu tiefgreifenden Änderungen in der Kinderbehandlung, doch sie können in einigen Fällen hilfreich sein. Dieses Buch ist kein »Anleitungs«-Buch im herkömmlichen Sinne; solche Bücher sind bereits Legion. Anleitungen sind problematisch, weil man für jede Gelegenheit eine spezielle Verhaltensregel aufstellen muß, um bestimmte Wirkungen erzielen zu können, und weil Anleitungsbücher lediglich zwanghafte Menschen ansprechen, Menschen, deren Schwierigkeit darin besteht, daß sie nach Regeln leben anstatt nach Gefühlen. Eltern behandeln Kinder entsprechend ihren eigenen verborgenen Gefühlen, und nur fühlende Eltern vermögen zu spüren, was in den jeweiligen Situationen für Kinder gut und richtig ist. Es ließe sich nun einwenden: Wenn falsches Wissen
über Kindererziehung, wie ältere Handbücher es vermitteln, Schaden anrichten kann, dann muß folglich richtiges Wissen eine Hilfe darstellen. Leider stimmt dies nicht unbedingt. Die falschen Informationen in jenen besagten älteren Büchern entstammten einer neurotischen Auffassung von menschlicher Entwicklung, sie entsprachen allgemeinen neurotischen Vorstellungen (schreiende Kinder sollen nicht auf den Arm genommen, Säuglinge nach einem genau 10
einzuhaltenden Zeitplan abgefüttert werden usw.) und wurden mithin nur zu bereitwillig übernommen. Aus der Primärtheorie gewonnene Einsichten widersprechen jenen neurotischen Vorstellungen, und daher finden sie nicht so leicht Zustimmung. In früheren Jahrzehnten herrschte allgemein die Auffassung vor, in einer kalten, bedrückenden Welt dürften Kinder nicht verwöhnt und verzärtelt werden, um sie nicht unvorbereitet in diese Welt zu entlassen. Daher betonten jene Handbücher über Kindererziehung, es sei dringend notwendig, Kinder nicht zu verwöhnen, sie nicht gewähren zu lassen — mit anderen Worten, sich klarzumachen, daß Charakterbildung ein mühsames, mit vielen Anstrengungen verbundenes Geschäft sei. Das Familienleben war geprägt von der mythischen Vorstellung erzieherischer Härte. Die Primärtherapie hingegen hat deutlich gemacht, daß Kinder nicht verwöhnt werden können, sondern daß der Mangel an angemessener Bedürfnisbefriedigung »verwöhntes«, übermäßig anspruchsvolles Verhalten geradezu erzeugt. Für jene von uns, die mit Härte erzogen wurden, die dem Glauben anhängen, Kampf forme den Charakter, sind Milde und Nachsicht Begriffe, mit denen man sich nur schwer befreunden kann.
Ein Kind ist zur Neurose verurteilt, wenn seine Eltern neurotisch sind. Ich erwarte keineswegs, daß die in dem vorliegenden Buch entwickelten Richtlinien die Neurosen von Eltern außer Kraft setzen können. Dennoch bin ich der Meinung, daß Eltern eine Menge für ihre Kinder tun können. Eltern sollten wissen, daß schreiende Säuglinge auf den Arm genommen werden und nicht nach dem Motto »Es wird sich schon ausschreien« ihrem ungestillten Bedürfnis überlassen bleiben sollen. Es ist nicht nötig, daß Eltern ihre Neurose überwinden, wenn es darum geht, ein Kind, das sich verletzt hat, zu trösten. Im folgenden werde ich die Entwicklung des Kindes von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter verfolgen und die neurotisierenden Umstände jeder Entwicklungsstufe beschreiben. Besonderes Gewicht lege ich auf die Entwicklung des Kindes in der Gebärmutter, im Uterus, und auf die Begleitumstände bei der Geburt; diese Themenbereiche werden in der Diskussion über Kindererziehung vernachlässigt. Ich will damit sagen, daß der Keim einer Neurose durchaus vor der Geburt gelegt werden kann, daß die Erfahrungen des Fötus im Mutterleib genauso wichtig, wenn nicht wichtiger sein können als die anschließenden sozialen Erlebnisfaktoren. Die kindliche Neurose hat ihren Ursprung in der Psyche der Eltern, das heißt 11
in den Gründen, warum er oder sie ein Kind wünschen. In einigen Fällen handelt es sich um den Wunsch, zum erstenmal im Leben jemanden ganz für sich zu besitzen. In anderen Fällen soll das Kind die Weiblichkeit oder Männlichkeit des jeweiligen Elternteils bestätigen. Welche Gründe auch immer für den Wunsch bestehen, ein Kind zu haben, sie legen im voraus fest, wie das Kind von dem Tag an, da es das Licht der Welt erblickt, behandelt wird.
Im allgemeinen formen die Eltern ihr Kind, machen es entweder krank oder verhelfen ihm zum Wohlbefinden. Doch auch andere Umstände können zu Störungen führen. Angenommen, ein Kind wird mit einem Sehfehler geboren und dann von neurotischen Kindern als »Brillenschlange« gehänselt. Solche Hänseleien müssen das Kind empfindlich treffen, vielleicht nicht in dem Maße wie Spötteleien seitens der Eltern; aber es sind Lebenserfahrungen, die das Kind in die Neurose treiben können. Doch nicht isolierte Erfahrungen rufen Neurosen hervor, sondern die Anhäufung und die Belastung durch eine Folge schlimmer Erfahrungen. Hinzu kommt das tagtägliche Zusammenleben mit Eltern, die dem Kind Schmerzen zufügen, die es feindselig, gleichgültig oder offen ablehnend behandeln. Nachdem ich die dramatischen Veränderungen bei Kindern erlebt habe, deren Eltern sich einer Primärtherapie unterzogen, bin ich fest davon überzeugt, daß diese Therapie der einzige Weg ist, Kindern eine Lebenschance einzuräumen. Wir haben Experten für Kindererziehung, Verfasser von Büchern über den Umgang mit Kindern behandelt; all ihr Wissen vermochte ihnen nicht dabei zu helfen, gute Eltern zu sein, solange es ihnen nicht gelang, mit ihren eigenen Bedürfnissen und Spannungen fertig zu werden. Primärtherapeutisch behandelte Eltern brauchen keine Anleitungen. Sie haben nachträglich intensiv gefühlt, was ihre Eltern ihnen angetan haben, und sie wissen, was sie ihren Kindern nicht antun dürfen. Wer niemals die überwältigenden Schmerzen empfunden hat, die ihm die eigenen Eltern zugefügt haben, der kann auch niemals wissen, wie er seine eigenen Kinder vor Krankheiten und Störungen bewahren soll. Gefühle sind Reaktionen auf die Eltern wie auf das Kind. Fühlende Eltern handeln richtig aufgrund ihres Kindes, ein fühlendes Kind handelt richtig aufgrund seiner selbst.
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Für einen Philosophen ist es weit einfacher, einem anderen Philosophen einen neuen Gedanken zu erklären als einem Kind. Warum? Weil das Kind die richtigen Fragen stellt ... Jean Paul Sartre in einem Interview mit John Gerassi in Le Monde, Oktober 1971
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4 Das Urerlebnis der Geburt
U nsere Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Geburtstrauma und späterer Neurose basieren auf Beobachtungen, auf Tonbandaufzeichnungen und Filmen von zahlreichen Geburtsprimals in der Primärtherapie.* Ein Patient mag etwa die Erfahrung von Hilflosigkeit wiedererleben, die er als Siebenjähriger in der Schulzeit gemacht hat, und während der Therapie plötzlich ein mit dem Gefühl von Hilflosigkeit einhergehendes Geburtsprimal haben. Dieses frühe Urerlebnis sagt uns vieles über seine späteren Reaktionen auf bestimmte Situationen und darüber, ob seine Reaktionen neurotisch sein werden oder nicht. Geburtsprimals beweisen uns die Richtigkeit der These, daß ein frühes körperliches Trauma das spätere Allgemeinverhalten nachhaltig beeinflußt. Ich betone die Bedeutung des Geburtstraumas nicht deshalb, weil ich der Meinung bin, daß dieses Trauma allein Neurosen »verursacht«, sondern weil wir vor dem Hintergrund von Geburtsprimals verstehen können, warum diese Traumata entscheidend zur Anhäufung innerer Spannungen beitragen. Ihr Einfluß auf die Neurosenbildung ist weit größer, als wir vorher vermutet hatten. Dieser Einfluß ist keine »Theorie«, die ich mir zurechtgelegt hätte, sondern basiert auf der Erfahrung, daß es viele therapeutische Urerlebnisse braucht, um dieses eine Trauma aufzulösen und seine Folgen zu beseitigen. Das Ausmaß der mit den Geburtstraumata
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1 Gründe für den Wunsch nach Kindern
D ie Weichen für die künftige Behandlung eines Kindes können bereits vor der Geburt, das heißt im Stadium des Wunsches nach einem Kind gestellt werden. Wenn eine Mutter sich nach einer von Wärme und Liebe erfüllten Familie sehnt, einer Familie, die sie selbst nie gekannt hat, dann mag sie an das Kind die Hoffnung knüpfen, es werde ihr zu einer solchen Wunschfamilie verhelfen. Wenn das Kind dann später eigene Wege geht, unabhängig sein möchte, etwa die Schule besucht oder heiraten will, dann könnte eine solche Mutter dies als eine unbewußte Bedrohung empfinden. Denn unbewußt steht diese Mutter unter dem Eindruck des alten Gefühls, keine eigene, richtige Familie zu haben, eines Gefühls, das so schmerzlich ist, daß es vom Bewußtsein ferngehalten werden muß. Jedes Zeichen von Unabhängigkeit auf Seiten des Kindes, jedes Verhalten, das zu bedeuten scheint, es brauche die »Mamma« nicht mehr, ruft in der Mutter zunächst eine vage Spannung hervor und führt dann zu einem Abwehrverhalten, mit dem das Urgefühl verdrängt werden soll. Sie wird ihre Zuflucht zu Rationalisierungen nehmen, wenn sie erklären soll, warum ihr Sohn nicht fortgehen darf, warum sie ihn braucht usw.
Aus den gleichen Ur-Gründen wird eine solche Mutter Wutäußerungen der Kinder ihr gegenüber nicht dulden. Sie wird die Freunde ihres Sohnes schlechtmachen, weil sie ihre Position bedrohen, ihre Wunschvorstellung antasten, ihr Sohn liebe nur sie, sie ganz allein. Kurz, die Mutter agiert gegen ein altes qualvolles Gefühl, das sie nie ertragen konnte, noch heute ertragen kann. Um dem Schmerz zu entgehen, manipuliert sie beständig ihr gegenwärtiges Leben. Sie kann nicht aufrichtig zu ihren Kindern sein, denn sie stellt sie in den Dienst ihrer Bedürfnisse. Das Ausagieren verleugneter schmerzlicher Gefühle macht das Wesen der Neurose aus; darum führe ich den Begriff hier ein. Jeder Neurotiker zeigt ein solches Verhalten. Kinder zu haben, bietet Neurotikern eine von vielen Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse auszuagieren. Es gibt eine Unzahl neurotischer Gründe für den Wunsch nach Kindern, bei denen es nicht darum geht, ein neues menschliches Wesen zu zeugen. 15
Für den neurotischen Kinderwunsch besteht einer der Hauptgründe darin, einen Menschen in die Welt zu setzen, der Liebe geben soll und den ein Elternteil oder beide ganz für sich besitzen wollen. Ein Mensch, der in einer großen Familie aufgewachsen ist, der praktisch keine Aufmerksamkeit oder Zuneigung erfahren hat, kann den zwanghaften Wunsch verspüren, von seinem Kind vollständig Besitz zu ergreifen. Der Wert des Kindes bemißt sich dann daran, inwieweit es den Eltern das Gefühl vermittelt, geliebt zu werden. Doch wie gesagt, dieser Vorgang ist nicht bewußt. Der betroffene Elternteil kann bereits bei gelegentlicher Gleichgültigkeit des Kindes in Unruhe geraten und sich zu einem unangemessenen
Wutausbruch hinreißen lassen, wenn das Kind seine Aufmerksamkeit von ihm abwendet. Die Wut neurotischer Eltern mag sich in Aufforderungen äußern wie: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Die emotionale Überreaktion (Wut in diesem Falle) ist ein altes Gefühl, das die betreffenden Eltern ihren eigenen Eltern gegenüber empfunden haben, ein Gefühl, das der Verdrängung unterliegt und das sich nun in unangebrachter Weise Luft macht. Die verleugnete große Wut gilt der gleichgültigen Behandlung. Jede spätere gleichgültige Behandlung löst dieses Urgefühl und gleichermaßen auch die verdrängte alte Reaktion aus.
Schauen wir uns die Kompliziertheit dieses Vorgangs genauer an! Eine von uns behandelte Patientin hatte eine so rasende Wut darüber, daß ihre Mutter sie vernachlässigte, daß sie ihr den Tod wünschte. Vor diesem Gefühl empfand das Kind jedoch eine solche Angst, daß es den Todeswunsch aus dem Bewußtsein verdrängte und stattdessen Kopfschmerzen bekam. Jedesmal nun, wenn die Patientin in ihrem späteren Leben sich gleichgültig behandelt fühlte, hatte sie sofort unerklärliche Kopfschmerzen. Den Grund für ihre Schmerzen kannte sie nicht; sie wußte nicht, daß sie sich geringschätzig behandelt fühlte, und wußte erst recht nicht, daß sie den Wunsch verdrängte, der Mensch, der sie kränkte, möge sterben. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich um einen unbewußten neurologischen Vorgang, der ohne Einschaltung des Bewußtseins ablief. Mit anderen Worten, es war ein alter Primärvorgang, der schließlich in der Primärtherapie aufgedeckt wurde: unter Schreien und krampfartigen Wutanfällen brach aus der Patientin der Wunsch hervor, ihre Mutter möge sterben. Dieser Ausbruch wurde dadurch ausgelöst, daß die Tochter der Patientin ihrer Mutter nicht die gewünschte Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte.
Wir erkennen an dieser Fallgeschichte, welche Auswirkungen neuro16
tische Reaktionen auf das unschuldige Verhalten von Kindern haben können. Kinder haben ziemlich früh ein feines Gespür für neurotische Verhaltensweisen und lernen mit der Zeit, wie sie sich vor der elterlichen Ur-Wut schützen können. Sie gehen in Deckung, suchen die Eltern zu beschwichtigen, verhalten sich ruhig und sind aufmerksam. Sie werden neurotisch, weil ihre Eltern neurotisch sind. Das Kind wird in eine starre Verhaltensform gepreßt, denn die ungelösten Primärgefühle der Eltern rufen im Laufe der Zeit bei ihm die gleichen neurotischen Reaktionen hervor. Es muß dann über Jahre hin immer die gleichen Beschwichtigungsversuche unternehmen. Wenn die Mutter das Kind braucht, um sich geliebt zu fühlen, dann kann daraus eine Art geheimer Verschwörung gegen den Vater entstehen. Auf subtile Weise entwertet die Mutter den Vater, um auf diese Weise zu erreichen, daß das Kind ausschließlich sie liebt. Die Mutter wendet damit einen höchst wirksamen neurotischen Mechanismus an, gegen den das Kind sich nicht zur Wehr setzen kann. Hilflose Kinder lassen sich leicht in eine solche Lage drängen. Sätze wie »Hans ist ein so lieber Junge, er kann gar nicht genug für mich tun« haben schlimme Folgen, denn sie sind wortwörtlich so gemeint —: Hans wird nämlich niemals in der Lage sein, genug für seine Mutter zu tun, denn er müßte sie für die Entbehrungen ihres ganzen Lebens entschädigen. Hinter dem Kinderwunsch kann auch das Motiv stehen, eine gestörte Ehe zu kitten. Dies trifft vor allem auf Frauen zu, die ihre Ehemänner um jeden Preis an sich binden wollen. In diesem Fall ist das Kind sozusagen das letzte Mittel. Bei ihren Bemühungen um den Mann benutzt die Mutter das Kind als eine
Art Faustpfand. Über kurz oder lang wird es bittend und bettelnd zwischen den streitenden Eltern zu vermitteln suchen. Schon bald wird es sich für ihr Glück und für ihr Unglück verantwortlich fühlen. Die Grundstimmung der Eltern, etwa Traurigkeit, weckt in dem Kind automatisch das Gefühl, es müsse dazu beitragen, die Stimmung zu verbessern und aufzuhellen. Bei melancholischen Eltern sind Ratschläge über Kindererziehung nutzlos, solange sie im Umgang mit ihrem Kind – mögen sie sich auch noch so nach »Vorschrift« verhalten – nur Schwermut zum Ausdruck bringen. Natürlich gibt es auch ungewollte, zufällige Schwangerschaften, die zur Folge haben, daß die Eltern ihr Kind von Anfang an ablehnen. Vom Zeitpunkt der Geburt an empfinden solche Eltern, selbst noch Kinder, die lediglich ihren Spaß haben wollen, ihr Kind als aufdringliche Belästigung und verhalten sich entsprechend. Das 17
Kind wird geschlagen, wenn es die Eltern durch Schreien stört, es wird gewaltsam zur Ruhe gebracht und muß unter vielen Mühen sein Recht auf Existenz verteidigen. Es leidet unter der Gereiztheit seiner Eltern, einer Gereiztheit, wie sie gewöhnlich junge Menschen an den Tag legen, denen es so sehr an Liebe fehlt, daß sie jede Rücksicht in den Wind schlagen, sobald sie die fehlende Liebe in der Sexualität zu finden glauben. Die Gründe für den Kinderwunsch sind so zahlreich wie die neurotischen Störungen selbst. Ein Mann, der Zweifel an seiner Männlichkeit hegt, mag sich ein Kind, vor allem einen Jungen, wünschen, um seine Männlichkeit zu beweisen. Wenn sein Kind Angst zeigt, gerät sein übersteigertes Bild von Männlichkeit in Gefahr, und das führt ihn dazu, die kindliche Angst zu
unterdrücken. Eine Frau mag sich Kinder wünschen, um ihre Weiblichkeit bestätigt zu finden oder sich zumindest nicht unfruchtbar zu fühlen. Unter Umständen möchte sie dennoch weiterhin Partys, Nachtklubs und Geselligkeiten aufsuchen, um sich in ihrer weiblichen Attraktivität bekräftigt zu fühlen. In diesem Fall wäre der Wunsch nach einem Kind nur ein Trick in einem neurotischen Spiel: es kommt ihr nicht in den Sinn, daß sie mit dem Kind ein neues, von Bedürfnissen erfülltes menschliches Wesen in die Welt setzt. Aus dem gleichen Grund, der in ihr den Wunsch nach einem Kind weckte, ist sie später eine nachlässige, lieblose Mutter – um hübsch, attraktiv und »weiblich« zu sein. Neurotiker haben eine Abneigung dagegen, ständig für jemanden da zu sein, für ihn zu sorgen. In Wirklichkeit sind sie Kinder, die sich danach sehnen, umhegt und umsorgt zu werden. Für solche Menschen ist der Wunsch nach einem Kind mit Phantasien besetzt. Die Frau sieht nur die Sorge und Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht werden, solange sie schwanger ist. Auch mag ihr das Kind als einziges Mittel erscheinen, sich eines Mannes zu versichern, der bei ihr bleibt, um sie zu umhegen und anzuleiten. Solche Eltern begreifen nicht, daß ein Säugling totales Bedürfnis und totaler Anspruch ist. Kein Wunder, daß diese Eltern schon bald nach der Geburt des Kindes fast ständig gereizt und erregt sind, weil sie aus Rücksicht auf ihr Kind ihre eigenen Wünsche stärker zurückstellen müssen. Wenn das Kind weint und schreit, stellt sich bei den Eltern automatisch der Wunsch ein, das Schreien und die Forderungen des Kindes zu unterdrücken. Sie nehmen sich nicht die notwendige Zeit, die Bedürfnisse des Säuglings zu befriedigen. Wenn Eltern die kindlichen Bedürfnisse nicht befriedigen können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sie zu unterdrücken. Das läßt sich folgender18
maßen erklären: Als Kinder mußten diese Eltern selbst ihre unbefriedigten und daher unerträglichen Wünsche aus dem Bewußtsein verdrängen. Später können sie aufgrund der Verdrängungen auch die Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder nicht wahrnehmen. Das fortwährende Weinen und Schreien des Säuglings (ein Zeichen von Bedürfnissen) wird von den Eltern als unerträglich empfunden und folglich unterdrückt. Ihnen stehen viele Möglichkeiten zur Verfügung, das Weinen von Kindern zu unterdrücken, zum Beispiel: Ablenkung durch Rasseln, Geräusche verschiedenster Art, Spiele usw.. Auch kräftiges Schütteln, eine brutalere Methode, bietet sich an. Das Ergebnis ist in jedem Fall das gleiche. Der entscheidende Punkt ist, daß die Gründe für den Kinderwunsch, die wir uns einreden, häufig nicht mit den unbewußten Motiven übereinstimmen. Diese Motive sind ihrerseits Bedürfnisse, allerdings unbewußte, weil sie verschüttet wurden. Ein Kind wird vom Tag seiner Geburt an in diese unbewußten Bedürfnisse einbezogen, denn sie sind bei den Eltern selbst vom Tag ihrer Geburt an vorhanden. Einer der allgemein üblichen Gründe dafür, daß Menschen Kinder haben, ist ihre Furcht vor der Endgültigkeit des Todes. Sie sind auf das Gefühl angewiesen, daß ein Teil ihres Selbst in der Zeit nach dem Tode weiterleben wird; entweder sie machen sich eine Vorstellung von einem Danach oder sie erschaffen sich dieses Danach mit Hilfe eines Kindes. Der Gedanke, nichts zu besitzen, was überdauert, bedeutet, den Tod als das Ende der Existenz zu akzeptieren. Ohne Frage ist eine der besten Methoden zu vermeiden, daß unerwünschte (mithin neurotische) Kinder in die Welt gesetzt werden, die Verhütung unerwünschter Schwangerschaft. Die Frau erreicht dies am besten dadurch, wenn sie ihrem eigenen Innern gegenüber aufgeschlossen ist und mit Überlegung
empfängnisverhütende Mittel verwendet. Primärtherapeutisch behandelte Frauen spüren den Augenblick, da die Ovulation (Eiausstoßung) beginnt; sie werden nicht von einer Schwangerschaft überrascht, wie es gelegentlich bei neurotischen Frauen geschieht. Eine ausgeglichene Frau hat kein übersteigertes Liebesbedürfnis und wird kaum dazu neigen, die Sexualität zwanghaft auszuagieren. Eine ausgeglichene Frau setzt kein hilfloses Menschenkind in die Welt, nur weil sie einen Mann an sich fesseln möchte, der für sie sorgen soll. Für die Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern ist es offensichtlich entscheidend wichtig, daß sie gewünscht sind. Zufälle sind schon per Definition unerwünscht.
19
2 Das intrauterine Leben
Ü ber das Leben im Uterus, in der Gebärmutter, liegen nur unzulängliche Untersuchungen vor. Doch wir haben unbezweifelbare Beweise dafür, daß die körperliche Verfassung der Mutter den Fötus, die Leibesfrucht, beeinflußt. Mit anderen
Worten, der Keim für eine Neurose wird mit den jeweiligen Lebenserfahrungen gesetzt, und diese Erfahrungen beginnen nun einmal im Mutterleib. Bereits mit dem zweiten Monat im Uterus arbeitet das Gehirn des Kindes und sendet Nervenimpulse aus, welche die Organe des winzigen Körpers koordinieren. Obwohl das Gehirn noch rudimentär, noch nicht völlig ausgebildet ist, kann es bereits die aus der uterinen Welt stammenden Sinneseindrücke registrieren. Ich wähle mit Absicht den Begriff »registrieren«, weil das winzige Nervensystem in einer Umwelt mit äußeren Einflüssen lebt, mit Einflüssen, die unter Umständen zu einer neurotischen Entwicklung führen, lange bevor sie vom Gehirn des Kindes begrifflich erfaßt werden können. Wenn eine Mutter Alkohol zu sich nimmt, können Spuren dieser Substanz in den Organismus des Fötus gelangen. Wenn sie Heroin spritzt, kann der Fötus süchtig werden. Wenn sie raucht, kann von daher eine verzögerte Entwicklung des Fötus resultieren; das Kind kommt dann körperlich kleiner zur Welt, als es der Fall wäre, wenn die Mutter nicht geraucht hätte. Betrachten wir den einfachen Fall, daß eine schwangere Mutter raucht. Untersuchungen an Affen haben gezeigt, daß Nikotin in kurzer Zeit vom Körper der Mutter in den des Fötus gelangt.* Nikotin beeinträchtigt den Kreislauf des Fötus, indem es den Sauerstoffgehalt des Blutes reduziert. Es verlangsamt auch den Herzschlag des Fötus und senkt seinen Blutdruck. Anders ausgedrückt, eine Nikotininjektion bei einer trächtigen Äffin setzt ihren Fötus Belastungen aus, und man darf getrost annehmen, daß dies auch für den menschlichen Fötus gilt. Einer Untersuchung an 17.000 britischen Kindern zufolge ist das Neugeborene einer starken Raucherin (täglich zehn Zigaretten und
* > E f f e c ts o f N ic o tin e o n th e U n b o r n < , in : T h e S te th o s c o p e , X X I V , N r . 4 , A p r il 1 9 6 9 , S . 1 .
20
mehr nach dem vierten Schwangerschaftsmonat) in einer schlechteren körperlichen Verfassung als das Neugeborene einer Nichtraucherin; außerdem hat sich gezeigt, daß die soziale Entwicklung des Neugeborenen einer starken Raucherin beeinträchtigt ist.* Rauchen senkt nachweislich den Vitamin-CGehalt des Körpers und vermag die Zellstruktur nachteilig zu beeinflussen; unter Umständen kann auch die Synthese von Kollagen [Gerüsteiweiß, Eiweißkörper im Bindegewebe, in Sehnen, Knorpeln und Knochen]** beeinträchtigt werden. Raucher benötigen zweimal so viel Vitamin C wie Nichtraucher. Die Untersuchung an den 17.000 britischen Kindern soll fortgesetzt werden; sie sollen im Abstand von vier Jahren auf ihren körperlichen Zustand und ihr soziales Verhalten hin untersucht werden.*** Eines der jüngsten Ergebnisse dieser Untersuchung: Mütter, die während der Schwangerschaft rauchen, haben 30 % häufiger Fehlgeburten als Nichtraucherinnen. Die überlebenden Kinder der Raucherinnen wurden im Alter von sieben Jahren auf ihre Körperlänge hin gemessen. Sie waren durchschnittlich 3,7 Zentimeter kleiner als die Kinder von Nichtraucherinnen. Außerdem hatten sie in der Schulzeit mehr Leseschwierigkeiten und häufiger psychische Probleme. Schließlich erschienen sie körperlich unausgeglichener und zeigten Unzulänglichkeiten beim Nachzeichnen einfacher Bildvorlagen. Über die Auswirkungen des Rauchens auf den Fötus wissen wir offensichtlich nicht allzu viel, doch unser heutiges Wissen reicht aus, um sagen zu können, daß schwangere Frauen besser nicht rauchen sollten. Wir wissen nicht, um wieviel ängstlicher und
angespannter rauchende Mütter sind als nichtrauchende und auf welche Weise die vom Rauchen ausgehenden Wirkungen dadurch beeinflußt werden. Anders ausgedrückt, Rauchen ist lediglich eine Nebenerscheinung innerer Spannungen; mit diesen Spannungen müssen wir uns befassen und versuchen, sie zu beseitigen, damit eine gesunde Schwangerschaft gewährleistet wird. Da das Nervensystem des Fötus um die Mitte der Schwangerschaft bereits weitgehend ausgebildet ist, kann man sich vorstellen, welchen Eindrücken der Fötus ausgesetzt ist,
*
> G r a v id a 's S mo k in g S e e n H a n d ic a p to O f f s p r in g < , in : O b s t e t r i c s -
G y n e c o lo g y Ne ws 5 , N r . 1 2 , 1 5 . J u n i 1 9 7 0 , S . 1 6 . ** ***
E c k ig e K la mme r n e n th a lte n A n me r k u n g e n d e s Ü b e r s e tz e r s . R. D a v ie , N . Bu tle r u H . G o ld s te in , F r o m B i r t h t o S e v e n , C. L o n g ma n ,
L o n d o n 1 9 7 2 ; Be r ic h t d a z u a u c h in d e r L o n d o n e r T i m e s v o m 4 . J u n i 1 9 7 2 . S. 27.
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wenn er stündlich mit Nikotin bombardiert wird, mit einer Substanz, die den Sauerstoffgehalt des Blutes verringert. Auf einer Tagung der American Association for the Advancement of Science [Amerikanische Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften] im Frühjahr 1970 wurde ein Untersuchungsbericht über trächtige Ratten vorgelegt, die über längere Zeit hin lauten Geräuschen ausgesetzt worden waren. Ergebnis des Experiments: Die Ratten warfen körperlich kleinere Junge. Man darf mithin annehmen, daß Streß (oder Angst) die fötale Entwicklung unmittelbar beeinflußt. Nicht nur die mit lärmenden Geräuschen traktierten trächtigen Ratten hatten einen beschleunigten Herzschlag, auch die Herzschlagfrequenz ihrer Föten war heraufgesetzt. Das heißt, daß Streß, der auf die schwangere Mutter einwirkt, zur Neurose bei ihrer
Nachkommenschaft führen kann. Wir haben Beweise dafür, daß Geräusche unmittelbar auf den Fötus einwirken. In der Säuglingsstation eines Krankenhauses ließ man ein Tonband abspielen, auf dem das Schlagen eines Herzens aufgenommen worden war. Bei dem Experiment ging das Weinen und Schreien der Säuglinge auffällig zurück. Dies dürfte ein Hinweis dafür sein, daß der Fötus den Herzschlag der Mutter registriert und daß die Regelmäßigkeit (oder Unregelmäßigkeit) des Herzschlags das Befinden des Fötus verändert. Der Herzschlag der Mutter während der Schwangerschaft dürfte sich mithin auf die spätere Verfassung des Kindes auswirken. Es scheint, daß der gleichmäßige Herzschlag einer schwangeren Mutter mit dazu beiträgt, eine kindliche Neurose zu verhindern. Gleichmäßige Töne wirken beruhigend. Wir alle können dabei einschlafen. Unregelmäßige Geräusche hingegen sind beunruhigend. Wenn Erwachsene infolge eines Erbfaktors derartig auf Geräusche reagieren, warum sollte dies nicht auch für den Fötus zutreffen? Geräusche werden von der Haut wahrgenommen, mehr noch: es scheint bewiesen, daß bestimmte Hautpartien sogar die Geräuschquelle lokalisieren können. Der Fötus kann also mit der Haut gleichsam sehen. Eine Mutter berichtete in der Primärtherapie, sie sei im achten Schwangerschaftsmonat in einen Park mit einem nahegelegenen Schießstand gegangen. Bei jedem Schuß habe sich das Baby in ihrem Leib heftig bewegt. Mit dem inzwischen acht Monate alten Säugling habe sie dann den Park erneut aufgesucht; nach den Worten der Mutter zeigte das Kind bei jedem Schuß eine ungewöhnlich starke Schreckreaktion. 22
Experimenten zufolge, die in Schweden angestellt wurden, reagiert der Fötus selbst auf schwache Geräusche mit einer Beschleunigung des Herzschlags. Erhöhte Herzschlagfrequenz ist als Streßreaktion anzusehen. Der Fötus hat zwar von dem Streß keine begriffliche Vorstellung, doch das bedeutet noch lange nicht, daß er davon unberührt bleibt oder daß der Streß keine langfristigen Auswirkungen auf sein späteres Verhalten ausüben kann. Während des Lebens im Uterus und in der Folgezeit erlebt das Kind Streßsituationen, die ihre Spuren im Organismus zurückgelassen und ein primäres Reservoir von Gefühlen bilden, das eines Tages überfließen und zu Symptomen führen kann. Der New Yorker Facharzt für Ohrenheilkunde S. Rosen kam bei seinen Untersuchungen zu aufschlußreichen Ergebnissen: »Wenn das Ohr plötzlich von einem Geräusch getroffen wird, beschleunigt sich der Herzschlag, die Blutgefäße verengen sich, die Pupillen weiten sich, und Magen, Speiseröhre sowie die Därme werden von Spasmen [Krämpfen] ergriffen ... Man mag das Geräusch vergessen, der Körper vergißt es nicht.« (Zeitschrift Life vom Juni 1970) Dr. Rosen beschreibt in seinem Artikel eine Streß- oder Angstreaktion. Ein Säugling, der nicht in der Lage ist, sich auf die Geräuschquelle einzustellen oder etwas dagegen zu unternehmen, erfährt eine Streßreaktion. Ob der menschliche Organismus sich im Uterus befindet oder nicht, spielt dabei keine Rolle, soweit es um die körperliche Reaktion auf die Geräuschbelastung geht.* Während der Schwangerschaft bereitet der Fötus sich auf sein Menschsein vor. Sinneseindrücke lösen bei ihm gesamtkörperliche Vorgänge aus; sie beeinflussen die Sekretion, die Hormonbildung, die Gehirnentwicklung usw. Das heißt, Sinneseindrücke sind Vorläufer von Gefühlen. Katastrophale Eindrücke können eine Entwicklungsstörung einleiten, die sich nach der Geburt zu einer Neurose mit all ihren Begleitumständen auswächst. Bei scheinbar genetisch bedingten
Unterschieden zwischen Neugeborenen kann es sich durchaus um die bereits durch die Lebenserfahrungen im Mutterleib geformte »Persönlichkeit« handeln. Im Falle einer Raucherin, die ein körperlich kleines Kind zur Welt bringt, hat sicherlich die Belastung des Fötus durch das Rauchen auf irgendeine Weise mit dazu beigetragen, die für das Wachstum notwendige Hormon-
* J u n g e Ra tte n , d ie ü b e r e in e n län g e r e n Z e itr a u m h in L ä r mb e la s tu n g e n a u s g e s e t z t w o r d e n w a r e n , w a r en a n f ä l l i g f ü r K r a mp f z u s t ä n d e u n d A te mb e s c h w e r d e n . ( T a g u n g s p r o to k o lle d e r A me r ic a n A s s o c ia tio n f o r th e A d v a n c e me n t o f S c ie n c e v o m J u n i 1 9 7 0 . ) A n d e r e n U n te r s u c h u n g e n z u f o lg e n e ig e n lä r mb e la s te te Ra tte n h ä u f ig e r a ls u n b e la s te te Ra tte n z u V ir u s in f e k tio n e n .
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bildung zu beeinträchtigen. Angesichts der Tatsache, daß Hormone auf komplizierte Weise unsere Gefühle steuern, erscheint es logisch anzunehmen, daß eine gestörte Hormonbildung unsere Gefühlsfähigkeit nachteilig beeinflußt. Gelegentlich sind katastrophale Sinneseindrücke nicht sofort als solche erkennbar. Wenn zum Beispiel eine schwangere Frau einen hohen Berg besteigt, in einem Flugzeug fliegt, das keine Anlage zum Ausgleich des Luftdrucks in der Passagierkabine besitzt, oder deren Kreislauf aufgrund innerer Spannungen Belastungen ausgesetzt ist, dann kann es geschehen, daß der Fötus unter Sauerstoffmangel leidet und unangenehme Empfindungen verspürt. Obgleich die Plazenta [Mutterkuchen] den Sauerstoffmangel mittels verstärkter Eigenentwicklung auszugleichen sucht, kommt man doch um die Tatsache nicht herum, daß der Fötus den Sauerstoffmangel auf irgendeine Weise registriert. Ständiges Unbehagen blockiert oder stört automatisch die Sensitivität des Körpersystems – und führt in dem genannten
Fall zum Beispiel zu einer Überentwicklung der Plazenta –, ohne daß mit dem Vorgang die bewußte Wahrnehmung von Schmerz verbunden sein muß. Mit anderen Worten, der Fötus kann Unbehagen (das ich Schmerz nenne) ohne bewußte Wahrnehmung des Schmerzes empfinden. Sinneseindrücke sind entscheidende Bestandteile des Bewußtseins. Heftige Sinneseindrücke können nachträglich Auswirkungen auf das Bewußtsein des Neugeborenen haben. Der Säugling kann weniger rege, aufgeweckt und lebenskräftig sein; die Entwicklung seines Auffassungsvermögens kann sich verlangsamen und dergleichen mehr. Man hört gelegentlich den Einwand, daß selbst heftige Sinneseindrücke keine anhaltenden Auswirkungen auf den Fötus haben können, weil viele zur Wahrnehmung und Einordnung dieser Eindrücke notwendige Gehirnzellen noch nicht myelinhaltig seien.* Delgado hat jedoch darauf hingewiesen, daß Rattenjunge bereits Tage vor der Geburt Bewegungen ausführen, obwohl die Myelinisation der dafür notwendigen Gehirnstrukturen erst Tage nach der Geburt abgeschlossen ist.**
* M y e l i n i s t e i n e » f e t t ä h n l i c h e « , d ie N e r v e n f a s e r n b e d e c k e n d e S u b s ta n z [ L ip o id ], d ie a n z e ig t, d a ß d ie N e r v e n f u n k tio n s f ä h ig s in d . D e r F ö tu s k a n n a u f d e n mü t t e r l i c h e n H e r z s c h l a g k o n di t i o n i e r t w e r d e n . D i e T a t s a c h e , d a ß d e r F ö tu s n a c h d e r G e b u r t H e r z s c h la g tö n e a ls a n g e n e h m u n d b e r u h ig e n d e mp f in d e t, lä ß t d e n S c h lu ß z u , d a ß s ic h b e r e its im U te r u s e in e A r t s y s t e ma t i s c h e n G e d ä c h t n i s s e s a u s g e b i l d e t h a t . * * J o s e D e lg a d o , P h y s ic a l Co n tr o l o f th e M in d , H a r p e r & R o w , N e w Y o r k 1 9 6 9 . I c h w e r d e d ie s e s T h e ma in e in e m n e u e n Bu c h mit d e m T ite l P r i m a l M a n : T h e Ne w Co n s c io u s n e s s im e in z e ln e n b e h a n d e ln .
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Wenn eine Frau für ihr Wohlbefinden Sorge tragen sollte, dann während der Schwangerschaft. Schlechte Ernährung, starker Alkoholkonsum usw. schädigen ihr Kind. Die schwangere Frau hat bereits eine Beziehung zu ihrem Kind aufgenommen. Wenn ihr das Wohl des Kindes am Herzen liegt, dann wird sie dafür sorgen, daß sie in guter körperlicher und psychischer Verfassung ist, nicht herumhetzt, nicht bis zum letzten Augenblick allein im Auto zur Arbeit fährt, nicht alle paar Minuten ihre anderen Kinder anschreit, kurz alles unterläßt, was zu verstärkten inneren Spannungen führt. Ihr Körper muß entspannt sein. Ungenügende Sauerstoffzufuhr ist nicht die einzige Mangelerscheinung, die einem Fötus widerfahren kann. Als weiterer entscheidender Faktor wäre die falsche Ernährungsweise der Mutter zu nennen. Die gesunde Mutter empfindet die Bedürfnisse des Fötus in ihrem Körper als Teil ihrer eigenen Bedürfnisse. Durch eine geeignete Diät während der Schwangerschaft wird sie diese Bedürfnisse gleichsam intuitiv befriedigen. Sie wird nicht aus Eitelkeit fasten, um schlank zu werden. Eine Mutter, die sich nicht richtig ernährt, fügt ihrem Kind Schaden zu. Seine Bedürfnisse werden nur mangelhaft erfüllt; dieser unterschwellige Mangel kann sich später womöglich in körperlichen Anfälligkeiten niederschlagen. Fasten kann das Nervensystem des Ungeborenen in einer Zeit schneller Entwicklung auf subtile Weise beeinträchtigen. Wir alle wissen, daß eine falsche Diät unser körperliches Wohlbefinden stört. Doch wir machen uns nicht richtig klar, daß eine schwangere Frau ihrem Kind durch eine falsche Diät Leiden zufügt, auch wenn das Kind aufgrund seines noch unterentwickelten Bewußtseins diese leidvolle Erfahrung nicht wahrnimmt. Eine neurotische Mutter kann ihr Kind auch durch eine Früh- oder Spätgeburt schädlichen Einflüssen aussetzen. Nach meiner Überzeugung werden beide Geburtsarten weitgehend durch neurotische Störungen verursacht. So läßt sich zum
Beispiel in den Gehirnbereichen, die bei der Verdrängung eine Rolle spielen, eine Konzentration der blutdrucksteigernden chemischen Substanzen Serotonin nachweisen. Eine der Begleitumstände erhöhten Serotoninspiegels ist das Zusammenziehen der Blutgefäße. Diese von neurotischer Verdrängung verursachte chronische Verengung der Blutgefäße ist in manchen Fällen einer der Gründe für einen Spontanabort oder eine Frühgeburt. Übermäßiger Serotingehalt kann auch die Blutzufuhr in die Planzenta drosseln und damit die Versorgung des Fötus gefährden. Eine Frühgeburt hat stets zahlreiche gesundheitsschädliche 25
Folgen, doch selten wird das psychische Trauma eines solchen Ereignisses berücksichtigt. Ein primärtherapeutisch behandelter Patient, der durch eine Frühgeburt zur Welt gekommen war, hatte in einem Geburtsprimal das Gefühl, plötzlich in die Welt gestoßen zu werden, ohne dazu bereit zu sein, und er kam aus diesem Primal mit der Einsicht, daß er sich während seines ganzen Lebens an Dinge geklammert, sich um einen dauerhaften Arbeitsplatz und konstante Lebensverhältnisse bemüht hatte und bei jeder Veränderung von Panik ergriffen worden war. Er hatte den starken Eindruck, daß seine Panikgefühle mit seiner Frühgeburt und dem Wunsch zusammenhingen, sich bis zur normalen Geburt im Mutterleib festzuklammern. Ich bin sicher, daß es eine Reihe noch unbekannter biologischer Faktoren gibt, die eine Frühgeburt zur Folge haben. Doch ich bin gleichfalls sicher, daß zwischen diesen Faktoren und neurotischen Störungen eine enge Verbindung besteht. Patientinnen in der Primärtherapie, die Frühgeburten hinter sich hatten, wußten jedesmal mit Sicherheit, daß sie ihre Kinder frühzeitig zur Welt gebracht hatten, weil sie die Schwangerschaft
nicht ertragen konnten und ihre Kinder nicht austragen wollten. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, daß Frühgeburten schädliche Folgen haben, angefangen von verzögerter geistiger Entwicklung bis zur größeren Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen der Atemwege. Freilich dürfte für viele dieser Störungen weniger die Frühgeburt als die Tatsache verantwortlich sein, daß frühgeborene Kinder in Brutkästen gelegt und folglich einen Teil der für ihre Entwicklung notwendigen Stimulierung, Wärme und Körperkontakt entbehren müssen. In diesem Zusammenhang sollte man bedenken, daß Frühgeborene in jeder Hinsicht noch Föten sind, die all die vom Mutterleib ausgehenden Stimulierungen benötigen. Wenn Frühgeborene überhaupt Gelegenheit haben sollen, sich normal zu entwickeln, dann muß man ihnen ein größeres Quantum an taktiler, mit Berührung zusammenhängender Stimulierung bieten, als dies üblicherweise geschieht. Wie wir später sehen werden, beeinflußt solche Stimulierung unmittelbar das Wachstum der Gehirnzellen. In diesem Zusammenhang ist eine von Freedman und anderen durchgeführte Untersuchung an Zwillingen von Bedeutung. Die untersuchten Zwillinge hatten sämtlich ein geringes Geburtsgewicht (was als Folge von Frühgeburten angesehen wurde). Die eine Gruppe der Kinder wurde in ihren Bettchen geschaukelt, die andere 26
nicht. Die stimulierten Kinder nahmen schneller an Gewicht zu als die nicht-stimulierten.* Auch Spätgeburten laufen den natürlichen Bedürfnissen des Kindes zuwider, denn es wird ihm nicht gestattet, was ihm zusteht, nämlich zur richtigen Zeit zur Welt zu kommen. Neurotische Mütter, die sich einer Primärtherapie unterzogen,
kamen zu der Erkenntnis, daß sie mit der verzögerten Geburt ihre Ablehnung dem Kind gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten, Ablehnung aufgrund mangelnder Bereitschaft, sich um das Kind zu kümmern. Eine der Mütter erklärte, sie sei nur deshalb schwanger geworden, damit man sich um sie kümmere, und sie habe diesen Zustand möglichst lange beibehalten wollen. Das Zurückhalten des Kindes, der Unwille, es in die Welt zu setzen, ist neurotisch motiviert; die Mutter kann mit ihrem Verhalten unter Umständen zu einer allgemeinen Verzögerung der kindlichen Entwicklung beitragen. Das Trauma der Spätgeburt zeigt sich an der Tatsache, daß die Sterblichkeitsquote spätgeborener Kinder doppelt so hoch ist wie die normal geborener. Da Kopf und Hüfte des Kindes größer sind als gewöhnlich (aufgrund des längeren Verbleibens im Mutterleib), ist die Geburt häufig mit Komplikationen verbunden, die traumatische Auswirkungen haben können. Eine Mutter, die sich nicht bereit fühlt, Mutter zu sein, die innerlich gespannt und verschlossen ist, die dazu neigt, Dinge nicht mitzuteilen, kann in unbewußter Absicht ihr Kind zu lange in sich behalten. Was uns fehlt, sind Untersuchungen. die Aufschluß darüber geben, welcher Zusammenhang bei schwangeren Frauen zwischen dem Maß innerer Spannungen und der Art der Geburt besteht. Neigen unter stärkeren Spannungen lebende Frauen zu Spätgeburten? Besteht ein Zusammenhang zwischen inneren Spannungen bei der Mutter und größerer Häufigkeit von Hirnschäden und anderen schwerwiegenden Krankheiten beim Kind? Haben mütterliche Spannungen Einfluß auf die Sterblichkeitsquote von Kindern? Bei Tierversuchen ist dies nachweislich der Fall. Bei trächtigen Rattenweibchen, die während der Schwangerschaft häufig gestreichelt werden, ist die Zahl der überlebenden Jungen größer als bei Ratten, die nicht auf diese Weise behandelt werden.**
* D . G . F r e e d ma n , H . Bo v e r ma n u . N . F r e e d ma n , > E f f e c ts o f K in e s th e tic S timu la tio n o n W e ig h t G a in a n d S milin g in P r e ma tu r e I n f a n ts < , V o r tr a g v o r d e r A me n c a n O r th o - p s yc h ia tr y A s s o c ia tio n in S a n F r a n c is c o , K a lif o r n ie n , im A p r il 1 9 6 0 . * * J . W e r b o f f e t a l. , > H a n d lin g o f P r e g n a n t Mic e < , in : P h y s io lo g y a n d B e h a v io r , 3 , 1 9 6 8 , S . 3 5 - 3 9 .
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Streicheln erzeugt offensichtlich ein Gefühl des Wohlbehagens, entspannt das organische System und läßt seine Funktionen optimal ablaufen. Natürlich ist der menschliche Organismus ein wenig komplizierter, doch nach meiner Meinung gilt für ihn der gleiche Grundsatz. Wenn eine Mutter als Säugling viel gestreichelt und gehätschelt wurde, dann wird ihr Organismus während und nach der Schwangerschaft mit einiger Sicherheit entspannter, ausgeglichener und damit ihrem Kind zuträglicher sein, als dies der Fall wäre, wenn sie selbst als Kleinkind auf Zärtlichkeiten verzichten mußte. Die Erfahrungen der Mutter als Säugling und Kleinkind bestimmen zum Teil ihr späteres Verhalten als Mutter. Es wäre auch wichtig zu wissen, ob die inneren Spannungen einer schwangeren Frau den Wahrscheinlichkeitsgrad erhöhen, daß ihr Kind unter Koliken oder Hauterkrankungen (Ekzemen) leiden wird. Wenn wir von Spannungen sprechen, dann meinen wir einen gesamtphysiologischen Zustand, der den Hormonhaushalt, den Muskelapparat, das Kreislaufsystem usw. umfaßt. Spannung ist lediglich ein Begriff, der den Zustand jener miteinander verbundenen organischen Systeme bezeichnet. Der Grund dafür, daß streichelnde Berührung bei Rattenweibchen die Überlebensquote ihrer Jungen positiv beeinflußt, liegt in der Tatsache, daß die Berührung und die damit einhergehenden
Sinneseindrücke sich physiologisch umsetzen, indem sie Veränderungen bei den organischen Schlüsselsystemen bewirken. Störungen im mütterlichen Hormonhaushalt können zu dauerhaften Schädigungen beim Fötus führen. Sie wirken sich unter Umständen auf die Gemütsverfassung des Kindes aus, das heißt, sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, ob ein Kind aggressiv oder passiv wird. Trächtige Primatenweibchen [höchstentwickelte Säugetiere, Affen], denen männliche Hormone verabreicht wurden, brachten Junge zur Welt, die ein aggressiveres Verhalten an den Tag legten als die Jungen einer Kontrollgruppe von Primaten, denen keine männlichen Hormone injiziert worden waren. Der Nachwuchs der erstgenannten Primatengruppe zeigte ein ungewöhnlich aggressives Verhalten; diese Charaktereigenschaft scheint unwandelbar zu sein. Der springende Punkt ist, daß eine Neurose den mütterlichen Hormonhaushalt durcheinanderbringen und zu einem Überschuß an Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) führen kann. Als Folge dieser Störung können die weiblichen Neugeborenen als ungewöhnlich aggressive Kinder zur Welt kommen, als vermännlichte Mäd28
chen, die mit ihrer Umwelt in »männlich-harter« Weise umgehen. Bei Menschen kann dieser Umstand der Anfang einer späteren sexuellen Abirrung sein, etwa lesbischer Neigungen. Natürlich dürften in einem solchen Falle viele weitere soziale Faktoren eine Rolle spielen, doch es ist durchaus möglich, daß das Kind bereits während der Schwangerschaft für spätere Verhaltensstörungen prädisponiert, gleichsam vorgeprägt wird. So ist zum Beispiel nachgewiesen worden, daß männliche Ratten, denen unmittelbar nach der Geburt das weibliche Sexualhormon
Oestrogen verabreicht wurde, für ihr Leben lang feminisiert werden. das heißt weibliche Verhaltensweisen zeigen. Wenn das gleiche Hormon später injiziert wird, ruft es keine derartigen Verhaltensänderungen hervor. Mithin haben Störungen im Hormonhaushalt nur in kritischen Zeitspannen katastrophale Folgen. Die Natur scheint um diese Zusammenhänge zu wissen, denn während der menschlichen Schwangerschaft steigt der Progesterongehalt [weibliches Keimdrüsenhormon] stark an. Das Hormon Progesteron hat in vielerlei Hinsicht entscheidende Auswirkungen: es trägt zur Entspannung der Mutter bei, setzt die nervöse Reizbarkeit des Uterus herab und dürfte schließlich einen beruhigenden Einfluß auf die Leibesfrucht ausüben. Auf die wichtigste Auswirkung des Hormons hat mich Dr. Oscar Janiger hingewiesen.* Bei Durchsicht der Fachliteratur stellte Dr. Janiger fest, daß es während der Schwangerschaft selten, wenn überhaupt zu einem psychotischen Schub (Nervenzusammenbruch) kommt. Doch laut Dr. Janiger ist die Literatur voll von Hinweisen auf psychotische Störungen nach der Entbindung - einer Zeit, wenn der Progesterongehalt rapide absinkt. So wird das Abwehrsystem der Mutter während der Schwangerschaft automatisch, nämlich aufgrund eines angeborenen Mechanismus, zusätzlich verstärkt; dieser Vorgang muß mit unserem sogenannten Überlebenswillen zusammenhängen: Er schützt die Gesundheit der Mutter, während sie ihr Kind austrägt, und garantiert ihm die beste Lebenschance. Progesteron scheint eine anästhesierende, das heißt schmerzstillende Wirkung zu haben; das geht aus Berichten hervor, denen zufolge an Patienten, die zuvor eine hohe Dosis Progesteron erhalten hatten, ohne Narkotisierung kleinere Operationen durchgeführt werden konnten. Und hier wollen wir zur Primärtheorie
* P e r s ö n l i c h e M i t t e i l u n g ; D r . J a n ig e r i s t L e i t e r f ü r p s y c h i a t r i s c h e F o r s c h u n g a n d e r U n iv e r s itä t v o n K a lif o r n ie n in I r v in e .
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zurückkehren. Während der Schwangerschaft wird im Körper der Frau ein chemischer Stoff abgesondert, der die Schmerzen lindert und damit das Abwehrsystem stützt. Das Fehlen akuter Psychosen in dieser Zeit legt den Schluß nahe, daß dieser im Innern des Körpers gebildete Schmerzlinderer einen beträchtlichen Schutz darstellt - mehr noch, daß Psychosen mit unabgewehrtem Schmerz zu tun haben. Die Krankheitsanfälligkeit der Mutter nach der Niederkunft muß irgendwie mit dem gesunkenen Progesteronspiegel zusammenhängen. Progesteron hat noch weitere Funktionen, nicht zuletzt jene, die Differenzierung in männlich oder weiblich zu fördern. Auch hier wiederum können Veränderungen im Progesterongehalt während der Schwangerschaft die besagte Differenzierung derartig beeinträchtigen, daß die basale Einstellung des Neugeborenen gegenüber den Lebensereignissen — seine Grundorientierung — gestört wird. Frauen, die Schwierigkeiten damit haben, ihr Kind auszutragen, erhalten gelegentlich extrem hohe Dosen Progesteron (um den Uterus zu beruhigen), und dies wiederum hat bisweilen zur Folge, daß ihre weiblichen Neugeborenen gleichsam vermännlicht zur Welt kommen (mit starker Körperbehaarung usw.). Mit anderen Worten, Veränderungen im Hormonhaushalt der Mutter übertragen sich auf den Fötus; diesen Tatbestand haben wir zu berücksichtigen, wenn wir über den Neurosenursprung nachdenken. Wir haben uns mit der Genetik beschäftigt, um für den Fall, daß die Schwangerschaftsperiode einmal in allen Einzelheiten erforscht ist, zur Klärung ungelöster Probleme beizutragen.*
So habe ich zum Beispiel darauf hingewiesen, daß ein extrem hoher Serotoningehalt einen Spontanabort oder eine Frühgeburt herbeiführen kann. Vielleicht haben abgesonderte Körperhormone wie Progesteron irgendeine Rückwirkung auf Gehirnhormone wie Serotonin, die ihrerseits dann die Körpervorgänge beeinflussen. Der Körper verfügt über eine komplexe Hormonkette; jede Störung oder Veränderung in einem Kettenglied könnte letztendlich die anderen Kettenglieder beeinträchtigen. Wenn wir nicht die Gesamtperson in unsere Überlegungen einbeziehen, könnten wir zu der Annahme verführt werden, eine einzige Hormonsubstanz sei der »Grund« für diese oder jene Körperverfassung. Ich bin der Überzeugung, daß
* E s i s t n ic h t v ö l l i g g e k lä r t , o b d e r A n s t i e g d e s P r o g e s t e r o n s p ie g e l s u n mi t t e l b a r z u e i n e r S t ä r k u n g d e s A b w e h rs y s t e ms f ü h r t o d e r o b e r z u n ä c h s t a u f b io c h e mis c h e E le me n te e in w ir k t.
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Neurosen das gesamte körperliche Interaktionssystem stören und auf der ganzen Linie zu geringfügigen Unausgeglichenheiten im Körperhaushalt führen, zu Gleichgewichtsschwankungen, die ihrerseits das körperliche Wachstum, die Haarbildung, den Sexualtrieb, den Blutzuckerspiegel usw. beeinträchtigen können.* Progesteron dürfte lediglich ein Bestandteil eines psychoseverhindernden, die Körperabwehr stärkenden biochemischen Systems sein. Serotin wäre ein weiterer Abwehrstoff. So ist zum Beispiel bei Psychosen kein Serotinspiegel vorhanden. Wenn wir erst einmal begriffen haben, daß es nicht nur psychische Abwehrfunktionen gibt, wie etwa Projektionen, die unangenehme Vorstellungen abwehren sollen, sondern auch Abwehrformen, die die neurochemischen Vorgänge
unseres gesamten Körpers erfassen, dann werden wir verstehen lernen, wie Neurosen den Gesamtorganismus beeinträchtigen. Das Leben des Fötus im Uterus stellt eine Mutter-KindBeziehung her. Der Gedanke erscheint nicht abwegig, daß eine psychisch gesunde Mutter eine bessere Beziehung zu ihrem Fötus hat als eine psychisch gestörte Mutter.
HELEN Gestern beim Gruppenabend hatte ich ein sehr merkwürdiges Urerlebnis. Ich hatte das Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein. Plötzlich bekam ich einen gräßlichen Schreianfall, doch gleichzeitig war mir alles ein wenig deutlicher bewußt, als das in jener frühen Lebensphase der Fall ist. Heute, genau in diesem Augenblick, geht mir auf, was es mit diesem Urerlebnis auf sich hat. Ich erinnere mich, daß meine Mutter erzählte, sie sei im neunten Schwangerschaftsmonat spätabends über einen Spielplatz vor unserem Hause gegangen und
* D ie d u r c h N e u r o s e v e r u r s a c h te n V er ä n d e r u n g e n im H o r mo n a u s s to ß h a b e ich in D ie A n a to m ie d e r Ne u r o s e , S . F is c h e r V e r la g , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 4 , a u s f ü h r lic h e r e r lä u te r t. A n te c h n is c h e n E in z e lh e ite n in te r e s s ie r te L e s e r v e r w e i s e i c h a u f d i e k ü r z l i c h e r s c h i e n e n e A r b e i t T h e Ne u r o b io lo g y o f th e A m y g d a la ( S ymp o s iu m in Ba r H a b o r . U S - Bu n d e s s ta a t Ma in e , P le n u m P r e s s ) . D a n a c h s c h e i n t b e w i e s e n , d a ß d ie A myg d a la [ Ma n d e l] d e n H o r mo n a u s s to ß d e s H yp o th a la mu s [ h o r mo n b ild e n d e r T e il d e s Z w i s c h e n h i r n s ] r e g u l i e r t u n d a u c h e i n e n u n mi t t e l b a r e n E i n f l u ß a u f d a s e n d o k r in e S ys te m [ in n e r e S e k r e tio n ] h a b e n d ü r f te . W e n n d a s limb is c h e S ys te m [ Z e n tr u m f ü r T r ie b h a n d lu n g e n , E mo tio n e n , L e r n - u n d G e d ä c h tn is f u n k tio n ], in d e m d e r H ip p o c a mp u s [ z u m Rie c h h ir n g e h ö r e n d e r G e h ir n b e r e ic h ] u n d d ie A myg d a la e n ts c h e id e n d e F u n k tio n e n a u s ü b e n , S c h me r z e n b lo c k ie r t, d a n n w ir d f o lg lic h d ie E n e r g ie d e s b lo c k ie r te n S c h me r z e s ü b e r d e n H yp o th a la mu s in d a s S ys te m z u r ü c k g e le ite t u n d f ü h r t z u k r a n k h a f te n S tö r u n g e n im H o r mo n h a u s h a lt.
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dabei gestolpert. Sie war mitten aufs Gesicht gefallen und hatte sofort befürchtet, ich könnte dabei Schaden erlitten haben. Daher rief sie ihren Arzt an, der ihr jedoch versicherte, ich hätte keinen Schaden erlitten und sei wohlauf. Mir ist heute klar, daß es sich bei dem gestrigen Urerlebnis um eine Wiederbelebung jenes Ereignisses handelt. Gegen Ende des Urerlebnisses, nachdem ich das Gefühl gehabt hatte, ich befände mich wieder im Mutterleib, ein Gefühl, als seien alles Denken und alle Körpervorgänge, selbst das Atmen zum Stillstand gekommen, da verspürte ich plötzlich einen Ruck, der in mir das Gefühl hervorrief, als habe man mich brutal geweckt oder als sei meine Wahrnehmung geschärft worden. Gleichzeitig hatte ich heftige Angst, mir war, als werde nach mir gegriffen oder als zöge sich mein Körper zusammen. Damit war das Urerlebnis vorbei. Anschließend lag ich noch eine Zeitlang da, ohne Gefühl für Raum und Zeit oder irgend etwas anderes. Wenn ich nicht diesen plötzlichen scharfen Ruck verspürt hätte, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht erst möglich gewesen, mich an das Gefühl zu erinnern, im Mutterleib zu sein, denn dieses Gefühl war in einer so tiefen unbewußten Schicht verborgen. Oder vielleicht hätte ich mich doch daran erinnern können, wenn ich einfach eingeschlafen wäre. Ich weiß, als Kind bin ich häufig in diesen Zustand entglitten, und später dachte ich mir, dies sei ein Weg gewesen, meiner erbärmlichen Kindheit zu entfliehen, doch heute weiß ich, daß mein Körper versuchte, die erste traumatische Urerfahrung zu mildem. Das panikartige Gefühl gegen Ende des Urerlebnisses war überhaupt keine verstandesmäßige Erfahrung; es war nichts als eine körperliche Reaktion. Wenn ich als Kind aufgrund jenes »Mutterleibs-Primals« in diesen Zustand der Geistesabwesenheit oder Trance entglitt, dann verschaffte ich mir auf diese Weise eine Möglichkeit, dem
Schmerz zu entgehen, den meine Mutter mir zufügte. Doch wenn ich für eine Weile in diesem Mutterleibs-Gefühl verharrte, dann überfiel mich ein intensives Panikgefühl, ein Gefühl schrecklicher Angst, und mein Körper krampfte sich zusammen, wahrscheinlich in Erwartung des ruckartigen Stoßes, den ich geschildert habe. Ich war außerdem das erste Kind meiner Mutter und zog wahrscheinlich deshalb ihre Ängste und Befürchtungen auf mich. Das Füttern war von Anfang an eine Qual für mich, denn ich wurde nach Plan und nicht nach Bedürfnis gestillt. Wenn ich hungrig war und mein Bedürfnis durch Schreien äußerte, wurden meine Anstren32
gungen (das Schreien) niemals belohnt. Stattdessen wurden meine Bedürfnisse zu Zeiten erfüllt, die mir völlig verrückt erschienen, entweder, wenn ich überhaupt nicht hungrig war, oder, wenn ich schlief, usw. Mein Bedürfnis und die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung (das Füttern) fielen selten zusammen. Sie paßten einfach nicht zusammen. Wenn ich das Bedürfnis verspürte, bekam ich nichts, und wenn ich das Bedürfnis nicht verspürte, bekam ich etwas. Es war einfach verrückt, es wirkte auf mich sinnlos und verwirrend, als sei ich bereits in früher Kindheit aus dem Lebensrhythmus geraten. Mir ist heute klar, daß es mir ähnlich erging, wenn ich das Bedürfnis hatte, in den Arm genommen und geliebt zu werden. Ich konnte dieses Bedürfnis nur so äußern, wie ich es als Kind getan hatte, nämlich durch Schreien und Weinen. Doch meine Mutter nahm mich nicht in den Arm und widmete mir keine Aufmerksamkeit, sondern wurde im Gegenteil wütend auf mich und ließ mich allein in meinem Zimmer. So wird man verstehen, daß es auf mich wirkte, als würde ich jedesmal bestraft, wenn ich Bedürfnisse zeigte. Sie
wurden nicht in der Weise beantwortet, wie ich es mir wünschte, sondern genau entgegengesetzt: ich wurde allein gelassen und ausgeschlossen. Kein Wunder, daß ich in den Mutterleib zurückkehren wollte, doch wenn ich einmal das MutterleibsGefühl hatte, dann fühlte ich mich trotzdem nicht lange sicher, denn in jedem Augenblick konnte der ruckartige Stoß wieder einsetzen, und so erfaßte mich selbst bei dem Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein, Angst und Schrecken. Die Erinnerung an meine Kindheit besteht nur aus Angst und Schrecken, die mich ständig erfüllten. Meine Mutter verletzte und ängstigte mich auch, indem sie häufig Wut gegen mich äußerte und mir Schläge verpaßte. Sie prahlte ständig damit, daß ich das am meisten verprügelte Kind des ganzen Wohnblocks sei. Sie befürchtete ständig, mich zu verwöhnen. Heute weiß ich einfach, daß man ein Kind gar nicht verwöhnen kann, wenn man ihm zuviel Liebe gibt. Was mich angeht, so habe ich meinen Sohn ausgiebig verprügelt und ausgeschimpft, doch ich bin schließlich auf den Grund meiner Wut gekommen. Vor einigen Wochen hatte ich ein Urerlebnis, das mit irgendwelchen lächerlichen Kleinigkeiten im Verhalten meines Sohnes zu tun hatte, mit Bagatellen, die mich jedoch wahnsinnig ärgerten, und im Verlauf dieser Erfahrung wurde die Wut plötzlich viel intensiver, bis ich schließlich in einen Zustand völliger Raserei .geriet. Die Wut auf meinen Sohn wurde sofort Wut auf meine Mutter, eine Wut über alles, was ich als Kind 33
zu erdulden hatte. Ich verstehe jetzt, daß immer dann, wenn ich heutzutage in Wut gerate, diese Wut ausgelöst wird durch eine ungeäußerte alte Wut über meine Mutter, wie ich sie in der Kindheit empfunden habe. Mein armer Junge hatte die Hauptlast
dieser Wut zu ertragen, wie ich die von meiner Mutter ... und sie von ihrer Mutter. Ich könnte wirklich ein Buch darüber schreiben, wie übel meine Mutter mir mitgespielt hat und wie ich selbst meinem Sohn zugesetzt habe. Kurz und gut, man kann keine guten Eltern sein, wenn man noch in seiner Vergangenheit verhaftet ist, und das sind die meisten von uns.
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3 Geburtswehen und Entbindung
Im vorigen Kapitel habe ich erläutert, wie der körperliche Zustand der Mutter das Kind, das sie in sich trägt, beeinflussen kann. Neurotische Störungen können kurz nach der Empfängnis einsetzen. Der nächste kritische Punkt ist die Entbindung selbst. Ich werde mich mit den Geburtswehen und der Entbindung ausführlicher befassen, weil ich der Meinung bin, daß diese körperlichen Vorgänge häufig nicht nur quantitativ zur Neurosenentstehung beitragen, sondern auch zu qualitativen Sprüngen führen, qualitativ hinsichtlich der Schmerzanhäufung
und Spannungsrückstände, von denen das Körpersystem ergriffen wird. Die Geburt eines Kindes ist ein rhythmischer Prozeß. Geburtswehen haben einen eigenen Rhythmus; die Bewegung des Fötus durch den Geburtskanal in die Außenwelt ist im Grunde Teil eines geordneten Geschehnisablaufs — sofern es sich um eine auf den Körperrhythmus abgestimmte Geburt bei einer normalen Frau handelt. Menstruation und Schwangerschaft sind beide rhythmisch ablaufende Körpervorgänge. Rhythmus ist ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens. Neurose ist Antirhythmus. Bei neurotischen Störungen sind die Dinge nicht mehr im »Fluß«. Das Leben ist bruchstückhaft und zusammenhanglos. Bei neurotischen Frauen ist die Geburt häufig ein »unnatürlicher« Vorgang – nicht ruhig, glatt und fließend, sondern quälend. Aufgrund des Sozialisationsprozesses wird die menschliche Geburt im Gegensatz zu den Tieren nicht mehr von Instinkten gesteuert. Die Frau hat eine »angelernte« Geburt. Sie ist angeleitet, abgerichtet und vorbereitet auf einen Vorgang, der eigentlich natürlich ablaufen sollte. Der Gedanke einer natürlichen Geburt steht für gewöhnlich nicht zur Debatte. Die Frau wird ins Krankenhaus gebracht und unter Drogen gesetzt, so daß sie gar nicht in der Lage ist, die eigenen körperlichen Prozesse während der Geburt voll wahrzunehmen. Daher kann sie sich auf ihren eigenen Rhythmus nicht einstellen, denn sie fühlt ihren Körper nicht. Sie ist nicht in der Lage, ihren Körper einzusetzen, um dem Neugeborenen dabei zu »helfen«, durch den Geburtskanal zu gelangen. Häufig muß das Kind mit Hilfe von Instrumenten herausgezogen werden. Unterdessen ver35
spürt der Fötus all diese Unterbrechungen im Geburtskanal und ist bereits aus dem Rhythmus mit sich selbst, noch ehe er das Licht der Welt erblickt hat. Das Neugeborene ist mithin bei der Geburt schon kein Organismus mehr, dessen Funktionen natürlich und frei fließend arbeiten. Es ist ein Wesen, das daran »gehindert« wird, es selbst zu sein – sich nach seinem eigenen natürlichen Zeitgefühl zu entwickeln. Es muß sich dem durcheinander geratenen Rhythmus seiner Mutter »fügen«. An dieser Stelle müssen wir zunächst festhalten, daß Schmerz auf verschiedenen Ebenen auftritt, daß einige Schmerzen begrifflich wahrnehmbar sind, bewußt werden können, andere nicht. Körperliche Schmerzen prägen sich genauso nachhaltig ein wie jeder andere Schmerz. Zweitens kann Schmerz (Unbehagen) bereits im Uterus auftreten und während der Geburt noch verstärkt werden. Das heißt nicht, daß eine einzige Erfahrung – in diesem Falle: im Mutterleib zurückgehalten werden – das Neugeborene anschließend zu einem gefügig-unterwürfigen Kind zu machen vermag. Es heißt vielmehr, daß es in seinem Leben eine wesentliche Erfahrung gibt, eine Lebenssituation, in der es sich zu fügen hatte, und daß diese Erfahrung im Verein mit vielen späteren Situationen, in denen es sich den Bedürfnissen anderer zu unterwerfen hat, eine durch Unterwürfigkeit gekennzeichnete Charakterstruktur hervorbringen kann. Die Geburtserfahrung kann zum Urbild für spätere Reaktionen des Kindes auf Belastungen werden. Die Begriffe prototypisches (urbildliches) Trauma und prototypisches Abwehrverhalten sollen weiter unten ausführlicher erläutert werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, zu verstehen, daß eine natürliche, glatt verlaufende Geburt entscheidend dazu beiträgt, dem Kind eine dauerhaft schädigende Neurose zu ersparen.
Das Kind wird im Uterus, einem Muskelsack, der sich mit dem Wachstum des Fötus ausdehnt, mit allem Notwendigen versorgt. An einem bestimmten kritischen Punkt wird der Fötus ausgestoßen. Der Vorgang ähnelt in vieler Hinsicht der Arbeitsweise anderer innerer Organe wie der Blase oder des Mastdarms. Ein von inneren Spannungen erfüllter Mensch kann unter chronischen Verstopfungen leiden und nicht in der Lage sein, sich auf seinen natürlichen Rhythmus einzustellen. Eine »angespannte« Mutter kann unfähig sein, ihr Baby auszustoßen. Wir wissen, daß innere Spannung die Muskelfasern zusammenzieht, und so darf man erwarten, daß bei einer neurotischen Geburt die zirkulären Muskelfasern der Gebär36
mutter nicht ausreichend entspannt werden, um den Fötus ungehindert in den Vaginalkanal zu entlassen. Auch die Vagina ist elastisch und vermag sich unter normalen Bedingungen so weit auszudehnen, um auch ein ziemlich großes Baby aufnehmen zu können. Doch aufgrund von innerer Spannung kann es zum »Schließen« statt zum »öffnen« kommen. Ich spreche hier nicht von Spannung, die mit der Furcht vor dem Gebären einhergeht, sondern vielmehr von einer rückständigen Spannung im mütterlichen Körper — von der Last an Schmerzen, die sie ständig in sich trägt und die als Ursache dafür anzusehen ist, daß sie unter chronischen inneren Spannungen und Verkrampfungen steht. Der große Geburtsschmerz ist nach meiner Meinung in der Mehrzahl der Fälle auf eine Neurose zurückzuführen – auf ein unnatürliches Verhaltenssystem, das sich einem natürlichen Prozeß verschließt; in ganz ähnlicher Weise entsteht Schmerz, wenn sich ein wirklichkeitsfremdes Verhaltenssystem gegenüber echten Gefühlen verschließt. Ich wüßte keinen anderen
natürlichen Körperprozeß, der mit einem solchen Schmerz verbunden ist. Es scheint vielmehr so, daß natürlich ist, was Schmerz verhindert. Mangel an Flexibilität bei Neurotikern ist demzufolge nicht einfach ein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein neuromuskuläres Gesamtgeschehen.
Kaiserschnitt Gelegentlich sind die Geburtswehen so schwierig, daß ein Kaiserschnitt notwendig wird, um das Kind zur Welt zu bringen. Auch eine solche Operation kann das Neugeborene traumatisieren, denn die Muskelkontraktionen während der Geburt haben die Funktion, die Haut des Kindes zu stimulieren, die ihrerseits wichtige Körpersysteme stimuliert, darunter die Atmungsorgane und das Urogenitalsystem [Harn- und Geschlechtsorgane]. Die Muskelkontraktionen haben etwa die gleiche Funktion wie das Ablecken tierischer Neugeborener durch die Muttertiere. Ablecken fördert bei neugeborenen Tieren die Tätigkeit des Darmtrakts und der Blase. Beim Kaiserschnitt wie bei der Frühgeburt ist unter anderem der Mangel an körperlicher Stimulierung problematisch. (Bei frühgeborenen Kindern ist die Zeit der Geburtswehen gewöhnlich kürzer.) Wir haben Beweise dafür, daß Kinder, die auf solche Weise zur Welt kommen, in stärkerem Maße als andere Kinder zu Erkrankungen 37
der Atemwege neigen und daß sie später als üblich die Kontrolle von Sphinkter [Afterschließmuskel] und Blase erreichen. »Beschleunigung« der Niederkunft wie Verzögerung der Geburt beeinträchtigen die Gesundheit des Kindes, weil sie dem
natürlichen Rhythmus zuwiderlaufen. Ich möchte behaupten, daß solche Abweichungen von der natürlichen Geburt in vielen Fällen auf neurotische Störungen der Mutter zurückzuführen sind; aufgrund des neurotischen Verhaltenssystems der Mutter unterliegt das Neugeborene bereits bei der Geburt einem Trauma und wird so selbst in einen neurotischen Prozeß gedrängt. In unserem Leben gibt es kritische Zeitspannen, in denen unsere Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wenn verhindert werden soll, daß wir uns das ganze Leben lang mit Problemen herumplagen. Eines dieser Bedürfnisse ist nach meiner Meinung das Zusammengepreßtwerden und die massive körperliche Stimulierung während der Geburt, ein Bedürfnis, das bei Geburten durch Kaiserschnitt zu kurz kommt. Ich hege starke Zweifel, daß irgendein späteres körperliches Wohlbehagen oder irgendeine Behandlung seitens der Pflegepersonen dieses Bedürfnis beseitigen können. So ist zum Beispiel nachweisbar, daß Kinder, die mit Hilfe einer Kaiserschnittoperation zur Welt kommen, emotional gestörter sind als normal geborene Kinder.* Durch Kaiserschnitt geborene Kinder sind ängstlicher und unruhiger. Sie neigen dazu, auf Reize passiver zu reagieren — eine verständliche Reaktion, wenn man bedenkt, daß sie an ihrer Geburt nicht aktiv teilgenommen haben. Eine Untersuchung ergab, daß Affenkinder, die durch Kaiserschnitt geboren wurden, in gleicher Weise, nämlich passiv, auf Reize reagierten.** Der Organismus von Kindern mit Kaiserschnittgeburt weist biochemische Unterschiede auf; so ist etwa der Eiweißgehalt des Blutserums geringer. Auch ist ihre Sterblichkeitsquote höher. Mit anderen Worten, eine natürliche Geburt, eine Geburt zur rechten Zeit, ist ein entwicklungsbedingtes Bedürfnis, und wenn die Befriedigung dieses Bedürfnisses vorenthalten oder verhindert wird, kann das zu tiefreichenden und dauerhaften Veränderungen im Organismus führen. Das Zusammenziehen der Gebärmutter mit dem Ziel, den Fötus freizugeben, stimuliert die peripheren Nerven [vom Rückenmark zum Gehirn führende
* W . J . P i e p e r e t a l . , > P e r s o n a l i t y T r a i t s i n C a e s a r e a n - N o r ma l l y D e l i v e r e d Children<, in: Archives o f General Psychiatry, 2, 1964, S. 466-471. * * G . W . Me ie r , > Be h a v io r o f I n f a n t Mo n k e ys : D if f e r e n c e s A ttr ib u ta b le to Mo d e o f Bir th < , in : S c ie n c e , 1 4 3 , 1 9 6 4 , S . 9 6 8 f f .
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Nerven], die ihrerseits Impulse an das Gehirn weiterleiten, und das Gehirn nimmt anschließend Einfluß auf alle entscheidenden Organsysteme. Wenn dieses wichtige Ereignis fehlt, kommt es nicht zu einer adäquaten Aktivierung des Nervensystems. In entscheidenden Phasen seiner Entwicklung braucht das Gehirn bestimmte Stimulierungen, um sich richtig ausbilden zu können. Die Betonung liegt auf »entscheidende Phasen«, denn wenn das Kind die mit der Geburt verbundene massive Stimulierung durch Zusammenpressen im Alter von drei Monaten erfährt, kann das durchaus schädigend und traumatisch sein und den Ausfall von Gehirnfunktionen zur Folge haben. Wir wissen noch aus anderen Erfahrungen, welche nachteiligen Folgen eine Kaiserschnittgeburt haben kann, nämlich aus der Beobachtung von Urerlebnissen bei Patienten, die auf diese Weise zur Welt gekommen sind. Bei diesen Geburtsprimals fehlt der fließende Rhythmus der Muskelkontraktionen normaler Geburten. Die dabei zu beobachtenden Bewegungen sind zufälliger und gewöhnlich heftiger als andere Bewegungen. Es hat den Anschein, als wollten die Patienten durch ihre heftigen Bewegungen und durch ihr wildes Umsichschlagen ein Entwicklungsdefizit ausgleichen; mit ihren Urerlebnissen versuchen sie, so scheint es jedenfalls, eine biologische Lücke zu füllen, die dadurch entstanden ist, daß ihnen das Zusammenpressen während einer normalen Geburt vorenthalten wurde. Sie haben niemals ihr ursprüngliches »Rhythmus«-Gefühl
erfahren, ihnen fehlt eine Anfangserfahrung, die ihren Körper von vornherein geprägt hätte. In diesem Sinne haben sie genauso ein mit Schmerzen verbundenes Urerlebnis gehabt, als wären sie bei der Geburt von der Nabelschnur stranguliert worden. Ein mit Hilfe eines Kaiserschnitts geborener Patient drückte es folgendermaßen aus: »Seit jenem Geburtserlebnis habe ich darauf gewartet, daß etwas Großartiges geschehen würde. Jeden Tag dachte ich, ein wichtiger Telefonanruf würde mein ganzes Leben ändern. Nun weiß ich, auf welch eine einschneidende Erfahrung ich gewartet habe.« Damit dürfte uns klar werden, daß das Fehlen von Ereignissen Schmerzen erzeugt; das heißt, einem Kind eine notwendige Entwicklungserfahrung vorenthalten kann genauso katastrophal sein wie die Belastung durch eine extrem intensive Erfahrung. Infolgedessen können Frühgeburten wie auch Kaiserschnittgeburten jeweils auf ihre besondere Weise eine Neurose einleiten. Ein durch Kaiserschnitt geborener Patient, den ich in der Primärthe39
rapie hatte, erklärte mir nach seinem Geburtsprimal, er habe das Gefühl gehabt, man zerre ihn weniger »heraus«, sondern nach oben wie nach unten. Der Patient fühlte sich orientierungslos, denn bei der Geburt hatte er noch keine Vorstellung von oben und unten; ihm war lediglich, als sei er vom festen Boden, nämlich der Gebärmutter, in den freien Raum gestoßen worden. Er erinnerte sich an die Bestürzung, die er empfunden hatte, als er in dem Spielfilm »2001« Menschen im Weltraum hatte schweben gesehen. Als er vor einigen Jahren von einem kleinen Mädchen hörte, das in einen Brunnen gefallen war, konnte er vor Angst nicht einschlafen. Er wollte wissen, ob es gelingen würde, sie heil herauszuholen. Nach seinem Urerlebnis verstand er seine Angst. Sein Organismus hatte sozusagen das Fehlen einer notwendigen Erfahrung in Erinnerung behalten und in seinem
späteren Leben auf bestimmte Situationen mit entsprechenden, wenngleich unbewußten Ängsten reagiert. Die Geburt selbst bedeutet für das Neugeborene nicht notwendig ein Trauma, solange die Geburt nicht traumatisch verläuft. Es stimmt nicht, daß der Fötus im Mutterleib ein idyllisches Leben führt und eines Tages gegen seinen Willen aus seiner »Schutzhülle« gerissen wird. Vielmehr gehört das Auf-die-WeltKommen zur Lebensentwicklung. Die Geburt ist eine Stufe in der Entwicklung, vergleichbar dem Sich-Aufsetzen und dem Gehen. Wir sind nicht der Meinung, daß der Übergang vom sorglosen Aufenthalt im Mutterleib zum aktivitätsfordernden Aufenthalt auf dieser Erde traumatisch ist, noch können wir uns mit dem Gedanken befreunden, daß der Umschwung von totaler Abhängigkeit von der Mutter zur teilweisen Abhängigkeit von ihr tatsächlich eine Katastrophe bedeuten muß. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine »natürliche« Geburt richten ihr Augenmerk in erster Linie darauf, den Frauen Geburtsschmerzen zu ersparen. Es ist zwar ein großer Fortschritt, daß man sich überhaupt Gedanken über die natürliche Geburt macht, doch ich glaube, man sollte die Tatsache nicht übersehen, daß wir einer neurotischen Mutter innere Schmerzen nicht gänzlich ersparen können, sofern wir es mit der natürlichen Geburt wirklich ernst meinen. Möglicherweise hat die Vorstellung, jede Geburt sei mit Schmerzen verbunden, dazu geführt, sich vor allem um die Vermeidung von Schmerzen zu kümmern. Gewiß, die Geburt ist mühevoll, doch es besteht kein Grund, warum wir gesunde Mütter nicht auffordern sollten, diese Mühen »auf sich zu nehmen«, die wie immer gearteten Schmerzen zu ertragen und ihren Qualen Ausdruck zu geben, wenn 40
sie vorhanden sind. Um es zu wiederholen, Qualen und Schmerzensschreie lassen sich nicht vermeiden, wenn etwas Wahres und Wirkliches einem wirklichkeitsfremden Körper- und Verhaltenssystem entrissen oder entbunden wird, und ob es sich dabei um Gefühle oder um ein Kind handelt, spielt meiner Meinung nach keine Rolle. Einübung ist hilfreich, doch wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, daß wir einem Neurotiker »beibringen« könnten, normal zu sein und ohne innere Schmerzen zu leben. »Jemandem beizubringen, natürlich zu sein«, ist ein logischer Widerspruch. Ein Kreißsaal mit Frauen, die vor Schmerzen schreien, ist besser als ein Kreißsaal mit folgsamen, unter dem Einfluß von Narkotika stehenden Frauen, denen es verwehrt ist, das wichtigste Ereignis ihres Lebens voll zu erleben: die Geburt ihres Kindes. Es ist nicht nur ein netter »Wunsch«, Gebärende nicht zu narkotisieren, denn viele Patientinnen, die Geburtsprimals erlebt haben, erklären anschließend, an einem entscheidenden Punkt der Geburtswehen seien ihre Gefühle erstarrt; nach ihren Urerlebnissen sind sie mehr tot als lebendig, ihnen ist völlig unklar, was mit ihnen geschehen ist. Sie kommen nicht voller Lebens- und Tatendrang zur Welt, im Gefühl, ihre Geburt wahrhaft erlebt zu haben, sondern »benebelt und betäubt« (darüber später mehr). Eine neurotische Mutter, die sich darauf einstellt, dem Schmerz »nachzugeben«, erleichtert den Geburtsvorgang, und damit fallen einige Faktoren fort, die eine neurotisierende Wirkung auf ihr Kind haben können. Bei Frauen, denen bewußt ist, daß sie bei der Geburt vor Schmerzen schreien können und sollen, werden sich Schuldgefühle und innere Spannungen vermindern. Stattdessen werden Frauen jedoch aufgefordert, sich »tapfer« zu verhalten, »sich entsprechend ihrem Alter zu verhalten« usw. Sie geraten buchstäblich in eine »Double-bind«-Situation [kaum zu übersetzen; etwa: Doppelbindung oder Zwickmühle]. Sie empfinden das Bedürfnis, ihren Schmerzen durch Schreie Ausdruck zu geben, und zugleich bereitet es ihnen Schmerzen,
daß sie die Äußerung des ursprünglichen Schmerzes unterdrücken müssen. Diese Unterdrückung verstärkt die Spannungen und intensiviert mithin das Geburtstrauma. Gerade die Schmerzensschreie würden Erleichterung und Entspannung bringen, der Gesamtschmerz würde geringer, erträglicher, und das wäre schon ein Vorteil. Zum Ausdruck gebrachter Schmerz kann besser verkraftet werden. Sich gegen den Ausdruck von Schmerzen sträuben hat schädliche Folgen. Die Ärzte sollten bei der Verwendung von schmerzstillenden Mit41
teln zurückhaltender sein; derartige Mittel werden häufig rein mechanisch verabreicht, sobald Patienten Schmerzen äußern. Auch die Ärzte sollten die Schmerzen der Mutter »auf sich nehmen«. Schmerzstillende Medikamente halten die innerliche Spannung lediglich zurück; viele der auf die Geburt folgenden Schmerzen wie Kopf- und Rückenschmerzen könnten die Folgen von Spannungsunterdrückung sein, die entweder von der Mißbilligung von Schmerzäußerungen seitens des Krankenhauspersonals herrührt oder von Medikamenten, die der Mutter gegeben werden, um sie zu »beruhigen«. Der stets fällige Preis für Unterdrückung von Schmerzen sind spätere Verhaltensstörungen. Unterdrückung bedeutet, daß sich Spannungsenergien anstauen, und diese Energien müssen ein Ventil finden, sobald sie ein bestimmtes Maß übersteigen.
MADELYN
Heute ist mir etwas klar geworden, was mich seit sechseinhalb Jahren gequält und deprimiert hat! Nachdem ich über den schrecklichen Tod meines Kindes in Weinen ausgebrochen war
und das damalige Traurigkeitsgefühl wieder verspürte, mir elend wurde bei dem Gedanken an mein Kind, da nahm mein Körper eine Stellung wie bei der Entbindung ein. Ich hatte starke Schmerzen im Unterleib, meine Beine spreizten sich, ich preßte die Hände gegen den Bauch, mein Körper zuckte, und ich verspürte Geburtswehen. Dann ging mir plötzlich ein Licht auf, und mir fiel ein: Bei der Geburt meines kleinen Mädchens wurden die Wehen künstlich eingeleitet, und ich habe davon nicht das Geringste gespürt, das heißt, ich kann mich nicht daran erinnern, weil der Arzt mir Skopolamin gegeben hatte, ein Mittel, das die Erinnerung ausschaltet. Ich wachte im Krankenzimmer auf, ohne die guten, normalen Schmerzen verspürt zu haben, die man empfinden sollte, wenn man ein Kind zur Welt bringt. Sie (die Ärzte) hatten mir meine Schmerzen vorenthalten, indem sie mein Gedächtnis ausschalteten, und daher verfiel ich nach der Geburt meines Kindes in schwere Depressionen. Bei meinen anderen Kindern konnte ich die Geburten voll und ganz fühlen und erleben. Ich habe mir immer schon gedacht, daß Schmerz, der nicht verspürt wird, unvermeidlich zu Depressionen führt. Nach meiner Meinung gibt es nicht so etwas wie eine Schwangerschaftsdepression nach der Entbindung. Meine Depression wurde 42
von Medikamenten verursacht, die mich an den Gefühlen hinderten. Der aufgrund der Medikamente unterdrückte, nicht empfundene Schmerz ist schuld daran, daß ich in Depressionen verfiel. Als ich schwanger wurde, spürte ich meinen Schmerz bereits ganz deutlich, denn damals war das Kind einer guten Freundin gestorben, und ich habe miterlebt, welche Schmerzen sie empfand. Die Gegenwart meiner Freundin, die Gespräche mit ihr, brachten meinen Schmerz gefährlich nahe an die Oberfläche.
Als mir dann meine Geburtswehen nicht gestattet wurden, entstand in mir ein Übermaß an nicht gefühlten Schmerzen, das mich in die Depressionen trieb.
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verbundenen systematischen Spannungsstauung läßt sich auch aus der Beobachtung erschließen, daß bei Patienten, die in der Primärtherapie solche Erfahrungen durchlebt haben, beträchtliche psychophysische Veränderungen vor sich gehen. Otto Rank hat das Geburtstrauma, das er für universal hielt, zur Grundlage eines ganzen Theoriegebäudes gemacht. Seinerzeit war man der Auffassung, die Geburt sei an sich traumatisch, weil das Kind in eine feindliche Umwelt geworfen werde. Nach Meinung der Geburtstrauma-Theoretiker ist das unfreiwillige Verlassen des sicheren Mutterleibs mit niederschmetternden Gefühlen verbunden. Geburten sind jedoch nur dann traumatisch, wenn sie tatsächlich
* E in e a u s f ü h r lic h e Be s c h r e ib u n g e in e s U r e r le b n is s e s ( P r ima l) f in d e t s ic h in D e r U r s c h r e i , S . F is c h e r V e r la g , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 3 .
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traumatisch verlaufen, und zwar nur dann — etwa im Falle von Strangulierung durch die Nabelschnur, bei Spätgeburten, bei übermäßig langwierigen Geburtswehen. Eine Zangengeburt kann schädliche Folgen haben, wenn der Arzt das Instrument nicht vorsichtig handhabt. Diese Traumata verursachen im Verein mit anschließenden körperlichen oder seelischen Torturen möglicherweise eine Überlastung des Kindes; sie können zu Erlebnisbrüchen führen, zu Erfahrungen, zwischen denen das Kind keinen Zusammenhang herstellen kann. Das vielleicht häufigste Geburtstrauma sind ungewöhnlich lange Geburtswehen. Den Begriff Zusammenhangslosigkeit von Erfahrungen habe ich in meinen früheren Arbeiten erläutert. Überlastung heißt, auf eine kurze Formel gebracht, daß ein Gefühl so qualvoll ist, daß es vom Körpersystem nicht reibungslos integriert werden kann.
Aufgrund dessen kommt es zu keiner Verbindung zwischen dem Bewußtsein des Gefühls und dem Gefühl selbst. Das heißt, das Bewußtsein ist gespalten, und die betroffene Person bemerkt ihr Leiden nicht. Zwei von uns primärtherapeutisch behandelte Mütter hatten noch während der Behandlung Geburten, und beide verliefen schnell und ohne Schwierigkeiten. Ich möchte annehmen, daß dies kein Zufall war, sondern zurückzuführen ist auf die Entspanntheit der Mütter, die ihr Neugeborenes psychisch wie körperlich freudig zur Welt brachten und ihm damit Belastungen ersparten. Man kann sich das Trauma gut vorstellen, das sich im Nervensystem eines Neugeborenen niederschlägt, das sich zwanzig bis dreißig Stunden abmühen muß, ehe es das Licht der Welt erblickt. Wir brauchen jedoch unsere Vorstellungskraft nicht zu bemühen, da wir miterlebt haben, wie Patienten während dieser gelegentlich Stunden dauernden Urerlebnisse sich winden, sich zusammenkrümmen und um sich schlagen. Danach sind sie völlig erschöpft; einige Patienten gehen aus dem Erlebnis mit einem Gefühl innerer »Leere« hervor und verbinden damit jenes zeit ihres Lebens verspürte Gefühl ständiger Erschöpfung, die ihnen kaum Energie genug ließ, eine schwierige Aufgabe durchzuführen. Bei einer gewissen Anzahl von Urerlebnissen spielt die Strangulierung durch die Nabelschnur eine Rolle; andere wieder haben mit Spätgeburten zu tun.* Wie wir bisher gesehen haben, bedeutet die Neurose der Mutter
* E in e a u s f ü h r lic h e Be s c h r e ib u n g d e s im V e r la u f v o n G e b u r ts p r ima ls w ie d e r b e le b te n G e b u r ts tr a u ma s f in d et d e r L e s e r in d e n S c h ild e r u n g e n v o n P a tie n te n , d ie in A n h a n g A u n d B w ie d e r g e g e b e n s in d .
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buchstäblich ein Unglück für den Fötus. Noch ehe er das Licht der Welt erblickt, hat er bereits Widrigkeiten zu bewältigen. Vor dem ersten Atemzug befindet er sich bereits in einer Art Kampf ums Leben. Ungeachtet des Faktenwissens, über das die Mutter verfügt, ungeachtet auch des Umstandes, ob sie sich auf die Geburt vorbereitet hat oder nicht, ihre neurotischen Störungen stürzen den Fötus in Not und Mühsal. Mag eine Mutter auch verschiedene traumatische Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit innerlich von sich abspalten und verdrängen, wenn die Verdrängungen mit Hilfe verkrampfter Muskulatur aufrechterhalten werden, dann wird sich bei Eintritt des Geburtsschmerzes die Muskulatur, zu der auch der Uterus und der Vaginalkanal gehören, automatisch zusammenziehen. Das gilt besonders für frigide Frauen, die auf Sexualität mit »Verschließen« reagieren. Nach meiner Beobachtung dauern bei Frauen, die sexuelle Probleme haben, die sexuelle Situationen automatisch mit Verkrampfung abwehren, die Geburtswehen länger. In der Primärtherapie treffen wir auf Mütter, die unter dem Eindruck stehen, die rhythmischen Muskelkontraktionen bei Beginn der Geburtswehen lösten die Schmerzen ihrer eigenen Geburt aus und endeten mit der die Geburt hindernden Verkrampfung, wie sie sich bei ihrer eigenen Geburt ereignet hatten. Wir können mithin sagen, daß einer der Faktoren, die sicherstellen, daß eine schwangere Frau ohne Schwierigkeiten niederkommt, eine gut verlaufene Geburt der Frau selbst ist. Wenn eine Mutter eine traumatische eigene Geburt erlebt hat, dann muß sie dieses frühe Trauma wiedererleben, um die innere Freiheit zu gewinnen, die Geburt ihres Kindes in rechter Weise durchzustehen. Von Geburtsprimals kann man sich nicht auf verbale Weise, das heißt durch Worte, befreien. Denn dann hört man vom Patienten nur Klagen und Jammern und schließlich, wenn es um die Geburt geht, kindliches Wimmern und Wehgeschrei. Das Geburtstrauma hat sich im Nervensystem
niedergeschlagen, lange bevor die entscheidenden Gehirnbereiche, welche die Erfahrung wahrnehmen und deuten können, sich voll ausgebildet haben. Kein Wunder, daß das Geburtstrauma eine ständige unbewußte Störungsquelle bleibt. Was haben wir demnach unter einem Trauma zu verstehen? Jeden angestauten Schmerz, der sich nicht reibungslos in das Organsystem integrieren läßt; eine Schmerzmenge, die unsere integrative Fähigkeit überfordert und damit zu Spaltungs- und Desintegrationsprozessen führt. Das nicht zu integrierende Übermaß an Schmerz läßt gleichsam einen Speicher innerer Spannungen entstehen. 46
Spannung ist folglich ein vom Bewußtsein abgespaltenes Gefühl. Bewußtsein heißt nicht unbedingt etwas begrifflich Artikulierbares wie etwa die Äußerung: »Ich habe Angst.« Es kann sich dabei vielmehr einfach um eine körperliche Erfahrung handeln, die wir als Sinneseindruck wahrnehmen. Wenn dieser Sinneseindruck, also etwa der Geburtsschmerz, überwältigend wird, stumpft das Bewußtsein (und die Empfänglichkeit für Sinneseindrücke) ab. Aus diesem Grunde sagen wir, daß Neurotiker keine Gefühle haben, daß ihre Empfindungsfähigkeit verringert ist. Sie empfinden lediglich Spannungsabstufungen. In Wahrheit gibt es so etwas wie »Neurose« nicht. Neurose ist lediglich ein Begriff, mit dem wir das Verhalten von Menschen belegen, die viele ihrer frühen Erfahrungen vom Gefühl fernhalten und daher unter erheblichen und augenfälligen Spannungszuständen leiden. Mit jedem Gefühl, das der Mensch nicht empfindet, wird er ein nicht oder weniger fühlender »Neurotiker«. Das heißt, jede Verdrängung von Erfahrungen vergrößert die Kluft zwischen der Realität und dem im Laufe der Zeit entwickelten symbolischen, realitätsfremden Verhalten. Die Schwere einer Neurose hängt von dem Ausmaß an Schmerz ab, an
realem Schmerz, welcher der Verdrängung unterliegt; und dieser Schmerz ist ablesbar an dem Ausmaß der rückständigen Körperspannung. Je höher das Spannungsniveau, je mehr Gefühle sind verdrängt worden. Verdrängter Geburtsschmerz äußert sich häufig bereits im frühen Lebensalter in Form von Unrast und Reizbarkeit. In solchen Fällen ist das kleine Kind unfähig, still zu sitzen, es quengelt so lange, bis man es auf den Arm nimmt oder durch ständiges Schaukeln beruhigt. Doch solches Beruhigen hat lediglich eine vorübergehend besänftigende Wirkung, wie etwa ein Tranquillizer [auf die Psyche wirkendes Beruhigungs- oder Dämpfungsmittel] Damit wird der frühe Schmerz nicht beseitigt. Sobald ein Patient seine Geburtsprimals durchgemacht hat, gerät er nicht mehr automatisch in Zustände der Gereiztheit. Der entscheidende Punkt ist, daß wir präverbale, das heißt vor der Sprechfähigkeit liegende, unbewußte Schmerzen genauso abwehren wie erinnerte Schmerzen. Das Abwehrverhalten stellt sich automatisch und reflexartig ein; es ist kein Verhalten, das wir frei wählen könnten. Tatsächlich besteht zwischen dem vorbewußten körperlichen Schmerz, den wir einst erfahren haben, und dem bewußten psychischen Schmerz, den wir hier und jetzt empfinden, subjektiv kaum ein Unterschied. Die Schmerzen machen sich in gleicher Weise bemerkbar; das heißt, die Erfahrung von Schmerz wird durch die gleichen 47
psychischen und neurologischen Prozesse vermittelt. Es spielt beispielsweise keine Rolle, ob jemand unter Gefühlen leidet, die sich etwa mit den Worten ausdrücken lassen: »Ärgere dich nicht über mich, Vati!« oder: »Warum nimmst du mich nicht auf den
Arm, Mammi?« Die subjektive Erfahrung dabei wäre die gleiche, nur die geistigen Ausdrucksmittel wären verschieden. Schmerz ist unbefriedigtes Bedürfnis; die fehlende Befriedigung verursacht Qualen. Bei der folgenden Fallgeschichte geht es um einen Schauspieler, der drei Wochen zu früh zur Welt kam. Der Fall ist insofern aufschlußreich, als er die weitreichenden Folgen einer Frühgeburt auf die verschiedensten Formen des Sozialverhaltens veranschaulicht — angefangen von der Berufswahl, nämlich der Schauspielerei (in die Rolle eines anderen schlüpfen), bis zur Impotenz (er war nicht fähig, nicht bereit, erwachsen zu werden). Das vorzeitige Verlassen des Mutterleibes hemmte seine »Bereitschaft« zum Leben. Sein Verhalten war ein fortwährendes Ausagieren, ein Versuch, an jenen »sicheren Ort« zurückzukehren, ein immer wiederholter Versuch, wie früher ein »Teil« seiner Mutter zu sein. Dieses eine schwerwiegende Trauma beraubte ihn seiner Identität; im wahrsten Sinne des Wortes ein Existenzproblem. Er war Bestandteil von »ihr«, seiner Mutter, und niemals vollständig er selbst. Mitten in der Nacht (bei Nachlassen der Abwehr) wachte er auf und fühlte sich als Frau. In der Therapie konnte er anfangs nur Gefühle empfinden, wenn er sich in die Gefühle einiger Frauen in der Therapiegruppe versetzte. An diesem Beispiel wird uns deutlich, welch großen Einfluß ein sehr frühes Trauma auf das Sexualleben ausübt. Seit seiner Geburt fühlte sich der Patient wirklich »impotent«, und diese Impotenz kam überall zum Vorschein, angefangen beim Sozialleben, das ihn zum »Versager« stempelte, bis hin zum Sexualleben, dem er gleichfalls nicht gewachsen war.
BRIAN
Nach den Worten meiner Eltern kam ich drei Wochen zu früh zur Welt. Heute morgen bin ich mit Schmerzen im Nacken und in den Schultern aufgewacht. Meine linke Hand war teilweise gelähmt; ich konnte meine Finger nicht bewegen. Während ich noch im Bett lag, konnte ich im Innern meines Kopfes ein knirschendes Geräusch 48
hören — als wenn mein Kopf unter zu hohem Druck stände. Nach und nach konnte ich meine Finger wieder bewegen, doch ich fühlte mich erschöpft und verspürte eine leichte Übelkeit. Dieses Gefühl habe ich jetzt schon seit Monaten – ein Gefühl sozialer Lähmung und der Unfähigkeit, mich gehen zu lassen und in meine Geburtsgefühle zu versinken. Ich ging im Zimmer herum, aß ein wenig und hörte Musik, John Lennons Plastic Ono Band, die ich mir vor einigen Tagen ausgeliehen hatte. Von Zeit zu Zeit legte ich mich auf den Boden des Wohnzimmers und versuchte mich in meine Gefühle zu versenken. Dann stand ich auf und ging in mein kleines Zimmer mit schalldichten Wänden. Ich beschäftigte mich in Gedanken mit einem Mädchen in der Therapiegruppe, mit der ich mich oft herumgestritten habe. Allmählich hatte ich das Gefühl, sie zu sein, und mir kam der Gedanke, wenn dem so sei, dann würde ich meine eigenen Freunde haben und sie nicht mit ihrer (meiner) Tochter Jean teilen wollen. Ich mußte dies Lynda erzählen, die im Wohnzimmer geblieben war. Als ich ihr sagte: »Ich fühle mich wie das Mädchen aus der Gruppe«, meinte sie (wie schon früher), daß es mir sehr leicht falle, mich in anderen Menschen aufgehen zu lassen – ein anderer Mensch zu sein –, indem ich sie nachahmte oder mit ihnen fühlte. (Ich bin Schauspieler.) Der Druck im Nacken und in den Schultern verstärkte sich – wie auch die Übelkeit. Ich legte mich auf den
Boden und begann zu zittern. Meine Hände und Arme, Füße und Beine schlugen unkontrolliert um sich (als wäre ich ein Hampelmann). Meine Glieder fühlten sich an, als seien sie schwerelos. Ich wußte nicht, was mit mir geschah. Ich tauchte tiefer in diese Gefühle ein, und die Krämpfe und das Um-sichSchlagen nahmen zu. Ich war ein winziges Etwas, das seine richtige Form noch nicht gefunden hatte, doch ich bewegte mich, wurde unbarmherzig durch und durch geschüttelt. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert darüber, daß nach Monaten der Lähmung etwas in Bewegung geraten war. Nach etwa einer Stunde erhob ich mich vom Wohnzimmerboden und torkelte in das schalldichte Zimmer, in den Primalraum. Ich versank immer tiefer in mein Geburtserlebnis. Jetzt fühlte ich mich noch kleiner, als ein primitives Etwas, wie ich es auf Bildern vom Fötus im Alter von sechs oder sieben Monaten gesehen hatte. Ich fühlte mich so klein wie eine Ratte. Doch es geriet etwas in Bewegung. Ich hatte kein eigenes Ich mehr. In meinen Gefühlen war ich sie. Sie hatte die Krämpfe, sie zitterte und versuchte, mich mit Gewalt zur Welt zu bringen. Ich wollte das nicht, verspürte Haß 49
dabei! Aufruhr! Schreie! Ich hatte mich immer nur als sie gefühlt. So jedenfalls empfand ich es, als die Krämpfe einsetzten. In diesem Augenblick erfuhr ich etwas Neues über sie. Bis dahin hatte ich sie nur von der Nabelschnur her gekannt, die mich mit ihr und der warmen Flüssigkeit verband, in der ich gelebt hatte. Nun war ich gezwungen, sie von den äußeren Grenzen meines Ichs her zu betrachten, und doch war mir bei allem Zittern und bei allen Krämpfen nicht klar, wo ich anfing und sie begann oder wo ich begann und sie anfing. Doch warum mußte ich diese Erfahrung machen? Warum? Ich fragte nicht danach! Die Krämpfe und das Zittern verstärkten sich, und mir ging auf, daß ich mich akzeptieren und fühlen mußte, wenn ich überleben
wollte. Sie brachte mich dazu, ich zu sein, obwohl ich das nicht wollte. Nun gut, wenn ich ich sein mußte, dann blieb mir nichts anderes übrig, als ins Freie zu gelangen. Ich mußte ich sein, doch ich wollte es nicht. Als ich wie eine rauhe See aufgewühlt war, ohne die Möglichkeit, meine Bewegungen zu kontrollieren, empfand ich Panikgefühle und völlige Hilflosigkeit. Ich schrie und schrie — diesmal, damit sie auf mich aufmerksam würde. Ich rief Lynda, die an der Tür saß, zu: »Weißt du, was mit mir los ist?« Sie antwortete: »Ich habe keine Ahnung.« Ich brüllte: »Du hast keine Ahnung, hast wirklich keine Ahnung? Unglaublich!!« Mich überkam das Gefühl, daß meine Mutter keine Ahnung hatte, was vor sich ging, was damals mit mir geschehen war. Ich wurde heftig durch und durch geschüttelt, und sie konnte mich nicht fühlen, konnte nicht fühlen, was vor sich ging. Unglaublich! Sie konnte nicht einmal ihren eigenen Körper fühlen. (Sie stand unter Medikamenten.) Ich hatte Angst, ich müßte sterben. Ich mußte ich selbst sein, wenn ich am Leben bleiben wollte. Ich mußte ins Freie gelangen, mußte von da an mein eigener Herr sein. Ich schrie und schrie. Jetzt war ich es selbst, wirklich ich, der herauskam. Ich fühlte meinen Nacken und meine Schultern, und ich war immer noch ein winziges, unentwickeltes Etwas. Irgend etwas legte sich um meine Schultern, ich fühlte, wie es mich erwürgen wollte, und dann konnte ich fühlen, wie mein Kopf durch eine Öffnung ins Freie, in die Kälte gelang. Flüssigkeiten drohten mich zu ersticken, Hände legten sich um meinen Nacken. Ein schwerer Atemzug, ein Aufstöhnen — und dann empfand ich einen schrecklichen Schmerz in meiner Brust. Meine Brust ging auf und ab, und bei jeder Bewegung war da dieser schreckliche Schmerz. Mit den Lungen atmen! Gräßlich! Ich schrie und schrie mit jedem neuen Atemzug. Ich habe dies nie gewollt. Warum muß ich das tun? Es war so schmerzlich, 50
draußen zu sein - lebend, atmend. Ich hatte das Gefühl, nicht Kraft genug zu haben, um dieses Atmen durchzuhalten. Würde ich jemals in der Lage sein, den Schmerz des Atmens zu überwinden, um fühlen zu können, wo ich war, was mit mir geschah? Ich lag lange Zeit da, schreiend, keuchend, in der Hoffnung, es durchstehen zu können, daß die Luft in meinen Körper eindrang, ich fühlte bei jedem neuen Atemzug großen Schmerz in meinen Lungen. (Nach einer Weile hatte ich den Gedanken: »Ich bin draußen. Ich bin am Leben.«) Doch ich verspürte weiterhin das Verlangen, dorthin zurückzukehren, wohin ich gehörte. Nach dem Urerlebnis träumte ich davon, Blumen und Bäume zu betrachten, träumte, ich mache in nächtlicher Luft einen Spaziergang, um die Erde zum erstenmal wirklich zu sehen. (Das Urerlebnis begann gegen 13.30 Uhr, und jetzt war es bereits dunkel.) Das Urerlebnis hatte etwa sieben Stunden gedauert. Ich rief Art an. Er kam an den Telefonapparat. Der Schmerz während des immer schnelleren Atmens verstärkte sich. Doch bei dem Schmerz hatte ich ein Gefühl der Erleichterung, der Erhebung. Ich erklärte Art, ich sei geboren. Er antwortete: »Es klingt, als wenn du noch drin bist.« Er hatte recht (oder war das eine Äußerung, ein Hinweis meiner Mutter?) Ich taumelte in das Zimmer zurück und versank wieder in Krämpfe, zitterte am ganzen Körper. Ich war wieder im Mutterleib und kämpfte mich nach draußen. Dann wieder die Hände um meinen Nacken, Erstickungsanfälle, die Kälte und das Licht (bei diesem Mal), die Atemzüge und der gräßliche Schmerz des Atmens - ich benutzte zum erstenmal meine Lungen (erfüllt von der Angst: »Werden Sie das aushalten?«). Ich schrie wieder aus vollem Halse. Das fühlte sich gut an. Ich lag da, hatte das Gefühl, ich wünschte nichts anderes, als mich an das Atmen zu gewöhnen, damit der Schmerz, aufhörte. Ich war nur mit dem
Versuch beschäftigt, meinen Körper in Gang zu bringen. Später, nach dem Urerlebnis, scherzte ich mit Lynda darüber, wie albern es sei, zu atmen, die Lungen benutzen zu müssen (was für eine verrückte Welt!). Ich betrachtete die Pflanzen und Blumen in der Wohnung und verspürte eine Art kameradschaftlicher Zuneigung zum Lebenskampf. Mir ging auch der Gedanke durch den Kopf: »Wie konnte ich all die Jahre Fleisch essen?« Während des Urerlebnisses hörte ich hin und wieder den JohnLennon-Song Remember, die Melodie verfolgte mich, sie verstärkte die Krämpfe und das Zittern, vermischte sich mit ihnen. Die einset51
zenden Krämpfe stürzten mich in chaotische Gefühle und in Verwirrung, sie waren für mich der Anfang der Zeit, einer Zeit, auf die ich noch nicht vorbereitet war. Für mich handelt der Lennon-Song vom Anfang aller Dinge. Die in seinem Lied zum Ausdruck kommenden Gefühle empfand auch ich: »Don't feel sorry for the way it's gone; don't you worry for what you've done.« [Frei übersetzt etwa: »Sei nicht betrübt darüber, wie alles verlaufen ist; ärgere dich nicht darüber, was du getan hast.«] Ich war betrübt, doch so verläuft es wirklich! Der 5. November – an dem gleichsam eine Bombe explodierte – war in Wirklichkeit der 6. März, mein Geburtstag. Obwohl ich jetzt draußen bin, sehne ich mich immer noch danach, wieder dort zu sein, wo ich mich befand, als der große Schock eintrat, das heißt danach, sie zu sein, ein Teil von ihr, sie durch meine Nabelschnur in mich aufzunehmen. Während der letzten dreizehn Jahre war mir bewußt, daß ich versuchte, meinen Körper zu fühlen (ich bin auch meistens impotent gewesen, ohne jedes wirkliche sexuelle Gefühl), doch im Grunde genommen wollte ich
ihn gar nicht fühlen. Das machte mir auch in der Therapie zu schaffen — dieses Bemühen, in meinen Körper zu gelangen. Vor der Therapie konnte ich dem Schmerz nur durch Masturbation (das geschah häufig), durch das Anschauen von Pornographie, durch Voyeurismus (bis zum 24. Lebensjahr war ich ein zwanghafter »Spanner«), durch Rauchen und Schlafen entkommen. In den letzten Jahren habe ich eine Menge geschlafen, häufig bin ich noch vollständig angekleidet eingeschlafen, nachdem ich von der Arbeit in mein Ein-ZimmerAppartement heimgekehrt war. Während ich verlassene, ans Haus gebundene, behinderte Kinder unterrichtete, verlor ich mich in ihnen und in der Rolle, die ich spielte. Wenn ich mit ihnen zusammen war, bin ich häufig eingeschlafen. In den letzten zehn Jahren bin ich oft mitten in der Nacht mit dem Gefühl aufgewacht, ich sei eine Frau mit Brüsten und einer Vagina - ein schreckliches Gefühl. Ich stand auch häufig unter dem Zwang, darauf zu achten, daß ich keine zu weiblich wirkenden Kleidungsstücke trug. In Filmen weinte ich oft beim Anblick von Kummer und Einsamkeit der Hauptdarstellerinnen (das ist mir erst kürzlich aufgegangen). Oftmals fand ich Erleichterung, wenn ich bekannte Persönlichkeiten (Frank Sinatra, John Kennedy) oder jemanden aus meinem Bekanntenkreis nachahmte — sowohl im Beisein von anderen als auch für mich allein. Wenn ich in Stücken auftrat, wurde ich die dargestellte Person, selbst außerhalb der Bühne. Ich träumte häufig, ich sei anderen Leuten ähnlich oder sei ein anderer Mensch. 52
Immer wenn jemand, den ich mochte, anfing, mich gern zu haben, fand ich Gründe, um mich dem Betreffenden zu entziehen. Es
geschah häufig, daß Leute mich mochten, doch dann zog ich mich zurück, stieß sie vor den Kopf oder machte einfach Schluß, um allein zu sein (auch aus Angst, mit ihnen offen und ehrlich umzugehen). Häufig (vor allem in der jüngsten Zeit) habe ich den Eindruck, ich ginge in ihrem Rhythmus, in ihrer Persönlichkeit auf — würde sie. Vor der Therapie hatte ich auf Partys oder bei Rendezvous das Gefühl, von allem ausgeschlossen zu sein. Bei Rendezvous gab ich eine Menge Geld aus, ohne daß mir das klar geworden wäre. Ich hatte nur den Wunsch, allein durch die Straßen von New York zu gehen, um nach Bordellen oder Pornographie-Läden Ausschau zu halten, oder mich nach Haus zu begeben, um zu rauchen oder zu schlafen. Auf der höheren Schule verspürte ich selbst nach einer Verabredung mit einem Mädchen den zwanghaften Wunsch, in Fenster zu schauen. In der (Therapie-) Gruppe fällt es mir häufig schwer, mich meinen Gefühlen oder Urerlebnissen hinzugeben (zumindest war das in den letzten Monaten so). Die Gefühle oder Urerlebnisse eines anderen lenken mich ab. Die stärksten Urerlebnisse hatte ich in Gegenwart von einer oder zwei Personen, die sich nicht mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigten. Bei den Auseinandersetzungen mit meiner Mutter während der frühen Kindheit schien es vor allem darum zu gehen, daß ich nicht fähig war, sozusagen den nächsten Schritt zu tun oder das zu tun, was sie verlangte. Bis nach dem zweiten Lebensjahr wollte ich keine festen Speisen zu mir nehmen (dazu war ich erst nach zehntägiger intensiver Dressur in einem Kinderkrankenhaus in der Lage). Bis zum achtzehnten Lebensmonat lehnte ich es ab, laufen zu lernen. Ich verspürte einfach nicht den Wunsch danach. Auch hatte ich nie das Gefühl, meine Mutter sei sich im klaren darüber, was mit mir geschah. Selbst bei starken Emotionen, zum Beispiel in Urerlebnissen, habe ich nie so recht das Gefühl, daß mit mir, mit meinem Körper etwas geschieht. Jetzt erst fange ich allmählich an, den Grund zu
verstehen. Während dieses ganzen Urerlebnisses war ich mein Gefühl.
Prototypisches Geburtstrauma Welche Bedeutung hat ein Geburtsprimal? Es gibt uns Aufschluß darüber, auf welche Weise im späteren Leben mit den Er53
fahrungen umgegangen wird. Das Geburtstrauma dürfte für die Neurosenentstehung von ausschlaggebender Bedeutung sein. Die Erfahrungen während der Geburt sind vermutlich prototypisch für die Art und Weise, wie jemand in seinem späteren Leben auf Gefahrensituationen reagiert. Das kann nur dann der Fall sein, wenn das Geburtserlebnis tatsächlich traumatisch war. Der Begriff des prototypischen Geburtstraumas und des stets damit einhergehenden prototypischen Abwehrverhaltens ist für das Verständnis späterer neurotischer Reaktionen auf Belastungen von großer Wichtigkeit. In einem anderen Buch (Die Anatomie der Neurose, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1974) habe ich darauf hingewiesen, daß der Andrang von Körperflüssigkeit während einer Spätgeburt das Neugeborene dazu veranlassen kann, seine Bronchiolen [Lungenbläschen] zusammenzuziehen, um auf diese Weise eine lebensbedrohliche Situation zu bewältigen. Die Reaktion auf diese frühe Erfahrung schleift sich mit der Zeit ein (in Form eines auf der Urerinnerung beruhenden Reaktionsbogens), so daß jede spätere lebensbedrohliche oder als solche empfundene Streßsituation – etwa ein Streit zwischen den Eltern, der eine Ehescheidung
ankündigt – automatisch das prototypische Trauma und das sich im Zusammenzug der Bronchiolen äußernde Abwehrverhalten auslöst. Das Ergebnis kann ein asthmatischer Anfall sein. Während der Organismus sich bei der Geburt durch dieses Abwehrverhalten schützte, ist er jetzt, beim Asthma-Anfall, in Gefahr, zugrunde zu gehen. Dieses funktionslose Abwehrverhalten bildet den eigentlichen Kern einer Neurose. Es kommt zum Asthma-Anfall, weil der Streit der Eltern das ursprüngliche, das Urtrauma wiederbelebt. Im Falle von Asthma können wir erst dann von Heilung sprechen, wenn (um bei dem eben geschilderten Beispiel zu bleiben) die entscheidenden prototypischen Traumata, die das Abwehrverhalten – nämlich das Zusammenziehen der Bronchiolen – in Gang setzen, aufgedeckt und aufgelöst sind.
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Ich hatte ständig Asthma-Anfälle. Vor Beginn der Therapie lag ich im Krankenhaus und erhielt dort verschiedene Medikamente – Adrenalin (0,3 Kubikzentimeter) und Amenophelin (intravenös und als Zäpfchen). Seit ich in der Therapie bin, nehme ich Choledyl und 54
Tedrol. In der Nacht nehme ich Tedrol S. A. Ich führe all dies als eine Art von Referenz an, die bestätigen soll, daß ich auf meinem Felde, den Erstickungsanfällen, Experte bin. Am letzten Tag meiner dreiwöchigen Einzeltherapie hatte ich ein Urerlebnis. Ich werde versuchen, es zu beschreiben. Am Morgen, bevor ich zum Institut ging, hatte ich meine Medizin genommen,
und als ich im Institut eintraf, hatte ich keine asthmatischen Beschwerden mehr. Ich lag auf dem Boden und fing an, meinem Therapeuten über ein Telefongespräch zu erzählen, das ich mit meiner Freundin geführt hatte. Sie fehlte mir, ich dachte die ganze Zeit an sie und konnte es nicht abwarten, sie wiederzusehen. Also fragte ich sie, ob wir uns sehen könnten, und sie sagte ja. Wir wollten zu irgendeiner Veranstaltung gehen. Doch ich habe keinen Beruf und auch kein Geld. Meine Eltern schicken mir Geld. Als ich über meine finanzielle Situation sprach, meinte Bob: »Warum verkaufst du deinen Wagen nicht?« Als er dies sagte, wurde ich nervös und gab ihm das auch zu verstehen. Er antwortete: »Ja, ich habe verstanden.« »Ich überlege, ob ich mir nicht einen alten VW kaufe,« sagte ich. »Der kostet zuviel. Warum nicht einen alten Karren?« »Warum, zum Teufel, dieses Gerede... sprechen wir lieber über etwas anderes ...« Mir wurde richtig ungemütlich. »Ich will überhaupt nichts ... (ich fing an zu schreien)... ich will etwas ... das ist schöner ... (ich weinte, schrie, begann zu keuchen und fühlte mich wie ein kleines Kind) ... Ich möchte es... nimm mir meine Autos nicht weg... Nein... nein .. .nimm mir mein Spielzeug nicht weg, ich habe sonst nichts anderes ...« Dann dachte ich an meinen Vater. »Papi, Papi...« Ich malte mir aus, ich läge in meinem Kinderbett, und mein Vater beugte sich über mich, ich streckte meine Hände nach ihm aus, doch er grinste nur und verließ das Zimmer (ich keuchte schwer, begann zu schwitzen und zu husten). »Ich habe nichts getan... mein Papi liebt mich nicht, er haßt mich und möchte, daß ich sterbe.« Dann schrie ich. Doch bevor ich schrie, hatte ich einen Erstickungsanfall, und als ich dann schrie, ging der Anfall vorüber, das Schwitzen hörte auf, und ich fühlte mich wieder wohl.
Der Schrei wirkte wie eine Adrenalin-Spritze, nur schneller. Das Adrenalin beginnt gewöhnlich nach zwei bis fünf Minuten zu wirken. Bei dem Schrei geschah das sofort. Meine Reaktionen haben nicht so sehr mit Atemschwierigkeiten zu tun als mit dem Gedankengang —: mein Papi liebt mich nicht, er mag 55
mich nicht, er möchte, daß ich sterbe. Instinktiv wehre ich mich gegen dieses kindliche Gefühl, es ist dumm, es ist albern, so etwas zu sagen usw. Mein ganzes Leben lang stießen solche Dinge auf Spott und Hohn, bis ich endlich »lernte«, daß ich damit nur fertig werden könnte, wenn ich mich bemühte, jemand anderes zu sein, ein akzeptabler, gescheiterer, erwachsener Mensch, alles andere, nur nicht, was ich wirklich war — ein kleiner Junge.
Prototypische Traumata können nun freilich psychischer wie physischer Natur sein. Die physischen Traumata sind allerdings folgenschwerer, weil sie für gewöhnlich in frühester Kindheit auftreten und dann tatsächlich lebensbedrohlich sind. Doch auch ein späteres Trauma kann schlimme Folgen nach sich ziehen. Einer unserer Patienten, der eine normale Geburt gehabt hatte, kam eines Tages vom Kindergarten heim und mußte mit erleben, daß seine Eltern überhaupt nicht miteinander auskamen. Sie verhielten sich an diesem Nachmittag ihm gegenüber völlig gleichgültig. Der Patient war damals vier Jahre alt. Das Erlebnis war für ihn ein schrecklicher Schock, denn für gewöhnlich waren seine Eltern stets glücklich, ihn wiederzusehen. Das Erlebnis
erwies sich als ein prototypisches Trauma, aufgrund dessen er sich über Jahre hinweg verzweifelt abmühte, Menschen zu gefallen. Er wurde Krankenwagenfahrer, denn auf diese Weise erlebte er ständig Situationen, in denen Menschen froh waren, wenn sie ihn sahen. Krankenwagenfahren mit jener frühen Erfahrung in Verbindung zu bringen, mag eine unzulässige Schlußfolgerung sein. Doch bei einem Urerlebnis des Patienten, das um den besagten Kindergarten kreiste, wurde diese Verbindung sichtbar. Das Urerlebnis wurde ausgelöst durch eine Situation, in welcher der Patient bei seinen Krankenfahrten auf jemanden traf, der nicht froh war, ihn zu sehen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns erinnern, daß ein frühes Trauma eine Überlastung darstellt, die nicht in das Körpersystem integriert werden kann. Das Körpersystem versucht anschließend, mit der Situation fertig zu werden. So hatte der besagte Patient früher Zeitungen ausgetragen, damit andere Menschen sich freuen sollten, ihn zu sehen. Später sollte das Krankenwagenfahren diesen Zweck erfüllen. Der gemeinsame Auslöser dieser zeitlich auseinanderliegenden Verhaltensweisen war ein im Innern des Patienten verkapseltes Urtrauma. Ein weiteres Beispiel für eine prototypische Reaktion: Einer unserer Patienten erschien eines Tages mit dem zwanghaften Bedürfnis zu 56
kichern. Jedesmal, wenn ihn ein schmerzliches Gefühl zu überkommen drohte, fühlte er sich genötigt zu kichern. Nur wenn der Therapeut dieses Kichern abblockte, führte die dem Verhalten zugrunde liegende Energie zu Schluchzen und Weinen. Als der Patient tiefer in diese Gefühle geriet, erlebte er Szenen aus seinem ersten Lebensjahr wieder. Sein Vater hatte ihn damals spielerisch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Das
Kleinkind war von Angst und Schrecken erfüllt, konnte diese Gefühle jedoch nicht äußern; so kicherte es vor Angst. Der Vater spielte mit dem Kind über Monate hin auf die geschilderte Weise. Diese Erlebnisse traumatisierten das Kind, das nicht über die Macht verfügte, das Spiel zu beenden. Anschließend löste jedes Angstgefühl das besagte Kichern aus. Sobald ein unangenehmes Gefühl in ihm hochkam, kicherte das Kind statt zu weinen oder Furcht zu äußern. Das Kichern wurde eine prototypische Reaktion, die sich bis ins Erwachsenenalter hielt. In den letzten Wochen habe ich zwei Urerlebnisse mit erlebt, die höchst unterschiedliche prototypische Reaktionen hervorriefen. Im ersten Falle handelt es sich um eine Patientin, die in der Therapie die ersten Tage nach ihrer Geburt wiedererlebte, eine Zeit, in der sie völlig vernachlässigt worden war; sie hatte lediglich alle paar Stunden die Flasche erhalten. Sie »beschloß«, sich dagegen »abzuhärten« . Dabei handelte es sich zweifellos nicht um einen bewußten Entschluß. Vielmehr reagierte der Organismus der Patientin mit einem Verhalten, das den Anschein erweckte, als hätte sie nichts oder niemanden nötig. Wir werden gleich sehen, welch entscheidenden Einfluß dieses frühe Trauma auf das Leben der Patientin ausübte. Ein anderer Patient erlebte eine Szene im Kinderbett wieder. (Wir hatten ihn aufgefordert, sich in unserem Institut in ein Kinderbett zu legen.) Der Therapeut ließ ihn allein im dunklen Zimmer. Als er zurückkehrte, war der Patient eingeschlafen. Das Verfahren wurde in den folgenden Primal-Sitzungen noch mehrmals angewandt. Schließlich vermochte der Patient den Schmerz zu ertragen und auch zu empfinden, anstatt sich weiterhin der Schlaf-Abwehr zu bedienen. Dem Verhalten des Patienten lag das Gefühl zugrunde, vernachlässigt zu werden, seinen Unwillen darüber von Zeit zu Zeit durch Schreien kundzutun und geschlagen zu werden, sobald er mit Schreien angefangen hatte. So wurde er ein »guter Junge« und hörte auf, seine Bedürfnisse
durch Weinen und Schreien zu äußern. Stattdessen schlief er ein. Nachdem er den Schmerz seiner Gefühle 57
ertragen konnte, wurde ihm einsichtig, daß seine prototypische Reaktion auf spätere traumatische Situationen, vor allem auf Ablehnung, in passivem Rückzug bestanden hatte. Seine prototypische Reaktion hatte sich im Laufe der Zeit verfestigt. Ihm stand fast keine andere Verhaltensalternative zur Verfügung als das Schlafen. Es brauchte viele Urerlebnisse, um dieses Gefühl zu durchbrechen, denn es war so frühzeitig und so häufig aufgetreten, daß der Schmerz niederschmetternd war. Wir mußten dem Patienten seine Abwehrmechanismen gestatten und konnten die Therapie nur langsam vorantreiben. Ein weiteres Beispiel für ein prototypisches Trauma psychischer Natur liefert uns das Urerlebnis einer früheren Prostituierten. Sie machte erneut die Zeit im Kinderbett durch. Damals – sie war noch sehr jung – hatte man ihr Buntstifte zum Spielen gegeben, die sie in ihre Vagina eingeführt hatte. Ihre Großmutter hatte ihr einen heftigen Klaps gegeben und sie »böses Mädchen« genannt. Sie hatte dieses Erlebnis aus der Erinnerung verloren, bis es nach mehr als einjähriger Primärtherapie wieder auftauchte. Ihr wurde anschließend klar, daß das Trauma bei ihr zu einer starren Reaktion geführt hatte, nämlich dazu, ihre Vagina zu benutzen, um »böse« zu sein. Sicherlich war sie nicht aufgrund dieses einen Erlebnisses später zur Prostituierten geworden. Doch dieses Erlebnis zusammen mit der Tatsache, daß sie im Alter von fünf Jahren von einem Onkel mißbraucht worden war, ferner mit der allgemeinen häuslichen Atmosphäre, in der bestimmte Körperteile als schmutzig und böse galten, und nicht zuletzt die Lieblosigkeit ihres Vaters während ihrer Jugend – all diese Erfahrungen hatten mit dazu beigetragen, sie in die Prostitution
zu treiben. Der Gebrauch ihrer Vagina war jedoch jedesmal, wenn sie später »böse« wurde, eine prototypische Reaktion. Es gibt jedoch viele Faktoren, die prototypische Reaktionen nach sich ziehen können: eine bestimmte Art von Nervensystem (leichte Erregbarkeit zum Beispiel), die nach meiner Meinung vererbt werden kann; Erfahrungen vor der Geburt, etwa intrauterine Vorgänge, die das spätere Verhalten beeinflussen; und die Art von Verhaltensalternativen, die sich während des Traumas selbst anbieten. Doch wenn während eines prototypischen Traumas erst einmal eine bestimmte Reaktion eingerastet ist, dann entwickelt sie sich gleichsam zu einer eigenständigen Kraft, die sich verfestigen kann und dann eine ständige Störungsquelle abgibt.
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ANITA Als ich erfuhr, daß meine Mutter sich einer Schockbehandlung unterziehen mußte, fühlte ich mich sehr einsam und verlassen. Kaum hatte ich angefangen, die Einsamkeit zu empfinden, da kam mir der Gedanke, mein Vater sei tot und meine Mutter sei so gut wie tot, und ich hätte somit niemanden mehr. Mein Gefühl von Verlassensein ging zurück auf die Zeit unmittelbar nach meiner Geburt. Da war keine Mutter, die mich auf den Arm nahm und mich beruhigte, da sie nach dem »Leiden«, das sie gerade durchgemacht hatte, nichts mit mir zu tun haben wollte. Auch mein Vater konnte mich keine weiteren fünf Tage lang ständig im Arm halten. Da er der einzige war, der wußte, welche Fürsorge ich brauchte, hatte ich niemanden mehr. Ich kam zur Welt, indem
ich nicht aufgab, um keinen Preis. Ich lernte bei der Geburt, daß ich es schaffen konnte, wenn ich mich nur abmühte. In jenen fünf Tagen der Entbehrung wurde ich hart, mühte mich ab und gab nicht auf. Meine Härte zeigte sich während meines späteren Lebens auf vielfältige Weise. Ich habe immer nur selbst für mich gesorgt und niemals andere um Hilfe gebeten. Von anderen erwarte ich nichts. Ich bitte um keinerlei Vergünstigungen. Ich wünsche mir nichts, wenn ich es mir nicht selbst beschaffen kann. Ich bitte nie jemanden, mir dabei zu helfen. Menschen halte ich mir vom Leibe, ich bin kalt und abweisend, wenn ich das Gefühl habe, daß sie für mich eine Bedrohung darstellen. Ich taue erst auf und kann mich erst offenbaren, wenn ich mich bei einem Menschen sicher fühle. Ich kann nicht lügen, denn wenn ich lüge, bin ich im Unrecht und der Gnade eines anderen ausgeliefert. Er kann mich dann bestrafen, wie es ihm gefällt. Aus diesem Grunde habe ich immer sorgfältig darauf geachtet, nicht vom Wege abzugeraten. Wenn ich gekränkt bin, lasse ich die Person, die mich gekränkt hat, niemals merken, daß das, was sie gesagt oder getan hat, irgendeinen Einfluß auf mich hat. Wenn meine Eltern mich ausschimpften oder bestraften, habe ich in ihrer Gegenwart niemals geweint. In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, daß ich Jodey, wenn er mich wegen irgendeiner Sache anfährt, einfach zu Ende sprechen lasse, und dann das Thema wechsle und so tue, als sei nichts geschehen. Ich fühle es dann, wenn er nicht da ist, aber ich kann ihm nicht zeigen, daß ich gehört habe, was er gesagt hat. Ich konnte meinem Vater nicht zeigen, daß er mich liebhaben kann. 59
Mein Vater verstärkte mein prototypisches Verhalten, indem er mich dafür belohnte, mir Anerkennung zollte, wenn ich nicht
aufgab und mich kasteite, sobald ich irgendein Zeichen von Schwäche gezeigt hatte. Einmal nahm ich Musikunterricht, und als ich merkte, daß mein musikalisches Gehör zu wünschen übrig ließ, hatte ich unglaubliche Schwierigkeiten und arbeitete doppelt so hart wie alle anderen. Mein Vater bemerkte meine Schwierigkeiten und erklärte mir ständig, ich solle es nicht so schwer nehmen, das sei die Sache nicht wert. Doch als ich ihm mein Zeugnisheft zeigte und auf die Note »l« hinwies, die ich in der Klasse erhalten hatte, hellte sich sein Gesicht auf und er meinte: »Da siehst du, was geschieht, wenn du dich nur immer tüchtig anstrengst und nicht aufgibst!« Auch er gab niemals auf; er belohnte mich für sein eigenes Verhalten.
Einer der Hauptgründe für die Stabilität der Abwehrmechanismen, die eine »charakteristische Persönlichkeit« ausmacht, ist in der Tatsache zu suchen, daß das Körpersystem fortfährt, sich gegen die frühen, verinnerlichten Schmerzen zur Wehr zu setzen. Diese Schmerzen überlasten das Körpersystem zum Zeitpunkt des Traumas und »fixieren« den betreffenden Menschen auf Reaktionsweisen in bestimmten Belastungssituationen. So mag ein Kind, das sich in der Schule abgelehnt fühlt, Asthma-Anfälle bekommen. Wir alle verspüren den ersten stechenden Schmerz der Angst im Zustand der Erregung auf unterschiedliche Weise. Einigen von uns wird es »flau im Magen«, andere haben das Gefühl, als würde ihr Brustkorb eingeschnürt, wieder andere atmen heftiger. Nach meiner Ansicht sind solche Erscheinungen prototypisch; sie geben Aufschluß darüber, wo das erste große Trauma unseres Lebens sich abspielte. Unzureichende Ernährung während der Säuglingszeit kann zum Beispiel den Magen zum störanfälligen Organ bei allen späteren. Belastungssituationen machen, genauso
wie Atembeschwerden während der Geburt dazu führen können, daß wir später die zum erstenmal verspürte Angst im Brustkorb oder in den Atemwegen fühlen. Das ursprüngliche Erlebnis der Überlastung bildet die Hauptquelle für alle späteren, ähnlich gelagerten traumatischen Erlebnisse. Solche Erlebnisse sind neurologisch miteinander verknüpft; sie werden gespeichert in Erinnerungskreisläufen, die untereinander in Verbindung stehen. Die Erfahrung einer langen, schwierigen Geburt zum Beispiel, bei der das Neugeborene eine unerträglich lange Zeit »war60
ten« muß, bis es den Mutterleib verlassen kann, wird unter Umständen im späteren Leben immer dann neu belebt, wenn das Kind auf irgendetwas warten muß — in einer Schlange stehen, auf das Essen warten usw. Als Reaktionen stellen sich während der gegenwärtigen Wartesituation schreckliche Angst und Ungeduld ein, weil damit das ursprüngliche Trauma angerührt worden ist. Wenn dieses Trauma erst freigesetzt ist, dann wird auch das gesamte Arsenal der Warte-Erfahrungen wieder aktiviert. Aus diesem Grund setzt das Gefühl des ersten prototypischen Traumas alle später zum ihm geknüpften Assoziationsketten in Bewegung. Es gibt eine große Anzahl unterschiedlicher prototypischer Früherfahrungen. So kann auf ein Geburtstrauma unzureichendes Stillen folgen, das den Säugling über Wochen hin systematisch Hunger leiden läßt. Dieses Trauma spielt sich im Mundbereich ab und wird möglicherweise durch die Abkürzung der zum Saugen notwendigen Zeit hervorgerufen. Das Bedürfnis zu saugen kann im Verein mit späterem Mangel an väterlicher Liebe zur Homosexualität führen und das Bedürfnis wecken, an Penissen zu
saugen. Natürlich stelle ich hier die Unzahl von ebenfalls ausschlaggebenden täglichen Erfahrungen ziemlich vereinfacht dar. Doch fest steht, daß Homosexualität in einem Falle wie dem geschilderten erst dann beseitigt werden kann, wenn der betreffende Patient sein großes Verlangen nach dem Vater und das frühe Bedürfnis zu saugen verspürt. Die Vorstellung, er könne dazu angehalten werden, sich zu ändern, ohne jene Erfahrungen erneut durchlebt zu haben, ist reine Illusion. Auch zahllose heterosexuelle Erfahrungen oder ein »großer Bruder«, der weiter hilft, werden seine Lebensgeschichte nicht ungeschehen machen. Ein Kind, das gezwungen wird, sich selbst zu täuschen und sich anständig zu verhalten, um seiner Mutter oder einem Therapeuten zu gefallen, würde doppelt krank, indem es genötigt wird zu behaupten, seine Bedürfnisse existierten nicht. Für einen Homosexuellen dieser Art ist Saugen ein prototypisches Urbedürfnis. Keine Analyse kann dieses Bedürfnis beseitigen; das gilt in noch stärkerem Maße für den Versuch, das Verhalten durch Bestrafungen zu ändern.
Betrachten wir ein weiteres Beispiel für ein prototypisches Trauma — die Beschneidung. Dieser Eingriff traumatisiert das Kind im Genitalbereich. Wir wissen dies aufgrund der Beobachtung von zahlreichen Urerlebnissen, in deren Mittelpunkt dieses Trauma stand. Eine tyrannische Mutter und dazu eine Beschneidung im Alter von einem 61
oder zwei Jahren können erstens Angst um die Genitalien hervorrufen und zweitens Furcht davor, die Genitalien in Beziehungen zu Frauen zu benutzen. Auch hier wieder vereinfache ich, um die prototypische Erfahrung klarer
herauszuarbeiten. Beschneidung kann im späteren Leben als Bestrafung gedeutet werden. In einem solchen Falle wecken sexuelle Wünsche Angst und können zur Impotenz führen. Das zusätzliche körperliche Trauma in einem besonders kritischen Alter dürfte ein bedeutsamer Faktor sein, der uns verstehen hilft, warum ein Kind mit einer tyrannischen Mutter homosexuell wird, während ein anderes nicht diese Entwicklung einschlägt, auch wenn seine Mutter sich ähnlich verhält. Wenden wir uns dem Fall eines Epileptikers zu, der seit Jahren an Anfällen leidet und der kürzlich in die Therapie kam. Während der ersten beiden Wochen der Behandlung hatte er ein Geburtsprimal, in dessen Verlauf er das Gefühl hatte, sein Kopf stoße heftig mit irgendetwas zusammen. Nach zwei Stunden begann er wie ein Neugeborenes zu wimmern. Später erklärte er, seine Geburt sei sehr schwierig gewesen und habe lange gedauert. Seine Mutter habe ihm erzählt, er sei wimmernd zur Welt gekommen. Der Druck auf seinen Kopf, während seine Mutter sich mühte, ihn zur Welt zu bringen, mag durchaus kein physisches Trauma gewesen sein, doch er war mit Sicherheit der Brennpunkt eines psychischen Traumas. Als das Kind nach einigen Lebensmonaten allein in seinem Bettchen gelassen wurde, ohne gestillt oder aufgenommen zu werden, fing es an, mit dem Kopf gegen das Bettgestell zu schlagen. Nach seinem zehnten Lebensjahr stellten sich bei ihm Anfälle ein. Seit dem ersten Tag, da er in die Therapie kam, hat er keinen Anfall mehr gehabt, und das trotz der Tatsache, daß er seither kein Dilantin mehr genommen hat. Was können wir daraus schließen? Zum einen, daß die während der Geburt ausgelöste Spannung in erheblichem Maße zu dem allgemeinen Spannungsniveau in seinem späteren Leben beigetragen hat. Die hohe Spannung ergoß sich in ein epileptisches Symptom, das sich auf den von seinem frühen Trauma betroffenen Körperteil konzentrierte, ähnlich wie Patienten im Erwachsenenalter bei
Belastungssituationen plötzlich Hautstörungen entwickeln – das heißt, sie bilden ein Symptom im Körperbereich des frühen Traumas (im letzteren Fall bestand das Trauma in mangelnder Hautberührung während der ersten Lebensmonate), sobald sie in eine Streßsituation geraten. Wenn der besagte Epileptiker eine einigermaßen angenehme Kind62
heit gehabt hätte, hätte er lediglich ein Geburtstrauma erlebt und niemals epileptische Symptome entwickelt. Doch die Gesamtsumme aller traumatischen Erfahrungen führte zur Überlastung. Nach meiner Beobachtung haben allerdings Geburtstraumata einen maßgeblichen Anteil am Zustandekommen allgemeiner chronischer Spannungszustände. Das ist zum Teil auf die Verletzbarkeit des noch jungen Organismus zurückzuführen, auf seine noch nicht ausreichend entwickelte Fähigkeit, mit Belastungen fertig zu werden. Am wichtigsten ist freilich, daß es bei Geburtstraumata häufig um Leben und Tod geht – ein von der Nabelschnur stranguliertes Neugeborenes wird tatsächlich sterben, wenn nichts getan wird. Noch ehe wir das Licht der Welt erblicken, beginnt bei vielen von uns bereits der Kampf um Leben und Tod. Die von einem Geburtstrauma erzeugte Spannung kann derartig katastrophal sein, daß ansonsten effektive psychische Funktionen aussetzen, wie das beim kindlichen Autismus der Fall ist. Das Syndrom des infantilen Autismus gibt Fachleuten Rätsel auf, denn sie haben weder organische Hirnschädigungen festgestellt, die für die totale Unfähigkeit des Kindes, mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen, verantwortlich sein könnten, noch haben sie herausgefunden, daß eine bestimmte, psychisch schädliche
Umwelt einen der Hauptgründe für die Krankheit bildet. Mehr noch, in Familien mit autistischen Kindern sind andere Geschwister häufig sehr gut angepaßt. Man sollte eigentlich annehmen, daß eine häusliche Umgebung, die derart schrecklich ist, daß sie kindlichen Autismus hervorbringt, auch die anderen Geschwister nachteilig beeinflußt. Die besagten Fachleute haben vielleicht übersehen, daß eine niederschmetternde Geburtserfahrung das Kind tief in den Urschmerz tauchen und es lebensunfähig machen kann. Das heißt, das Kind leidet beständig unter einem massiven Schmerz, ist jedoch nicht in der Lage, ihn zu verstehen oder in Begriffe zu kleiden. Es ist so tief in seinem Trauma gefangen, daß es sich nicht daraus zu retten vermag. Es muß dieses Trauma unter der Anleitung eines Fachmanns der Primärtherapie in kleinen abgewogenen Dosen wieder erleben.
Im Journal of the American Medical Association [Zeitschrift der amerikanischen Gesellschaft für Medizin] schreibt ein Forscher: »Die Gefahren, denen der Fötus ausgesetzt ist, erreichen während der Geburtswehen ihren Höhepunkt. Die Geburt ist die gefährlichste Erfahrung, die den meisten Menschen jemals widerfährt. Der Geburtsvorgang ist selbst unter optimalen, kontrollierten Bedingun63
gen ein traumatisches, potentiell vernichtendes Ereignis für den Fötus.«* Towbin fährt fort: »Hirnschädigungen, die sich bei der Geburt zeigen, treten häufig im verborgenen auf, nicht selten in der Zeit vor der Niederkunft.« Das soll heißen, es kommt häufiger, als wir vermuten, zu heimtückischen Hirnschädigungen aufgrund von gefährlichen (weil nach meiner Meinung
neurotischen) Geburtsabläufen. Towbin ist der Auffassung, daß einer der Hauptgründe für solche Schädigungen in der Hypoxie, das heißt in mangelnder Sauerstoffzufuhr zu suchen ist.** Bei wissenschaftlich ausgewerteten Autopsien von Frühgeborenen sind in vielen Fällen verborgene Verletzungen der tieferliegenden Gehirnbereiche festgestellt worden. Wie Towbin betont, kann Sauerstoffmangel zunächst nicht erkennbare Schädigungen nach sich ziehen, die erst später, wenn Belastungen hinzutreten, ans Tageslicht kommen; die Art der Schädigung, so Towbin, richtet sich danach, welche Gehirnzellen bei der Geburt in Mitleidenschaft gezogen wurden. Spätfolgen können sich als Sprachstörungen, emotionale Unausgeglichenheit oder als Unfähigkeit zu abstraktem Denken äußern. Auf einer 1971 veranstalteten Tagung der Society of Neuroscience [Gesellschaft für Neurologie] berichtete die in Los Angeles ansässige Psychologin Virginia Johnson über ihre Untersuchungen, die unter anderem die Analyse von insgesamt mehr als 25 000 Stunden dauernden Interviews umfaßten. Danach konnten sich Patienten unter dem Einfluß des Rauschmittels Methylphenidate noch an Erfahrungen aus den ersten Lebenswochen erinnern. Solche Erinnerungen sind nach den Worten von Virginia Johnson häufig mit neurotischen Symptomen im späteren Lebensalter verbunden. Die Psychologin ist der Ansicht, daß einige der erinnerten Früherfahrungen schizophrenogen sind, das heißt eine Schizophrenie nach sich ziehen können, und folglich mitwirkende Faktoren bei der Entwicklung einer späteren Psychose darstellen. »Die am häufigsten mit späteren Symptomen der Schizophrenie in Verbindung stehenden frühen Lebenserfahrungen hatten offensichtlich mit tiefgreifenden
* A b r a h a m T o w b in , > O r g a n ic Ca u s e s o f Min ima l Br a in D ys f u n c tio n s in : J o u r n a l o f th e A m e r ic a n M e d ic a l A s s o c ia tio n 2 1 7 , N r . 9 , 3 0 . A u g u s t 1 9 7 1 , S. 1213. * * T o w b in s c h r e ib t a u f S . 1 2 1 3 : »E s d r ä n g t s ic h d ie S c h lu ß f o lg e r u n g a u f , d a ß a u f S a u e r s to f f ma n g e l z u r ü c k z u f ü h re n d e g e r in g f ü g ig e S c h ä d ig u n g e n , d ie beim Fötus und beim Neugeborenen auftreten, verantwortlich sind für das s p ä te r e A u f tr e te n v o n g e r in g f ü g ig e n F o r me n k lin is c h e r U n z u lä n g lic h k e it, f ü r v e r s c h i e d e n e s u b t i l e F o r me n l e i c h t e r S t ö r u n g e n d e r Z e n tr a ln e r v e n s ys te m- F u n k tio n e n . «
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oder umfassenden Veränderungen des Bewußtseinszustandes kurz vor oder nach der Geburt zu tun.«* Virginia Johnson fand heraus, daß spezifische Verhaltensmuster, wie sie sich bei Schizophrenen zeigen, durch die Art des Urtraumas bestimmt sind, »weil die während eines dieser Bewußtseinszustände erfahrene Desorganisation sich dem Gedächtnis einprägt und mithin unter entsprechenden Bedingungen erinnert werden kann«. Diese entsprechenden Bedingungen stellen sich nach meiner Meinung in der Primärtherapie ein. Wir können dem Bericht von Virginia Johnson entnehmen, daß es eine große Zahl verschiedener schizophrenogener Traumata gibt, welche die Form und die Qualität der späteren Psychose festlegen, und daß man – wie auch wir meinen – von der Psychose nicht als einer monolithischen Einheit sprechen kann, sondern sich klar machen muß, daß es sich dabei um eine vielgestaltige Krankheitsform handelt. Nach der Ansicht von Virginia Johnson sind zum Beispiel auditive [dem Gehörsinn zugehörige] Halluzinationen auf bestimmte pränatale [vor der Geburt liegende] auditive Erfahrungen des Fötus zurückzuführen. Während der ersten Schwangerschaftswochen kann nach Virginia Johnson der Fötus
Gehöreindrücke empfangen, Eindrücke, die anschließend Bestandteil eines schizophrenen Prozesses werden können. Nach meiner Ansicht ist dies nur möglich, wenn die auditive Erfahrung traumatisch ist, wie etwa ein Gewehrschuß in der Nähe einer schwangeren Frau, ein Fallbeispiel, das ich an früherer Stelle dieses Buches geschildert habe. Ein solches Trauma im Gehörbereich (dazu viele andere im späteren Leben) kann zunächst abgespalten werden, aber dann beim »Hören von Stimmen«, einem häufigen Symptom bei Schizophrenen, eine Rolle spielen. Die dauerhaften und heimtückischen Spätschäden des Geburtstraumas sind 1972 im American Journal of Obstetrics and Gynecology [Amerikanische Zeitschrift für Geburtshilfe und Frauenheilkunde] dokumentarisch dargestellt worden. Eine Gruppe von Medizinern aus Indianapolis verglich die Geburtsprotokolle von 1698 Kindern mit ihren späteren Schulleistungen sowie mit anderen Angaben über ihre körperliche und psychische Anpassung im Alter von neun Jahren. Ein Viertel der in Steißlage geborenen Kinder war bis zum Alter von neun Jahren in der Schule mindestens einmal
* V ir g in ia J o h n s o n , > D o e s S c h iz o p h r e n ia G e t I ts S ta r t E a r ly in L if e ? < , in : S c i e n c e N e w s 1 0 2 , N r . 1 7 , 2 1 . O k to b e r 1 9 7 2 , S . 2 6 3 .
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sitzengeblieben; jedes fünfte Kind bedurfte heilgymnastischer Übungen. Ein weiteres Beispiel. Kürzlich kam eine Frau in die Therapie, die ihr Leben lang unter »Schmerzen und Druck im Kopf« – so ihre Worte – gelitten hatte. Im zweiten Monat der Behandlung
erlebte sie ein von mir überwachtes Geburtsprimal. Zweieinhalb Stunden lang lag sie zusammengerollt wie eine Kugel auf dem Boden, spuckte Schleim aus und schlug mit ihrem Kopf gegen die (gepolsterte) Wand. Die Kopfbewegungen vollführte sie sichtlich ohne willentliche Kontrolle und gleichsam automatisch; es erscheint zweifelhaft, ob irgendein Mensch imstande ist, zwei Stunden und länger seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, ohne sich völlig zu verausgaben. Unaufhörlich verdrehte und verrenkte sie ihren Kopf. Später erklärte sie, sie habe »versucht, herauszukommen«. Tage darauf fiel ihr ein, daß ihre Geburt ungewöhnlich lange gedauert hatte. Das Trauma erwies sich als Prototyp eines spezifischen Reaktionsmusters, das heißt, bei jeder späteren Streßsituation bekam sie »Schmerzen und Druck im Kopf«. Weder sie noch ich hätten jemals den Ursprung ihrer Kopfschmerzen erahnen können. Wollten wir versuchen, ihre Symptome mit Hilfe der konventionellen analytischen, Theorie zu verstehen, würden wir vermutlich auf Schuldgefühle schließen, die die Patientin darüber empfand, weil sie ihrer kranken Mutter nicht genug geholfen hatte, oder auf verdrängte Wut gegen ihren Vater usw. — und das könnte alles zutreffen. Doch keiner dieser Erklärungsversuche könnte verständlich machen, wie Schuldgefühle oder Wut sich in Kopfschmerzen verwandeln, die die Patientin tagelang das Bett hüten ließen. Nach meiner Beobachtung entspricht die Schwere von Symptomen gewöhnlich der Schwere des Traumas. Einige Aspirintabletten mögen Schuldgefühle oder Wut ein wenig lindern, doch sie sind gegenüber dem Druck des Geburtstraumas wirkungslos. Es scheint, daß der Organismus während einer traumatischen Geburt geradezu aufgespalten wird (die volle Gefühlsfähigkeit verliert) und daß weitere psychische Traumata diesen Spalt lediglich vergrößern. Mit anderen Worten, der Kern der Neurose wird bei den Menschen, die ein Geburtstrauma durchgemacht haben, mit der Geburt selbst gelegt. In diesem Zusammenhang
möchte ich hinzufügen, daß es in einer neurotischen Welt mit neurotischen Müttern äußerst schwierig ist, traumatische Geburten zu verhindern. Wenn der Organismus sich bei der Geburt aufspaltet, hat die Persönlich66
keit des Betroffenen anschließend etwas Lebloses, »Totes«. Die meisten gleichsam leblosen Patienten erleben häufig zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Therapie ein schweres Geburtsprimal. Wir können uns diese Leblosigkeit so erklären, daß dem betroffenen Menschen keine Zeit vergönnt war, ganz er selbst zu sein und Gefühle zu empfinden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß wir bei der Betrachtung des Verhaltens und der Symptomatik von Kindern sozusagen einen Bezugspunkt haben – eine Stelle, von der aus wir Gründe und Ursprünge von Störungen ausmachen können. Spätere Belastung konzentriert sich auf das Gebiet des ursprünglichen Schmerzes, als kehrte der Körper bei jeder Streßsituation zu seinem ersten katastrophalen Erlebnis zurück, um sich so selbst wieder in Ordnung zu bringen. Da zeigt sich das Wunder der menschlichen Existenz! Der Körper kann in der Zeit um fünfzig Jahre zurückeilen, um ein Trauma ungeschehen zu machen, das sich damals ereignete. Ungeschehen machen ist der richtige Ausdruck, denn nach durchgemachten Urerlebnissen verändern Patienten nicht nur ihr Verhalten, sondern es kommt auch zu tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Organsystem, etwa bei der Hormonsekretion. Kehren wir zu einem früheren Beispiel einer Spätgeburt zurück und führen wir uns vor Augen, wie das Herausfallen aus dem natürlichen Rhythmus während der Geburt späteres Verhalten beeinträchtigt. Das Geburtstrauma bedeutet zunächst, daß das
Neugeborene sich den Bedürfnissen seiner Mutter zu unterwerfen oder sich ihnen zu »fügen« hat. Dieses Sich-Fügen im Mutterleib ist eine Lebenserfahrung – eine Beziehung –, die in jeder Hinsicht genauso bedeutsam ist, als wenn die Mutter ihr Kind später ausschimpft oder ihm Betragen beibringt. Die Erfahrung im Mutterleib ist der Prototyp eines gefügigen Verhaltens. Daneben gibt es noch weitere Faktoren. Wenn das Neugeborene sich während der Geburt heftig bewegt und sich aggressiv ins Freie drängt anstatt sich »hinzugeben« und sich zu fügen, dann liegt dem späteren Verhalten ein anderer Prototyp zugrunde, das heißt, das Kind wird in späteren Lebensjahren unter ähnlichen Bedingungen des Eingeschränktwerdens durch die Mutter ein aggressives Verhalten an den Tag legen.
Zwischen dem Geburtstrauma und späteren Verhalten in der Kindheit besteht augenscheinlich kein eindeutiger Kausalzusammenhang. Verhalten wird durch viele Erfahrungen geprägt. Doch wenn 67
die Geburt eines Kindes sich nicht im natürlichen Rhythmus vollzieht und wenn es intellektuelle Eltern hat, die großen Wert auf gewandtes Sprechen legen, dann kann sich die früh erlebte Disharmonie im Sprechverhalten niederschlagen und zu Sprachstörungen wie Stottern führen. Eine unzulässige Schlußfolgerung? Man sollte sich daran erinnern, daß jede Erfahrung bewahrt wird und daß diese Erfahrungen einen ständigen Einfluß auf uns ausüben. Ist der frühe Einfluß stark (wie beim Geburtstrauma), dann wirkt er sich auch auf das spätere Verhalten stark aus. Der Einfluß ist nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Natur. Das heißt, er
besitzt ein gewisses Maß an Wirkung auf das spätere Verhalten, hat darüber hinaus aber auch eine bestimmte richtungsweisende Qualität, die die Art des Verhaltens festlegt; so kann zum Beispiel eine zäh verlaufende Geburt zu einer zähflüssigen Sprechweise führen. Fügsamkeit während der Geburt hat nicht automatisch Fügsamkeit des Kindes im späteren Lebensalter zur Folge. Doch wenn seine Eltern es ständig einschränken und kontrollieren, wenn sie sich bei allem, was es tut, ständig ängstlich fragen: »Was werden die Nachbarn davon halten?«, wenn das Kind sich den Stimmungen und Launen seines Vaters unterwerfen muß, dann häuft sich eine Erfahrungslast an, die geeignet ist, gefügiges Verhalten auszuprägen. Bei der Spätgeburt sind noch weitere Aspekte zu beachten. Viele unserer Patienten, die ungewöhnlich langwierige Geburtswehen durchgemacht haben, ließen Ähnlichkeiten in bestimmten Bereichen ihrer Persönlichkeit erkennen. Und zwar im Hinblick auf Warten. Da sie während der Geburt gezwungen waren, lange zu warten, konnten viele der genannten Patienten es nicht ertragen, warten zu müssen. Die Eltern dieser Patienten gaben gewöhnlich den Wünschen und Forderungen ihrer Kinder nicht nach. Ihre ablehnende Haltung und ihre Unentschlossenheit – ihr »Später« als Antwort auf Forderungen ihrer Kinder – ließ in den Patienten das Gefühl entstehen, daß sie nichts bekämen, wenn es nicht »jetzt« geschehe. Ihre ungeheure Ungeduld war das Ergebnis des lebensbedrohlichen Wartens während der 30 bis 50 Stunden dauernden Wehen; hinzu kam das Verhalten der Eltern in den ersten Lebensjahren. Einer der Patienten erklärte: »Ich habe immer impulsive Entschlüsse gefaßt, weil ich nicht warten konnte – das heißt, ich konnte es nicht ertragen, das frühe Warten wieder zu fühlen; so heiratete ich das erste Mädchen, das mir begegnete, mietete die erste Wohnung, die ich mir ansah.« Seine Mutter ließ ihn auf das Leben
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warten und anschließend ließ sie ihn auf alles Erfreuliche warten. Sie schien der Auffassung zu sein, der Aufschub von Lust forme den Charakter. Was dabei herauskam, war ein rastloser und impulsiver Erwachsener. Ich messe dem prototypischen Trauma deshalb so viel Gewicht bei, weil es das Reaktionsmuster des Kleinkindes ausbildet und seine Persönlichkeit mit formt. Und weil es sich nicht in Übereinstimmung mit den Wünschen seiner Eltern verhält (entweder ist es zu sprunghaft und zu unruhig oder nach Meinung eines aggressiven Vaters zu schwach und zu passiv), erfährt es bereits sehr früh im Leben Ablehnung, eine Erfahrung, die seine Schwierigkeiten noch verstärkt. Seine Geschwister zum Beispiel, die eine leichtere Geburt hatten (weil spätere Kinder mit geringerer Wahrscheinlichkeit längere Geburtswehen erdulden müssen), können durchaus weniger krampfanfällig, weniger anspruchsvoll und reizbar sein und mithin auf mehr Geduld und Freundlichkeit ihrer Eltern rechnen. Falls beispielsweise ein Elternteil ein kraftvolles Kind wünscht, wird es enttäuscht sein, wenn eine traumatische Geburt das Kind in seiner körperlichen Verfassung beeinträchtigt. Diese Zusammenhänge wollen wir ausführlicher untersuchen.
Die im Körpersystem gespeicherte Rhythmusstörung (einer dem natürlichen Rhythmus nicht entsprechenden Geburt) kann beim Kind auch zu ruckartigen, unkoordinierten Bewegungen oder zu einem stockenden Gang führen. Dergleichen kann eintreten, wenn die Eltern vom Kind frühzeitiges Gehen oder Werfen erwarten. Das heißt, wenn Eltern erneut ein aus dem Rhythmus fallendes Verhalten provozieren, indem sie das Kind zwingen, körperliche
Tätigkeiten auszuführen, noch ehe die dazu notwendigen körperlichen und neurologischen Prozesse abgeschlossen sind; dann wiederbeleben sie die frühe Rhythmusstörung, mit dem Ergebnis, daß die körperliche Koordination beeinträchtigt wird. Ein »komischer« Gang ist ein Zeichen der Unfähigkeit des Gesamtsystems zum reibungslosen Funktionsablauf — das heißt, eines Systems, das frühe Erfahrungen nicht angemessen integrieren konnte. Hohes, näselndes, stotterndes Sprechen ist ein weiterer Hinweis auf mangelhafte physiologische Einheit. Das gleiche gilt für verzerrte Gesichtszüge und schließlich auch für uneinheitliches Körperwachstum, das sich etwa darin äußert, daß der Rumpf zu lang ist für die Beine oder die Beine zu lang sind für den Rumpf usw. Rhythmusgestörtheit ist etwas Angelerntes wie alles, was man in späteren Lebensjahren 69
lernen mag. Eine schwierige Geburt erteilt dem Kind die »Lehre«, daß das Leben ein Kampf ist, daß man hilflos ist, daß im Leben Gefahren drohen usw. Diese Lektionen sind Wirkungsfaktoren, sie bilden die Matrix, das Grundmuster künftigen Lernens; wenn ein Mensch beispielsweise später einer Philosophie anhängt, die die Notwendigkeit des Kampfes als sine qua non, als unaufhebbare Bedingung des Lebens postuliert, dann kann man davon ausgehen, daß dabei komplexe, weit in die Individualgeschichte des Betreffenden zurückreichende Faktoren im Spiel sind, Faktoren, die zur Entwicklung einer solchen Ideologie beitragen. Zu versuchen, jemandem einen »irrationalen« Gedanken auszureden, ist gleichbedeutend mit dem Versuch, ihm seine persönliche Geschichte auszureden. Ich möchte noch einige weitere Beispiele für die Auswirkungen des prototypischen Geburtstraumas anführen, um die weitreichenden Folgen eines einzelnen Traumas zu verdeutlichen und
die das ganze Leben beeinflussenden Konsequenzen eines frühen Geschehens hervorzuheben. Die Beispiele entstammen den Urerlebnissen von Patienten. Mehrere Patienten blieben länger im Mutterleib, weil der Arzt zu spät im Krankenhaus eintraf. Von ihren Geburtsprimals her wird verständlich, daß sie aufgrund des von der Geburt herrührenden Wunsches nach Befreiung aus der Gefangenschaft zeit ihres Lebens ständig »auf dem Sprung« gewesen waren. Eine unserer Patientinnen kam schließlich an die Wut über das »Zurückgehaltenwerden« heran und erklärte, sie habe bei der Geburt »aufgegeben« und anschließend auf die Preßbewegungen während der Wehen mit Resignation reagiert. Nach dem Geburtsprimal konnte sie ihre Wut empfinden und äußern; das heißt, sie war endlich in der Lage, ihre »passive« Einstellung deutlich zu ändern. Eine Patientin erklärte mir wiederholt, seit ihrer Jugend sei Selbstmord für sie ein »erstrebenswertes Ziel« gewesen. Unter Belastungen wollte sie sich umbringen, wie andere in ähnlichen Situationen den Wunsch verspüren zu essen. Die Patientin hatte schließlich ein Geburtsprimal, das sie für Stunden mit einem marternden Schmerz erfüllte und bei dem sie den Tod herbeisehnte, um die Höllenqualen zu beenden. Nach dem Primal wurde ihr klar, daß alle späteren Streßsituationen den bei der Geburt geweckten Todeswunsch wiederbelebten. Sobald sie aus der Fassung geriet, kam ihr der Gedanke an Selbstmord, eine prototypische Reaktion, die mit dem Eintritt ins Leben ihren Anfang genommen hatte. Es mag sein, daß es sich bei 70
dem von Freud beschriebenen »Todestrieb« einfach um diese »Todeswunsch«-Reaktion handelt, die sich bei vielen Neurotikern einstellt, sobald sie in belastende Situationen geraten. Doch der Todestrieb ist nicht genetisch verankert oder angeboren; er ist
vielmehr die Reaktion eines Kleinkindes, das absolut nichts unternehmen kann, um seinen marternden Schmerz bei der Geburt zu beenden. Nach meiner Beobachtung denken einige introvertierte Patienten unter Belastungen häufig an den Tod, andere niemals. Jene Patienten, die niemals an den Tod denken, sind die aktiven, die »Macher«, sind Menschen, die sich heftig abmühten, während der Geburt ins Freie zu gelangen; für sie bedeutet Nichtstun »Sterben«. Ihre Aktivität ist mithin Abwehr von Todeswünschen. Sie müssen sich ständig betätigen. Unter Streß neigen sie dazu, hart zu arbeiten; auf diese Weise gelingt es ihnen, ihre uranfänglichen Ängste tief im Innern verborgen zu halten. Es sind jene Menschen, die in angsterregenden Situationen gegenphobisch [Phobie: zwanghafte Angst vor bestimmten Gegenständen oder Situationen] handeln — sie stürzen sich in die Situationen hinein, verhalten sich tapfer und verleugnen ihre Angst. Lebenserfahrungen verstärken diese Abwehrmechanismen häufig. Die Abwehr breitet sich aus und wird im Laufe der Zeit immer komplexer. So hatte zum Beispiel einer unserer Patienten ein Geburtsprimal, bei dem ihm deutlich wurde, warum er niemals Kompromisse eingehen oder »nachgeben« konnte. Er stammte aus einem Elternhaus, in dem niemand sich ihm gegenüber nachgiebig gezeigt hatte, in dem einmal gegebene Befehle und Anordnungen niemals geändert wurden. Doch diesen Erfahrungen ging ein Geburtstrauma voraus, bei dem Lockerlassen und Nachgeben (im Kampf) unbewußt Tod bedeutete. Der Patient mußte vorwärtsstürmen, um sozusagen seine Stellung zu behaupten, und konnte es sich nicht leisten, in seinen Bemühungen nachzulassen. Wenn ein Patient später in der Primärtherapie an diese frühen Todesgefühle herankommt, ist er auf besondere Hilfe angewiesen, denn er wird alle seine Abwehrmechanismen in Gang setzen, um
diese Gefühle von sich fernzuhalten – indem er sich weiterhin übereifrig zeigt, behauptet, solche Gefühle habe er nicht, usw. Für den Patienten ist diese Phase der Behandlung eine gefährliche Zeit, denn wenn jene fürchterlichen Schmerzen sich verstärken, hat er das Gefühl, verrückt zu werden, und das heißt, daß in seinem Innern mehr aufsteigt, als sein Verstand verkraften kann. Nicht primärthe71
rapeutisch behandelte Menschen, die zu Marihuana oder LSD greifen, zu Rauschmitteln, die die Schmerzbarriere niederreißen und aus ihrem natürlichen Zusammenhang gerissene Geburtsschmerzen auftauchen lassen, verlieren häufig den Verstand. Der Schmerz reißt ihren Verstand gleichsam in Stücke, das Denken wird zusammenhangslos, inkohärent. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß prototypische Abwehrmechanismen, die sich um das Geburtstrauma gebildet haben, die Persönlichkeit zementartig zusammenhalten. Die Abwehrmechanismen müssen vorsichtig abgebaut werden; man darf sie auf keinen Fall mit einem Schlag und insgesamt beseitigen. Wir erkennen, daß zusammenhangsloses Denken eine notwendige Abwehroperation darstellt; sie ist häufig bei Leuten anzutreffen, die wiederholt Rauschgift konsumieren. Sie dürfen nicht »alles zusammensetzen«, weil totales Begreifen und Verstehen mit Schmerzen verbunden sind. Uns können mithin bestimmte präverbale Traumata widerfahren, von denen fortan ein beständiger Strom unbewußter Vorstellungen ausgeht; auf diesen frühen Erfahrungen basierendes Verhalten im späteren Lebensalter ist irrational, weil es sich nicht auf die gegenwärtige Realität gründet, sondern auf jene vergangenen Erlebnisse. Wenn etwa ein Mensch starrköpfig ist, sich auf keine Kompromisse einläßt, selbst wenn die
gegenwärtige Situation es fordert, dann verhält er sich neurotisch; mit dem Verstand denkt er: »Ich bin ein Mensch mit Prinzipien«, doch die wahren Gründe für sein Verhalten sind in verschiedenen früheren Ereignissen zu suchen. Kurz, der Verstand entwickelt Begriffssysteme, die rationalisieren sollen, was der Körper nicht fühlen kann. Neurotiker fechten in ihrem späteren Leben den Geburtskampf gleichsam neu aus, um damit fertig zu werden, zumindest in symbolischer Form. Viele von uns können zum Beispiel erst richtig arbeiten, wenn sie unter Druck stehen. Sie müssen unter starkem Termindruck stehen, um produktiv werden zu können. Einige unserer Patienten hatten Urerlebnisse, bei denen ihnen klar wurde, daß Arbeiten unter Druck ihnen die Möglichkeit gibt, das Geburtstrauma wiederzubeleben, das heißt, wieder unter dem schrecklichen Druck zu stehen, ins Freie zu gelangen; ihnen ging auf, daß die Mühsal in jener Situation, nämlich bei der Geburt, notwendig war, um überhaupt leben zu können. Im späteren Leben externalisierten sie diesen Druck, verlegten ihn nach draußen, und behaupteten, daß an sie viele Forderungen gestellt würden, um auf diese Weise 72
irgendwie mit dem Druck zurande zu kommen. Solche Menschen wollen fünf Dinge auf einmal tun, um unbewußt jenen (frühen) Druckzustand aufrechterhalten zu können. Sie fühlen sich ständig »unter Druck«, sind aber nicht in der Lage anzugeben, woher dieses Gefühl stammt; sie müssen annehmen, der Druck komme von draußen. Andere Patienten, die ganz ähnliche Geburtstraumata hatten, können keinen Druck ertragen, ohne sogleich zusammenzubrechen. Vielleicht war ihr Geburtskampf völlig
umsonst, weil die Mutter (und damit indirekt das Baby) schließlich narkotisiert und das Kind aus dem Geburtskanal herausgezogen wurde. Sie »lernten«, daß Kampf zu nichts führt. Der »Druck« war zu stark, um dagegen angehen zu können. Wenn ein solches Kind später zur Universität geht, kann es geschehen, daß es in seinen Leistungen zurückfällt, sobald es zwei Aufgaben zur gleichen Zeit zu erfüllen hat. Um es zu wiederholen, das Geburtstrauma allein ruft solche Reaktionen nicht hervor. Das Geburtsgeschehen legt die Richtung künftiger Reaktionen fest. Eltern, die ihre Kinder ständig bedrängen, sich sauber zu halten, zu lernen, Antworten parat zu haben usw., verstärken damit die drückende Last des Geburtstraumas. Als Erwachsene können die Kinder dann Druck nicht ertragen, weil bereits zuviel auf ihnen lastet.
Andere Beispiele für traumatisierende Geburtserlebnisse sind Fälle, in denen die Mütter ihr Kind nicht schnell genug loswerden können. Solche Mütter veranlassen den Arzt, die Wehen vorzeitig einzuleiten, weil irgend jemand ihnen erzählt hat, die Geburt solle an einem bestimmten Tag stattfinden; sie werden ängstlich, wenn der gesetzte Zeitpunkt verstreicht und das Kind sich noch in ihrem Leib befindet. Eine Anzahl von Patienten haben dieses Trauma in der Primärtherapie wiedererlebt, ein Trauma, das darin besteht, zu schnell in die Welt befördert zu werden. Nach ihrem Urerlebnis wußten diese Patienten, warum sie es nicht ertragen konnten, zur Eile angetrieben zu werden. In der Kindheit fanden sie stets Gründe, eine Weile länger dort zu bleiben, wo sie gerade waren, wenn ihre Mütter sie zum Essen riefen. Sie waren bei der Geburt zur Eile angetrieben worden, und niemand sollte ihnen das erneut antun. Auch in unseren Träumen beleben wir ständig unsere Geburtstraumata wieder. Häufig wiederkehrende Träume zum
Thema Ersticken können bedeuten, daß ungelöste traumatische Eindrücke während der Geburt fortwährend Zugang zum Bewußtsein suchen. Jene trau73
matischen Eindrücke und die daher stammenden Symbole sind dem Körpersystem für das ganze Leben lang sozusagen »eingeprägt«. Einer unserer Patienten träumte jede Nacht, er sei in ein rosafarbenes Gefängnis eingesperrt und werde von seiner viel zu engen Häftlingskleidung erstickt; der Alptraum verschwand, als er den wahren Alptraum wiedererlebte — seine Geburt. Häufig wiederkehrende Tr äume geben uns Einblick in das Wesen der Neurose, denn wir können an ihnen erkennen, wie sich vergangene Erfahrungen für immer in unserem Nervensystem niedergeschlagen haben, Erfahrungen, die ständig nach neuerlicher Symbolisierung jener verborgenen Schmerzen verlangen. Neurose heißt: ständiges unangemessenes Symbolverhalten, mit dem der Organismus auf seine Vergangenheit statt auf seine Gegenwart reagiert.
Hier der Bericht eines primärtherapeutisch behandelten Patienten über sein Geburtstrauma, Strangulierung durch die Nabelschnur, und die sein ganzes Leben beeinflussenden Folgen. »So weit ich zurückdenken kann, standen hinter dem ausagierenden Verhalten, das auf mein Geburtstrauma zurückzuführen war, immer Angst, Hilflosigkeit und innere Leere. Ich neigte immer zur Ängstlichkeit, vor allem in Gegenwart anderer, und ich glaube heute, daß die tiefste Quelle dieser Ängstlichkeit in dem Gefühl von Panik und Schrecken liegt, das ich bei der Strangulierung im Uterus empfand. In der
Vergangenheit war ich zuzeiten in der Lage, die Angst für eine Weile zu unterdrücken. Das Geburtsprimal, das ich zur Zeit wiederholt durchmache, besteht vor allem im Hochziehen meiner Schultern, so als wolle ich meinen Kopf und meinen Körper so nahe zusammenbringen wie möglich, während sich mein Rücken gleichzeitig zusammenkrümmt, so weit es irgend geht. Dadurch sind Rücken und Kopf einem starken Druck ausgesetzt. Im Grunde ist das noch kein vollständiges Urerlebnis, sondern ein Vor-Urerlebnis, denn ich kann meine Umgebung noch wahrnehmen. Mein Kopf bewegt sich außerdem nach links. Das Zusammenkrümmen dauert an, bis ich keinen Sauerstoff mehr bekomme. Mein Mund ist während der Bewegung verschlossen, zu einer Grimasse verzerrt. Kürzlich hatte ich Geburtsprimals, bei denen ich gurgelnde Geräusche von mir gab. Das geschieht dann, wenn ich meine Schultern hochziehe, der Rücken aber noch nicht gekrümmt ist. Während dieser Urerlebnisse scheine ich zu versuchen, den Mund zu öffnen, 74
doch ohne großen Erfolg. Ich unterbreche diese Urerlebnisse durch Schreien, dabei presse ich manchmal Luft durch meine Luftröhre, als wollte ich dadurch versuchen, sie zu öffnen, doch auch das nutzt nicht viel. Bei früheren Primais lag ich auf dem Rücken, die Arme über mir, in der Stellung eines Fötus, wurde von Angst geschüttelt und schrie. Diese Primais zogen sich über sechs Monate hin, sie nahmen ständig an Intensität zu. Eine Zeitlang hatte ich auch Primais, bei denen ich einfach auf dem Rücken lag, in einem Zustand von Muskelstarre, und zitterte. Das Zittern begann am Kinn und im Nacken und breitete sich allmählich über den Körper
aus. Während dieser Urerlebnisse, die über fünf Monate andauerten, preßte ich Kopf und Körper so eng aneinander wie nur möglich. Ich glaube, daß die mit Angst einhergehenden Primais und die von Muskelstarre begleiteten Primais zwei hartnäckige Abwehrfronten darstellen, die schließlich zusammenbrachen, und erst dann war ich in der Lage, mich tatsächlich so zu bewegen, wie ich es tat, als ich von der Nabelschnur stranguliert wurde. Ich muß dieses Erlebnis jetzt allerdings noch mit seiner vollen Intensität durchmachen. Ich war immer ziemlich labil und leicht zu manipulieren (ein Verhalten, das meine Mutter voll für sich ausnutzte). Diese Neigung zur Hilflosigkeit, die zusammenhängt mit jener Hilflosigkeit während der Strangulierung, die ich unterdrückte und gegen die ich agierte, äußert sich unter anderem dadurch, daß ich mich ruhig verhalte, vor allem wenn ich ängstlich bin. Ich glaube, die Schwierigkeit, die es mir bereitete, in der Nachbehandlungsgruppe und anderswo meinen Mund aufzumachen, rührt von der Schwierigkeit – vielleicht der Unfähigkeit – her, meinen Mund zu öffnen und zu schreien, als ich stranguliert wurde. In mir war auch eine unterschwellige Trägheit, ein Mangel an emotionaler Reaktionsbereitschaft, der auf die Gefühlsunterdrückung zurückgeht, zu der ich durch das Geburtstrauma gezwungen worden war. Die ersten drei Wochen der primärtherapeutischen Einzelbehandlung lockerten meine Abwehr wie niemals zuvor, und anschließend zeigte sich meine innere Leere und Kälte deutlicher, als dies je zuvor der Fall gewesen war. Fast alles Krankhafte an meinem Verhalten läßt sich tatsächlich zu einem erheblichen Teil auf mein Geburtstrauma zurückführen. So erklärt sich meine überintellektuelle Einstellung gegenüber
dem Leben, die früher viel ausgeprägter war als heute, durch die Gefühls75
unterdrückung im Mutterleib. Meine Schwierigkeiten in Beziehung zu Leuten haben ebenfalls dort ihren Ursprung. Schließlich auch mein oberflächliches und wahlloses Sexualverhalten. Ich hatte immer Angst davor, unter Wasser zu schwimmen, und vor einigen Jahren überfiel mich bei dem Versuch, mit einem Atemgerät zu tauchen, eine solche Angst, daß ich es aufgeben mußte. Das hat offensichtlich mit der Erfahrung zu tun, eingesperrt zu sein und zu ersticken. Auch meine Angst, in Höhlen hineinzugehen, vor allem wenn es dort nur wenig Licht gibt, stammt daher. Ich hatte auch Angst vor engen Beziehungen, weil ich befürchtete, eingesperrt und überwacht zu werden. Dies hat zum Teil damit zu tun, daß meine Mutter mich manipulierte, einschränkte und überwachte. Doch was mit mir im Mutterleib geschah, ist ein früherer Erfahrungsprototyp. Kürzlich, als ich in einem Primal den Rücken krümmte, kam mir auch die Erkenntnis, daß die Schwäche, die ich im Kreuz verspürte, ihre Ursache in meinem Geburtstrauma hat. Gewöhnlich bereitet mir diese Schwäche keinerlei Schwierigkeiten. Sie zeigt sich erst, wenn ich mich eine Zeitlang nach vom beuge. Als ich beispielsweise auf der höheren Schule Eishockey spielte, ein Sport, bei dem man sich häufig nach vorn beugen muß, um den Schläger richtig einsetzen zu können, hatte ich derart starke Rückenschmerzen, daß ich eine Art Korsett tragen mußte, um meinen Rücken zu stärken. Ich hatte auch immer eine schlechte Körperhaltung, das Kreuz zu weit nach vorn geneigt, das Gesäß zu weit rausragend.
Diese Körperhaltung kam noch deutlicher zum Vorschein bei Urerlebnissen, die mich veranlaßten, den Rücken bogenförmig zu krümmen. Sie hat offensichtlich mit der Haltung im Mutterleib zu tun.«
Geburt ist für einige Patienten die Ursituation der »Trennungsangst« (im Sinne von Otto Rank). Ein Trennungstrauma entsteht dann, wenn das Kind nicht gleich nach der Geburt auf den Arm genommen und gewärmt wird; es ist traumatisierend, ganz allein, verängstigt und mit Gefühlen des Unbehagens in die Welt entlassen zu werden. Spätere Trennungen von geliebten Menschen können dann die klassische Trennungsangst hervorrufen — die ursprüngliche. Einer der Gründe, warum Neurotiker so schwer allein sein können, besteht darin, daß ihre erste Begegnung mit der Welt gekennzeichnet war von jenem katastrophalen Gefühl des Alleinseins, das von ihnen 76
Besitz ergriff, als sie von der Mutter getrennt und allein und ohne Tröstung in ein Bett gesteckt wurden. Jeder Zustand des Alleinseins im späteren Leben kann dann begreiflicherweise diesen prototypischen Schmerz reaktivieren. Einige unserer Patienten erklärten, sie würden in der Nacht leicht durch Geräusche geweckt; andere wachen bei Licht auf. Einige klagen, sie seien äußerst empfindlich gegen Temperaturschwankungen; andere glauben, sie würden sehr schnell wach, wenn der Kohlendioxyd-Gehalt im Schlafzimmer
infolge geschlossener Fenster ansteigt. Wir haben herausgefunden, daß solche Reaktionen sich auf prototypische Erfahrungen zurückführen lassen. Das heißt, wenn ein Neugeborenes bei der Geburt Atemschwierigkeiten hat, kann es in späteren Lebensjahren in einem ungelüfteten Raum schnell aufwachen. Aufgrund eines Schutzmechanismus (aufstehen und das Fenster öffnen) wacht der Betreffende schneller auf als andere, weil die geringfügige Änderung im Kohlendioxyd-Gehalt die prototypische Lebensbedrohung wieder akut werden läßt. Wenn der erste Geburtsschock durch Licht verursacht wurde, kann der Betreffende in späteren Jahren empfindlich auf Licht reagieren, das in das Schlafzimmer dringt. Bemerkenswert ist, daß es sich dabei weitgehend um unbewußte Reaktionen handelt. Empfindlichkeit gegenüber Temperaturschwankungen während des Schlafs ist die Folge einer mit entsprechenden Erfahrungen angefüllten Lebensgeschichte, die die körperliche Konstitution und den Gesamtstoffwechsel der jeweiligen Person beeinflußt hat. Solche Reaktionen unterscheiden sich nicht von unbewußten Empfindlichkeiten gegenüber gewissen Dingen, die während des Wachlebens alte Schmerzzustände neu beleben. Einer unserer Patienten, der durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommen war, hatte nach einem Geburtsprimal das Gefühl, er könne keine Sache anfangen, weil er an seinem Lebensanfang nicht beteiligt gewesen war. Er verbrachte sein Leben damit zu warten, daß andere seine Angelegenheiten für ihn erledigten. Zusammenpressen bei der Geburt stellt den ersten »körperlichen« Umgang der Mutter mit ihrem Kind dar. Aufgrund von »Dämmerzuständen« schwach ausfallende Geburtskontraktionen bilden einen schlechten »Start« für Körperprozesse und lassen energisches, tiefes, das Körpersystem belebendes Durchatmen nicht zu. Kommt noch hinzu, daß die Mutter anschließend ihrem Kind körperliche Stimulierung vorenthält, dann haben wir die Elemente einer möglichen
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Disposition für spätere Atmungsstörungen beisammen. Nach meiner Auffassung sind die Körpersysteme den Muskeln vergleichbar —: wenn sie nicht voll in Anspruch genommen werden, müssen sie verkümmern. Wie wir sehen, haben Traumata verschiedene Auswirkungen, die abhängig sind vom Organismus und der Art und Weise, wie er mit traumatischen Erfahrungen umgeht, wie er sie verarbeitet. Hier ein letztes Beispiel, das den entscheidenden Einfluß prototypischer Traumata auf das spätere Verhalten deutlich machen kann: Ein homosexueller Patient hatte nach monatelangen Urerlebnissen immer noch homosexuelle Triebimpulse. Er hatte dann ein Geburtsprimal und fühlte dabei die gewaltigen Anstrengungen, die es ihm gekostet hatte, den Mutterleib zu verlassen. Nach dem Urerlebnis blieb ein Gefühl haften, das sich in den Gedanken äußerte: »Mammi war nicht für mich da. Sie hat mir nicht geholfen.« Dieses anfängliche Gefühl verstärkte sich später, als seine Mutter tatsächlich, aufgrund ihrer neurotischen Störung, niemals für ihn da war. Der Patient hatte einen passiv eingestellten Vater, von dem er vergeblich hoffte, er könne ihm etwas geben. Danach richtete der Patient seine Hoffnungen auf Männer und agierte sie homosexuell aus. Das soll nicht bedeuten, daß Geburtstraumata Homosexualität hervorrufen. Doch das Geburtstrauma des besagten Patienten verstärkte in verheerender Weise den Einfluß, der vom späteren Verhalten der Mutter ausging, einer Mutter, die für ihr Kind nicht da war und ihm nicht einmal bei der Geburt geholfen hatte. Der Patient mußte alles allein tun. Das Ausmaß der vom Geburtstrauma ausgeübten Wirkung kann man auf zweierlei Weise messen — objektiv und subjektiv. Objektiv stellen wir nach Geburtsprimals eine signifikante Verringerung der
Körpertemperatur fest — ein Zeichen für die Lösung der enormen Spannung. Subjektiv mag der Patient schließlich keinen Impuls zu homosexuellem Ausagieren mehr empfinden. Wir können mithin schlußfolgern, daß die starke Energie, die zum Ausagieren zwingt, wie etwa im Falle des besagten homosexuellen Patienten, zum Teil von einem Geburtstrauma herrührt, das erheblich zu der im Körper verbleibenden Spannungslast beitrug. Eine lesbische Patientin machte in der Therapie eine ähnliche Erfahrung. Während eines Primais hatte sie das Gefühl, eine ziemlich normale Geburt durchzumachen. Doch dann blieb sie Stunden lang ohne jeden Körperkontakt und empfand dabei schreckliche Angst. Bei ihren homosexuellen Betätigungen wollte sie sich immer 78
an die anderen Frauen anpressen und ankuscheln. In ihrem Urerlebnis fand sie den Grund dafür heraus — es war ihr Bedürfnis, sich an ihre Mutter anzuschmiegen und in ihren Leib zurückzukehren, zu dem letzten sicheren Ort in ihrem Leben. Diese Beispiele sind sicherlich ein wenig weit hergeholt. Doch der Leser sollte nicht vergessen, daß sie von Patienten stammen, die ihre früheren Erfahrungen neu erlebt haben, und daß es sich nicht um Deutungen handelt, die auf der Phantasie einiger Therapeuten beruhen. Was die bisherigen Ausführungen besagen, läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Ein guter Lebensanfang läßt das Kind fast alle späteren traumatischen Erlebnisse besser ertragen. Hingegen macht ein schwieriger, belastender Lebensanfang unerhört empfindlich und anfällig für spätere Ereignisse, die normalerweise als weniger schwerwiegend erlebt werden. Ein Kind kann unabhängig von Geburtstraumata eine ablehnende Mutter haben, und dennoch braucht die rückständige Spannung bei ihm nicht derart stark zu sein, daß es in die Homosexualität getrieben wird.
Um die obigen Darlegungen zu unterstreichen, möchte ich auf eine bemerkenswerte Untersuchung hinweisen, die der Direktor des Instituts für Psychologie in Kopenhagen, Sarnoff A. Mednick, durchgeführt hat. In der Fachzeitschrift Psychology Today* berichtet Mednick über eine großangelegte Reihenuntersuchung an 2000 dänischen Männern, die 1936 in Kopenhagen geboren worden waren. Von 16 Männern, die Gewaltverbrechen begangen hatten, »verlief bei 15 Männern die Geburt unter den denkbar schlimmsten Bedingungen... und der sechzehnte hatte eine epileptische Mutter.« Dr. Mednick kommt zu der Schlußfolgerung: »Es ist durchaus möglich, daß wir Bedingungen auf der Spur sind, die impulsive Kriminalität begünstigen.« Ich möchte auf keinen Fall den enormen Einfluß der Eltern-KindBeziehungen auf die Entwicklung neurotischer Verhaltensweisen herunterspielen, sondern lediglich auf Faktoren hinweisen, die wir möglicherweise übersehen haben. Das Forschungsteam von Dr. Mednick hat in einem großangelegten Projekt auch die Ursachen kindlicher Schizophrenie untersucht. Auch hier wiederum weist er darauf hin, daß Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt entscheidend zur Entwicklung psychischer Störungen beitragen können. Mednick untersuchte sowohl normale wie schizophrene Kinder. Bei beiden Gruppen von Kindern wurden zahlreiche Tests durchgeführt; so wurden unter
* P s y c h o lo g y T o d a y 4 , N r . 1 1 , A p r il 1 9 7 1 , S . 4 9 .
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anderem die Herzschlagfrequenz, die Muskelspannung, die Atmung und die galvanische Hautreaktion [Galvanisation: Anwendung des galvanischen Stroms zur Diagnostik] überprüft. Außerdem wurde bei jedem Kind der Bericht der Hebamme über die Geburt – in Dänemark gesetzlich vorgeschrieben – herangezogen. 70 Prozent der von der Untersuchung erfaßten psychisch gestörten Kinder hatten während der Schwangerschaft oder während der Geburt eine oder mehrere Komplikationen durchgemacht, darunter Anoxie [Sauerstoffmangel im Blut], Frühgeburt, langwierige Geburtswehen, Strangulierung durch die Nabelschnur, Steißgeburt usw. Dr. Mednick kommt zu dem Schluß: »(Dies) legt die Annahme nahe, daß Schwangerschaftsoder Geburts-Komplikationen die Fähigkeit des Körpers zur Regulierung der Streß-Reaktionsmechanismen beeinträchtigen.«* Eine der auf Sauerstoffmangel am empfindlichsten reagierenden Gehirnstrukturen scheint der Hippocampus zu sein. Möglicherweise beeinträchtigt Sauerstoffmangel bei der Geburt die Fähigkeit des Hippocampus zur Ausschaltung von Schmerz**; die Folge kann sein, daß das Kind in frühem Lebensalter mit körperlichem wie psychischem Schmerz überschwemmt wird und den Schmerz nicht ausreichend unterdrücken kann. Dies ist ein höchst wichtiger Punkt, denn es könnte sein, daß Gehirnstrukturen, die bei der Schmerzverdrängung beteiligt sind, gegen Sauerstoffmangel bei der Geburt besonders empfindlich sind und dauerhaft geschädigt werden können, wenn es zu Sauerstoffmangel kommt. Das bedeutet, daß Kinder anschließend ständig durch Traumata, die andere Kinder ohne weiteres verdrängen können, überlastet werden ... wie es bei autistischen Kindern der Fall ist. Eine geringfügige Schädigung des Hippocampus kann dazu führen, daß das Kind in ständiger Verwirrung lebt, leicht erregbar, schnell von Gefühlen überwältigt und gedanklich ablenkbar ist, weil es sich nicht für längere Zeit auf einen Gegenstand konzentrieren kann. Das heißt, es ist nicht in der
Lage, unwichtige Reize abzuwehren und sich einer wichtigen Angelegenheit zu widmen.***
* Op. cit., S. 49. * * D ie e n ts c h e id e n d e Ro lle d e s H ip p o c a mp u s b e i d e r S c h me r z a u s s c h a ltu n g h a b e i c h e b e n f a l l s i n A n a to m ie d e r Ne u r o s e b e s c h r ie b e n . * * * A u f d ie s e n P u n k t w e is t a u c h L o w e ll S to r ms h in ( la u t Be r ic h t in P s y c h o lo g y T o d a y v o m O k to b e r 1 9 7 2 , S . 7 2 ) : »S to r ms is t d e r A n s ic h t, d a ß e in e S tö r u n g d e r F ä h ig k e it z u r D ä mp f u n g v o n N e r v e n r e a k tio n e n z u e in e r ü b e r mä ß ig g e s te ig e r te n G e d a n k e n - u n d W a h r n e h mu n g s g e n e r a lis ie r u n g f ü h r t, d ie ih r e r s e its c h a r a k te r is tis c h e D e n k s tö r u n g e n d e r S c h iz o p h r e n ie z u r F o lg e h a t. « D ie v o n Ma n d e ll u n d a n d e r e n v e r tr e ten e T h e o r ie le g t d e n S c h lu ß n a h e , d a ß a u f g r u n d e in e s D e f e k te s d e r A d a p tio n s f ä h ig k e it v o n N e r v e n z e lle n d ie E r r e g u n g v o n N e r v e n imp u ls e n n ic h t u n te r d r ü c k t w e r d e n k a n n .
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Das kennzeichnende Merkmal der Neurose ist Überreaktion. Man kann auf eine Situation mit Überreaktion antworten, indem man die angemessene Handlung unterläßt, das heißt, man kann in einer Situation regungslos verharren, die normalerweise eine solch extreme Reaktion nicht hervorruft. Oder man kann hysterisch überreagieren. Häufig sind jedoch für Überreaktionen, ob körperliche oder gefühlsmäßige, Urschmerzen verantwortlich. So kann jemand auf einen kalten Raum übermäßig reagieren und etwa aufgrund des frühen Schocks infolge der Geburt in einem durchlüfteten Kreißsaal eine Allergie bekommen. Oder er mag auf eine Prüfung mit Angst reagieren, sich überwältigt und hilflos fühlen, weil der Prüfungsstreß die ursprünglichen Hilflosigkeitsgefühle während langwieriger Geburtswehen aktiviert. Überreaktion setzt sich zusammen aus der Reaktion auf eine gegenwärtige und eine vergangene Streßsituation. Zusammen rufen sie offensichtlich übertriebene, unrealistische Reaktionen hervor. Das Urerlebnis prägt Reaktionsmuster, lenkt Gedanken
und trägt zur Fixierung von Symptomen bei. Daher ist es so wichtig, die frühen Determinanten unseres Verhaltens zu erkennen. »Anleitungs«-Bücher gehen auf solche Schwierigkeiten nicht ein; sie wollen uns beibringen, wie wir mit den Ergebnissen jener Determinanten umgehen können, und ermöglichen uns mithin lediglich ein Operieren an der Oberfläche von Erscheinungen, deren Wurzeln weit in die Tiefe reichen.
Die folgenden Seiten enthalten eine ziemlich ausführliche Darstellung der zahllosen verästelten Spätfolgen des Geburtstraumas. Sie veranschaulichen, wie unerhört komplex soziales Verhalten ist und wie ein frühes Trauma derart feinmaschig in die Persönlichkeit eingewoben wird, daß es sich nicht mehr von ihr unterscheiden läßt. Aus diesem Grunde hatten wir bislang solche Schwierigkeiten bei dem Versuch, spezifische Faktoren des Wachstumsprozesses, die der Persönlichkeitsentwicklung ihren Stempel geben, aus ihrem Kontext zu isolieren. Hier zeigt sich das Problem, daß Fachleute anstatt Patienten einzelne Faktoren isolieren und untersuchen. Ich würde mich nicht dazu versteigen, auch nur halb so viel Erklärungen über die Auswirkungen des Geburtstraumas abzugeben wie der Patient in dem nachfolgenden Bericht. Doch weil dieser Patient die Auswirkungen fühlte und sich nicht intellektualisierend über mögliche Fol81
gen erging, war er in der Lage, einige erstaunliche Schlußfolgerungen aus seinen Urerlebnissen zu ziehen. Mehr noch, keine der Gedankenverbindungen oder Einsichten wurde ihm »suggeriert«; er hatte sie nicht in irgendeiner Schule gelernt. Er entdeckte sie in sich selbst, sozusagen in seinem Körper. Der
Kampf um Leben und Tod wurde gleichsam einem naiven, unerfahrenen Organismus eingebläut, einem Organismus, dessen erste soziale Erfahrung darin bestand, stranguliert, erstickt zu werden, diese Erlebnisse gezwungenermaßen zu vergessen usw. Einer unserer Patienten hatte eine ungewöhnlich lange Geburt durchgemacht. Er spürte den nahenden Tod (auch wenn er die schreckliche Angst nicht in Worte fassen konnte), denn er wurde von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten. So »mühte« er sich, ins Freie zu gelangen, um atmen zu können. Schließlich gelang es ihm, und er wurde für sein »Abmühen« belohnt: er bekam Luft. Doch die Vorstellung von »harter Arbeit« prägte sich ihm derart tief ein, daß sie seinen künftigen Lebensstil und seine philosophische Einstellung bestimmte. (»Man muß für alles, was man im Leben bekommt, hart arbeiten.«) Nach einem Urerlebnis ging ihm auf, daß nicht arbeiten für ihn den Tod bedeutete. Die Angst, die er verspürte, wenn er einmal nichts zu tun hatte, war die alte Urangst in einer Situation, wo es sein Tod gewesen wäre, wenn er nicht in jeder Minute gekämpft und sich abgemüht hätte. Er grüßte jedermann mit den Worten: »Viel zu tun? Laufen die Geschäfte?«, ohne sich richtig klarzumachen, was er damit zum Ausdruck brachte.
KENNETH 28. Oktober 1972 Vor einem Monat erfuhr ich. Sie hätten Ihre Patienten aufgefordert, Ihnen mitzuteilen, was sie bei ihren Geburtsgefühlen erfahren hätten, was sie über die Auswirkungen dieser Gefühle auf ihr späteres Leben wüßten usw. Obwohl ich selbst nach längerer primärtherapeutischer Behandlung den
Mutterleib noch nicht verlassen habe (meine Lebensgeschichte), erscheint es mir doch wichtig. Ihnen etwas von mir zu erzählen. Bei ein oder zwei Gelegenheiten habe ich meine Mutter gebeten, mir, so gut sie sich erinnere, zu erzählen, was ihr (und mir) während der Geburt widerfahren sei; es schien mir wichtig, so viel wie möglich herauszufinden, solange sie noch am Leben war und es mir erzählen konnte. 82
Vor allem hat es den Anschein, daß das, was mit mir im Mutterleib geschehen ist, mein ganzes Leben geprägt hat, ein Leben, das ich am besten beschreibe, indem ich sage (wie ich immer zu tun pflegte), daß ich es nie wieder erleben möchte, wenn ich die Wahl hätte. Nach einem Urerlebnis in der vergangenen Nacht ist mir klar geworden, warum ich keinen Freund habe (meine neurotischen Freunde habe ich verloren und von der Primärtherapie her kenne ich auch keine Freunde — nicht einmal Bekannte): weil ich niemanden finden kann, der mich braucht; Beziehungen zu Freunden kann ich nur aufnehmen, wenn sie mich brauchen. Ich kann niemals jemanden um Hilfe bitten, und es gibt für mich nur eine Möglichkeit, Hilfe zu bekommen: wenn ich tief in Schwierigkeiten stecke. Wenn es den anderen dann nicht auffällt, daß ich Hilfe brauche (und das war oft der Fall), dann bin ich gezwungen, sie um Hilfe anzugehen. Doch wenn es erst so um meine Bedürfnisse bestellt ist, nimmt das häufig kein gutes Ende. Wie immer möchte ich dann »die Leute mit einem Knüppel zwischen die Augen schlagen«, damit sie erkennen, daß ich in Schwierigkeiten bin und Hilfe brauche. Wie als Junge, als ich meine Mutter derart aufdringlich mit meinen Wünschen behelligte, daß ich von meinem alten Herrn eine Tracht Prügel bezog; wie das erste Mal (von insgesamt zwei), als ich meine
Eltern im Mittelwesten besuchte, von Urerlebnissen aufgewühlt, weinend, laut schreiend, jedermann zum Teufel wünschend; wie an jenem Tag, als ich meine Frau mit dem unerwarteten Geständnis außer Fassung brachte, daß verschiedene Angelegenheiten, die uns betrafen, völlig verfahren waren; wie an dem Morgen, als ich gegen drei oder vier Uhr Arthur Janov anrief, von Todesangst erfaßt, aufgelöst in Tränen; wie an dem Tag, als ich meine Mutter von innen her attackierte, als ich sie kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf riß, damit sie sich ins Krankenhaus aufmachte, und ihr damit einen stechenden Schmerz zufügte, nach ihren Worten den ärgsten, den sie jemals verspürt hatte. Dann ist da dieses seltsam unerklärliche Gefühl. Immer hatte ich das Gefühl, daß ich zwar in der Welt sei, aber gleichzeitig auch außerhalb von ihr. Daß ich in Wirklichkeit zu niemandem Kontakt hätte, daß ich allein sei, im Schatten stehend, unsichtbar — ich hätte sterben können, und niemand hätte sich darum gekümmert. Nach den Urerlebnissen und Erfahrungen in der jüngsten Zeit weiß ich, daß dieses Gefühl aus meinem Innern stammt. Ich sollte noch sagen, daß es mir schwerfällt, über diese Gefühle zu reden, über diese Gefühle des Isoliertseins von anderen. Es hat den Anschein, daß jedes dieser Gefühle völlig mit allen anderen 83
verschmolzen ist und daß, wenn man über ein Gefühl spricht, damit auch alle anderen angerührt werden. Jetzt fühle ich mich irgendwie verloren. So werde ich über das stärkste Gefühl sprechen — ein Gefühl, das ich eine lange Strecke weit verfolgen muß, ehe es »ausgeschöpft« ist. Es ist das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, von meiner Mutter
loszukommen. Ich bin immer »Muttersöhnchen« genannt worden. Als kleiner Junge verbrachte ich praktisch meine ganze Zeit (ausgenommen, wenn ich gezwungen wurde, nach draußen zu gehen) zu Hause bei meiner Mutter. Als Jugendlicher arbeitete ich zur Aushilfe auf einer Farm; der Schmerz, am Morgen das Haus zu verlassen (oder auch als ich erfuhr, mein Vater habe einem Farmer stolz?? erklärt, ich werde für ihn arbeiten), war grausam, unerträglich; tagsüber dachte ich an meine Mutter, stellte mir vor, sie riefe nach mir, und sehnte mich nach dem Tag oder dem Abend, an dem ich wieder bei ihr sein würde. Ich erinnere mich an einen Tag — als ich am Abend heimkam, die Hände mit Blasen bedeckt, mit schmerzendem Rücken, deprimiert; sie wußte, daß ich mich schlecht fühlte und sie ließ schnell Wasser in die Badewanne, um mir etwas Gutes zu tun. Immer wieder – montags morgens, wenn ich eine neue Stelle antrat, der erste Tag an der Universität, in der Armee – verspürte ich jenes schreckliche Gefühl, nicht fortgehen zu wollen, doch wissend, daß ich es tun müsse (um ein Mann zu sein oder was immer). Nach dem stechenden Schmerz, der sie frühmorgens aus dem Schlaf gerissen hatte, fror meine Mutter so sehr, daß sie wie Espenlaub zitterte; sie erklärte, sie habe niemals eine solche Kälte empfunden. In der ersten Behandlungswoche (etwa fünf Tage lang) verspürte ich eine Kälte, wie niemals zuvor. Es war eine Art greifbare Kälte, eine sich anklammernde, nasse Kälte, und während der ganzen Zeit hatte ich den Geruch von Alkohol oder Äther oder ähnlichem in der Nase, im Primär-Institut wie auch in meinem Hotelzimmer. Ich konnte mich von dieser Kälte nicht freimachen, wie ich mich auch drehte und wendete; ich war so klein, daß ich meine Arme mit den Muskeln nicht bewegen konnte. Ich drehte mich ein wenig, und als ich mich genügend gedreht hatte, schwangen meine Arme herum und fielen herab. Die kälteste Stelle war meine Stirn, und ich versuchte, meinen Kopf nach rückwärts zu bewegen (Kinn in die Höhe), versuchte
es aus irgendeinem Grund, nur um die sich an mich krallende Kälte auf meiner Stirn loszuwerden. (Es ist verrückt, würde ich sagen, doch ich kann ein wenig von dieser alten Kälte auf meinen Oberschenkeln spüren.) Von Natur aus bin ich immer 84
kälteempfindlich gewesen; es kann für mich nie zu heiß sein. Daran hat sich auch bis heute noch nichts geändert. Doch zurück zur Kälte, die ich im Institut empfand. Ich lag im Bett, unter zwei Wolldecken, und trug lange Unterwäsche, ein Oberhemd, einen Pullover, eine Trainingsbluse und eine Jacke, doch ich konnte dem Kältegefühl nicht entrinnen; denn es war ein ganz frühes Gefühl. Meine Mutter zitterte vor der gleichen Kälte. Auch ich zitterte während der ersten Behandlungswoche vor dieser Kälte. Zweimal erfaßte mich ein heftiges Zittern, und bei einem Mal übergab ich mich in ein Kissen, während Paul losrannte, um einen leeren Eimer zu holen. Meine Mutter war hysterisch. Während ihrer hysterischen Anfälle im Krankenhaus zerriß sie ihre Strümpfe in Fetzen. Sie sagte auch etwas, offensichtlich um eine der Schwestern zu einer Antwort auf die Bemerkung einer anderen zu bewegen, die eher rhetorisch gefragt hatte: »Wenn sie kein Kind wollte, warum ist sie dann überhaupt schwanger geworden?« Ich weiß auch, daß meine Mutter einen solchen Schmerz verspürte, daß sie Gott darum bat, sich und ihr Kind zu sich zu nehmen. Sie wurde dann narkotisiert. Der Arzt, der später dazu kam, meinte, wenn es noch 15 Minuten länger gedauert hätte, wären Mutter und Kind tot gewesen. Ein weiterer wichtiger Faktor: ich bin klein und schmächtig (1,72 Meter groß, ungefähr 135 Pfund schwer), und meine Mutter ist
klein (etwa 1,60 Meter). Meine Mutter aß besonders gut, als wollte sie ein großes, starkes Baby bekommen. Und das war auch der Fall. Bei der Geburt wog ich über acht Pfund. So habe ich ihren Leib niemals wirklich verlassen. Obwohl ich fast die Hälfte meines Lebens von meiner Mutter getrennt lebte (und immer schmerzte es, wenn ich sie verließ), hat sie sich dennoch immer um mich gekümmert — in Briefen, in meinen eigenen Phantasien, in meinen Freundinnen, in meiner Frau. Bis vor kurzem hat meine Frau uns beide unterhalten, zweieinhalb Jahre lang. Nach einem Jahr primärtherapeutischer Behandlung bekam ich schließlich eine Stelle. Ich kann meine Mutter nicht verlassen. Sie ist ständig um mich. Ich besitze praktisch nur das, was ich immer besessen habe (und das meiste davon ist Plunder). Ich habe noch immer alle Briefe, die meine Mutter mir geschickt hat, und ich besitze sogar noch viele der alten Möbel und das Geschirr, das meine Eltern loswerden wollten. Auf diese Weise behielt ich meine Mutter immer um mich. Es gibt eine Menge Gründe, warum ich meine Mutter nicht 85
verlassen kann (sie lebt 3000 Kilometer entfernt von mir — ich meine natürlich meine Mutter in mir). Einmal, weil ich sie dann verletzen werde. Ich habe ihr bei der Geburt nicht nur gräßliche Schmerzen zugefügt, sondern auch Teile ihres Körpergewebes beschädigt. Dies ist nach meiner Erinnerung eines der ersten Dinge, die meine Mutter mir erzählt hat. Daher habe ich zeit meines Lebens jedesmal, wenn ich mich aus den Armen einer weinenden Frau befreite oder eine traurige Mutter verließ, den Schmerz verspürt, jemanden zu verletzen und zu zerreißen, den ich in Wahrheit gar nicht verlassen wollte Warum hatte ich das
Gefühl, die Gebärmutter nicht verlassen zu wollen? Ich weiß es nicht. Vielleicht erschien mir der Aufenthalt dort leichter — viel leichter. Doch das darf nicht sein. Ich muß hinaus, aber ich will es nicht eigentlich, weil es so schwer ist — und so schmerzlich. Wie gesagt, ich bin niemals rausgekommen. Mir ist im Leben nie etwas gelungen. Ich wollte viele phantastische Dinge tun, und ich habe mich wie höllisch abgemüht und gearbeitet. Doch ich habe die Barriere niemals überwunden. Häufig ist es nur eine kleine Barriere (»Wenn es mir nur gelänge, ein wenig weiter zu kommen«), doch es kann sich auch um eine zehntausend Kilometer dicke Barriere handeln, denn solange ich sie nicht überschritten habe, kann ich sie nicht überschreiten. Ich habe niemals im Leben Erfolg gehabt (Karriere, Geld, Universität, guter Körperbau – und vor allem bei dem, was mir ursprünglich äußerst wichtig war – Erfolg bei der Suche nach Kenneth, der hier irgendwo leben soll. Mit der Suche bin ich bereits im Alter von fünfzehn angefangen – vor zweiundzwanzig Jahren). Ich befürchtete sogar, daß es mir nicht gelingen würde, im PrimärInstitut aufgenommen zu werden – weil es so verdammt wichtig für mich war. Meine Frau lebt seit längerer Zeit im Mittelwesten. Da diese Mutter hier nicht mehr für mich sorgt, blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst in einer ganz neuen Weise zu sehen. Vorher hat sie sich in verschiedenster Weise um mich gekümmert – unter anderem auch therapeutisch. Auch wenn sie jetzt innerlich zerbrochen ist, so ist sie doch kein Therapeut; doch ich benutzte sie weiter, hieß sie zuhören, wenn ich meinen Mist erzählte. Und ich konnte mich »revanchieren« (das Bedürfnis, anderen zu helfen), ich half ihr dabei, ihren Mist loszuwerden. Doch vor einem Monat oder so spürte ich den Wunsch, erfahrene Hilfe zu suchen – jemanden, der wirklich weiß, was er tut –, um Kenneth zu helfen. So suchte ich das Primär-Institut
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auf und nahm an Sitzungen teil. Ich fühlte das überwältigende Bedürfnis nach einem »Durchbruch«. Und ich versuchte mit aller Kraft, es mit Urerlebnissen zu schaffen — ich mühte und mühte mich, schrie, mit verkrampftem Körper, klammerte mich für ein oder zwei Wochen an allen möglichen Mist. Schließlich gab ich auf, unter dem Vorwand, kein Geld mehr zu haben. Das Verlangen war weg, und ich fühlte mich zeitweilig zufrieden. Doch ich wußte, daß ich mit dem Kopf gegen eine Wand gestoßen war - ich war gegen eine Barriere angerannt, die ich bislang nicht hatte durchbrechen können. Am Ende meines Berichts möchte ich dazu noch etwas sagen. Musik hat mich immer sehr fasziniert. Musik sind für mich Mutter und Vater gewesen; meine Gitarre war meine Lebensgefährtin (meine Mammi). Mit meiner Gitarre konnten sich meine wirklichen Freunde und Freundinnen nicht messen, jedenfalls soweit das mich betrifft. Musik ist für mich eine Art Therapie gewesen. Es ist fast so, als würde ich all die Musik, die sich während meines Lebens in mir angestaut hat, mit dem Gitarrespiel wiederbeleben, und wenn ich diese Musik wieder spiele, dann rufe ich damit viele meiner Gefühle zurück. Doch während meiner Therapie habe ich zweimal etwas Merkwürdiges erlebt. Erst beim zweiten Mal ging mir auf, daß eine bestimmte Musik mich in meine Geburtsgefühle versetzt. Das war während der Zeit, als ich mich bemühte, »durchzubrechen«. Verschiedene Arten von Musik wecken verschiedene Gefühle in mir. Diese besondere Musik ist von tiefen Baßklängen begleitet (etwa die Musik von Quincy Jones). Sie erzeugt in mir eine Art «Hoffnungs«-Gefühl (wir werden es schon schaffen, Baby!) – die Hoffnung, endlich den Kopf heben zu können –, nun, wie dem auch sei, mein Kopf hob sich jedenfalls. Ich fühlte den dunklen Baß, mein Kopf hob sich (Kinn in die Höhe), legte sich nach hinten auf den Nacken, und
innerhalb von Sekunden fiel ich ins Bett, war ein Fötus, in rhythmischen Bewegungen (arbeitend) den Weg erkämpfend, den ich gehen wollte. Ich nehme an, daß Musik zum Teil – wie die Sprache – eine symbolische Beschreibung von Geburtsgefühlen ist. (Mit dem Kopf gegen eine Wand; schaffe den Durchbruch nicht; in der »Klemme«; werde gedrückt; sehe Tageslicht; komme nicht los; finde keinen Weg aus diesem Schlamassel; weiß nicht, wohin ich gehen soll; weiter und weiter bis in alle Ewigkeit.) Kürzlich hatte ich das Gefühl, ich stecke in all diesem Mist (Schmerz, Urerlebnisse usw.) und niemand nähme wirklich Notiz davon. (Wenn sie nur wüßten, worin ich stecke.) Ständig hatte ich 87
mit einer Menge Mist zu tun (Schmerz, harte Arbeit, Leid, mit Mühe und Not davonkommen usw., Einsamkeit usw. usw.), und niemand wußte oder konnte wissen, was ich durchmachen mußte. In der Therapie habe ich das Gefühl, daß Arthur Janov überhaupt nicht weiß, was die Behandlung für mich bedeutet und wie sehr ich mich dabei abmühe — und was ich durchmache. Das ist ein schlimmes Gefühl, und es bedeutet eigentlich MAMMI, DU WEISST NICHT, WIE SEHR ICH MICH HIER DRIN ABMÜHE; DU VERSTEHST NICHT, WIE SCHWER ICH ARBEITE, WIE SEHR ICH MICH BEMÜHE, WIE ERBITTERT ICH KÄMPFE (um raus zu kommen) – und WIE SEHR ICH LEIDE – UND WIEVIEL ICH WIRKLICH WERT BIN! Mein ganzes Leben lang habe ich jedesmal hart für irgend jemanden gearbeitet, wenn sie nicht begreifen konnten, wie schwer ich mich abmühte, oder wenn sie meine Anstrengungen nicht anerkannten. Ich hätte mich abgeschuftet, wenn irgend jemand Notiz von mir genommen hätte; doch da es niemand tat, was hatte das alles für einen Sinn?
Während der intensiven Behandlungswoche (drei Sitzungen) im vergangenen Monat geriet ich in ein Gefühl, das mein ganzes Leben ausdrückt. Ich fühlte mich durch den Therapeuten unter Druck gesetzt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als ich irgend etwas tun sollte, aber nicht wußte, was. Ich hatte das Gefühl ICH KANN NICHTS TUN, ICH KANN NICHTS TUN, und zur gleichen Zeit kämpfte ich wie ein Wilder. Wer mir nur einen Blick zugeworfen hätte, der hätte erkannt, daß ich eine Menge tat. Das ist mein Leben: kämpfen wie ein Wilder, doch niemals glauben, daß ich tatsächlich etwas tun kann. In meiner Mutter wie ein Wilder kämpfen, doch nicht das Gefühl haben, etwas zu tun (etwas Gutes zu tun). Es gab noch einen weiteren Grund, warum es mir schwer fiel, den Leib meiner Mutter zu verlassen; ich hatte das Gefühl, unerwünscht zu sein. Solange ich bei meiner Mutter war, konnte sie mir sagen, daß sie mich wünschte. Als ich weggegangen war, da war es zu spät. Dieses Gefühl habe ich mein Leben lang ausagiert: die Schwierigkeit, Mutter und ihre Ersatzpersonen zu verlassen. Die einsamen Stunden, Tage und Wochenenden, wo ich mich in mein dunkles, einsames Zimmer einschloß und nicht zur Tür ging, wenn Freunde (selten) mich besuchen wollten. Ich mußte in meinem Zimmer bleiben (wir zwei gemeinsam), weil dort etwas war. Und dann kam das Gefühl von Einsamkeit und Dunkelheit über mich. Ich blieb im Zimmer, aß das-» ganze Wochenende über nicht, schlief angekleidet auf dem Sofa ein. Nur ich und meine Musik. Es war wie Sterben. 88
Während der Geburt hatte ich auch Angst, meine Mutter wollte nicht, daß ich ich sei (geboren wurde), weil ich ein schlechter Junge sei; ich war etwas Dreckiges; ich war ein wilder kleiner Hundesohn. Und jedesmal, wenn ich beanspruchte oder ausdrückte, ich sei ICH, dann verkrampfte sie sich und drückte mich zusammen. Weg mit dem Ich, dessen Rauskommen mir
Angst bereitet, weil niemand mich mögen wird, weil ich dann Schwierigkeiten bekomme! Und da ist viel Ich. Genau wie im Mutterleib. Nun zu dem, was ich, wie gesagt, später noch hinzufügen wollte. Nach etwa einem Jahr Behandlung erlebte ich ein Gefühl, das ich schließlich als ICH FÜHLE MICH GUT erkannte. Schlicht und einfach so. Ich merke allmählich, daß dies etwas sehr Wichtiges für mich ist. Vor zwei oder drei Wochen sagte Helen etwas Nettes zu mir, und das hat viel in mir aufgerührt. Letzte Nacht hat sie mir geholfen. Ich weinte und sagte: »Es ist sehr unangenehm, daß du hier bist.« »Warum?« fragte sie. »Weil deine Anwesenheit dazu führt, daß ich mich gut fühle.« Auch das ist die Geschichte meines Lebens. Ich mache einen Fortschritt – sozial oder anderswo, und dann beginne ich mich wohl zu fühlen. Sobald dies eintritt, gerate ich in Aufregung, Panik – richtige Panik – extreme Spannung. Schließlich werfe ich alles hin. Am letzten Abend, nachdem Heien mich verlassen hatte, geriet ich aus diesem Sich-gut-Fühlen – oder einem verwandten Gefühl – in ein Geburtsgefühl. Und für den Bruchteil einer Sekunde, blitzartig, hatte ich ein Gefühl von »Sich öffnen«. Und ich spürte auch, daß es in Zukunft für mich gute Gefühle geben wird — gute Gefühle, die auf mich warten. Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, daß ich »es schaffen« werde (in der Therapie) und daß ich die Barriere überwinden kann. Und daß diese guten Gefühle sich nicht plötzlich einstellen, sondern zur passenden Zeit gleichsam ausgehandelt werden - oder bildlich gesagt: wie ein Blatt nach dem anderen bei einer Pflanze. Doch wie gesagt, ich bin noch nicht draußen. Ich muß noch einen langen Weg zurücklegen; und ich nehme an, daß ich noch einen längeren Weg zu gehen habe, bis es mir gut geht. Es ist schön, wenn gute Gefühle auftauchen, ich kann sie schon fühlen. Sie werden keine Hindernisse sein; sie werden sich mir nicht in den Weg stellen. Wenn ich sie gefühlt habe, werde ich wieder ruhig
sein, bereit, das nächste Gefühl zu erleben, ob gut oder nicht. (Tatsächlich, selbst die schlechten Gefühle sind gut zu fühlen.) Man kann mein Leben auf folgende Formel bringen: Es gelang mir nicht, aus eigener Kraft den Leib meiner Mutter zu verlassen; ich 89
kämpfte wie ein Wilder. Und seither ist mir im Leben alles mißlungen, obwohl ich auch hier wie ein Wilder kämpfte. Es muß ein schönes Gefühl für ein Baby sein, durch das rhythmische »Verlangen« seiner Mutter dabei unterstützt zu werden, den Geburtskanal zu passieren. Mir blieben solche Gefühle versagt. So führte ich schließlich ein nichtsnutziges Leben, ein Leben der Vergeudung, lebte in einem Vakuum. Bei dem Versuch, die Reise ins Geborenwerden hinter mich zu bringen, muß ich zu Anfang ein Lustgefühl verspürt haben — zumindest den Hauch eines solchen Gefühls. Doch das Lustgefühl wurde durch den Schmerz meiner Mutter (meine Schuld) abrupt unterbrochen, und damit war ich dazu verurteilt, ein Leben zu führen, in dem es keine guten Gefühle gab, sondern nur Einsamkeit und das Streben nach guten Gefühlen. Das ist meine Hoffnung. Immer wenn sich ein Gefühl des Vergnügens in mir zu regen begann (Lust, sich gut zu fühlen), dann traten Schuldgefühle dazwischen (zwischen mich und das gute Gefühl). Wenn ich zum Beispiel bei meiner Frau sexuelle Lust zu empfinden beginne, dann fällt mir plötzlich eine von Kenneth abgelehnte, Kenneth begehrende, traurige, einsame frühere Freundin ein, die in ihrem Zimmer sitzt und sich ungeliebt fühlt. Ich konnte niemals Freude an mir haben, weil es immer jemanden gab, der litt.
Ich versuchte zu genießen; ich mühte mich Dinge zu genießen — ich kämpfte verzweifelt um den Kern eines vermutlichen Genusses zu finden, versuche, alles in mich aufzunehmen, versuche, es einzufangen. Doch während ich mich bemühe, scheint es immer zu entschlüpfen; und später dann sehne ich mich verzweifelt danach, voller Sehnsucht, ein weiteres schlimmes Gefühl für mich (ICH MÖCHTE ES ZURÜCK HABEN.) So war Lust für immer böse; das Gute war das Böse. Wie im Mutterleib fühle ich Schmerz und bewege mich; und wenn ich beginne, mich zu bewegen, empfinde ich ein gutes Gefühl. Doch dann verspüre ich den Schmerz meiner sich wehrenden Mutter, und meine Schuldgefühle hindern mich daran, jemals zu empfinden, was es heißt, gute Gefühle zu haben. Der undurchdringbare Körper meiner Mutter, ihr zerrissenes Gewebe, ihr Schmerz, MEINE SCHULD — das war meine Barriere. Ich wollte nicht, daß meine Mutter sich verschloß und mich eingesperrt hielt (ein schreckliches Gefühl). Und ich wollte ihr nicht wehtun, weil es mir wehtat. Doch nun, da ich ins Freie gelange, werden meine Gefühle weniger 90
und weniger schuldbeladen — und ich habe mehr und mehr gute Gefühle (nur so kann ich das Sich-gut-Fühlen beschreiben). Kenneth
Zusammenfassung
Die Ärzte sollten daran denken, daß sie ein lebendiges, empfindsames menschliches Wesen und nicht einen Klumpen Protoplasma entbinden. Sie sollten wissen, daß ihre Maßnahmen bei der Entbindung etwas mit der späteren Neurose des Kindes zu tun haben. Schonungsvolles Vorgehen ist eine sine qua non, eine unerläßliche Bedingung. Bis zur Ankunft des Arztes hinausgezögerte Geburtswehen sind schädlich. Über Gebühr verlängerte Geburtswehen laufen den Bedürfnissen des Kindes zuwider. Übermäßiges Verabreichen von Medikamenten kann sich nachteilig auf den Fötus auswirken. Angestrebt werden sollte die natürliche Geburt, vielleicht mit zusätzlicher örtlicher Betäubung, wo das absolut notwendig ist. Müttern mit schwierigen Geburtswehen sollte unter Umständen zusätzlich Sauerstoff verabreicht werden, um sicherzustellen, daß das Kind nicht unter Sauerstoffmangel zu leiden hat. Mütter müssen am Geburtsprozeß aktiv teilnehmen und nicht nur Anweisungen des Arztes befolgen. Es ist notwendig, daß sie ihren Kindern »helfen«, zur Welt zu kommen, und das können sie nicht, wenn sie halb betäubt sind. Die beste Gewähr für eine natürliche Geburt, für eine Geburt, die die Mutter unabhängig von den dabei auftretenden Schmerzen ertragen kann, ohne sich gleich systematisch zu verkrampfen, besteht natürlich in der Aufhebung anderer früherer Schmerzen der Mutter mit Hilfe von Urerlebnissen. Das heißt, in einem solchen Falle verstärkte der Schmerz der Geburt nicht andere frühere Schmerzen; die Geburtserfahrung wäre nicht derart schmerzlich, daß sie nicht ertragen werden könnte. Kindererziehung beginnt im Mutterleib, am Lebensanfang. In einer sprachlich orientierten Gesellschaft taten wir uns schwer damit, diesen Gedanken zu verstehen, weil es dabei um Erfahrungen geht, für die jede sprachlich faßbare Erinnerung fehlt und die man nicht erklären kann. Sie können nur erlebt werden. Die konventionellen Therapieformen haben diesen sehr frühen Lebensaspekt vernachlässigt, weil sie sich sprachlicher
Mittel bedienen. Bis zum Auftreten von Geburtsprimals hatten wir keine Möglichkeit, unsere These mit 91
Beweisen zu stützen. Man konnte darüber nur theoretisieren. Bis heute waren wir nicht in der Lage, die Bedeutung jener Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf das spätere Verhalten einzuschätzen. Nun können wir Untersuchungen über das Spannungsniveau vorher und nachher, über Gehirnwellen usw. anstellen und können die Auswirkungen von Spannungslösungen nachweisen. Wir können Verhaltensänderungen beobachten (zum Beispiel das Nachlassen von epileptischen Anfällen), wenn es zu Geburtsprimals gekommen ist, und können uns aufgrund dessen eine Vorstellung davon machen, welch großen Druck frühe Traumata auf das Körpersystem ausüben. Wir können feststellen, daß ein frühes Trauma zu Störungen im Hormonhaushalt geführt hat, wenn sich nach Geburtsprimals der aus dem Gleichgewicht geratene Hormonhaushalt verändert. Schließlich haben wir heute Mittel und Wege, die Auswirkungen einer frühen Erfahrung auf spätere Lebensprobleme wie etwa Lernschwierigkeiten genau anzugeben. Und wir wissen endlich, daß es nicht darauf ankommt, was Eltern tun, sondern darauf, was und wie sie sind.
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5 Nach der Geburt
U nser Sozialleben beginnt in dem Augenblick, wenn wir zur Welt kommen. Was zu diesem Zeitpunkt geschieht, kann sich auf das ganze Leben auswirken. In diesem Zusammenhang sollten wir daran denken, daß das Neugeborene ein gleichsam offener, höchst sensibler Organismus ist, aufgeschlossen für alle Reize. Das neugeborene Kind ist unfähig, seine Schmerzen verstandesmäßig zu verarbeiten. Es kann die Schmerzen weder fühlen noch verdrängen. Zunächst einmal wird es in einem Raum geboren. Hat dieser Raum die Temperatur des Mutterleibs? Oder arbeitet in ihm eine Klimaanlage, damit die Ärzte sich wohl fühlen? Herrscht in dem Geburtsraum grelles Leuchtstofflicht? Oder diffuses, nicht auf die Augen des Neugeborenen gerichtetes Licht? Lassen wir einen Patienten sprechen! Seinen Worten können wir entnehmen, welche Auswirkungen die beiden genannten Faktoren – Temperatur und Licht – haben können: »Nach meinem dritten Geburtsprimal kam ich eines Tages in die Behandlung und empfand das Licht im Therapieraum als äußerst störend. Zuvor war mir das nicht aufgefallen. Das Licht schmerzte richtig, und ich begann zu blinzeln. Plötzlich befand ich mich wieder im Geburtsprozeß, diesmal von grellem, schmerzendem Licht gleichsam überschüttet. Die
Schmerzen nehmen kein Ende, und zur gleichen Zeit ist mir kalt – eiskalt. Ich friere, und ich kann nichts dagegen tun.«* Wir haben dieses Phänomen häufig genug beobachtet, um sagen zu können, daß der Kreißsaal nicht zu grell beleuchtet werden darf und daß er wärmer sein muß, als wir bislang angenommen haben. Viele »lichtempfindliche« Patienten, die sich höchst unbehaglich fühlen, wenn sie ins helle Sonnenlicht treten, haben ihre Reaktion auf das
* D i e d u r c h s c h n i t t l i c h e T e mp e r a t u r i n e i n e m K r e i ß s a a l b e t r ä g t r u n d 2 5 G r a d . I m Mu tte r le ib h e r r s c h t e in e T e mp e r a tu r v o n a n n ä h e r n d 4 0 G r a d . D a s n e u g e b o r e n e K in d is t mith in d e m S c h o c k e in e s T e mp e r a tu r a b f a lls v o n r u n d 1 5 G r a d a u s g e s e t z t . B e i d e r G e b u r t w ir d u n te r a n d e r e m d e r Me c h a n is mu s z u r T e mp e r a tu r k o n tr o lle im G e h ir n s timu lie r t. E s k a n n d u r c h a u s s e in , d a ß e in e s c h w ie r ig e G e b u r t u n d d e r z u s ä tz lic h e S c h o c k a u f g r u n d d e s T e mp e r a tu r a b f a lls d ie n o r ma le F u n k tio n d e r T e mp e r a tu r k o n tr o lle f ü r imme r b e e in tr ä c h tig t, s o d a ß d ie K ö r p e r te mp e r a tu r d e s Be tr e f f e n d e n a n s c h lie ß e n d z u h o c h o d e r z u n ie d r ig is t.
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helle Licht bis zum Kreißsaal zurückverfolgen können. Eine gleich große Anzahl von Patienten hat uns berichtet, daß sie zeit ihres Lebens mehr unter Kälte zu leiden hatten als andere, daß sie sich bereits warm anziehen mußten, wenn Menschen in ihrer Umgebung sich noch ganz behaglich fühlten. Auch diese Patienten konnten ihre Reaktionen auf die katastrophalen Erfahrungen in einem kalten Kreißsaal zurückführen. Einer unserer Patienten, der während eines Primals erneut den Kälteschock verspürte, den er im Kreißsaal erlebt hatte, kam zu der Einsicht: »Während meines ganzen Lebens war ich allergisch gegen Temperaturschwankungen. Jetzt fühle ich, daß dies alles
mit dem Schock begann, der mir zugefügt wurde, als ich den warmen Mutterleib verließ und mich plötzlich in einem kalten Raum befand. Diesen Schock konnte mein Körper niemals verwinden.« Nach dem Urerlebnis stellte der Patient fest, daß seine Nase nicht mehr jedesmal zu laufen begann, wenn er von einem heißen in einen kalten Raum trat, daß mithin eine Reaktion ausblieb, die vorher fast immer eingetreten war. Als nächstes stellt sich die Frage, wohin das Neugeborene gelegt wird. Wird es auf den warmen, pulsierenden Leib seiner Mutter gelegt oder in ein steriles, kaltes Kinderbettchen? Wir glauben, es ist am besten, das Neugeborene sofort seiner Mutter zu übergeben. Es muß traumatisierend sein, von Fremden rauh angefaßt und allein in eine Art Behälter gesteckt zu werden. Was dann geschieht, liegt auf der Hand: das von seiner Mutter getrennte Kleinkind wird in einen Kindersaal mit anderen schreienden Säuglingen abgeschoben. Es ist nicht in der Lage zu verstehen, was mit ihm vor sich geht, ausgenommen, daß es das primitivste aller Notsignale hört — den Schrei. Ein Dutzend oder mehr schreiende Babys müssen das Kleinkind in Erregung versetzen; folglich weint und schreit es auch (aus Angst). In einer Säuglingsstation kann man immer wieder beobachten, daß nicht ein oder zwei Neugeborene schreien, sondern daß gleich ein ganzer Chor in das Wehgeschrei einstimmt. Vielleicht schreien die beiden ersten vor Hunger. Doch dieses Schreien ist für die anderen Säuglinge etwas Bedrohliches. Das dürfte nicht so schwer zu verstehen sein, denn schreiende Babys regen auch Erwachsene auf und bringen sie mit ihrem unaufhörlichen Wimmern und Wehklagen zur Weißglut. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht zeigt auf, was mit Neugeborenen geschieht, wenn sie gleich nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt werden oder aber mit ihr zusammenbleiben. In dem
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besagten Bericht gab Dr. A. W. Liley von der Universität von Auckland bekannt, daß die Krankenhäuser seines [amerikanischen] Bundesstaates vor einiger Zeit dazu übergegangen seien, Neugeborene bei ihren Müttern »einzuquartieren«, statt sie wie bisher in einem gesonderten Säuglingssaal unterzubringen. Die zu ihren Müttern gelegten Säuglinge nahmen schneller an Gewicht zu, schrien weniger und nahmen die mütterliche Brust williger. Dazu erklärte Dr. Liley: »Vorher ließen wir die Babys fünfmal täglich zum Stillen zu ihren Müttern bringen, doch wir machten die Erfahrung, daß es besser ist, sie auf Verlangen zu stillen, als sie alle dem gleichen Zeitplan zu unterwerfen.« Dr. Liley berichtete auch über seinen Besuch in einem Krankenhaus von Bangkok, wo man in großen Räumen 400 Mütter mit ihren Neugeborenen zusammengelegt hatte: »Ich bin noch nie in einem Krankenhaus gewesen, das mit 400 Babys belegt war und in dem ich nicht ein einziges Baby habe schreien hören.«* Neben der Eltern-Kind-Beziehung gibt es offensichtlich noch weitere Faktoren, die eine Neurosenbildung begünstigen. Zum Beispiel das Krankenhauswesen, das in vielen Fällen einen Lebensanfang setzt, der von Schmerz verdüstert ist. Der Schmerz ist selbstverständlich in der Störung der natürlichen Mutter-KindBeziehung durch das Krankenhaus begründet. Die Entfernung des Neugeborenen von seiner Mutter kann bereits einen entscheidenden Faktor bei der Neurosenentstehung darstellen. Was kann sich außerdem störend auswirken und eine rückständige, eine Restspannung im Säugling erzeugen? Der größte Teil meiner Erörterungen basiert keineswegs auf Spekulation, sondern auf Informationen, die wir bei der
Beobachtung von vielen Hunderten von infantilen Urerlebnissen haben sammeln können. Männliche Neugeborene werden häufig kurz nach der Geburt beschnitten. Nach meiner Meinung sollten die routinemäßigen Beschneidungen eingeschränkt werden, denn sie haben eine traumatisierende Wirkung. Ich schlage statt dessen vor, mit der Beschneidung zu warten, bis der Junge alt genug ist, sich aus freien Stücken für eine solche Operation entscheiden zu können. Ganz gewiß ist ein solcher Eingriff weniger traumatisch, wenn man sich zu einer Entscheidung durchringen kann, wenn man klar zu erkennen vermag, was mit einem geschieht.
* Los Angeles Times vom 22. Februar 1971.
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Man versetze sich in die Lage eines Kleinkindes, das Schmerz an seinem Penis verspürt, ohne begreifen zu können, warum dieser Schmerz vorhanden ist. Neugeborene sollten vor lärmerfüllten Räumen, vor den Geräuschen von Absaugpumpen und vor Menschen mit schrillen oder rauhen Stimmen bewahrt werden. Extrem laute Geräusche traumatisieren das Neugeborene, vor allem in den ersten Tagen, wenn es nicht sehen, sondern nur hören kann. Das Neugeborene sollte auch nicht erschreckt, noch grob behandelt werden. Eine unserer Patientinnen hatte ein Urerlebnis, bei dem sie das Gefühl hatte, von einer Kinderschwester, die sie kurz nach der Geburt in den Säuglingssaal trug, hart und grob angefaßt zu werden. Eine andere Patientin hatte ein Primat, das zum Inhalt hatte, daß während der ersten Lebenstage ihr Kopf nicht richtig abgestützt worden war. Spannungen im Körper der Mutter übertragen sich in
kurzer Zeit auf ihr Neugeborenes, das man als eine komplizierte Empfindungsmaschine bezeichnen kann. Wir (unterdrückte Erwachsene) können schwer verstehen, was es bedeutet, gegenüber Sinnesreizen völlig offen und empfindlich zu sein. Erst in der Primärtherapie bereits fortgeschrittene Patienten fangen allmählich an zu begreifen, was ein Säugling durchmacht, denn sie sind wortwörtlich zu jenem frühen Zustand zurückgekehrt und innerlich wieder offen geworden für die traumatischen Erfahrungen, die sie dazu gebracht haben, sich innerlich zu verschließen. Eine sich ruckartig bewegende Mutter, eine Mutter mit unkoordinierten Bewegungen wird ihrem Kind ein Gefühl von Unsicherheit vermitteln. Es spielt keine Rolle, ob sie das »Buch« über Kinderpflege auswendig kennt, denn wenn sie im Umgang mit ihrem Kind körperlich nicht entspannt ist, hilft ihr das wenig; das gleiche gilt für den Fall, daß sie zu schnell und zu laut spricht. Ich kann auch nicht verstehen, warum man Kleinkinder in Strampelhöschen steckt, deren Ärmel so lang sind, daß sie über die Hände reichen, und warum man die Ärmel dann unten zusammenbindet. Die rational klingende Erklärung lautet: auf diese Weise werde das Kind daran gehindert, sich selbst Kratzwunden zuzufügen. Doch die Praxis ist barbarisch, denn das damit verbundene Gefühl von Hilflosigkeit wirkt sich traumatisierend auf das Kleinkind aus. Der Säugling kann auch dadurch traumatisiert werden, daß seine Windeln nicht häufig genug gewechselt werden, was ständiges Wundsein zur Folge hat. Ein anderer häufiger Anlaß für Urerleb96
nisse ist das feste Einwickeln in Decken. Man denkt dabei an die Sicherheit des Säuglings. Tatsächlich jedoch wird ihm damit ein Gefühl von Hilflosigkeit und Unsicherheit vermittelt. Ein
weiterer Faktor ist die Zimmertemperatur. Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, welche Temperatur Säuglinge brauchen, doch es scheint, daß sie mehr Wärme nötig haben als Erwachsene. Nicht unbedingt auf Grund konstitutioneller Unterschiede zwischen Kleinkindern und Erwachsenen, sondern weil unempfindliche Erwachsene die im Zimmer herrschende Kälte häufig nicht spüren. Vielleicht laufen ihre »Motoren« auf Hochtouren, so daß sie sich nicht vorstellen können, daß Säuglinge nicht die gleichen Hitzegefühle wie sie empfinden. Säuglinge sollten hochgenommen werden, wenn sie schreien. Schreien ist ein Notsignal. Gelegentlich können wir die jeweilige Notlage nicht erkennen, doch wir sollten in solchen Fällen wissen, daß Säuglinge Hilfe brauchen. Sie sollten gestillt und gefüttert werden, wenn sie danach verlangen, und nicht aufgrund eines willkürlichen Zeitplans, und sie sollten mit Muttermilch ernährt werden. Für wie lange Zeit? Man sollte sich der Natur anvertrauen. Bis sie Zähne bekommen oder nicht mehr gestillt werden wollen. Mit der Zahnbildung teilt die Natur uns etwas mit; genauso wie mit Mehrfach-Geburten, eine Laune der Natur, die darauf hinweist, daß wir uns zu einer bestimmten Zeit nur um ein Kind kümmern können. Im allgemeinen bekommen Kinder erst nach dem neunten oder zehnten Monat Zähne. Die Zeitspanne bis zum Zahnen ist gewöhnlich eine angemessene Stillperiode. Doch einige Kinder wollen mehr, andere weniger. Wir müssen uns in acht nehmen davor, die Bedürfnisse der Mutter auf das Kind zu übertragen; das kann dazu führen, daß das Stillen über einen zu langen Zeitraum ausgedehnt und daß dabei der Saugreflex verstärkt wird; auf diese Weise können sich genau wie bei nicht ausreichendem Stillen hartnäckige orale Fixierungen herausbilden. Wir haben Mütter erlebt, die unter dem Vorwand, »progressiv« und emanzipiert zu sein, das Stillen länger beibehalten haben, als es den Wünschen ihrer Kinder entsprach.
Es ist zweifellos schwierig und mühevoll, Säuglinge jedesmal auf den Arm zu nehmen, wenn sie schreien, und sie zu füttern, wenn ihnen danach zumute ist, doch die Kindererziehung ist eine Herkulesarbeit, die nicht von Eltern unternommen werden sollte, die selbst noch Kinder sind. Die Eltern müssen auf das beständige Bedürfnis vorbereitet sein, das ein Säugling darstellt. Reizbarkeit findet man 97
häufig bei Eltern, die nicht vorausgesehen haben, welch eine Aufgabe die Kindererziehung bedeutet. Die drei folgenden Fallgeschichten sollen verdeutlichen, wie kompliziert der neurotische Prozeß verläuft. Das Familienleben der zwei jungen Männer und der jungen Frau war auf den ersten Blick keineswegs krankheitsfördernd. Da war kein betrunkener Vater, der nach Haus kam, um die Kinder zu schlagen, keine Ehescheidung, keine Gewalttätigkeit, keine ständige Kritik und Verspottung – sondern nur tagaus tagein kaum wahrnehmbare Störungen, die die Patienten ihrer Persönlichkeit beraubten. Die primärtherapeutische Behandlung ihrer Neurosen war äußerst schwierig, weil ihr Abwehrsystem so verwickelt war – in ihrem Leben war nichts Auffälliges, auf das sie hätten hinweisen und auf das sie sich hätten als Krankheitsquelle konzentrieren können. Sie waren auf derart subtile Weise ihrer selbst entfremdet worden, daß sie kaum wußten, ob sie unter Leidensdruck standen oder nicht. Wir erkennen an diesen Fällen, wie sinnlos es gewesen wäre, den Eltern der Patienten Ratschläge über Kindererziehung zu geben; auch sie waren sich dessen, was sie ihren Kindern antaten, nicht bewußt, sondern agierten ihren eigenen Schmerz lediglich an ihren Kindern aus. Es hatte äußerlich den Anschein, als richteten sie sich nach einem Buch über Kindererziehung – ihr Verhalten schien vollkommen in
Ordnung zu sein; doch was fehlte, war ein wenig menschliches Gefühl.
FRED Meine Eltern waren Meister darin, auf subtile Art Druck auszuüben. Hier ein Beispiel für ein Gespräch: Ich: Mammi, ich fühle mich schlecht. Mutter (ängstlich und hastig): Hast du schon daran gedacht, Ball zu spielen? Ich: Ja, aber ... Mutter: Hast du mit deinen Freunden gesprochen? Ich: Nein, ich habe wirklich nicht ... Mutter: Möchtest du etwas schreiben? Meine Mutter wirkte auf mich immer so hilfsbereit. Doch ich fühlte mich trotzdem schlecht und fand niemals eine Gelegenheit, mir klarzumachen, warum. Die Einsicht, daß sie alle jene Vorschläge nur aus eigennützigen Motiven machte, weil sie es nicht ertragen konnte, 98
daß ich irgendeine Art von Schmerz verspürte, weil sie von sich den Eindruck haben wollte, sie sei gut – diese Einsicht war viel zu schmerzlich. So war ich genötigte sie als hilfsbereit anzusehen und mich als irgendwie unzulänglich, weil ich mich immer schlecht fühlte, ganz gleichgültig, was sie mir auch anriet. Als Erwachsener empfand ich Haßgefühle gegen Menschen, die mir eine. .Menge Fragen stellten, weil ich dann zunächst das Gefühl
hatte, sie sorgten sich um mich, und mir anschließend anhand der Schnelligkeit. und des Tonfalls der Fragen zu meiner Erbitterung aufging, daß sie – indirekt – etwas von mir wollten. Die Angst meiner Mutter vor Schmerz war so groß, daß ich mich schließlich ständig beobachtete, um sicher zu gehen, daß ich nichts Falsches sagte. Ich wurde niemals offen dafür bestraft, wenn ich ihr Schmerz zufügte, doch ein Blick auf ihr Gesicht genügte schon. Dadurch geriet ich in das entnervende Gefühl, mich schlecht verhalten zu haben, ein Gefühl, das sich niemals auflöste, weil wir nicht darüber sprechen konnten. Das Gefühl wurde niemals als solches erkannt, und so fühlte ich mich krank und hilflos, unfähig es auf irgendeine Weise zu korrigieren. Außerdem begann ich allmählich, meine Gefühle in Zweifel zu ziehen. Vom sechsten Lebensjahr an internalisierte ich meine Mutter schließlich in Gestalt einer Instanz, die ich »Gewissen« nannte, einer inneren Stimme, die automatisch bestimmte Reaktionen auslöste: sie hinderte mich daran zu weinen, mich um jemanden zu kümmern, überhaupt an allem. Anschließend konnte meine Mutter ohne weiteres behaupten, ich hätte es nicht nötig, ihretwegen etwas zu tun, zum Beispiel zur Universität zu gehen. Ich tat es für mich »selbst«. Das Verwirrendste an der ganzen Sache war die Erkenntnis, daß sie buchstäblich ein Teil von mir ist, war das auftauchende Gefühl, daß es tatsächlich so ist. Meine Mutter wurde mein Abwehrsystem: wie sie entfremdete es mich meiner selbst. Mein Vater hat viel mehr Gefühle als meine Mutter, doch auch er trug eine Menge zu meiner Verfassung bei. Er sagte mir niemals, was er empfand, auch wenn er sich wirklich schrecklich fühlte. Er wollte mich damit schützen. So dachte ich am Ende, ich sei schuld daran, daß er litt und sich nicht wohl fühlte. Er offenbarte mir niemals seine wahren Gefühle. Er wollte, daß ich selbständig sei, und folglich versuchte er nicht, mir irgend etwas anzuvertrauen, weil er befürchtete, er könne mich »formen«. Und was ist dabei herausgekommen? Daß ich jetzt schreie: »Vater, sag
mir, was ich tun soll.« Er ist stolz auf unsere Gespräche »von Mann zu Mann«, die er mit mir rührte, 99
als ich vier Jahre alt war. Beide, Mutter und Vater, taten sich zusammen, um meine Gefühle auszulöschen, und zwar auf folgende Weise: meine Mutter mit ihrer großen Angst vor Schmerz und mein Vater mit seinem idiotischen Stoizismus, wenn es ihm schlecht ging, ein Stoizismus, der in mir das Gefühl erweckte, alles nicht Lebensbedrohliche sei der Rede nicht wert. Meine Mutter bemühte sich nach Kräften, mich vor Schmerzen zu bewahren, doch wenn ich körperlich krank wurde, blieb mir kein Ausweg. Ich mußte mich unwohl fühlen, und damit kam auf einmal der ganze Schmerz wieder hoch. So hatte ich schreckliche Angst davor, mir Magenkrankheiten zuzuziehen. Und zwar solche Angst, daß es mir irgendwie gelang, nicht krank zu werden. Wenn es doch einmal geschah, dann verhielt ich mich wie mein Vater: ich konnte nicht um Hilfe bitten. So lag ich dann im Bett, stundenlang von Brechreiz und Übelkeit geplagt, von Entsetzen gepeinigt, und riß mich zusammen. Einmal mußte ich vier Tage lang im Krankenhaus zubringen, aufgrund eines Anfalls von Übelkeit, der nach einem Verkehrsunfall auftrat, bei dem ich mir meine Hand arg verstauchte. Ich tat alles Mögliche, nur auf Urerlebnisse ließ ich mich nicht ein. Ich begann, alle Dinge zu zerreden, hatte das Gefühl, meine Brust werde eingedrückt usw. Doch entscheidend dabei ist die Kluft zwischen dem, was ich normalerweise als Gefühl empfinde, und dem Gefühl des Entsetzens, was sich unversehens einstellt. Es fällt mir schwer zu glauben, daß andere Gefühle, andere Schmerzen »zählen«. Das gehört zu den Zweifeln, die ich mir selbst gegenüber habe.
Meine Eltern werden als unglaublich zartfühlend, warmherzig, rücksichtsvoll usw. eingeschätzt. Doch das ist gerade das Problem. Sie waren perfekt in ihren Neurosen: sie setzten sich niemals für etwas ein, gaben mir nie etwas, an das ich mich halten konnte. Auf die ruhigste und sanfteste Weise von der Welt nahmen sie mir mein eigenes Selbst. Irgendwie habe ich das immer gefühlt: So war ich fasziniert von der Hypnose, von posthypnotischen Befehlen, bei denen der Betreffende niemals feststellen kann, daß er innerlich weggetreten ist. Raffinesse ist beinahe das perfekte Verbrechen.
RONALD Solange ich mich erinnern kann, hatte ich stets den Eindruck, meine Eltern und meine Familie seien etwas Vornehmes und Besonderes. 100
Wir hatten alles, und wir hatten einander. Wir waren gescheit, gesund, athletisch, talentiert, gut aussehend, erfolgreich, originell und »hielten zusammen«. So weit ich damals erkennen konnte, gab es nur dies; sie machten mich auf ganz raffinierte Weise fertig. Ich konnte nie irgend etwas richtig fassen und sagen: »Augenblick mal, das ist alles eine Lüge.« Das heißt, der Schein war so überwältigend, daß es, vor allem für einen kleinen Jungen, fast unmöglich war, ihn an der Realität zu messen. Es war, als wenn sie ein Manuskript ablasen; sie redeten und verhielten sich, wie es guten Eltern ansteht; doch sie standen überhaupt nicht dahinter, und ich war nur der Spiegel, in dem sie sich betrachten konnten, wenn sie sich produzierten. Mein Vater
ist aus Stein, er hat einfach keine Gefühle. Meine Mutter spielt Gefühle vor und benutzt sie als Mittel zum Zweck. Doch beide sind bereits tot. Hier einige Beispiele für ihr Verhalten: Das erste, was ich wußte, als ich noch sehr klein war, war der Gedanke, ich müsse beweisen, daß ich krank sei (Fieber, Erbrechen oder einfach schlechtes Aussehen mit den entsprechenden Symptomen und Erklärungen), um auf diese Weise zu erreichen, daß meine Mutter sich um mich kümmerte oder, später dann, daß ich nicht zur Schule zu gehen brauchte. Damals glaubte ich, meine Mutter kümmerte sich wirklich um mich, wie es den Anschein hatte, doch nachdem ich unter dem Einfluß von Urerlebnissen ihr Gesicht gesehen habe, weiß ich, daß sie es haßte, sich um mich zu kümmern, daß sie mich haßte und daß hinter allem, was sie tat, die Aufforderung stand: »Stirb!« Doch schon damals wußte ich, was da vor sich ging – daß es weher tat, sie zu bitten, sich um mich zu kümmern, als krank zu sein –, und so hörte ich auf, krank zu sein. In den sechs Jahren, die ich die höhere Schule besuchte, habe ich nur vier Tage, gefehlt. Dann wurde ich anfällig für Unfälle. Die Geschichte meiner Körperverletzungen ist lang, die meisten habe ich mir mehr oder weniger selbst zugefügt, und jedesmal hoffte ich einen Augenblick, diesmal würden sie mich lieben. Doch jedesmal stellte ich prompt fest, daß ich nicht erreichen würde, was ich mir wünschte, und so verharmloste ich die Verletzung, war allein mit meinen Schmerzen, zu denen schließlich noch die Schmerzen kamen, die mir Bedürfnis und Hoffnung bereiteten. Doch über meine Angst und Qual konnte ich mit ihnen nicht sprechen. Als Junge fiel es mir schwer, durch die Nase zu atmen. So atmete ich durch den Mund, der infolgedessen offen stand. Ich mußte ziemlich »schlimm« ausgesehen haben, und ich erinnere mich, daß man mir,
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als ich sprechen gelernt hatte, zu verstehen gab, ich solle den Mund geschlossen halten. Sie sagten mir, wenn ich das nicht täte, werde mir ein Vogel in den Mund fliegen und gegen die Kehle picken, eine Vorstellung, die mir höllische Angst einjagte. So hielt ich den Mund geschlossen, versuchte sogar, mit geschlossenem Mund zu schlafen, und hatte alle möglichen Schwierigkeiten beim Atmen. Dabei hatte ich das Gefühl, »Sie möchten nicht, daß ich atme«, das heißt »lebe«. Ein weiteres Problem war das Essen. Ich benutzte natürlich bei vielen Gelegenheiten meine linke Hand. Als ich zwölf Jahre alt war, erklärten sie mir eines Tages, sie hätten beschlossen, ich solle in Zukunft mit der rechten Hand essen, weil alle anderen das auch täten und weil es besser für mich sei. Das konnte ich nicht verstehen und sagte daher, ich wolle das nicht. Sie erwiderten darauf, ich hätte gefälligst mit der rechten Hand zu essen oder bekäme gar nichts zu essen. So aß ich einige Tage lang nichts. Wahrscheinlich ein Kompromiß. Man brachte mir bei, Speisen runterzuschlucken, ohne das geringste Geräusch von mir zu geben; zu kauen, ohne daß es aussah, daß ich kaute – zu essen, ohne anwesend zu sein. Sterben. Mir wurde verboten, zu rülpsen, zu furzen oder zu spucken – selbst wenn ich allein war –, und ich wurde angehalten, die Wasserspülung der Toilette zu betätigen, wenn ich urinierte, damit man das Geräusch nicht hörte. Reinige dich ordentlich, wasch dich ordentlich und töte den Körper ab! Gleichzeitig hielten sie sich etwas darauf zugute, eine körperlich gesunde (athletische) Familie zu sein – waren stolz auf den Körper mit allem Drum und Dran. Doch berühre oder fühle ihn niemals – vor allem nicht deinen eigenen. Zigtausend Mal hörte ich Sprüche wie »Mach, was du willst« oder »Wir zwingen dich zu nichts«, doch das war nicht nur jedesmal eine Lüge, sondern auch ein Wink mit dem Zaunpfahl,
daß ich bald zu hören bekommen würde, was ich armer Scheißer für sie tun sollte. Mein Vater kam zu mir, um mir zu erklären, er wünsche mich zu sprechen, und dann schüttelte ich mich innerlich, weil ich wußte, daß ich wieder auf raffiniert feine Weise irgendeine Anweisung erhalten würde — daß sich für mich etwas ändern würde, doch nicht wegen einer Änderung in mir selbst. Mein Vater begann unsere Gespräche, indem er etwas sagte, was mich beruhigen sollte, dem Sinne nach etwa: »Mach, was du willst...«, und dann ging es los, sein Tonfall blieb immer gleich, ob er Lob ausdrückte oder Enttäuschung (was häufig geschah). Es spielte wirklich keine Rolle, um was es dabei ging, auf jeden Fall änderte es mich. Tu dies oder jenes für ihn! Eine weitere Aufspaltung zwischen mir und mir-plus-sie. 102
Uns wurden Werte beigebracht – oder Scheinwerte. Ehrlich sein heißt, nicht als Kind unter zwölf ins Kino gehen, wenn man zwölf ist. Doch die Werte hatten keine Beziehung zu Gefühlen. Ich durchlebte meine ganze Kindheit als ehrlicher Junge und hatte im Innern nie das Gefühl, ehrlich zu sein. Mein Leben war eine Lüge. Ich war ehrlich und hatte keine Ahnung, wie das zustande kam. So war da eine ständige Kluft zwischen dem, was wirklich zu sein schien, und dem, was innerlich wirklich war. Und aufgrund unbefriedigter Bedürfnisse führte ich ein Leben, das wirklich zu sein schien, und hielt verborgen oder tötete ab, was innerlich wirklich war. Ich könnte natürlich noch mehr erzählen: mir ist. als könnte ich bis in alle Ewigkeit so weiter schreiben. Auch habe ich das Gefühl, daß der Schmerz in mir sich während des Schreibens verflüchtigt und abgeschwächt hat. Der Schmerz sammelt sich in mir an, und es bedarf Stunden und Monate von Urerlebnissen, um Gefühle zu verspüren und sie miteinander zu verbinden, während
die geschriebenen Worte so ordentlich und endgültig auf dem Papier stehen. Freilich ist es nicht ganz ehrlich, auf diese Art über das, was mich bewegt, zu schreiben. Doch eins haben die Worte schon bewirkt, und zwar gründlich: einen tiefen Zweifel an meinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Eingebungen und Eindrücken. Innerlich aufgespalten zu sein bedeutete für mich letztlich leben können. Ich kann nicht ich selbst sein, mein Ich kann nicht wirklich, real sein. So ging es mir, als mein Vater früher von unterwegs heimkehrte und ich als kleiner Junge bis spät in die Nacht wachblieb, oben auf der Treppe hockte, hörte, wie er meine Mutter begrüßte, und dann ins Bett rannte, aus Furcht, er könnte heraufkommen und mich erwischen. Wenn er wirklich in mein Zimmer trat, tat ich so, als schliefe ich; statt Freude über seine Heimkehr, statt Zärtlichkeit und Liebe verspürte ich nur Angst, empfand nur Lüge und Zurückhaltung. Neurotisch zu sein heißt, in unmögliche Situationen gestoßen zu werden und sie in Ordnung bringen zu müssen. Es heißt, zwischen Gefühlen und Verrücktheiten zu schweben und in einer unerträglichen Spannung zu leben, die aus diesem Ungewissen Zustand resultiert. Das alles bringt mich schon auf die Palme, wenn ich nur darüber rede. Zum Teufel mit der Schreibmaschine! Die geschriebenen Worte halten mit meinen Gefühlen nicht Schritt. Ich habe einen Sohn, er wird sieben im kommenden Mai. Obwohl ich ihn nicht versaut habe, indem ich als Vater um ihn war (er wurde bei der Geburt adoptiert), so bin ich doch an seinem unglücklichen Lebensanfang beteiligt, ein Mißgeschick, das ihn weiterhin begleitet, 103
auch wenn ich nicht bei ihm bin. Ich liebte seine Mutter nicht; er wurde in sentimentaler Sorglosigkeit gezeugt. Die Liebesaffäre
eines Sommers, zustande gekommen durch meine (und ihre) neurotischen Bedürfnisse, eine Affäre, bei der keine wirklichen Gefühle ausgetauscht wurden, an der nur Teile abwesender Körper beteiligt waren und ein wenig Erregung. In jenem Sommer haben wir uns zum letztenmal gesehen. Damals war ich zwanzig. Über ihre Schwangerschaft bin ich schriftlich durch einen Rechtsanwalt unterrichtet worden. Mein Vater nannte die Angelegenheit einen »Fehler«, er versprach mir, meiner Mutter nichts zu erzählen, weil sie das nicht ertragen würde. Doch dann tat er es doch, und meine Mutter ging nicht zugrunde. Sie verboten mir, sie zu sehen oder mit ihr zu sprechen. Ich bekam weiterhin Briefe von Mary, in denen sie mir mitteilte, sie wünsche mich zu sprechen, ihre Familie habe sich völlig von ihr abgewandt und sie wolle nicht, daß ich mir Sorgen mache usw. Doch ich brauchte Vater und Mutter mehr als sie, und so war ich ein braver Junge. So habe ich Mary seit jener Nacht nicht mehr gesehen. Auch meinen Sohn habe ich nie zu Gesicht bekommen. Er war von Anfang an unerwünscht, seine Mutter fühlte keine Liebe für ihn, sie war ihm keine Hilfe. Er läuft irgendwo herum, erfüllt von jenem Schmerz und anderen, die sich seither in ihm aufgehäuft haben. Das erste, was er empfand, waren Ablehnung und Schmerz. Er ist auf saubere, rationelle Weise »beseitigt« worden, unter dem Motto »Wir wollen nur das beste«, das beste, was sich Eltern und Rechtsanwälte ausdenken konnten.
LOUISE Viele Patienten, die in diese Therapie kommen, litten in ihrer Kindheit unter großen Entbehrungen. Sie hatten grausame und sadistische Eltern, hatten unter Gewalttätigkeiten oder unter psychischem Terror zu leiden; oder sie hatten gar keine Eltern. Bei mir war das nicht der Fall. Ich bin auf subtile Weise fertig
gemacht worden. Zunächst einmal war ich ein »Unglücksfall«, der sich unter sehr schlimmen Umständen ereignete, denn ich wurde während der Wirtschaftskrise geboren, mein Vater war arbeitslos, meine Mutter, 37 Jahre alt, wollte ihre bereits aus drei halbwüchsigen Kindern (zwei elf und dreizehn Jahre alte Schwestern, ein Bruder von zwölf) bestehende Familie nicht vergrößern. Noch Jahre nach meiner Geburt 104
mußte Mutter die Familie durch Näharbeiten über Wasser halten. Sie nähte den ganzen Tag und bestellte die Kunden für den Abend, nach dem Essen, zum Anprobieren. Dazwischen stillte sie mich bis zum achten Lebensmonat. Sie war immer da, um mich zu füttern und anzukleiden, doch wenn meine beiden Schwestern schulfrei hatten, dann mußten vor allem sie sich um mich kümmern. Wenn sie in der Schule waren, dann sorgte ich meistens für mich selbst, weil meine Mutter eigentlich nicht »da« war. Meine Schwestern spielten mit mir wie mit einem Spielzeug, wenn ihnen überhaupt danach zumute war. Sie mußten mich auch spazierenfahren, wenn sie mit ihren Freunden spielen wollten. Dann ließen sie mich im Kinderwagen sitzen und zuschauen, und dabei fühlte ich mich unglaublich einsam, wünschte nichts sehnlicher, als nach Haus gefahren zu werden, und hatte Angst, sie würden mich vergessen und stehen lassen, wo ich war. Selbst zu Haus fühlte ich mich nicht wohl, denn meine Mutter kümmerte sich nicht um mich — sie war mit Nähen und mit meinen Geschwistern beschäftigt und ging nur selten auf meine Bedürfnisse ein. Mein Vater konnte mit einem kleinen Kind nichts anfangen, und so gab es wirklich niemanden, der auf meine Wünsche oder Bedürfnisse Rücksicht nahm. So zog ich mich
schon frühzeitig zurück, ja ich gestand mir selbst schließlich nicht ein, daß ich etwas wünschte. Ich »sorgte für mich selbst«. Bis zur Primärtherapie, in der ich endlich ein Gefühl für all dies bekam, wußte ich überhaupt nicht, warum ich litt, denn an der Oberfläche schien meine Familie ganz in Ordnung zu sein. Jetzt, da ich weiß, worin mein Schmerz besteht, fange ich auch an zu erkennen, was ich meiner Tochter Lisa angetan habe und gelegentlich immer noch antue. Lisa ist jetzt zwei Jahre alt, sie war gerade im achten Lebensmonat, als ich die Therapie aufnahm. Meistens habe ich den Eindruck, ich sehe sie wirklich so, wie sie ist. Doch häufig habe ich das Gefühl, sie ist »zu gut«. Wenn ich nichts über Gefühle wüßte, müßte ich mich eigentlich glücklich fühlen, denn es hat den Anschein, als gerate sie niemals über irgend etwas in schlechte Laune. Das hat mich beunruhigt, und in den vergangenen zwei Monaten ist mir allmählich klar geworden, daß ein wichtiger Grund, warum sie anscheinend so wenig schmerzliche Gefühle hat, darin zu suchen ist, daß jedesmal, wenn sie über irgendeine Kleinigkeit zu weinen beginnt (etwa das Fernsehen umschalten, weil das Programm zu Ende ist), mein Schmerz darüber, daß ich niemals bekommen habe, was ich brauchte, wieder aufsteigt und ich ihr dann 105
gebe, was sie offensichtlich haben möchte. Anschließend schalte ich das Fernsehen um, wenn sie mit ihrer Aufmerksamkeit gerade woanders ist. Ich glaube, in solchen Augenblicken könnte sie einige alte Gefühle empfinden, wenn ich nicht auf sie einginge, sondern nach meinen Wünschen handelte und sie weinen ließe. Ich bin der Meinung, es würde mir leichter fallen, sie weinen zu lassen, wenn ich in solchen Momenten stärker fühlte, daß ich niemals etwas bekommen habe. Noch etwas, was heute zwar nicht zu Problemen führt, aber nach meinem Empfinden für Lisa sicher
nicht gut ist: ich versuche auch in Zeiten für sie da zu sein, wenn ich so tief in meinem eigenen Schmerz stecke, daß es mir völlig unmöglich ist. Doch in solchen Gefühlszuständen sage ich mir, wenn ich nur für sie da wäre, wenn ich mich danach fühle, dann hätte sie selten eine Mutter. Das ist ein wirklicher Konflikt, doch ich weiß auch, daß in meinen ständigen Versuchen, für sie da zu sein, viel von meinem eigenen Schmerz darüber zum Ausdruck kommt, niemanden zu haben, der für mich da ist. Was ich in solchen Augenblicken empfinde, ist die Unfähigkeit, sie in der gleichen Einsamkeit zu belassen. Doch ich bin sicher, dahinter steht mein eigener Schmerz. Allerdings wäre ich auch keine gute Mutter, wenn ich sie tatsächlich allein ließe. Ich versuche noch aus einem anderen Grund, für sie da zu sein: sie ist häufig für mich so etwas wie meine eigene Mutter, von der ich wünsche, daß sie mich liebt. Ich befürchte dann sie könnte mich, wäre ich eine schlechte Mutter, nicht so lieben wie ihren Vater, der häufiger für sie da zu sein scheint als ich. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann wird mir klar, daß ich viele Dinge benutzt habe, um ihr schmerzliche Gefühle zu ersparen. Wenn wir zum Beispiel im Auto nach Haus fahren und sie eine Flasche will, die ich ihr aber in diesem Augenblick nicht geben kann, dann benutze ich häufig das, was Vivian (Janov) eine »Über-Erklärung« nennt, indem ich ihr sage, ich könne ihr jetzt keine Flasche geben, weil wir noch eine Strecke weit zu fahren hätten, aber wenn wir erst da wären usw. usw. – nur um zu erreichen, daß sie mit Weinen aufhört, und das Schlimmste daran ist, es klappt auch. Der Grund für mein Verhalten ist natürlich auch hier wieder, daß ihr Weinen meinen Schmerz aufrührt. Obwohl Lisa unter ganz anderen Umständen lebt als ich früher, stelle ich immer wieder fest, daß ich sie auf die gleiche subtile Art und Weise beeinträchtige, wie es damals mit mir geschah.
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6 Stillen
F ür einen Säugling, dem die Brust gegeben wird, ohne daß ausreichend Milch vorhanden ist, der mithin ständig Hunger verspürt, besteht die Gefahr, daß er ein frühes Trauma erleidet. Das gleiche gilt für den Fall, daß die mütterliche Brust nicht voll entwickelt ist, so daß die Bedürfnisse des Kleinstkindes nach perioraler (auf die Mundregion bezogene) Stimulierung nicht befriedigt werden. Die Milchmenge, die eine Mutter geben kann, steht in enger Beziehung zum »emotionalen« Zentrum – dem Hypothalamus. Auch die Größe der Brust ist abhängig von der Ausgewogenheit des mütterlichen Hormonhaushalts. Eine wichtige Funktion des Stillens besteht in der damit einhergehenden perioralen Stimulierung. Eine magere, fachbrüstige Mutter kann im Gegensatz zu einer vollbusigen Frau ihrem Kind nicht das Gefühl von körperlicher Weichheit und Wärme vermitteln. Mit einem Wort, die vom Säugling verspürten Hautsensationen sind in beiden Fällen unterschiedlich. Wir können häufig beobachten, daß Leute sich die Mundgegend reiben, wenn sie geistesabwesend sind oder sich in Gedanken mit einer Aufgabe beschäftigen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich frage mich, ob diese Leute nicht gezwungen waren, während einer bestimmten Zeit ihres Lebens die Mundregion selbst zu
stimulieren, weil sie nicht ausreichend gestillt oder ausschließlich mit der Rasche ernährt worden sind. Stimulierung ist ein wichtiger Faktor, denn – wie wir gleich sehen werden – das Gehirn ist darauf angewiesen, stimuliert zu werden, wenn es physisch ausreifen soll. In einer anderen Arbeit (Der Urschrei, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1973) habe ich darauf hingewiesen, daß die Brüste primärtherapeutischer Patientinnen sich nach Abschluß der Behandlung voller entwickelten. Die Patientinnen wurden andere Menschen, ganz wörtlich genommen; dabei spielt überhaupt keine Rolle, wie sie sich in ihrer Umwelt verhielten. Ihre Wesensänderung wird sich in dem Maß an Stimulierung äußern, das sie ihren neugeborenen Kindern körperlich zu vermitteln wissen. Diese Stimulierung fördert die Gehirnentwicklung ihrer Kinder. All dies wird ermöglicht aufgrund einer Änderung in der Körperstruktur. Die entscheidenden Elemente des Stillens sind Saugen. Wärme, 107
Körperkontakt und Schaukeln. Experimentelle Untersuchungen über das Stillverhalten von Affen haben gezeigt, daß schaukelnde Bewegungen eine zusätzliche Wohltat bedeuten, die zur Befriedigung und Entspannung der Jungen beiträgt. Beim Flaschegeben wird allzu häufig dem Säugling einfach der Schnuller in den Mund gesteckt, während er im Kinderbettchen liegt und im Grunde genommen für sich selbst sorgen muß. Dabei kommen die infantilen Bedürfnisse nach Körperwärmen und Körperkontakt sowie überhaupt alle zur Entspannung und Befriedigung des Kindes erforderlichen Begleitumstände zu kurz. Ernährung mit der Flasche ist im besten Falle eine künstliche
Bedürfnisbefriedigung; sie kann den natürlichen Stillvorgang in keiner Weise ersetzen. Eine neurotisch gestörte Mutter, die sich schwer damit tut, Milch zu produzieren, dürfte mit einiger Sicherheit ihr Neugeborenes auch launenhaft, ohne innere Gelassenheit und rücksichtslos behandeln, so daß auch in diesem Falle der Säugling das Stillen nicht immer als angenehmes Erlebnis erfährt. Kinder, vor allem Säuglinge, die ein empfindliches Gespür für Berührung haben, sind in der Lage, Schmerz und Spannung der Mutter während des Stillens wahrzunehmen, und sprechen sofort auf diesen Eindruck an, so daß sie selbst während des Stillvorganges in Spannung geraten anstatt sich entspannt zu fühlen. Gewiß wird nicht gleich ein neurotischer Prozeß in Gang gesetzt, wenn ein Säugling einmal weniger sanft behandelt und zur Eile angetrieben wird. Doch wenn eine Mutter sich über Monate und Jahre in dieser Weise verhält, dann kann das im Verein mit anderen traumatischen Faktoren zu einem unerträglichen Spannungsdruck führen. Ich werde mich mit dem Umgang mit Kleinkindern und deren Bedürfnis nach Berührung weiter unten ausführlicher beschäftigen und mich dabei auf Ergebnisse der Tierforschung berufen, soweit sie in diesem Zusammenhang relevant sind. Über die Wichtigkeit des Stillens ist bereits eine Reihe von Untersuchungen angestellt worden. Ashiey Montagu führt in seiner Arbeit viele Ergebnisse an, die den Untersuchungen zu danken sind.* Danach haben mit Muttermilch genährte Säuglinge bessere Immunreaktionen, weil die Kolostralmilch [Sekret der Brustdrüsen vor und unmittelbar nach der Geburt], die von der Mutter in den ersten Lebenstagen ihres Kindes abgegeben wird, einen hohen Gehalt an
* A s h ie y Mo n ta g u , T o u c h in g , Co lu mb ia U n iv e r s ity P r e s s , N e w Y o r k 1 9 7 1 .
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Antikörpern besitzt, das heißt an Abwehrstoffen, die die Infektionsanfälligkeit des Kindes herabsetzen. Montagu hat die Vorteile der Ernährung mit Muttermilch dokumentarisch belegt. Danach kann als erwiesen gelten, daß Säuglinge, die keine Muttermilch erhalten, mit größerer Wahrscheinlichkeit an Erkrankungen der Atemwege, an Durchfall, Ekzemen und Asthma zu leiden haben. Ernährung mit Muttermilch fördert die Entwicklung der Gesichts- und Zahnstruktur. Schließlich besteht zwischen dem Saugen an der Mutterbrust und der Atemtätigkeit eine enge Beziehung. Das heißt, je länger ein Säugling an der Mutterbrust saugt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es später voll und tief durchzuatmen vermag. Je tiefer der Säugling durchatmet, um so geringer ist im allgemeinen die Gefahr, daß er seine Gefühle unterdrückt. Oder um es anders auszudrücken: bei Neurotikern stehen alle Körperfunktionen, einschließlich der Atem- und Muskeltätigkeit, im Dienste des Abwehrsystems. Wie immer geartete Atemtätigkeit ist Verhalten; wenn ein Kind unter dem Zwang steht, seine Gefühle zu unterdrücken, dann ist zu erwarten, daß seine Atemtätigkeit gestört wird, daß es flach atmet, kurzatmig wird. Als einer der wichtigsten Faktoren beim Stillen ist der enge körperliche Kontakt mit der Mutter anzusehen. Körperkontakt ist geeignet, den Sauerstoffgehalt des Blutes zu erhöhen; er führt, wie Barron in Tierversuchen nachgewiesen hat, zu einem »Anstieg der Erregbarkeit des Atemzentrums, (das) seinerseits ein tieferes Luftholen bewirkt, den Sauerstoffgehalt des Blutes hebt und auf diese Weise die Fähigkeit zu verstärkter Muskelanstrengung fördert«.* In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die wichtige Funktion des Herzschlags hinweisen; weiter oben hatte
ich die Vermutung geäußert, das von einem ruhigen Herzschlag vermittelte Gefühl von Sicherheit werde dem Kind bereits im Mutterleib eingeprägt. Als eine Art Zwischenbilanz können wir festhalten, daß es eine große Zahl von Faktoren gibt, die im Säugling Spannung hervorrufen können. Diese Spannung ist in den meisten Fällen nicht sichtbar. Jeder der Faktoren fließt jedoch als eine Art zusätzlich verstärkender Nebenfluß in den unterschwelligen Spannungsstrom, der schließlich in Symptomen wie Koliken, Ekzemen, Durchfällen mündet oder sich einfach in unaufhörlichem, unerklärbaren Schreien
* Ibid., S. 61.
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äußert, in einem Verhalten mithin, mit dem das Kind sozusagen in vorderster Abwehrlinie signalisiert, daß es sich in Not befindet. Die Symptomwahl ist nicht etwas vom Kind »Durchdachtes«. Sie ist vielmehr das Ergebnis vieler spannungserzeugender Erfahrungen und wird gleichsam im Brennpunkt der Entbehrungen getroffen. So kann zum Beispiel ein Kind, das nicht genügend berührt und gestreichelt oder grob behandelt wird, unter Hauterkrankungen leiden. Ein fehlerhaft ernährtes Kind kann ständig irgendwelche Gegenstände in den Mund stecken oder plappernde Laute von sich geben. Bei einem Kind, das am Schreien gehindert oder dafür bestraft wird, kann die Nase anfangen zu laufen. Der Symptombrennpunkt liegt im allgemeinen in der Bedürfnisregion. Diese Region erfordert eine besondere »Behandlung«; hier ist es zur Überlastung gekommen. So kann
ein zu frühzeitig zur Sauberkeit abgerichtetes Kind zum Bettnässer werden und später zur Promiskuität, zum wahllosen Sexualverkehr neigen. Wenn es männlich ist, wird es seinen Penis, verkürzt ausgedrückt, zur Spannungsentlastung in genau der Region benutzen, die ursprünglich von dem Trauma betroffen wurde. Dabei handelt es sich natürlich um einen komplexen Vorgang, denn Überlastung braucht durchaus nicht die Folge eines einzigen Streßfaktors zu sein. Ein Kind kann zu abrupt entwöhnt, zu frühzeitig zum Gehorsam erzogen oder nach einem Zeitplan gefüttert werden, der seinen Bedürfnissen zuwiderläuft. Welche Entlastungsregion es wählt, hängt von seinen Lebensumständen, von seinem kulturellen Milieu und davon ab, was seine Eltern erlauben. In einer religiösen Familie mag Masturbation (als Entlastung von zu frühzeitiger Sauberkeitsdressur) überhaupt nicht vorkommen, weil das Kind sich aus lauter Angst eine solche Handlung versagt. Daher wird es einen anderen Ausweg wählen — zum Beispiel ständiges Beten. Wenn erst eine Entlastungsregion gefunden ist, dann wird hier jede allgemein auftretende Spannung abgeführt.* So fließt in einer ständig wiederkehrenden nervösen Muskelzuckung (Tic) des Gesichts oder des Mundes die aus verschiedenen Quellen gespeiste Spannung ab. Der Körper ist nicht in der Lage zu unterscheiden. Er reagiert auf
* H . B . M i l l e r s c h r e i b t i n S c ie n c e D ig e s t v o m J u li 1 9 7 0 : »( I c h ) v e r mu te , d a ß Bö s a r tig k e it e in e r E r k r a n k u n g ( K r eb s ) e in e a llg e me in e S tö r u n g is t, w o b e i d e r T u mo r le d ig lic h d ie lo k a le M a n i f e s t a t i o n d e s G e s a mtp r o z e s s e s d a r s t e l l t . « M i l l e r e r l ä u t e r t i n s e i n e r A r b e i t , w i e S p a n n u n g d i e S c h l e i mh ä u t e u n d d e n H yp o th a la mu s b e e in f lu ß t, d e r s e in e r s e its d a n n S e k r e te a b s o n d e r t, d ie u n te r U ms t ä n d e n d ie K ö r p e r z e l l e n i n M i t l e i d e n s c h a f t z i e h e n . N a c h M i l l e r s A u f f a s s u n g i s t e i n e mö g l i c h e T u mo r b i l d u n g ( e mo t i o n a l v e r u r s a c h te n ) K r e is la u f s tö r u n g e n z u z u s c h r e ib e n , d ie d a s G e w e b e u n d d ie Z e lle n in e x tr e me r W e is e s timu lie r e n u n d s c h lie ß lic h z u e in e r s tr u k tu r e lle n D e s o r g a n i s a t i o n f ü h r e n . M i l l e r e r k lä r t d i e Z u r ü c k b i l d u n g v o n T u mo r e n mi t
e mo tio n a le n V o r g ä n g e n . Mir is t s c h o n h ä u f ig d e r G e d a n k e g e k o mme n , d a ß K r e b s e i g e n t l i c h e i n e » V e r r ü c k t h e i t d er Z e l l e « i s t , v o n Z e l l e n , d i e a u f g r u n d v o n P r imä r d r u c k a u ß e r Ra n d u n d Ba n d u n d au ß e r K o n tr o lle g e r a te n . D ie s e r U r d r u c k mu ß u n s l e t z t l i c h a u f d e r Z e l l e b e n e b e e i n f l u s s e n .
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die Überlastung lediglich auf die gewohnte »eingeschliffene« Weise. Auch wenn wir heranwachsen, der Bedürfnisschmerz bleibt unverändert, behält seine ursprüngliche Stärke, denn dieser Schmerz ist unsere körperliche Wahrheit, und die Wahrheit ist der Zeit nicht unterworfen. Freilich, die Abwehr oder die Art der Entlastung ändern sich. Sie verfeinert sich – vom Daumenlutschen zum Rauchen, vom Bettnässen zur Masturbation, von den Prügeleien unter Jungen zu raffinierten Boshaftigkeiten. Gelegentlich bleibt die Abwehrform ein Leben lang unverändert. Immer wiederkehrende Träume sind dafür ein Beispiel. So wie Tics, Asthmaanfälle, Magengeschwüre, Hautbeschwerden und ähnliches. Auf jeden Fall weisen Symptome auf innere Spaltungsvorgänge hin. Das Einsetzen von Symptomen, sagen wir einer Allergie oder von Stottern, markiert den Beginn einer Spaltung. Gelegentlich geht die Aufspaltung nicht mit einem dramatischen Symptom einher; die Persönlichkeit wird dann lediglich starr, »fixiert«. Damit kommt zum Ausdruck, daß das Kind, innerlich abgespalten von seinem Schmerz, einen passenden Weg gefunden hat, mit seiner Überlastung fertig zu werden. Ein solches Kind mag ein Junge sein, der seine Freude daran findet, die Kleider seiner Mutter zu tragen, oder ein Mädchen mit blasser Hautfarbe, kränkelnd, still und höflich. Obwohl Urschmerzen verschiedene Ursachen haben, körperliche (Beschneidung) und psychische (Ablehnung), so sind die an der Verarbeitung des Schmerzes beteiligten Körperprozesse doch gleicher Natur, weil nämlich psychisch zugefügter Schmerz stets von Körperprozessen begleitet ist; Neurose ist ein
Körpergeschehen. In einer lieblosen, institutionalisierten Umwelt können Kinder an denn sogenannten psychischen Streß sterben. Da Symptome gleichsam Bedürfniserweiterungen oder Abzugsröhren für den Bedürfnisschmerz sind, können wir über ein Kind und seine unterschwelligen Probleme eine Menge durch Beobachtung seiner Symptome in Erfahrung bringen. Durch genaues Beobachten der bei Patienten vor sich gehenden Symptomänderungen in der Primärtherapie können wir tatsächlich erkennen, welche Schmerzen abgespalten worden sind. Wenn ein Kind zum Beispiel einen Freund 111
erfindet, der neben ihm sitzt, zu ihm spricht, mit ihm spielt usw. und wenn es sich diesem Wahn über Monate hingibt, dann dürfte diese Wahnvorstellung der eines Erwachsenen entsprechen, der sich einbildet, das »Gotteskind« zu sein, das Kind eines Gottes, der allgegenwärtig ist und alles beobachtet. Bei beiden irrealen Vorstellungen kann es sich um Symptome handeln, mit denen Gefühle der Einsamkeit und des Verlassenseins vom Bewußtsein ferngehalten werden sollen. Die Symptome sind durch Gefühlsüberlastung verursachte Fehlschaltungen; ihr Inhalt läßt uns die Art der abgespaltenen Gefühle erschließen. Die Absonderlichkeit der von den Symptomen zum Ausdruck gebrachten Gedanken zeigt das Maß an Überlastung an. Je realitätsferner ein Gedanke ist, um so absonderlicher stellt er sich dar. Die Vorstellung eines Schmerzpegels gestattet uns diese verallgemeinernde Aussage. Im Schmerz haben wir die Energie vor uns, welche die Gedanken von ihren Bezugspunkten ablenkt. So kann sich ein Kind nicht nur einen Phantasie-Freund erfinden, weil es sich von der Familie abgelehnt fühlt, sondern unter Umständen auch zu der Überzeugung gelangen, daß dieser eingebildete Freund zu ihm spricht und seine Bewegungen und
Handlungen lenkt. Später kann sich diese Vorstellung zu dem Wahn verfestigen, daß eine (nun nach außen verlegte) verborgene Kraft hinter den Handlungen wirksam ist, und dann steht tatsächlich hinter allem, was es tut, eine unsichtbare Macht — der Urschmerz. Angesichts der Einheit von Symptomen und Ursachen müssen wir uns hüten, die Symptome als abgesonderte und sich selbst erhaltende Gebilde aufzufassen und zu untersuchen. Wird ein Kind einem Arzt zur Symptombehandlung zugeführt, dann behandelt der Arzt lediglich die Ergebnisse all der von mir bisher erwähnten Kräfte — Geburtstrauma, Beschneidung, Geräusche, die das Kind in seinem Bettchen aufgenommen hat, unzureichende Muttermilch, ungenügende Fütterungszeit usw. Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um einen »Geistes«-Arzt handelt, der sich auf die Behandlung von Kleptomanie oder Phobien versteht, oder um einen »Körper«-Arzt, der Allergien oder Darmerkrankungen wie Colitis zu heilen versucht. Beide befassen sich lediglich mit dem Schlußpunkt eines historischen Prozesses. Für gewöhnlich ist nicht ein Einzelfaktor auszumachen, den man als »Verursacher« des Symptoms, das der Arzt vor sich sieht, bezeichnen könnte. Solange der Arzt nicht bereit ist, den untergründigen Spannungsstrom zu erforschen und die verschiedenen Teilursachen des Symptoms ans Licht 112
zu fördern, kann er sich im besten Falle mit dem »Kopf der Schlange« befassen und darauf hoffen, daß dies zum Erfolg führt. Heilen kann seine Behandlung jedenfalls nicht. Der folgende Bericht ist ein gutes Beispiel dessen, was ich vor Augen hatte, als ich sagte, ein Urerlebnis sei eine kompakte Erfahrung — eine Erfahrung, bei der sich Schmerz auf Schmerz
schichtet und die ihren symbolischen Ausdruck in einem einzelnen Ereignis findet. Die Patientin bricht nicht in Schreie aus, weil dieses eine Ereignis, das sie wiedererlebt, sie in entsetzliche Angst versetzt; vielmehr ist dieses Ereignis eine Art Endsumme, die Hunderte von ähnlichen Ereignissen repräsentiert, Ereignisse, die alle die gleiche Art von Schmerz erzeugen.
EVELYN In der sechsten Behandlungswoche war ich zwei Tage lang wirklich überlastet, in erster Linie von schrecklicher Angst. Selbst nachdem ich in der Therapiegruppe vierzig Minuten lang geschluchzt und geweint hatte wie eine Besessene, war mein Körper immer noch traumatisiert. Auch als ich mich völlig meinen Gefühlen überließ, hatte ich das Empfinden, die einzelnen Zellen meines Körpers glühten und platzten auf. Schließlich mußte ich um ein Beruhigungsmittel bitten. Nach zweieinhalb Tagen war mein Körper wie ein ausgewrungener Waschlappen, und die entsetzliche Angst war immer noch nicht verschwunden. Eines Abends, als ich gerade eine Beruhigungstablette nehmen wollte, kam ein Freund zu mir. Wir sprachen ein wenig miteinander, er gab mir eine herrliche Kopfmassage, die wie ein natürliches Beruhigungsmittel wirkte, und dann war ich in der Lage, sechs Stunden lang ohne Unterbrechung zu schlafen. Mein Freund schlief in dieser Nacht bei mir auf dem Fußboden. Am anderen Morgen war ich etwas ausgeruht und fühlte mich ein wenig erholt. Ich lag mit dem Rücken auf dem Fußboden, während mein Freund das Frühstück vorbereitete. Ich fühlte mich noch erschöpft, ein wenig schwindelig. Als ich mich aufrichtete, wurde mir schwarz vor Augen, und ich mußte mich irgendwo anlehnen. Als ich den Kopf senkte, ging es mir etwas besser. Ich bemerkte, daß das Unwohlsein immer weiter nachließ, je tiefer
ich den Kopf senkte. Als ich wieder auf dem Rücken lag, fühlte ich mich ganz wohl. 113
Als das Frühstück fertig war, setzte ich mich an den Tisch. Ich schaute die Speisen an, und plötzlich geriet ich in Erregung, der Gedanke zu essen machte mich elend und krank. Mein Freund fragte: »Was ist los?«, und dann hob ich plötzlich den Arm über den Kopf, wie um mich zu verteidigen; das geschah ohne meinen Willen, und ich schaute hoch, Angst erfaßte mich, als sollte ich in jedem Augenblick geschlagen werden. Der Teller mit dem Erbsengemüse! Es war der Teller mit Erbsen, den meine Mutter auf meinem Kopf zerschlagen hatte, als ich nicht essen wollte! Ich geriet völlig außer Fassung, wich voller Entsetzen vor dem Teller zurück und konnte kaum ein Wort herausbringen. Zuguterletzt bat ich meinen Freund, den Teller in eine Papiertüte zu stecken und ihn für mich zum Institut zu bringen. Mein Freund hatte mir versprochen, er würde mich zum Institut begleiten. Auf dem Wege dorthin fühlte ich mich wie im Fieber, wie orientierungslos und krank vor Angst und Schrecken. Ich schaffte es nur, weil mein Freund mir beistand. Wir bekamen ein Zimmer, gingen hinein, und eine Stunde lang war ich völlig in den Zwischenfall versunken, der sich vor achtzehn Jahren ereignet hatte, und konnte mich nur für Sekunden daraus befreien. Kaum hatte ich das Zimmer betreten, warf ich mich auf den Fußboden, hielt beide Arme schützend über dem Kopf und schrie: »Mein Kopf, mein Kopf, mein Kopf...« Es klingt komisch, wenn ich sage, »ich« warf mich auf den Fußboden, denn ich hatte das Gefühl, als hätte mich irgend etwas anderes dorthin geworfen. Ich hatte nicht bewußt die Absicht, es
zu tun, hatte mich nicht dazu entschieden, konnte es nicht kontrollieren, doch »ich« tat es. Wie soll ich den Abgrund beschreiben, in den ich an diesem Tag fiel? Vor lauter Angst schrie ich an die zwanzig Minuten lang, warf mich hin und her, um mich zu schützen — warf mich auf den Rücken, die Arme in die Höhe gereckt, und schrie: »Nein, nein, nein ...« Ich verkroch mich in eine Ecke, immer schreiend, rollte mich zusammen, zog meinen Kopf ein, bedeckte ihn mit meinen Armen und schrie ununterbrochen. Dann überfiel mich ein neuer seltsamer Angstanfall. Ich wurde ganz still, lag da mit aufgerissenen Augen. Ich sah nach rechts, und da saß mein Vater, mein wunderbarer, freundlicher, doch jetzt auch erschreckter Vater. Er saß rechts von mir am Tisch, als der Teller auf meinem Kopf zersprang. Ich wußte, daß ich ihn am liebsten gebeten hätte, mir zu helfen, doch kein Wort kam über meine Lippen. Ich streckte die rechte Hand 114
nach ihm aus. Ich spürte ihn, wie er an meiner Seite saß, meine Lippen formten lautlos die Silbe »Pa-«. Mir war, als müßte ich mich ihm über eine Wüste hin verständlich machen, als hätte ich zur Zeit des Zwischenfalls in einer unglaublich tiefen Höhle meines Innern gerade seinen Namen geformt, seinen Namen, der nun vom Grund jener Höhle langsam aufstieg, und meine Lippen formten wieder die Silbe »Pa-«. Doch wieder entstand daraus kein Wort. Zehn Minuten lang brachte ich kein Wort hervor, nur jene stumme Silbe, und mein Arm streckte sich immer noch nach ihm aus, meine Hand suchte ihn zu fassen. Dann gab ich in tonloser Art den Laut »Pa-« von mir. Dann wieder »Pa-«, schließlich »Pa-pa... Pa-pa«. — Ich wiederholte immer wieder
»Pa-pa«, tonlos, wie hölzern. »Mein Papa, mein Papa, mein Papa...« — ich schrie, schrie, schrie, als ich mich von meinem Platz an dem phantasierten Tisch zu ihm hinüberbeugte. Ich schaute ihn an und schrie unter Schluchzen: »Papa, sag ihr, sag ihr, sag (Weinen), ich kann nicht, kann nicht essen, ich kann es nicht essen.« Für weitere fünfzehn bis zwanzig Minuten Schreien und Schluchzen, doch der Höhepunkt war erreicht, als ich die Silbe »Pa-« stammelte, und obwohl ich noch vor Schmerz schrie, waren Angst und Schrecken weitgehend abgeklungen. Ich weinte jetzt vor Erleichterung, vor allem, weil ich an meinen Vater dachte, dem ich nach zwanzigjähriger Entfremdung jetzt wieder begegnet war. Was kann ich darüber sagen, daß ich meinen Vater wiedergefunden habe? Dafür gibt es keine Worte. Meine ganze Kindheit hindurch bin ich von meiner Mutter terrorisiert worden. Sie hat mich fast täglich geschlagen, zwar niemals auf brutal körperliche Weise, doch ihr Gesicht sagte mir: »Ich hasse dich und werde dich umbringen.« Irgendwie war sie immer hinter mir her. Der Prozeß der gefühlsmäßigen Trennung von meinem Vater vollzog sich weitgehend in einem Zeitraum von zwei Jahren, zwischen meinem fünften und siebten Lebensjahr. Obwohl sich beide Traumata – der Haß meiner Mutter und die Gefühlstrennung von meinem Vater – über einen längeren Zeitraum erstreckten, hat doch das Eintauchen in die entsetzliche Angst die Macht beider Schmerzen gebrochen: Ein großer Teil des Schreckens, den meine Mutter in mir auslöste, schien sich irgendwie auf jenen Teller zu konzentrieren, den sie auf meinem Kopf zerbrach. Auch der Schmerz über die allmählich sich ausweitende Gefühlskälte gegenüber meinem Vater, den ich liebte und verehrte, 115
verschmolz mit jenem Augenblick, als ich nicht in der Lage war, mich an ihn zu wenden. Als ich den Teller zerspringen fühlte und die Silbe »Pa-« zu stammeln versuchte, da war irgendwie der Bann gebrochen. Als der Zwischenfall sich in meiner Kindheit ereignete, war ich völlig still, weinte nicht und schaute weder meine Mutter noch meinen Vater an. Als mir aufging, was geschehen war (sie kam von hinten und zerschmetterte ohne Vorwarnung den Teller auf meinem Kopf), da wurde ich merkwürdig ruhig, aß schweigend zu Ende und ging dann in mein Zimmer. Damals war ich sieben.
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7 Die Bedürfnisse
Oralität
S igmund Freud war der Auffassung, das infantile Leben bestehe aus einer Reihe von Entwicklungsphasen, die einen bestimmenden Einfluß auf das Kind ausübten. So gehe das Kind zunächst durch die orale Phase, anschließend durch die anale und gelange
schließlich zur sexuellen Reife in der Genitalphase. Freud nahm an, Fixierungen auf der jeweiligen Entwicklungsstufe legten die spätere Persönlichkeit des Kindes fest — als oralabhängige, analsadistische usw. Mangelnde Befriedigung in einer der Entwicklungsphasen binde das Kind für immer an diese Phase. In einer Hinsicht hat Freud recht. Befriedigungsmangel hat Fixierungen zur Folge — unaufhörliche Versuche, den erlittenen Mangel im späteren Leben auszugleichen. Aber es gibt keine Fixierungs-»Phase«. Wir haben es mit so vielen frühen Bedürfnissen zu tun, mit Bedürfnissen, die nebeneinander bestehen und sich überlappen, daß man jene Kindheitsperioden nicht mittels eines einzelnen Bedürfnisses charakterisieren kann. So wird zum Beispiel ein Kind, dem nicht genügend Bewegungsspielraum gegeben wird, das fest in Windeln eingepackt oder anderweitig ständig eingeengt wird, traumatisiert oder »fixiert«. Das kann durchaus in der Freudschen oralen Phase geschehen. Wenn das Kind während dieser Zeit nicht auf den Arm genommen wird, dann hat es auch unter Entbehrungen zu leiden. Anschließend wird es vielleicht ständig herumlaufen und irgendwelche Gegenstände berühren. Wir können die Entwicklung nicht in Phasen aufgliedern, weil wir uns als ein Gesamtwesen mit einer Vielzahl von Bedürfnissen entwickeln, die alle auf jeder Stufe der Entwicklung befriedigt werden müssen. Zu Freuds Zeiten war die Nahrungsaufnahme von Wichtigkeit. Damals wußte man wenig über das Bedürfnis nach Körperkontakt. Besonders im Wien Freuds war es keine weitverbreitete Praxis, körperliche Zuneigung und Anziehung zur Schau zu stellen, und so ist es denn kein Wunder, daß das Bedürfnis nach Körperkontakt zugunsten der oralen Bedürfnisse heruntergespielt wurde. Sehen wir uns einige der Bedürfnisse von Säuglingen und Kindern
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näher an, damit wir erkennen können, von welch entscheidender Bedeutung sie sind. Dabei werde ich mich zur nachdrücklichen Bekräftigung meiner Beobachtungen auf viele Untersuchungsergebnisse berufen, die Newton und Levine kürzlich veröffentlicht haben.* Seitz stellte Untersuchungen mit Katzen an, die früh, normal und spät entwöhnt wurden. Hier seine Untersuchungsergebnisse: 1. Früh entwöhnte Katzen zeigen Ausdauer und Zähigkeit, doch bei der Nahrungssuche und -beschaffung zeigen sie Desorganisationserscheinungen; 2. sie verhalten sich am wenigsten zielgerichtet, sind am wenigsten in der Lage, Nahrung mit anderen zu teilen, und sie sind argwöhnischer, ängstlicher und aggressiver im Umgang mit anderen Katzen; 3. sie zeigen am meisten Angst in neuen Situationen.** Alle diese Verhaltensweisen kann man einem einzigen Zentraltrauma zuordnen. Es liegt auf der Hand, daß frühe Entbehrung in einem spezifischen Bereich allgemeines neurotisches Verhalten mit sich bringt, denn diese spezifische Deprivation erzeugt eine allgemeine Spannung – nicht nur Spannung im Mundbereich. Der Organismus, und nicht nur die Mundhöhle, leidet unter der Bedürfnisversagung. Vielleicht wird dies deutlicher, wenn wir daran denken, in welche inneren Spannungen wir geraten, wenn wir über einen längeren Zeitraum auf sexuelle Befriedigung verzichten müssen. Dabei geht es nicht nur darum, daß Sexualimpulse nicht befriedigt, die Genitalien nicht erregt werden, vielmehr wird dem gesamten Organismus Entspannung versagt. Die Haut kann sich entzünden, Kopfschmerzen können auftreten, und es kann zu ständiger Gereiztheit kommen. Sexuelle Entbehrung verursacht allgemeine Spannung. Wir sehen hier eine Dialektik am Werk: spezifische Befriedigungsdefizite haben ein allgemeines Verhalten zur Folge, und allgemeine Spannung
zwingt zu spezifischen neurotischen Handlungen. Das Spezifische, Besondere ist stets Teil des Allgemeinen, das heißt, allgemeines Verhalten enthält stets das spezifische. Um das spezifische Verhalten zu ändern, ist es notwendig, das allgemeine zu ändern. Das ist mehr als Wortspielerei, denn das Beseitigen von spezifischen Ursachen amorpher neurotischer Spannung führt zur Auflösung dieser Spannung; nur so kann diese Spannung beseitigt
* G r a n t N e w to n u n d S e ymo u r L e v in e , E a r ly E x p e r ie n c e a n d B e h a v io r , Ch a r le s T h o ma s , S p r in g f ie ld , I llin o is 1 9 6 9 . * * P . F . D . S e i t z . > I n f a n t i l e E x p e r i e n c e a n d A d u l t B e h a v io r i n A n i ma l Subject», in: Psychosomatic Medicine, 21, 1959, S. 353-378.
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werden. Wenn man sich nur mit dem allgemeinen, dem offenkundig neurotischen Verhalten beschäftigt, bleiben die spezifischen Ursachen weiter bestehen. Die oben erwähnten Untersuchungen an Katzen sind in zweifacher Hinsicht wichtig: 1. zeigen sie, daß spezifische Deprivation zu allgemeinem Verhalten führen kann, und 2. lassen sie den Schluß zu, daß frühe Deprivation langfristige Auswirkungen hat. Newton und Levine schreiben über Tiere, denen das normale Saugen vorenthalten wird: »(Sie) zeigen die gleichen Formen stereotyper Handlungen, unabhängig von großen Unterschieden in anderen Aspekten ihrer Sozialerfahrung. So können Haustiere, Tiere, die in offenen Käfigen gehalten werden, und Tiere, die in völliger Isolation aufwachsen, alle die Gewohnheit annehmen, an den Pfoten zu saugen, und Zwangshandlungen unterliegen.«* Wir dürfen jedoch aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse nicht
einfach schlußfolgern, Kinder, die ständig an irgendwelchen Gegenständen saugen, seien zu früh entwöhnt worden. Saugen ist für den Säugling eine der wenigen Möglichkeiten, sich von Spannungen zu entlasten, die aus jeder beliebigen Quelle gespeist werden können – es ist ein triebhaftes Beruhigungsverhalten. In der Primärtherapie können wir häufig Urerlebnisse beobachten, bei denen die Patienten mit beträchtlicher Intensität am Daumen lutschen, eine nicht vom Willen gesteuerte Handlung, die sich über eine oder zwei Stunden hinziehen kann. Gewöhnlich berichtet der Patient später, daß er den Eindruck gehabt habe, als seien in dieses zweistündige Saug-Urerlebnis Monate von Erfahrungen zusammengedrängt worden. Häufig erklären die Patienten anschließend, ihr früheres Bedürfnis zu rauchen sei verschwunden. Die wiedererlebte Erfahrungsabfolge erschloß das ganze Bedürfnis, das sich in der Geschichte des Organismus niedergeschlagen hatte und in der Physiologie des Patienten wortwörtlich festgeschrieben worden war. So mag ein Homosexueller sein Leben lang an Penissen saugen, ohne dieses Bedürfnis auflösen zu können, es sei denn in einem zweistündigen Urerlebnis, wo er das Bedürfnis im Kontext seines Säuglingsdaseins wiedererlebt und aufzulösen vermag. Damit will ich sagen, daß das Bedürfnis von dem Patienten so empfunden wurde, wie es von Anfang gelagert war, das heißt, als ein Bedürfnis, das ursprünglich auf ein anderes Ziel gerichtet war; so lange dies nicht geschieht,
* O p . c it, S . 4 4 8 .
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wird das Bedürfnis nicht verschwinden, unabhängig davon, wie lange es symbolisch ausagiert worden ist. Bei Menschen ist das
Bedürfnis zu saugen natürlich von anderen Bedürfnissen überlagert, mit anderen Worten: ein Mensch, der sich der Gewohnheit hingibt, an Penissen zu saugen, tut dies nicht aufgrund eines Saugebedürfnisses, sondern auch aufgrund des Bedürfnisses nach menschlicher Wärme. Es erscheint mir daher wichtig zu verstehen, daß ein elterlicher Fehler das Kind nicht irreversibel schädigt. Es geht nicht um den einen besonderen Tag, an dem das Baby zu lange weinte oder zu spät trockengelegt wurde. »Es ist so«, erklärt ein Patient, »als wenn mein Körpersystem versucht hätte, ein Entwicklungsbedürfnis nachträglich zu befriedigen. Es war so, als wenn mein Körper nach einer Brust schrie und immer noch schreit, die niemals da war, wenn ich sie brauchte. Ich konnte tun, was ich wollte, das Bedürfnis war nie zum Schweigen zu bringen, und so tat ich das Nächstliegende - ich schlug immer mit dem Kopf gegen irgend etwas. Daher kommt wahrscheinlich, daß ich heute so viele masochistische Phantasien habe.« An der Fallgeschichte eines unter Stottern leidenden Patienten wird die Komplexität neurotischer Symptome sichtbar. Seine ersten Urerlebnisse kreisten um das Thema, daß er etwas sagen sollte, ehe er Worte bilden konnte – zum Beispiel: »Sag Großmutter!« Nachdem es ihm unter großen Anstrengungen gelungen war, Worte, die von ihm erwartet wurden, auszusprechen, bedachte seine »Zuhörerschaft« ihn mit großem Beifall. Der Patient war also in der Mundregion traumatisiert worden. Doch warum stotterte er? Abgesehen von einer möglichen Prädisposition neurologischer Art, einer Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten, in diesem Fall für das Stottern - welche Umstände hätten seine Schwierigkeiten sonst noch verursachen können? Im Falle unseres Patienten ließ ein Urerlebnis über das Problem, sprechen zu sollen, ehe er dazu in der Lage war, eine vage Ängstlichkeit wiederauftauchen, die der Patient im Kinderkörbchen erlebt hatte. Er erinnerte sich
daran, daß er Furcht empfand und zu weinen begann, als ihm plötzlich etwas in den Mund gesteckt wurde, nämlich eine Flasche; das versetzte ihn in Panik. Er wurde nicht gestreichelt, nicht auf den Arm genommen, hörte kein besänftigendes Wort; seine Mutter hatte ihm lediglich in Eile und Ungeduld die Flasche in den Mund gestoßen. Nicht nur, daß die Flasche ihn nicht beruhigte, sie traumatisierte vielmehr seine 120
Mundregion – zweifellos ein weiterer Faktor bei der Entstehung seines Stotterns. Das routinemäßige Verabreichen der Flasche war allerdings kein isolierter Vorgang, sondern es geschah immer wieder, bis der kleine Junge sein Weinen einstellte, um die von ihm als beängstigend empfundene Handlung zu vermeiden. Doch seine Furcht blieb bestehen. Er stotterte fortan nicht nur, sondern hatte auch ständig Angst vor der Dunkelheit, eine Angst, die mit einem Ereignis oder einer Ereigniskette einsetzte, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Zwei weitere Beispiele mögen verdeutlichen, was ich meine. Übermäßige Nahrungsaufnahme und Alkoholismus sind in den Augen psychoanalytischer Theoretiker von oraler Abhängigkeit zeugende neurotische Verhaltensweisen. Danach können sich Kinder während des ganzen Tages zufrieden und wohl fühlen, doch wenn sie allein gelassen werden, dann tauchen in ihnen sofort Gedanken an Essen auf. Daran ändert auch nichts, wenn man sie auf Diät setzt, denn wenn man sie allein läßt, dann wird häufig jener frühe Lebensabschnitt wieder aktiviert, als sie gezwungen waren, nach einem Zeitplan zu essen, als sie zwischen den vorgeschriebenen Mahlzeiten Hunger verspürten und aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten noch nicht ausreichend verstehen konnten, daß ihre Mutter in ein oder zwei Stunden wieder bei ihnen sein würde. Damals vermochten sie nur das
Gefühl von Alleinsein und Angst zu empfinden. Es ist eine Tatsache, daß viele von uns in ihrer Kindheit gezwungen worden sind, sich an bestimmte Essenszeiten zu halten, und daß aufgrund dessen Vielesserei ein [nicht nur] in den Vereinigten Staaten weitverbreitetes Syndrom [Krankheitsbild] und als Diät verstandenes Fasten sozusagen eine nationale Fixierung darstellt. Problematisch am Fasten, an Diätvorschriften ist, daß der Betreffende sich in gewissem Sinne wieder als Kind fühlt, das Hunger verspürt, und daß der Hunger seinerseits die ursprüngliche Angst (und das verzweifelte Verlangen nach Nahrung) erzeugt. Wenn es uns gelänge, uns in die Lage von Kindern zu versetzen. könnten wir diese traumatischen Erlebnisse vermutlich besser verstehen. Kinder können nicht rational denken. Sie können nicht in Zeiträumen von Stunden denken. Hunger zu verspüren und, von Schmerz erfüllt, allein im Dunkeln gelassen zu werden, das bedeutet für sie, sterben zu müssen. Sie haben keine begriffliche Vorstellung davon, wann der Schmerz aufhören wird, und so können sie sich gegen den Schmerz nicht in verstandesmäßiger Weise wehren. Wir 121
hatten kürzlich einen Alkoholiker in Behandlung, der seit zwanzig Jahren getrunken hatte. Alkohol war für ihn ein Beruhigungsmittel. Nun liegt zwar auf der Hand, daß die Flüssigkeit seine Mundhöhle passierte, doch das Primal, das er schließlich erlebte, handelte davon, daß er sich so entsetzlich durstig fühlte, daß seine Zunge während des Urerlebnisses über zwei Stunden lang aus seinem Mund hing. Nach dem Erlebnis fühlte er sich vor Durst schier verschmachtet. Er war nicht oral fixiert, wie sein früherer Analytiker ihm hatte weismachen wollen, sondern er war traumatisiert worden aufgrund des
Durstgefühls, das er in den ersten Lebenswochen verspürt hatte; diese Entbehrungen und dazu der Umstand, daß seine Eltern gefühlskalt und versagend gewesen waren, hatten bei ihm zum Alkoholismus geführt. Die Aufnahme von Flüssigkeit zur Beruhigung war das prototypische Abwehrverhalten gegenüber einem prototypischen Trauma. Wenn das prototypische Trauma sich um Nahrung dreht, dann kann jedes spätere Unbehagen das Kind dazu veranlassen, ständig kleine Bissen zu sich zu nehmen und zu naschen, denn in einem solchen Falle weckt das gegenwärtige Unbehagen ein früheres. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich klarzumachen, daß es nicht notwendig ist, jedes Trauma wiederzubeleben, um eine Neurose zu beseitigen. Jedes Trauma steht in Verbindung zu einem zentralen, besonders gewichtigen Gefühl, sagen wir von Hilflosigkeit, und wenn dieses Gefühl wiederbelebt wird, dann bringt es ein Übermaß an schmerzvollen Erinnerungen an die Oberfläche, die alle um das Zentralgefühl gruppiert sind. So mag ein einziges Urerlebnis den Schmerz einer traumatischen Erfahrung lindern, die wiederholt erlebt wurde. Diese Erkenntnis läßt uns die Komplexität der zahlreichen zu neurotischen Symptomen führenden Ereignisse und Traumata abschätzen. Wir beginnen einzusehen, wie sinnlos es ist, das Symptom als eine isolierte, von anderen Faktoren unabhängige Einheit zu behandeln. Zum Schluß möchte ich sagen, daß wir uns hüten sollten. Entwicklungskategorien zu verwenden, denn wir Menschen entwickeln uns nicht in Kategorien. Auch ein in seinen Bewegungen eingeengtes oder bewegungslos gehaltenes Kind kann auf dieses Trauma »fixiert« werden. Jedesmal wenn es eingeengt wird, kann es in Angst geraten und unter dem Zwang stehen, sich freizumachen und seine Bewegungen fortzusetzen.
Doch zweifellos würden wir diese Lebensperiode nicht »km ästhetische [auf den Bewegungssinn bezüglich] Phase« nennen. 122
Psychische und physische Bewegung Bewegung dürfen wir uns nicht als ein basales Bedürfnis vorstellen. Doch wenn sie nicht ermöglicht wird, dann kann das genauso weh tun, als wenn man keine Liebe erfährt. Das Bedürfnis, sich zu bewegen und die Umgebung zu erkunden, ist nicht nur psychischer Natur, sondern für die Gehirnentwicklung unumgänglich. Nur durch Bewegung lernen wir richtige visuelle Wahrnehmung, entwickelt sich unser Gefühl für Gleichgewicht und Bewegungskoordination; nur so spüren wir überhaupt, daß wir uns bewegen. Vielleicht ist das Bedürfnis, zu Beginn unseres Lebens geschaukelt zu werden, das Anfangsbedürfnis nach Bewegung, nach einer Bewegung, zu der das Neugeborene selbst noch nicht fähig ist. Auf jeden Fall halte ich es für einen Bestandteil des Bedürfnisses nach Stimulierung. Dorothy Burlingham kommt zu der Feststellung, daß »die wohlbekannten rhythmischen Bewegungen wie Schaukeln ... sich unseres Wissens verstärken, wenn Kinder in ihren Kinderwagen oder Körbchen zu stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.«* Andere Wissenschaftler haben beobachtet, daß Kinder schaukelnde Bewegungen vollführen oder den Kopf hin und herwerfen, wenn ihnen ausreichende Bewegung verwehrt wird. Kulka meint, dieses Verhalten werde ausgelöst von »einem Versuch ... kinästhetische Bedürfnisse zu befriedigen«.** Es gibt zahlreiche Erklärungsversuche dafür, warum Kinder zwanghafte Kopf- oder Schaukelbewegungen ausführen. Die
Symptomwahl und die Begriffe prototypische Ängste und Abwehrverhalten habe ich im Kapitel über die Geburt ausführlich erläutert. Ein Grund für Verhaltensweisen wie Schlagen mit dem Kopf mag darin liegen, daß der Kopf während des Geburtsprozesses gegen den Schambogen schlug und dieser Vorgang sich traumatisierend auf die Kopfregion auswirkte. Jeder später erfahrene Streß kann dann das ursprüngliche Trauma wieder aktivieren und die genannten Kopfbewegungen auslösen. Das Symptom ist ein Zeichen für ein frühes Trauma, das sich im Körpersystem des Kindes niederschlug. Ein Kind kann in seinem Körbchen zwanghafte Schaukelbewegungen ausführen, weil es in einer viel weiter zurückliegenden Zeit
* D o r o th y Bu r lin g h a m, > N o te s o n P r o b le ms o f Mo to r Re s tr a in t D u r in g I l l n e s s < , i n : R . M . L o e w e n s t e i n , D r iv e s , A ffe c ts , a n d B e h a v io r , I n te r n a tio n a l U n iv e r s ity P r e s s , N e w Y o r k 1 9 5 3 , Bd . 1 , S . 1 6 9 - 1 7 5 . * * A . K u l k a e t a l . , » K i n e s t h e t i c N e d d s i n I n f a n e y s i n : A me r i c a n J o u r n a l o f O r th o p s y- c h ia tr y, 3 0 , 1 9 6 0 , S . 3 0 6 - 3 1 4 .
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extreme körperliche Einschränkungen zu erdulden hatte – zum Beispiel, indem es zu eng in eine Decke eingewickelt wurde. Auch kann es zwanghaft hin und herschaukeln, weil seine Eltern es während der ersten Lebenswochen nicht ausreichend geschaukelt haben. Das traumatisierte Kind versucht damit, sich eines frühen Traumas zu »entledigen«. Dabei handelt es sich um den primären »Wiederholungseffekt«. Ein Kind, das in den ersten Lebensmonaten, zu einer Zeit also, wo körperliche Einschränkungen die Gehirnentwicklung tiefgehend beeinflussen, haltungskorrigierende Gurte tragen mußte, kann unter Umständen
in seinem späteren Leben einen zwanghaften Bewegungsdrang entwickeln und zu Überaktivität neigen. So kann jede mit Einengungen verbundene Situation (zum Beispiel der Aufenthalt in einem Klassenzimmer) die infolge der Korrekturgurte als Einschränkung erfahrene frühere Situation wieder aktivieren und Angst sowie das Bedürfnis nach Bewegung hervorrufen. Aufgrund von Untersuchungen dürfen wir annehmen, daß zahlreiche Sehstörungen bei Kindern auftreten, denen nicht erlaubt wurde, genügend herumzukrabbeln. (In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Arbeit von Carl Delcato verweisen.) Der Wiederholungseffekt scheint das ganze Leben zu beeinflussen – bei dem davon betroffenen Kind folgen auf das Schaukeln im Kinderbettchen Überaktivitäten auf dem Spielplatz und im Klassenzimmer, und auch als Erwachsener ist es gezwungen, sich ständig in Bewegung zu halten. Im späteren Leben kann jede einschränkende Situation, etwa still in einem Lesesaal sitzen zu müssen, das frühe Trauma wieder wachrufen und Angst sowie ein vages Bedürfnis »rauszukommen« erzeugen. Nervöse Fußbewegungen und Trommeln mit den Fingern sind weitere Äußerungen dieses körperlichen Wiederholungseffektes. Man kann sich nur fragen, welch verheerende Auswirkungen die im Orient übliche Praxis des Kinderwickelns mit sich bringt. Nicht nur in körperlicher Hinsicht wird das Kind Einschränkungen unterworfen. Noch häufiger sind psychische Einschränkungen. Dem Kind wird nur gestattet, »erlaubte« Gedanken zu äußern. Beinahe von dem Tag an, da es Worte zu stammeln vermag, wird es in eine psychische Zwangsjacke gesteckt. Es muß gläubig sein und religiöse Gedanken haben, wenn seine Eltern es so wünschen. Oder es darf nur Gutes über die Leute sagen und niemals Kritik üben. Diese Art der Beschränkung kann zu einer anderen Abwehrform führen – zu Gedankenflucht, die man auch als Phantasieren oder Tagträumen bezeichnet. Eingesperrt in ein langweiliges Klassenzimmer, kann
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das Kind in einem solchen Falle sich in Phantasien verlieren; es sucht der Situation mit dem Kopf zu entfliehen. Bei geistiger Einkerkerung entwickelt sich ein psychischer Wiederholungszwang. Die Vorstellung einer rein »psychischen« Zwangsjacke ist natürlich irreführend. Ein Gefühl und sein gedankliches Gegenstück unterdrücken heißt, körperlichen Druck erzeugen; so kann man sich seinen Phantasien hingeben und gleichzeitig nervös mit den Füßen auf den Boden klopfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß Gedanken keine eigenständigen Einheiten sind, die in einem geistigen Raum umherschweben. Sie sind untrennbar an unsere Körper und unsere Gefühle gebunden, sie sind Teile von beiden; mithin bedeuten unterdrückte Gedanken die Unterdrückung von neurophysiologischen Funktionen. Das heißt, daß man »verkehrt« aufwächst, wenn man sein eigenes »Selbst« sich nicht entfalten läßt. Das Gesicht, der Mund und der Körper verformen sich, um »andere« zu werden; dies kann man ganz wörtlich nehmen. Bei vielen rein körperlichen Urerlebnissen vollführen die Patienten unfreiwillig Bewegungen, die den Eindruck von Drehen und Herauswinden vermitteln; unter starkem Schmerz haben sie das Gefühl, von der ideologischen Zwangsjacke ihrer Eltern buchstäblich eingeschnürt zu werden. Manche Patienten hatten noch zusätzlich das Gefühl, ihre Angst hocke auf ihrer Schulter, nage sich in ihre Brust usw. Wie oft hören wir Eltern sagen: »Nun bleib hier sitzen und verhalte dich ruhig!«? Zu viele Eltern vergessen, daß Kinder von Natur aus rege und ausgelassen sind. Eltern, die sich in Roboter verwandelt haben, suchen ihre Kinder dem »toten« Bild, das sie von sich haben, anzugleichen und entsprechend zu formen. Ihnen entgeht, daß man die Erfahrung des Kindes einschränkt, wenn man seinen Körper einschränkt.
Unser ganzes Muskelsystem ist mit sensorischen »Empfängern« übersät, die unser Gehirn mit Informationen füttern. Wenn wir unsere Muskeln betätigen, dann betätigen wir in gewissem Sinne auch unser Gehirn. Bewegung ist eine Erfahrung. Durch spontane Bewegung lernen wir auch spontanes Fühlen. Bewegungsmangel bedeutet Erfahrungsmangel, und diese Erfahrung wiederum beeinflußt die Gehirnbildung, vor allem in der ersten Lebenszeit. Kindern Freiheit zu gewähren sollte nicht als eine »nette« Sache für »aufgeklärte« Eltern angesehen werden. Freiheit ist eine biologische Notwendigkeit! Kinder, die ständig getadelt werden, wenn sie herumrennen und ihre Umgebung erkunden, schränken alsbald automatisch ihre Bewegungen ein und bewe125
gen sich dann nur noch vorsichtig und in engen Grenzen. Kinder, die nicht sagen dürfen: »Ich glaube, ich kann meine Lehrerin nicht ausstehen, und die ganze Schule hängt mir zum Halse heraus«, gewöhnen sich bald daran, jeden ihrer Gedanken zu überprüfen, genauso wie jede ihrer Bewegungen. Vorsicht schleift sich ein, tritt schließlich automatisch auf, und die Spontaneität jedes Gefühls und jeder Bewegung geht verloren. Daraus kann später Frigidität werden, nicht aufgrund mangelhafter sexueller Betätigung, sondern weil dem Kind niemals gestattet wurde, seine Erregung zu fühlen und zu zeigen. Einer unserer Patienten erlebte eine Szene wieder, in der er, damals sechs Jahre alt, sich über irgendetwas erregte. Er schaute seinen Eltern in die Augen, und ihm wurde in diesem Augenblick blitzartig klar, daß sie beide gleichsam leblos, wie abgestorben waren. Er wußte sofort, daß er »tot« sein mußte, um zurecht zu kommen. Er unterdrückte seine Ausgelassenheit und wurde wie seine Eltern. Wenn man seinen Eltern später geraten hätte, ihn zu ermuntern, sich unbefangener zu geben, hätte das vermutlich wenig Sinn gehabt.
Wenn ein Kind seine Gedanken einschränkt, dann verschwinden diese Gedanken und ihre körperlichen Pendants nicht einfach. Sie bleiben abgespalten bestehen und üben wachsenden Druck aus. Dieser Druck treibt die Gedanken auf Nebenwege, und der betreffende Mensch hat über fast alles »neurotische«, unaufrichtige Gedanken, denn er kann nicht aufrichtig sein, ohne zugleich Schmerz und Angst zu empfinden; Aufrichtigkeit an sich wird zur Gefahr. Daher ist das Verhalten von unaufrichtigen Leuten in vielen Lebenssituationen so gleichbleibend unrealistisch. Der von den wirklichen Gefühlen ausgehende Druck führt auch zu Tagträumen, die ihrerseits Abkömmlinge der wirklichen Gefühle sind. Tagträume sind psychische Geschichten, bizarre Gedankenbildungen, hervorgebracht durch unterdrückte Gedanken und Gefühle. Warum sind diese bizarren Gedankengebilde unrealistisch? Weil der Betreffende schlicht und einfach seine Gefühle empfinden würde, wenn seine Gedanken real wären. Wenn unterschwellige Gefühle unrealistische Vorstellungen wie Tagträume hervorbringen können, dann ist natürlich klar, daß sie auch andere Formen unrealistischen Denkens nach sich ziehen können. Als Beispiel für den im Körperinnern herrschenden Druck aufgrund eingeschränkter Bewegungsfreiheit möchte ich ein kürzlich von uns beobachtetes Urerlebnis anführen. Der Patient erlebte eine Szene 126
wieder, bei der er von seinem Bruder während eines Ringkampfes fünfzehn Minuten lang auf dem Boden festgehalten worden war, ein Erlebnis, das ihn in einen Zustand panikartiger Angst versetzt hatte. Von jener Erfahrung konnte der Patient nicht loskommen,
er konnte sie nicht bewältigen. Und immer dann, wenn er später Angst verspürte, hatte er ein schmerzhaft prickelndes Gefühl in seinen Armen. Die Wiederbelebung dieses Gefühls in seinem Kontext brachte es zum Verschwinden. Eine beinahe überall gebilligte Methode, Kinder »festzuhalten«, besteht darin, sie in Laufställchen einzusperren. Diese Praxis engt die Bewegungsfreiheit des Kindes erheblich ein. Nur wenige Mütter können verstehen, daß diese Einengung des Bewegungsraumes für ihre Kleinen eine Art Gefängnis darstellt. Man nimmt sogar an, Kinder würden das Eingesperrtsein mit Zufriedenheit aufnehmen. So hört man Mütter sagen: »Ich kann nicht jede Sekunde bei meinem Kind sein, und wenn es nicht im Ställchen steckt, dann krabbelt es herum und tut sich weh.« Laufställchen sind zweifellos eine Annehmlichkeit. Doch es wäre besser, wenn wir uns einfallen ließen, wie wir Räume und Gärten anlegen, in denen die Kinder frei herumkrabbeln können, ohne sich der Gefahr von Verletzungen auszusetzen.* Das heißt auch, daß Mütter sich befleißigen müssen, wirklich Mütter zu sein, und ihren Kindern viel mehr Zeit widmen sollten, anstatt sie in Laufställchen einzusperren, um auf diese Weise ihrer Haushaltsarbeit nachgehen zu können. Das gilt genauso für den Vater, wenn er zu Hause bleibt, während die Mutter arbeitet. Nach der Entwöhnung spielt es keine Rolle, wer zu Hause bleibt, ob Mutter oder Vater; wichtig ist, daß Eltern wirklich Eltern sind, die ihre Kinder nicht zu etwas Nebensächlichem machen, das man ins »Gefängnis« stecken oder herausnehmen kann, wenn es einem gerade paßt. Eine Anthropologin, die in Afrika das Verhalten von Schimpansen erforscht hat, zog ihr Kind auf, wie sie es bei den Affen erlebt hat. Sie verzichtete auf ein Laufställchen, ließ ihr Kind gewähren und bot
* S o k ö n n te ma n z u m Be is p ie l d a s K in d e r z imme r mit a lte n Ma tr a tz e n a u s s ta tte n , s o d a ß d a s K in d u n g e h in d e r t h e r u mk r a b b e ln k a n n . I m P r i mä r i n s t i t u t h a b e n w i r e i n e n v o l l s t ä n d ig a u s g e p o ls t e r t e n R a u m » z u m A u s to b e n «, d e r e tw a z w e i ma l d r e i Me te r miß t. N a c h A n g a b e n d e r P a tie n te n is t d e r Ra u m z u m T e il d e s h a lb s o b e lie b t, w e il s ie d a r in f r ü h e r e S z e n e n in L a u f s tä llc h e n u n d in k le in e n b e e n g en d e n Z imme r n w ie d e r e r le b e n k ö n n e n , w o s ie s ic h n ic h t f r e i b e w e g e n k o n n te n . N u n k ö n n e n s ie h e r u mk r ie c h e n , u m s ic h s c h la g e n u n d s ic h h ie r u n d d o r th in w e r f e n , o h n e b e f ü r c h te n z u mü s s e n ir g e n d w o g e g e n z u la u f e n o d e r s ic h z u v e r le tz e n .
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ihm weitgehende Freiheit. Nach den Worten der Wissenschaftlerin war ihr Kind mit dieser Erziehungsmethode höchst zufrieden. Generationen sind im »Kinder-Gefängnis« aufgewachsen; das Ergebnis dieser Praxis haben wir in der Primärtherapie beobachten können. Unsere Patienten haben ihr Leben als Erwachsene damit zugebracht, sich durch Ausagieren frei zu fühlen, indem sie beständig auf Reisen waren, häufig ihren Arbeitsplatz wechselten und sich dem sogenannten freien Sexualleben verschrieben. Einige begaben sich am Wochenende zu Vergnügungszentren und beteiligten sich dort an Spielen, bei denen sie sich buchstäblich »freie Bahn« erzwangen, indem sie sich durch eine Gruppe von Menschen, die sie umgab, hindurchdrängten. Doch das Ausagieren von Freisein hält natürlich die innere Beschränkung nur aufrecht; wer hingegen jene frühen , Beengtheiten gefühlsmäßig erfährt, kann schließlich zur wahren inneren Freiheit gelangen. Einem Kind die volle Bewegungsfreiheit vorenthalten ist eine Form sensorischer Deprivation. Das heißt, das Kind erfährt nicht genügend innere Stimulierungen. Seinem Gehirn wird eine nicht ausreichende Menge an inneren Reizen zugeführt. Die Auswirkungen dieser sensorischen Deprivation haben wir weiter oben erläutert. Eine der auf Bewegungsmangel empfindlich
reagierenden Gehirnstrukturen ist das Kleinhirn. Es ist bei der Geburt noch ziemlich unausgebildet und wird bei fehlender Stimulierung in seiner Entwicklung beeinträchtigt. Auch hier sehen wir wieder, wie sehr die eigentliche Gehirnentwicklung auf Freiheit angewiesen ist (in diesem Fall auf Bewegungsfreiheit). Das überaktive Kind kann mit eben diesem Verhalten auf ein Bedürfnis reagieren, indem es auf diese Weise versucht, einen Mangel an Freiheit und Stimulierung zu kompensieren, den es in den ersten Lebensmonaten erfahren hat. Das heißt, es hat ein Abwehrverhalten angenommen, das zu einer früheren Zeit lebensnotwendig gewesen ist. Sein Körpersystem nimmt das Bedürfnis nach Stimulierung und Bewegung wahr, doch seine Eltern halten daran fest, es dafür zu bestrafen, und gehen mit ihm zu Ärzten, die dann versuchen, die übermäßige Aktivität mit Hilfe von Medikamenten einzudämmen. Das Bedürfnis nach körperlicher und geistiger Freiheit ist in psychophysiologischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. In der Tierforschung ist dieses Bedürfnis nachgewiesen worden. Bernhaut fand aufgrund von Experimenten heraus, daß in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Tiere träge und apathisch 128
werden.* Nach Bernhauts Auffassung dämpft frühe Einschränkung das Weckzentrum des Gehirns, das retikuläre Aktivierungssystem; die Folge ist ein ungenügender Ausstoß von Informationen, der seinerseits zu einer allgemeinen Bewegungsträgheit und Teilnahmslosigkeit führt. Die von Bernhaut angestellten Untersuchungen erlauben den Schluß, daß in den ersten Lebensmonaten ein Optimum an Stimulierung (und Bewegung ist Selbststimulierung) unerläßlich ist, wenn das retikuläre System seine volle Funktionsfähigkeit erreichen soll.
Untersuchungen von Carpenter haben gezeigt, daß totale körperliche Einschränkungen bei jungen Ratten selbst während eines einzigen Tages spätere Verhaltensstörungen zur Folge haben, und zwar Störungen, die sich als schwerwiegender herausstellten als die, mit denen zu rechnen ist, wenn Ratten während des gleichen Zeitraums Licht- und Gehörreize entzogen werden.** Wichtiger noch: bei USC angestellte Untersuchungen lassen vermuten, daß körperlich eingeschränkte Tiere krebsanfälliger sind. Eines Tages werden wir vermutlich zu der Erkenntnis gelangen, daß Freiheit aufgrund der katastrophalen Krankheiten, die auftreten können, wenn sie fehlt, im wahrsten Sinne des Wortes eine Frage von Leben und Tod ist. Es stellt sich immer deutlicher heraus, daß in den ersten Lebensmonaten ein fundamentales Bedürfnis nach Bewegtwerden besteht. Affen, die in Käfigen aufwuchsen, in denen sich nur ein bewegliches Pendel befand (das sie umklammern konnten), entwickelten sich schneller, nahmen stärker an Gewicht zu und waren sozial angepaßter als Affen, die in ihrem Käfig ein unbewegliches Pendel hatten. Jungaffen, die nicht an einem Pendel hin und herschwingen konnten, zeigten Angst vor Menschen, schienen weniger neugierig zu sein und waren allgemein fehlangepaßt. Die Frage ist: warum? Wir erkennen, daß es nicht ausreicht, wenn während der frühen Kindheit Bewegungen ermöglicht werden; es bedarf rhythmischer Bewegungen. Mit anderen Worten, die fundamentalen Bedürfnisse, die sich unmittelbar nach der Geburt äußern, müssen auf jene Bedingungen treffen, die den Lebensbedingungen im Mutterleib am nächsten kommen... ein stetiges Geräusch wie der Herzschlag, Bewegung, Körperwärme und viel körperlicher Kontakt. Je mehr
* M. Be r n h a u t, E . G e llh o r n u n d A . T . Ra s mu s s e n , > E x p e r ime n ta l Co n tr ib u tio n s to P r o b le ms o f Co n s c io u s n e s s < , in : J o u r n a l o f
Ne u r o p h y s io lo g y , 1 6 , 1 9 5 3 , S . 2 1 — 3 5 . * * P . B. Ca r p e n te r , > T h e E f f e c t o f S e n s o r y D e p r iv a tio n o n Be h a v io r in th e W h ite Ra t< , D is s e r ta tio n , F lo r id a S ta te U n iv e r s ity 1 9 5 9 .
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von diesen Bestandteilen fehlen, zum Beispiel Schaukeln oder rhythmische Bewegung, desto stärker wird die kindliche Entwicklung beeinträchtigt, desto größer ist die Gefahr von Schädigungen in irgendeiner Form. Die Untersuchungen an Affen und anderen Primaten können uns dabei behilflich sein, einige basale Bedürfnisse zu bestimmen, die wir bis jetzt noch nicht erörtert haben. Natürlich liegen uns heute auch schon hilfreiche Untersuchungen an Menschen vor. Frühgeborene Kinder entwickeln sich sowohl körperlich wie psychisch besser, wenn sie in Brutkästen gelegt werden, die schaukelnde Bewegungen ausführen. Brutkästen, die Bedingungen aufweisen, die den intrauterinen gleichen, bieten dem Kind die größte Überlebenschance. Das bedeutet: das Leben nach der Geburt ist eine Fortentwicklung des Lebens vor der Geburt, und je weniger die Lebensbedingungen nach der Geburt von denen vor der Geburt abweichen, um so besser für das Kind. Real sein heißt, in der Lage sein, sich frei bewegen zu können. Es heißt nicht, ständig in Bewegung sein, angetrieben von innerer Spannung. Es heißt auch nicht, sich beim Tanzen auszutoben, im Zimmer herumzurennen und sich wild aufzuführen. Vielmehr kommt es darauf an, einen geschmeidigen, entspannten Körper zu besitzen, der als ein Ganzes reagiert, dessen Bewegungen koordiniert sind, so daß man fähig ist, auf natürliche Weise in den meisten Sportarten gute Leistungen zu erbringen, und etwa beim Tanzen von seinem Körper vollen Gebrauch zu machen versteht. Nach meiner Überzeugung sind normale Kinder von Natur aus gute Sportler. Das bedeutet freilich nicht, daß Sportler
von Neurosen verschont bleiben. Ein guter Läufer kann durchaus immer noch unfähig sein, seinen Körper als eine Einheit zu empfinden und einzusetzen, so daß er nicht in der Lage ist, auf gefühlsgeladene Stimulierungen wie Musik zu reagieren. Jemand, der mit seinem Körper gut umzugehen weiß, kann trotzdem eine Neurose haben, die sich dann allerdings in psychischen Störungen äußert. Natürlich kann man einzelne Verhaltensweisen nicht aus dem Zusammenhang reißen und losgelöst betrachten. Doch wenn jemand völlig ungeschickt im Werfen ist, wenn er nicht imstande ist, schwimmen zu lernen, dann darf man annehmen, daß es sich um neurotische Symptome handelt, auch wenn sonst keinerlei Störungen zu bemerken sind. Ich bin keineswegs sicher, daß ein Neurotiker den Mangel an körperlicher Koordinierung mit Hilfe von Urerlebnissen vollständig beseitigen kann. Sobald die Neurose sich erst einmal im Körper 130
»festgesetzt« hat und zu Koordinierungsmängeln führt, die sich über Jahre hin einschleifen, dann ist der Schaden häufig nicht mehr völlig zu beheben. Der Neurotiker kann nie die Leistungen erzielen, die er in jahrelanger sportlicher Betätigung hätte erreichen können, wenn er von vornherein richtig aufgewachsen wäre. Nichtsdestoweniger haben wir als Folge von Urerlebnissen bemerkenswerte Änderungen in der Koordinierung feststellen können.
Das Bedürfnis nach Stimulierung Dem Bedürfnis eines jeden Kindes entspricht ein optimales Maß an Stimulierung. Ob ein Kind über- oder unterstimuliert wird, in
beiden Fällen kann Urschmerz auftreten. Ein Kind, mit dem die Eltern sich aus Ängstlichkeit zu häufig beschäftigen, kann durchaus unter Leidensdruck stehen, weil es Gefühle hat, die sich in die Worte kleiden ließen: »Laßt mich allein!«, und weil es, vor allem in der frühen Kindheit, nicht die Kraft hat, sich gegen das Verhalten der Eltern zur Wehr zu setzen. Mehrere unserer Patienten hatten Urerlebnisse, bei denen sie unter dem Eindruck standen, sie würden ständig gekniffen, in die Luft geworfen, zu allen möglichen Handlungen veranlaßt und immer daran gehindert, genügend Ruhe und Erholung zu finden. Das hängt damit zusammen, daß alles, was die Eltern, Großeltern oder Bekannte taten, in keinerlei Beziehung zu den Bedürfnissen des Kindes stand. Um es zu wiederholen, Neurotiker können nicht von ihren eigenen Bedürfnissen absehen. Überstimulierung kann die vielfältigsten Formen annehmen. Sie kann von Eltern ausgehen, die durch unablässiges Einreden auf das Kind Spannungen lösen. Sie geben dem Kind keine Zeit, sich eigene Gedanken zu machen, keine Zeit, nachzudenken und zu fühlen. Auch ständiges Hätscheln und Streicheln können das Kind überstimulieren. Eltern, die zu laut sprechen, können ihr Kind überstimulieren, denn übermäßige Sinneseindrücke verursachen Schmerz, ganz wörtlich genommen. Wie erkennt man, ob die Stimulierung zu stark oder zu gering ist? Das hängt von dem Bedürfnis des jeweiligen Kindes ab. Ein normales Kind weiß seine Bedürfnisse zu vermitteln. Und normale Eltern, das heißt Eltern, die nicht von Spannung getrieben werden, ersparen ihrem Kind Überstimulierung. Doch Überstimulierung ist gewöhnlich das geringere Problem. Viel häufiger ist Unterstimulierung; ein anderes Wort für Ablehnung. 131
Wir wissen, daß Stimulierung Wachstum und Dichte der Hirnrinde fördert, und somit hat der kindliche Organismus ein Bedürfnis nach Erfahrung schlechthin. Da man zuallererst sich selbst erfährt, ist die Lebenserfahrung um so reicher, je offener man sich selbst gegenüber ist. Oder um es anders auszudrücken: je mehr man von den Lebensprozessen des Körpers erfährt, desto mehr erfährt man vom Leben. Newton und Levine weisen darauf hin, daß »Erfahrungsbeschränkung die Sozialentwicklung von kleineren Affen wie von Schimpansen beeinträchtigt«.* Mangel an Stimulierung hat bei Affen stärkere, sich diffus äußernde Reizbarkeit und größere Ängstlichkeit zur Folge. Außerdem werden ihre sozialen Reaktionen auf unpassende Objekte fixiert; so richtet sich ihr Sexualtrieb auf diese Objekte statt auf ihre Artgenossen. Bei Menschen würden wir solche Objekte »Fetische« nennen. Aus den Untersuchungen an Primaten können wir folgern, daß Umwelteinschränkungen während der frühen Kindheit dazu führen, daß der Organismus sich eher an Gegenstände als an Menschen bindet. Das ist eine Frage unterschiedlicher Prägung: wenn einem Kind statt menschlicher Wärme ein Gegenstand wie eine Flasche oder ein Spielzeug gegeben wird, dann wird es unter Umständen zeit seines Lebens auf Objekte fixiert sein.
Körperkontakt Es scheint, daß ein Index dafür, wieviel Stimulierung von welcher Art wir brauchen, die Größe des Gehirnbereichs darstellt, der mit dem jeweiligen Bedürfnis zu tun hat. Das Bedürfnis nach Körperkontakt, nach Berührung ist zum Beispiel an weite Bereiche des Gehirns gebunden. Nach meiner Ansicht ist dieses neurologische Faktum gleichsam ein Vermächtnis der Evolution, das die Wichtigkeit des Körperkontakts bezeugt. Häufige Berührungen des Kindes verhindern Schmerz, wie er auftritt,
wenn das Kind unter einem Mangel an Körperkontakt zu leiden hat. Das Kleinkind kann somit den Körperkontakt mit anderen intensiv erfahren, weil es auf diese Weise zur intensiven Erfahrung seiner selbst gelangt. Ein Kind, das nur selten Körperkontakt erlebt, leidet unter dieser Versagung, ob es nun darum weiß oder nicht, denn dabei kommt sein physiologisches Bedürfnis – ein Bedürfnis so wichtig wie das Essen – zu kurz.
* O p . c it. , S . 4 6 8 .
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Schmerz drückt dem Erleben von Körperkontakt seinen Stempel auf, so daß das Kind in seinem späteren Leben Berührungen und Zärtlichkeit abwehrt und »nichts« zu fühlen vermag. Zuviel Körperkontakt kann freilich genauso schmerzvoll sein wie zu wenig, denn übermäßiges Berühren und Anfassen können das Kind derart überstimulieren, daß es sich innerlich dagegen verschließt. Überstimulierung ist kein Eingehen auf ein Bedürfnis, denn sie basiert keineswegs auf dem Bedürfnis des Kindes, sondern auf dem seiner Eltern. Das Hautempfinden ist eine der wenigen sensorischen Funktionen, die bereits bei der Geburt voll ausgebildet sind. Der Fötus kann bereits nach einer Entwicklung von nur zwanzig Wochen Hautsensationen empfinden. Das ist insofern verständlich, als die Haut das größte Sinnesorgan darstellt; sie repräsentiert einen weitgefächerten Bedürfniskomplex. Es scheint, daß sich bestimmte Areale des kindlichen Gehirns in Einklang mit der Entwicklung der menschlichen Spezies früher ausbilden als andere. So dürfte die Myelinisation [Markscheidenbildung] des mit dem Hautsinn zusammenhängenden Gehirnbereichs früher beendet sein als die
derjenigen Bereiche, die an der Denk- und Vorstellungsfähigkeit beteiligt sind. Im Evolutionsprozeß trat das Denken erst spät in Erscheinung; das gleiche wiederholt sich in der menschlichen Ontogenese, in der Entwicklung des Menschen von der Eizelle zur Geschlechtsreife. Auf die Gehirnentwicklung bezogen, heißt dies, daß die eher »animalischen« Bedürfnisse - die Bedürfnisse, die wir mit den Tieren gemeinsam haben — vor anderen den Vorrang haben. Vielleicht haben aus diesem Grund Untersuchungen an Tieren über den Mangel an Hautkontakt besondere Relevanz für das menschliche Verhalten. Doch die Tierforschung allein reicht für unser Verständnis menschlicher Neurosen nicht aus, die so unabweisbar mit Sprache, Denken und Bedeutung verknüpft sind. Spitz hat Kinder untersucht, die selten körperlichen Kontakt mit Pflegepersonen hatten; er fand bei diesen in Heimen untergebrachten Kindern eine größere Anfälligkeit für Ekzeme.* Aufgrund anderer Untersuchungen wissen wir, daß die gleiche Vernachlässigung von Kindern zu allergischen Hautreaktionen und -erkrankungen führen kann. Nach Bakwin haben künstlich ernährte Kinder eine höhere Anfälligkeitsquote für Ekzeme wie für Erkrankungen der Atemwege.**
* R . A . S p i t z , V o m S ä u g lin g z u m Kle in k in d , K le tt, S tu ttg a r t 1 9 6 9 . * * H . Ba k w in , > F e e d in g P r o g r a ms f o r I n f a n ts < , in : F e d e r a t i o n P r o c e e d i n g s , 23. S. 66 ff.
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Ashiey Montagu berichtet über den Fall eines an Akne erkrankten Mädchens, das »durch eine Behandlung geheilt wurde, zu der auch taktile Stimulierung in einem Schönheitssalon gehörte; dorthin hatte es ein scharfsichtiger Arzt geschickt, nachdem jede
Form orthodoxer medizinischer Behandlung versagt hatte.«* Der Arzt hatte den Traumabereich behandelt. Berührung ist ein Beruhigungsmittel für die Haut. Es ist also offenkundig, daß der Körper erkrankt, wenn er Versagungen ausgesetzt wird; nicht ganz so einsichtig ist, warum der Körper in solchen Fällen auf spezifische Weise erkrankt. Warum bekommen Kinder bei fehlendem Körperkontakt Ekzeme? Der Grund, glaube ich, liegt darin, daß die Haut zugleich den Bereich des Bedürfnisses wie der Versagung und folglich den Brennpunkt des Schmerzes darstellt. Natürlich müssen wir auch hereditäre, das heißt erbliche Prädispositionen als Faktoren der Symptombildung berücksichtigen. Nicht genug Körperkontakt erfahren heißt, nicht geliebt zu werden, gleichgültig, wie nachdrücklich die Eltern das Gegenteil behaupten. Mangel an liebevoller Zuwendung ist kein ausschließlich psychologisches Problem, sondern vielmehr ein psychophysiologisches. Daran ist nicht zu rütteln, trotz aller Äußerungen wie: »Sie haben mich wirklich geliebt, doch sie konnten nicht zärtlich sein.« Harlow ist einer der Pioniere bei der Erforschung von Auswirkungen mangelnden Körperkontakts auf das spätere Verhalten von Primaten.** Seine Experimente haben gezeigt, daß Affenjunge, die ohne Mütter aufwachsen, im späteren Leben dauerhaft verhaltensgestört sind. Affenjunge, denen aus Stoff gefertigte »Mütter« in den Käfig gestellt wurden, entwickelten sich besser als eine Kontrollgruppe, die sich mit einem Drahtgestell begnügen mußte, mit einer »Mutter« also, deren Beschaffenheit nicht einmal einen ersatzweisen Körperkontakt zuließ. Die »kontaktlosen« Affen waren später weit ängstlicher und weniger erkundungsfreudig. Bei späteren Experimenten stattete Harlow die Stoff-Mutter mit einem Heizgerät aus.*** Die Zufuhr von Wärme führte zu signifikanten Unterschieden. Affenjunge, denen eine Mutter beigegeben war, die keine Wärme
spendete, entwickelten sich weniger gut. Hingegen waren mit einem
* A s h ie y Mo n ta g u , T o u c h in g , Co lu mb ia U n iv e r s ity P r e s s , N e w Y o r k 1 9 7 1 , S. 207. * * H a r lo w s U n te r s u c h u n g e n h a b e ic h im K a p ite l »L ie b e « in D e r U r s c h r e i , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 3 , a u s f ü h r lic h b e h a n d e lt. * * * H . H a r lo w , A m e r ic a n P s y c h o lo g is t, F e b r u a r 1 9 7 0 .
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Wärmespender aufgezogene Affen eher bereit, sich an ihre »Mütter« anzuklammern, wenn sie in Angst gerieten. Wenn die Tiere zu lange mit einer kalten »Mutter« aufwachsen mußten, dann stellten sich dauerhafte Schäden ein; die Jungtiere scheuten jeden Kontakt, selbst wenn ihnen eine »warme Mutter« in den Käfig gestellt wurde. Harlow meint: »Das Aufwachsen mit einer kalten Mutter hatte bei ihm (dem Affenjungen) offensichtlich zu einer allgemeinen Gefühlskälte gegenüber Müttern geführt, selbst solchen Müttern gegenüber, die Wärme und Behaglichkeit ausstrahlten.«* Wenn wir die Untersuchungen von Harlow auf unser Thema übertragen, dann können wir festhalten, daß eine im späteren Leben erfahrene wärmespendende Umwelt frühe Traumata nicht auszulöschen vermag, sondern sie lediglich abmildert. Eine gefühlskalte Mutter in den ersten Lebensmonaten hinterläßt in ihrem Kind eine dauerhafte Ängstlichkeit, denn es hatte in der entscheidenden Zeit niemanden, an den es sich wenden konnte, um mit seinen furchterregenden Erfahrungen fertig zu werden. So dürfte ein Kind, das im achten Lebensmonat adoptiert wird, in seinem späteren Leben Schwierigkeiten haben, wenn es die ersten acht Monate in einer relativ kalten Anstaltsumgebung zubringen mußte. Das Fehlen einer warmherzigen Mutter in der ersten Lebenszeit führt zu einer
Überlastung des Kindes mit Furcht, die in Form einer vagen Ängstlichkeit weiterbesteht. Wenn das Kind später gefragt wird: »Wovor hast du Angst?«, könnte es keine einigermaßen plausible Antwort geben, denn erstens empfand es keine spezifische frühe Furcht, die im Vordergrund gestanden hätte, und zweitens traten die Befürchtungen zu einem Zeitpunkt auf, ehe das Kind sich begrifflich klarmachen konnte, vor was es Angst hatte oder daß es überhaupt Angst verspürte. Es wäre ein Fehler, dem Kind, das sich jetzt vor »neutralen« Gegenständen wie Hunden, hohen Gebäuden oder Aufzügen ängstigt, vorhalten zu wollen: »Das ist doch gar nichts, wovor du Angst haben müßtest.« Das Kind reagiert jetzt aufgrund einer vergessenen, jedoch weiterhin wirksamen frühen Lebensgeschichte. Um seinen Zustand allgemeiner Ängstlichkeit zu mildern, hätte es vieler Erfahrungen frühen Körperkontakts, vornehmlich gefühlswarmen Kontakts bedurft. Für Harlows Schlußfolgerungen bietet das menschliche Verhalten überreichlich Beweise. Mütter, von denen es heißt, sie seien »kalte« Frauen, sind durch ihren eigenen Schmerz derart blockiert, daß sie
* I b id . , S . 1 6 7 .
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in der Tat auf Körperkontakt gefühlskalt reagieren. Ihr Körper hat ; sich mit verlangsamtem Blutkreislauf und niedriger Körpertemperatur auf den Schmerz eingestellt. Keine noch so große Anzahl von Vorträgen oder Artikeln über mütterliche Gefühlswärme vermag diese Form weiblicher Kälte zu ändern. Die Gefühlskalte der Frau ist nicht schlicht eine Verhaltenseinstellung, sondern sie ist in ihrem Körpersystem verankert.
Kritische Perioden Häufiger Körperkontakt allein reicht nicht aus; es gibt auch bestimmte kritische Zeiten, in denen die Kleinkinder diesen Kontakt erfahren müssen. Ein Anstaltskind, das im achten Lebensmonat von einer Gefühlswärme ausstrahlenden Familie adoptiert wird, hat bereits ein Trauma erlitten, das sein weiteres Leben beeinflußt. Während der ersten acht Lebensmonate, wenn das Nervensystem besonders empfänglich ist und andere sensorische Funktionen noch nicht vollständig ausgebildet sind, vermag kein Körperkontakt lebenslange Schädigungen hervorzurufen. Wir bezeichnen die kritischen Perioden, in denen Stimulierung sich optimal auswirkt, als Prägungsperioden. Wenn Enten etwa fünfzehn Stunden nach dem Ausschlüpfen mit einem beweglichen Objekt zusammengebracht werden, dann werden sie auf dieses Objekt geprägt und folgen ihm (zum Beispiel einem Menschen) ihr Leben lang. Dieser Effekt kann völlig ausbleiben, wenn man mit einer vier Tage alten Jungente auf gleiche Weise verfährt. Denenberg hat in einer Untersuchung nachgewiesen, daß Jungratten, die in den ersten fünf Lebenstagen Körperkontakt erfahren, Belastungen länger ertragen können als Ratten, denen bis zum sechsten Lebenstag körperliche Berührungen vorenthalten werden.* Das bei Jugendlichen und Erwachsenen zu beobachtende Verhalten dürfte in direkterer Verbindung zu den Geschehnissen in den ersten Lebensmonaten stehen als zu irgendeiner späteren Störung der Eltern-Kind-Beziehung. Eine »gut« verlaufene frühe Kindheit kann entscheidend dazu beitragen, spätere Mißgeschicke bewältigen zu können; dies kann eine Erklärung dafür sein, daß ein Kind »es schafft«, ein anderes nicht. Tapp und Markowitz haben festgestellt, daß körperlicher Kontakt im Frühleben sich
* V . H . D e n e n b e r g , > A n A tte mp t to I s o la te Cr itic a l P e r io d s o f D e v e lo p me n t i n R a t s < , i n : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e a n d P h y s io lo g ie n ! P s y c h o lo g y , 5 5 , 1962, S. 813 ff.
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unmittelbar auf die Gehirnentwicklung auswirkt.* Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler geschieht dies während besonderer Entwicklungsphasen. Auch besteht zwischen der stimulierten Körperzone und dem Wachstum des entsprechenden Gehirnareals eine direkte Beziehung. Bei geblendeten Ratten ist der mit der Sehfähigkeit verbundene Teil der Gehirnrinde verkümmert. Wenn ein Kind in der ersten Zeit seines Lebens keinen ausreichenden Körperkontakt oder nur mangelnde Pflege erhält, dürften diese Entbehrungen sich auf seine spätere Intelligenz tiefgreifender auswirken als jede formale Erziehung und Bildung. Erzieher sollten sich klarmachen, daß es nicht darauf ankommt, wie wir die Köpfe der Kinder mit Wissen füllen, sondern wie wir ihre Bedürfnisse erfüllen. Über die Frage des Körperkontakts liegen mittlerweile Tausende von Untersuchungen vor. Nachweislich sind »liebevoll« behandelte Ratten später ausgeglichener und weniger reizbar.**. Andererseits hat sich gezeigt, daß isolierte, ohne Körperkontakt lebende Ratten außerordentlich reizbar sind, wenn sie zum erstenmal in die »Gesellschaft« eingeführt werden. Wenn ihnen Chlorpromazin [Beruhigungsmittel] verabreicht wird, werden sie verträglicher.*** Um deutlich zu machen, wie wichtig Körperkontakt ist, möchte ich noch einige weitere Untersuchungen zitieren. Casler befaßte sich 1965 mit einer Gruppe von Heimkindern; über zehn Wochen hin gab er ihnen täglich eine zwanzig Minuten dauernde, körperlich stimulierende Behandlung.**** Bei anschließenden Tests stellte sich heraus, daß diese Kinder sozial angepaßter
waren als jene Kleinkinder, die nicht zusätzlich körperlich stimuliert worden waren. Die stimulierten Kleinkinder zeigten auch weit weniger Neigung, die
* J . T . T a p p u n d H . Ma r k o w itz , > I n f a n t H a n d lin g : E f f e c ts o n A v o id a n c e , L e a r n in g , B r a i n W e i g h t a n d C h o l i n e s t e r a s e A c t i v i t y < , i n : S c ie n c e , 1 4 0 , Ma i 1963, S. 486 f. * * L in d s le y v e r mu te t, d a ß f r ü h e D ep r iv a tio n d a s G le ic h g e w ic h t d e s W e c k z e n tr u ms im G e h ir n v e r ä n d e r t, j e n e s Z e n tr u ms , d a s d ie H ir n r in d e in Ric h tu n g s p e z if is c h e r A k tiv itä t h in o r g a n is ie r t. Mit g e r in g e r e r O r g a n is a tio n d e r H i r n r i n d e k o mmt e s s o mi t z u d if f u s e r e r , z u f ä l l i g e r R e i z b a r k e i t . B e i Menschen sprechen wir von »frei flottierender« Angst. Nach Lindsleys V e r mu t u n g i s t e i n w e n i g e r a u s g e b i l d e t e s u n d o r g a n i s i e r t e s G e h i r n a n f ä l l i g e r f ü r Ü b e r la s tu n g , s e lb s t b e i Re iz e n , d ie u n te r g e w ö h n lic h e n U ms tä n d e n n ic h t s c h ä d ig e n d w ä r e n . ( V g l. d ie A r b e it v o n D o n a ld L in d s le y ü b e r d ie F u n k tio n d e s r e tik u lä r e n A k tiv ie r u n g s s ys te ms im G e h ir n — N e u r o p s yc h ia tr ic Institute, UCLA.) * * * D a v i d S y mn e s v o m N a t i o n a l I n s t i t u t e o f M e n t a l H e a l t h h a t i n d e r T a t f e s t g e s t e l l t , d a ß i n I s o l i e r u n g a u f ge w a c h s e n e A f f e n e i n e n D e f e k t d e s r e tik u lä r e n A k tiv ie r u n g s s ys te ms h a b e n — d a ß e s c h r o n is c h ü b e r e r r e g t is t. E in A n z e ic h e n d a f ü r is t d e r Ma n g e l a n tie f e m ( w ir k ö n n e n h in z u f ü g e n »e r h o ls a me m«) , mit n ie d r ig e n H ir n s tr o mw e lle n e in h e r g e h e n d e n S c h la f . * * * * L . C a s l e r , > T h e E f f e c t s o f E xt r a T a c t i l e S t i mu l a t i o n o n a G r o u p o f I n s t i t u t i o - n a i i z e d I n f a n ts < , i n : G e n e tic P s y c h o lo g y M o n o g r a p h , 7 1 , 1 9 6 5 , S . 137-175.
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ihnen zugeführten Speisen wieder zu erbrechen. Eine für die Primärtheorie aufschlußreiche Untersuchung ist von Melzack und Scott durchgeführt worden.* Danach waren isoliert gehaltene Hunde nicht in der Lage, auf Schmerz normal zu reagieren. Die
gleiche Apathie hat Bowlby in seinen klassischen Untersuchungen an Heimkindern beschrieben.** Nach meiner These ist es außerordentlich schmerzerregend, wenn frühe Bedürfnisse über einen ungewöhnlich langen Zeitraum nicht befriedigt oder vernachlässigt werden; in solchen Fällen macht das Körpersystem aus Gründen des Selbstschutzes den Organismus unempfindlich gegen diesen Schmerz; dabei handelt es sich um einen mechanisch sich vollziehenden Vorgang. Es bedarf daher später einer erheblichen Menge an Stimulierung, um die Schutzbarriere zu durchdringen.*** Frühe Traumata können nicht nur die Empfindlichkeit für Schmerz dämpfen, sondern auch zu einer Form agitierten Verhaltens führen, das es dem Organismus nicht ermöglicht, längere Zeit Schmerz zu ertragen. Der Neurotiker hat das Bedürfnis, sich zum Schutz gegen den Schmerz immer mehr abzustumpfen. Es ist daher kein Wunder, daß Heimkinder den Anschein erwecken, als seien sie »tot«. Abschließend läßt sich sagen: die ständige Zunahme an Schmerz führt zu den meisten späteren Symptomen psychischer Störungen wie manische Erregung, katatone (bis zu völliger Lähmung gehende) Zustände und vom Druck des körperlichen Schmerzes verursachte Gedankenflucht. Der gleiche Druck äußert sich auch in Wahnvorstellungen und Halluzinationen – in einer Vorstellungsausweitung als Folge der Überschwemmung des Körpersystems mit Schmerz.
* R . M e l z a c k u n d W . R . T h o mp s o n , > T h e E f f e c t s o f E a r l y E x p e r i e n c e o n th e Re s p o n s e to P a in < , in : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e a n d P h y s io lo g ic a l P s y c h o lo g y , 5 0 , 1 9 5 7 , S . 1 5 5 - 1 6 1 . * * J . Bo w ib y, M a te r n a l Ca r e a n d M e n ta l H e a lth , W o r l d H e a l t h O r g a n iz a tio n Mo n o g r a p h S e r ie s , 2 , 1 9 5 1 .
* * * Ü b e r d ie s e E mp f in d u n g s lo s ig k e it s c h r e ib e n N e w to n u n d L e v in e : »D a d ie N e r v e n b a h n e n v o n d e r H a u t z u m Z e n tr a ln e r v e n s ys te m f r ü h e r z u f u n k tio n ie r e n s c h e in e n a ls a n d e r e s en s o r is c h e N e r v e n b a h n e n , a k tiv ie r t d ie S timu lie r u n g d e r H a u t e h e r a ls a n d e r e A r te n v o n S timu lie r u n g d a s K o o r d in a tio n s s ys te m ( f o r ma tio r e tic u la r is ) . « D a s h e iß t, d a ß g e r in g e r e S timu lie r u n g d ie T ä tig k e it d e s W e c k z e n tr u ms r e d u z ie r t. I c h f r a g e mic h , o b n ic h t d a s G e g e n te il d e r F a ll is t; d a ß n ä mlic h u n g e n ü g e n d e S timu lie r u n g e in e Ü b e r r e a k tio n d e s W e c k z e n tr u ms h e r v o r r u f t, u m a u f d ie s e W e is e d e n S c h me r z , d e s v e r n a c h lä s s ig te n Be d ü r f n is s e s a b z u m ild e r n . D a s G e h i r n w i r d in A la r mz u s ta n d v e r s e tz t, w e il d a s L e b e n b u c h s tä b lic h g e f ä h r d e t is t, w e n n d a s B e d ü r f n i s n ic h t b e f r i e d i g t w i r d . V g l . a u c h J . C . L i l l y , > M e n t a l E f f e c t s o f Re d u c tio n o f O r d in a r y L e v e ls o f P h ys ic a l S timu li o n I n ta c t, H e a lth y P e r s o n s < , i n : P s y c h i a t r i e R e s e a r c h R e p o r t s , 5 , 1 9 5 6 , S . 1 — 9 ; d ie o b e n a n g e s c h n i t t e n e F r a g e w i r d h ie r e i n g e h e n d b e h a n d e l t .
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Newton und Levine kommen nach Würdigung der großen Zahl von Untersuchungen über die Bedürfnisdeprivation zu dem Schluß: »Je höher die jeweilige Spezies auf der Evolutionsleiter steht, desto größer sind die vielfältigen Auswirkungen der Reizdeprivation.«* Das heißt, daß Menschen am stärksten unter frühen Versagungen zu leiden haben.
* Op. cit., S. 710
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9.
8 Die innere Umwelt
D ieses Kapitel ist möglicherweise schwer verständlich. Wer zu dieser Auffassung kommt, möge es überschlagen. Ich bin grundsätzlich der Ansicht, daß unser Körperinneres eine Art Milieu darstellt und daß diese »Umwelt« unsere Psyche genauso beeinflußt wie die äußeren Umstände. In unserem Körper herrscht ein empfindliches chemisches Gleichgewicht, dessen Aufrechterhaltung von gelungener psychischer Integration abhängt; dieses Gleichgewicht beeinflußt seinerseits unsere psychische Verfassung und unsere Verhaltensweisen. Es gibt eigentlich keinen Bereich, den man nur unter psychologischen Gesichtspunkten betrachten könnte. Bei der Untersuchung individuellen Verhaltens müssen wir psychophysiologisch vorgehen. Im Verlauf unseres Lebens auftretende körperliche und psychische Traumata beeinträchtigen das innere chemische Gleichgewicht, und diese Störung wiederum verändert unser psychisches Gleichgewicht. Je früher das Trauma auftritt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines dauernden chemischen Ungleichgewichts. Für gewöhnlich stellen wir uns das Körperinnere nicht als eine »Umwelt« vor. Doch die Vorgänge im Körperinnern übermitteln genauso wie äußere Ereignisse Signale an das Gehirn. Sensorische Rezeptoren in unserem Körper versorgen die Hirnzentren mit Informationen über das körperliche
Gleichgewicht, über die Körperstellung sowie über das Ausmaß und die Auftrittsstelle inneren Schmerzes. Körper und Gehirn bilden eine Einheit mit unauflösbaren Zwischenverbindungen. Das Gehirn ist auf richtige Informationen und auf richtige Körperfunktionen angewiesen, wenn seine Ingetrität nicht gestört werden soll. Im frühen Leben eintretende Veränderungen der inneren Umwelt können genauso langfristige Auswirkungen auf das Körpersystem haben wie von außen her erfahrene frühe Traumata. Bei jungen Tieren kann die Injektion von Sexualhormonen den Beginn der Pubertät beschleunigen. Bei neugeborenen Ratten führt die Verabreichung von Schilddrüsenhormon (Thyroxin) zu permanenter Ausschaltung der Schilddrüsenfunktion. In unserer Kindheit erfahrene psychische und körperliche Traumata können die innere Umwelt durcheinanderbringen und verzerren, indem sie zum Bei140
spiel die Schilddrüsenfunktionen beeinträchtigen. Ein Kind mit leichter Unterfunktion der Schilddrüse steht der Welt unter Umständen passiv, apathisch und lethargisch gegenüber und unterdrückt sein eigenes Selbst. Diese Einstellung wiederum kann die Schilddrüsenfunktion nachteilig beeinflussen, so daß ein Circulus vitiosus entsteht, bei dem das eine nicht die Ursache und das andere die Wirkung ist, sondern beide Ursache und Wirkung zugleich sind. Persönlichkeit und Körperfunktion verzahnen sich, werden eins, unter Umständen für das ganze Leben. Das Funktionieren des Gehirns hängt vom Hormonausstoß ab. Wenn man ganz jungen Ratten Schilddrüsenhormon verabreicht, wird die Gehirnentwicklung beschleunigt (früher eintretende Myelinisation). Sie öffnen ihre Augen früher als gewöhnlich und sind gegenüber ihrer Umgebung aufgeweckter als andere Ratten
in ihrem Alter. Diese Tieruntersuchungen sind deshalb von Bedeutung, weil sie erkennen lassen, daß frühe Erfahrungen (und innere Veränderungen sind Erfahrungen) zu tiefreichenden Dauerschäden führen können. Spätere Intelligenz- und Reifungsstörungen können das Ergebnis sehr früher unbeobachtbarer, ohne klinische Symptome verlaufender Beeinträchtigungen des Hormonausstoßes sein. Bei einigen unserer Patientinnen setzte die Menstruation erst ein, als sie fast zwanzig Jahre alt waren. Einige von uns behandelte Männer bekamen erst Bart- und Schamhaare, als sie bereits zwanzig und älter waren. Infolge von Primärtraumen, die unmerklich die Bildung von Wachstumshormonen beeinträchtigt hatten, waren viele unserer Patienten in ihrem Wachstum zurückgeblieben. (Diesen Punkt werde ich später ausführlich behandeln.) Levine schreibt über den Zusammenhang von Hormonen und Intelligenz: »Angesichts dieser Untersuchungsergebnisse wurde die Hypothese aufgestellt, daß infantile Stimulierung dem Organismus die Fähigkeit verleiht, die relevanten Aspekte der Umwelt genauer zu unterscheiden, einschließlich der Fähigkeit, auf Streß angemessen zu reagieren.«* Mit einem Wort, »realer« zu reagieren. Levine deutet damit an, daß der Hormonspiegel im Blutkreislauf unmittelbar auf die Gehirnentwicklung einwirkt. Nach Ansicht von Levine spielt dabei das Steroidhormon Adrenalin eine entscheidende Rolle: »Wir vermuten, daß dieser Unterschied (der Unterschied im Verhalten zwischen körperlich stimulierten und nichtstimulierten Tieren) die Funktion
* Op. cit., S. 49.
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bestimmter Wirkungsweisen des Steroidhormons Adrenalin [Nebennierenhormon] ist, das während sensitiver Perioden die Organisation des Zentralnervensystem permanent modifiziert (Hervorhebung durch den Verfasser).«* Nach meiner Auffassung beeinträchtigten alle kontinuierlichen und damit Gefühlsunterdrückung verursachenden Primärtraumata das Hormongleichgewicht, denn Hormone sind die biochemischen Vermittler von Gefühlen. Bei schweren Traumata dürfen wir durchaus hormonal bedingte spätere Erkrankungen erwarten, Krankheiten, die häufig als »psychosomatische« bezeichnet werden. Das gilt vor allem bei hereditärer Prädisposition für solche Leiden. Newton und Levine erklären zu den Experimenten, bei denen die innere Umwelt geändert wurde: »Diese durch sensorische Eingaben während solcher kritischer Perioden ausgelösten Ereignisse und ihre Auswirkungen dürften die neuronale [Nerven] Entwicklung zu Verbundmustern strukturieren, die relativ schwer umgebildet werden können, sobald sie erst einmal festgelegt sind.«** Kurz, wenn die Würfel gefallen sind, sind Änderungen äußerst schwierig. Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler beeinflussen Änderungen im Körpersystem das Gehirn und führen zu neuen Verbindungsmustern, zu »Fehlverbindungen« im Sinne der Primärtheorie. Diese neuen Bahnungen haben zur Folge, daß das Gehirn die korrekten psychischen Verbindungen umgeht, vor allem in Belastungssituationen, und so kommt es zu falschen Wahrnehmungen, neurotischen Verzerrungen und zur Unfähigkeit, richtig zu begreifen und genau zu unterscheiden. Diese Fehlverbindungen beeinträchtigen nicht nur das Denken und Wahrnehmen. Sie stören auch die Hormonproduktion, so daß
entweder zuviel oder zuwenig Hormon abgerufen wird. So werden zum Beispiel bei verminderter Produktion von Steroidhormonen gleichzeitig das Denken und das Handeln beeinträchtigt. In einem solchen Fall kann das Kind sich sagen: »Es hat gar keinen Sinn, es zu versuchen«, wenn es einer frustrierenden Situation ausgesetzt ist oder auf einen übermäßig aggressiven und auf Rivalität erpichten Spielkameraden trifft. Es weicht dann dem Konkurrenzkampf aus, fühlt sich schon vorher geschlagen und entwickelt unter Umständen ein Minderwertigkeitsgefühl, weil »alle es besser können als ich«. Aufgrund von Traumen werden Gehirnbahnungen umgeleitet, es kommt zu »Einschleifungen«, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
* Op. cit., S. 51. * * O p . c it. , S . 2 6 6 .
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daß die umgeleitete Bahnung erneut eingeschlagen wird; infolge dessen neigen falsche Vorstellungen und Wahrnehmungen dazu, sich zu verfestigen. Das heißt, in einem solchen Fall ist die Gehirn-Struktur weniger verzweigt, als daß sie mit Belastungen fertig werden könnte. Der Reaktionsspielraum ist eng »begrenzt«. Der Betreffende wird in seinem Verhalten rigide, ist reizabhängig und reagiert auf ähnliche Situationen immer wieder in der gleichen Weise. Er besitzt ein geringeres Repertoire an Reaktionsalternativen. Auf das Körperliche bezogen, können wir sagen, das Kind hat weniger Möglichkeiten, die es abrufen kann. Das wird ganz deutlich, wenn wir Störungen betrachten, die das
Kind hindern, Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, und bei denen aufgrund der durch ein frühes Trauma verursachten hohen Restspannung weite Bereiche des Denkens abgeschnitten sind. Dieses Spannungsniveau verhindert ruhiges und reflektives Denken; das Kind entwickelt vielleicht einen übermäßigen Bestätigungsdrang, befindet sich in ständiger Bewegung und ist kaum in der Lage, sich der Introspektion, der Selbstbeobachtung hinzugeben. Der Grund für diesen starken Bewegungsdrang ist möglicherweise kein schleichend um sich greifender Hirnschaden, sondern vielmehr ein frühes Trauma, der das Kind in chronische Spannung versetzt. Das Problem, um das es mir hier geht, läßt sich an den Untersuchungen von Diamond verdeutlichen. Diamond teilte Ratten in zwei Gruppen ein, von denen er eine in eine Umwelt setzte, die eine Vielfalt an Erfahrungsmöglichkeiten bot, während er der anderen Rattengruppe alle Stimulierungsmöglichkeiten entzog. Es zeigte sich, daß die an Erfahrungen reicheren Ratten einen starken kortikalen [Hirnrinden-] Blutstrom aufwiesen.* Der erhöhte Blutfluß stellt sicher, daß die Hirnrinde alle Nährsubstanzen erhält, die notwendig sind, wenn sie richtig funktionieren soll. Umgekehrt dürfen wir vermuten, daß die Hirnfunktionen beeinträchtigt werden, wenn angemessene Stimulierungen ausbleiben. Tiere in einer reizgesättigten Umgebung zeigen in Streßsituationen eine schnellere hormonale Reaktion. Sie sind in der Lage, auf Gefahr koordinierter und unverzüglich zu reagieren. Wenn wir überhaupt von »Ich-Stärke« sprechen wollen, dann sollten wir uns klarmachen, daß damit die Fähigkeit des gesamten Organismus gemeint ist, Belastungen zu ertragen und das Überleben zu sichern.
* M. C. D ia mo n d , D . K r e c h u n d M. R. Ro s e n z w e ig , > T h e E f f e c ts o f a n E n r ic h e d E n v ir o n me n t o n th e H is to lo g y o f th e Ra t Ce r e b r a l Co r te x < in : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e Ne u r o lo g y , 1 2 3 , 1 9 6 4 , S . 1 1 1 - 1 1 9 .
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Unter »Ich-Stärke« sollten wir nicht irgend etwas Vages wie »Verstandes-Stärke« verstehen. Hamnett hat in einer Untersuchung auf das Zusammenspiel von Drüsen und früher Stimulierung aufmerksam gemacht.* Er experimentierte mit zwei Gruppen von Ratten, denen er die Schilddrüse und die Nebenschilddrüse entfernte. Eine Gruppe wurde häufig gestreichelt und berührt, die andere nicht. Innerhalb von zwei Tagen starben fast 80 Prozent der nicht-gehätschelten Ratten. Von den häufig gestreichelten Tieren gingen nur 13 Prozent ein. Aus dieser Untersuchung darf man den Schluß ziehen, daß richtige Stimulierung zur rechten Zeit die Widerstandkraft gegen den Ausfall des Drüsensystems stärkt. Es scheint, daß der Körper fast jeder Unbill widerstehen kann, wenn nur seine Bedürfnisse befriedigt werden. Es dürfte auf der Hand liegen, daß Hormonausfälle nicht im luftleeren Raum auftreten. Für derartige Störungen sind zwar psychische Traumata verantwortlich, zumindest können sie dazu beitragen, doch wie weit ihre Auswirkungen gehen, hängt auch vom psychischen Zustand des Betroffenen ab. Primäre Befriedigung dürfte eine wesentliche Abwehrkraft selbst gegen angeborene Störungen im Hormonhaushalt darstellen. Über den Zusammenhang zwischen früher Bedürfnisversagung, traumatischen Belastungen und Wachstumsverzögerungen sind eine Reihe von Untersuchungen angestellt worden. 1947 wurden 100 für ihr Alter abnorm klein geratene Kinder untersucht. In der Hälfte der Fälle fand sich für diese Wachstumsverzögerung keine erkennbare körperliche Ursache. Doch viele dieser Kinder hatten
die erste Lebenszeit unter höchst widrigen Umständen verbracht; sie waren von einem oder beiden Elternteilen in starkem Maße abgelehnt worden. Daraus zog man den Schluß, daß die Kinder unter einem auf emotionalem Wege entstandenen Defekt der Hypophyse [Hirnanhang] litten. Eine Untersuchung an deutschen Waisenkindern erbrachte ähnliche Ergebnisse.** Kinder, für die eine freundliche Pflegerin sorgte, wuchsen besser als Kinder, die eine Pflegerin hatten, die auf strikte Disziplin hielt. Wir dürfen annehmen, daß die Hypophyse bei emotionalen Störungen eine entscheidende Rolle spielt und daß viele von uns aufgrund einer traumatisierenden Kindheit nicht ihre volle Größe erreicht haben. Primärtherapeutische Patienten zwischen 20 und 30 Jahren berichten uns, sie seien nach-
* F . S . H a mn e t t , > S t u d ie s i n t h e T h y r o id A p p a r a t u s < , i n : E n d o c r in o lo g y , 6 , 1922, S. 222-229. * * L . I . G a r d n e r , > D e p r iv a tio n D w a r f is m, in : S c i e n t i f i c A m e r i c a n, J u l i 1972.
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träglich um zweieinhalb bis dreieinhalb Zentimeter gewachsen. Dies läßt sich an rund einem Dutzend von uns behandelter Fälle nachweisen. Robert Blizzard kam bei seiner Forschungsarbeit zu den gleichen Ergebnissen.* Die im Gehirn gespeicherten schmerzlichen Erlebnisse können sich unter Umständen auf das Wachstumszentrum im Gehirn auswirken. Ich möchte noch einmal betonen, daß Flachbrüstigkeit und kleiner Körperwuchs an sich noch kein Unglück bedeuten, doch sie können auf schwerwiegende Blockierungen im endokrinen System hindeuten, die später zu katastrophalen Erkrankungen führen.
Vor kurzem ist ein Zusammenhang zwischen dem Ausstoß von Wachstumshormonen und der Art und Weise unseres Schlafens entdeckt worden. Untersuchungen an der University of Edinburgh haben ergeben, daß die Gesamtmenge der von Kindern in der Nacht abgesonderten Wachstumshormone größer ist als während des Tages. Bei Erwachsenen findet die Absonderung von Wachstumshormonen vorwiegend während der beiden ersten Schlafstunden statt. Wenn der Betreffende nicht einschlafen kann, werden keine Wachstumshormone abgesondert. Honda und seine Mitarbeiter sind er Ansicht, daß die Aktivität des Cortex cerebri [Hirnrinde] die Sekretion von Wachstumshormonen hemmt. Umgekehrt scheint tiefer erholsamer Schlaf die Absonderung von Wachstumshormonen zu fördern.** In diesem Zusammenhang sind wir nicht sicher, ob geistige Überaktivität, die keinen ausreichenden Schlaf gestattet, bei einem Kinde dazu beiträgt, sein Wachstum zu verlangsamen, doch wir halten dies nicht für unmöglich. Um es zu wiederholen: innere Spannung hält den Verstand, die geistige Tätigkeit nicht einfach in Gang, so daß kein Schlaf möglich ist; vielmehr beeinträchtigt dieselbe Spannung, welche die Geistestätigkeit antreibt, auch das endokrine System. Mehr noch, die Lage wird obendrein dadurch verkompliziert, daß
* Zu Robert Blizzards Untersuchungen siehe Der Urschrei, Frankfurt am Ma in 1 9 7 3 , S . 1 6 0 . P a tto n u n d G a r d n e r s in d d e r A u f f a s s u n g , e s mü s s e p h ys io lo g is c h e Ba h n u n g e n g e b e n , ü b e r d ie e mo tio n a le S tö r u n g e n E in f lu ß a u f d a s e n d o k r in e S ys te m n e h me n : »I mp u ls e v o n d e n o b e r e n G e h ir n z e n tr e n w a n d e r n a u f N e r v e n b a h n e n z u m H y p o t h a l a mu s u n d b e e i n f l u s s e n d a n n mi t t e l s e i n e s n e u r o h u mo r a le n Me c h a n is mu s d ie H yp o p h ys e . U n te r s u c h u n g e n ü b e r d ie v o m H yp o th a la mu s a b g e s o n d e r te n > A u s lö s ef a k to r e n < , d ie ih r e r s e its d e n H yp o p h ys e n v o r d e r la p p e n z u r S e k r e tio n v e r s c h ie d e n e r N e r v e n h o r mo n e
v e r a n la s s e n , h a b e n e r g e b e n , d a ß Z en tr e n im H yp o th a la mu s e in e n g r o ß e n E in f lu ß a u f d ie H ir n a n h a n g d r u s e a u s ü b e n . « ( S c i e n t i f i c A m e r i c a n , o p . c it, S . 7 9 ) . D ie V e r f a s s e r w e is e n d a r a u f h in , d a ß f a s t d a s g e s a mte Blu t, d a s z u r H y p o p h y s e s t r ö mt, z u n ä c h s t d e n M i t t el h ö c k e r d e s H y p o t h a l a mu s p a s s i e r t . * * S c i e n t i f i c A m e r i c a n, o p . c i t . , S . 8 1 .
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Geistestätigkeit ihrerseits die Hormonabsonderung stimuliert oder hemmt. Und somit kann ein Geburtstrauma vielerlei bewirken: Es hinterläßt im Kind eine hohe Restspannung, die seine Geistestätigkeit antreibt, und es beeinträchtigt die Funktionen des endokrinen Systems. Das ursprüngliche Trauma allein mag keine Veränderungen im Wachstumsprozeß herbeiführen, doch dieses Trauma im Verein mit schwerer primärer Deprivation (Mangel an Zärtlichkeit, Verständnis und Zuneigung) kann durchaus derartige Störungen nach sich ziehen. Wie ich bereits angedeutet habe, greifen Streß und Spannung in den tageszeitlichen Rhythmus der Hormonsekretion ein. Ein Neurotiker, der für gewöhnlich am Morgen eine erhöhte Menge an Steroidhormonen absondert, die ihn instand setzt, die Last des Tages zu ertragen, und dessen Sekretion am Abend absinkt, kann unter Umständen bis in die Nacht hinein eine gleichbleibend hohe Menge an Steroidhormonen absondern. Allein dieser Umschwung kann das Wachstum hemmen. Ärzte haben bereits seit langem beobachtet, daß Kinder, die über einen längeren Zeitraum hin Steroidhormone erhalten, in ihrem Wachstum zurückbleiben. Über diesen wachstumshemmenden Prozeß hinaus wird das Immunsystem angegriffen, mit dem Resultat, daß die Anfälligkeit des Kindes für bestimmte Krankheitsformen erhöht wird. Aus all diesen Erwägungen wird ersichtlich, wie kompliziert der Begriff »Persönlichkeit« ist. Ein Kleinkind, das sein Leben mit
einem hohen Steroidhormon-Spiegel beginnt, kann empfänglicher für Infektionen sein und sich folglich zu einem »kränkelnden« Kind entwickeln. Ein solches Kind stellt höhere Anforderungen als andere, mag daher für die Eltern eher eine Zumutung denn ein Liebesobjekt darstellen. Das Kind fühlt sich dann abgelehnt, steht unter höherer Belastung, wird krankheitsanfälliger, neigt zu Infektionskrankheiten, und damit gerät es in einen verhängnisvollen Kreislauf. Weitaus deutlicher können wir den Zusammenhang zwischen dem Zustand körperlicher Systeme und ausreichender oder nichtausreichender primärer Stimulierung nachweisen. Früher Körperkontakt fördert das Immunsystem. Durch körperliche Berührung stimulierte Ratten haben nach einer Immunisierung einen höheren Gehalt an Antikörpern im Blut als nicht-stimulierte Ratten. Inzwischen dürfte einleuchten, daß es sich bei dem Nervensystem um ein organisiertes, integriertes System handelt. Im Falle eines 146
Traumas ist das System nicht mehr zu einer reibungslosen Integrierung imstande; diese Beeinträchtigung kann weitreichende Folgen haben und unter anderem zu desorganisiertem Verhalten (Mangel an Koordination) und Denken führen. Mit einem frühen Trauma verbundene leichte Schwankungen in der Hormonsekretion können über Jahre hin folgenlos bleiben. Doch sie begründen eine Anfälligkeit für Krankheiten, so daß wir nach Jahren der Belastung organische Zusammenbrüche und auf hormonale Störungen zurückzuführende Krankheiten beobachten können. Die Vermeidung von Traumen wie Beschneidung in den ersten sechs bis neun Monaten – in einer Zeit also, in der weite
Bereiche des Gehirns sich entwickeln – ist nach meiner Ansicht von ganz entscheidender Bedeutung. In den ersten Lebensmonaten bilden sich zu viele Körperfunktionen aus, als daß plötzliche Wohnungs- und Zimmerwechsel, Neuanschaffungen von Kinderbettchen angebracht wären. Einige schmerzliche Erfahrungen wie geringfügige Operationen können besser ertragen und in das Körpersystem integriert werden, wenn die Fähigkeit vorhanden ist zu verstehen, was da vor sich geht. Wir können uns klarmachen, welch eine nachhaltige Wirkung selbst ein vergleichsweise harmloses Trauma in den ersten Lebensmonaten ausübt, wenn wir eine leichte Gehirnverletzung bei der Geburt mit einer ähnlich gelagerten Schädigung in der Adoleszenz vergleichen. Das Ausmaß an Verletzungen, das im Alter zwischen zehn und zwanzig die Denkfähigkeit nur geringfügig beeinträchtigen mag, kann während der Integrationsprozesse des Gehirns in der frühen Kindheit verheerende Folgen haben. Der plötzlich und ohne erkenntliche Ursache auftretende Tod von Kleinkindern (Tod im Kinderbett) läßt sich womöglich auf Panikgefühle zurückführen, von denen das Kind überschwemmt wird, wenn es mit einer völlig fremden Person allein gelassen oder in ein ihm unbekanntes Zimmer verlegt wird. Nach meiner Ansicht wirkt es auf ein Kind traumatisierend, wenn es von einem Babysitter die Flasche erhält, während die Eltern im Urlaub sind. Die Mutter muß während der entscheidenden ersten acht oder neun Monate ständig bei ihrem Kind sein. Darin besteht das Wesen der Mutterschaft, und Frauen sollten es sich zweimal überlegen, ehe sie diese Rolle übernehmen. Vom Büro eines Leichenbeschauers erhielt ich ein Informationsschreiben folgenden Inhalts: »Sicherlich wissen Sie, daß diese (kindlichen) Todesfälle bei augenscheinlich normalen, gesunden Klein-
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kindern aus jeder sozioökonomischen Schicht auftreten. Nach unseren Feststellungen treten diese Todesfälle nur auf, wenn das Kind allein gelassen wird (Hervorhebung durch den Verfasser), sei es für kurze Zeit, etwa wenn die Mutter ein Nickerchen macht, oder für die ganze Nacht. Unseres Wissens ist es in Gegenwart eines Elternteils noch nicht zu einem Tod im Kinderbett gekommen.« Es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß das Kind von Angstgefühlen überflutet wird, wenn es allein gelassen wird; es kann gegen diese Gefühle nichts tun, außer sie über sich ergehen zu lassen, und da es sich gegen diesen Gefühlsansturm nicht verschließen kann, kann der Tod eintreten. Selbst wenn das Kind nicht sterben sollte, dürfte es klar sein, welch ein gravierendes Trauma es für das Kind bedeutet, sich selbst überlassen zu bleiben. Warum stirbt das eine Kind, ein anderes nicht? Es mag sein, daß mit dem Geburtstrauma der Grund für eine bestimmte Verletzlichkeit gelegt wird. Wie ich weiter oben bemerkt habe, wirkt sich Sauerstoffmangel bei der Geburt primär auf die Zellen des zum Gehirn gehörigen Hippocampus aus. Der Hippocampus seinerseits ist die für die Ausschaltung von Schmerz zuständige Vermittlungsstelle im Gehirn. So kann es durchaus sein, daß sich eine leichte Schädigung seiner Nervenzellen erst dann bemerkbar macht, wenn es zu einer Überlastung durch Panikgefühle kommt; in einem solchen Falle funktioniert der Hippocampus nicht so, wie es nötig wäre.
Der Hormonostat
Einige Forscher sind der Ansicht, das Gehirn verfüge über einen »Hormonostat«, der die Hormonzirkulation auf einem bestimmten Niveau hält.* Belastung verändert dieses Niveau und führt dazu, daß ständig zuviel oder zuwenig Hormon abgesondert wird. Der Hormonostat registriert zum Beispiel, ob der gegenwärtige Steroidhormon-Spiegel, sagen wir im Alter von sechs Jahren, dem bei der Geburt auf einer bestimmten Höhe festgelegten Niveau entspricht. Wenn der Hormonspiegel zu hoch ist, wird automatisch die Sekretion von ACTH-Hormon verringert, in ganz ähnlicher Weise, wie ein Thermostat in einer Wohnung die Wärme entsprechend der vorher gewählten Temperatur reguliert. Wenn das vorher festgelegte
* S e y mo u r L e v i n e , > A n E n d o c r i n e T h e o r y o f I n f a n t i l e S t i mu l a t i o n < i n : A . A mb r o s e , S tim u la tio n in E a r ly I n fa n c y , A c a d e mic P r e s s , N e w Y o r k 1 9 6 9 .
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Niveau des Steroidhormon-Spiegels zu hoch liegt, wenn folglich spätere Reaktionen auf Streßsituationen keinen angemessenen Bezugspunkt haben, dann kommt es zu einer chronischen Übersekretion von ACTH. (ACTH ist ein Streß-Hormon, das den Körper zur Mobilisierung befähigt, wenn es darum geht, sich in bedrohlichen Situationen zu behaupten.) Die davon betroffene Person mag dann in ihrer allgemeinen Verfassung als »überspannt« erscheinen. Häufig wird dafür ein genetischer Faktor verantwortlich gemacht, während es sich in Wirklichkeit um das Ergebnis eines frühen Traumas handelt. Eine große Zahl von Tierexperimenten scheint die Existenz eines solchen Hormonostat zu bestätigen. Bei Ratten, die in den ersten Lebenswochen nicht ausreichend körperlich stimuliert wurden, ist die Bandbreite der ACTH-Absonderung gering, im Gegensatz zu
häufig stimulierten Ratten, die einen größeren Sekretionsspielraum aufweisen. Abgeflachte Affekte (wie man sie bei schwer gestörten Menschen findet) scheinen nachgerade die Folge eines »abgeflachten« Hormonausstoßes zu sein. Das heißt nicht unbedingt, daß die allgemeine Hormonabsonderung gering ist, sondern vielmehr, daß der Körper nicht in der Lage zu sein scheint, auf emotional getönte Situationen in irgendeiner Weise flexibel zu reagieren, weil er bereits überreaktiv ist (nämlich auf ein frühes ungelöstes Trauma reagiert). Der Hormonostat macht sich noch auf andere Weise bemerkbar. Bei zu niedriger Einstellung besteht die Gefahr, daß der Organismus nicht genügend Energie erhält. In einem solchen Falle ist das allgemeine Triebniveau gering; wir haben dann die sogenannte »passive« Persönlichkeit vor uns. Dies ist eine Persönlichkeit, die sich nicht dazu aufraffen kann, irgend etwas zu tun. Sie kann sich innerlich nicht organisieren und in Bewegung treten. Ihre sexuelle Triebkraft ist gering, nicht nur infolge sexueller Hemmungen, sondern weil der Sexualtrieb auf gewisse Weise vom allgemeinen Energiepotential abhängig ist. Der Sexualtrieb ist nicht losgelöst von den allgemeinen Funktionen des Körpersystems. Der Gedanke ist nicht abwegig, daß die späteren Sexualfunktionen eines Menschen durch Ereignisse geprägt werden, die sich bei der Geburt abspielen. Bislang habe ich über den Hormonostat nur in allgemeinen Begriffen gesprochen. Die bisher vorliegenden Untersuchungen deuten darauf hin, daß der Hormonostat seinen Sitz in einer spezifi149
schen, uns als Hypothalamus bekannten Gehirnstruktur hat. Der Hypothalamus ist tief in das Gehirn eingebettet und fast
vollständig vom Limbischen System umgeben. Das Limbische System ist ein Ring von Nervenstrukturen, der unter anderem Urschmerz speichert und dämpft. Somit hat gespeicherter Schmerz fast unmittelbaren Zugang zum Hypothalamus, jener für die Regulierung des Hormonhaushalts entscheidenden Gehirnstruktur. Ein sich ständig erneuernder primärer Hirnstromkreis beeinflußt unmittelbar und kontinuierlich die Hormonsekretion und hat entweder Überstimulierung oder Insuffizienz zur Folge. Wir haben Beweise dafür, daß kleinere Bereiche des Hypothalamus ständig stimuliert werden können, ohne daß sie in eine refraktäre Phase eintreten (das heißt reizunempfindlich werden), wie das bei den meisten anderen Gehirnstrukturen der Fall ist. So kann es zum Beispiel vorkommen, daß die Sekretion bestimmter Magensäfte ständig stimuliert wird, was unter Umständen zu Magenleiden führt. Dennoch können ernsthafte Magenbeschwerden wie Geschwüre drei oder vier Jahrzehnte ausbleiben, weil ein Organ bisweilen erst nach ständigen schweren Attacken Ausfallerscheinungen zeigt. Was den Hypothalamus betrifft, so erscheint es wichtig, daß zwischen ihm und dem Kortex nur sehr wenige feste und direkte Nervenbahnen bestehen. Die von Hypothalamus ausgehenden Informationen werden vielmehr vom Limbischen System aufgefangen. Das heißt, das Körpersystem kann beständig hormonal stimuliert werden, ohne daß der denkende Teil des Gehirns, der Kortex, dessen gewahr würde; ja, selbst wenn er diese Stimulierung wahrnähme, hätte er keine Möglichkeit, den Hormonfluß zu unterbinden. Der Hypothalamus ist der für die Umwandlung von Gefühlen in körperliche Realitäten zentrale Gehirnbereich. Er ist der Vermittler zwischen Psyche und Körper. Seine Aufgabe ist die Regulierung vieler lebenswichtiger Systeme, einschließlich der Binnentemperatur des Körpers. Soweit wir wissen, ist der
Hypothalamus der einzige Teil des Nervensystems, der Hormone absondert. Er gibt die als »Auslöse-Faktoren« bezeichneten Hormone ab. Diese Hormone kontrollieren die Hormonostasis (das Hormongleichgewicht) des Körpers; man kann sie mithin zu Recht als Hormonostat bezeichnen. Aufgrund der Tatsache, daß der Hormonostat auf so komplizierte Weise an die Gefühlskreisläufe des Gehirns angeschlossen ist, bin ich der Auffassung, daß Kindheits-Traumata sein Regulations150
niveau dauerhaft verändern können. Die bei primärtherapeutisch behandelten Patienten anschließend immer wieder feststellbare Verringerung der Körperbinnentemperatur ist nur ein Hinweis dafür, daß es nach der Wiederbelebung und Auflösung von Kindheits-Traumata in einem entscheidenden Bereich zu einer Korrektur des Regulationsniveaus gekommen ist. Umgekehrt scheint es, daß die Körpertemperatur bei Neurotikern infolge von Urschmerz ständig erhöht ist und daß aufgrund dessen das Körpersystem höheren Anforderungen ausgesetzt ist. Das inzwischen vorliegende Beweismaterial berechtigt uns zu der Annahme, daß die von der Hypophyse (einer kleinen Ausbuchtung unterhalb des Hypothalamus) abgesonderten Wachstumshormone in erster Linie der Kontrolle des Hypothalamus unterliegen. Damit haben wir auch hier wieder eine Erklärung dafür, wie leicht das Wachstum durch Veränderungen des Regulationsniveaus in der ersten Lebensphase gehemmt werden kann. Und so beobachten wir denn auch bei primärtherapeutischen Patienten nach Behandlungsabschluß ein schwaches Gewebewachstum. Die Sekretion des Hypothalamus beeinflußt vor allem die Schilddrüse, die einen wichtigen Bestandteil des gesamten
hormonalen Systems bildet. Funktionsstörungen der Schilddrüse sind in der Bevölkerung weit verbreitet; sie sind mitverantwortlich für die Verminderung des Energiepotentials, von der ich weiter oben gesprochen habe, ferner für trockene Haut, für Veränderungen in der Haartextur sowie im allgemeinen Körperbild und, in besonders schweren Fällen, für Hirnschädigungen. Auch hier wieder stellen wir fest, daß viele primärtherapeutisch behandelte Patienten, die täglich vier bis fünf Gran Thyreoidin erhielten, um schwere Unterfunktionen der Schilddrüse auszugleichen, nach Abschluß der Behandlung nicht mehr auf solche stützenden Maßnahmen angewiesen sind; und medizinische Untersuchungen haben tatsächlich eine Änderung der Schilddrüsensekretion ergeben. Nach meiner Vermutung ist auch diese Änderung auf eine Korrektur des oben erwähnten Regulationsniveaus zurückzuführen.* Die Auslöse-Faktoren beeinflussen auch die Geschlechtsdrüsen und die Nebennieren. Wir dürfen annehmen, daß der im Limbischen System gespeicherte und aufgrund fehlenden Zugangs zur Groß-
* E i n e a u s g e z e i c h n e t e E r ö r t e r u n g d ie s e s Z u s a mme n h a n g s f i n d e t s i c h b e i R o g e r G u i l l e min u n d R o g e r B u r g u s , > T h e H o r mo n e s o f t h e H y p o t h a l a mu s < , in : S c i e n t i f i c A m e r i c a n , N o v e mb e r 1 9 7 2 .
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hirnrinde in Spannung verwandelte Urschmerz in den Hypothalamus zurückgeleitet und womöglich von dort an die Geschlechtsdrüsen weitergegeben wird und somit eine ständige sexuelle Stimulierung erzeugt. Der Neurotiker fühlt sich dann ständig »geil« und gibt sich entweder zwanghafter Masturbation oder sexueller Aktivität hin. Ausgelöst wird in diesem Falle die
Umwandlung von Spannungsschmerz in sexuelle Empfindungen. Umgekehrt kann eine Veränderung des Auslöse-Faktors die Sexualempfindungen hemmen. Es kann auch geschehen, daß die Schmerzenergie Zugang zum Appetitzentrum findet; dann neigt der Betreffende bei auftretender Spannung eher zu zwanghaftem Essen als zu sexueller Betätigung. Sobald das Regulationsniveau erst einmal dauerhaft verändert ist, verspürt der Betreffende in Spannungszuständen stets Hunger, ohne gewöhnlich den Grund zu kennen. Bei Funktionsstörungen der Nebenniere wird die Absonderung von Steroidhormonen ausgelöst (oder gehemmt). Bei den Steroidhormonen handelt es sich um Streßhormone, deren Funktion Hans Selye in einer Reihe von Büchern in bemerkenswerter Klarheit dargestellt hat. Die Absonderung von Steroidhormonen beeinflußt letztlich das Wachstum. Doch darüber hinaus wird auch die Struktur der Knochen in Mitleidenschaft gezogen (sie werden porös und bruchanfällig), es bilden sich Fettablagerungen mit Begleiterscheinungen wie aufgedunsene »Mondgesichter« und Buckel, der Gehalt an weißen Blutkörpern verändert sich, mit dem Ergebnis, daß die betroffene Person empfänglicher wird für Allergien wie für Infektionen, und schließlich gerät das Gleichgewicht an männlichen und weiblichen Hormonen durcheinander, eine Störung, die zu Erscheinungen wie übermäßigem Haarwuchs bei Frauen führt. Mangel an Steroidhormonen kann eine der Ursachen für die häufig mit Depressionen einhergehende Addisonsche Krankheit sein, wie umgekehrt bei einem Überschuß die Cushingsche Krankheit und nicht selten manische Zustände auftreten. Daran mag man die Wirkungsbreite von hormonostatischen Schwankungen ermessen. Es erscheint mithin fast als ein Wunder, daß häufig Jahre vergehen können, ehe Krankheiten wie Hypoglykämie [abnorm geringer Zuckergehalt des Blutes] und Diabetes aufbrechen. Urschmerzen verursachen nicht nur Veränderungen in Körperbau und -Struktur, sondern gleichzeitig auch die entsprechenden
psychischen Veränderungen. Mit anderen Worten, wer »nicht in Ordnung« oder verschroben aussieht, ist wahrscheinlich auch psychisch in einer ähnlichen Verfassung. 152
Damit nicht genug: der Hypothalamus hat auch entscheidenden Einfluß auf die Körperfunktionen der Mutter. So legt er die Milchmenge fest, die eine Mutter beim Stillen zur Verfügung hat; ferner hängt von ihm die Art und Weise der Menstruation ab. Nicht zuletzt spielt der Hypothalamus bei der Frage eine Rolle, ob eine Frau schwanger wird oder nicht. Für gewöhnlich macht ein Mensch mit erhöhtem hormonalen Regulationsniveau einen »überspannten« Eindruck. Wird seine starke innere Spannung aufgrund besonderer Lebensumstände (etwa mütterliche Verführungstendenzen - im Unterschied zur zwanghaften Überfütterung) in den sexuellen Bereich kanalisiert, dann entwickelt er später unter Umständen eine sexuelle Überaktivität. Das läßt sich damit erklären, daß die Sexualfunktionen einen Bestandteil der allgemeinen emotionalen Reaktionsbereitschaft des Organismus bilden und daß der Hormonostat die Stärke unserer Emotionen determiniert. Wir erkennen also, daß die Ursache für Hypersexualität nicht in einem reinen Sexualtrieb zu suchen ist, sondern daß wir es vielmehr mit inneren Spannungen zu tun haben, die über den Hypothalamus in sexuelle Kanäle abgeleitet werden. Sexualität bietet die Möglichkeit zur Spannungsabfuhr. Der Versuch, sexuelle Störungen wie Nymphomanie oder Satyriasis [abnormer Geschlechtstrieb beim Manne] lediglich als Abirrungen des Sexualtriebs zu behandeln, ist zum Scheitern verurteilt, weil derartige therapeutische Maßnahmen nur die Abfuhrwege angehen und nicht zu den Ursachen vorstoßen.
Ein Mensch mit hohem Regulationsniveau, dessen frühe familiäre Umwelt nur wenige Abfuhrmöglichkeiten gestattete (beispielsweise aufgrund der religiösen, rigiden Einstellung der Eltern), verharrt in seiner inneren »Überspanntheit« und entwickelt als Folge davon chronische Ängste. In einem solchen Falle besteht die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines psychischen Zusammenbruchs zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr. Leute mit hohem Regulationsniveau vermitteln den Eindruck, als verfügten sie über große Energiereserven; und tatsächlich ist das auch der Fall. Sie schöpfen ihre Energien aus einem Körpersystem, das ständig auf hohen Touren läuft, um Schmerz abzuwehren. Einige richten ihre Energien auf sexuelle Aktivitäten, andere auf geschäftliche. Der »Überenergische« findet gewöhnlich einen Weg, seine Antriebskräfte abzuleiten. Nur wenn die Abfuhrwege blockiert werden, verwandelt sich die Spannung in den ihr zugrunde 153
.liegenden realen Schmerz. Solange noch Abfuhrwege offenstehen, kommt der Betreffende nicht auf den Gedanken, daß er unter dem Einfluß von Schmerz oder überhaupt unter Spannung steht — er fühlt sich lediglich energiegeladen. Zur Klärung der Frage des Energieniveaus können wir auf die Begriffe prototypisches Trauma und prototypische Abwehr zurückgreifen. Einer unserer Patienten machte kürzlich ein Geburtstrauma durch, bei dem er sich schließlich des Eindrucks nicht erwehren konnte, als würden gewaltige Energien in ihm freigesetzt. Anschließend verspürte er wirklich Energie. Das während des Urtraumas aufsteigende Gefühl, das er von da an ausagierte, läßt sich in die Worte fassen: »Da geschieht nun so viel mit mir, und ich kann mich nicht bewegen - ich kann nichts
dagegen tun.« Da er fast einen ganzen Tag lang im Geburtskanal festgehalten wurde, »gab« er schließlich »auf«, resignierte und setzte sich nicht länger zur Wehr. Später entwickelte er sich zu einer von Resignation und Lethargie erfüllten Persönlichkeit. In jeder Streßsituation fühlte er sich wie erstarrt. Das heißt, unter Belastung wurde die ursprüngliche und reale Bewegungslosigkeit, die seine Energien aufgezehrt hatte, wieder aktiviert, und dann hatte er das Gefühl, er sei unfähig, sich aufzuraffen, um irgend etwas zu unternehmen. Wenn er während eines Semesters für zwei Seminare schriftliche Arbeiten anfertigen sollte, konnte er sich nicht aufraffen, die Aufgaben in Angriff zu nehmen. Als er später Leihwagen-Schulden zu bezahlen hatte, war er nicht in der Lage. sich einen Job zu suchen oder .überhaupt irgend etwas zu tun. Er konnte sich »nicht bewegen«. In diesem Zusammenhang dürfen wir annehmen, daß das frühe Trauma seinen Hormonostat gravierend beeinträchtigte und ihn aller Kraft beraubte. Unter Streß griff er zu Rationalisierungen wie: »Es lohnt sich ja doch nicht.« Seine »passive« Persönlichkeit beruhte zumindest teilweise auf einem drastisch verminderten Energieniveau. Er hatte eine passive Einstellung zu seiner Umwelt, und die Umwelt wiederum verstärkte seine Passivität. Er traf nämlich auf Menschen, die ihn anleiteten und ihm sagten, was er tun solle, fand Leute, die ihm Ratschläge gaben und einen dominierenden Einfluß auf ihn hatten. Vereinfacht ausgedruckt, scheint es, als stelle das Leben nur eine Rationalisierung für unsere Konstitution dar. Die von dem Patienten zeit seines Lebens entwickelten Vorstellungen waren offensichtlich in starkem Maße von den Ereignissen zu Beginn seines Lebens abhängig. Vorstellungen und Begriffe sind weitge154
hend Abkömmlinge der gesamten Physiologie, und es hat wenig Sinn, die Vorstellungen eines Menschen über bestimmte Dinge
ändern zu wollen, solange man nicht gleichzeitig daran geht, seine gesamtkörperliche Verfassung zu ändern.* Wir wollen uns nun vor Augen führen, wie eine unter Streß eintretende spezifische Hormonstörung die von mir erwähnte Passivität beeinflußt und selbst von dieser Passivität beeinflußt wird. Das Gehirnhormon Norepinephrin scheint bei der Fähigkeit zu aktiven, mit Bestimmtheit geäußerten Reaktionen eine entscheidende Rolle zu spielen. Zu geringe Mengen dieses Hormons (»Neurotransmitter« genannt) können zu Passivität und in schweren Fällen zu Depressionen führen. Für Untersuchungszwecke hilflos gemachte und dann mit Stromstößen geschockte Tiere wiesen einen Abfall im Norepinephrin-Spiegel auf. Wenn sie Gelegenheit erhielten, sich auf der unter Strom stehenden Bodenplatte des Käfigs zu bewegen, stieg der Hormonspiegel an. Nach meiner Ansicht liegt in der Art des Geburtstraumas der Grund dafür, warum in einem Fall der Norepinephrin-Spiegel hoch, im anderen Fall niedrig ist; somit entscheidet das Geburtstrauma darüber, ob sich später Passivität oder Aktivität als charakteristische Reaktionsweisen herauskristallisieren. Wenn der Fötus über Stunden im Geburtskanal eingeklemmt ist, ohne jede Möglichkeit, sich zu bewegen, oder wenn er durch die Nabelschnur stranguliert wird, so daß Bewegung den Tod bedeutet, dann kommt es zu einer erhöhten Sekretion von Epinephrin. Dieser Neurotransmitter wirkt als Ausgleichssubstanz gegenüber dem Norepinephrin, das heißt, er mobilisiert im Körpersystem Energien für Flucht- oder Kampfreaktionen. Ein von Angst gelähmter, innerlich starrer, rigider Mensch hat einen erhöhten Norepinephrin-Spiegel. Ich vermute jedoch, daß Rigidität als ein Charakterzug mit Beginn des Lebens einsetzt, zu einem Zeitpunkt also, wo rigide und unbeweglich sein (im Geburtskanal) eine Frage von Leben oder Tod ist. Somit handelt es sich bei der später neurotisch werdenden Rigidität um eine frühe prototypische
Anpassungsreaktion. In diesem Sinne war zu einem früheren Zeitpunkt jedes unserer Persönlichkeitsmerkmale zur Erhaltung des Lebens und der körperlichen Integrität von
* A u s g e n a u d ie s e m G r u n d e h a b e n a u f »g e is tig e V e r ä n d e r u n g e n « a b z ie le n d e Konditionierungstechniken und therapeutische Methoden wie die realitätso r ie n tie r te T h e r a p ie k e in e n E r f o lg . Be i s o lc h e n Me th o d e n b le ib t d ie in d e n N e r v e n z e lle n d e s G e h ir n s g e s p e ic h e r te V e r g a n g e n h e it e r h a lte n .
155
besonderer Bedeutung. Ein Beispiel für rigide Reaktionen verdanke ich einem Patienten, der während eines Vortrags merkte, daß er die Zeit überschritten hatte. Obwohl die Zuhörer ihn aufforderten, sich zu beeilen und vielleicht einige Vortragspassagen fortzulassen, sah er sich außerstande, seine Vortragsweise abzuändern. Nachdem er einmal seinen Weg eingeschlagen hatte, konnte er nicht von ihm abweichen, vor allem nicht in einer Belastungssituation wie bei einem Vortrag vor einem großen Zuhörerkreis. Der Grund für seine rigide Reaktion lag, wie er herausfand, in einem Geburtstrauma, bei dem er »keine Bewegung ausführen konnte«. Bei der Geburt hatte er einfach keine Reaktionsalternativen; die damalige Bewegungslosigkeit bildete in allen späteren Streßsituationen eine im Unbewußten fixierte Reaktionsweise. Die prototypische Abwehr ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sich alle späteren Abwehrmechanismen darauf ablagern. Sie fixiert »Persönlichkeit«. Solange das prototypische Trauma und seine Abwehr nicht erneut erfahren und aufgelöst werden, sind tiefgreifende Persönlichkeitsänderungen ausgeschlossen. Daran haben wir zu denken, wenn wir über Persönlichkeitsänderungen sprechen. Zwar sind erhebliche Eingriffe in die Persönlichkeit möglich, doch tiefreichende Änderungen sind von prototypischen
Aufdeckungsprozessen abhängig. Das bedeutet, wenn wir Homosexualität, Asthma oder allgemeine Persönlichkeitsstarre vollständig heilen wollen, dann müssen wir zu dem ursprünglichen Fixierungspunkt zurückkehren, zu dem Urtrauma, das nicht unbedingt die Geburt sein muß; es kann durchaus ein später erlebtes Ereignis sein — zum Beispiel ein Erlebnis im Kinderbett. Bei einem Kind, das bei der Geburt zu kämpfen hat, um ins Freie zu gelangen, kann das Regulationsniveau für Epinephrin zu hoch liegen. Ein solches Kind mag dann chronisch »unter Dampf stehen«. Es wird unter Streß eher zu Handlungen als zum Nachdenken neigen. Sein charakteristisches Verhalten angesichts von Problemen wird eher im Angriff als im Nachdenken und Reflektieren bestehen. Seine Ängste wird es nicht allzu stark fühlen, weil es sie ständig »abarbeitet«. Aufgrund seines frühen Traumas (und entscheidender Lebensumstände) dürfte ihm später die Tätigkeit eines Fußballspielers eher zusagen als die eines Dichters. Denn für ein solches Kind ist auf einer unbewußten Gefühlsebene Angriff gleichbedeutend mit Leben, passives Nachdenken mit Tod. Kurz, sein Körpersystem wird (auf verschiedenen Ebenen, einschließlich der biochemischen) ständig angetrieben, das Urtrauma auf dem Wege des Angriffs auszulöschen. Wenn ein Kind bei der Geburt übermäßig aktiv war, wird es 156
im späteren Leben »überaktiv« sein; war es hingegen bei der Geburt zur Unbeweglichkeit verurteilt, dann wird es sich wahrscheinlich zu einem passiv-depressiven Erwachsenen entwickeln. Jede spätere Belastungssituation, sagen wir der Verlust des Ehepartners, wird die charakteristische Reaktion auslösen – entweder: »Was soll's?« oder:
»Ich werde dafür sorgen, daß du bei mir bleibst, ich werde es nicht zulassen, daß du mich verläßt.« Der Teufelskreis einer solchen Entwicklung besteht darin, daß der einmal »eingestellte« Hormonostat eine Persönlichkeit hervorbringt, die ihrerseits dann die hormonalen Komplikationen verstärken. Wir haben es hier mit einer Rückkoppelung zu tun. Nach meiner Überzeugung können therapeutische Urerlebnisse diese in sich geschlossenen Systeme aufbrechen, denn dann wird das ihnen zugrunde liegende Trauma wiedererlebt und aufgelöst. Was uns fehlt, sind Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen von Geburtstraumen und späteren Persönlichkeitstypen aufhellen. Doch solche Untersuchungen sollten sich nicht nur mit Persönlichkeitstypen befassen, sondern darüber hinaus zu klären versuchen, welche spätere Krankheiten mit welchen spezifischen Veränderungen im Hormonhaushalt bei der Geburt in Verbindung stehen. Neigt beispielsweise der Überaktive mit höherer Wahrscheinlichkeit zu übermäßiger Sekretion und ist er deshalb anfällig für Magengeschwüre? Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß bewegungsunfähig gemachte, unter Streß stehende Tiere tumoranfälliger sind; uns stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Beziehung diese Tatsachen zur menschlichen Tumorbildung stehen. Mit anderen Worten: Ist Tumoranfälligkeit auf das Geburtstrauma zurückzuführen? Ich würde sagen, dies trifft in vielen Fällen zu, bei denen sich ein hoher, das normale Maß weit übersteigender Gehalt an Norepinephrin nachweisen läßt. In solchen Tumoren findet sich eine »Massenansammlung« von Norepinephrin, die das Körpersystem aus irgendeinem Grund nicht auflösen und richtig verwerten kann.* Norepinephrin ist in erster Linie ein Gefäßverenger. Es verursacht durch Verengung der Blutgefäße einen erhöhten Blutdruck. Warum werden die Blutgefäße chronisch verengt? Ein Grund liegt sicherlich darin, daß wir uns dadurch einer
Bedrohung entziehen wollen. Urschmerz ist eine ständige Gefahrenquelle, mit der wir uns
* E i n e t e c h n i s c h e E r ö rt e r u n g d i e s e r Z u s a mme n h ä n g e g e b e n S t a n l e y G i t l o w e t a l . , > D i a g n o s i s o f N e u r o b l a s t o ma b y Q u a l i t a t i v e a n d Q u a n t i t a t i v e D e t e r mi n a t i o n o f C a t e c h o la mi n e M e t a b o l i t e s i n U r i n e < , i n : C a n c e r , B d . 2 5 , Nr. 6, Juni 1970.
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unablässig auseinandersetzen müssen. Die Absonderung von Norepinephrin schränkt die Blutzufuhr ein und überläßt damit den größten Teil des Blutes dem Gehirn, das einen Ausweg aus Problemen suchen und Lösungen finden muß. Norepinephrin verhindert ferner, daß der Körper in einen Schockzustand gerät, was mit Sicherheit eintreten würde, wenn alle Urschmerzen plötzlich in das Körpersystem fluteten. Das gilt besonders für eine traumatische Geburt, wenn das Kind etwa stranguliert wird und keine Möglichkeit für Kampf oder Flucht hat. Dann muß etwas geschehen, damit das Kind am Leben bleibt und seine Funktionen aufrechterhalten kann. Diese Aufgabe übernimmt vor allem das Norepinephrin. Wenn wir uns klarmachen, daß ein erhöhter NorepinephrinSpiegel die Blutzufuhr beeinträchtigt, dann verstehen wir auch, wie spätere Hypertonie [krankhaft erhöhter Blutdruck] entsteht. Natürlich spielen auch spätere Belastungen bei der Symptombildung eine Rolle. Wenn das Kind in einem Getto lebt, wenn es schwarz und arm ist, eine Schule besucht, wo Gefahren und Kämpfe an der Tagesordnung sind, dann wird es aufgrund dieser zusätzlichen Belastungen vermutlich früher unter Hypertonie leiden, als es sonst der Fall wäre. Wenn es in einer angenehmen, freundlichen Atmosphäre lebt, dürfte es länger
durchhalten, mag sein vier Jahrzehnte oder noch mehr.* Ich behaupte, daß die Vernachlässigung entscheidender psychischer Faktoren (mithin biochemischer Faktoren) mit ein Grund dafür ist, daß die angestrengte Suche vieler Wissenschaftler nach den Ursachen bösartiger Tumoren bislang ergebnislos verlaufen ist. Es ist kein Zufall, daß früh in Isolierung gehaltene Ratten (obwohl in diesem Zusammenhang niemals erklärt wird, daß »Isolierung« das Fehlen einer Mutter bedeutet) anfälliger für Hypertonie sind und, noch wichtiger, einen höheren Gehalt an Norepinephrin im Limbischen System (wo nach meiner Meinung die Urschmerzen gespeichert werden) aufweisen. Der entscheidende Punkt ist, daß nicht ein hoher NorepinephrinGehalt all die genannten Krankheiten verursacht, sondern vielmehr eine Anhäufung ungelöster Gefühle, die von gewissen chemischen Substanzen vermittelt werden. Diese Gefühle und nicht auftretende chemische Veränderungen sind der Untersuchungsgegenstand. Schließlich finden die chemischen Veränderungen im Innern von Menschen statt.
* F ü r e in e te c h n is c h e E r ö r te r u n g s ie h e M. Me n d lo w itz e t a l. , > C a t e c h o la mi n e M e t a b o l i s m i n E s s e n t i a l H y p e r t e n s i o n < , i n : A m e r ic a n H e a r t J o u r n a l, Bd . 7 9 , N r . 3 Mä r z 1 9 7 0 S . 4 0 1 - 4 0 7 .
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Was ich damit sagen will: Nicht der »Persönlichkeitstyp« legt fest, ob jemand unter Magengeschwüren oder Asthma leiden wird, sondern vielmehr spezifische, durch ein frühes Trauma ausgelöste Veränderungen in der Biochemie, die sowohl einen spezifischen Persönlichkeitstyp hervorbringen wie auch eine damit in Verbindung stehende Hormonstörung verursachen.
Daher liegt auf der Hand, daß jede Psychotherapie, die tiefreichende Persönlichkeitsänderungen erzielen will, eine Veränderung des basalen endokrinen Systems anstreben muß. Anderenfalls bringen wir einen »Überaktiven« lediglich dazu, seine Energien in ein Verhalten zu kanalisieren, das von einem Psychologen oder Psychiater für angemessen erachtet wird. Der Betreffende wäre weiterhin eine überaktive, ständig »auf dem Sprung befindliche« Persönlichkeit. Sicherlich wird nicht nur das Gehirn durch frühe traumatische Erfahrungen beeinträchtigt. Veränderungen im Hormonhaushalt beeinflussen das Tempo und das Wesen der psychischen Entwicklung. Bei Neurotikern finden wir häufig auch ein neurotisches »Aussehen«. Einzelne Teile ihres Körpers sind auf die eine oder andere Weise entweder über- oder unterentwickelt. Auffällig sind Erscheinungen wie ein zu kleiner Rumpf, zu kurze Beine, ein aufgedunsenes Gesicht, gehemmtes Wachstum usw. Umgekehrt sehen wohlgeratene Kinder auch wohlgeraten aus. Ihre Entwicklung verlief einheitlich; ihre Körper sehen entsprechend harmonisch aus. Über diese Zusammenhänge liegt uns bislang noch kein ausreichendes Datenmaterial vor. Doch die von uns primärtherapeutisch behandelten Mädchen, die inzwischen die Pubertät erreicht haben, sind hübsche Erscheinungen mit wohlgeformten Körpern und Brüsten. Sie wirken nicht dürr, blutleer oder hölzern. Es kann uns nicht überraschen, daß Neurotiker auch ein neurotisches Aussehen haben können. Die Körperform verändert sich kontinuierlich über Jahre hin. Einige unserer Körperteile entwickeln sich schneller als andere. Beine und Arme wachsen beispielsweise schneller als der Rumpf. Der Kopf sowie Hände und Füße entwickeln sich schneller als andere Körperteile. Diese körperlichen Veränderungen werden von einem genetisch
kodierten Hormonsystem gesteuert. Wenn im Verlauf kritischer Phasen, in denen spezifische, das Wachstum steuernde Hormone abgesondert werden, gravierende Traumata auftreten, einerlei ob körperliche oder psychische, 159
dann kommt es zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Integration. Freilich, eine Verzögerung der Wadenbildung oder eine gestörte Entwicklung des Rumpfes können sich auf subtile Weise vollziehen. Als Endergebnis erscheint die betreffende Person als körperlich desintegriert. Ihr Körper kann klein bleiben, das Wachstum in der Adoleszenz kann viel zu spät einsetzen, als daß das tatsächliche Wachstumspotential jemals völlig ausgeschöpft werden könnte. Wenn Psychologen von »Persönlichkeitswachstum« sprechen, dann sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, daß Wachstum nicht nur den Verstand oder die Psyche betrifft.* In einer anderen Arbeit (Der Urschrei, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1973) habe ich geschrieben, man könne sich eine Neurose so vorstellen, als habe jemand seinen inneren Motor angestellt und sei bis an sein Lebensende nicht mehr in der Lage, ihn abzustellen. Wir erkennen allmählich, daß dieser Vergleich sich auch biochemisch halten läßt, wenn wir uns nämlich vergegenwärtigen, daß der Hormonostat eines Menschen zu hoch eingestellt sein und das Regulationsniveau durch keinen Willensakt gesenkt werden kann. Es scheint jedoch, daß therapeutische Urerlebnisse das Regulationsniveau senken können, Urerlebnisse, die das Trauma schließlich beseitigen, das heißt die Hauptursache für das ständige Überreagieren des Körpersystems.
Ich glaube, wenn der Hormonostat zu hoch eingestellt wird, dann deshalb, weil er ständig auf eine unbewältigte Bedrohung oder ein nicht verarbeitetes Ereignis reagieren muß. In einem solchen Falle wird das Körpersystem ständig angetrieben, um Schmerz abzuwehren, und befindet sich mithin in einem chronischen Zustand der Überreaktion. Man kann zwar das Verhalten, das auf dem bei der Geburt festgelegten Triebniveau basiert, »konditionieren« (durch Verhaltenstherapie), doch man kann das Gehirn und das Triebniveau selbst nicht konditionieren. Das heißt, man kann ein delinquentes, ausagierendes, hyperaktives Kind umerziehen, so daß es sich besser verhält und seine Triebe in Schularbeit kanalisiert, doch man kann das auf eine bestimmte Höhe festgelegte Triebniveau nicht ändern. Somit hat besseres Verhalten seinen Preis, etwa Bettnässen, Alpträume und dergleichen. Levine hat mit seinen Untersuchungen unter anderem den wichtigen Nachweis erbracht, daß der Organismus weiblicher Tiere, denen in
* E i n e a u s g e z e i c h n e t e u n d a us f ü h r l i c h e B e s c h r e i b u n g a l l e r W a c h s tu ms p r o z e s s e f in d e t s ic h b e i M. T a n n e r , > P h ys ic a l G r o w th < , in P a u l Mü s s e n ( H r s g . ) , M a n u a l o f Ch ild P s y c h o lo g y , 3 . A u f l. , W ile y a n d S o n s , New York 1970.
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der ersten Lebenszeit die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse vorenthalten wurde, einen gestörten Hormonhaushalt hat, und daß diese Tiere sich zu »bösen« Müttern entwickeln – zu neurotischen, indifferenten Müttern, die unfähig sind, ihren Jungen ausreichend Milch zu geben. Das heute vorliegende Beweismaterial berechtigt uns zu der Annahme, daß nicht die
ersten sechs Lebensjahre, wie Freud meinte, sondern die ersten sechs Monate für die kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind. Primäre Deprivation während dieser Lebensspanne bestimmt die künftige Entwicklungsrichtung – verhaltensmäßig, physiologisch und biochemisch. Die ersten sechs Monate sind für unser Leben am wichtigsten, und wenn spätere Schäden verhindert werden sollen, muß den Kindern während dieser Phase besonders große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Keine Mutter sollte unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Wenn sie ein Kind hat, sollte sie sich darauf einstellen, Mutter zu sein und nicht eine Frau, die nebenbei noch arbeitet. Um normal zu sein, ganz man selbst zu sein, bedarf es eines Gehirns, das frei ist von Störungen, frei von gefühlsunterdrückender Zensur der Großhirnrinde. Unter einem störungsfreien Gehirn verstehen wir ein Gehirn, dem ein Maximum an physischer Entwicklung ermöglicht wird.* Dann erst besteht Lernen in der Freiheit, nach eigenem Zeitmaß zu wachsen und sich zu entwickeln. Mechanische Übung und Dressur lassen diese Freiheit nur verkümmern. Eine freie, an Erfahrungsmöglichkeiten reiche Umwelt trägt unmittelbar zur Verfeinerung der Gehirnbahnungen und damit zu mehr Einsicht und Verstehen bei. Ich möchte hinzufügen, daß dazu auch das Verstehen seiner selbst, die Selbsterkenntnis gehört, so daß wir sagen können, daß Selbsterkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes das Ergebnis eines vollentwickelten, von Störungen freien Gehirns ist. Früher stand ich unter dem Eindruck, es sei ein Glück, daß Menschen, die in einer gräßlichen Umwelt aufwachsen, häufig ein zu »dummes« Gehirn haben, um verstehen zu können, was um sie vor sich geht; doch heute scheint es mir, daß »Dummheit« buchstäblich das neurologische Ergebnis einer solchen Umwelt
darstellt. Bei zu großem Schmerz versetzt die Natur das Gehirn gnädig in einen Zustand der Betäubung.
* D . K r e c h , M. R. Ro s e n z w e ig u n d I . L . Be n n e tt, > Re la tio n b e tw e e n Br a in Ch e mis tr y a n d P r o b le m S o lv in g , a mo n g Ra ts in E n r ic h e d a n d I mp o v e r is h e d I n v ir o n me n ts < , in : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e a n d P h y s io lo g ic a l P s y c h o lo g y, 55, 1962, S. 801-807.
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Wenn wir wollen, daß unsere Kinder wahrhaft aufgeweckt und aufnahmefähig werden und sich selbst und die anderen verstehen, so daß sie sich durch die Welt nicht widerstandslos manipulieren lassen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sie bewußte Kinder, primär bewußte Kinder werden. Dieses Bewußtsein wird ihnen von einem Gehirn mit reibungslosen Verbindungen zwischen allen seinen Bereichen vermittelt. Falsches Bewußtsein entsteht in einem Gehirn, das nicht als harmonische Einheit funktioniert, sondern bei dem ein Teil ständig damit beschäftigt ist, einen anderen auszuschalten. Aus diesem Grunde können Einsicht und Aufnahmefähigkeit nicht eigentlich gelehrt werden. Sie sind Funktionen eines normalen Gehirns.
9 Langfristige Auswirkungen früher Erfahrung
V iele Experimente belegen die langfristigen Auswirkungen früher traumatischer Erfahrungen. So haben zum Beispiel Melzack und Thompson nachgewiesen, daß Hunde, die in den ersten Lebenswochen Restriktionen ausgesetzt werden, später nicht in der Lage sind, sich gegen andere Hunde zu behaupten, wenn es etwa darum geht, Knochen in ihren Besitz zu bringen. Bei Auseinandersetzungen erwiesen sich die traumatisierten Hunde als »Verlierer«. Sie erweckten den Anschein ständiger Verwirrung und litten unter »diffuser emotionaler Erregung«.* Sie waren nervös. Andere physiologische Untersuchungen über die Auswirkungen von Restriktionen (häufig als »sensorische Deprivation« bezeichnet) lassen erkennen, daß bei Deprivationen in einem Sinnesbereich die entsprechenden Gehirnareale in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. So hemmt zum Beispiel der Entzug von Licht und Geräuschen die Entwicklung der visuellen und mit dem Gehörsinn verbundenen Hirnpartien.** Dabei wird nicht nur das Gehirn geschädigt, sondern das Sinnesorgan selbst. Riessen hat in Experimenten festgestellt, daß bei visuell deprivierten Affen das Augengewebe in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, als ließen sich Symptome in direkter Linie auf eine Ursache zurückführen, sagen wir das Bettnässen auf die Sauberkeitsdressur. In der Wachstumsperiode geschieht so viel mit uns, daß es schwierig ist, eine Episode als ausschließlichen Faktor bei der Entstehung von Störungen herauszustellen. Wir können den Zusammenhang zwischen Symptomen und ihren Ursprüngen nur aufgrund von Gefühlen verstehen. Denn Gefühl verbindet auch die entlegensten und unterschiedlichsten Ereignisse im menschlichen Leben. So konnte einer unserer Patienten sich nicht auf seine Schulaufgaben
konzentrieren. Dann hatte er ein Urerlebnis, das um den Wunsch kreiste: »Mammi, laß mich nach draußen gehen und mit den anderen Jungen spielen.« Dieses
* R . M e l z a c k u n d W . R . T h o mp s o n , > Ef f e c t s o f E a r l y E x p e r i e n c e o n S o c i a l Be h a v io n , in : Ca n a d ia n J o u r n a l o f P s y c h o lo g y , 1 0 , 1 9 5 6 , S . 8 2 - 9 0 . * * E . G a u r o n u n d W . C. Be c k e r , > T h e E f f e c ts o f E a r ly S e n s o r y D e p r iv a tio n o n A d u l t R a t B e h a v i o r u n d e r C o mp e t i t i o n S t r e ß < , i n : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e P h y s io lo g ic a l P s y c h o lo g y , 5 2 , 1 9 5 9 , S . 6 8 9 - 6 9 3 .
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Urerlebnis beseitigte seine Lesestörungen, ohne daß das Problem selbst zur Sprache gekommen wäre. Wie war das möglich? Der Patient hatte als Junge immer erst seine Hausaufgaben erledigen müssen, ehe er sich erholen und spielen konnte. Sein ganzes Körpersystem sperrte sich dagegen, irgend etwas zuerst zu tun. Das Lesen bedeutete für ihn eine Aufgabe, gegen die er sich zur Wehr setzen mußte. Dieser Widerstand war ihm nicht bewußt; er hatte vielmehr jedesmal, wenn er sich hinsetzte, um zu lesen, das Gefühl, sein Verstand »wanderte«. Der Widerwille gegen das Lesen drückte den Gedanken aus: »Ich möchte frei sein.« Als er das frühe unbewältigte Trauma der ständigen Beschränkung auf die elterliche Wohnung wiedererlebt hatte, war er in der Lage, sich geistig wirklich frei zu fühlen. Dann erst konnte er sich in innerer Entspannung auf das Lernen konzentrieren, ohne weiterhin das nagende Zwangsgefühl zu verspüren, sich nach der Lektüre von zwei Absätzen eines Buches seinen Phantasien hinzugeben. Weder erzieherische Maßnahmen, gutes Zureden noch Drohungen konnten seinen Lesewiderstand aufheben; erst als die unterschwellige Gefühlsdynamik geklärt war, löste sich auch sein Widerwille gegen das Lesen auf. Der Zusammenhang zwischen der Lektüre eines Buches und dem Wunsch, nach
draußen zu gehen und zu spielen, war tatsächlich undurchsichtig; erst das Gefühl gab dem psychischen Mechanismus einen Sinn. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß mit dem Leben im Uterus unsere Einstellung zur Welt sich zu bilden beginnt. Bereits im Mutterleib sind wir aufnehmende, wahrnehmende Lebewesen, und wenn der Mutterleib ein angenehmer Aufenthaltsort war, dann haben wir unter Umständen nach der Geburt von Anfang an eine positive Lebenseinstellung. Wenn der Aufenthalt im Mutterleib unangenehm war, wenn die Mutter unter chronischen inneren Spannungen litt, einen schnellen oder unregelmäßigen Herzschlag hatte, zu abrupten Bewegungen neigte, rauchte, Alkohol trank und Rauschmittel nahm, dann bildet sich bereits im Fötus die unbewußte Einstellung heraus, Welt und Leben seien unsichere Angelegenheiten, denen man nicht trauen könne. Diese Erfahrung in utero sowie ein schwieriger Geburtsprozeß und falsche Behandlung in den ersten Lebensmonaten verfestigen eine rudimentäre Einstellung gegenüber dem Leben, die ihren Anfang im Mutterleib nahm. Die anfängliche Einstellung wird später in begriffliche Vorstellungen übersetzt, sobald das Kind dazu in der Lage ist; sie kleiden sich in 164
Worte wie: »Man kann niemandem trauen. Die Welt wird von Gemeinheit beherrscht.« All diese sogenannten paranoiden Gedanken haben einen realen Grund — in der realen Erfahrung des Kindes während seines uterinen Lebens. Im Mutterleib »prüft« der Fötus seine Welt nicht mit Augen und Ohren, sondern mit seinem Berührungssinn. Erst später bedient er sich zur Prüfung auch seiner anderen Sinne. Bis dahin vermag er zwischen den Sinneseindrücken nicht zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß es sich beim Fötus um einen
unterschiedslos Sinneseindrücke wahrnehmenden Organismus handelt, bei dem Traumata die gleiche An von sensorischer Überlastung hervorrufen können, wie sie mit ähnlichem Ergebnis nach der Geburt auftreten kann, mit dem Ergebnis nämlich, daß die Sinneswahrnehmung getrübt wird. Wir dürfen annehmen, daß der Fötus aufgrund seines noch nicht ausgebildeten neurologischen Apparats noch empfindlicher gegen sensorische Überlastung ist. Sensorische Überlastung vor und unmittelbar nach der Geburt kann zu Veränderungen im Gehirn führen und damit spezifische Fähigkeiten beeinträchtigen. So können die mechanischen Fähigkeiten des Kindes später unzureichend sein. Es mag zum Beispiel unfähig sein, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen, unfähig, sich die Beziehung zwischen einzelnen Möbelstücken in einem Zimmer zu veranschaulichen oder das Ineinandergreifen einzelner Geräteteile zu begreifen. Dieses Unvermögen kann das Ergebnis sehr früher, vor der Geburt liegender Erfahrungen sein und nicht so sehr das Ergebnis angeborener Schwächen, wie wir früher geglaubt haben. Natürlich sollten wir den ungeheuren Einfluß von Erfahrungen nach der Geburt nicht übersehen. Wenn Eltern zum Beispiel ihrem Kind nicht gestatten, Dinge zu berühren und zu erforschen, dann kommen unter Umständen seine mechanischen Fähigkeiten nicht zur vollen Entfaltung. Das heißt, es wird nicht in der Lage sein, seine Umwelt körperlich zu erfahren, eine Erfahrung, die für eine körperlichmechanische Fähigkeit von wesentlicher Bedeutung ist. Wird das Kind etwa im Kinderwagen zur Untätigkeit, zur Passivität gezwungen, dann stumpft seine Wahrnehmungsfähigkeit ab, weil es einfach nicht genügend Gelegenheit erhält, seine Umwelt körperlich zu erkunden. Das Kind ist dann später insgesamt weniger aufgeschlossen für Wahrnehmungen. Aufgrund seines Neugierund Erkundungsverhaltens in den ersten Lebensmonaten gewinnt das Kind richtige Raumvorstellungen.
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Ein Kind, dem nicht erlaubt wird, seine Körpersinne voll auszuspielen, kann sich genötigt fühlen, seine Aufmerksamkeit abstraktem Denken zuzuwenden, das heißt, sich zu einem Menschen zu entwickeln, für den Denken und begriffliches Vorstellen eine größere Rolle spielen als körperliche Bewegung. Aus dem Kind mag ein Intellektueller mit einer ausgezeichneten Fähigkeit zu abstraktem Denken und eingeschränkter körperlicher Bewegungsfähigkeit werden. Ein Grund dafür, daß Intellektuelle häufig neurotisch sind, besteht in dem Umstand, daß solche Menschen in der Kindheit von sich selbst abstrahiert, sich selbst entfremdet worden sind. Der entscheidende Punkt ist jedoch, daß ein Kind, dem die volle Entfaltung seiner Körpersinne in den ersten Lebensmonaten versagt wird, zu einem Denk- und Daseinsstil gezwungen wird, der sein ganzes künftiges Leben bestimmt. Es scheint, daß ein guter Lebensstart dazu befähigt, jeder späteren Belastung zu widerstehen. Ein schlechter Lebensanfang führt mit Sicherheit zu größeren Problemen in der späteren Lebenszeit. Wichtiger noch, ein guter Lebensbeginn kann zugleich ein gutes Lebensende bedeuten, zumindest ein nicht vorzeitig eintretendes Ende. William Berkowitz kommt aufgrund seiner Tierexperimente zu der Schlußfolgerung, daß ausreichend stimulierte Tiere länger leben als ungenügend stimulierte. Ihr Nachwuchs lebt länger, wenn das Leben der Muttertiere in den ersten Monaten »gut« verlaufen war.* So können die ersten Lebensmonate durchaus über Leben und Tod entscheiden. In dieser kritischen Zeit muß der Vater sich bereithalten, häusliche Arbeiten zu übernehmen, damit die stillende Mutter sich erholen kann und bei guter Gesundheit bleibt. In dieser Zeit müssen die Eltern zum Nutzen für das Neugeborene für eine entspannte, von Streitigkeiten freie Atmosphäre sorgen, sie müssen verhindern,
daß ihr Baby mit lauten Geräuschen bombardiert oder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, etwa durch eine fest gewickelte Decke, und sie müssen dafür Sorge tragen, daß ihr Kind nicht zu lange Zeit in nassen Windeln liegt, nicht zu lange Hunger oder Durst verspürt. Kurz, die ersten Lebensmonate fordern die ständige Aufmerksamkeit der Eltern. Wer sich mit dem Gedanken trägt, ein Kind in die Welt zu setzen, sollte sich diese Notwendigkeiten vor Augen halten. Auch die Gesellschaft ist aufgerufen, diese Notwendigkeiten anzuer-
* Be r ic h t a u f d e r T a g u n g d e r A me r ic a n P s yc h o lo g ic a l A s s o c ia tio n in W a s h in g to n , D . C. S e p te mb e r 1 9 7 1 .
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kennen. Denn in den ersten Lebensmonaten des Kindes sollte weder die Mutter noch der Vater einer Berufstätigkeit nachgehen, sofern dies zu ermöglichen ist. Der Vater sollte eine Art Urlaub erhalten, um sich der wichtigsten Aufgabe von der Welt widmen zu können – dazu beizutragen, daß ein neues Menschenwesen die bestmögliche Lebenschance bekommt.
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10 Körperliche und psychische Bedürfnisse
O bwohl sich kaum bestreiten läßt, daß es so etwas wie ein psychisches Bedürfnis nicht gibt, das heißt ein Bedürfnis, das nur in der Psyche existiert, sind gerade darüber zahlreiche Bücher geschrieben worden – etwa über das Bedürfnis nach Ansehen, Macht, Selbstachtung usw.. Alfred Adler, einer der Schüler Freuds, hat sein ganzes Theoriesystem auf das Machtbedürfnis begründet und Bände darüber geschrieben. Doch ein Bedürfnis ist kein psychischer Zustand, sondern vielmehr ein Zustand, der das gesamte Körpersystem erfaßt. Es gibt kein Bedürfnis, das nicht Ausdruck unseres gesamten Körpersystems wäre. Aus diesem Grund hat jede Versagung in einem Einzelbereich allgemeine Auswirkungen. Bei Heimkindern, die in den ersten sechs Monaten auf einfühlsamen Körperkontakt verzichten mußten, stellte sich später heraus, daß sie allgemein »rastlos, deprimiert und zur Konzentration unfähig« waren.* Psychische Bedürfnisse sind lediglich symbolisierte körperliche Bedürfnisse. Gerade weil psychische Bedürfnisse Abkömmlinge und nicht wirkliche Bedürfnisse sind, kann man praktisch alle seine neurotischen, symbolischen Bedürfnisse befriedigen, ohne jemals eine Änderung zu erreichen. So kann man beispielsweise einem Kind alles geben, ohne damit eine Krankheit beseitigen zu können. Wir sind bei unserer Krankheitsbehandlung in die Irre
gegangen, weil wir versäumt haben, zwischen wirklichen und nicht-wirklichen Bedürfnissen genau zu unterscheiden, und so haben wir bisher versucht, Probleme des gesamten Körpersystems mit Mitteln zu behandeln, die sich ausschließlich an den Gehirnfunktionen orientieren. Es ist uns gelungen, die Psyche eines Menschen so zu verändern, daß er zu neuen Gedankengängen fähig ist, während die körperlichen Bedürfnisse unverändert erhalten bleiben; doch »Persönlichkeits«-Änderungen können nur dann Platz greifen, wenn es gelingt, Zugang zu den unterschwelligen Bedürfnissen zu finden. Ich lege deshalb solchen Wert auf diese Feststellung, weil zahllose Bücher über die besonderen Bedürfnisse von Kindern geschrieben
* M. P r in g le u n d V . Bo s s io n , > A S tu d y o f D e p r iv e d Ch ild r e n < , in : Vi t a H u m a n a n a , 1 , Ba s e l 1 9 5 8 , S . 6 5 - 9 2 u . S . 1 4 2 - 1 7 0 .
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worden sind, über Bedürfnisse, deren Existenz ich bezweifele. Da ist zum Beispiel das »Bedürfnis nach Zugehörigkeit«. In der psychologischen Literatur wird es abwechselnd als Bedürfnis nach Eingliederung oder Bedürfnis nach Sozialisation bezeichnet. Doch es sollte eigentlich klar sein, daß wir lediglich uns selbst zugehörig sein können. Wenn Eltern uns ein eigenes Selbst vorenthalten, dann müssen wir darum kämpfen, »Teil« von etwas zu sein. Wir bemühen uns darum, Leben durch eine Gruppe, eine Mannschaft, eine »Familie« von Freunden zu gewinnen. Wenn wir die Möglichkeit haben, durch uns selbst zu leben, dann verspüren wir nicht das Bedürfnis, zu irgend etwas zu gehören. Wir können an Aktivitäten teilnehmen und Vergnügen daran empfinden, doch in einem solchen Falle ist die motivierende
Kraft keineswegs neurotisch. Das läßt sich am besten im Sinne einer einfachen Dialektik verstehen. Wenn Eltern uns erlauben, wir selbst zu sein, dann fühlen wir uns als Teil von uns selbst; wenn sie uns daran hindern, wir selbst zu sein, dann fühlen wir uns von uns selbst getrennt. Dann beginnen wir, darum zu kämpfen, »Teil« von irgend etwas zu sein. Wenn also jemand klagt: »Ich fühle mich heute überhaupt nicht als ich selbst«, dann meint er etwas Tiefergehendes als eine vorübergehende Unpäßlichkeit. Sich nicht selbst zu gehören hat verschiedene Auswirkungen. Ungeschicklichkeit und mangelnde körperliche Koordinierung sind nur zwei Beispiele. Wenn der Körper dem Kind nicht gehört, dann wird es ihm schwerfallen, ihn richtig zu beherrschen. Ihm mag es an Wendigkeit und Anmut fehlen, es mag unfähig sein, sportliche Tätigkeiten einigermaßen gekonnt auszuüben oder zu tanzen – und das trotz jahrelangen Tanzunterrichts. Einer unserer Patienten erklärte seine Ungeschicklichkeit folgendermaßen: »Es ist nicht mein Körper. Es ist ihrer. Ich trage ihn nur herum, doch er tut, was sie wollen.« Ein anderer Patient meinte, sein Körper sei ihm fremd, er schleppe ihn lediglich herum. Wieder ein anderer Patient hatte beim Tennisspielen einen schlechten Tag erwischt. Wegen seiner Unbeholfenheit und »Dämlichkeit« geriet er in eine so vehemente Erregung, daß er sich auf den Tennisplatz setzte und ein Urerlebnis hatte. Anschließend erklärte er seinem Tennispartner (ebenfalls ein Primärpatient), das Gefühl, »mich nicht als mich selbst zu fühlen, hat mich gegen mich aufgebracht, mich intolerant gemacht mir selbst gegenüber. Als ich zu weinen begann, da fühlte ich den alten Schmerz darüber, daß es mir nie vergönnt war, etwas Falsches zu 169
tun oder etwas nicht gut zu tun. Ich haßte an mir, was eigentlich natürlich ist – mangelnde Gewandtheit, keine Antwort auf eine Frage parat zu haben –, Eigenschaften, die nach Ansicht meines Vaters dumm und falsch sind. Mir stand es niemals frei, einfach das Gefühl zu haben, ich könne ruhig etwas falsch oder nicht sonderlich gut tun. So hatte ich jedesmal, wenn etwas Derartiges geschah, das Gefühl, ich sei nicht >ich selbst<.« Als dem Patienten schließlich gefühlsmäßig aufging, daß es ganz natürlich und in Ordnung ist, nicht ständig perfekt zu sein, da begann er allmählich, besser Tennis zu spielen; seine Angst, einen Fehler zu begehen, verschwand. Wir kommen auch nicht mit dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zur Welt. Für Kinder bedeutet Aufmerksamkeit die Befriedigung von Wünschen. Ein Kind wird nicht mit dem Bedürfnis geboren, »draußen« jemanden zu besitzen, der ihm zuhört. Es hat ein inneres Bedürfnis, sich selbst auszudrücken, und dazu bedarf es eines Zuhörers. Bedürfnisse kommen aus dem Innern und nicht umgekehrt. So ist das sogenannte psychische Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder Interesse auf Seiten anderer in Wahrheit ein körperliches Bedürfnis nach einem Gefühl von Sicherheit und Schutz in dieser Welt. Wenn ein Kind dieses Gefühl verspürt, hat es keine Angst davor, sich in die Welt hinauszuwagen, und es kann auch seine anderen Bedürfnisse freier äußern. Ein Kind, dessen Sicherheitsbedürfnis befriedigt ist, fühlt sich frei, in der Umgebung herumzurennen und zu spielen, denn es lebt in der Gewißheit, daß schützende Eltern sein Tun überwachen. Eines der bekannteren sogenannten psychischen Bedürfnisse ist das Gefühl der eigenen »Wichtigkeit«. Auch dabei handelt es sich nur um ein Scheinbedürfnis. Wenn ein Kind seinen Eltern wichtig ist, dann hat es keinen Grund, sich ein Leben lang abzumühen, um endlich das Gefühl eigener Wichtigkeit zu empfinden. Das heißt, wenn Eltern ihrem Kind zuhören, zu ihm sprechen, es um seine Meinung fragen, nach ihm schauen, seinen Namen nennen,
seine Existenz anerkennen, dann teilen sie ihrem Kind durch diese einfachen menschlichen Handlungen mit, daß es für sie wichtig ist. Wenn die Eltern all diese Dinge nicht tun, dann vermitteln sie ihrem Kind den Eindruck, es sei unwichtig, und dann wird das Kind in seinem späteren Leben alles Mögliche tun, um sich wichtig zu machen. Doch seine Gefühle ändern sich nicht, ob es nun ein Filmstar oder ein Professor wird. Jenes Scheinbedürfnis nach Wichtigkeit verflüchtigt sich mit dem Gefühl der »Unwichtigkeit«. Wir haben hier 170
einen dialektischen Prozeß vor uns: das Gefühl von Unwichtigkeit hebt das zwangharte Bemühen um Wichtigkeit auf. Wenn hingegen in unserer Welt jemand »wichtig« wird, dann bleibt das unterschwellige Gefühl erhalten. Welche Wichtigkeit auch immer jemand erlangt, es wird ihm nie genug sein, denn in ihm lauert weiterhin das Gefühl der Wertlosigkeit. Der Betreffende mag glauben, jedermann habe das Bedürfnis, wichtig zu sein; doch wenn er sich nicht unwichtig fühlte, hätte er dieses »psychische« Bedürfnis nicht. Wenn wir uns klarmachen, daß persönliche Bedürfnisse tatsächlich persönlich sind und nichts mit anderen Menschen zu tun haben, dann verstehen wir auch, daß sie nicht Vorrangstellung, Herrschaft, Macht, Unterwerfung, Ansehen oder Wertschätzung zum Ziel haben. Ein eigenes, individuelles Selbst zu haben ist das zentrale Urbedürfnis des Menschen. Zu Beginn unseres Lebens brauchen wir Eltern, die uns dazu verhelfen. Neurotiker interessieren sich für Dinge, die ihrer Bedürfnisbefriedigung dienlich sind. Neurotisches Interesse an Kindern liegt auf der gleichen Ebene. Ein gestörter Elternteil wird versuchen, sein Kind in jemanden zu verwandeln, an dem er
interessiert sein kann. Und das Kind wird versuchen, sich diesen Wünschen zu beugen, zu werden, was die Eltern von ihm verlangen. Es wird versuchen, der Spitzenathlet, der vollkommene Gentleman oder der unbesiegbare Boxer weit und breit zu werden, falls dies von ihm erwartet wird. Harlow hat bei seinen Untersuchungen an Affen, denen Körperkontakt vorenthalten wurde, unter anderem die bedeutsame Entdeckung gemacht, daß diese Tiere sich zu Müttern entwickelten, die kein Interesse an ihrer Nachkommenschaft zeigten und ihren Jungen keine Aufmerksamkeit widmeten. Was hat der Mangel an Körperkontakt in der frühen Kindheit mit Interesse und Aufmerksamkeit zu tun? Auf menschliche Beziehungen übertragen, heißt »Interesse« an einem Kind zeigen, ihm körperlichen Kontakt zu gewähren. Das Kleinkind verspürt kein psychisches Bedürfnis nach einem Menschen, der für es »Interesse zeigt«. Es hat vielmehr das körperliche Bedürfnis nach Körperkontakt; Eltern, die an ihm interessiert sind, geben ihm diesen Kontakt. Die von Harlow untersuchten, kontaktlosen Affen konnten keine Liebe geben, weil ihre Bedürfnisse nicht erfüllt worden waren. Sie können die Mutterrolle nicht übernehmen, weil sie, im Sinne der Primärtherapie, von Schmerz erfüllt sind. Gefühlskalte Mütter sind Mütter, die gefühlskalt behandelt worden sind. Für gewöhnlich ist es ein vergebliches Unterfangen, gefühls171
kalte Mütter zu ermuntern, an ihrem Kind »Interesse zu zeigen«, denn ihr »Interesse« ist eine Funktion ihrer eigenen frühen Kindheit. Um es genauer zu formulieren: das »Interesse« ihres Körpersystems gilt ihr selbst und der erlittenen Versagung, und darum fehlt es ihr an Interesse für ihr Kind. Wenn Eltern einem Kind keine Aufmerksamkeit widmen, kann es krank werden,
damit es seine Aufmerksamkeit sich selbst zuwenden kann; damit ersetzt es im Grunde genommen seine Eltern. Man kann verstandesmäßig versuchen, Interesse an seinem Kind aufzubringen, doch der Körper (das Gefäß echten Gefühls) vereitelt wahres Interesse; und das Kind spürt, daß die ihm entgegengebrachte Sorge geheuchelt ist. Der betreffende Elternteil könnte einfach nicht verhindern, daß seine innere Distanziertheit, seine emotionale Zurückhaltung zum Vorschein kommt. In einem solchen Fall ist der jeweilige Elternteil für sein Kind nicht »ganz da«, weil ein Teil von ihm »zurückgeblieben« ist. Viele Eltern möchten, sicherlich aus den besten Absichten, ihren Kindern »alles« geben, »was ich nicht hatte«. Doch was die Kinder dann bekommen, beruht auf dem unbefriedigten Bedürfnis der Eltern; sie sind nur insofern an ihren Kindern interessiert, als sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen. So können die Kinder zuviel dessen bekommen, was den Eltern früher fehlte (bessere Ausbildung zum Beispiel). Wenn man es so betrachtet, dann erhält ein solches Kind niemals Gelegenheit herauszufinden, was es wirklich von seinem Leben erwartet, denn es ist eifrig damit beschäftigt, das Leben seiner Eltern auszuleben. Alte unerfüllte Bedürfnisse der Eltern gereichen dem Kind zum Nachteil. Verdrängte Wut kann sich später gegen das wehrlose Kind richten. Wenn Mutter oder Vater ihre eigene Mutter unbewußt hassen, dann können sie diesen Haß später auf alle Frauen ausdehnen, und ihr eigenes Kind wird sicherlich eine leidvolle Kindheit haben, nur weil es weiblichen Geschlechts ist. Sein Bruder wird womöglich unbewußt bevorzugt, so daß das Mädchen eine Neurose entwickelt, nur um zu erreichen, daß es geliebt wird, und dann muß es erleben, daß es für seine Neurose noch bestraft wird. In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung verhält sich das Mädchen abscheulich, hassenswert und überanspruchsvoll, und dieses Verhalten wiederum dient den Eltern als Rechtfertigung für ihren Zorn. Weil das Mädchen seine
Eltern nicht für sich einnehmen konnte, wird es unter Umständen auch als Frau niemanden anziehen können und sein Leben lang keine liebevolle Zuneigung erlangen. Die Tragödie ihres Lebens besteht darin, daß sie das Unglück hatte, 172
als Mädchen geboren worden zu sein und einen Elternteil zu haben, der Frauen haßte. Selbst wenn das Kind sich änderte und ein anderes Verhalten zeigte, würde der betreffende Elternteil dies nicht bemerken, und zwar aufgrund seines Bedürfnisses, es als Symbol seiner verdrängten Gefühle zu erhalten. Für ungestörte, Gefühlen zugängliche Menschen ist Elternschaft ziemlich einfach. Sie versuchen nicht, etwas von sich herzugeben, weil es nichts dergleichen gibt, was herzugeben wäre. Als Eltern man selbst zu sein macht eigentlich das Geben aus.
11 Bedeutung der Forschung für den Menschen
I n den vorherigen Kapiteln haben wir zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen angeführt. Es ist nun an der Zeit, die Bedeutung dieser Forschung für die menschliche Entwicklung herauszuarbeiten. Zunächst einmal können wir feststellen, daß früher Schmerz das ganze Leben des betroffenen Menschen zu beeinflussen vermag. Späteres Verhalten kann auf Schmerzen beruhen, die das Kind in den ersten Lebensmonaten, ja sogar in den ersten Lebensstunden erfahren hat. Ein Kind kann in den ersten Lebensjahren seinem eigenen Selbst entfremdet, gleichsam aus sich selbst verbannt werden. Richtige Stimulierung ist für die Entwicklung eines Organismus absolut entscheidend; mangelnde Stimulierung kann schwerwiegende Dauerschäden nach sich ziehen. In den ersten Lebensmonaten ist ein Säugling auf seine Mutter angewiesen. Er braucht ihre Milch, ihre Körperwärme, die Weichheit ihres Körpers und ihre Güte. Die Urerlebnisse unserer Patienten haben mich erkennen lassen, daß ein Kleinkind bereits sehr früh den Körper seiner Mutter von dem seines Vaters zu unterscheiden vermag. Es braucht zunächst seine Mutter, gewöhnlich bis zur Entwöhnung; anschließend können ihm beide Eltern die Zärtlichkeit und körperliche Zuwendung geben, die es benötigt. Das heißt nun freilich nicht, daß der Vater in den ersten Lebensmonaten keine Rolle spielt; allerdings fällt ihm keine primäre Rolle zu, was den Körperkontakt angeht. Wenn den Bedürfnissen eines Kleinkindes nicht entsprochen wird, dann wird es schon sehr bald nach Ersatzbefriedigungen suchen und seine wahren Bedürfnisse symbolisch erfüllen – symbolisch, weil beliebig andere Menschen nicht seine Eltern sind und beim Auftreten seiner starken Bedürfnisse nicht zugegen waren. Ein Junge kann im Alter zwischen zehn und zwanzig einem Mann begegnen, der ihm die von seinen Eltern versagte Gefühlswärme entgegenbringt. Dann wird der Junge unter
Umständen auf Männer fixiert, eine Einstellung, die seinem ganzen späteren Sexualverhalten ihren Stempel aufdrücken kann. Weit häufiger erfahren Jugendliche zum erstenmal echte Gefühlswärme in der Verliebtheitsphase der Adoleszenz. In dieser Zeit setzen sich bei Jugendlichen sexuelle 174
Fixierungen fest, weil ihre ersten Umarmungen, Zärtlichkeiten und Küsse mit sexuellen Regungen einhergehen. Doch alle Sexualität der Welt kann die frühe Versagung rein asexueller Bedürfnisse nicht kompensieren. Ich habe immer wieder betont, daß man seine Vergangenheit nicht »wettmachen« kann; man kann sie nur voll durchleben. Es nützt nichts, wenn man versucht, seine Vergangenheit zu vergessen, oder wenn man sich auf die Gegenwart konzentriert, denn das gesamte Körpersystem reagiert unterhalb der Bewußtseinsschwelle ständig und automatisch auf die Vergangenheit. Ein Kind wird durch die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse nicht verwöhnt. Ein gesundes Kind kann nicht mit übermäßiger Nachsicht behandelt werden, weil es selbst dieses Verhalten nicht gestatten würde. »Verwöhnte« Kinder sind neurotische Kinder, denen etwas fehlt. Gewöhnlich fordern sie nur deshalb die falschen Dinge, weil sie nicht wissen, was ihnen fehlt. Durch die Befriedigung jedweden Bedürfnisses wird ein Kind nicht verwöhnt, sondern gleichsam vervollständigt. Die Bedürfnisbefriedigung und die damit verbundene Vervollständigung verhelfen dem Kind zur Natürlichkeit des Selbstseins und ermöglichen ihm das Durchlaufen eines seinem Gefühl entsprechenden Reifungsprozesses. Ein Vater, der es sich zur Aufgabe macht, seinen Sohn »zu einem Mann zu machen«, beschwört damit lediglich die Gefahr herauf, daß sein heranwachsender Sohn neurotisch überspannte Anstrengungen
unternimmt, der Junge zu werden, der er niemals gewesen ist. Nur wenn man sein Kind so lange Kind sein läßt, wie es seinem Bedürfnis entspricht, ist die Gewähr gegeben, daß es auf natürliche Weise das Erwachsenenalter erreicht. Ein normales Kind weint und wimmert nicht unentwegt. Mit Wimmern signalisiert das Kind seine Unzufriedenheit und sein Unbehagen. Manche Eltern geraten in Wut und Verzweiflung durch ein ständig wimmerndes, scheinbar durch nichts zu beruhigendes Kind. Doch die Unzufriedenheit des Kindes hat ihren Grund in einer unzureichenden Bedürfnisbefriedigung während einer früheren Lebenszeit; diese Versagung hinterläßt im Kind ein vages Unbehagen, das sich auf die verschiedensten Dinge ausrichtet. Ganz Ähnliches geschieht, wenn ein Kind in den ersten Lebensmonaten starken Angstzuständen ausgesetzt ist, die es überlasten, wenn es beispielsweise in einem dunklen Zimmer allein gelassen wird; dann blockiert es die Angst, weil sie zu groß ist, als daß sie integriert 175
werden könnte, und verschiebt sie später auf Dinge, die an sich nicht furchterregend sind. Wer die Bedeutung der Primärtheorie einigermaßen verstanden hat, der dürfte wissen, daß ein Kind, das in der Schule durch chronisches Fehlverhalten auffällt, dem Einfluß seiner Vergangenheit unterliegt. Wenn es sich Tagträumen überläßt, wenn sein Geist abschweift und seine Aufmerksamkeit zu wünschen läßt, dann allein deshalb, weil früh erfahrener Schmerz seinen Geist aus der Gegenwart ablenkt. Seine Tagträume nehmen das Kind voll in Anspruch, weil sein Schmerz allumfassend ist. Darauf sollte man nicht mit Spott und
Bestrafung reagieren,
sondern mit Einfühlung und Verständnis. Wer Verständnis
aufzubringen vermag, der wird ausagierende Kinder als von Schmerz gepeinigte menschliche Wesen behandeln und nicht als Quertreiber, denen »ordentliches Verhalten eingebleut« werden muß. Was Bestrafung angeht, so ist es völlig unangebracht, Kinder zu bestrafen, weil man ihnen durch Strafe nichts beibringen kann. Man mag einwenden: »Aber was ist, wenn mein Kind auf die Straße läuft? Sollte es dafür nicht bestraft werden?« Man überstrapaziert zwar den Begriff, wenn man ein scharfes »Nein« als Bestrafung bezeichnet, doch auf jeden Fall ist es keine sonderlich wirksame Lehrmethode, ein kleines Kind, das auf die Straße läuft, auszuschimpfen oder ihm ein »Nein« nachzubrüllen. Ehe es überhaupt dazu kommt, daß ein Kind auf die Straße rennt, kann man ihm bereits erklären, wie gefährlich das ist und daß es sich Verletzungen zuziehen kann. Wenn das Kind alt genug ist zu laufen, kann es für gewöhnlich auch einfachere Erklärungen verstehen. Wenn es zu Boden fällt und sich weh tut, kann die Mutter ihm zu verstehen geben, daß es noch weitaus empfindlichere Schmerzen zu gewärtigen hat, wenn es auf die Straße läuft. Wenn die Mutter jedoch selbst unter starken rückständigen Ängsten leidet, dann wird der Vortrag dem Kind wahrscheinlich eher Angst und Schrecken einjagen als ihm die Gefahren seiner Handlungsweisen vor Augen führen. Das Kind erhält nur dann eine wirksame Erziehung, wenn die Eltern selbst nicht von Ängsten erfüllt sind. Doch Eltern bestrafen ihre Kinder vor allem aufgrund des Mißverständnisses, daß derartige Erziehungsmethoden den Charakter bilden; diese Eltern sollten zumindest wissen, daß sie ihren Kindern nach jeder Bestrafung sofort Liebe und Zuneigung widmen müssen. Damit wird zwar die »Lektion« nicht aufgehoben, doch das Kind 176
wird davor bewahrt, von dem Gefühl überwältigt zu werden, es sei »ungeliebt«. Schimpansenmütter nehmen ihre Jungen auf den Arm, nachdem sie ihnen einen Klaps versetzt haben; dieser Beweis von Zuneigung schwächt keineswegs die Wirkung des Erziehungsmittels, mit dessen Hilfe die Affenmütter ihren Jungen etwas beizubringen versuchen. Wir müssen uns klarmachen, daß es für kleine Kinder beängstigend ist, wenn ihre Eltern wütend auf sie sind. Kleinkinder können ihre Gefühle nirgendwo unterbringen, sondern sie allenfalls abspalten. Kindern zu sagen, daß man wütend oder enttäuscht über sie sei, daß man sie künftig nicht mehr beachten werde usw., kann verheerende Folgen haben. Von Schimpansen und sogenannten primitiven Menschen können wir eine Menge über Kindererziehung lernen. Das Leben der Schimpansen werde ich weiter unten behandeln. Auf der KingWilliam-Insel in der Arktis lebt ein von der weißen Zivilisation unberührter Eskimo-Stamm. In dieser Stammeskultur sind die Kinder gleichsam Tyrannen. Sie können mitten in der Nacht aufwachen und lauthals zu trinken verlangen, und die Eltern haben nichts Eiligeres zu tun, als aufzustehen und ihnen Tee zubereiten, ohne zu klagen und zu murren. Man erwartet einfach, daß die Säuglinge Forderungen äußern und daß die Erwachsenen sie erfüllen. Die Erwachsenen lachen und spielen stundenlang mit den Kindern, und die Kleinen entscheiden, wann sie genug haben – im Gegensatz zu unserer Gesellschaft, wo die Eltern entscheiden, wann das Kind genug hat. Auf ein Kind in sogenannten zivilisierten Gesellschaften muß es tatsächlich ziemlich verwirrend wirken, wenn es selbst das Gefühl hat, mit seinen Eltern noch nicht genug herumgespielt und getollt zu haben, und wenn ihm dann gesagt wird: »Halt, halt, jetzt ist es genug!« und überdies von ihm erwartet wird, daß es sich damit einverstanden erklärt. Es wäre weitaus besser, wenn die Eltern
ihm erklärten: »Ich habe genug. Ich bin müde. Ich weiß, daß du mehr möchtest, doch ich kann nicht mehr.« Der kleine Eskimo wird mit völliger Nachsicht behandelt, und dennoch wächst er unter genauso schwierigen Umständen auf wie alle anderen Menschenkinder. Vielleicht setzten unsere Schwierigkeiten und Probleme ein, als wir das sogenannte »primitive« Leben aufgaben und anfingen, den Leuten beizubringen, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Heute müssen wir sie anhalten, die bisherigen Erziehungsregeln zu vergessen, damit sie mit ihren Kindern wieder natürlich umgehen können. 177
Um bei den sogenannten primitiven Stämmen und »primitiven Emotionen« zu bleiben: Auf den Philippinen gibt es einen Volksstamm, die Tasadai, der in seinen Höhlen noch wie in der Steinzeit lebt. Bis vor kurzem hatte dieser Stamm keinen Kontakt zur Umwelt. Die Stammesangehörigen sind keine Jäger, sie töten keine Tiere, sie sind vielmehr Sammler, die sich vor allem von Früchten ernähren. Für mich sind sie das Ur-, das Primärvolk. Sie haben keine Waffen, kennen keine Aggression und keine Bestrafung. Sie arbeiten bei allen anfallenden Aufgaben zusammen, ohne daß irgend jemand einem anderen Befehle erteilt. Vor ihren Kindern haben sie großen Respekt; sie berühren, streicheln und herzen die Kleinen ausgiebig. Die Kinder sind weder aggressiv noch »verwöhnt«. Sie wimmern und weinen nicht. Der Stamm hat keine Religion und keinerlei religiöse Rituale. Er hat noch nicht einmal Worte für Wut, Haß und Feindseligkeit. Die Tasadai sind innerlich wie äußerlich im wahrsten Sinne des Wortes »schöne Menschen«. Angesichts ihres völligen Mangels an Kontakten zur Welt außerhalb ihres Lebensraumes wird uns klar, was Menschen von Natur aus sein
können, wenn sie allein gelassen werden. Ihr Lebensstil erübrigt jedes Wort über Kindererziehung. Die Familie lebt fast immer zusammen. Der Vater nimmt seine kleinen Kinder mit, wenn er zum Fischen geht. Er brüllt sie nicht an, kritisiert sie nicht und befiehlt ihnen nicht, wo sie zu stehen haben, daß sie ruhig sein sollen usw. Der Grundsatz des Stammes ist leben und leben lassen. Vermutlich werden wir diese Menschen für naiv und kindisch halten, weil sie so vertrauensvoll sind. Bis heute leiden sie noch nicht unter jener schleichenden Paranoia, die darin besteht, niemandem zu trauen. Doch wir können sicher sein, daß sie viel »erwachsener« und mißtrauischer sein werden, wenn sie erst einmal von der »zivilisierten« Gesellschaft, die sie entdeckt hat, eine Zeitlang ausgebeutet worden sind. Wir können von »primitiven« Gesellschaften lernen. Als gutes Beispiel erwähne ich das »Kindertragegerät« der Indianer. Ich glaube, daß die Mutter ihr Kleinkind wann immer möglich auch auf dem Rücken (oder an ihrer Brust) tragen sollte. Auf den Kinderwagen sollte man verzichten. Sobald das Kind aufrecht sitzen kann, sollte man statt des Kinderwagens besser eine Tragevorrichtung benutzen, wenn man das Kind mit sich nehmen will, denn auf diese Weise ist eine ständige, auf Körperwärme und -kontakt beruhende Stimulierung durch Mutter oder Vater gewährleistet. Eine solche Vorrich178
tung vermittelt dem Kind buchstäblich die Gewißheit, daß es mit Mutter oder Vater verbunden ist. Außerdem hat das Kind so die Gelegenheit, alles zu sehen und zu hören, was die Eltern tun, und erfährt damit ein Maximum an Stimulierung, mehr jedenfalls, als wenn es passiv in seinem Kinderwagen liegt. Eine Tragevorrichtung fördert eine eher aktive als passive Lebenseinstellung und, was noch wichtiger ist, vermittelt jene
rhythmische Schaukelbewegung, die entscheidend für das kleine Lebewesen ist, wie wir aus Untersuchungen an Primaten wissen. Die Schaukelbewegung, die das Kind empfindet, wenn es von den Eltern getragen wird, gleicht in gewisser Weise jenem Schaukeln, das der Fötus im Mutterleib erfährt. Es steht außer Frage, daß es einen Lebensrhythmus gibt, und es hat den Anschein, daß das Kleinkind diesen natürlichen Rhythmus eher auf den Schultern seiner Eltern als in einem Kinderwagen verspürt. Nach meiner Ansicht haben wir den Kinderwagen seit Jahrzehnten aufgrund des Mißverständnisses benutzt, daß es sich beim Kind lediglich um ein »Ding« handelt und nicht um einen von Bedürfnissen erfüllten Organismus, der ständige Stimulierung verlangt. Eltern fügen ihrem Kind vermutlich den größten Schaden zu, wenn sie es in ein Internat stecken. Einerlei wie man rational zu ihnen steht, Internate sind für gewöhnlich Abladeplätze für unerwünschte Kinder. Sie sind die Friedhöfe der Kindheit, weil sie dem Kind nur selten Gelegenheit geben, wirklich Kind zu sein. In Internaten wird den Kindern vielmehr Selbstsicherheit, Disziplin und Gefühlsunterdrückung beigebracht. Kinder brauchen eine Mutter und einen Vater, an die sie sich wenden können, und dies ist in Internaten unmöglich. Viele unserer hochgradig gestörten Patienten wurden in ihrer Jugend auf Schulen außerhalb ihres elterlichen Wohnortes geschickt. Unter der Disziplin, die den Kindern in diesen Schulen andressiert wird, versteht man gewöhnlich, daß jemand etwas klaglos tut, was er eigentlich gar nicht möchte. Wir haben es also mit einer für neurotische Situationen charakteristischen Tugend zu tun – nämlich ohne Widerspruch etwas auszuführen, was jemand anders wünscht. Disziplin fordern Leute, die in Kinder kein Vertrauen setzen. Solche Leute glauben, Kinder müßten darin eingeübt werden, bestimmte Handlungen auszuführen, sonst
wären sie nicht dazu bereit. Wahr ist freilich, daß die Kinder dazu angehalten werden müssen, sich neurotisch zu verhalten. Doch die beste Disziplin überhaupt besteht 179
darin, sich nach seinen eigenen Wünschen zu verhalten, denn ein Kind, das Zugang zu seinen Gefühlen hat, hilft anderen, verhält sich rücksichtsvoll und ist in der Lage, zum Besten einer Gruppe zu handeln. Ein neurotisches Kind hat zu starke Bedürfnisse, als daß es sich so verhalten könnte. Darum muß es auf dem Wege der Disziplin von seinen Bedürfnissen abgebracht werden, darum bedarf es äußerer Kontrolle. Kinder werden häufig aufgrund der Trennung oder Scheidung ihrer Eltern auf Internate geschickt. Ausgerechnet zu einer Zeit, wenn es auf Hilfe angewiesen ist, wird das Kind fortgeschickt und muß dann selbst sehen, wie es mit seinen beunruhigenden Gefühlen fertig wird. Ohne Gelegenheit zu haben, sein Kleinsein gefühlsmäßig zu akzeptieren, wird das Kind gezwungen, sich erwachsen und selbstsicher zu verhalten. Ich kann mir für ein Kind keine größere Tragödie vorstellen als die Scheidung seiner Eltern. Darum sollten die Eheleute sich Jahre Zeit nehmen, um einander kennenlernen zu können, ehe sie daran denken, ein Kind in die Welt zu setzen. Nicht die Scheidung an sich ist so verhängnisvoll für das Kind, sondern die Ereignisse, die damit verbunden sind – ein neuer »Vati«, der ihm Befehle erteilt; oder mit ansehen zu müssen, daß viele »Vatis« im Hause ein und ausgehen, so daß das Kind sich niemals gefühlsmäßig an einen männlichen Erwachsenen binden kann, ohne den quälenden Eindruck zu haben, daß dies alles keinen Sinn hat. Häufig hat Scheidung auch zur Folge, daß die Mutter arbeiten gehen muß und das Kind einem Fremden überläßt oder
zu einer fremden Schule schickt. Scheidung bedeutet ferner, daß die Mutter überfordert und gereizt ist und sich wegen finanzieller Dinge Sorgen macht. In vielen Fällen ist mit der Scheidung der Verlust des wirklichen Vaters verbunden – des Vaters, der sich dazu entschlossen hat, sein Leben mit einer anderen Frau zu teilen und eine »neue« Familie zu gründen. Das Kind ist dann das hilflose Opfer all dieser Aufregungen. Es kann fast jede Art sozialer Belastung ertragen – etwa von einem Ort zu anderen zu ziehen, wenn der Vater eine neue Arbeit antritt –, solange es bei seinen Eltern ist. Doch ohne die einfühlsame Hilfe beider Eltern verstärken solche traumatischen Erfahrungen nur seine Probleme. Nach meiner Ansicht gibt es stabilisierende Faktoren, mit deren Hilfe das Kind die Widrigkeiten zu ertragen vermag, die aus einer Scheidung resultieren. Wichtig ist, daß es weiterhin im selben Haus und in derselben Nachbarschaft wohnt. Das Kind bleibt in der ihm 180
vertrauten Umgebung, hat seine alten Freunde, mit denen es sprechen kann. Wird es auf eine auswärtige Schule oder in ein Jugendlager geschickt, verliert es seine sozialen Bindungen, mit deren Hilfe es sein geistiges Gleichgewicht aufrechterhalten kann. Während einer Scheidung ist es für ein Kind ungeheuer wichtig, daß es in seiner vertrauten häuslichen Umgebung bleiben kann; wenn es schon beide Eltern nicht mehr haben kann, dann braucht es wenigstens einen liebevollen Elternteil, mit dem es Gefühle austauschen kann, denn nur dadurch verlieren die mit der Scheidung einhergehenden Ereignisse an Gewicht. Wenn es mit dem verbleibenden Elternteil darüber sprechen kann, welche Gefühle all das Unglück und der Verlust des anderen Elternteils
in ihm auslösen, dann wird der verheerende Eindruck der Scheidung ein wenig gemildert. Allzu häufig geschieht es, daß das Kind von dem nun in Streit liegenden Elternpaar innerlich hin- und hergerissen wird. Es wird zum »Verbündeten« des einen oder anderen Elternteils. Es steht vor der Notwendigkeit, sich für einen von beiden zu entscheiden. Es muß sich die Klagen anhören, die die Eltern gegeneinander vorbringen, und hat im allgemeinen die Rolle ihres Eheberaters zu übernehmen, während es in Wirklichkeit lieber ihr kleiner Junge oder ihr kleines Mädchen wäre. Das Kind wird damit selbst zu einem Elternteil. Als Zeuge von Urerlebnissen meiner Patienten, von Urerlebnissen, in deren Mittelpunkt die Scheidung der Eltern stand, kann ich nur noch einmal wiederholen, daß Eheleute sich ihrer Zuneigung sehr sicher sein sollten, ehe sie ihrem Wunsch nach Kindern nachgeben. Man könnte fragen: Warum sind die Eltern so wichtig? Warum führen ein schlechter Lehrer oder Armut nicht zu neurotischen Störungen? Darauf kann ich nur antworten, daß Tausende von uns beobachtete Urerlebnisse um die tiefsitzenden schmerzlichen Erfahrungen der Kindheit kreisten und daß sie fast alle die von den Eltern zugefügten Schädigungen zum Inhalt hatten. Armut kann die Probleme verschärfen, doch sie steht nicht an erster Stelle. Wenn sich in einem Kind Minderwertigkeitsgefühle festsetzen, weil die Eltern es ablehnen, dann kann Armut seine Lage verschlimmern, weil in unserer Gesellschaft die Armen als minderwertig angesehen werden. Ein Kind, das mit anderen Kindern aufwächst, die besser gekleidet sind, die über Geld verfügen, das sie zu ihrem Vergnügen ausgeben können, die Sportwagen besitzen usw., wird in das Gefühl getrieben, es sei nicht so gut wie seine Spielkameraden. Doch wenn es das 181
Gefühl hat, es sei wichtig für seine Eltern, wenn die Eltern das Kind schätzen und ihm Achtung entgegenbringen, dann wird das Zusammensein mit reicheren Kindern sicherlich keinen niederschmetternden Eindruck bei ihm hinterlassen. Ohne Frage ist es höchst unangenehm, sechs Monate lang von einem ständig kritisierenden, gefühlskalten, gestrengen Lehrer unterrichtet zu werden. Doch es ist weitaus schlimmer, wenn man jahraus, jahrein mit einem solchen Menschen zusammenleben muß. Wenn die Eltern grausam und gefühllos sind, dann hat das Kind nur die Möglichkeit, seine Gefühle in seinem »Innern« unterzubringen. Kind zu sein in einer Scheinfamilie ist eine Tragödie. Ein solches Kind wird mit Sicherheit Leiden auf sich nehmen müssen. Angesichts der Launen, Bedürfnisse und Wutanfälle seiner Eltern ist es zur Hilflosigkeit verdammt. Fast jedes Kind, das wir heute sehen, ist eine wandelnde Tragödie. Einige können dies besser verbergen als andere. Manche haben sich ihrem Schicksal »gefügt«. Sie zeigen eine sozial gebilligte Fassade und kommen leidlich zurecht. Andere sind verdrossen und deprimiert. Von diesen beiden Gruppen von Kindern sind diejenigen gestörter, die es in einer Scheingesellschaft »schaffen«. Sie wurden auf so unmerkliche Art zerstört, daß sie ihres Schmerzes nicht gewahr werden. Sie lassen sich auf ihre Krankheit geradezu ein, verschmelzen mit ihr, ohne den Schimmer einer Ahnung, daß sie vernichtet worden sind. Kinder, die sich nicht anpassen, haben die besten Chancen zu gesunden, wenn wir wissen, wie wir sie behandeln müssen. Eine Mutter übermittelt ihrem Kind mit jedem Wort und jeder Berührung ihre Gefühle. Es kommt nicht darauf an, wieviel sie sagt, und es kommt auch nicht unbedingt darauf an, wieviel Körperkontakt sie ihrem Kind gibt; das Kind nimmt vielmehr das ihren Handlungen zugrundeliegende Gefühl auf und reagiert darauf. Sie (und er, der Vater) ist die Botschaft. Ihr Anleitungen
zu geben, das »Wie« zu erklären, ist nur eine schwache Botschaft, die von ihren Urbedürfnissen übertönt wird.
BETH
Ich habe drei Kinder. Beverly ist siebeneinhalb, Tom sechs und Don fast zwei Jahre alt. Ich könnte über alle drei eine Menge schreiben, doch ich nehme Beverly heraus, weil ich das Gefühl habe, daß ihre 182
Schwierigkeiten den meinen gleichen. Ich weiß immer, welche »Gefühle« Beverly hat. Ich brauche nur in ihre braunen Augen zu schauen und weiß sofort, was sie fühlt. Seit ich in der Therapie bin, frage ich sie, was sie fühlt, und gewöhnlich bin ich auf der richtigen Spur. Meine Mutter ist kaltherzig, ekelhaft, und ich habe das Gefühl, ich sehe genauso aus wie sie. Wenn ich auf Beverly böse bin, habe ich das »Gefühl«, ich sehe aus wie meine Mutter. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Mutter mir sagte, ich solle sie nicht Mammi nennen, doch ich erinnere mich, daß ich das Gefühl hatte, ich sei zu alt dazu, das Wort zu benutzen. Beverly nennt mich »Ma«, und ich erinnere mich auch, daß ich ein komisches Gefühl hatte, als sie mich eine Zeitlang »Mammi« nannte. Ich fragte sie neulich, warum sie nicht Mammi zu mir sagt, und sie meinte, sie wisse es nicht. Ich sagte ihr, ich hätte es lieber, wenn sie mich Mammi nennt, und sie antwortete, daß sie dabei ein komisches Gefühl habe. Ich weiß, daß sie dieses Gefühl hat, weil ich selber nicht in der Lage bin, »Mammi« zu sagen.
Meine Mutter hat mich ständig zur Sauberkeit ermahnt. Ich konnte niemals in einen Sandkasten gehen, weil ich dann Sand in die Schuhe bekommen hätte. Eine Dreckpfütze war für mich abstoßend. Ich getraute mich nicht einmal in die Nähe von Pfützen. Bis auf den heutigen Tag kann ich es nicht vertragen, wenn ich Dreck an meinen Füßen fühle. Ich habe ein Bild von Beverly, das aufgenommen wurde, als sie drei Jahre alt war. Sie saß in einer Pfütze, doch ihr Gesichtsausdruck besagte: »Was tue ich hier?« Sie hatte sich nur deshalb in die Pfütze gesetzt, weil ich in der Sonne lag und nicht gestört werden wollte. Das Bild ist so traurig: ein dreijähriges Kind, das nicht weiß, wie es im Dreck spielen soll. Beverly sagte mir, sie brauche und möchte keine Freunde. Der Grund ist, daß ich es niemals zulasse, daß sie andere Kinder mit nach Haus bringt. Sie stören mich, und Kinder merken das. Sie stören mich, weil auch meine Freunde sich vor meiner Mutter fürchteten; sie ließ sie spüren, daß sie nicht willkommen waren, und so verhalte ich mich ähnlich. Wenn meine Mutter gegenüber meinen Freunden freundlich gewesen wäre, würde ich nicht ständig, wenn Beverly jemand mitbringt, daran denken müssen. Ich möchte wirklich eine nette, warmherzige Mutter sein, doch jedesmal, wenn ich Beverly an mich drücke, habe ich das Gefühl, daß ich heuchele, ein Gefühl, das ich auch bei meiner Mutter hatte. Meine Mutter redet 183
ziemlich schnell, und so rede ich auch, zwar nicht zu Beverly, doch zu meinem Mann. Wenn er versucht, mich in den Arm zu nehmen, dann plappere ich irgend etwas daher. Wenn ich versuche, Beverly in den Arm zu nehmen, dann sagt sie: »He, Mammi, erinnerst du dich...?« Ich habe Beverly nur selten auf
den Arm genommen. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich mir jedesmal entzog, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte. Ich frage mich, warum wohl! Wenn ich daran denke, daß meine Mutter mich in den Arm nimmt, dann habe ich das Gefühl, elend und schmutzig zu sein. Wenn ich daran denke, ihre Brust zu berühren, dann erfaßt mich ein Schaudern. Ich weiß, daß Beverly das gleiche empfindet, das gleiche »fühlt«. Wenn ich ihr einen Gutnachtkuß gebe, wischt sie sich über den Mund, damit sie keine aufgesprungenen Lippen bekommt. Meine Mutter hat ihren Körper immer vor mir versteckt, und ich dachte mir, wenn ich mal Kinder habe, sollen sie mich anschauen. Das tun sie auch, doch beide, Beverly und Tom, haben das gleiche Gefühl dabei. Sie schauen mich sorgfältig an, doch aus ihrem Blick lese ich, daß sie nicht mögen, was sie sehen. Wenn meine Mutter über andere Frauen sprach, machte sie immer eine Bemerkung über die Form ihrer Brüste, genau wie ich; Beverly hofft, daß sie niemals Brüste »ansetzt«. Meine Mutter war so sehr mit ihrer Sorge beschäftigt, mein Vater könne sie verlassen, daß sie keine Zeit mehr erübrigen konnte, sich Sorgen um mich zu machen. Mein Vater bekam immer das größte Stück Kuchen, und wenn nur noch ein Stück übrig war, bekam er es. Meine Mutter sorgte sich so um meinen Vater, daß meine Schwester und ich sie richtig störten. Sie wurde eifersüchtig, wenn wir zu lange mit ihm redeten, und mir geht es ähnlich. Ich möchte, daß mein Mann zuerst mich ansieht, wenn er von der Arbeit nach Haus kommt. Er erhält das Größte und das Beste und das Letzte. Beverly ist bereits ganz ähnlich um ihren Vater besorgt. Sie befürchtet, daß er verunglückt, wenn er trinkt und dann noch Auto fährt. Als Kind hatte ich am meisten Angst davor, daß mein Vater ums Leben käme. Wenn Beverly mit mir oder ihrem Vater spricht, dann redet sie sehr schnell, damit wir ihr aufmerksam zuhören. Mein Mann und ich brauchen uns so sehr, daß wir wütend werden, wenn eines der Kinder uns stört. Meine Mutter wurde immer wütend, wenn ich sie unterbrach, und
genau das gleiche passiert auch mir — ich werde böse auf Tom, wenn er Beverly und mich unterbricht. Beverly mag weder Eis, Erdnußbutter noch Wassermelonen, und 184
zwar weil sie, wie ich weiß, keinen Geschmack an Speisen finden kann. Sie ist innerlich so verschlossen, daß Speisen ihr nicht schmecken, doch sie ißt nicht so viel, wie ich es tue, weil sie weiß, daß ich sie nicht mehr mag, wenn sie dick würde. Ich lebe immer diät, und sie tut das auch. Wenn ich mir weh getan hatte, dann gab meine Mutter mir immer Plätzchen. Ich erinnere mich, daß meine Mutter, wenn ich weinend nach Hause kam, mir sagte: »Hier, nimm ein leckeres Plätzchen, und dann ist alles vorbei.« Ich sage das überhaupt nicht, dazu bin ich zu gescheit (?), doch meine Kinder haben ein ähnliches Gefühl. Wenn sie Kummer haben, dann essen sie. Ich habe Beverly gefragt, ob sie zwischen Großmutter und mir irgendwelche Ähnlichkeiten festgestellt habe (sie ist im letzten Sommer sieben Wochen bei meiner Mutter gewesen und hat in dieser Zeit elf Pfund zugenommen). Sie meinte: »Ja, ihr beide regt euch immer über mein Haar auf, doch Großmutter hat nicht so daran gezogen, wie du es tust.« Ich empfinde großes Vergnügen dabei, an ihrem Haar zu ziehen, wenn ich es kämme, weil ich weiß, daß ich es haßte, wenn meine Mutter wegen meiner Haare ständig Theater machte. Mein Haar war für sie das einzig Schöne an mir. Wenn Leute erklärten, wie schön meine Löckchen seien, dann fühlte sie sich wohl. Um es ihr zurückzugeben, ziehe und zerre ich heute an den Haaren meines Kindes. Beverly verabscheut es, wenn Leute nett zu ihr sind. Ich glaube, meine Mutter und mein Vater haben mich nie nett behandelt, und das ist der Grund, warum es mir schlecht geht.
Meine Tochter und ich haben noch zwei weitere charakteristische Eigenschaften. Wenn sie etwas verliert, gerate ich außer mir. Dabei ängstigt sie sich zu Tode und schreit und brüllt. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem ganzen Leben irgend etwas verloren zu haben, und ich glaube, das an sich reicht aus, um sich vorstellen zu können, wie schrecklich es war, wenn man bei uns daheim irgend etwas verlor. Das zweite ist, daß Beverly nicht in den Spiegel schauen kann. Sie schaut sich niemals selbst an. Neulich habe ich ihr gesagt, sie solle es doch tun, daraufhin meinte sie, sie habe ein komisches Gefühl dabei, denn die Leute könnten denken, sie finde Gefallen an ihrem Aussehen. So kaputt ist Beverly. Meine Mutter sagte immer: »Menschen, die sich in Schaufensterscheiben betrachten, wenn sie auf der Straße gehen, lieben sich.« Mir ist es großartig gelungen, mich nicht zu mögen, und Beverly geht es genauso, sie mag sich auch nicht.
12 Kindliche Sexualität
S igmund Freud glaubte, Kinder hätten ein aktives Sexualleben, und war der Ansicht, der Grund dafür, warum das nicht vor ihm entdeckt worden sei, hänge mit der Sexualunterdrückung der Gesellschaft zusammen. Doch ungeachtet der Freudschen
Ansichten ist es unmöglich, daß Kinder ein Sexualleben haben, solange ihre Sexualität nicht entfaltet ist, das heißt, ehe sie nicht die Pubertät erreicht haben, ehe die Geschlechtsdrüsen nicht aktiviert worden sind. Bis dahin erforschen Kinder Lustzonen, die nach Meinung von Erwachsenen »sexuell« sind. Bei Kindern schleifen sich Hemmungen ein und werden Schuldgefühle geweckt, weil Erwachsene naiven, kindlichen Berührungsspielen einen sexuellen Charakter zuschreiben. Wir müssen zwischen Handlungen und inneren Erfahrungen unterscheiden. Ein Kind, das seine Genitalien berührt, empfindet ein lustvolles Gefühl. Um sich wohl zu fühlen, muß es sich nicht zwanghaft und immer wieder berühren, solange es sich nicht beständig unglücklich fühlt, weil lieblose Eltern nicht dafür sorgen, daß es sich wohl fühlt. Seine zwanghafte Masturbation ist kein sexueller Akt. Es ist ein Versuch, Spannungen zu lösen. Neurotische Eltern geraten in Aufregung über ein solches Verhalten (anstatt sich Sorge über die offensichtlichen Ängste des Kindes zu machen) und ächten gleichsam bestimmte Körperzonen, die so zu »entmilitarisierten Zonen« werden, die nicht einmal das Kind betreten darf. Der Körper des Kindes wird auf diese Weise in einzelne Abschnitte aufgeteilt, und die Abschnitte werden gewissermaßen gegen den Körper abgezäunt; den Händen wird verboten, die Genitalien zu berühren, das Bewußtsein wird gegen Gedanken abgeschirmt, die um bestimmte Körperbereiche kreisen. So kann es geschehen, daß ein Kind, das ständig getadelt wird, weil es sich selbst berührt, sich als innerlich gespalten und schließlich seinen Körper als etwas Fremdes, von ihm Abgetrenntes erlebt. Wenn ein Kind sich selbst entfremdet, von sich selbst getrennt wird, dann muß es seine Zuflucht zur Phantasie nehmen. Da ihm nicht erlaubt ist, seinen Körper zu erfahren (Gefühle sind körperliche Fakten, sie sind sozusagen der Körper), muß es später
zu merkwürdigen Vorstellungen über Sexualität greifen, um überhaupt etwas zu 186
fühlen. So verwandelt sich Normalität in Perversion, weil das Kind von seinem Körper getrennt und in die Welt pervertierter Vorstellungen gezwungen wurde. Was geschieht nun, wenn verhindert wird, daß ein Kind sich selbst berührt? Das hängt von anderen Erfahrungen ab. Es kann zu einer Fixierung kommen, die ihrerseits zur Folge hat, daß das Kind sich dem Zwang ausgesetzt fühlt, irgend etwas zu berühren, mit seinen Händen praktisch nach allem zu greifen (weil es das eine nicht berühren kann). Wenn es dann später sexuelle Regungen verspürt, kann es unter Umständen Mädchen oder seine Geschwister dazu bringen, seinen Körper zu berühren, in der unbewußten Hoffnung, daß genügend Körperkontakt in ihm Gefühle wecken wird, daß Kontakte von außen irgendwie die Betäubung seines Körpers aufheben werden. Auch das Gegenteil kann eintreten. Wenn das Kind an die Billigung der Eltern gebunden bleibt, wenn sie ihm gerade so viel gegeben haben, daß es sich veranlaßt fühlt, ihnen zu gefallen, dann kann es jene frühen Verbote vollständig internalisieren und in seinem späteren Leben überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, Sexualverkehr zu haben. Es kann auch gefühlskalt, abweisend und kontaktscheu werden. Dann wird es nicht einmal den Wunsch verspüren, sich und andere zu berühren. Wie kann man eine solche Entwicklung korrigieren? Durch Körperkontakt? Wenn Körperkontakt im späteren Leben tatsächlich Änderungen herbeiführen könnte, dann wären zur Promiskuität neigende Menschen, die ständigen Körperkontakt und immer neue sexuelle Erlebnisse suchen, um körperliche
Berührungen zu erfahren, sicherlich in der Lage, ihre Probleme zu lösen. Um sexuelle Freiheit zu erlangen, muß man die frühen nicht-sexuellen Szenen wiedererleben und sie innerlich bewältigen, indem man die richtigen Reaktionen darauf fühlt. Das Wiedererleben jener Szenen löst automatisch die richtigen Reaktionen aus, weil diese Reaktionen die richtigen Gefühle sind, die zwar seinerzeit flüchtig empfunden, aber sofort verdrängt worden sind. Einer unserer Patienten kehrte während eines Urerlebnisses zu einer Szene zurück, in der er seiner Mutter unter lautem Weinen erklärt hatte: »Er ist nicht schmutzig. Überhaupt nicht. Er gehört mir, Mama, mir. Mein Körper gehört mir. Ich habe ein Recht, ihn zu fühlen.« An diesem Punkt während des Urerlebnisses begann der Patient unbewußt mit sich zu spielen, seinen Körper spielerisch zu berühren und zu streicheln. Das währte eine Stunde. Der Patient hatte bis dahin nie eine Erektion gehabt, weil er 187
seinerzeit keinerlei sexuelle Regungen verspürt hatte. Später erklärte mir der Patient, wenn er heute eine Stunde lang mit seinem Körper spiele, ohne ein Urerlebnis zu haben, dann bekomme er ganz sicher eine Erektion. Das gefühlsmäßige Erleben der richtigen Reaktion führte zur Rückkehr von Gefühlen in der betreffenden Körperzone. Fortan war der Patient nicht mehr impotent, wenn Frauen seinen Penis zu berühren suchten. Ist dies eine Erklärung für die meisten Fälle von Impotenz? Handelt es sich dabei um die Unfähigkeit, im Genitalbereich zu fühlen und stimuliert zu werden? Das ist ein entscheidender Punkt, an dem ich noch einen Augenblick verweilen möchte. Die frühe Szene, in der eine Mutter zu ihrem dreijährigen Sohn »Nein« sagt, wenn er mit seiner Hand zum Penis greift, wird zum Inhalt eines in sich
geschlossenen Erinnerungskreises, der nicht mehr aufgebrochen werden kann, so daß jede Berührung des Penis diese Erinnerungshemmung wieder aktiviert. Die einzige Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu beheben, liegt darin, diesen Erinnerungskreis zu sprengen, das heißt, den Kreis zu aktivieren und eine neue richtige Gefühlsreaktion zu empfinden; damit kann die unbewußte Kraft der alten Reaktion beseitigt werden. Sonst vermag das Kind, wenn es in der Pubertät sexuelle Regungen verspürt, sich niemals vollständig frei fühlen, wenn es masturbiert. Es mag dann glauben, es fühle sich schuldig, doch tatsächlich werden die alten Hemmungsgefühle wieder aktiviert und durchkreuzen den Wunsch nach sexueller Lust. Man beachte die sich darin äußernde Entwicklung! Hemmung nicht-sexueller Lust in sehr frühem Alter beeinträchtigt die Erfahrung sexueller Lust in einem späteren Alter, das heißt, sexuelle Störungen wie Frigidität und Impotenz haben ihren Ursprung in nicht-sexuellen Erlebnissen und Entwicklungsphasen. Ratschläge über Sexualtechniken und Beschäftigung mit Sexualhemmungen werden die den sexuellen Funktionsstörungen zugrunde liegenden psychischen Mechanismen niemals erreichen. Ein Patient, der sich während eines Primais eine Stunde lang oder länger streichelt, ist in der gleichen Lage wie jemand, der während eines mit der Kindheit zusammenhängenden Primais heftige Saugebewegungen ausführt — beide erleben verdichtete, zusammengedrängte Erfahrungen wieder, die sich über Jahre hin erstreckt haben können. Der Patient berührt sich nicht aufgrund einer einzelnen erinnerten Episode. Er berührt sich wegen all der Augenblicke, da er es wünschte und nicht konnte. Anschließend kann sein zwang188
hafter Drang zu masturbieren erheblich an Kraft verlieren, genauso wie jemand, der ein Urerlebnis hatte, in dessen Mittelpunkt der Wunsch zu saugen stand, nachher nicht mehr den Drang zu rauchen verspüren mag. Das Verbot, den eigenen Körper zu berühren, tritt nicht isoliert auf. Neurotische Eltern scheinen ihre Kinder ständig daran zu hindern, überhaupt etwas zu berühren. Sie unterdrücken und hemmen die kindliche Neugier, so daß das Kind später keine Neugier mehr zeigt; dann wird es dafür bestraft, weil es ein apathischer Schüler ist und kein sonderliches Interesse an den Lehrveranstaltungen aufzubringen vermag. In einem solchen Falle reagiert das Kind lediglich auf sein frühes Leben, in dem es erfahren mußte, daß es bestraft wurde, wenn es seine Hände nach irgend etwas ausstreckte, wenn es lebhaftes Interesse und Aufgewecktheit zeigte. Das Verbot, neugierig zu sein und sich für seinen eigenen Körper zu interessieren, hat unter anderem eine spätere übermäßige Neugier auf Körper zur Folge — eine neurotische Reaktion, die Nachtbars mit Striptease-Vorstellungen zu einem blühenden Geschäft macht.
Inzest Es gehört zu den Standardvorstellungen der Psychologie, vor allem der Freudschen Richtung, daß Kinder in einem bestimmten Alter inzestuöse Gefühle gegenüber dem Elternteil des anderen Geschlechts entwickeln und verdrängen müssen. Nach meiner Ansicht handelt es sich dabei um eine irrige Vorstellung. Inzestuöse Gefühle sind neurotisch. In ihren Untersuchungen an Schimpansen hat Jane Goodall festgestellt, daß Inzest selten, wenn überhaupt vorkommt. Sie ist der Auffassung, daß die enge
und langdauernde Beziehung des kleinen Schimpansen zu seiner Mutter die mütterliche Rolle ganz genau festlegt. Der junge Schimpanse betrachtet die Mutter bei Eintritt in die Adoleszenz nicht als ein Sexualobjekt. Wenn die Mutter tatsächlich eine Mutter ist, die beständig für ihr Kind sorgt, es schützt und wärmt, dann entwickelt ein Kind, so scheint es jedenfalls, keine Inzestgefühle. Wenn eine Mutter eine andere, nicht notwendigerweise verführerische Rolle spielt, wenn sie sich ablehnend und unmütterlich verhält, dann mag das in einem Kind inzestuöse Wünsche auslösen. Wenn ein Kind vernachlässigt wird, ein verzweifeltes Bedürfnis nach Wärme verspürt, kann es 189
dieses Bedürfnis erotisieren, weil es nicht in der Lage ist, dieses Bedürfnis auf direkte und offene Weise mit seinen Eltern zu befriedigen. Dann vermischen sich Liebesbedürfnis und Sexualität, und mit dem Liebesbedürfnis können Inzestwünsche auftauchen. Doch nach meiner Meinung sind inzestuöse Gefühle nicht unvermeidlich. Aus den Untersuchungen von Jane Goodall können wir unter anderem lernen, daß Jungtiere lange mit ihren Müttern zusammenleben; daß die Mütter mit ihren Kindern viel Körperkontakt und Zärtlichkeit austauschen und daß sie ihren Jungen viel Schutz gewähren. Die Affenmütter gehen nicht zur Arbeit oder einkaufen. Sie sind für ihre Kinder da. Nicht unwesentlich ist, daß Jane Goodall festgestellt hat, daß unter Schimpansen selten, wenn überhaupt Homosexualität anzutreffen ist. Ich erwähne diesen Punkt, weil einige Fälle von Homosexualität, die wir behandelt haben, sich auf das verführerische Verhalten von Müttern zurückführen ließen, von Müttern, die ihre Kinder unbewußt an sich fesseln und von allen Frauen fernhalten, um zu verhindern, daß in den Kindern Inzestwünsche aufkommen.
Einer der Gründe für die Wirksamkeit der Primärtherapie besteht darin, daß die Patienten über ihre sexuellen Schwierigkeiten mit dem Therapeuten nicht nur reden, sondern sich selbst berühren, ihren Körper fühlen und tun, was sie nie haben tun dürfen. Die konventionelle Therapie konzentriert sich für gewöhnlich nur auf das Aussprechen von Problemen, über die der Patient niemals hat sprechen können. Als wenn es dabei nur um Worte und Gedanken ginge! Solche gleichsam aufspaltenden Methoden nehmen auf den Körper des Patienten keine Rücksicht. Ein Exhibitionist kann beispielsweise während eines Urerlebnisses in der Therapiegruppe seinen Penis zur Schau stellen und den Grund für seinen Exhibitionismus gefühlsmäßig erfassen (»Ein großer Penis ist nicht widerlich und abstoßend, Mamma«). Er sitzt nicht in einem Sessel und redet nur über seinen Exhibitionismus. Die normale Entwicklung der Sexualfunktionen ist mithin keine Frage sexueller Erziehung. Sie ist vielmehr eine Frage von Erziehung im weitesten Sinne des Wortes - von Erziehung, die deutlich macht, daß Gefühle wünschenswert sind. Ein so erzogenes Kind wird bei Eintritt in die Pubertät ein fühlender Mensch sein, der unter dem Eindruck sexueller Aktivierung, die mit der Pubertät einhergeht, obendrein sexuelle Gefühle hat. Sexualerziehung heißt, daß Eltern ihren Kindern die Möglichkeit geben, ausdrucks- und reak190
tionsfreudige Menschenwesen zu werden, die später auch in der Lage sind, in ihrem Sexualverhalten ausdrucks- und reaktionsfreudig zu sein. Sexualerziehung heißt ferner, daß den Kindern gestattet wird, sich ohne Einschränkung körperlich zu entfalten, ständig ihre Bewegungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen, daß ihnen nicht fortwährend vorgehalten wird: »Sitz endlich still!«; nur so können sie in ihrem späteren
Sexualleben den Körper ungehemmt und frei einsetzen. Schließlich heißt Sexualerziehung, daß das Kind nicht gezwungen wird, irgendein entscheidendes Gefühl zu verdrängen, denn durch diese Verdrängung wesentlicher Persönlichkeitsanteile wird das Kind daran gehindert, ein Mensch mit Gefühlen zu werden. Im Grunde genommen, das heißt im eigentlichen Sinne des Wortes, gibt es keine Sexualerziehung. Es kann lediglich darum gehen, einem Kind zu erlauben, es selbst zu sein, so daß es sich zu einem Menschen mit sexuellen Empfindungen entwickeln kann.
NANCY Nach drei Tagen primärtherapeutischer Behandlung begann ich zu fühlen, als ich mich an eine Szene erinnerte, die bereits zuvor viele Male blitzartig in meinem Bewußtsein aufgetaucht war, ohne daß ich irgend etwas damit hätte verbinden können. Meine Mutter und ich brachten die Zimmer im oberen Stockwerk unseres Hauses in Ordnung. Da rief meine Mutter nach mir. »Schau dir dies an«, sagte sie und schwenkte einen blutigen Schlüpfer meiner Schwester vor meinem Gesicht hin und her. »Das wird dir auch passieren!« Mein Gott, so weihte sie mich in das Geheimnis des Lebens ein. Ich hatte das Gefühl, eine dumme, gemeine Mutter zu haben, und unmittelbar darauf kam ein Gefühl des Abscheus vor meinem Körper auf. Dieses Gefühl war so stark, daß sich mit ihm sofort der Gedanke an Geschlechtsverkehr mit meinem Mann verband. Auch dabei fühlte ich Abscheu. Wenn ich versuche, mit meinem Mann Verkehr zu haben, dann steht meine Mutter hinter mir und sagt: »Welch ein erniedrigendes Schauspiel deiner tierischen Natur. Wir sollten uns solchen Gefühlen nicht hingeben, denn sie sind Teil unserer sündhaften Begierden!« Und so verkrampfte sich mein Körper immer wieder, wurde starr, gefror zu Eis. Dann fiel mir ein weiterer Zusammenhang ein: mein Vater gab niemals
zu erkennen, daß er meinen Körper wahrnahm. Er existierte nicht für ihn. Er gab 191
niemals Bemerkungen dazu ab, wie ich aussah, wie ich tanzte und wie meine Figur sich zu ihrem Vorteil entwickelte — und was am schlimmsten war, er berührte mich niemals!! So war es. Ich hatte keinen Körper! Nachdem ich diesen Zusammenhang erkannt hatte, geschah alles so schnell, daß ich es kaum behalten konnte. Meine Beine fuhren plötzlich in die Höhe. Ich fing an, sie zu berühren und zu reiben, so heftig ich konnte. SIE SCHMERZTEN NICHT! Zuvor hatte meine Haut bei der leichtesten Berührung entsetzlich geschmerzt. Selbst als Dr. Michael mich untersuchte, als er meinen Unterschenkel abtastete. Das tat so weh (ich habe es ihm nicht gesagt). Als nächstes berührte ich meine Oberschenkel und mein Gesäß und meinen Magen und den Brustkorb und dann, OH - meine Brüste! Sie fühlten sich so rund und weich und warm an. Dann, und es durchfuhr mich wie ein Blitz, streichelte ich meine Brustwarzen. Ich fühlte sofort, wie meine Genitalien vor Erregung zu zittern anfingen. Heien sagte zu mir: »Meinst du nicht, daß es ein bißchen schwierig ist, einen neuen Körper zu fühlen, wenn man all diese Kleider anhat?« Zuerst zögerte ich, doch dann konnte ich dem Gefühl nicht widerstehen. Ängstlich legte ich meine Kleider ab und dann fühlte ich begierig alles an mir. Ich spielte mit meinen Daumen, als ich meine Hände spürte. Ich spreizte die Finger mal so, mal so, und sie fühlten sich so geschmeidig an. Dann durchzuckte es mich — KEIN SCHMERZ! Die Arthritis in meinen Händen war verschwunden! Im Motel setzte ich meine Entdeckungen fort. Nachdem ich mir praktisch
die Kleider vom Leib gerissen hatte, legte ich mich aufs Bett und dachte, ich könne hundert Männer verführen und Gefallen daran finden! Ich, die gute frigide Nancy! Ich fühlte meine Genitalien. Sie waren weich und warm, naß und schlüpfrig. Ich schlief ein, mit vollständig ausgebreitetem Körper - die Beine gespreizt, die Arme sorglos über dem Kopf verschränkt — mein Gott! Ich kann es immer noch nicht glauben. Vorher mußte ich immer zusammengekrümmt wie eine Kugel schlafen. Jetzt leuchteten Farben vor mir auf, als hätte ein grauer Nebelschleier sich verzogen. Meine Oberschenkel kribbelten, als würden sie zum erstenmal von Blut durchströmt. Nach einem meiner Geburtsprimals verspürte ich einen Ruck, als hätten sich meine Beine plötzlich von Tausenden von Stricken befreit. Am meisten beglückte mich, daß meine Fußgelenke, Beine 192
und Hüften nicht mehr so entsetzlich schmerzten. Ich konnte tatsächlich den halben Lotus-Sitz (eine Yoga-Stellung) einnehmen, ohne daß meine Knie in die Luft ragten.
13 Kindliche Ängste – bei Tag und bei Nacht
A uf die angstauslösende Wirkung eines frühen Traumas habe ich bereits hingewiesen. Angst ist der Urheber von Verdrängungen. Wenn Urtraumata oder verschüttete Urgefühle die Abwehrmechanismen zu durchbrechen drohen, steigt Angst auf und signalisiert uns, die Abwehrfronten zu verstärken. Der Organismus gerät in Angst, weil seine Integrität und sein Fortbestand bedroht sind. Angst ist folglich ein das Überleben garantierender Mechanismus. Die katastrophalen frühen Schmerzen und die sie begleitenden Ängste werden zugedeckt und im Gehirn gespeichert; der Organismus verhält sich anschließend so, als seien die frühen Traumata eine stets gegenwärtige Bedrohung. In gewissem Sinne sind sie es auch, weil sie noch im Gehirn vorhanden sind und abgewehrt werden müssen, wenn wir älter sind. Das Körpersystem kann sich nicht beschwichtigend sagen: »Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und kann das Gefühl ertragen, daß ich im Kinderkörbchen alleingelassen worden bin.« Denn bezüglich dieses Gefühls ist der betreffende Mensch nicht 25 Jahre alt. Er muß in seine frühe Kindheit zurückkehren, wieder sechs Monate alt werden und als ein Kleinkind die sich verfestigten Ängste erneut fühlen. Eine unbewältigte Erfahrung im sechsten Lebensmonat wird im Gehirn gespeichert und kann nicht dadurch überwunden werden, daß sie vom Standpunkt des Erwachsenen aus »verstanden« wird. Als »Erwachsener« das »Kleinkind« in sich erforschen zu wollen wäre ein neurotischer Aufspaltungsvorgang. Die verschütteten Ängste bilden einen Urspeicher latenter Furcht, die sich an die verschiedensten Dinge (je nach Lebensumständen) heftet, wenn die betreffende Person älter wird; so entstehen
Phobien. Phobien sind irrationale Ängste — Ängste ohne Grundlage in der Realität. Es stimmt zwar, daß sie in der äußeren Realität keine Grundlage haben, doch zweifellos sind sie Widerspiegelungen der inneren Realität. Sehen wir uns ein Beispiel für phobische Angst näher an — die Angst vor gewaltsamem Festhalten der Arme oder vor dem Aufenthalt in Räumen, die so eng sind, daß man sich nicht frei bewegen kann. 194
Gewöhnlich gerät ein Mensch nicht in panische Angst, wenn er sich in einem überfüllten Fahrstuhl befindet und nur wenig Bewegungsspielraum hat. Wenn dennoch Angst hochkommt, dann kann es sich um eine wiederbelebte frühe Angst handeln, etwa um die Angst, die entsteht, wenn man bewegungslos im Geburtskanal festgehalten wird. Die Überreaktion ist dann Folge einer vergangenen Erfahrung, die eine gegenwärtige Erfahrung intensiviert. Kinder zeigen häufig Angst vor der Dunkelheit, die sich als Angst vor dem Nichts verstehen läßt, das die Dunkelheit darstellt. Das heißt, wenn ein Kind allein in seinem Bettchen liegt, weitgehend unabgelenkt und hilflos, dann werden die latenten Ängste bewußtseinsnäher. Diese Ängste werden dann in die Dunkelheit projiziert, und das Kind mag etwa befürchten, Räuber hielten sich im Zimmer auf. Das Kind erfindet also eine Geschichte, die zu seinen Ängsten paßt. Ähnliche Prozesse spielen sich in Träumen ab. Bei vermindertem Bewußtsein tauchen Gefühle auf, und dann legt der Geist sich Geschichten zurecht, um den aufsteigenden Urgefühlen einen Sinn zu geben. Wenn ein Kind sich vorstellt, ein Räuber halte sich in seinem Zimmer auf, dann kann es damit die unterschwellige amorphe Mischung aus Primärängsten in Schach halten, aus Ängsten, die
sich vom Geburtstrauma bis zur Beschneidung erstrecken. Ein Kind – oder irgend jemand sonst, jedenfalls in diesem Bereich – hat keine Möglichkeit, die frühen nicht-verbalen Traumata zu »verstehen«; es ist ihnen hilflos ausgeliefert. Alles, was es tun kann, ist, sich durch Radio oder Fernsehen abzulenken oder seine Gefühle noch stärker zu verdrängen, indem es sich weismacht, es habe gar keine Angst. Es wird sich etwas vormachen, wenn es hört, wie seine Eltern beschwichtigend erklären: »Schau, du bist doch ein großer Junge. Du brauchst keine Angst zu haben.« Man stelle sich vor, in welche Verwirrung ein Kind gestoßen wird, wenn ihm erklärt wird, es habe keine Angst, während es in Wirklichkeit verängstigt ist. Seine Eltern, diese allwissenden Autoritäten, müssen nach seiner Vorstellung mehr wissen als es selbst; auf diese Weise verändert sich auf unmerkliche Weise sein gesamter Wahrnehmungshorizont. Es verliert die Orientierung, weil es statt seiner wahren Gefühle etwas anderes wahrnimmt. So wird ein Kind seiner selbst entfremdet, verliert den Kontakt zur Realität. Ich habe mich oft gefragt, warum die Dunkelheitsangst ein so universelles Phänomen ist; erst seit meinem letzten Urerlebnis habe ich eine Erklärung dafür. Ich werde dieses Urerlebnis ausführlicher 195
erläutern, weil ich glaube, daß es zum Verständnis der Angst vor Dunkelheit beitragen kann. Ich hatte während des betreffenden Tages in einem Swimming-pool gebadet und geschwommen, dessen Wasser ziemlich warm war, und hatte viel getaucht, um festzustellen, wie lange ich es unter Wasser aushalten könnte, ohne Luft zu holen. Nachdem ich eine Zeitlang unter Wasser gewesen war, überkam mich, als ich wieder auftauchte, ein Angstanfall, der mit dem seltsamen Gefühl verbunden war, gleich
den Verstand zu verlieren. Ich verspürte einen solchen Druck im Kopf, daß ich glaubte, ihn nicht ertragen zu können — und es schien mir, als könne ich den Atem nicht mehr anhalten. Ich legte mich einige Minuten nieder, um auszuruhen, versuchte mir das Gefühl auszureden und vergaß es schließlich. Am Abend desselben Tages spürte ich, allein in meinem Bett liegend, wie das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wieder von mir Besitz zu ergreifen drohte. Ich hatte vor irgend etwas Angst, das ich nicht definieren konnte. Ich lief ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Das eingeschaltete Licht beruhigte mich, doch ich wußte nicht, warum; auch war mir in diesem Augenblick nicht klar, daß die eingeschaltete Lampe eine beruhigende Wirkung auf mich ausübte. Ich legte mich wieder ins Bett, und die Angst verstärkte sich. Dann tauchte ich in das Gefühl ein und ließ mich von ihm forttragen. Schließlich versank ich in ein Geburtsprimal, hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und schnappte nach Luft; mein Gesicht muß dabei rot angelaufen sein. Während des Primais löste sich die Angst völlig auf; ich erlebte ganz einfach die vierstündigen Geburtswehen wieder und bemühte mich, ins Freie zu gelangen. Nach dem Urerlebnis verstand ich die entsetzliche Angst vor der Dunkelheit, die mich in der Kindheit immer wieder überfallen hatte. Ich verstand plötzlich, warum das Licht immer angeschaltet sein mußte, wenn ich schlafen ging. Während des Primals hatte ich das Gefühl, ganz allein einen Kampf auf Leben und Tod bestehen zu müssen, ohne daß jemand mir zu Hilfe kam oder mich tröstete. Als ich schließlich aus dem Geburtskanal ans Licht gelangte, nahm mich jemand auf den Arm und gab mir das Gefühl von Sicherheit. Licht wahrnehmen zu müssen war eine konditionierte, eine bedingte Reaktion; das heißt, mit Licht war für mich das Gefühl von Sicherheit und Wohlbehagen verbunden. In späteren Jahren überfiel mich Angst vor der Dunkelheit, weil die unbewußte Angst, die sich während der Geburt bei mir
festgesetzt hatte, wieder auftauchte, wenn ich nachts allein im Bett 196
lag. Als mich während der besagten Nacht Angst überkam, lief ich aufgrund einer eingeschliffenen Reaktion ins Badezimmer und schaltete das Licht ein, ohne die geringste Ahnung zu haben, warum ich das tat. Das Licht stand als Symbol für Ruhe und Sicherheit, die ich empfand, nachdem ich bei der Geburt endlich das Licht der Welt erblickt hatte. Vielleicht steht die universelle Urangst vor der Dunkelheit in Beziehung zu den Träumen, denen wir in der Dunkelheit bei der Geburt ausgeliefert sind; jedenfalls trifft das auf mich zu. Für Jahrzehnte hatte ich meine Angst vor der Dunkelheit »verloren«, doch offensichtlich war sie nicht verschwunden. Wenn die entsprechenden Umstände zusammentraten, kehrte die Angst zurück. Der Luftmangel im warmen Swimmingpool ließ die frühe schreckliche Angst wieder auftauchen. Weil ich keine Vorstellung darüber hatte, was mit mir geschah, fühlte ich nur Angst und glaubte, den Verstand zu verlieren; mein Geist konnte den heraufziehenden Druck nicht ertragen. Es ist zweifelhaft, ob das Erlebnis im Swimming-pool irgend etwas bewirkt hätte, wenn ich nicht über Jahre hin Urerlebnisse gehabt hätte. Die frühe Angst hätte sich wahrscheinlich meinem Zugriff entzogen; sie hätte sich als eine der »akzeptablen« Ängste Erwachsener geäußert, etwa als Angst vor elektrischen Steckdosen, als Angst vorm Fliegen oder auch als Angst davor, einen Fahrstuhl zu benutzen. Die Ängste Erwachsener sind symbolische Abkömmlinge der überwältigenden frühen Angst. In der Kindheit war meine Angst aufgrund der relativ schwachen Abwehrmechanismen noch spezifischer, das heißt, ihr Inhalt ließ
sich genauer beschreiben — es war die Angst davor, in der Dunkelheit allein gelassen zu werden. Die brüchigen Abwehrmechanismen ließen ständig wiederkehrende Alpträume zu, in denen ich mich unter der Erdoberfläche befand und versuchte ans Tageslicht zu gelangen. Damals war die Angst mir viel näher als heutzutage. Natürlich fallen nicht nur nicht-verbale Ängste der Verdrängung anheim. Auch die Angst vor den Eltern erleidet dieses Schicksal. Solche Ängste wagt ein Kind überhaupt nicht zu empfinden; es vermag sich nicht als geringschätzig behandelt und ungeliebt zu fühlen; es schreckt davor zurück, die mörderische Wut des Vaters oder die selbstmörderische Verzweiflung der Mutter gefühlsmäßig wahrzunehmen. Das Kind braucht nicht einmal unbedingt Angst zu empfinden, wenn es spürt, daß die Eltern es für eine »Heulsuse« halten und es deswegen ablehnen. Man kann einem Kind nicht nur direkt Ängste einflößen; auch die 197
Verhaltensweisen der Eltern sind angstauslösend. Ständige Nörgelei, Unzugänglichkeit und Wut der Eltern versetzen das Kind in Angst. Ein derart behandeltes Kind wird von den ersten Lebenstagen an so intensiv damit beschäftigt sein, seine Eltern zu besänftigen, daß es niemals dazu in der Lage sein wird, in seinen Anstrengungen innezuhalten und das Ausmaß seiner Ängste gefühlsmäßig auszuloten. Schwache, zu fürsorglichem Schutz unfähige Eltern lösen beim Kind ähnliche Reaktionen aus. In einem solchen Falle steht das Kind unter dem Eindruck einer unbewußten Angst, daß niemand da sei, der ihm Schutz gewährt. Dann mag es sich abmühen, den betreffenden Elternteil zu stärken (beispielsweise die Mutter zu bewegen, mit dem Trinken aufzuhören), damit es endlich jemanden hat, auf dessen Schutz es
sich verlassen kann. Solche kindlichen Anstrengungen sind nicht mit bewußter Überlegung verbunden. Sie werden vielmehr automatisch von der Angst des Kindes angesichts der elterlichen Schwäche ausgelöst. Ständig ängstliche Eltern veranlassen das Kind, seine eigenen Ängste zu verdrängen, weil es spürt, daß es gefährlich ist, ängstlich zu sein, wenn die Eltern schon ängstlich sind. Ich erinnere mich an einen Verkehrsunfall, dessen Zeuge ich war; die Mutter, die auf dem Vordersitz des Wagens saß, hatte keine Verletzungen davongetragen, gebärdete sich aber hysterisch, während ihr Kleinkind wie versteinert auf dem Rücksitz hockte. Niemand gab dem Kind das Gefühl von Schutz und damit Gelegenheit, seine Ängste gefahrlos zu empfinden. So wurde sein Entsetzen überwältigend und mußte verdrängt werden. Kinder haben häufig Angst einzuschlafen. Dafür gibt es viele Gründe, etwa die Angst davor, nicht wieder aufzuwachen. Doch der häufigste Grund ist die Angst vor seinen Alpträumen. Ein Kind kann so tun, als sei es den ganzen Tag frei von Angst, doch wenn es dann eingeschlafen ist, wenn seine Abwehrmechanismen wegfallen, dann wird es von schweren Ängsten geplagt. Wie ich weiter oben erklärt habe, scheinen sich um frühe katastrophale Ereignisse Abwehrfronten zu bilden. Wir können diesen Vorgang unter anderem bei Alpträumen erkennen. Das sozusagen in reiner Form erhaltene frühe Trauma taucht im Schlaf wieder auf, vor allem wenn im Laufe des Tages irgendein Erlebnis den Erinnerungskreis angerührt hat. Wenn ein Kind beispielsweise in einen Laufstall gesteckt oder bei einem Ballspiel von mehreren Jungen körperlich bedrängt wird, dann kann das Gefühl aktiviert werden, das es empfand, als es bei der Geburt zusammengepreßt wurde. Ich habe an anderer Stelle 198
geschrieben, im Schlaf tauchen genau jene mit dem Vorgang des Zusammengepreßtwerdens einhergehenden Sinneseindrücke auf
und das Kind kleide diese Eindrücke gleichsam in seinen Alptraum. Da es, außer in der Primärtherapie, keine Möglichkeit gibt, das Trauma begrifflich und vorstellungsmäßig zu erfassen, keine Möglichkeit, es wirklich zu verstehen, da es nicht-verbal, nicht mit Worten verknüpft ist, tauchen eben nur die Sinneseindrücke auf. Diese Eindrücke bedeuten Angst und Schrecken. Wenn ein Kind begreifen könnte, daß diese Eindrücke von der Geburt stammen, wenn es in der Lage wäre, sich diesen Eindrücken weit genug aufzuschließen, dann könnte es den Alptraum unter Umständen in ein Urerlebnis verwandeln, das er tatsächlich ist. Urerlebnisse sind ein Gegenmittel gegen Alpträume, vor allem gegen die immer wiederkehrenden. Ich hatte dreißig Jahre lang immer wieder einen Alptraum, in dem ich versuchte, einen Gewehrschuß auf einen Feind abzugeben; es gelang mir nie. Der Gewehrlauf brach ab, der Abzugshahn funktionierte nicht usw. Bei dem dazugehörigen Urerlebnis trug ich einen Schlafanzug, dessen Ärmel über den Händen zusammengeschnürt waren. In den ersten Lebensmonaten konnte ich mit meinen Händen nichts anfangen, und das zeigte sich dann in meinen Träumen. Die erzwungene Hilflosigkeit so früh im Leben war mit vielen Ängsten und Schrecken verbunden. Das Gefühl der Hilflosigkeit bedeutete, nicht die Kraft zu besitzen, die beständige Frustration, den Schmerz und das Entsetzen wegzudrängen. Selbst nach dem Urerlebnis hatte ich weiterhin den besagten Alptraum, doch er war jetzt weniger intensiv und trat auch nur noch sporadisch auf. Monate später hatte ich ihn wieder, nur diesmal ließ ich mich tiefer in das Gefühl absinken, das ihm zugrunde lag. Ich rang nach Luft, mein Gesicht verzog sich nach einer Seite, mein Mund war geschlossen, wie gelähmt, und blitzartig wurde mir klar, gefühlsmäßig klar, was das alles bedeutete ... ich war im Geburtskanal, mühte mich ab, geboren zu werden, und dabei nutzten mir meine Hände gar nichts; ich konnte sie nicht dazu benutzen, ins Freie zu gelangen. Das war eine prototypische Hilflosigkeit der Hände. Darüber hatten sich
viele Erfahrungen abgelagert, einschließlich der Erfahrung mit den abgebundenen Schlafanzugärmeln. Nach diesem »Urerlebnis« im Schlaf, mit dessen Hilfe ich den entsprechenden Zusammenhang hatte herstellen können, blieb der Alptraum aus, und nicht nur das, auch der bis dahin bestehende Mangel an körperlicher Geschicklichkeit, die 199
Unfähigkeit, beim Zusammensetzen oder Festhalten von Dingen die Hände richtig zu gebrauchen, besserte sich. Meine körperliche Hilflosigkeit war überstanden. Wenn eine Nabelschnur zu früh abgetrennt wird, können sich später Alpträume einstellen, in denen der Schläfer das Gefühl hat, ersticken zu müssen; wenn die Luftröhre des Neugeborenen von Geburtswasser blockiert ist, mag es später Alpträume haben, die von Ertrinken handeln.
Angst vor Wünschen Eine der gravierendsten kindlichen Ängste ist die Angst vor der Äußerung von Wünschen, so simpel dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Offene Äußerung von Wünschen ermöglicht ihre offene Ablehnung. Wenn Eltern sichtlich unzugänglich sind, sich sichtlich überspannt verhalten, übermäßige Strenge an den Tag legen oder sich völlig zurückziehen, dann ist das Kind gezwungen, sein Bedürfnis nach elterlicher Zuwendung zu unterdrücken. Es muß sein Bedürfnis ausagieren, denn wenn es ihm überhaupt nicht nachgäbe, wäre es mit dem Gefühl katastrophaler Hoffnungslosigkeit konfrontiert, und das zu einem
Zeitpunkt, da es dieses Gefühl noch nicht ertragen kann. Das Kind tut so, als verspure es kein Bedürfnis, und gerät in Angst, wenn das Bedürfnis sich bemerkbar macht. Das Kind hat sogar Angst davor zu sagen: »Mammi, kann ich haben«, »Kann ich bekommen« usw., weil die Gefahr besteht, daß die Mutter ihren Finger erhebt und giftet: »Nun sei endlich ruhig und hör auf zu quengeln.« Die meisten von uns blockieren das Äußern von Wünschen so automatisch, daß sie nicht einmal erkennen, daß sie es tun. Dadurch, daß wir keine Wünsche verspüren und äußern, halten wir die Angst in Schach. Vor einigen Monaten saß ich in einem Restaurant neben einer Großmutter mit ihren zwei Enkeltöchtern. Beide Kinder erhielten eine Speisekarte. Eines der Mädchen schaute sie an und erklärte: »Weißt du, eigentlich möchte ich heute abend nicht richtig warm essen. Ich werde mir alle Arten von Nachspeisen bestellen.« Ohne zu zögern antwortete die Großmutter: »Oh, das ist eine großartige Idee. Geh und such dir aus, was du alles möchtest.« Dieses Kind hatte keine Angst, Wünsche zu äußern. Doch wie viele Kinder würden sich schon trauen, etwas Derartiges zu sagen. Neuro200
tische Eltern reagieren auf alles, was nicht dem gewohnten Trott entspricht, mit Sätzen wie: »Hör auf mit diesen Albernheiten und verhalte dich anständig!« Für ein Kind, das täglich und in zahllosen Abwandlungen solche Sätze zu hören bekommt, bedeutet schließlich das Äußern von Wünschen nichts als Ablehnung. Ein Kind, dem genügend mißbilligende Blicke zugeworfen werden, wird zu einer »richtigen kleinen Dame« oder
zu einem »kleinen Herrn« und nicht zu einem freien Kind, das seinen Spaß haben und Wünsche äußern möchte. Eltern, die selbst Bedürfnisse haben, möchten nicht, daß ihre Kinder sie haben. Kinder werden häufig dafür gelobt, daß sie für sich selbst sorgen und keine Wünsche äußern. »Wenn man Wünsche äußert«, erklärte einer unserer Patienten, »dann muß man Angst haben, daß man niemals erhält, was man sich wünscht.« Das einzige, was man in einer neurotischen Familie wünschen kann, ist das, was die Eltern wünschen, und neurotische Eltern wünschen von ihren Kindern, daß sie ihre Wünsche nicht unmittelbar äußern. Die Kinder müssen erst etwas leisten und »verdienen«, was sie bekommen. Sie müssen ihre Wünsche ausagieren. Und neurotische Eltern möchten nicht, daß ihre Kinder Wünsche haben und äußern, weil sie nicht geben können. Die kindlichen Ängste sollten mit Nachsicht behandelt werden. Wenn ein Kind wirklich Angst davor hat, Schwimmunterricht zu nehmen, von einem Sprungbrett ins Wasser zu springen oder ein Pferd zu besteigen, dann sollte es nicht dazu gezwungen werden. Kinder gehen in ihren Handlungen gewöhnlich so weit, bis sie Angst verspüren. Ein Kind zu zwingen, seine Ängste zu »überwinden«, stellt eine Überlastung dar, die das Kind dazu nötigt, seine Ängste in den »Urspeicher« abzuleiten. Ein weinendes, von entsetzlicher Angst geplagtes Kind sollte nur in Begleitung seiner Eltern in einen Operationssaal gefahren werden; ebenso sollte ein verängstigtes Kind nicht gezwungen werden, im Kindergarten zu bleiben. Kleine Kinder sollte man in Krankenhäusern nicht allein den Ärzten und Krankenschwestern überlassen. Eltern sollten sich von Ärzten, die sie auffordern zu gehen, nicht einschüchtern lassen. Kinder brauchen in Zeiten der Belastung ihre Eltern, und wenn ein Arzt sich dies nicht klarmachen kann, dann sollten es zumindest die Eltern. Wenn
möglich sollten Eltern zu Ärzten gehen, die Verständnis dafür aufbringen, daß Kinder ihre Eltern brauchen. 201
Ein normales Kind empfindet Freude bei seinem Tun. Man kann ein Kind nicht zwingen, normal zu sein, wenn man es dazu veranlaßt, etwas zu tun. Es wird dann bestenfalls ohne Angst handeln, aber in der Nacht, wenn es allein ist und seine Angst fühlen kann, um so stärkere Furcht empfinden. Ängste, vor allem nächtliche Ängste, sollten ernstgenommen werden, denn dabei handelt es sich meistens um komplizierte psychische Vorgänge. In der Behandlung erlebte jemand erneut, wie er hungrig und durstig in ein dunkles Zimmer abgeschoben wurde. Das Licht, das er sah, als seine Eltern die Tür öffneten, war für ihn ein Signal, das Rettung verhieß. Später beruhigte es ihn, wenn er das Licht brennen ließ, ohne daß ihm der Grund klargeworden wäre, jedenfalls nicht bis zur Therapie. Kein Kind wächst ohne Angst auf. Wenn die Angst irrational ist, dann handelt es sich um Urangst. Und solche Urängste verschwinden nicht ohne weiteres. Gibt es dafür einen besseren Beweis als Alpträume, die im Alter von fünf Jahren einsetzen und bis zum sechzigsten oder siebzigsten Lebensjahr immer wieder auftreten? Wir glauben, daß Kinder über ihre Ängste hinauswachsen, weil sie sie ständig verändern und verfeinern. Keine neuvermählte Frau würde sich die Angst vor Räubern in der Toilette gestatten, doch sie hat unter Umständen immer noch Angst davor, das Haus im Dunkeln zu betreten. Und so kann auch ein Kind lernen, seine großen Ängste zu verschieben, wenn es älter wird. Es mag beispielsweise an Autorennen teilnehmen, dabei entsetzliche Angst verspüren und sich nach dem Rennen zeitweilig beruhigt und erleichtert fühlen. Obwohl es den
Anschein erweckt, ein tapferer Kerl zu sein, der »an Angst gewöhnt« ist, hat es doch lediglich eine Abfuhrmöglichkeit für seine Angst gefunden. Wenn ein Kind nachts Ablenkung braucht, wenn es möchte, daß seine Eltern in der Nähe sind, um es zu beruhigen, dann sollte man seinen Wünschen auf jeden Fall entgegenkommen. Man sollte einem Kind seine Ängste lassen und sie nicht noch verschlimmern, indem man es beschämt und damit zwingt, die Ängste zu verdrängen. Die Dialektik der Angst besteht darin, daß man um so mutiger und angstfreier ist, je mehr man seine Angst fühlt; je mehr man die Angst blockiert, um so stärker wird sie. Das heißt nichts anderes, als daß man um so mehr man selbst ist, je mehr man sich selbst fühlt, und wem dies gelingt, der hat auch weniger Anlaß, sich vor etwas zu fürchten. 202
Im folgenden gebe ich ein Beispiel für die Angst vor Wünschen und ihre Auswirkungen: »Einer der Gründe, warum ich mich einer Primärtherapie unterzogen habe, ist, daß ich ständig Angst davor hatte, andere Menschen zu berühren. Damit will ich nicht sagen, daß ich niemals Freunde hatte, doch ich hatte immer Angst davor, irgendeine Form körperlicher Zuneigung zu zeigen oder zu empfangen. Selbst als Kind war mir jede Spur von Herzlichkeit seitens meiner Mutter zuwider. Ich hatte einfach kein Vertrauen zu ihr. Nach ihren eigenen Worten war ich in >ständiger Bewegung, schwänzelte herum, wollte immer woanders hin, konnte einfach nicht stillhalten, wenn man dich auf den Armen wiegen, dir vorlesen oder nur an sich drücken wollte<. Überflüssig zu sagen, daß ich mein ganzes Leben lang praktisch impotent gewesen bin.
Nach fünf Monaten Primärtherapie fing ich allmählich an, den Grund meiner Störung zu fühlen: Ich hatte zahlreiche Urerlebnisse, in denen ich flach auf dem Rücken lag, meinen Kopf zu heben versuchte und dabei den Mund so weit aufriß, daß ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick müßten die Lippen in den Mundwinkeln einreißen. Ich konnte kein Wort herausbringen und mich vom Magen abwärts nicht bewegen. Dabei empfand ich ein quälendes Gefühl von Wunsch/Furcht. Als ich etwa fünfzehn Monate alt war, schrie ich spät in der Nacht nach >Mammi<, sie solle kommen und mich auf den Arm nehmen. Als sie nicht kam, schaukelte ich mein Bettchen so heftig, daß es über den Boden rutschte. Mein Vater hatte einen leichten Schlaf und wurde böse auf mich. Sie kamen in mein Zimmer und versuchten mich in meinem Bettchen niederzudrücken. Es ist sinnlos, ein Gefühl beschreiben zu wollen, für das unsere Sprache keine Worte besitzt. Ich habe jenes damalige Entsetzen noch nicht in seiner ganzen Stärke gefühlt – das Abtöten meines Bedürfnisses nach jenen Menschen, die für mich die ganze Welt bedeuteten, werde ich sicherlich erst nach vielen weiteren Urerlebnissen ganz nachempfinden können. Mit meinen Stimmungen kann ich bereits viel freier umgehen. Wenn ich heute an meinen Beinen die von jahrelanger rastloser Bewegung verdickten Adern sehe (vor einigen Jahren bin ich sogar um die ganze Erde getrampt), dann wird mir klar, daß es irgendwie gelungen sein muß, mein Bedürfnis niederzuhalten und zu unterdrücken.
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14 Elterliche Bedürfnisse
W ie ich bereits dargelegt habe, sind Schwangerschaften vielfach die Folge neurotischer Bedürfnisse. Die Neurose des betreffenden Elternteils klingt mit der Geburt des Kindes nicht aus. Gewöhnlich tritt sie noch deutlicher in Erscheinung, wenn das Kind heranwächst, denn dann kann es für seine Eltern erheblich mehr tun. Das führt schließlich dazu, daß der betreffende Elternteil, sobald das Kind erwachsen ist, wieder zu einem kleinen, fordernden Kind wird, das Rat und Lenkung verlangt. Eltern mißbrauchen und ruinieren ihre Kinder keineswegs mit Absicht. Sie suchen vielmehr mit Hilfe ihrer Kinder die Befriedigung eigener Bedürfnisse und fügen ihnen auf diese Weise Schaden zu. Jedes Mitglied einer neurotischen Familie ist ein Opfer. Je nach Art der neurotischen Wechselbeziehungen wird jeder zugleich Täter und Opfer; niemand gewinnt dabei. Die Bedürfnisstruktur des Neurotikers muß alles vereinnahmen, und wenn ein Neurotiker Kinder hat, dann werden auch sie in den Bedürfnisstrudel hineingerissen. Neurotiker können es nicht dulden, daß andere Menschen sie selbst sind, denn sie müssen sie entsprechend ihren Bedürfnissen umformen. Die Bedürfnisse des Neurotikers verzerren die Realität, denn der Neurotiker ist so sehr damit beschäftigt, seine Kinder für die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse einzuspannen, daß sie niemals, jedenfalls nicht für ihn, zu unabhängigen Menschen werden. Die
unbefriedigten Urbedürfnisse der Eltern sind für die Kinder unbedingte Befehle. Wer Kinder genauer betrachtet, erkennt in vielen Fällen, welche Bedürfnisse die Eltern haben. Kinder werden zu Sklaven ihrer Eltern, um die Rücksichtslosigkeit der eigenen Eltern wiedergutzumachen. Mütter machen etwa um die Kleidung ihrer Kinder so viel Aufhebens (was bis zur Quälerei gehen kann), weil sie sich selbst in ihrer Kindheit ständig nach mütterlicher Zuwendung gesehnt hatten. Der Vater, der in seiner Jugend als Sportler keinen Erfolg hatte und erleben mußte, daß der eigene Vater seine Liebe dem sportlich erfolgreichen Bruder zuwandte, mag versuchen, seinen Sohn nach dem Bilde zu formen, das ihm von einem Sportler vorschwebt. Auf der anderen Seite gilt ein Kind als »hoffnungslos«, wenn es sich den elterlichen Bedürfnissen nicht anpassen kann. Ein 204
Kind, das die Eltern nicht verstehen können, wird von ihnen schnell in etwas verwandelt, das sie verstehen können – oder es wird als hoffnungsloser Fall angesehen. In neurotischen Familien werden die Talente und Fähigkeiten des Kindes zur marktgängigen oder verkäuflichen Ware, mit der die Eltern sich Wohlstand, Prestige, Wichtigkeit, Macht oder was immer verschaffen können. Wenn die Eltern gegenüber ihren Geschwistern im Nachteil waren, dann benutzen sie ihre eigenen Kinder als Waffe, mit der sie gegen »jene« den Kampf aufnehmen, einen symbolischen Kampf, der mit ihrem Triumph endet. Ihr Kind ist keine Realität, sondern lediglich ein Symbol, das so eingesetzt wird, daß sie schließlich den Sieg davontragen und sich ein Gefühl erwerben können, das sie als Kinder immer vermißt haben — »wichtig« zu sein. Ihr Verhalten gegenüber den
Kindern wird freilich sorgfältig rationalisiert, da sie das Gefühl von Unwichtigkeit und Wertlosigkeit nicht ertragen können. So erklären die Eltern etwa dem Jungen, wie wichtig es für ihn sei, seine Schularbeiten gewissenhaft zu machen, oder fordern von der Tochter, sie solle auf ihr Äußeres achten, ihre Kleider in Ordnung halten, den Tanzunterricht fortsetzen usw. Kinder sind leicht zu verführen, weil sie gefallen möchten und nur zu gern glauben, daß die Eltern lediglich ihr Bestes wollen. Doch tatsächlich sind ihre Gefühle – »Ich möchte spielen, nicht büffeln« – ihr Bestes. Von neurotischen Erwachsenen hören wir immer wieder: »Ich wünschte, meine Eltern hätten mich härter angefaßt und nachdrücklicher zum Lernen angehalten.« Sie sagen dies, weil ihre Spannung und ihre Unruhe damit zusammenhängen, daß sie als Kinder zu vielen Dingen gezwungen wurden und daher nicht die Fähigkeit entwickeln konnten, sich mit einer Aufgabe lange genug zu beschäftigen und sie gut zu bewältigen. Das eigene Verlangen des Kindes gewährleistet die beste Disziplin. Zum natürlichen, eigenbestimmten Wachstum und zur Entwicklung des Kindes gehört wesentlich der Wunsch, etwas zu tun. Nur dieser Wunsch nach Aktivität motiviert das Kind zum Lernen und gibt ihm Freude am Lernen. Weder Zwang noch gutes Zureden können ein Kind bewegen, den Wunsch neurotischer Eltern als seinen eigenen legitimen Wunsch zu empfinden. Die Wirkung elterlicher Bedürfnisse läßt sich unschwer erkennen. Jemand, der von seinen Eltern nicht beachtet wird, zieht sich zurück und hat das Gefühl, wertlos zu sein, von niemanden für wichtig 205
gehalten zu werden. Als Mutter oder Vater kann er sich dann später nicht vorstellen, von welch entscheidender Bedeutung seine Liebe für seine Kinder ist, und so ignoriert er seine Kinder, weil er selbst das Gefühl hat, ein Nichts, etwas Unbedeutendes zu sein. Mangelnde elterliche Zuwendung und Aufmerksamkeit können auch das gegenteilige Ergebnis haben, nämlich dazu führen, daß jemand ständig und mit großer Lautstärke redet, um nicht ignoriert zu werden. Durch Reden wehrt der Betreffende seinen Schmerz ab. Seine Kinder müssen ihm zuhören und sind häufig nicht in der Lage, sich selbst zu äußern, weil er durch Reden seine Spannung abführen muß. Sein ständiges Quasseln überlastet das Kind, denn dessen Sinne kommen sozusagen niemals zur Ruhe, das heißt, sie werden dauernd überfordert. Es hört so eifrig zu, daß es keine Zeit findet, sich seiner Umgebung zu erfreuen, die Schönheit, die es umgibt, wahrzunehmen oder sich auf sich selbst zu besinnen. Die übergesprächigen Eltern erfordern seine ganze Aufmerksamkeit. Aus Angst, bestraft zu werden oder als frech hingestellt zu werden, kann es seinen Eltern nicht sagen, sie sollten endlich den Mund halten. Das Kind wird ein »Zuhörer«. Es wird gelobt dafür, daß es so gut zuhören kann, während es sich dabei in Wirklichkeit um ein Abwehrverhalten handelt. Das Kind ist gleichsam das Symptom seiner Eltern; unbefriedigte Bedürfnisse zwingen die Eltern, an ihren Kindern zu erkranken. Was heißt »krank« sein? Es heißt, so starke Bedürfnisse zu haben, unter dem Eindruck so heftigen Schmerzes zu stehen, daß fast die gesamte Realität verzerrt wird, um die Qual zu lindern. Kinder versuchen beinahe immer so zu sein, wie die Eltern es wünschen. Und die elterlichen Wünsche sind wie alle anderen neurotischen Wünsche Symbole für Bedürfnisse. Ein empfindliches kleines Kind wird von großer Angst erfaßt, wenn es sich nicht bemüht, den Eltern zu gefallen, denn wenn die Eltern wütend sind, hat es niemanden auf der Welt, an den es sich
wenden kann, der es zu trösten vermöchte. Kinder stehlen, nässen sich ein, masturbieren - alles nur, um sich zu trösten, und dann werden sie dafür bestraft. Wir können die kindliche Angst besser verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie uns zumute ist, wenn wir als Erwachsene gerüffelt oder kritisiert werden. Unser erster Gedanke ist dann, einen Freund aufzusuchen, der uns beruhigen und trösten soll. Kinder können das nicht. Sie müssen allein mit ihrem Leid fertig werden. Allmählich beginnen wir zu verstehen, warum reine Bedürfnisse nie206
mals befriedigt werden und dennoch weiterbestehen. Wenn ein Kind Hausarbeiten verrichten und für die Mutter sorgen muß, um sich ihrer Liebe zu vergewissern, dann wird es gewissermaßen zu einem Helfer, der ständig zur Stelle ist. Später wird es einen hilflosen Menschen wie seine Mutter heiraten, damit es die Art von Liebe empfängt, die es selbst in seiner Kindheit erfahren hat. Es mag dann immer noch vorgeben, unabhängig zu sein, und sich einreden: »Ich brauche niemanden«, denn bei einer anderen Einstellung würden der alte Schmerz und die Angst wieder hochkommen — die Angst, daß niemand für es sorgt oder es um seiner selbst willen liebt. Seinem eigenen Bedürfnis (nach liebevoller Zuwendung) nachzugeben löst tatsächlich Angst aus, da in der Kindheit das Bedürfnis, sich an die Mutter anzulehnen, von ihr umsorgt zu werden, nicht befriedigt, nicht mit Liebe beantwortet worden ist. Das Eingeständnis eines Bedürfnisses bedeutet mithin Schmerz. Um sich irgendwie, wenn auch nur vage, sicher zu fühlen, wird ein Mann unter Umständen sein Leben so gestalten, als liege ihm nichts daran, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Gleichzeitig wird er sich auf eine symbolische Auseinandersetzung mit seiner Frau einlassen, um sie zu veranlassen, sich unabhängig zu verhalten;
dabei handelt es sich in Wirklichkeit um Ersatzhandlungen, die den Zweck verfolgen, sich nachträglich eine wahre, unabhängige, Schutz und Sicherheit gewährende Mutter zu verschaffen. Er mag die Abhängigkeit, Unentschlossenheit und Passivität seiner Frau mißbilligen, doch sein Bedürfnis trieb ihn dazu, sie trotzdem zu heiraten. Er ist unzufrieden mit seiner Wahl, doch in Wirklichkeit hatte er gar keine Wahl. Ein solcher Mensch muß einer warmherzigen, aufgeschlossenen Frau aus dem Wege gehen, denn wenn ihm ohne Umschweife Wärme entgegengebracht wird, ohne daß er darum zu kämpfen hätte, dann kommt der Schmerz des alten Wunsches und der alten Versagung wieder hoch. Auch hier wieder ruft, in einer Art Dialektik, Bedürfnis Schmerz und Warmherzigkeit Vermeidung hervor — Vermeidung des alten Gefühls, keine warmherzige Zuwendung zu erhalten. Bedürfnisse sind unbewußt, sowohl weil sie schmerzlich sind als auch, weil sie einfach nicht eingestanden werden können, wenn man niemals etwas zu ihrer Befriedigung bekommen hat. Einer unserer Patienten erinnerte sich, daß er im Alter von acht Jahren Zeitungen in einem Stadtteil verkaufte, der etwas mehr als einen Kilometer vom Haus seiner Eltern entfernt lag. Eines Tages sah er in der Nähe 207
eine Straßenversammlung und ging hin, um zuzuhören, was da besprochen wurde; dabei verlor er sich unter all den großen Erwachsenen. Einige Minuten lang hatte er ein »komisches« Gefühl und verließ dann die Menge, um weiter seine Zeitungen zu verkaufen. Er verspürte nicht das Gefühl, das sich etwa folgendermaßen umschreiben läßt: »Ach, ich brauche eine Mammi, die für mich sorgt. Ich sollte nicht allein hier draußen sein.« Der Patient war als Kind vernachlässigt worden. Er wußte nicht, daß man auch anders aufwachsen kann. Nur sein Körper,
sein Bedürfnis gab ihm zu verstehen, daß irgend etwas nicht stimmen konnte. Er hatte ein »komisches« Gefühl. Aufgrund seines Bedürfnisses wurde er zu einem neurotisch unabhängigen Menschen, der dennoch auf abwegige Weise, allerdings vergeblich versuchte, einen Menschen zu finden, auf den er sich stützen könnte. Das Bedürfnis, ob erkannt oder nicht, war die eigentliche Wirklichkeit, gleichsam die zentrale Wahrheit des Jungen. Es würde sich nicht einfach auflösen, nur weil ein Analytiker ihn darauf aufmerksam machte. Das neurotische Verhalten war für den Jungen etwas Selbstverständliches, das seine Eltern ihm unbewußt beigebracht hatten; ihre Lebensphilosophie lautete, mit harter Arbeit und Fleiß werde man zu einem guten Erwachsenen. In Wahrheit zieht man damit Neurotiker heran. Der Junge aus der eben angeführten Fallgeschichte trug sein unbefriedigtes Bedürfnis ständig mit sich herum. Ihm war aufgegeben, sich abzumühen und eigene Wege zu finden, mit seinem Bedürfnis zu Rande zu kommen. Im allgemeinen hängt es vom Zufall ab, welche Wege jemand wählt, um seinen Bedürfnissen Genüge zu tun. Der freundliche Chef eines Zeitungsvertriebs, der ihn dafür lobt, daß er so viele Zeitungen verkauft, kann seinen neurotischen Arbeitseifer auf diesem Gebiet fördern. Ein freundlicher Geschichtslehrer kann ihn veranlassen, sich in die Geschichte zu vertiefen. Oder ein Sportlehrer kann durch sein Verhalten in ihm den Wunsch wecken, sich sportlichen Aktivitäten zu widmen. Die geringste Bedürfnisbefriedigung kann den Lebenslauf eines Kindes in eine bestimmte Richtung lenken. Aus diesem Grunde erinnern wir uns so gut an unsere freundlichen, Gefühlswärme ausstrahlenden Lehrer. Offensichtlich nahmen sie in unserem Leben deshalb einen hervorragenden Platz .ein, weil sie uns Wärme und Anteilnahme entgegenbrachten, ohne daß wir uns darum hätten bemühen müssen.
Für einen Jungen, der Fleiß und Arbeitseifer entwickelt, ist Geldverdienen zugleich Abwehrverhalten und Bedürfnisbefriedigung. Doch 208
das Geld beschwichtigt lediglich das Bedürfnis, ohne es wirklich zu befriedigen. Ohne Zweifel ändert sich das Bedürfnis nicht schon dadurch, daß man etwas dafür tut. Die Art und Weise, wie jemand mit seinem Bedürfnis umgeht, was er dafür tut, bezeichnen wir als Form der Neurose. Homosexualität, Perversion oder Geldverdienen sind Versuche, Bedürfnisse in symbolischer Weise zu befriedigen. Die Betreffenden sind auch als Erwachsene und Eltern weiterhin Zwängen ausgeliefert. Bis in die Nacht hinein gehen sie ihren Geschäften nach, wollen immer mehr Geld verdienen, legen niemals eine Ruhepause ein, denn wenn sie sich entspannen und mit ihren Kindern spielen, dann steigen Ängste auf, Ängste davor, nicht fleißig genug zu sein; Fleiß ist ihre vergebliche Suche nach Liebe. Die Gesellschaft lobt ihre Arbeitswut, ihre unermüdliche Geschäftigkeit, und solche Leute können in einen Erfolgsrausch geraten. Frauen und Kinder werden vernachlässigt, weil sie nur an ihre persönliche Befriedigung denken. Jeder wohlmeinende Rat, sich nicht zu überarbeiten, ist in den Wind gesprochen, denn genauso gut könnte man ihnen sagen: »Hör auf zu essen!«, wenn sie Hunger verspüren. Ich bezeichne Bedürfnisse als »primär«, weil sie Vorrang vor allen anderen menschlichen Bestrebungen haben, selbst vor den Bedürfnissen der eigenen Kinder. Eltern sind nicht bewußt lieblos; tatsächlich antworten die meisten, wenn man sie fragt, ob sie ihre Kinder lieben, mit großer Wahrscheinlichkeit, das könnten sie nur bestätigen. Dennoch machen sie ihre Kinder neurotisch. Sie glauben, daß sie für ihre Kinder nur das Beste
wollen, wenn sie von ihnen gute Schulnoten verlangen und erwarten, daß sie die Aufnahmeprüfungen für die besten Schulen bestehen. Noch so überzeugende Argumente können sie nicht in ihrem Glauben erschüttern, sie täten dies alles nur aus Liebe. Nur wenige neurotische Eltern sehen ein, daß es ihren eigenen Interessen dient, wenn sie möglichst viel Geld verdienen wollen, eine Abendschule besuchen usw. Meistens greift man zu Rationalisierungen und erklärt, das sei für die Familie notwendig; gelegentlich wird das eigene Verhalten auch als »Opfer« hingestellt. Wenn die Kinder sich beklagen, dann fühlen die Eltern sich noch im Recht, wenn sie ihnen voller Empörung vorhalten: »Schau nur, was ich alles für dich tue, undankbares Kind!« Einige Eltern sind von einem Schmerz erfüllt, der so überwältigend ist, daß sie ständig in Phantasien leben müssen, in einem Gewebe von Gedanken und Vorstellungen, mit dem sie ihren Schmerz 209
einhüllen. Dann wird die Frage eines Kindes überhaupt nicht gehört, und wenn das Kind hartnäckig bleibt, muß es damit rechnen, als Quälgeist beschimpft zu werden. Eltern, die vor ihrem Schmerz nicht in Phantasien, sozusagen nach innen flüchten, entfliehen vielleicht nach draußen, das heißt, sie suchen beständig Partys und Nachtklubs auf. Eine chronisch depressive Mutter mag unter dem Zwang stehen, tanzen zu gehen oder sich in Bars aufzuhalten, um auf diese Weise Entlastung zu finden. Die Tatsache, daß ihr Kind darunter leidet, spielt für die Mutter, die selbst leidet, kaum eine Rolle. Sie wird ihrem Kind keine Hilfe sein, ehe sie ihr Elend nicht fühlt, statt es auszuagieren. Sobald dies geschieht, wird sie erkennen, was sie ihrem Kind antut, ohne daß jemand sie darauf hinweisen muß.
Neurotische Eltern sind unerreichbar, weil sie nicht sie selbst sind. Ihr Kind hat es mit einer »Fassade« zu tun, es macht dabei die gleiche Erfahrung wie Therapeuten, die viel Zeit und Mühe darauf verwenden müssen, um an Patienten mit starren Abwehrmechanismen heranzukommen. Die Fassade eines Menschen soll wie eine Art Maske etwas verbergen. So dürfen wir erwarten, daß Eltern ihre Kinder zwingen, sich Masken anzulegen, indem sie unabweisbare Forderungen an sie stellen. Kinder entwickeln eine »Persönlichkeit«, die sie von ihrem Schmerz isoliert und ihr Überleben garantiert. Es überrascht uns nicht, daß »Persönlichkeiten« gefördert werden. Wenn ein Kind beispielsweise lernt, sich mit Witzen zur Wehr zu setzen, und wenn seine Fähigkeit, Heiterkeit zu erregen, den Eltern gefällt, dann wird es dieses besondere Abwehrverhalten beibehalten. Andere Menschen seiner Umgebung schätzen es womöglich wegen seiner Spaßhaftigkeit; dann wird es sich schon recht bald geschmeichelt fühlen, wenn es etwa hört, daß Mädchen seine »Persönlichkeit« mögen. Wir richten unsere Fassaden nicht bewußt auf. Tausende von Erfahrungen, in denen unser wahres Selbst gehindert wurde, sich zu äußern, sind daran beteiligt. Darum ist uns die Fassade auch nicht bewußt. Sie hat sich gleichsam automatisch gebildet. Wenn ein Junge versucht, ein »Mann« zu sein, weil sein Vater es wünscht, dann kann er sich angewöhnen, leise zu sprechen, leiser als üblich, jedenfalls bei einem kleinen Jungen. Mit seiner leisen Stimme versucht das Kind unbewußt, seinem Vater zu gefallen; häufig ist dem Kind nicht einmal bewußt, daß sein Vater von ihm erwartet, hart und männlich zu sein. Der Wunsch des Vaters kann sich auf 210
unmerkliche Weise äußern, etwa in dem Interesse, mit dem er den Sportteil einer Zeitung liest, oder in bewundernden Bemerkungen über Sportler, die in den Sportsendungen des Fernsehens vorgestellt werden. Wenn das Kind die Aufmerksamkeit des Vaters nur dann auf sich zieht, wenn es dessen Neigungen teilt, dann wird es notgedrungen bald dahinterkommen, daß es nicht geliebt wird, wenn es so ist, wie es sein möchte. Das Kind lernt mit der Zeit, anders zu sein, als es ist, nämlich das zu sein, was ihm Liebe einbringt. Die »Handlung« des Leisesprechens oder des Nett- und Höflichseins ist ein unbewußtes Schauspiel, das man unter Umständen sein Leben lang aufführt. Die Handlung kann bedeuten, daß man in der Beziehung zu einem Vater, der Gewinner sein muß, den Verlierer spielt, oder sie kann besagen, daß man sich als Blödian verhält, nur weil ein Elternteil das Gefühl haben muß, ein heller Kopf zu sein. Bei einem Erwachsenen kann sie bedeuten, sich als unermüdlichen Helfer anzubieten, eine Rolle, in der ein Kind vollkommen aufgeht, wenn es über längere Strecken seiner Kindheit für eine kranke Mutter sorgen mußte. Als letztes Beispiel sei die Vermittlerrolle genannt, die jemandem zufällt, der bereits in der Kindheit in diese Rolle gedrängt wurde, wenn es galt, Streitigkeiten zwischen den Eltern zu schlichten; die Eltern zu versöhnen, sie zusammenzuhalten, hieß für ihn, sich die Familie zu erhalten. Wie dem Kind ist auch den Eltern nicht bewußt, was in solchen Fällen vor sich geht. Ein Elternteil, der von seinen Eltern angehalten wurde, Wohlverhalten an den Tag zu legen, kann versuchen, sein Kind entsprechend zu formen und zu erziehen. Ein im psychischen Sinne erstarrter, gleichsam toter Elternteil wird sein Kind automatisch zum Schweigen bringen, wenn es etwa zu laut lacht. Der betreffende Elternteil mag in einem solchen Fall einen von den eigenen Eltern häufig ausgesprochenen Befehl wie etwa: »Still, weck Vater nicht auf!«
ausagieren. Wenn ein Kind sich daneben benimmt, wenn es nicht aufgeweckt ist und schlechte Schulnoten nach Haus bringt, wenn es beim Klavierspielen eine Note ausläßt, dann macht es in seinen Augen nicht nur einen Fehler; dieser Fehler hat vielmehr eine bestimmte Bedeutung, die sich in die Worte kleiden läßt: »Ich werde nicht geliebt.« Aus diesem Grunde haben Kinder, die den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht genügen, so viel Angst. Ein Kind kann auf die Kritik eines Lehrers überempfindlich reagieren, weil dadurch die tiefer sitzende Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe geweckt wird. Warum verlangen Eltern von ihren 211
Kindern eine derartige Perfektion? Weil sie Liebe brauchen und ihr Bedürfnis danach mittels ihrer Kinder ausagieren. Ein »freches« Kind ist eine Bedrohung für eine Mutter, die ihr Leben lang »lieb« gewesen ist, um sich einreden zu können, sie werde geliebt; genauso ist ein lernunwilliges, »dummes« Kind eine Bedrohung für einen intellektuellen Elternteil, der die akademischen Weihen empfangen hat. Somit kann ein Kind sein Theaterspiel fortsetzen und denken, es werde geliebt; doch wirkliche Liebe ist etwas ganz anderes, sie fordert kein wie immer geartetes Theater. Hinter dem unter Umständen lebenslangen Theaterspiel steht die Absicht, die Eltern dazu zu bringen, Menschen zu sein, die Kinder unbedingt brauchen, nämlich Menschen, die Liebe geben. Tragischerweise bewahren wir mit der Fassade, die wir alle zur Schau stellen, die Vergangenheit und übertragen sie auf die Gegenwart. Wir »handeln« schüchtern, streitsüchtig, gescheit oder ängstlich in einer Zeit, der Gegenwart, wo all dies nicht mehr am Platze ist. Normale Menschen sind nicht schüchtern. Wenn diese Verhaltensweisen den gegenwärtigen Umständen
nicht mehr entsprechen, dann müssen sie aus der Vergangenheit stammen, wo sie tatsächlich angemessen waren. So wird unbewußt die Vergangenheit in die Gegenwart getragen. Damit soll verhindert werden, daß das Gefühl auftaucht, nicht geliebt zu werden. Primärpatienten müssen sich mit ihren Ängsten und ihren wahren Gefühlen auseinandersetzen, weil wir ihnen nicht gestatten, eine Fassade vor sich herzutragen, »Theater« zu spielen. In dieser Hinsicht ist der Therapeut das gerade Gegenteil der Eltern. Wenn Neurotiker in der Gegenwart so handeln, als lebten sie noch in der Vergangenheit, dann heißt das, daß sie jene Vergangenheit und die damit verbundene Angst nicht als eine gesonderte, zurückliegende Erfahrung begreifen. Sie setzen sich immer noch auf symbolische Weise mit ihrer Vergangenheit auseinander. Und Kinder werden in diese Auseinandersetzung einbezogen. Wie ich bereits erwähnt habe, hatte einer unserer Patienten ein Urerlebnis, in dem er zunächst die Gefühllosigkeit in den Augen seiner Eltern bemerkte und ihm in einem schrecklichen, gespenstischen Augenblick klar wurde, daß auch er »tot« sein mußte, um leben zu können. Er verhielt sich gleichsam leblos und fühlte sich dadurch einigermaßen stabilisiert, bis er in der Behandlung das frühe Entsetzen wiedererlebte, das seiner angeblich unbekümmerten Jugend zugrunde lag, die entsetzliche Angst vor vernichtender Ablehnung. Wir verstehen jetzt, warum »Anleitungen« zur Kindererziehung in 212
ihrer Wirkung so begrenzt sind. Ein Kind, das nicht beachtet, mit dem nur selten gesprochen und das nicht nach seiner Meinung
befragt wird, entwickelt auf schleichende Weise das Gefühl, es sei ein Niemand, es sei nicht wert, daß man ihm Aufmerksamkeit widmet. Dieses Gefühl ist nicht bewußt, und jede spätere Handlung, die auf diesem Gefühl basiert, ist ebenfalls unbewußt. Wenn dieser »Niemand« Mutter oder Vater wird, dann dürfte er sein Kind anspornen, Leistungen zu erbringen und ein »Jemand« zu sein. Das heißt, er wird sich der Hilfe seines Kindes bedienen, um sich selbst vor dem Gefühl der Wertlosigkeit zu bewahren. Er mag noch so viel Bücher über Kindererziehung lesen, er wird sein Kind trotzdem antreiben, mit Leistungen zu glänzen. Das alles vollzieht sich auf unmerkliche Weise. So mag der betreffende Elternteil bei einem Spaziergang mit seinem fünfjährigen Kind auf ein Hinweisschild stoßen. Erfordert das Kind auf, ihm den Buchstaben »A« zu zeigen, und wenn es dem Kind gelingt, wird es aufgefordert, weitere Buchstaben herauszufinden; damit wird dem Kind die Möglichkeit genommen, das Gefühl des Erfolges auszukosten, denn es wird sofort bedrängt, auch die anderen Buchstaben zu benennen. Auf diese Weise wird das Kind nicht »unterrichtet«, sondern unter Druck gesetzt. Der Unterricht wird nicht für das Kind veranstaltet, er soll vielmehr den betreffenden Elternteil beruhigen, der ein gescheites Kind haben möchte, ein Kind, das ein »Jemand« ist. Später kann der Elternteil, Mutter oder Vater, darauf bestehen, daß das Kind sich Tag für Tag stundenlang mit seinen Hausaufgaben beschäftigt, mag stolz auf seinen fleißigen Sprößling sein und sich rationalisierend einreden, all die Mühen dienten nur dem Wohl des Kindes. Doch wir wissen, daß dies durchaus nicht der Fall ist. Ein Psychologe, der eine Erziehungs-»Anleitung« verfaßt, mag die Eltern davor warnen, daß »Kinder nicht zu Leistungen gezwungen werden sollten«. Doch neurotische Eltern wissen gar nicht, daß sie ihre Kinder unter Leistungsdruck setzen, oder wenn sie es wissen, dann können sie nicht im einzelnen angeben, auf welch subtile Weise sie es tun. Damit sind Ratschläge wie der oben genannte völlig wirkungslos. Außerdem können Eltern die
wohlgemeinten Ermahnungen des Psychologen in den Wind schlagen und sich darauf berufen, sie seien in dieser Hinsicht gänzlich anderer Meinung. Sie können sich einreden, unser »Erdendasein hat einen Zweck« und Leistungen zu erbringen gehöre nun einmal dazu. Auch diese Rationalisierung ist eine Abwehroperation. Der Psychologe wendet sich an die Fassade der Eltern, das heißt an Menschen, 213
die sich als Niemand fühlen. (»No body« – niemand, wörtlich: »Kein Körper« – ist eine treffende Bezeichnung für einen Menschen, der seines Körpers beraubt worden ist.) Wenn wir verstehen, daß wir Gefühle nicht haben, sondern unsere Gefühle buchstäblich sind, dann leuchtet auch ein, daß wir uns unserer Handlungen nicht bewußt sind, wenn jene Gefühle unbewußt sind. Solange wir die Seinsweise der Eltern nicht ändern, sind Ratschläge von nur geringem Wert. In diesem Zusammenhang spielt der Intellekt keine entscheidende Rolle. Jemand mag noch so klug sein und dennoch, in jenen Bereichen, die mit seinen Bedürfnissen zusammenhängen, mit Blindheit geschlagen sein. Neurotiker sind in ihren Bedürfnissen gefangen. Selbst wenn ihnen jemand zeigte, welchen Schaden sie ihren Kindern zufügen, wären sie nicht imstande, diesen Hinweis zu akzeptieren oder zu verstehen. Wir wissen, daß einige Eltern ihre Söhne beinahe von der Geburt an wie Mädchen behandeln. Das heißt, sie haben einen Jungen vor sich und »sehen« in ihm ein Mädchen. Andere Eltern »sehen« in ihren Kindern eine »Puppe«. Ganz gleich, wie das Kind sich verhält, die auf dem unbewußten Bedürfnis basierende elterliche Wahrnehmung ändert sich nicht. Wenn das Kind anfängt, sich auf das elterliche Bedürfnis einzustellen, dann verändert sich die Wahrnehmung seiner selbst. Auch das Kind sieht sich dann als Mädchen oder Puppe und
handelt entsprechend. Die wechselseitige Beziehung ist von falscher Wahrnehmung geprägt. Weder das Kind noch die Eltern können durch irgend etwas dazu bewegt werden, den Bereich deutlicher wahrzunehmen, dem gegenüber sie blind sind, denn ihre Wahrnehmung ist das Ergebnis verschütteter Gefühle. Eltern können durchaus in Bereichen, die ihr Bedürfnis nicht unmittelbar berühren, ein ziemlich gutes Wahrnehmungsvermögen haben. So kann zum Beispiel eine Mutter »erkennen«, daß es für ihren Sohn nicht wichtig ist, ein hervorragender Sportler zu sein, doch ein Vater mit einem besonderen Bedürfnis in dieser Hinsicht ist dazu nicht in der Lage. Falsche Wahrnehmungen stellen eine spezielle Form des Unbewußten dar. Durch verschüttete Gefühle wird die Wahrnehmung ständig verzerrt, so als sollte der Betreffende daran gehindert werden, sich dessen bewußt zu werden, was wirklich um ihn vor sich geht. Ein solcher Mensch kann durchaus ein sehr scharfsinniger Kinderpsychologe sein, der deutlich zu erkennen vermag, was andere Menschen ihren Kindern antun, und doch gleichzeitig für sein eigenes Verhalten keinen Blick haben. In welchem Ausmaß wir 214
unserer Wahrnehmungen nicht bewußt sind, hängt von der Stärke der Urschmerzen ab. Je stärker die unterschwelligen Gefühle, desto verzerrter die Wahrnehmung. Wer ein übermäßiges Bedürfnis nach Liebe hat, wird sich an jeden klammern, der auch nur das geringste Interesse an ihm zeigt, und er wird den anderen nicht so »sehen«, wie er wirklich ist. Je heftiger der Schmerz, desto verzerrter folglich die Wahrnehmung; und je geringer der unterschwellige Schmerz, desto genauer und realer die Wahrnehmungen. Darin besteht die wahre Bedeutung der
Objektivität uns selbst gegenüber. Je vertrauter wir mit uns sind, desto unverzerrter nehmen wir wahr, desto geringer ist die Gefahr, daß wir die Realität verkennen. Fehldeutungen unterliegen oder uns narren lassen. Solange jemand nicht er selbst ist, ist er ein »Niemand«. Er kann nur durch Gefühl zu jemand werden, durch das Gefühl, ein »Niemand« zu sein. Durch Gefühle werden wir realer. Die Dialektik besteht darin, daß jemand, dessen Gefühl der Wertlosigkeit abgespalten ist, dieses Gefühl mit Hilfe seiner Kinder ausagiert. Sobald die Eltern in der Lage sind, sie selbst zu sein, können sie auch damit aufhören, ihre Kinder anzutreiben, und können ihnen auch ohne Ratschläge von Fachleuten erlauben, sie selbst zu sein. Es werden nur selten Bücher geschrieben, in denen Kindern erklärt wird, wie sie sich gegenüber ihren Eltern verhalten sollen, denn wir wissen genau, daß Kinder ihre Eltern so behandeln, wie ihre Gefühle es ihnen aufgeben. Warum ist es so schwer zu begreifen, daß das gleiche für das Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern gilt? Jedesmal wenn ich über elterliche Bedürfnisse nachdenke, fallen mir Spielautomaten ein, bei denen sich Autos auf nachgeahmten Straßen hin und her bewegen. Der Spieler hat die Aufgabe, seinen Wagen in der richtigen Spur zu halten. Natürlich ist eine Neurose graphisch nicht so genau zu beschreiben, doch immerhin richten Eltern auf unbewußte Weise ihre eigenen neurotischen Grenzen auf und versuchen, ihre Kinder innerhalb dieser Grenzen zu halten. Es kommt immer dann zu Spannungen, wenn das Kind vom vorgeschriebenen Kurs abweicht, wenn es sich nicht richtig einordnet. Die Grenzen werden von den elterlichen Bedürfnissen gesetzt. Und ein Kind bekommt Schwierigkeiten, wenn es etwa versucht, einen Elternteil, der das Bedürfnis hat, sich gescheit zu fühlen, zu übertrumpfen und noch gescheiter zu sein. Man sollte nicht unterschätzen, in welch unkontrollierter Weise Eltern zur
Unvernunft neigen, wenn sie es mit einem widerspenstigen oder »aus dem Kurs gerate215
nen« Kind zu tun haben. Durch Geringfügigkeiten etwa der Art, daß ein Kind seine Haare nicht so kämmt, wie die Eltern es möchten, kann ein das ganze Leben anhaltender Schmerz hervorgerufen und ein Bündel von Abwehrmechanismen aktiviert werden. Wenn eine Frau einen »Vater« heiratet, der sich zu Brutalitäten hinreißen läßt, einen Mann, mit dem sie sich auf einen Machtkampf einlassen kann, mit dem Ziel, ihn zu einem freundlichen und liebevollen Menschen zu machen, dann wird sie aufgrund ihres Bedürfnisses das Wohlergehen ihrer Kinder hintanstellen. Sie wird ihre Kinder wissentlich in einer Familie mit einem brutalen Vater aufwachsen lassen, weil sie selbst ein verzweifeltes Kind ist, das sich an ihren »Vati« klammert. Sie mag ihren Kindern erklären, sie bleibe um ihrer willen im Haus, doch das wäre eine Lüge. Eine Mutter, die ihren Kindern auferlegt, mit einem grausamen Vater zusammenzuleben, ist genauso lieblos, wenn nicht liebloser, wie eine offen bösartige Mutter. Auch die Kinder können in der Mutter ein Opfer sehen; sie können das Gefühl haben: »Sie versucht ihre Bestes für uns, doch sie ist hilflos.« Die Kinder können das Gefühl nicht ertragen, daß ihre Mutter sie hintergangen hat, sie im Stich läßt und daß ihr Bedürfnis, von ihrem Mann geliebt zu werden, das Wohlergehen der Kinder übergeht. Da auch die Mutter noch ein kleines Mädchen ist, kann sich das Leben der ganzen Familie um »Vatis Launen« drehen; jeder verhält sich so, als gehe er auf einem Minenfeld, und die Kinder fragen sich, wann die Mutter endlich
den Vater verläßt und sie aus ihrer Not befreit. Sie müssen lange warten. So lange, bis die Mutter ihr Bedürfnis überwindet, und das zu erwarten, ist in der Tat hoffnungslos. Solche Kinder müssen sich über Jahre gegen die schlechten Launen des Vaters zur Wehr setzen, immer in der Hoffnung auf einen Tag, der die Wende bringt. Es sollte nunmehr klar sein, warum Aufklärung der Eltern über die Bedürfnisse ihrer Kinder von geringem Wert ist; es ist ein sinnloses Unterfangen, versuchen zu wollen, den Verstand der Eltern gegen die Bedürfnisse ihres Körpers zu mobilisieren. Viele Eltern »wissen« bereits, daß sie etwas Falsches tun; sie »wissen« auch, daß sie nicht bis zum Exzeß rauchen und trinken sollten. Die elterlichen Bedürfnisse lösen sich mit zunehmendem Alter keineswegs auf. Wenn Eltern auf ein Kind böse sind, weil es unaufmerksam gewesen ist, weil es auf eine Frage nicht schnell genug geantwortet hat usw., dann verspüren sie ein reales Gefühl, aller216
dings außerhalb des Kontextes. Sie sind zum Beispiel wirklich wütend auf die Indifferenz ihres Vaters, und sie müssen dieses Wutgefühl im richtigen Kontext empfinden, ehe sie in der Lage sind, nicht in Wut zu geraten, wenn ihr Sohn etwa nicht schnell genug auf ihren Wunsch reagiert. Wenn ein Vater seine Wut im richtigen Zusammenhang und gegen die richtige Person verspürt, dann wird sich sein Verhalten gegenüber seinem Kind ändern, ohne daß ein Ratschlag nötig wäre und ohne daß das Kind überhaupt erwähnt zu werden brauchte. Aus der euphemistisch so genannten »heilpädagogischen Kinderführung« sollte besser eine »heilpädagogische Erwachsenenführung« werden, die den Eltern ihre eigenen Gefühle näherbringt.
Wenn Eltern einmal zur richtigen Erkenntnis gelangt sind, wenn sie sich normal verhalten und ihre Kinder für das entschädigen möchten, was sie ihnen angetan haben, dann genügen einige Worte des »Bedauerns« nicht, um die Vergangenheit auszulöschen. Sie können die Wut und den Schmerz, die jahrelang nicht zum Ausdruck gebracht wurden, nicht einfach wegwischen. Liebende Eltern lassen am besten ihr Kind zunächst den Haß, den alten Haß fühlen. Wirkliche Liebe gegenüber einem Kind, das Schaden erlitten hat, bedeutet mehr, als ihm in der Gegenwart ein liebevolles Heim zu bieten, auch wenn dies hilfreich ist. Wirkliche Liebe heißt, das Kind von seiner Vergangenheit befreien.
Elternrolle Über die Elternrolle, darüber, wie man sich als guter Vater, gute Mutter, als Frau, Ehemann usw. verhält, sind viele Artikel und Bücher geschrieben worden. Doch wenn wir es recht bedenken, gibt es so etwas wie eine Rolle gar nicht. An Rollen halten sich Neurotiker fest. Wer nach einer Rolle zu leben versucht, dessen Leben ist eine symbolische Abstraktion. Neurotiker lassen sich von Rollen einspannen; sie sind in ihren Beziehungen unflexibel. So ist der Vater ständig nur Vater, der Befehle erteilt, für seine Familie sorgt usw. Wenn er in finanzielle Schwierigkeiten gerät, würde er den Gedanken weit von sich weisen, seiner Frau zu erlauben, eine Arbeit aufzunehmen — weil er der »Versorger« ist. Menschen sind nichts als Menschen, die Beziehungen unterhalten, in denen sie gelegentlich für andere sorgen (Frau, Kinder) und in 217
denen mitunter für sie gesorgt wird. Einer Frau beibringen zu wollen, »wie man eine gute Mutter ist«, hat wenig Sinn. Es ist in der Tat sinnlos zu wissen, wie man alles mögliche wird, nur nicht man selbst, und wie man selbst wird, das ist nicht durch Ratschläge zu vermitteln. Nur man selbst kann wissen, wie man man selbst wird, und das ist etwas ganz anderes als irgendein anderes »man«. Rollen i sind das Ergebnis und die Ursache vieler Neurosen. Ein »pflichtbewußter Sohn« tut beispielsweise dies und jenes für seine Mutter, gibt keine frechen Antworten, denkt zuerst an sie und hat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie glücklich ist. Ein wirklicher Sohn tut, was er fühlt. Wenn er ein gefühlvoller Mensch ist, wird er seiner Mutter Liebe geben, in der vollen Bedeutung des Wortes. Alles andere wäre nur Schauspielerei. Man kann einen Jungen dazu bringen, den pflichtbewußten Sohn darzustellen, doch damit übernähme er eine Rolle, die in direktem Widerspruch zu seinen wahren Gefühlen stände. Menschen, die gewohnt sind, oberflächlich zu leben, da ihre tieferen Gefühle verschüttet sind, geben sich mit oberflächlichen Rollen, oberflächlichem Verhalten und Äußerlichkeiten zufrieden. Sie gehen nur zu leicht in oberflächlichem Verhalten auf, weil sie aufgrund ihrer Unfähigkeit zu fühlen besonderen Wert darauf legen müssen. Die Mitglieder einer wirklichen Familie übernehmen keine Rollen. Sie verhalten sich so, wie es ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht, und häufig sind ihre Funktionen austauschbar. Fast jedes Familienmitglied ist in der Lage und auch bereit. Garten- oder Küchenarbeiten zu übernehmen. Im Einzelfall geht es nur darum, wer was tun möchte, und nicht darum, wem welche Rolle zugewiesen ist. Die beliebteste Rolle ist die des »Erwachsenen«. Von Erwachsenen erwartet man bestimmte Verhaltensweisen. Genaugenommen sind diese Verhaltensweisen neurotisch, das
heißt, Menschen, die sich so verhalten, sind gehemmt, schwerfällig, vorsichtig, emotionslos und nicht spontan. Wenn wir von jemandem sagen, er sei erwachsen, dann meinen wir gewöhnlich, daß er zugeknöpft ist, seine Worte sorgfältig abwägt, sich mit Äußerungen zurückhält und niemals die Kontrolle über sich verliert. Primärpatienten begreifen mit der Zeit, daß es eine Rolle wie die des »Erwachsenen« nicht gibt. Menschliche Reife heißt eigentlich, so zu sein wie Kinder — ehrlich, frei, aufgeschlossen, gefühlvoll, spontan und unzweideutig. Menschen, die sich wie Erwachsene verhalten müssen, um ihren Eltern zu 218
gefallen (die »kleine Dame und der kleine Herr«), verlieren diese kostbaren Eigenschaften. Sie gehen völlig in einer Erwachsenenrolle auf. Sie stellen etwas dar, da sie unfähig sind, erwachsen zu sein; denn erwachsen sein setzt voraus, daß man eine Kindheit durchlaufen hat, die frei ist von allen Einengungen. Menschen, die sich nur erwachsen verhalten, hatten nicht Zeit genug heranzureifen; sie wurden zu schnell erwachsen. Sie werden rigide, unflexibel und unglücklich, weil man sie gezwungen hat, jene kostbaren Eigenschaften der Jugend abzulegen, Eigenschaften, die fälschlicherweise als »unreif« bezeichnet werden. Nur wer leichten Zugang zu seiner Kindlichkeit und Spontaneität hat, ist wirklich reif und damit fähig, im Leben zu bestehen. »Erwachsen« und »reif« sein sind Begriffe und keine Realitäten; mit ihnen ist in der Regel die Nebenbedeutung von gehemmt sein verbunden. So wird ein Mensch, der sich in eine konventionelle Psychotherapie begibt, weil er sich zu »emotional« verhält, als »Hysteriker« hingestellt. Wenn er Befriedigungen nicht aufschieben, sich nicht vertrösten lassen kann, dann gilt er als unreif.
So etwas wie einen »Erwachsenen« gibt es nicht. Wir nehmen zwar an Gewicht und Größe zu, werden jedoch nicht »erwachsen«. Wir wachsen zu uns selbst heran, was immer das sein mag, und das Ergebnis kann bei jedem von uns unterschiedlich sein. Ich habe mich oft gefragt, warum man den [amerikanischen] Präsidenten so selten sieht, wie er sich frei und ungehemmt bewegt, geschweige denn lauthals lacht. Ich glaube, das hängt zum Teil damit zusammen, daß wir dem Präsidenten nicht erlauben können, klein zu sein; wie könnte er sonst als ein guter Vater für uns alle sorgen? Er ist in seiner Rolle gefangen, und der Bewegungsspielraum seines Verhaltens ist arg begrenzt. Er kann per Definition nicht er selbst sein. Wenn er das Kind in sich herauskehren würde, dann könnten wir alle erkennen, daß wir Kinder sind, die Bedürfnisse haben; wir bringen unser Leben damit zu, diese Tatsache zu verbergen.
Das kindliche Bemühen Das Gegenstück zu den elterlichen Bedürfnissen ist das Bemühen des Kindes, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Bemühen hat keinen Höhepunkt, der das Kind erkennen läßt, daß es keine Liebe zu gewinnen hat; damit entzieht sich das Kind dem Gefühl, nicht 219
geliebt zu werden. Wenn das Kind gezwungen wird, mit seinem Bemühen aufzuhören, dann kann es in Depressionen verfallen und zu Selbstmordgedanken neigen, denn das Bemühen impliziert immer noch die Hoffnung auf Liebe. Die kindlichen Hoffnungen werden am grausamsten enttäuscht, wenn sein Bemühen mit Gefühlskälte, Mißvergnügen oder offener Feindseligkeit bedacht
wird. Häufig genügen ein Hochziehen oder Runzeln der Augenbrauen oder auch ein abweisender Blick, um das Kind anzuspornen, sich noch stärker um ein Lächeln, eine Zärtlichkeit oder einen Kuß zu bemühen. Die unbewußte Arglist und Gerissenheit, mit der die Eltern ihr Kind dazu anstacheln, sich abzumühen, kann man kaum überschätzen. Zu dieser Tragödie möchte ich nun einiges sagen, um sie deutlicher zu machen. Wenn Eltern nicht lachen können, dann bringen sie ihr Kind ganz automatisch dazu, sich um ein Lachen der Eltern zu bemühen. Vielleicht ist das Kind wirklich komisch, sieht aber keine Regung auf den Gesichtern der Eltern; dann wird es sich noch stärker bemühen, komisch zu sein und seine Eltern zu »drängen«, eine Gefühlsregung zu zeigen. Später mag das Kind auf einer wirklichen Bühne, nämlich als Berufsschauspieler, sein früheres Bemühen um ein Lachen der Eltern ausagieren. Dabei bemüht es sich dann auf symbolische Weise, seinen Eltern doch noch eine Gefühlsregung zu entlocken. Aus seiner »Zuhörerschaft« wird es sich jene aussuchen, die seinen Eltern am meisten ähneln – nämlich jene, die seine Darbietung nicht zu schätzen wissen –, und wird versuchen, sein ganzes Herz in das Spiel zu legen, damit sie endlich lachen; wenn es sein Ziel erreicht, wird es sich zeitweilig geliebt fühlen. Da es aber nur symbolische Liebe empfängt, die seine wirklichen Bedürfnisse nicht zufriedenstellen kann, muß es sein Spiel endlos fortsetzen. Wenn Eltern in ihrer Kindheit »hart« und zäh sein mußten, um sich in einer brutalen Familie behaupten zu können, haben sie unter Umständen später einen »harten« und kalten Blick. Ihr Kind, aufgeschlossen und empfindsam, bemerkt diese Härte, muß erkennen, daß es gefährlich ist, einfühlend und aufgeschlossen zu sein, und muß ebenfalls daran gehen, sein kleines verletzliches Selbst zu schützen. Die »harten« Augen der Eltern hindern das Kind daran, sich zu verwirklichen.
Eltern, die unter dem Eindruck eines tiefen, unaufgelösten Unglücks stehen, sichtbar in ihren traurigen Augen, an ihren herabhängenden Mundwinkeln und ihrem allgemein »niedergeschlagenen« Ausse220
hen, drängen ihrem Kind automatisch das Bemühen auf, sie glücklich zu machen. Vielleicht hat solch ein Kind bereits früh das Gefühl, mit ihm stimme etwas nicht, weil seine Eltern so unglücklich sind. Das sorgenvolle Gesicht einer Mutter kann nur dazu führen, daß das Kind sich unwohl fühlt und sich mehr den Gefühlen seiner Mutter als seinen eigenen widmet. Eine so einfache Angelegenheit, wie einem Kind zu sagen, es solle »nachschauen«, wenn es nach der Bedeutung eines Wortes fragt, kann es veranlassen, sich abzumühen. Das Zögern der Eltern aufgrund einer Frage des Kindes löst Bemühen aus. Das heißt, Unentschiedenheit der Eltern spornt das Kind an, Anstrengungen zu unternehmen, daß die Eltern spontan und entschieden werden. Das Kind muß dann schneller und lauter, auch dramatischer oder wie immer sprechen, um die Eltern zu »überzeugen«, daß es richtig sei, dies oder jenes zu tun. Unbewußt lernt das Kind auf diese Weise, daß es nicht einfach ist, etwas zu bekommen, daß es nur etwas erhält, wenn es sich abmüht. Später mag es dann unfähig sein, irgend etwas anzunehmen, wenn es sich nicht darum zu bemühen hat; es kann dieses Bemühen sogar rationalisieren, indem es sich sagt, daß es zur Charakterbildung notwendig sei, denn schließlich war sein ganzes Leben ein einziges gewaltiges Bemühen. Wir erkennen, wie diese Einstellung sich auch im gesellschaftlichen Zusammenleben breitmacht, wenn etwa Leute mit Sätzen über Kritiker herziehen wie: »Wir leben im besten Land der Erde. Ihr habt es zu leicht gehabt. Man kann vorwärtskommen, wenn man
bereit ist, hart genug dafür zu arbeiten. Es ist eure Schuld, wenn ihr es nicht schafft.« Solche Einstellungen werden von Menschen gefördert, die sich darum bemühen mußten, das Gefühl fernzuhalten, sie hätten Bedürfnisse. Kurz, sie verleugnen ihre eigenen Bedürfnisse und ermahnen auch andere, ihre Bedürfnisse zu verleugnen. Das Eingeständnis von Bedürfnissen bedeutet eine Gefahr für unwirkliche Systeme, seien sie nun persönliche oder soziale. Doch kehren wir noch einmal zu der Frage zurück, wie der Gesichtsausdruck von Eltern das Kind zu Bemühungen zwingt. Einer unserer Patienten wurde nach einem tiefreichenden Urerlebnis vom Therapeuten gefragt, welche Gefühle er gehabt habe. Der Patient schüttelte sich und sah angeekelt aus. Der Therapeut machte den Patienten darauf aufmerksam, und der Patient hatte ein weiteres Urerlebnis, bei dem er das Gefühl hatte, die ständig saure Miene seiner Mutter löse in ihm das Empfinden aus, sie ekele sich vor ihm, 221
sei von ihm angewidert. Anschließend begann er, sich vor sich selbst zu ekeln; dies äußerte sich in seinem eigenen chronisch sauren Gesichtsausdruck und in der Art, wie er seine Schultern hielt. Da er glaubte, er sei ein widerlicher Mensch (und habe ein ekelerregendes Aussehen), enthielt er sich aller Kontakte zu Mädchen. Der Gesichtsausdruck seiner Mutter, der auch ihrem mürrischen, sarkastischen und bissigen Verhalten ihm gegenüber weitgehend entsprach, war mithin ein wesentlicher Grund für die qualvollen Bemühungen des jungen Mannes. Eltern können mit ihren Blicken zum Ausdruck bringen: »Strenge dich an, sonst...!« In ihren Blicken kann auch chronische »Enttäuschung« liegen. Besonders destruktiv wirkt es sich aus,
wenn Eltern zu Boden blicken, während sie mit ihrem Kind sprechen, so daß das Kind niemals das Gefühl hat, seine Existenz werde überhaupt wahrgenommen. Ängstlichen Eltern fällt es schwer, Menschen offen anzuschauen, und Kinder spüren das. Sie wachsen mit solchen Blicken auf und kennen es nicht anders. So sind sie später auch nicht in der Lage, irgend etwas herauszugreifen, von dem sie sagen könnten: »Das ist der Grund für meine Neurose.« Nicht vergessen sei natürlich der »Märtyrer«-Blick, der langes Leiden zum Ausdruck bringt; dieser Blick löst in Kindern ein ständiges Schuldgefühl aus, so als hätten sie irgendein Verbrechen begangen. Das Aussehen der Eltern, ihre Körperhaltung, der Klang ihrer Stimme, ihre Schlankheit oder Beleibtheit — alles sind Faktoren, die ihren Tribut fordern. Wir haben sogar Urerlebnissen beigewohnt, in denen Patienten den Wunsch äußerten: »Ich möchte eine hübsche Mammi — ich schäme mich so für meine Mammi, weil sie so dick ist.« Eine fettsüchtige Mutter kann in ihrem Kind nicht nur den Wunsch nach einer schlanken und hübschen Mutter wecken, sondern dem Kind auch das Essen verleiden, weil es befürchtet, so auszusehen wie sie. Wie ich weiter oben andeutete, nehmen die Anstrengungen des Kindes später, wenn es sich mit der Welt auseinandersetzen muß, allgemeinere Formen an. So kommt ein Geschäftsmann morgens in sein Büro und gerät in Aufregung, wenn er nicht die übliche Anzahl telefonischer Benachrichtigungen vorfindet. Warum dieses Verhalten? Weil er spürt, wie sich ein altes Gefühl bei ihm regt: »Niemand mag mich.« Hast und Unruhe seiner geschäftlichen Tätigkeit – die Telefonanrufe und Konferenzen – verhindern den Ausbruch seines Schmerzes. Wenn die Geschäftigkeit nachläßt, macht sich der Schmerz bemerkbar, nur weiß der Geschäftsmann nicht, daß er ihn 222
in einem falschen Kontext fühlt. Statt dessen verspürt er ein vages Angstgefühl, das schnell mit verstärkter Aktivität zugedeckt wird. Wir erkennen daran, daß es mehr ist als die drohende Gefahr möglicher Verluste, was Geschäftsleute in Panik treibt, wenn »die Geschäfte nicht gehen«. Das Gefühl zu haben, für die Eltern völlig unwichtig zu sein – und es zu wissen –, ist für ein leicht zu erschütterndes Kind unerträglich; so bemüht es sich, für die Eltern auf irgendeine Weise wichtig zu werden. Das heißt, es bemüht sich, von dem Gefühl, »unwichtig« zu sein, loszukommen. Wenn es heranwächst, können sich seine Anstrengungen darin äußern, daß es unwichtige berufliche Beschäftigungen meidet; es mag dann darauf bestehen, sofort an die Spitze zu gelangen, um nicht das Gefühl von Unwichtigkeit – der alten »Unwichtigkeit« – zu haben. In der Schule mag es mit anderen Kindern häufig um Führungspositionen kämpfen. Durch sein unbefriedigtes Bedürfnis und durch seinen Schmerz macht es sich bei anderen unbeliebt. Es wird unfähig sein, jemals unten anzufangen; so sind künftige Fehler und das Gefühl von Unwichtigkeit bereits vorgezeichnet. Ein solcher Mensch wird aus seinen Erfahrungen picht lernen, sondern seine Fehler rationalisieren, weil er unfähig ist, die Realität seines Lebens zu erkennen. Sein wahres Bemühen gilt kaum den gegenwärtigen Umständen, sondern seinem ständigen Wunschgefühl, für seine Eltern wichtig zu sein. Kinder müssen sich abmühen, denn wenn ihre eigenen Eltern sie nicht mögen, wer sollte es sonst? Wenn sie älter werden, erneuern sie ihre Anstrengungen auf jedem Gebiet, so daß etwa ein Mann sich hartnäckig mit jemanden einläßt, der ausgerechnet ihn nicht mag. Oder er bemüht sich um jemanden, dem er keine Gefühlswärme entlocken kann. Oder ein Mädchen mag einen »Versager« heiraten, um sich das Gefühl zu bewahren, daß niemand, der zählt, sie ernsthaft begehren kann.
Die Tragik des neurotischen Lebens besteht darin, daß es so sinnlos ist. Für ein Kind wird es immer sinnlos sein, wenn ihm nicht gestattet wird, während des Essens zu reden oder mit Freunden zu einer Veranstaltung zu gehen; es ist immer falsch, ein Kind zu tadeln, wenn es nur herumliegt und Musik hört. Doch das Schlimmste sind die scheinbar unprovozierten Wutanfälle eines Vaters und die damit verbundenen Prügel oder das unkontrollierte Schreien einer Mutter oder das sinnlose Herumkommandieren beider Eltern. Kinder sind gezwungen, in all diesem Unsinn einen Sinn zu sehen, um sich das 223
Leben erträglich zu machen. Es wäre für das Kind unerträglich, wenn es ständig ohne Grund geschlagen oder zum Schweigen gebracht würde; in einem solchen Falle würde es von einem Gefühl der Niedergeschlagenheit geradezu überschwemmt. Die Erklärung des Kindes lautet gewöhnlich: »Es muß meine Schuld sein. Irgend etwas stimmt mit mir nicht.« Und so verstärkt es seine Anstrengungen. Wenn es praktisch von der Geburt an Anstrengungen unternehmen muß, dann weiß es schließlich gar nicht mehr, daß es sich überhaupt anstrengt. Das Kind sieht es dann als etwas »Natürliches« an, sich abzumühen. Doch es müht sich ab, damit seine Eltern ihm etwas geben, was sie ihm schon längst hätten geben sollen — Liebe.
Schlußfolgerungen Ehrlicherweise muß ich sagen, daß es falsch wäre anzunehmen, daß sich Patienten nach beendeter Primärtherapie Kinder wünschen. Die meisten haben diesen Wunsch nicht. Das ist
wirklich bedauerlich, denn dadurch wird der ganze natürliche Ausleseprozeß aufgehoben; Menschen, die geeignet wären, Kinder zu haben, wollen keine, und so wird die Kindererziehung den Neurotikern überlassen. Es gibt viele Gründe, warum Leute nach der Primärtherapie keine Kinder möchten; gewöhnlich steht dahinter die Erkenntnis, daß sie für ihre eigenen Eltern viel von sich selbst aufgegeben haben und daß Kinder weitere Selbstopfer fordern wurden – denn es kann keine Frage sein, daß die Bedürfnisse der Kinder Vorrang haben. Menschen mit beendeter Primärtherapie wissen, was heißt, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, und sie sind nicht willens, all das zu tun, was, wie sie wissen, getan werden müßte, wenn sie Kinder hätten. Sie wissen, daß sie hinsichtlich der kindlichen Bedürfnisse keine Kompromisse eingehen könnten, ohne eigenen Schmerz zu fühlen; sie könnten ihre Kinder nicht im Stich lassen, wie es viele neurotische Eltern tun, ohne weiter darunter zu leiden. Menschen, die eine Primärtherapie durchgemacht haben, wissen auch, daß es in dieser Gesellschaft unmöglich ist, ein normales Kind aufzuziehen. Allein die schulische Situation spricht dagegen, ganz zu schweigen davon, daß ein Kind ständig mit neurotischen Kindern zu tun hat. Wie kann ein Kind normal sein, wenn die Eltern es so lange allein lassen müssen, um ihrer Arbeit nachzugehen und ihren 224
Lebensunterhalt zu verdienen? Wie kann das Kind normal sein, wenn die ganze Gesellschaft auf Unwirklichkeit eingestellt ist — angefangen von dem, was es in den Geschichtsbüchern liest, bis zu den Geschäften der Politiker? Wie kann es normal sein, wenn
es ohne weiteres in einem Krieg umkommen kann oder wenn es in jahrelangem Militärdienst um sein eigenes Selbst gebracht wird? Normale Eltern hätten sich ständig mit dem Versuch herumzuplagen, all diesen Einflüssen entgegenzuwirken. Ich glaube, Kinder sind eigentlich dazu bestimmt, in eine natürliche Umwelt hineingeboren zu werden — etwa in eine agrarische Umwelt nach Art der alten Sumerer. Es ist gegen die Natur, Kinder zu haben, die umgeben von Beton und Kunststoffen aufwachsen und keine frische Luft atmen können. Es ist nicht natürlich, Kinder zu haben, die künstliche Nahrung essen müssen, denen die richtigen Nährstoffe fehlen, die ein im Stadium der Entwicklung befindlicher Körper braucht. Noch ist es für ein Kind natürlich, eine Schule zu besuchen, in der es im Alter von sechs Jahren sieben Stunden des Tages still sitzen und jemandem zuhören muß, der über Dinge redet, die keinen Bezug haben zu seinen Bedürfnissen. Wir haben eine unnatürliche Umwelt um uns aufgebaut, so daß der allernatürlichste Vorgang, nämlich Kinder zu haben und aufzuziehen, zu einem Fluch wird. Doch es gibt nun einmal Kinder auf der Welt, und wir müssen uns mit ihnen beschäftigen. Wie kann jemand wissen, was für sein Kind richtig ist? Wie weiß er, wieviel Taschengeld er seinem Kind geben, was er ihm zu sagen erlauben, wieviel Freiheit er ihm gewähren soll? Die Fragen sind falsch gestellt. Das Wieviel an Taschengeld, Freiheit und Redenlassen hängt von beiden ab, vom Kind und von den Eltern. Normale Kinder verlangen nicht nach übermäßiger Freiheit, denn das wäre Anarchie und lediglich das Ausagieren von Gefühlen, die nicht wahrhaft gefühlt werden. Normale Kinder fordern nicht zuviel Taschengeld. Vielleicht ist es nicht immer möglich, ein Taschengeld auszusetzen. Was dessen Höhe betrifft, so scheint es, daß gesunde Kinder nur nehmen, was sie brauchen und wenn sie es brauchen. Wieviel sollte einem Kind zu sagen erlaubt sein? Das ist einfach zu beantworten: Was immer es zu
sagen wünscht. Man sieht, die meisten Fragen über Kindererziehung sind bereits mit dem Hinweis beantwortet, daß es einzig und allein um die Realität des Kindes geht. Die gleichen Fragen könnte man nach der Normalität von Erwachsenen stellen. Wieviel sollten sie geben oder sagen? Eine 225
solche Frage ist irrelevant, weil normale Menschen nur das Nötige ausgeben und nicht aus Angst zuviel oder zuwenig sagen. Normale Kinder schimpfen und schreien nicht ständig, um damit zu beweisen, wie aufsässig, frei oder was immer sie sind. Sie schwänzen den Unterricht nicht (vorausgesetzt, die Schule ist interessant), um damit ihre Freiheit zu beweisen. Kurz, Kinder wissen, was am besten für sie ist; für sie ist Freiheit nicht etwas, das autoritäre Eltern ihnen gnädig einräumen. Da neurotische Kinder ihre Bedürfnisse nicht unmittelbar erkennen, äußern sie Wünsche; Wünsche - nach Geld, Kleidern, Süßigkeiten - stehen symbolisch für Bedürfnisse. Für sie ist nichts genug, genauso wenig wie das, was sie tun, für neurotische Eltern genug ist. Nehmen wir das Geld. Wenn dem Kind als Ersatz für Liebe Geld gegeben wird, dann wird es das Geld symbolisch benutzen und damit sein Bedürfnis zu befriedigen suchen. Es wird nach immer mehr Geld verlangen, weil es sein Bedürfnis nur symbolisch befriedigt. Es kann zwar verleitet werden, Ersatz anzunehmen, der es zeitweilig zufrieden stellt, doch es wird schon bald mehr verlangen. Das gleiche gilt für die Frage, wieviel ein Kind essen soll. Es sollte vor allem dann essen, wenn es hungrig ist, und in solchen Fällen auch bekommen, was es wünscht. Verhalten sich normale Erwachsene etwa anders? Eltern sind bei der Kindererziehung
nicht auf Regeln angewiesen. Kein Buch über Kindererziehung enthält genügend Regeln, um Eltern beibringen zu können, gute Eltern zu sein. Eltern mit Gefühl fragen ihr Kind automatisch: »Wie hast du dich heute in der Schule gefühlt?«. Hingegen möchten neurotische Eltern wissen: »Was hast du heute in der Schule getan?«. Normale Eltern sind an dem Gefühl eines Kindes, nicht an seiner Produktivität interessiert. Die von mir benutzte Formel »Ein Kind gewähren lassen« wird man möglicherweise als Anarchie interpretieren. Tatsächlich meine ich jedoch das genaue Gegenteil. Lieblose Eltern begünstigen Anarchie, weil sie sich nicht damit abgeben können, ihrem Kind Grenzen zu setzen und es zu beschützen. Ein kleines Kind braucht Schutz, damit es sich sicher fühlen kann. Wer einem achtjährigen Kind gestattet, allein Zeitungen zu verkaufen, der liebt es nicht. Wenn Eltern sich laut streiten, während das Kind zu schlafen versucht, dann lassen sie es nicht gewähren. Wenn ein Kind nach einem Zeitplan gefüttert oder gezwungen wird, zu einer bestimmten Uhrzeit ins Bett zu 226
gehen, dann wird ihm die Möglichkeit verwehrt, es selbst zu sein. Ist es Anarchie, einem Kind zu gestatten, das zu tun, was es fühlt? Ich glaube nicht. Es ist vielmehr Freiheit, und Freiheit bringt Kinder hervor, die diese Freiheit niemals mißbrauchen. Sie wünschen nicht, was sie nicht wirklich brauchen. Dies alles heißt nicht, daß Kinder niemals Führung brauchen. Wenn ein Kind erst einmal neurotisch ist, wenn es neurotische Wünsche hat, dann braucht es Schranken, die ihm gesetzt werden. Wenn es aufgrund seiner Erziehung zur Impulsivität neigt, dann braucht es Zügelung. Wenn es klein ist, dann braucht es offensichtlich ein bestimmtes Maß an Führung. Entscheidend ist,
daß das Kind im Rahmen seiner Entwicklung und Bedürfnisse geführt und geleitet wird und nicht nach den verzerrten Wertvorstellungen neurotischer Eltern. Kinder brauchen eine längere, nicht von Einschränkungen belastete Kindheit, um anschließend für jede weitere Entwicklungsphase bereit zu sein. Dann werden sie auch nicht zu Erwachsenen, die mit Nachsicht behandelt und verwöhnt werden müssen. Sie vermissen dann auch nichts, was sich hemmend auf ihr Leben auswirken könnte. Mädchen litten bei Beginn der Menstruation nicht unter Krämpfen, weil sie etwa unfähig und Unwillens sind, »Frauen« zu werden. Jungen blieben in ihrer körperlichen Entwicklung nicht zurück und hätten folglich keine verzögerte Pubertät. Das bedeutet keineswegs, daß Kinder »verhätschelt« werden sollten, denn auch das hätte nur zur Folge, daß die Kinder nicht sie selbst sein können. Neurotische Mütter verhätscheln ihr Kind, behandeln es wie ein Baby, auch wenn es längst keins mehr ist, um es auf diese Weise unter Kontrolle zu halten. Ein Kind verhätscheln, es wie ein »Baby« behandeln führt selten zur Unreife. Verantwortlich dafür sind vielmehr Eltern, die ihre Kinder zwingen, die Kindheit gleichsam im Eiltempo hinter sich zu bringen; damit ist zu erklären, daß viele von uns durchs Leben hasten und ständig danach trachten, wie »Babys« verhätschelt zu werden. Eine an Rache orientierte Gesellschaft hält an dem Mythos fest, daß Kriminelle — und Kinder mit schlechtem Benehmen werden häufig als Kriminelle behandelt — durch Strafen lernen und in ihrem Verhalten geändert werden können. Durch Strafen lernt man gar nichts, außer sie zu vermeiden; durch Strafen wird Fehlverhalten lediglich blockiert. Auch Kinder lernen nicht durch Strafen, sondern allenfalls durch Gefühl und Einsicht in ihr Fehlverhalten. Emotio227
nai gesunde Kinder zeigen Wohlverhalten im wirklichen Sinn des Wortes, weil sie keinen Grund haben, sich anders zu verhalten. »Wohlverhalten« in neurotischen Familien heißt lediglich, sich der elterlichen Neurose zu fügen. Für das betroffene Kind heißt es, »ihnen« bei seiner eigenen Zerstörung behilflich zu sein. Ein Mädchen gilt allzu häufig nur deshalb als »böse«, weil sein Zimmer nicht sauber und ordentlich ist oder weil es das Geschirr nicht aufwäscht, ohne dazu aufgefordert zu werden. Ein Junge gilt als »böse«, wenn er nachlässig oder »faul« ist, wenn er den Abfall nicht fortträgt oder das Unkraut im Garten nicht jätet. Für neurotische Eltern ist ein Kind im Grund dann böse, wenn es nach seinen eigenen Gefühlen handelt. Neurotische Eltern »bändigen« ihre Kinder und richten sie auf diese Weise zugrunde. Das »brave« Kind einer neurotischen Familie vernachlässigt seine eigenen Bedürfnisse. Es klagt oder weint nicht, wenn es krank ist. Aus dem gleichen »braven« Kind wird dann ein Erwachsener, der eines frühen Todes stirbt, weil er all jene Krankheiten in sich aufgespart hat, die mit der Zeit seinen Körper zerstören. Unwirklich zu sein, nicht man selbst zu sein, ist eine bösartige Krankheit, denn sie führt dazu, daß der Körper seine Bedürfnisse ständig herausschreien muß. Der innere schmerzliche Druck, der daher rührt, daß die Eltern mit dem Kind nicht gesprochen, es nicht beachtet und seine Existenz nicht anerkannt haben, bringt das »brave«, inzwischen erwachsen gewordene Kind am Ende um. Es dürfte einleuchten, daß Kinder ihre frühen Symptome niemals »ablegen«, weil sie ihre persönliche Geschichte nicht ablegen können. Bettnässen, Nägelkauen, Allergien oder Kopfschmerzen sind die Folge der Überlastung durch Urgefühle, die auch dann fortbestehen, wenn die Symptome sich weniger deutlich äußern und komplizierter werden. Es mag durchaus sein, daß eine Schockbehandlung das Bettnässen beseitigt, doch dadurch wird lediglich die innere Spannung verstärkt, da dem betreffenden
Kind auch diese »unbewußte« Abfuhrmöglichkeit genommen wird. Neurotische Eltern beantworten die Symptome ihrer Kinder häufig mit überstarken Reaktionen, weil diese Symptome deutlich erkennen lassen, daß irgend etwas nicht stimmt. Die Symptome signalisieren der Umwelt, daß in der betreffenden Familie irgend etwas verkehrt läuft, und daher möchten die Eltern die Symptome zum Verschwinden bringen, wobei sie allerdings nicht so sehr an das Wohlergehen ihrer Kinder, als vielmehr an ihre eigene Rechtfertigung denken. Die 228
Beseitigung des jeweiligen Symptoms ist dann ein Beweis dafür, daß es sich um das Problem des Kindes und nicht der Eltern handelte. Wenn das Kind besser lernt oder weniger stottert, dann fühlen die neurotischen Eltern sich entlastet, mag es dem Kind auch noch so schlecht gehen. Ich bin im Grunde der Meinung, daß ausgefeilte psychologische Tests für Eltern (oder auch für Kinder) nicht notwendig sind, denn eigentlich braucht man nur die Kinder zu beobachten, um feststellen zu können, welche Bedürfnisse die Eltern haben. Gleichgültig, wie anziehend die gesellschaftliche Fassade von Eltern sein mag, wir erhalten einen viel wahreren Eindruck von ihnen, wenn wir beobachten, wie sie sich gegenüber ihren Kindern verhalten, denn die Kinder sind hilflos und ohnmächtig, während es den Eltern in der Regel leichter fällt, sich »gehen zu lassen« und sie selbst zu sein. Eltern, die sich gegenüber ihren eigenen Eltern ohnmächtig fühlten, können unter Umständen ihre Machtposition gegenüber den Kindern mißbrauchen und sie dazu benutzen, ihr früheres Gefühl wieder zu verspüren. Wenn wir die Kinder eines Menschen beobachten, dann können wir mit einiger Sicherheit abschätzen, wie er seine Freundschaften zu anderen
Leuten gestalten wird, das heißt, wir können seine wahren Bedürfnisse erkennen, wenn wir seine Kinder beobachten. Nach meiner Ansicht sind nicht nur psychologische Tests weitgehend wertlos, mir erscheint auch der gesamte Bereich der Kindertherapie als ziemlich fragwürdig. Aufgrund mehrjähriger Erfahrung als Kindertherapeut in der psychiatrischen Abteilung eines Kinderkrankenhauses bin ich der Meinung, die Kindertherapie sollte abgeschafft werden; an ihre Stelle sollten Sozialarbeiter oder irgendwelche andere Gruppen treten, die sich unerwünschter Kinder genauso gut annehmen und ihre Nöte ein wenig mildem können. Gestörte Kinder einer Behandlung zu unterwerfen, die sie mit Einsichten belastet, hilft nur wenig, im Gegenteil, es kann sogar schädigend sein. Viel zu viele Kindertherapeuten versuchen, die Kinder dahin zu bringen, ihre Eltern zu »verstehen«. Solche Kinder müssen gewöhnlich notgedrungen die Gefühle verleugnen, die sie gegenüber ihren Eltern hegen, sie verhalten sich in ihrer Familie wie ein Erwachsener, der mehr weiß als die Eltern. Das überfordert ein Kind, es bedarf all der Einsicht nicht, ihm reicht ein Freund, mit dem es über seine Nöte sprechen kann. Zu viele Kindertherapeuten sind der Ansicht, sie müßten ihre Existenz rechtfertigen, indem sie 229
sich dem Kind nicht einfach als ein Freund anbieten, sondern es mit komplizierten psychologischen Begriffen überhäufen und es dann in den Familienzoo zurückschicken, wo es sehen kann, wie es zurecht kommt. Für das betreffende Kind wird das Leben dann noch unerträglicher, weil es das Gefühl hat, man erwarte von ihm, daß es mit dem familiären Chaos fertig wird, während das in Wirklichkeit unmöglich ist. Das Kind braucht Eltern, die es lieben, und ein Kindertherapeut wird kaum dazu beitragen, daß
diese Bedürfnisse erfüllt werden. Das Beste, was ein Kindertherapeut tun könnte, ist, Verbindung mit den Eltern aufzunehmen und dafür zu sorgen, daß sie aufhören, das Kind zu quälen. Glücklicherweise gibt es eine Möglichkeit, die Leiden, die einem Kind zugefügt werden, ein wenig zu lindem. Man kann nämlich einem Kind Gelegenheit geben, nach und nach seinen Schmerz zu fühlen, bis es nicht mehr innerlich aufgespalten ist. Häufig geschieht das auf die Weise, daß man dem Kind gestattet, das Kleinkind zu sein, das es niemals gewesen ist, das kleine Kind, dem solcher Schmerz bereitet wurde, daß es sich gefühlsmäßig vor seiner Umwelt abkapselte. Das bedeutet, man muß dem Kind erlauben, sein Körperselbst zu erforschen, was von den Eltern gewöhnlich verboten wird; das bedeutet ferner, dem Kind zu gestatten, tabuisierte Worte und Gefühle zu äußern. Kurz, es bedeutet, dem Kind Gelegenheit zu geben, seinen Schmerz zu erfahren, zu spüren, anstatt ihn abzuwehren. Schmerz ist eine befreiende Kraft; Schmerz zu fühlen bedeutet, überhaupt wieder zu fühlen. Das alles heißt natürlich nicht, daß Eltern ihren Kindern auf diese Weise zu Urerlebnissen verhelfen. Doch wenn die Eltern plötzlich Wärme und Freundlichkeit ausstrahlen und ihrem Kind ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, dann kann das Kind allmählich anfangen, seine alten Schmerzen zu fühlen. Schon das Gefühl, daß es nicht mit Gefahren verbunden ist, seine Ängste zum Ausdruck zu bringen, wird das alte Entsetzen aufsteigen lassen; schon das Gefühl, das sich einstellt, wenn der Vater eine bislang unbekannte Gefühlswärme zeigt, wird dazu führen, daß der Schmerz infolge mangelnder Zuneigung in der Vergangenheit der Wahrnehmung zugänglich wird. Der Grund, warum neurotische Eltern nicht versuchen sollten, bei ihren Kindern Urerlebnisse auszulösen, liegt erstens darin, daß
Neu-rotiker einer solchen Aufgabe nicht gewachsen sind und folglich nur Unheil stiften. Zweitens zwingen sie damit ein fühlendes Kind, sich täglich mit einer neurotischen Umwelt auseinanderzusetzen. Das 230
kleine Kind ist zu empfindlich und zu abhängig, als daß es zu früh mit seinem Schmerz konfrontiert werden sollte. Nur primärtherapeutisch behandelte Eltern sind in der Lage, ihre Kinder zu Urerlebnissen zu führen, und auch dann nur unter Vorbehalten. (Siehe den Abschnitt über Seminare mit primärtherapeutisch behandelten Eltern.) Sobald Eltern ihrem Kind erst einmal erlauben können, sich selbst zu erfahren, wendet sich gleichsam das Blatt, und das Kind, nunmehr aufgeschlossen für sich selbst, kann seine Schmerzen bis in die letzte Verästelung fühlen. Es wird mit sich selbst zurechtkommen. Sein Schmerz wird verhindern, daß es seine Wirklichkeit aus dem Auge verliert, denn jetzt fühlt es den Schmerz, anstatt sich dagegen zu sperren und auszuagieren. Ob Eltern oder Kinder, wenn sie erst einmal ihre tieferreichenden Schmerzen fühlen, dann tritt automatisch eine Änderung ein, genauso automatisch, wie sich Neurosen verfestigen, wenn der Schmerz nicht gefühlt wird. Beispielsweise kann ein Kind nach jeder Mahlzeit etwas auf seinem Teller liegenlassen. Wenn es ständig dazu angehalten wurde, alles aufzuessen, was man ihm vorsetzte, dann kann es damit, daß es nicht alles aufißt, was ihm auf den Teller gelegt wird, den Wunsch ausagieren: »Ich möchte dir nicht alles von mir geben.« Sobald das Kind dieses Gefühl wirklich verspürt, wird es nicht länger unter Zwang stehen, es auszuagieren. Fühlende Eltern werden ihr Kind niemals dazu zwingen, etwas zu essen, wenn ihm nicht danach zumute ist. In Familien geht es allzu häufig wie beim Militär zu, das heißt, die
Kinder essen, was die Eltern aufgrund ihres Gefühls glauben, auftragen und ihren Kindern auf den Teller legen zu müssen. Auf die Gefühle des Kindes wird keine Rücksicht genommen. So gesehen, ist die Unterdrückung kindlicher Gefühle kein eigentlich aktiver Prozeß. Wenn man auf die Gefühle eines Kindes einfach nicht eingeht, dann bringt man ihm auf subtile Weise bei, daß es auf seine Gefühle und Wünsche letztlich nicht ankommt. Wer niemals die Erfahrung gemacht hat, daß seine Gefühle geschätzt werden, der wird gleichsam zu einem Roboter, der überhaupt nicht mehr wahrnimmt, daß es so etwas wie Gefühle gibt. Unter diesen Gesichtspunkten kann man sich nichts Schlimmeres vorstellen als Armeen und Militärakademien. Hier werden die Gefühle völlig verleugnet, an ihre Stelle tritt Disziplin, und so werden aus Menschen mechanisch handelnde Wesen. In einer produktionsorientierten Gesellschaft scheint große Angst 231
davor zu herrschen, daß Kinder nicht produktiv sein könnten. In einer solchen Gesellschaft ist der Gedanke, Kinder, die sich ihres Lebens erfreuen, könnten verwöhnt werden, so tief verankert, daß es äußerst schwierig ist, Eltern dazu zu bewegen, sich Gedanken darüber zu machen, worin das Leben für sie selbst und ihre Kinder überhaupt besteht. Man kann sich mit Hilfe von Rationalisierungen weismachen, unproduktive Menschen könnten das Leben nicht genießen, doch solche Argumente kommen allzu häufig von Leuten, die unfähig sind, sich zu entspannen. Neurotische Konflikte haben etwas Heimtückisches. Wir erkennen dies an unserer Einstellung gegenüber der Erziehung, wonach es als ausgemacht gilt, daß eine schwierige Schule gut ist, während die weniger anspruchsvolle Schule, in der die Kinder das tun, was sie möchten, nur schlecht sein kann. Für Eltern, die
den Ehrgeiz haben, aus ihren Kindern etwas zu machen, ist der Gedanke, die Schule könne ganz schlicht Spaß bereiten, geradezu abwegig. Eltern mit solchem Ehrgeiz richten ihre Kinder zugrunde, denn sie erlauben ihnen nicht, sich ihrer selbst zu erfreuen, sondern zwingen sie vielmehr, sich immer stärker anzustrengen, um produktiv zu sein. Gleichgültig, ob die Eltern auch noch so fest glauben, sie täten das alles nur für ihre Kinder, sie fügen den Kindern Schmerz zu, wenn sie mit Hilfe von Disziplin die Entfaltung von Fähigkeiten erreichen wollen. Wenn ein Kind spielen möchte, dann soll man es gewähren lassen. Nachdem es gespielt hat, mag es anschließend den Wunsch verspüren, zu lernen und Hausaufgaben zu machen. Um dies zulassen zu können, muß man Vertrauen zu einem Kind haben, und neurotischen Eltern fehlt es daran. Wenn ein Kind gezwungen wird, irgend etwas darzustellen, um seinen Eltern zu gefallen, dann werden seine Bedürfnisse verfälscht. Das Bedürfnis danach, lediglich das zu sein, was man ist, zu verfälschen heißt letztlich, sowohl den Körper wie den Geist zu entstellen, zu pervertieren. Der Geist wird pervertiert, weil er die körperlichen Bedürfnisse nicht mehr erkennen kann. Sexuelle Perversionen sind nur eine von vielen Begleiterscheinungen dieses Prozesses, denn bei solchen Perversionen handelt es sich um Aspekte körperlicher Funktionen, das heißt, der Geist erlegt dem Körper bizarre Verhaltensweisen auf, um auf diese Weise Befriedigung zu erlangen. Kinder, die gezwungen werden, unnatürlich zu sein, werden tatsächlich unnatürlich — sie sind »pervers«. Perversion ist ein Gesamtgeschehen, nicht nur eine geistige Verwirrung. Ein Kind, das nur Liebe 232
empfängt, wenn es lernt und sich weiterbildet, mag schließlich dahin kommen, das Lernen zu »lieben«, weil nicht lernen mit Schmerz verbunden ist. Sein Bedürfnis nach Liebe ist dahingehend pervertiert, daß es sich entlastet fühlt, wenn es lernt und arbeitet. Nach meiner Ansicht ist es Aufgabe der Eltern, ihren Kindern dazu zu verhelfen, das Leben zu genießen. Wenn Kinder glücklich und gut integriert sind, dann werden sie den Wunsch verspüren, produktiv zu sein und am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Wenn sie unglücklich sind, dann sind sie nicht aufgrund von Gefühlen, sondern aufgrund eines Bedürfnisses nach Liebe produktiv. Kinder, die in der Schule nicht mitkommen, erregen viel Ängstlichkeit und Besorgnis; solche Kinder gelten als Versager, was heißen soll, daß sie, gemessen an den Vorstellungen anderer, nicht das leisten, was sie sollten. Das zu leisten, was sie selbst aufgrund ihres Gefühls leisten möchten, wird als nicht ausreichend angesehen. Die wichtigste Faustregel für die Kindererziehung lautet: sich so zu verhalten, daß es Sinn ergibt. Zum Beispiel sollten Kinder dann ins Bett gehen, wenn sie müde sind, und nicht zu einer willkürlich festgesetzten Zeit. Wenn Kindern genügend Vertrauen und Geduld entgegengebracht wird, dann werden sie genau wie Erwachsene zur richtigen Zeit ins Bett gehen. Psychologische Theorien sollten genauso sinnvoll sein wie die Gesetze der kindlichen Entwicklung. Angeborene Eifersucht und Ödipuskomplex ergeben keinen Sinn. Dabei handelt es sich nicht um natürliche Gefühlszustände. Es gibt keinen von der Anlage her festgeschriebenen Grund dafür, daß Jungen sich in einem gewissen Alter gegen den Vater wenden und sich nach mütterlicher Liebe sehnen. Kindererziehung wird nur dann etwas Mystisch-Geheimnisvolles, wenn wir den Kindern künstliche Theorien überstülpen; in Wirklichkeit geht es lediglich darum, daß wir den Kindern gegenüber wir selbst sind.
Ein Kind zu lieben sollte so natürlich sein wie das Atmen. Für Kinder ist beides selbstverständlich; doch wenn ihnen Liebe vorenthalten wird, dann geraten sie in einen schrecklichen und gewöhnlich unbewußten Konflikt. Man stelle sich die Verzweiflung, die Panik und den unerträglichen Schmerz vor, die eintreten würden, wenn es plötzlich keine Luft mehr gäbe, die man atmen könnte. So ähnlich ergeht es einem Säugling oder einem Kleinkind, wenn es keine Liebe spürt. Liebe im primären Sinne ist lebensnotwendig. Es ist ziemlich einfach, Kinder natürlich sein zu lassen. Es erfordert 233
lediglich, das zu kochen, was sie essen möchten, und ihnen zu gestatten, daß sie sich anziehen, wie es ihrem Gefühl entspricht. Die meisten Kinder wachsen indes auf und wissen nicht einmal, daß ihre Mütter das kochen sollten, was sie zu essen wünschen. Sie haben das zu essen, was ihnen vorgesetzt wird, und das »brave« Kind beklagt sich niemals darüber. Lieblose, »tote« Eltern, die nie ein Leben geführt haben, das ihnen erlaubte, wirklich sie selbst zu sein, bilden für Kinder insofern ein Problem, als sie fortwährend in deren Innern weiterleben. Die Wertvorstellungen und Ansichten der Eltern entstellen den Geist und das körperliche Aussehen der Kinder. Für ein Kind ist besonders die Art und Weise verwirrend, in der Eltern ihm nur zu oft erklären, sie liebten es; verstandesmäßig glaubt das Kind, was ihm gesagt wird, doch sein Körper sehnt sich danach, daß es häufiger in den Arm genommen, daß mit ihm gesprochen, daß es verstanden und beachtet wird. Die Mutter mag sagen: »Vater liebt dich, verstehst du, er kann es nur nicht zeigen.« Und von dem Kind wird erwartet, daß es »versteht«, daß
es geliebt wird. Etwas über Liebe zu wissen ist freilich etwas ganz anderes als sie zu fühlen. Das Bedürfnis des Kindes nach Liebe kann auf vielerlei Weise ins Unbewußte abgedrängt werden; eine Möglichkeit besteht darin, daß es lediglich versteht, es werde geliebt. Das kindliche Bedürfnis wird dadurch verdeckt, daß es »versteht«, daß »sie mich wirklich lieben, daß sie jedoch zur Arbeit gehen und mich verlassen müssen«. Wenn Kinder erklären: »Es ist alles in Ordnung, ich verstehe, mach dir um mich keine Sorgen«, dann werden sie für ihre Reife und für ihre Selbständigkeit gelobt. Viel besser wäre es, wenn das Kind sich auf den Boden werfen und herausschreien könnte: »Verlaß mich nicht!« Neurotische Eltern erkennen selten, welch entsetzliche Angst ihre Verhaltensweisen auslösen, denn ihre Kinder werden häufig so, wie es den Bedürfnissen der Eltern entspricht. Anders ausgedrückt, das Kind paßt sich der elterlichen Gefühlsleere recht gut an; allerdings ist es dann nicht mehr ein in sich ruhendes, geschlossenes Menschenwesen. Eltern haben weder ein Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse noch für die Anstrengungen des Kindes; vielmehr agieren sie beides lediglich aus. Nur wenn Eltern sich selbst und ihrem Schmerz gegenüber aufgeschlossen sind, können sie erkennen, was sie ihren Kindern angetan, wie sie sie als Symbole benutzt haben, die ihre eigenen ungefühlten Bedürfnisse befriedigen sollten. 234
Eltern, die schließlich erkennen, was sie ihren Kindern angetan haben, können versucht sein, ihre Kinder zu bitten, ihnen zu »vergeben«. Doch Eltern sollten sich solche Mühe sparen, denn damit versuchen sie nur, ihr Kind dazu zu bewegen, etwas zu »geben«. Ein echtes Gefühl von »Vergebung« gibt es nicht. Genauso gut könnte man das Kind bitten, den Schmerz zu
vergessen, den die Eltern ihm bereitet haben, und das ist schlechterdings unmöglich. Das Kind sollte auch gar nicht vergessen. Worte können die Vergangenheit nicht auslöschen, und wenn man ein Kind dazu bringt, zu vergeben, dann werden seine wahren Gefühle lediglich verdeckt; das Kind muß dann so tun, als verspüre es keinen Schmerz mehr. Tatsächlich jedoch steckt der Schmerz tief in seinem Innern und löst sich nur auf, wenn er in seiner ganzen Ur-Intensität gefühlt wird. Erst wenn das Kind seinen Schmerz fühlt, wird es ihn überwinden, auch ohne daß ein Wort über Vergebung verloren werden müßte. Wenn Eltern nicht fähig sind, Gefühle zuzulassen, werden sie ihrem Kind weiterhin Schmerzen zufügen; keine Unterweisung in Fragen der Kindererziehung wird den Zerstörungsprozeß aufhalten, der von den Eltern ausgeht. Wozu sollte es gut sein, jemanden darüber zu informieren, was es bedeutet, Mutter oder Vater zu sein, wenn der Betreffende bereits von Verzweiflung überschwemmt ist? Was bringt es, jemandem zu erklären, er solle sein Kind nicht vernachlässigen, wenn er sich selbst wie ein Kind fühlt, das Aufmerksamkeit braucht? Was mich immer wieder erschüttert, ist der Gedanke, welch unschuldige Opfer Kinder sind. Jede wie immer sich äußernde Laune der Eltern bildet den Lebensinhalt des Kindes. Das wird mir besonders deutlich, wenn ich Restaurants aufsuche. Für mich ist es eine richtige Qual, neben Familien zu sitzen. Ich beobachte selten, wenn überhaupt, etwas anderes als mehr oder weniger raffinierte Tiraden, Erniedrigung, Unterdrückung und Verletzung. Eltern scheinen es ihren Kindern nicht erlauben zu können, zu reden, wenn sie essen, oder in ihrer normalen Lautstärke zu sprechen. Es scheint, daß sie gleichsam von einer universalen Angst vor Fragen der Nahrung und Essen beherrscht sind; die Kinder haben nur zu essen, und sie essen, was die Eltern für sie auswählen. Sie verbieten ihren Kindern herumzulaufen. Sie halten sie ständig zu gutem Benehmen an, bis auch die letzte
Spur von Vergnügen, die zur Essenszeit aufkommen mag, ausgemerzt ist. Kinder können stundenlang »Mammi, Mammi!« rufen; unterdessen 235
setzen die Eltern ihre Gespräche mit anderen Erwachsenen fort oder betrachten Schaufenster, als existierten die Kinder überhaupt nicht. Ihnen fiele es nicht im Traume ein, andere Erwachsene so zu behandeln. Doch für Neurotiker haben Kinder nur wenige Rechte. Von Kindern wird erwartet, daß sie sich gedulden, bis sie erwachsen sind. Kein Wunder, daß so viele Kinder nicht abwarten können, bis sie erwachsen sind. Eltern, die sich freuen, wenn sie ihre Kinder um sich haben, sind wirklich eine Seltenheit. Manche Eltern freuen sich über ihre Kinder, wenn sie etwas darstellen, doch nur wenige Eltern vermögen selbst Freude zu empfinden, wenn sie sich in Situationen befinden, in denen das Kind nichts als es selbst ist. Großeltern sind eher in der Lage, sich an Kindern zu erfreuen, denn sie haben ihre Bedürfnisse bereits mit ihren eigenen Kindern ausgelebt. Sie können es sich mithin leisten, gegenüber den Kindern anderer weniger anspruchsvoll zu sein. Es dürfte inzwischen klar geworden sein, so hoffe ich jedenfalls, daß Aktionen und Interaktionen zwischen Eltern und Kind nur insofern wichtig sind, als sie Gefühle widerspiegeln. Die Tatsache, daß es mittlerweile Hunderte von Büchern über Kindererziehung gibt, bedeutet letztlich, daß Kinder als eine eigene Gattung betrachtet werden, die eine besondere Behandlung verlangt. Kinder brauchen genau das, was ihre Eltern brauchen. Es geht nicht um die Frage: »Wie soll ich mein Kind behandeln?«, sondern vielmehr um die Frage: »Wie behandele ich
einen Menschen, den ich liebe?« Eltern sind keine Menschen, die Regeln festlegen, sondern vielmehr Freunde, die Liebe geben. Letztlich machen Gefühle die Beziehung zu einem Menschen aus. Und Kinder sind schließlich Menschen. Für die Beziehung zu ihnen gibt es keine besonderen Regeln, die nicht für alle Beziehungen gültig wären. Man braucht für Kinder nicht viel zu tun. Man braucht sie nicht zu disziplinieren, belehren, bestrafen oder führen. Man muß nur zu ihnen sprechen, ihnen zuhören, sie in den Arm nehmen, freundlich und offen, spontan und ungezwungen zu ihnen sein und ihnen Gelegenheit geben, sie selbst zu sein. Welche Bedeutung haben nach dem bisher Gesagten überhaupt Rollen, wenn es doch auf der Hand liegt, daß wir alle lediglich unser kleines Selbst ausagieren und daß dieses Selbst uns vorschreibt, wie wir uns gegenüber unseren Kindern verhalten? Dieses unser Selbst gründet sich nicht auf irgendeinen Titel, der uns verliehen wird. Wenn unser kleines Selbst ständig gedemütigt wurde, dann werden 236
wir bei jeder frechen Antwort eines unserer Kinder unsere eigene Wut wieder fühlen. Falls unser kleines Selbst jahrelang herumkommandiert und mit Befehlen traktiert wurde, dann wird unser Kind nicht die Führung und die Entschiedenheit erhalten, die es von den Eltern braucht. Wenn dieses kleine Selbst niemals berührt und zärtlich behandelt wurde, dann wird unser Kind gar nicht wissen, was Gefühlswärme und Körperkontakt eigentlich bedeuten.
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15 Was ich von meinen Kindern lerne von Vivian Janov
I ch habe eine primärtherapeutische Behandlung hinter mir und bin heute Primärtherapeutin sowie Mutter von zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen, beide im Teenalter. Viele Jahre lang habe ich gehört, wie Patienten ihren Urschmerz äußerten, in Sätzen wie: »Laß mich Baby sein«, »Mammi, sei lieb, tu mir nicht weh!« Meine eigenen Kinder habe ich in vielen therapeutischen Sitzungen erlebt und gehört, wie sie nach der »Mammi« ihrer frühen Kindheit riefen – nach mir! Das waren überraschende, schmerzliche und dennoch lohnende Erfahrungen. Der Schmerz meiner Kinder geht zurück auf die Zeit ihrer frühen Entwicklung, und als sie jene Szenen, die ihren Schmerz auslösten, wiedererlebten, begegneten sie der Mutter wieder, die ich in der Vergangenheit gewesen bin. Sie haben keine Angst davor, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn ich bei ihnen bin. Ich muß gestehen, daß Sitzungen mit meinen Kindern für mich mehr bedeuten als die üblichen therapeutischen Sitzungen. Häufig leiten sie meine eigenen Urerlebnisse ein. Szenen, von denen ich dachte, sie seien für ihr Leben unbedeutend, bereiteten ihnen manchmal äußerst heftige Schmerzen. Ich habe dabei etwas sehr Wichtiges gelernt: Meine Absichten stimmten nicht immer mit ihrer Realität überein. Mit ihrem Versuch, Kleinkindern zivilisiertes Verhalten
beizubringen, schaffen wohlwollende Eltern häufig eine Realität, die bei ihren Kindern entsetzliche Schmerzen auslöst. Ein gutes Beispiel ist die frühe Sauberkeitsdressur. Die Absicht der Mutter ist, dem kleinen Kind gutes Benehmen anzugewöhnen. Doch die Realität des Kleinkinds ist schmerzliche Verwirrung angesichts der Bestrafung für die Ausübung einer natürlichen Funktion. Überdies hindern Eltern, die ihren eigenen Schmerz nicht fühlen können, ihre Kinder oft daran, Schmerz auszudrücken. »Sei ruhig, hör auf zu weinen, es tut nicht weh.« Mit solchen Worten sollen sowohl die Eltern wie das Kind beschwichtigt werden; die Realität heißt jedoch, zu lernen, Gefühl zu unterdrücken, weil dieses Gefühl nicht annehmbar ist. Vielleicht ist es für Eltern hilfreich, wenn ich in großen Zügen darstelle, wie meine Kinder mir ein wenig »gesunden Menschenverstand« beigebracht haben. Beide Kinder hatten erschreckende Urer238
lebnisse, die sie in die ersten Lebensmonate zurückversetzten, als sie noch im Kinderkörbchen lagen. In jenen frühen Szenen verlangten sie weinend nach der Mutter. Ich ging nicht zu ihnen, wenn sie weinten, und in solchen Situationen hatten sie das Gefühl: »Ich wußte, ich würde sterben, wenn ich aufgehört hätte, nach dir zu schreien.« Ich höre meinen Kinderarzt noch sagen, wir sollten das nächtliche Schreien unserer Kinder nach Fütterung dadurch »brechen«, daß wir sie einfach schreien ließen. Als mir bewußt wurde, welches Entsetzen und welchen Schmerz ich aufgrund seines Ratschlags – den er wahrscheinlich immer noch gibt – meinen Kindern zufügte, hatte ich nicht übel Lust, ihm den Hals zu »brechen«. Natürlich ist mir allein vorzuwerfen, daß ich nicht trotz aller Ratschläge die Bedürfnisse meiner Kinder fühlte. Ich bin der festen Überzeugung, daß Kleinstkinder
nur eine Möglichkeit haben zu überleben, nämlich durch Schreien. Wenn ihr Schreien nicht beachtet wird, dann erleben sie das gleiche gräßliche Entsetzensgefühl, das einen Erwachsenen ergreift, wenn er zu ertrinken droht. Die Mutter bildet die einzige Verbindung zum Leben. Wenn sie dem Kind fernbleibt, bedeutet das Tod! Genau dieses Urerlebnis habe ich bei vielen anderen Patienten beobachtet; meines Wissens besteht ein Zusammenhang zwischen solchen Urerlebnissen und dem Glauben, Säuglinge müßten schnell aufwachsen und kleine Männer und Frauen sein, freilich nur für Leute, welche die Verantwortung und die Sorge, die mit der Elternschaft verbunden sind, nicht auf sich nehmen können. Es ist an der Zeit, das Kinderkörbchen wieder in das elterliche Schlafzimmer zu stellen, damit die Bedürfnisse des Säuglings möglichst schnell befriedigt werden können. Ich höre förmlich, wie alle Großmütter murren, die Kinder würden dadurch verwöhnt. Tatsächlich gibt es eine regelrechte Schule von Kinderärzten, Psychologen und gefühllosen Eltern, die Säuglinge mit den magischen Eigenschaften listiger, machtlüsterner Intriganten ausstatten, denen vom Augenblick der Geburt an Disziplin und Selbstkontrolle beigebracht werden müsse. Ich glaube, ein Baby wird zufrieden, relativ schmerzfrei, anspruchslos und unverzärtelt sein, wenn man jederzeit auf sein Weinen und Schreien achtet, die nichts anderes bedeuten als: »Ich brauche etwas.« Das alles setzt natürlich voraus, daß Mutter und Vater das Baby wirklich wollen und daß ihnen klar ist, wieviel Zeit und Geduld es erfordert, um wirklich gute Eltern zu sein. Allzu viele Eltern haben das Bild eines süßen, aufgeputzten »Spielzeugs« vor 239
Augen, das sie weglegen können, wenn sie müde sind. Säuglinge , brauchen Stunden sanfter Berührung und einfühlsamer Hingabe; nur so kann eine Neurose verhindert werden. Nachdem mein Sohn dem Säuglingsalter entwachsen war, verlangte er nachts immer Licht in seinem Zimmer. Wir wußten, daß dieser Wunsch einer allgemeinen Furcht entsprang, und gingen auf seine Forderung ein. Natürlich versicherte ich ihm, es würden keine »Räuber« kommen, und verstandesmäßig begriff er das auch, doch er wollte weiter sein Licht haben, weil sein Gefühl ihm etwas anderes sagte. Das bedrückte mich, denn ich fühlte mich hilflos und unfähig, an seine wahren Ängste heranzukommen. Ich konnte nichts dagegen tun, bis zu dem Tag, da er ein Urerlebnis hatte, das mit den nächtlichen Ängsten zu tun hatte und schließlich dazu führte, daß sie verschwanden. Er hatte wirklich Angst davor, die »Räuber« könnten ihn ersticken und sich auch an die Eltern heranmachen, wenn er um Hilfe schreien sollte. Wir, seine Eltern, waren sein Rettungsring und sein Schutz. Die Angst, uns zu verlieren, wurde in der Dunkelheit übergroß. Wie oft sagen Eltern: »Große Jungen haben keine Angst vor der Dunkelheit.« Viele große wie auch kleine Jungen haben durchaus große Angst vor der Dunkelheit. Eltern fügen dem Schaden noch kränkenden Spott hinzu, wenn sie ein Kind dazu bringen, Angst vor der Angst zu haben! Die nächtlichen Ängste meines Sohnes können aus der Zeit stammen, da ich ihn »ausschreien« ließ, oder von einem kurzen Krankenhausaufenthalt, den er im Alter von fünf Jahren zu erdulden hatte, weil ihm die Mandeln entfernt werden mußten. Man erlaubte mir nicht, über Nacht bei ihm im Krankenhaus zu bleiben. Als ich am nächsten Morgen um sechs Uhr wiederkam, schrie er bereits nach mir. Diese Nacht muß für ihn ein schrecklicher Alptraum gewesen sein – weißgekleidete Leute, ein kahles Krankenhauszimmer, Gurte, die ihn festhielten, eine schwarze Maske, die ihm auf Mund und Nase gepreßt wurde, das
Aufwachen mit schmerzender Kehle und Mutti und Vati nicht da. Mich überkommt ein Schaudern, während ich dies niederschreibe. Wie habe ich mein Kind einem solchen Trauma aussetzen können? Die für Krankenhäuser Verantwortlichen und die Ärzte müssen erkennen, welch tiefreichende Schäden sie anrichten können, und sie müssen den Eltern nicht nur erlauben, bei den Kindern zu bleiben, sondern darauf bestehen, daß sie es tun. Einzig die Realität des Kindes zählt. Wenn es Gefahren fühlt, vermag es sich nicht mit dem Gedanken zu beru240
higen, daß die Mutter schon kommen wird. Es will Sicherheit, und die Eltern sind die einzige Sicherheit, die es hat. Wir sind so sehr daran gewöhnt, daß alles organisiert wird, daß wir glauben, es müßte so sein. So legen wir beispielsweise Kinder in Körbchen und Wiegen. Vielleicht sollten sie, sicher und geschützt, zwischen ihren Eltern schlafen, wie das bei den Eskimos der Fall ist. Vielleicht sind die nächtlichen Ängste, die wir so häufig bei Kindern beobachten, auf die unnatürliche Angewohnheit zurückzuführen, daß man Kinder getrennt von ihrer eigentlichen Lebensquelle, den Eltern, schlafen läßt. Kürzlich stellte eine unserer primärtherapeutisch behandelten Familien die Betten ihrer im Vorschulalter befindlichen Kinder im Elternschlafzimmer auf. Das den Kindern dadurch vermittelte Glücks- und Sicherheitsgefühl ist nicht zu beschreiben. Die Eltern mußten zwar ihr Sexualleben ein wenig umstellen, doch das war für sie kein besonderes Problem. Wir glauben häufig, wir müßten streng sein und unsere Kinder für ihr Fehlverhalten bestrafen, sonst würden sie als psychopathische Kriminelle enden. Eines Abends experimentierten unser Sohn und seine Freunde mit alkoholischen Getränken und Zigaretten. Wir waren
entsetzt, schimpften ihn aus und hielten ihm Prachtsatze vor wie: »Wir können dir nicht mehr vertrauen« und »Wir dachten, du hättest Verantwortungsgefühl.« Plötzlich begann er heftig zu weinen, und nach einer Stunde voller Urerlebnisse, bei denen er sich an ähnliche Vorfälle in der Vergangenheit erinnerte, ging mir auf, daß wir ihn mit unserer berechtigten Empörung und unserem Zorn schrecklich verletzt hatten. Wir hörten ihn ununterbrochen schluchzen: »Mammi und Vati lieben mich nicht mehr.« Aufgrund unserer eigenen Ängste hatten wir dem Vorfall weit mehr Wichtigkeit beigemessen, als ihm tatsächlich zukam. Seine Realität war, daß er uns als Sohn enttäuscht hatte und daß sich damit unsere Beziehung für immer ändern würde. Für uns als Eltern ist es ungeheuer wichtig, zu erkennen, daß unsere Unfähigkeit, ausgefallenes Verhalten bei einem Kind zu akzeptieren, dem Kind das Gefühl vermitteln kann, es werde als Person völlig abgelehnt und erhalte keine Gelegenheit, sich wieder reinzuwaschen. Wie oft vergessen wir, daß wir selbst als Kinder mit dem Zeitvertreib von Erwachsenen experimentierten. Wenn neurotische Eltern mit den Fehlern ihrer Kinder konfrontiert werden, dann werden sie in Wirklichkeit mit ihren eigenen Fehlern konfrontiert. Ihre Kinder sind sozusagen Verlängerungen und 241
Widerspiegelungen ihrer selbst; sie sind keine eigenständigen Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeiten. Vielleicht kann ich meine Kinder aus diesem Grund nicht verstehen und richtig akzeptieren, wenn sie meinen Erwartungen nicht entsprechen. Ich kann es nicht ertragen, daß ich »böse« bin. Ich schaue in engelgleiche Gesichter und sehe traurige Augen, mit denen sie die schimpfende Mutter anblicken. Sie sind wirklich keine bösen Kinder, sondern nur Kinder mit unerfüllten Bedürfnissen – Opfer
von Eltern mit unbefriedigten Bedürfnissen. John Lennon singt in einem Lied mit dem Titel »Mother« [»Mutter«]: »Mutter, du hattest mich, doch dich hatte ich nie... Ich brauchte dich, doch du brauchtest mich nicht« [frei übersetzt]. Wenn ich mich an neurotische Eltern wenden sollte und die Hoffnung dabei haben könnte, ihn oder sie zu erreichen, dann würde ich ihnen sagen, daß unberechtigte Wut, Schimpfen, Strenge, Ablehnung und Bestrafung von einem kleinen Kind als Lieblosigkeit empfunden werden, auch wenn die Eltern meinen, sie liebten ihr Kind und handelten nur »zu seinem Besten«. Zum Besten des Kindes sollte man besser den wirklichen Grund für dessen Verhalten herausfinden, ehe man es mit grausamen Unterdrückungsmaßnahmen traktiert. Man sollte sein Kind als eine wirkliche Person betrachten. Kinder können und werden mit einem über ihre wirklichen Gefühle sprechen. Wenn man alles akzeptiert, kann man nichts für böse oder bestrafenswert halten. Ein Kind ist Mensch genug, um ein befriedigendes Verhalten zu wählen, sofern es die freie Wahl hat. Warum sollte es etwas verheimlichen, wenn alles offen besprochen werden kann? Für die gesunde Selbstentwicklung ist Freiheit vonnöten, doch sie kann nur von fühlenden und akzeptierenden Eltern gewährt werden. Freiheit gewähren heißt, Liebe gewähren. Gelegentlich hatten meine Kinder Urerlebnisse, die zum Inhalt hatten, daß sie mit Babysittern allein gelassen wurden, während wir zur Arbeit gingen oder uns einen Film anschauen wollten. Ich weiß heute, wie falsch es ist, Kinder zu verlassen, wenn sie Angst haben und ihre Eltern brauchen. Wenn Kinder aus Angst darüber weinen, daß sie allein gelassen werden, dann haben sie recht; sie sollten nicht im Stich gelassen werden. Alle wohlmeinenden Beschwichtigungen eines freundlichen Babysitters ändern nichts an dieser Tatsache. Ich weiß, daß viele Mütter arbeiten gehen und ihre Kinder allein lassen müssen; sie sollten zumindest wissen, welche Auswirkungen das hat.
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Ich habe häufig von berufstätigen, schwangeren Frauen gehört, sie trügen sich mit der Absicht, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, sobald ihr Kind geboren sei, und wollten zu diesem Zweck eine zuverlässige Haushaltshilfe einstellen. Diese Art von Mutterschaft lehne ich so strikt ab, wie ich es nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen kann. Wenn eine Mutter nicht gewillt ist, Mutter im wahren Sinne des Wortes zu sein, dann sollte sie keine werden! Mutterschaft sollte nicht als unvermeidliches Nebenprodukt amtlicher Schriftstücke und der Heiratsurkunde betrachtet werden. Das Leben eines Menschenkindes verlangt entschieden eine wirkliche Mutter, die ihm nahe ist und für seinen Körper in gleicher Weise sorgt, wie sie es vor der Niederkunft getan hat. Von der Frauenbewegung stammen viele wichtige Gedanken über die Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch ein Mann ist nicht in der Lage, sein Kind wirklich zu »bemuttern«. Sicherlich kann er einen großen Teil der anfallenden Aufgaben übernehmen, doch er ist nicht fähig, dem Säugling während des ersten Lebensjahres die Brust zu geben, und nach meiner Ansicht sind diese Erfahrung und all die damit verbundene Zärtlichkeit, Geborgenheit und Liebe entscheidend für die Abwehr von Neurosen. Bei den heutigen Möglichkeiten einer wirksamen Geburtenkontrolle und der relativ einfach durchzuführenden Abtreibung hat nach meiner Ansicht niemand mehr das Recht, ein Kind auszutragen und es dann zu vernachlässigen. Die Wahl zwischen Mutterschaft und beruflicher Laufbahn muß vor der Schwangerschaft getroffen werden. Man sollte sich ferner zugunsten der kleinen Familie entscheiden, in der es realistischerweise am ehesten möglich ist, Aufmerksamkeit und
Liebe zu gewähren. Ich meine, man sollte nicht Mutter oder Vater werden, wenn man nicht bereit ist, viel zu geben, oder wenn man nicht viel zu geben hat. Wir haben allzulange Neurosen von einer Generation zur nächsten weitergegeben, indem wir aus den falschen Gründen Kinder in die Welt setzten. Einige dieser Gründe sind der Wunsch, jemanden zu haben, der uns liebt, der Wunsch, eine Ehe zu kitten, Unlust vor der Arbeit, das Verlangen, sich einen Ausgleich für eine harte Kindheit zu verschaffen, und der Wunsch, den eigenen Eltern ein Enkelkind zu schenken. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die ich den Urerlebnissen meiner Kinder verdanke, betrifft Begabungen. Als unsere Tochter die ersten Anzeichen von Freude am Singen, Tanzen, Tennisspielen, Gedichteschreiben usw. zeigte, da verhalfen wir ihr gleich zu Kursen, 243
prüften ihre Fortschritte und arrangierten Vorführungen ihrer Fähigkeiten. Sehr bald wurden ihr Vergnügen und ihre Freude zu unserer Sache, während ihr Interesse schwand. Sie ist wütend darüber, daß wir ihr den Spaß an etwas verdorben haben, was sie gern getan hat. Während ich dies niederschreibe, bin ich tief bekümmert, weil ich daran denke, daß wir uns auf vielerlei Weise in die große Begabung und die Kreativität unserer Tochter eingemischt haben. Wir hatten die Absicht, ihr alles zu geben, was wir nicht gehabt hatten, »ihre Möglichkeiten zu entwickeln« und unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Ihre Realität bestand in dem Druck, etwas zu leisten, ohne die Möglichkeit zu haben, sie selbst zu sein. Das können wir niemals wiedergutmachen. Zweifellos haben Eltern zahllose Möglichkeiten, ihren Kindern Schmerz zuzufügen, indem sie nicht zulassen, daß die Kinder sie
selbst sind. Ich denke da an die Mutter, die sich ein Mädchen wünscht, jedoch einen Jungen zur Welt bringt. Doch das kümmert sie nicht; sie macht den Jungen zu einem Mädchen, zu einem kleinen Weichling, mit dem Ergebnis, daß er sich wahrscheinlich zu einem Homosexuellen entwickeln wird. Ich denke an den Vater, dessen Sohn ein sportlicher Supermann werden soll. Doch der Junge ist dazu nicht in der Lage; der Vater spornt ihn trotzdem an, und die Folge ist ein hochneurotischer Versager. Ich denke an das Kind, das ständig »Einser« nach Hause bringen muß, das infolge dessen ein intellektueller Eigenbrötler wird und sein gefühlsoffenes, spontanes Selbst verliert. Ich verweise auf all die vorgefaßten Pläne, Forderungen, Maßstäbe, Ambitionen, Leistungen, Fertigkeiten, Talente, Ziele und Hoffnungen, die Eltern in ein hilfloses Kind investieren, noch ehe es überhaupt das Licht der Welt erblickt hat. Die Eltern sind ängstlich darauf bedacht, durch ihr Kind all die Fehler und Mißgeschicke ihres eigenen Lebens auszugleichen. Das Kind gilt dabei niemals als ein eigenständiges menschliches Wesen mit individuellen Fähigkeiten und Wünschen. Es ist darauf festgelegt, die Spannungen seiner Eltern und Lehrer zu mildem. Man mag sich fragen, wie eine Familie in der alle Mitglieder Urerlebnisse haben, im Alltagsleben zurechtkommt. Für meine Familie waren es gleichsam historische Tage, wenn wir vier gleichzeitig Urerlebnisse hatten, wobei oft eins das andere auslöste. Die Urerlebnisse wirkten auf uns alle sehr befreiend. Die Kinder sind freier, ihr Leben selbst zu gestalten, weil sie häufig in der Lage sind, einfühlsame, nichtneurotische Urteile zu fällen. Da sie nicht unter 244
dem Einfluß unterdrückter, alter Wünsche stehen, können sie verantwortlich und spontan handeln. Zeitweilig haben sie
irrationale Wünsche, doch können sie diese Wünsche mit einem alten Gefühl in Verbindung bringen. Urerlebnisse zu haben ist ein Prozeß, der das Gefühl dafür schärft, was real ist, und dieser Prozeß hört nie auf. Er ist keine »schnelle« Lösung aller Probleme. Kürzlich kam mein Sohn zu der Überzeugung, seine Schule sei überfüllt und dort werde ein langweiliger, traditioneller Unterricht geboten. Er wollte lieber eine »freie« Schule besuchen und entdeckte schließlich eine, die ihm ideal erschien. Meine Reaktion auf seinen Beschluß, diese Schule zu besuchen, war ein unmittelbares Ergebnis meiner Therapie. Mein altes Ich hätte alle möglichen Einwände vorgebracht: Wie steht es mit der Hochschule, mit den Hausarbeiten, der Lernweise, mit dem Establishment, dem Sohn meiner Freunde, dem Studiengang, mit seiner Zukunft? Jetzt war ich aufgeschlossen für eine freiheitlich strukturierte Lernsituation, in der mein Sohn lernen konnte, was er wirklich wollte, ohne von dem Konformitätsdruck öffentlicher Schulen eingeschränkt zu werden. Jetzt hatte ich das Gefühl, daß er in der Lage sein werde, seinen Bedürfnissen zu folgen – und nicht den meinen oder denen der Gesellschaft. Beide Kinder richten ihre Zimmer so ein, wie es ihnen gefällt; es ist ihnen überlassen, wie sie ihre Zimmer ausschmücken. Die Zimmer sind ihre private Domäne und Ausdruck ihrer eigenen Persönlichkeit. Ich glaube, daß Eltern dieses Recht auf Privatsphäre genau wie andere Rechte der Kinder häufig mißachten. Was die Möglichkeit angeht, sich frei zu äußern, so mag unsere Familie außergewöhnlich erscheinen. Alles kann und wird geäußert. Ob Wut, unflätige Worte, Ekel, Zärtlichkeit, Schreien, Weinen oder Lachen – bei uns kann man alles ungehindert äußern. Was immer jemand zu irgendeinem Zeitpunkt fühlen mag, es wird ihm zugestanden und akzeptiert. Durch Reinigung der Atmosphäre in jeder Situation versuchen wir den ohnehin
vorhandenen Bestand an Schmerzen und Frustrationen nicht noch zusätzlich zu erhöhen. Wenn es möglich ist, die gegenwärtigen schmerzlichen Situationen jeweils so zu fühlen, wie sie sind, dann wachsen sie sich nicht zu zukünftigen »Urerlebnissen« in psychiatrischen Kliniken aus. Die Wirklichkeit jeder Situation erhält sich im Körper; keine noch so intensive Verleugnung kann sie beseitigen. Eifersucht zwischen Geschwistern ist nichts Ungewöhnliches. Wenn man einem Kind 245
erzählt, in Wirklichkeit liebe es das nach ihm zur Welt gekommene Baby, dann leugnet man die Realität dieser Eifersucht und zwingt das Kind, seinen Schmerz zu verdrängen. Als ich zu hören bekam, wie meine Tochter während eines Primals jammerte, die Ankunft ihres Bruders bedeute für sie, daß sie »kein Baby mehr sein kann«, da ging mir auf, wie sehr ich ihre Realität zur damaligen Zeit verleugnet hatte. Wir hatten versucht, ihr das Gefühl zu vermitteln, wie sehr wir sie liebten und wie wichtig sie als große Schwester für uns sei. Wir taten alles Mögliche, nur gaben wir ihr nicht die Gelegenheit, ihre unterschwelligen Gefühle auszusprechen. Wie konnte sie sich eingestehen, den Gedanken zu hassen, daß da ein neues Baby zur Welt kommt, wenn doch alle anderen so entzückt darüber waren? Sie hatte zunächst Angst, der Rivale könne ihr Liebe entziehen; darüber hinaus schreckte sie davor zurück, diesen Gedanken auszusprechen, weil damit die Gefahr weiteren Liebesverlustes verbunden gewesen wäre. So machten sich alle etwas vor und »fanden« die richtigen Worte. »Du bist doch ein großes Mädchen und wirst Mammi dabei helfen, das neue Baby zu versorgen, nicht
wahr?« fragte ihre Großmutter. Diese Frage rührte an etwa fünf verschiedene Schmerzschichten. Die Beziehung der Kinder zueinander hat sich in den letzten Jahren geändert. An einem denkwürdigen Abend weinten sie gemeinsam und tauschten all den Groll aus, den sie gegeneinander hegten. Zum erstenmal waren sie in der Lage, sich als Personen zu sehen und nicht als Rivalen um die elterliche Liebe. Aus dieser Erfahrung erwuchs eine tiefe, liebevolle Freundschaft, die ohne Urerlebnisse, dessen bin ich gewiß, nicht zustande gekommen wäre. Ich weiß, daß ich den Schaden, der meinen Kindern in der Vergangenheit zugefügt wurde, nicht wiedergutmachen kann. Oft kommt mich Trauer darüber an, daß ich meinen Kindern durch mein Unwirklichsein Schmerzen bereite, doch ich bin gleichzeitig dankbar dafür, daß es die Primärtherapie gibt, eine Therapie, die dazu beitragen kann, Schmerzen zu lindern. So habe ich wenigstens die Möglichkeit, gegen meine Fehler anzugehen, indem ich den Schmerz meiner Kinder wahrnehme und ihn akzeptiere. Natürlich bin ich dazu nur in der Lage, weil ich ständig meinem eigenen Schmerz nachspüre; das macht mich aufgeschlossen für die Gegenwart und hindert den negativen Einfluß der Vergangenheit daran, unser aller Leben zu vergiften. Eine Möglichkeit, Kinder frei von Neurosen aufwachsen zu lassen, 246
wäre vielleicht die Rückkehr zu primitiveren Lebensformen. In dieser Beziehung können wir, glaube ich, von Eingeborenen lernen, die ihre Kinder mit sich herumtragen, sie im elterlichen Bett schlafen lassen, ihnen über Jahre hin die Brust geben, wenn sie danach verlangen, ihnen die Möglichkeit einräumen,
ungehindert, frei zu spielen und zu lernen, und sie in einer Sicherheit und Schutz gewährenden Gemeinschaft von Ersatzeltern aufwachsen lassen.
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16 Ricks Kinobesuch
Neulich besuchten mein vierzehnjähriger Sohn Rick, meine Frau und ich den in den vierziger Jahren gedrehten Film The Search mit Montgomery Clift in der Hauptrolle. Der Film handelt von einem Jungen, der in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager von seiner Mutter getrennt wurde, und von der Suche nach der Mutter. Montgomery Clift spielt darin einen amerikanischen Soldaten, der den Jungen aufliest und ihm dabei hilft, das Schicksal seiner Mutter aufzuklären. Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, meinte Rick: »Mann, eine Szene hat mich wirklich mitgenommen, und zwar als der Soldat dem Jungen an einem Flußufer sagt, daß seine Mutter tot ist und nie mehr wiederkommen wird.« Meine Frau Vivian saß bei Rick am Bett, als er sich schlafen legte. Sie ging dem Gefühl nach, über das Rick gesprochen hatte: »Was meinst du damit, daß es dich mitgenommen hat? Was an der Szene hat dich so erschüttert?«
Rick erklärte: »Weißt du, manchmal habe ich Angst, ihr beide könntet sterben und nicht mehr wiederkommen. Davor hab ich ziemlich oft Angst.« Meine Frau meinte, vielleicht handele es sich dabei um ein Urgefühl, doch Rick widersprach dem. (Niemand von uns gerät in ein Urerlebnis, wenn er nicht vorher mehr oder weniger dazu angestachelt wird.) Vivian fragte: »Warum gibst du dem Gefühl nicht nach?« Rick meinte, das sei aber doch ein ganz natürliches Gefühl, das habe jeder, denn: »Schließlich wäre es doch wirklich schlimm, wenn du sterben würdest.« Vivian ließ nicht locker. Auf ihren Wunsch hin wiederholte Rick die Worte, die der Mann aus dem Film zu dem Jungen gesagt hatte, bis er von dem Gefühl völlig beherrscht war. Dann trat Stille ein. Rick begann leise zu weinen und erklärte, selbst wenn er fünfzig Jahre alt wäre, würde er noch traurig sein, wenn wir stürben, denn er liebe uns sehr usw. Ricks Schluchzen verstärkte sich. Vivian blieb weiter still. Nachdem Rick fünf oder zehn Minuten lang geweint hatte, hob und senkte er die Beine, wie unter einem Zwang, beugte die Knie, streckte die Beine wieder, ganz wie ein kleines Kind. Er hielt auch wie ein Kleinkind die gekrümmten, einwärts gebogenen Hände in die Luft. Sein Schluchzen paßte sich dieser Haltung an, es wurde ebenfalls kindlicher; schließlich wand er sich und wimmerte wie ein Kleinkind, unkontrollierbar und ohne Anstrengung. Dann formte er schluch248
zend die Worte »Ami, Ami«. (Später erklärte er, daß er noch nicht gelernt habe, das Wort »Mammi« zu sagen.) Eine Stunde lang weinte und wimmerte er, wand sich im Bett hin und her, bis er völlig erschöpft war. Mal war ihm bewußt, wo er war, nämlich in seinem Schlafzimmer, mal glaubte er, er sei ein kleines Kind, liege in seinem Körbchen und der Raum sei pechschwarz. Als Kleinkind hatte er völlig unter dem Eindruck der Angst
gestanden, sterben zu müssen, denn er hatte nicht ausreichend Milch erhalten und durfte sich gemäß den Anweisungen des Arztes »ausschreien«. Wir hatten damals keine Ahnung gehabt, daß er nicht richtig ernährt wurde. Er wurde gestillt, brauchte allerdings, weil er so ein großes Baby war, zusätzliche Nahrung. Als Kleinkind hatte er aus Hunger und aus Angst geschrien, niemand werde kommen, um ihm zu helfen. Jetzt hatte er das Gefühl, er befinde sich tatsächlich wieder in jenem Zimmer und liege in seinem Körbchen, um sein Leben kämpfend. Sein lautes Wimmern ging in ein leises Jammern über; er fühlte sich »ohne Hoffnung« (sein späterer Gedanke, die Hoffnung aufzugeben, daß jemand kommen werde). An diesem Punkt begann er, seine Wünsche und seine Hoffnung zu verdrängen. Während all dieser Vorgänge atmete er schwer, als liefe er um sein Leben. Als das Jammern nachließ, begann er unkontrolliert zu zittern, seine Zähne Klapperten seinen Worten zufolge wie »bei einem doppelten Schüttelfrost«. Nach fünfzehn oder zwanzig weiteren Minuten tauchte er allmählich aus dem Urerlebnis wieder auf und hatte dabei den Eindruck, er erwache aus einem bösen Traum. »Genauso war es. Als wenn ich aus einer anderen Welt käme. Ich war ganz durcheinander.« Dann überkam ihn eine Fülle von Einsichten. Er sprach darüber eine weitere Stunde lang und entdeckte eine Menge von Zusammenhängen. Ständig sagte er: »Es ist unglaublich.« Ganz gleich, wieviel Urerlebnisse wir haben, jedesmal sagen wir anschließend: »Es ist unglaublich.« Weil es wirklich so ist! Rick wußte aufgrund seines Primals, daß er völlig allein gelassen worden war, während er vor Hunger geweint und geschrien hatte. Er wußte, warum das Licht in seinem Zimmer brennen und die Tür offen gelassen werden mußte, wenn er schlafen gehen wollte – um sicher zu sein, daß wir da waren und in sein dunkles Zimmer kommen würden. Als Kleinkind konnte er im Dunkeln nicht wissen, wo wir waren, ob wir nah oder fern, ob wir daheim
oder weggegangen waren. Später mußte er in der Nacht unsere Stimmen hören, um sich sicher zu fühlen. Er hatte noch weitere Einsichten, zum Beispiel, warum wir wach 249
sein mußten, wenn er einschlafen wollte. Dahinter stand das Gefühl, wir müßten für den Fall, daß er uns brauchte, völlig wach sein, jederzeit bereit, zu ihm ins Zimmer zu kommen. Nach all den Einsichten fühlte sich Rick erschöpft und beschloß zu schlafen. Wir verließen sein Zimmer. Zehn Minuten später kam er in unser Zimmer und erklärte: »Kurz vor dem Einschlafen fiel mir noch etwas ein. Ihr wißt doch, daß ich immer unbedingt irgend etwas haben will, sei es ein neues Spielzeug oder sonst was. Also, ich muß etwas haben wollen, weil ich nie etwas bekommen habe. Ich meine, der frühe Wunsch ist einfach geblieben, ich habe ihn nur mit anderen Dingen verbunden. Das ist der Grund, warum ich immer etwas anderes haben möchte, zum Beispiel wenn ihr mir eine Uhr kauft, will ich gleich wieder was anderes und wenn ich das dann habe, muß ich mich nach etwas Neuem umsehen, das ich haben möchte. Ich mußte dieses Wollen lebendig erhalten, weil mein Leben davon abhing. Es hielt mich am Leben. Dieses Urerlebnis erspart euch eine Menge Geld«, sagte er. Dann ging er in sein Zimmer zurück; er brauchte kein Licht und schlief sofort ein. Dieses Primal kreist um eine Erfahrung, die Rick im Alter von etwa drei Monaten in seinem Körbchen machte. Er erklärt dieses Urerlebnis folgendermaßen: »Während der Filmszene, in der der Soldat dem Jungen erklärt, daß seine Mutter nicht mehr zurückkommt, setzte mein jetziges Gehirn mein kindliches Gehirn in Gang. Sie löste ein Gefühl aus, das ich nicht kannte, nur, daß ich wieder Angst hatte, daß Mammi sterben könnte. Nach dem Film vergaß ich dieses Gefühl, bis ich
dann zu Hause war. Wenn Mammi mich nicht gedrängt hätte, hätte ich wahrscheinlich einen Traum mit diesem Gefühl gehabt. Weil sie mich dazu brachte, ein Urerlebnis zu haben, weil sie mich dazu brachte, die Worte aus dem Film zu wiederholen >Deine Mutter ist tot, sie wird nie mehr zurückkommen<, darum konnte ich einen Zusammenhang zwischen diesem Gefühl und dem kindlichen Gehirn herstellen. Und dann konnte ich einen Zusammenhang herstellen zwischen diesem Gehirn und all den Ängsten, die ich später immer hatte, die Angst vor Dunkelheit, die Angst, in einem dunklen Zimmer eingesperrt zu werden usw.« Nur das Nachsprechen der Worte, die der Soldat gesagt hatte, löste all diese Gefühle aus. Rick verstand jetzt das »Warum« vieler Dinge. Zum Beispiel verstand er, warum es ihn wenig kümmerte, wenn er tagsüber daran dachte, wir könnten sterben, und warum es ihn in Angst und Schrecken versetzte, wenn er in der Nacht (im Dunkeln) daran 250
dachte. Er erinnerte sich, daß ich jedesmal, wenn er davon sprach, er habe Angst, wir könnten sterben, beschwichtigend erklärte: »Mach dir keine Sorgen, du wirst sechzig Jahre alt sein, wenn wir sterben. Bis dahin ist es noch eine lange Zeit.« Doch er hatte weiterhin Angst, denn auch wenn er hundert Jahre alt gewesen wäre, es hätte nichts genutzt, die Angst wäre die gleiche gewesen wie die, als er drei Monate alt war. Rick verstand auch, daß er nicht eigentlich Angst davor hatte, wir könnten sterben, sondern daß er sich davor fürchtete, er könne sterben, wenn seine Verbindung zum Leben (Mammi) stürbe. Darum hatte er solche Angst, wenn wir ausgingen oder für einige Tage verreisten. Das war der Grund für seine Trennungsangst. Nach seiner Einschätzung hat er ein bedeutendes Urerlebnis durchgemacht,
weil dadurch so viele Dinge verständlich geworden sind — all seine Ängste, falschen Wünsche usw. Obwohl das, was er wünschte, real war und keineswegs überflüssig, spürte er, daß seine Wünsche falsch waren, denn sie waren Ausdruck einer »Überreaktion«, das heißt, er wünschte zu intensiv. Das ist der springende Punkt. Überreaktionen entstehen aufgrund von Primärgefühlen. Rick erklärt ein Urerlebnis mit der Vorstellung, daß das gegenwärtige Gehirn eine Verbindung zum vergangenen herstellt. Zu Herzanfällen meinte er: »Während meines Primals hatte ich so irrsinniges Herzklopfen, daß ich glaubte, ich würde einen Herzanfall bekommen. Wetten, wenn ich die Verbindung nicht hergestellt und mein Körpersystem nicht davon befreit hätte, dann hätte ich weiter Alpträume mit heftigem Herzklopfen, bis man Herz eines Tages aufhören würde zu schlagen.« Rick und seine Schwester Ellen sind außergewöhnliche Menschen. Sie werden während ihres Heranwachsens innerlich »gereinigt«. Sie haben keine abwegigen Motive, und keines ihrer Motive ist für sie ein Rätsel. Wenn sie sich in der Schule nicht konzentrieren können, kennen sie den Grund. Wenn sie ein Symptom bekommen, erkennen sie sofort seine Ursache. Aufgrund dessen sind sie beide kerngesund — und wohlgeformt. Sie haben »stimmige« Körper. So viele Neurotiker haben entstellte Körper. Ihr Mangel an körperlicher Einheitlichkeit zeigt sich an zu kurz oder zu lang geratenen Rümpfen oder Beinen oder auf vielerlei andere Art. Nach Ricks Urerlebnis frage ich mich, wieviel Kinder wohl deswegen nächtliche Ängste haben, weil sie in einer Atmosphäre aufwachsen, für die das Motto gilt: »Kinder müssen sich ausschrei251
en.« Die Angst macht sich nicht im Bewußtsein bemerkbar. Sie ist vielmehr ein Phänomen, das sich zäh am Leben erhält als ein allgemeiner Hintergrund von Angst und Furcht, der sich mit den verschiedensten Dingen verknüpft. Sie setzt so früh ein und ist so weit verbreitet, daß einige Neurophysiologen sogar versucht haben nachzuweisen, daß sie eine genetische Grundlage hat – als Urangst vor der Dunkelheit. Was können wir daraus ableiten? Irrationale Ängste sind immer rational, nur kann das Kind den richtigen Kontext oder die richtige Verbindung nicht erkennen. Alles, was mit der gegenwärtigen Realität nicht übereinstimmt, bezieht sich auf eine reale, vergangene Wirklichkeit und ist somit immer noch rational. Einem Kind die Möglichkeit zu geben, sich selbst gegenüber aufgeschlossen zu sein, und es nicht über seine Gefühle hinwegzutäuschen ist die größte Liebesgabe, die Eltern ihrem Kind geben können, denn damit wird dem Kind Gelegenheit gegeben, es selbst zu sein.
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17 Primärtherapeutisch behandelte Familien
D ie folgende Seiten enthalten Ausschnitte aus Sitzungen mit primärtherapeutisch behandelten Eltern im Primärinstitut. Diese Eltern leiten eine neue Epoche ein, denn sie haben sich darangemacht, die Primärtheorie in die Praxis umzusetzen und den Schaden, den sie zuvor ihren Kindern zugefügt haben, ungeschehen zu machen. Sie werden weiterhin zu Sitzungen zusammenkommen, ihre Erfahrungen austauschen und neue Techniken entwickeln, um Kindern zu helfen. Die im folgenden ausschnittsweise dargestellten Sitzungen zeigen nur Möglichkeiten auf. Es ist jedoch deutlich geworden, daß Urerlebnisse bei Kindern zu sofortigen Verhaltensänderungen führen. Ein solcher Änderungsprozeß ist freilich nur von Menschen einzuleiten, die selbst Urerlebnisse durchgemacht haben. Eltern müssen in der Lage sein, ihren Kindern zu gestatten, aufgeschlossen für ihre Gefühle zu sein. Sie können und dürfen nicht abwehren, was das Kind an Gefühlen und Gedanken hervorbringt, denn weil das Kind in solchen Fällen unter dem Eindruck von Schmerz steht, werden neurotische Eltern leicht versucht sein, eher zu beschwichtigen als weiter nachzubohren.
Seminar für primärtherapeutisch behandelte Eltern vom 3. Februar 1971
ART:
In diesen Sitzungen soll unter anderem über etwas
gesprochen werden, dessen Folgen sozusagen welterschütternd sind. Die Primärtherapie kann zwar die Welt nicht heilen, doch sie kann erreichen, daß Menschen begreifen, was es mit Urerlebnissen auf sich hat, und daß sie dann ihren Kindern zu Urerlebnissen verhelfen und damit ein wenig von dem Schaden, den sie angerichtet haben, wiedergutmachen. Das kann in großem Umfang geschehen. Der Gedanke ist überwältigend. Die Frage ist nur, wie kann man dahin kommen und was muß geschehen. SUSAN:
Neulich hatte ich ein Urerlebnis, Art. Da meinte meine
sechsjährige Kleine: »Ach, Mammi, gib mir eine Therapie.« Sie konnte nicht schnell genug auf den Boden kommen. Später fragte ich sie, was sie denn gefühlt habe, und sie dachte eine Weile nach 253
und sagte dann: »Wahr zu sein.« Das ist alles so schwierig. Sie weiß nämlich, worum es geht. ART:
Was geschieht nun, wenn sie ein Urerlebnis hat? Wie spielt
sich das ab? SUSAN:
Bei meinen kleineren Kindern viel körperlicher als bei
Erwachsenen, finde ich. Bei meiner Sechsjährigen war es viel
schwieriger. Sie war immer sehr in sich gekehrt und kontrolliert, ein sehr braves Mädchen, immer darauf bedacht zu gefallen, sie konnte nie ungezogen sein. In letzter Zeit explodiert sie oft. Bei meinen Kindern fing es einfach damit an, daß sie mich beobachtet haben, daß sie sahen, wie ich Urerlebnisse hatte. Meine sechsjährige Tochter ist jetzt schon soweit, daß sie mehr intellektualisiert, wenn sie gelöster ist. Wenn aber gerade etwas passiert ist, dann agiert sie ihren Zorn unmittelbar aus. Das hat manchmal zu Schwierigkeiten geführt, sie schmeißt dann sogar mit Möbeln. Ich bin für sie die schlechteste Mutter der ganzen Welt. Ich habe ihr ihren Vati genommen. [Susan ist geschieden.] Und sie hatte mehrere Urerlebnisse, in denen es darum ging: »Warum können wir nicht wieder eine richtige Familie sein? Ich will eine Familie sein!« ART:
Was geschieht denn nun, wenn sie ein Urerlebnis hat? Wie
bringst du sie soweit? susan: Oh, sie macht es mit ihrem ganzen Körper. »Ich will meinen Vati!« Und da führe ich sie weiter: »Ruf Vati, sag Vati.« Und sie tut es. Da ist noch etwas anderes mir ihr. Immer wenn ihr etwas genommen wird, will sie sofort etwas Besonderes haben, und ich weiß genau, das ist dieses Bedürfnis. Da ich vier Kinder habe, haben sie alle ihre Identität verloren. Drei der Kinder haben Urerlebnisse gehabt, die besagten: »Meine Mammi, meine Mammi, nur meine Mammi, die Mammi von niemandem sonst.« PAT: Ich habe mich als Babysitter um Bryan (vier Jahre alt) gekümmert, während Linda und Benn sechs Tage verreist waren. Er war daran gewöhnt, daß die beiden mal für ein Wochenende fort waren, war jedoch nie länger als drei Tage von ihnen getrennt gewesen. Er beteuert immer noch, daß es nichts ausmacht, wenn sie mal weg sind, doch es darf nicht mehr als drei Tage sein.
Die ersten fünf Tage ging es ihm ziemlich gut. Jim und ich hielten ihn ständig beschäftigt, und er genoß es wirklich, den ganzen Tag draußen auf der Ranch zu verbringen. Am sechsten Tag behielt ich ihn zu Hause, denn seine Eltern sollten am späten Vormittag oder frühen Nachmittag zurückkommen. Zwischen zehn Uhr und Mittag 254
hat er mich mindestens fünfundzwanzigmal gefragt, wann denn nun seine Eltern zurückkommen und ob sie wirklich zurückkommen. Gegen zwölf Uhr waren sie noch immer nicht da, und Bryan begann, aufgeregt hin und herzulaufen. Er jagte hinter den Katzen her, warf mit Gegenständen um sich und benahm sich überhaupt unerträglich. Schließlich gelang es mir, ihn dazu zu bewegen, sich auf seine Gefühle zu konzentrieren. Und er sagte, er sei ein kleiner Junge, der seine Mutter und seinen Vater braucht. Er weinte leise, als das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer auf, und in dem Augenblick, als ich sagte: »Hallo, Ben«, fing Bryan an, laut zu schluchzen, und verlangte, seinen Vati zu sprechen. Ich gab ihm den Hörer, und er sagte zu Ben, er solle bitte sofort kommen, er habe es satt, den ganzen Tag auf ihn zu warten. (In Wirklichkeit wartete er seit zwei Stunden.) Ben erklärte ihm, das gehe nicht, er könne jetzt noch nicht kommen, es werde wohl noch bis zum späten Nachmittag dauern, bis er heimkommen könne. Da begann Bryan laut zu brüllen und schrie, Ben sei blöde, ganz blöde und solle einem kleinen Jungen nicht wehtun. Ich hängte den Hörer auf und ließ Bryan weinen. Als ich mich auf den Klavierstuhl setzte, richtete Bryan sich auf, hörte auf zu weinen und bat mich, ein Lied zu singen. Dann begann er zu schluchzen. Ich erklärte ihm, ich würde gern für ihn spielen, er solle mir nur sagen, was ich singen soll. Er meinte, ich soll ein Lied singen, das davon handelt, wie er mit seinem Vater am Telefon spricht, daß sein Vater nicht heimkommen will und wie
sehr ihm das wehtut. Ich begann wie gewünscht auf dem Klavier zu spielen und sagte dabei lediglich, Bryan möchte, daß sein Vater heimkommt, daß sein Vater aber nicht heimkommt. Jedesmal, wenn ich diesen Satz beendete, begann Bryan laut zu weinen und sagte: »Es tut mir weh, es tut mir weh.« Ich hörte dann auf zu spielen, wartete, bis seine Gefühle vorüber waren, und sogleich schaute Bryan auf und bat mich, das Lied noch einmal zu spielen. Das ging so an die fünfundzwanzig Minuten. Dabei weinte Bryan heftig, war völlig aufgelöst, schluckte und würgte. Schließlich meinte er, ich solle aufhören zu spielen; er hatte genug. Dann wollte er auf meinem Schoß sitzen, um sich auszuruhen. Bei einer anderen Gelegenheit fragte ich ihn, ob er eine Freundin von mir besuchen wolle, die gerade ein neues Baby bekommen hat. Er lehnte das heftig ab. Er mag Babys nicht. Ich fragte ihn, warum nicht, und er meinte, er selbst mag es nicht, ein Baby zu sein. Auf meine Frage, was denn geschehen sei, als er so klein war, sagte er 255
mir, daß er damals immer habe schlafen müssen, daß er dann ständig geweint habe und daß seine Mammi die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen und ihn allein gelassen habe. »Das hat deine Mammi getan?«, fragte ich ihn. Er antwortete: »Ja, und mein Vati auch.« Ich schwieg einige Minuten, weil er nicht mehr sprechen wollte. Schließlich fragte ich ihn: »Bryan, hast du ihnen jemals gesagt, wie du dich fühltest, als du allein in deinem Zimmer warst und weintest?« Er schaute mich groß an und sagte leise: »Pattie, ich konnte es ihnen nicht sagen — Babys können nicht sprechen.«
MIKE:
Mit unserem Jungen stecken wir augenblicklich fest. Er ist
dreieinhalb Jahre alt und kann noch nicht genug sprechen. Er schreit und wird von Krämpfen befallen, die seinen ganzen Körper erschüttern. Ich weiß nicht, ob das nur ein gegenwärtiges Gefühl ist oder ob er es mit seiner Vergangenheit verbindet. Ich bezweifle, daß er das tut. Es ist ein Schmerz, der nur mit der Gegenwart verbunden ist. Er führt auf nichts Früheres zurück. Es ist, als könne er spontan empfinden. Wenn ich zur Arbeit gehe und er möchte nicht, daß ich das Haus verlasse, fängt er an zu schreien. Er ist dann völlig von dem Gefühl beherrscht. Er ist nicht aufgespalten. Ich glaube, daß er in solchen Fällen überhaupt keine neuen Schmerzen empfindet. Dazu wird er erst in der Lage sein, wenn er sich sprachlich artikulieren und sich selbst in die Vergangenheit zurückversetzen kann. art: Da bin ich nicht sicher. DIANE: Das gleiche Problem hatte ich mit Fred, der heute sieben Jahre alt ist. Er hat niemals geschrien, wenn ich ihn verlassen habe, und er wurde oft allein gelassen. Als ich in Spanien war, kümmerte sich drei Tage in der Woche jemand anders um ihn, weil ich einfach keine Lust hatte, mich mit ihm zu beschäftigen. Man konnte ihn eine Woche lang allein lassen, ohne daß er auch nur die Spur einer Träne gezeigt hätte, doch in den beiden letzten Monaten kann ich hingehen, wo ich will, er will mit, ich muß ihn wirklich überall mitnehmen. Wenn ich einkaufen gehe, heißt es sofort: »Ich will mit.« Ich habe versucht, meine Berufstätigkeit so einzurichten, daß ich zwei Tage frei bekomme ... ART: Schildere uns an einem Beispiel, wie du ihm zu einem Urerlebnis verholten hast. DIANE: Sein erstes Urerlebnis hatte er am vergangenen Samstag. Ich habe versucht, nichts ohne ihn zu tun, ihn nicht allein zu lassen. So ging ich mit den beiden Kindern am Samstag zu einer Nachmit256
tagsveranstaltung, bei der ich wirklich das Gefühl hatte, ich würde verrückt. Fünfzig Millionen Kinder, die mit Popcorn um sich warfen (Gelächter in der Gruppe), verstehst du. Ich habe die Aristocats dreimal abgesessen (Gelächter), und dann kamen wir nach Haus, ich hatte eine Verabredung für den Abend, mir war richtig danach zumute, endlich einmal auszugehen. Zu Hause erklärte ich: »Hör zu, Fred, ich gehe aus.« Da fing er gleich an zu schreien und zu brüllen und meinte: »Du kannst nicht ausgehen.« Darauf sagte ich: »Tut mir leid, doch ich muß ausgehen.« Bevor ich ging, setzte ich mich zu ihm, und er begann zu schreien. Vorher hat er nie geschrien, niemals, doch diesmal weinte und schrie er zwei geschlagene Stunden lang. »Geh bitte nicht weg, bitte nicht.« Sogar wenn ich einkaufen gehe, bricht er in Tränen aus. Er versetzt sich nicht in die Vergangenheit zurück und sagt nicht: »Ich bin ein Baby.« ART: Doch, er hat sich zurückversetzt. DIANE: Er fühlt das alles jetzt. Sein Körper versetzte sich zurück. VIVIAN JANOV: Ich weiß immer noch nicht, wie einige von euch ihren Kindern zu Urerlebnissen verhelfen. SELMA: Mit Sam (drei Jahre alt) ging es so weit, daß es mir nicht einmal mehr möglich war, allein ins Badezimmer zu gehen. Ich versuchte alles mögliche, doch er wollte nicht darüber reden oder ließ sich von anderen Dingen ablenken. Schließlich holte ich alte Fotos hervor und sprach darüber, was damals in New York geschehen war. Ich sagte also: »Sieh, deine Mammi hat dich für lange Zeit verlassen.« Er schaute traurig drein, saß lange Zeit nachdenklich da und dann sprach er darüber mit mir und den Nachbarn, sagte: »Ja, meine Mammi hat mich verlassen.« Das scheint geholfen zu haben. Er klammert sich immer noch an mich, doch es hat offenbar geholfen. Er konnte die Verbindung nicht herstellen. Das habe ich für ihn getan.
GRUPPENMITGLIED: Doch du hast ihn nicht hingelegt und... SELMA: Das kann man mit Kindern nicht machen. Sie haben ihren Körper, sind sich seiner sicher. Wenn man seines Körpers nicht sicher ist, muß man sich niederlegen, sich auf seine Gefühle konzentrieren, und dann geschieht es. Doch man muß bereit sein, wenn es geschieht. JANE: Wir waren mit unserem vierjährigen Jungen zwei Wochen lang in einer ähnlichen Situation. Er hatte starke Gefühle. Es war einfach schrecklich mit ihm. Er war geradezu bösartig. Doch er war er selbst. 257
ART: Was hat er getan? jane: Er wollte nicht zur Schule gehen, wollte das Haus einfach nicht verlassen. Immer wollte er mich um sich haben. Wenn er irgend wohin spielen ging, zehn Minuten später erhielt ich einen Anruf, er wolle nach Hause kommen, ich solle ihn abholen. Und wenn ich dann da war, dauerte es noch fünf oder zehn Minuten, bis er mitkam. Er wollte, daß ich dablieb. Er war einfach nicht zu bewegen, zur Schule zu gehen. Was er auch tat, er wollte immer, daß wir es mit ihm taten. mike: So ließen wir ihn am Wochenende im Schlafanzug herumlaufen, wie er es wollte. Er weigerte sich schlicht, sich ankleiden zu lassen. art: Aber das ist doch nicht das Urerlebnis. jane: Wir wußten einfach nicht, was wir tun sollten. Vielleicht kannst du das nicht verstehen. mike: Gestern abend setzten wir uns zusammen, um zu versuchen, es herauszubekommen, und irgendwie konnten wir es ziemlich genau bis zu einem Vorfall vor einigen Wochen zurückverfolgen. Damals hatte unser Junge irgend etwas
angestellt. Wir ließen ihn allein mit anderen Kindern im Park des Kindergartens. Schließlich ging Jane hin, doch sie blieb nur fünf Minuten und ging dann wieder. Als er mit wollte, lehnte Jane ab. Wir wußten genau, was das für ihn bedeutete. Irgendwie fühlten wir, daß es dies war, was ihn zwei Wochen lang beschäftigte, doch wir wußten nicht, wie wir daran kommen sollten. vivian: Aber Michael, das ist es doch nicht. Ich meine, das ist es und ist es doch wieder nicht. Jener Fünf-Minuten-Vorfall kann unmöglich dazu geführt haben, daß dein Sohn sich täglich vierundzwanzig Stunden lang an dich klammert. jane: Wo fängt denn bei dir das Ausagieren an? Nimm meine sechsjährige Tochter! Sie will nicht zur Schule gehen. Jetzt bleibt sie schon die dritte Woche zu Hause. art: Schon recht, doch du mußt an das Gefühl herankommen. jane: Nun, der Lehrer schreit alle an... art: Bleiben wir bei dem Beispiel, das Michael geschildert hat! Fragen wir ihn, wie er sich verhält. Wie steht es da mit dir? mike: Wenn er über irgend etwas richtig traurig ist, dann stehen bei ihm sämtliche Türen offen. jane: Dann mußt du dich eben um ihn kümmern, wenn er weint, denn ich kann mit einem Vierjährigen einfach nicht umgehen. Ein 258
neunjähriges Kind empfindet Trauer, wenn es sich an etwas erinnert. Man muß auf Kinder eingehen, wenn sie unglücklich sind, weil ihre Mammi sie verläßt. linda: Wenn Bryan weint und erklärt: »Mammi hat dies oder jenes mit mir gemacht,« dann sage ich: »Sag es ihr doch.« Er kann es ihr dann gleich, auf der Stelle sagen. vivian: Seht ihr, solche Möglichkeiten haben Kinder, wenn man ihnen erst einmal den Weg gezeigt hat. Sie können nämlich freie Menschen sein. Meine Kinder können mich vierundzwanzig
Stunden am Tag ansprechen. Was Bryan betrifft, so kann er heute einen Wutanfall bekommen, ohne daß sich Schmerz in ihm aufstaut. Ehe unsere Kinder nicht diese Freiheit haben, ehe sie nicht in der Lage sind, sofort zu brüllen und zu heulen, muß sich Schmerz in ihnen anstauen. linda: Ich denke gerade daran, wie es mit Bryan war, ehe er sich so verhalten konnte, wie er es jetzt tut. Man kann ihn nicht einfach zurückversetzen wollen, sondern man muß warten, bis irgend etwas geschieht und er anfängt zu weinen und zu schreien. Dann muß man ihn dort festhalten und dahin bringen, alles sofort zu äußern. art: Aber was tust du dann? Nimm an, du willst weggehen. Was machst du? Du gehst weg, und er weint. Und dann? linda: Ich glaube, das ist sehr einfach. Du erklärst ihm sein Gefühl. Du sagst: »Du willst nicht, daß Mammi weggeht.« Du forderst ihn auf, es dir zu sagen: »Sag es der Mammi«. So löst du das Gefühl aus. Es geht ja nur ein Elternteil weg, nicht beide gleichzeitig. Wenn er schreit: »Mammi, geh nicht weg,« dann bleibt der andere Elternteil bei ihm und bringt ihn zum Primal. gruppenmitglied: Und was ist, wenn das Kind nur ein Elternteil hat? art: Denk doch daran, wie wir uns in der Therapie verhalten! Ich werde gelegentlich wütend auf einen Patienten und verlasse ihn. Warum? Um sein Gefühl zu reaktivieren. In dem Augenblick, wo er von dem Gefühl erfaßt wird, kehre ich sofort zurück und führe ihn zum Primal. So einfach ist das. jane: Ein Kind, mit dem du arbeitest, bekommt das Urerlebnis, wenn du es verläßt, einverstanden. Doch nehmen wir an, es ist halb acht und du hast eine Verabredung zum Abendessen. Dann gehst du aus dem Haus und verläßt das Kind. Und die Tatsache, daß es all diesen Mist fühlt... art: Wird hilfreich sein. 259
ben: Neulich waren wir zusammen, und Linda wollte weggehen. Er wollte nicht, daß sie wegging. Er weinte, schrie und brüllte. Er blieb bei mir, sie verließ die Wohnung, stieg in ihren Wagen, und als sie losfuhr – er stand am Fenster –, da schrie er: »Ich will nicht, daß sie wegfährt.« – »Dann sag es ihr doch«, meinte ich, und daraufhin verlor er vollends die Fassung. Anschließend, als er sich wieder gefangen hatte, spielten wir mit Bauklötzen und hatten einen herrlichen Tag. jane: Da wir gerade darüber sprechen, daß man Schmerz anhäuft und den Kindern verdammt wehtut, sobald man sie verläßt, wüßte ich gern, ob es tatsächlich so ist, daß man sie verdammt elend und unglücklich macht, wenn man sie mal allein läßt. vivian: Nein, denn dieses Gefühl, dieses Nichtwollen, daß man sie verläßt, ist ein sehr, sehr tiefreichendes Gefühl, das von tausend zutiefst schmerzlichen Dingen der Vergangenheit ausgelöst sein kann. Es ist wirklich nicht realistisch. Es kann mit Ereignissen der frühen Kindheit zusammenhängen, etwa damit, daß ein Kind seine Milch nicht bekommt, und es ist ein Gefühl, bei dem es sozusagen um Leben und Tod geht. Man mag diesen Gedanken nun für weit hergeholt halten, aber es ist tatsächlich so, daß sich die meisten Dinge auf diese Weise erklären lassen. Rickies Angst etwa, ich könnte ihn verlassen, steht, wie ich jetzt erst weiß, in Zusammenhang mit unzureichender Ernährung oder auch mit seinem Krankenhausaufenthalt, das heißt mit meiner Abwesenheit, als er im Krankenhaus lag. Das ist eine Urszene. ben: Ich weiß ziemlich genau, wie die Urszene unseres Jungen aussieht. Sie hat mit meiner Mutter zu tun. Sie war der Ansicht: »Laß ihn schreien, er will sich nur wichtig machen.« Ich teilte ihre Ansicht, und so steckte ich Bryan zur Mittagszeit, oder wenn er müde war, in sein Ställchen, oder Linda tat es. Dann gingen wir raus und ließen ihn schreien, bis er einschlief. Ich habe
Urerlebnisse gehabt, bei denen ich in seinen Augen lesen konnte, wie ihm zumute war, wenn wir rausgingen, während er weinte und schrie. vivian: Du weißt, was das war - es war der Tod. Man mag es glauben oder nicht, es ist der Tod. »Ich werde sterben.« Es bedeutet nicht, daß du später wiederkommen wirst, daß das Kind nur allein ist. Es ist der Tod. So empfindet es ein Baby. Der Hunger, das Bedürfnis - es ist ein Kampf um Leben und Tod. Und jedesmal, wenn der Kampf um Leben und Tod nicht bestanden wird, häufen sich weitere schreckliche Gefühle an. 260
art: Helft ihnen. Bringt es ihnen bei, sich hinzulegen und zu weinen und zu schreien. Erklärt ihnen dieses Gefühl. Ermutigt sie, es herauszuschreien. diane: Fred schreit fast jedesmal, wenn ich zur Therapie gehe und ihn allein lasse. Er möchte, daß ich die Behandlung aufgebe. vivian: Sicher, doch er weiß gar nicht, was das eigentlich ist. diane: Stimmt, er schreit nur einfach: »Immer diese Therapie!« susan: Meine Kinder möchten mitkommen. art: Es ist immer das gleiche Gefühl. Sie agieren den Wunsch aus: »Mammi, geh nicht weg.« Darum müßt ihr sie dazu bringen, dieses Gefühl zu empfinden. Denkt immer an das zugrunde liegende Gefühl! mike: Das alles scheint zu klappen, wenn man sich jeweils nur mit einem Kind beschäftigt. Kompliziert wird es nur dann, wenn die Kinder untereinander agieren. Manchmal ist das, was ein Kind wünscht und braucht, eine unmittelbare Beeinträchtigung körperlicher Rechte anderer. Zum Beispiel, wenn sie sich gegenseitig umbringen wollen oder etwas haben wollen — ein
Spielzeug, das ihnen nicht gehört, das sie aber dennoch in ihren Besitz bringen wollen. art: An welche Szenen denkst du? Schildere uns eine! mike: Hm, da gibt es so viele, daß mir keine besondere einfällt. Ein Kind besitzt zum Beispiel ein Spielzeug, die Großmutter hat es ihm gekauft, und dann ist da ein anderes Kind, vier Jahre alt, das sagt: »Ich will es.« Und es ist stärker als das fünfjährige Kind, dem das Spielzeug gehört. Wenn das schwächere Kind, sagen wir ein Mädchen, einen Augenblick lang nicht aufpaßt, versetzt das stärkere, der Junge, ihm einen Stoß und nimmt das Spielzeug an sich. Dann fängt der Junge an zu schreien, weil das Mädchen ihn an den Haaren zieht, um das Spielzeug wiederzubekommen, und dann fangen auch wir an zu schreien, weil wir keine Eltern sein wollen. Ich weiß, was ich früher in solchen Situationen immer getan habe. vivian: Nämlich was? mike: Ich führte mich dann immer auf wie ein Diktator. Sagte: »Gib Hugh das Spielzeug zurück und tu dies oder das, sonst setzt es Prügel.« Ich habe die Kinder viel geschlagen. Ich war ganz durchgedreht, sie machten mich wahnsinnig. Ich wollte meine Ruhe, um jeden Preis. Also traf ich einfach eine willkürliche, ungerechte Entscheidung, und niemand, mich eingeschlossen, war in der Lage, das Gefühl zu empfinden, das all dem zugrunde lag. 261
art: Ihr seid zu Hause doch zwei Therapeuten, nicht wahr? mike: Ja sicher, doch es ist schwierig, einem Kind zu erklären: »In Wirklichkeit willst du das Spielzeug doch gar nicht, sondern du willst mich.« jane: Was tut man, wie verhält man sich, wenn ein Kind wegen
irgendeines Gegenstandes anfängt zu weinen? Sagen wir, wenn es ein Segelboot haben möchte. Wenn ich in ein Geschäft gehe, etwas günstig einkaufen kann und dann mit einem Geschenk für eines der Kinder heimkomme und nicht für alle drei etwas habe, dann toben die beiden anderen herum, weil sie auch etwas haben wollen. Was kann ich tun, damit sie sich nicht wegen eines Kartenspiels aufregen und zu schreien anfangen? art: Was würdest du als Erwachsener tun im Hinblick auf eigene Urerlebnisse? jane: Ich würde den Schmerz zu fühlen versuchen. art: Schmerz über was? jane: Daß ich etwas nicht habe. art: Aber was? Wo würdest du anfangen? Sagen wir, du fängst mit dem Boot an, und dann würdest du dir klarmachen: »Da steckt noch mehr dahinter. Fühle es ganz!« Also sorge dafür, daß dies auch bei den Kindern zur Gewohnheit wird. Das kann unter Umständen länger als drei Monate dauern. betty: Art, ich habe da andere Erfahrungen gemacht. Mit Joey habe ich es auf diese Weise versucht, doch ich hatte dabei das Gefühl, ich müßte erst selbst normaler sein, ehe ich ihm weiterhelfen kann. Joey ist fünfzehn, damit gehört er einer anderen Altersgruppe an. vivian: Mit älteren Kindern ist es manchmal einfacher. betty: Sein zweites Urerlebnis versetzte ihn in das Alter von drei Monaten zurück. art: Wie geschah das? betty: Joey kam aus seinem Schlafzimmer. Ich sehe seinen Augen an, wenn es ihm schlecht geht. So fragte ich ihn: »Hast du Ärger mit den anderen Kindern?« Er meinte: »Nein, ich sah in den Spiegel und hörte Musik.« In seinen Augen lag Trauer. Da forderte ich ihn auf: »Leg dich hin und fühle es, verstehst du!« Er legte sich hin, redete und redete, doch bald schwieg er. Er hatte sein Hemd ausgezogen, und ich sah, wie sich seine Bauchdecke heftig bewegte. Nach kurzer Zeit richtete er sich
wieder auf. Ich fragte ihn: »Was hast du gesehen?« Er legte sich wieder hin und erklärte, darüber könne er nicht 262
sprechen. Glaubt mir, er wußte ganz automatisch, worum es ging, denn er sagte: »Ich lag im Kinderbett, drei Menschen beugten sich über mich.« Er wußte, daß einer der drei sein Bruder war. Dann sagte er, er wisse nicht, wer der andere war, »doch er hatte so fürchterliche Augen, er trug einen Bart und drohte, er werde mich umbringen. Doch ich weiß nicht, wer er war.« Sein Vater hatte eine Zeitlang einen Bart getragen. Er fragte mich, ob sein Vater jemals einen Bart getragen habe. Darauf erklärte ich ihm: »Joey, ich weiß wirklich nicht, was ich dir sagen soll.« art: Was hast du getan, um ihn tiefer in das Urerlebnis zu treiben? betty: Ich habe nichts getan. Joey wollte nicht mehr. art: Beim nächsten Mal muß er es wollen. Und dann wirst du wissen müssen, wie du dich zu verhalten hast. betty: Ich nehme mir vor allem vor, keine Angst zu haben. Ich bin dem einfach noch nicht gewachsen, Art. vivian: Es macht einem tatsächlich Angst und rührt die eigenen Gefühle an, vor allem beim erstenmal, denn dein Kind schreit ja über etwas ganz Bestimmtes, was du ihm angetan hast. betty: Mein neunzehnjähriger Sohn macht mir die gleichen Sorgen. Ich habe es einmal mit ihm versucht, wußte jedoch nicht, wie ich es anfangen sollte. art: Schön, erzähl uns davon. Deswegen sind wir ja hier — um darüber zu sprechen.
betty: Nun, er sprach über die Schule, über ein Hauptfach, das er wählen wollte, und über Kunst. Dann wechselte er schnell das Thema. Er meinte nur: »Ich weiß nicht, Mammi, ob ich es schaffen werde.« Er fühlte sich offensichtlich unsicher. art: Was sollte man an einem solchen Punkt tun? Das ist doch so einfach. betty: Ich sagte ihm: »Mike, du fühlst doch etwas. Warum legst du dich nicht hin und überläßt dich dem, was du gerade fühlst? Ich sehe doch deinen Augen an, daß etwas nicht stimmt.« Schließlich legte er sich hin. Ich fragte ihn: »Was fühlst du jetzt?« Dazu muß ich noch sagen, daß ich an diesem Tag mein Geburtsprimal hatte, und in meinem Kopf hämmerte es wie wild, vor meinen Augen drehte sich alles, und Mike steckte in seinem Gefühl, während ich versuchte, aus meinem herauszukommen, um sein Gefühl zu vertiefen. Schließlich brachte ich ihn ein wenig weiter. Er sagte: »Ich fühle so wenig, und ich fühle Pappi, Pappi. Ich kann ihn sehen, wir spielen Football.« 263
Sein Vater war Footballtrainer. Mike ist sehr stark für seine Größe. Er sagte weiter: »Pappi rennt immer gegen mich an, treibt mich an und redet ständig davon, was für ein Schwächling ich bin.« Ich resignierte: »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.« Wenn ich die Situation noch einmal herbeiführen könnte, würde ich versuchen, ihn zu fragen: »Was möchtest du deinem Vati sagen?« art: Genau — ausgezeichnet! Denkt immer daran: Der Wunsch ist der Schmerz. Sagt stets: »Was möchtest du sagen?« Damit holt ihr das Gefühl zurück. Und dann bringt sie dazu, ihr Gefühl auszusprechen! betty: Und dann erinnerte sich Mike daran, daß sein Vater, er
unterrichtete damals an einer Oberschule, ihm bedeutete, daß er es nicht mag, wenn Mike ihn Pappi nennt, weil er nicht wie der Sohn eines Footballtrainers aussah. art: Also laß du ihn Pappi sagen! vivian: Art meint, das Urerlebnis lasse sich etwa mit den Worten ausdrücken: »Laß mich dich bitte Pappi nennen, du bist doch mein Pappi.« jane: Aber was kann man selber tun? Meine zwölfjährige Tochter hat Urerlebnisse, in denen sie sich müht, ihrer Mutter zu gefallen, doch sie kommt nicht wirklich an ihre Gefühle heran. vivian: Setz dich mit ihr zusammen und sag ihr: »Schau, ich weiß, was du tust. Du bemühst dich, etwas zu haben, was ich habe, weil du weißt, daß ich dann sehr aufmerksam zu dir bin.« art: Das ist das Gefühl. Sag ihr: »Du tust das nur deshalb, weil du möchtest, daß ich dich liebhabe. Laß uns offen darüber sprechen! Stell mir Fragen! Schließ die Augen!« gruppenmitglied: Das Urerlebnis wird dann zum Ausagieren. vivian: Ich kann euch sagen, was bei meinem Sohn weiterhilft. Wenn wir uns mit seinen Gefühlen beschäftigen, setzen wir uns ins Dunkle. Ich nehme hinter seinem Rücken auf dem Boden Platz, so daß wir uns nicht anschauen können. Ich brauche ihn nicht anzusehen, er weiß, daß ich bei ihm bin. Eines Tages hatten wir uns einen Film angeschaut, von dem ich wußte, daß er ihn anspricht, ein Film, der Schmerz bereitet. In diesem Film geht es in einer Szene um den Tod. Ein Mann erzählt einem kleinen Jungen, daß seine Mutter gestorben sei. Als wir zu Hause waren, meinte Rick: »Ach, der Film war doch reinster Blödsinn. Warum hast du mich überhaupt da hineingeschleppt?« Darauf fragte ich ihn: »Du meinst also, du hast während des ganzen Films nichts gefühlt - überhaupt nichts?« Rick 264
schränkte ein: »Doch, an einer Stelle habe ich ein ganz klein wenig gefühlt.« Darauf ich: »Wetten, daß ich weiß, an welcher Stelle?« Da lachte er. Das alles spielte sich in seinem dunklen Zimmer ab. Ich beschränkte mich darauf, ihn anzuhalten, er solle darüber sprechen, an was die Szene ihn erinnerte. Sie erinnerte ihn an den Gedanken, daß wir sterben könnten, ein Gedanke, der ihn immer wieder beschäftigt. Allmählich versetzte er sich Gefühlsschicht um Gefühlsschicht zurück, bis er plötzlich wieder ein Kleinkind war (ich kann es selbst nicht glauben — noch nach Millionen von Urerlebnissen, die man miterlebt hat, berührt es einen seltsam, wenn das mit dem eigenen Kind geschieht). Das mit dem Kleinkind meine ich wörtlich, denn selbst im Dunkeln konnte ich erkennen, daß er plötzlich ein kleines Kind wurde, das die Beine in die Höhe streckte. Dann begann er zu wimmern wie ein Säugling. Ich verhielt mich völlig still, und als er aus dem Urerlebnis wieder auftauchte, erklärte er, in seinem Kinderbettchen habe er jedesmal das Gefühl gehabt, er müsse sterben, wenn ich nicht komme. Hinter dem Gedanken, wir, seine Eltern könnten sterben, steht das Gefühl, daß wir für ihn die Verbindung zu Leben darstellen – denn wir geben ihm seine Milch. Es geht tatsächlich um genau dies – es ist wirklich so einfach. Das Verrückte ist, daß die Leute ihre Kinder nicht füttern, wenn sie weinen und schreien. art: Im Umgang mit Kindern ist es ein schlimmer Fehler, zuviel zu sprechen. Wenn sie von einem Gefühl beherrscht sind, dann haltet den Mund und sprecht erst dann, wenn sie euch ansprechen. Sagt kein Wort! vivian: Er konnte es selbst nicht glauben. Er sagte nur: »Ich war ein Säugling. Ich konnte die Stäbe an meinem Bettchen erkennen.« mike: Was sagst du einem Kind, wenn es fragt, und du weißt, unsere drei Kinder haben das durchgemacht: »Vati, wie alt bist du, wie alt ist Mammi, und wer von euch wird zuerst sterben?« Ich denke schrecklich oft ans Sterben. Ich weiß nicht, wie ich
ihr... vivian: Sie muß sich hinein versinken lassen. art: Es ist immer die gleiche Methode. Sie muß sich hinlegen, im Dunkeln, ohne dich, wegschauen. mike: Gewöhnlich sage ich: »Das hat noch eine Weile Zeit.« vivian: Unserem Rick habe ich das zwölf Jahre lang gesagt — mach dir keine Sorgen, wir sind gesund und ähnlichen Unsinn. Genauso gut hätte ich gar nichts sagen können. Das hat keinen Sinn — es ging um das Gefühl, das ihn beherrschte. Wenn sie alt genug sind und du 265
dir deiner sicher genug bist, das leisten zu können, dann laß sie den Gedanken ausspielen und sag: »Stell dir vor, welche Gefühle du hast, wenn ich nicht mehr da bin.« – Rick sagte damals daraufhin: »Es ist mir, als wenn Vati und du Arme und Beine von mir seid.« Und weiter: »Was glaubst du, was ich fühlen werde, wenn du nicht mehr da bist?« Und dann fing er richtig an zu schreien. diane: Weißt du, was das Schreien angeht, so scheint es mir, daß mein Sohn, mein kleiner Sohn, das genaue Gegenteil ist. Jedesmal, wenn ich mich hinsetze, dann drängt er sich zwischen meine Beine und erklärt, er möchte in meinen Bauch zurück. Als wolle er das tatsächlich. So geht es ungefähr fünfmal am Tag. art: Was tust du dann? Das ist immerhin eine besondere Art von Urerlebnis. diane: Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. vivian: Was hat das für eine Bedeutung? Das mußt du dich immer fragen.
gruppenmitglied: Was bedeutet denn der Wunsch, wieder in den Leib zurückzuwollen? vivian: Er fühlt sich schutzlos und versucht, dir zu erklären, daß es draußen in der Welt miserabel ist. Er will nicht wirklich in den Bauch zurück. art: Vielleicht will er es doch. Laß ihn seinen Kopf heftig gegen deinen Leib pressen. Leg ihm eine Augenbinde an! Ihr solltet alle Augenbinden haben. Leg ihm die Binde an, laß ihn seinen Kopf gegen deinen Unterleib drücken und sag ihm: »Fühl es! Bleib dort, aber fühl es!« Und es könnte sein, daß du auf diese Weise sehr interessante Geburtsprimals auslöst. diane: Bei Michael wurden die Wehen künstlich herbeigeführt. Er wollte nicht geboren werden. francis: Bei Patrick hatte sich die Nabelschnur bei der Geburt dreimal um seinen Hals geschlungen. Er kann es nicht ertragen, wenn ihm etwas um den Hals liegt. art: Genau das solltest du aber tun. Du legst ihm eine Schnur um den Hals und läßt ihn das fühlen. francis: Ich würde gern wissen, ob ich meiner vierjährigen Tochter jetzt wirklich helfe. Im Juni habe ich das Buch Der Urschrei gelesen und seither ermuntere ich meine Tochter, ihr Gefühl loszuwerden, wenn sie schreit. Und nun ist folgendes passiert. Gestern kam ich vom Arzt. Sie wollte am Abend im Pancake House essen, doch ich 266
sagte ihr: »Nein, nicht heute abend. Mammi hat kein Geld dafür.« Daraufhin führte sie im Rücksitz des Wagens vielleicht ein Theater auf. Sie fing an zu weinen und zu brüllen, und ich sagte
ihr nur: »So ist es gut. Laß es heraus!« Sie stieß mit den Füßen gegen den Vordersitz. Ich sagte: »Gut, laß es heraus!« Mehr habe ich nicht getan. Ich forderte sie nicht auf: »Frag Mammi!« sondern hielt sie nur an: »Fühl es, fühl es!« vivian: Und was geschieht dann? francis: Nun, es erfaßt ihren ganzen Körper... ihr Gesicht verzerrt sich. Sie ist richtig steif, sie fühlt es mit ihrem ganzen Körper. Wenn es dann vorbei ist, hat es fast den Anschein, als sei nichts geschehen. Dann fühlt sie sich wohl. francis: Was normale Leute Wutanfälle nennen, sind für mich Urerlebnisse. Stimmt das etwa nicht? gruppenmitglied: Bei kleinen Kindern sind Wutanfälle Urerlebnisse. mike: Mein Sohn sagte zu mir: »Bleib bei mir im Badezimmer, ich habe Angst!« Ich bin dann einfach bei ihm geblieben, mehr nicht. Ich frage ihn nicht: »Warum hast du Angst?« Wenn ich ihm schon nicht helfen kann zu fühlen, dann bleibe ich wenigstens bei ihm. selma: Wie verhält man sich, wenn ein Kind einen angreift? Sam ist wirklich stark ... er schlägt mich, aber ich kann ihn nicht schlagen. Er tut mir richtig weh. art: Nimm ein Kissen, um dich zu schützen. selma: Er will kein Kissen, sondern er will seine Mammi. diane: Fred hat mich neulich auch geschlagen. Da habe ich einfach zurückgeschlagen. Doch vielleicht war das nicht richtig. Er versetzte mir einen Faustschlag, und da habe ich zurückgeschlagen. Dann erklärte ich ihm: »Wenn du mich schlägst, schlage ich dich wieder.«
francis: Damit kann ich nichts anfangen. Ich habe meiner Tochter gesagt, wenn sie wütend auf mich sei, dann solle sie mich nicht schlagen, sondern zu mir sagen: »Du bist böse, Mammi.« Seither sagt sie es. gruppenmitglied: Schlagen ist ausagierte Wut. art: Das ist übrigens richtig. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Wut heißt, nicht das Eigentliche zu fühlen. Laßt sie ihre Wut äußern. Doch dann sorgt dafür, daß sie ihr altes Gefühl wiederempfinden. Wißt ihr eigentlich, warum es euch allen so schwer fällt, euch darüber klar zu werden, was ihr den Kindern sagen sollt? Weil ihr so daran gewöhnt seid, zu lügen. Ihr könnt praktisch nie die Wahr267
heit sagen. Sagt den Menschen die Wahrheit. Das ist doch wirklich nicht so schwer. diane: Fred meint das auch, ich sag ihm jetzt einfach, daß ich glücklicher bin, wenn ich ohne seinen Vater lebe. Ich mag seinen Vater nicht sonderlich, und Fred kann das durchaus schon verstehen. Doch früher hab ich immer versucht, ihm da etwas vorzumachen. vivian: Es gibt mindestens fünfundzwanzig Bücher, in denen erklärt wird, wie sich geschiedene Eheleute in bestimmten Situationen ihren Kindern gegenüber verhalten sollen. diane: Ja, ich habe sie alle gelesen. (Gelächter in der Gruppe.) art: Ihr solltet euch klarmachen, daß sich Kinder heutzutage vor den einfachsten Dingen ängstigen. Sie haben Angst davor zu sagen: »Ich bin verlegen.« Es fällt ihnen schwer einzugestehen: »Ich brauche dich.«
diane: Fred hat zu Weihnachten eine Lederjacke bekommen. Er hatte sie sich gewünscht. Sein Vater ging also los und kaufte eine Jacke. Er hat dafür ungefähr fünfzig Dollar bezahlt. Es ist so eine Jacke mit Fransen und Borten, einfach mit allem Drum und Dran, eine richtig auffällige Jacke. Doch dann wollte Fred sie nicht tragen. Er meinte zwar: »Ich mag sie wirklich«, doch wenn ich ihn aufforderte: »Zieh deine Jacke an, wir wollen ausgehen«, dann zog er sie nur höchst unwillig an, doch sobald wir aus dem Wagen stiegen, zog er sie wieder aus. Vor zwei Tagen schließlich erklärte er: »Die Jacke macht mich richtig verlegen. Ich fühle mich ganz komisch, wenn ich sie anhabe.« art: Das ist nicht das Gefühl. gruppenmitglied: Was sonst ist denn das Gefühl? diane: Bei Fred handelt es sich um das Gefühl, um nichts in der Welt auffallen zu wollen; und dann all diese Fransen und Borten ... er ist ein Kind, das niemals Forderungen stellt oder auf sich aufmerksam machen will oder so. Ich glaube, viele Kinder haben dieses Gefühl... sie möchten Aufmerksamkeit, doch ihre Eltern verweigern sie ihnen. Darum denken sie, sie verdienen keine Aufmerksamkeit. Sie halten sich für den letzten Dreck. Und wenn sie dann doch Aufmerksamkeit erregen, dann möchten sie nicht, daß jeder gleich erkennt, daß sie der letzte Dreck sind. gruppenmitglied: Heutzutage ist es unmöglich, mehr als zwei Kinder großzuziehen. vivian: Das habe ich vorhin auch gedacht... man hat einfach nicht genug Zeit. 268
gruppenmitglied: Es ist unnatürlich, viele Kinder zu haben. gruppenmitglied: Wir leben nicht in einer Agrargesellschaft. Man muß fast immer bei seinen Kindern sein. gruppenmitglied: Und wenn man das nicht kann, sollte man keine Kinder haben. gruppenmitglied: Stellt euch vor, ihr lebtet in einer kleinen Hütte, seid mehr oder weniger immer im Haus, habt einen einzigen großen Topf, in dem ständig etwas brotzelt, und die Kinder sind einfach um euch. art: Schön wär's. Doch Tatsache ist, daß der Kapitalismus ein unwirkliches Gesellschaftssystem ist, das Mütter und Väter dazu zwingt, ständig zu arbeiten. Ein Kind wird in ein unwirkliches System geboren, in dem jeder es verläßt ... das ist verrückt. gruppenmitglied: Man muß es verlassen, um Geld zu verdienen. linda: Ihr wißt, daß auch die Schule die Kinder beeinträchtigt. Das führt zu Fehlentwicklungen. Sie bekommen selten die richtigen Antworten. In dieser Gesellschaft kann man seinen Kindern keine wirkliche Freiheit gewähren. Da liegt das Problem. gruppenmitglied: Was sollen wir denn tun? Uns auf eine Insel zurückleben, auf der noch Urmenschen leben? art: Man kann nur versuchen, sein Bestes zu tun. Wirklich perfekt kann keiner sein. joy: Ich glaube, da kommt noch eine Schwierigkeit hinzu. Ich meine, daß Kinder, die zu Hause keine Anerkennung finden, dazu neigen, sie außer Haus zu suchen, in der Schule oder anderswo in dieser Gesellschaft. Meine zwölfjährige Tochter hatte in der Schule einige Schwierigkeiten, und dabei ist sie eine ausgezeichnete Schülerin. Ich weiß heute, wie verrückt das Schulsystem ist... die Versetzungen, die Leistungsanforderungen, all dieser unsinnige Kram. Meine Tochter kennt heute meine Einstellung. Jetzt verhält sie sich richtig, sie macht alles
großartig. Sie strengt sich nicht mehr so verrückt an, um in der Schule Anerkennung zu finden. gruppenmitglied: Und dann bekommst du einen Anruf vom Lehrer. joy: Ja, natürlich! Sie wollten sie fertigmachen, doch ich mochte ihnen dabei nicht helfen. Zum erstenmal... weil ich keine Angst vor Kritik mehr habe. linda: Bei Bryan habe ich bemerkt, wenn ich an das Gefühl nicht herankomme, wenn ich ihn schreien und brüllen lasse, von Anfang an nicht auf das eingehe, was ihn aufbringt, und er dann nicht an das Gefühl herankommt, dann agiert er es den ganzen Tag über aus. 269
Das ist bei allem so. Selbst bei einfachen Dingen — wenn etwa meine Mutter vorbeikommt. Dann sagt er ihr: »Ich mag dich nicht«, schlägt ihr die Tür vor der Nase zu (Lachen), und wenn er dann ins Zimmer kommt, erklärt er: »Häng deine Jacke nicht in den Schrank!« art: Was sagst du dazu? linda: Ich fragte nur: »Was ist los, Bryan?« Er wiederholte nur: »Ich möchte nicht, daß Großmutter ihre Jacke in den Schrank hängt.« Ich hörte ihm nur zu, und dann fing er an zu schreien. Meine Mutter ließ sich nicht stören. Sie ging zum Schrank und hängte ihre Jacke hinein. Sie übersah ihn völlig. Und er fing an zu schreien und aus vollem Halse zu brüllen. Dann begann er zu weinen: »Ich möchte nicht, daß Großmutter ihre Jacke in den Schrank hängt.« Das ist alles, was er sagt. Das gleiche hat er vielleicht schon hundert Mal getan.
art: Und was hast du dann getan? linda: Ich hörte ihm zu, und als er sich beruhigte, als er schließlich ein wenig müde wurde, fragte ich ihn: »Was möchtest du wirklich? Was möchtest du wirklich?« Er sagte nichts, sondern fuhr nur fort zu weinen... Und wißt ihr, was er dann sagte? Er sagte: »Ich möchte meinen Vati.« Ich hatte keine Ahnung, daß es ihm darum ging. Er hatte nicht nach seinem Vater verlangt. Sein Vater hängt seine Jacke immer in den Schrank. Und meine Mutter wollte seinen Platz einnehmen. Dann schrie er ununterbrochen: »Ich möchte meinen Vati. Ich möchte, daß mein Vati nach Hause kommt.« Vorher hatte ich keinen Schimmer, worum es ihm ging. jane: Zum Thema Großeltern, das du eben angeschnitten hast, fällt mir ein, daß ich von meinen eigenen Kindern einiges darüber gehört habe - über das echte Leid, das ihnen auch die Großeltern zufügen. Wirklich, es ist zum verrückt werden. (Zustimmendes Gemurmel im Hintergrund.) Meine Mutter hat meiner Tochter wirklich einige schlimme Sachen gesagt. Ich fragte sie: »Warum hast du das mir nicht gleich gesagt?« Sie antwortete: »Wie sagst du das deiner Mutter? Du weißt ja überhaupt nicht, was da vor sich geht.« Das ist eine teuflisch komplizierte Sache. mary: Im vergangenen Monat bekam meine Tochter ihre Periode später als erwartet. Sie war gerade bei meiner Mutter. Als die Periode einsetzte, atmete sie erleichtert auf: »Endlich!« Meine Mutter schaute sie in ihrer puritanischen Art an und meinte: »Ich habe niemals gehört, daß Mädchen sich so freuten, wenn sie ihre Periode 270
bekamen, es sei denn, sie befürchteten, schwanger zu sein.« Aus diesem Grunde habe ich selbst in sexuellen Dingen niemals ein
gutes Gefühl gehabt. Ich konnte nicht einmal meinen Körper berühren, um zu masturbieren. Und nun tut sie das gleiche meinen Kindern an. gruppenmitglied: Und man erinnert sich nicht einmal daran, daß sie einem das angetan haben. gruppenmitglied: Doch wenn du bemerkst, daß sie es deinen Kindern antun, dann fällt es dir wieder ein. gruppenmitglied: Das stimmt. francis: Ich habe einen Jungen von achtzehn Monaten. In der vergangenen Nacht wurde ich um eine Erfahrung reicher. Er wachte mitten in der Nacht auf und weinte. Ich ging sofort zu ihm. Ich wußte, daß er noch nicht lange geweint hatte, und ich sage euch, der kleine Junge muß über irgend etwas in schreckliche Angst geraten sein. Ob es Angst vor dem Alleinsein war oder was immer, er verhielt sich jedenfalls wie ein Affenbaby. Ich drückte ihn sofort eng an mich, und er, sein ganzer Körper, klammerte sich geradezu an mich. Er war völlig verängstigt. Ich hielt ihn auf dem Arm, und in wenigen Sekunden war er wieder eingeschlafen. Doch man fühlt diese Furcht, dieses Bedürfnis, und es war... ich war so glücklich, daß ich bei ihm sein konnte. Mein Gott, es war einfach unglaublich. vivian: Wirklich, man muß sich täglich vierundzwanzig Stunden abmühen, um das Richtige zu tun. Es ist schon sehr anstrengend. art: Übrigens, wenn ihr bei euren Kindern ein Urerlebnis hervorrufen wollt, dann tut das innerhalb von sechs bis acht Stunden nach dem Zeitpunkt, da etwas Schlimmes geschehen ist. Denn es gibt Untersuchungen, die erkennen lassen, daß es sich nach acht Stunden im Gehirn festsetzt. Es geht vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis über. Zwar bin ich dessen nicht sicher, doch wenn es euch gelingt, innerhalb von sechs bis acht Stunden an eure Kinder heranzukommen, dann könnt ihr vielleicht die Erinnerung auslöschen. Und den Schmerz. (Nachdenkliches
Gemurmel.) vivian: Genau das tut Bryan. Er reinigt seinen Körper ständig von Schmerz. Ihr versteht, er hat das gelernt, weil man es ihm gestattet hat. art: Wenn etwas Schlimmes geschieht, dann nehmt sie euch sofort vor. Sagt ihnen: »Heute morgen hat Großmutter dies oder jenes getan, stimmt's?« gruppenmitglied: Viele Eltern würden sich richtig verhalten, wenn sie Bescheid wüßten. Ich zum Beispiel hätte meine Kinder 271
nachts nicht schreien lassen, wenn ich gewußt hätte, wie schädigend das ist. Ich habe gedacht, ich würde ihnen beibringen, nachts durchzuschlafen. gruppenmitglied: Das haben einem damals aber doch alle Kinderärzte erzählt. gruppenmitglied: Das steht auch heute noch in vielen Büchern. gruppenmitglied: Ich glaube nicht, daß es von irgendeinem Nutzen ist, für Neurotiker Bücher über Kindererziehung zu schreiben. gruppenmitglied: In einem Buch über Säuglingspflege erklärt ein Arzt (im Zusammenhang mit Verwöhnung): »Lassen Sie sie ruhig zwanzig Minuten lang schreien, wenn Sie es aushalten können!« Man selbst kann es aushalten. Richtig. Doch was ist mit dem Kind? Ich habe das Buch damals gelesen. Wieviel Millionen Frauen haben es noch gelesen? vivian: In meinem Fall hat ein Ratschlag geholfen. Ich erinnere mich an etwas aus der Zeit, da Ellen ein Säugling war. Sie hatte die Angewohnheit, zu einer bestimmten Zeit zu schreien, nämlich
immer dann, wenn wir gerade essen wollten. Jedesmal, wenn Art von der Arbeit nach Hause kam, fing sie an zu schreien. Der Arzt erklärte mir, oder ich habe es irgendwo gelesen, ich kann mich nicht genau erinnern, ich solle das Baby mitten auf den Tisch setzen, wenn wir essen wollten. Das tat ich dann. Und es war ein guter Ratschlag art: Wir setzten sie in die Mitte des Tisches und aßen. vivian: Sie wollte bei uns sein. Das wußte ich überhaupt nicht. art: Sie griff nach dem Ketchup und allen anderen Speisen, während wir versuchten zu essen. (Gelächter.) starr: Mein Sohn ist zwei Jahre alt. Er hatte ein nicht-verbales Urerlebnis. Anlaß war ein Spielzeug im Lebensmittelladen. Er wollte das Spielzeug haben, und wir gaben es ihm. Doch dann geriet er aus dem Häuschen — das Spielzeug paßte ihm nicht, er konnte es nicht aufkriegen. Da stand ich nun im Laden, den Einkaufskorb halb voll, und er fing an zu schreien. Schließlich nahm ich ihm das Spielzeug weg und sagte: »Das möchtest du nicht.« Da fing er wieder an zu schreien, und dann begann er, nach allen möglichen Dingen zu greifen — wies auf Kekse und Plätzchen oder nach anderen Sachen, wie es sich gerade traf. Schließlich hielt ich den Einkaufswagen einfach an, doch er schrie weiter. Ich fragte ihn: »Soll ich dich runterheben?« – »Nein.« Er schrie immer weiter. Schließlich hörte er unvermittelt auf, streckte seine Hand aus und wies auf mein Auge, das sich mit den seinen auf gleicher Höhe 272
befand, und sagte: »Autsch«, ein Ausruf, den er sechs Monate zuvor schon einmal von sich gegeben hatte. Damals hatte er sich zu mir aufgerichtet und mich ins Auge gestoßen, und da habe ich ihm eine runtergehauen. Jetzt sagte er wieder »Autsch« zu mir. Ich nahm ihn in den Arm und sagte: »Ja, oh, das tut weh.« Und es war in Ordnung, versteht ihr, daß er mir wehtat. Wir tauschten
keine Worte aus, denn er spricht noch sehr wenig. art: Du hast genau die gleiche Szene wiederaufgeführt? starr: Er hat das alles wiederaufgeführt. art: Das ist das Urerlebnis eines zweijährigen Kindes. Ein zweijähriges Kind, das ein Urerlebnis über seine Kindheit hat. (Gelächter.) starr: Vorher hat er jeden in die Augen gestoßen oder hat es jedenfalls versucht. art: Ich wette, du hattest keine gefühlsmäßige Reaktion, als er dich zum erstenmal ins Auge stieß. Das war vermutlich deine gefühlslose, deine tote Zeit, nicht wahr? starr: Stimmt. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es schmerzte. Ich erinnere mich nur, daß ich ihn geschlagen habe. art: Und sein Gefühl ließe sich etwa so ausdrücken: »Denk an die Zeit, da ich dich verletzte und du mich geschlagen hast. Das bedrückt mich.« Entweder bedrückt es ihn, daß er seine Mammi verletzte oder daß du ihn geschlagen hast. Doch schau, wenn du ein Kind schlägst, dann verleugnest du deinen Schmerz und seinen Schmerz, dann kann es kein Bedauern fühlen, weil du wütend bist und das alles ist, was es erkennen kann. Das ist etwas ganz anderes. Wenn deine Reaktion nicht real ist, dann bringst du die Kinder dazu, nicht wirklich sie selbst zu sein. Statt daß sie sich verletzt fühlen, müssen sie sich verängstigt fühlen. vivian: Was glaubst du, hat ihn dazu gebracht, es zu tun - weil du so dicht bei ihm warst? Oder weil du ihn lange hast schreien lassen? starr: Nur weil ich da war, glaube ich. vivian: Und wirklich da. starr: Dazu muß ich sagen, daß die Geschichte noch nicht vollständig ist. Es war ziemlich früh am Morgen, und es waren noch nicht viele Leute da, nur die Kassierer — sie standen da
rum, völlig durcheinander. Heute war ich in der Wäscherei. Da war eine Frau, die hatte ein kleines Kind auf dem Schoß und kämmte ihm die Haare. Doch das Kind wollte offensichtlich nicht, daß es gekämmt wurde. Da sagte 273
die Mutter: »Sitz ruhig, sitz ruhig, sonst bekommst du Schläge!« David saß auf seinem Zweirad. Ich schaute ihn an. Er war von der Szene beeindruckt, und ich ging zu ihm und nahm neben ihm Platz. Ich merkte, daß er auf die Mutter wütend war und sagte ihm: »Das ist eine böse Mammi, und ich weiß, daß es dir wehtut.« Denkt daran, daß er sich noch nicht mit Worten verständigen kann! vivian: Er spricht ziemlich spät. starr: Ja, sehr. art: Du kannst ihm etwa sagen: »Du bist wütend.« Geh sparsam mit den Worten um. Wenn du sagst: »Oh, das ist eine böse Mammi«, dann triffst du vielleicht sein genaues Gefühl nicht. starr: Er war ja nicht daran beteiligt. art: Doch, er war. starr: Oh, ich glaube, ich verstehe. vivian: Nebenbei bemerkt, hab keine Angst davor, daß du dich mal irrst Wenn dir ein Fehler unterläuft, dann bist du halt wieder da, wo du am Anfang warst. Dann wird er sagen: »Du weißt, daß es nicht darum geht.« art: Es ist immer richtig, die Wahrheit zu sagen. »Ich möchte heute nicht mit dir Zusammensein, ich bin müde, laß mich allein.« Damit können Kinder umgehen, wenn es nicht zu oft vorkommt.
jane: Das habe ich getan, als ich eine ganze Woche lang krank war. Ich sagte: »Es tut mir leid, Mammi ist krank und kann dir jetzt nichts vorlesen.« Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, als ich es sagte, doch ich konnte nicht anders. Und dann hatte ich das Gefühl, eigentlich hätte ich ihm das nicht sagen dürfen. art: Sag ihm: »Ich weiß, wie dir zumute ist, du bist ein Kind und ich bin die Mammi, und du hast das Gefühl, ich sollte mich um dich kümmern - und damit hast du recht. Ich bin die Mammi, doch heute fühle ich mich nicht so gut, doch ich werde mich morgen um dich kümmern.« Sag einfach, was wirklich ist. (Zustimmung der Gruppe.) Sie sind abhängig — sie müssen wissen, daß du für sie da bist.
Seminar für primärtherapeutisch behandelte Eltern Zweite Sitzung, 1. März 1971
art: Seit dem letzten Mal haben viele von euch Erfahrungen gemacht, über die wir heute sprechen wollen, und wir werden uns mit einigen schwierigeren Techniken im Umgang mit Kindern befassen, die Urerlebnisse haben. 274
vivian: Hat jemand von euch seit unserer letzten Zusammenkunft irgendwelche neuen Erfahrungen gemacht?
walter: Ja. Ungefähr eine Woche nach dem letzten Treffen, es war an einem Samstag, und Pam (die Mutter) fühlte sich überhaupt nicht wohl. Am Samstag abend brachte ich Claudia (drei Jahre alt) und Pam zu einer Einzelsitzung ins Institut. Ihr versteht, daß Claudia mitkommen mußte, um zu sehen, was da vor sich ging. Claudia fing an zu weinen. Sie weinte und schrie ungefähr zwanzig Minuten lang, sie schrie richtig drauflos. Sie sagte kein Wort, sondern schrie nur. Ich saß bei ihr und ließ sie schreien. Sie saß auf dem Stuhl, und als sie zu weinen aufhörte, sagte sie immer noch kein Wort. Sie schaute mich nur irgendwie sehr traurig an, und ich fragte sie, was los sei, worauf sie erklärte, sie sei traurig. Ich fragte sie nach dem Grund, sie antwortete, sie sei traurig, weil Mammi sie verlassen habe. Ich wollte wissen, ob das auch früher so gewesen sei, wenn Mammi weggegangen sei, doch sie schwieg. Dann fing sie wieder an zu schreien. Das ging so weitere zehn oder fünfzehn Minuten lang, es war ein richtiger Tränenausbruch. Und als sie schließlich aufhörte zu weinen, ohne daß ich sie dazu angehalten hätte, ohne daß ich überhaupt irgend etwas gesagt hätte, da nahm sie mich einfach in den Arm und erklärte: »Es war genauso, als du und Mammi im vergangenen Sommer zum Camping weggefahren seid.« Das war neun Monate vorher gewesen. Wir waren ohne sie zum Campen nach Oregon gefahren. Sie versetzte sich in jene Zeit und stellte eine Verbindung her zwischen dem heutigen Erlebnis, daß Mammi sie verläßt, und dem damaligen Erlebnis, als Mammi und Vati weggefahren waren. vivian: Für sie ist es das gleiche Gefühl. walter: Richtig. Und sie stellte die Verbindung her, ohne daß ich ihr dabei geholfen hätte. Das hat ihr ziemlich gutgetan. art: Wie war sie anschließend?
walter: Oh, sie war nachher in einer wirklich guten Stimmung. Ich fragte sie, ob sie Mammi jetzt sehen möchte, und sie antwortete: »Nein.« Sie wollte nur spielen. Anschließend war sie drei Tage lang gut gelaunt. vivian: Das ist wirklich erstaunlich, selbst ein dreijähriges Kind kann man fragen, wann ihm vorher etwas Ähnliches passiert ist, und es klappt sogar bei ihrer kurzen Erfahrung... walter: Es ist wirklich unglaublich, daß sie von unserer Campingfahrt im vergangenen Sommer sprach. Ich glaube einfach nicht, daß
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sie einen Begriff von Zeit hat, wirklich, und sie hat niemals irgend etwas wie Sommer oder Winter erwähnt oder auch Ferien. Doch sie sagte: »Vergangenen Sommer.« Nach meiner Meinung ist das ganz unglaublich. Sie hat sich dahin zurückversetzt. art: Das Gefühl hat sie zurückversetzt. walter: Stimmt. vivian: Hat sie gesagt, wie sie sich fühlte? walter: Nein. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich sie gefragt: »Was war das für ein Gefühl?« Sie schaute mich verständnislos an und meinte: »Darüber möchte ich nicht sprechen.« (Gelächter.) art: Hat sie später noch einmal geweint, wenn ihre Mutter sie mal verlassen hat.
walter: Nein. Früher schrie sie immer, wenn Pam wegging, heute schreit sie nicht mehr. Doch ich glaube, das ist noch nicht ganz ausgestanden, denn sie schreit, wenn ich – nun, das ist vielleicht etwas anderes –, wenn ich weggehe. Das hat sie vorher nicht getan. Jetzt weint sie, wenn ich weggehe, doch sie weint nicht, wenn Pam geht. VIVIAN: Weißt du warum? WALTER: Nein, noch nicht. VIVIAN: Ich glaube nicht, daß du früher sehr an ihr gehangen hast. Ist das richtig? WALTER: Ja, das stimmt. Doch es kann sein, daß sie inzwischen sehr an mir hängt und mich vermißt, wenn ich nicht da bin. Ja, ja. Es ist wirklich sehr einfach. (Gelächter.) vivian: Sie fängt an, dich wirklich zu mögen. walter: Ja, und sie hat auch weniger Angst vor mir. Früher hatte sie immer Angst vor mir, wenn ich nachts zu ihr ging. Wenn sie nachts weinte und nach Wasser oder etwas anderem verlangte, dann wollte sie nicht, daß ich zu ihr kam, sondern Pam sollte zu ihr kommen. Und heute hat sie nichts mehr dagegen, wenn ich reinkomme, sie verlangt nachts einfach nach einem von uns. Mal nach Pam, mal nach mir. Je nachdem, welcher Name ihr zuerst einfällt, nehme ich an. Sie ist heute sehr unkompliziert. Sehr unkompliziert und geradeheraus. art: Ja, sie hat sich völlig verändert. walter: Allerdings, mein Gott, ihr hättet sie Weihnachten sehen sollen, als sie von einem Besuch bei Pams Mutter nach Hause zurückgekommen war. Sie führte sich auf wie ein Scheusal. Sie war 276
fast in einer Art Schockzustand. So saß sie etwa im Wohnzimmer und war nicht zu bewegen, an den Tisch zu kommen. Daraufhin nahmen wir alle Speisen vom Tisch, stellten sie auf den Boden und setzten uns zu ihr. Da fing sie an zu schreien. Sie schrie etwa zwei Tage lang. Dann faßte sie sich ein wenig, begann wieder zu spielen. Es war, als hätte sie all die Tränen aufgespeichert, und ich nehme an, die Großmutter hat ihr nicht erlaubt, sie loszuwerden. Heute ist sie ein völlig anderes Kind. : vivian: Sie ist so fröhlich. Das alles klingt gar nicht nach ihr. walter: Jetzt ist sie richtig ausgelassen. Sie ist neuerdings sogar zu, Streichen aufgelegt. So hat sie gestern abend das ganze Popcorn umgekippt. Hat es einfach überall hingeworfen. Vor drei Monaten hätte sie das auch nicht besser machen können. (Gelächter.) Es beschäftigen sie jetzt einige andere Dinge. Sie fing damit vor einigen Tagen an. Wir wohnen vorübergehend in einer Wohnung über einer Garage. Draußen steht ein großer Baum. Ich habe vergessen, warum sie an jenem Abend weinte, jedenfalls weinte sie wegen irgend etwas, und Pam versuchte herauszufinden, warum, doch sie konnte nur erfahren, sie habe Angst, der Baum könne sie forttragen, weil der Wind den Baum hin und herbog. Sie hatte Angst, der Baum könne sie zu einem Untier fortschleppen, das sie auffressen wollte. Das Untier habe drei Augen, es sei der Grund, warum sie weine und traurig sei. Wir versuchten dann eine halbe Stunde lang dahinterzukommen, was es mit dem Untier auf sich hatte. Doch sie wollte nur Plätzchen haben, Bretzel, Kekse, eine Flasche, wollte schlafen, nur nicht über das Untier reden. So gaben wir es schließlich auf, weil sie so entsetzliche Angst hatte, daß sie am ganzen Körper zitterte. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihr weiter zuzusetzen, denn sie wollte nicht, daß wir ihr halfen. art: Ist das alles?
vivian: Ihr seid nicht dahintergekommen? walter: Nein, nachdem ich etwa eine halbe Stunde mit angesehen habe, wie sie vor Angst zitterte, konnte ich einfach nicht mehr. art: Was würde man in einem solchen Fall normalerweise tun? Oder was sollte man tun, wenn ein Kind richtig verängstigt ist? vivian: Was habt ihr anderen in ähnlichen Fällen getan? mike: Meine neuneinhalbjährige Tochter hatte auch mal so eine ängstliche Phase, das war wirklich eine außergewöhnliche Geschichte, doch ich meine, daß dabei viele gute Ergebnisse herausgekommen sind. Es fing damit an, daß sie Angst bekam, wenn wir 277
ausgehen wollten. Sie erklärte: »Wenn ihr weggeht, dann habe ich Angst.« So legte ich sie in ein abgedunkeltes Zimmer, in unser Bett, um es genau zu sagen, und wir fingen gerade an, über Angst zu sprechen. Sie gab zu, daß sie neuerdings die gleiche Art von Träumen habe, wie sie sie als kleines Kind gehabt hatte, und damit hatte sie mir einen Einstieg gegeben. Unser kleines Gespräch kehrte zu dem Motiv des Kleinseins zurück. Ich fragte sie: »Um was geht es bei den Träumen?« Sie antwortete: »Um Dinosaurier.« Da fiel mir ein, daß Kathy, als sie sehr klein gewesen war, wirklich schreckliche Angst gehabt hatte, Angst vor Dinosaurier, und ich erinnerte mich auch, daß ich sie viele Male in Angst und Schrecken versetzt, sie fertiggemacht hatte, aufgrund meiner eigenen Verrücktheit. Sie wollte zu uns ins Bett kommen. Doch wir hatten unsere eigenen Vorstellungen, wißt ihr, vor allem wollten wir nicht, daß sie in unser Bett kam, weil es unser Bett war. Doch wir konnten sie nicht anbinden oder einschließen, und so schafften wir uns dieses Gitter an, über das hinweg sie uns sehen konnte, das sie aber daran hinderte, zu uns zu kommen. Wie gesagt, sie erzählte von ihrer Angst vor
Dinosaurier, und plötzlich, es war sehr dunkel im Zimmer, sie konnte mich im Türrahmen ihres Zimmers stehen sehen, ich war unheimlich wütend auf sie, da versteckte sie sich unter der Bettdecke, zog ihr Kopfkissen an sich, das weiß ich noch wie heute, sie versteckte sich vor mir. Ich seh' noch, wie sie nach ihrem Kopfkissen griff und sich vor mir unter der Bettdecke versteckte. Sie schrie einfach, sie hatte ein richtiggehendes Urerlebnis, sie schrie und schluchzte tief auf, ihr ganzer Körper wurde davon erfaßt. Sie fing an um sich zu schlagen und wurde wütend auf mich. Sie wurde unglaublich wütend, und dann brach es plötzlich aus ihr heraus, ihr Gefühl verhärtete sich. Und bei all dem schrie sie immer weiter und sagte: »Du bist der Dinosaurier, du bist der Dinosaurier!« Und ich erklärte einfach: »Stimmt.« Dabei habe ich mich keineswegs so gleichgültig gefühlt wie das klingt. Es war wirklich außergewöhnlich. Doch dann konnte ich leider nicht mehr an mich halten. Ich richtete mich auf, wir fielen uns in die Arme und hatten gemeinsam ein Urerlebnis. Wir kamen anderthalb Stunden zu spät zu unserer Einladung. Doch es war phantastisch. Als sie aus dem Urerlebnis kam, war ihr Gesicht unbeschreiblich, wirklich, ich habe nie einen solchen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen. Ihr kennt sie wahrscheinlich. Sie hatte so ein falsches kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. Das war verschwunden. Sie hatte überhaupt keine Angst mehr davor, daß wir weggingen. Es ließ sie 278
völlig kalt. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, gute Nacht zu sagen. Sie hatte bisher zwei derartige Urerlebnisse, zwei starke Urerlebnisse über das Weggehen. Das zweite handelte von dem Gitter. Es öffnete sich. Als sie klein war, glaubte sie immer, ein Wolf sei im Schrank. Sie wimmerte: »Der Wolf ist das Gitter, und der Wolf bist du!«
vivian: Sie hatte zwei Urerlebnisse? mike: Genauer gesagt, hatte sie drei, und dann hat sie noch einige Male geweint und geschrien, so eine Art Mittelding. Die kleineren Urerlebnisse kann ich nicht alle aufzählen, bei denen bin ich im Grunde völlig ratlos, ich weiß einfach nicht, was ich da tun soll. Die Fähigkeit zu symbolisieren reicht bei Kindern einfach nicht aus. Unser Junge zum Beispiel ist vier Jahre alt, und wenn er in das Gefühl gerät, da nn lege ich ihn ins Bett. Er ist dann meistens wütend auf seine Mammi. Also fordere ich ihn auf: »Schlag die Mammi!« Ich meine natürlich, er soll das Kissen schlagen. Doch er richtet sich auf und fragt: »Wo ist sie?« (Gelächter.) Da liegt das Problem. Man kann ihn nicht vom Schlagen abbringen, denn ich selbst habe ihn geschlagen, als er klein war, er hat viel Schläge bekommen. Er kommt herein und jammert uns etwas vor. Es ist schwierig, ihn dazu zu bringen, damit aufzuhören, um an das Gefühl heranzukommen. Sein Gefühl ist wirklich, schlagen zu wollen. Er ist wirklich wütend. Wütend sein ist ja nicht gleich fühlen, aber ich kann ihn nicht davon abbringen. LINDA:
Wenn ich unserem Sohn, er ist dreieinhalb, erkläre: »Du
bist böse auf Mammi«, dann fragt er: »Wo ist sie?« Das ist die gleiche Reaktion. Wenn ich ihn aber auffordere: »Sag es Pappi!« dann hört er sofort auf zu weinen und zu schreien. Er schaut sich im Zimmer um und fragt: »Wo ist er?« oder: »Ich kann nicht, er ist nicht da.« Dann erkläre ich ihm: »Das spielt keine Rolle. Sag es ihm trotzdem!« Dann schaut er drein, als sei ihm das alles nicht ganz geheuer. »Mach schon!« sage ich ihm, doch ich muß ihn antreiben, und dann geht es gewöhnlich auch. Seit unserem letzten Treffen habe ich festgestellt, daß ich ihm sagen kann, was er fühlt. Das habe ich denn auch getan, und seitdem klappt es viel besser. Er kommt an das Gefühl viel schneller heran, und er agiert auch längst nicht mehr so lange
aus. Wenn ich ihn frage: »Möchtest du, daß Vati nach Haus kommt?« oder: »Bist du traurig, daß Vati fortgegangen ist?« dann antwortet er: »Ja.« Und dann weint er weiter und meint: »Ich möchte meinen Vati.« Oder 279
welches Gefühl er gerade hat. Doch ich habe festgestellt, daß man sehr intensiv dranbleiben und daran arbeiten muß. Gestern führte sich Bryan auf wie ein Irrer. Er lief im Haus umher, jagte mir nach, schlug mich, schrie mich an, und sein Gesicht war rot vor Wut wie eine rote Rübe. Er zitterte am ganzen Körper. Ich versuchte, ihm aus dem Wege zu gehen, denn er kann einem wirklich wehtun, wenn er so durchgedreht ist und um sich schlägt. Und dann ging er daran, die Möbel zu demolieren. Ich wollte nicht, daß er sich verletzt. Doch er schlug das Telefon vom Tisch und warf die Vase auf den Boden. Ich versuchte das Schlimmste zu verhüten, ihn unter Kontrolle zu behalten. So legte ich ihn mit Gewalt auf den Boden, und da ich möchte, daß er die Arme und Beine frei bewegen kann, drücke ich gewöhnlich nur leicht gegen seine Brust. Doch in dem Augenblick, als ich ihn wieder losließ, sprang er auf und erklärte: »Laß mich in Ruhe. Faß mich nicht an!« Dann fing er an zu brüllen. Er lief ins Badezimmer und meinte: »Ich werde dich mit Wasser bespritzen.« Ich blieb im Wohnzimmer und dachte, das ist nur wieder ein anderes Spielchen. Tatsächlich kam er aus dem Badezimmer gerannt, eine Flasche aus seiner Arzttasche in der Hand, die Flasche war mit Wasser gefüllt, er kam auf mich zugerannt und spritzte mir das Wasser einfach ins Gesicht. Ich rannte hinter ihm her in sein Schlafzimmer, und er verkroch sich unter sein Bett, schlug um sich, brüllte und tobte. Ich hielt ihn an den Fußgelenken fest. Da fing er an auf den Boden zu trommeln
und schrie wie am Spieß. Ich fragte ihn: »Was ist los, Bryan?« Da wurde er ruhig. Ich sagte kein weiteres Wort. Doch etwas später fing er wieder an zu schreien. Plötzlich sagte er: »Ich möchte, daß Vati nach Hause kommt.« Denn Ben war seit Donnerstag weg, zum Skiurlaub. Jedesmal, wenn wir zum Flughafen gefahren waren, hatte Bryan dort angefangen zu schreien, doch er hatte dabei in Wirklichkeit kein Gefühl. Er schrie nur und sagte, er wolle nicht, daß das Flugzeug starte. Doch in Wirklichkeit fühlte er überhaupt nichts, bis auf gestern, da hatte er wirklich lange geschrien, und nachdem er gesagt hatte, daß sein Vati heimkommen sollte, ließ ich ihn allein, und er weinte und schrie noch fünfzehn oder zwanzig Minuten lang. Als er dann aus seinem Schlafzimmer kam, lächelte er nur. Ich schaute ihn an und fragte: »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte er. Und dann lief er auf mich zu, nahm mich in seine Arme und saß für eine Weile auf meinem Schoß. Dann sprang er runter und fing an zu spielen, und für den Rest des Tages war er so glücklich, wie man nur sein kann. 280
MIKE:
Als ich ein kleiner Junge war, nannten mich die anderen
Kinder »Professor«, weil ich eine Brille trug. Meine Mutter, der ich das erzählte, meinte: »Du bist besser als die anderen Kinder! Du bist gescheit.« Damit hatte sie mein Gefühl sofort abgespalten. Ich hätte mir gewünscht, daß sie sagte: »Mein Gott, das muß ein schreckliches Gefühl sein.« Heute sage ich das immer. Wenn ein Kind mir irgend etwas sagt, dann ist mein Kommentar: »Das muß ein Gefühl sein — was immer es auch ist. Das muß wirklich ein trauriges Gefühl sein, das muß wirklich ein schlimmes Gefühl sein.« Ich versuche ihnen dabei zu helfen, ihr Gefühl zu artikulieren, und erkläre ihnen, daß ich es verstehe.
BETTY:
Ja, ich habe einen Sohn, er heißt Joey. Er ist fünfzehn
Jahre alt. Seit einiger Zeit merke ich an seinen Augen, wenn der Schmerz in ihm hochkommt. Sobald die ersten Tränen kommen, fordere ich ihn auf, sich hinzulegen. Das Beste ist, wenn er sich hinlegt, wo er gerade steht, anstatt erst zur Couch zu gehen. Die ersten vier Male hatte ich keine Schwierigkeiten, ihn zu Urerlebnissen zu bringen. Es hatte den Anschein, als wenn er sich selbst in die Urerlebnisse hineinredete. Doch in der letzten Woche kamen wir von einer Veranstaltung heim. Als wir eintraten, meinte er: »Ich habe Angst, wenn du und Doug (das ist sein Stiefvater) weggehen.« So forderte ich ihn auf: »Leg dich hin und fühl es!« Doch er konnte nicht. Da versuchte ich, es doch noch zustande zu bringen. art: Wie das? betty: Ich gab ihm eine Maske, um sich die Augen zu verdecken. art: Du hast ihm befohlen zu fühlen. Tu das nie, denn das klappt nicht! vivian: Warte auf den entscheidenden Satz, den Primärsatz. Du weißt, wir haben darüber in der Ausbildung gesprochen. Du höret geduldig zu, hörst nur zu, und plötzlich sagt er etwas, in dem das Gefühl zum Ausdruck kommt. Dann läßt du ihn aufhören. Er wird anfangen zu schreien. Wenn dein Kind an den entscheidenden Punkt kommt, wenn du das feststellen kannst, weil du dein Kind so gut kennst, wenn du es sehen kannst an einer Veränderung des Blicks oder woran auch immer, dann kannst du gelegentlich auch einfach »Pss« machen oder etwas Ähnliches, nur um den Wortfluß an dieser Stelle anzuhalten. Sag dann: »Dies fühlst du wirklich, nicht wahr?« karol: Meine drei Kinder schauen alle gern in ihre Kinderfotoalben. Das sind ihre Lieblingsbücher. Bei meiner Jüngsten waren die Kinderbilder der Auslöser. Ich steckte gerade in der Primärtherapie.
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Damals trug sie ständig ein kleines, winziges Fotoalbum mit sich herum, in das all ihre Babybilder eingeklebt waren. Ein kleines, brieftaschengroßes Ding, das sie mit ins Bett nahm und in das sie vor dem Schlafengehen hineinschaute. Auch tagsüber mußte sie es immer wieder an sich nehmen. Sie klammerte sich an ihre Säuglingszeit, weil ich sie nicht mehr liebte, als sie größer wurde. Sie mußte ein Baby bleiben. Sie hatte ihre erstes Urerlebnis, als ich ihr sagte: »Du kannst kein Baby mehr sein, nicht war?« »Nein«, war ihre Antwort, und dann heulte sie los und war wieder ein Baby. Das war ihr erstes Urerlebnis. Doch inzwischen hat sie nicht mehr allzu häufig Urerlebnisse. Im Grunde hat sie sogar überhaupt keine Urerlebnisse mehr. Heute berühren sie nur noch Dinge des täglichen Lebens, zum Beispiel, wenn ihre Katze wegläuft oder sie etwas verliert. art: Sie ist ziemlich normal, nicht wahr? karol: Ja, das kann man sagen. art: Ist ja auch klar, warum. vivian: Ich habe den Eindruck, daß einige von euch, die heute abend über Urerlebnisse mit ihren Kindern berichtet haben, ein ganz klein wenig enttäuscht über die Ergebnisse sind. Habe ich recht? karol: Nein, überhaupt nicht. Es geht langsam, das ist das einzige, worüber ich ein wenig enttäuscht bin, doch das spielt keine Rolle. So ist es halt. Doch mit den Ergebnissen bin ich sehr zufrieden.
vivian: Nun, dann müssen wir bei den Kindern vielleicht noch eine Menge herausfinden. Wir müssen einfach warten, bis sie dazu in der Lage sind, jederzeit Urerlebnisse zu haben. karol: Ich könnte meine Kinder heute nicht mehr zu Urerlebnissen führen, indem ich sie lediglich auffordere, sich hinzulegen. Sie haben ein Urerlebnis oder nicht. Ich meine damit, sie müssen spüren, wie das Gefühl aufsteigt, müssen vorher in dem Gefühl drin sein. linda: Bryan spricht anschließend darüber. Etwa zwei oder drei Stunden später sagt er dann: »Mammi, ich habe geschrien.« Ich sage dann: »Ja, das hast du.« Und er erwidert: »Ich schreie gern.« Wenn ich ihn frage: »Warum?« antwortet er: »Weil ich mich dann besser fühle.« (Gelächter) vivian: Er schreit gern, weil es ihm gestattet wird und weil es ein wirkliches Bedürfnis ist. linda: Das ist richtig. Darum erklärt er, wenn ich nach dem Grund frage: »Weil ich mich dann besser fühle.« Er fühlt sich wirklich besser. Er verhält sich besser, er sieht besser aus. Kürzlich brachte 282
Ben das große Bild von Bryan mit nach Haus, das er sich vor längerer Zeit an die Wand seines Büros gehängt hatte. Es war aufgenommen worden, als Bryan noch nicht ganz zwei Jahre alt war, es zeigt ihn mit langen blonden Haaren. Bryan sieht heute nicht viel anders aus, nur sein Gesicht hat ein wenig von dem babyhaften Ausdruck verloren. Als Bryan sich das Foto anschaute, wurde er ziemlich wütend und meinte nur: »Ich mag es nicht.« Als ich ihn nach dem Grund fragte, erklärte er: »Das bin ich nicht.« Ich behauptete, er sei es doch, aber er bestritt das und
erklärte immer wieder: »Nein, das bin ich nicht.« Als ich ihn fragte: »Warum? Warum bist du das nicht?« erklärte er, darauf könne er nicht antworten, das könne er nicht erklären. Er wiederholte nur immer wieder: »Nein, das bin ich nicht.« Und mit anderthalb Jahren war er tatsächlich völlig anders als heute. gruppenmitglied: Wir ziehen heute eine neue Generation von Primärkindern heran. art: Es ist unglaublich interessant, diese Gruppe zu studieren, zu beobachten und zu verfolgen. betty: Ich würde gern die theoretischen Konsequenzen erörtern, die sich daraus ergeben, denn es scheint mir, daß sie von denen verschieden sind, die ich in deinem Buch gelesen habe. Ich habe das Gefühl, daß ein Kind unwirklich wird, sobald es sich gegen sich selbst verschließt, und soweit ich mitbekommen habe, kann sich ein Kind bereits in einem sehr frühen Lebensalter ziemlich schnell zurückversetzen. Du hast zum Beispiel gesagt, daß es nichts nutzt, wenn man gelegentlich einen guten Lehrer hat. Denkst du immer noch so, meinst du immer noch, daß nur die Eltern dem Kind dabei helfen können, sich zurückzuversetzen. art: Durchaus. betty: Also nur die Eltern? Stimmt's? art: Der entscheidende Punkt ist, daß du deine Kinder innerhalb eines Tages dazu bringen kannst, mit den Prügeleien in der Schule aufzuhören, wenn es dir nur gelingt, ihre Wut und ihren Wunsch zu schlagen gegen dich selbst zu richten. Wenn du die Wut jeden Tag blockierst, dann prügeln sie sich jeden Tag in der Schule. ricky: Du hast mal gesagt, ein normaler Mensch müßte in der Lage sein, in der Schule mit kranken Kindern umzugehen. Ich glaube keineswegs, daß sie das sollten.
art: Warum nicht? ricky: Weil sie nicht so leben möchten. Sie möchten nicht mit neurotischen Menschen zusammenleben. 283
ART: Das ist sicher richtig. ricky: Mit neurotischen Kindern! art: Was schlägst du vor? RICKY: Das Beste wäre eine Primärschule. ART: Die gibt es vielleicht zu deiner Zeit, Rick. GRUPPENMITGLIED: Ich versuche mich nicht ausschließlich auf dieses Problem zu konzentrieren. Ich meine, es gibt wirkliche Probleme und Primärprobleme. Die Kinder werden tatsächlich jeden Tag irgendwie verletzt, ihnen wird wehgetan, durch die Lehrer, durch ihre ganze Umgebung. RICKY: Auch durch Kinder. ART: Dadurch, daß man Kinder acht Stunden lang still sitzen läßt. Das ist absolut verrückt, völlig blödsinnig. Man stelle sich vor, ein kleines Kind! Eine Stunde lang in einem Klassenzimmer still sitzen! vivian: Aber selbst Urerlebnisse über die Schule haben noch mit Vater und Mutter zu tun. gruppenmitglied: Wieso? vivian: Weil Kinder Angst haben, den Eltern zu erzählen, daß die anderen Kinder etwas gegen sie haben. Ablehnung hat viele Aspekte. gruppenmitglied: In den Augen der Eltern ist es ein schrecklicher Gesichtsverlust, wenn man es ihnen erzählen muß. vivian: Ganz recht. art: Wenn man zugibt, daß die anderen Kinder einen nicht mögen, dann mögen einen die eigenen Eltern vielleicht auch nicht mehr. Es ist ja klar, daß man einer solchen Möglichkeit aus dem Wege geht. karol: Meine Tochter hat bei einer Lehrerin viel mitgemacht, weil
ich immer in die Schule kam und mich mit der Lehrerin anlegte, wenn sie sie falsch behandelt hatte. Wenn meine Tochter heute etwas tun möchte, dann tut sie es einfach. Wenn sie in der Klasse Kaugummi kauen möchte, dann nimmt sie ihr Kaugummi und kaut es, und sie paßt schon auf, daß die Lehrerin sie nicht erwischt. Sie weiß inzwischen, wie sie mit solchen Dingen zurecht kommt. ricky: Wenn ich heute auf die Schulzeit zurückschaue, dann muß ich daran denken, was ich damals alles hätte tun sollen. Wie sie dich bei allem, was du getan hast, kontrolliert haben. Du fragst dich, warum du nicht alles getan hast, denn es wäre dir tatsächlich nichts geschehen, wenn du es getan hättest. Sie jagen dir bloß Angst ein, sobald du vier oder fünf bist, sobald du in den Kindergarten kommst. 284
SELMA: Da fällt mir ein, daß einige Kinder gegenüber Sam drohten: »Das werde ich deiner Mutter erzählen.« Und obwohl er wußte, daß sie es nicht tun würden und es sowieso keine Rolle spielte, störte es ihn dennoch, daß sie es mir erzählen könnten. Dann kam er weinend herbeigelaufen und sagte mir: »Er hat mir gesagt, er will dir erzählen, was ich getan habe.« Deshalb weinte er öfters. Nicht aus Angst vor mir, sondern weil die anderen Kinder ihre Drohung gegen ihn benutzten. ART: Wenn du spürst, daß mit deinem Kind irgend etwas nicht stimmt, dann kannst du es veranlassen, die richtigen, die normalen Dinge zu sagen. Darum geht es letztlich bei der Primärtherapie. Wenn man Kindern zu Urerlebnissen verhelfen will, dann kommt es vor allem darauf an, hinter ihnen zu stehen oder zu sitzen. Die Kinder nicht anzuschauen. Man legt sie hin, im Halbdunkel. Dann spricht man über das Gefühl und wartet auf den richtigen Einstieg.
gruppenmitglied: Ja, die Dunkelheit ist wichtig. Mir ist es in dunklen Zimmern viel besser gelungen als bei Licht. ricky: Es sollte nicht halbdunkel sein, sondern dunkel. art: Ja, so dunkel wie möglich. Ich lasse mich gern korrigieren. linda: Ich habe es im Halbdunkel versucht, ich saß dabei hinter Bryan, und nur die Tatsache, daß er meine Stimme hören und mich irgendwie sehen konnte, veranlaßte ihn, sich aufzurichten und sich nach mir umzuschauen. Wenn es dunkel war hingegen, war es völlig egal, wo ich mich befand. Doch im Halbdunkel wurde er abgelenkt, weil er mich vage sehen konnte. ricky: Man sieht dann das, worüber man gerade spricht, viel besser. Man kann seine Vergangenheit dann besser sehen. art: Wißt ihr, es ist schon ein großartiger Gedanke, sich in der Zeit zurückzubewegen und den Kindern das Wissen zu vermitteln, daß es in Ordnung ist, Gefühle zu haben. Doch seien wir ehrlich. Nicht alle Eltern unterziehen sich einer Therapie. Einige Eltern glauben als gute Eltern zu handeln, wenn sie ihren Kindern beibringen, schon in frühem Alter die Nacht durchzuschlafen. So haben sie es gelernt, und so verhalten sie sich auch. Na schön, doch nun lesen sie, daß das sehr schädlich, sehr schmerzlich sein kann, und so hören sie damit auf. Das sind nur geringfügige Dinge, nichts Aufregendes. Das meine ich mit vorbeugenden Maßnahmen. Was wir tun können ist, die Normen zu ändern, so daß die Kinder nicht mit Normen leben müssen, die ihre Gefühle einengen.
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Seminar für primärtherapeutisch behandelte Eltern 12. Dezember 1972
VIVIAN: Einige von euch haben mir gelegentlich Zettel auf den Schreibtisch gelegt und nachgefragt, wann wir wieder ein Elterntreffen veranstalten. Wir haben in der Vergangenheit einige Sitzungen gehabt und ich meine, es wäre gut, darüber zu sprechen, was ihr von diesen Sitzungen erwartet und was ihr dazu beitragen oder was ihr dabei lernen möchtet. DOTTIE: Nun, ich bin wirklich verunsichert, was meine Kinder angeht. Schon früher wußte ich nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Doch seitdem ich in der Therapie bin, stören und ärgern sie mich ständig und ich weiß nicht, wie ich überhaupt noch mit ihnen umgehen soll. VIVIAN: Möchtest du über einige deiner Probleme sprechen? DOTTIE: Ja. Mit meinem sechsjährigen Sohn habe ich ein wirklich schweres Problem. Er stiehlt Geld. Vor einer Woche hat er in der Schule einen Dollar gestohlen. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig verhalten habe, doch ich habe ihn nicht aufgefordert, ihn zurückzubringen. Gestern abend hat er aus dem Nachbarhaus Geld gestohlen. Er versteckte sich auf der Toilette und hatte Angst, es seinem Vater zu erzählen. Statt dessen erzählte er es dem neunzehnjährigen Kanadier, der gerade bei uns zu Besuch ist. VIVIAN: Er erzählte eurem Besuch, daß er den Dollar gestohlen hat? DOTTIE: Ja. Ich war gerade in der Gruppe, mein Mann war zuhause. Er hatte wirklich Angst, es seinem Vater zu erzählen, weil Ron ihm, als er im Alter von vier mit dem Stehlen anfing,
einmal befohlen hat, das Geld zurückzubringen. VIVIAN: Hast du ihn mal gefragt, warum er stiehlt? DOTTIE: Heute morgen hat er mir erklärt, er wisse nicht, warum er stiehlt, und dann weinte er und meinte, er hasse sich. Ich fragte ihn, was für ein Gefühl er habe, wenn er etwas an sich nimmt, und er antwortete, er könne es einfach nicht ändern. Er erklärte, in solchen Augenblicken sage er sich: »Tom, du kannst das Geld nicht nehmen«, doch ehe er sich versehe, sei das Geld in seiner Tasche. Heute wollte er nicht zur Schule gehen. VIVIAN: Macht irgendeinem anderen von euch dieses Problem auch zu schaffen? NORMA: Ja, meine Zweitälteste Tochter stiehlt, doch wir haben es 286
erst herausgefunden, seitdem wir in der Therapie sind, haben sie aber noch nicht zur Rede gestellt. Sie weiß, worum es geht, und sie weiß, daß wir es wissen. Auf dem Wege von Ohio zurück haben wir meine Schwester in San Francisco besucht. Wir gingen alle nach Chinatown, um für die Kinder etwas zu kaufen. Offensichtlich hat meine Tochter ihrem Cousin eine Menge Geld weggenommen, wieviel weiß ich nicht. Es lag auf der Hand, daß sie das Geld genommen hatte, weil ein Silberdollar fehlte und sie einen hatte, ohne vorher einen besessen zu haben. Sie wußte, daß sie irgendwie im Verdacht stand. Ich wollte nur keine große Sache daraus machen. Doch ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich das Thema anschneide, wird sie sofort versuchen, es zu wechseln, sie wird wegschauen und alles tun, um zu verhindern, daß darüber gesprochen wird. Ich weiß das. So sehen die Dinge aus. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich an ihre Gefühle herankommen soll.
vivian: Linda, ich glaube, du hast ähnliche Erfahrungen mit Bryan gemacht, stimmt's? linda: Bryan bestiehlt Ben und mich ständig. Er geht an Bens Brieftasche oder an meine Handtasche, nimmt sich Geld und steckt es in sein Portemonnaie, das er in seinem Schlafzimmer liegen hat. dottie: Gibt er es aus? LINDA: Nein, gewöhnlich nicht. Er möchte es horten und er möchte soviel wie möglich haben. Wenn wir einkaufen gehen, sage ich ihm häufig: »Hol dein Portemonnaie und gib das Geld aus!« »Nein, das kann ich nicht. Ich möchte es behalten«, ist seine Antwort. dottie: Nimmst du ihm das Geld weg? linda: Nein. vivian: Was hältst du davon? Was bedeutet es für dich und was bedeutet es für ihn? linda: Wenn ich ihn frage, bekomme ich von ihm praktisch keine andere Antwort als die, daß er einfach Geld haben möchte. Er ist fünf Jahre alt. Ich bin sicher, er hat in der Schule den Gedanken aufgeschnappt, daß man reich ist, wenn man viel Geld besitzt. Er sagt: »Ich möchte eine Menge Geld haben, dann bin ich reich.« Wenn ich ihn frage: »Was bedeutet reich?« erklärt er: »Es bedeutet einfach, daß ich eine Menge Geld habe und tun kann, was ich möchte.« Seine Gefühle sind, tun zu können, was er möchte. Das Geld ist dabei nicht wichtig, glaube ich. Es geht ihm nur darum, daß er es nehmen kann und wir es ihm nicht wieder wegnehmen. Wir lassen 287
es ihm. Er kennt nicht den Unterschied zwischen einem ZehnDollar-Schein und einem Ein-Dollar-Schein. Wenn er nachts zehn Dollar klaut, dann nehme ich ihm bei passender Gelegenheit, wenn er nicht da ist oder es nicht merkt, den Schein wieder weg und tausche ihn gegen einen Dollar ein. Ben hat versucht, es ihm einfach wegzunehmen, mit den Worten; »Das gehört nicht dir, sondern mir.« Dann gerät er nur in Wut, weint, schreit und brüllt, und er scheint dabei nur das Gefühl zu haben, daß er in diesem Augenblick seinen Kopf nicht durchsetzen kann und nicht bekommt, was er möchte. bernard: Gibst du ihm regelmäßig Taschengeld? linda: Nein, nicht regelmäßig. britt: Wenn er danach fragt, gibt du es ihm? linda: Klar, wenn wir einkaufen gehen, erhält er gelegentlich einen Groschen oder einen Pfennig. Ein Pfennig ist für ihn das gleiche wie eine Mark. vivian: Wenn wir darüber sprechen, wie man hier Therapeut wird, dann erklären wir immer: Man betrachte nicht die Oberfläche, sondern schaue darunter. Das müßt ihr auch bei euren Kindern tun. Was geht im Innern von Kindern vor, die das Geld anderer Leute haben wollen? pat: Ich habe ständig gestohlen, als ich klein war — Lebensmittel aus den Läden, Süßigkeiten und so weiter. Ich hätte selbst auf dem Weg zur Beichte gestohlen. Ich glaube, niemand wußte, daß ich stahl, vielleicht meine Mutter. Ich habe ihr Geld aus dem Portemonnaie gestohlen. Tatsache war, daß mir niemand seine Aufmerksamkeit schenkte. Mein Vater war nicht da, und meine Mutter arbeitete. Es gab niemanden, der für mich da war. vivian: Warum hast du das damals getan? pat: Weil ich dann meinen Freunden Süßigkeiten schenken konnte und selbst Geld
hatte, das ich für gewöhnlich für Bonbons ausgab. Ich war noch klein, und das tat mir gut. vivian: Ich glaube, es ist gefährlich, die klassische Freudsche Deutung zu verallgemeinern, daß Kinder, die Geld stehlen, Liebe stehlen, doch vielleicht können wir das grundsätzlich von allen Kindern sagen, die stehlen. Was die Primärtheorie angeht, so glaube ich, müssen wir noch etwas mehr darüber sagen und uns vergegenwärtigen, was jedes Kind möchte. Mit anderen Worten, dein Kind möchte Liebe im weiten Sinne, doch was möchte es mit dem Geld? Was möchte es mit dem Stehlen erreichen? Was möchte Bryan von Ben und Linda, wenn er ihr Geld nimmt, was etwas anderes ist, als wenn 288
er das Geld anderer Leute nähme? Sprechen wir über einige Möglichkeiten, da heranzukommen! Wie kommt man an das heran, was die Kinder einem erzählen? Wie ein Patient einem Therapeuten etwas erzählt, indem er symbolisches Verhalten ausagiert, so erzählt dein Kind dir etwas, wenn es irgendein Verhalten ausagiert. linda: Heißt das, du willst wissen, wie man da herankommt? vivian: Alles, was ihr dazu zu sagen habt. Ob ihr glaubt, daß es einen Weg gibt, wie man damit umgeht, oder wie ihr damit zurande kommt oder welches nach eurer Ansicht die Gründe dafür sind. Ich glaube, daß jede Mutter tief im Innern weiß, warum ihre Kinder irgend etwas machen. Dottie, was denkst du, warum dein Sohn anderen Leuten Geld stiehlt? dottie: Ich weiß es nicht. Ich gebe ihm Geld. vivian: Dann hat es für ihn ja noch weniger Sinn zu stehlen. DOTTIE: Ich gebe ihm nicht regelmäßig Geld. Ich weiß nicht, ob ich ihm ein festes Taschengeld geben soll, damit er sein eigenes Geld hat.
VIVIAN: Was möchte er mit dem Geld tun? DOTTIE: Ich weiß nicht. Er will es nicht ausgeben, sondern er versteckt es nur. LINDA: Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt, was er damit tut. Wie alt ist er? DOTTIE: Sechs. LINDA: Hast du jemals mit ihm darüber gesprochen? DOTTIE: Ja. LINDA: Was passierte da? DOTTIE: Er weint nur, haßt sich selbst und weiß nicht, warum er das tut. LINDA: Und wie gehst du an das Thema heran, wenn du mit ihm darüber sprichst? DOTTIE: Gestern abend, als ich heimkam, habe ich ihm gesagt: »Ich habe gehört, du hast den Nachbarn Geld geklaut.« Er fing an zu weinen, und ich saß hilflos daneben. Alles, was dabei herauskommt, ist, daß er sich haßt, daß er nicht weiß, warum er das tut, und daß er durchaus das Gefühl hat, daß er es eigentlich nicht tun darf. VIVIAN: Wenn Kinder etwas tun wie stehlen, dann wollen sie in Wahrheit sagen, daß sie etwas haben möchten und manchmal wissen sie nicht einmal, was sie haben möchten. DOTTIE: Stimmt. Ich fragte ihn: »Tom, was möchtest du mit dem Geld?« Er meinte, er wisse es nicht. linda: Wahrscheinlich weiß er es wirklich nicht. 289
vivian: Er weiß es sicher nicht. Doch was tust du da als Mutter? george: Ich glaube nicht, daß es helfen würde, ihm ein festes Taschengeld zu geben. Das wäre nur ein wenig Geld, doch nie genug. Er wird niemals genug stehlen, um genug zu haben. dottie: Es ist der Nervenkitzel des Stehlens. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich kann es heute noch fühlen.
vivian: Was ist der Kitzel des Stehlens? Was meinst du wirklich damit? dottie: Das Stehlen erregt mich sehr. In der Therapie bin ich zur Zeit an einem Punkt, wo ich beständig stehlen möchte. Ich tue nichts in dieser Richtung, doch ich habe das Gefühl, als ob ich stehle. vivian: Was bedeutet Stehlen für dich? dottie: Es regt mich richtig auf, es ist das einzige, was mich in Gang bringt. Ich kann bemerken, daß es sich bei Tom ähnlich verhält. vivian: Ist es dir gefühlsmäßig klar geworden, warum du stiehlst? dottie: Ich habe das Gefühl, als wenn ich für nichts etwas bekäme. vivian: Und dein Sohn bekommt etwas, ohne daß er etwas sein oder etwas tun müßte, und er weiß das nicht einmal. Es ist bei ihm wirklich unbewußt. george: Da spielen auch Gefühle von Wut und Neid hinein. Jemandem etwas wegzunehmen, der etwas hat, löst wahrscheinlich das Gefühl aus: »Mir steht etwas zu, es sollte mir gehören.« vivian: Um es noch einmal zu sagen, wir kümmern uns hier nicht um das Oberflächenverhalten. Als primärtherapeutische Eltern suchen wir nach einer Möglichkeit, uns anders zu verhalten als gewöhnliche Eltern, die entweder bestrafen oder ein Taschengeld gewähren oder auf das Oberflächenverhalten mit einer Oberflächenvergeltung reagieren. Wir interessieren uns dafür, was dem Verhalten zugrunde liegt. dottie: Heißt das, daß man sie wie in der Therapie hinlegen und mit ihnen sprechen soll? vivian: Ja, doch dabei darf man nicht mechanisch vorgehen. Man darf sie nicht mehr oder weniger zwingen, sich hinzulegen, damit sie fühlen oder sprechen. Ich möchte vielmehr allgemein empfehlen, das nicht mit Kindern zu tun, weil ich glaube, daß sie
dann das Gefühl bekommen, es handele sich um eine Art Ritual und nicht um eine menschliche Begegnung. Doch ich möchte noch einmal auf das Wesentliche zu sprechen kommen. Wie kommt ihr, als Eltern, an die unbewußten Äußerungen eurer Kinder heran? Wie geht ihr damit um? 290
NORMA:
Ich habe erst einmal angefangen, über das Stehlen
meiner Tochter nachzudenken. Ich wußte, es handelte sich um die Oberfläche. Meine anderen Kinder stehlen nicht. Es mußte da irgend etwas geben und so fing ich an, an Vergangenes zu denken. Meine Kinder sind sechs, sieben und acht. Sie steht genau in der Mitte. Zuhause stand ich auch in der Mitte. Meine eigene Familie ist genau so groß wie die meiner Eltern. Ich hatte immer das Gefühl, ich stehe genau in der Mitte. Meine jüngere Schwester war das Baby, und meine ältere Schwester bekam alles, ich dagegen nichts. Ich selbst habe zwar nicht gestohlen, doch ich glaube, das Grundgefühl meiner Tochter ist, daß sie in der Mitte gefangen ist — sie ist nicht alt genug, und sie ist nicht jung genug, sie ist eine Art Nichts. vivian: Das kann der Grund sein. norma: Ich dachte über diese Situation nach. Was habe ich meiner Tochter angetan? Meine ältere Tochter erhielt zunächst eine Menge Aufmerksamkeit. Dann kam meine zweite Tochter zur Welt und es ging gut, so lange sie ein Säugling war. Doch ich mußte mich gleichzeitig auch noch viel um meine Älteste kümmern. So blieb meine zweite Tochter ein wenig länger im Kinderwagen als die erste. Dann wurde meine dritte Tochter geboren und da, glaube ich, war für meine zweite Tochter alles vorbei. Ich glaube, ich habe sie einfach vergessen, weil damals so viel passierte. Kürzlich habe ich angefangen, sie jedesmal, wenn sie in der Nähe ist, in den Arm zu nehmen oder an mich zu drücken. Vorher war ihr Körper unbiegsam wie ein steifes Brett
gewesen. Ich habe ein schlechtes Gefühl, wenn ich darüber spreche. Doch seit ich in der Behandlung bin, habe ich versucht, sie möglichst oft in den Arm zu nehmen oder sie auf die Backe zu küssen oder irgendeine andere Art körperlichen Kontakts herzustellen, den ich ihr, glaube ich, vorher nicht gegeben habe, weil ich ihn offensichtlich selbst niemals bekommen habe. Manchmal bin ich nicht dazu aufgelegt, doch ich tue es trotzdem, zu jeder Zeit, und ihr Körper ist heute weicher, schmiegsamer, bewegt sich leichter. Heutzutage setzt sie sich auf meinen Schoß. Ich weiß, das ist erst der Anfang, doch ich glaube, es ist der richtige Weg. vivian: Nach meiner Ansicht hast du etwas Kluges und Intuitives getan, denn auch das entspricht der Therapie. Wir wiederbeleben in den Patienten Dinge, die sie nicht bekommen haben oder brauchten, und das tust du mit deinen Kindern. Der Haut- und Körperkontakt, den Säuglinge und kleine Kinder brauchen, ist von so entscheidender Bedeutung. Es kann sein, daß deine Tochter, wenn sie Geld nimmt, sagen will: »Ich möchte eine Mammi haben, ich möchte 291
etwas haben, ich möchte.« Sie möchte etwas, doch sie weiß nicht, was sie möchte. Sie agiert ihren Wunsch in Form des Geld-habenwollens aus, doch sie weiß, daß es ihr nicht darum geht. Auf diese Weise versucht sie sich zu verschaffen, was sie nie bekommen hat. BILL: Kinder möchten die gleichen Dinge haben, die wir haben möchten. Wir möchten unsere Mammis und Vatis, und sie möchten ihre Mammis und Vatis. Dein Junge bekommt dich in gewisser Weise, indem er stiehlt, denn wenn du mit ihm zusammensitzt und er in der Lage ist, seine Gefühle zu fühlen,
dann gibst du ihm etwas. VIVIAN: Eine Möglichkeit, an dieses und eine Menge anderer Probleme heranzugehen, besteht darin, über die Frage nachzudenken: »Hat mein Kind nicht das bekommen, was es nach meiner Meinung braucht?« und sich dann zu bemühen, dem Kind zu geben, was es braucht. Man kann an den unbewußten Wunsch auch herankommen, indem man ihn zusammen mit dem Kind zur Sprache bringt. Man kann zum Beispiel zur richtigen Zeit etwas sagen wie: »Ich glaube nicht, daß du wirklich Geld haben möchtest, sondern ich glaube, daß du Mammi haben möchtest.« Es müssen eure eigenen Worte sein. Achtet anschließend darauf, wie euer Kind auf diese Bemerkung reagiert! pat: Ich weiß, daß dies wirklich funktioniert. Es klingt blödsinnig, wenn man es seinen Kindern sagt, doch meine Kinder haben tatsächlich geantwortet: »Ja.« vivian: Was genau hast du ihnen gesagt? pat: »Ich glaube, daß ihr beide mit mir in der Küche sitzen möchtet, während ich aufwasche oder koche.« Darauf sagten sie: »Ja.« Sie sind mir eine Stunde lang auf die Nerven gegangen, sie konnten nicht sagen, daß sie bei mir sein wollten, weil sie so etwas nicht ausdrücken können. vivian: Mit anderen Worten, viele von euch haben die Erfahrung gemacht, daß ihr intuitiv gesagt habt, was euer Kind nach eurer Meinung ausagiert, und daß die Kinder dann darauf ansprangen? bill: Sie geraten aus dem Häuschen, und die Wut oder das angestaute Gefühl bricht sich Bahn. vivian: Das verstehe ich nicht. bill: Das Kind ist vielleicht wütend und wird seine Wut nicht los. Dann ist es eben garstig zu seinem kleinen Bruder oder schlägt etwas kaputt. vivian: Was sagst du dann?
bill: »Vati hat sich neulich nicht lange genug mit dir beschäftigt, nicht wahr?« Dann schwappt sein Gefühl gleichsam über. 292
kathy: Ich glaube, das ist sehr wichtig. Das habe ich auch mit meinem Sohn erlebt. Ich werfe plötzlich ein: »Ich bin eine böse Mammi gewesen«, und dann springt er sofort darauf an oder er wird böse, und dann frage ich ihn: »Hast du das Gefühl, daß du weinen möchtest?« Dann wird er nachdenklich, sagt ja und fängt an zu weinen. vivian: Haben auch andere von euch ähnliche Erfahrungen gemacht? barbara: Meine Tochter ist acht. In bestimmten Situationen sage ich zunächst: »Hast du etwas Ähnliches früher schon einmal gefühlt?« und wenn ich dann zu wissen glaube, um was es geht, und sie weiß es nicht, dann fordere ich sie auf, darüber zu reden, bis sie an das Gefühl herankommt. Unter Umständen sagt sie dann, sie wisse nicht, um was es geht. Gelegentlich sagt sie: »Hilf mir, Mammi, du gehst zum Institut und man kann von dir erwarten, daß du dich in Gefühlen auskennst.« Gestern abend hat sie geweint, weil das junge Mädchen, das drei Monate bei uns gewohnt hat, auszieht. Meine Tochter kann es schwer ertragen, wenn Leute sie verlassen. vivian: Ist das eure Haushälterin? barbara: Nicht ganz, sie ist in der Ausbildung und hat zwei oder drei Monate bei uns gewohnt. Dafür, daß sie meine Tochter morgens mit in die Schule nahm und mir auch anderweitig behilflich war, hat sie von uns Unterkunft und Verpflegung bekommen. Jedenfalls hat meine Tochter geweint, weil sie ausziehen wollte und weil sie ihr fehlen würde. Ich sagte ihr:
»Komm, laß uns in dein Zimmer gehen!« Ich wußte, worum es ging und fragte sie: »Hast du ein ähnliches Gefühl früher schon einmal gehabt?« Sie antwortete: »Als mein Vati weggegangen ist.« Dann weinte sie drauflos. Schließlich richtete sie sich auf und meinte: »Doch das war viel schlimmer.« Damit war das Gefühl vorbei. Gewöhnlich habe ich ein Gespür dafür, um was es geht, doch ich kann mich manchmal auch sehr täuschen. Ich weiß auch, daß es sich um etwas handeln kann, was fünf Jahre zurückliegt. Manchmal ahne ich das und sage: »Vielleicht ist es etwas wie dies oder jenes.« Doch ich gebe ihr immer die Möglichkeit, es zuerst selbst zu sagen. vivian: Das halte ich für sehr gut. Es ist richtig, so etwas Allgemeines zu sagen, damit sie als erste äußern können, um was es sich handelt. In deinem Falle war es genau die richtige Situation, Anregungen zu geben, doch wenn es ums Stehlen geht, dann kannst du nicht fragen: »Hast du etwas Ähnliches früher schon einmal gefühlt?« Wenn er erklärt, er hasse sich, weil er es tut, dann kannst 293
du fragen: »Ist das so, weil...?« oder: »Glaubst du, das kommt daher, weil...?« barbara: Man kann auch fragen: »Was versprichst du dir vom Geld?« dottie: Doch warum haßt er sich dafür, daß er es tut? cal: Weil er Angst davor hat, daß du ihn nicht mehr liebst. barbara: Er ist ein »böser« Junge gewesen. cal: Wenn er das sagt, dann kannst du ihn fragen: »Hast du Angst davor, daß ich dich nicht liebe, wenn du stiehlst?«
vivian: Ich glaube nicht, daß Kinder sich hassen. Ich glaube vielmehr, sie betrachten sich mit den Augen der Eltern. Er will damit sagen: »Bin ich jetzt hassenswert für dich, weil ich etwas Schlimmes getan habe?« Es ist ein Zwangsverhalten. Du mußt verstehen, daß er nicht die Absicht hat, etwas Schlimmes zu tun und zu stehlen. Er tut etwas, was er tun muß, genauso wie Leute essen müssen. Er muß das Geld an sich nehmen. So mußt du es verstehen. Du darfst es nicht für eine merkwürdige Verhaltensabweichung halten. Er muß es einfach tun. CAL:
Kannst du dich an A. S. Neills Buch Summerhill erinnern?
Er pflegte Kinder zu belohnen, wenn sie stahlen. Ich habe versucht, mich gegenüber straffälligen Kindern so zu verhalten, und es bringt sie richtig durcheinander, weil sie nicht verstehen, warum man sich so verhält. vivian: Jeder, der Summerhill gelesen hat, ist wirklich beeindruckt davon und hält es in gewisser Weise für das vorprimärtheoretische Buch. Seinen Gedanken kann man nur zustimmen, sie sind bestechend. Neill war sehr enttäuscht, als er ältere Kinder aufnahm und feststellen mußte, daß seine Methode bei ihnen versagte, weil sich die Schmerzen, die sie erfahren hatten, bereits so verfestigt hatten, daß es sehr schwierig war, sie in ihrem Verhalten durch Vorgehensweisen zu ändern, die bei vier- und fünfjährigen Kindern erfolgreich sein können, aber nicht bei einem Fünfzehnjährigen, der sich seinem Leben gegenüber so abgekapselt hat. cal: Ihre Abwehrmechanismen sind einfach zu stark. vivian: Ist das, worüber wir gesprochen haben, für irgend jemanden von euch von Nutzen gewesen? Hat es euch bei der Erziehung eurer Kinder geholfen? dottie: Ich habe versucht, gegenüber meiner achtjährigen Tochter etwas Ähnliches zu äußern wie Barbara gegenüber ihrer Tochter,
doch sie hat nur erklärt: »Ich möchte von diesem Therapiegerede nichts hören. Ich mag das nicht.« 294
VIVIAN: Auch mir ist es so gegangen, daß ich bei mir zuhause nicht über Therapie reden konnte. Ricky drohte: »Noch ein Wort darüber, dann ... »Er war zehn oder elf, als all dies anfing. Für Kinder ist das eine schwierige Angelegenheit. Für meinen Sohn ist das Erwachsenenkram, der nur Erwachsene angeht, und darüber möchte er nichts hören. »Sie fragen nicht danach, wie es mir geht. Sie sprechen über Schmerz.« Davon will er nichts hören. Ich tadele ihn deswegen nicht. Ich glaube, deiner Tochter geht es so ähnlich. Vielleicht verlangst du etwas von ihr, was sie nicht schaffen kann. DOTTIE: Sie kennt ihr Gefühl nicht. Was soll ich also tun? BARBARA: Wir sind hier bei einem Thema angelangt, das wirklich an die Nieren geht. So wie diese Sitzungen jedem von uns an die Nieren gehen. Je mehr man fühlt, desto mehr verstärkt sich auch das Gefühl, daß man wider Willen seinen Kindern übel mitgespielt hat. Das kann nicht ausbleiben. Diese Therapie ist darauf angelegt. Das spüre ich jeden Tag mehr. Ich habe mir mein Kind sehr gewünscht. Ich liebe sie, sie ist das Größte in meinem Leben. Wir möchten unseren Kindern helfen, damit wir selbst weniger von Schmerz geplagt sind. Es ist eine Tatsache, daß wir nicht von heute auf morgen normal werden und daß wir sie nicht dazu bringen können, von heute auf morgen normal zu werden. Man muß den Druck mildern. Man muß nur da sein und versuchen, so normal zu sein wie möglich, möglichst immer für sie da zu sein und den Schmerz zu ertragen, der damit verbunden ist, abzuwarten und zu sehen, was geschieht, und sein Bestes zu geben. Mehr kann man nicht tun. Wir können den ganzen Tag
zusammensitzen, sieben Mal in der Woche, und über wer weiß was sprechen. Es hilft uns, weil es uns neue Kräfte verleiht. Wir haben alle die gleichen Probleme, doch es gibt keine schnellen Lösungen, es ist einfach mit Schmerz verbunden. LAURA: Ich möchte sagen, daß meine Reaktion genau umgekehrt ist. Mir ist es so gegangen, daß ich meine Tochter nie wirklich wollte, von der Geburt an habe ich sie nicht gewollt, doch ich konnte es immer verbergen. Doch jetzt kann ich es nicht mehr verleugnen. Ich kann mir und anderen nichts mehr vormachen. Für mich ist es unerträglich, mit ihr zusammenzusein. Ich fühle mich immer mehr als Heuchlerin. Ich habe das Gefühl, ich muß ihr etwas vorspielen oder ich zerrütte sie immer mehr, obwohl ich genau weiß, daß sie das Spiel durchschaut. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn sie weggehen würde und nie wieder zurückkäme, wäre ich glücklich. Doch das wird nicht geschehen. Ich bin in einem unmöglichen Dilemma. 295
VIVIAN: Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als es gefühlsmäßig ganz durchzukosten. LAURA: Ich fühle es, doch unterdessen muß ich mit der Realität und mit ihr fertigwerden. Von dieser Therapie hatte ich mir erhofft, meine Liebe zu ihr würde aufgedeckt, nachdem ich eine Menge Schmerz gefühlt hätte, doch das ist nicht geschehen. VIVIAN: Hast du Gefühle darüber verspürt, warum du sie nicht magst? LAURA: Ich hatte einigemale das Gefühl, ich sei nicht gewünscht. Doch dadurch scheint sich nichts zu ändern. Das Gegenteil ist der Fall. Ich mag sie immer weniger. Die Abneigung, mit ihr zusammenzusein, verstärkt sich immer mehr. Wo ich ihr helfen sollte, mit ihren Ängsten fertigzuwerden,
möchte ich ihr am liebsten sagen: »Hau ab! Damit will ich nichts zu tun haben.« VIVIAN: Sprecht ihr nicht miteinander? laura: Doch. Es ist nicht ganz so schlimm, weil sie nicht ständig bei mir ist. Sie kommt nur an den Wochenenden, und die sind eine einzige Heuchelei. Dann sprechen wir miteinander. Gut ist nur, daß sie nicht bei mir lebt, denn sie erklärt mir fast mechanisch: »Ich fühle mich so viel besser.« Und ich kenne den Grund. So belaste ich sie nicht. Ich ermuntere sie zu ihrem jetzigen Verhalten. Doch das fällt mir sehr schwer. Sie kommt auf mich zugerannt und sagt: »Ich liebe dich, du hast mir gefehlt.« Dann nimmt sie mich in den Arm, ist zärtlich, doch ich mag das gar nicht. Ich fühle mich kotzelend, daß ich dies sage, daß ich meine Tochter nicht liebe, doch es ist die Wahrheit — ich liebe sie wirklich nicht. Hat außer mir schon jemand von euch so etwas erlebt? dottie: Mir geht es mit meiner Tochter ganz ähnlich. Ich kann sie nicht in den Arm nehmen, und ich möchte nicht, daß sie mich anfaßt. Meinen Sohn dagegen kann ich in den Arm nehmen, kann seinen Körper berühren. Ihr Körper ist wie ein Brett. Doch sie braucht das so sehr, man sieht es ihrem Gesicht an. Sie braucht mich. Sie streichelt hastig meine Brust und plappert dabei drauflos wie ein Wasserfall, so daß ich nicht bemerke, was sie da tut. Mein Körper wird ganz starr, weil ich das nicht ertragen kann. laura: Stimmt, das Bedürfnis danach ist so augenfällig. Man kann es fast fühlen. Wenn ich meine Tochter anschaue, dann bemerke ich es deutlich und fühle mich jämmerlich. dottie: In meinen drei Behandlungswochen habe ich ihretwegen geschrien und geschrien. In Wirklichkeit kann ich nicht ihretwegen schreien und weinen, doch ich fühle meinen Schmerz.
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BILL: Ich habe das Gefühl, daß diese Gefühlsbereiche auch bei uns am schwierigsten sind, und darum sind sie auch so durch und durch verkümmert und gestört. Wie schon vorher gesagt wurde, die Dinge, die wir unseren Kindern nicht geben können, sind genau die Dinge, die wir selbst nicht bekommen haben. Mit meinem eigenen Sohn geht mir das ganz genauso. Andere Leute haben da die gleiche Erfahrung gemacht. Die eigentliche Arbeit ist, an den eigenen Schmerz heranzukommen und einigermaßen normal zu werden. Für eine Weile geht alles gut und dann plötzlich, ohne daß man genau wüßte, warum, hat das eigene Kind ein bestimmtes Problem — das ist unvermeidbar. Das eigene Problem muß sein Problem werden, es wird weitergegeben. Darum kann man ja so schwer damit fertigwerden. norma: Ich glaube, ich hätte niemals den Schneid, das zu sagen, was Dottie gesagt hat. Jetzt, da du es gesagt hast, glaube ich wirklich, daß es mir nicht anders geht, und das ist wirklich schwierig zu akzeptieren. Ich glaube wirklich, du hast eine Menge Mut gehabt, das auszusprechen. Wenn du selbst niemals bekommen hast, wenn du niemals gewünscht warst, wie um Himmels willen kannst du deinen Kindern etwas geben? george: Das kann man auch nicht. Das geht einfach unter die Haut. norma: Ich kann es aber. Ich tue es jeden Tag. Meine Kinder sind ständig um mich, eins habe ich auf dem einen Arm, eins auf dem anderen und eins hängt an meinen Beinen. Ich schlurfe sozusagen mit ihnen herum. Ich habe mir angewöhnt, keinen Büstenhalter zu tragen, und jedesmal, wenn ich ein Kind hochhebe, dann kuschelt es sich ständig an, als wollten sie überhaupt nicht wieder
aufhören. Das ist wirklich anstrengend, quälend, doch sie brauchen es. pat: Du hast eben über das Berühren und Streicheln gesprochen und darüber, daß du deine Tochter nicht anfassen magst. Als ich meinen Kindern die Brust gab (ich wurde nur zwei Monate gestillt, und dann war ich halb verhungert), da habe ich viele Tränen vergossen, weil ich wußte, daß ich nicht ausreichend gestillt worden war, und damals wußte ich noch nicht all die schwierigen Dinge, von denen ich heute einiges weiß. Doch ich habe sie gestillt und ihnen all diese Dinge gegeben, und da wurde mir klar, daß ich diese Art von Nähe niemals erfahren hatte. Ich habe geweint, es tat weh. Auf dem Tisch des Kreißsaals habe ich geschrien und geschrien. Es war keine Hysterie, es tat einfach furchtbar weh. vivian: Ich glaube nicht, daß man mit seinen Kindern weiterkommt, ehe man nicht mit der Wahrheit anfängt. 297
LAURA: Ich kann meiner Tochter nicht sagen, daß ich sie nicht mag. VIVIAN: Ich meine damit, hinter der Therapie steht die Theorie, daß du, wenn du etwas ganz fühlst, sozusagen durchfühlst, selbst die Abneigung gegen deine Tochter und die Stärke deiner Abneigung gegen sie, daß du dann schließlich in die Lage versetzt wirst, sie mögen zu können. BRITT: Ich glaube, es ist wirklich eine Schwierigkeit für die Kinder, daß wir in Behandlung sind. Wir gehen so oft fort, drei Abende in der Woche, und dazu geben wir ihnen heute, was wir ihnen früher nicht geben konnten. vivian: Ihr seid zu zweit. So müßt ihr eure Teilnahme an den Gruppen aufteilen.
britt: Doch Bill ist viel öfter fort als ich. vivian: Eure Kinder gehen vor. Wenn ihr zu zweit seid, dann muß einer von euch zuhaus bei den Kindern bleiben und ihnen soviel wie möglich geben. Der erste Schritt besteht darin, was Dottie und Norma erklärten — zu fühlen, wie sehr man sie ablehnt. Ich weiß nicht, ob das jemals aufhört oder ob man das überwindet. Das Wichtigste ist, daß ihr sie bekommen habt, und als Menschen, die sich jetzt in der Primärtherapie einigermaßen auskennen, habt ihr. für sie da zu sein, denn sie brauchen euch, und ihr habt sie nun einmal bekommen. Vielleicht war es ein Fehler, doch das ist die Art von Fehlern, die man nicht ungeschehen machen kann. Ihr habt eine Verantwortung, der ihr euch stellen müßt. Man kann sich dieser Verantwortung nicht einfach entziehen. Es wäre doch wirklich Wahnsinn, wenn ihr diese Therapie durchmachtet, nur um eure Kinder zu vernichten. dottie: Ich bin mir nicht ganz im klaren darüber, was du mit dem gemeint hast, was du vorhin gesagt hast. Wird das Gefühl, wie sehr ich es ablehne, wenn meine Tochter mich berührt, in mir das Gefühl erzeugen, sie fasse mich an? vivian: Wenn du an alle Gefühlsanteile herankommst, dann werden die schlimmen Gefühle verschwinden. Wenn du etwas genügend fühlst, löst es sich auf. bill: Ein kleines Beispiel dafür: ich konnte unsere Kinder nie zu Bett bringen. Immer fand ich eine Ausrede, hatte etwas anderes zu tun. Einmal war ich zu beschäftigt, ein andermal war ich fort, um abends zu arbeiten. Immer steckte Pat die Kinder ins Bett. Ich agierte also etwas aus. Eines Abends erklärte ich, daß ich es tun wollte, und dann legte ich mich mit ihnen hin und fing an, in 298
Gefühle zu geraten. Ich fühle eine Menge. Nun ist es sehr häufig ein Vergnügen (es ist eine Art von Handlungsablauf in einem
kleinen Stück meines Lebens, und ich behaupte nicht, daß es immer und vollständig klappt), diese besondere Schwierigkeit, die zunächst ein Ausagieren dessen war, was ich nicht tun wollte, verwandelte sich in Gefühle und dann in ein Vergnügen, es zu tun. Ich mag es nicht immer tun, doch manchmal macht es mir richtig Spaß. vivian: Diese kleinen Leute um uns herum sind nicht irgendwelche Monstren, die nur darauf warten, uns zu verschlingen. Wenn sie erhalten, was sie brauchen, dann sind sie wirklich reizend. Ihr solltet darüber nachdenken, was zwischen euch und euren Kindern steht, wenn euch das Gefühl überkommt, ihnen nichts geben zu wollen. Darauf kommt es an. Ihr seid dann sozusagen in eine Falle geraten. Euer ganzes Leben lang ist euch etwas vorenthalten worden, und dann bekommt ihr ein Baby und sollt ihm etwas geben. So seid ihr immer derjenige, der draußen in der Kälte steht und nichts bekommt. kathy: Ich weiß nicht, wie man sich in dieser Angelegenheit gegenüber älteren Kindern verhält. Für mich ist das wirklich ein Problem. Wenn man seine eigenen Gefühle verspürt, dann geht mit den Kindern alles klar. Das merke ich bei meinem Sohn. Unser Verhältnis kann lange Zeit problematisch sein, bis ich an meine Gefühle komme. Und anschließend kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, daß es vorher Probleme gab. vivian: Kannst du uns über ein besonderes Ereignis berichten? KATHY:
Ich hatte eine Menge Schwierigkeiten, weil ich wollte,
daß er abends zeitig ins Bett ging. Ich wollte, daß er schlafen ging, um die Abende für mich zu haben. Das gab immer ein großes Palaver und Theater. Damit habe ich ihm viel Kummer bereitet. Ich weiß nicht, ob ich mich noch ganz richtig erinnere. Denn mit dieser einen Sache war so vieles verbunden. Es war, als hätte ich meine Gefühle nicht zugelassen und sie damit auf ihn
übertragen. So mußte er abends derjenige sein, der weinte und schrie. VIVIAN: Du willst sagen, daß du das Gefühl hattest, abends für dich allein sein zu wollen? kathy: Ich wollte meinen Schmerz nicht fühlen, was immer die Gefühle seinerzeit ausgemacht haben mögen. Da waren eine Menge Gefühle, recht unterschiedliche, und ich lud sie auf ihn ab, ließ ihn seinen Schmerz fühlen, ließ ihn weinen und zu Bett gehen. Dann spürte ich endlich meine eigenen Gefühle und fand heraus, was sie besagten. Alles, was ich in meinem Urerlebnis zu meinen Eltern 299
sagte, das sagte ich auch zu meinem Kind. So sagte ich etwa: »Geh ins Bett, ich brauche etwas Zeit!« Das eigentliche Gefühl ist: »Ich brauche Zeit für mich.« Wenn ich an mein Gefühl herankomme, dann kann ich mir auch eingestehen: »Ich brauche.« Es war einfach lächerlich, das Fernsehen war für mich tatsächlich wichtiger als mein Sohn. Er mußte schlafen gehen, damit ich mich vor den Fernsehapparat setzen konnte. Erst als ich diese Gefühle ganz erfahren hatte, konnte ich mich hinsetzen und mir die Frage stellen: »Was heißt das – ein Fernsehstück gegen ein Leben?« So sehe ich es jedenfalls heute. Ich möchte noch etwas sagen, was mir wichtig erscheint: Wenn es einem gelingt, die ersten wenigen Worte zu finden und gegenüber dem eigenen Kind auszudrücken, dann ist es gewöhnlich ein Urerlebnis. So geht es mir jedenfalls. LINDA: Um noch einmal auf das zu sprechen zu kommen, was Laura und Dottie gesagt haben — das Gefühl steigt immer noch in mir hoch, doch längst nicht mehr so oft. In den anderthalb Jahren meiner Therapie habe ich nur versucht, eine gute Mutter
zu sein und mir einzugestehen, daß ich Bryan nicht wollte, doch ich hatte ihn nun einmal bekommen und mußte eine gute Mutter sein, und so spielte ich Theater, akzeptierte die Realität, dachte darüber nach und zog für anderthalb Jahre eine ziemlich gute Schau ab. Dann . wurde mir klar, daß er dieses Theater durchschaute, und er ließ mich bei jeder Gelegenheit auffliegen, was ich auch sagte oder tat, indem er Dinge von sich gab wie: »Was ist los, Mammi?« oder: »Das ist doch nicht dein wirkliches Gefühl,« oder: »Das meinst du doch nicht wirklich.« Ich brauchte lange Zeit, ehe mir klar wurde, daß er recht hatte, und ehe ich mich selbst fragen konnte: »Was ist los?« Dann hatte ich eine Reihe von Urerlebnissen, in denen es aus mir herausbrach: »Ich hasse dich,« »Ich will dich nicht,« »Du nimmst nur ständig,« und: »Für mich bleibt keine Zeit übrig.« Anschließend versetzte es mich zurück zu Gefühlen wie: »Für mich hatte wirklich niemand Zeit, ich war nicht gewünscht, wurde nicht gebraucht und war im Grunde nur ein Schmerz.« Solche Urerlebnisse hatte ich lange Zeit, und während dieser Zeit war es sehr schwierig, mit ihm zusammenzusein. Ich mußte aufrichtig zu ihm sein und ihm manchmal zu verstehen geben: »Im Augenblick möchte ich dich nicht um mich haben.« »Jetzt möchte ich dir nichts geben, Bryan,« und: »Ich möchte nicht mehr mit dir sprechen, geh jetzt spielen und laß mich allein.« Ich war aufrichtig zu ihm, und er fühlte diese Ehrlichkeit, und das war besser, als mein Agieren und Theaterspielen jemals 300
hätte sein können. Er konnte erkennen, daß ich ehrlich war, und so fühlte ich mich auch wirklich. Daher hatte er die Sicherheit, so zu sein, wie er sich mir gegenüber wirklich fühlte, und zu äußern, was er wirklich fühlte.
Heute ist es so, daß es mir die meiste Zeit vorkommt, er sei ein kleiner Junge, mein kleiner Junge, und wir haben viel Spaß miteinander. Ich kümmere mich wirklich um ihn, und heute fällt es mir leicht, etwas zu geben. Doch es gibt bestimmte Zeiten, die ich für mich haben möchte, und dann möchte ich, daß es in erster Linie um mich geht, und so verhalte ich mich dann auch. Doch er ist da, er ist mein Kind, und er sagt mir, wenn er etwas wünscht und wenn er merkt, daß ich mich sträube, ob mit der Sprache, körperlich oder ob es nur eine Atmosphäre ist, in der er Spannungen verspürt oder wie immer man das ausdrücken soll. Dann sagt er: »Doch du bist meine Mammi.« Er erinnert mich daran, und er hat recht. Dann weiß er, daß es in erster Linie um ihn gehen muß. Er ist alt genug, und wir sind lange genug in der Therapie gewesen, als daß er nicht mit aller Energie, die er hat, darum kämpft (buchstäblich kämpft), daß auch nur ja sichergestellt ist, daß es zuerst um ihn geht. Niemand von uns wäre dazu in der Lage. Er bleibt stur, brüllt, tobt herum und kämpft regelrecht, um sich durchzusetzen und zu erreichen, daß wir uns um ihn kümmern und daß wir seine Mammi und sein Vati sind und daß er nicht zu kurz kommt. Wenn ich ihn dabei beobachte, steigen eine Menge Gefühle ihn mir auf. PAT: Mein Sohn erklärt: »Ich bin nur ein Kind.« george: Ich habe meiner Frau, sie ist nicht in einer Behandlung, erklärt, daß ich sie nach Weihnachten verlassen würde. Doch ich weiß nicht, ob ich meinen Sohn mitnehmen kann, denn ich muß ja arbeiten und so. ellen: Wenn du eine Frau wärst, würdest du dein Kind mit dir nehmen. Ich mußte meinen Mann verlassen und habe meinen Sohn mitgenommen. Das ist natürlich schwierig. Ich mußte Arbeit finden und so weiter. vivian: Will deine Frau auf euren Sohn verzichten, nur weil du ihn haben willst? Möchte sie ihn nicht selbst haben? george: Ich
habe sie nie danach gefragt. Meine Ansicht war immer, es sei besser, irgendeine Mammi zu haben als überhaupt keine. julius: Mir scheint, ein normaler Vater ist besser als eine aufgedrehte Mutter. ellen: Ohne Frage! 301
george: Sie wird das Recht haben, ihn an den Wochenenden zu besuchen. vivian: All solche Lösungen sind fauler Zauber. Das sind halbherzige Dinge. Die einzig richtige Lösung wäre, wenn ihr euch beide als Eltern fühltet. britt: Es kann ja sein, daß Georges Frau in seiner Gegenwart keine Gefühle empfindet. Ich weiß, daß ich im Beisein von Bill nicht fühlen kann, und ich könnte nicht mit ihm zusammen in eine Therapie gehen. Wenn er versuchte, in mir Gefühle anzuregen, würde ich immer stärkere Abneigung dagegen empfinden und würde immer weniger dazu in der Lage sein. bill: Ich habe das Gefühl, deine Frau wird sich an euren Sohn klammem, weil sie sich damit an dich klammern kann. vivian: Es ist blödsinnig, sich darüber zu unterhalten, wer euren Sohn behält. Wichtig wäre, darüber zu sprechen, wie es gelingen könnte, sie zu einem fühlenden Menschen zu machen. george: Sie empfindet das Institut als Bedrohung. vivian: Manchmal ist es notwendig, Menschen dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun, auch wenn sie unecht und gekünstelt erscheinen mögen. Vielleicht solltest du sie mit sanfter Gewalt in die Therapie bringen, nicht weil es dich interessiert, was sie tut, sondern weil du dir Sorgen um deinen Sohn machst. Das ist die
einzig richtige Antwort auf das Problem — daß sie an ihre Gefühle herankommt. barbara: Hast du sie vorher vorher schon einmal verlassen? george: Nein. carlos: Was meine Kinder angeht - zwei von ihnen sind bereits erwachsen, einundzwanzig und zwanzig Jahre alt, und außerdem habe ich einen Jungen von vierzehn und eine elfjährige Tochter —, so läßt sich mein Gefühl in die Frage kleiden: »Wie kann ich meinen Kindern besser helfen, und in welchem Augenblick sollten meine Kinder sich einer Primärtherapie unterziehen, um wirklich sie selbst zu werden?« Auch wenn meine beiden jüngsten Kinder in einer für Gefühle offenen Familie leben, so glaube ich doch nicht, daß sie ihre Gefühle vollständig zulassen können. Ich kann meinen Vierzehnjährigen nicht dazu bringen, Gefühle zu haben, denn er verbirgt seine Gefühle, und er leugnet, daß er es tut. Sollen sich alle meine Kinder einer Primärtherapie unterziehen? vivian: Ja. carlos: Ich dachte, bei den beiden Jüngsten könnte man das zuhause schaffen. 302
vivian: Du und deine Frau, ihr könnt die Therapie eurer Kinder allein übernehmen, wenn ihr selbst eine ausreichende Therapie hinter euch gebracht habt. carlos: Mit meinem zweiten Sohn, der noch am besten an seine Gefühle herankommt, hatte ich bereits eine Erfahrung, bei der es um Gefühle ging. Wir hatten eine ziemlich reale Auseinandersetzung. Ich wollte, daß er den Fernsehapparat leiser stellt, doch er weigerte sich. Da konnte ich meinen Zorn auf ihn fühlen. Ich erklärte ihm, er sei mein Sohn und ich wünsche, daß
er mich liebe und respektiere. Ich schrie ihn dabei an. Er gab zu, daß er seinen Fernseher auf laut eingestellt habe, weil ich ihm niemals zugehört hätte, und auf diese Weise hat er mir zu verstehen gegeben, daß ich ihm zuhören solle. Dann sagte er, er hätte so ein Gefühl, mich umbringen zu wollen. Wie gehe ich damit um? Soll ich zulassen, daß er mich symbolisch umbringt, indem ich ihn mit irgend etwas gegen die Wand schlagen lasse, oder soll ich ihm erlauben, mich persönlich anzugreifen? vivian: Ich glaube, er kann das auf verschiedene Art und Weise loswerden — durch Herausschreien, durch Aussprechen, dadurch, daß er auf etwas einschlägt. carlos: Kann ich in einer solchen Situation der Therapeut sein? vivian: Ich glaube, es ist besser, wenn irgend jemand anderes die Therapie deiner Kinder übernimmt. Doch, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann ist das noch besser als überhaupt keine Therapie. jean: Du meinst, es ist nie gut, wenn Eltern die Therapie ihres Kindes übernehmen? laura: Nein, es ist immer noch besser die Eltern sind da und übernehmen die Therapie als überhaupt niemand. bernard; Man kann unterscheiden zwischen einer von den Eltern durchgeführten Therapie am eigenen Kind und zwischen der elterlichen Gegenwart in einer Art therapeutischen Situation. Ich glaube, es hat nicht viel Sinn, zu versuchen, eine regelrechte Therapie durchzuführen. mary: Meine Tochter möchte sehr oft eine Therapie haben, das heißt, sie versteht den Prozeß, den ich durchmache. Sie kommt zu mir, wenn sie weint, und möchte mir darüber erzählen. Fast immer fange ich auch an zu weinen, wenn sie halbwegs dabei ist
zu verstehen, was sie gerade fühlt. Dann sitzen wir beide da, in Tränen aufgelöst, und ich kann kaum verstehen, was sie sagt. vivian: Das kommt daher, weil du in deiner eigenen Therapie noch nicht weit genug bist. Wenn du erst ein wenig stabiler bist, dann wirst 303
du auch in der Lage sein, deine Gefühle zurückzuhalten, bis du allein bist. So verhalte ich mich, wenn ich mit meinen Kindern zusammensitze. Ich habe immer geweint, wenn ich bei ihnen saß, doch sie merken nicht, daß ich weine. Es gibt kaum einen Augenblick, wo man kein Gefühl verspürt, wenn das eigene Kind über sein Leben weint. mary: Bei mir endet es gewöhnlich damit, daß ich mich zu ihr lege, zärtlich zu ihr bin und sie weinen lasse. vivian: Das ist gut. Damit wird eine Menge gesagt, ohne daß man es wirklich ausspricht. pat: Vivian, du hast früher mal gesagt, daß das Kind sich jeweils einen Elternteil aussucht. Wenn es Gefühle über seine Mutter verspürt, geht es zu seinem Vater und umgekehrt. Meine Kinder machen das so. dottie: Wenn beide Eltern eine Primärtherapie durchgemacht haben, dann kann ein Elternteil sich mit den Gefühlen des Kindes über den anderen befassen. vivian: Das ist richtig. Wenn ich mit einem meiner Kinder zusammensitze und bei ihnen dann ein Gefühl über mich aufsteigt, dann wandeln sie es ein wenig ab, indem sie erklären: »Ich weiß, daß du damit nichts anfangen kannst, doch...« Wenn jemand anders bei ihnen sitzt, dann steigen sie voll in das Gefühl
ein und reißen mich in Fetzen, so wie es ihrem Bedürfnis entspricht. carlos: Du meinst, das Kind merkt eventuell, daß es das tut, und es geht dann zu dem anderen Elternteil, auch wenn beide erreichbar sind? VIVIAN: Wenn sie im Sinne der Primärtherapie gescheit sind, das heißt, wenn sie sehr aufgeschlossen sind und sich ganz dem Prozeß hingeben, dann werden sie selbst das Richtige tun. Du kannst ihnen eine Menge Gutes tun, wenn du einfach für sie »da bist«. An drei Dinge sollte man als primärtherapeutische Eltern denken: 1. Sei entschlossen, den Kindern keinen weiteren Schmerz zu bereiten, und sei sensibler dafür! Bürde ihnen nicht noch mehr von deinen Schmerzen auf! Überlege dir, auf welche Weise du deinen Kindern Schmerz zugefügt hast! Eine bereits früher erwähnte Gefahr besteht darin, daß man ihnen keinen Körperkontakt gibt. Mach dir das klar und handele danach! 2. Laß deine Kinder ihren vergangenen Schmerz tatsächlich fühlen! Daran kann man erkennen, daß ich nicht meine, man solle die Kinder richtiggehend primärtherapeutisch behandeln, denn mir ist 304
bei dem Gedanken an ein regelrechtes Verfahren zur Therapie von Kindern nicht gerade wohl. In früheren Sitzungen haben wir uns klargemacht, daß ein regelrechtes Verfahren für die Beziehung manchmal sehr gefährlich sein kann und daß »Urerlebnisse für die Mammi« eine neue Abwehr des Kindes werden können. Verschaffe deinem Kind einen sicheren Ort, wo es alles Heutige und Vergangene fühlen kann, wie Barbara es ihrem Kind erklärt hat, als es kürzlich Gefühle über das junge
Mädchen verspürte, das aus der Wohnung auszog. Sie vermittelte ihrer Tochter die Sicherheit, dies zu fühlen, und dann verschaffte sie ihr die Sicherheit zu fühlen, daß dergleichen im Zusammenhang mit ihrem Vater schon einmal geschehen war. Sie forderte nicht: »Nun hab mal ein Urerlebnis!« Versteht ihr den Unterschied? Das ist alles, was ihr tun könnt. 3. Seid so aufrichtig, wie ihr könnt, indem ihr euren Schmerz fühlt, und auch die Dinge, die wir hier erörtert haben, wie etwa, als Kathy ihre Zeit für das Fernsehen haben wollte und das auch fühlte, so daß sie in der Lage war, ihren Sohn länger aufbleiben zu lassen. CARLOS: Um noch einmal auf deine Bemerkungen darüber zu kommen, daß einer der Eltern ständig bei den Kindern sein sollte — gilt das nur für ganz kleine Kinder? Ich habe meine beiden elfund vierzehnjährigen Kinder mit meinem zwanzigjährigen Sohn allein gelassen. Wenn meine Frau und ich in die Gruppe kommen, dann lassen wir sie allein, was ich für berechtigt halte. Ich habe das Gefühl, sie können für sich selbst sorgen. SANDY: Sie sind alt genug, daß sie allein sein können. VIVIAN: Ich glaube, sie sind alt genug, daß man sie fragen kann, was sie dabei fühlen. CARLOS: Ob sie etwas dagegen haben, wenn sie allein gelassen werden? VIVIAN: Ja. Es ist nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität. Wenn sie das Gefühl haben, daß sie sehr viel von dir bekommen, dann ist es nicht sonderlich schwerwiegend, wenn du sie für einige Stunden allein läßt. Es ist nur dann schwerwiegend, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten dein Weggehen so auslegen: »Sieh an, sie gehen schon wieder weg, sie geben mir niemals etwas.« Das kann für sie sehr schmerzvoll sein. Ich würde mit ihnen darüber sprechen. Es hängt auch davon ab, welchen Punkt eine Familie allgemein erreicht hat. Einige
Familien können ständig die Wahrheit sagen. Deinem elfjährigen Kind kannst du zum Beispiel erklären: »Schau, wir müssen heute abend zur Gruppe gehen, doch einer von 305
uns kann zu Hause bleiben, wenn du dich schlecht fühlst.« Es kann sein, daß das Kind ehrlich genug ist, einzugestehen: »Ich habe Angst, einer von euch muß bei mir bleiben.« Es könnte aber auch sein, daß es das Gefühl hat, das könne es seinen Eltern unmöglich sagen, weil sie das nicht dulden oder es mit seiner Angst allein lassen. Wichtig ist, dein Heim zu einem Platz zu machen, wo alles offen zutage liegt. Du hast etwas über Respekt gesagt. Was ist das? Du hast gesagt, dein Sohn respektiere deine Forderungen an sein Verhalten nicht. Was hast du damit gemeint? carlos: Ich hatte das Gefühl, er liebt mich nicht. vivian: Er hat auch keine Angst vor dir. carlos: Das stimmt. Wenn ich nicht in der Therapie gewesen wäre, hätte es bestimmt eine heftige Auseinandersetzung gegeben. vivian: Die traditionelle Forderung: »Hab Respekt vor deiner Mutter und deinem Vater« löst gewöhnlich Angst vor den Eltern aus, und das ist kein echter Respekt. carlos: Ich habe meine Kinder nie so unterdrückt, daß sie Angst vor mir haben müßten. Alle meine Kinder würden sich gegen mich zur Wehr setzen. Vor der Therapie kam ich nach Hause, und meine Frau erzählte mir, er hat wieder dies oder jenes angestellt, und dann habe ich ihn bestraft. Ich weiß, das war schlimm. Doch ich weiß auch, daß sie merkten, daß ich kein wirkliches Gefühl dabei hatte, wenn ich sie bestrafte. Ich weiß, sie haben mich durchschaut. vivian: Was du gerade gesagt hast, ist für Kinder ein richtiger »Hammer«. Tagsüber stellen sie etwas an, und die Mutter
entzieht ihnen ihre Liebe, indem sie erklärt: »Das ist schlimm, ich werde es deinem Vater erzählen,« oder »Warte, bis dein Vater nach Hause kommt!« Das Kind lebt dann den ganzen Tag über in Angst und Schrecken. Das ist für ein Kind eine richtige Superbestrafung. Es hat etwas angestellt, die Mutter liebt es nicht, und den ganzen langen Tag wartet es auf Vaters Bestrafung. Es ist viel besser, wenn die Mutter ihm einen Klaps versetzt und es dabei bewenden läßt. Nach Hause kommen und das Kind dann zu schlagen ist verrückt. Warum hast du das getan? carlos: Ich weiß, das war schlimm, und heute bedaure ich es sehr. Es war einfach so üblich, ich kam nach Hause und mir wurde erzählt, was sie angestellt haben. vivian: Doch du hattest dabei im Grunde nichts empfunden. Warum hast du es dann überhaupt getan? 306
carlos: Es stimmt, ich empfand dabei nichts, ich war so mit meiner Arbeit beschäftigt. vivian: Welches Motiv hattest du, sie zu schlagen? carlos: Meine Frau meinte, das sei meine Aufgabe, nicht ihre, und sie hat das Problem mir überlassen. vivian: Hattest du das Gefühl, es sei deine Aufgabe? carlos: Nein. cal: Ist das eine kulturell bedingte Erwartung? carlos: Nein, meine Frau ist Nordamerikanerin. In Puerto Rico ist es tatsächlich der Vater, der bei vielen Anlässen straft. Vielleicht ist das der Grund. vivian: Nein, das passiert heutzutage auch in jüdischen Familien von Brooklyn. dottie: Ron und ich haben uns einen Primärraum eingerichtet. Man kann von draußen die Schreie gedämpft hören. Ist es schlimm, wenn Kinder das hören?
vivian: Wenn eure Familie schon so weit ist, dann glaube ich, daß Schreien eine ganz natürliche Sache ist, die halt passiert und von der man nicht viel Aufhebens macht. Schreien sollte man nicht geheimhalten. dottie: Meinst du, daß man vor seinen Kindern Urerlebnisse haben darf? mary: Ich habe einen Primärraum und wenn mein Sohn nach mir verlangt, dann klopft er an die Tür, damit ich herauskomme. dottie: Ich würde meinen Primärraum nicht benutzen, wenn die Kinder auf sind. Meine Kinder waren im Nachbarhaus, als sie Urerlebnisse hatten, und mein Sohn kam heim und erklärte: »Die Urerlebnisse waren da drüben so und so.« Schon an der Art, wie er das sagt, kann man erkennen, daß er das nicht mag. vivian: Ich glaube, für ein Kind ist das sehr erschreckend. kathy: Es ist sehr angsterregend, wenn man sieht, wie Mammi und Vati all diesen Kram durchmachen. Ich glaube nicht, daß es falsch ist, wenn man in seinem Primärraum ist und sie wissen, daß man seinen Gefühlen ausgeliefert ist. Ich glaube sogar, das ist ganz gut. vivian: Das hängt davon ab, wieviel sie bereits davon verstehen. Wenn es für sie irgend etwas Geheimnisvolles ist oder ein unheimlicher Prozeß, in dem die Eltern stecken und den sie nicht verstehen, dann werden sie von dem Gefühl beherrscht: »Ich habe überhaupt keine Mammi mehr, meine Mammi geht weg.« 307
dottie: Das war mein Gefühl, als meine Therapeutin schrie. Ich wollte nicht, daß sie sich so verhielt. Ich weiß nicht, wie meine Kinder sich fühlen, wenn ich das tue. vivian: All diese Dinge hängen davon ab, wie weit deine Familie ist. Das habe ich Carlos bereits erklärt. Das Ideale ist, wenn jeder versteht, daß Schmerz etwas ganz Normales ist und daß man
dagegen etwas tun kann. Manchmal müssen Kinder behutsam dorthin geführt werden. norma: Ich möchte nur sagen, daß mein Mann während meiner drei ersten intensiven Behandlungswochen eines Tages mit den Kindern spazieren ging und dabei am Institut vorbeikam. Das war während einer Gruppensitzung. Er ging mit ihnen zur Rückseite des Gebäudes, wo man die Schreie und das Weinen hören konnte. Die Kinder hörten eine Weile zu und fragten ihn dann, ob da drin Babys schrien. Für sie klang es wie das Schreien von Babys. Mein Mann verneinte die Frage. Das seien Erwachsene, die alte Gefühle verspürten. Wir hatten in Gegenwart der Kinder etwa ein Jahr lang hin und wieder über alte Gefühle gesprochen. Sie erklärten: »Ach so, sie haben ihre alten Gefühle.« Sie sprachen darüber keineswegs ängstlich. Das überraschte mich. Ich dachte, sie würden in Angst und Schrecken geraten, wie ich, als ich die Gruppe zum erstenmal hörte. Da wollte ich nichts als raus. vivian: Du mußt dabei bedenken, daß ihr Vater sie an der Hand hielt. Die Situation war ja nicht so, als seien sie im Wohnzimmer gewesen, und ihr Vater hätte in der Küche plötzlich zu schreien angefangen. Wenn sie allein sind, ist das etwas ganz anderes. barbara: Du hast da etwas angeschnitten, was in einzelnen Familien ganz unterschiedlich ablaufen kann. Viele von uns leben allein, und unsere Probleme sind nicht die gleichen. Es ist großartig, wenn da zwei Eltern sind, die fähig sind, ihre Gefühle zuzulassen. Dann kann einer bei den Kindern bleiben, während der andere sich in ein Zimmer zurückzieht, um sich seinen Gefühlen zu überlassen. Wenn nur ein Elternteil da ist, kann das bei den Kindern große Angst auslösen. Ich vermeide es, zu Hause Urerlebnisse zu haben. Dazu komme ich lieber hierher. vivian: Es ist ein Unterschied, ob man vor den Kindern leise weint oder ob man ein mit Schreien verbundenes Urerlebnis hat. Ich glaube, die Kinder sollten wissen, daß auch Eltern weinen,
doch wenn es so aussieht, als würde Mammi verrückt und verlöre die Kontrolle über sich, dann ist das etwas anderes. 308
sandy: Wenn aber der Schmerz zu stark wird, dann denke ich mir manchmal, es sei besser, ein Urerlebnis zu haben, als es an den Kindern auszuagieren. Ich habe inzwischen einen Punkt erreicht, wo der Schmerz so heftig ist, daß ich, wenn ich ihn nicht fühle, einfach; verrückt, richtig verrückt werde, und für mich ist es dann besser, ich gehe aus dem Zimmer und fühle ihn, so intensiv ich kann. Wenn ich das nämlich nicht tue, dann leiste ich mir die blödsinnigsten Sachen, wie zum Beispiel meine Kinder zu schlagen. mary: Mir geht es ähnlich, nur schlage ich meine Kinder nicht, auch nicht, wenn ich sehr böse bin. Manchmal quält meine Tochter ihren fünfjährigen Bruder, und das kann ich nicht vertragen. Ich fühle dann eine unbändige Wut gegen sie in mir aufsteigen. Ich möchte nicht, daß sie ihm wehtut. Gewöhnlich versuche ich, auch in einer solchen Situation für sie da zu sein, doch an einem gewissen Punkt muß ich meine Gefühle mächtig unterdrücken und versuchen, sie später zu empfinden. Mein Primärraum zu Hause scheint dazu beizutragen, daß ich mich gegenüber meinen Kindern so wirklich und unverstellt gebe, wie ich tatsächlich bin. virginia: Das große Problem meiner Familie ist die Eifersucht meines Sohnes auf seine jüngere Schwester. Sie scheint das nicht zu fühlen, doch sie ärgert sich bereits über die Art und Weise, wie er sie behandelt. Ich habe versucht, ihm so viel zu geben, wie ich kann, habe ihn verhätschelt, die Schuhe zugeschnürt und mehr als üblich das Durcheinander in Ordnung gebracht, das er anrichtet. Ich mag das alles eigentlich nicht. Während dieser
Sitzung ist mir klar geworden, daß ich ihm gegenüber nicht aufrichtig gewesen bin. Ich habe das Gefühl, daß ich für ihn niemals so viel Zeit aufbringen werde wie für sie, mag ich ihm auch noch so viel geben, für ihn tun oder ihn wie meine Tochter behandeln. Ich muß ihm sagen, daß ich für ihn niemals so viel Zeit aufbringen kann. Er mag seine Schwester nicht. Wie er bereits erklärt hat, möchte er sie aus dem Haus haben. Ich glaube, er ist an dem Punkt, wo er das fühlen muß, doch ich glaube nicht, daß ich ihn dazu bringen kann. sandy: Es hört sich an, als sei er nahe dran. virginia: Er kennt seine Gefühle. vivian: Du mußt die Wut und den Haß immer weiter anwachsen lassen, bis er sich mit Schreien und Weinen Luft macht, was gewöhnlich heißt: »Ich möchte dich ganz für mich.« virginia: Wie soll ich das anwachsen lassen, ohne damit meiner Tochter zu schaden? 309
vivian: Dazu mußt du mit ihm allein sein. Laß ihn alles sagen! Laß es anwachsen, indem er es ausdrückt! virginia: Das tue ich. pat: Willst du damit sagen, sie sollte seine Schuhe nicht zubinden und sich nicht um seine Unordnung kümmern, damit es anwächst? vivian: Das würde wahrscheinlich helfen. bill: Versuche einfach zu sagen: »Gleichgültig, wie viel ich für dich tue, es wird nie genug sein.« mary: Ich möchte euch eine verrückte Szene schildern, die sich kürzlich bei mir zu Hause abgespielt hat. Meine neunjährige Tochter wurde auf ihren fünfjährigen Bruder wütend, und dann prügelten sie sich im Wohnzimmer, worauf ich einschritt, weil sie ihn verletzte. Sie brach zusammen und fing an zu weinen. Ich
setzte mich mit ihr in den Primärraum, weil sie weinen und mit mir sprechen wollte. Allmählich verspürte sie das Gefühl, wie sehr sie ihn haßte, wie sehr sie wünschte, daß er nicht da sei, und bedauerte, daß er überhaupt zur Welt gekommen war. Sie war unglaublich wütend und erklärte dann: »Seinetwegen habt ihr beide, du und Vati, euch getrennt.« Weiter meinte sie, sie habe immer schon das Gefühl gehabt, daß er der Grund dafür gewesen sei. Damals bestand mein Sohn darauf, auf meinen Knien zu sitzen. Er wollte da nicht wieder runter. Immer wieder kam er an und setzte sich auf meinen Schoß. Meine Tochter konnte das nicht ausstehen. Ich konnte nichts tun. Er mußte einfach auf meinem Schoß sitzen. Er weinte, sie weinte, und ich weinte auch. vivian: Das ist doch keine schlechte Erfahrung. mary: Nein, das ist es nicht - mir ist klar, daß es gesünder und wohltuender ist als in der langen Zeit vorher. Doch über meinen Sohn mache ich mir Sorgen, denn er ist nicht in der Lage, solche Gefühle auszudrücken. Seine Schwester quält ihn ständig, und er treibt seine Späßchen, singt vor sich hin und behauptet, er sei glücklich. Er verspürt nicht das Gefühl, das er eigentlich empfinden müßte, wenn er merkt, daß sie sich nicht um ihn kümmert, und dabei mag er sie so sehr. barbara: Das gleiche Gefühl hat ein Kind gewöhnlich gegenüber seiner Mutter. mary: Jedenfalls ist an ihn nicht heranzukommen. Das Gefühl habe ich von ihm. Er ist richtig verschlossen und fühlt nichts - er fühlt sich nicht sicher genug, mit mir über seine Gefühle zu sprechen oder sie auch nur zu fühlen. 310
vivian: Aber deine Tochter kann es, und das heißt doch, daß etwas in Bewegung gerät. Um es noch einmal zu wiederholen, das Ziel kann nur lauten, den Kindern die Sicherheit zu geben, daß sie fühlen können; aber ich könnte euch kein Rezept dafür geben,
wie das zu geschehen hat. Ihr vermittelt Sicherheit, wenn ihr selbst sicher seid. Es gibt Kinder, die können euch nicht anschauen, wenn sie Gefühle verspüren. Wenn das der Fall ist, dann sorgt dafür, daß es dunkel ist, und setzt euch hinter sie! Und zwingt sie nicht, sich mit dem jeweils anstehenden Thema zu befassen, sondern laßt es ganz natürlich zutage treten! Ich weiß, daß mein Sohn niemals weinen und schreien würde, wenn das Licht eingeschaltet oder wenn es hell ist. Es ist einfach zu schwierig für ihn, mich anzuschauen. mary: Mein Sohn kommt seinen Gefühlen am nächsten, wenn er seine Wut über mich äußert. Dann erklärt er mir, was für ein Ekel ich bin und wie er mich haßt, doch weiter geht es nicht. Er möchte mit aller Macht ein Baby sein. Er möchte sich wie ein Baby fühlen, ich weiß, daß ich ihm nicht erlaubte, wütend zu sein, als er jünger war. Ich konnte es früher nicht ertragen, wenn er zuviel von mir forderte. vivian: Das klingt, als sei jetzt alles in Bewegung geraten. mary: Beide nehmen heute ungeheuer viel für sich in Anspruch, und dabei habe ich selbst so wenig bekommen. Es ist wirklich sehr schwer, doch immerhin es geschieht etwas. vivian: Das ist ein schönes Beispiel, wenn deine Tochter das Objekt ihrer Wut angreift und sich dann dem wirklichen Gefühl zuwendet, das sich darunter verbirgt. Unter der Wut verbirgt sich Schmerz. Vergiß das niemals! Wenn du zum erstenmal zuläßt, daß sie wütend werden, dann können sie manchmal zunächst gar nicht weiter kommen. Doch du weißt natürlich, daß es darauf ankommt, durch die Wut hindurch bis auf den Grund zu gelangen, und dies wiederum geschieht, wenn es geschehen soll. bill: In unserer Familie war es hilfreich, daß unsere Kinder, und zwar alle, in ihrem Verhalten viel jünger sind, als es ihrem Alter entspricht. Ich glaube, daß ein normales sechsjähriges Kind sich wie ein neurotisches dreijähriges Kind verhält, jedenfalls so ungefähr. Vielleicht ist das ein wenig übertrieben. Und daß wir unsererseits uns so verhalten, daß sie klein sein können. Das
macht eine Menge aus. Dann fühlen sie sich sicher, haben das Gefühl, daß ihnen etwas gestattet wird, denn das ist ein Bedürfnis, das sie immer noch verspüren, und wenn sie jung genug sind, dann können sie etwas von 311
den Eltern bekommen. Das heißt natürlich, daß man ihnen dann mehr geben muß. vivian: Ich glaube, das ist ganz richtig. Wenn ich den großen Fehler, den ich meinen Kindern gegenüber begangen habe, benennen und einordnen sollte, dann würde ich sagen, daß es das Bemühen war, sie erwachsener zu machen, als sie waren, nicht bewußt natürlich, vermutlich aus Stolz über ihre Leistungen. bill: Darauf ist unsere Gesellschaft angelegt. vivian: Es ist so etwas Blödsinniges, Kinder anzutreiben. Mein Sohn wurde ohne vernünftigen Grund früher eingeschult – ach, ich könnte euch eine ganze Liste aufstellen, ein Armutszeugnis sage ich euch, doch ich glaube, wir sollten aufhören, daran zu denken, für wie lange Zeit unsere Kinder das Bedürfnis haben, klein zu sein. Das Eigenartige dabei ist, daß sie um so schneller groß werden, je mehr man ihnen gestattet, klein zu sein. bill: Genauso wie in unserer Therapie. Das ist die gleiche Sache. kathy: Unsere Kinder verhalten sich auch so. Ich weiß noch, daß Don mit zwei Jahren wieder seine Windeln bekam, nachdem ich schon dachte, er sei sauber. Er ist stolz auf seine Windeln. vivian: Bryan hat noch immer eine Flasche. Damals, das ist schon einige Jahre her, war das gar nicht so einfach für mich, der Gedanke, daß mein fünfjähriger Junge noch die Flasche bekam. Da dachte ich: »Mein Gott, was werden die Nachbarn sagen? Wie kann ich ihn so zur Schule schicken?« Das alles verführt einen zu Fehlern, denn irgendwie ist so ein Kind doch wirklich ein Baby. Wenn man in der Lage ist, seine Kinder wie Babys zu behandeln, dann ist es in Ordnung.
cal: Ich habe über irgendeinen Indianer-Stamm gelesen, daß dort die Kinder selbst dann noch gestillt werden, wenn sie bereits in der Lage sind, neben ihrer Mutter herzulaufen, und so groß sind, daß sie die Brust erreichen. Sie müssen dann etwa acht bis neun Jahre alt sein. mary: Dein Sohn nimmt noch die Flasche? vivian: Das ist Bryan, Lindas Sohn. barbara: Liz schreibt mit Vorliebe Notizen auf. Wenn ich abends heimkomme, dann liegt da ein langer Zettel mit Notizen auf dem Kopikissen. Neulich abend lag erst wieder einer da. Wenn ich nicht da bin, um mit ihr zu sprechen, dann macht sie sich Notizen. vivian: Hebst du sie für ihre künftigen Urerlebnisse auf? barbara: Ja, sicher, ich habe einen ganzen Stapel davon. Neu312
lich abend jedenfalls hat sie mir erklärt: »Ich weiß, Mammi, daß du an manchen Abenden ausgehst,« und dann fragte sie mich, ob sie für diese Abende ihre alte Flasche haben könne, und ich antwortete: »Natürlich.« vivian: Na, schön, doch nach welchem Grundsatz geschieht das? barbara: Nun, sie fühlt sich klein, und sie möchte so behandelt werden, als sei sie klein. vivian: Doch es gibt auch eine Menge Lücken in ihrer kurzen Kindheit, da sind viele Bedürfnisse, die nicht befriedigt wurden. Diese Bedürfnisse mußt du befriedigen. pat: Sie hat Kinderbücher, Kissen, alles ... vivian: Ich glaube, was Pat und Bill mit ihrem Schlafzimmer getan haben, das ist großartig, sofern jemand von euch schon davon gehört hat. Wollt ihr darüber berichten? bill: Ja, wir haben die Betten zusammengestellt. pat: Bisher waren unsere Wohnungen immer so klein, daß wir praktisch immer zusammen schlafen mußten, doch nun haben wir endlich
eine größere Wohnung. Als wir hier hörten, daß Leute zusammen schlafen, da haben wir einfach alle Betten in ein Zimmer geschafft. Ich wußte damals nicht, ob mein sechsjähriger Sohn damit einverstanden wäre, doch heute will er immer in der Mitte schlafen. norma: Als Joe seine drei ersten Therapiewochen durchmachte, da war ich völlig verzweifelt. Ich war die ganze Nacht auf und rannte von einem Zimmer ins andere. Schließlich sagte ich mir, das ist doch Käse, und als die Kinder eines Tages von der Schule heimkamen, da haben wir kurzentschlossen alle Betten in ein Zimmer gestopft. Damit war die nächtliche Rumrennerei vorbei. Und sie fühlten sich wohl dabei. Zuerst konnten sie den Gedanken gar nicht fassen. »Du meinst alle Betten zusammenstellen? Prima!« vivian: Das ist für sie, als sei alle Tage Weihnachten. Damit zeigt ihr ihnen, daß ihr sie so oft wie möglich um euch haben wollt. dottie: Wir schlafen überhaupt nicht mehr in den Betten. Wir kampieren alle auf dem Fußboden im Wohnzimmer. mary: Das tun wir auch. Doch da sind bei mir inzwischen bestimmte Gefühle aufgetaucht. Meine beiden Kinder schlafen jeweils auf einer Seite von mir, und dann kommen sie so auf mich zugerutscht, daß ich in der Mitte eingequetscht werde. vivian: Du meinst, im selben Bett? 313
mary: Ja, das heißt, auf dem Fußboden. vivian: Ich glaube, was Bill und Pat getan haben, ist ein bißchen vernünftiger - jedenfalls für die Kinder. Jeder hat sein eigenes Bett, aber alle im selben Raum. mary: Aber meine Kinder wollen das nicht. Mein Sohn möchte am liebsten auf mir liegen. Er will mir keinen Platz machen. pat: Mein Sohn möchte, daß ich eng bei ihm liege. Ich erklärte ihm,
daß ich doch da sei, aber er meinte: »Nein, Mammi, bei mir ist so« und kuschelte sich an mich. kathy: Don kommt jede Nacht herein, nachdem er sich zuerst in seinem eigenen Schlafzimmer ins Bett gelegt hat. Zwei Stunden später, wenn wir schlafen, kommt er zu uns. Er legt sich nicht neben mich, sondern genau zwischen uns und drängt uns auseinander, wenn wir zusammenliegen, und schläft dann sofort wieder ein. norma: Ich würde gern wissen, was primärtherapeutische Familien mit Weihnachten anfangen. Zu Weihnachten fühle ich mich schrecklich blöd. alle: Dann schrei doch einfach los! norma: Nein, das meine ich nicht. Ich meine diesen Schmus mit dem Weihnachtsmann, die Lügereien und all diesen Mist. Ich habe das Gefühl, daß sie glauben, der Weihnachtsmann bringe ihnen alles, was sie haben möchten. »Wir wissen, daß du kein Geld hast, Mammi, doch ich weiß, daß der Weihnachtsmann mir das bringen wird...« sagen sie dann. Sie brauchen Sicherheit, nicht zehntausend Spielzeuge. Doch ich weiß wirklich nicht, wie ich mich da verhalten soll. Ich weiß nicht, ob es richtig wäre zu sagen, in Wirklichkeit sind Mammi und Vati der Weihnachtsmann. Das erscheint mir nicht richtig. dottie: Das haben wir unseren Kindern aber gesagt, und weißt du, was sie darauf geantwortet haben: »Wir haben das die ganze Zeit gewußt.« Das war für mich ein richtiger Schlag. vivian: Du meinst, das Problem ist, ob man den Mythos aufrechterhalten soll? bill: Das gehört zur Kindheit, dieser Mythos. Ich mag ihn. bernard: Haltet doch den Mythos aufrecht, auch wenn ihr ihnen erzählt habt, daß er nicht wahr ist! Wir haben Sophie immer erklärt, das sei nicht wahr, doch sie möchte gern an den Weihnachtsmann glauben, und so schreiben wir ihm den Wunschzettel. britt: Bei uns ist es ähnlich. Ich habe es Michael schon vor
Jahren erklärt, er weiß es. Noch neulich habe ich es ihm gesagt, doch dann 314
meinte er in einem Gespräch mit Freunden, der Weihnachtsmann komme durch den Schornstein. Sie möchten einfach daran glauben. dottie: Mein Sohn schickte mir eine Karte mit seinem Weihnachtswunsch: »Bitte hab mich lieb!« bernard: Mich beschäftigt eine andere Frage. Mir hat der Gedanke, mit den Kindern im selben Zimmer zu schlafen, ja sogar im selben Bett, immer gefallen, doch wie soll das gehen, wenn man bumsen möchte? pat: Wir haben im Wohnzimmer ein Sofa, das wir zu einem Bett umbauen können. bernard: Dann schleicht ihr also aus dem Schlafzimmer, nicht wahr? pat: Das ist sehr romantisch. Wir schließen die Tür ab... vivian: Man kann es auch zu anderen Tageszeiten machen, wenn die Kinder nicht bei einem im Bett liegen. kathy: Aber nicht, wenn man ein kleines Kind hat. Wir haben einen zweijährigen Jungen, und der ist den ganzen Tag mit uns zusammen. pat: Manchmal schläft er aber doch. kathy: Nein, das tut er nicht. vivian: Schläft er nachts nicht? kathy: Ja, sicher, er schläft, wenn er will. vivian: Siehst du, das meine ich ja. Du mußt deinen Tag danach planen. dottie: Ich möchte noch etwas anderes fragen. Meine beiden ältesten Kinder prügeln sich häufig. Pamela haßt Tom. Tom macht sie wirklich verrückt, er mag sie, braucht sie wirklich, doch sie haßt ihn. Dann prügeln sie sich. Doch er spielt nur
dabei, versucht ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber sie prügelt ihn, um ihn umzubringen. Und ich weiß nicht, ob ich ihr sagen soll: »Pamela, du gehst jetzt in dein Zimmer, und du, Tom, in deins.« Ich frage mich, ob das gut wäre. Du hast doch sicher auch dieses Problem, Pam. Wie verhältst du dich da? PAM:
Nun, ich nehme mir den heraus, von dem ich den Eindruck
habe, daß er am meisten fühlt, und versuche dann, sofern ich kann, sein Gefühl aus ihm herauszulocken. Dann sprechen wir darüber. Gewöhnlich toben und schreien sie ein wenig herum. Doch richtig tiefe Urerlebnisse sind das nicht. Dann hauen sie wieder ab und fangen von neuem an sich zu prügeln. 315
bill: Da bildet sich eine starke Abwehr, weißt du, wenn du den Menschen vor dir hast, der dir das alles angetan hat. Bob haßt Betty immer noch, das ist das gleiche. vivian: Das ist unvermeidlich. Wenn ein Kind nichts bekommt, und keines eurer Kinder hat genug bekommen, und wenn dann das zweite Kind geboren wird, dann haben sie ein Symbol der Ablehnung, jemanden, auf den sie ihre Wut konzentrieren können. Wenn beide Kinder das Gefühl hätten, wirklich geliebt zu werden, dann wären sie Freunde.
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Anhang A: Dorothy
In dem folgenden, nicht vollständigen Bericht schildert eine fünfundvierzigjährige Frau ein Geburtsprimal. Es ist eines von vielen, die wir beobachtet haben. Dieses Geburtsprimal haben wir auch gefilmt. Es ist das fünfte der Frau.
DOROTHY
Gestern abend war ich zu Hause. Ich fühlte mich ziemlich gereizt und aufgeregt und bewegte mich rastlos hin und her, als sei mein Körper nicht fähig gewesen, irgendeine Haltung beizubehalten, mochte sie auch noch so angenehm sein. Dann begann ich wieder zu zittern, genauso stark wie bei früheren Geburtsprimals. Ich konnte meine körperlichen Bewegungen nicht kontrollieren. Meine Hände, mein Gesicht, Arme, Beine, der ganze Rumpf — alles bewegte sich, ohne meinen Willen. Dann fühlte ich eine Art »Summen« im Kopf, und ich wartete still, bis mein Körper auf diesen Eindruck reagierte. Es war, als ob mein Gehirn Signale in meinen Körper schickte. Ich wußte, daß ich meine ersten Lebensbewegungen verspürte. Die Bewegungen waren ganz sacht, und ich hatte das Gefühl, ein Wasserballett aufzuführen. Gegen Ende vollführte mein Oberkörper rhythmische Bewegungen. Anschließend hing mir die Zunge aus dem Mund und begann zu zittern und allmählich vor- und zurückzuschnellen. Darauf begann ich spontan zu saugen. Die »Signale« wurden jetzt stärker, sie strahlten das Rückgrat hinunter bis in meine Beine. Nach starken rhythmischen Bewegungen setzen Körperkontraktionen ein, und mein Körper
streckte sich aus. Unter wellenartig auftretenden Zuckungen glitt ich langsam den Geburtskanal hinab. Plötzlich packte mich Entsetzen, denn ich merkte, wie von außerhalb des Mutterleibes etwas mit mir angestellt wurde. Mein Körper war nicht mehr von freien, spontanen Bewegungen erfaßt. Von außen wurde an mir herumgezerrt, gestoßen und geschlagen. Ich war nicht darauf vorbereitet, was hier mit mir geschah. Auch schlang sich etwas (die Plazenta) um meine Füße, so daß ich sie nicht mehr ungehindert bewegen konnte. Ein heftiges Schütteln setzte ein, und ich zitterte am ganzen Körper. Das »Schla317
gen« von draußen fing wieder an. Ich wollte um Hilfe schreien, doch ich konnte nicht. In diesem Augenblick preßte sich meine Hand auf meine Nase, so daß ich nicht frei atmen konnte. Für längere Zeit konnte ich meine Hand nicht aus dieser Stellung losbekommen. Mein ganzer Körper vibrierte vor Angst. Kein Wunder, daß ich nicht geboren werden wollte. Kein Wunder, daß ich so lange brauchte, um das Geburtsprimal zu Ende durchzustehen. (Nach Auskunft von Beobachtern dauerte der Vorgang fast dreißig Stunden.) Dazu fallen mir meine früheren Urerlebnisse ein, die mit meinen Beinen zu tun hatten, mit der Unfähigkeit, sie frei zu bewegen. Mein Körper wurde bei ihrem Versuch, mich in die richtige Geburtsposition zu bringen, buchstäblich »geschlagen«, noch ehe ich geboren worden war. Ich habe mich oft gefragt, warum ich bei den Schlägen, die ich als Kind von meiner Mutter erhielt, die tatsächliche Härte, mit der sie zuschlug, nicht gefühlt habe. Nun kenne ich die Antwort. Ich hatte während der Geburt zuviel ertragen müssen, und darum hörte ich auf, selbst die Schläge meiner Mutter zu fühlen.
Das Folgende sind Auszüge einer Tonbandaufnahme unmittelbar nach meinem Geburtsprimal (gesprochen unter lautem Schluchzen und Weinen, während mir die Zusammenhänge einsichtig wurden): »... Niemand war da, der mir half, niemand, niemand. Und niemand, der sah... niemand, der sah, daß ich in Gefahr war und daß sie mir wehtaten. Ich war ihrer Macht ausgeliefert. Dann wurde mein Hals mit Gewalt hin und her bewegt, und Zuckungen erfaßten meinen ganzen Körper. Jemand faßte mich beim Kopf und versuchte, mich herauszuziehen, zerrte mich schließlich mit Gewalt heraus.« (Geburtszange) »... zog und zerrte mich hin und her. Dann legte sich die Plazenta um meine Füße, so daß ich mich nicht bewegen konnte, und ich fühlte mich wie vernichtet, vermochte nicht nach Hilfe zu rufen. Niemand hörte und sah mich... das waren Urszenen für mich... ... Als ich im Geburtskanal war, brauchte ich sanfte, sachte Hilfe... doch da war niemand, der sie mir gab. Es war ein Wunder, daß ich überlebt habe... Ich hatte solche Schmerzen, war so erschreckt, von Panik ergriffen... Ich mußte mich dem allem einfach entziehen und mich verschließen... mir blieb nichts, wohin ich mich wenden konnte. 318
... Mein ganzes Leben lang bin ich gerannt, habe versucht, jemanden zu finden, der sehen könnte, was ich brauchte und welch! Schmerzen ich litt. ... Ich weiß, daß meine Urerlebnisse, als sie sich erst einmal ausweiteten, einem festen Muster folgten. Wenn man sie aufzeichnen könnte, würde sich herausstellen, daß sie einen natürlichen Gang einhielten, einer natürlichen Ordnung folgten, doch wiederum auch einmalig waren, zu mir als menschlichem
Wesen gehörten... es war ein eigener individueller Weg. Ich kann ihren Zusammenhang erkennen, ein Urerlebnis schloß sich dem anderen an. Die Urszenen sind grundlegend, denn sie sind die Grundlage dafür, daß ich die Zusammenhänge erkenne. Ich weiß jetzt auch etwas von Liebe... es heißt einfach, jemanden er selbst sein zu lassen... Ich bin... es geht nicht darum, klein, groß, gescheit, dumm oder irgend etwas zu sein ... nur da sein, das ist alles. Ich bin. Für Mammi war es sicherer, mich ein kleines Mädchen sein zu lassen. Sie wollte nicht, daß ich groß werde, sie hielt mich von Anfang mit ihrem Körper zurück. Sie mußte mich dumm halten, damit ich nicht herausfinde, daß sie mich in Wirklichkeit haßte und nicht haben wollte. Solange sie mich daran hindern konnte, groß zu werden, erwachsen zu werden, war die Möglichkeit größer, daß sie mir dieses Wissen vorenthalten konnte. Ich war auf sie und ihre Antworten angewiesen, von ihr abhängig... so fühlte sie sich sicher. Ich mußte ihr Lieblingskind sein, damit sie mich kontrollieren konnte... und mich daran hindern konnte, herauszufinden, wie die Dinge wirklich lagen... Ich weiß, daß die Erfahrungen während meines Geburtsprimals meinen Körper veranlaßten, sich zu verschließen. Ich konnte den Schmerz, den ich fühlte, nicht ertragen, nicht absorbieren. Seither ist mein Körper auf die verschiedenste Weise buchstäblich lebendig geworden. Vor Beginn der Behandlung nahm ich täglich vier Milligramm eines Schilddrüsenmedikaments. Seit dem ersten Tag der Behandlung brauche ich es nicht mehr, und trotzdem habe ich eine normale Schilddrüsenfunktion, wie die Jod-Tests beweisen. Die normale Körpertemperatur ist gefallen... um wieviel, weiß ich nicht. Doch kürzlich hatte ich eine Virusinfektion, und ich kenne die Symptome, die sich bei hohem Fieber einstellen. Der Arzt konnte jedoch nur eine Temperatur von etwa 37 Grad feststellen. Er war völlig sprachlos, konnte sich das gar nicht erklären. Die Haut an meinem ganzen Körper sondert nun Flüssigkeit ab, die
Trockenheit, die immer schlimmer geworden war, ist verschwunden, und meine 319
Haut hat richtigen Glanz angenommen. Zum erstenmal in meinem Leben beginne ich wirklich zu leben.«
An diesen Urerlebnissen können wir die enge Verflechtung von Geburtstraumata und späterem Verhalten erkennen. Sie sind nicht so sehr als Ursache und Wirkung zu verstehen, sondern als geschlossene Einheit, als organische Wechselbeziehung. Die Erfahrung des Festgehaltenwerdens im Uterus wurde für die Patientin später zum Bestandteil ihrer Dummheit. Das heißt, das Erlebnis in der Gebärmutter und dazu das Bedürfnis der Mutter, sie auf vielfältige Weise im Verlauf einer langjährigen Beziehung dumm zu halten, trugen gemeinsam dazu bei, daß die Patientin später ein »dummes«, unwissendes, uneinfühlsames Verhalten an den Tag legte. Nach dem Wiedererleben des Geburtsvorganges konnte die Patientin viele ihrer späteren Erfahrungen mit der Mutter besser einordnen und verstehen. Man kann es auch anders ausdrücken: Das Bedürfnis der Mutter, sie in ihrem späteren Leben dumm zu halten, war sozusagen lediglich ein erneuter Versuche dem Kind nicht zu erlauben, die Geburt auf seine eigene Weise zu erleben. In ähnlich gelagerten Fällen kann es natürlich auch sein, daß die Eltern alles kontrollieren wollen und sich dem Kind gegenüber später so verhalten, daß es hilflos und unfähig bleibt, irgend etwas selbst zu tun. Dann ist die Urerfahrung der Geburt nicht so sehr mit dem Gefühl der Dummheit als vielmehr mit dem Gefühl der Hilflosigkeit verbunden. Das Gefühl der »Hilflosigkeit« ist eine »Deutung« der Erfahrung. Diese Deutung stellt sich mit dem Gebrauch der
Sprache und mit der Entwicklung von Fähigkeiten zur begrifflichen Vorstellung ein. Doch das Gefühl der Hilflosigkeit, der Unfähigkeit, Schmerz abzustellen, wird bei einigen Menschen von der Geburtserfahrung ausgelöst. Das Gefühl ist unbewußt, nicht wahrnehmbar, doch da es vorhanden ist und von einer »Lebens«-Erfahrung herstammt, beeinflußt es das Verhalten des betreffenden Menschen und treibt ihn dazu, in seinem späteren Leben das Hilflossein auszuagieren. (Das heißt, in einer Situation hilflos zu handeln, in der es ihm an Kraft fehlt.)
320
Anhang B: Richard
Im folgenden Bericht schildert ein Patient, der in Steißlage geboren worden war, sein Geburtsprimal. Gleich zu Anfang des Urerlebnisses klagte der Patient über ein Kältegefühl an den Beinen und am Gesäß. Und tatsächlich fühlte sich die Haut des Patienten kalt an. In Abständen von wenigen Sekunden krümmte er sich zusammen und wurde von Zuckungen erfaßt, doch er konnte sich nicht erklären, was er da durchmachte. Erst wenige Tage später, nachdem er Kontakt mit seiner Mutter in New York aufgenommen hatte, erfuhr er vom Ablauf seiner Geburt. »Mein Name ist Richard. Ich bin seit genau vier Monaten in der Therapie. Gestern, in einer Einzelsitzung, passierte etwas, doch ich wußte es mir nicht zu erklären. Mein Körper zuckte wie verrückt, und dann hatte ich alle möglichen Schmerzen, vor allem im Rücken. Das dauerte eine gute Stunde. Anschließend fragte
mich mein Therapeut, was los sei, und ich antwortete: »Ich glaube, ich werde geboren...« Genau das habe ich ihm erzählt. Es war schwierig für ihn, das zu verstehen. Er sprach ständig davon, daß Babys mit dem Kopf voran geboren würden. Er verstand nicht, daß meine Füße und mein Gesäß kalt waren. Doch ich erklärte ihm, das sei aber so. Ich weiß überhaupt nichts darüber, wie Babys geboren werden. Meine Füße waren kalt und mein Hintern auch... Am nächsten Tag besuchte ich einige Freunde, die in der Primärtherapie sind. Hier ist ihr Bericht über das, was geschah«: Heute abend, Sonntag, den 2. November 1969, kam Richard zum Abendessen zu uns. Er erzählte etwas Seltsames, was gestern geschehen sei; er habe ein Geburtsurerlebnis gehabt. Aus seinen Worten schloß ich, daß er eine Geburt in Steißlage gehabt hatte. Das bestätigte sich anschließend, als Richard seine Mutter in New York anrief. Er wurde am 9. April 1941 in Livonia in Italien geboren. In dem Dorf (das heute zu Jugoslawien gehört) war er der erste Junge, der seit Ausbruch des Krieges geboren wurde. Die Faschisten des Ortes überhäuften seine Mutter mit Geschenken und machten ihn offiziell zum Parteimitglied. Richard erinnerte sich, daß er in einem großen kalten Raum das Licht der Welt erblickt hatte. Gegen neun Uhr abends fiel er mitten in seiner Schilderung über das gestrige 321
Urerlebnis zu Boden; er fiel einfach um. In der Stellung eines Fötus fing er an zu stöhnen, wobei er sich selbst umklammerte. Ich nahm meinen Sohn mit nach draußen, um Richard nicht davon abzulenken, seinen Schmerz zu fühlen. Anschließend hat meine Frau folgendes notiert:
9.02 Uhr. Er liegt auf dem Boden, seine Haltung ist die eines Fötus, er stöhnt. Sein Stöhnen ist ziemlich gleichmäßig, und es klingt gepreßt. Man kann seinen keuchenden Atem hören. Er furzt und rülpst, sein Gesicht ist purpurrot. »... es tut mir weh... auaaa... es schmerzt...« Er preßt seine Hände gegen Bauch oder Rücken (später erklärt er, dieser Körperteil, das heißt, sein Rücken, habe am meisten geschmerzt). Sein Gesicht sieht aus wie das eines neugeborenen Kindes. Sein Körper windet sich. »Es ist kalt draußen ... ooh ... ooh ...« 9.25 Uhr. Er liegt unbeweglich, rührt sich nicht, die rechte Hand unter der linken Wange, den linken Arm zwischen den angezogenen Beinen. Sein Atem geht schwer, er hat heftige Zuckungen, die jedoch langsam ablaufen — krampfartig. Sein Grunzen ist tief, wie das eines Fötus, er stößt es in Abständen von etwa zwanzig Sekunden aus. Er scheint zu hören, daß ich mir Notizen auf dem Papier mache, und öffnet die Augen. Sie sind rotgerändert. Als er sie wieder schließt, beginnt er erneut schwer zu atmen und eine Reihe von besonders heftigen Grunzlauten auszustoßen. Jetzt windet er sich in den Schultern, sein Gesicht ist verzerrt, wie unter erhöhtem Luftdruck. Er stöhnt jetzt (9.30 Uhr) sehr schwer, schneller als vorher. Sein Atem wird gequält, sein Stöhnen ist eine sinnlose Lautfolge. »Es ist kalt, kal-t...« flüstert er. Jetzt (9.32 Uhr) liegen beide Arme zwischen seinen Schenkeln. Er wimmert. Seine Beine liegen an den Knöcheln überkreuz. Er liegt auf der linken Seite. 9.33 Uhr. Seine rechte Hand, nun zur Faust geballt, ruht unter der linken Wange. Sein Gesicht sieht angeschwollen aus, als hätte er gerade eine fünfzehn Runden lange Redeschlacht hinter sich gebracht. Die Schreie sind jetzt (9.34 Uhr) tiefer, kommen mehr aus der Brust. Er wimmert, da ruft mein kleiner Junge, der gerade oben gebadet wird, nach mir. Ich habe niemals solch schmerzerfüllte Augen gesehen. Die Rufe meines kleinen Jungen
scheinen Richard aus seinem Urerlebnis gerissen zu haben. Er richtet sich auf und sagt: »Ich will nicht mehr.« »Nimm es nicht so schwer«, sage ich. 322
Er beginnt zu schluchzen. »Es ist kalt.« Nach einer Weile bittet er um ein Taschentuch. Als er wieder sprechen kann, meint er: »Mein Stöhnen, es war wie ein Kämpfen, damit ich nicht zerschmettert werde... Ich habe ein Druckgefühl von einer Stelle knapp über meinem Gesäß aufwärts (zu seinen Achselhöhlen) kurz unterhalb meiner Schulterblätter verspüre ich den stärksten Schmerz, weil ich meine Hände vorn gefaltet habe.« »Deine Hände tun deinem Rücken weh?« »Ja, ich weiß aber nicht, ob man mich dreht oder ob ich gerade herauskomme. Danach war mir jämmerlich kalt. Mein Körper fühlt sich an, als ob er eine Million Tonnen wiegt. Ich versuche, meinen Kopf zu bewegen, doch ich kann nur ein wenig mit ihm wackeln. Anders kann ich ihn nicht bewegen.« »Wie fühlst du dich dabei?« »Ich weiß nicht. Als sei ich etwas Unförmiges. Etwas Unförmiges, was sich nicht bewegen kann.« »Willst du schreien?« »Ich glaube, aber ich weiß nicht, wie. Ich empfinde das Stöhnen als angenehm, ich kann meinen ganzen Körper fühlen, wenn es einsetzt. Ich kann ihn von den Zehenspitzen bis zum Hals fühlen, doch mein Kopf fühlt sich vom Hals an aufwärts wie ein eigener Körper an, als hätte ich zwei Körper, einen vom Hals an aufwärts, den anderen vom Hals an abwärts. ... Die beiden Teile meines Körpers funktionieren nicht auf gleiche Weise.«
»Du meinst, dein Kopf und dein Rumpf sind nicht Teile eines Ganzen?« »Ja, so ähnlich. Mein Körper ist unten kalt, oben warm. Es scheint so, als sei ich in der Mitte geteilt, und deshalb schmerzt der obere Teil meines Körpers... Ich weiß nicht, wie ich die beiden Teile koordinieren soll, damit sie zusammenarbeiten. Ich verstehe das alles nicht. Wenn ich mich zusammenkrümme, dann habe ich das Gefühl, als sei der obere Teil von mir zu schwer (der Kopf). Ich möchte nicht, daß mein Kopf sich so schwer anfühlt. (Stöhnen) Das ist ein Gefühl, als wenn mich die Muskeln eines anderen zu Tode drücken. Das geschieht nur von den Hüften an aufwärts. Es tut schrecklich weh. Es ist, als würde mein Rückgrat verdreht und als würden mich ganz starke Muskeln zerquetschen. Es ist angenehm, wenn das aufhört, ich möchte nicht, daß es überhaupt anfängt, doch es geschieht immer wieder...« Richard legt sich zurück auf den Teppich, seine Zuckungen setzen 323
wieder ein. Später, als er sich wieder aufgerichtet hat und wieder sprechen kann, fährt er fort: »Stell dir eine Tube Zahnpasta vor... wenn du sie von unten her zusammendrückst! Ich habe das Gefühl, als würde mein ganzer Körper von unten her zusammengepreßt und als stiege der Druck in Brust und Kopf. Als ob alles nach oben schießt. Als sei einem übel, ohne daß man sich erbrechen kenn. Ich habe Schmerzen in der rechten Schulter. Ich weiß nicht, was sie bedeuten. Es ist, als werde ich auf einer Rutschbahn festgehalten und als verrenkte jemand meinen Körper und verdrehe die Schultern. Und das alles reißt mir den Rücken weg.« (10.05 Uhr) Er krümmt die Schultern. »Mmmmm, mmmm...« Sein Gesicht ist verzerrt, läuft rot an, die
Bauchmuskeln spannen sich. »Es ist, als drehen sie mich zur falschen Zeit.« »Wer ist sie?« »Ärzte — was weiß ich. Ich will darüber nicht mehr sprechen. Es schmerzt. Es tut erbärmlich weh. Wenn ich darüber spreche, gerate ich wieder da hinein.« 10.15 Uhr. Er liegt wieder in Krämpfen auf dem Boden. Die linke Hand unter der rechten Wange, die rechte Hand zwischen den Schenkeln. Er liegt zusammengekrümmt auf der linken Seite, stöhnt sehr laut, grunzt und stöhnt. Bei jeder Anstrengung verzerrt sich sein Gesicht. Sein Bauch hat sich selbständig gemacht. Im Gegensatz zum übrigen Körper ist sein Gesicht rot angelaufen. 10.20 Uhr. Richard rollt sich auf den Rücken und starrt einige Sekunden lang zur Decke. Schließlich richtet er sich stöhnend auf. Die Hände über den Knien verschränkt, hockt er da und schüttelt den Kopf. Er hält die Augen fest geschlossen und sieht aus wie ein Gnom, der von Schmerz erfüllt ist - ein Thema von Murillo, nur gemalt von Goya. Er fällt gegen die Couch und schnappt nach Luft. Trotz des schlechten Lichts in unserem Wohnzimmer läßt sich erkennen, daß seine Haare schweißnaß sind. »Ich kann nicht mehr. Wirklich. Die Schmerzen sind zu groß, wirklich.« »Jetzt wissen wir, was ein Baby bei der Geburt durchzumachen hat. Nur haben wir ein Baby vorher nie darüber sprechen gehört.« »Müssen alle Babys so etwas durchmachen? Ich habe immer gedacht, die Mutter müsse alle Schmerzen durchmachen.« Richard sagt zu mir: »Tony, hör auf, mich so anzuschauen!« »Was soll ich dazu sagen? So etwas habe ich nie zuvor erlebt, Richard.« 324
Richards Urerlebnisse setzten sich über viele, viele Wochen hin fort. Jedes Mal kam ein weiteres Stück von ihm aus dem Geburtskanal. Einer der entscheidenden Zusammenhänge, die ihm bei seinen Urerlebnissen klar wurden, war: »Mein ganzes Leben lang war ich auf dem Sprung, mich auf eine Schlägerei mit jemanden einzulassen, der mich anstieß oder auch nur anrempelte. In der Schule reagierte ich übermäßig heftig, wenn irgendein Kind mich zufällig anstieß, und dann gab es eine Prügelei. Nun geht mir auf, daß ich mich immer gegen diesen frühen Schmerz zur Wehr gesetzt habe. Alles, was mir heutzutage Schmerz bereitet, setzt jenen Geburtsschmerz frei, und dann muß ich um mich schlagen, um mich vor weiteren Schmerzen zu schützen.« Wer hätte jemals gedacht, daß die Feindseligkeit und die Prügeleien des Jungen während der Schulzeit sich auf sein Erlebnis im Geburtskanal zurückführen lassen?
Anhang C: Die Körpererinnerungen
Das abgebildete Foto zeigt die Blutergüsse am Bein einer achtundvierzigjährigen Frau, die während eines Urerlebnisses wiedererlebt hatte, wie sie unmittelbar nach der Geburt vom Arzt mit dem Kopf nach unten in die Höhe gehoben worden war und von ihm einen Klaps auf das Hinterteil erhalten hatte. Der Arzt war dabei ziemlich grob vorgegangen. Man kann die Eindrücke der Finger und des Daumens seiner linken Hand erkennen, wie sie sich um das Bein des Babys gelegt hatten. Das fast ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignis ist damit in seiner Einheit
und nicht nur mit dem Gehirn wiedererlebt worden. (Die Familie der Frau bestätigt die bei der 326
Geburt entstandenen Blutergüsse.) Der Körper bewahrt also seine Erinnerungen; wenn wir uns klarmachen, daß Blutergüsse die dem System eingeprägten körperlichen Erinnerungen darstellen, latente, zeitlose Erinnerungen, dann dürfte uns auch verständlich sein, daß andere Erinnerungen ein Leben lang erhalten bleiben, ständigen Druck ausüben und in die Neurose treiben. Das abgebildete Foto veranschaulicht die Einheit von Körper und Geist; Erinnerung und Gefühl sind ein psychophysiologischer Gesamtvorgang. Der Körper ist eine Datenbank, die keine Informationen vergißt, auch wenn der Geist sich von ihr abgespalten hat. Wer die Bedeutung der Fotografie voll begriffen hat, der versteht bereits eine Menge von der Primärtheorie. Es ist eine kaum zu bestreitende Tatsache, daß Schmerz (in diesem Falle körperlicher Schmerz), der in der frühen Kindheit nicht integriert werden kann, fortan dem System eingeprägt bleibt. Wenn ein Organismus nicht in der Lage ist, aufgrund einer Schmerzüberlastung das, was mit ihm geschieht, zu assimilieren, dann kommt es zu einer automatischen Trennung zwischen Geist und Erfahrungen. Aufgrund dieses Trennungsprozesses bleibt das traumatisierende Erlebnis als eine ständig wirksame, dem Bewußtsein entzogene und darum unauflösbare Kraft erhalten. Wie gesagt, der Körper ist eine Datenbank, die alle ihre Erfahrungen speichert und nichts vergißt, auch wenn das Bewußtsein die Erfahrungen nicht abrufen kann. Nicht nur der »Geist« speichert oder »erinnert« Erfahrungen, sondern auch der ganze Körper. Da Körper und Geist eine Einheit bilden, reagiert der Körper ständig auf Erfahrungen, die abgespalten, kodiert und gespeichert worden sind. Mit anderen
Worten, Schmerz (und unbefriedigte Bedürfnisse werden in Schmerz verwandelt) ist ein Zustand des Körpergewebes, und das Gewebe »erinnert sich« auf körperliche Weise. Es ist die gleiche Art von »Erinnerung«, deren sich unser Körpersystem bedient, wenn wir eine große Menge eines bestimmten Medikaments zu uns genommen haben und dann eine Immunität dagegen entwickeln. Erfahrungen sind keine abgekapselten, einzig und allein im Gehirn gespeicherten Gebilde. Eine nicht integrierte frühe Erfahrung setzt im Gehirn einen sich selbst erhaltenden Kreislauf in Gang, der seinerseits den Körper als das sozusagen untrennbare Gegenstück zu jener Erfahrung innerviert. Die Stärke der Innervierung hängt von der Art des Schmerzes ab. Wenn es sich bei dem frühen Schmerz um einen Bluterguß handelt, dann kann der Organismus 327
später dazu neigen, leicht Blutergüsse zu bilden, wie es bei der erwähnten Frau der Fall war, die häufig unerklärliche Blutergüsse entwickelte. Besteht beispielsweise das Trauma in der Erfahrung, aus dem warmen Mutterleib in einen sehr kalten Kreißsaal zu gelangen, dann reagiert das Blutsystem darauf unter Umständen mit Verengung. Dieser Verengungsprozeß kann sich fixieren, so daß es in jeder Streßsituation, die geeignet ist, das frühere traumatische Erlebnis wachzurufen, zu einer unangemessenen kardiovaskulären [Herz und Kreislauf betreffenden] Reaktion kommt. Der infolge frühen ungelösten Schmerzes in Gang gehaltene Kreislauf kann im späteren Leben zu Herz- und Kreislauferkrankungen führen. In diesem Zusammenhang erfahren wir auch etwas über den Heilungsprozeß. In dem geschilderten Fall ging die Abheilung
von Blutergüssen, die sich im Körper der Frau gebildet hatten, vor Einsicht in die entscheidenden Zusammenhänge stets ungewöhnlich langwierig vonstatten. Wir haben bei anderen zu Blutergüssen neigenden Patienten herausgefunden, daß die Aufdeckung früher Zusammenhänge im Verlauf von Urerlebnissen nicht nur die Anfälligkeit für Blutergüsse ganz erheblich verringert, sondern auch den Heilungsprozeß bei jetzt selten auftretenden Blutergüssen um ein Vielfaches beschleunigt. Wir erkennen mithin, daß der Körper Leitorgane besitzt, die besonders verletzlich sind, nicht nur aufgrund der genetischen Anlage (die wir nicht unterschätzen sollten), sondern auch aufgrund der Natur des frühen Traumas. Ein aufschlußreiches Beispiel ist der Zusammenhang zwischen früher Fütterung nach Zeitplan, häufig verbunden mit Hungergefühlen des Kindes, und späteren gastrointestinalen [Magen und Darmtrakt betreffenden] Problemen. Diese Symptome sind »Erinnerungen« des Körpers. Dabei handelt es sich um »übersetzte« Erinnerungen.
Bei dem geschilderten Fall müssen wir uns fragen: »Wo ist der Bluterguß in den achtundvierzig Jahren geblieben?« Zweifellos ist er irgendwo im Körpersystem kodiert, das heißt als verschlüsselte Information gespeichert worden. Er war eine latente Anfälligkeit. Der Körper wurde buchstäblich, wenn auch allgemein, unablässig daran erinnert, daß es einen spezifischen Bluterguß gegeben hatte, mit dem er sich auseinanderzusetzen und den er zu beseitigen hatte. Das heißt, der Körper verallgemeinert sowohl physisch wie psychisch spezifische Schmerzen; dieser Prozeß der Verallgemeinerung bildet das Wesen der Neurose. Die Angst vor der Mutter wird unter Umständen verdrängt und später auf alle Frauen ausgedehnt. 328
Als der besagte Bluterguß auftrat, war das Großhirn womöglich noch nicht so weit entwickelt, als daß es das Erlebnis hätte richtig deuten können. Später bedarf es eines »erwachsenen« Gehirns, das dem »Baby-Gehirn« in begrifflichen Vorstellungen vermittelt, was mit ihm geschehen ist. Damit ist der Zusammenhang hergestellt, das heißt, es geht darum, die Schmerzquelle zu erkennen, den Schmerz spezifisch zu machen, so daß er nicht mehr neurotisch verallgemeinert werden muß. Aufgrund unserer Beobachtungen können wir eine allgemeine Aussage über den frühen Schmerz formulieren: Körperliche Traumata scheinen physisch, psychische Traumata psychisch verallgemeinert zu werden. Offensichtlich gibt es aufgrund der Einheit von Körper und Geist gewisse Überlappungen. Doch wenn es sich um ein präverbales Trauma handelt, auf das nur der Körper reagieren kann, dann dürfte eine fixierte, prototypische Reaktion auf spätere Traumata körperliche Symptome produzieren. Handelt es sich hingegen um ein postverbales Trauma, dann äußert sich die Reaktion auf spätere Streßsituationen unter Umständen in gedanklichen Vorstellungen, wie zum Beispiel in paranoiden Wahnideen. Abgespaltener Schmerz übt Druck auf das Körpersystem aus; er ist weder statisch noch unwirksam. Herstellung des Zusammenhangs löst den Schmerz und hebt den Druck auf. Solange etwa ein frühes Hungertrauma nicht wiedererlebt und die Verbindung zum Bewußtsein nicht hergestellt ist, wird bei dem Betreffenden immer eine Anfälligkeit für Magenbeschwerden und -geschwüre bestehen, mag die Behandlung mit Linderungsmitteln auch noch so ausgezeichnet sein. In gewissem Sinne ist das Unbewußte zeitlos; die Frau, deren Bein die Fotografie zeigt, hätte wahrscheinlich Zeit ihres Lebens immer wieder unter Blutergüssen zu leiden gehabt, wenn nicht ein spezifischer Augenblick in ihrem Leben zutage gefördert worden wäre —
wenn nicht ein entscheidender Bluterguß, der zu einer spezifischen Zeit aufgetreten war, erneut erfahren worden wäre. Zuvor war die »Bildung von Blutergüssen« eine zeitlose Reaktion. Um den frühen Bluterguß beseitigen zu können, mußte er sich erneut zeigen. Es hätte nichts genutzt, sich lediglich bewußtseinsmäßig an ihn zu »erinnern«, ohne daß der Körper beteiligt worden wäre. Das beweist uns, daß nur eine psychophysiologische Erfahrung heilende Wirkung ausübt. Einsicht, Wahrnehmung oder lebhafte Erinnerung können unbewußte Tendenzen welchen Ursprungs auch immer nicht beseitigen; sie können den Körper nicht wirklich kontrollieren. 329
Die mögliche Reaktivierung von beobachtbaren Phänomenen, etwa des Blutergusses, läßt uns nicht-beobachtbare unbewußte Phänomene wie Geburtstraumata in einem anderen Licht erscheinen: Wenn das Gehirn einen Körpervorgang reproduzieren kann, der Augenblicke nach der Geburt abgelaufen ist, dann dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß auch ein Augenblicke vor der Geburt auftretendes Trauma sich dem Gehirn und damit dem Körpersystem einprägen kann. Was die Zeit vor und nach der Geburt angeht, so dürfte die Fähigkeit des Gehirns, Ereignisse zu speichern, nicht signifikant unterschiedlich sein. Daher drängt sich der Schluß auf, daß eine Erfahrung vor der Geburt genauso wie Schmerz nach der Geburt einen fortwährenden unterschwelligen Druck auf das Körpersystem ausübt. Nach diesen Überlegungen sollte der Unterschied zwischen Urerlebnis und Abreaktion oder Katharsis klar geworden sein. Unter Abreaktion versteht man gewöhnlich einen gefühlsmäßigen
Ausbruch im Gefolge einer Erinnerung. Man müßte die Bedeutung des Begriffs schon überdehnen, wollte man damit auch Phänomene wie Blutergüsse bei der Geburt erfassen. Es geht um den Unterschied zwischen Erinnern und Wiedererleben. Wenn plötzlich Blutergüsse auftreten, während man ein früheres Ereignis wiedererlebt, dann ist das keine Abreaktion, sondern ein Urerlebnis.
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Register
Namenregister
Bakwin, H. 133 Barron 109 Becker, W. C. 163 Bennett, E. L. 161 Berkowitz, William 166 Bernhaut, M. 128, 129 Blizzard, Robert 145 Bossion, V. 168 Boverman, H. 27 Bowlby, J. 138 Burgus, Roger 151 Burlingham, Dorothy 123 Butler, N. 21 Carpenter, P. B. 129 Casler, L. 137 Clift, Montgomery 248 139, 141, 142, 148,160 Davie, R. 21 Delcato, Carl 124 Delgado, Jose 24 Denenberg, V. H. 136 Diamond, M. C. 143 Freedman, D. G. 26, 27 Freedman, N. 27 Freud, Sigmund 71, 117, 161, 186 Goodall, Jane 189, 190 Goldstein, H. 21 Goya 324 Guillemin, Roger 151 139, 142 Gauron, E. 163 Gardner, L. I. 144, 145 Gellhorn, E. 129
Gerassi, John 13 Gitlow, Stanley 157 Hamnett, F. S. 144 Harlow, H. 134, 135, 171 Honda 145 Janiger, Oscar 29 Janov, Arthur 51, 83, 88 Janov, Vivian 6, 106, 238, 248 Johnson, Virginia 64, 65 Jones, Quincy 87 Kennedy, John 52 Krech, D. 143, 161 Kulka, A. 123 Lennon, John 49, 51, 52, 242 Levine, Seymour 118, 119, 132, 138 Liley, A. W. 95 Lilly, J. C. 138 Lindsley, Donald 137 Loewenstein, R. M. 123 Mandell 80 Markowitz, H. 136, 137 McAlpine, Barbara 6 Mednick, Sarnoff A. 79, 80 Melzack, R. 138,163 Mendlowitz, M. 158 Michael 192 Miller, H.B. 110,111 Montagu, Ashiey 108, 109, 134 Murillo 324 Mussen, Paul 160 Neill, A.S. 294 Newton, Grant 331
118, 119, 132, 138, 139, 142
Patton 145 Pieper, W.J. 38 Pringle, M. 168 Rank, Otto 44, 76 Rasmussen, A.T. 129 Riessen 163 Rosen, S. 23 Rosenzweig, M. R. 143, 161 Sartre, Jean Paul 13 Scott 138 Seefeld, Janet 6 / Seitz, P. F. D. 118 Selye, Hans 152 Sinatra, Frank 52 Spitz, R. A. 133 Storms, Lowell 80 Symnes, David 137 Tanner, M. 160 Tapp, J. T. 136, 137 Thompson, W. R. 138, 163 Towbin, Abraham 64 Werborff, J. 27
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