Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 25
Das Auge der Götter von H. G. Ewers
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atl...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 25
Das Auge der Götter von H. G. Ewers
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter betritt das Labyrinth von Dhaugal. Ubali und Thamai – Dragons Gefährten. Vesta – Der Herr der Elemente verwandelt sich. Jammad – Ein Melnike auf der Flucht. Shebar – Blutjäger von NeuAtlantis. Mit dem entscheidenden Duell im verwüsteten Garten des Lebens, bei dem Dragon seinen Gegenspieler Akkeron überwand, hat der Atlanter seine Mission auf Danilas Welt erfüllt. Durch seine kühnen Taten verhalf Dragon Vesta, dem Herrn der Elemente, der viele Jahrhunderte lang hilflos gefangen war, wieder zur rechtmäßigen Herrschaft. Dragon, der »Mann Schicksal«, wie ihn die getreue Wanderwolke Aerula-thane nannte, ist gewiß, daß der Herr der Elemente sein wiedererlangtes Amt nicht mißbrauchen, sondern zum Wohle aller Menschen von Danilas Welt ausüben wird. Nichts hält den Atlanter daher mehr – selbst nicht die verheißungsvolle Aussicht, an Vestas Seite über eine ganze Welt zu gebieten. Er will zurück in seine eigene Welt, zurück nach Myra, wo Königin Amee auf ihn wartet. Jetzt weiß er durch Vesta den Weg zum zweiten Weltentor, und so bricht er mit Ubali, seinem alten Kampfgefährten, und Thamai, dem Mädchen, das der Lebensgeist selbst mit Ubali zusammenführte, schleunigst dorthin auf. Dragon weiß es noch nicht – aber die Chance der Rückkehr liegt woanders. Sie wird ihm und den anderen gewährt durch DAS AUGE DER GÖTTER ...
1.
Ich stolperte zwei Schritte vorwärts, blieb stehen und sah mich benommen um. Vor mir erblickte ich ein paar düstere Ruinen, hinter denen eine steile Felswand ungefähr dreihundert Fuß aufstieg. Weiter oben setzte sie sich in einem sanft ansteigenden Hang fort, der mit blaugrünen Nadelbäumen bewachsen war – und noch weiter hinten erblickte ich die eisgekrönten Gipfel von Bergen, die bis in den grauen Himmel zu ragen schienen, Rinnsale aus klarem Bergwasser plätscherten die Felswand hinab und verliehen ihr einen schwarzen Glanz, als würde sie täglich frisch poliert. Und mitten in der Felswand gähnte der unregelmäßig geformte Eingang einer Höhle. Ich runzelte nachdenklich die Stirn. Irgendwie wußte ich, daß diese Höhle mein Ziel war, und doch war mir nicht klar, warum sie mein Ziel sein sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hierher gelangt war. Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren. Als ich den schwarzhäutigen Hünen und die schlanke ebenholzfarbene Frau erblickte, griff ich unwillkürlich nach meinem Kurzschwert und ließ meinen achteckigen Schild vom Rücken in die Linke gleiten. Doch dann nahm ich die Hand wieder vom Schwertgriff. Eine innere Stimme sagte mir, daß die beiden Menschen keine Feinde waren. Irgendwie hatte ich sogar das Gefühl, als müßte ich sie kennen.
Der schwerbewaffnete schwarze Hüne musterte mich ebenfalls aufmerksam. Auch er hatte die Rechte auf dem Griff seines Schwertes gehabt und dann wieder sinken lassen. Die Frau lächelte zaghaft. Ich musterte sie mit Wohlgefallen. Alles an ihr war so, wie es sein mußte. Sie war eine Schönheit, und außer einem amulettartigen Schmuckstück, das ihre Scham bedeckte, verhüllte nichts ihre makellose Schönheit. Weit hinter den beiden Menschen erspähte ich eine große Wolke, die sich langsam entfernte. Sie hatte einen Teil ihrer Substanz zu einer Art Segel geformt und ließ sich von der leichten Brise treiben. Seltsam, auch diese Wolke hatte etwas eigentümlich Vertrautes an sich. Ihr Anblick schien Erinnerungen wecken zu wollen, doch so sehr ich mich anstrengte, ich kam nicht darauf, warum sie mir so vertraut erschien. »Wer bist du, Drachenkämpfer?« fragte der schwarzhäutige Hüne mit tiefer Stimme. Ich wollte ihm bereitwillig antworten – und da wurde mir klar, daß ich gar nicht wußte, wer ich war. Ich kannte weder meinen Namen noch meine Herkunft. Wie hatte der Hüne mich genannt: Drachenkämpfer? Mein Blick fiel auf die Vorderseite meines achteckigen Schildes, und ich sah, daß dort ein goldener Drache auf blauem Grund abgebildet war. Offenbar hatte der Schwarze mich deshalb Drachenkämpfer genannt. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Es muß unglaubwürdig klingen, aber ich weiß es wirklich nicht.« Überraschenderweise lachte der schwarze Hüne. Aber bald wurde er wieder ernst. Er schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Ich glaube dir, denn auch ich kenne meinen Namen nicht. Aber du kommst mir bekannt vor, Drachenkämpfer – und die liebliche Schönheit neben mir muß in ei
nem früheren Leben meine Geliebte gewesen sein, denn ich fühle, daß wir uns einmal gehört haben.« Ich blickte zu der schlanken Schönen und erwartete halb, sie verlegen werden zu sehen. Doch sie blickte den Schwarzen nur an, dann nickte sie bedächtig. »Ich habe das gleiche Gefühl«, sagte sie leise. »Aber ich habe auch das Gefühl, als hätte ein gefräßiger Dämon alle meine Erinnerungen verschlungen. Auch ich weiß nicht, wer ich bin. Doch irgendwie muß ich auch dich kennen, Drachenkämpfer.« »Ich denke, wir sollten uns eigentlich alle kennen«, meinte ich nachdenklich. »Wahrscheinlich ist es so, daß ein Dämon uns unsere Erinnerungen beraubt hat. Aber hier stehen wir – und ich glaube, wir haben das gleiche Ziel.« »Die Höhle!« sagte der Schwarze und richtete seinen Blick auf das düstere Loch im Felsen. »Wir sind hier, um in diese Höhle zu gehen, aber, bei Mawu, dieses Loch erscheint mir wie der Eingang zur Behausung eines seelenverschlingenden Dämons!« »Wer ist Mawu?« fragte ich, hoffend, mit diesem Wort einen Schlüssel zu den Erinnerungen des Schwarzen gefunden zu haben. Der Hüne richtete seinen Blick zum Himmel empor. »Da oben«, antwortete er zögernd. »Der Himmel ist Mawu. Oder Mawu wohnt im Himmel. Ich weiß es nicht genau.« Das brachte uns also auch nicht weiter. Ich musterte meine Ausrüstung. Sie bestand aus dem kostbar wirkenden achteckigen Schild, der einen goldenen Drachen auf blauem Grund zeigte, aus einem neu aussehenden Kurzschwert mit prunkvollem Knauf und aus einem hervorragend gear
beiteten Langbogen, zu dem ein Lederköcher mit bunt gefiederten Pfeilen gehörte. Außerdem trug ich über meinem normalen Gewand, der Kleidung eines Kriegers, einen Schulterumhang aus wertvollem blauen Tuch. Als ich den Umhang abnahm, sah ich, daß auf der Rückenpartie in kostbarer Stickerei der gleiche große Drache prangte wie auf meinem Schild. Die Musterung meiner Ausrüstung weckte Ahnungen, aber sie konnte keine konkreten Erinnerungen hervorholen. Resignierend hängte ich Umhang und Schild wieder über den Rücken, blickte den Mann und die Frau an und sagte: »Gehen wir in die Höhle! Vielleicht finden wir dort die Antworten auf unsere Fragen.« Als ich durch den Eingang der Höhle trat, fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, der nicht von mir stammen konnte, sondern mir von jemand oder etwas eingegeben worden sein mußte. Was du nicht besitzt, kannst du nicht verlieren – doch du kannst es gewinnen! Ich sprach es laut aus, und der Mann und die Frau erwiderten wie aus einem Mund: »Unsere Gedanken!«« »Demnach haben wir in dem Augenblick, als wir die Höhle betraten, alle das gleiche gedacht«, sagte ich. »So ist es«, erwiderte der schwarze Hüne und zog sein Schwert, dessen frische Schleifstellen bewiesen, daß erst vor kurzem die Scharten eines erbitterten Kampfes weggeschliffen worden waren. »Kein Höhlendämon kann uns unsere Erinnerungen stehlen, aber wir können darum kämpfen, unsere Erinnerungen zurückzubekom
men – und ich brenne darauf, es mit allen bösen Geistern aufzunehmen, die in der Höhle hausen mögen.« Ich zog ebenfalls mein Schwert, denn das Innere der Höhle, die von einem düsteren Leuchten nur mangelhaft erhellt war, strahlte eine unbestimmbare Drohung aus. Gewiß lauerten hier Gefahren auf uns, die tödlich sein konnten, wenn wir nicht wachsam genug waren. Aber noch zeigte sich keine Gefahr. Unsere Schritte waren die einzigen Geräusche in der Höhle. Nach einiger Zeit kamen wir an eine Abzweigung. Hier führten drei Gänge nach verschiedenen Seiten, und alle drei glichen einander. Wir blieben stehen. »Es dürfte gleich sein, welchen Gang wir nehmen«, meinte der Schwarze ungeduldig. Ich schüttelte den Kopf. »Ich denke, daß nur ein Gang zum Ziel führt, das wir nicht kennen. In den falschen Gängen würden wir vielleicht in die Irre laufen. Die Frage ist nur: welcher Gang ist der richtige?« Ich trat in den Gang ganz links und lauschte. Aber nichts rührte sich darin. Ich kehrte um und trat in den mittleren Gang. Plötzlich schrie die Frau unterdrückt auf, schlug eine Hand vor den Mund und deutete auf mich – genauer, auf meine Brust. Als ich an mir herabblickte, entdeckte ich das einer Sonnenscheibe nachgebildete Amulett, das ich auf der Brust trug und das mir vorhin bei der Musterung meiner Ausrüstung entgangen war. Ich sah auch, daß dieses Amulett in kurzen Intervallen pulsierend aufglühte, ohne daß ich Hitze auf meiner Haut spürte.
»Es hat vorhin nicht geglüht«, sagte die Frau, die die Hand wieder von ihrem Mund genommen hatte. »Erst als du den mittleren Gang betreten hast, fing es an.« »Ein Zeichen der Götter!« sagte der Schwarze mit rauher Kehle. »Wir sollten es nicht mißachten.« »Vielleicht ist es wirklich ein Zeichen, das die Götter uns geben wollen«, erklärte ich. »Aber erst muß ich noch probieren, was geschieht, wenn ich den rechten Gang betrete.« Ich wandte mich dem Gang zur Rechten zu. Das pulsierende Glühen des Amuletts hörte sofort auf und fing erst wieder an, als ich in den mittleren Gang zurückgekehrt war. »Du mußt ein besonderer Liebling der Götter sein, daß sie dir über dein Amulett ein Zeichen geben, Drachenkämpfer«, flüsterte die Frau. »Wenn es der Wille der Götter ist, daß wir den mittleren Gang nehmen, dann wollen wir gehorchen«, erklärte ich. »Und wir werden dir folgen, Drachenkämpfer«, versprach der schwarze Hüne beinahe feierlich. »Es kann keine Schande sein, einem Mann zu folgen, der in der Gunst der Götter steht.« Ich weigerte mich nicht, die Führerrolle zu übernehmen. Ja, wenn ich es recht überlegte, hielt ich das sogar für selbstverständlich. Wahrscheinlich war ich ein Mann, der zahllose Krieger befehligte – irgendwo, in einem Land, an das ich mich nicht erinnerte. Ich ging meinen Gefährten voraus. Der mittlere Gang erweiterte sich nach ungefähr fünfzig Schritten etwas. In der linken Wand zeigten sich einige Spalten, und auch die Decke wies Risse und Spalten auf. Doch es gab kein abgebröckeltes Geröll auf dem Boden, so daß ich annehmen durfte, daß keine Einsturzgefahr bestand.
Nach weiteren fünfzig Schritten blieb ich abrupt stehen, und der Schwarze, der dicht hinter mir war, prallte beinahe gegen meinen Rücken. »Was ist los?« flüsterte er. Ich deutete mit dem Schwert auf einen Gegenstand, der wenige Schritt vor mir auf dem Boden lag und rötlich schimmerte. »Hier war schon vor uns jemand«, erklärte ich. »Eine kupferne Haarspange«, sagte der Schwarze und atmete erleichtert auf. »Kein Mann würde Haarspangen tragen – und Weiber können uns nicht gefährlich werden.« Ich deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf das lange Blasrohr, das die schlanke Frau trug und zu dem ein Lederbeutel mit kurzen gefiederten Pfeilen gehörte. »Es macht keinen Unterschied, ob der Giftpfeil, der dich trifft, von einem Mann oder einer Frau abgeschossen wurde«, erwiderte ich lächelnd. »Und sicher ist unsere schöne Gefährtin nicht die einzige Frau, die mit einem Blasrohr umgehen kann.« Der Schwarze gab ein unwilliges Knurren von sich. »Schön, auch Katzen haben ihre Krallen«, gab er widerwillig zu. »Aber ich fürchte mich nicht vor ihnen.« »Dennoch sollten wir noch vorsichtiger als bisher sein«, gab ich zurück. Ich ging langsam weiter. Dabei sah ich, daß aus einem Spalt in der linken Felswand grünliche Gasschwaden aufstiegen. Sie schlängelten sich über den Boden, bildeten seltsame Formen und stiegen schließlich auf, um dann in den Spalten und Rissen der Decke zu verschwinden. Es ließ sich nicht vermeiden, daß wir einige der Gasschwaden durchschritten. Dabei nahm ich einen schwachen süßlichen Geruch wahr. Ich schritt etwas schneller
aus, um nicht zuviel von dem Gas einzuatmen. Doch ich spürte keinerlei Wirkung – außer dem süßlichen Geruch, der in meiner Nase haften blieb ... Das wunderte mich allerdings nicht, denn der Geruch stieg von der grünlichen Flüssigkeit auf, mit der feingliedrige und doch feste Finger meinen Körper einrieben. Ich blickte hoch und begegnete dem besorgten Blick Thamais. Sie hielt jetzt inne, mich zu massieren. »Dein Freund ist wach, Ubali!« rief sie mit wohlklingender Stimme. »Ubali?« fragte ich und merkte, daß meine Stimme schwach war. Eine schwarzhäutige Gestalt trat in mein Blickfeld, und freudige Erregung durchflutete mich. Das war tatsächlich mein Freund und Kampfgefährte Ubali, der mit mir durch das Weltentor auf Danilas Welt gekommen war. »Ja, ich bin es wirklich, Dragon«, sagte Ubali und lächelte mich strahlend an, wobei er zwei Reihen stärker weißer Zähne entblößte. »Thamai und ich fürchteten schon, der Kampf mit Akkeron könnte dich so stark geschwächt haben, daß du nicht wieder zu dir kommen würdest. Aber Thamais Götterelixier hat dich ins Leben zurückgerufen.« Thamai lächelte, griff neben sich und hielt mir eine kleine Flasche entgegen, die zur Hälfte mit der gleichen grünlichen Flüssigkeit gefüllt war, mit der sie mich eingerieben hatte. »Nimm einen Schluck davon, Dragon«, forderte sie mich auf. »Er wird dir deine alte Kraft zurückgeben.« Sie stützte meinen Kopf und setzte mir die Flasche an die Lippen. Ich nahm zwei kräftige Schlucke und spürte 10
beinahe sofort, wie eine Welle von Energie mich durchflutete. »Das ist genug«, sagte Thamai und nahm die Flasche fort. Ich lächelte, leckte mir über die Lippen und sagte: »Das muß ein wahrer Zaubertrank sein, Mädchen.« Voller Wohlgefallen musterte ich die wohlgeformte Gestalt, deren ebenholzfarbene Haut seidig schimmerte. Mit neuerwachter Kraft vermochte ich die Schönheit dieses Mädchens erst richtig zu würdigen. Ubali schien zu erraten, was in mir vorging, denn er legte besitzergreifend einen Arm um die Schultern Thamais. Ich bedachte ihn mit einem spöttischen Blick, da lächelte er verlegen. Er begriff, daß ich einem Freund niemals die Geliebte streitig machen würde. Ich sprang auf die Füße. »Ich habe also mit Akkeron gekämpft«, stellte ich fest. »Und offenbar habe ich ihn besiegt. Aber wer ist Akkeron?« Ubali deutete mit ausgestrecktem Arm hinter mich. »Dort liegt Akkeron.« Seine Augen weiteten sich und verengten sich dann zu schmalen Schlitzen. »Aber dort hat er eben noch gelegen!« stieß er hervor. »Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.« Ich wandte mich um und folgte dem ausgestreckten Arm meines Freundes mit den Augen. Ich erblickte eine Wüste, in der hier und da die Gebeine verendeter Tiere lagen. Ein leichter Wind blies feine Staubschleier vor sich her. Und hinter den Staubschleiern tauchten plötzlich drei Gestalten auf. 11
»Vorsicht, Dragon!« rief Ubali plötzlich hinter mir. »Das sind Dalaugiri!« Der Name »Dalaugiri« weckte böse Erinnerungen in mir, aber leider nur vage Erinnerungen. Dennoch genügte es, um mich nach meinem Schwert greifen zu lassen, das neben mir im Sand lag. Die Klinge wies zahlreiche frische Kerben auf. Der Kampf gegen Akkeron – wer immer das auch gewesen sein mochte – mußte hart gewesen sein. Ich fand gerade noch Zeit, um auch meinen Schild aufzunehmen und den linken Unterarm durch die Armschlaufe zu stecken, als die drei Gestalten auch schon mit wütendem Geheul angriffen. Es waren wild aussehende Krieger mit sonnengebräunten Gesichtern, bunten Lederkappen, runden Lederschilden, Wurfspießen und Krummschwertern. Ein Spieß flog auf mich zu. Ich hob den Schild an und trat zur Seite. Die Waffe prallte gegen den Schild, wurde nach links abgelenkt und bohrte sich in den Sand. Auch Ubali wehrte einen Speer mit dem Schild ab, dann stieß er einen gellenden Kampfschrei aus und griff seinerseits an. Ich hielt mich neben dem Freund und mußte im nächsten Augenblick die wütende Schwerthiebe eines Mannes abwehren, der ganz aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien. Zahlreiche Narben in seinem Gesicht bewiesen, daß er schon viele Kämpfe bestanden hatte. Ein Hieb riß mir beinahe mein Schwert aus der Hand. Während mein Gegner vorprellte, um nicht von meinem Schwert getroffen zu werden, drehte ich mich leicht nach rechts, rammte ihm meinen Schild gegen die Kante seines Schildes und beraubte ihn dadurch seiner Deckung.
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Doch ich konnte den Vorteil nicht nutzen, denn mein Gegner sprang mit einem wilden Satz zurück und duckte sich. Hinter ihm wurde der dritte Dalaugiri sichtbar. Er schickte sich an, einen Speer über seinen Genossen auf mich zu schleudern, ließ die Waffe jedoch plötzlich fallen und griff sich mit beiden Händen an den Hals, wo urplötzlich etwas erschienen war, das wie eine bunte Blüte aussah. Ich wußte allerdings, daß es keine Blüte war, sondern einer der giftigen Blasrohrpfeile Thamais. Der Getroffene gab einen gurgelnden Laut von sich und brach langsam zusammen. Ein Blick aus den Augenwinkeln zeigte mir, daß Ubali in einen heftigen Kampf verwickelt war. Der Schwarze mußte alle seine Künste aufbieten, um von dem tanzenden Schwert seines Gegners nicht getroffen zu werden. Im nächsten Moment mußte ich mich wieder auf meinen Gegner konzentrieren. Als er merkte, daß der offenbar erwartete Speerwurf ausblieb, blickte er über die Schulter zurück und sah, was mit seinem Genossen geschehen war. Doch das schreckte ihn nicht ab. In seinen Augen sah ich nur den gnadenlosen Willen, zu töten, aber keine Spur von Furcht oder Unsicherheit. Als er vorwärts schnellte, sprang ich ihm entgegen. Unsere Schilde prallten mit solcher Wucht gegeneinander, daß wir beide zurückgeschleudert wurden und in den Sand stürzten. Ich sprang sofort wieder auf, aber auch mein Gegner kam wieder auf die Füße. Allerdings blutete er aus einer klaffenden Fleischwunde an der Stirn. Die Kante seines Schildes mußte ihm an den Kopf geprallt sein. 13
Doch obwohl diese Verwundung seine Sicht stark behinderte, denn das Blut lief ihm über die Augen, so daß er es beständig fortwischen mußte, zeigte er keine Unsicherheit. Ich mußte einen Luftsprung vollführen, als er sein Schwert dicht über dem Boden zu mir sausen ließ. Als er zu einem neuen Schlag ausholte, hieb ich ihm seinen Lederschild entzwei. Die Klinge durchschnitt auch den Armriemen, so daß die beiden Hälften des Schildes zu Boden fielen. Mein Gegner preßte den blutenden Schildarm an seinen Leib und führte seinerseits einen wilden Hieb gegen meinen Schild. Im Unterschied zu seinem hielt mein Schild jedoch stand. Sein Schwert brach jedoch dicht über dem Griff ab. Ich hätte ihn töten können, doch ich wollte keinen Wehrlosen umbringen und senkte mein Schwert. Aber der Dalaugiri gab sich nicht geschlagen. Er riß einen langen Dolch aus seinem Gürtel und sprang auf mich zu. Instinktiv reagierend hob ich mein Schwert – und die Klinge drang dem Dalaugiri durch die Brust und hinten wieder hinaus. Er war tot, bevor ich ihm das Schwert aus dem Körper gezogen hatte. Ein Blick zu Ubali zeigte mir, daß der Schwarze einen wahrhaft ebenbürtigen Gegner gefunden hatte. Der letzte Dalaugiri hatte Ubali an der linken Schulter verwundet, so daß mein Freund seinen Schild nicht mehr halten konnte. Mit triumphierendem Schrei sprang der Dalaugiri einige Schritte zurück, hob einen im Sand liegenden Speer auf und wollte ihn auf den ungedeckten Ubali schleudern.
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Doch Ubali reagierte schneller. Sein Dolch flog bereits durch die Luft und bohrte sich in die ungeschützte Kehle seines Gegners. Der Dalaugiri taumelte einen halben Schritt zurück und brach zusammen. Der Speer entfiel seiner Hand. »Gut gemacht, Ubali!« rief ich dem Freund zu. Dann drehte ich mich um und blickte zu Thamai. Doch ich konnte die Frau nicht mehr sehen. Zwischen ihr und mir flimmerte die Luft, und der Sandboden schien sich allmählich aufzulösen. Ich fühlte mich plötzlich entsetzlich müde. Langsam ließ ich mich zu Boden sinken – und wunderte mich schon nicht mehr darüber, daß der Boden nicht mehr aus Sand, sondern aus nacktem Felsgestein bestand.
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2.
Ich schrak hoch, als etwas mit metallischem Klirren zu Boden fiel. Noch ganz benommen blickte ich auf das Schwert neben mir. Es war mein Schwert, und es mußte mir aus der Hand gefallen sein, während ich geschlafen hatte. Daher also das Klirren! Aber warum hatte ich überhaupt geschlafen? Und weshalb war die Klinge meines Schwertes blutig, wenn ich den Kampf gegen die Dalaugiri nur geträumt hatte? Ein dumpfes Stöhnen veranlaßte mich, den Blick dorthin zu richten, woher es gekommen war. Ich sah den schwarzhäutigen Hünen schlafend oder bewußtlos auf dem kahlen Felsboden einer Höhle liegen, und seine Kleidung war über der linken Schulter blutdurchtränkt. Hatte der Kampf in Wirklichkeit stattgefunden? Aber während des Kampfes hatten wir in einer Sandwüste gestanden, und jetzt saßen oder lagen wir auf dem Boden einer Höhle. Und wo waren die Dalaugiri, die wir getötet hatten? Und wo war Thamai? Ich wandte den Kopf nach der anderen Seite. Dort lag Thamai, den Kopf auf einem angewinkelten Arm und in einer Hand noch ihr Blasrohr, mit dem sie den einen Dalaugiri getötet hatte, als er seinen Speer nach mir schleudern wollte. Thamai atmete ruhig. Sie schlief tatsächlich. Ich erhob mich. Meine Arme waren noch halb gelähmt von den Anstrengungen eines Kampfes, den ich geträumt hatte – oder geträumt zu haben glaubte. 16
Schwerfällig ging ich zu Ubali hinüber, riß die von einem Schwerthieb durchschnittene Kleidung über der linken Schulter weiter auseinander und besah mir die Wunde. Es war nur eine Fleischwunde, etwa zwei Finger tief, einen Finger breit und fünf Finger lang. Sie sah aus, als wäre die Schwertklinge des Dalaugiri nur über die Schulter gezogen worden, oder als hätte Ubali dem Schlag die Kraft genommen, indem er zurückgewichen war und sich gleichzeitig vornübergeneigt hatte. Aber die Wunde mußte behandelt werden. Als ich die Wundränder auseinanderzog, um zu prüfen, ob die Wunde verunreinigt war, erwachte Ubali mit einem grunzenden Laut. Er fuhr zurück, dann erkannte er mich. Ein Lächeln überzog sein Gesicht. »Dragon!« sagte er rauh. Dann wurde sein Gesicht ernst. »Was war los?« fragte er. »Habe ich den Kampf nur geträumt? Aber ich spüre den Schmerz der Wunde. War ich bewußtlos?« »Ich glaube, du hast geschlafen«, antwortete ich. »Doch frage mich nicht, warum. Ich habe auch geschlafen und dachte auch zuerst, ich hätte den Kampf gegen die drei Dalaugiri nur geträumt.« »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, flüsterte Ubali. »Ich denke, Dämonen haben uns verzaubert, so daß wir, während wir schliefen und träumten, gegen die Geister von toten Dalaugiri kämpfen mußten.« »Können Geister ein Schwert führen und Wesen aus Fleisch und Blut verletzen?« fragte ich. »Ich denke, wir haben wirklich gegen wirkliche Dalaugiri gekämpft und sind erst danach in einen tiefen Schlaf versetzt worden.« 17
Ubali schüttelte den Kopf. »Wir kämpfen in einer Sandwüste und erwachen in einer Felsenhöhle. Das kann nur das Werk böser Dämonen gewesen sein, die imstande sind, Wirklichkeit und Traum miteinander zu vermischen.« Sein Gesicht wurde nachdenklich. »Was meinst du, wenn wir im Traum von den Dalaugiri besiegt worden wären, würden wir dann jetzt tot sein?« fragte er. Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Keine Ahnung, Ubali. Ich gestehe, daß ich verwirrt bin. In diesem Höhlenlabyrinth scheinen Kräfte zu wirken, die sich normale Sterbliche nicht erklären können.« Wir blickten beide zu Thamai, als wir aus ihrer Richtung einen tiefen Seufzer hörten. Das Mädchen erwachte und blickte uns aus großen Augen fragend an. Dann entdeckte sie Ubalis blutige Schulter und schrie erschrocken auf. Benommen stand sie auf und wankte zu uns. Neben dem Schwarzen sank sie in die Knie. Ubali grinste. »Keine Sorge, Mädchen, ich lebe noch«, erklärte er beruhigend. »Und ich werde die kleine Verletzung verwinden.« »Deine Wunde muß behandelt werden«, stellte Thamai nach kurzer Untersuchung fest. Sie brachte von irgendwoher einen kleinen Beutel hervor und schüttete ein graublaues Pulver in die Wunde. Ubali biß die Zähne zusammen. Wahrscheinlich brannten die pulverisierten Kräuter – oder was immer es war. »Dein Hemd scheint sauber zu sein, Dragon«, sagte Thamai zu mir. »Reiße es in Streifen, die ich als Verband verwenden kann.« 18
Ich gehorchte, und bald hatte Thamai die Schulterwunde verbunden und bandagiert. »Danke, Mädchen!« sagte Ubali. »Aber jetzt möchte ich wissen, ob wir gegen Geister oder Menschen aus Fleisch und Blut gekämpft haben!« Er hängte sich seinen Schild über die Schulter, nahm sein Schwert, das neben ihm auf dem Boden gelegen hatte, in die rechte Hand und blickte sich suchend um. Die Höhle, in der wir uns befanden, glich einer kleinen Halle, und sie hatte insgesamt acht Öffnungen, die ein Mensch mühelos durchschreiten konnte. Wir hätten lange raten können, aus welcher Öffnung wir in die Höhle gelangt waren, wären da nicht die dunklen Flecken halbgetrockneten Blutes gewesen, die zu einer der Öffnungen führten. Es war Ubalis Blut, das auf den Boden getropft war, als er mit uns in die Höhle gegangen war. Wir traten zu der Öffnung – und sahen einen toten Dalaugiri, der mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken lag und aus gebrochenen Augen an die Decke des Höhlengangs starrte. Neben seiner rechten Hand lag noch der Wurfspeer – und in seiner Kehle steckte Ubalis Dolch. Ubali bückte sich und zog seinen Dolch heraus. Er wischte die Klinge sorgfältig an der Kleidung des Toten ab, dann schob er die Waffe hinter seinen Gürtel. Ich drang ein Stück weiter in den Gang ein und blickte mich suchend um, aber es gab offenbar nur den einen Toten hier. Ich kehrte um und suchte die anderen Höhlengänge ab. Im vierten Gang fand ich tatsächlich den Krieger, den ich getötet hatte. Neben ihm lag noch sein zweigeteilter Schild – und wenige Schritte hinter ihm lag ein weiterer 19
Dalaugiri, in dessen Hals noch der gefiederte Giftpfeil Thamais steckte. Ich zog den kurzen Blasrohrpfeil heraus, wischte ihn ab und reichte ihn der Frau, dann erklärte ich: »Die Götter allein wissen, wie es möglich war, daß ich, während ich kämpfte, Ubali mit einem anderen Dalaugiri kämpfen sah, obwohl sein Kampf doch in einem anderen Höhlengang stattfand.« »Zauberei!« warf Ubali ein. Ich nickte bedächtig. »Ja, in diesem Labyrinth aus Höhlengängen scheint ein Zauber zu herrschen; vielleicht liegt über ihm auch der Fluch der Götter. Aber wir haben den Kampf überlebt, und ich bin zuversichtlich, daß wir auch die anderen Gefahren meistern werden, die uns noch erwarten.« Ich runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber noch immer weiß ich nicht, wer ich bin«, sagte ich. »Zwar kenne ich jetzt meinen Namen und eure Namen und weiß, daß wir, Ubali und ich, alte Kampfgefährten sind, aber woher wir kamen ...« »Von jenseits des Weltentors kamen wir auf Danilas Welt«, erklärte Ubali. »Und was liegt auf der anderen Seite des Weltentors – dort, woher wir kamen?« fragte ich. Der schwarzhäutige Hüne zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, Dragon«, antwortete er. »Und wer war dieser Akkeron, den ich besiegt haben soll?« forschte ich weiter. »Auch das weiß ich nicht«, gab Ubali zu. »Die Dämonen dieses Zauberlabyrinths haben meinen Geist verwirrt.« »Dann müssen wir zusehen, daß wir die Dämonen finden und von ihnen unsere Erinnerungen zurückfordern!« erklärte ich grimmig. 20
Eingedenk der Erfahrung, die ich mit meinem Amulett bereits gemacht hatte, trat ich nacheinander durch die Öffnungen, die wir bisher noch nicht berührt hatten. Erst bei der letzten Öffnung glühte mein Amulett pulsierend auf. Die Götter gaben uns wieder ein Zeichen. Auch dieser Höhlengang war, wie alle anderen, die wir bisher in dem Labyrinth gefunden hatten, von einem düsteren Leuchten erhellt, dessen Ursprung sich nicht erkennen ließ. In seinem Schein sahen wir, daß die Wände glatt und fugenlos waren, als wären sie früher einmal an ihrer Oberfläche geschmolzen und wieder erstarrt. Als wir ungefähr hundertfünfzig Schritt weit in den Gang eingedrungen waren, zog Ubali hörbar die Luft durch die Nase und sagte: »Ich rieche Wasser! Irgendwo vor uns muß sich eine größere Wassermenge befinden.« Ich schnüffelte ebenfalls. Doch ich konnte nichts riechen. Ubali besaß eben die bessere Nase. Nach einigen weiteren Schritten nahm ich den Geruch von Wasser jedoch ebenfalls wahr. Wir blieben stehen und lauschten. »Nichts zu hören«, meinte Ubali nach einer Weile. »Es kann sich also nicht um fließendes Wasser handeln.« »Vielleicht ist es ein unterirdischer See«, warf Thamai ein. Ihre Vermutung bestätigte sich, nachdem wir einen schneckenförmig gewundenen Gang abwärts gegangen waren. Plötzlich standen wir am Eingang einer Felsenhalle, die mindestens tausend Schritt durchmaß und etwa dreihundert Fuß hoch war. Den Boden der Felsenhalle nahm der Wasserspiegel eines Sees ein. Das Wasser war völlig unbewegt und so klar, daß wir die weißen Kiesel des Grundes sehen 21
konnten. Weder ein Zufluß noch ein Abfluß ließ sich erkennen. In der Halle war es heller als in den Höhlengängen. Deshalb erblickten wir sofort nach unserem Eintritt die weißgelbe wolkenähnliche Masse, die unter der Hallendecke hing. Die Masse bewegte sich ruhelos. Sie schien aus einem mit Erdgas durchsetzten Nebel zu bestehen. Während wir hinschauten, löste sich der Nebel allmählich auf. Über ihm kam die Hallendecke zum Vorschein, die bisher unseren Blicken verborgen gewesen war. »Was ist das?« flüsterte Thamai. Ich hatte das Phänomen ebenfalls erkannt. Die Hallendecke schien aus einer glatten spiegelnden Fläche zu bestehen, was den Eindruck hervorrief, als befände sich dort oben ebenfalls ein See. In Wirklichkeit aber handelte es sich nur um das Spiegelbild des unterirdischen Sees. Und noch ein Phänomen machte sich bemerkbar. Dadurch, daß der See ebenfalls völlig glatt war, wirkte seine Oberfläche auch wie ein riesiger Spiegel und bildete sein eigenes Spiegelbild ab, das an der Hallendecke entstand. Und die Hallendecke bildete wiederum das Spiegelbild ihres Spiegelbildes ab. Es war ein Anblick, der die Sinne verwirrte und den Eindruck hervorrief, als schwebte man körperlos inmitten einer Unendlichkeit aus lauter Spiegelbildern, unter denen sich das Original vollendet verbarg. »Wir sollten umkehren!« sagte Ubali. »Ich spüre, wie ein Dämon von mir Besitz ergreifen will.« »Wir dürfen uns nur nicht verwirren lassen«, entgegnete ich. »Das Phänomen läßt sich leicht erklären und ...« 22
Der Rest des Satzes blieb mir in der Kehle stecken, als die Wände der Halle zurückwichen und die spiegelnde Fläche des Sees und die ebenfalls spiegelnde Hallendecke verschwanden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Plötzlich standen wir auf einer weiten, verwüsteten Ebene, die alle Zeichen eines wütenden Tobens der Elemente aufwies. Ausgerissene Bäume reckten ihre Wurzeln wie anklagend in den Himmel, zertrampelter Rasen wechselte mit Stellen ab, an denen Feuersbrünste gewütet haben mußten, und überall lagen die entstellten Leichen von Dalaugiri-Kriegern und ihren Reittieren herum. Dennoch weckte der Anblick keine Niedergeschlagenheit, denn der Himmel strahlte in einem herrlichen Blau, ein milder Wind strich über das Land, und ein wunderbares Singen und Klingen erfüllte die von Düften geschwängerte Luft. Und die Erinnerung drang wie das Wasser einer klaren Quelle aus einem verborgenen Winkel meiner Seele und erfüllte mich mit seltsamer Klarheit ...« Ich wußte, wir befanden uns in Vitus ehemaligen Reich, das der Garten des Lebens genannt worden war – und die Verwüstungen waren durch die erbitterten Kämpfe zwischen Akkerons Dalaugiri-Heer und Vitus Streitmacht sowie durch den Kampf zwischen Akkeron und mir entstanden. Als ich mich umblickte, sah ich den Leichnam Akkerons und in seiner Nähe den toten Dalaugiri, der mich hatte ermorden wollen, während ich bewußtlos über dem toten Akkeron lag. Ubali, Thamai und ich blickten uns an. Wir wußten nicht, was wir tun sollten. Nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Die tobenden Elemente 23
selbst schienen alle Menschen, Tiere und Pflanzen vernichtet zu haben, die sich nicht gegenseitig umgebracht hatten. »Danke für den Trank, der mir meine Kraft wiedergegeben hat, Thamai«, sagte ich zu Ubalis Freundin. »Bitte, Dragon«, erwiderte Thamai. Sie wirkte geistesabwesend. Ubali räusperte sich und meinte: »Wir können nicht bis in alle Ewigkeit hier stehenbleiben. Irgendwohin müssen wir gehen.« »Aber wohin sollen wir uns wenden?« fragte Thamai. »Wir haben unsere Aufgabe erfüllt und schulden Danilas Welt nichts mehr«, erklärte ich. »Aber Vesta, der Herr der Elemente, ist mir noch etwas schuldig. Er hat mir versprochen, mir den Weg zum anderen Weltentor zu weisen, wenn ich den Kampf gegen Akkeron gewinne. Ich habe den Kampf gewonnen. Warum löst Vesta sein Versprechen nicht ein?« Niemand antwortete mir, aber Thamai sagte: »Dort kommt etwas – eine große Wolke!« Ich blickte in die Richtung, in die Thamai deutete und sah tatsächlich eine große weiße Wolke, die langsam nähertrieb, wobei sie einen Teil ihrer Substanz zu einer Art Segel geformt hatte, um den leichten Wind auszunutzen, der über das verwüstete Land wehte. »Aerula-thane«, sagte ich freudig erregt. »Das kann nur Aerula-thane, meine Wanderwolke, sein.« Ich bin es, Dragon! vernahm ich. Es war keine Stimme, die zu mir sprach, es waren die Gedanken der Wanderwolke, die ich direkt aufnahm. Als ich den Blick senkte, sah ich, daß mein Sonnenamulett schwach pulsierend glühte.
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Ich bin froh, daß du das Chaos der Elemente gut überstanden hast, Aerula-thane! dachte ich intensiv. Aber weißt du, was mit Vesta geschehen ist? Ich komme im Auftrag Vestas, antwortete die Wanderwolke. Vesta trug mir auf, euch zur Insel des Namenlosen zu bringen, wo der Herr der Elemente wieder in der Burg residiert, die für so lange Zeit sein Gefängnis war. Ich atmete auf. Vesta hatte uns also doch nicht verlassen, sondern war nur so schnell wie möglich in seine Burg zurückgekehrt, um von dort aus wieder über alle Elemente zu herrschen. Und er hatte Aerula-thane geschickt, um uns zu sich zu holen. Unterdessen war die Wanderwolke herangekommen und senkte sich langsam herab. Sie streckte drei tentakelähnliche Wolkenarme aus, umfaßte Ubali, Thamai und mich und hob uns auf ihren Rücken, wo sie eine sichere und bequeme Mulde geformt hatte. Danach stieg sie schnell wieder empor, bereitete erneut ihre Wolkensegel aus und ließ sich vom Wind in westliche Richtung treiben. Dankbar stellte ich fest, daß Vesta über Aerula, den Luftgeist, unsere Reise begünstigte, indem er den Wind, der anfangs aus Westen geblasen hatte, aus Osten wehen ließ, also in die Richtung, in die wir fliegen mußten, wenn wir zur Insel des Namenlosen gelangen wollten. Auf dem Rücken Aerula-thanes fühlte ich mich sicher und geborgen. In der Mulde war es fast gänzlich windstill, und die wärmenden Strahlen der Sonne machten mich schläfrig. Ich merkte noch, daß Ubali und Thamai bereits schliefen, dann versank auch ich in einen tiefen Schlummer. 25
3.
Als ich erwachte, stand die Sonne nicht mehr über uns, sondern leuchtete als gelbe Scheibe durch einen Teil des Körpers der Wanderwolke. Wir mußten schon eine weite Strecke zurückgelegt haben, denn am Heulen des Windes, der Aerula-thanes Wolkensegel mächtig blähte, merkte ich, daß wir mit hoher Geschwindigkeit flogen. Ubali und Thamai schliefen noch immer. Thamai hatte sich im Schlaf an Ubalis breite Brust gekuschelt, und er hatte einen Arm um ihre Hüfte gelegt. Wir überfliegen gerade die Meerenge zwischen dem Ostkontinent und der Insel des Namenlosen! teilte mir die Wanderwolke mit. Danke, Aerula-thane! gab ich zurück. Dennoch plagte mich die Neugier. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wo wir uns befanden. Deshalb kroch ich auf Händen und Knien vorsichtig zum Rand der Wanderwolke und streckte den Kopf darüber. Unwillkürlich krallte ich mich mit den Händen in die Wolkensubstanz, als ein heftiger Windstoß mich von hinten traf und mir den Umhang über den Kopf schleuderte. Das Gefühl, hilflos in die Tiefe zu stürzen, verschwand aber schnell wieder. Ich wußte, daß Aerula-thane mich festhielt. Tief unter mir erblickte ich die metallisch schimmernde Oberfläche des Meeres. Die Wellen erschienen aus dieser großen Höhe wie erstarrt, aber der Augenschein täuschte. 26
Doch das interessierte mich nur einen Moment, dann erspähte ich voraus die Küste der Insel des Namenlosen und das dahinter liegende Land. Nichts erinnerte mehr daran, daß hier noch vor kurzem die Zone des Wilden Wassers getobt hatte, die Aerula-thane und mir gigantische Fontänen entgegengeschickt und uns fast zum Absturz gebracht hatte. Dennoch konnte ich ein Gefühl der Beklemmung nicht ganz unterdrücken, als wir die ehemalige erste Sperrzone überflogen. Dahinter tauchte die ehemalige Zone der Waberlohe auf, deren himmelhohe Flammenwand die Wanderwolke und mich beinahe verschlungen hätte. Auch hier herrschte Ruhe und Frieden. Nur erstarrte Lava, ausgeglühte Schlackenhalden und poröses Felsgestein erinnerten daran, welche infernalischen Gewalten einst hier getobt hatten. Der breite Gürtel flachen, hauptsächlich grasbewachsenen Landes dahinter sah dagegen genauso aus, wie bei unserem ersten Anflug. Auch damals hatte die ehemalige Sperrzone der Wilden Erde ausnehmend harmlos und friedlich gewirkt – nur war sie alles andere als harmlos und friedlich gewesen. Ich erinnerte mich noch recht gut daran, daß der Kampf gegen Erthus Gewalten Aerula-thane fast zu Tode erschöpft hatte. Mit letzter Kraft und mit der Hilfe von Aerulas Innerem hatten wir uns auf den dahinter liegenden ringförmigen Gebirgszug retten können, und als ich von diesem neutralen Gebiet aus ins Innere der Insel aufbrach, hatte ich meine Wanderwolke zurücklassen müssen. Ein Ruf riß mich aus meinen Gedanken. »Dragon!« Es war Ubali, der gerufen hatte. 27
»Ich komme!« rief ich zurück. Langsam kroch ich zurück und ließ mich in die Mulde auf Aerula-thanes Rücken gleiten. Ubali und Thamai waren beide wach und blickten mir fragend entgegen. »Wir haben die Insel des Namenlosen erreicht«, teilte ich meinen Gefährten mit. »Sobald wir das Gebirge überflogen haben, können wir Vestas Burg sehen.« Ubali und Thamai schauten mich fragend an. »Was wollt ihr noch wissen?« erkundigte ich mich. »Wir haben beide das Gefühl, als hätten wir das schon einmal erlebt, Dragon«, antwortete Thamai. »Das macht mir Angst.« Ich runzelte die Stirn. Seltsam, nachdem Thamai das gesagt hatte, kam es mir ebenfalls so vor, als hätte ich das alles schon einmal erlebt. »Das ist unmöglich«, erklärte ich schroffer, als ich beabsichtigt hatte. »Wir bilden uns nur etwas ein.« »Du auch?« fragte Ubali ernst. »Du hast das gleiche Gefühl, Dragon?« »Ja, aber erst, seit Thamai es erwähnte«, erwiderte ich. »Doch das gibt es nicht. Um etwas zweimal erleben zu können, müßte man die Zeit zurückdrehen, und das geht nicht.« Ich hätte noch mehr zu diesem Thema sagen können, denn ich wußte seit langem fast alles wieder, was ich vor dem Untergang von Atlantis erlebt und erfahren hatte. Unsere Wissenschaftler hatten das Phänomen Zeit in allen seinen Aspekten gründlich erforscht, und ich hatte mir eine Menge Wissen darüber angeeignet. Aber wie sollte ich einem ehemaligen Barbaren diese ausgeklügelten Hypothesen und Theorien erklären! 28
»Es gibt nichts, was die Götter nicht können«, entgegnete Ubali beharrlich. Ich zuckte mit den Schultern. Gegen diese Auffassung ließ sich nicht argumentieren – nicht, wenn den Gesprächspartnern die dazu erforderlichen Grundkenntnisse fehlten. Außerdem ließ mich das Gefühl nicht los, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Deshalb war ich froh, als mir etwas einfiel, mit dem ich mich von den düsteren Gedanken und Ahnungen ablenken konnte. Als ich damals das Land zwischen dem ringförmigen Gebirgszug und der Burg des Namenlosen durchquerte, war ich auf die Vitu-kerri, die Wächter des Lebensgeistes gestoßen, die einstmals dort angesiedelt worden waren, um ungebetene Eindringlinge von der Burg fernzuhalten. Die Vitu-kerri waren tot. Sie waren, da sie allesamt die normale menschliche Lebensspanne weit überschritten hatten, nach Vestas Befreiung zu Staub zerfallen. Aber sie waren nicht die einzigen Bewohner dieses Gebiets gewesen. Mit ihnen hatten die Labris dort gelebt, pygmäengroße, aufrechtgehende Affen mit rostrotem Fell, großen Augen, starken Ringelschwänzen und beinahe menschlichen Gebissen. Diese Affen hatten den Vitu-kerri gedient und ihnen praktisch alle körperlichen Arbeiten abgenommen – und sie waren geboren worden und gestorben, ohne ihre normale Lebensspanne zu überschreiten. Ich hielt es für sicher, daß sie ausnahmslos die Befreiung Vestas überlebt hatten – bis auf die, die sich während meiner Flucht vor den Vitu-kerri für mich geopfert hatten, indem sie sich auf die Verfolger stürzten. 29
Es interessierte mich, wie es den Labris ging und wie sich ihr Leben ohne ihre Herren gestaltet hatte oder gestalten würde. Deshalb bat ich Aerula-thane, bei der nächsten Vitu-kerri-Burg zu landen, damit ich nach den Labris schauen konnte. Vesta sagte voraus, daß du mich darum bitten würdest, antwortete Aerula-thane. Ich werde euch im Hof von Fennarks Burg absetzen. Danke, Aerula-thane! erwiderte ich. Beinahe übergangslos wurde es dunkel. Ich erschrak im ersten Moment, denn meiner Meinung nach hatte die Sonne noch vor kurzem zu hoch über dem Horizont gestanden, als daß es jetzt schon dunkel sein konnte. Von meinem Platz aus konnte ich allerdings nicht erkennen, ob die Dunkelheit vielleicht auf eine Sonnenfinsternis zurückzuführen war. Deshalb wandte ich mich an die Wanderwolke und fragte: Warum ist es schon dunkel, Aerula-thane? Als ich keine Antwort erhielt, wurde ich ernstlich besorgt. Warum antwortest du nicht? fragte ich. Doch auch darauf bekam ich keine Antwort. »Was ist los, Dragon?« fragte Ubali. Ich hörte nur seine Stimme; sehen konnte ich wegen der völligen Finsternis weder ihn noch Thamai. »Ich weiß es nicht, Ubali«, gab ich zurück. »Warum fragst du nicht deine Wanderwolke?« kam Thamais Stimme aus der Dunkelheit. »Ich habe sie gefragt, aber sie antwortet nicht«, erwiderte ich. 30
»Wahrscheinlich haben die Mächte der Finsternis uns mit Blindheit geschlagen«, meinte Ubali. »Ich sehe überhaupt nichts. So dunkel darf es gar nicht sein.« »Dann müßten sie Aerula-thane mit gedanklicher Stummheit und Taubheit geschlagen haben«, entgegnete ich. »Ich fürchte mich«, flüsterte Thamai. »Sei ganz ruhig, Mädchen«, hörte ich Ubali sagen. »Ich bin ja bei dir, und ich werde dich vor den Mächten der Finsternis schützen – und vor allen Dämonen, die es auf dieser Welt gibt.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. Vielleicht hatte auch mein schwarzhäutiger Freund etwas Furcht empfunden, aber durch die Schutzbedürftigkeit Thamais hatte er sein Selbstvertrauen zurückgewonnen. Ich selbst verspürte seltsamerweise keine Furcht, sondern nur angespannte Erwartung – und ich vertraute meiner Wanderwolke, obwohl zwischen uns keine gedankliche Verbindung mehr herrschte. Nach einer Weile spürte ich an dem veränderten Geräusch des Fahrtwinds, daß Aerula-thane schnell tiefer sank – und plötzlich schimmerte Licht durch die Wolkenstruktur. Es war kein ruhiges stetiges Leuchten, sondern ein unruhig flackerndes, aber es war wenigstens ein Licht in der Finsternis. Doch kurz darauf erlosch das Licht wieder. Vielleicht wurde es, weil Aerula-thane tiefergegangen war, durch etwas verdeckt. Gleichzeitig fühlte ich, daß die Wanderwolke nicht mehr sank, sondern in gerader Linie vorwärts flog. Kannst du meine Gedanken nicht empfangen, Aerula-thane? fragte ich. Wieder blieb die Antwort aus. 31
Die Wanderwolke stieg wieder etwas an. Es war eher ein Hopser, den sie tat – und wieder erschien das Licht. Diesmal erkannte ich eindeutig, daß es sich um ein Feuer handeln mußte – und ich wurde daran erinnert, wie ich bei meiner Ankunft in Fennarks Burg Zeuge der Selbstverbrennung Femurs auf einem riesigen Scheiterhaufen wurde. Hatten die Labris diesen unseligen Brauch etwa von ihren ausgestorbenen Herren übernommen? Wieder sank Aerula-thane tiefer. Plötzlich hörte ich laute Rufe, aber bevor ich mich darauf konzentrieren konnte, etwas von den Rufen zu verstehen, fühlte ich mich von einem Wolkenarm Aerula-thanes gepackt und auf festem Boden abgesetzt. Ungefähr fünfzig Schritt vor mir loderte ein mächtiges Feuer und beleuchtete eine Szenerie, die mir den Atem verschlug ... Das war nicht Fennarks Burg; dennoch stand ich im Innenhof einer gewaltigen Burg. Zahlreiche schwarzhäutige Gestalten, die Körper und Gesicht mit bunten Farben bemalt und Speere und Schwerter in den Händen, tanzten beim dumpfen rhythmischen Klang von Trommeln um das Feuer. Einen Herzschlag später bildeten sie eine Reihe, die in schlangengleichen Windungen auf mich zukam. Auf uns zukam, denn Ubali und Thamai standen neben mir. Verwundert bemerkte ich, daß Ubalis Gesicht Freude ausstrahlte – und plötzlich wußte ich, daß er allen Grund dazu hatte, denn er hatte mit meiner Hilfe im Land der Schwarzen Menschen ein Königreich errichtet und war, nachdem er Thamai, die Prinzessin des benachbarten Königreiches, zu seiner Gemahlin gemacht hatte, in sei32
ne Residenz zurückgekehrt, um hier ein Freudenfest zu veranstalten, das sieben Tage und Nächte dauern sollte. Wie hatte ich das nur vergessen können! Die Krieger lösten ihre Reihe auf und formierten sich zu einem Halbkreis um Ubali, Thamai und mich. Dann schlugen sie, während sie im Takt der Trommeln mit den nackten Füßen auf den steinharten Lehmboden stampften, mit den Schwertern gegen ihre Schilde und stießen Begrüßungsrufe aus. Ich blickte wieder zu Ubali, der über seinem buntbestickten, enganliegenden Gewand einen kostbaren Schulterumhang aus dem Fell des Schwarzen Panthers trug. In der rechten Hand hielt Ubali einen vergoldeten Königsstab aus Elfenbein und in der linken Hand einen Wedel aus Elefantenhaar. Als er den Stab hob, standen seine Krieger schlagartig ruhig und schwiegen. Es waren die Krieger seiner Leibwache, alles hochgewachsene muskulöse Gestalten, die mit gefleckten Leopardenfellen bekleidet waren. In dem Halbkreis bildete sich eine Lücke, und durch sie schritten die Männer, die König Ubali zu seinen Vertrauten und Beratern gemacht hatte. Vor Ubali warfen sie sich auf den Boden, um damit ihre Gefolgstreue zu bekunden. »Steht auf!« befahl Ubali. »Seht her!« Die Berater gehorchten. Ubali deutete auf Thamai und verkündete: »Dies ist meine Gattin, Prinzessin Thamai, mit der zusammen ich ein neues Geschlecht von mächtigen Königen begründen werde. Ihre Ehre ist auch meine Ehre, ihre Freude ist auch meine Freude – und unsere Heirat soll für euch alle Grund sein, ein Fest zu feiern, wie es zuvor noch nie begangen worden ist. Laßt uns gemeinsam feiern und fröhlich sein – und nun fangt an!« 33
Die Berater erhoben sich, und ihr Sprecher sagte feierlich: »Willkommen, Königin Thamai, in der Burg unseres Herrn – und willkommen, König Ubali, bei deinen ergebenen Dienern!« Er wandte sich um, hob die Arme und rief laut: »Das Fest soll beginnen!« Ein vielstimmiger Jubelschrei erhob sich und hallte von den hohen Mauern des Palastes wider, dann setzten abermals die Trommeln ein, steigerten sich zu einem ekstatischen Wirbel und begleiteten die Freuden-Schreie und das Stampfen der zahllosen nackten Füße. Sklavinnen eilten herbei und brachten der Königin, dem König und mir mit Edelsteinen geschmückte Weinkelche. Nachdem der Vorkoster aus jedem Kelch einen Schluck getrunken hatte, wurden die Kelche uns gereicht. Ich wandte mich Thamai und Ubali zu, hob den Kelch und rief laut, um den Lärm des Festes zu übertönen: »Auf das Wohl des Königspaares! Möge das Glück euch immer lächeln und auf allen Wegen begleiten, mögen Gesundheit, Tatkraft und Güte euch treu sein – und mögen viele gesunde Söhne und Töchter aus eurer Verbindung hervorgehen.« Ich setzte den Kelch an die Lippen und trank einen großen Schluck von dem vortrefflichen Wein, der rot war wie Blut und feurig wie glühende Lava. Nachdem ich getrunken hatte, hob Ubali seinen Kelch und rief: »Danke, Freund Dragon! Thamai und ich werden niemals vergessen, daß wir unser Glück in erster Linie dir zu verdanken haben und daß du es warst, der mir treu zur Seite stand und entscheidend geholfen hat, dieses Königreich zu gewinnen.« 34
Auch er trank einen großen Schluck. Thamai kam zu mir herüber, gab mir einen Kuß auf die Wange und sagte: »Danke, Dragon, du bist ein echter Freund.« Sie trank ebenfalls, dann begab sie sich wieder an die Seite ihres Gatten, und ich schlenderte hinüber zum Feuer, um die Krieger zu begrüßen, mit denen ich Seite an Seite gekämpft hatte. Ich tauschte so manchen Gruß, trank so manchen Becher Wein und labte mich an knusprigen Bratenstücken, die man mir reichte, während die Menschen ringsum in einen wahren Freudentaumel gerieten. Die Szene wurde von den Männern beherrscht, die Frauen und Mädchen dagegen hielten sich meist im Hintergrund auf, tranken statt schweren Weines helles perlendes Bier und naschten süßere Leckereien. Später tanzten bronzehäutige Sklavinnen einen feurigen Tanz, der die Augen der Krieger zum Leuchten brachte. Mir fiel besonders eine Sklavin auf, die etwas größer war als die anderen und nicht nur eine wahrhaft göttinnengleiche Figur besaß, sondern auch ein liebreizendes Gesicht und schwarze glänzende Augen. Als sie einen Solotanz vorführte, folgte ich wie gebannt ihren geschmeidigen Bewegungen. Jemand stieß mir einen Ellenbogen in die Seite, und als ich mich unwillig umwandte, blickte ich in Ubalis schweißglänzendes Gesicht. »Sie gefällt dir, mein Freund«, stellte er fest. »Chahira ist auch keine gewöhnliche Sklavin, sondern eine Königstochter.« »Und du hälst sie als Sklavin?« fragte ich. Ubali grinste verschmitzt. 35
»Ich hatte bisher keine Zeit, mich um Chahira zu kümmern, sonst hätte ich ihr längst erklärt, daß sie frei ist. Willst du es ihr nicht sagen, Dragon?« »Nichts würde ich lieber tun, Ubali«, antwortete ich. »Gleich, wenn ihr Tanz beendet ist, werde ich es ihr sagen.« Ubali zwinkerte mir vertraulich zu. »Viel Spaß!« sagte er, dann tauchte er wieder in der Menge unter. Als der Tanz beendet war und Chahira sich mit den anderen Mädchen zurückziehen wollte, vertrat ich ihr den Weg und fragte: »Darf ich Euch sprechen, Prinzessin Chahira?« Der Unmut, der sich zuerst auf Chahiras Gesicht gezeigt hatte, wich einem Ausdruck des Staunens. »Ich bin nur eine Sklavin, Herr«, sagte sie. »Ihr braucht mich um nichts zu bitten, sondern könnt mir befehlen – und ich muß gehorchen.« Ich schüttelte den Kopf, dann sagte ich lächelnd: »Ihr seid keine Sklavin mehr, Prinzessin Chahira. König Ubali hat mich gebeten, Euch mitzuteilen, daß Ihr frei seid.« »Frei?« fragte Chahira. Dann begriff sie, und Freudentränen schossen ihr in die Augen. Sie schwankte und wäre umgefallen, wenn ich sie nicht festgehalten hätte. Mir wurde seltsam zumute, als ich sie an mich preßte und sich ihr Kopf an meine Schulter lehnte, so daß ich betörenden Duft ihres Haares atmete. Im nächsten Moment fand sie ihre Fassung wieder und stieß mich heftig zurück.
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»Ich glaube dir nicht!« sagte sie. »Das ist nur ein Trick, um etwas zu erreichen, das ich sonst freiwillig niemals geben würde.« Ich blickte sie unverwandt an. »Sehe ich aus, als würde ich schmutzige Tricks anwenden, Prinzessin Chahira? Schaut mich an!« Chahira erwiderte meinen Blick. Eine Weile sahen wir uns gegenseitig an, dann merkte ich, wie sie verlegen wurde. »Verzeiht mir«, bat Chahira leise. »Nein, Ihr seht nicht so aus, als würdet Ihr Euch eine Frau mit schmutzigen Tricks willig machen. Es stimmt also wirklich, daß ich frei bin?« »Ihr habt mein Wort darauf«, erklärte ich ernst. »Und falls Ihr nicht wißt, wer ich bin: mein Name ist Dragon.« »Ich habe von Euch gehört«, sagte Chahira. Und wieder etwas fassungslos: »Ich bin frei! Bei allen Göttern! Ich bin frei!« »Ich freue mich, daß ich Euch diese Mitteilung überbringen konnte«, sagte ich. »Darf ich Euch zu einem Glas Wein einladen, Prinzessin?« Chahira nickte. Ich nahm ihren Arm und führte sie zu einem der wenigen Tische, an denen niedrige Holzstühle standen. Kaum jemand hatte Lust, sich an einen Tisch zu setzen, während überall getanzt und gesungen wurde. So waren wir allein und etwas abseits des Lärmes. Auf meinen Wink eilte eine hellhäutige Sklavin herbei. Ich bestellte einen Krug vom besten Wein und einen Becher; den kostbaren Pokal hielt ich noch immer in der Hand.
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Wir schwiegen, bis die Sklavin das Bestellte gebracht hatte. Dann schenkte ich ein und reichte Chahira meinen Pokal. »Bitte, tut mir den Gefallen und nehmt meinen Pokal«, sagte ich. »Trinken wir auf Eure Freiheit und auf eine baldige Heimkehr!« Wir tranken, dann setzten wir die Trinkgefäße ab und blickten uns an. Nach einer Weile sagte Chahira: »Ich bin frei, aber ob ich jemals wieder heimkehren werde, das wissen nur die Götter.« »Warum zweifelt Ihr?« erkundigte ich mich. »König Ubali wird Euch sicher eine Eskorte stellen, die Euch nach Hause geleiten wird. Er ist ein großherziger Mann.« »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Chahira. »Aber meine Heimat befindet sich nicht auf dieser Welt. Die Krieger, die mich raubten, brachten mich auf Befehl ihres Anführers durch ein Weltentor. Später wurden sie im Kampf mit Kriegern König Ubalis getötet, und ich wurde hierher gebracht.« »Durch ein Weltentor?« fragte ich stirnrunzelnd. Die Bezeichnung »Weltentor« erzeugte einen seltsamen Widerhall in mir, den ich mir nicht zu erklären vermochte. Ich gewann den unbestimmten Eindruck, als hätte ich schon einmal von einem Weltentor gehört, aber ich konnte mich nicht konkret erinnern. »Ja«, antwortete Chahira. »Durch eine schimmernde Erscheinung, die anscheinend unbeständig ist, denn sie beeilten sich sehr, hindurchzukommen.« »Ich werde versuchen, Euch zu helfen, Prinzessin«, erklärte ich. »König Ubali weiß vielleicht etwas von diesem Weltentor, denn er wußte auch, daß Ihr eine Königstochter seid. Ich frage ihn nachher.« 38
»Ich danke Euch, Dragon«, erwiderte Chahira. »Ihr seid so gut. Aber nennt mich nicht länger Prinzessin. Wollt Ihr mich Chahira nennen und Du zu mir sagen?« »Gern«, antwortete ich. »Ich fühle mich geehrt, Chahira. Doch dann mußt auch du Du zu mir sagen.« Chahira blickte mich mit ihren strahlenden Augen an, dann sagte sie: »Ich liebe dich, Dragon!« Ich brauchte eine Weile, um meine Überraschung zu überwinden und zu begreifen, was Chahira da zu mir gesagt hatte. »So etwas sagt man nicht einfach so dahin«, erklärte ich behutsam. »Vielleicht magst du mich, aber kannst du, nach so kurzer Bekanntschaft, denn schon sagen, ob du mich wirklich liebst?« »Ich bin ganz sicher, daß ich dich liebe, Dragon«, erwiderte Chahira. »Du bist der Inbegriff all dessen, wonach ich mich unbewußt schon immer gesehnt habe. Wenn du mich nicht abstoßend findest, dann laß mich dir meine Liebe beweisen.« Ich schwankte innerlich und hatte mich gerade entschlossen, Chahiras Angebot mit der gebotenen Höflichkeit und Behutsamkeit zurückzuweisen, weil mir alles einfach zu schnell ging, als Ubali an unseren Tisch trat. Mein schwarzer Freund wirkte atemlos, als er fragte: »Dragon, hast du Thamai gesehen?« »Nicht, seit wir den Willkommenstrunk entgegennahmen«, antwortete ich und musterte das Gesicht Ubalis forschend. »Was ist los?« »Sie ist spurlos verschwunden, Dragon!« stieß Ubali aufgeregt hervor. »Niemand kann mir sagen, wo sie geblieben ist.« Ich erhob mich und legte dem Freund die Hände auf die Schultern. 39
»Niemals würde deine Thamai dich verlassen, Ubali«, erklärte ich beruhigend. »Thamai wird sich mit einigen Frauen angefreundet und sich mit ihnen zurückgezogen haben. Wann hast du sie zuletzt gesehen?« »Kurz bevor ich mit dir zuletzt sprach«, antwortete Ubali, ein wenig ruhiger. »Ich verließ sie, als sie sich mit den Frauen meiner Berater unterhielt. Sie sagten mir, Thamai wäre in ihr Zimmer gegangen. Aber dort fand ich sie auch nicht.« Jemand schrie in unserer Nähe. Wir blickten alle gleichzeitig in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war und sahen einen jungen Sklaven auf uns zulaufen. Das Gesicht und die rechte Schulter des Sklaven waren blutüberströmt. Vor Ubali brach der Mann in die Knie. »Vergebung, Herr!« sagte er mit angsterfüllter Stimme. »Ich war zu schwach, die Ungeheuer aufzuhalten. Sie verwundeten mich mit ihren Krallen und flogen dann mit ihr davon.« »Mit ihr?« fragte Ubali tonlos. Abrupt bückte er sich, packte den Mann am gesunden Arm und riß ihn hoch. »Mit wem?« schrie er. »Mit der Königin«, antwortete der Mann, während das Blut auf seinem Gesicht sich mit Tränen mischte. Ubali ließ den Arm des Mannes los, und der Verletzte brach zusammen. Mit wild rollenden Augen starrte mein Freund ins Leere. Ich ergriff seinen linken Unterarm und drückte kräftig zu. Der Schmerz ließ Ubali aufstöhnen, aber auch in die Gegenwart zurückkehren. »Wir müssen die Verfolgung aufnehmen!« sagte ich eindringlich und ließ Ubalis Arm los. 40
Sein Blick wurde wieder klar. »Ja!« sagte er entschlossen. »Das mache ich. Befrage du den Sklaven, Dragon. Wir müssen mehr erfahren.« Ich nickte nur und blickte meinem schwarzen Freund nach, wie er zu einem der Wächter ging, ihm den Gong aus der Hand nahm und mit dem Schwertknauf kräftig dagegen schlug. Augenblicklich verstummte der Festlärm. Ich winkte einem der herumstehenden Sklaven. »Wasser!« sagte ich. »Und jemand soll den Medizinmann holen!« Danach kniete ich neben dem Verletzten nieder. Er war nicht bewußtlos, aber er stand noch unter Schockwirkung. »Nimm dich zusammen!« sagte ich scharf. »Du sagtest, Ungeheuer wären mit der Königin davongeflogen. Wie sahen die Ungeheuer aus?« »Grauenhaft!« flüsterte der Sklave. »Sie waren halb Drachen, halb Schlangen, hatten Köpfe wie große Katzen und Flügel wie Fledermäuse – und ihre Zähne waren die von Vampiren, nur viel, viel größer.« Solche Lebewesen gibt es überhaupt nicht! dachte ich, hütete mich aber, dem Mann zu widersprechen. Unterdessen hatte ein anderer Sklave eine große Kürbisflasche mit Wasser gebracht. Ich nahm sie ihm ab und goß das Wasser über den Kopf und die blutende Schulter des Verletzten. Er holte tief Luft, verzog das Gesicht und seufzte dann. Der Medizinmann, der inzwischen ebenfalls gekommen war, schüttete aus einer kleinen Tonflasche ein grünes Pulver über die Wunden des Sklaven, die eindeutig von großen scharfen Krallen herrührten. »Wie groß waren die Ungeheuer?« fragte ich weiter. 41
»Mindestens so lang wie zwei Männer«, antwortete der Verletzte. »Und sie besaßen riesige Fledermausflügel mit scharfen Krallen.« Er verzerrte das Gesicht, als das grüne Pulver in den Wunden wirkte und offensichtlich brennenden Schmerz erzeugte. Ich stand auf und überließ ihn dem Medizinmann und seinen Künsten. Er hatte gesagt, was er wußte. Es wäre Zeitverschwendung gewesen, länger in ihn zu dringen. Ich sah, daß die Feststimmung verflogen war. Die Krieger sammelten sich in zwei großen Gruppen, eine mit Pferden und eine zu Fuß. Soeben brachen vier kleine Trupps von Kundschaftern auf, ebenfalls auf Pferden. Sie galoppierten durch das Burgtor und würden sich draußen aufteilen, um nach verschiedenen Richtungen auszuschwärmen. Schweigend schwang ich mich in den Sattel. Als ich Ubalis fragenden Blick sah, berichtete ich ihm, was der Verletzte mir noch mitgeteilt hatte. »Riesige Vampire!« stieß Ubali hervor. »So etwas gibt es hier nicht. Bist du sicher, daß sie nicht nur der Phantasie des Sklaven entsprungen sind. Vielleicht wurde Thamai von Menschen geraubt, und der Bursche fürchtet sich, das zu sagen.« Ich schüttelte den Kopf. »Seine Verletzungen stammen eindeutig von großen und scharfen Krallen«, erwiderte ich. »Keine Waffe eines Kriegers kann solche Wunden erzeugen.« »Wenn du es glaubst, glaube ich es auch!« knurrte er. »Wir werden die Ungeheuer aufspüren und mit unseren Pfeilen spicken und alles Leben aus ihnen treiben.« »Wir werden Thamai befreien!« erklärte ich ihm, ohne völlig davon überzeugt zu sein. Die Ungeheuer konnten 42
fliegend weite Strecken zurücklegen und dabei keine Spuren hinterlassen. Die Aussichten, sie aufzuspüren, waren gering. Noch geringer waren die Aussichten, in einem solchen Falle Thamai noch lebend vorzufinden. Dennoch mußten wir alles tun, was in unseren Kräften stand. Wir trieben unsere Tiere an und sprengten zu dem Trupp, der aus zirka dreihundert berittenen Kriegern bestand. Die Männer trugen keine Fackeln, und ich wollte gerade nach dem Grund dafür fragen, als der bislang schwarze Himmel plötzlich graublau aufleuchtete. Die Sonne war aufgegangen. Ich atmete erleichtert auf. Das Licht des Tages würde uns helfen. Ubali hob den rechten Arm und rief einen Befehl, dann wendete er sein Pferd und trieb es auf das große Burgtor zu. Ich blieb an seiner Seite, und hinter uns erklang das Hufgetrappel und Schnaufen der anderen Pferde, als die Berittenen uns folgten. Außerhalb der Burg, die gleich einem gigantischen Steinklotz auf ebenem Land hockte, erstreckte sich weites Steppenland, nur von wenigen halbverdorrten Bäumen durchsetzt. Wir galoppierten durch eine schmale ungepflasterte Straße, die mitten durch eine Ansammlung von niedrigen Lehm- und Steinhäusern führte. Auf zahlreichen Dächern hockten Geier, die, aufgeschreckt durch unseren Lärm, krächzend aufflogen und über uns zu kreisen begannen. Außerhalb der stadtähnlichen Ansiedlung lagen mehrere kleine Dörfer, deren Rundhütten aus Flechtwerk und Lehm bestanden. In dornenumsäumten Korrals standen Rinder; zwischen den Hütten liefen Hühner und Schweine umher. 43
Als wir den Bezirk der Hütten verlassen hatten, hörte auch der Weg auf. Um uns war nur noch die Steppe, am fernen westlichen Horizont reckten sich hinter dem Rand eines Dschungels kalkweiße Felsentürme empor. Ich ließ mein Pferd in einen ausgreifenden Trab zurückfallen, wandte mich an Ubali und sagte, zu den Felsentürmen deutend: »Ich könnte mir vorstellen, daß solche Felsen die ideale Behausung für geflügelte Ungeheuer wären. Was hältst du davon?« Ubali, der sein Pferd der Gangart meines Reittiers angepaßt hatte, blickte nachdenklich hinüber, dann meinte er: »Sehr viel, Dragon. Die freie Steppe bietet großen Flugwesen keine Deckung, und auch der Dschungel wäre kein guter Aufenthaltsort für sie. Bestimmt nisten sie an erhöhten Plätzen. Warum sollten wir es nicht dort drüben versuchen?« Er wandte sich im Sattel um und rief seinen Kriegern einen Befehl zu. Bald darauf sprengten wir alle in Richtung Westen, während der Sonnenball höher stieg und die Luft sich erwärmte. Die Geier blieben über uns, als hofften sie, es würden bald genug Menschen und Pferde sterben, um ihre Freßgier zu befriedigen. Wir trieben unsere Tiere unermüdlich an, und als wir den Rand des Dschungels erreichten, war ihr Fell schweißnaß. Wir hielten die Tiere an, dann sagte Ubali zu den Kriegern: »Mit den Pferden kämen wir nur schwer durch den Dschungel. Wir gehen zu Fuß weiter. Nur dreißig Mann bleiben bei den Tieren.« 44
Er schwang sich aus dem Sattel, und ich folgte seinem Beispiel. Die Felsentürme waren höchstens noch fünfhundert Schritt von uns entfernt. Sie ragten wie die Gebeine sagenhafter Riesen aus dem Blätterdach des Dschungels, über dem eine dünne Schicht Nebel hing. Wir zogen unsere Schwerter und bahnten uns einen Weg durch das Pflanzenmeer. Nach ungefähr hundert Schritten mußte ich Ubali, der wie ein Berserker in den Lianen und Sträuchern wütete, beinahe gewaltsam zurückhalten, damit wir uns von zwei kräftigen Kriegern ablösen lassen konnten. Die beiden Krieger wurden nach weiteren hundert Schritten wieder von anderen Männern abgelöst und so weiter. Dadurch kamen wir verhältnismäßig rasch voran. Während unseres Weges durch den Dschungel verwehrte uns das dichte Blätterdach jede Sicht nach oben, und auch die Sicht nach vorn betrug nicht mehr als zwei Schritt. Deshalb kam der Durchbruch fast überraschend. Plötzlich fiel helles Licht von vorn zu uns herein, und als wir ins Freie traten, ragten unmittelbar vor uns die Felsentürme empor. Keiner sprach ein Wort. Die Krieger hielten ihre Bögen schußbereit in den Händen und blickten zu dem größten, mittleren Felsenturm, der mindestens sechshundert Fuß hoch war und dicht unterhalb des Gipfels mehrere dunkle Höhlenlöcher aufwies. Und unterhalb der Löcher war der Fels mit grauweißem Kot bepflastert! »Dort oben stecken Sie!« flüsterte Ubali. »Warum nur hat niemand bisher etwas von diesem Unterschlupf gewußt?« 45
Er blickte seine Krieger, die alle aus dieser Gegend stammten, grimmig an. Die meisten senkten ihre Köpfe. Nur einer rang sich zu einer Antwort durch und erklärte: »Diese Felsen gab es gestern noch nicht, mein König. Sie müssen durch Zauberei hierher gekommen sein.« Er griff nach dem Medizinbeutel über seiner Brust und murmelte eine Beschwörung. Ubali holte tief Luft. »Ob durch Zauberei oder nicht, ich steige hinauf!« erklärte er. »Kommst du mit, Dragon?« »Ich komme mit dir«, antwortete ich. »Aber deine Krieger sind im Klettern ungeübt; sie sind Steppenbewohner. Sie sollen hier unten warten.« »Einverstanden«, gab Ubali zurück. Er legte seinen Schild ab. Ich folgte seinem Beispiel und legte zusätzlich meinen Umhang ab, der mich beim Klettern behindert hätte. Nichts rührte sich oben, als wir den Felsen angingen. Entweder verhielten sich die Lebewesen, die dort oben ihre Behausung hatten, still oder sie waren nicht dort. Aber wir mußten selbst nachschauen, um Gewißheit zu erhalten. Ich war geübter im Bergsteigen als mein schwarzer Freund, deshalb hatte ich bald einen Vorsprung gewonnen. Doch auch für mich war es schwierig, an der steilen Wand Halt zu finden. In halber Höhe zog sich eine Felsleiste über die ganze Breite der Wand. Sie ragte höchstens zwei Handspannen hervor und war nur etwa vier Fuß breit, aber sie stellte ein Hindernis dar, das sich ohne Hilfsmittel normalerweise nicht überwinden ließ. 46
Doch Ubali und ich befanden uns nicht in einer normalen Lage und dachten und handelten nicht mehr normal. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, bei denen ich jedesmal fast abgestürzt wäre, hatte Ubali mich eingeholt. Er zwängte einen Fuß in einen schmalen Felsriß, verkrallte sich mit einer Hand in den Rand des Risses und schob mich mit der freien Hand vorwärts. Dadurch gelang es mir, hoch genug zu kommen, um die Oberkante des Gesimses mit den Händen zu erreichen. Indem ich mich über die Felsleiste stemmte, gelang es mir, den Freund mit einer Hand hochzuziehen. Schweratmend hingen wir schließlich beide über dem Gesims und warteten, bis die Feuerräder vor den Augen verschwunden waren. Dann setzten wir unseren Aufstieg fort. Die letzte Strecke vor dem ersten Höhlenloch wurde zur Höllenqual, weil der dort klebende zundertrockene Kot abbröckelte und uns in grauweiße Staubwolken hüllte, die in den Augen brannten und das Atmen erschwerten. Doch auch diese Strecke wurde von uns überwunden. Noch immer hatten sich keine geflügelten Ungeheuer gezeigt, und ich zweifelte allmählich daran, daß wir Thamai und ihre Entführer hier finden würden. Doch der erste Blick in die Höhlung machte alle Zweifel zunichte. Im Ungewissen Licht sahen wir, daß jemand in der Höhle lag. Thamai! Und halb über der reglos daliegenden Menschengestalt hockten zwei gräßliche Ungeheuer mit Katzenköp47
fen, Schlangenleibern, zusammengefalteten Hautflügeln und riesigen Fangzähnen, die sie offenbar gerade in den Körper ihres Opfers schlagen wollten. Dieser Anblick war zuviel für Ubali. Mit einem unmenschlich klingenden Brüllen riß er sein Schwert aus der Scheide und stürzte sich auf die beiden Ungeheuer. Die beiden Wesen wichen im ersten Schreck zurück, dann stürzten sie sich auf den Angreifer. Inzwischen hatte ich ebenfalls mein Schwert gezogen und Ubali eingeholt. Ich führte einen Schlag gegen das erste Ungeheuer. Es reagierte blitzschnell, sonst hätte meine Klinge ihm den Kopf abgetrennt. So verletzte sie nur den linken Flügel. Doch ich setzte schnell nach und trieb das Wesen immer tiefer in die Höhle hinein. Auch Ubali trieb seinen Gegner vor sich her. Die Tiere wären normalerweise auch für uns gefährliche Gegner gewesen, aber die Angst um Thamai und unsere Wut verdoppelten unsere Kräfte und ließen uns rücksichtslos angreifen. Mit miauenden Schreien wichen die monströsen Geschöpfe weiter zurück. Wir drangen an der bewußtlosen Gestalt – es war tatsächlich Thamai! – vorbei und hieben weiter wild auf die Wesen ein. Schon glaubten wir, sie in die Enge getrieben zu haben, als sie sich umwandten und um eine Biegung des Höhlengangs flüchteten. Wir stürmten hinterher, konnten aber nur noch sehen, wie die beiden Geschöpfe in einer weiten Halle ihre Flügel entfalteten und davonflogen. Ich wandte mich Ubali zu. Aber mein Freund war nicht mehr zu sehen, und die Höhlenwände lösten sich allmählich auf. Als ich umkehren wollte, war vor mir nichts mehr, nur Leere. 48
Und im nächsten Augenblick hatte die Leere mich verschlungen ...
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4.
Ein durchdringender Schrei weckte mich. Ich schrak hoch und sah im düsteren Licht eines Höhlengangs Thamai hocken und mit schreckgeweiteten Augen um sich starren. Als ich aufsprang, sah ich, daß die Klinge meines Kurzschwerts mit gelbgrünem Schleim beschmiert war. Ich legte es auf den Boden, eilte zu Thamai und kniete neben ihr nieder. Sanft umfaßte ich mit der Hand ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu mir empor. Dabei merkte ich, daß Ubalis Freundin zitterte. »Beruhige dich!« sagte ich. »Es ist alles in Ordnung.« Nichts ist in Ordnung! sagte mir eine innere Stimme. Plötzlich brachen die Erinnerungen gleich einer sturmgepeitschen Brandungswoge über mich herein. Ich schüttelte den Kopf, fuhr mir mit der Hand über die Augen. Erinnerungen an einen Traum! »Wo sind sie?« fragte Thamai ängstlich. »Wer?« entgegnete ich. »Die Ungeheuer«, flüsterte Thamai. »Sie haben mich aus dem Palast entführt.« Schluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht. »Aus welchem Palast?« fragte ich. »Hier gibt es keinen Palast. Du hast das alles nur geträumt – ich übrigens auch.« Und das Blut an meinem Schwert? Wieder schüttelte ich den Kopf.
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Sollte dieser gelbgrüne Schleim Blut von dem monströsen Geschöpf sein, gegen das ich im Traum gekämpft hatte? Aber es war doch nur ein Traum gewesen! Oder war das hier ein Traum? Waren wir vielleicht tot, von der Leere verschlungen, die sich nach dem Kampf gegen die Ungeheuer um uns aufgetan hatte? Lebten nur unsere Seelen weiter und träumten uns und unsere Umgebung? »Ubali!« sagte Thamai. »Wo ist Ubali?« Ich blickte mich um. Mein schwarzer Freund war nirgends zu sehen. Aber dort, in einer Felsnische, lag sein Schild. Er war also hier gewesen. Aber wo befand er sich jetzt? War er vielleicht noch am Leben, so daß unsere Seelen ihn nicht sehen konnten, weil seine Seele noch in seinem Körper wohnte? »Es ist Wahnsinn!« sagte ich und stöhnte. »Ich weiß nicht mehr, was Traum ist und was Wirklichkeit. Allmählich zweifle ich sogar daran, daß es überhaupt eine Wirklichkeit gibt.« »Ubali!« rief Thamai verzweifelt. Sie sprang auf und wollte fortlaufen. Ich hielt sie fest. »Geh nicht allein fort!« bat ich sie. »Das wäre zu gefährlich. Vielleicht kommen die Ungeheuer zurück, obwohl sie nur Traumgebilde waren. Wir werden Ubali gemeinsam suchen.« »Ja, Dragon«, erwiderte Thamai gehorsam. Ich holte mein Schwert und wischte es mit einem Lappen ab, dann nahm ich Thamai an die Hand und machte mich auf die Suche nach dem Freund. Hinter der ersten Biegung des Höhlengangs blieb ich abrupt stehen. Auf dem Boden lag neben einer Pfütze gelbgrünen Schleimes eine gebogene scharfe Kralle. 51
Das konnte nur bedeuten, daß der Kampf mit den Ungeheuern tatsächlich stattgefunden hatte. Aber er hatte sich in einer geträumten Scheinwelt abgespielt. Wie war das möglich? Der Kampf gegen die drei Dalaugiri fiel mir plötzlich wieder ein. Auch er hatte in einer Scheinwelt stattgefunden und war doch Wirklichkeit gewesen. Wir befanden uns offensichtlich nicht nur in einem Höhlenlabyrinth, sondern auch in einem Labyrinth, in dem sich Träume und Realitäten miteinander vermischten. Thamai erschauderte, als sie die Kralle erblickte. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter, hielt in der rechten Hand das Schwert und führte Thamai um die Schleimlache herum. Thamai! Wer war sie nun wirklich: Ubalis Geliebte auf Danilas Welt oder seine Frau und Königin im Land der Schwarzen Menschen? Ich schüttelte diese Gedanken ab. Das hatte Zeit bis später. Erst mußten wir Ubali finden. Je weiter wir in den Höhlengang eindrangen, desto düsterer wurde das Licht. Die Wände waren schroff, von nahezu senkrechten Rillen durchzogen, und von der Decke fielen in großen Abständen dunkle Tropfen. Sie hatten den Boden im Laufe der Zeit glitschig gemacht. Immer wieder rutschten wir aus, und oft konnte ich Thamai nur mit Mühe vor einem Sturz bewahren. Aber der glitschige Boden erwies sich auch als vorteilhaft für uns. In ihm waren nämlich hier und da undeutliche Abdrücke von Stiefelsohlen zu sehen. Es mußten die Abdrücke von Ubalis Stiefeln sein. Wir befanden uns also auf dem richtigen Weg. Nach einiger Zeit vernahm ich ein schwaches Rauschen. 52
Ich blieb stehen und lauschte. »Was ist los, Dragon?« fragte Thamai. »Wasser!« antwortete ich. »Irgendwo vor uns muß ein Wasserfall sein.« Wir gingen weiter, und das Rauschen wurde immer stärker. Als wir um eine Biegung des Ganges kamen, dröhnte das Rauschen plötzlich sehr laut in unseren Ohren. Wir standen vor einer Öffnung, und dahinter lag eine Schlucht, in die von rechts oben ein etwa fünfzig Schritt breiter und zwanzig Schritt hoher Wasserfall donnerte. Vereinzelt ragten Felsen aus dem Wasser, und unten wirbelten Gischtwolken auf. Ein feiner Schleier aus zerstäubtem Wasser lag über allem und benetzte auch Thamai und mich. Ich bat Thamai, auf mich zu warten, und trat näher an die Schlucht heran. So weit ich blicken konnte, gab es nirgends einen Übergang. Vielleicht ließ sich der reißende Fluß weiter unten durchqueren, dort, wo die Strömung nachgelassen hatte. War Ubali diesen Weg gegangen? Es sah dem Freund gar nicht ähnlich, uns allein zu lassen, während wir schliefen. Plötzlich sah ich rechts vor mir etwas blinken. Ich schaute genauer hin. In mir krampfte sich etwas zusammen, als ich Ubalis Dolch erkannte. Der verzierte Griff war nicht zu verkennen. Ich ging hin und hob die Waffe auf. Während ich noch überlegte, ob ich Thamai etwas von dem Fund verraten sollte oder nicht, stand sie mit einemmal an meiner Seite. »Das ist sein Dolch, nicht wahr?« fragte sie. Ich nickte. 53
Mit halb von Tränen erstickter Stimme sagte Thamai: »Dann ist er tot. Freiwillig würde er seinen Dolch nicht irgendwo liegenlassen.« »Er kann ihn im Kampf verloren haben«, entgegnete ich. »So leicht ist Ubali nicht umzubringen.« Ich war mir meiner Sache jedoch keineswegs sicher. Von dort, wo der Dolch gelegen hatte, bis zur Schlucht mit dem tobenden Wasserfall war es nur ein halber Schritt, und das Gestein war naß und glatt. Wenn der Freund dort hinabgestürzt war, dann kam jede Hilfe für ihn zu spät. Doch das war noch lange kein Grund, aufzugeben. »Wir suchen weiter!« erklärte ich. Das war leichter gesagt als getan. Schließlich konnte ich nicht in den Wasserfall springen, um dort nach Ubalis Überresten zu suchen. War er abgestürzt, dann trieb sein Leichnam schon weit unterhalb im Fluß. Folglich hatte eine Suche nur dann Sinn, wenn ich davon ausging, daß Ubali noch lebte – und das wiederum mußte ich, wenn ich ihn nicht einfach aufgeben wollte. »Wir suchen flußaufwärts«, sagte ich zu Thamai. Das Gelände stieg allmählich an, und bald sahen wir, daß der Fluß weiter oben aus einem breiten Felsentor herausgeschossen kam und dann etwa zweihundert Schritt tiefer abstürzte. »Weiter geht es nicht, Dragon«, sagte Thamai. Das sah ich ebenfalls. Zu beiden Seiten des Wassertors erhoben sich zerklüftete Felswände und versperrten uns den Weg. Dennoch wollte ich noch nicht umkehren. Wieder bat ich Thamai, auf mich zu warten. Ich ging allein die restliche Strecke bis zur diesseitigen Felswand und musterte sie aufmerksam. Irgendwie 54
wurde ich das Gefühl nicht los, als gäbe es einen Weg weiter nach oben und ich sähe ihn nur nicht. Als ich dicht vor der Felswand wieder etwas blinken sah, hielt ich unwillkürlich den Atem an. Ich bemühte mich, Thamai noch nichts von meiner Entdeckung merken zu lassen und ging weiter. Dann erkannte ich, daß es eine Silbermünze war, die dort blinkte. Ich blieb unmittelbar vor ihr stehen, hob sie aber nicht auf. Die Münze trug auf der oberen Seite das Reliefbild einer Burg – Fennarks Burg. Ich konnte mir nicht erklären, wie sie hierhergekommen sein sollte, aber möglicherweise hatte Ubali einige dieser Münzen an sich genommen, als wir nach dem Sieg über Akkeron zur Insel des Namenlosen zurückgekehrt waren. Vielleicht hatte der Traum, in dem Aerula-thane uns zu der Insel geflogen hatte, eine Spur Wahrheit enthalten – jener Wahrheit, die als Erinnerung vorhanden, aber nicht voll zugänglich war. Noch überlegte ich, ob ich die Münze aufheben sollte, als ich ein Geräusch hörte, ein schwaches Klimpern oder Klingeln. Ich faßte mein Schwert fester und lauschte angestrengt. Das Geräusch war anscheinend aus der zerklüfteten Felswand vor mir gekommen. Gab es dort vielleicht einen Spalt, durch den man eindringen konnte? In den tiefen Schrunden lagen Schatten, so daß ich nichts Genaues zu erkennen vermochte. Aber ich brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten. Wieder vernahm ich ein Geräusch, ein Schaben oder Schleifen, dann erschien aus dem Schatten eines Schrun55
des ein Arm. Es war ein dünner und bleicher Arm, der sich ins Freie streckte – und die Hand griff nach dem Silberstück vor mir. Ich griff mit der linken Hand zu, packte den Arm und zog kräftig daran. Jemand schrie, dann taumelte ein kleiner Junge aus dem Schatten des Felsschrundes. »Sei still!« sagte ich. »Niemand tut dir etwas!« Der Junge wurde ruhig und blickte mich mit großen Augen an, dann fragte er mit heller Knabenstimme: »Wer bist du?« Ich lächelte. »Ich heiße Dragon. Und wie heißt du, mein Junge?« »Cheli«, antwortete der Junge. »Bist du ein Freund des schwarzen Dämons?« Mein Herz schlug plötzlich schneller. Mit dem »schwarzen Dämon« konnte der Junge Ubali gemeint haben. »Meinst du den schwarzhäutigen Krieger?« fragte ich. »Wo ist er?« »Meine Leute haben ihn gefangen«, antwortete Cheli stolz. »Mit einem großen Netz.« »Er lebt!« rief Thamai, die beinahe lautlos nähergekommen war. »Warum haben deine Leute ihn gefangen?« »Sie fangen oder töten jeden Fremden, der bis zum Donnernden Wasser kommt«, erklärte Cheli. »Besonders alle verdammten Dalaugiri.« Ich erinnerte mich an die drei Dalaugiri, die wir getötet hatten. Es schien in dem Labyrinth eine Gruppe von Menschen zu geben, die keine Dalaugiri waren, vermutlich Flüchtlinge aus einem Dorf, das von den Dalaugiri-Horden auf ihrem Zug zum Land der Feuerberge überfallen worden war und die sich in dieses Labyrinth 56
verkrochen hatten. Einige Dalaugiri mußten ihnen gefolgt sein. »Der schwarzhäutige Krieger namens Ubali ist weder ein Dämon noch ein Dalaugiri«, erklärte ich dem Jungen. »Im Gegenteil, wir haben gegen die Dalaugiri gekämpft. Er ist nicht euer Feind.« Ich überlegte kurz, dann fragte ich: »Warum bist du allein hierher gekommen, Cheli?« Cheli lächelte verschmitzt. »Ich war dabei, als mein Vater und die anderen Männer deinen Freund gefangen haben, Dragon«, antwortete er bereitwillig. »Als ich sah, daß er ab und zu eine Silbermünze auf den Boden warf, nahm ich mir vor, heimlich zurückzukehren, sobald mich niemand beobachtete, und die Münzen aufzuheben.« »Wir können ihn als Geisel benutzen«, warf Thamai ein. »Wenn die Eltern ihren Jungen zurückhaben wollen, müssen sie Ubali freigeben.« »Vielleicht würde das klappen«, erwiderte ich. »Aber ich möchte es anders versuchen.« Ich wandte mich wieder an Cheli und fragte: »Was haben deine Leute mit Ubali vor?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Cheli. »Vielleicht töten sie ihn, denn er ist stark, und wenn sie ihn freilassen, tötet er vielleicht einige von uns.« »Ubali wird niemanden töten, wenn ihr ihn als Freund behandelt«, sagte ich. »Geh zu deinen Leuten zurück und sage ihnen, daß Thamai und ich ebenso ihre Freunde sind wie Ubali. Sage auch, wir hätten es dadurch bewiesen, daß wir dich wieder freigelassen haben. Allerdings verlangen wir, daß deine Leute Ubali freilassen. Tun sie es nicht, müssen wir ihn mit Gewalt holen. Dann wird Blut fließen. Lassen deine Leute jedoch Ubali frei, dann soll Frieden zwischen uns sein.« 57
»Meinst du, das ist richtig?« fragte Thamai. »Wenn wir den Jungen freilassen, dann haben wir nichts mehr, wogegen wir Ubali austauschen könnten.« »Das stimmt«, gab ich zu. »Aber ich bin zuversichtlich, daß die Flüchtlinge unsere Geste des Friedens verstehen. Wir können in diesem Labyrinth keine Feinde gebrauchen.« Ich wandte mich wieder an den Jungen. »Hast du alles behalten, was du ausrichten sollst?« fragte ich. Cheli nickte. »Alles, Dragon. Du siehst aus wie ein Gott. Ich glaube dir, daß du es ehrlich meinst.« »Danke, mein Junge«, sagte ich und strich mit der Hand über sein Haar. »Und nun geh!« Ich wartete, bis er in dem von außen unsichtbaren Felsspalt untergetaucht war, dann sagte ich zu Thamai: »Wir suchen uns vorsichtshalber eine Stelle, an der wir nicht aus dem Hinterhalt überfallen werden können. Dann warten wir ab.« Wir gingen nach rechts und suchten uns einen etwa fünf Schritt tiefen Felsspalt. Nachdem ich den Spalt untersucht und festgestellt hatte, daß er keinen verborgenen Zugang aufwies, sagte ich zu Thamai: »Du hältst dich am besten im Hintergrund auf, während ich am Eingang Wache halte.« »Glaubst du wirklich, daß die Flüchtlinge Ubali freilassen?« erkundigte sich Thamai. »Wenn sie klug sind, werden sie es tun«, antwortete ich. »Sie waren, bevor sie vor den Dalaugiri flohen, wahrscheinlich Hirten oder Bauern, also im Grund 58
friedliebende Menschen, also sollten sie auch jetzt nicht daran interessiert sein, sich neue Feinde zu schaffen.« Außerdem, fügte ich in Gedanken hinzu, müßte die Rückkehr des Jungen sie davon überzeugen, daß wir ihnen gegenüber keine feindlichen Absichten hegten. Wir brauchten nicht lange zu warten, da tauchte dort, wo der Junge verschwunden war, ein schwarzer muskulöser Arm auf. Er bewegte sich winkend, dann folgte ihm die ganze Gestalt Ubalis. Ich sagte Thamai, die im Hintergrund unserer kleinen Höhle kauerte, noch nichts davon, denn dann wäre sie zweifellos ihm entgegengerannt. Das aber wollte ich vermeiden, bevor ich nicht genau wußte, daß man uns keine Falle zu stellen beabsichtigte. Aus dem gleichen Grund ließ auch ich mich noch nicht sehen. Ubali machte drei Schritte vorwärts, dann blieb er stehen und schaute sich suchend um. Als sich dort, woher Ubali gekommen war, abermals etwas regte, erwartete ich, Bewaffnete auftauchen zu sehen. Deshalb war meine Überraschung groß, als statt dessen ein braunhäutiges Mädchen ins Freie trat. Das Mädchen mochte etwa fünfzehn Jahre alt sein, war mittelgroß und besaß Proportionen, die man fast als üppig bezeichnen konnte. Ich erkannte, daß ihr breites Gesicht mit den vorstehenden Wangenknochen und den Schlitzaugen nicht ohne Schönheit war, und sie bewegte sich relativ anmutig. Außerdem war die Ähnlichkeit des Menschenschlags mit den Dalaugiri nicht zu verkennen. Wahrscheinlich waren die Flüchtlinge mit den Dalaugiri verwandt, waren aber dann, im Unterschied zu ihnen, seßhaft und friedfertig geworden. 59
Das Mädchen trug Sandalen und einen bunten Tuchrock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ansonsten war sie bis auf zahlreiche Ketten und Silberringe an Hals und Armen unbekleidet. Ihr schwarzes Haar war dicht unter den Ohren rundum gleichmäßig abgeschnitten. Ich sah, daß Ubali das Mädchen anblickte und sein Gesicht dann genau der Stelle zuwandte, an der ich mich verbarg. Ubali grinste breit und rief: »Ihr könnt herauskommen, Thamai und Dragon. Die Bushuns, unsere neuen Freunde, haben dir, Dragon, Selima als Geschenk geschickt, zum Zeichen ihrer Freundschaft.« Ich unterdrückte einen Fluch. Das fehlte mir gerade noch, daß ich mir ein Mädchen mit Hang zur Fettleibigkeit aufhalste! Hinter mir stieß Thamai einen Freudenschrei aus, rannte an mir vorbei und auf Ubali zu, der sie in seinen starken Armen auffing und sie beinahe zerdrückte. Ich trat ebenfalls ins Freie und dachte angestrengt darüber nach, wie ich das »Geschenk« der Bushuns zurückweisen konnte, ohne diese Leute tödlich zu beleidigen. Selima strahlte, als sie mich sah. Kein Wunder! Ich möchte nicht überheblich sein, aber ich bin eben ein gutgebauter Mann, und Selima hatte sicher noch keinen Mann wie mich gesehen. Ich zwang mich zu einem freundlichen Lächeln, nickte Selima zu und sagte: »Die Götter selbst müssen dich geschickt haben, schönste Blume der Steppe!« Ich verzog schwach das Gesicht, als ich die tranige Ausdünstung ihres Körpers vernahm. »Aber hat Ubali deinen Leuten nicht gesagt, 60
daß ich ein ruheloser Wanderer bin, der nirgends lange verweilt?« Selima errötete und erwiderte etwas atemlos: »Meine Leute hoffen, daß Ihr mit mir zusammen bei ihnen bleiben werdet. Aber wenn Ihr schon bald wieder fortgehen müßt, will ich Euch begleiten, Herr.« Ubali schaute mich schon wieder grinsend an, was meine Stimmung endgültig auf den Tiefpunkt sinken ließ. Dennoch überwand ich mich und erklärte: »Ich wäre überglücklich, wenn ich dich mit mir nehmen könnte, schöne Selima, aber dort, wohin ich gehe, gibt es Kampf und Tod und Entbehrungen. Du würdest dir bald wünschen, daheim geblieben zu sein. Nein, ich darf dich nicht mitnehmen, Selima.« Selima machte ein weinerliches Gesicht. »Ich will lieber an deiner Seite sterben als dich wieder verlassen, Dragon«, sagte sie. Oh, ihr Götter! dachte ich verzweifelt. Warum nur habt ihr die Weiber aus Klebstoff gemacht! Streng sagte ich: »Du sollst nicht an meiner Seite sterben, sondern einen Mann deines Stammes nehmen und viele Kinder bekommen, Selima!« Diesmal konnte Selima die Tränen nicht zurückhalten. Sie strömten über ihr Gesicht und hinterließen auf der ungewaschenen Haut helle Streifen. Zwei Männer traten aus dem verborgenen Höhlengang, der eine alt und mit einem Bart wie ein Ziegenbock, der andere jung und mit der Statur eines Ringkämpfers. Der Alte war unbewaffnet bis auf zwei Dolche in seinem Gürtel; der Junge trug ein Krummschwert, das vermutlich einen getöteten Dalaugiri abgenommen worden 61
war, sowie einen Kurzbogen und in einem Lederköcher die entsprechenden Pfeile. Die beiden Männer blieben stehen, und der Alte sagte: »Du weist Selima zurück, Dragon?« Ich deutete auf Selima und erwiderte: »Seht euch die wunderschöne Blume der Steppe an! Sollte ich sie mit mir nehmen, damit sie in den Gefahren und Entbehrungen, denen sie an meiner Seite ausgesetzt wäre, verwelkt und verdorrt! Ich danke euch für euer Geschenk und gebe es euch zurück, weil es zu schön ist, um zerstört zu werden.« Der »Ringkämpfer« traf Anstalten, einen Pfeil auf seinen Bogen zu legen, aber der Alte machte eine beschwichtigende Handbewegung zu ihm hin, wandte sich dann wieder an mich und erklärte: »Ich akzeptiere deine Antwort, Dragon. Zwischen uns soll keine Feindschaft herrschen, wenn du wenigstens heute mit Selima schläfst. Du bist groß und stark und sicher auch klug, und es wäre von Vorteil für unseren geschrumpften Stamm, wenn durch dich frisches gutes Blut hineinkäme.« Ich schickte ein Stoßgebet an die Götter, aber ich ahnte bereits, daß es nichts nützen würde. Um des Friedens willen würde ich mit Selima schlafen müssen. Aber vorher würde ich sie von Kopf bis Fuß abschrubben, und ich würde ihr den Kopf kahlscheren, damit die Läuse sich nicht in meinem Haar einnisten konnten. Ich seufzte und wollte meine Zustimmung erteilen, als aus den Spalten und Rissen der Felswände plötzlich nebelhafte Schwaden krochen und sich schnell ausbreiteten ...
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5.
Die beiden Sklavinnen schrien und sträubten sich, bis die Hossas ihre Fänge tief in ihre Hälse gegraben hatten und das Lähmungsgift zu wirken begann. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte über die Wüste, an deren Rand die Sonnenscheibe aufstieg. Es würde wieder ein heißer Tag werden, aber heute wollte ich Jammad, den letzten Melniken, einholen und töten. Jammad hatte mich lange Zeit genarrt, indem er immer neue Tricks anwandte, um mir, dem erfolgreichen Blutjäger von Neu-Atlantis, zu entkommen. Doch dann war es mir gelungen, ihn in die Wüste zu treiben, in der es kein Versteck gab außer den Ruinen der ehemaligen Stadt Tochtar – und in den Ruinen von Tochtar würden meine Hossas ihn aufspüren und ihn mir zutreiben. Ich blickte zu den Mädchen, die inzwischen still geworden waren und sich nicht mehr gegen die Hossas wehrten, die ihnen das Blut aussaugten. Ich hatte in der letzten Nacht meinen Spaß mit ihnen gehabt, und sie waren sehr willig gewesen, weil sie gehofft hatten, dadurch ihr Leben retten zu können. Sie hatten sich geirrt – so wie Jammad sich geirrt hatte, wenn er glaubte, mir auf die Dauer entgehen zu können. Es war erregend, den Hossas bei ihrer Mahlzeit zuzuschauen, wie ihre schlangenartigen Körper zuckten und ihre Haut sich straffte, je mehr Blut sie in sich hineinsaugten, wie sie dabei mit den lederhäutigen Schwingen schlugen und wie ihre katzenähnlichen Visagen einen Ausdruck der Verzückung annahmen. 63
Seltsam, wie die Gesichter der beiden Sklavinnen sich glichen. Es war mir vorher nicht aufgefallen. Und auch die Körper glichen sich wie die von eineiigen Zwillingen. Irgendwie verstimmte mich das, und ich hob die Peitsche und ließ ihre lange, geflüchtete Lederschnur auf die Körper der Hossas niedersausen. Die Bestien krümmten sich vor Schmerz, zogen ihre langen Zähne aus den Hälsen ihrer Opfer und sprangen miauend zur Seite. Aber sie wichen nicht aus der Reichweite der Peitsche, denn es war die Peitsche ihres Herrn, dem die dressierten Tiere aufs Wort gehorchten. »Ihr habt genug Blut getrunken!« fuhr ich sie an. »Vorwärts, erhebt euch und sucht mir Jammad!« Gehorsam spreizten sie ihre Schwingen und bewegten sie kraftvoll auf und ab. Sie erhoben sich nicht gleich in die Luft, sondern schleiften ihre langen Körper mindestens noch hundert Schritt durch den Sand, bevor ihre Geschwindigkeit hoch genug zum Abheben war. Dann aber gewannen sie rasch an Höhe und wurden zu dunklen Punkten am Himmel, die bald darauf nicht mehr zu sehen waren. Ich ging hinüber zu den übrigen Hossas, die angepflockt waren und seit dem Abflug ihrer Artgenossen wild mit den Schwingen schlugen. »Haltet still!« befahl ich – und sie gehorchten. Ich hieb den Strick durch, der einen einzelnen Hossa festhielt und befahl: »Fliege den beiden anderen Blutsaugern nach!« Er gehorchte, und als er abgeflogen war, befreite ich auch die anderen Hossas – es waren mehr als hundert – von ihren Fesseln. Ich befahl ihnen, mir zu folgen, aber außerhalb der Ruinen von Tochtar zu warten. 64
Danach stieg ich auf mein Pferd, das gesattelt auf mich wartete, und trieb es an. Es wurde wärmer, je höher der Sonnenball stieg. Ich ließ mein Pferd abwechselnd schnell traben und galoppieren, um es nicht zu überanstrengen. Jammad würde mir nicht entkommen. Wenn ich den letzten vom Stamm der Melniken zur Strecke gebracht hatte, die – weiß der Gott allen Blutes, woher – plötzlich in unserem Land aufgetaucht waren, würde Vodor, der Herr allen Blutes und der Herrscher über Neu-Atlantis, mir sicher das Stück der Nordregion geben, das ich schon lange begehrte. Dieser Gedanke verschaffte mir tiefe Befriedigung, und unwillkürlich trieb ich mein Pferd zum gestreckten Galopp an. Ich ließ es erst wieder in den Trab zurückfallen, als ihm Schaumflocken vom Maul flogen. Kurz vor dem höchsten Stand der Sonne erreichte ich eine Wasserstelle. Ich schwang mich aus dem Sattel und ließ mein Tier trinken. Als ich zurückblickte, sah ich eine dunkle Wolke hinter mir am Himmel – das Gros meiner Hossas, die mir gehorsam gefolgt waren. Sie überholten mich nicht, sondern kreisten so lange über mir, bis ich nach der kurzen Rast wieder aufbrach. Tochtar war nicht mehr weit – und nach zwei Zehnteltagen sah ich die Silhouette der uralten Ruinenstadt am Horizont. Ich trieb mein Pferd schneller an, selber von Ungeduld angetrieben, und bald hatte ich sie erreicht. Ich zügelte mein Pferd, nahm die Hossa-Pfeife, die an einer Schnur vor meiner Brust hing, und blies hinein. Der Pfiff war unhörbar für mich. Doch die Hossas würden ihn vernehmen. Ich brauchte nicht lange zu warten, bis die drei vorausgeschickten Hossas über den Ruinen von Tochtar erschienen und in meine Richtung flogen. 65
Wenige Meter vor mir landeten die Tiere und gaben durch Gesten, die ihnen anerzogen waren, zu verstehen, daß sie Jammad aufgespürt hatten. Ich atmete auf. Irgendwie hatte ich noch immer befürchtet, daß der Melnike mir entwischen könnte. Doch nun, da die Blutsauger ihn aufgespürt hatten, stand es endgültig fest, daß ich ihn zur Strecke bringen würde. »Gut gemacht!« lobte ich die Hossas. »Führt mich zu seinem Versteck!« Die Hossas wiesen mir den Weg, indem sie in geringer Höhe vor mir her flogen. Ich ritt langsam, denn die düsteren Ruinen, die größtenteils von trockenen Wüstenpflanzen überwuchert waren, strahlten eine Aura von Gefahr aus, eine unbestimmbare Drohung, deren Einwirkung ich mich nicht entziehen konnte. Es erstaunte mich etwas, daß Jammad, der abergläubische Melnike, sich überhaupt bis zwischen die Ruinen Tochtars gewagt hatte. Er mußte doch unter der unheimlichen Ausstrahlung dieses Ortes stärker leiden als ich. Allerdings fürchtete ich drohende Gefahren nicht, denn über mir kreiste die große Meute der Hossas. Sie würden sich auf jeden eventuellen Angreifer stürzen und ihm mit ihren Fangzähnen und Krallen den Garaus machen. Die drei Hossas kehrten plötzlich um, flogen zu mir zurück und dicht über mich hinweg, dann eilten sie mit wild flatternden Schwingen zu der Ruine eines großen Kuppelbaues. Dort begannen sie langsam zu kreisen. Ich verstand.
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Jammad steckte in diesem Kuppelbau. Er hatte sich verkrochen wie eine sterbende Ratte. Doch das würde ihm nichts nützen. Wieder blies ich in die Hossa-Pfeife. Das Signal bedeutete, daß die drei Tiere das gestellte Wild aus seinem Versteck treiben sollten. Aber diesmal gehorchten die Hossas nicht. Sie gingen nur tiefer, stiegen dann wieder höher und kreisten weiter über diesem Kuppelbau. Da es undenkbar war, daß die Hossas mir nicht mehr gehorchten, gab es nur eine Erklärung für ihr Verhalten: Sie fanden keinen Zugang in den Kuppelbau. Möglicherweise hatte Jammad den Eingang verbarrikadiert. Das erschwerte die Jagd natürlich, aber für den Melniken bedeutete es nur einen Aufschub seines Todes. Als ich den Kuppelbau erreichte, lenkte ich mein Pferd um ihn herum und musterte dabei aufmerksam die Wandung. Sie war verwittert, vom Zahn der Zeit angefressen, aber nirgends eingestürzt. Dennoch hätte sie einen Zugang haben müssen, den, den die Erbauer geschaffen hatten. Aber ich konnte keinen entdecken. Kein Wunder, daß die Hossas keine Möglichkeit gefunden hatten, in den Bau einzudringen. Aber wie war Jammad hineingekommen? Wenn die Hossas seine Anwesenheit in dem Kuppelbau gewittert hatten, dann befand er sich auch darin. Folglich mußte er irgendwie hineingelangt sein. Und folglich mußte ich ihm folgen können! Durch ein weiteres Signal gab ich den Hossas zu verstehen, daß sie weiter nach Jammad suchen sollten. Da die Tiere nicht besonders klug waren, flogen sie zuerst nur verwirrt hin und her. 67
Doch das, was ich mir davon versprochen hatte, trat tatsächlich ein. Sie stießen bei ihrem ziellosen Umherkreisen auf eine direkte Spur des Gejagten. Vorher hatten sie seine Witterung nur durch die poröse Mauer des Kuppelbaus wahrgenommen. Es war die verfallene Ruine eines Turmes, an dem die Hossas die Spur Jammad entdeckten. Sie flatterten wie verrückt um die Stelle, an der Jammads Füße den Boden berührt hatten. Ich lenkte mein Pferd zu dem Turmstumpf und stieg ab. Die drei Hossas wichen zur Seite, als ich mich ihnen näherte. Ich entdeckte eine schmale, von Unkraut überwucherte Steintreppe, an deren Ende mir ein dunkles Loch entgegengähnte. Wenn Jammad diesen Weg gegangen war, dann mußte man von hier aus in den Kuppelbau gelangen können. Ich befahl den Hossas, der Spur des Gejagten zu folgen, ging zu meinem Pferd zurück und zündete eine der Fackeln an, die ich mitführte. Nachdem ich mein Pferd angepflockt hatte, kehrte ich zu der Steintreppe zurück. Die Hossas waren schon durch das Loch verschwunden. Ich hörte das Rascheln ihrer Schlangenleiber und ihr aufgeregtes Miauen. Als ich die Treppe hinabgestiegen war und durch das Loch trat, beleuchtete die brennende Fackel einen gemauerten Gang, der zu einer weiteren Treppe führte. Die Wände waren noch gut erhalten; nur von der Decke hatten sich vereinzelt Steinblöcke gelöst. Ich kam recht gut voran, und die Geräusche der Hossas bewiesen mir, daß meine dressierten Blutsauger ebenfalls gut vorwärts kamen. 68
Die nächste Treppe war eine Wendeltreppe, ebenfalls aus Steinstufen. Sie führte einige Windungen hinab und endete vor einem weiteren gemauerten Gang. Am Ende des Ganges sah ich Bewegungen. Das mußten die Hossas sein. Ich beeilte mich, ihnen zu folgen. Nach einer Strecke von zirka hundert Schritt führte wieder eine Wendeltreppe nach oben. An ihrem Fuß blieb ich stehen und lauschte. Es war still – und diese Stille beunruhigte mich. Ich hätte die Hossas hören müssen, wenn sie oben waren. War ihnen etwas zugestoßen? Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß ein einzelner Mann mit drei Hossas fertig werden konnte. Schon gar nicht Jammad. Außerdem hätte ich dann Kampflärm hören müssen. Ich zog mein Schwert, nahm die Fackel in die linke Hand und eilte die Treppe hinauf. Als ich oben ankam, befand ich mich in einer riesigen Halle. Das mußte die Kuppelhalle sein! Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte ich die drei Hossas, die aufgeregt vor dem Eingang zu einem Stollen oder einer Höhle herumflatterten. Aber ich hörte sie nicht, obwohl ich sie unbedingt hätte hören müssen! Ich steckte die Hossapfeife zwischen die Lippen und gab das Signal zur Rückkehr. Die Hossas reagierten überhaupt nicht darauf. Ich merkte, wie sich alles in mir zusammenkrampfte. Es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, daß ich die Hossas zwar sah – und sie mich auch –, daß wir aber uns nicht hören konnten. Vielleicht war dies ein verwunschener Ort, über dem der Fluch eines bösen Dämons lag. 69
Aber der Oberste Blutjäger der Westregion von NeuAtlantis fürchtete sich nicht vor dem Fluch eines Dämons. Während ich eine Reihe von Beschwörungen murmelte, schritt ich durch die Halle. Die Hossas erblickten mich und starrten zu mir herüber, aber sie reagierten auch jetzt nicht, als ich ihnen das Signal zur Rückkehr gab. Ich bückte mich, hob einen faustgroßen Stein auf und warf ihn hinüber. Er fiel wenige Schritte vor den Hossas auf den Boden, ohne daß es ein Geräusch gab. Ich ging einige Schritte weiter, hob wieder einen Stein auf und warf ihn. Aber noch während er durch die Luft flog, wußte ich, daß ich seinen Aufprall hören würde, denn ich hörte plötzlich auch wieder das aufgeregte Miauen der Hossas. Der Stein prallte krachend auf den Boden. Ich blieb stehen, blickte zurück und sah, daß ich gerade die Mitte der Kuppelhalle überschritten hatte. Wahrscheinlich teilte ein unbekannter Zauber genau in der Mitte die Welt in zwei Teile, in denen man nichts hörte, was im anderen Teil vorging. Ich lächelte verächtlich. Einen solchen Zauber brauchte ich nicht zu fürchten. Mit einem weiteren Pfiff trieb ich meine Hossas wieder vorwärts. Sie stürmten in den Höhlengang hinein, Jammad nach, der nur auf diesem Wege aus der Halle verschwunden sein konnte. In der Höhle herrschte ein düsteres Licht, und ich warf meine Fackel weg, da ich sie hier nicht mehr brauchte. Kurz darauf gaben die Hossas durch das charakteristische Miauen zu erkennen, daß sie den Gejagten end70
lich gestellt hatten – und als ich um die nächste Biegung kam, sah ich Jammad. Der Melnike lehnte erschöpft an der Felswand. Er atmete schwer und blickte die Hossas aus irr flackernden Augen an. Die Jagd war vorbei. Ich brauchte das Wild nur noch zu töten. »Es ist aus mit dir, Jammad!« rief ich und sah, wie er zusammenzuckte und dann zu mir blickte. »Du hättest wissen sollen, daß du mir nicht entkommen kannst«, erklärte ich, während ich mich ihm Schritt für Schritt näherte. »Ich werde dich töten.« Jammad rührte sich nicht. Er starrte mich nur an. Entweder hatte die Todesfurcht ihn gelähmt oder er war zu erschöpft, um zu sprechen oder zu fliehen. Dicht vor ihm blieb ich stehen und hob mein Schwert, um es auf seinen Schädel niedersausen zu lassen. Plötzlich durchfuhr ein brennender Schmerz meine Hand. Er war so stark, daß ich aufschrie und das Schwert von mir warf ... Vor mir stand ein Fremder in zerfetzter Kleidung und mit Augen, in denen das Grauen flackerte. Und seitlich hinter ihm erblickte ich Selima und die beiden Bushuns. Auf der anderen Seite entdeckte ich Ubali und Thamai, die mit halb geöffneten Mündern und starrem Blick in meine Richtung schauten. Ich spürte einen brennenden Schmerz in meiner rechten Hand, der von dort aus den ganzen Körper erfüllte, aber schon wieder nachließ – und die Ursache für den Schmerz lag vor mir. Es war mein Schwert, das rote Feuersglut ausstrahlte. Weil du es gegen einen Unschuldigen gerichtet hattest! durchfuhr mich ein Gedanke. 71
Bevor ich darüber nachdenken konnte, wie ich auf diesen absurd erscheinenden Gedanken gekommen sein konnte, wurde meine Aufmerksamkeit auf drei große Ungeheuer gelenkt, die über den unterirdischen Fluß flatterten und sich anschickten, uns anzugreifen. Es waren die gleichen Ungeheuer, die Thamai entführt hatten – und als sie näherkamen und ich bei zweien von ihnen frische Verletzungen feststellen konnte, die nur von Schwerthieben herrühren konnten, wußte ich, daß zwei von ihnen tatsächlich die Geschöpfe waren, die Thamai geraubt hatten. Selima stieß einen gellenden Schrei aus, flüchtete aber nicht, sondern blieb wie angewurzelt stehen. Auch die anderen Bushuns sowie Ubali und Thamai entdeckten die Ungeheuer. Thamai schlug die Hände vors Gesicht, während Ubali sein Schwert zog. »Warte!« rief ich meinem Freund zu. »Ich will versuchen, ob ich sie auf andere Weise vertreiben kann!« Ich nahm mein Amulett in die Hand und dachte intensiv einen Befehl an die Flugwesen, uns in Ruhe zu lassen und von hier zu verschwinden. Die Geschöpfe kamen weiter auf uns zu, bewegten sich aber plötzlich zögernd – und im nächsten Augenblick drehten sie ab und verschwanden wieder in Richtung des Wasserfalls. Der Fremde vor mir verdrehte die Augen, schwankte und wäre gefallen, wenn ich nicht hinzugesprungen und ihn aufgehalten hätte. Ich ließ ihn langsam zu Boden gleiten und bat Ubali um Wasser. »Wer ist das?« fragte mein schwarzer Freund, als er mir seine Wasserflasche reichte. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »In meinem letzten Traum – falls es ein Traum war – hieß dieser Mann Jammad, ein Melnike, der sich auf der Flucht vor mir, 72
dem Obersten Blutjäger der Westregion von Neu-Atlantis, befand. Ich wollte ihn gerade töten, als ein grausamer Schmerz, von meiner Schwerthand ausgehend, in meinen Körper vordrang.« Ich goß Wasser in Jammads Gesicht, blickte Ubali an und fragte: »Wo wart ihr alle in diesem Traum?« Ubali verzog das Gesicht und erwiderte zögernd: »Ich habe eine vage Erinnerung daran, daß ich Geräusche und Gerüche und Anblicke aufnehmen konnte. Doch ich vermochte nicht zu denken wie ein Mensch. Ich fühlte nur Haß und Gier und noch etwas in mir, das ich nicht erklären kann – und ich glaube, ich besaß den Körper eines dieser geflügelten Ungeheuer.« »Mir ging es genauso«, flüsterte Thamai, die zu uns getreten war. »Es war grauenhaft. Was bedeutet das alles, Dragon?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte ich bedächtig. »Aber allmählich verdichtet sich in mir der Verdacht, daß wir in diesem Höhlenlabyrinth nach und nach alle unsere verschütteten Erinnerungen zurückerhalten werden – und daß wir dann erst begreifen werden, warum wir uns überhaupt hier befinden.« Als der Fremde nach einem Seufzer die Augen aufschlug, hob ich seinen Kopf an und flößte ihm etwas Wasser ein. »Danke!« flüsterte er, kaum hörbar. »Du bist nicht Shebar, nicht wahr?« »Nein, ich bin Dragon«, antwortete ich. »Beinahe hätte ich dich getötet – weil ich träumte, ich sei Shebar, der Oberste Blutjäger der Westregion von Neu-Atlantis. Bist du Jammad?« Der Fremde nickte. Als er wieder sprach, konnte ich ihn schon besser verstehen. 73
»Ich bin Jammad, der letzte des Stammes der Melniken. Wir lebten einst in dem befestigten Ort Kha-aun, bis die Horden der Dalaugiri kamen.« Unser König, Bardawil II., wollte mit uns gegen die Dalaugiri kämpfen, aber der Mandhin, unser Oberster Priester, überredete uns, keinen Kampf zu führen, den wir doch verlieren würden. Er bat uns alle in den Tempel und zeigte uns das Auge der Götter, in dem wir eine andere Welt sahen – oder vielmehr einen Ausschnitt von ihr.« Aufgeregt unterbrach ich ihn. »Dieses ›Auge der Götter‹, wie sah es aus, Jammad?« »Es war groß und eiförmig«, berichtete der Melnike, »und es war zuerst von Nebelschleiern verhüllt. Als es sich öffnete, war es, als ob sich ein Lid über ein riesiges Auge hob. Wir blickten in die rötliche Glut einer Abenddämmerung und sahen, wie die Sonne am Horizont einer Sandwüste unterging. Der Mandhin sagte uns, daß einer seiner Priester einmal durch das Auge gegangen sei und die Wüste durchquert hätte. Nach drei Tagen habe er Wasser und fruchtbares Land gefunden, und ein salziger Wind hätte ihm verraten, daß noch weiter draußen ein Meer sein mußte. Natürlich zögerten wir alle, aber dann meldete ein Späher die Ankunft der Dalaugiri-Horden. Da gab es kein Halten mehr. Über tausend Melniken gingen mitsamt ihren Bündeln durch das Götterauge. Wir fanden Wasser und fruchtbares Land, wie der Mandhin es vorausgesagt hatte. Doch wenige Monde später tauchten die Blutjäger auf.« »Einen Augenblick!« unterbrach ich den Bericht Jammads erneut. »Vor wieviel Monden genau seid ihr durch das Götterauge gegangen?« 74
»Wir sind seit rund zwölf Monden auf der anderen Welt«, antwortete Jammad. »Das kann nicht stimmen«, entgegnete ich. »Akkerons Horden sind auf ihrem Weg zum Berg des Feuergeistes erst vor zwei Monden durch dieses Land gezogen.« »Du warst auch auf der anderen Welt?« erkundigte ich mich, um Gewißheit zu bekommen. »Ja«, antwortete Jammad. »Aber das hier ist nicht die andere Welt, sondern die, auf der die Dalaugiri hausten? Stimmt das?« forschte ich weiter. Über Jammads Gesicht glitt ein Lächeln. »Das stimmt«, erwiderte er. »Ich bin auf der Flucht vor Shebar durch ein Weltentor gekommen, das diese mit der anderen Welt verbindet.« Ich holte tief Luft und stand auf. »Ich denke, ich kenne nun den Grund, warum wir in dieses Labyrinth gingen«, erklärte ich Ubali und Thamai. »Bestimmt wollten wir durch das Weltentor in unsere eigene Welt zurückkehren.« Ich ballte die Fäuste. »Leider weiß ich kaum noch etwas von dieser Welt, denn mir fehlen viele Erinnerungen. Aber wenn dort solche Zustände herrschen, daß Blutjäger wie Shebar friedliche Menschen hetzen, dann werde ich alles daransetzen, solchen Praktiken mit meinem Schwert ein Ende zu machen.« In Jammads Augen trat ein Leuchten. »Seid Ihr wirklich dazu entschlossen?« fragte er. »Fest entschlossen!« verkündete ich. Abermals lächelte der Melnike. »Dann will ich Euch zum Weltentor führen«, erklärte er. »Nicht alle Melniken, die in die Gewalt der Blutjäger gerieten, sind tot. Aber ihr Schicksal ist schlimmer, als 75
der Tod es sein könnte. Wenn die Macht der Blutjäger gebrochen ist, können sie ins Leben zurückkehren.« »Ist das jetzt wirklich oder wieder nur ein Traum?« fragte Thamai. Ich lächelte ihr beruhigend zu.
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6.
Vorsichtig hob ich mein Schwert auf. Es glühte nicht mehr, sondern fühlte sich so kalt wie immer an. Wie war doch der Gedanke gewesen, der mich durchfahren hatte? Weil du es gegen einen Unschuldigen gerichtet hattest! Irgendwie schien mir dieser Gedanke der Schlüssel zu allem zu sein, der Schlüssel zu den Erinnerungen an die Vergangenheit, durch die allein ich den Weg in die Zukunft finden würde. Aber warum waren diese Erinnerungen uns bisher verschlossen geblieben – jedenfalls die entscheidenden Erinnerungen? Was du nicht besitzt, kannst du nicht verlieren – doch du kannst es gewinnen! Das waren Thamais, Ubalis und meine Gedanken gewesen, als wir in das Höhlenlabyrinth eingedrungen waren – in das Labyrinth der Alpträume. Wer oder was immer uns unserer Erinnerungen beraubt hatte, es war vielleicht nur geschehen, damit die Höhlendämonen sie uns nicht rauben konnten – während unserer Träume. Aber irgendwann würden wir sie alle zurückerhalten – und ich fühlte, daß dieser Zeitpunkt nahe war. Ich schob mein Schwert in die Scheide zurück und sah mich um. Die beiden Bushuns und Selima waren verschwunden. Sicher waren sie durch das Auftauchen der Hossas erschreckt worden, und auch Selima schien die Lust, 77
mich durch alle Gefahren zu begleiten, sehr schnell verloren zu haben. Darüber war ich allerdings erleichtert, denn was hätte ich mit Selima anfangen sollen. Ich trat an den Rand der Schlucht und blickte auf die rasend schnell dahinschießenden Wassermassen hinab. Hier würden wir den unterirdischen Fluß nicht überqueren können, aber einen Weg auf die andere Seite mußte es geben, denn auf der anderen Seite lag das Weltentor – und durch dieses Tor war Jammad gekommen. Ob der Blutjäger Shebar ebenfalls durch dieses Tor kommen würde? Im letzten Alptraum war ich Shebar gewesen, mit allen Merkmalen seiner Persönlichkeit. Ich hatte gefühlt wie er und hatte nach der Erfüllung des Bösen gestrebt. Wie war das nur möglich gewesen, daß ich mich – wenn auch nur in einem Traum – mit dem Vertreter des Bösen identifizieren konnte? Steckte auch in mir genug Böses, um eine solche Identifizierung zu erlauben? »Woran denkst du, Dragon?« fragte Ubali neben mir. »Du blickst so finster drein wie selten.« Ich sagte es ihm. Er nickte bedächtig und meinte: »In uns allen steckt etwas von der Kraft der guten und der bösen Dämonen. Ich glaube, wir Menschen sind nur die Spieler in einem immerwährenden Kampf, den die Mächte des Guten und des Bösen untereinander austragen.« Ein erschütternder Gedanke, aber ein Gedanke, der mir nicht fremd war. »Wir werden versuchen müssen, alles zu tun, um der Macht des Guten das Übergewicht zu geben«, erklärte ich. 78
Wir blickten zu Jammad, der sich mit Thamais Hilfe erhoben hatte. Ubalis Freundin hatte ihm etwas von unseren Vorräten zu essen gegeben, und er wirkte ein wenig erholt. Große Anstrengungen würden wir ihm aber noch lange nicht zumuten können. Jammad bemerkte unsere forschenden Blicke und lächelte schwach. »Ich bin bereit!« erklärte er. »Dann laßt uns aufbrechen!« erwiderte ich. »Welche Richtung müssen wir einschlagen, Jammad?« »Wir müssen zum Nachen des Dunklen Fährmanns«, sagte Jammad, »Nur in ihm können wir den Strom der Unterwelt überqueren. Mit ihm bin ich herübergekommen.« Er wandte sich nach links und ging flußabwärts. Wir folgten ihm. Ubali und ich musterten aufmerksam die Umgebung, denn wir rechneten mit unliebsamen Überraschungen. Aber alles blieb ruhig. Die Mächte der Finsternis schienen eine Atempause eingelegt zu haben. Wir wanderten am Wasserfall vorbei, und eine große Strecke weiter flußabwärts wurden die Wasser ruhiger. Aber sie flossen immer noch zu schnell und wiesen zu viele Strudel auf, als daß wir es wagen konnten, hinüberzuschwimmen. Eine ganze Zeit später verbreiterte sich die Schlucht. Die Wasser bildeten einen See, der von hohen düsteren Felsen eingerahmt wurde, die das kärgliche Licht teilweise zu schlucken schienen. Es war fast völlig dunkel. Jammad stieg zum Ufer des Sees hinab – und plötzlich standen wir vor einem offenen breiten Nachen, der ruhig im Uferwasser lag. 79
Ich fröstelte wie unter einem eisigen Luftzug, denn in dem Nachen hockte etwas, das wie geballte Dunkelheit von der ungefähren Form eines Mannes aussah. »He, Fährmann!« rief Jammad. Das Dunkle bewegte sich, richtete sich auf – nicht, wie ein Mensch sich bewegte und aufrichtete, nein, seine Form zerfloß und bildete aus einer hockenden Gestalt eine stehende. Die Gestalt war so groß wie ein Mann und hatte auch die gleiche äußere Form, aber sie war gesichtslos. Der Kopf, auf dem eine Art Schlapphut saß, war ein nachtschwarzes Oval ohne Augen, Ohren, Nase und Mund. Eine dünne, grünlich leuchtende Linie tanzte über die Vorderfront des Ovals, als der Dunkle Fährmann mit dumpfer Stimme sagte: »Steigt ein!« »Bringst du uns auf die andere Seite?« fragte Ubali. Der Dunkle Fährmann antwortete rätselhaft: »Ich fahre hin, ich fahre her – mein Boot ist voll, mein Boot ist leer. Breit ist der Strom des Lebens, doch alles Tun, es ist vergebens.« »Ich habe Angst!« flüsterte Thamai. »Fürchte dich nicht!« sagte Ubali zu ihr. »Er ist nur ein Schemen, aus dem die Stimme eines Gottes und eines Dämons spricht. Aber wenn er uns Böses antun will, wird mein Schwert auch mit ihm fertig.« Der Dunkle Fährmann erwiderte nichts darauf. Er stand nur unbeweglich in seinem Nachen. Jammad sprang als erster ins Boot. Ich folgte ihm. Dann half Ubali Thamai hinein und kam als letzter von uns an Bord. Ich konnte nirgends Paddel oder Staken erkennen. Dennoch bewegte sich der Nachen plötzlich vom Ufer 80
weg. Lautlos glitt er auf die dunkel glänzende Oberfläche des Sees hinaus. Es wurde immer dunkler, je weiter wir hinauskamen. Dennoch sah ich die Schemen, die seitlich des Bootes auftauchten und wieder verschwanden, grotesk oder furchterregend anmutende Schattengestalten, anscheinend aus der gleichen wesenlosen Substanz wie unser Fährmann. »Was sind das für Erscheinungen?« fragte Ubali. »Fahren wir durchs Totenreich, Fährmann?« »Tod und Leben, Zeit und Raum, Sein und Nichtsein«, flüsterte der Dunkle Fährmann tonlos. Ich erschauderte und legte unwillkürlich die Hand auf den Schwertgriff. Wohin mochte diese unheimliche Reise führen? Warum fragst du, Dragon? entgegnete Aerula-thane. Du wolltest doch selbst, daß ich euch zu den Labris bringe. Ich werde euch in der Burg Fennarks absetzen. Aber bleibt nicht zu lange dort. Ich rieb mir die Augen und sah mich um. Thamai, Ubali und ich lagen in der Mulde, die meine Wanderwolke auf ihrer Oberfläche gebildet hatte. Durch die Wolkensubstanz konnte ich die Sonnenscheibe sehen, und das Wolkensegel Aerula-thanes blähte sich in einer frischen Brise. Ich konnte mich nicht erinnern, der Wanderwolke eine Frage gestellt zu haben. Aber wahrscheinlich war ich infolge der Eintönigkeit des langen Fluges eingenickt und hatte dabei im Traum eine Frage formuliert. Und Aerula-thane hatte mir darauf geantwortet. Schon gut, Aerula-thane! dachte ich zurück. Ich hatte wohl nur geträumt. Doch was hatte ich geträumt? 81
Ich versuchte, mich zu erinnern, aber es gelang mir nicht, so sehr ich mich auch anstrengte. »Du machst ein nachdenkliches Gesicht, Dragon«, sagte Ubali. »Was beschäftigt dich?« »Ich versuche, mich zu erinnern«, antwortete ich. »Mir ist, als hätte ich etwas geträumt, was sich erst in unserer Zukunft ereignen wird, aber ich kann mich an nichts Konkretes erinnern.« »Erinnerungen an die Zukunft – gibt es so etwas?« fragte Thamai. »Vielleicht – wenn die Zukunft eine Wiederholung der Vergangenheit ist«, erwiderte ich zögernd. »Dunkel sind die Wege, die Götter und Dämonen zwischen Anfang und Ende weben«, erklärte Ubali. Ich seufzte. Ubalis Ausspruch zeugte von einer Weisheit, wie ich sie früher dem einstigen Barbaren und Leibsklaven nicht zugetraut hätte. Seine ursprüngliche Schlauheit war durch Erfahrungen zu umsichtiger Klugheit destilliert worden, und ich schätzte ihn nur dann richtig ein, wenn ich ihn als einen Mann ansah, der auf der gleichen Stufe stand wie ich selbst. »Du sprichst eine Wahrheit gelassen aus, mein Freund«, erwiderte ich. »Mir ist, als hätten wir uns lange auf Pfaden bewegt, die wir nicht sehen, sondern nur erahnen konnten. Es wird Zeit, daß wir Licht in das Dunkel bringen.« Am Fahrtwind spürte ich, daß Aerula-thane schnell an Höhe verlor. Bald darauf tauchte über dem Rand der Wolke zwei Türme und hohe Mauern auf. Die Wanderwolke landete auf dem Innenhof der Burg des toten Fennark. Das heißt, sie setzte nicht auf, aber sie ging tief genug, um uns das Absteigen zu ermöglichen. 82
Kaum hatten wir festen Boden betreten, als ich zahlreiche Labris erblickte, jene früheren Sklaven der Vitukerri, die mir einst das Leben retteten, als ich auf dem Wege zur Burg des Namenlosen durch das Gebiet der Wächter des Lebensgeistes kam. Die Labris hielten sich in respektvoller Entfernung. Nur zwei der kleinen, rostrot bepelzten Wesen näherten sich uns. Sie trugen ein großes Tablett, auf dem drei Weinkelche standen. »Willkommen auf Labri-Burg!« sagte das eine Wesen. »Dragon, Helfer des Herrn der Elemente und Retter des Lebens, nimm mit deinen Freunden unseren Willkommenstrunk entgegen!« Es klang wie auswendig gelernt, und wahrscheinlich war es das auch. Als ich zuletzt hier war, konnten die Labris zwar die Sprache ihrer Herrn verstehen, sich selbst aber nur primitiv verständlich machen. Inzwischen hatten sie aber dazugelernt. »Ich danke euch!« erwiderte ich. »Und ich freue mich darüber, daß ihr gelernt habt, euch allein zu helfen.« Ich nahm einen Kelch und reichte ihn Thamai. Den zweiten Kelch gab ich Ubali, und den dritten nahm ich selbst. Wir tranken die Kelche aus und setzten sie wieder auf dem Tablett ab. Der Wein darin war gut gewesen. »Wenn ihr sehen wollt, wie es uns geht, dann kommt!« sagte der Sprecher der Labris. Er führte uns auf den höchsten Turm der Burg. Von dort aus konnten wir weit über das Land sehen – und wir sahen, daß die Felder gut bestellt waren, daß auf den Weiden gesundes Vieh graste und daß die Labris damit begonnen hatten, rings um die Burg eine Stadt aus kleinen ebenerdigen Häusern aufzubauen, für die sie selbstgebrannte Ziegel verwandten. 83
»Ich bin sehr stolz auf euch«, sagte ich zu den Labris, die uns auf den Turm begleitet hatten. »Ihr habt viel geschafft, seit eure Herren umgekommen sind. Ich wünschte euch auch für die Zukunft viel Erfolg. Er kann gar nicht ausbleiben, wenn ihr so weiterarbeitet wie bisher.« Erst jetzt fiel mein Blick auf die Flagge, die am Fahnenmast des Turmes im Wind flatterte. Ich entdeckte auf rotem Grund einen silbernen Saurier – und sofort fiel mir das Saurierjunge ein, mit dem ich damals in Fennarks Burg geritten war. Der Sprecher der Labris sah meinen Blick und erklärte: »Wir haben das Tier, auf dem du damals kamst, als unser Wappentier gewählt, Dragon.« »Und was wurde aus dem Tier selbst?« erkundigte ich mich. »Wir ließen es frei«, antwortete der Labris. »Haben wir richtig gehandelt?« Ich lächelte. »Ihr habt völlig richtig gehandelt. Niemand sollte ein Tier, das in Freiheit aufgewachsen ist, in einen Käfig sperren. Meine Freunde und ich müssen euch nun wieder verlassen. Vesta erwartet uns.« »Wir wissen es«, sagte der Labri. »Wir wünschen euch eine glückliche Heimkehr in eure eigene Welt.« Ich fragte mich, woher die Labris wußten, daß Ubali und ich Fremde auf dieser Welt waren und daß wir nach Hause wollten, aber ich sprach diese Frage nicht aus. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, nahm Aerual-thane uns wieder auf und stieg empor. Der Wind wurde stärker und fing sich im Wolkensegel. Bald würden wir bei Vesta sein ... 84
Die Sonne hing schon tief über dem Horizont, als Aerula-thane abermals tiefer ging, so daß wir die zur Hälfte von blutrotem Licht angestrahlte Burg des Namenlosen sehen konnten. Sie war so bizarr wie beim erstenmal, mit ihren Wällen, Mauern, Türmen, Türmchen und Zinnen, aber das Düstere, Drohende, das einst von ihr ausgegangen war, war verspielter Lieblichkeit gewichen. Meine Wanderwolke senkte sich vor der niedergelassenen Zugbrücke herab, umfaßte uns mit ihren Wolkenarmen und setzte uns auf den Boden. Unterhalb des Berges warte ich auf euch, Dragon! teilte sie mir mit. Danke, Aerula-thane! erwiderte ich. Das Fallgitter hinter der Zugbrücke war hochgezogen, und als wir nebeneinander durch das Tor schritten, hallte ein liebliches Singen und Klingen durch die Lüfte. Der Innenhof der Burg war von blauen Flämmchen erhellt, die aus den Mündungen von gläsernen Trichtergebilden an den Wänden flackerten – und mitten im Innenhof stand eine Frau, bei deren Anblick sich meine Sinne zu verwirren drohten. Die Frau war wunderschön – trotz oder gerade wegen ihres exotischen Aussehens. Ihr Haar bewegte sich in einem leichten Luftzug, als bestünde es aus weißen Wolkengespinsten Aerulas, ihre Augen schimmerten blaugrün und unergründlich wie die tiefen Wasser der Meere Tydes, in denen das innere Feuer Skortschs leuchtet, ihre Haut hatte die Farbe sattbraunen, fruchtbaren und von Erthu gesegneten Boden – und die ganze Erscheinung war von einer inneren Lebendigkeit und Lebenskraft durchdrungen, die den reinen Geist Vitus selbst ausstrahlte. 85
Ich merkte nicht, daß Thamai und Ubali wie angewurzelt stehenblieben, sondern ging, als wäre ich in Trance, weiter auf die Frau zu. Erst wenige Schritte vor ihr vermochte ich mich teilweise aus der Verzauberung zu lösen, in die ihr Anblick mich gestürzt hatte. »Vesta?« fragte ich unsicher. Die Frau lächelte, und in diesem Lächeln lag ein Versprechen ungeahnter Glückseligkeit. Das verwirrte mich noch mehr. »Wenn du der Herr der Elemente bist, hast du dich sehr verändert«, bemerkte ich. »Nicht der Herr der Elemente, sondern jetzt die Herrin der Elemente«, sagte die Frau. »Willkommen, Dragon, mein Befreier und tapferer Kämpfer! Willkommen mit deinen Freunden, die ebenfalls meine Gäste sein sollen. Aber du, Dragon, bist mein besonderer Gast. Du sollst an meiner Seite weilen bei Tag und bei Nacht und solange du willst. Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen – und gemeinsam werden wir die Welt neu ordnen. Dir zu Ehren will ich, solange du bei mir weilst, voll und ganz Weib sein, das Gegenstück des Mannes. Denke daran, wenn du mir nahe bist und vergiß, daß mir außer Vitu noch andere Elemente innewohnen. Daß du es vergißt, dafür wird Vitu Sorge tragen, die Mutter allen Lebens auf dieser Welt!« Ich begriff, was Vesta damit sagen wollte. Sie hatte mir alles versprochen, was eine Frau einem Mann versprechen kann – aber sie hatte auch dafür gesorgt, daß ich keine Hemmungen empfand, weil ich mir Vesta immer als männliches Wesen vorgestellt hatte. In Wirklichkeit war Vesta ja kein Mensch – und damit weder ein Mann noch eine Frau in menschlichen 86
Sinne –, sondern ein Geschöpf, dessen Verständnis sich dem menschlichen Geist entzog. Seit ihr alle Elementargeister innewohnten, war Vesta nicht mehr dazu verurteilt, sich als bloßer Schemen zu zeigen, sondern konnte jede beliebige Gestalt annehmen. Warum also nicht die Gestalt eines göttlichen Weibes, das alles besaß und zu geben bereit war, das ein Mann sich nur wünschen konnte! Dennoch fühlte ich mich ein wenig befangen, als ich mir klar wurde, daß ich Vesta besitzen konnte, wann immer ich das wollte. Besaß ein Sterblicher überhaupt das Recht, eine Göttin anzurühren? Das war die Frage, die mich quälte. Allerdings nicht lange. Bevor ich weitere Überlegungen anstellen konnte, hatte Vesta mich bei der Hand genommen und führte mich in ihre Burg, nicht ohne zuvor meinen Freunden bedeutet zu haben, uns zu folgen. Wir gelangten in einen mit tausend Kerzen geschmückten festlichen Saal mit einer gedeckten Tafel, auf der edles Porzellan mit edlen Metallen darin wetteiferte, das Licht der tausend Kerzen vielfältig widerzuspiegeln. Die Göttin der Elemente klatschte in die Hände – und die Schüsseln, Platten, Schalen und Krüge füllten sich mit den erlesensten Speisen und Getränken. »Bitte, greift zu!« forderte Vesta uns auf. »Eßt und trinkt! Ihr habt große Anstrengungen und Entbehrungen hinter euch – und ich will versuchen, euch für alles zu entschädigen.« Wir langten dennoch nur zögernd zu. Erst, als wir sahen, daß auch Vesta den Speisen und Getränken zusprach, entspannten wir uns. 87
Alles war wunderschön. Alles mundete köstlich. Und doch konnten meine Sinne weder Speisen und Getränke voll würdigen, denn sie wurden von Vestas Gestalt, ihren Bewegungen und Worten gefesselt. Alles an ihr war perfekt, wie man es von einer Göttin nicht anders erwarten konnte. Das traf auch auf ihre sinnliche Ausstrahlung zu, und ich war froh, als Vesta uns für einige Zeit allein ließ, um noch etwas zu regeln, wie sie sagte. Ubali schien schon lange auf diesen Augenblick gewartet zu haben, denn er stellte den Pokal ab, aus dem er soeben getrunken hatte, beugte sich zu mir über den Tisch und raunte: »Hast du gehört, daß Vesta sagte, sie wolle mit dir zusammen die Welt neu ordnen, Dragon?« Ich nickte, sagte aber nichts. Ubalis Gesicht verdüsterte sich. »Ich denke an Thamai, Freund!« sagte er eindringlich. »Du weißt ja, daß Vitu sich vor dem letzten Kampf gegen Akkeron beharrlich weigerte, Vesta Gehorsam zu leisten, und daß der Lebensgeist erst angesichts des drohenden Untergangs anderen Sinnes wurde.« »Ja, ich weiß, Ubali«, erwiderte ich. »Und ich ahne auch, worauf du hinauswillst. Thamai ist ein Geschöpf Vitus und muß fürchten, daß sie verschwindet, wenn Vesta den Lebensgeist bestraft, indem sie alle seine Geschöpfe auflöst – so, wie sich alle Vitu-kerri aufgelöst haben.« »So ist es«, bestätigte Ubali. »Thamai ist eine Vituperri oder eine Vitu-thaimoa. Sie wäre also mitbetroffen. Aber ich liebe sie und will nicht, daß ihr etwas zustößt.« Ich nickte, sah Thamais besorgte Miene und lächelte ihr aufmunternd zu. 88
»Was in meiner Macht steht, um das zu verhindern, werde ich tun, meine Freunde«, erklärte ich. »Ich will Vesta beim Wort nehmen. Sie hat gesagt, mit mir zusammen die Welt neu ordnen zu wollen. Dann muß sie aber auch einige Ratschläge von mir annehmen – beziehungsweise mir einige Bitten erfüllen. Ich denke, das wird sie auch tun.« In diesem Augenblick kehrte Vesta zurück, ein wissendes Lächeln auf dem Gesicht. »Worüber habt ihr gesprochen?« fragte sie. Sie wußte es, da war ich ganz sicher, dennoch antwortete ich: »Vesta, du hast mich gebeten, mit dir zusammen diese Welt neu zu ordnen. Doch ich möchte dir nicht dreinreden, wenn ich es vermeiden kann. Nur um ein paar wenige Dienste für meine Freunde und mich bitte ich dich.« »Dann sprich, Dragon!« forderte Vesta mich auf. »Die erste Bitte lautet, daß du bei der Neuordnung der Welt Nachsicht mit Vitus Geschöpfen haben mögest«, sagte ich. »Vor allem derart, daß Vitus Geschöpfe nicht einfach ausgelöscht werden wie die Vitu-kerri.« Vesta lachte ein Lachen, das nach dem Klingen silberheller Glocken klang. »Dragon, du vergißt, daß ich nicht der Schemen bin, als den du mich kennenlerntest, sondern daß mir alle Elementargeister innewohnen – also auch Vitu. Wie könnte ich dann Vitus Geschöpfe grausam für etwas strafen, für das sie nicht verantwortlich waren. Ich verspreche dir, daß ich die Welt nur langsam und maßvoll verändern werde, so daß auch alle widerrechtlich geschaffenen Lebewesen die ihnen gemäße Spanne durchleben können – allerdings ohne das Vermögen, sich fortzupflanzen. 89
Was die kleine Thamai betrifft, so geht sie auf eine Welt, auf der meine Gesetze keine Gültigkeit besitzen. Sie wird soviel Kinder haben können, wie sie will. Auf meiner Welt aber werde ich dafür sorgen, daß das Geschlecht der Menschen nach und nach wieder von allem Land Besitz ergreift, das vormals den Menschen gehörte und nur durch das chaotische Wirken der ›wilden‹ Elemente in Regionen des Todes verwandelt wurden.« Ubali sprang auf, ergriff Vestas Hand und küßte sie impulsiv. »Danke, meine Göttin!« sagte er ergriffen. »Habt Dank für Eure Güte!« »Bedanke dich bei Dragon«, sagte Vesta. Sie wandte sich wieder mir zu, indes Ubali von ihr abließ und seine überglückliche Thamai in die Arme schloß. »Was wünscht du dir noch von mir, Dragon?« fragte sie lächelnd. »Nichts, was du uns nicht ohnehin versprochen hattest«, antwortete ich. »Ich bitte dich, daß du Aerula-thane veranlaßt, meine Gefährten und mich zu dem anderen Weltentor zu bringen, von dem du ja bereits gesprochen hattest, damit wir so schnell wie möglich auf unsere Welt zurückkehren können.« »Das wird geschehen«, versprach Vesta. »Aber noch ist nicht alles getan, was zu deinem Nutzen getan werden muß. Darum bitte ich dich und deine Gefährten, vorerst meine Gäste zu sein.« Sie hob ihren Pokal. »Und nun wollen wir feiern!« Vesta bot alle ihre Kräfte auf, um die Feier zu einem vollen Erfolg zu machen. 90
In schleierartige Gewänder gekleidete Elfen führten zu lieblicher Musik ihre Reigen auf, Lichtkaskaden stürzten von den Wänden der Halle, und zauberhafte Illusionen verschönten die Stunden. Wir alle genossen die Feier auf unsere Weise. Ubali und Thamai blickten aus seligen Augen auf die Tänze der Elfen. Zwischen Essen und Trinken liebkosten sie sich immer wieder mit Berührungen und mit Blicken. Ganz anders Vesta und ich. Wir saßen uns gegenüber, sprachen über belanglose Dinge, tranken uns zu und nahmen nur wenig der zahlreichen köstlichen Speisen zu uns. Wir berührten uns nicht körperlich, aber unsere Blicke sprachen eine eindeutige Sprache. Ich spürte, wie das Begehren von mir immer stärker Besitz ergriff, ein Begehren, das von der Kraft des Lebensgeistes selbst angefacht worden war und gegen das es keinen Widerstand gab. Als die Feier ihren Höhepunkt erreicht hatte, erhoben Vesta und ich uns gleichzeitig. Ich ging um die Tafel herum und bot ihr meinen Arm – und so gingen wir, bis wir das prunkvolle Schlafgemach erreichten, das einer Göttin würdig war. Vesta legte ihre Arme um meinen Hals, blickte mich aus Augen an, in denen das Feuer der Leidenschaft loderte und flüsterte: »Komm zu mir, mein Ritter!« Da zog ich sie sanft an mich, nahm sie in meine Arme und küßte sie. Vesta erwiderte meine Küsse, die immer leidenschaftlicher wurden, bis unsere Sinne berauscht der Erfüllung entgegentaumelten. Bald sanken wir gemeinsam auf Vestas Lager, und unsere leidenschaftlichen Umarmungen wurden zur in91
nigsten Verschmelzung, die es unter den Himmeln aller Welten nur geben kann. Gegen Morgen versanken wir in einen tiefen traumlosen Schlaf, und als ich wieder erwachte, war ich allein. Unwillkürlich tasteten meine Hände die Stelle ab, wo Vesta gelegen hatte, bevor wir eingeschlafen waren. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder so klar denken konnte, daß ich sah, Vesta war gegangen. Trauer erfüllte mich. Doch nur für einen Augenblick – denn ich wurde mir bewußt, daß ich nicht traurig, sondern dankbar und fröhlich sein mußte. Die Herrin der Elemente einer ganzen Welt hatte mich geliebt! Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und gab mich für eine Weile den süßen Erinnerungen hin. Mir war klar, daß unsere Liebesnacht die letzte gewesen sein mußte, denn ich durfte über all dem Schönen, das ich erlebt hatte, nicht meine Pflichten meiner Welt gegenüber vergessen. Und wieder wurde mir klar, daß ich außer Vestas Liebe noch etwas erhalten hatte, etwas, das ich noch schwach und verborgen in mir fühlte. Es mußte ein Teil der elementaren Kräfte Vitus gewesen sein, der auf mich übergegangen war. Vesta hatte ja während der Nacht dem Lebensgeist ganz das Kommando über ihren Körper überlassen – und Vitu hatte allen Grund, mir für meine Fürsprache zu danken. Ich schwang mich aus dem riesigen Bett und fand in einem Nebenraum Gelegenheit zum Baden. Als ich in das Schlafgemach Vestas zurückkehrte, lagen meine Kleider und meine Waffen auf dem Bett. Alles war gesäubert und instandgesetzt. Ein wenig traurig über diese Abschiedsgeste Vestas kleidete ich mich an, dann verließ ich das Schlafgemach 92
und begab mich in die Halle hinunter, in der wir letzte Nacht gefeiert hatten. Die Halle wirkte völlig verändert. Helles Sonnenlicht fiel durch ihre Fenster, und überall standen und lagen herrliche duftende Blumen. Ein kleiner Tisch war zum Frühstück gedeckt. In der Mitte der Halle stand Vesta, schön wie der junge Morgen und mit strahlendem Lächeln. Sie war noch schöner als am Abend zuvor – falls das überhaupt denkbar war. Wir umarmten uns zur Begrüßung, dann führte sie mich zum Tisch und bat mich, zuzugreifen. »Es fällt mir schwer, dich gehen zu lassen, Dragon, Geliebter«, sagte Vesta mit dunkler, leicht vibrierender Stimme. »Aber ich weiß, daß du gehen mußt.« »Auch ich gehe nicht gerne, Vesta«, erwiderte ich, ohne die Speisen anzurühren. »Du hast mich zum glücklichsten Mann aller Welten gemacht, und dafür werde ich dir immer dankbar sein. Wenn ich noch irgend etwas für dich tun kann, dann sage es mir bitte.« Vesta nahm meine Hände, streichelte sie sanft und sagte: »Auch ich war sehr glücklich mit dir, Dragon. Ja, du kannst noch etwas für mich tun. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, die Entwicklung der Menschheit meiner Welt so zu lenken, daß Krieg, Not, Gewalt und Grausamkeit bald der Vergangenheit angehören und Friede, Glück und Eintracht als höchste Ziele menschlichen Strebens gelten werden. Da ich aber nicht alles allein tun kann, brauche ich einen Helfer. Du, Dragon, mußt wieder gehen – leider. Darum bitte ich dich, solltest du auf deiner Welt wieder dem Namenlosen begegnen, der durch seine zweitausendjährige Buße geläutert sein wird, dann fordere ihn 93
auf, zu mir zurückzukehren und hier seine Arbeit zu tun. Zum Zeichen, daß ihm verziehen sei, brauchst du ihn nur mit seinem richtigen Namen anzureden. Dieser Name ist Assadlion. Behalte ihn gut, Dragon!« Ich beugte mich vor und küßte Vestas zarte Hände. »Da kannst dich darauf verlassen, daß ich deine Bitte zu meinem Wollen machen werde, Geliebte«, versicherte ich. »Danke, Dragon«, erwiderte Vesta. »Und nun iß und trink! Du bedarfst der Stärkung, denn eine beschwerliche Reise liegt vor dir.« »Wird Aerula-thane mich und meine Gefährten nicht zum Weltentor bringen?« fragte ich verwundert. »Die Wanderwolke wird euch direkt vor dem einzigen Eingang zum Labyrinth von Dhaugal absetzen«, erklärte Vesta. »Am Ende dieses Labyrinths liegt das Tor zur anderen Welt. Ob ihr auf eure Welt kommt, wenn ihr durch dieses Tor geht, das allerdings kann ich nicht sagen. Außerdem ist es nicht sicher, ob der Ablauf der Zeit auf der Welt hinter dem Tor – sei es eure oder eine andere Welt – der gleiche ist wie hier, auf meiner Welt.« »Wir werden es ergründen«, sagte ich zuversichtlich. Vesta blickte mich nachdenklich an, dann fuhr sie fort: »Das ist aber noch nicht alles. Im Labyrinth von Dhaugal lauern Kräfte, die jedem Eindringling gefährlich werden. Am gefährlichsten werden sie denen, die am meisten wissen. Deshalb wird es besser sein, ihr wißt nicht – oder doch so gut wie nichts.« Sie lächelte, hob die Stimme und erklärte: »Was du nicht besitzt, kannst du nicht verlieren – doch du kannst es gewinnen!« 94
»Dunkel ist deiner Worte Sinn, o Göttin!« erwiderte ich. »Sie werden ihren Sinn Schritt für Schritt erhalten, sobald ihr das Labyrinth von Dhaugal betreten habt, Dragon«, sagte Vesta ernst. »Wenn du dich an die Stunden unserer Liebe und an diese Worte erinnerst, wirst du begreifen – und du wirst dicht vor dem Weltentor sein. Ich wünsche dir und deinen Gefährten viel Glück.« Vesta stand auf, ging zu einer Truhe und öffnete sie. Sie entnahm ihr einen geheimnisvoll aussehenden Beutel und reichte ihn mir mit den Worten: »Nimm diesen Beutel, Dragon. Er enthält die Geschenke der Elementargeister – und du wirst sie brauchen.« Mehr verriet Vesta nicht. Außerdem betraten in diesem Augenblick Ubali und Thamai den Saal. Ich brauchte nur einen Blick auf ihre Gesichter zu werfen, um zu wissen, daß sie die Nacht ähnlich verbracht hatten wie Vesta und ich. Vesta ließ uns allein und bat uns, nach dem Frühstück in den Innenhof der Burg zu kommen. Wir sprachen den Speisen und den Getränken gut zu, wobei ich meinen Gefährten berichtete, was Vesta mir über das Labyrinth von Dhaugal erzählt hatte. »Was du nicht besitzt, kannst du nicht verlieren – doch du kannst es gewinnen!« wiederholte Ubali nachdenklich Vestas Ausspruch. »Das klingt geheimnisvoll.« Er trank einen Schluck kalte Milch. »Aber Weiber waren schon immer ein Rätsel – und erst recht Göttinnen. Lassen wir die Dinge doch einfach an uns herankommen.« Ich sagte nichts darauf, pflichtete ihn aber in Gedanken bei, zumal uns auch gar nichts anderes übrigblieb. Später gingen wir dann hinaus auf den Innenhof. Als ich Aerula-thane sah, wußte ich, daß die Stunde des Abschieds von Vesta gekommen war. 95
Ich wollte zu ihr eilen, um sie noch einmal ganz fest in meine Arme zu schließen, aber Vesta hob die Hand und sagte: »Warte noch, Dragon! Zieh dein Schwert und strecke es mir entgegen!« Ich gehorchte, obwohl ich nicht wußte, was Vesta damit bezweckte. Als ich ihr das Schwert entgegenhielt, streckte sie ihrerseits ihre Rechte meinem Schwert entgegen -und plötzlich zuckten Blitze aus Vestas Fingern und schlugen in mein Schwert, das zu glühen begann, ohne sich dabei zu erwärmen. Als die Blitze aufhörten, trat ich verblüfft einen Schritt zurück und betrachtete mein Schwert, dessen Klinge in kalter Rotglut leuchtete. Vesta aber lächelte und sagte: »Du wirst dein Schwert noch oft brauchen, um Böses zu bekämpfen und große Dinge zu vollbringen, Dragon – und es wird dir dabei gute Dienste leisten. Nur achte stets darauf, daß du die Klinge nicht gegen Unschuldige richtest. Wenn du das beherzigst, wird sie dir treu dienen und niemand anderem gehorchen.« Sie breitete die Arme aus, eine Geste, die nicht mißzuverstehen war. Ich schob mein Schwert in die Scheide zurück, eilte auf Vesta zu und umarmte und küßte sie leidenschaftlich. Der Abschiedsschmerz verstärkte die Leidenschaft noch. Doch dann befreite sich Vesta aus meiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und sagte: »Alles Gute – und viel Glück, Dragon!« »Leb wohl!« erwiderte ich, wandte mich rasch ab und ließ mich von einem Wolkenarm auf Aerula-thane heben. 96
Meine Gefährten folgten mir auf dem gleichen Wege, dann stieg die Wanderwolke empor. Ich blickte nicht zurück, sondern saß, wie betäubt vom Trennungsschmerz, in der Mulde, die Aerula-thane auf ihrem Rücken für uns geformt hatte. Viel, viel später landete meine Wanderwolke in der Nähe einiger düsterer Ruinen, hinter denen eine steile Felswand aufstieg. Weit im Hintergrund waren die eisgekrönten Gipfel der Himmelsberge zu sehen. In der Felswand ist der Eingang zum Labyrinth von Dhaugal, Dragon! teilte Aerula-thane mir mit. Leb wohl! »Leb wohl!« sagte ich laut. »Und vielen Dank für alles, was du für mich getan hast, Aerual-thane. Wir sind echte Freunde geworden, und der Abschied tut weh.« Meine Wanderwolke erwiderte nichts darauf, aber ich spürte einen Impuls von Trauer und Wehmut. Dann wurde ich von einem Wolkenarm umfaßt und sanft abgesetzt. Und dann wurde es dunkel ...
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7.
Ein Lichtschein zitterte über dem Wasser, spielte sich in seiner Oberfläche und befreite das jenseitige Ufer von abgrundtiefer Finsternis. Und auch in meinem Kopf wurde es hell. Alle die wesenlosen Schatten, die dort genistet und den Blick auf die Wahrheit verschleiert hatten, waren davongeflogen, gleich einem aufgescheuchten Krähenschwarm. Nur der Dunkle Fährmann war als Gebilde aus geballter Dunkelheit geblieben. Aber das störte mich nicht mehr. Ich wußte wieder mit messerscharfer Klarheit, woher ich kam und wohin die Reise ging. Als ich zu meinen Gefährten blickte, sah ich, daß Ubali seinen starken Arm um die bebenden Schultern Thamais legte. Das Gesicht meines schwarzen Freundes hatte sich mit einem Netz feiner Schweißperlen überzogen, aber die Augen leuchteten im Feuer der Erkenntnis. »Dragon?« sagte er. Ich lächelte ihm zu und erwiderte: »Ja, mein Freund, alles ist klar. Ein Zauber Vestas beraubte uns unserer Erinnerungen in dem Augenblick, in dem wir vor dem Labyrinth von Dhaugal ankamen. Wahrscheinlich hätten sich die Dämonen unserer bemächtigt, wenn wir unsere Erinnerungen gehabt hätten.« »Demnach hat Vesta uns vor diesem Schicksal bewahrt?« fragte Ubali. Ich nickte. »So ist es«, antwortete ich. »Sie formulierte ihren Zauber aber auch so, daß wir während der Alpträume im Labyrinth nach und nach unsere Erinnerungen zurück98
erhielten – so daß wir nunmehr, dicht vor dem Tor zu unserer Welt, wieder alles wissen, was wir früher gewußt haben.« »Vesta?« fragte Jammad. »Ist der Herr der Elemente kein Gefangener in der Burg des Namenlosen mehr?« »Nein«, sagte ich. »Vesta ist frei, und alle Elemente gehorchen wieder nur ihm, denn in ihm lebt ihr Inneres.« »Dann wird die alte Ordnung wieder Einkehr auf meiner Welt halten«, erwiderte Jammad. »Wenn es uns gelingt, die letzten lebenden Melniken zu befreien, kann ich dann mit ihnen durch das Weltentor zurückkehren auf unsere Welt?« »Gewiß, Jammad«, versicherte ich ihm. »Vesta braucht viele Menschen, die die verwüsteten Ländereien besiedeln und wieder fruchtbar machen.« In Jammads Miene zuckte es, dann senkte der Melnike den Kopf und weinte lautlos vor sich hin. Ich nahm Rücksicht auf seine Gefühle und sprach ihn vorläufig nicht an. Der Dunkle Fährmann hatte unseren Nachen inzwischen mit geheimnisvollen Kräften zum anderen Ufer gebracht. »Wir sind dir zu Dank verpflichtet«, sagte ich zu ihm. »Können wir irgend etwas für dich tun?« »Niemand vermag etwas für mich zu tun«, antwortete der Dunkle Fährmann tonlos. »Bis zum Ende aller Welten werde ich mein Schiff über den See führen, hin und zurück, zurück und hin. Dazu bin ich verdammt.« Ich erschauderte. Wer oder was mochte sich hinter dieser Gestalt aus zusammengeballter Dunkelheit verbergen, welches Schicksal, welche düstere Vergangenheit? Aber das war wohl eine der Fragen, die niemals beantwortet wurden. 99
Wir stiegen aus, betraten ein Ufer, das hell war – und hinter uns schloß sich wieder der Mantel der Finsternis um den See, den Nachen und den Dunklen Fährmann darin. »Was immer dieses Wesen verbrochen haben mag, das sich hinter dem Dunklen Fährmann verbirgt, es hat, so denke ich, genug gesühnt«, meinte Ubali. »Das denke ich auch«, erwiderte ich. »Aber ihm zu helfen, liegt außerhalb unserer Macht. Gehen wir!« »Sind nun die Alpträume endgültig vorbei?« fragte Thamai. »Bestimmt«, antwortete Ubali beruhigend. »Sie sind doch vorbei, Dragon, oder?« Ich zuckte mit den Schultern, wollte darauf nicht antworten, denn ich hätte nur raten können. Wir schritten rasch vorwärts und gelangten wieder in ein Höhlenlabyrinth. Jammad zeigte uns den richtigen Weg, aber an seinem Atem erkannte ich, daß er unser Tempo nicht lange durchhalten würde. Die Flucht vor Shebar und der Hossa-Meute hatte seine Kraftreserven aufgezehrt. Wahrscheinlich hielt ihn nur die Hoffnung aufrecht, Zeuge unseres Sieges über die Blutjäger von Neu-Atlantis zu werden. Nach einiger Zeit schwankte er plötzlich. Ich ergriff seinen Arm und sagte: »Wir müssen eine Rast einlegen.« »Aber nicht für lange«, erwiderte der Melnike schwach. »Das Weltentor ist schon ganz nahe. Es können nicht mehr als zweihundert Schritt sein.« »Nur so lange, bist du dich etwas erholt hast«, gab ich zurück. Ich half ihm, sich zu setzen, und Thamai gab ihm zu essen und zu trinken. 100
Ubali ging unruhig auf und ab. Nach einer Weile blieb er vor mir stehen und sagte: »Ich möchte vorausgehen, um zu sehen, was hinter dem Weltentor liegt, Dragon. Vielleicht ist dort gar nicht unsere Welt. Das hat Vesta uns jedenfalls nicht sagen können.« »Ich werde dich nicht hindern, vorauszugehen«, erwiderte ich. »Aber ich rate dir davon ab. Zwischen uns und dem Weltentor können noch unbekannte Gefahren liegen. Es ist besser, wir bleiben zusammen.« Ubali überlegte eine Weile, dann zuckte er mit den Schultern. »In Ordnung, ich bleibe«, erklärte er. Ein dumpfes Grollen schien seine Worte unterstreichen zu wollen. Ich spürte, daß der Boden des Höhlengangs, in dem wir uns befanden, bebte. »Wir müssen weiter!« stieß Jammad hervor. »Schnell, bevor die Decke über uns einstürzt!« Ich teilte seine Befürchtung zwar nicht, aber Ubali war nur zu schnell bereit, auf seine Äußerung zu hören. Es war ganz klar, daß er aus diesem von Geistern und Dämonen beherrschten Labyrinth hinaus wollte. Er half dem Melniken hoch, und wir setzten unseren Weg fort. Nach drei Biegungen öffnete sich vor uns der Weg in eine große hohe Kuppelhalle. »Das Weltentor!« rief Jammad triumphierend. »Wir haben es geschafft! Die Trennlinie zwischen beiden Welten verläuft genau durch die Mitte dieser Halle.« Ich atmete auf. In diesem Augenblick tauchten in einer Maueröffnung auf der gegenüberliegenden Seite der Halle drei Hossas auf – und hinter ihnen kam ein schwerbewaffneter Mann. 101
»Shebar!« flüsterte Jammad und wurde blaß. Ich erkannte mich aus meinem Traum wieder, in dem ich Shebar, der Oberste Blutjäger der Westregion von Neu-Atlantis, gewesen war. Shebar entdeckte uns ebenfalls – doch er erkannte nur den Melniken. Uns konnte er nicht kennen, da er an dem bewußten Traum persönlich nicht teilgenommen hatte. Ich sah, wie der Blutjäger seine Zauberpfeife an die Lippen hob und hörte erneut ein dumpfes Grollen, das den Boden unter meinen Füßen erzittern ließ. Die drei Hossas stürzten flatternd vorwärts, gefolgt von Shebar. Als die Hossas und der Blutjäger die Trennlinie zwischen den beiden Welten überquerten, meldeten sich die Kräfte des Erdinnern abermals mit einem unheilverkündenden Grollen. Plötzlich schossen aus den zahlreichen Bodenrissen rotbraune Gasschwaden hervor, umhüllten den Blutjäger, die Hossas und uns und verdunkelten den eben noch blauen Himmel ... Wir ließen unsere Pferde sich hinlegen, zogen die Kapuzen über unsere Köpfe und legten uns hinter die Pferdeleiber, die uns wenigstens etwas Schutz vor den rotbraunen Sandmassen boten, die der Wüstensturm vor sich hertrieb. Gegen die entfesselten Gewalten der Natur half nur Geduld. Dennoch verwünschte ich den Sturm, der uns dicht vor unserem Ziel, der Blutburg Shebars, überrascht hatte. Je länger der Sturm tobte, desto mehr verwünschte ich Shebar. Zwar wußte ich, daß Shebar nichts für den Sandsturm konnte, aber indirekt war er schuld daran, daß ich ihn besuchen wollte – und damit auch daran, 102
daß ich mit meiner Leibwache in einen Sandsturm geraten war. Doch so plötzlich, wie der Sturm losgebrochen war, so plötzlich flaute er auch wieder ab. Mit einemmal war es still; nur das leise Rieseln von Sand war zu hören. Die Pferde schnaubten und schüttelten die Köpfe, und meine Begleiter standen auf. Ich blickte auf und sah, daß der Himmel über der Wüste wieder klar und blau war. Langsam stand auch ich auf und schaute nach Osten. Dort stand sie, die Blutburg – dort reckte sie ihre Mauern und Türme vom Gipfel eines rostroten Felsklotzes in die hitzeflimmernde Luft. »Macht die Tiere fertig!« herrschte ich meine Leibwache an. Die beiden Männer und die Frau – ich fragte mich vergeblich, warum ich meine Stiefschwester Thamai mitgenommen hatte – trieben die Pferde hoch, säuberten ihre Ohren, Nüstern und Augen vom Staub und reinigten die Sättel. Anschließend überreichte Ubali, mein Erster Leibwächter, mir die prunkvolle lange Blutrobe. Ich streifte sie über mein Reisegewand und sorgte dafür, daß das Blutamulett darüberkam. Dann nahm ich die Zügel in die linke Hand, legte die Hand auf den Mähnenkamm meines Tieres, trat mit der Stiefelspitze von außen her in den linken Steigbügel, hielt mich mit der rechten Hand am hinteren Sattelrand fest und schwang mich in den Sattel. Mein Vollbluthengst tänzelte unruhig, weil ich dadurch, daß die knöchellange Robe mich behinderte, die linke Fußspitze in den Brustkorb meines Pferdes gebohrt hatte. Ich klopfte ihm beruhigend den Hals. 103
Inzwischen waren meine Begleiter ebenfalls aufgestiegen. Thamais Wallach nickte heftig mit dem Kopf und scharrte mit dem linken Vorderfuß. Ich schnalzte mit der Zunge, spannte das Kreuz an und drückte meinem Tier die Unterschenkel an, damit es vorwärts ging. Eine Weile später ließ ich mein Pferd angaloppieren. Ubali und der junge Leibwächter Jammad trieben ihre Tiere ebenfalls zum Galopp an; Thamais Pferd jedoch brachte nur einen Trab zuwege, obwohl meine Stiefschwester es buchstäblich mit Händen und Füßen überfiel, um es in einen Galopp hineinzutreiben. Ich lächelte still in mich hinein. So, wie ich die Lage beurteilte, würde Thamais Wallach sehr bald mit ihr blindlings davonstürmen. Ich gönnte ihr die Angst, die sie bei dem unkontrollierten Galopp ausstehen würde. Tatsächlich raste der Wallach wenig später an uns vorbei. Thamai beugte sich weit vor, als wollte sie den Hals des Pferdes umarmen, anstatt mit dem Gesäß in der Bewegung mitzugehen. Kurz darauf verfiel sie ins entgegengesetzte Extrem und hängte sich dem Tier mit zurückgelegtem Oberkörper ins Maul. Prompt ging der Gaul vorn hoch, und Thamai wäre heruntergefallen, wenn Ubali ihr nicht beigesprungen wäre und die Zügel des Tieres gepackt hätte. Mein schwarzhäutiger Leibwächter schaute mich danach vorwurfsvoll an. Doch ich zuckte nur mit den Schultern. Thamai hätte eben nicht mitkommen dürfen, wenn sie nicht reiten konnte. Aber sie hatte ja darauf bestanden. Wahrscheinlich hoffte sie, auch den Obersten Blutjäger der Westregion zu ihrem Geliebten machen zu können. Die anderen Blutjäger hatten sich schon in ihren Netzen gefangen – mehr oder weniger. Als wir ungefähr noch fünfhundert Schritt vom Felssockel der Blutburg entfernt waren, erhoben sich einige 104
hundert Hossas von den Türmen und Zinnen. Die monströsen Geschöpfe flogen uns in geringer Höhe entgegen und kreisten dann lautlos über uns. Thamai drängte sich mit ihrem Pferd dichter an mich. Sie wußte, daß mir, dem Amuletträger Vodor, alle Hossas gehorchten, weil ich das Blutamulett trug. Sie würden weder mich angreifen noch jemanden, der unter meinem Schutz stand. Wenig später öffnete sich das Bluttor. Ein Reiter sprengte heraus, begleitet von drei weiteren Hossas, die dicht hinter ihm herflogen. Als der Reiter näher kam, erkannte ich Shebar. Shebar ritt uns entgegen. Dicht vor mir, den er schon auf weite Entfernung an der Blutrobe und an dem strahlenden Amulett als den Herrn allen Blutes und damit auch seinen Herrn erkannt haben mußte, zügelte er sein Tier, hob die Hand und beugte den Nacken. »Gestattet mir gnädigst, Herr allen Blutes und Herrscher über Neu-Atlantis, daß ich mich für Euren Besuch untertänigst bedanke und Euch in Eurer Blutburg, die Ihr mir zum Leben gabt, willkommen heiße!« sagte er feierlich und unterwürfig zugleich. »Der Weg zu dir war beschwerlich«, erwiderte ich in Erinnerung an den Sandsturm. »Warum begrüßt du uns nur mit Worten, anstatt deine Sklavinnen und Sklaven zu schicken und uns Erfrischungen anbieten zu lassen?« Shebars Gesicht wurde blaß, und in seinen Augen erschien ein trotziges Funkeln. »Herr, Ihr wißt, daß meine Sklavinnen und Sklaven beim Großen Fest der ...« »Genug geschwätzt!« unterbrach ich ihn. »Da ich nie etwas vergesse, brauchst du mich auch an nichts zu er105
innern. Sorge dafür, daß unsere Pferde und wir versorgt werden, wenn wir in deine Burg kommen!« »Ja, Herr!« erwiderte Shebar, drehte um und ritt zu seiner Blutburg zurück. »Warum warst du so schroff zu ihm?« fragte Thamai vorwurfsvoll. »Schweig!« herrschte ich sie an. »Shebar ist mein Knecht, ein Nichts gegen mich, den Herrscher über NeuAtlantis. Wenn er sich nicht zu helfen weiß, ist er nicht länger würdig, Oberster Blutjäger der Westregion zu sein.« Ich gab meinem Pferd die Sporen, so daß es mit einem mächtigen Satz angaloppierte. Im gestreckten Galopp ritt ich in den Innenhof der Burg ein, und in der Mitte brachte ich mein Tier zum Stehen. Shebar hatte sein Pferd mit den Zügeln an einem in die Innenmauer eingelassenen Ring gebunden und stand mit verschränkten Armen vor der offenen Tür des Hauptturms. Er blickte mir und meinen Begleitern finster entgegen. Ich trieb mein Tier dicht an ihn heran und brachte es vor ihm zum Tänzeln. »Was hast du unternommen, um sicherzustellen, daß unsere Tiere und wir versorgt werden, Shebar?« fragte ich drohend. »Nichts, Herr!« antwortete Shebar. »Nichts?« schrie ich ihn an. »Gilt dir der Befehl deines Herrn nichts mehr?« »Er gilt noch immer, wenn es eine Möglichkeit gibt, ihn zu erfüllen, Herr«, erwiderte Shebar. »Verzeiht mir, Herr, aber in meiner Situation kann ich nicht jeden Eurer Befehle erfüllen.« »Ich stelle fest, daß du dich gegen deinen Herrn auflehnst, Shebar!« erklärte ich. »Das ist ein Vergehen, das 106
nur mit deinem Blut abgewaschen werden kann. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?« »Das hier!« rief Shebar grimmig und zog sein Schwert. Mit der linken Hand schleuderte er meinem Tier eine Handvoll Panikstaub entgegen. Der Hengst wich erschrocken zurück, knickte in den Hinterbeinen ein und drehte sich zweieinhalbmal um sich selbst. Dann stob er davon und jagte bockend durch den Innenhof. Ubali trieb sein Pferd dicht neben meines, sprang aus dem Sattel und hängte sich meinem Hengst in die Zügel. Aber mein Tier war völlig außer sich. Es schleuderte Ubali mit einer heftigen Bewegung seines Kopfes etwa zehn Schritt weit durch die Luft. Ubali prallte mit dem Schädel gegen die Innenmauer und sackte bewußtlos zusammen. »Tötet Shebar!« schrie ich. Dann konnte ich mich auf dem bockenden Pferd nicht mehr halten und wurde aus dem Sattel katapultiert. Ich flog über den Kopf des Tieres hinweg, überschlug mich einmal und prallte auf den Boden. Vor meinen Augen blitzte es auf, dann wurde es dunkel ... Als ich wieder zu mir kam, sah ich gerade noch, wie sich mein Pferd überschlug und liegenblieb. Ubali lag noch reglos an der Mauer, während Thamai mit unnatürlich stark geweiteten Augen zusah, wie Jammad mit dem Schwert in der Hand auf Shebar eindrang. Ich konnte nur wenige Augenblicke lang bewußtlos gewesen sein. Zornig sprang ich auf die Füße und streifte die Blutrobe ab. Dann zückte ich mein Schwert. 107
Im gleichen Moment stieß Shebar seinem Gegner die Schwertklinge in den Leib. Schreiend brach Jammad zusammen. Ich verscheuchte die leichte Benommenheit aus meinem Schädel und rief: »Shebar, ich komme, um dich für deine Verbrechen zu bestrafen!« Langsam ging ich auf den Blutjäger zu, der sein Schwert wieder aus Jammads Körper gezogen hatte und mich vor der Tür des Hauptturms erwartete. Die Hossas flogen aufgeregt um uns herum. Sie reagierten nicht auf die Pfeifsignale, mit denen ihr Herr ihnen befahl, sich auf mich zu stürzen. Das Blutamulett kennzeichnete mich als den Herrn allen Blutes und schützte mich wirkungsvoll. »Wehre dich!« sagte ich, als ich Shebar gegenüberstand. Der Blutjäger lachte grimmig und rief: »Ich werde dich töten und mich selbst zum Herrn allen Blutes erheben, Vodor!« Er griff an und teilte kraftvolle Schwerthiebe aus, die ich aber mühelos parierte. Ich staunte selbst über die Kraft, die mein Schwertarm dabei bewies. Shebars Gesicht verzerrte sich vor Wut, als seine Angriffe wirkungslos an meiner Abwehr abprallten. Er ging zu einer anderen Taktik über und tänzelte um mich herum, abwechselnd vorprellend und zurückweichend und auf den Moment lauernd, in dem ich mir eine Blöße geben würde. Gelassen wehrte ich alle Vorstöße ab. Ich gab mir keine Blöße. Doch als Shebar wieder einmal vorprellte, griff ich meinerseits an. Unsere Schwertklingen prallten klirrend und klingend gegeneinander und sprühten Funken. Schritt um 108
Schritt wich Shebar zurück. Ich sah, daß seine Schwerthand allmählich erlahmte und daß sein Gesicht sich mit Schweiß bedeckte. Ich dagegen fühlte mich noch vollkommen frisch. Meine Schwerthand und mein Schwertarm führten die Klinge so kraftvoll wie zu Beginn des Kampfes. Shebar merkte das, und zum erstenmal zeigte sich der Zweifel an seinem Sieg deutlich auf seinem Gesicht. Plötzlich wich er zurück, drehte sich um und stürmte durch die Tür ins Innere des Hauptturms. Ich eilte ihm nach – und an der ersten Biegung der Wendeltreppe prallten wir wieder zusammen. Die rechtsgewendelte Treppe gab dem Verteidiger den Vorteil voller Bewegungsfreiheit, denn er konnte das Schwert frei führen, während der Angreifer – mit der Schwerthand an der Säulenspindel – in seinen Bewegungen durch die Spindel behindert wurde. Shebars Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen. Ich ließ ihm den Vorteil einige Herzschläge lang, dann wechselte ich das Schwert in die Linke. Erneut mußte der Blutjäger zurückweichen. Ich beeilte mich nicht sonderlich, sondern trieb ihn nur langsam vor mir her. Einmal stolperte Shebar – und ich hätte ihn leicht töten können –, aber ich wartete, bis er sich wieder aufgerafft hatte. Keuchend wich Shebar weiter zurück. »Du bist von einem Dämon besessen, Vodor!« stieß er hervor. »Aus welchem Grund sonst geht dein Atem nicht schwerer, erlahmen deine Arme und Beine nicht!« Ich lachte nur und drang weiter auf ihn ein. Abermals sprühten unsere Schwerter Funken, aber während Shebars Klinge bereits von tiefen Kerben über109
sät war, glänzte die Klinge meines Schwertes noch so makellos, als hätte ich es nie benutzt. Dann erreichten wir die Plattform des Turmes. Aufgeregt flatterten die Hossas um uns herum. Der Kampf schien sie in einen Rauschzustand versetzt zu haben. Wieder gab ihnen Shebar mit seiner Zauberpfeife das Signal, mich anzugreifen, doch sie reagierten abermals nicht darauf. Plötzlich, ohne jeden Übergang, wechselte die Szenerie. Shebar und ich standen uns in der riesigen Kuppelhalle des Weltentors gegenüber – und ich wußte wieder, daß ich nicht Vodor war, sondern Dragon, und daß die Blutburg Shebars nur ein Bestandteil eines gemeinsamen Alptraums gewesen war. Doch als ich mich kurz umsah, wurde mir klar, daß der Traum noch andere Realitäten geboren hatte als den Zweikampf zwischen Shebar und mir. Jammad lag zusammengekrümmt in einer Blutlache am Boden, und Thamai kniete neben Ubali, der offensichtlich bewußtlos war, und hielt dessen Kopf. Als ich mich wieder meinen Gegner zuwandte, waren Shebars Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Du bist nicht Vodor!« stieß er keuchend hervor. Plötzlich glomm mörderische Wut in seinen Augen auf. »Schändlicher Betrüger! Du hast dich als Herr allen Blutes ausgegeben, um dich in meine Blutburg einschleichen zu können!« Ich lächelte kalt. Mir war klar, daß Shebar noch nicht begriffen hatte, daß das, was wir zuvor erlebt hatten, aus einem Alptraum stammte – was besonders für die Umgebung zutraf. »Schau dich um!« forderte ich ihn auf. »Siehst du etwas, das deiner Blutburg auch nur entfernt ähnlich ist? Hast du noch nicht begriffen, daß wir nur Puppen in ei110
nem Spiel waren, das die Dämonen des Labyrinths von Dhaugal spielten?« Shebar blickte wild um sich. Abermals trat das blanke Entsetzen in seine Augen. »Ergib dich!« sagte ich. »Laß dein Schwert fallen, und ich werde dein Leben schonen, bis ich weiß und entscheiden kann, ob das Todesurteil über dich gefällt werden muß!« Shebar lachte irr und stürzte sich auf mich. Er kämpfte mit der Wildheit eines in die Enge getriebenen Raubtiers, und einige Herzschläge lang hatte ich Mühe, seine wütenden Schwerthiebe abzuwehren. Aber er kämpfte auch unkonzentriert und gab sich fortlaufend Blößen. Als er zurückwich und danach wieder auf mich eindrang, ließ ich mein Schwert herabsausen. Die Klinge spaltete Shebars Schädel, und der Blutjäger war tot, bevor sein Körper auf den Boden prallte. Erleichtert trat ich zurück – und war im ersten Augenblick völlig verwirrt, als die drei Hossas, die mit Shebar in die Halle gekommen waren, sich gleich tollwütigen Bestien auf mich stürzten. Wenn ich nicht instinktiv richtig reagiert hätte, wäre ich von ihnen getötet worden. So warf ich mich auf den Boden, und die Bestien prallten über mir in der Luft zusammen. Ich rollte mich einige Schritt weit zur Seite, sprang wieder auf die Füße und schlug der nächsten Bestie den Schädel ab. Schleimiges gelbgrünes Blut spritzte nach allen Seiten. Dann waren die beiden übrigen Hossas heran. Ich fand keine Zeit, ihnen den Rückzug zu befehlen und darauf zu hoffen, daß mein Amulett sie zwingen würde, mir zu gehorchen. Wahrscheinlich hätte das 111
Amulett nicht mehr gewirkt. Die Hossas schienen nach dem Tode ihres Herrn völlig außer Kontrolle geraten zu sein. Ich duckte mich und ließ mein Schwert pfeifend durch die Luft kreisen. Das Monstrum links von mir schrie auf, als die Klinge durch einen Flügel schnitt und sich in seinen Leib bohrte. Als ich mit einem gewaltigen Satz über das Tier hinwegsprang, bohrten seine Krallen sich in meine Stiefel. Ich landete mit beiden Füßen wieder auf dem Boden, tötete das verwundete Tier mit einem Hieb und wandte mich dem dritten Hossa zu, der bis dicht unter die Hallendecke aufgestiegen war und sich von dort oben mit zusammengefalteten Flügeln auf mich herabfallen ließ. Ich ließ mein Schwert fallen, brachte mich mit einer Hechtrolle in Sicherheit und schnellte mich sofort wieder zurück, das Messer in der Faust. Der letzte der drei Hossas schlug schwer auf den Boden und blieb einen Augenblick gelähmt liegen. Diese kurze Zeitspanne nutzte ich, indem ich mich auf den Leib des Ungeheuers warf und ihm mein Messer wieder und wieder in den Körper stieß, bis es sich nicht mehr rührte. Langsam richtete ich mich auf. Ein gellender Schrei Thamais ließ mich herumfahren. Ich sah, daß Thamai mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf die gegenüberliegende Seite der Halle starrte – und als ich mich ebenfalls in diese Richtung wandte, hatte ich für einen Moment das Gefühl, mein Blut würde in den Adern zu Eis erstarren. Denn aus der Öffnung, durch die Shebar mit seinen drei Hossas gekommen war, quoll eine unübersehbare Masse von Hossas. Die monströsen Geschöpfe drängten 112
und wanden sich, wälzten sich übereinander und erhoben sich, wenn sie freikamen, mit ihren lederhäutigen Schwingen in die Luft, um auf das Weltentor zuzufliegen. Ich wandte mich wieder an Thamai. Erleichtert sah ich, daß Ubali zu sich gekommen war und anscheinend sogleich begriffen hatte, in welcher neuen Gefahr wir schwebten. »Zurück!« rief ich meinen Gefährten zu. Ich hob mein Schwert auf, dann lud ich mir den schlaffen, blutüberströmten Körper Jammads über die Schulter und lief hinter Thamai und Ubali her, die sich in das Höhlenlabyrinth zurückzogen. Hinter der dritten Biegung blieben wir stehen. Ich ließ Jammand von meiner Schulter auf den Boden gleiten. Ubali und ich nahmen unsere Bögen, legten Pfeile auf die Sehnen und schossen auf die ersten Hossas, die wild kreischend um die Biegung flatterten. Zwei der Geschöpfe stürzten zu Boden und drehten sich mit schlagenden Flügeln im Kreis, die anderen flogen und krochen über sie hinweg. Thamai nahm ihr Blasrohr und verschoß einen Giftpfeil nach dem anderen, und von Ubalis und meiner Bogensehne schnellte Pfeil um Pfeil den Angreifern entgegen. Doch wenn wir drei Hossas getötet oder verwundet hatten, traten sechs an ihre Stelle – eine irrsinnig tobende Meute, die immer mehr Verstärkung erhielt. Während ich erneut einen Pfeil abschoß, erinnerte ich mich daran, daß ich einen kurzen Blick in den Beutel geworfen hatte, der die Geschenke der Elementargeister enthielt. Dabei hatte ich Erthus Lawinenstein entdeckt. Vielleicht konnte er helfen, den schier unerschöpflichen Strom der Hossas abzuschneiden, der unablässig 113
durch das Weltentor kam und uns früher oder später erdrücken würde. Ich fand keine Zeit, das Für und Wider dieses Gedankens zu wälzen, denn in diesem Augenblick stürzten sich mehrere Hossas auf uns, und wir mußten uns mit Schwertern und Messern unserer Haut wehren. Als ich zwei der Bestien getötet hatte, griff ich in den Beutel und ertastete den kleinen Lawinenstein und schleuderte ihn den Hossas entgegen. Fast augenblicklich verwandelte sich der Stein in eine Felslawine, die immer mehr anschwoll, je weiter sie sich von uns entfernte und dabei die angreifenden Hossas zermalmte und unter sich begrub. Ein infernalisches Donnern und Tosen hob an. Nachdem wir die letzten beiden Hossas, die nicht von der Felslawine erfaßt worden waren, getötet hatten, blickten wir uns in die schweißüberströmten Gesichter. Aus der Richtung, in der das Wellentor lag, kam ein letztes Donnergrollen, dann war es still. »Das Tor!« stieß Ubali hervor. »Die Lawine hat es verschlossen!« Ich nickte. Auch mir war klar, daß an ein Überwechseln an dieser Stelle nicht mehr zu denken war. Wir würden nicht einmal an das verschüttete Tor herankommen. Als Jammad sich bewegte, legte ich mein Schwert hin und kniete neben dem Melniken nieder. Ich sah auf den ersten Blick, daß ihm nicht mehr zu helfen war. Das Leben floh aus seinem geschundenen Körper. »Kha-aun!« flüsterte Jammad und bewegte seine Hand. Ich nahm die kalte Hand in meine Rechte. »Bleib ganz ruhig!« sagte ich. 114
Wieder bewegte Jammad die Lippen »Das Auge der Götter!« flüsterte er kaum hörbar. »Im eiförmigen Tempel von Kha-aun. Geht durch das Tor, wenn das Bild der Sandwüste erscheint – und kämpft gegen die Blutjäger!« Ein Zittern durchlief seinen Körper. Jammad atmete tief und seufzend ein, streckte sich und starb. Ich drückte ihm die Augen zu, erhob mich und sagte zu Thamai und Ubali: »Er hat recht. Wenn wir nach Kha-aun gehen, können wir durch das Auge der Götter unsere Welt erreichen. Kha-aun ist nur ein paar Tagesmärsche von hier entfernt.« Ubali nickte. »Gehen wir durch das Auge der Götter, Dragon!« Ich blickte mich um. Wir würden Jammads Leichnam unter Steinen begraben und dann dieses unheimliche Labyrinth schnellstens verlassen. Und in wenigen Tagen würden wir durch das Auge der Götter auf unsere eigene Welt zurückkehren, wo uns, wie das Zusammentreffen mit Shebar bewiesen hatte, neue Gefahren erwarteten. ENDE Von dem Rückkehrer durch das nun ebenfalls zerstörte zweite Weltentor hat Dragon bereits erfahren, daß die Zeitabläufe auf Danilas Welt und der Welt, die er wieder erreichen will, verschieden sind. Ja, es scheint, daß eine Zeitspanne von einem Monat auf Danilas Welt einem halben Jahr auf der Erde entspricht. Und er, Dragon, hat ein halbes Jahr auf Danilas Welt verbracht – also ganze drei irdische Jahre ... 115
Was in der Zwischenzeit auf Dragons Welt geschieht, darüber berichtet Hans Kneifel im nächsten DragonBand. Der Roman erscheint unter dem Titel: DER MEISTERDIEB VON KARTUG
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