Manès Sperber Churban oder
Die unfaßbare Gewißheit Europaverlag
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Manès Sperber Churban oder
Die unfaßbare Gewißheit Europaverlag
In den Essays dieses neuen Buches unternimmt es Manès Sperber, die wahrhaft einzigartige Geschichte eines Volkes zu erhellen, das seit 3000 Jahren immer wieder in den Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit gerät. Obschon Sperber nie die geringste Neigung empfunden hat, sich seinem Judesein zu entfremden, bewahrt er sich entschieden davor, »judäozentrisch« zu denken. Vielleicht gelingt es ihm auch deswegen, historisch, soziologisch und vor allem psychologisch die Besonderheiten zu erklären, die der jüdischen Existenz anzuhaften scheinen, und das seltsame, oft gehässig verzerrte Bild von den Juden zu deuten, in dem sich deren Feinde selbst verstecken und zugleich verraten. Der »Churban«, die organisierte Ausrottung des größeren Teils der europäischen Judenheit, bleibt eine Gewiß heit, die gerade dem unfaßbar wird, der sie – wie der Autor – in allen Einzelheiten ergründet hat. Im Schatten des »Churban« versucht Sperber mit der Leidenschaft der Vernunft und der »Religion des guten Gedächtnisses« zu ermes sen, was das Judesein heute für die Juden selbst ist und was es für die Nichtjuden und die Judenfeinde im besonderen darstellt. Er zeigt, wie die Juden auch in äußerster Bedrängnis nie aufgehört haben, ihrem Sein und seiner Dauer schöpferisch einen vollen Sinn zu geben – nicht wegen, sondern trotz der Gnade der Auserwähltheit, die die schwerste aller Bürden ist.
täglichen Weltgeschichte« 1967, »Leben in dieser Zeit. Sieben Fragen zur Gewalt« 1972, »Individuum und Gemeinschaft. Versuch einer sozialen Charakterologie« 1978. Biographie und Autobiographie:»Alfred Adler oder das Elend der Psychologie« 1970, »Die Wasserträger Gottes« 1974, »Die vergebliche Warnung«1975,»Bis man mir Scherben auf die Augen legt« 1977. Romane: »Der verbrannte Dornbusch« 1949, »Tiefer als der Abgrund« 1950, »Die verlorene Bucht« 1953; 1961 zusammengefaßt zur Trilogie »Wie eine Träne im Ozean«, davon Fernsehfassung in mehreren europäischen Ländern. Neuausgabe der Trilogie 1976. Auszeichnungen: »International Remembrance Award« 1967, »Literaturpreis der Bayerischen Akademie«1971,»Hansischer Goethe-Preis« 1973, »Preis der Stadt Wien für Dichtkunst« 1974, »Georg-BüchnerPreis« der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1975, »Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz« 1977, »Großer österreichischer Staatspreis für Literatur« 1977.1979 wurde er mit der »Buber-Rosenzweig-Medaille« der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausgezeichnet.
Manès Sperber 1905 in Zablotow, Ostgalizien, geboren. Jugend in Wien. Schüler und Mitarbeiter Alfred Adlers, über den er 1926 sein erstes Buch schreibt. 1927 bis 1933 als Lehrer für Individualpsychologie in Berlin. Emigration über Jugoslawien nach Paris, wo er seit 1934 lebt. Essaybände: »Zur Analyse der Tyrannis« 1938/1975. »Die Achillesferse« 1957, »Zur V. 200105 unverkäuflich
Manès Sperber
Churban oder
Die unfaßbare Gewißheit Essays
Europaverlag Wien • München • Zürich
Mit Ausnahme der Essays »Bis ans Ende aller Tage?« und »Mein Judesein« sind alle in diesem Band enthaltenen Aufsätze französisch geschrieben und vom Autor selbst ins Deutsche übersetzt worden.
Umschlag und Einband von Georg Schmid Lektorat Edda Werfel © 1979 by Europa Verlag GesmbH Wien Printed in Austria Satz und Druck Elbemühl Wien ISBN 3-203-50719-6
Inhalt Erster Teil Bis ans Ende aller Tage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Mein Judesein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Churban oder Die unfaßbare Gewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Kleines Memorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Zweiter Teil Die späte Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Israelisches Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 In tiefer Bangnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Dritter Teil Schicksal einer Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .164 Scholem Alejchem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 Joseph Opatoshu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 H. Leivick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Jacob Glatstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Mendel Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Isaak Babel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
CHURBAN (hebr.): Verwüstung, Vernichtung. Dieses Wort bezeichnet insbesondere die Zerstörung des Ersten Tempels (587 v. Chr.) durch Nebukadnezar und die des Zweiten Tempels (70) durch Titus. Churban, ein in beiden jüdischen Sprachen geläufiges Wort, bezeichnet in der jiddischen Literatur die seit 1940 von Hitler und seinen Komplizen organisierte Ausrottung des größeren Teils der europäischen Judenheit.
ZABLOTOW, der Geburtsort des Autors, war von 1772 bis 1918 österreichisch; von 1918 bis 1939 polnisch und ist seit 1945 sowjetukrainisch. Im Jahre 1764 zählte das Städtchen 968 jüdische Einwohner und im Jahre 1910 2171. Während der sowjetischen Okkupation 1939–41 wurden alle jüdischen Institutionen abgeschafft, alle Organisationen verboten. Bald nach dem Einmarsch deutscher Truppen überfielen pogromierende Ukrainer die jüdische Bevölkerung. Die Deutschen ihrerseits setzten einen Judenrat ein, den sie aber wieder auflösten, weil er sich weigerte, ihre Befehle auszuführen. Am 22. Dezember 1941 erfolgte die erste »Aktion« des Churban: 900 Juden wurden getötet und entlang der Landstraße, die ins Nachbardorf Trojce führte, eingescharrt. 100 Juden wurden in Zablotow selbst erschossen. Am 11. April 1942 erfolgte die Deportation von 250 Juden, die im Ausrottungslager Belzec umgebracht wurden. Zwei Wochen später wurden die noch verbliebenen jüdischen Einwohner nach Kolomea evakuiert. Dort starben viele von ihnen eines »natürlichen« Todes, an epidemischen Krankheiten oder Hungers. Die Überlebenden wurden im Januar 1943 als Opfer einer letzten »Aktion« im Ghetto von Kolomea umgebracht.
Erster Teil
Bis ans Ende aller Tage? In einer frühen Phase seines Werdens erfährt ein jeglicher, daß er ein Ich ist, und zugleich, daß alle anderen es gleichfalls sind. Es braucht jedoch einige Zeit, bis er einsieht, daß jeder, also auch er, nur sich selbst ein Ich, allen anderen aber ein anderer ist. Damit beginnt sehr häufig die erste kindliche Trotzphase, diese relativ kurze Periode des starrsinnigen Neinsagens. Es ist, als ob die entschiedene Behauptung des Ichbewußtseins, nur durch den Widerstand gegen die anderen verstärkt, zur Gewißheit werden könnte. Hier tritt zum ersten Mal, in einem kaum begriffenen Ansatz, die Allophobie zutage, das zugleich ängstliche und aggressive Mißtrauen gegenüber dem Fremden, das im Leben der Individuen wie der Völker eine ungewöhnliche Bedeutung erlangen kann. Eine der zahllosen Formen der Allophobie ist die Judenfeindschaft, die seit 150 Jahren durchaus unzutreffend als Antisemitismus bezeichnet wird.
Spätestens in meinem vierten Lebensjahr habe ich erfahren müssen, daß wir Juden von unseren christlichen Nachbarn angefeindet werden – nicht ununterbrochen, aber immer wieder, zum Beispiel alljährlich von Karfreitag bis zum zweiten Ostertag. Unser Haus lag unmittelbar neben der Kirche der Ruthenen. In den Augen der Gläubigen las man oft Mißtrauen, einen frommen Haß gegen die jüdischen Passanten, die – das hatte ihnen wohl eben der Pfarrer gepredigt – am Tode des Erlösers schuld waren. So glaubten auch die christlichen Kinder, daß wir Juden Gottesmörder waren, jedenfalls die Nachkommen jener, die Jesum Christum gekreuzigt hatten. Jedoch im praktisch unvermeidlichen Verkehr mit uns schienen sie wie ihre Eltern oft zu vergessen, daß sie es mit Gottes Feinden zu tun hatten, auf denen ein so furchtbarer Fluch lag. So staunten sie nicht allzu sehr darüber, daß wir Menschen waren wie sie selbst und daß es unter uns Gute gab und Schlechte, Anständige und Unredliche, Freundliche und Hochmütige. Dennoch gerieten sie immer wieder unter den Einfluß von Geistlichen, die sie daran erinnerten, wie anders, ja wie unmenschlich die Juden waren, da sie sich so verhielten, als ob sie nicht unsühnbar schuldig wären. So wäre bei ihnen alles Lug und Trug, denn der göttliche Fluch bewirkte, daß sie gar nicht ehrlich sein konnten und daß ein guter Jud so undenkbar war wie trockenes Wasser oder ein heißer Frost: »Er weiß, daß wir ihn hassen und verabscheuen, doch tut er so, als ob er es nicht ahnte, um seinen teuflischen Haß gegen uns zu verbergen. So sind
alle Juden ausnahmslos anders, als sie erscheinen, anders als alle anderen Menschen.« Der Andersartige flößt Neugier, oft auch eine nicht sehr deutlich empfundene Scheu ein, die sich mit einem schnell erweckten Mißtrauen paart. Man weiß nicht, ob er nicht ganz plötzlich etwas Unerwartetes, Gefährliches tun wird – wie manche Tiere, die Schlangen zum Beispiel, oder solche, die sich im Gebüsch verstecken, um einen plötzlich anzufallen. Es ist eine allgemein verbreitete Ansicht, daß man gewöhnlich weiß, was man von seinesgleichen erwarten kann und wessen man sich von ihm zu versehen hat. Gegenüber einem Menschen, mit dem man sich identifizieren kann, ist man ja nie ganz wehrlos. Aber jeder Fremde ist potentiell ein Feind. Man muß vor ihm auf der Hut bleiben, doch gleichzeitig das Mißtrauen verhehlen und nie vergessen, daß er nicht »einer von uns« ist … Solche Erwägungen kennzeichnen das Verhältnis zu Juden, das in der Atmosphäre des judenfeindlichen Christentums seit Jahrtausenden oft erzeugt worden ist. Die Allophobie ist – wie der Argwohn und der Haß – Selbstversorgerin, das heißt, sie fördert die Entstehung dessen, was sie argwöhnt, befürchtet oder haßt. Wie jene Prophezeiungen, die sich nur deshalb erfüllen, weil sie das bewirken, was sie ankündigen, drängt der Haß die von ihm Verfolgten zu Reaktionen, die ihn zu begründen scheinen. Man weiß, wie oft der unschuldig Verdächtigte den Argwohn dadurch nährt, daß er weit mehr zu beweisen oder zu widerlegen sucht, als überhaupt widerlegbar
oder beweisbar ist. So erzeugt ein Verdacht zuweilen ein ihn bestätigendes Verhalten, weil er zugleich mit dem Sicherheitsgefühl das Selbstwertgefühl des Angegriffenen während eines Augenblicks oder länger erschüttert und ihn zu einer momentanen Selbstentfremdung zwingt. Man hat das Wesen des Antisemitismus und die durch ihn erzeugte, eigenartige Schwierigkeit, Jude zu sein, nicht wahrhaft erfaßt, solange man nicht begriffen hat, daß sich die Neigung zur Allophobie schon in der frühen Kindheit einstellen und eine Alltags-Paranoia erzeugen kann, dank der man in jedem Fremden einen heuchlerischen Intriganten, einen Feind wittern kann. In der Tat kennt jeder Mensch die Angst, daher ist er imstande, Individuen oder Gruppen erbarmungslos zu befremden, sie heimlich oder offen zu befeinden und sie – sofern sie von ihm abhängen – zu einer neurotischen Selbstentfremdung zu bewegen. Die Judenfeindschaft ist allerdings eine besondere Spielart dieser Allophobie; sie hat lange vor dem Sieg des Christentums begonnen und überlebt auch dort, wo der Glauben auf das individuelle oder gesellschaftliche Tun keinen bestimmenden Einfluß mehr ausübt. Und sie besteht auch in Ländern, wo Juden nie gelebt haben, beziehungsweise nicht mehr leben. Diese Allophobie findet eben überall ihre Opfer: in der unmittelbaren Nachbarschaft oder in der Ferne oder in einem Nirgendland: etwa in der andern Hautfarbe, im andern Glauben, in andersartigen Traditionen … Doch ist es, wie gesagt, unbestreitbar, daß die Allophobie seit Jahrtausenden in
der Judenheit ein heimlich gefürchtetes, meist gehaßtes Opfer gefunden hat. Warum? Dafür gibt es beliebig viele Vorwände und Gründe, von denen drei bestimmend sind: Der erste, religiöse Grund ist dem Anschein nach der überzeugendste, doch genügt er allein nicht, das Schicksal der Juden zu erklären. Der zweite Grund ist historisch und der dritte sozialpsychologisch.
I Die von dem Mesopotamier Abraham begründete Nomadensippe der Hebräer hatte zum Unterschied von den seßhaften Völkern einen einzigen Gott; sie war somit henotheistisch wie viele andere Nomadenstämme. Die Urenkel Abrahams, Isaaks und Jakobs wagten jedoch nach langen Wanderungen und Fährnissen, den Gott ihres Stammes als den einzigen Schöpfer über alle und alles zu erhöhen und ihn als Herrn der Welt auszurufen und die heidnischen Götter als eine lügnerische Erfindung verblendeter Götzendiener anzuprangern. Den Mut zu solch kämpferischem Monotheismus, der die Zeitgenossen wie eine strafwürdige, widernatürliche Herausforderung reizen mußte, schöpften die Nachfahren Abrahams aus der Gewißheit, daß der Weltengott sich ihrer Ahnen durch ein Gelöbnis verpflichtet hatte, ja daß er mit ihnen ein ewiges Bündnis eingegangen war. Am Fuße des Berges Sinai vernahmen sie seine Lehre
und nahmen das schwere Joch seiner Gesetze auf sich – sie allein, denn gemäß einer Sage hatte Gott anderen Völkern seine Lehre vergebens angeboten. Auf dem Wege in das ihnen versprochene Land Kanaan begegneten die Israeliten überall den Götzendienern, die in verlockenden Festen Baal und Istar und so viele schützende Natur- und Lokalgötter anbeteten. Sie erlagen oft genug der Verführung, aber am Ende kehrten sie zu ihrem einzigen, streng fordernden und strafenden Gott zurück. In der sehr prekären geopolitischen Lage, in der sich dieses kleine Volk mitten zwischen zwei annexionistischen Imperien befand, bot sein Monotheismus der feindlichen Umwelt stets Vorwände, diesem kleinen Staat unerwünschte Bündnisse aufzuzwingen oder ihn zu züchtigen. Lehre und Gesetz bewirkten so die herausfordernde Vereinsamung der Judenheit, die in ihrem Credo die Nichtigkeit, das Nichtsein der heidnischen Götter und die Frevelhaftigkeit des Götzendienstes proklamierte. Die Nachahmung heidnischer Sitten wurde als blasphemisches Laster verfolgt und schwer bestraft. Die äußerst strengen Regeln der Lebensführung machten es den Juden recht oft unmöglich, das Mahl eines Heiden zu teilen, und erschwerten in vieler Hinsicht alle Gemeinsamkeit mit ihm. So ist die Frage unabweisbar, ob es nicht diese religiös begründete, anbefohlene Absonderung ist, die den konfessionellen Judenhaß hervorgerufen hat. Nun, daß sie ihn gefördert hat, scheint gewiß, jedoch nicht, daß sie allein ihn hervorgerufen hat. Man bedenke, daß in der
Antike strenge Absonderungen als Folge von Kriegen die Regel waren. Die Besiegten und ihre Nachkommen wurden häufig als Sklaven, als Lebewesen niedern Ranges behandelt; so waren in der gleichen Stadt, im gleichen Lande die trennenden Grenzen scharf gezogen. Die vielgerühmte Freiheit der hellenischen Polis war den Bürgern gesichert, aber nicht den Sklaven, deren Stand selbst Aristoteles als naturgegeben betrachtete. Es ist wahr, der Paganismus war toleranter, als der christliche oder islamische Monotheismus es je gewesen ist. Unterwarfen sich zwar die Besiegten den Göttern der Sieger, so waren diese ihrerseits einem Synkretismus nicht abgeneigt: in der Anbetung der Lokalgötter fand man sich zusammen, denn deren Namensänderung stieß kaum auf Schwierigkeiten. Die Juden ihrerseits, die im antiken Israel lebten, waren gegenüber den Heiden tolerant, sie muteten ihnen nur selten zu, ihre Lebensweise der mosaischen anzugleichen, sich die zahllosen Beschränkungen aufzuerlegen, deren Sinn zumeist unerforschlich blieb. Eine einschneidende Erfahrung belehrte überdies die Juden, daß sie, ein kleines, territorial besonders schlecht placiertes Volk, untergehen könnten, wenn sie ihrem Bündnisse mit Jahve nicht die Treue bewahrten. Nach der letzten Niederlage des Königreiches Israel verschwand seine Bevölkerung, das heißt seine zehn Stämme, in der assyrischen Diaspora beinahe spurlos – eben weil sie ihrem Gott untreu geworden waren, indes die Judäer im babylonischen Exil ihre besonders geartete religiöse und damit nationale Identität bewahrten; sie, sie allein
leben in den Juden von heute fort. Im babylonischen Exil hätten sie sich leicht assimilieren, im Wirtsvolk aufgehen können – das wäre vernünftig gewesen –, aber sie haben es nicht getan, da sie die Niederlage, damals und später, stets nur als einen Zwischenfall gelten ließen. Sie wurden oft geschlagen, aber sie blieben unbesiegt. Wohin immer sie flüchten mußten, um ihr Leben zu retten, in Babylon, in Rom und in Alexandria – überall bewahrten sie den Glauben, unbesiegbar zu sein. Gewiß, das ist kein Sonderfall. In schwer zugänglichen Bergtälern und auf abseitigen Inseln stößt man zuweilen auf einen Stamm, der, vom Geschehen der Welt kaum berührt, gleichsam geschichtslos und zeitlos sein Dasein fristet. Aber seit zweitausend Jahren leben die Juden in den Zentren der Zivilisation, wo Ideen, Sitten und Gebräuche entstehen, denen sich kaum jemand ganz verschließen kann. Und in der Tat waren die Juden dem Einfluß der Hellenisten, der Römer, der Araber ausgesetzt, sie nehmen seit ihrer Emanzipation am kulturellen und politischen Leben ihrer Umwelt tätigen Anteil. Hätten die Juden jedoch einen heidnischen oder später den christlichen oder mohammedanischen Glauben angenommen, so gäbe es sie nicht mehr – außer als legendäre Erinnerung an ein einzigartiges Volk, das der Welt die Bibel vermacht und einen Erlöser gebracht hat. Sieger in großen Kriegen, die einer Geschichtsphase ein Ende setzen und eine neue Ära einleiten, sind nicht jene Nationen, die die ersten Schlachten gewinnen, sondern jene, die aus der letzten Schlacht siegreich hervor
gehen. Gemäß der jüdischen Eschatologie, die verspricht, daß »nach dem Ende aller Tage« ein alle Geschöpfe miteinander versöhnender, ewiger Friede herrschen wird – gemäß dieser optimistischsten aller Geschichtsauffassungen bezeichneten alle Triumphe der Eroberer bestenfalls Episoden, deren Vergänglichkeit dem Volk der Diaspora so gewiß war wie das Kommen des Messias. Solange die Juden selbst in der tiefsten Erniedrigung diese Hoffnung als Daseinsgrund betrachten konnten, blieb ihre Widerstandskraft ungebrochen. Die anderen aber, die da glaubten, daß der Messias bereits gekommen war, daß Christus sie erlöst hatte – sie lebten in der Angst vor der Hölle. Ja, meine Ahnen fühlten es bis ins Mark ihrer Knochen, daß die Erlösung noch in der Zukunft lag und daß es galt, so zu leben, daß man ihrer wert und würdig werde. Unter den vielen Eigenarten, die die Juden ihrer Umwelt besonders fremd, in der Tat unbegreiflich erscheinen ließen, ragte diese Unerschütterlichkeit ihrer Zuversicht hervor, daß die Gegenwart nichts anderes als ein – allerdings sehr langer – Korridor zu einer Zukunft sein konnte, die ihnen und dank ihnen der ganzen Menschheit bevorstand. Man weiß, daß auch der herzhafteste Widerstand nach zu langer Dauer zusammenbricht, wenn er nur durch Gegnerschaft und nicht durch eine große Hoffnung begründet ist. In der finstersten Etappe ihres zweitausendjährigen Exils glaubten die Juden, daß das Ende aller Tage nahte – sie lebten ihm entgegen. Nicht Moses, sondern der Prophet Jesajas wies ihnen den Weg. Daß
sie ihn auch dann nicht verließen, als sie ihr Leben nur durch ein Bekenntnis zum Christentum retten konnten, machte sie den anderen nur noch unheimlicher, ihre Gegenwart unerträglicher: hassenswert. Ja, daß sie besiegt, über die ganze Welt zerstreut, »mit Skorpionen gezüchtigt« und namenlos gedemütigt, nicht zu den Siegern überliefen, daß sie dem Heilsversprechen nicht weniger widerstanden als den furchtbarsten Torturen – all das blieb unverständlich, also mußten sie teuflisch sein, dachten ihre Verfolger. Im hellenistischen Ägypten und in anderen Mittelmeerländern hatte der Judenhaß viele Gründe, aber er war nur funktionell. Erst im Christianismus wurde er häufig zum totalen Haß, denn da ging es um die Frage einer beanspruchten, doch bestrittenen Identität. Traten die Juden nicht zum Christentum über, fuhren sie fort, die göttliche Identität Jesu zu bestreiten, so bewiesen sie damit nicht nur, daß sie einem Irrtum verfallen waren, sondern sie spiegelten diesen Irrtum entgegen besserem Wissen vor, weil sie, Todfeinde des Neuen Bundes, die Christen nicht als legitime Erben des alten Bundes anerkennen wollten.
II Die unaufhaltsame Ausbreitung des Römischen Reiches, die der Rivalität der Ägypter und der Mesopotamier ein Ende setzte, sicherte den kleinen Staaten eine relative
Autonomie unter der Verwaltung römischer Statthalter zu. Es gab zwar hie und da Unruhen, aber die Aussichtslosigkeit eines Sieges über die Legionen förderte die Pax Romana, die die Völker mit der gewöhnlich nicht zu harten Fremdherrschaft aussöhnte. Die Juden aber wehrten sich gegen diese in Aufständen, die sich schließlich zu einem wahnwitzigen Krieg gegen Rom ausweiteten. Man weiß, daß der vorletzte jüdische Krieg vier Jahre dauerte und im Jahre 70 nach Christi Geburt mit der Zerstörung Jerusalems und der Vernichtung des Tempels endete. Die Jerusalemiten hatten bis zuletzt die Kapitulation verweigert, die Folgen der Niederlage waren furchtbar. Doch erst 65 Jahre später, im Jahre 135, gelang den Römern die Austreibung der Juden und die Vernichtung des jüdischen Staates. Bis dahin hatten sich ununterbrochen aufständische Truppen gebildet, die letzte von ihnen kämpfte unter dem Anführer Bar Kochba. Als alle Hoffnung dahin war, brachten sich jene, die nicht vom Feind getötet wurden, in ihrer letzten Festung selber um. Akiba, den man noch heute als den weisesten Rabbi aller Zeiten bezeichnet, sah im Hitzkopf Bar Kochba den König-Messias, dessen Kommen Jesajas angekündigt hatte. Akiba, an dessen so viel gerühmter Weisheit man auch aus anderen Gründen zweifeln darf, wurde von den Römern gefangengenommen und mit grausamer Langsamkeit zu Tode gefoltert. Er pries Gott bis zum letzten Atemzug: Darin ist er ein Vorbild geblieben, dem Juden im Laufe der letzten 1800 Jahre vielenorts nachsterben sollten, aber nicht nachleben konnten, denn fortab hatten
sie kein eigenes Land mehr, für dessen Selbständigkeit sie sich gegen eine Weltmacht hätten erheben müssen. Und nicht als Staatsvolk, sondern als einzelne oder Familien oder Überlebende verwüsteter Gemeinden suchten sie Zuflucht in Babylonien und in Persien, wo sie von den Nachkommen jener Juden aufgenommen wurden, die auch nach dem Wiederaufbau Judäas im Lande der Verbannung geblieben waren. Die Ausgetriebenen fanden ein Asyl in den südlichen und westlichen Teilen des römischen Imperiums, wo sich ihre Glaubensgenossen bereits Jahrhunderte oder Jahrzehnte vorher niedergelassen und den Einheimischen in vielen Hinsichten angeglichen hatten. Sie übten da alle Berufe aus: sie waren Landwirte, Weinbauern, Handwerker, Händler, Matrosen und Berufssoldaten. In Rom spielten sie, ähnlich wie die Griechen, eine gewisse Rolle als Schreiber, Kopisten, Sekretäre, Dolmetscher und nicht zuletzt als Schauspieler. Indes bewahrten sie auch im römischen Schmelztiegel ihre Identität, den Willen und die Fähigkeit, ein Volk zu bleiben, treue Erben und Wahrer einer Vergangenheit und Träger einer universellen Zukunftshoffnung. Nicht der Rabbi Akiba hatte sie gelehrt, ohne Land und ohne eine priesterliche Autorität zu leben, sondern der um eine Generation ältere Rabbi Jochanan-ben-Sakkai, der als Vizepräsident des Sanhedrins auch von den Römern anerkannt war. Jochanan hatte alles getan, um die Aufstände und deren drohende Verwandlung in einen Krieg zu verhindern. Im belagerten Jerusalem bemühte er sich vergebens, die militärischen und politischen Führer
zu einem Kompromißfrieden zu bewegen. Als die Lage hoffnungslos und die furchtbarste Niederlage so unvermeidlich wurde wie der Tod, da führte der gewiß sehr vereinsamte Rabbi einen Plan aus, der den Verteidigern Jerusalems und nicht nur ihnen damals und noch lange Jahre nachher als Verrat oder zumindest als Fahnenflucht erscheinen mußte. Er ließ sich durch die wenigen Jünger, die ihm geblieben waren, in einem Sarge aus der Festung hinaustragen und sodann von römischen Soldaten zu ihrem Führer bringen, der natürlich wußte, mit wem er es da zu tun hatte. Der Rabbi erhielt von ihm freies Geleit bis zu der kleinen Stadt Javne, nachdem er sich verpflichtet hatte, sich dort nur um eine höhere Schule zu kümmern, die ausschließlich dem Studium der Lehre gewidmet sein sollte. Der Römer erkannte unschwer, welche Wirkung die Flucht dieses großen Mannes auf die Belagerten ausüben mußte, daher ließ er den Gelehrten ziehen. Jochanan-ben-Sakkai aber tat dies, um die Juden zu lehren, ohne den Tempel, ohne die Priester und ohne Schlachtopfer, ja ohne ein eigenes Land und einen eigenen Staat zu leben. So trat er in die Fußstapfen des Rabbi Hillel, der schon vorher das Wohltun gelehrt hatte und die Notwendigkeit für jeden, sich selbst im andern zu erkennen. Einem Edomiten, der von ihm verlangte, er sollte die Quintessenz des Judaismus so kurz darlegen, daß er ihm auf einem Fuße stehend zuhören könnte, wiederholte Hillel den Satz aus der Thora: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Und er fügte hinzu, daß darin das ganze Gesetz enthalten sei.
Hillel überzeugte seine Jünger davon, daß auf Erden nichts so wichtig und sinngebend sei wie das »Lernen«, das unausgesetzte Studium der offenbarten Lehre wie der zahlreichen Schriften, die später als Bibel das ehrfürchtig und meistgelesene Buch der Welt werden sollte. Hillel sicherte all jenen das künftige Leben zu, die das diesseitige Leben dem Studium von Lehre und Gesetz widmen würden. Eben diese Botschaft sollte Jochanans Javne verbreiten und jeder der etwa 60 Generationen vermitteln, die seither die Bürde des Judeseins getragen und weitergegeben haben. Wo auch immer die Exilierten sich befanden, sie waren in der Fremde nicht allein, selbst der Einsamste war es nicht, denn das tägliche Gebet verband ihn nicht nur mit Gott, sondern auch mit all jenen, die nah und fern zur gleichen Stunde das gleiche Gebet sprachen. Im Gegensatz zum Gottesdienst im Tempel bedurfte es fortab keiner Zeremonie, um »sich an Gott zu heften«, denn das Gebet war ein unmittelbares Gespräch mit ihm. Und wer jede freie Stunde des Tages oder der Nacht dem Lernen widmete, dem lauschte der Schöpfer der Welt. Javne statt Jerusalem, diese Wahl Jochanans bedeutete den Verzicht auf die verhüllten Spuren des heidnischen Gottesdienstes, auf den Tempel und auf seine Priester, diese hab- und machtgierig gewordenen professionellen Vermittler. Fortab war Jerusalem überall dort, wo ein Mensch sich Gott zuwandte. Wo zehn oder mehr Juden zusammen waren, bildeten sie ein Minjan, eine Betgemeinschaft – am Morgen, am Nachmittag, am Abend – und jeder
von ihnen konnte Vorbeter sein. So wurden die Juden in der Diaspora ein Volk von Betern und »Lernern«, deren Lebensweise, besonders während der langen Jahrhunderte grausamster Verfolgung, in jeder Einzelheit immer strenger im Sinne der religiösen Gebote und Verbote geregelt war. Dieses einzigartige Mönchtum eines ganzen, tausendfach versprengten Volkes erklärt dem Historiker so gut wie dem Psychologen dessen Überleben, aber seine Geschichte zwischen 135 und 1979, diese Chronik eines Martyriums ohnegleichen, macht es unbegreiflich. Allerdings ist diese Geschichte auch die Chronik eines geistigen Widerstandes, den keine Gewalt je brechen konnte. Die Quelle dieser wahrhaft unheimlichen Widerstandskraft aber lag nicht nur in der Energie, die ein Glaube erzeugen kann, und nicht nur im Bewußtsein der eigenen Sendung, sondern in dem unverhüllbaren inneren Widerspruch der Umwelt: in dem Widerspruch zwischen der Botschaft, daß Jesus durch seinen Opfertod die Menschheit erlöst habe, und dem Tun der so erlösten Christen in der von ihnen regierten Welt. Diese Christen aber warteten ihrerseits ungeduldig darauf, daß dem göttlichen Fluch, der über den verstockten Juden lag, endlich deren vollkommene Vernichtung folge. Doch geschah nichts dergleichen im Römischen Reich. Im Gegenteil mehrte sich in Rom die Zahl jener sogenannten Gottesfürchtigen, die gerne zum Judentum übertreten wollten und davor nur deshalb zurückschreckten, weil ihnen eine Lebensführung gemäß den rituellen Verboten zu schwer schien.
Paulus bahnte den Heiden den Weg zum jüdischen Gott, als er ihnen freistellte, die einschränkenden Gebote nicht zu beachten. Damit begann die Ablösung der christlichen Bewegung vom Judentum, auf dessen Nachfolge sie jedoch auch weiterhin Anspruch erhob. Es gab übrigens auch Heiden, welche die Christen als eine Sekte ansahen und ihr die jüdische Orthodoxie vorzogen. Man begegnete ihnen unter den römischen Intellektuellen und – hieß es – unter den Offizieren der Legionen. Obwohl die Juden ihrerseits kaum versuchten, Proselyten zu machen, waren diese selbst nach der Christianisierung des Römischen Reiches nicht selten, also auch nachdem die Judenverfolgung mit Berufung auf die Religion der Liebe an vielen Orten eingesetzt hatte. Trotzdem war damals die Existenz der Juden noch erträglich, zeitweise sogar von der ihrer Nachbarn kaum verschieden. Man weiß, daß mit den Kreuzzügen die Epoche des namenlosen Martyriums begann, eine fast lückenlose Abfolge von Unterdrückung und Leiden, aber auch eines aussichtslosen und dennoch sinnvollen Widerstandes. Wer sein Leiden physisch und psychisch bewältigen will, muß aktiv, erfinderisch und energisch sein; und um eine auf entmenschende Erniedrigung abzielende Unterdrückung zu überstehen, ohne in sich selbst entwürdigt zu werden, muß man täglich aufs neue das Recht auf Achtung vor sich selbst und vor den Eigenen erringen. Wer in einer Welt leben muß, die ihm feindliche oder bestenfalls ungeduldig duldende Fremde ist, der muß die Kraft für zwei neben- und gegeneinander laufende Existenzen
aufbringen: Den Juden war der einzelne Glaubensgenosse natürlich eine Person mit den sie kennzeichnenden Eigenschaften, Fähigkeiten und Schwächen; den Christen aber war er nur ein Jude. Damit sie ihn als solchen erkennen und ihn nicht mit einer Person verwechseln sollten, zwang man ihm äußerliche Merkmale auf – den gelben Lappen, den Spitzhut, den zu langen Rock. Damit aber erzwang man noch mehr: nämlich, daß der so depersonalisierte Mensch sich entsprechend verhalte, demütig, von Furcht beherrscht, also feige, gewohnt, geschlagen zu werden, bemüht, nur ja nicht aufzufallen und niemandem zu mißfallen – somit dem gehässig entstellenden Bilde zu gleichen, das sich der Christ von dem fluchbeladenen Juden machen sollte. Um dieser Karikatur zu gleichen, wurde tatsächlich an zahllosen Orten und während vieler Jahrhunderte eine Art von aufgezwungener Mimikri das Gesetz jüdischen Verhaltens. Das war der Triumph der Judenfeinde: ihr Opfer mußte mit jedem Worte, mit jeder Gebärde vor aller Welt beweisen, daß man recht hatte, den Juden zu verachten und zu verfolgen. Und natürlich erhärteten diese Beweise auch die Juden der Ghettos: auf engstem Raum zusammengedrängt, gewöhnlich in unmittelbarer Nähe stinkender Abwässer und abscheulicher Misthaufen, in Gäßchen, in die kein Sonnenstrahl drang, lebte, betete und arbeitete man unter dem erkauften Schutz kleiner oder größerer Machthaber. In der Judengasse »repersonalisierten« sich die Ausgestoßenen. Was da fast immer gelang, war eine höchst bedeutsame seelische Leistung,
eine ungewöhnliche Überkompensation, jenes schöpferische Trotzdem, dank dem sich der Geächtete von der Demütigung befreit und über seine Erniedrigung erhebt. Dieses aber konnte nur dank der Bibel, dem Talmud und allen exegetischen und mystischen Schriften gelingen. Im Exil wurden die Worte Festungen und Bollwerke, welche die Verfolgten zwar nicht vor Raub und Totschlag schützten, aber ihnen den Sinn ihres Daseins und ihrer Leiden täglich bewiesen. Jerusalem blieb Erinnerung und Zukunftstraum zugleich. Jochanan-ben-Sakkai war mit ihnen, denn fast jede Judengemeinde verwandelte sich in ein Javne. Nie vorher waren die Juden ihren Gesetzen so völlig und bedingungslos treu geblieben, nie hatten sie der Lehre so viel Zeit und solch geradezu leidenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet wie in der Diaspora – angesichts einer Welt, in der die Gewißheit, kein Jude zu sein, noch dem verächtlichsten Christen Stolz einflößte und ein unerschütterliches Gefühl der Überlegenheit gegenüber der ganzen Judenheit. Mitten in ihrem mit Ketten abgesperrten Viertel, dessen Wächter ihnen nächtens den Zutritt zur Stadt verwehrten, innerhalb ihrer vier Wände waren die Bewohner des Ghettos keineswegs unglücklich, Juden zu sein. Je schwerer man ihnen das Leben machte, um so inniger glaubten sie an ihre Auserwähltheit und das nahe Kommen des Messias. Überdies waren draußen in der ungerechten Welt die Armen noch ärmer als sie; die Bauern und Städter waren bedrängt, versklavt, von den weltlichen Herren entrechtet, von den Geistlichen in Unwissenheit gehalten. Gewiß, auch bei den Juden
gab es Reiche und Arme: in den elenden Behausungen wohnten neben völlig Mittellosen die Kaufleute, die dank ihrem Netz internationaler Verbindungen einen Großteil des Warenverkehrs zwischen den europäischen, orientalischen und afrikanischen Ländern besorgten. Ein von ihnen gezeichneter Kreditbrief wurde überall honoriert. Im Krieg wie im Frieden brauchten Könige und Fürsten ihre Hilfe, um die Armeen zu bewaffnen und zu ernähren. Man wandte sich an jüdische Ärzte und Berater, Unterhändler und Geldleiher. Schließlich brauchten die Mächtigen die Juden als Sündenböcke für ihre eigenen Verbrechen und vertrieben sie, nachdem sie sie dem Zorn des Volkes ausgeliefert hatten. Nach einiger Zeit riefen sie sie jedoch gewöhnlich zurück. So warf Frankreichs König Philippe Auguste all seine Juden in den Kerker und zwang sie, ihm ein Lösegeld zu zahlen. Dem Volk gewährte er das Recht, die Juden zu plündern und ihnen die Schulden nicht zurückzubezahlen, sofern es ein Viertel des geschuldeten Geldes dem König abführte. Den Juden wurde schließlich das Recht auf jede Berufstätigkeit genommen, nur innerhalb des Ghettos durften sie ihr Handwerk ausüben; für die Christen wurden sie Altkleiderhändler, Pfandleiher und Wucherer. Als solche sind sie dann in die Literatur, in die Folklore, in die antisemitische Geschichtsschreibung eingegangen. Sie waren keineswegs die einzigen Pfandleiher, weit wichtiger als sie waren die Lombarden und die sogenannten Caorsins, die überall als wucherische Bankiers und Pfandleiher auftauchten; überdies gab es
die von der Kirche geförderten Monts de Piete, die zwar offiziell auf den Zins verzichteten, ihn aber unter anderen Vorwänden einheimsten. Philippe Auguste war nicht der einzige König, der die Juden austrieb, dann wieder zurückholte und sogar andere Herrscher mit Krieg bedrohte für den Fall, daß sie ihm »seine« Juden nicht zurückerstatteten. Diese grausame Posse hat sich auf christlicher Erde oft genug wiederholt. Silber, Gold und Schmuck zu besitzen, war die einzige, wenn auch nicht immer wirksame Sicherung gegen Vertreibung und Totschlag. Damit erkauften die Juden das Recht, zu leben, sich niederzulassen, und den zeitweiligen Schutz vor dem Pöbel. Sie waren zur Gewinnsucht verurteilt durch die unersättliche Habsucht jener, die die Macht hatten, ihnen das Daseinsrecht zu verkaufen oder zu verweigern. Nun, so erstaunlich es insbesondere christlichen Lesern erscheinen mag: spätestens seit dem Hochmittelalter bis zum 19. Jahrhundert war die Judenheit von Feinden bedroht, die – mit seltenen Ausnahmen – von Raub- und Habgier und Besitzneid besessen waren. Dies verdeckten diese Erpresser mit hehren Vorwänden: Sie wollten so die Kreuzigung Christi rächen oder eine ad hoc ausgedachte Entweihung einer Hostie oder einen lügnerisch erfundenen Ritualmord bestrafen. Es war die Epoche der herrschaftlichen, kirchlichen Räuber. Ohne solche hehren Vorwände eigneten sich die Ritter die Erde an und verwandelten die Bauern in landlose Knechte. Die alle paar Jahre wiederkehrenden Mißernten
und Hungersnöte bereicherten die Reichen, vermehrten die Verbrechen der Diebe und Räuber, aber die Armen, die Alten und Kinder verkamen noch schneller als sonst. Die Kreuzfahrer machten halt, wo es was zu plündern gab; Byzanz, das weder jüdisch noch muselmanisch noch heidnisch, sondern christlich war, wurde von den eroberungssüchtigen Pilgern des Vierten Kreuzzuges so barbarisch verwüstet und ausgeraubt, daß noch spätere Generationen der Christenheit in Erinnerung an diese Missetaten erschauderten. Die Juden waren auf dem laufenden über alles, was in der Welt geschah, nicht nur dank den Kaufleuten, die seit Jahrhunderten die Länder des Westens und des Nahen Ostens unermüdlich bereisten, sondern auch dank den Sendboten, die den jüdischen Gemeinden Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Polens sowie des Ostens briefliche Anfragen übermittelten, die religiöse, gesetzliche und rituelle Fragen betrafen. Mitten in den einander pausenlos folgenden Katastrophen wollte man in Köln und Worms, in Paris und in Troyes, in Cordoba und in Madrid wie in Rom und Venedig, in Kairo, in Damaskus und Bagdad – überall wollte man schnellstens die Stellungnahme der hervorragendsten Gelehrten der Zeit zu Problemen erfahren, die den Nichtjuden abstrakt und unerheblich erschienen wären. Über alle Grenzen hinweg trug die eigenartige Korrespondenz bedeutend zur Erhaltung des Einheitsbewußtseins der DiasporaJuden bei. Jene, die die Intelligenz der Juden, zumeist in böser
Absicht, überschätzen, und jene, die deren Geistigkeit unterschätzen, verkennen, daß schon zu Beginn des zweiten Jahrtausends die europäische Judenheit als einziges Volk so gut wie überhaupt keine Analphabeten aufwies, daß sie trotz unerbittlichem Zwang zum materiellen Gewinn die Rechtfertigung ihres Daseins allein im geistigen Leben suchte. Die ungewöhnliche Bedeutung, die jene Judenheit dem Geistigen zugestand, läßt sich nicht zuletzt daran ermessen, daß sie ihr Einheitsbewußtsein bewahren konnte, obschon zahllose Faktoren die Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen des versprengten Volkes fortgesetzt verstärkte. Selbst geographisch so nahe Gruppen wie die der iberischen und die der nordfranzösischen Juden waren in vielen Hinsichten voneinander genau so verschieden wie die Spanier von den Franzosen. Jehuda Halevy, der kastilische Poet und Religionsphilosoph, Raschi aus Troyes, der enzyklopädische Gelehrte, Exeget und Kommentator, der Philosoph Maimonides aus Cordoba und Kairo, der zusammen mit arabischen Philosophen den Okzident Aristoteles neu entdeckte – diese drei beispielhaften Repräsentanten des Judentums zur Zeit der ersten Kreuzzüge hatten verschiedene Umgangssprachen: Spanisch, Französisch, Arabisch; sie lebten unter völlig verschiedenen Bedingungen, und ihr äußerer Lebensstil war dem ihrer Landsleute angepaßt. Das Schicksal wollte es, daß die Nachfahren des Spaniers sich nach Holland retten konnten, die des andern in Polen und die des
dritten schließlich in der Türkei oder auf den griechischen Inseln Zuflucht fanden. Die Geschicke und Sitten der Asylländer unterschieden sie voneinander, jedoch blieben sie im Glauben und darüber hinaus durch eine besondere Hermeneutik vereint, durch das Bedürfnis und die Neigung, in allem eine ihren Glauben bestärkende Deutung zu suchen. Die offenbarte und die später überlieferte Lehre durfte keinem Zweifel ausgesetzt werden, gewiß; aber jedes Wort barg in sich so viel mehr als den Inhalt eines Wortes – etwa so wie das Saatkorn in sich die kornreiche Ähre birgt. Wie das Erdreich, so nimmt der Forschende das Wort auf, ihm enthüllt es das Ungesagte, immer tiefer schürfende Einsichten, denn das Wissen genügt nicht, man bleibt bei ihm nicht stehen, man geht von ihm aus, um verstehen zu lernen. Der Historiker Arnold Toynbee wußte, daß die Juden während einer sehr langen Zeit, Generation nach Generation, beinahe nur die eigenen religiösen Werke studiert und kommentiert hatten, und sah darin den Beweis für die hoffnungslose Sterilität, in der ihr Geist Jahrtausende verharrte. Toynbee wußte, aber er verstand nicht, daß es eine der bedeutendsten Leistungen der jüdischen Hermeneutik innerhalb der allerdings unabänderbar gesetzten Grenzen war, alles Biblische zu durchforschen. Die Deutung bezog das überkommene, aber auch das neue Wissen ein, allerdings ohne ihm eine rein weltliche Ausdrucksform zu verleihen. War die Begegnung mit dem Griechentum im dritten
vorchristlichen Jahrhundert unter besonders ungünstigen Bedingungen erfolgt, so wurde sie später intellektuell weitaus ergiebiger. Im Werk des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien kündigte sich eine mögliche Verbindung oder gar eine Verschmelzung des Judaismus mit einem von Polytheismus befreiten Hellenismus an, die viel später in der christlichen Zivilisation fruchtbar werden sollte. Für Philo gab es über die trennenden Jahrhunderte hinweg einen möglichen Dialog zwischen Sokrates und den bibeltreuen Denkern. Dieser Dialog ist erst zwischen den späten Nachfahren zustande gekommen, doch hat er den trennenden Abstand zwischen ihnen nur geringfügig und nur zeitweilig verringert. Je unerträglicher das Leben in der Diaspora wurde, um so unabweisbarer drängten sich Fragen auf, die am Ende nur eine mystische Lehre beantworten konnte. Wenn Gott allmächtig ist, dann ist er auch für alles Übel verantwortlich, das uns, seinem auserwählten Volke, angetan wird. Ist er gerecht, warum läßt er es geschehen? Warum bestraft er uns und läßt den Frevler ungestraft nach Willkür walten? Man begreift, daß der Polytheismus mit solch beunruhigenden Fragen, die natürlich jeden Menschen zeitweise bewegen, mühelos fertig wird. Der olympische Operettenzwist, der als Folge eines Schönheitsbewerbs zwischen drei Göttinnen ausbricht, hat einen langen Krieg und den Untergang Trojas zur Folge, sodann furchtbare Verbrechen und deren Sühne – also auch die berühmten Tragödien des griechischen Theaters. Im Hintergrund walten die Parzen und die Ananke, der Zwang, dem jeder, ohne es zu wis
sen, gehorcht. Kurz, das allmächtige, das unabwendbare Schicksal erklärt alles. Der Monotheismus aber proklamiert zugleich die göttliche Allmacht und die menschliche Verantwortung. Die Heiden suchten in den Gedärmen von erlegten Tieren Zeichen, die ihnen das Geheimnis ihres Schicksals enthüllen sollten. Aber das Fundament des jüdischen Glaubens ist nicht das Fatum, sondern die Gerechtigkeit, auch im Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen; sie ist der Pfeiler, auf dem die Welt beruht und ohne den sie zusammenbrechen und zunichte werden müßte. Daher blieb das Exil nur erträglich, sofern man für jede Pein und für jede Plage eine Deutung fand, die Gott gleichsam entlastete. Zu solcher Versöhnung verhalf nur ein wendiger Verstand, ein flinker Scharfsinn und eine Kunst der Deutung, dank der ein unbestreitbarer Sachverhalt, ohne bezweifelt zu werden, zu einem mehrdeutigen Hinweis zusammenschrumpfte und schließlich nur noch als warnende Anspielung in Betracht gezogen wurde. Der Talmud, ein monumentales Werk ohnegleichen, ist das meist überschätzte und unterschätzte, das meist verleumdete und das seit Jahrtausenden mit unübertrefflichem Eifer studierte, kondensierte Protokoll zahlloser Diskussionen über juridische Probleme, über biblische und nachbiblische Gebote und Verbote, über Sitten und Gebräuche und deren Begründung. Der Talmud ist überdies eine riesige Anthologie von Gleichnissen, Erzählungen und Anekdoten, von historischen und biographischen Hinweisen, von religiösen, philosophischen und
moralischen Erörterungen über den Schöpfer der Welt und über seine Geschöpfe, über deren Geschlecht und Fortpflanzung, über Tugend und über Tod und Ewigkeit und schließlich über Tausende anderer Erfahrungen, Fragen und Lösungen – kurz, fast über alles, was erwähnenswert ist oder es einstmals oder niemals gewesen ist. Die Judenfeinde haben aus diesen ungezählten Millionen von Worten einige – mit Vorliebe schlecht übertragene – Sätze herausgeklaubt, wütende Äußerungen über Feinde, besonders über die grausamen Maßnahmen der römischen Besatzung gegen die jüdischen Insurgenten, gegen deren Freunde und Familien und gegen die friedliche Bevölkerung. Da in diesem Zusammenhang das Wort Goj oder in der Mehrzahl Gojim so tendenziös übersetzt wird, daß es als verfemende Bezeichnung für alle Nichtjuden erscheinen muß, sei hier festgestellt, daß dieses Wort in der Bibel wie auch in späteren Schriften »Volk« bedeutet, so auch wenn man das jüdische meint. (In meinem ostgalizischen Geburtsstädtchen bedeutete übrigens Goj Ruthene oder, allgemeiner, Bauer; alle anderen Nachbarn aber wurden als Juden, Polen oder Deutsche bezeichnet.) Der Talmud ist in vielen Hinsichten, auch als erste Enzyklopädie des damaligen Wissens, einzigartig; ebenso einzigartig ist sein Schicksal, denn kein anderes Werk ist mit einem solch unermeßlichem Aufwand von Intelligenz, mit solch grenzenloser, verehrungsvoller Aufmerksamkeit gelehrt und gelesen worden. Aber noch wichtiger als was der Talmud lehrt, ist das, was man seit 1500 Jahren
in ihn »hineingedacht« hat. So verwandelte sich dieses Studium in einen Prozeß fortgesetzter Bereicherung, die zur Kunst der Exegese und der Deutung wurde, die jene der christlichen Scholastik weit übertroffen hat. Die Deutungskunst kam erst nach der Emanzipation zur vollen Geltung, als keinerlei Diskriminierung den Juden die Beschäftigung mit den weltlichen Wissenschaften erschwerte. Der ungewöhnliche Erfolg so vieler jüdischer Forscher erklärt sich somit nicht durch eine sogenannte höhere Intelligenzquote, sondern ist Frucht und Folge einer optimistisch-skeptischen Denktradition, die zugleich mit den Ursachen allen Seins und allen Tuns auch deren mehr oder minder unterschwelligen Sinn zu entdecken drängt. Man weiß, daß die jüdischen Ärzte auch in der schlimmsten Zeit der Verfolgung hohes Ansehen genossen haben. Von ihnen führt ein langer Weg zu den hervorragendsten Forschern des 19. und 20. Jahrhunderts. Er führt unter anderem auch zur deutenden therapeutischen Psychologie, der man übrigens ebenso wie den Talmudisten vorwerfen könnte, daß sie zuweilen dazu neigt, schlechthin alles, was deutbar ist, für deutungswert und bedeutsam zu halten. Ein besonderer Umstand erklärt zusätzlich den erstaunlichen großen Anteil der jüdischen Intelligenz an den Fortschritten moderner Wissenschaften. Selbst in den schlimmsten Phasen ihres Exils, als nur der Besitz von mobilem Vermögen die Juden vor der Vernichtung rettete – selbst damals betrachteten sie nicht den Reich
tum, sondern die geistige Fähigkeit als höchstes Gut. Viel später, als die allerärmsten Juden Europas nach Amerika auswanderten, um selbst in drückenden Verhältnissen für ihre Familie ein Auskommen zu sichern, da hofften sie zwar, daß ihre Kinder eines Tages wohlhabend, daß sie Fabrikanten oder angesehene Kaufleute sein würden, aber ihr sehnlichster Wunsch war, daß wenigstens einer ihre Söhne ein »Geistesmensch«, ein Lehrer, Doktor oder gar ein Universitätsprofessor werde. Das blieb in ihren Augen der allerhöchste Aufstieg, damit allein errang man, das wußten sie, den so begehrenswerten »Jichus«, den Adel des Geistes. »Nicht in der Kriegsmacht, nicht in der Gewalt, nur im Geiste spricht Gott«, verkündete der Prophet. Daran glaubten alle meine Ahnen. Daran glaubt auch heute noch die achtzigste Generation ihrer Nachfahren. Und demgemäß hat unser Volk gehandelt – gewiß nicht alle Zeit, aber oft und zeitig genug, um die Siege der Unterdrücker und die furchbarsten ihrer eigenen Niederlagen zu überleben.
III Kehren wir nun zum Ausgangspunkt dieser Betrachtungen zurück: zur individuellen Allophobie und zur Psychologie des Antisemitismus. Um vorerst mit einem Mißverständnis aufzuräumen: die Judenfeindschaft ist kein rassischer Fremdenhaß. Zweifellos kann die auffällige bio- oder typologische Verschiedenheit das Gefühl
der Fremdheit, selbst der Unheimlichkeit gegenüber einem Einzelnen oder einer Menschengruppe verstärken. Das geschieht übrigens mit einer nicht immer negativen, sondern recht häufig mit einer von Neugier geförderten positiven Bewertung. Der Antisemitismus ist jedoch weder in früheren Zeiten noch in diesem Jahrhundert durch rassische Empfindungen hervorgerufen worden. Umgekehrt muß die sichtbare oder unsichtbare Verschiedenheit der Abstammung oft als sozusagen wissenschaftliches Argument zur Rechtfertigung des Antisemitismus dienen. Solange die Religion das Verhalten der Menschen in allen Lebenslagen beeinflußte, war für das Verhältnis zu Menschen anderer Herkunft die Andersgläubigkeit bestimmend. Jede Konfession präsentierte sich als die allein wahre und verwarf jede andere als heterodox, schismatisch, ketzerisch, als ein Werk des Teufels. Daher kam es da nicht auf die Hautfarbe an. Der Rassismus setzte ein, als eine priviligierte Schicht die rassische Diskriminierung brauchte, um ihre Macht über ein Volk auszuüben, das mit ihm den Glauben gemein hatte – so etwa in den christianisierten Kolonien. Als spanische und portugiesische Juden zum Christentum übertraten, sei es aus Überzeugung oder um der Verfolgung und Austreibung zu entgehen, verdächtigte man sie und ihre Kinder und selbst Kindeskinder, heimlich dem jüdischen Glauben treu zu geblieben zu sein. Vom 15. Jahrhundert an entwickelte sich mit Hilfe der Inquisition und jener Stände, die sich durch die materiellen und gesellschaftlichen Erfolge der Konver
titen, der »Neuchristen«, wie man sie abschätzig nannte, benachteiligt fühlten, der erste Rassismus im christlichen Europa. Der Taufschein genügte nicht mehr und nicht die kirchentreue Lebensführung. Man mußte die limpizia de sangre, die sogenannte Reinheit des Blutes, nachweisen. In der Tat wurde dieser Beweis nur erbracht, wenn kein Dokument und keinerlei Zeugenschaft den Verdacht bestätigte, daß ein noch so ferner Vorfahre Jude gewesen sein konnte. Man fälschte solche Dokumente, man erkaufte und erzwang solche oder die gegenteilige Zeugenschaft. Die Kirche fuhr zwar fort, den Juden das Heil zu versprechen, wenn sie nur die Taufe annahmen, aber die Neuchristen und die Marranen erfuhren, daß die Taufe keine Rettung für sie war. Es erhoben sich in der Christenheit nur selten Stimmen gegen diese Diskriminierung – so trat Ignazio von Loyola offen gegen sie auf, aber nach seinem Tode konnten Neuchristen keine Aufnahme in den Jesuitenorden finden. Genau wie man die limpizia bei Angehörigen der kaukasischen Rasse nicht als Rassenmerkmal feststellen konnte, so verließen sich die Nazis keineswegs auf ihre Rassenkunde, sondern erließen Ausnahmegesetze und ergriffen Sondermaßnahmen, um Juden durch auffällige Diskriminationen abzusondern; zur Sicherheit fügten sie in den Personaldokumenten die Vornamen »Israel« beziehungsweise »Sarah« ein. Jeder Rassismus zielt auf die maßlose Überwertung der eigenen Abstammung ab und auf die bis zum Wahn
getriebene Entwertung jeder Gruppe, die man unterdrücken, versklaven, ausbeuten oder vernichten will. Die Entwertungstendenz ihrerseits ist eine der Auswirkungsformen des Strebens nach Geltung, Überlegenheit oder Macht. Wer sich unbedingt über andere erheben will, aber befürchtet, daß es ihm aus eigener Kraft nicht gelingen wird, tut alles, um den andern herabzusetzen, zu verkleinern und so größer erscheinen zu können. Solche Verrükkung gelingt aber nur dem Verrückten vollkommen, indes der nicht geisteskranke Entwerter eine tiefe Abneigung gegen sein Opfer faßt, die zu einem verfälschenden Vergleichszwang und schließlich zum Haß führt. Diese unbeherrschte Entwertungstendenz charakterisiert gewisse seelische Krankheiten; sie tritt in Ehekonflikten häufig auf, sie zerstört die Bindung zwischen Geschwistern oder Freunden, übt ihre verblendende, verdummende Wirkung im Chauvinismus aus sowie in der egozentrischen, religiösen oder sozialen Allophobie; sie entwickelt sich manchmal zu einem Beziehungswahn, den Demagogen unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen auf dem Wege zur Macht wirksamst ausnutzen. Im Beziehungswahn, der die Logik außer Kraft setzt, kann man aus jedem Vorfall eine Bestätigung für jedes Vorurteil gewinnen. Der Totalitäre lebt so in der Gewißheit, daß er allein stets in allem vollkommen recht hat und daß man gar nicht anders denken kann, sondern nur betrügerisch vorgeben, es zu tun. »Die Juden sind geistlose Betrüger. So war zum Beispiel Heinrich Heine als Jude absolut unfähig, ein wahrer
Dichter zu sein. Nur dank seiner täuschenden Geschicklichkeit gelang es ihm, so gute Gedichte zu schreiben, daß naive Arier glauben mußten, er wäre wirklich ein Dichter.« – »Ein Jude kann kein Mäzen sein, er stiftet Geld für Museen und Konzerte, um vorzutäuschen, daß er kunstsinnig ist. In Wirklichkeit aber tut er es, um seinen Geiz zu verhüllen und sich hervorzutun.« In diesen und zahllosen ähnlichen Aussagen deliriert die unbeherrschbare Entwertungstendenz jener, die sich durch die Vorzüge des andern entwertet, ja gedemütigt fühlen. Sie sind geradezu sittlich darüber empört, daß dem andern, dem Fremden, gelingt, was ihm gar nicht gelingen dürfte. Diese typische, wenn auch häufig verklausulierte Äußerung der Judenfeindschaft kann natürlich auch gegen eine andere Minderheit gerichtet sein: gegen Protestanten, Katholiken, gegen Armenier, gegen Parsen; besonders häufig gegen Chinesen in Südostasien, wo sie wirtschaftlich eine ähnliche Rolle spielen (oder spielten) wie die Juden seinerzeit in manchen Teilen Europas. Jedoch ist diese zerstörerische Negativität ein individualpsychologisches und ein sozialpsychologisches Phänomen, das am häufigsten im Privatleben, innerhalb und außerhalb der Familie auftritt und schließlich in der Beziehung zwischen sehr nahe verwandten Stämmen, ehe sie sich zu einer Nation zusammenschließen. Somit ist das Verhalten, das in unserer Zivilisation einen deutlich antisemitischen Charakter hat, keineswegs nur in der Beziehung zu Juden vorhanden. Und eben deshalb ist
hier immer wieder von der Judenfeindschaft als einer Abart der Allophobie die Rede. *** Die Tragödie der mißlingenden, weil von den anderen vereitelten Integration oder Assimilation hat sich nicht nur seinerzeit in Spanien ereignet, sondern in vielen Ländern wiederholt; so unter anderem in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Sie hat ihren Tiefpunkt in Hitlers Europa erreicht – den tiefsten Abgrund, aber nicht den fünften Akt. Denn nichts ist zu Ende, nicht der Wille zur Assimilation, nicht die Vitalität der Judenheit und nicht die Aggressivität des Antisemitismus. Dieser ist auf der politischen Rechten teilweise abgeschwächt, aber auf der extremen Linken – oder was sich als solche ausgibt – und besonders in den kommunistischen Staaten fortwährend erstarkt. Seinerzeit hieß es: »Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls.« Nun, er ist gewiß für alle totalitären Bewegungen und Regime charakteristisch, gleichviel ob sie sich auf eine Orthodoxie, eine Rasse, eine Klasse oder eine Nation berufen. In jedem Falle handelt es sich um den totalen Haß, dem die totalitäre Wahrnehmungs- und Denkweise mehr Gründe liefert, als man braucht, um die erwählten Feinde zu verteufeln. Ob solche Hasser ihre Umwelt beeinflussen und mit deren Hilfe ihren Beziehungswahn zum Prinzip einer nationalen oder sozialen Politik erheben, hängt von der geschichtlichen Entwicklung ab und mit einer
gegebenen, zumeist kritischen Situation zusammen, die eine Konjunktur der aggressiven Allophobie ermöglicht. In der Mitte dieses Jahrhunderts sind dank dieser von einer totalitären Staatsmacht in eine massenmörderische Praxis umgesetzten Konjunktur Zehntausende unserer Zeitgenossen zu Peinigern und Mördern geworden, die während mehrerer Jahre ihre Verbrechen ohne das geringste Risiko täglich wie ein Amt ausübten. Man hatte ihnen eine sogenannte Ideologie verschafft, die sie berechtigte, ihre Opfer als Untermenschen zu behandeln und sich so in jedem Augenblick ihrer eigenen Überlegenheit zu versichern. Europa sank tiefer als der tiefste Abgrund: es wurde Schauplatz eines an wehrlosen Menschen täglich verübten Genozids. Ein Genozid gelingt jedoch fast nie so total, wie ihn Despoten seit undenklichen Zeiten geplant haben und planen. Daher lebt das jüdische Volk noch immer, seine Vitalität ist unvermindert und so fruchtbar wie je. Der Staat Israel stellt ein neues Faktum unüberbietbarer Bedeutung dar: Löst er zwar nicht die Judenfrage, setzt er zwar der Diaspora kein Ende, so ist er doch das Ergebnis eines neuen Beginnens – Israel ist Heimat und Asyl. Dank diesem kleinen, bedrohten Staat wird es nirgends mehr so leicht sein, Juden zu morden. Ähnlich dem Aufstieg des Dritten Reiches, dessen Siege sich als Etappen auf dem Wege zum katastrophalen Zusammenbruch erweisen sollten, hat der Antisemitismus seit Jahrtausenden Siege zu verzeichnen, die unsere Dauer in Niederlagen verwandelt. Was haben die Feinde
dem jüdischen Volk nicht alles angetan – welche Mittel, welche List, welches Gift, welche Waffen haben sie nicht verwandt, welche Verleumdungen nicht ausgestreut? Welche Gesetze haben sie nicht erlassen, welche Peinigung nicht erfunden? Aber wir sind noch immer da. In diesen Zeilen findet man mehrere Begründungen für dieses Überleben. Hier sei noch ein Grund hinzugefügt: Obschon man den Juden wie allen Menschen Fehler, Unzulänglichkeiten, Unterlassungen und Missetaten vorwerfen kann, so wurden sie keinesfalls derenthalben verfolgt, sondern beinahe ausschließlich um ihrer Gaben und Vorzüge willen. Unsere Feinde, die gewiß ebenso Vorzüge und Gaben besitzen wie wir, haben uns aber um ihrer eigenen Fehler willen, wegen ihres eigenen Versagens verfolgt und wegen ihrer Unfähigkeit, sich damit abzufinden, daß die Juden nicht so werden wollen wie sie – gleichzeitig aber auch aus Furcht, daß jene es werden könnten, wenn sie es wollten. Doch am hassenswertesten sind wir ihnen wegen der Treue, die wir unseren Ahnen bewahrt haben, und unerträglich wegen unserer negativen Zeugenschaft gegen jede Verkündung einer erlösten Welt: gegen Johannes Chrysostomos und gegen Stalin … *** Ich bin ein europäischer Jude, der jeden Augenblick dessen bewußt bleibt, ein Überlebender zu sein, und der nie die Jahre vergißt, in denen ein Jude zu sein ein todeswürdiges Verbrechen gewesen ist.
Selbst in jenen Jahren habe ich, Freund vieler Freunde, die Juden und Nichtjuden zwischen ihnen nie unterschieden; jeder war mir in seiner Weise gleich lieb. Und das ist so geblieben. Auch als Nichtjude wäre ich nie ein Antisemit gewesen, dann ich bin unfähig, Feindschaft gegen ein Volk oder eine Rasse zu empfinden. Und ich brauche nicht die Zeitgenossenschaft unserer Feinde, um ein Jude zu bleiben – ohne törichten Stolz und ohne Anmaßung, aber nicht ohne Bewunderung für die Vorfahren, deren Erbe – eine Botschaft, eine Bürde, eine Aufgabe – nach wie vor bewahrt zu werden verdient. Paris, den 25. Juni 1979
Mein Judesein I Ich schreibe diese Zeilen mitten in der Stadt, deren Namen ich als Kleinkind im gestammelten Gebet täglich wiederholte, noch ehe ich den Namen meiner Familie oder meines Geburtsortes kannte. Jeruschalajim – diese fünf Silben, die für mich noch während langer Jahre ihren seltsamen Klang behalten sollten, glichen jenen Gelöbnissen, die uns zuweilen viel stärker an das Leben binden als ihre Erfüllung. So wußte ich denn wie alle meinesgleichen, daß Jerusalem die Stadt war, in die wir eines Tages zurückkehren würden: »Im nächsten Jahr!«, so hieß es in einem oft wiederholten Wunsch, der zugleich die messianische Hoffnung ausdrückte. Ich lernte die Propheten übersetzen, vor allem Jesajas, dessen Botschaft mich Ungläubigen noch heute angeht, und Jeremias, dessen Leiden am eigenen Volk mich entdecken ließ, daß Liebe eine unversiegbare Quelle von Unglück sein kann. Jeremias, in dessen Reden ich zum ersten Mal der großen rhetorischen Poesie begegnete, klagte: »Sie sagen: ›Frieden, Frieden‹, aber es ist kein Friede!« Während der 65 Jahre, die seit meiner ersten Begegnung mit den Propheten verflossen sind, hat mich diese Klage wie der bedrängende Kehrreim eines Liedes begleitet, das seit Jahrtausenden nutzlose Mahnung bleibt.
Gott sandte die Propheten, um dem von ihm auserwählten Volke abwechselnd strafendes Unheil anzudrohen und das Glück des sich unaufhaltsam vermehrenden Lebens zu versprechen. Zornig oder erbarmungsvoll, stets sagte er ihnen die Dauer, die unverlierbare Dauer zu und das Land Kanaan, die noch zu erobernde und immer wieder verlierbare Heimat. Jerusalem ist eine sehr alte Stadt, aber es ist nicht Jeruschalajim, das hat Nebukadnezar zerstört; es ist auch nicht die Stadt des zweiten und nicht die des herodischen Tempels, welche im Jahre 70 von Titus erobert und im zweiten Jahrhundert, nach dem endgültigen Sieg der Römer über das rebellische Gottesvolk, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Seither ist diese Stadt oft genug neu erbaut und wieder zerstört worden, zumeist mit Berufung auf den gleichen Gott, den Gott meiner Ahnen. In den zwei Jahrtausenden unserer Zeitrechnung haben das gelobte Land und seine Hauptstadt das seltsame Schicksal erlitten, von seinen Eroberern stürmisch begehrt und gerühmt, aber nicht geliebt zu werden. Man lese die Berichte glaubwürdiger Reisender aus den vergangenen Jahrhunderten, etwa den Chateaubriands, und man wird erfahren, wie die Stadt der heiligen Stätten verkam, welch barbarischer Verwahrlosung das Land von seinen Eroberern ausgeliefert wurde. Es ist allerdings wahr: Diese schnell versteinerte, versandete, versumpfte Erde mußte man immer wieder urbar, die Scholle ohne Aufhör mit Wasser betrunken machen, damit sie vergesse, undankbar zu sein. Solches aber kann nur zustande bringen, wer
dieses Land so liebt, wie man ein von tödlicher Krankheit bedrohtes Kind umsorgt. Das haben in den letzten achtzig Jahren junge Juden, nur sie, zustande gebracht. Die zwar stets gefährdete und dennoch bewahrte Dauer genügte ihnen nicht mehr; sie wollten, daß ihr Volk wie jedes andere seinen Bestand fortab nicht nur in der stets wechselnden Zeit, sondern in seinem eigenen, unverwechselbaren Raume gründe. Während nun mein Blick auf den Wällen ruht, welche die viel umstrittene Stadt umschließen, suche ich ohne Hast, mit Gleichmut zu erforschen, welcher Art mein Judesein ist, mir selbst darüber Aufschluß zu geben, was mir heute und hier das Judentum bedeutet, zu welchem ich nicht nur durch die Geburt, sondern weit mehr noch deshalb gehöre, weil ich es auch unter den schlimmsten Bedingungen stets so gewünscht habe. Und das geschah von Anbeginn nicht wegen, sondern trotz seiner Auserwähltheit. Ob diese nun eine unentrinnbare Gabe oder eine zu schwere Bürde ist – diese Frage hat mich nur in jungen Jahren bekümmert, denn früh genug entdeckte ich, daß die Gnade uns anhaftet wie ein Höcker den Schultern. Nicht leichter als von diesem kann man sich von der Gnade, der erdrückendsten aller Lasten, befreien. Auch weil ich die Bedrohlichkeit der Auserwähltheit nie vergessen konnte, wollte es mir nicht gelingen, das einzigartige Schicksal des jüdischen Volkes mit vernünftigen Gründen zu erklären. Und weniger als je wüßte ich heute zu sagen, warum gerade wir alles überdauert, so vieles überlebt haben. Seit langem scheint mir der
Preis viel zu hoch für solche Dauer in der Zeit und das ungewollte Überall und Nirgendwo im Raum. Obschon dieses Schicksal ein historisch und philosophisch unentwirrbares Problem bleibt, dessen Lösung weit mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet, ist mir das Judesein so natürlich wie etwa einem Tiroler Bauern die Gewißheit, daß er gerade dort hingehört, wo sein Dorf liegt. Somit ist mein Selbstverständnis eine alltägliche Selbstverständlichkeit gegenüber Juden und Nichtjuden, gegenüber dem Glück und dem Unglück, ein Jude zu sein – im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung oder im Jahre 135 oder ein Jahrtausend später, in der Epoche der Kreuzzüge, oder schließlich nach der bürgerlichen Emanzipation und dem Beginn der Taufepidemien, der ebenso stürmischen wie erfolglosen Versuche recht vieler deutscher oder französischer Juden, sich selbst zu entfliehen. Ein tätiger Zeitgenosse im 20. Jahrhundert, bleibe ich so ein Gefährte meiner Ahnen auf all ihren Wegen und Zeuge der Freveltaten, deren auserwählte Opfer sie wurden, wie der Wunder, die sie schließlich vor der völligen Ausrottung bewahrt haben. Um so unverständlicher mag es scheinen, daß mir die als Klagemauer bezeichnete Westwand des Tempelhofes, dieses Ziel so vieler Pilger, nicht viel bedeutet. In der Tat weniger als zum Beispiel die Akropolis von Athen. Um es deutlicher zu sagen und zu erklären: Nicht nur den Bestand des jüdischen Volkes, sondern auch seinen Glauben und alles, was an ihm erhaltenswert sein könnte, hat der Verlust des Tempels und mit ihm die Abschaffung der
Priesterschaft nachhaltig, ja entscheidend gefördert. Der Judaismus wurde gerettet, weil er fortab an keinen Raum und an keine Institution, weil er an nichts Verlierbares mehr gebunden war. Man denke an die Akropolis: Sie drängt ihren Bewunderern keinerlei Glauben an Zeus auf oder an Athene oder die anderen Bewohner des Olymps. In ihren Tempeln überlebt nur der schöpferische Mensch, die Götter aber sind die nach dem Ebenbilde des Menschen geformten Werke, denen unser Blick ein Dasein verleiht. Erst als Gott seinen Tempel verlor und heimatlos wurde wie sein Volk, triumphierte er über die heidnischen Götter und die Lockung des Götzendienstes, der die Nachfahren Jakobs in Kanaan zu oft erlagen. Erst in der Diaspora verringerte sich diese Anfechtung, sie verschwand schließlich ganz, als der Christianismus, in eine Kirche verwandelt, unter anderem durch den Marienkult und die Vergötzung der parochialen Schutzheiligen Erbe des Heidentums wurde. Nicht nur weil ich ungläubig bin, sondern weil ich zum Judentum gehöre, wittere ich in allen heidnischen Praktiken die feige Selbsterniedrigung des Menschen vor Tieren, Ungeheuern und idolisierten Mitmenschen. Und darin bin ich gewiß strenger als so viele orthodoxe Juden, die sich in ihrem Glaubensdurst manchen Aberglauben der Wirtsvölker zu eigen gemacht haben. Gäbe es einen Gott, so wäre er, meine ich, zweifellos der jüdische. Habe ich mich zwar im dreizehnten Lebensjahr vom Glauben an ihn gelöst, so ist doch mein ketzerischer
Werdegang von Anbeginn durch den Widerwillen gegen jede Idolisierung bestimmt gewesen; deshalb wurde ich wie so viele meinesgleichen ein unversöhnlicher Feind Stalins, der seinerseits zum Judenfeind wurde, als er sich anschickte, die Anbetung seiner Vollkommenheit mit unbegrenzter Gewalt zu erzwingen. Um diese einleitenden Bemerkungen abzuschließen, erinnere ich daran, daß der Judaismus auf der Unmittelbarkeit der Beziehungen zwischen Gott und den Menschen beruht. Dieses Verhältnis wurde durch die Priesterkasten verschleiert und immer wieder gestört; nicht sie, sondern die Propheten waren es, die selbst in Lebensgefahr die Wahrheit des Judentums verkündeten und jene Hoffnungen begründeten, dank denen die Juden, obschon immer wieder geschlagen, stets unbesiegt geblieben sind. Die Propheten forderten von ihnen weit mehr, als sie versprachen, und luden ihnen die Bürde des Menschendaseins auf, als ob sie eine Gnade wäre, die man täglich aufs neue durch Werke verdienen müßte.
II Nie erfaßt das Wirtsvolk klar genug das Wesen, somit die bestimmenden Gründe des Andersseins der Minderheit, die in seiner Mitte und doch stets am Rande lebt, indes die Minderheit ihrerseits unbedingt die jeweils bestimmenden Beweggründe der Mehrheit rechtzeitig erkennen und deuten muß, um alles zu vermeiden, was
bei der Majorität Mißstimmungen hervorrufen könnte. Diese betrachtet es als selbstverständlich, daß nur ihre Art, zu sein und zu handeln, daß nur ihre Wertmaßstäbe natürlich, daß sie die sittlicheren sind, das heißt dem allgemeinen Interesse am förderlichsten. Auch wenn die Koexistenz allen zur Gewohnheit geworden ist, so bleibt doch stets ein Restproblem, das scheinbar plötzlich, jedenfalls unerwartet das friedliche Miteinander der ungleichen Gemeinschaften zu beeinträchtigen droht. Das geschieht, wenn sich der Autochthonen der Verdacht bemächtigt, daß die anderen insgeheim darauf sinnen, die Vormachtstellung der Majorität zu erschüttern und damit den etablierten Selbstverständlichkeiten alle Geltung zu bestreiten. Man denke daran, wie unvereinbar das katholische Selbstverständnis mit dem Geltungsanspruch einer lutheranischen Minderheit werden kann. Oder man denke an die in Stein gemeißelte »beschämte Synagoge« an der Fassade des Straßburger Doms; sie trägt ein Band vor den Augen und macht sich so selber blind, weil sie es vorzieht, das Licht der unanfechtbaren Wahrheit nicht zu erblicken; daneben sieht man die beschämende Ecclesia triumphans, die verfolgende Unschuld. In der Mehrheit aufzugehen und so die eigene Identität zu verlieren, ist je nachdem die Befürchtung oder das Begehren vieler Angehörigen einer Minderheit, sofern diese nicht die herrschende Schicht ist. Beherrscht, erniedrigt, entrechtet und verfolgt, blieben jedoch die Juden zumeist frei von jener Befürchtung wie von jenem Begehren, denn für sie war es selbstverständlich, daß sie
ihrem Gott und damit sich selbst unter allen Umständen treu bleiben müßten. Später, im vierten Jahrhundert ihres Exils, wurde ihnen diese Treue zum Verhängnis, das ihnen auf der christlichen Erde wie der eigene Schatten überall hin folgte. Damals verflüchtigte sich die bis dahin gehegte christliche Hoffnung auf eine zweite Parusia, auf eine Wiederkehr des Heilands, »ohne die« – so hieß es in einer Schrift – »es nicht möglich ist, an die erste zu glauben, weil diese nicht alle Prophezeiungen erfüllt hat … Aus diesem Grunde«, – hieß es weiter – »weigern sich die Juden zu glauben, daß es der Messias war, der damals gekommen ist.« Ein Zeitgenosse des Autors dieses vor 1600 Jahren gechriebenen Textes, der Kirchenvater und Kirchenheilige Johannes Chrysostomos, der »Redner mit dem goldenen Munde«, predigte daher den erbarmungslosen Krieg gegen die Juden, um die Legimität des christlichen Erlösungsanspruchs zu retten. Die Juden sollten Jesus als Messias endlich anerkennen oder ausgerottet werden, wenn sie in ihrer christfeindlichen Verstocktheit zu verharren wagten. Dieser Priester, der ebenso unversöhnlich wie erfolglos die Paganisierung der Kirche bekämpfte, war der bedeutendste Initiator des organisierten Hasses gegen die Juden, der sich aus einer funktionellen Feindseligkeit in einen totalen Haß verwandeln sollte. Wer solches Gefühl hegt, bringt es zustande, den Gehaßten hemmungslos zu verachten und ihn dennoch so maßlos zu überschätzen, als ob dieser über eine geheime und um so gefährlichere Macht verfügte.
Seit meiner Kindheit weiß ich, daß »in jeder Generation Hasser aufgestanden sind, um uns zu vernichten«: von den Amalekiten bis zu den Verleumdern des französisch-jüdischen Offiziers Dreyfuß und bis zu jenen theologischen Antisemiten, die noch zu Beginn dieses Jahrhunderts in Ritualmord-Prozessen als Fachleute des Judenhasses auftraten und zu Progromen hetzten. Man hat mich früh gelehrt, den offenen und verhohlenen Haß zu durchschauen, und mir zugleich eingeschärft, mich niemals zum Haß hinreißen zu lassen. Eine Romanfigur, einen Wunderrabbi, lasse ich sagen, daß wir, wir allein trotz aller Niederlagen nur deshalb unbesiegt geblieben sind, weil wir uns stets davor bewahrt haben, im Kampfe dem Feinde zu gleichen. Wir durften Haman, Titus oder den Zaren verabscheuen, aber nicht das persische, das römische oder das russische Volk. In einem Essay über den Haß habe ich zwar die Judenfeindschaft als psychologisch aufschlußreiches Beispiel analysiert, jedoch nicht vom jüdischen Standpunkt aus, sondern im Hinblick darauf, daß niemand dauerhaft hassen kann, ohne den Gehaßten zu entmenschen und sein Bild bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Das tut man, um in der totalen Negation des Anderen die absolute Bestätigung des eigenen Wertes zu finden und so den Zweifel an ihm zum Schweigen zu bringen.
III Mehr als der Glaube an ihre Auserwähltheit hat die Juden ihr Martyrium zu einem judäozentrischen Selbstverständnis gedrängt. Ohne diese Leidensgeschichte je zu vergessen, bewahre ich mich entschieden davor, judäozentrisch zu denken. Wie so viele meinesgleichen habe ich ohne Rückhalt an Bewegungen und Aktionen teilgenommen, die keinerlei jüdischen Bezug hatten. Seit meiner frühen Jugend fühle ich mich mitbetroffen, herausgefordert, persönlich angefordert durch die Ereignisse unserer Zeit, durch Hoffnungen und Leiden überall in der Welt – dies in nicht geringerem Maße als meine nichtjüdischen Freunde. Die Antisemiten werfen den Juden seit jeher ihre zu rege Beteiligung an allen emanzipatorischen Bewegungen vor. Und es trifft in der Tat zu, daß ihr Anteil an den Befreiungsbwegungen unserer Zeit relativ größer gewesen ist als der anderer Intellektueller. Dies erklärt sich daraus, daß die Intelligenz fast aller religiösen oder nationalen Minoritäten sich zu den Malkontenten hingezogen fühlt, sofern sie für das Recht der Entrechteten und gegen jegliche Diskriminierung einstehen. Andererseits fördert die biblische Erziehung tatsächlich das Streben nach Gleichheit und nach ungeschmälerter Gerechtigkeit für alle. Die allgemeine bürgerliche Emanzipation, die allen Minoritäten die Gleichberechtigung zusicherte, rief damit assimilatorische Neigungen bei jenen Juden hervor, die sich nicht im mindesten an den jüdischen Glauben
gebunden fühlten. Dies geschah genau in dem Maße, wie sich die moderne Gesellschaft von der Herrschaft der institutionalisierten Konfessionen befreite und alle Verhältnisse verweltlichte. Die Juden, mit seltenen Ausnahmen Städter, säkulasierten sich weit schneller als ihre christlichen Nachbarn und glaubten nun, sich ungehindert der Umwelt integrieren zu können, da ja die Verschiedenheit des Glaubens fortab keine Schranke mehr zwischen ihnen und den Christen bilden sollte. Um aber alle Bande mit der Vergangenheit sofort und unwiderruflich zu lösen, ließen sich manche dieser Assimilanten taufen. Der Fall Heine ist bis auf den heutigen Tag aufschlußreich geblieben, ebenso der des Konvertiten Karl Marx. Im Gegensatz zum Dichter, der trotz der Taufe sein Judentum weder verleugnete noch herabsetzte, war Karl Marx ein rabiater, ja extremer Antisemit, der aufs energischste seine unableugbare Abstammung zu verleugnen suchte, indem er sein Volk und dessen Gott in Wort und Schrift gehässig verleumdete. In der Tat gelang die völlige Assimilation selbst den aus Mischehen hervorgegangenen Nachkommen zumeist erst in der zweiten, dritten oder gar vierten Generation. Die säkularisierten Antisemiten ihrerseits ersetzten mühelos die traditionelle religiöse Begründung ihres Judenhasses durch eine rassisch, national oder sozial begründete Ideologie. »Die Gründe des Hasses erschöpfen sich niemals; die von ihm inspirierten Taten und deren unvermeidliche Folgen vermehren im Gegenteil beinahe täglich seine Vorwände und Gründe … Der Mensch, der ge
haßt wird, vermag nichts gegen den totalen Haß. Es ist nicht einmal sicher, daß dieser erlöschen würde, wenn sein Opfer sich selbst vernichtete.« Diese Zeilen, die ich meinem vor 25 Jahren veröffentlichten Essay über den Haß entnehme, sind nicht unter dem Eindruck der organisierten Judenausrottung geschrieben worden. Als Psychologe, der die seelischen Voraussetzungen des totalen Hasses prüfte, gelangte ich zum Ergebnis, daß der Hasser, dieser rastlose Hetzer und Verfolger, von einer Angst verfolgt wird, die ihn auch noch dann beklemmen würde, wenn er endlich auf dem Massengrab seiner Opfer tanzen könnte. Für mein Sein als Jude und für mein weltliches Sein und Tun hat der Haß stets nur eine geringe Bedeutung gehabt – vielleicht eben deshalb, weil sich mir der Judenhaß recht früh als ein extrem aggressiver Verfolgungswahn enthüllt hat, als eine völlig falsche, daher stets mißlingende Überkompensation einer Geist und Gemüt beherrschenden Allophobie, einer amokläuferischen Angst vor den andern, die der Hassende jedoch vor sich selbst zu verheimlichen sucht. In seiner monomanischen Feindschaft redet er sich ein, daß er den Gehaßten unerreichbar überlegen ist und sie verachten, aber auch fürchten muß, weil sie von teuflischer Schlauheit sind. Der oft zitierte und noch öfter mißdeutete Selbsthaß von Juden, der die endlose Flucht vor der eigenen Identität begleitet und bald ihre Ursache, bald ihre Folge sein kann – dieser Selbsthaß ist keineswegs spezifisch jüdisch, denn er bemächtigt sich eines jeden, der sich mit seinen Verächtern identifiziert, weil er wähnt, er könnte sie so
nicht nur entwaffnen, sondern sogar zu seinen Gunsten umstimmen. So handeln Menschen, die das Urteil über sich selbst von dem des andern, eben des Feindes, abhängig machen. Von einem das seelische Gleichgewicht erschütternden Unsicherheitsgefühl bedrängt, fragen sie sich immerfort, was wohl der Gegner über sie denken mag; sie fürchten am meisten, jenen zu mißfallen, von denen sie sich angefeindet oder verachtet fühlen. Aus Angst, unterworfen zu werden, unterwerfen sie sich im voraus; sie verachten sich selbst und werden verächtlich in der Hoffnung, so der Verachtung zu entgehen. Sie verpfänden dem Feinde ihre Ehre und untergraben den eigenen Daseinsgrund. Juden meiner Art werden in ihrem Selbstwertgefühl durch die antisemitische Entwertungs- und Erniedrigungstendenz keineswegs betroffen; sie durchschauen die Motive der Verächter und verachten sie. Es fällt mir zum Beispiel leicht, Dostojewskis Antisemitismus zu mißachten, aber zugleich sein Werk zu bewundern und den unglücklichen Menschen zu bemitleiden, der er gewesen ist. Wende ich zwar meine Augen von jedem in dem Augenblick ab, da er sich beschämt fühlt, so blicke ich jedem ins Gesicht, der mich oder meinesgleichen beschämen will. Ich rühme mich nicht der beispielhaften, wahrhaft beispiellosen Glaubenstreue meiner Ahnen – sie ist nur mein Erbe, nicht mein Verdienst –, jedoch bringt mir jeglicher antisemitische Spott sofort in Erinnerung, daß ich deren Nachkomme bin, indes die Spötter mit seltenen Ausnahmen von Leuten abstammen, die im Laufe
der Jahrtausende ihren Glauben oft und stets opportun gewechselt haben. Sie verbrannten, was sie vorher angebetet, und beteten an, was sie verbrannt hatten. Die Juden sind insgesamt nicht intelligenter, nicht klüger als ihre Nachbarn; sie sind nicht besser, sie sind nicht ärger; nicht geiziger und, obschon häufig hilfreicher, auch nicht großzügiger als andere; nicht hochmütiger und nicht bescheidener. Aber sie allein sind durch Jahrtausende vor allem jenen ihrer Lehrer, so den Propheten, treu geblieben, von denen sie mit schmerzlicher Strenge gerichtet und häufig verurteilt worden sind. Nein, ich vergesse nicht, wie oft meine Ahnen ihre Rücken erniedrigend tief beugen mußten, um ihr nacktes Leben zu retten. Aber sie blieben stets das Volk des harten Nackens, von dem die Bibel spricht. Und wäre es nicht verkehrt, auf etwas stolz zu sein, das man nicht selbst bewirkt, sondern nur erhalten hat, so würde ich mich dieses harten Nakkens rühmen. Er mag – halb im Ernst gesprochen – der einzige Lohn sein, der uns für die fordernde Gnade der Auserwähltheit zuteil geworden ist.
IV Dem eingangs erwähnten Unverständnis, mit dem das Wirtsvolk den Eigenheiten der eingesessenen Minderheit begegnet, entspricht eine mehr oder minder verfehlte Reaktion, ein spezifisches Unverständnis, mit dem die Minorität ihrerseits ihre Nachbarn zuweilen betrachtet.
Es handelt sich insbesondere um folgende Mißdeutungen: Die religiöse oder ethnische Minderheit neigt dazu, ihre eigene Wichtigkeit zu überschätzen, und verkennt deshalb, daß die Mehrheit ihre Entscheidungen im Hinblick auf ihre eigenen Interessen trifft, daß sie also nicht, um die anderen herabzusetzen, zu benachteiligen, sich selbst die meisten Vorteile zu sichern sucht. Jede Majorität ist egoistisch, jede Minorität wird es, sobald sie zur Mehrheit wird oder sich dieser einverleibt. Wer vor langer Zeit aus der Fremde gekommen ist, mag vergessen, daß er ein Zugewanderter ist, die Einheimischen aber vergessen es nie. Die Juden bilden überall – außer in Israel – nicht nur eine ethnische, sondern auch eine konfessionelle Minderheit, die das verbriefte Recht ausübt, ihren Traditionen treu zu bleiben. Jedoch wittern sie Feindseligkeit, sooft man auf ihre Besonderheit gerade dann hinweist, wenn die nationale Zugehörigkeit erörtert wird. Diesen nur scheinbaren Widerspruch suchen, wie gesagt, viele Juden durch einen Bruch mit aller Tradition und unter Umständen durch die Taufe zu entgehen. Nun, ich bin solch ein ungläubiger Jude. Nicht ein einziger der zahllosen Riten, die den Alltag und den Festtag der Gläubigen beherrschen, hat für mich noch Geltung. Desungeachtet habe ich nie die geringste Neigung empfunden, mein Judesein zu verleugnen oder mich ihm zu entfremden. Nicht religiös und nicht ein Israeli – was bin ich denn für ein Jude? Diese Frage läßt nur eine persönliche Antwort zu, gilt also jeweils nur für den einzelnen,
in diesem Falle für mich. Sie mag für andere Juden in meiner Lage gar nicht gelten. Ich bin ein Jude, weil ich in meiner Kindheit von einer alles umfassenden, alles durchdringenden jüdischen Erziehung geformt worden bin. Man lehrte mich, alles im Hinblick auf Gottes Gebote zu erkennen, zu verstehen und zu deuten; noch vor dem Schulalter las ich die Bibel im Original, daneben auch deutsch, etwa Grimms Märchen, und die Zeitung, die aus Wien kam. Man belehrte mich aufs eindringlichste über die von der biblischen Ethik angeordneten Lebensregeln, deren gebieterischste für mich unabänderlich geblieben ist: den Einklang von Glauben und Tun, von Theorie und Praxis zu erlangen und in seinem Sinne zu leben. Ich wage nicht zu behaupten, daß ich dieses Gebot stets befolgt habe, aber ich habe nie aufgehört, an jenen Lebensregeln zu ermessen, ob ich jeweils meinem Leben einen Sinn gab oder in Gefahr geriet, es sinnwidrig zu vergeuden. So handeln, wie es gut wäre, daß alle handeln sollten; nie vergessen, daß man nicht nur für das eigene Tun verantwortlich ist, sondern für alles Übel, das man verhindern oder zumindest vermindern könnte; immer gemäß dem Rat handeln, den uns Rabbi Hillel hinterlassen hat: »Was du nicht willst, daß man dir antue, das tue auch keinem anderen an.« Und schließlich sich zu dem bekennen, was man als Wahrheit erkannt zu haben glaubt – und bliebe man mit ihr ganz allein. Doch sollte man, wenn möglich, nie allein bleiben und stets solidarisch sein.
Als ich wenige Jahre später auf Dostojewskis reumütig herausfordernden Satz stieß: »Wir alle sind an allem schuld!«, dünkte er mich im ersten Augenblick so übertrieben, als träte in ihm ein verkehrter Größenwahn zutage. Dann aber erkannte und fühlte ich zugleich, daß der Dichter recht hatte. Am Ende war es mir, als wiederholte er eine Botschaft, die ich bereits in meiner Kindheit empfangen hatte. Denn das ist mein Judaismus seit jeher: Solidarität mit den Juden, eindeutige, unanzweifelbare Identifikation mit ihnen – konnte es denn auch nach allem, was ihnen in diesem Jahrhundert angetan worden ist, anders sein? Und auch das ist mein Judaismus: Solidarität mit allen, denen Unrecht getan wird. Das ist seit jeher mein Sozialismus gewesen; er ist es geblieben wie die häufig genug erfolglose und dennoch ungeduldige Bemühung um eine Welt, in der Theorie und Praxis sich versöhnen und für immer vereint sein würden. Ich fühle mich keineswegs verpflichtet zu allem, was die Eigenen tun, ja zu sagen, sondern eher im Gegenteil dazu berechtigt, schärfer als sonst alles zu kritisieren, was bei ihnen ungerecht, unwürdig, zu anspruchsvoll oder opportunistisch und daher unecht sein kann. Solche Strenge habe ich selbst erfahren und sie mir ohne Zögern zu eigen gemacht. Jedoch hat es seither Jahre gegeben, da Jude sein unentrinnbares Leiden bedeutete und ein unaufhörliches Mitleiden; es blieb keine Strenge, sondern nur ein winziger Rest von Zuversicht zurück und der Wille zum Widerstand, doch zumeist keine Möglichkeit, ihn zu leisten.
Seither, seit Jahrzehnten, vergeht mir kaum ein Tag, ohne daß ich jener Zeit gedenke, da mein Volk im Herzen Europas bis zur Entmenschung gedemütigt und von den herrschenden Mördern ausgerottet wurde. Mir vergeht kaum ein Tag, an dem ich die Gleichgültigkeit vergessen könnte, mit der die Welt dies jahrelang geschehen ließ. Solche Einsamkeit nistet seither in meinesgleichen, im heitern Sonnenschein bricht vereisende Kälte herein, das Geschehene dringt in die Gegenwart ein, als ob es nicht Erinnerung, sondern eine unablässig wiederholte Gewalttat wäre. Die Ereignisse, auf die ich hier anspiele, haben mein Judesein nicht verändert, aber sie haben – im Sinne des biblischen Gleichnisses – meinen Nacken noch mehr verhärtet, sie haben ihn versteinert. Die große Zuversicht, mit der ich eine alle Menschen und Völker versöhnende, verbindende Zukunft betrachtete – diese vertrauensvolle Erwartung hege ich zwar immer noch, aber recht oft fordere ich mit ihr den eigenen Spott oder eine böse Ungeduld heraus. Das Gedächtnis will nicht verkümmern, es erinnert an die Schiffe mit jüdischen Flüchtlingen, die auf den Ozeanen kreuzten und schließlich jämmerlich zugrunde gehen mußten, weil kein Hafen, kein einziges Land, nicht das mächtigste und nicht das schwächste, ihnen auch nur ein provisorisches Asyl gewähren wollte; es erinnert mich an die Aufständischen des Warschauer Ghettos, die wie in einer menschenleeren Mondlandschaft einen übermächtigen Feind herausforderten; sie erhofften nichts mehr, weil sich selbst die Verzweiflung
diesen jungen Menschen versagte: Sie starben im Nirgendwo. Wir aber leben – hilflos, schuldlos schuldig an ihrem Untergang, an allem. Die jedenfalls verspätete Antwort an diese Jungen konnte nicht aus Polen, nicht aus Europa kommen, sondern nur aus dem jüdischen Palästina, das seine staatliche und nationale Selbstständigkeit in Kämpfen eroberte, die aussichtslos erschienen. Insgeheim doch wirksam von der abgeschüttelten britischen Mandatsmacht unterstützt, griffen alle arabischen Armeen das Land an. Der über sie alle nicht nur mit Waffen errungene Sieg war nicht zuletzt der Erfolg all jener, die das verwahrloste Land in eine menschliche Erde, in eine Heimat verwandelt hatten. Ohne diese Wiedergeburt einer jungen Nation auf der alten Erde hätte das Judentum es nicht zustande gebracht, die von den Deutschen organisierte, von anderen Völkern tatkräftig geförderte, von der übrigen Welt gleichgültig beobachtete Katastrophe seelisch und geistig zu überwinden. Sein Unglück hätte sich in eine unheilbare Krankheit verwandeln, die vitale Kraft und mit ihr den Willen zu leben zerstören können. Dieser Sachverhalt wurde im Jahre 1967 noch einmal allen Zeitgenossen, den Juden wie den Nichtjuden, in den wenigen Wochen offenbar, die dem Sechstagekrieg vorangingen, als Nasser und alle anderen Führer der arabischen Staaten im voraus triumphierend verkündeten, daß ihre vereinten Armeen Israel, den Staat und das Volk vernichten, ein für allemal aus der Welt schaffen würden. In jenen Wochen schienen die westlichen Mächte wie von
einer Lähmung befallen, sie bereiteten sich darauf vor, dem Untergang Israels tatenlos, jedoch mit einem tiefen Bedauern zu überstehen. Damals, in jenen Maiwochen und in den ersten Junitagen, begriffen die Juden, auch die assimiliertesten unter ihnen, auch jene, die gemäß der Außenpolitik Moskaus antizionistisch waren, daß Israels Untergang ihrem eigenen Dasein gefährlich werden mußte. Mochte Israel ihnen mehr oder minder gleichgültig sein, die drohende Vernichtung zerstörte ihr Gleichgewicht, sie ahnten, daß sie der Ausrottung nur provisorisch entkommen könnten. Es gibt eine Erniedrigung, die weder der einzelne noch ein Volk überleben kann, ohne daß ihm seine Existenz fragwürdig und seine Identität ebenso unverhehlbar wie ungestehbar würde. Die Aufständischen des Warschauer Ghettos hatten nicht um ihr Leben, sondern um die Würde ihres Volkes gekämpft. Israels Männer und Frauen haben sodann das alte Volk aus der tiefsten Demütigung erhoben und seinen beinahe völlig vernichteten Daseinsgrund wiederhergestellt. Ich bin nie ein Antizionist gewesen und bin heute ein entschiedener Gegner der Antizionisten, ob diese sich nun sozusagen ideologisch auf Moskau, auf die pseudorevolutionären Terroristen Europas oder Arabiens berufen. Doch bin ich auch weiterhin kein Zionist, weil ich nach wie vor nicht glaube, daß der Bestand einer israelischen Nation die Judenfrage der Diaspora lösen kann. Indes schätze ich die zionistische Bewegung seit 1933 weit höher ein, weil sie so viele Menschenleben vor
der Ausrottung in Europa zu einer Zeit gerettet hat, als es leichter war, tausend Juden sterben zu lassen, als auch nur einen einzigen den Mördern zu entreißen. Ein anderer Grund bestimmt mich überdies, für den unter zionistischer Ägide geschaffenen, wahrhaft demokratischen Staat einzustehen: Hier konnte der Kibbuz entstehen, die einzige Gemeinschaftsform, die in diesem Jahrhundert des pseudokommunistischen Despotismus die Idee des Sozialismus mit der Praxis der Lebensgemeinschaft vereint hat. Der Kibbuz erbringt den klaren Beweis dafür, daß man, ohne an Gott und an den von ihm gesandten Messias zu glauben, gemäß den fundamentalen Lebensregeln des prophetischen Judentums sich zu einem dauernden Bunde vereinigen kann, in dem niemand ein Objekt der anderen ist, sondern stets der Gefährte aller bleibt. Setzt zwar ein solcher Verband die jüdische Abstammung seiner Mitglieder keineswegs voraus, so ist dennoch das Gelingen des Kibbuz nicht zuletzt aus dem Einfluß der gleichen Erziehung zu erklären, die auch mir zuteil geworden ist. Diese sozialistische Lebensgemeinschaft ist bislang ein jüdisches, ein israelisches Phänomen geblieben, indes so viele ähnliche Bemühungen, insbesondere in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, nach kurzer Zeit elendiglich gescheitert, in ideologischer und persönlicher Zwietracht zusammengebrochen sind.
V Mit diesen Bemerkungen über mein Judesein wende ich mich in erster Linie an deutsche Leser, 34 Jahre nach dem Ende der Herrschaft Hitlers und seiner ungezählten Komplizen, denen Millionen Anhänger zur Seite standen. Gewiß, es wäre nicht unvernünftig, sich von der Vergangenheit völlig abzuwenden und dem zwar unausführbaren, aber verführerischen Rat zu folgen: »Laßt die Toten die Toten begraben!« Doch ist mein Wesen und besonders die Art meines Judeseins mit dem Vergessen unvereinbar. Ich muß meiner gottlosen »Religion des guten Gedächtnisses« treu bleiben. Das bedeutet weder Ranküne noch Rachsucht, sondern bewußtes Erleben der Zeit und Leben gegen die Zeit. Worum es mir hier, im Zusammenhang mit der Judenfrage, geht, das sollen die folgenden Auszüge aus einem Brief an einen christlichen Kollegen darlegen: »Ja, Ihr Philosemitimus bedrückt mich, erniedrigt mich wie ein Kompliment, das auf einem absurden Mißverständnis beruht und das man überdies weder verdient hat noch verdienen möchte. Sie überschätzten uns Juden in gefährlicher Weise und bestehen darauf, unser ganzes Volk zu lieben. Ich verlange nicht, ich will nicht, daß man uns oder irgendein anderes Volk in dieser Weise liebe … Im übrigen ist der Kampf gegen den Antisemitismus Eure Angelegenheit. Bedroht uns dieser Haß manchmal aufs gefährlichste, so ist er doch Eure Krankheit, er ist das Übel, das Euch
verfolgt. Zwar hat er uns unsägliche Leiden bereitet, doch besiegen wir ihn ohne Unterlaß. Dies beweisen wir auch dadurch, daß wir frei bleiben von jedem Haß und daß wir uns Euch brüderlich verbunden fühlen bei der Verteidigung aller Werte, die das Dasein des Menschen auf dieser Erde rechtfertigen. ›Die Welt gehört euch, doch der Mord erfüllt die Welt. Warum? Gott ist gerecht: aus uns macht er Opfer, aus euch aber Henker.‹ Sie werfen mir diese Worte vor, die ich einem jüdischen Jungen in den Mund lege, der von christlichen Waffenbrüdern tödlich verletzt worden ist. Sie rufen mir die Schreckenstaten in Erinnerung, die meine Ahnen im Lande Kanaan begangen haben. Ich habe nichts davon vergessen. Aus diesem Grund habe ich nie auch nur einen einzigen Augenblick vermutet, daß mein Volk des totalen Hasses weniger fähig wäre als irgendein anderes. Jedoch haben wir niemals behauptet, ›neue, erlöste Menschen‹ zu sein.« Kein Opfertod, keine Erlöser-Gnade vollbringt die so sehnlich erwartete Wandlung, denn das Kommen des Messias hängt von uns selbst ab, von den Werken aller. Ich bin nie einer Idee begegnet, die mich so überwältigt und die Wahl meines Weges so beeinflußt hat wie die Idee, daß diese Welt nicht bleiben kann, wie sie ist, daß sie ganz anders werden kann und es werden wird. Diese einzige, fordernde Gewißheit bestimmt, seit ich denken kann, mein Sein als Jude und Zeitgenosse.
Churban oder Die unfaßbare Gewißheit I »Selbst wenn das Firmament über uns aus Pergament wäre und wenn Tinte die Meere füllte; wenn alle Bäume Federn und die Bewohner der Erde allesamt Schreiber wären – und wenn sie Tag und Nacht schrieben, so vermöchten sie dennoch nicht, die Größe zu beschreiben und den Glanz des Schöpfers der Welt.« Fünfzig Jahre trennen mich von jenem Pfingsttage, an dem der kleine Junge diese ersten Verse des langen aramäischen Gedichtes aufsagte, das ein Geschlecht dem andern, zusammen mit einem unabänderlichen mündlichen Kommentar, treu überlieferte. Die Erinnerung an die Rezitation wird jedesmal lebendig, wenn ich einsehen muß, daß es uns nie gelingen wird, jenen, die nach uns leben werden, den Churban, die jüdische Katastrophe unserer Zeit, zu erklären. Die zahllosen Dokumente, die die unermüdliche Bürokratie der Ausrotter hinterlassen hat, die Berichte der Entronnenen, all die Tagebücher, Chroniken und Annalen – so viele Millionen Worte – sie alle erinnern mich daran, daß, selbst wenn das Firmament …
Und dennoch war alles offenbar: Wie in einer Arena unter der mittäglichen Sonne, so deutlich unterschied man jene, die morden würden, von denen, die fallen sollten. Und alle, zuvörderst die Opfer, waren zeitig gewarnt worden. Anders als der dialektische Schabernack der trügerischen Wahrsagung in der griechischen Tragödie, waren Hitlers frenetisch wiederholte Drohungen gegen die Juden durchaus eindeutig. Doch das Volk, dessen Intelligenz man seit Jahrtausenden rühmt, verhielt sich, als hörte es nichts davon, und vergaß eilig, was es doch hatte vernehmen müssen. Im Laufe ihrer langen Geschichte hatte diese Civitas Dei ohne Land, diese unverführbare und unbezwingliche Minderheit nach jeder Katastrophe stets aufs neue die Unbesiegbarkeit ihres Glaubens entdeckt: Gott war gerecht, denn ihre Feinde verwandelte er in Mörder, indes er den Juden die Gnade zuteil werden ließ, nur Opfer zu sein, die sterbend den Namen des Allmächtigen heiligten. Die Verfolger – von Johannes Chrysostomos bis zum letzten progromierenden Muschik – ahnten gar nicht, wie sehr ihre schändlichen Triumphe die Verfolgten in dem Glauben bestärkten, das auserwählte Volk zu sein. Dies aber hatte aufgehört, wahr zu sein. Der Nazismus überraschte das Judentum in einem Zustande, in dem es nicht mehr willens und keineswegs darauf vorbereitet war, für Gott zu sterben. So geschah’s auf christlicher Erde zum ersten Male, daß man sich rüstete, Juden in Massen zu töten – ohne Berufung auf den Gekreuzigten. Und zum ersten Male sollten die Juden Europas für nichts, im
Namen von nichts sterben. Keine nekrologische Begeisterung kann diesen Sachverhalt aus der Welt schaffen, nichts das unglückliche Bewußtsein heilen, das ihn stets widerspiegeln und niemals ändern wird. Gewiß, in diesem Orkan der Gewalt waren die Juden keineswegs die einzigen Opfer der unermeßlichen Verheerung. Aber sie allein wurden bis zur Unkenntlichkeit entwürdigt und entmenschend gedemütigt. Diesmal hatten sie ihren Gott nicht mehr, um dem zu wehren, aber auch nicht die Waffen, um einen würdigen, wenn auch nicht wirksamen Widerstand zu leisten. Da die Juden der ganzen Welt wußten, was niemand verkennen konnte, hatten sie kein Recht, darauf zu warten, daß der Sturm ausbreche und vorüberziehe. Hitler ließ die Juden auswandern, aber die Asylländer verschlossen sich ihnen. Keinen einzigen Augenblick erwogen die Briten, die Tore Palästinas weit genug zu öffnen oder einen provisorischen Zufluchtsort in ihren zahllosen überseeischen Gebieten jenen Menschen anzubieten, denen Hitler die Ausrottung im Falle eines Krieges ohne Unterlaß ankündigte. Die Juden Amerikas und Westeuropas waren wohlhabend genug, um ihren tödlich bedrohten Brüdern in Lateinamerika und in Asien das Asylrecht zu erkaufen. Doch als alles auf die Solidarität ankam, versagten sie, weil im Verlauf der vorangegangenen Jahrzehnte innere Widersprüche den Zusammenhalt der Judenheit verringert, wenn nicht gar zerstört hatten. Seit ihrer staatsbürgerlichen Emanzipation hatten sich die Juden
viel radikaler als ihre christlichen Nachbarn der Religion entfremdet. Fortan war es nicht so sehr ihr eigener Glaube, der sie – etwa in Deutschland oder in Frankreich – von ihren Mitbürgern trennte, sondern der Glaube und die Traditionen der Umwelt. Viele deutsche Juden waren in erster Linie Deutsche, nicht Juden; es gab jüdische Faschisten in Italien; es hätte jüdische Nazis gegeben, hätte Hitler es zugelassen. Selbst die übrigens in Westeuropa wenig zahlreichen Zionisten widerstanden nicht der Verlockung des französischen, deutschen oder britischen Patriotismus. Eine gewissermaßen in Unordnung geratene Dialektik bestimmt die Widersprüche einer Minderheit, die es ablehnt, eine zu sein, und jeden entschiedener Feindseligkeit anklagt, der ihr in Erinnerung ruft, daß sie es ist. Gleichzeitig wachen die Juden aber darüber, daß ihnen die Umwelt niemals die Rechte einer heterodoxen und heterogenen Minderheit bestreite. Doch da für die meisten Mitglieder dieser Minorität der Glaube kaum noch etwas bedeutet, da sie weder seine Gebote noch seine Verbote beachten, sind sie außerstande, sich wirklich solidarisch zu fühlen mit Menschen, mit denen sie nichts anderes gemein haben als sehr ferne, zumeist vergessene Ahnen und mythomanische Feinde. Die israelitischen Franzosen wünschten sehnlichst, daß die von Hitler verfolgten Juden unverzüglich gerettet würden. Aber es lag ihnen ebensoviel, wenn nicht gar mehr daran, daß ihre eigene Situation unverändert bliebe und daß ihr eigener Minderheitscharakter nicht auffällig
würde. Angesichts der aus ihrer Heimat vertriebenen Juden fühlten sich Frankreichs Juden französischer als die Nachkommen der Kreuzzügler und israelitisch nur aus philanthropischem Pflichtbewußtsein. Daran war nichts neu. Die Deutschen mosaischen Glaubens fühlten sich unendlich verschieden und wesensmäßig ferne von den Flüchtlingen, die den Pogromen von Kischinew und Proskurow entronnen waren. In seiner Wohltätigkeit oft großzügig, wies das israelitische Bürgertum des Westens die Identifizierung und die Solidarität mit den Opfern zurück; es lehnte beide ab im Glauben, ihrer um so weniger zu bedürfen. In Polen und in anderen Ländern Osteuropas war sich das jüdische Volk der ständig wachsenden Gefahr wohl bewußt, doch sah es voraus, daß früher oder später ein Bündnis aller nichtfaschistischen Mächte den gemeinsamen Feind vernichten würde. Daher betrachtete dieses Volk die westlichen Demokratien und die Sowjetunion als seine natürlichen Verbündeten, die es auch aus eigenem Interesse rechtzeitig retten würden. Alle diese Staaten aber haben sich diesem Bündnis in der Tat entzogen. Mit Ausnahme Dänemarks, seines Königs, seiner Regierung und seines Volkes und, in einer bestimmten Hinsicht, Schwedens und der Schweiz und, in einer kuriosen Manier, Spaniens – mit diesen wenigen Ausnahmen hat keine Regierung durch Akte ihre Solidarität bewiesen oder auch nur frühzeitig genug ihren Abscheu gegen den Genocid zum Ausdruck gebracht. Wie war das Unfaßliche möglich, wie konnte ein gan
zes Volk im Herzen Europas systematisch, methodisch zu Tode gebracht werden? Auf diese quälende Frage gibt es zumindest zwei einander ergänzende Antworten: 1. Der Prozeß der Desintegrierung und der Desidentifizierung setzte die nichtzionistische Judenheit außerstande, der Bedrohung so zu begegnen, wie es vielleicht möglich und gewiß lebensnotwendig war. 2. Die Verbündeten des mit Ausrottung bedrohten Volkes, das heißt Hitlers Kriegsgegner, haben nicht nur nichts verhindert, sondern alles getan, um selbst den Verdacht zu zerstreuen, daß irgendeine Rücksicht auf das Judentum ihre Politik oder Strategie oder auch nur eine ihrer militärischen Unternehmungen beeinflussen könnte.
II »Eine polnische Stadt, Ende 1942. Einige tausend Juden ziehen durch die Gassen; eine Eskorte führt sie zum Bahnhof. Man hat ihnen mitgeteilt, daß sie ein Lager erwarte, wo sie zwar sehr hart arbeiten, aber am Leben bleiben würden. Sie müßten ahnen, daß es eine dumme, schändliche Lüge ist, denn nun ist es gewiß, daß das Ende bevorsteht. Sie werden von wenigen Männern bewacht, die zu überwältigen, ein Kinderspiel wäre. Aber danach? Die Begleiter haben nur eine symbolische Bedeutung, sie repräsentieren die stärkste Armee der Welt. Und die sechzigtausend Einwohner der Stadt sind ebenso viele
Feinde. Gewiß, sie hassen die Deutschen, aber sie verabscheuen nicht weniger die Juden und sind froh, sie nun endlich loszuwerden und ihre Häuser und anderen Güter zu erben. Und selbst wenn einige Christen durch das Los ihrer jüdischen Nachbarn betroffen sind? Was können sie tun? Sollen sie ihr eigenes Leben gefährden, um einen Juden zu retten? Niemand erwartet Hilfe. Inmitten ihrer eigenen Stadt ertrinken die Gefangenen wie in einem Meer von Haß. Von den Gestaden des Ozeans, die so fern sind, als lägen sie auf einem anderen Planeten, werden eines Tages Freunde, Retter kommen. Das ist gewiß. Alles erleiden, jede Pein ertragen, nur um Zeit zu gewinnen. Ein Tag mehr könnte genügen, eine Woche, ein Monat. Wie der Messias kann die Erlösung plötzlich kommen, von einem Augenblick zum andern. Die Jungen spähen nach einer Gelegenheit, zu flüchten. Einigen von ihnen wird es gelingen. Sie werden die großen Wälder erreichen und dort auf Partisanengruppen stoßen. Manchmal darf man bei einer von ihnen bleiben, häufiger wird man weggejagt. Jedes menschliche Wesen, dem der Flüchtling begegnet, ist gefährlicher als das wildeste Tier. Die Bauern berauben ihn zuerst und liefern ihn dann aus. Diese Flüchtlinge sind die leichteste Beute, die je einem Jäger vor den Lauf gerannt ist.« So beschrieb ich vor etwa acht Jahren die Lage der Juden,
um die verletzende Dummheit jener anzuprangern, die den Massakrierten vorwarfen, daß sie – ohne Waffen, ohne Verbündete, ohne jede Hilfe von außen – nicht Widerstand geleistet hatten gegen die Armeen der Wehrmacht, gegen die SS und den SD, gegen die Gestapo, gegen die Nazi-Spezialisten der Ausrottung, gegen die Hilfsformationen der ukrainischen, litauischen, lettischen und anderen Milizen. Die Insurgenten des Warschauer Ghettos lösten den Aufstand aus, nicht weil ein Rest von Hoffnung sie ermutigte, sondern weil auch die letzte aller Erwartungen endgültig dahin war. Nicht um zu siegen und nicht um einen vergeßlichen und vergessenen Gott zu heiligen, kämpften diese Juden Polens angesichts eines von zwei Milliarden und 400 Millionen Menschen bewohnten Planeten, der leer, alptraumhaft leer blieb für diese jungen Männer und Frauen, welche die Welt sich beeilte zu vergessen, noch ehe die brennenden Trümmer ihre Leichen bedeckten. »Aber warum haben nicht alle Juden das Beispiel der Ghettokämpfer nachgeahmt?«, fragte im Verlauf eines Verleumdungsprozesses ein israelischer Richter. Er insinuierte, daß man dieses Versagen durch den Verrat der jüdischen Führer erklären könnte, die es unterlassen hätten, so glaubte er, ihre Glaubensgenossen von der drohenden Gefahr zu unterrichten. Und warum haben die Einwohner der Sowjetunion, die heute allesamt unzähmbare Antistalinisten sind, warum haben sie keinerlei Widerstand geleistet, als sie – besonders während der
Jeschowtschina – täglich mitansehen mußten, wie ihre unschuldigen Väter verschwanden, ihre Gatten, ihre Frauen, ihre Brüder, ihre Freunde und ihre Nachbarn? In Wahrheit bleibt man verständnislos vor der jüdischen Katastrophe, wenn man sie nur auf den traditionellen Antisemitismus zurückführt und nicht auf den Totalitarismus, der überall antijudaistisch ist. Es trifft zwar zu, daß der Nazismus anfangs nur seiner Tendenz nach totalitär war, aber während des Krieges wurde er schrankenlos totalitär. Somit hat es eine Entwicklung gegeben. Um die Ereignisse zu verstehen, darf man niemals vergessen, daß sie einsetzen konnten, lange bevor man sich für sie zu interessieren begonnen hat. Mittelmäßige Journalisten neigen dazu, die Perspektiven so zu verkürzen, daß sie schließlich der Dimension ihrer Autobiographie entsprechen. Man findet die gleiche Neigung bei gewissen systematischen Philosophen, die ihre fehlenden Kenntnisse und Erfahrungen durch ein selbstherrliches Urteil ersetzen, welches sie selbst in ihren vorgefaßten Meinungen bestärkt, aber nichts erklärt. Fast hat es den Anschein, als ob der Philosophie, sobald sie nicht von sich selber spricht, nichts als ihre eigene Misere bliebe. Diese stellt sie sodann hastig zur Schau, als wäre ihre Dürftigkeit ein »großer Glanz von innen« …
III Die berufsmäßigen Informatoren und Erzeuger der öffentlichen Meinung sind durch die Macht ihrer technischen Vervielfältigungsmittel und durch die geistige Ohnmacht ihres Publikums so geschmeichelt, daß sie sich stark genug dünken, die Ereignisse zu schaffen, statt ihr Eintreten abzuwarten und sodann zu berichten. Mit der gleichen Vernebelungstechnik ruft man die Anbetung von Helden und den Abscheu vor monströsen Feinden hervor; in gleicher Weise fabriziert man Filmstars, Abgötter des Twist, den letzten Schrei der Bestseller der Saison, ebensogut wie die Marionetten der Raumschiffahrt und die Stars des Verbrechens, deren Missetaten zahlenmäßig die gewohnte Ration weit überschreiten. Adolf Eichmann war in erster Reihe quantitativ eine ideale Erscheinung für die Weltpresse: der Mörder von sechs Millionen Männern, Frauen und Kindern. Das erlaubte eine balkendicke Überschrift, die auch die sensationellsten Titel zumindest während zweier Tage verblassen ließ. Endlich hatte man ihn, den Teufel in Person. Auf der ersten Seite brachte man sein Konterfei, das Gesicht eines Durchschnittsmenschen. War er angeklagt, ein biederes Leben lang Veruntreuungen verübt zu haben? Oder handelte es sich um den untröstlichen Witwer einer Ehebrecherin, die er schlau umgebracht hatte? Lange noch bevor die Überlebenden unter den Opfern und die Historiker der Endlösung den Namen und die Taten Eichmanns bekanntgemacht hatten, zeigte ihn sein
Mitarbeiter Dieter Wisliceny im Prozeß von Nürnberg an. Der SS-Hauptsturmführer bezeugte, daß sein Vorgesetzter ihm im Februar 1945 erklärt hätte, »er würde lachend in die Grube springen, denn das Gefühl, daß er fünf Millionen Menschen auf dem Gewissen hätte, wäre für ihn außerordentlich befriedigend«. Aus Hitlers Mund wäre dieser Ausspruch zutreffend gewesen; bei Eichmann war es die abscheuliche Hochstapelei eines Mannes, der in der Götterdämmerungsstimmung jener Tage versprach, im Falle der Niederlage Selbstmord zu begehen, der aber ausriß und, 15 Jahre und vier Monate später, ein Häftling der Juden, in seiner Zelle niederschreiben sollte: »Ich war mein ganzes Leben an Gehorsam gewöhnt, seit meinem frühen Kindesalter bis zum 8. Mai 1945. Es war ein Gehorsam, der im Laufe meiner SS-Jahre zu einem Kadavergehorsam geworden ist. Was hätte mir der Ungehorsam eingebracht, in welcher Hinsicht wäre er mir von Nutzen gewesen?« Dieselben charakterologischen Gründe, sein Kadavergehorsam und seine Prahlsucht, bestimmten Eichmann, dem israelischen Hauptmann Avner Less über sich selbst ausführlich zu berichten. Den fast niemals unterbrochenen Redestrom nahmen 76 Magnetophonbänder auf; es handelt sich um etwa insgesamt 600.000 Worte, die der frühere Spezialist der Judenfrage und der Endlösung redselig hinaussprudelte.
Man weiß, daß die Männer der Tat nach ihren großen Leistungen gewöhnlich noch geschwätziger werden als die feigsten Maulhelden. In dem Wortschwall Eichmanns vermischten sich die widersprüchlichsten Elemente und Gefühle, unter anderem das Bedürfnis, einmal aufrichtig zu sein, und die Automatismen jener alltäglichen Heuchelei, die den Lebensstil so vieler Menschen bestimmen. Eichmann vergaß gewiß nicht, wie prekär seine Lage war, dennoch stimmte er zu, alles, was er auf dem Herzen hatte, registrieren zu lassen. Er hatte auch keinen Zweifel daran, daß alles, was er sagte und, wortwörtlich schriftlich übertragen, sodann von ihm, Blatt für Blatt, durch Unterschrift authentifiziert wurde, vom Ankläger gegen ihn benutzt werden konnte. Er sprach dennoch unaufhaltsam, denn wie alle Mediokren, die sich von ihren Erfolgen und von ihren Niederlagen gleichermaßen irreführen lassen, war er davon überzeugt, daß, was auch immer geschehen mochte, er stets selbstherrlich werde bestimmen können, in welchem Lichte er den anderen erscheinen würde. Wie eine gefallsüchtige Vettel vor einem schmeichlerischen Spiegel in einem schlecht beleuchteten Räume, so arrangierte er unablässig sein Porträt. Er war seiner Mittel und ihrer Wirkungen sicher, denn sein Leben blieb bestimmt durch ein großes Beispiel: »Eine Sache ist gewiß: Adolf Hitler wußte sich seinen Weg zu bahnen vom einfachen Gefreiten der deutschen Armee bis zum Rang des Führers eines Achtzig-Millionen-Volkes. Dieser Erfolg allein beweist mir, daß ich mich solch einem Manne unterzuordnen
hatte … Das ist der Grund, warum ich ihn anerkannte und warum ich ihn auch heute noch verteidige«, erklärte er 1957 dem Journalisten Sassen in Argentinien. Die atemberaubende Karriere des Gefreiten Hitler überzeugte unzählige Zeitgenossen davon, daß der Führer ein Genie ohnegleichen war. Je mehr seine Taten die Notwendigkeit offenbarten, ihm den Weg zu versperren, um so hastiger beeilten sich seine Gegner, ihm auszuweichen und jedes Hindernis zu beseitigen, das seine Triumphe hätte verzögern können. Die Sieger von 1918 gestanden dem Dritten Reich ohne Verzug alles das zu, was sie der Republik verweigert hatten. Ungleich stärker als irgendeine Ideologie und der Antisemitismus wirkte diese Reihe von Erfolgen auf die kleinen Leute ein und gewann sie für Hitler, insbesondere die Ehrgeizigen und die Schiffbrüchigen unter ihnen. So auch Otto Adolf Eichmann. 1906 in Solingen geboren, übersiedelte Eichmann 1913 mit seiner Familie nach Linz an der Donau in Oberösterreich. Zwanzig Jahre später kehrte er als politischer Flüchtling ins Reich zurück, zuerst nach Bayern, dann nach Berlin. In Wahrheit hatte er nichts von der Dollfuß-Regierung zu fürchten, obschon diese sich gerade damals anschickte, die NSDAP in Österreich zu verbieten. Da aber Eichmann an keiner eklatanten Aktion teilgenommen und auch sonst kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hätte er ungeschoren in Linz bleiben können. Doch in diesem Jahre 1933 förderten vor allem zwei Ereignisse, der Verlust seines Postens und die
Geburt des Dritten Reiches, eine Veränderung im Leben des Siebenundzwanzigjährigen: diese Rückkehr, die ihm eine ungewöhnliche und ungeahnte Laufbahn eröffnete. Die Scheinflucht trieb ihn einem Schicksal entgegen, dem er in den Stunden seiner Macht ebensowenig gewachsen war wie in den späteren Jahren seiner echten, wohlbegründeten Flucht und seines Sturzes. Adolf Eichmann war der Erstgeborene von vier Kindern, die sein Vater, Beamter einer großen Elektrofirma, mit seiner ersten Frau gezeugt hatte; sie starb 1916. Die zweite Frau, eine ebenso fromme Protestantin wie Eichmanns Vater, hatte jüdische Verwandtschaft in ihrer Familie, deren Empfehlung im gegebenen Augenblick dem jungen Adolf zu einer Anstellung verhalf. Da seine Schulerfolge unzureichend waren, mußte er die Berufsschule aufgeben, ohne das Fach eines Elektromechanikers erlernt zu haben. (Sein Kadavergehorsam hinderte ihn mitnichten, auf seiner SS-Stammkarte als Beruf »Maschinenbauer« anzugeben. Wäre er wirklich einer gewesen, so wäre er wohl niemals ein »Fachmann der Endlösung« geworden.) Sein Vater beschäftigte ihn in einem Unternehmen, das er selber gegründet hatte. Als es nach wenigen Jahren das ganze bescheidene Vermögen der Familie verschlungen hatte, mußte man für Adolf einen Posten finden, den man ohne Fachkenntnisse erlangen konnte. Es gelang dank der jüdischen »Protektion«. Die Vacuum-Oil-Gesellschaft stellte den 22jährigen als kleinen Reisevertreter in der Provinz an. Er vertrat diese Firma mehr als fünf Jahre, dann wurde er entlassen.
Eichmann erzählt sein Leben zwar mit größter Ausführlichkeit, ist aber nicht imstande, von sich aus ein genaues Datum anzugeben oder wichtige Handlungen und Ereignisse chronologisch zu ordnen. Eine Stunde oder einige Tage später kommt er auf diese oder jene Phase seines Lebens oder auf ein Ereignis zurück, um – wie er sagt – »zu vervollständigen«. Dabei wird offenbar, daß er erhebliche, oft entscheidende Tatsachen verschwiegen hatte. Das hängt zum Teil mit einem besonderen Charakterzug zusammen, mit seiner unaufrichtigen Offenherzigkeit: er reißt die Türe weit auf- doch nur, um sich hinter ihr zu verstecken. Da er überdies stets darauf aus ist, die Beleuchtung, in der er sich zeigen will, abzuändern, so wählt er immer zu spät und zumeist ungeschickt jenen Teil seines Wesens, den seine Regie vorteilhaft zur Geltung bringen möchte. Dieser Prahlhans ohne Vorstellungsvermögen, Nutznießer und Opfer des Kadavergehorsams, dank dem er in einer monströsen geschichtlichen Konjuktur ein Mann des Schicksals werden konnte – dieser Otto Adolf Eichmann machte sich ganz klein vor Hauptmann Less und seinem Magnetophon. Er sei nur ein Werkzeug gewesen, weniger noch: ein leicht ersetzbares Rädchen in einer gewaltigen Maschine. Er dachte, daß er den israelischen Offizier hinters Licht führte, indem er die Sachverhalte verdunkelte und mit einer Geschicklichkeit verfälschte, die ihn selbst tief beeindruckte. Ja, er log, aber mit der Wahrheit. Denn in Wirklichkeit hatten seine Taten die Grenze seines Wesens weit überstiegen; nicht nur weil
sie maßlos waren, sondern weil er selbst ja niemals ihr Ursprung war. Auch von da rührt Eichmanns Unfähigkeit her, seine Vergangenheit in einer logischen Ordnung darzustellen. Er erklärt, daß er ein Mitglied eines Verbandes sogenannter junger Frontkämpfer war. In diesem legitimistischen, österreichischnationalistischen Jungfrontkämpfer-Bund ist der Reichsdeutsche bis zu seinem 22. oder 23. Lebensjahr geblieben. Um die gleiche Zeit oder ein wenig später bemühte er sich um die Aufnahme in die Schlaraffia, eine Art Rotary-Club. Aber 1932, als Hitler sich im Sturmschritt der Macht nähert, begegnet Eichmann zufällig dem jungen Advokaten Ernst Kaltenbrunner, dem Sohn eines Freundes seines Vaters; dies hat seinen Eintritt in die Linzer SS zur Folge. In jenen Monaten wuchs die Zahl der Nazis in Österreich genau in dem Maße, in dem die Möglichkeit eines Nazisieges sich in eine Wahrscheinlichkeit verwandelte, ehe sie schließlich zur Gewißheit wurde. Später berichtigt sich Eichmann: Bevor er Jungfrontkämpfer war, hatte er mehrere Jahre lang einer christlichen Knabenorganisation angehört, und nachher war er dem Wandervogel beigetreten. Und wieder einmal bringt er alles durcheinander, als er versucht, die Daten genau zu bestimmen. Er ist unerschöpflich in der Wiedergabe belangloser Einzelheiten und Episoden, die sich verwischen und in einem Pallawatsch versumpfen, noch ehe seine Erzählung ihr Ende erreicht hat. So ist er im Jahre 1933 ohne Beruf und ohne Stellung. Nur dank einem
Empfehlungsschreiben Kaltenbrunners kann er vorgeben, ein politischer Flüchtling zu sein, als er sich an der bayerischen Grenze präsentiert. Von diesem Augenblick an bis zum Ende des Dritten Reiches wird Eichmann ein professioneller Nazi sein. In Deutschland war er zuerst zufrieden, denn dank seiner Handschrift wurde er im Büro seiner Einheit beschäftigt, doch muß er hie und da an den militärischen Übungen teilnehmen; das mochte er aber gar nicht. Er lauerte auf eine Gelegenheit, ihnen ein für allemal zu entgehen, und dachte, sie gefunden zu haben, als der SD unter den SS-Leuten rekrutierte. Eichmann meinte, daß er als Mitglied des SD zur Suite der Führer gehören, daß er Himmler oder vielleicht gar Hitler selbst begleiten würde. Alle Kinobesucher würden ihm zuschauen, wie er vor dem Führer die Wagentür aufreißt oder ihn vor zudringlichen Verehrern schützt. Der SD sandte Eichmann nach Berlin, wo er mit andern kleinen Leuten seiner Art eine Büroordonnanz wurde. Er hatte zum Beispiel die Kartei zu ordnen, die Material über die Freimaurer enthielt. So winzig dieser Aufstieg war, so gehörte Eichmann dennoch von nun an zu einem wichtigen Amt der herrschenden Partei, die ihm Wohnung, Nahrung, Kleidung sicherte und einen Sold auszahlte. Er durfte überdies hoffen, daß er es zu was Besserem bringen würde, wenn erst Österreich die Ostmark des Dritten Reiches geworden war. Inzwischen stellte man ihn einer Abteilung zur Verfügung, die eine vollständige Materialsammlung über
alle Aspekte des jüdischen Problems zusammenstellen sollte. Und da fand Eichmann unerwartet seine große Chance; in kurzer Zeit wurde er ein »Spezialist«. Man befahl ihm, ein Buch – Der Judenstaat von Theodor Herzl – zu lesen und jedes Kapitel dieses Manifestes des politischen Zionismus zu resümieren. Von diesem Augenblick an galt er im Amte als der Mann, der über den Zionismus alles wußte. Denn er ging noch weiter, er las – wenn auch weniger sorgfältig – ein zweites Buch: Adolf Boehms Geschichte der zionistischen Bewegung. Die Vermutung, daß Eichmann vielleicht gar ein drittes Buch gelesen haben könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. In der Geschichte der Juden von Joseph Kastein suchte er Zitate, mit denen sein Chef Heydrich einer Rede einen gelehrten Anstrich geben wollte. Er scheint das hebräische Alphabet erlernt zu haben; es ist nicht ausgeschlossen, daß es ihm einmal gelungen sein mag, einen Artikel in einer Warschauer jiddischen Zeitung zu entziffern. Seine oft wiederholte Behauptung, er sei in Palästina zur Welt bekommen und spreche Hebräisch, war eine lächerliche Lüge, die er vor Leuten wiederholte, die jedenfalls außerstande waren, ihm worin auch immer zu widersprechen. Die Antisemiten rühmen sich häufig, vom Judentum alles zu wissen, insbesondere seine »Geheimnisse« zu kennen. Sie versichern, daß sie unter tausend Christen einen Juden instinktiv herausspüren können. Überprüft man diese und ähnliche Behauptungen, so stößt man stets auf ein Gemisch von halbbewußten Entstellungen und apodiktisch vorge
brachten Lügen, von fixen Ideen und von dumm-seligen paranoischen Schlauheiten; man entdeckt auch zuweilen, daß der Antisemit aus einem Buch, gewöhnlich einem einzigen, die Gewißheit geschöpft hat, daß er nunmehr die fürchterlichsten Wahrheiten über die Juden kenne und fortan alle ihre Schliche mühelos durchschaue. Doch Eichmann war nicht ein Antisemit dieser Art. Gewiß, wäre ihm die wilde Judenfeindschaft der Nazis unangenehm gewesen, so hätte ihn Kaltenbrunner nicht so leicht für die SS gewinnen können. Wie dem auch sei, man darf annehmen, daß dieser kleine Handelsreisende nicht aus Antisemitismus ein Nazi geworden ist. Theodor Herzls programmatische Schrift bekehrte Eichmann »schnell und für immer zum Zionismus«, schreibt Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem, einem Buch, das gleich nach seinem Erscheinen in den Vereinigten Staaten eine leidenschaftliche Polemik ausgelöst hat. Somit wären zum Beispiel die österreichischen Antisemiten, ohne es zu wissen, Zionisten gewesen – und dies lange vor Hitler. Ihre Graffiti bedeckten die Wände der Wiener Pissoirs, sie waren besonders häufig in den Aborten der Universitäten; alle forderten die Juden dringlichst auf, unverzüglich nach Jerusalem und nach Zion heimzukehren. Das traditionelle Hep-hep (Hierosolyma est perdita) wurde seltener, dafür hörte man gar häufig das »zionistische« Schlagwort: »Juden zurück nach Palästina«. Auch wenn er kein einziges der zwei zionistischen Bücher gelesen hätte, hätte der nach Österreich siegreich
zurückgekehrte Eichmann mit dem Palästinaamt Verbindung aufgenommen. Dieses durch die Jewish Agency geschaffene Büro war allein in der Lage, die von den Briten so sparsam ausgegebenen Immigrationszertifikate zu verteilen. Das Palästinaamt konnte überdies kollkektive Reisen vorbereiten, für die Fahrtspesen aufkommen und den Transfer der Güter bewerkstelligen, soweit das im Rahmen der sehr scharfen Beschränkungen möglich war. Es war unvermeidlich, daß die Leiter dieses Amtes und die Vertreter der jüdischen Gemeinde mit Eichmann ständig in Kontakt blieben, da ja dieser die kaum verhüllte Austreibung von Männern und Frauen überwachte, für die ins Exil zu gehen die einzige Möglichkeit war, den Verfolgungen und den Erniedrigungen zu entgehen, welche ihnen Eichmann und seinesgleichen ohne Unterlaß zufügten. Es war gleichzeitig auch die Rettung vor dem Tode, aber das erfaßte man damals noch nicht; selbst Eichmann konnte es noch nicht wissen. Im Jerusalemer Prozeß und in den Erklärungen, die er Avner Less gegeben hat, rühmte sich Eichmann unablässig seiner Tätigkeit in Wien, seines Verhaltens gegenüber den jüdischen Repräsentanten, ganz besonders aber einer bürokratischen Kettenprozedur, die es jedem Juden ermöglichte, sich seines Besitzes und seiner Staatsbürgerschaft zu entledigen, um dafür ein Dokument zu erlangen, das ihm erlaubte und zugleich den Zwang auferlegte, seine Heimat für immer zu verlassen. Eichmann war es in der Tat gelungen, den Papierschikanen ein Ende zu setzen, die die Ausreise der Juden verzögerten, indes
die Politik des Führers und nicht weniger das praktische Interesse vieler Nazis im Gegenteil gebot, die Auswanderung aufs äußerste zu beschleunigen.
IV Ein von Ressentiments genährter, griesgrämiger Antizionismus hat Hannah Arendt die enttäuschendsten Seiten inspiriert, die man in ihrem Bericht über die Banalität des Übels – das ist der Untertitel ihres Buches – finden kann. So bemerkt sie, daß Hitlers Machtergreifung in den Augen der Zionisten vor allem als »entscheidende Niederlage der Assimilation« erschien (S. 54).* Und hurtig, von einer Insinuation zur andern, schlängelt sich die Autorin zu der Enthüllung durch, »daß die Juden Palästinas eine Sprache sprachen, die gar nicht so verschieden war von der Eichmanns« (S. 55). Sie behauptet, daß das europäische Judentum schließlich zwei Arten von Feinden ausgesetzt war: den Nazibehörden und den jüdischen Ämtern (S. 56). Und all das im Zusammenhang mit der Rolle der zionistischen Aktivisten, die über die Zertifikate der Jewish Agency verfügten und bei deren Verteilung zionistische Jugendliche bevorzugten. Der aufmerksame Leser der 256 Seiten dieses Buches vermag nicht zu entdecken, worauf die ausgezeichnete *
Die Seitenangaben beziehen sich auf die der amerikanischen Ausgabe
Philosophin und Essayistin in diesem Kapitel abzielt. Wirft sie, eine deutsche Jüdin, die sich bereits 1933 aus dem Dritten Reich gerettet und rechtzeitig Europa verlassen hat, den Zionisten vor, daß sie sich unermüdlich, bis zum letzten Augenblick, darum bemüht haben, die größtmögliche Zahl von österreichischen Juden, legal oder illegal, nach Palästina zu bringen? Wirft sie ihnen vor, daß sie alles getan haben, um die Ausreise der Emigranten zu beschleunigen und zu erleichtern? Oder daß sie die Anwärter auf Palästina-Zertifikate eher unter den Zionisten als unter den Gleichgültigen oder den Antizionisten gewählt haben? Eher unter den Jungen als unter den Alten und Kranken? Jedenfalls klagt sie die Vertreter der europäischen Juden, insbesondere aber die Zionisten an, mit den Nazis verhandelt und später, in den Ghettos zum Beispiel, administrative Arbeiten erledigt und damit schließlich die Endlösung gefördert zu haben. Hannah Arendt ist tief enttäuscht darüber, daß ihresgleichen den Ausrottern nicht ständig einen heftigen Widerstand oder zumindest die Non-Kooperation entgegengesetzt hat. Die Philosophin findet die einzige Erklärung für diese erniedrigende Unterlassung im verbrecherischen Egoismus und in der Verblendung der jüdischen Führer, die durch ihr Zusammenwirken mit den Mördern ihrem Volk die tödlichen Gefahren verhehlt und ihm so den Weg zu den Gaskammern gebahnt haben. Bis zum bittern Ende hätten sie die Juden mit entwaffnenden Hoffnungen getäuscht. Diese Behauptung, die die bereits erwähnte Äußerung eines
unwissenden israelischen Richters wiederholt, ist ein verleumderischer Unsinn. Viele unter uns kennen die unsagbare Bitternis der Erinnerung daran, daß Millionen Männer und Frauen unseres Stammes, aller Mittel der Selbstwehr beraubt, getötet worden sind wie das Vieh in den Schlachthäusern. Ich habe die pathetischen, aufrichtig oder vorgeblich religiösen und nationalen Deutungen oft und laut genug zurückgewiesen. Keine tröstliche Erklärung kann der quälenden Unruhe der Überlebenden ein Ende setzen und ihnen erlauben, zu vergessen, daß gestern noch ihre Geburt sie ohne Berufung dazu verurteilte, in grenzenloser Entwürdigung, verstoßen und schutzlos, ihren Tod zu erleben, ehe sie ihn sterben mußten. Nur ein gar zu gefällig versagendes Gedächtnis könnte uns verhehlen, daß die Erde sich unsern Füßen verweigerte, selbst als sie noch fest blieb unter den Schritten unserer besten Freunde, die alles mit uns gemein hatten – alles außer unserer Abstammung. Gleichgültige und selbst feindliche Beobachter haben bezeugt, daß zahllose Juden und Jüdinnen, besonders jene, die unweit ihrer Wohnorte erschossen, von Maschinengewehren hingemäht wurden, mit einer stummen Würde zu sterben wußten, die sie unendlich über alles erhob, was sich gegen sie stellte. Denn in jener Stunde hatten sie sich endlich von der feindlichen Verführerin befreit, die in ihnen genistet hatte, als ob sie allein die unmögliche Liebe und den erloschenen Glauben ersetzen könnte.
»Die Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammern zu gehen; die sie davon abhält, Aufruhr zu planen; Hoffnung macht sie tot und stumpf. Hoffnung befiehlt den Müttern, sich von ihren Kindern loszusagen, den Frauen, sich für ein Stück Brot zu verkaufen, den Männern, Menschen zu töten. Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag des Lebens zu kämpfen, weil es gerade der kommende Tag sein könnte, der die Freiheit bringt … Noch nie war die Hoffnung stärker als der Mensch, aber noch nie hat sie so viel Böses heraufbeschworen wie in diesem Krieg, wie in diesem Lager. Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.« So sprach der Pole Tadeusz Borowski in Die steinerne Welt von sich selbst und von den Häftlingen in Auschwitz. Der Dichter, der im 29. Lebensjahre den Freitod suchte, dachte nicht an die Juden, sondern an den Menschen, dieses seltsame Tier, das sich von der Hoffnung in die Irre, in den Tod führen läßt. Die Vertreter der Juden, die Judenräte und die anderen, brauchten nicht erst die Hoffnung zu erzeugen. Sie selbst standen und handelten unter der Herrschaft dieser Verführerin, der eine banale, doch endlos wiederholte Erfahrung dient. Solange man ist, mag man vom rettenden vVunder auserwählt werden. Nur der Tod, aus der Zeit verstoßen sein, ist unwiderruflich, das Leben aber die Zeit, die man unablässig gewinnen muß – um jeden Preis.
Auch weil Hannah Arendt verkennt, wie sehr diese Hoffnung eine unvermeidliche Wirkung und Ausdrucksform der Verzweiflung von gnadenlos Verdammten ist, wendet sie auf den Churban eine polizistische Geschichtsauffassung an. Und deshalb deutet sie auch nicht ganz richtig die mehr scheinbare als wirkliche Komplizität, die das Opfer an seine Schergen zu binden scheint. Judenräte sind kein neues Phänomen in der Geschichte der Diaspora, denn während vieler Jahrhunderte gab es die Stadlanim. Dank seinem Reichtum und seinen persönlichen Beziehungen zu den Mächtigen konnte der Stadlan zugunsten seiner Glaubensgenossen eintreten, von denen er sich übrigens oft durch seine Lebensart unterschied, die er dem christlichen Adel entlehnte. Er war weder ein gewählter Vertreter noch ein religiöser Würdenträger, sondern ohne Amt und Titel zeitweilig der Protektor einer jüdischen Gemeinschaft. Es gelang ihm gewöhnlich, das Wohnrecht, das vorerst ihm allein zugestanden war, auch für andere zu erlangen. Er machte etwa geltend, daß ihre Nachbarschaft ihm wirtschaftlich unerläßlich wäre oder für die Erziehung seiner Kinder und für die Erfüllung seiner religiösen Pflichten unbedingt notwendig. Die Stadlanim verschwanden so langsam oder so schnell, wie ihre Glaubensgenossen sich emanzipierten und das Recht eroberten, ihre Vertreter in freier Wahl zu bestimmen. Als die Zeit der Verachtung wiederkam, wurden Judenräte möglich, in manchen Fällen notwendiger als seinerzeit die Stadlanim. Wie diese, verteidigten jene gewiß
in erster Reihe ihre eigenen, persönlichen und familiären Interessen; sie scheuten wohl nicht davor zurück, die allgemeinen Interessen der Gemeinde hintanzusetzen, sobald es ihnen unvermeidlich erschien. Doch stifteten sie viel Gutes; und jedenfalls ist es unmöglich, ein verallgemeinerndes Urteil über sie zu fällen oder sie gar in Bausch und Bogen zu verdammen. »Die ganze Wahrheit war, daß, wenn das jüdische Volk tatsächlich unorganisiert und führerlos gewesen wäre, dann hätte es Chaos und viel Elend gegeben, aber die Gesamtzahl der Opfer wäre dann kaum zwischen 4 ½ und 6 Millionen gewesen« (S. 111). Diese erstaunlich holprig formulierte Behauptung Hannah Arendts ist von fast allen Kritikern entschieden widerlegt worden. Um ihre Unrichtigkeit zu beweisen, genügt es übrigens, auf das Schicksal der dank Stalin unorganisiert gebliebenen und durchweg führerlosen ukrainischen, weißrussischen und russischen Juden hinzuweisen. In den von Hitlerarmeen besetzten Teilen der Sowjetunion wurden sie ausnahmslos Opfer der totalen Ausrottung. In einem ähnlichen Zusammenhang unterstellt die Autorin, daß der ungarische Zionist Rudolf Kastner den Untergang von 476.000 Juden verschuldet oder zumindest gefördert hat, nur um 1884 andere zu retten (S. 105). Nun, was Kastner betrifft, dessen Fall zu den seltenen gehört, die man wirklich gut kennt, so sei hier wiederholt, was ich kurz nach seiner Ermordung durch fanatische Jugendliche in Israel geschrieben habe:
»Somit kaufte der Hilfs- und Rettungsrat (Waadath Esra Nehatzalah) eine Gnadenfrist von Tagen, die zu Wochen wurden, außerdem das Recht für 1680 Personen, sich über Bergen-Belsen in die Schweiz zu retten. Es scheint, daß Kastner selbst für die Auswahl jener verantwortlich war, denen diese lebensrettende Gunst zuteil wurde. Man hat ihm vorgeworfen, daß er nur seine eigene Familie und seine Freunde in Sicherheit gebracht und im übrigen das Prinzip angewandt hätte, vor allem die Elite zu retten. Man darf eine solche Auslese entschieden ablehnen. Doch nur ein stupender Mangel an realistischer Phantasie und an Einsicht könnte darüber hinwegtäuschen, daß es kein wie immer geartetes Mittel gibt, 1680 Personen unter 800.000 auszuwählen, ohne Bitternis und Empörung in all jenen hervorzurufen, die zurückbleiben müssen. In solch einer monströs grausamen Lage ist kein Prinzip wirklich gültig. In dem von Hitler verheerten und entmenschten Europa war es schwerer, einen einzigen zu retten als tausend Unschuldige dem Tode auszuliefern. Seien wir denen dankbar, die 1680 Menschenleben bewahrt haben.« Bleibt es Hannah Arendt versagt, sich eine Wirklichkeit vorzustellen, die sehr wohl die ihre hätte sein können (wie die meine), so findet sie ihren Scharfsinn wieder, sooft sie die charakteristischen Züge und Situationen Adolf Eichmanns unter die Lupe nimmt. Allerdings schätzt sie nicht ganz richtig den Platz ein, den er innerhalb der Ausrottungsorganisation eingenommen hat. Die Autorin
der mit Recht gerühmten Studie über den Totalitarismus scheint nicht zu ermessen, wie kurz die Entfernung ist, die innerhalb eines totalitären Regimes die »Befehlsträger« von dem Führer, dem Duce, dem Voschd trennt. Im Hexensabbath berichtet Alexander Weissberg seine inzwischen vielfach bestätigte Beobachtung, daß es zwischen Stalin auf der Höhe seiner Macht und einem kleinen Untersuchungsrichter der NKvVD, zum Beispiel im Charkower Gefängnis, nur zwei Instanzen gab. Eichmann war ein Prahlhans, haben wir gesagt. Desungeachtet trifft es zu, daß zwischen Hitler und ihm in der vertikalen Befehlslinie nicht mehr als drei Männer standen. Es ist die Eigenart solcher Regime, den Gefolgsmännern die Gewißheit ihrer unabänderlichen Minderwertigkeiten im Verhältnis zu ihrem Führer einzuimpfen und ihnen gleichzeitig eine unantastbare Überlegenheit in ihrer Beziehung zu allen jenen zu sichern, die tiefer unter dem Führer stehen als sie selbst. Den Lohn für ihren Kadavergehorsam finden die Eichmanns in der unbegrenzten Macht, die sie gegen die politischen Gegner und alle Verdächtigen ausüben dürfen, ja ausüben müssen. François Bondy war der erste, der das Charakterbild des Angeklagten von Jerusalem mit einer erbarmungslosen psychologischen Präzision gezeichnet und sein Leitmotiv scharfsichtig zutage gefördert hat. Bondy analysierte die Sprache des Angeklagten, wie es später auch Frau Arendt tat: er deckte seine bestürzende Mediokrität, seinen Klischee-Zwang und die bürokratischen Verdeckund Ausdrucksformen der Unechtheit eines Menschen
typus auf, der in der totalitären Ära »total brauchbar ist für Zwecke, die er selbst vorher nie geahnt hätte«. Wer gleich François Bondy und Hannah Arendt den Fall Eichmann eingehend untersucht hat, fühlt sich fast genarrt durch die deprimierende Substanzlosigkeit dieses Spezialisten der Judenfrage und Fachmanns der Endlösung, dieses dilettantischen Verkehrsbürokraten, der mit nie erlahmendem Eifer die Transporte organisierte, deren Endziel Gaskammern und Krematorien waren. Kein Zweifel, Eichmann hat nicht 6 Millionen Menschen umgebracht, nicht 6000, nicht 6, wahrscheinlich nicht einmal einen; jedenfalls weniger als zahllose Soldaten der beiden Weltkriege. Dennoch wurde Adolf Eichmann gerecht verurteilt als einer der Männer, die den Genozid geplant, vorbereitet und organisiert hatten. Überdies verdiente er den Tod als Strafe für seine Verbrechen in Ungarn, von wo er aus eigenem Antrieb Hunderttausende in den Tod schickte, deren Leben zu schonen, Himmler selbst bereits beschlossen und anbefohlen hatte. Alle Erwägungen, die darüber hinaus die Person Eichmanns betreffen, sind so wenig interessant, wie er selbst es gewesen ist. Der journalistische Frankensteinismus, der einen Adolf Eichmann zu einem satanischen Übermenschen macht, verfälscht alles, genauso wie die von manchen Juden fabrizierte gefühlsduselige, pseudoreligiöse Literatur, die glauben machen will, daß das auserwählte Volk in Auschwitz nur seine göttliche Mission erfüllte, für das Weltall zu leiden und für die ganze Menschheit zu sterben.
Der Frankensteinismus, der zwar ein enormes, doch schnell verflüchtigtes Interesse für den Churban erweckte, vernebelte gleichzeitig die wesentlichen Fragen, wie es diese Literatur tut, die den Christen Gelegenheit bietet, sich geläutert zu fühlen durch die Tränen, die sie im Gedanken an ihre ewigen Opfer vergießen.
V Der Genozid ist kein neuartiges Verbrechen, denn man stößt auf seine Spuren in den Geschichten der antiken Vergangenheit und in der Bibel. In friedlichen Zeiten verblaßt die Erinnerung an den Schauder, den er bei den Zeitgenossen hinterläßt, auch deswegen, weil die Ausrottung eines ganzen Volkes nie wirklich gelingt. Der von den Nazis verübte Genozid hat trotz der absoluten Skrupellosigkeit der Ausrotter und trotz der Perfektion ihrer Maschinen in einem besonderen Sinne noch sicherer fehlgeschlagen als jeder andere: Er hat dazu beigetragen, dem Staate Israel den Boden zu bereiten. Durch Hitlers Beispiel ermutigt, warfen sich die Araber auf die entstehende israelische Nation, um sie auszurotten und zu beerben. Wie der britische Außenminister Ernest Bevin, hatten auch die politischen und militärischen Führer der arabischen Staaten verkannt, daß mit dem Aufstande des Warschauer Ghettos die tausendjährige Epoche ihr Ende gefunden hatte, während derer die Juden, um Gott und sich selber zu heiligen, ihre Mörder walten ließen.
Gleichzeitig war die gefährlichste Illusion des seit einem Jahrhundert nicht mehr durch einen Glauben beherrschten Volkes endlich erloschen – die Illusion, daß es zu seinem Schutze auf die großen modernen Nationen rechnen könnte. Die arabischen Armeen wurden zerschlagen und über die Grenzen zurückgejagt von Kämpfern, für die es nur den Rückzug ins Nichts geben konnte und die sich auch deshalb schlugen, weil sie die Toten ohne Gräber rächen wollten, deren Brüder, Söhne oder Neffen sie waren. Sie gingen darauf aus, der ganzen Welt vor Augen zu führen, daß die lange Jagdsaison zu Ende war für immer und daß man von jetzt an den Juden nicht so leicht und nicht mehr ungestraft werde töten können. Gewiß, die Soldaten dieser neuen hebräischen Armee, in der Mehrheit Zionisten, kämpften für die Erde, die ihre Arbeit erobert hatte, für die Kibbuzim, die Dörfer und die Städte, die sie aus Sand und Sümpfen hervorgezaubert hatten, und zugleich für ihr nacktes Leben. Aber sie kämpften vor allem, von 1945 an und auch nach dem Frühling 1948, um ihr Volk von einer Demütigung zu erlösen, die den Ausrottern, ihren Söhnen und Neffen und ihren unzähligen stillen Komplizen in der ganzen Welt Mut einflößte und ein gutes Gewissen gab. Denn das Beste, was man für Völker tun kann, die der aggressive Antisemitismus lockt, ist: dafür sorgen, daß das antisemitische Verbrechen den Anstiftern und Ausführenden selbst gefährlich werde. Zwischen 1933 und 1939 entdeckte Hitler, der anfangs nur schrittweise von Verbrechen zu Verbrechen ging,
daß er den Juden jedes Leid antun durfte, ohne etwas anderes befürchten zu müssen als lahme Proteste, denen nie irgendeine Repressalie folgte. Daher waren die Entführung Eichmanns durch Agenten des Staates Israel und sein Prozeß in Jerusalem Ereignisse von unübertrefflicher, einzigartiger Bedeutung. Jüdische Stimmen haben sich mehrmals gegen diese Aktion ausgesprochen. Man begegnet manchmal der Wollust einer bestimmten Unterwürfigkeit bei Juden, besonders bei gewissen Bürgern und Intellektuellen. Immer wieder sind sie von der Frage beunruhigt, was die Nichtjuden wohl von dieser jüdischen Tat und jener Geste denken mögen, welchen Eindruck man auf sie macht und welchen man ihnen machen wird, wenn, wenn nicht … In ihren Augen ist es immer der andere, der richtet; er ist unwandelbar das Subjekt. Und der Jude ist es, der nie vergessen darf, daß er ohne Aufhör kritisch gemustert und gerichtet wird; er ist unwandelbar das Objekt. All diesen brauche ich nicht zu antworten. Doch gilt es, Karl Jaspers zu erwidern, der in einem Gespräch mit Francois Bondy im März 1961 zur Eichmann-Affäre Stellung genommen hat. Im wesentlichen war, was er sagte, gut und gerecht, würdig des Philosophen und des Mannes, als den er sich während der Jahre der Prüfung erwiesen hat. Doch verkennt Karl Jaspers die Tatsache, daß der Churban die Existenz der Juden – für sie selbst und daher auch für die anderen – von Grund auf verändert hat. Wie jede entscheidende Niederlage hat auch er
sich aus einem Ereignisse in einen Zustand verwandelt, der alles bedingt, wenn nicht gar bestimmt. Nichts ist mehr wie früher, nichts wird so sein wie früher. Karl Jaspers sagt: »Es handelt sich daher nicht um eine Forderung, sondern um eine Möglichkeit, die ich in meiner Phantasie erwäge, wenn ich davon spreche, daß die Juden in Israel die Kraft haben könnten, auf diese Souveränität und damit auch auf die Befriedigung zu verzichten, einen der Haupttäter des Judenmordes von ihrem Gericht zum Tode verurteilen zu lassen. Ich wenigstens wage es nicht, ihnen das zu bestreiten. Aber ich bin, indem ich mir einen solchen Ausgang des Prozesses vorstelle, zugleich bekümmert: bekümmert aus Liebe zu den Juden und aus Bewunderung für den Staat Israel. Denn es scheint mir, daß hier für diesen Staat eine außerordentliche Chance gegeben ist, etwas anderes zu sein als Staaten sonst, nämlich auf das Machtgefühl der Souveränität in dem Augenblick zu verzichten, da eine Sache zur Frage steht, die mehr ist als die Sache eines einzelnen Staates und mehr ist als die Sache der Juden insgesamt. Es wäre großartig, wenn Israel diese Chance ergriffe. Aber zu fordern ist das nicht – es sei denn durch Israelis und Juden selber.« Nun, damit ist es zu Ende, denn »über den Gaskammern ist der Sinai verödet, verbrannt«, wie der große jiddische Schriftsteller Jacob Glatstein schreibt. Israel ist ein Staat
wie die anderen auch, nicht das Gemeinwesen eines auserwählten Volkes; er darf es gar nicht sein, soll er dauern. Nein, die Nachfahren der Toten von Belzec, Majdanek und Auschwitz haben nicht mehr das Recht, Lämmer zu sein – es sei denn: Lämmer mit stählernen Gebissen. Man fand es gerecht, daß polnische Tribunale die Schergen richteten, die Zehntausende Polen gefoltert und getötet hatten. »Doch da Eichmann in Argentinien dingfest gemacht wurde, ist sein Fall besonders geartet.« Nun ja, dieses Land hat seine Tore der massenmörderischen Kanaille geöffnet. Auf dieser Erde sind unsere Folterer und unsere Mörder immer unter uns – in Argentinien, in Deutschland, in Österreich, überall. Hie und da spürt man einige von ihnen auf und stellt sie vor die Richter. Man verhängt über sie Strafen, die kaum schwerer sind als jene, die man Betrügern und Fälschern auferlegt, häufig werden sie freigesprochen. »Wo kein Kläger, ist kein Richter«, heißt es. Israel will Kläger sein; es kann und soll anklagen. »Und auch richten?« – Gewiß. »Aber da doch die Juden selbst die Opfer gewesen sind …« – Eben darum. »Aber der gegen die Juden verübte Genozid ist ein Verbrechen gegen die Menschheit – ist das nicht Grund genug, diese Massenmörder einem internationalen Gerichtshof zu überstellen?« – Jedes wirkliche Verbrechen ist gegen die Menschheit gerichtet und, würde der Gläubige sagen, gegen Gott selbst. Das gilt im allgemeinen. Aber das verübte Verbrechen ist stets ein besonderes – genau wie sein Opfer.
Man könnte dem Staat Israel manche Anmaßung und gar manche Unterlassung vorwerfen, doch gewiß nicht seine Entscheidung, die Erbschaft des ausgerotteten Volkes anzutreten und damit die Pflicht zu übernehmen, die Verursacher, die Täter und die tätigen Komplizen des Churban zu verfolgen. »Daß sie beben und daß das Rascheln eines Blattes im Winde sie in die Flucht über das ganze Erdenrund jage!« Hannah Arendt verkennt die einzigartige Rolle Israels in der Wiederherstellung der Würde eines jeden Überlebenden – ihrer eigenen Würde so gut wie der meinen. Mag sein, daß sie diese Behauptung als sinnleer empfinden und daher bestreiten könnte, daß all das sie auch nur im geringsten betreffe. Ihr Buch beweist, wie sehr sie sich von ihrem Volke entfernt hat. Sonst könnte sie nicht von den Leiden, die gewiß auch ihr selbst peinvoll gewesen sein müssen, so sprechen, als wollte sie die Rolle des Frevlers in der jüdischen Oster-Anthologie Haggadah spielen. Da man von den Verfolgungen in Ägypten und von der wunderbaren Rettung aus der Sklaverei spricht, sagt der Frevler: »Was ist euch geschehen?« Euch, nicht uns. Als ginge ihn das alles nicht an, obschon es ihn nicht weniger betrifft als alle anderen. Die Haggadah rät, ihn unwirsch zum Schweigen zu bringen. Die jüdischen Kritiker fühlten sich durch Hannah Arendts hoffärtige Desidentifizierung ständig herausgefordert, denn sie spricht von den leidensvollen Situationen, die, hätte sie weniger Glück gehabt, die ihren hätten sein können, mit deplaciertem Gleichmut. Sie hätte in There
sienstadt, in Bergen-Belsen oder Birkenau sein und dort zugrunde gehen können nach einem tragischen Zwischenspiel, in dem sie sich vielleicht ungleich weniger bewährt hätte als zum Beispiel der ganz ausgezeichnete Rabbiner von Berlin, Professor Leo Baeck, dessen Haltung in der großen Prüfung sie ohne Zögern verwirft. Dieses und ähnliches ärgerte die Kritiker ihres Buches und reizte sie aufs äußerste; mich stimmte es vor allem traurig. Und gegenüber manchen ungerechten Kritikern will ich um so entschiedener feststellen, daß Hannah Arendt nie und nirgends, wie man es ihr vorgeworfen hat, Eichmann verteidigt. Ebensowenig versucht sie, seine Schuld oder die der Nazis zu mindern. Diese Autorin hat es nicht nötig, sich von irgendwem ihren Antifaschismus bescheinigen zu lassen. Er ist stets radikal, mutig und scharfsichtig gewesen. Und alles, was sie über Eichmanns Person sagt, indem sie sich vor allem auf die Bekenntnisse stützt, die er ins Magnetophon des Hauptmanns Less gesprochen hat, ist stets interessant, zumeist psychologisch zutreffend und häufig tiefschürfend. Es ist vollkommen abwegig, darin irgendeine Entschuldigung des Ausrotters zu sehen. Was Hannah Arendt über das Böse und seine Banalität in unserer Zeit sagt, ist glänzend formuliert, aber nicht immer überzeugend. Da Eichmann nicht einmal die Quelle des Übels war, das er verursacht und verbreitet hat, so beweist die Banalität seines Wesens nichts – jedenfalls nichts, was historisch, soziologisch oder philosophisch von Belang wäre. Bleibt das wahre Problem: Die gleiche Desidentifizie
rung, die die Judenheit vor dem Churban entwaffnete, tritt in Eichmann in Jerusalem bestürzend zutage. Diese Desidentifizierung ist ein entscheidender Vorgang – heute wie gestern, trotz dem Bestand Israels und allen Lehren der Katastrophe. Der Beweis? Das in jeder Hinsicht bedeutende russische Judentum lebt seit 1948 unter entehrenden Bedingungen; es ist Drohungen ausgesetzt, die, vom Regime pseudonym verhüllt, um so gefährlicher sind. Stalin hat an diesen Juden kulturellen Genozid verübt. Fast in einer einzigen Herbstnacht des Jahres 1948 hat er alle jüdischen Zeitungen, Druckereien, Schulen, Bibliotheken und Theater verboten und zerstört. Am 12. August 1952 ließ Stalin die besten Schriftsteller der jiddischen Literatur ermorden. Man weiß, daß im Gegensatz zu allen Erklärungen Chruschtschows sich seit dem Tode des Tyrannen nichts wesentlich geändert hat. Die kulturelle Nichtexistenz, zu der die Juden der Sowjetunion verurteilt sind, dauert an. Somit gibt es ein vielschichtiges, unendlich leidvolles jüdisches Problem in Osteuropa; es ist furchterregend. Abgesehen von einigen Manifestationen, die erst kürzlich veranstaltet worden sind, ist das Weltjudentum mit seltensten Ausnahmen stumm und blind geblieben angesichts einer Situation, die es seit 1948 im höchsten Maße hätte beunruhigen müssen. Doch auch das eben kennzeichnet die dauerhafte Niederlage: der Besiegte ist stets um einen Feind in Rückstand. Wenn all jene, die heute unerbittliche Antinazis sind und nach einem Hakenkreuz auf irgendeiner Mauer ausspähen, wenn sie, be
vor es zu spät war, so wachsam und unerbittlich gewesen wären … Und wenn sie sich endlich entschlössen, schon heute die Gefahren zu erkennen, die die Katastrophen von morgen ankündigen … Ich habe Wochen daran gewandt, diese Seiten zu schreiben. Immer aufs neue suchte ich den Finsternissen einer Vergangenheit zu entrinnen, deren Erinnerung die Gegenwart selbst bedroht. Und alles, was man jemals über sie sagen wird, wird Bruchstück bleiben. Und das Firmament ist nicht einmal aus Pergament … Aber wie soll man nicht gegen selbstgefällige Unwissenheit polemisieren, gegen die sensationellen Entstellungen der Tatsachen und gegen Simplifikationen, die – ob sie nun erhöhen oder erniedrigen – gleichermaßen unerträglich sind. Und wie soll man stumm bleiben angesichts tendenziöser Vergeßlichkeit, wenn das Geschwätz von Leuten gar zu laut wird, deren Gedächtnis liebedienerisch versagt, wo die Erinnerung am dringendsten vonnöten ist. Aber wozu polemisieren? Was bleibt den alternden Söhnen und Töchtern eines verwaisten Volkes – was bleibt uns vom Churban zurück? Nichts als die Gewißheit eines Unglücks, darauf niemand sich vorbereiten könnte. Eine Gewißheit, die so unfaßlich ist wie die unseres eigenen Todes. Paris, Februar 1964
Kleines Memorial Drei Zahlen: Es gab fünf Millionen Juden zu Beginn der christlichen Zeitrechnung, tausend Jahre später waren sie nur noch zweieinhalb Millionen, im Jahre 1490 nur eineinhalb Millionen. Die aschkenasische*, das heißt die nordeuropäische, deutsche und französische Judenheit schien zum Untergang verurteilt, doch fand sie Zuflucht und Rettung in Polen. Die ersten Familien siedelten sich dort im Jahre 1264 an, aber die massenhafte Einwanderung begann erst siebzig Jahre später, als König Kasimir der Große die Juden einlud, sich in seinem Königreich niederzulassen. Mit der Charta von Kalisz räumte er ihnen eine rechtlich gesicherte Existenz und überdies Privilegien ein, die während mehrerer Jahrhunderte die Grundlage für ihre religiöse, nationale und wirtschaftliche Existenz bilden sollten. Ja, es war ein rettendes Wunder: »Poh lin« wiederholte man dankbar, das bedeutet auf hebräisch: »Hier werdet ihr ruhen.« Überall sonst auf christlicher Erde waren Juden vorübergehend geduldet, ehe sie ausgeraubt und verjagt, häufig genug von den Plünderern getötet wurden, die so gleichsam legitime Erben ihrer Opfer wurden. Im Lande Kasimirs hingegen wurden sie ermutigt, Städte und Siedlungen zu *
Als aschkenasisch (das heißt auf hebräisch: deutsch) wurde sie von den Juden der lateinischen und islamischen Länder bezeichnet.
gründen, als Handwerker und Kaufleute der bäuerlichfeudalen Wirtschaft eine städtische, handwerkliche und kommerzielle Ökonomie zu schaffen. Die Kehiloth, die jüdischen Gemeinden schlossen sich zu einem Verband zusammen, entsandten frei gewählte Vertreter in einen eigenen Nationalrat, der sie gegenüber der Regierung repräsentierte. Endlich schien die Erde unter ihren Füßen nicht mehr zu beben. Inmitten feudal beherrschter, regional begrenzter Volksstämme gingen sie daran, gemäß den biblischen Gesetzen Gottes eine eigenartige Gesellschaft aufzubauen, die in ihren menschlichen und religiösen Werten beispielhaft sein sollte. So geschah es, daß in Polen ein jüdisches Volk entstand – damals wahrscheinlich das einzige Volk von freien Menschen und ganz gewiß das einzige ohne Analphabeten. Seltsam, die Siege Polens brachten den Juden oft genug großes Unglück, aber alles Unheil, das Polen im Verlaufe der Jahrhunderte heimsuchte, wurde stets zur jüdischen Katastrophe. Als der Hetman Bogdan Chmelnizkij an der Spitze seiner Kosaken gegen das Königreich anstürmte, schlug für Polen die Stunde eines Niedergangs, der mit kurzen Unterbrechungen noch immer oder schon wieder andauert. »Ein Jude, ein Pole, ein Hund – die drei haben den gleichen Glauben.« Überall, wo die Banden Chmelnizkijs und seines Spießgesellen Kriwonos hinkamen, schmückten sie Bäume mit dieser Aufschrift. Über ihr hingen auf den Zweigen: ein Jude, ein Pole, ein Hund. Häufig wurde
den Juden die Wahl gestellt: sie konnten ihr Leben retten, wenn sie sich taufen ließen. Dem Glauben der Mörder zogen sie zumeist den Tod vor. Andere erkauften die Rettung, indem sie auf all ihre Güter verzichteten; manchen gelang die Flucht nach dem Westen, wo andere Verfolger sie erwarteten. Nach acht Jahren solchen Gemetzels schöpften die Überlebenden neue Hoffnung und wagten den Versuch, neu zu beginnen, aber die Kriege der Moskowiter endeten mit der Teilung des polnischen Königreiches. Die Juden der Ukraine, Weißrußlands und der baltischen Staaten, später auch die Kongreßpolens, wurden Untertanen der Zaren, die sie aus den Dörfern vertrieben, ihnen den Aufenthalt in bestimmten Städten verboten, ihnen Rechte und Freiheiten entzogen und sie damit in Parias verwandelten. Sie hätten unter dem zaristischen Regime zugrunde gehen können, aber sie haben es überlebt. Blieben nach den Massakern der Jahre 1648-1656 nur noch 200.000 Juden zurück, so gab es am Ende des 19. Jahrhunderts in Osteuropa ein jüdisches Volk von mehr als sechs Millionen. *** Ein Novemberabend im Jahre 1945. Ich betrat ein kleines Café im Pariser Bezirk Belleville. Es war kaum beleuchtet, eine leidenschaftliche Stimme lockte mich in die erste Etage, wo ich der vorletzten Probe einer jiddischen Schauspielertruppe beiwohnen sollte. Auf der Treppe blieb ich wie angewurzelt stehen. Die Stimme sang:
Sei gesund, mein Städtele Glupsk mein Heim, meine Mutter Schwer ist mir der Abschied Doch ist’s mir so beschieden Das Städtel … Ja, die osteuropäische Judenheit hat sich während der Jahrhunderte nicht zuletzt dank dem Städtel gerettet, sie ist mit ihm zugrunde gegangen. Sie hatte allen und allem widerstanden, nur nicht dem Totalitarismus unserer Zeit. Obwohl das Städtel mit einem sehr guten Gedächtnis begabt war, blieb ihm das historische Bewußtsein versagt; von der eigenen Geschichte kannte es datenmäßig vor allem die Martyrologie, aber es wußte nicht, daß sein Zustand einem hundertjährigen Niedergang glich. So war die Art seiner Bewohner, sich zu kleiden, die allein als jüdisch, ja chassidisch angesehen wurde, nichts anderes als jene altfränkische Mode, wie sie durch fast lächerliche Armut verkommen war. So blieb man der fernen Vergangenheit durch äußere Zeichen treu, die auf ein zeitlich und räumlich fernes, westliches Exil hinwiesen und auf einen Reichtum, der längst dahingeschwunden war. Man sprach jiddisch, doch lehrte man die Kinder französische Worte zu wiederholen, die Raschi, jener große Rabbi Schlomo, Sohn des Isaak aus Troyes in der Champagne, im 11. Jahrhundert verwandt hatte, um gewisse technische Ausdrücke der Bibel verständlich zu machen. Tiefe Einsichten und erstaunliche Unwissenheit, unverminderbare Anhänglichkeit an eine mehr
theologisch als geschichtlich bekannte Vergangenheit, unersättliche Wissensgier und eifrige Bemühung um materielle Vorteile, extremer Provinzialismus und ein fast unbegrenzter Universalismus, eine Maßlosigkeit in allem – diese Widersprüche bestimmten den Charakter des Städtel und ebenso die Zivilisation der aschkenasischen Judenheit Europas. Mitten in den Katastrophen des 17. Jahrhunderts entstand eine erhebende Gewißheit: Der Messias ist gekommen, er nennt sich Sabbatai-Zwi. Und nun ging es nur noch darum, das genaue Datum der Heimkehr aller Juden nach Jerusalem zu bestimmen. Während der Jahrzehnte, die auf diese ungeheuerliche Täuschung folgten, vergiftete die verfaulte Hoffnung die jüdischen Geister – in Amsterdam, in Livorno so gut wie im letzten Städtel der Ukraine. Der Rabbinismus wußte weder zu heilen noch zu trösten. Man brauchte anderes und mehr als die Berufung auf den unabänderlichen Willen Gottes. Der im Jahre 1700 in einem podolischen Städtel geborene Israel Baal-Schem-Tov war ein Mann, der seinen Weg zu Gott in tiefster Einsamkeit suchte. Doch mit der Zeit gesellten sich Jünger zu ihm, die seine nicht abstrakt formulierte, sondern in Gleichnissen dargebotene Lehre im Volke verbreiteten, als brächten sie ihm so die tröstlichste aller Botschaften. Diese Jünger waren die ersten Rabbis des Chassidismus, der neuen Mystik des Baal-Schem-Tov, die sich vor allem an die Armen und Bedrängten wandte und den Zugang zu einem Gott der verzeihenden Liebe bahnte. Diesen Gott fand man auch
in der Heiligen Schrift, in den Reden der Propheten und in den Psalmen, doch sollte ihn nun ein jeglicher in der eigenen Seele entdecken und zu ihm in Freude beten. Man muß sich in glühendem Glauben an ihn »heften«, sich mit ihm »vereinen« in der Gnade, die einem jeglichen versprochen ist. So entstand dank dem Baal-Schem-Tov und seinen ersten Jüngern eine der seltsamsten Bewegungen, die die Geschichte je hervorgebracht hat: eine Bewegung der Armseligen, die den Himmel stürmen, um den Allmächtigen zu trösten und den Schöpfer der Welt zu erlösen, der mit seinem Volk in der Verbannung auf den Messias wartet. Der Chassidismus blieb nicht auf der Höhe seiner Anfänge; in der zweiten und in der dritten Generation wurde er zum Zaddikismus, zu einem mißbrauchten Glauben und einem mißbräuchlichen Aberglauben an wundertätige Rabbis, an die Zaddikim. Doch erneuerte sich der Chassidismus immer wieder, er wurde zur Quelle eigenartiger Kräfte, dichterischer Inspirationen und der Ermutigung, auch in größter Not in Treue zu verharren. *** Für euch, Ermordete in der Ukraine, Deren die Erde voll ist, Für euch, Geschlachtete in Horodischtsch Der Stadt am Dnjepr: Kadisch!
Der junge Poet, von dem wir am Vortage noch nichts gewußt hatten, steht auf dem Podium eines schäbigen Versammlungslokals in einer dunklen Wiener Gasse. Es ist das Jahr 1921. Er bringt die Botschaft einer alles umwälzenden Revolution, er ist der beredte Zeuge konterrevolutionärer Gemetzel und der großen Hungerepidemie an der Wolga – es ist der früh berühmt gewordene Repräsentant der neuen jiddischen Literatur der Sowjetunion: Perez Markisch. Dort, erzählt er, ist das Problem gelöst: die Juden bilden eine freie Nation mit den gleichen Rechten wie andere Nationen. So gibt es Volks-, Mittel- und Hochschulen mit jiddischer Unterrichtssprache, Verlagshäuser, Theater, Filme und Radio in Jiddisch, so tragen zum Beispiel Bahnhöfe auch jiddische Aufschriften. Zahlreiche jüdische Bauern bebauen die eigene Erde; die Freiheit für alle – nach der endlich erreichten Versöhnung aller Völker des alten Zarenreichs – macht nunmehr alles möglich. Markisch, Kwitko, Hofstein, David Bergelson und so viele, die es ihnen gleichtaten – um ihretwillen lernte ich jiddisch lesen. Und als ich zehn Jahre später nach Rußland ging, habe ich tatsächlich am Minsker Bahnhof jiddische Aufschriften gesehen und in Moskau, in der großen Fabrik Elektrosawod, die jiddische Zeitung der Arbeiter. In Kiew kaufte ich Dutzende Bücher, die von jüdischen Staatsverlagen veröffentlicht worden waren. Nein, es durfte nicht ins Gewicht fallen, daß die Revolution die schmale wirtschaftliche Existenzbasis der Juden ruiniert hatte, da ja eine neue Gesellschaft im Entstehen
war. Und so fand man sich wortlos damit ab, daß in den ersten Jahren des Fünfjahresplans die Bewohner der Städtel verhungern mußten, daß sie gleichsam unbemerkt durch das »neue Leben liquidiert« wurden. Eine geopferte Generation – das war gewiß beklagenswert, aber die neue Jugend verließ das Städtel, arbeitete im Dongebiet und war dabei, Dnjepropetrowsk aufzubauen, zusammen mit der Jugend anderer Sowjetvölker die Zukunft in beispielhafte Gegenwart zu verwandeln … *** In dem 1918 neu erstandenen Polen gab es einen zwar nicht gesetzlichen, aber überall praktizierten Antisemitismus, so den Numerus clausus, der die Universitäten dem größeren Teil der jüdischen Jugend verschloß. Andererseits wurden aber die Bestimmungen des Friedensvertrages, die den Juden eine kulturelle Autonomie zugestanden, im wesentlichen eingehalten. Es gab zahlreiche Schulen, Volksschulen und Gymnasien mit jiddischer, respektive hebräischer Unterrichtssprache. Trotz dem wirtschaftlichen Elend der überwiegenden Mehrheit der jüdischen Bevölkerung entwickelte sich ein lebhaftes kulturelles Leben selbst in den kleinsten jüdischen Gemeinden; hierbei spielte die Jugend eine bestimmende Rolle. Sie setzte sich leidenschaftlich für Ideen ein: für die zionistische – polnische Chaluzim haben die Kibbuzim begründet –, für die bundistisch-sozialistische oder für die kommunistische Idee.
Im Herbst 1939 schlug sich diese Jugend im belagerten Warschau Seite an Seite mit den Verteidigern Polens, getreu der Tradition jener Aufstände, in denen jene zusammen starben, denen es nicht gelingen wollte, brüderlich zusammen zu leben. *** Eines Nachts, vor dem Radio sitzend, um die letzten Frontnachrichten zu hören, erfuhr ich durch eine sowjetische Sendung, daß eine neue militärische Auszeichnung in Rußland geschaffen worden war: der Bogdan-Chmelnizkij-Orden. Diese Nachricht schien so unglaubhaft, daß ich ungeduldig auf eine spätere Sendung wartete, ehe ich mir verbieten durfte, an ihr zu zweifeln. Jetzt aber, im Sommer 1952, besteht kein Zweifel mehr: mehr als jeder andere verdient Stalin diesen Orden. Er setzt fort, was Chmelnizkij eingeleitet hat – vor fast genau 300 Jahren. Chmelnizkij wollte die ungläubigen Juden ausrotten, die nicht zum russisch-orthodoxen Glauben übertraten. Dschugaschwili vernichtet das Judentum mit administrativen Maßnahmen: Verschickung, Konzentrationslager, Verbot nationaler oder religiöser Äußerung. Von einem Tag auf den anderen ließ er jüdische Zeitungen, Bücher, alle Verlagsanstalten und die jiddischen Schriftsteller verschwinden. Wo ist nun Perez Markisch? An der Kolyma? Tot? Die jüdischen Schulen sind aufgelöst. In den sowjetischen Zeitungen hetzt man gegen die »Kosmopoliten«,
indem man ihre jüdische Abstammung enthüllt. »Leute ohne Ausweis«, als solche bezeichneten die Progromisten seinerzeit die Juden. Der Ausdruck wird nun wieder verwandt und kehrt in der offiziellen Sprache immer wieder. Die Juden sind fast völlig aus den großen gesetzgebenden Körperschaften verschwunden, und die meisten Karrieren von irgendeiner Bedeutung bleiben ihnen verschlossen. Im Jahre 1940, nach der Annexion der baltischen Länder, lebten in der Sowjetunion fünf Millionen Juden; nach dem Krieg und der deutschen Besatzung waren es nur noch eine Million und achthunderttausend. Auch sie werden verschwinden. Das autoritäre Regime kann ihre Existenz nicht dulden, weil es ist, was es ist. Und weil sie, die Juden, geblieben sind, die sie immer waren. Ihre Zerstreuung als jüdisches Volk in Rußland würde der erste Schritt zu ihrer Liquidierung bedeuten. Ob man diese mit der Notwendigkeit begründen wird, die »Kosmopoliten ohne Vorfahren«, die »Individuen ohne Reisepaß« endgültig zu beseitigen, um das Komplott der »trotzkistisch-zionistischen Verschwörer« in den Satellitenstaaten zu verhindern – gleichviel, die Juden können in der Sowjetunion zugrunde gehen, fast ohne Geräusch. Außer jener Klage, die die Juden überall anstimmen werden, sobald es zu spät sein wird. Juni 1952
Zweiter Teil
Die späte Reise »Er fühlt sich wie im Weingarten seines Vaters«, sagte man bei uns, wenn einer sich’s wohl ergehen ließ. Oder auch: »Er genießt das Leben im Schatten seiner Feigenbäume.« Für die Kinder, die sich vom dritten Lebensjahr in der schweren Kunst, Jude zu sein, üben mußten, symbolisierten die Weingärten und Feigenbäume eine sehr ferne Vergangenheit in einem fernen Land und zugleich eine ihnen zugesicherte Zukunft, jedoch bezeichneten sie nichts Faßbares in der Gegenwart, nichts in der Diaspora, in der sie lebten. In der Tat kannten diese Kinder die Topographie des Landes Kanaan weit besser als jene der Dörfer, die bedrohend unser Städtel umgaben. Palästina – der Name einer türkischen Provinz erinnerte uns an die Philister und an die Orte, wo unsere Ahnen sich geschlagen hatten. Eretz Israel war kein geographischer Begriff, sondern die dauerhafte Gegenwart einer göttlichen Unendlichkeit: dieses Land bewohnte einen jeden von uns, denn wie der Allmächtige selbst hatte es unsere
Vorväter auf allen Wegen des Exils begleitet. Und man wußte, daß man dorthin zurückkehren würde: lebend, wenn der Messias zu unserer Lebzeit kommen sollte, oder tot, am Ende einer unterirdischen Reise nach Jerusalem, wo man auferstehen würde. So war es nicht nur verdienstvoll, sondern auch vorteilhaft, im Schatten der Tempelmauer zu sterben, denn nur so konnte man die posthume Reise vermeiden, die die kindliche Phantasie häufig beunruhigte. Man steckte Münzen in weißgelbe Büchsen, die für die Unterstützung jener bestimmt waren, die nach Jerusalem gepilgert waren, um dort zu sterben; auf den Büchsen las man den Namen: Meir der Wunderrabbi. Daneben gab es blauweiße Büchsen mit den Spenden für jene, die nach Palästina auswanderten, um dort durch ihre Arbeit das Land zu erlösen. Alle Spender glaubten an das nahe Ende der Diaspora und die baldige Heimkehr. Der Zionismus rief heftige Auseinandersetzungen hervor. Die Frommen fragten: »Und wie, wenn der Zionismus keineswegs dem göttlichen Plan diente, sondern ihm entgegenwirkte? Wie, wenn die Zionisten in frevelhafter Ungeduld sich als Vollstrecker eines Versprechens ausgaben, das nur Gott selbst erfüllen konnte? Und wie, wenn sie in Wirklichkeit darauf ausgingen, das jüdische Volk so zu verwandeln, daß es eine Nation ohne Gott würde?« Die Alten zürnten: »Die heilige Erde wird euch ausspeien. Ihr seid Verräter, denn ihr wollt ja nur eines: den anderen Völkern gleichen. Doch wird es euch nicht gelingen, der Schöpfer des Alls wird es nicht dulden …«
Das Städtel liebte nichts so sehr wie heftige Auseinandersetzungen, in denen die Stimmen sich wild erhoben und durch alle Gassen schallten, bis sie in die Gebetshäuser eindrangen. Die Bewohner des Städteis glaubten nur jenen, deren geradezu gewalttätige Leidenschaft sich mit einer scharfen Logik und einem ironisch herausfordernden Humor verband. Allen aber war es gleichermaßen wichtig, ein für allemal herauszufinden, ob der Zionismus ein verführerisch verhülltes Renegatentum war, wie die Verlockung des falschen Messias von Smyrna, jenes Sabbatai-Zwi – »dessen Name sei ausgelöscht!« –, oder ob er im Gegenteil eine Bewegung war, die die Erlösung vorbereitete und das Kommen des wahren Messias herbeiführen konnte. An diese nicht endenden Auseinandersetzungen denke ich in diesen Tagen, da ich meine erste Reise nach Israel vorbereite, und an die wundersamen Vorstellungen, in denen ich mir als Kind ein Bild von Eretz Israel zu bilden pflegte. Ich war nicht in Palästina, als Leute meines Alters zu Pionieren wurden, als sie sich in Erd- und Bauarbeiter, in Gärtner, in Wächter und Krieger verwandelten, als sie auf der seit Jahrtausenden versumpften, brachliegenden Erde Kibbuzim und Dörfer und schließlich neue Städte aufbauten. Ich habe nicht die Mühsal jener geteilt, die das Land seiner tausendjährigen Verwahrlosung entrissen haben. Ich habe an ihren Kämpfen nicht teilgenommen – nicht an den Schlachten des Befreiungskrieges und nicht an
den späteren Kriegen. Sohn so vieler Generationen bewußter Juden, Erben ihrer Treue und ihres Traums von der Rückkehr, habe ich somit kein Recht auf Israel. Das vergesse ich nicht. Auch deshalb werde ich mich dort keineswegs fühlen wie in »den Weingärten meines Vaters«. Und ich werde mich hüten, die mit solcher Aufopferung herbeigeführte Verwirklichung mit meinen Kinderträumen zu konfrontieren. Im reifen Alter muß man gelernt haben, ohne Illusionen zu lieben. Ich gehe nicht nach Israel, um immer wieder voller Bewunderung darüber zu staunen, daß Juden Bauern und Pflanzer, Arbeiter und Soldaten sein können, sondern um die Antwort auf einige Fragen zu finden: Gemäß welcher Auffassung vom Judentum wird die neue Generation in Israel erzogen? Wird sie geneigt und fähig sein, sich das kulturelle Erbe der Diaspora anzueignen und es zu bewahren? Fühlt sich die israelische Jugend mit den Juden der Diaspora solidarisch? Was erwartet sie von ihnen und was wird sie ihrerseits ihnen bieten können? Und schließlich die Kardinalfrage: Verändert die Existenz Israels die wesentlichen Gegebenheiten der Judenfrage? Das alte Kanaan war seit jeher ein Korridor, ein Durchzugsland für die Armeen eroberungssüchtiger Imperien. In diesem Lande entsteht eine neue israelische Nation zu einer Zeit, da die meisten Nationen zu Komparsen wer
den in einem Weltdrama, das nur zwei Helden kennt, und die volle Unabhängigkeit selbst großer Nationalstaaten ein seltener, ja unerschwinglicher Luxus geworden ist. Ich fahre nach Israel, um dort zu erfahren, ob und wie man an diesen Staat auch ohne drückende Bangnis denken kann. Februar 1958
Israelisches Tagebuch
Jerusalem Ein Niemandsland, einige hundert Meter breit, an manchen Stellen noch schmäler, trennt die Hauptstadt des neuen Staates vom viertausendjährigen Jeruschalajim, dessen Tore den Juden verschlossen sind. Es gab bereits eine Zeit, da den Juden allein der Eintritt in die Residenzstadt Davids verwehrt wurde. Nachdem die Römer ein letztes Mal das aufrührerische Volk besiegt hatten, pflügten sie den Boden der zerstörten Stadt um. Sie gründeten sodann am gleichen Ort eine neue Siedlung, die sich niemals den Juden öffnen sollte, es wäre denn, sie hätten schon vor den Kämpfen die Lehre Christi angenommen. Aelia Capitolina, so hieß die römische Stadt, sollte den Triumph des Kaisers Aelius Hadrianus verewigen; sie existiert, ein kleingedruckter Name, nur noch in Lehrbüchern der Geschichte. »Von hier aus können Sie ruhig die Mauern betrachten, die die alte Stadt umschließen«, erklärt unser Begleiter. »Noch ein paar Stunden, und wir hätten auch von dort die Araber verjagt, aber da kam der Befehl, sich zurückzuziehen. Das war die Politik – nämlich wegen der Engländer … Ich selbst bin da drüben geboren, ich und vor mir mein Vater und nach mir die zwei ältesten meiner
Kinder. Schwamm darüber, die neue Stadt gehört uns, und sie wächst jeden Tag.« Ich sage ihm nicht, daß Jeruschalajim außerhalb Jerusalems liegt, denn er hat mir mit Ironie von jenen Chassidim gesprochen, die auf die flachen Dächer ihrer Häuser steigen, damit ihr Blick, während sie beten, auf der Klagemauer ruhe, die sie infolge eines jüdischen Sieges verloren haben. Im Militärfriedhof, vor den Gräbern der Kämpfer, die für diesen Sieg gestorben sind. Ich muß die zumeist deutschen Namen mühsam entziffern – die hebräische Transkription hat sie der Vokale entblößt. Die Tafeln geben auch das Alter und den Geburtsort der Opfer an. Sie waren aus allen Ländern Mitteleuropas gekommen, die meisten aus Polen. Dort hatte der Tod sie bis 1945 erwartet – ein Tod, wie ihn das Vieh in den Schlachthäusern erleidet. Hier fielen sie, drei Jahre später, mit der Waffe in der Hand. Dennoch werden auch diese »Toten Gott nicht preisen« – den HErrn, der hier, im Lande Judäa, beheimatet ist. Und die nekrologische Begeisterung, die ihnen gilt, ist mir nicht weniger peinvoll als jede andere. Nur scheinbar rühmt sie die Toten, in Wahrheit will sie nur den Überlebenden schmeicheln. Wir sind, wir alle, unseren Toten untreu, vergeßliche Verräter. Nur mit Mühe unterdrücke ich den unpassenden Wunsch, jedem dieser vernichteten Kämpfer einen Lebenslauf zu erfinden, die Hoffnung seiner letzten Stunde zu ersinnen und die Gefühle, die ihn an die heute Leben
den banden. Mir scheint’s, daß ich sie alle gekannt habe, in jener Intimität des erdichteten Als-ob, das uns die Lebewesen nahebringt, ohne daß wir jemals den Abstand verringern müßten, der uns vor jeder Gemeinschaft mit ihnen bewahrt. Die verfrüht sommerliche Sonne brennt auf die steinigen Hügel nieder, sie vergoldet die Wipfel der jungen Bäume, die die jüdischen Einwanderer immer aufs neue, selbst zwischen Felsspalten, gepflanzt haben. Die Erde des gelobten Landes ist hart wie das Gestein, das sie bedeckt. »Das Land, wo Milch und Honig fließt…« Nur zwei der Späher kamen hoffnungsfreudig zurück, die zehn anderen büßten ihre enttäuschende Zeugenschaft: sie starben eines schändlichen Todes »vor dem HErrn«. Die Invasion wurde nur verschoben, doch keineswegs aufgegeben: seit gar zu langen Jahren waren die Nachkommen Abrahams von der versprochenen Erbschaft besessen; sie hat nicht aufgehört, jedes neue Geschlecht zu erben. Vor uns erhebt sich der Skopusberg, auf dem die Araber seit 1946 die hebräische Universität mit ihrer berühmten Bibliothek und das Hadassah-Spital gefangenhalten. Der junge Staat hat unverzagt eine neue Universität gegründet – ihr Bau geht der Vollendung entgegen. Links vom Gipfel bezeichnen die Waldungen auf den Hügeln und die terrassenförmig ansteigenden Äcker und Gärten den Boden, der Israel gehört. Den Boden, dessen unsäglich mühevolle »Erlösung« nur grenzenlose Liebe begründen könnte; wirtschaftliche Berechnung hätte den erforderten Aufwand an Kräften und Mitteln nie gerechtfertigt.
Der Winter war zu trocken. Wir sind erst im März, und seit Wochen schon kein einziger Regentropfen; man muß sprengen und bewässern wie im Sommer. Das wird ein hartes Jahr werden, sagt unser Begleiter, dessen Familie unten im Tal ein Stück Erde bewirtschaftet. Als ich das felsige Küstenland Dalmatiens erwähne, erwidert er: »Die Dalmatiner haben die Wahl. Wenn sie wollen, können sie sich im Innern ihres Landes niederlassen, wo sie guten Boden finden. Aber wir ohne Jerusalem – Sie verstehen doch?« Er nennt die Siedlungen auf den Hügeln; einige Kibbuzim, eine Jugendkommune, ein Heim für schwererziehbare Kinder, das seinerzeit die Waisen aus den Ghettos aufgenommen hat, ein neues Dorf, das sich über einer sichtbar verlassenen arabischen Siedlung erhebt: Dir Jassin. Dieser Name wurde vor zehn Jahren häufig genannt. Man sagte, die Einwohner dieses Dorfes wären durch Kampfeinheiten des Irgun und des Lechi umgebracht worden. Der Israeli meint: »Natürlich haben Sie recht, sowas ist eine Schande für uns alle. Die Regierung hat es ja auch sofort verurteilt. Wir waren es, wir von der Haganah, die zuerst das Dorf erobert hatten: Dann haben wir es dem Irgun zur Bewachung übergeben, weil wir nämlich zum Kastell zurückmußten, wo die Araber noch immer nicht weichen wollten. Und die Burschen vom Irgun, die waren ganz wild, weil sie große Verluste hatten. Sie verstehen doch?« Er lügt nicht, sondern wiederholt nur, was er oft hat sagen hören. Das erste Opfer aller Kriege ist die Wahrheit,
eine erniedrigte, weil gefürchtete Geisel. Die Kriegführenden entstellen und vergewaltigen sie, damit sie die Kronzeugin mörderischer Lügen werde. Man müßte in das Tal hinuntergehen, den Hügel gegenüber besteigen und sich dem toten Dorfe nähern; mir fehlt der Mut dazu. Auch ohne diesen Anblick bleibt man dessen bewußt, daß in diesem Jahrhundert der totale Sieg am ehesten der totalen Niederlage gleicht. Aliath Hanoar: Jugendeinwanderung, so nennt man die Institution der »Jewish Agency«, der das Wohl von etwa 100.000 Kindern und Jugendlichen aus zahllosen Ursprungsländern anvertraut ist. Vor 25 Jahren hieß es, die ersten Opfer des Nazismus zu retten. Heute stellen die von der Aliath Hanoar gegründeten Heime und Kinderdörfer ein außergewöhnliches soziales Phänomen dar, einen Bereich unvergleichlicher pädagogischer Experimente und bedeutsamer Erfolge. Die gleiche Vielfalt der Rassen, die in den Straßen Jerusalems auffällt, begegnet uns auch in diesem Kfar Jeladim, das hart am Rande der Stadt gelegen ist. Das Nebeneinander so verschiedener Rassen, das Miteinander von Menschen, welche aus Zivilisationen kommen, die nicht nur räumliche Entfernungen, sondern auch zahllose Entwicklungs-Jahrhunderte trennen, sollten die Probleme der jungen Nation noch schwieriger gestalten, als sie es schon ohnehin sind. Nun, hier im Kinderdorfe befindet man sich sozusagen im Innern des Schmelztiegels: die 300 jungen Einwanderer verkörpern die neue
Generation eines geeinten Volkes, denn für sie ist nur wirklich, was sie alle gemein haben: die alte Sprache, die verjüngt über ihre Lippen kommt, und die Heimat, deren Erde sanft ist unter ihren Füßen; das Gefühl der Gemeinschaft und die Gewißheit der Zugehörigkeit; schließlich das Bewußtsein der Identität, die fortab niemand in Zweifel ziehen wird. »Eines Tages rühmt sich mein Enkel, als er aus der Schule kommt, daß er jetzt ganz genau weiß, wie man jemanden nennt, der besonders abscheulich ist. Und er spricht das Wort ›Zyd‹ aus, das Jude auf polnisch heißt. Wir sind entsetzt und erklären ihm, was ›Zyd‹ wirklich bedeutet, aber wir trauen uns nicht, ihm zu entdecken, daß wir selber Juden sind. Er bemerkt, daß irgend etwas nicht stimmt. Es ist das erste Mal, daß er zögert, uns zu glauben. Wenige Wochen später kommt er in einem furchtbaren Zustand nach Hause. Er, der gewöhnlich sehr lebhaft ist, will uns nichts erklären, bleibt stumm, was uns natürlich noch mehr erschreckt. Von der Schullehrerin erfahren wir endlich, was geschehen ist. Man hatte den Religionsunterricht wieder eingeführt, und als der Kleine auch daran teilnehmen wollte, wurde er von anderen Kindern verjagt. Sie warfen ihm vor, daß er ein ›Zyd‹ sei. Er wollte es zuerst nicht glauben, aber schließlich mußte er gehen. Einige Tage später sprach er wieder, aber anders als früher. Mein Enkel stottert seither … Ein Psychiater in Tel Aviv hat uns geraten, das Kind in einem Kibbuz unterzubringen. Das tun wir auch, denn seinetwegen haben wir alles in Polen aufgegeben und sind nach Israel gekommen.«
Ich kannte diese Frau, als sie so alt war wie ihr unglücklicher Enkel. Sie allein ist am Leben geblieben von allen Angehörigen meiner väterlichen Familie, die vom Kriege in einem slawischen oder germanischen Lande überrascht worden sind. Und ihr Enkel ist seit zahllosen Generationen der erste, der es vom Feinde erfahren mußte, daß er ein Jude ist. Die neue Welle der aus Polen kommenden Einwanderer unterscheidet sich von allen, die ihr vorangegangen sind. In den Jahren zwischen 1945 und 1948 hatten diese Juden die Wahl; sie beschlossen, Wurzel zu fassen im Ungeheuern Friedhofe, darin ihr ermordetes Volk ruht, ihren Ursprung zu verleugnen, um endlich ein für allemal »Polen wie alle anderen« zu werden. Sie dachten, der Kommunismus würde ihre Judenfrage endgültig lösen … Nein, ihr Fall hat nichts mit dem der iberischen Marranen zu tun, die sich seinerzeit in Amsterdam, Livorno oder sonstwo außerhalb Spaniens niederließen. Diesen ging es darum, offen die Treue zu erneuern, die sie im geheimen, unter Lebensgefahr, bewahrt hatten; jene, die neuen Einwanderer aus Polen, verleugnen ihre Apostasie, nur weil sie gescheitert ist. Ohne den geringsten Zweifel ist die vitale Frage der Identität vollkommen gelöst für alle diese jungen Menschen, denen wir im Kinderdorfe begegnen. Sie ist für sie – ebenso wie für ihre Erzieher – gegenstandslos geworden. Während wir eine Reihe von psychologischen Fragen besprechen, deren Lösung dank solch einer Gemeinschaft
zum erstenmal faßbar werden könnte, scheint sich die Landschaft Judäas vor meinen Augen zu verwandeln; man beginnt zu ahnen, wie sich diese Hügel in ein zauberhaftes Toskanien verwandeln könnten. Es würde genügen, daß man sie endlich um ihrer selber willen liebte. Denn seit 1800 Jahren ist dieses Land schlecht, gleichsam hinterhältig geliebt worden von Eroberern, die in ihm strategische Vorteile und überdies eine Vergangenheit suchten, die fortab als willige Zeugin dem jeweils siegreichen Glauben dienen sollte. Für die jungen Israeli jedoch ist diese Erde so jung wie sie selber; mit ihrer Zukunft geht sie schwanger. Im Viertel der »Hundert Tore« (Mea Schearim), dessen Einwohner überzeugt sind, daß die Diaspora sich über die ganze Erde ausbreitet, also auch Jerusalem einschließt, und daß sie bis zur Ankunft den Messias dauern wird. Folglich ist der Staat Israel in ihren Augen nichts anderes als ein provisorischer Sieg des Weltlichen über das Ewige, somit nichts als ein Schwindel der Usurpatoren, eine herausfordernde Blasphemie. Sie bekämpfen diesen Staat im Namen der Vergangenheit, deren Heimat dieses Land ist, und im Namen der messianischen Zukunft, die beseligend nahe wäre, wollten nur alle anderen ihre unversöhnliche Frömmigkeit nachahmen. Nach ihrer Auffassung ist ein Glaube ohne die strengste Beachtung aller Gebote, Regeln und Gebräuche nur eine verächtliche Heuchelei. Selbst der Unglaube ist für sie noch ein Glaube: ein schlechter Glaube. Die Entscheidung der Jerusale
mer Stadtverwaltung, ein Schwimmbad für Männer und Frauen einzurichten, ist für sie ein absichtsvoller Frevel, eine jener Untaten, die den Erlöser entmutigen und sein Kommen hinauszögern. Die Einwohner dieses Viertels, zum größten Teil autochthon, lehnen es ab, Israelis zu sein. Sie kleiden sich unter der subtropischen Sonne, als lebten sie in Lublin oder Berdytschew, in Czortkow oder Belzec, und die frömmsten Chassidim bleiben der sogenannten »altfränkischen Manier« getreu: ihre Gewänder sind die der Städter des 16. Jahrhunderts, doch bedecken sie das Haupt mit einer polnischen Pelzmütze. Schon den kleinsten Knaben rasiert man die Schädel kahl; nur ihre, zumeist blonden, Schläfenlocken müssen so lang werden, daß sie die Schultern berühren. Hier zieht man die Art von Lebensmitteln vor, mit denen sich die Ahnen in den osteuropäischen Städtchen genährt haben. Genau wie dort verschwenden die Bettler Segenssprüche in Jiddisch an großherzige Passanten und überschütten mit Flüchen jedes harte Herz. Man könnte glauben, daß es sich um eine übertrieben getreue Rekonstruktion für einen Farbfilm handle. Das Pittoreske breitet sich überall aus, es lockt die Touristen an, die hier wie überall nach dem Kuriosen jagen, nach allem, was im Leben der anderen Alltag, ihnen selbst jedoch das schlechthin Fremde ist. Auf dem Balkon eines Gebäudes in türkischem Stil, das eine Talmudschule beherbergt, erscheinen unversehens drei Jünglinge, von denen der älteste kaum sechzehn Jahre
alt ist. Sie rauchen ihre Zigaretten an und betrachten den Strom der Fremden, der sich durch die Gassen von Mea Schearim ergießt. Dies Schauspiel würde sie vielleicht amüsieren, wären sie weniger streng und erkennten sie nicht in diesen Juden, die den Gojim ähnlich sehen, Verirrte, deren Sünden die Dauer der Diaspora und damit die Herrschaft des Unglücks in der Welt verlängern. Man könnte meinen, diese drei halbwüchsigen Talmudisten hätte man sorgfältig ausgewählt, um sie auf diesem Balkon zur Schau zu stellen. Jedem von ihnen eignet in der Tat jene traumhafte, gar zu flüchtige Schönheit, mit der die Sage junge Prinzen austattet, die am Ende durch Liebe von fürchterlichem Fluch erlöst werden. Selbst die Arroganz, die man in ihrem Blicke liest, ist fürstlich, doch drückt sie nur die Unerschütterlichkeit von Menschen aus, die wissen, daß sie die legitimen Erben von Gewißheiten sind, die sich im Laufe katastrophaler Jahrtausende bewährt haben. Diese jungen Wächter des Glaubens könnten den Apikorsim (Epikureern), den Ketzern sagen: »Wo sind sie doch, sie alle, die den Joniern gleichen wollten? Und die anderen, die die Römer nachahmten oder später in die Fußstapfen der Christen traten? Der Abgrund des Vergessens hat sie verschlungen. Betrachtet uns nur gut, verirrte Narren, verspottet unsere Kleidung und verlacht unsere Lebensart – es bleibt dennoch wahr, daß wir allein es sind, die euer Dasein auf dieser Erde rechtfertigen. Und wir werden Ahnen sein von Juden, die das Ende der Zeiten erleben werden, indes euere Nachkommenschaft, mit den anderen Völkerschaften
vermischt, von der Zeit zu Staub zerrieben und vom Zorn des Schöpfers verwischt werden wird wie die Schrift im Sande der Wüste.« Doch mag es sein, daß einer dieser Jünglinge bereits »angesteckt« ist. Er hat insgeheim Ch. N. Bialiks Liebeslieder gelesen, er hat Also sprach Zarathustra jenes Deutschen entziffert, dessen Wahnwitz in die Welt rief, Gott sei gestorben; er hat im Versteck den Wegweiser der Verirrten des noch stets verdächtigen Maimonides studiert, daneben die Schriften des Berliner Juden Moses Mendelsohn, dessen Nachkommen Apostaten wurden; ein Schulbuch, eine hebräische Grammatik für Lyzeen hatte ihn zuerst belustigt, dann beeindruckt. Er hat alles darin erlernt wie einen Talmudtext: man berühre ein Wort auf einer bestimmten Seite, so wird er die Worte nennen, die auf allen folgenden Seiten an der entspechenden Stelle stehen. Er hat überdies in einem hebräisch-englischen Wörterbuch alle Vokabeln bis zum Buchstaben »i« auswendig gelernt. Er wird nicht mehr haltmachen; noch denkt er, es wäre nichts als ein verbotenes Spiel und, Herr seiner Leidenschaft, vermöchte er, es nach Belieben abzubrechen. Er wird straucheln und sich sodann in das Jerusalem der jüdischen Heiden flüchten, wo die neue Universität ihn erwartet. Es wird ihm nie gelingen, der unablässigen Versuchung zu widerstehen, die vom Wissen ausgeht. Später wird er sich für gottlos halten, doch wird er bis ans Ende seines Lebens einen Glauben mit sich tragen, der all die Jahre sterben und niemals in ihm tot sein wird.
Während wir eines Abends in den Straßen eines schönen Wohnviertels Spazierengehen, erlauschen wir aus der Ferne den Chor junger Stimmen. Die Schüler eines Lyzeums feiern Purim, den jüdischen Karneval, der die Niederlage des Ministers Haman in Erinnerung ruft, welcher unter dem König Ahasverus die persische Judenheit ausrotten wollte. Die schöne Esther griff im rechten Augenblick ein. Das junge Mädchen an der Tür erklärt uns auf französisch, wir wären »äußerst willkommen«. Soeben löst eine Sängerin den Chor ab; ihre fünfzehn Jahre schützen sie sichtlich gegen das Lampenfieber. Das junge Mädchen, das sie mit einem Tamburin begleitet, trägt eine kroatische Bluse. Ihr längliches Gesicht mit den traurigen Augen und dem tröstlichen Lächeln um den Mund erinnert mich an eine Freundin, die seit dem Jahre 1941 tot ist. Das Kreuzfeuer der Maschinengewehre der Ustaschi hat sie und die ihren hingemäht – am Unterlauf der Drina, ganz in der Nähe eines Vernichtungslagers. Es war an einem heißen Tag tief im Sommer, knapp bevor die Sonne unterging. Dieses junge Mädchen und die meisten ihrer Gefährten und ihre Eltern würden nicht mehr leben, hätte es den Zionismus nicht gegeben. Er hätte auch meine Freundin gerettet, wenn die Briten es nicht verhindert hätten. Der Bürgerkrieg und der Freiheitskrieg, der ihm ein Ende setzte, die Bombardements der Arabischen Legion, die im Jahre 1948 die Juden aus Jerusalem vertreiben sollten, bedrohten ständig das Leben dieser jungen
Menschen. Dennoch sind sie nicht Überlebende wie wir. Sie scheinen auch nicht angezogen zu sein von der nihilistischen Langeweile, die seit einiger Zeit die Jugend Amerikas und Europas (beiderseits des Eisernen Vorhangs) beherrscht. Man hat ihnen niemals ein glückliches Morgen versprochen, noch endgültige Siege. Erwartet man auch von ihnen, daß sie in Ehren halten, was um den Preis von Blut und Schweiß errungen wurde, so läßt man sie doch keinen Tag vergessen, daß alles noch zu tun bleibt in this harsh world. Der offizielle Teil des Festes ist nun zu Ende. Die Schüler zerstreuen sich, nehmen diesen oder jenen Klassenraum in Beschlag: sie werden die Nacht durchtanzen. Wir bleiben vor den Fenstern des Turnsaals stehen, um ein letztes Mal diese Gesichter zu betrachten, die zugleich mit der Freude jenen seltsamen Ernst widerspiegeln, den Halbwüchsige beim Tanzen häufig zur Schau tragen. Es wäre schwer, ihre Ursprungsheimat zu erraten, denn sie alle zusammen repräsentieren Europa in seiner Mannigfaltigkeit und in seiner Einheit. »Eben, sie sind den Gojim ähnlich«, würden die Knaben von Mea Schearim wiederholen; sie, deren Hände nie eine Schaufel oder eine Hacke berühren werden; sie, deren Lehrer und Eltern alle Listen anwenden, um die fromme Jugend vom Militärdienst zu befreien. Der Mann im Schlafrock, der eben das Bett für eine Stunde verlassen hat, ist ein Schwerverletzter – seine Lungenwunde wird wohl unheilbar bleiben. Das Gesicht
dieses aus der Bahn geworfenen Terroristen bewahrt eine männliche Schönheit; gewiß verstand er es, so gut durch Verführung wie durch Drohung zu erobern. Man darf dem, was er sagt, Glauben schenken: die Hoffart, die man in seinen Augen liest, verbietet ihm, zu lügen; er würde fürchten, sich selber zu verleugnen, sich zu demütigen. X., der einer der Führer des Lechi (der Terroristenorganisation »Stern«) war, zögert nicht, sein Teil der Verantwortung auf sich zu nehmen, mag sie nun Terrorakte betreffen oder die Ereignisse von Dir Yassin. In unserem Gespräch ist er es, der als erster den Namen des arabischen Dorfes erwähnt. Er mag die Erklärung des Journalisten, der mich hergebracht hat, für wahr halten – nämlich, daß ich als Romancier einzelne Episoden der Kämpfe um Judäa bis ins letzte Detail studieren möchte, um sie in meinem nächsten Buche zu verwenden. Jedenfalls ist er davon überzeugt, daß der Besucher, ein Mann der Linken, die ganze Wahrheit über diese Angelegenheit erfahren will, um sie zu richten – »endgültig«, heute, zehn Jahre nach den Geschehnissen. X. weicht keiner Frage aus. Er beantwortet die erste, indes ich noch zögere, sie zu stellen: »Waren Sie selbst in Dir Yassin während jener Nacht? Bis zum Morgen?« Der Ansturm gegen das Dorf wurde von den Kämpfern des Irgun und den Rekruten des Lechi gemeinsam unternommen. Sie wählten die Nacht erstens, weil ihre Bewaffnung unzureichend, und zweitens, weil ihnen bekannt war, daß die Araber eine unüberwindliche Angst vor nächtlichen Nahkämpfen hegen.
Als die Angreifer den Rand der Siedlung erreicht hatten, kündigten sie sich durch Lautsprecher an; schon allein die Namen Irgun und Lechi mochten unter den Feinden eine Panik hervorrufen. Gleichzeitig gab man den Eingesessenen von Dir Yassin zu verstehen, daß ihnen noch ein Weg offenblieb, auf dem sie ungeschoren die alte Stadt erreichen könnten. Auf jede dieser Warnungen und Ankündigungen ließ man ohrenbetäubenden Lärm folgen. Jedoch die Araber ergriffen nicht die Flucht. Sie hielten sie für unmöglich. Warum? In Dir Yassin hatten sich Männer, zumeist Nichtpalästinenser, zusammengefunden, die im Verlaufe der arabischen Revolten zwischen 1936 und 1939 ungezählte Morde an Juden verübt hatten. In dieser Nacht glaubte sich ein jeglicher von ihnen ganz besonders bedroht, ohne Berufung durch die terroristischen Einheiten verurteilt, die um sie einen immer engeren Kreis zogen. Überdies meinten die Angegriffenen, daß die Kampfbedingungen in diesem Falle für die Verteidigung günstiger wären; sie dünkten sich durch die Mauern der Steinhäuser geschützt und beantworteten die Warnungen mit einem wohlgenährten Schnellfeuer. Da sie aber einen Ausbruch nicht wagten, blieben sie gleichsam blind hinter Wänden, welche die entschlossenen Angreifer mit Handgranaten aufschlitzten. Kämpfer und Nichtkämpfer, insgesamt an die 250 Männer und Frauen, fanden in diesen Häusern den Tod. X. erzählt, daß es mehr als 400 Überlebende gab, Frauen, Kinder und Greise. »Ich selbst habe sie auf
Lastwagen evakuiert und bis zum arabischen Sektor Jerusalems gebracht. Ich kann bezeugen, daß sie dort heil angekommen sind. Das war gar nicht leicht. Ich mußte sie mit Waffendrohung gegen die orientalischen Juden schützen, die knapp vorher aus der alten Stadt verjagt worden waren.« X. erinnert an die Propaganda, die von der Jewish Agency (die damals gewissermaßen die provisorische Regierung Israels war) und von der Haganah gegen Irgun und Lechi entfesselt wurde. Er äußert keine Vorwürfe. Jeder weiß nunmehr, daß jene Nacht in Dir Yassin, die die Araber ihrerseits mit ungeheurer Übertreibung für eine frenetische Propaganda ausnützten, unabsehbare Folgen zeitigte. Arthur Koestler schreibt in seinem ausgezeichneten Promise and Fulfillment: »… Von Panik ergriffen, verließ die arabische Bevölkerung unter dem Rufe: ›Dir Yassin‹ ihre Städte und Dörfer.« Eine kleine, eher psychologische als militärische Aktion soll den Angreifern nach einem harmlosen Scharmützel den Besitz des Dorfes verschaffen. Da das Unternehmen scheitert, folgt ihm ein Gemetzel, das niemand gewollt hat und das einen unansehnlichen Erfolg in eine sittliche Niederlage verwandelt, deren Widerhall ungeheuer ist. Und die Folge? Die palästinensischen Araber laufen aus allen Gegenden weg, die ihre von außen kommenden Glaubensbrüder in Kampfgebiete zu verwandeln drohen. Diese sodann von ihren politischen Führern anbefohlene und organisierte Flucht, die, wie es damals hieß, die Operationen der arabischen Befreiungsarmee erleichtern
soll, wird schnell zum Exodus eines ganzen Volkes, dem militärische Hochstapler eine baldige siegreiche Heimkehr versprechen. X. scheint nicht recht zu verstehen, warum ich ihm sage, daß die Niederlage zwar sehr häufig dem Unglück gleicht, das man vor dem Beginn der Feindseligkeiten befürchtet hat, daß aber der Sieg immer verschieden ist vom Triumph, den man vorzubereiten glaubte. Der Sieg ist ein Ereignis, dessen Urheberschaft von gar zu vielen beansprucht wird, er ist kein Zustand. Wer es nicht wahrhaben will, verkommt im »Katzenjammer des Sieges«. Zehn Jahre sind seither vergangen. Was ist inzwischen aus den Terroristen geworden? Manchen, gibt X. zu, wollte es nicht gelingen, sich in ein normales Leben zu finden. Nicht wenige sind irregegangen, einige von ihnen haben sogar das Land verlassen, für das sie doch so oft ihr Leben gewagt hatten. Hätten sie nicht für ihre Aktionen eine andere Zielsetzung finden können? Zum Beispiel: das eurpäische Judentum zu rächen, mit den Henkern ihrer Brüder abzurechnen in Deutschland, Polen oder wohin immer sie sich geflüchtet haben? Meine Frage erstaunt den alten »Stern«-Anhänger, in Wahrheit erscheint sie ihm sinnlos. Seine Gefährten wollten dieses Land von der britischen Herrschaft befreien und Israel zu einem unabhängigen Staate machen. Was indessen in Europa geschehen ist, kümmert sie nicht. Überdies gehört es der Vergangenheit an … Ich muß mich zurückhalten, um diesem besiegten Sieger nicht zu sagen, daß wir viele sind, die im Schatten
der nahen Vergangenheit leben, und daß er selber ihrer bedürfte, um Dir Yassin zu erklären und es, wär’s möglich, zu rechtfertigen. In dem wirklich schönen Amphitheater der neuen Universität. Alle Würdenträger Israels und die Führer des Weltzionismus sind diesen Abend hier versammelt, um feierlich die diesjährige Sitzung des Aktionskomitees jener Bewegung zu eröffnen, die seit Theodor Herzl stets nur ein Ziel verfolgt hat: den Judenstaat in Palästina zu gründen. Das Ziel ist erreicht: in den kommenden Tagen und Wochen wird man den zehnjährigen Bestand dieses Staates mit gerechtem Stolz feiern. Das Ziel ist erreicht – was bleibt den Zionisten noch zu tun? Alles. Man muß den Bestand des neuen Staates gegen Feinde sicherstellen, deren Aggressivität tagaus, tagein von der bedrohlichsten militärischen Macht unserer Zeit ermutigt wird; man muß die ökonomische Entwicklung des Landes gewährleisten, das während der vergangenen zehn Jahre mehr als eine Million Einwanderer aufgenommen hat, die zum größten Teil ohne die geringsten Mittel gekommen sind, aber nicht ohne den Anspruch auf einen westlichen Lebensstandard; man muß die Einwanderung und die Integrierung einer weitern Million Juden im Verlaufe der nächsten zehn Jahre ermöglichen; man muß die sprachliche und kulturelle Einheit der jungen Nation erhalten und fortdauernd erweitern. Natürlich ist es nicht vernünftig, alle diese Aufgaben gleichzeitig und binnen solch kurzer Frist erfüllen zu
wollen. Doch ist es wahr, daß dieses Volk, hätte es immer vernünftig gehandelt, spätestens gleich nach dem Siege Konstantins des Großen zu bestehen aufgehört hätte. Und übrigens war es schon zu Lebzeiten Moses ein unbegreiflicher Irrtum, gerade in Kanaan, diesem Korridor zwischen kriegswütigen Reichen, eine monotheistische, fanatisch heidenfeindliche Nation anzusiedeln. Wie dem auch immer sei, die 1.800.000 Israelis sind keineswegs in der Lage, diese Probleme zu lösen ohne die ständige Beihilfe der Juden der ganzen Welt, besonders der amerikanischen Judenheit, deren zionistische Organisationen überaus tatkräftig sind. Doch was bedeutet Zionist sein? Zionist ist, wer die Diaspora endgültig verläßt und hierher kommt, um sein Schicksal unlösbar mit den Geschicken des Landes zu verknüpfen – antwortet David Ben Gurion. Seine Logik ist so unangreifbar wie die Arthur Koestlers, der die gleiche Meinung schon im Jahre 1948 ausdrückte, als er vom Zionismus und folglich, glaubte er, vom Judentum letzten Abschied nahm. Eine formale Logik, eine falsche, erschlichene Schlußfolgerung, die in keiner Weise der äußersten Komplexheit der jüdischen Situation gerecht wird – entgegnet Nahum Goldmann, der Vorsitzende der Jewish Agency, das heißt der zionistischen Weltorganisation, und gleichzeitig Präsident des sogenannten jüdischen Weltkongresses. Nachdem er verschiedene Präzedenzfälle der Geschichte zitiert hat, unterstreicht er die unermeßlichen Schwierigkeiten, die mit der nahen Zukunft heranwachsen. Man wird sie, sagt er, keineswegs ohne die tätige Solidarität der
Diaspora-Zionisten überwinden können. Doch als er sich gegen den Vorwurf wehrt, daß er sich in die Außenpolitik Israels einmenge, tritt deutlich zutage, wie schwach seine Position gegenüber dem Regierungschef ist, der ihm mit der Aufmerksamkeit zuhört, die ein sehr intelligenter und geschickter Redner stets verdient. Ben Gurion hat nichts gegen den Zusammenprall der Ideen, aber nach dem Beispiel der russischen Revolutionäre von dazumal, deren Jünger er einmal gewesen ist, trifft er seine politischen Entscheidungen im Einklang mit Sachverhalten, deren Ergebnis die Macht der einen und die Machtlosigkeit der anderen determinieren. Nun kann die Macht in Israel nur denen gehören, die diesen Staat geschaffen haben. Sie werden nicht das geringste Teil davon an Nicht-Israelis abgeben, mögen sie nun Zionisten sein oder nicht. Die Generation der Pioniere, der Ben Gurion angehört, nach ihr die im Lande geborene Jugend, schließlich die Armee, die die große Erzieherin des Geschlechts von morgen ist – sie alle zusammen sind Israel. Und gesellten sich zu ihnen zwei Millionen neue Einwanderer, so könnte die Nation beruhigt allen Gefahren entgegensehen. Nun hat aber seit langen Jahren die eigentliche zionistische Einwanderung immer mehr an Bedeutung verloren. Es kamen von 1933 an die Juden Deutschlands und Österreichs, später die Überlebenden der Lager, denen die Flüchtlinge aus den Satellitenstaaten und die Vertriebenen aus den arabischen Ländern folgten. Die Zionisten Amerikas kommen nicht – ebensowenig die französischen und englischen Zionisten. Eines Tages, der
nicht gar zu fern sein mag, werden die russischen Juden zu Hunderttausenden einwandern. Wer wird danach fragen, ob sie Zionisten sind oder nicht? Ihr Wille, Israelis zu sein, wird genügen. Der Judenstaat in Palästina wird die Judenfrage lösen – so lautete die Heilsbotschaft der Zionisten; sie wiederholen sie noch immer, doch gegenwärtig klingt diese Verkündung anders. Der Sieg der Zionisten ist es, der ihre Prinzipien aufs gefährlichste erschüttert, wenn nicht gar zunichte macht. Dieser Sieg beweist, daß der jüdische Staat die Judenfrage seiner Einwohner zu lösen vermag, aber nicht die der Juden außerhalb Israels, das heißt ihrer erdrückenden Mehrheit. Um den eigenen Triumph zu überleben, müßte sich der Zionismus eine neue Ideologie geben, sich radikal verwandeln. Allerdings sind die Zeitbedingungen den Ideologien, den alten wie den neuen, kaum günstig. Der tatkräftige Fanatismus unserer Tage beruft sich eher auf seine Siegesgewißheit als auf eine überzeugende Ideologie: er rechnet mehr auf den Schrekken, den er in Vorwegnahme eines nahen Machtantritts einflößt, als auf die Verlockung seiner Versprechen. Der Zionismus aber muß ein großes Versprechen enthalten oder untergehen. Vielleicht wird er, ein gleichsam weltlicher Messianismus, zur nicht versiegenden Quelle zurückkehren müssen: zur allumfassenden Eschatologie des prophetischen Glaubens.
Tel Aviv Das erste Mal begegnete ich Uri Zwi Grünberg im Sommer 1923; er war damals neben Perez Markisch der beachtenswerteste Vertreter der jungen jiddischen Dichtung. Markisch ist tot seit 1952, auf Befehl Stalins umgebracht; Grünberg, den ich nun an einem Märztage 1958 in Tel Aviv wiedersehe, ist zu einer großen Gestalt der israelischen Poesie hebräischer Sprache geworden. Der Mann, in den Sechzigern, hat sich wenig verändert: der schlanke Körper hat die Beweglichkeit bewahrt; seine lebhaften Augen forschen im Gesicht seines Gesprächspartners nach der Zustimmung oder aber nach einer trotzig bewahrten Meinungsverschiedenheit, die er sich sofort anschickt zu bekämpfen. Nach einer unter den slawischen Juden weitverbreiteten Meinung würden seine roten Haare ein Temperament verraten, das gierig der Gelegenheit nachspürt, in Zorn zu geraten. Es beginnt mit dem langen Monolog eines seiner Einsamkeit verhafteten Schriftstellers, dessen Ohr sich jedem Widerhall veschließt, der nicht aus ihm selber kommt. Obschon er improvisiert, spricht er fertige Texte, die er bereits geschrieben hat oder bald schreiben wird; und er läßt nur Leser gelten, die ihn genauso verstehen, wie er allein verstanden werden möchte. Der scheinbar unversiegbare Strom seines Selbstgesprächs ist nur das Intermezzo, das für einen Nachmittag sein Schweigen unterbricht. Sobald er zu Ende ist, hört er so zu, als sollte er in den Worten des Fremden eine
Botschaft entdecken, die gleichsam eine Erwiderung auf all sein Schweigen enthalten könnte. U. Z. Grünberg nahm während einiger Zeit regen Anteil an der Politik seines Landes; er war Parlamentsabgeordneter für die Partei Cherut, die Erbin des Irgun. Er zog sich dann zurück, vielleicht weil er, spät genug, die Politik im allgemeinen zu verachten begann. Worauf er nun aus ist, das ist eine lebende Mythologie. Mag sein, daß die Blasphemien seines berühmten Mephisto nichts anderes gewesen sind als die wilden Schreie einer verzweifelten Suche nach Gott, eines unbekennbaren Heimwehs. Jetzt, 35 Jahre später, scheint er alles zu erwarten von einer Wiedergeburt der Mythen und der Überlieferung. Alles? Ja, eine Rückkehr nach Zion, die total sein soll. Aber eine Rückkehr ist niemals vollkommen. Wer zurückkommt, ist nicht mehr der gleiche, als der er ausgegangen war. Grünberg ist nach wie vor der Dichter des unglücklichen Bewußtseins.
Im Kibbuz Im Emek Jesreel, das die Mittelmeerküste mit dem galiläischen Gebirge verbindet. Vor etwa 35 Jahren war diese Ebene ein wüstes Sumpfland, Brutstätte der Moskitos, ein Reich der Malaria, der Krankheit der Pioniere, die kamen, um den Sumpf in bewohnbare Erde umzuwandeln. Der Jüdische Nationalfonds hatte dieses Gebiet um einen exorbitanten Preis gekauft; die Chaluzim, die
beste jüdische Jugend, »Vater und Mutter vergessend«, hatten auf alle Versuchungen Europas verzichtet, auf den materiellen und seelischen Komfort der Zivilisation – diese Chaluzim nahmen es auf sich, den Rest zu schaffen. Den Rest, das heißt alles: das Sumpffieber zu ertragen, lange Jahre unter Bedingungen zu leben, die in Europa ein Arbeitsloser zurückgewiesen hätte; sich den bewaffneten Angriffen arabischer Plünderer und Progromisten entgegenzustellen und gleichzeitig alles zu tun um ein Verhältnis guter Nachbarschaft mit den Fellachen herzustellen; schließlich sich selbst – Söhne von Händlern und Vermittlern, von Doktoren und Rabbinern – in Bauern zu verwandeln. In Bauern einer besonderen Gattung: sie banden sich an die Erde, nicht um sich ihrer als eines Eigentums zu versichern und nicht nur, damit ihre Nachkommen hier ein Vaterland fänden, sondern auch um einen föderalistischen Anarcho-Kommunismus zu verwirklichen. Ihre Meister waren weder Herzl noch Weizmann oder Jabotinsky, sondern – außer den Propheten Israels – Charles Fourier, Marx, Proudhon, Krapotkin, Gustav Landauer, A. D. Gordon, überdies die großen Psychologen und Pädagogen unseres Jahrhunderts, deren Theorien diese Pioniere des Gemeinschaftslebens in ihren erzieherischen Bemühungen lenkten. Denn von Anfang an, noch ehe sie die ersten Bäume gepflanzt hatten, ehe sie die dem Kibbuz zugeteilten Parzellen drainiert und urbar gemacht hatten, vereinbarten die Gründer, daß Erziehung ihre Hauptaufgabe bleiben sollte; ihr gebührte stets die
absolute Priorität. Es sollte kein Opfer zu groß sein, um das Geschlecht des neuen Menschen zu formen. In meiner frühesten Jugend war ich aufs engste mit der Bewegung der Haschomer Hazair verbunden, deren Aktivisten später eine hervorragende Rolle in der Schaffung der Kibbuzim und in deren Entwicklung spielen sollten. Ich habe mich seinerzeit von ihnen getrennt, als es mir nicht gelingen wollte, sie davon zu überzeugen, daß es vorerst galt, die soziale Revolution in Europa zu vollenden. Die Revolution würde natürlich in kurzer Zeit alle Fragen, auch die jüdische, lösen und in planetarischem Maßstabe den neuen Menschen heranbilden. Nun begegnen wir einander wieder nach so vielen Jahren der Trennung in Mischmar Haemek. Dieser schöne Kibbuz des Tales Jesreel hat im Jahre 1948 einer langen Belagerung der Armee des Fawzi standgehalten. Indem er den Arabern den Weg nach Haifa verriegelte, trug er wirksam zur Aktion der Haganah bei, der es schließlich gelang, die zum Teil von Nazi- und Ustaschi-Offizieren kommandierten Angreifer zu Paaren zu treiben. Niemand erwähnt auch nur diese schweren Tage, in denen sie alle unerschütterlichen Mut bewiesen haben. Hier wie überall sonst in Israel spricht man mir von den Arabern ohne den geringsten Haß, ohne Verachtung. Doch nirgends ist der aufrichtige Wunsch, sich mit ihnen zu versöhnen, so deutlich spürbar wie in diesen Gemeinschaften. Der Sekretär des Kibbuz begleitet uns bis zu dem Häuschen, das der Psychologe bewohnt, dem die Ausbildung des Personals aller pädagogischen Institutionen
des Haschomer Hazair übertragen ist. Er und seine Frau, die ein besonders aktives Mitlied der Mapam-Partei ist, werden während unseres Aufenthaltes gleichsam unsere Gastgeber sein. An sie richte ich bald nach unserer Ankunft die Vorwürfe, die sich in mir gegen die Politik ihrer Partei angesammelt haben. Obschon er entschieden zionistisch geblieben war, hatte sich der Mapam schon vor dem Kriege dem Stalinismus angenähert. Er richtete treulich seine Außenpolitik und seine Ideologie nach der so häufig wechselnden, doch stets dogmatischen Linie Moskaus aus; er wurde der Propagandist Sowjetrußlands. Der Slansky-Prozeß, in dessen Verlauf ein Emissär des Mapam die vom stalinistischen Antisemitismus erzwungenen »Geständnisse« ablegte, ja sogar die Tatsache, daß diese Partei selbst in Prag angeprangert und angeklagt wurde, all das änderte kaum etwas an der Haltung des Mapam, der sich erst dann auf die Seite des Kommunismus gestellt hatte, als dieser endgültig depraviert und die Sowjetunion der totalen Herrschaft der Stalinschen Clique vollkommen unterworfen war. Erst nach dem XX. Kongreß und den von ihm ausgelösten Erschütterungen begannen die Aktivisten des Mapam zu entdecken, daß sie ein Recht zu zweifeln hatten. Noch während ich in meiner Strafrede fortfahre, weiß ich, daß ich mir selber meine Heftigkeit vorwerfen werde. Sie ist zwar begründet, doch hindert das nicht, daß ich für meinen Teil ebenfalls unrecht habe. Die Gastgeber könnten mich unterbrechen:
»Alles, was du hier zu bewundern scheinst, das haben wir erarbeitet – wir, nicht du! Du und deinesgleichen, ihr habt die Revolution nicht gemacht, wir auch nicht. Du bist irregegangen in der Politik, du wirfst uns vor, daß wir später den gleichen falschen Weg eingeschlagen haben. Nun, so wären wir denn quitt. Doch gibt es etwas, was zu unseren Gunsten spricht: Wir haben unsere Zeit nicht vergeudet. Während all dieser Jahre haben wir die Gemeinschaftserziehung bis in ihre letzten Konsequenzen entwickelt und sie kritisch erprobt; wir haben gleichzeitig eine Lebensart geschaffen, die die Seinsform eines jeden von uns bestimmt. Sowohl unsere pädagogischen Bemühungen wie die Verwirklichung sozialer und wirtschaftlicher Ziele im Rahmen des Kibbuz zielten stets auf das gleiche ab: die volle Entfaltung des freien Menschen in einer Gemeinschaft, die innerhalb enggezogener Grenzen, das ist wahr, den Sozialismus realisieren will.« Sie unterbrechen mich jedoch nicht. Vielleicht, weil sie hoffen, daß ich noch diese Nacht Gelegenheit finden werde, mir selbst zu sagen, was sie mir erwidern könnten. Und schließlich ist ja der Abstand zwischen ihrer politischen Stellung und der meinen nicht mehr erheblich. Noch einige Monate, und sie werden anfangen, die Gründe dafür zu suchen, daß sie so lange irregehen konnten … Alles, was ich sehe, höre und in der Folge selbst überprüfen kann, beweist zu meinem Staunen, daß ein Kibbuz, sobald er die Zeit der Investitionen und der Experimente gut überstanden hat, ein wirtschaftlich
gesundes und stabiles Unternehmen ist. Dies trotz des bilanzmäßig bedenklichen Umstandes, daß fast die Hälfte seiner aktiven Bevölkerung in einer nichtrentablen Weise verwandt wird, insbesondere in den Erziehungs- und Lehrinstitutionen. Gegenwärtig erweitern die alten Kibbuzim ohne Unterlaß ihre wirtschaftliche Tätigkeit, indem sie der eigentlichen Landwirtschaft handwerkliche und industrielle Betriebe hinzufügen. Auf die Dauer muß diese Entwicklung unvermeidlich ihre Struktur ändern. Unsere Gespräche drehen sich insbesondere um die neue Generation, die erste, die im Kibbuz geboren und getreu seinen pädagogischen und sozialen Idealen erzogen und geschult worden ist. Das neue Geschlecht ist wohlgeraten; die jungen Menschen lieben die Arbeit, sie haben – und das ist bemerkenswert – ein ausgeprägtes Familiengefühl, das sie aufs stärkste an ihre Eltern bindet. Dennoch enttäuschen und beunruhigen diese Jungen ihre Erzieher wegen ihres Mangels an Dynamik. Der vollkommene Einklang, in dem diese Jugend mit ihrem Familien- und Gemeinschaftsmilieu lebt, erzeugt in ihr einen Konformismus, der ebenso steril sein könnte wie die Orthodoxie der Jugend von Mea Schearim. Die Jungen der Kibbuzim haben niemals materielle Sorgen gekannt; in einem gewissen Sinne sind sie mehr verwöhnt worden als Kinder von reichen Leuten; sie haben nie einen Zwang gespürt. Besonders ausgebildete Pädagogen blieben ohne Unterlaß bemüht, ihnen alle Schwierigkeiten des Werdens aus dem Wege zu räumen, unter ihnen auch jene, zu deren
Überwindung man die Kräfte seelischer Kompensation mobilisieren muß. Da die Kibbuzim die einzige wahrhaft sozialistische Verwirklichung darstellen, die man kennt, müßte man sie, ihre erstaunlichen Erfolge und ebenso ihre bezeichnenden Mißerfolge, eingehend erforschen, ebenso wie ihre neuen Probleme und ihre Zukunftsperspektiven. Sieht es zwar unwahrscheinlich aus, daß der Kibbuz ohne weiteres anderswo nachgeahmt werden könnte, so kann man sich jedoch wohl vorstellen, daß dieser Typ im wesentlichen landwirtschaftlicher Gemeinschaft, ebenso wie das israelische kooperative Dorf (Moschav Meschutafi), eine befriedigende Lösung bestimmter Agrarprobleme ergeben könnte, die sich in Asien, Afrika und besonders in den Ländern der arabischen Völkern stellen. Eine Woche später halten wir uns im Kibbuz Uscha auf, dessen Ideologie am stärksten durch den sogenannten Volkssozialismus des Ch. V. Arlosoroff und des Hapo’el Hazair beeinflußt worden ist. Obgleich Uscha somit politisch als rechts von Mischmar Haemek anzusehen wäre, findet man in ihm nichts, was ihn von den andern Gemeinschaften unterscheiden könnte. Die beiden Kibbuzim sind kommunistisch im eigentlichen Sinne des Wortes, das heißt im Sinne der umfassendsten Lebensgemeinschaft. Was mir hier viel mehr noch als im Kibbuz des Mapam auffällt, ist das Fehlen einer festgefügten wohlbestallten Bürokratie. Welch wohltätige Abwesenheit! Welch ein Wunder in unserem Jahrhundert!
All diese Kibbuzim zusammen vereinen kaum mehr als fünf Prozent der Bevölkerung des Landes. Desungeachtet ist die beispielhafte Bedeutung dieses in individueller Freiheit und wirtschaftlicher Gleichheit gelebten Sozialismus offenbar, zumindest in den Augen all jener, die die Zukunft der Menschen beunruhigt. Und selbst wenn der Kibbuz sich nach zwei oder drei Generationen zersetzen oder auflösen sollte, was wahrscheinlich ist, würde er dennoch den Wert eines Experiments bewahren, das beweist, daß freie und zugleich fordernde Gemeinschaften möglich sind, solange sie in dem Besten im Menschen gründen. Vier Vorträge (über Literatur) und die darauffolgenden öffentlichen Diskussionen bieten mir die Gelegenheit, ein intellektuelles Publikum kennenzulernen, dessen Aufmerksamkeit nicht einen Augenblick nachläßt; es will nicht allein die leiseste Anspielung auffangen, sondern auch den Sinn oder zumindest die Tendenz einer Unterlassung erraten, besonders wenn sie dazu angetan sein könnte, eine kritische Meinung zu verhüllen. So zum Beispiel will mich der literarische Redakteur einer großen Zeitung zu dem Geständnis bringen, daß ich die moderne hebräische Literatur nicht bewundere, sondern ihr im Gegenteil vorwerfe, provinziell und in ästhetischer Hinsicht rückständig zu sein. Daß ich nicht in der Lage bin, mich über diese Literatur zu äußern, von der ich nur wenig und dies nur in Übersetzungen kenne – solche Antwort befriedigt den Journalisten keines
wegs. Er bemerkt, übrigens mit Recht, daß ich jedenfalls ästhetischen Kriterien den Vorzug gebe vor nationalen Forderungen. Ibsen war kein provinzieller Schriftsteller, noch war es Strindberg, noch Kazantzakis, noch ist es der Jugoslawe Miroslav Krleža. Daran ändert nichts, daß die genannten Dichter Söhne zahlenmäßig kleiner Nationen waren. Was die großen Länder angeht, so gehört die Mehrzahl der deutschen, englischen, französischen und amerikanischen Romane sowie fast die gesamte vom »sozialistischen Realismus« inspirierte Literatur zum provinziellen Bereich. Mag die provinzielle Literatur nationalistisch sein oder nicht, sie bleibt ihrer Berufung treu, das Inventar regionalen und sozialen Milieus, aus denen sie selbst herrührt, immer aufs neue aufzustellen. Beschränkt und zumeist realistisch, macht sie, um mit Balzac zu sprechen, dem Standesamt Konkurrenz. Diese Literatur erfindet Schicksale – gewöhnlich sind sie melodramatisch –, nur um zu beweisen, daß ein Gebirgler ein Gebirgler bleibt und daß ein Insulaner sich dem Zauber der See niemals wird entwinden können … Wir sind natürlich nicht abgeneigt zu glauben, daß ein jegliches Dorf eine Welt, aber nicht, daß die Welt nur ein Dorf sei. Hinter den scheinbar rein literarischen Debatten erhebt sich jedes Mal eine durchaus konkrete Frage: Wird die Kultur Israels israelisch sein, jüdisch, westlich? Dieses Problem steht im Zentrum meiner freundschaftlichen Gespräche in Jerusalem mit Halkin, dem Romancier
und Professor der hebräischen Literatur, mit Sadan, einem erstaunlichen Linguisten und enzyklopädischen Judaisten, mit den im Lande berühmten Schriftstellern Burla und Hazaz und mit so vielen anderen Kollegen; ich habe diese Debatte im »Haus des Schriftstellers« und im Klub »Milon« in Tel Aviv, in den Kibbuzim, den Schulen, in den Büros der Jewish Agency und in denen der Gewerkschaften fortgesetzt. Wenn Israel nicht die gesamte kulturelle Erbschaft der Judenheit antreten sollte, so würde es damit riskieren, eine levantinische Provinz des Judaismus zu werden, statt sich zu seinem Mittelpunkt zu erheben. Hüten wir uns vor falschen Analogien: Es ist für das griechische Volk unserer Tage belanglos, daß das moderne Griechenland dem antiken Hellas so wenig gleicht, indes Israel, das niemals das Vaterland des gesamten jüdischen Volkes wird werden können, ebenso universalistisch wie national sein müßte, damit der Judaismus darin seine Heimat finde. Bei einem Schallplattenhändler in Tel Aviv; wir hören uns israelische Lieder an. Als er uns den »Negev-Marsch« spielt, erlauschen wir ein Geräusch von hinter der Wand, ein mühsam unterdrücktes Schluchzen. »Das ist meine Frau«, erklärt uns der Händler, indem er die Stimme senkt. »Es ist immer das gleiche wegen des Negev. Unser Kind, unser einziger Sohn, ist im Negev gefallen.« Er führt die Gebärde nicht zu Ende, die gleichsam einen widerspenstigen Eindringling abdrängen soll; er wendet das Gesicht der Wand zu und bleibt einen Augenblick bewegungslos stehen.
Ich kenne so viele Worte, doch nicht ein einziges tröstliches Wort, das nicht sinnleer wird vor dem Schmerz einer Mutter und eines Vaters, deren Sohn sterben mußte, damit sein Volk das natürlichste aller Menschenrechte ausüben dürfe – das Recht, eine grausame Wüste in von Menschen bewohntes Land, in eine Heimat umzuwandeln. April 1958
In tiefer Bangnis … 4. Juni 1967 Seit Wochen leben wir in wachsender Besorgnis um Israel. Die arabischen Drohungen, den jüdischen Staat und seine Einwohner zu vernichten, werden immer wilder, die Vorbereitungen zu einem Churban beängstigend. Gleichzeitig ziehen sich selbst jene Großmächte, die die Existenz Israels feierlich garantiert haben, in eine neutrale Position zurück. Ich schreibe diese Zeilen heute, am 4. Juni 1967, im Schatten von Ausrottungsdrohungen, die jeden Tag lauter gegen die Israelis und ihren Staat ausgestoßen werden. Die Bitternis schmerzlicher Enttäuschungen könnte dem Schreibenden den Wunsch einflößen, in unversöhnlichem Schweigen Zuflucht zu suchen. Aber wie dürfte er je vergessen, daß niemand das Recht hat, angesichts des Unrechts zu verstummen? Wie auch immer die Ereignisse verlaufen mögen – niemand könnte es in dieser Stunde voraussagen –, so wird, was man Juden und Nichtjuden gerade jetzt zu Gehör bringen muß, wahr und gültig bleiben. *** Seit 2000 Jahren waren die Wege der Diaspora in den Augen des weit zerstreuten Volkes nur Umwege, die es
nach Eretz Israel zurückführen mußten. In ihrer gleichermaßen mystischen und alltäglich gefühlsmäßigen Bindung an jenes ferne Land und in der unerschütterlichen Gewißheit, daß die Erlösung kommen werde, haben die Juden niemals an ihrem Recht gezweifelt, eines Tages das gelobte Land wieder in Besitz zu nehmen. Ich aber, ein ungläubiger Jude, erhebe keinerlei Anspruch auf das meinen Ahnen von Gott gewährleistete Privileg und lasse nicht gelten, daß ein Volk oder ein einzelner sich auf Rechte berufen dürfte, die er in ferner Vergangenheit ausgeübt und seit Jahrtausenden verloren hat. Die Zionisten, die Gläubigen wie die Agnostiker unter ihnen, haben proklamiert, daß nur eigener Hände Arbeit die Schaffung eines jüdischen Staates ermöglichen könne und daß dessen Existenz die unabdingbare Voraussetzung für die Lösung der Judenfrage sei. Und dieses Problem, erklärten sie, betrifft alle Völker, in deren Mitte Juden je gelebt haben oder gegenwärtig leben. Gewiß, auch die Zionisten beriefen sich auf die Geschichte und auf das messianische Versprechen, nicht zuletzt, weil sie überzeugt waren, daß der Ruf zur Rückkehr nach Zion die Begeisterung und alle Energien der Juden dort erwecken würde, wo sie eine minoritäre Volksgruppe bildeten, die diskriminiert und in ihrer sozialen und ökonomischen Entwicklung behindert wurde. Im Zeichen einer wiedergefundenen Identität würde dieses trotz aller Bedrängnisse besonders lebenskräftige Diaspora-Volk sich in Bewegung setzen, um in Palästina seine alt-neue Heimat zu finden.
Ich meinerseits habe die Überzeugung der Zionisten nicht geteilt, daß ein in Palästina errichteter Staat die Judenfrage völlig und endgültig lösen könnte. Mir erscheint diese Hoffnung auch heute noch, neunzehn Jahre nach der Entstehung des Staates Israel, nicht besser begründet. Wie kann man also den Anspruch der Israeli auf die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität ihres neuen Staates begründen? Und warum ist mir, der ich nicht Zionist und überdies gegenüber jeglichem Nationalismus mißtrauisch bin, heute jeder Angriff gegen Israel ebenso unerträglich, wie es die Wiedererrichtung der Krematorien und Gaskammern von Auschwitz vor der Kathedrale Notre Dame in Paris wäre? Seit meinem zehnten Lebensjahr, als der Erste Weltkrieg mir die Augen für die furchtbare Wirklichkeit der staatlich glorifizierten Gewalttaten und für das entmenschende Elend des Volkes öffnete, seit damals bin ich außerstande, irgendeinen politischen oder sozialen Tatbestand unter einem andern Gesichtspunkt als unter dem eines universalistischen, pazifistischen Sozialismus zu betrachten. So entscheidet sich für mich die Frage, ob die Juden berechtigt sind, den israelischen Teil Palästinas als ihr eigenes Land zu betrachten, gemäß dem sozialistischen, in der Tat humanistischen Grundsatz von dem unverbrüchlichen Recht der arbeitenden und schaffenden Menschen. Die Israeli leben auf einer Erde, die sie zum größten Teil in mühseliger Arbeit selbst urbar gemacht haben. Sie mußten sie von den Effendis um ab
schreckend hohe Preise erwerben, mit dem Geld, das das jüdische Volk während langer Jahre, Pfennig um Pfennig, gesammelt hatte. In den Städteln Polens und Rußlands war es eine Steuer, die auch die Armen sich auferlegten; die blauweißen Büchsen erinnerten sie täglich daran. Hier sei auf einen wohlbekannten und beharrlich ignorierten Sachverhalt hingewiesen: Das Land Palästina, auch von Christen und Muselmanen stets als heilig gepriesen, ist seit der Vertreibung der Juden von Arabern und einer seinerzeit hauptsächlich halbnomadischen Bevölkerung lieblos vernachlässigt worden und der äußersten Verwahrlosung anheimgefallen. Durch militärische Besatzungen verwüstet, den Steinen, dem Sand der Wüste preisgegeben – das war das Schicksal dieses Landes bis zur Rückkehr der Juden. Man sagt den Arabern nach, sie wären nicht so sehr die Söhne als die Väter der Wüste; das trifft gewiß für Palästina zu. Nach den ersten aus Rußland eingewanderten zionistischen Kolonisten, die sich dort gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ansiedelten, waren es die Chaluzim, die diese Erde mit gläubigem Eifer bearbeitet und zu neuer Fruchtbarkeit erweckt haben. Mit solch selbstvergessener Hingabe und unzähmbarer Energie hätten sie in der Tat Berge versetzen können. Die Chaluzim haben das Land der tausendjährigen Verwüstung entrissen, unter ihren Pflügen haben sie eine neue Scholle entstehen lassen. Sie haben die Sümpfe ausgetrocknet, die Moskitos vernichtet und so die Malaria abgeschafft, sie haben die Erde entsteint, die Hügel und die Täler aufgeforstet.
Ähnlich wie die Holländer dürften die Israeli behaupten, daß sie die neuen Felder, die Gärten und die Wälder nicht Gott zu verdanken haben, sondern der eigenen Mühsal und ihrer Entschlossenheit, diese Erde durch KibuschAwodah, durch ihrer Hände Arbeit zu erobern. *** Ein anderer bedeutsamer Sachverhalt: Das arabische Palästina war weit weniger bevölkert und unvergleichlich ärmer, ehe die jüdische Kolonisation begann; dieser hatten die Eingeborenen Arbeit und fortgesetzte Verbesserung der Zustände in allen Bereichen zu verdanken, besonders aber im Gesundheits- und Erziehungswesen. Im Jahre 1922 lebten 600.000 Araber in Palästina, zwanzig Jähe später waren es 1.200.000. Diese rapide, ungewöhnliche Verdoppelung erklärt sich weniger durch den Geburtenzuwachs als durch die geradezu sensationelle Verminderung der Kindersterblichkeit, ebenso wie durch den Zuzug von halbnomadischen Arabern aus den haschemitischen Nachbarländern. Trotz dieser fortgesetzten Erhöhung ihres Lebensstandards begannen die Araber sehr bald, die Entstehung einer jüdischen Majorität zu befürchten. Ihre Haltung blieb in der Tat stets widerspruchsvoll: einerseits siedelten sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft der jüdischen Einwanderer an, weil sie dank diesen bedeutende Vorteile gewannen; andererseits folgten sie gelehrig den hetzerischen Schlagworten, mit denen die Effendis, die sich durch den Verkauf ihres
Bodens an die Juden bereichert hatten, die arabischen Massen unermüdlich gegen die jüdischen Nachbarn aufhetzten. Diese feudalen, aus dem Mittelalter zurückgebliebenen Parasitenstämme, die Clans der Chalidis, der Nasthstribis und der Husseinis mit dem Mufti, dem späteren Freunde Himmlers, an ihrer Spitze, waren die Begründer des palästinensischen Nationalismus. Auf sie, wie anderswo auf die Haschemiten und Sauditen, und viel mehr als auf die winzige Intelligenzschicht Syriens und Libanons, auf die Komplizenschaft all dieser rechneten die britischen Organisatoren der national-arabischen Bewegung, als es darum ging, die britische Herrschaft im Nahen und Mittleren Osten auszudehnen. Die von ihnen geschaffene politisch-militärische Agentur, das Arab Office, sollte sich später unter ihrer Ägide in die Arabische Liga verwandeln. Als die Engländer im Kriege gegen das ottomanische Reich den panarabischen Nationalismus erfanden, wußten sie genau, wozu ihnen diese Bewegung dienen sollte, aber sie wußten nicht, was der Arabismus wirklich darstellen sollte, denn es existierte keine arabische Nation, ja, sie hatte nie existiert. Und im Verlaufe der siebzig Jahre schlug jeder Versuch fehl, die Araber zu einer großen Nation innerhalb eines einzigen Staates zusammenzufassen. Dieser Mißerfolg wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkriege und aufs neue nach der Entkolonisierung, die die Entstehung unabhängiger arabischer Staaten ermöglichte, welche sich gegenwärtig vom Atlantik bis zum Persischen Golf erstrecken. Aber
die Geburt einer geeinten arabischen Nation, wie sie im Ersten Weltkrieg die Agenten des britischen Imperiums zugleich vorbereitet und verhindert haben, läßt noch immer auf sich warten, weil die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen noch immer nicht geschaffen worden sind. So ist die staatliche Vereinigung der arabischen Völker zwar denkbar, doch ist sie der Zukunft vorbehalten. Bisher ist es den Arabern nicht einmal gelungen, eine wirkliche Interessengemeinschaft zwischen den have and have-not herzustellen – zwischen den schwachbevölkerten, täglich reicher werdenden Ölländern und den übervölkerten armen Staaten. Die ständigen inneren Konflikte sowie das ungeheure Elend der arabischen Massen – das alles hat die arabischen Führer stets dazu gedrängt, in der Existenz Israels eine negative Quelle ihrer Einmütigkeit, das Schibboleth eines Nationalismus zu suchen, der bisher nicht eine einzige schöpferische Kraft hervorgebracht hat und außerstande geblieben ist, der arabischen Zwietracht ein Ende zu setzen. So haben die Araber im Bestande Israels den Vorwand für einen Haß gefunden, dank dem sie ohne Gewissensbisse ihre palästinensischen Brüder wie den Abschaum der Erde behandeln und sie in Lagern dahinvegetieren lassen können, statt ihnen in ihrer Mitte einen Platz einzuräumen. Hier muß ich eine nur scheinbar abschweifende Bemerkung einschalten. Sie betrifft die Meinung mancher Juden, daß unser Volk auf Erden sei, um die Sünden der
anderen zu sühnen, deren Schuld als von Gott erwählter Sündenbock zu büßen. Diese einerseits liebedienerisch gefällige und anderseits wehleidige Auffassung ist in meinen Augen ebenso sinnlos wie verächtlich. Wir wurden verfolgt, nicht weil es ein uns bestimmtes Schicksal so wollte, sondern weil die anderen in unserm von ihnen so häufig hervorgerufenen Unglück den Beweis dafür suchten, daß wir fluchbeladen waren, solange wir nicht die Dreieinigkeit und Jesu messianische Sendung anerkannten. Nun, wir sind nicht der Sündenbock unter den Völkern, wir haben nicht die Mission, nunmehr für den Islam als Sündenbock zu dienen oder als negativ einigender Förderer der panarabischen Einheit. Israel besteht dank seinem wahrhaft beispielhaften Aufbauwerk, dank dem seit Jahrtausenden bewährten Willen, sich selbst treu zu bleiben, und schließlich dank seiner schöpferischen Energie, die ein Volk von städtischen Handwerkern, Händlern und Intellektuellen in eine Nation von Bauern, Arbeitern und Soldaten verwandelt hat, denen der Feind in aufgezwungenen Kriegen keine andere Alternative läßt als schnell zu siegen oder zu sterben. Der delirierende Anti-Israelismus der Araber wird nicht so sehr durch das Wesen oder die Erfolge Israels bestimmt als durch die Schwierigkeit, ja Unfähigkeit der arabischen Völker, endlich eine positive nationale Politik zu praktizieren, dank der sich alle ihre Stämme und Völker zu einer modernen Staatsnation entwickeln könnten. Wie aber stehen wir zur Frage der Flüchtlinge? Zuerst sei hier wiederholt, was wir seit 1945 nicht aufgehört
haben zu sagen: Wir empfinden das Elend der palästinensischen Flüchtlinge als eine schwere Bürde. Wir bekennen, daß wir ihnen gegenüber eine Schuld abzutragen haben – und dies trotz der feindseligen Absichten, mit denen sie ihr Heim verlassen haben. Millionen Juden in der ganzen Welt wünschen, materiell dazu beizutragen, daß günstigste Bedingungen für ihre Neuansiedlung geschaffen werden. Kein materielles Opfer wäre zu groß, um ihnen eine Existenz zu ermöglichen, die so gut sein sollte wie jene, die sie im Jahre 1948 fluchtartig aufgegeben haben – so gut, womöglich jedoch weit besser. Dies schulden wir ihnen gemäß unserer Moral und ganz gewiß nicht gemäß jener, die ihre Führer und deren Komplizen praktizieren. Die Umsiedlung von Bevölkerungen – ein Unternehmen, dessen ungeheure psychologische Schwierigkeiten niemand unterschätzt – ist in unserm Jahrhundert oft genug erfolgt. Die Griechen, die seit undenklichen Zeiten in Kleinasien beheimatet waren, sind nach einem verlorenen Krieg nach Griechenland zurückgebracht worden. Die Polen jener Gebiete, die die Russen annektierten, mußten sich in Schlesien und Pommern niederlassen, deren Einwohner ihrerseits in Westdeutschland Zuflucht suchen mußten, um dort – wie viele Millionen anderer vertriebener Deutschen – eine Heimat zu finden. Neben vielen anderen Beispielen, etwa dem der Franzosen Algeriens, kommt in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Bedeutung dem Fall jener Juden zu, die seit Jahrtausenden im Nahen und Mittleren Osten lebten. Sie mußten
ihr Hab und Gut stehen lassen und in Israel Zuflucht, eine neue Heimat suchen. Ihre Zahl beträgt 450.000, das macht 75 Prozent der arabischen Palästinenser aus, die im Frühling 1948 Israel verlassen haben. Es ist nicht wahr, daß die Araber uns wegen des traurigen Schicksals dieser Flüchtlinge hassen, die sie in Konzentrationslagern eingesperrt haben, anstatt ihnen in ihren weiträumigen Staaten das Recht auf eine normale Existenz zu sichern. Diese Palästinenser, die sich damals über ausdrückliche Anordnung aller arabischen Chefs fluchtartig expatriierten, glaubten zuversichtlich, daß die Invasionsarmeen in wenigen Tagen ganz Palästina erobern würden. Sodann wollten diese Flüchtlinge heimkehren und sich all dessen bemächtigen, was die Juden dort geschaffen hatten. Und heute, neunzehn Jahre später, in dieser Stunde äußerster Bedrohung Israels, geht es genau wie damals um den entschiedenen Willen zur Ausrottung und um das heiß begehrte Erbe der Ausgerotteten. Die arabischen Staaten haben also 19 Jahre lang die endgültige Ansiedlung der Füchtlinge verhindert und deren Elend als propagandistisch wirksames Element benutzt, auch um sich ihrer Solidaritätspflicht ihnen gegenüber zu entziehen. Der Panarabismus existiert somit nur im täglich neu geschürten Haß gegen Israel, aber nicht in der Naturalisierung der Palästinenser und ihrer freien Existenz innerhalb dieser Staaten.
5. Juni 1967 Ich wollte meine Ausführungen fortsetzen und erklären, warum der Nassersche Nationalismus zum Faschismus führen mußte. Ich wollte überdies die Verblendetheit einer gewissen extrem linksgesinnten Jugend anprangern, die, infolge ihrer maßlosen Verwöhnung in dieser seit langen Jahren prosperierenden industriellen Gesellschaft völlig verworren, die Modelle des Sozialismus in nationalistischen, faschistischen oder halb-faschistischen Diktaturen gefunden zu haben glaubt. Ich hatte vor, den bis zur Karikatur verkehrten Sozialismus dieser von allen Abwegen verlockten Ultralinken zu analysieren und sodann aufzuzeigen, welch ungewöhnliche Bedeutung Israel für seine Nachbarländer erlangen könnte, wenn diese das Beispiel nachahmen wollten, das der jüdische Staat auf dem Gebiete der Landwirtschaft in den kooperativen Dörfern und in den Kibbuzim zustande bringt. Diese sind bisher die einzige gesellschaftliche Errungenschaft, in der der wahre Kommunismus praktiziert wird und wo die Freiheit der Person unangetastet bleibt. Israel, das ist wahr, ist nicht wehrlos wie jene Millionen Juden, die Hitler zum Opfer fielen. In den Tagen, die da kommen, ist der ganzen Welt die einzigartige Gelegenheit geboten, ihre tätige Solidarität mit Israel zu beweisen und sich dadurch wenigstens teilweise von der Schuld der komplizenhaften Gleichgültigkeit zu befreien, die sie in den Jahren der Erpressung überall auf sich geladen hat. Ja, über all dieses und vieles andere wollte ich sprechen. Ich werde es nicht tun. Ich schreibe mit einem kleinen
Transistor auf dem Schreibtisch, der Nachrichten von dem Krieg bringt, den Israel gewinnen muß, um seine Existenz zu retten. Zwischendurch muß ich den betäubenden Lärm der dümmsten Schlager ertragen. In diesen Tagen, in diesen Stunden des 5. Juni 1967 spürt man eine ungewöhnliche Bewegung aus der Nähe und der Ferne: Das jüdische Volk identifiziert sich wie nie vorher mit diesem winzigen Staat, der eingekreist, von allen Seiten bedroht wird und vielleicht wieder allein bleiben muß. Allein, wie die letzten Kämpfer in den brennenden Häusern des Warschauer Ghettos. Ich denke an ein chinesisches Wort, das Andre Malraux während des Krieges gegen Hitler oft zitiert hat: »Möge der Sieg jenen zufallen, die den Krieg am meisten hassen.«
Dritter Teil
Schicksal einer Literatur I Die Juden haben insgesamt wohl kaum mehr als 1000 Jahre in Kanaan gelebt und etwa zwei Jahrtausende fern vom gelobten Lande. Ihr Gott – unendlich, daher bewegungslos im Raum und ewiger Bewirker in der Zeit – gewährte ihnen zwar die Dauer, aber versagte ihnen den versprochenen Raum. Man weiß, daß das Hebräische ihre Sprache und die der Bibel war, aber daß es, selbst in ihrer Heimat, nicht immer ihre Umgangssprache gewesen ist. Aramäisch, seinerzeit die lingua franca des Nahen und Mittleren Ostens, war in der Epoche des zweiten Tempels ihre Sprache im Alltag. Die hebräische Schrift ist halbesoterisch, da ihr Buchstaben für Vokale fehlen. Dieser Umstand erschwerte das Lesen dem Am-haaretz, dem Landvolk, das sich auch deshalb seiner Unterlegenheit gegenüber dem Am-ha
sefer, dem »Volk des Buches«, den Lesern, stets bewußt blieb. Die sakrale Sprache, die die Elite schrieb und las, überlebte die Jahrtausende in Mesopotamien und im persischen Reich nach dem ersten Exil, und später dank jenen, die nach den Siegen der Kaiser Titus und Hadrian in anderen Mittelmeerländern Fuß faßten, aber ihrem Gotte treu blieben. Sofern die Nachkommen der Heimkehrer aus dem babylonischen Exil sich überhaupt für weltliche Literatur interessierten, wandten sie sich vor allem dem Schrifttum der Griechen und Römer zu. Auch das Theater, obschon von den Priestern verabscheut, fand unter den Juden nicht nur begeisterte Zuschauer, sondern auch Darsteller; einige von ihnen gehörten zu den berühmtesten Schauspielern jener Zeit. »Der Krieg der Juden«, die umfassendste weltliche Chronik jener Epoche, wurde von Josephus Flavius, einem Überlebenden der vernichtenden Niederlage des Jahres 70, in aramäischer Sprache verfaßt, doch fand sie eine Leserschaft erst in ihrer griechischen und lateinischen Fassung. Ein weit bedeutenderer Autor war der etwa 20 Jahre vor Christo geborene Philon von Alexandrien. Dieser fruchtbare Philosoph und geniale Übersetzer der Bibel war nicht der einzige unter den jüdischen Schriftstellern jener Zeit, die griechisch beziehungsweise lateinisch schrieben. Die meisten von ihnen assimilierten sich, wurden Heiden oder Christen. Hebräisch aber blieb überall die religiöse, ja heilige Sprache, selbst in der Zeit, da die arabische Sprache in
ihrem Siegeszug über Nordafrika bis nach Spanien vordrang. Das Volk der Diaspora stand unter dem Zwang der Zweisprachigkeit. Es lernte lesen, denn sein einziger Gottesdienst bestand nach der Zerstörung des Tempels im Beten – so verschwand das Analphabetentum unter den Juden, eben weil sie heimatlos waren. Anderseits mußten sie die Sprache des Exillandes sprechen, denn während vieler Jahrhunderte nahmen sie, selten behindert, am gesellschaftlichen und geistigen Leben des Wirtsvolkes teil, auch wenn ihr Glaube eine unüberschreitbare Grenze blieb.
II Jiddisch wurde erst gesprochen, als die Diskriminierung der Juden in den deutschsprachigen Ländern immer allgemeiner und grausamer wurde, als radikal entrechtende, äußerst demütigende Maßnahmen die Juden von den Nichtjuden absonderten. Um Würde zu bewahren, bauten die Opfer ihrerseits gleichsam innere Zäune und Mauern, die sie von ihren Bedrückern trennen sollten. So wurde das Jiddische eine Umgangssprache, die in Grammatik und Vokabeln dem Deutschen immer unähnlicher wurde. Im Elsaß und in Lothringen, im Rheinland wie in den schwäbischen und alemannischen Gebieten, aber auch in Norditalien schufen sie so ein Idiom, das man philologisch im Hinblick auf die Vermischung hetero
gener Sprachelemente am ehesten mit dem Englischen vergleichen könnte. Der ursprünglich rein germanischen Sprache pfropfte man hebräische Elemente auf, denen sich später slawische hinzufügten: polnische, ukrainische und russische. Jiddisch blieb in deutschen Landen ein Idiom und wurde erst später in slawischen Ländern eine Sprache. Dies geschah, als König Kasimir der Große die europäische Judenheit rettete, indem er ihr großzügig die Grenzen seines Königreichs öffnete. In Polen geschah es damals, daß die Juden nicht nur eine Glaubensgemeinschaft bildeten, sondern zu einem Volke wurden, dessen Schrift- und Umgangssprache Jiddisch war. Nur im spärlichen Verkehr mit der Landbevölkerung und dem Adel mußte man die Landessprache sprechen. Das rabbinische Schrifttum blieb nach wie vor hebräisch und gewann mit der Zeit eine unvergleichliche Bedeutung, aber auch die Zahl der jiddischen Werke stieg fortgesetzt an. Neben der italienischen Literatur war die jiddische zweifellos eine der ersten weltlichen Literaturen, die in Europa in der Abenddämmerung des Mittelalters entstanden. Damals erschienen in jiddischer Sprache Anthologien von Gedichten, Episoden romancierter Geschichte, überdies ein Werk von geringer literarischer, aber um so größerer philologischer Bedeutung: Bove d’Antona, dessen Autor, der Venezianer Elia Levita, als Grammatiker und Übersetzer unter dem Namen Elijahu Bocher berühmt wurde. Diese im Jahre 1507 abgeschlossene Epopöe wurde damals auch in Paris und in Wien veröffentlicht.
Es verging aber kaum ein Jahrhundert, ehe diese »weltliche« Literatur einem religiösen Schrifttum den Platz räumen mußte, das im wesentlichen aus Ansprachen, Strafpredigten und Büchern zusammengesetzt war, die sich insbesondere an Frauen wandten. Um diese zu erbauen, übersetzte man Gebete, Erzählungen, Parabeln und Kommentare der Geschichte ins Jiddische. Der Titel des berühmtesten dieser Bücher für Frauen, das auch jetzt noch von Zeit zu Zeit gedruckt wird, trägt einen hebräischen Titel »Zienu weirenu« – »Laßt uns hinausgehen und schauen«. Jiddische Theaterstücke wurden anläßlich jährlich wiederkehrender Feste aufgeführt. So weit die Anfänge der jiddischen Literatur auch zurückreichen mögen, so wurde sie jedoch erst sehr spät selbständig – erst als die tyrannisch fordernde, drückende Frömmigkeit sich unter dem Gegendruck der Aufklärung zu mäßigen begann. Wo geschah dies? Keineswegs in den Ghettos, die hat es in Osteuropa bis zum Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Somit bildete nicht das Ghetto, sondern das Städtel die typische ostjüdische Gemeinde, deren Einwohner sich keineswegs als eine ausgestoßene, abgesonderte Minderheit betrachteten. Sie bewahrten ja die absolute Mehrheit in ihrem Wohnort und formten ihre Lebensweise nach ihrem eigenen Gutdünken und stets in unfehlbarer Treue zu ihrem Glauben und dessen Geboten. Sofern sie sich mit ihren christlichen Mitbürgern verglichen, die hauptsächlich Bauern und Kleinbürger waren, empfanden sie die eigene kulturelle Überlegenheit, die in der Tat unbestreitbar war. Das er
klärt, warum ihre Literatur, trotz der Diskriminierung, die sie im Zarenreich erfuhren, nicht so sehr die oft erlittene Erniedrigung widerspiegelt, sondern die ungewöhnliche geistige, aber auch physische Vitalität und Intensität ihres Wesens sowie ihre nach jeder Katastophe wiedergefundene Zuversicht. Sie wünschten nicht, Russen oder Polen zu werden, sondern nur sie selbst zu bleiben. Vom Minderwertigkeitsgefühl, das die Juden der Ghettos oder deren Nachkommen heimgesucht hat, blieben sie verschont. Wenn die Bibel den einzigartigen, stets gegenwärtigen Anfang des jüdischen Schrifttums bezeichnete – wie konnte man aufrecht bleiben unter der Last eines solchen Erbes? Man ermißt die Kühnheit des geistigen Wagnisses, welches die Väter der beiden weltlichen jüdischen Literaturen vor etwa 120 Jahren unternahmen, als sie sich entschlossen, nicht mehr im blendenden Lichte der Bibel und des Talmuds, sondern in beider Schatten zu schreiben. Die hebräischen Dichter und Essayisten schöpften zuerst in der Aufklärung und dann im zionistischen oder im sozialistischen Enthusiasmus den Mut zur rebellischen Verweltlichung und suchten später im alten, verjüngten Kanaan eine Heimat für die sakrale Sprache, die sie nach Jahrtausenden in eine profan-literarische und in eine Umgangssprache verwandelten. Der ungewöhnliche Reichtum des Hebräischen ist durch zahlreiche Stratifikationen, das Ergebnis vieler sprachschöpferischer Generationen, bestimmt, die auch in den nachbiblischen Jahrtausenden seit dem babyloni
schen Exil fast in allen Ländern der zweiten Diaspora das hebräische Schrifttum fortgesetzt haben. Solch ein Erbe eröffnet unabsehbare Möglichkeiten, doch ist es nicht sicher, daß die junge israelische Nation imstande sein wird, es sich in vollem Maße anzueignen, und daß sie fähig sein wird, es zu vermehren. Jedenfalls wird ihre Literatur nur die eines kleinen Volkes sein, dem allerdings Sternstunden beschieden sein können. Als nationale Literatur Israels wird sie ausschließlich hebräisch sein und sich sozusagen normalisieren, das heißt, sich an eine sprachlich und geographisch begrenzte Leserschaft wenden und sich im Einklang mit deren Schicksal entwickeln.
III Als der junge hebräische Schriftsteller Scholem Jakob Abramowitsch im Jahre 1864 beschloß, seinen ersten Roman auf jiddisch zu schreiben, zeichnete er damit den Geburtsakt einer Literatur, deren Sprache er zwar beherrschte, aber wie die meisten Aufklärer seiner Generation geringschätzig nur als Jargon gelten ließ. Nun wollte er sich an das Volk wenden, das zwar hebräisch betete, aber nur jiddisch sprach. Vorerst aber sollte es geheim bleiben, deshalb versteckte er sich hinter einem Decknamen: Mendele Mocher Sforim – Mendele Buchändler, denn wer jiddisch schrieb, genoß bei den maßgebenden Schichten der jüdischen Bevölkerung kein Ansehen.
Neunzehn Jahre später ahmte Schalom Rabinowitsch Mendeles Beispiel nach, doch auch er verheimlichte es und wählte als Pseudonym den alltäglichen Gruß »Scholem Alejchem«. In ihren Romanen, Erzählungen, Novellen, Monologen und Lustspielen haben diese beiden Autoren eine Art von Inventar aufgestellt, aufgrund dessen man die sonderbare tragisch-komische Existenz der in kleinen Agglomerationen eng zusammengepferchten, zumeist bettelarmen jüdischen Bevölkerung in den westlichen Randgebieten des Zarenreiches – in den Städtchen Polens, Weißrußlands, der Ukraine und der baltischen Ländern – kennenlernt. Die Leser, Einwohner dieser Städtel, entdeckten, daß Mendele sie und ihre Lebensweise in seinen Büchern hämisch entstellte und daß er sie so erbarmungslos kritisierte, als ob sie am eigenen Elend Schuld trügen. Scholem Alejchem seinerseits machte sie zwar auch lächerlich, aber er verhehlte nicht, wie sehr ihn ihr Schicksal und ihre Manier zu leben anging. Er lachte über diese Kleinstädter, aber ohne Hohn, man spürte sein Mitleid, er stellte ihre Fehler bloß, aber er verurteilte sie nicht. Man respektierte Mendele, man liebte Scholem Alejchem und bewunderte Jizchok Leib Perez, der als junger Sozialist aus Liebe zu seinem Volke jiddisch für die Massen schrieb. Jiddisch war allerdings auch die Sprache der Chassidim, die ihr bis heute treu geblieben sind und sie für ihre Bibel- und Talmudstudien und all ihre gelehrten Dispute benutzen. Jiddisch waren seit jeher ihre Erzählungen und Legenden, deren berühmteste, die des Rabbi Nachman
von Bratzlav, noch heute mündlich und schriftlich verbreitet werden. Aber Jizchok Leib Perez war der erste, der auch den nichtjüdischen Lesern Sein und Sinn des Chassidismus entdeckte und die besondere Lebensart seiner Anhänger beschrieb. Überdies gelang es ihm besser als so vielen seiner Vorläufer, den scheinbar paradoxen, universellen Chrakter des weltlichen Judaismus faßbar zu machen. So verschränkt sich in seinem Werk das poetische Element des messianistisch zuversichtlichen Chassidismus mit der sozialen Empörung der durch ihre Armut gedemütigten, verzweifelten Kreatur. Das unendlich empfindsame Wesen dieses Dichters öffnete sich gleichermaßen der Mystik und der tätigen Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit für alle. Der große Aufstieg der jiddischen Literatur beginnt etwa 20 Jahre vor dem Ende des 19. Jahrhunderts – gerade als alle Hoffnungen auf eine unmittelbar bevorstehende Verbesserung der Lebensbedingungen der Juden Rußlands grausam zerstört werden. Trotz und noch mehr wegen dieser bis zur Aussichtslosigkeit verschlimmerten Lage verstärkt sich die geistige Vitalität der Verfolgten zusehends; sie verleiht der jiddischen Literatur einen unwiderstehlichen Elan. Gleichzeitig tritt ein völlig unerwartetes Wunder ein: die bildenden Künste, die bis dahin im jüdischen Städtel nur in Ansätzen existierten, treten zum ersten Mal in Erscheinung: Söhne von kleinen Handwerkern, Händlern und Maklern entdecken die Malerei – einige von ihnen werden die Welt in Erstaunen
versetzen. Um jene Zeit entstehen auch jiddische Volksschulen, kulturelle Vereinigungen aller Art, ideologische und politische Bewegungen, Tageszeitungen und Zeitschriften und zahllose Leihbibliotheken. Die jiddische Literatur und das Theater entwickeln sich fieberhaft, eben in dem Maße, in dem das in seiner Mehrzahl gläubige Volk den Weg zur Emanzipation einschlägt: den des Zionismus, den des Sozialismus, besonders des Bundismus, der auf der Überzeugung beruht, daß die Emanzipation der Juden nur im Gefolge der Befreiung der Arbeiterklasse überall in der Welt erfolgen kann. Immer deutlicher widerspiegelt die jiddische Literatur zwischen 1880 und dem Ende des Ersten Weltkrieges diese politische, nationale und soziale Bewußtwerdung, die das Judentum besonders in Rußland allmählich verwandelt, verweltlicht hat. Aber auch in den Vereinigten Staaten tauchen unter den proletarischen jüdischen Emigranten revolutionäre Poeten auf, die fast ausnahmslos in ihrer Muttersprache die bittere Enttäuschung über das mühselige Dasein des Proletariats in der Neuen Welt beklagen und gleichzeitig die Revolution besingen, ihren unaufhaltsam herannahenden Sieg und das beglückende Neubeginnen einer sozialistischen Welt. Noch heute erschüttern uns die Lieder eines David Edelstatt und eines Morris Rosenfeld, dieser Dichter des neuen jüdischen Proletariats der Eastside von New York. Perez starb im Jahre 1915, Scholem Alejchem 1916 und Mendele ein Jahr danach, im Frühling der Revolution, die den Zaren stürzte und sein Reich in eine demokratische
Republik verwandelte, die den Juden die unbeschränkte Gleichberechtigung garantierte.
IV Schalom Asch (1880–1957), David Bergelson (1884–1952), Joseph Opatoshu (1887–1954) und Zalmen Schnéür (1887–1951), diese vier Romanciers dürfen als die legitimen Nachfolger der drei Begründer der jiddischen Literatur gelten. Ihre Werke, die epischen so gut wie die dramatischen, haben den Bereich der jiddischen Sprache bedeutend erweitert. Keiner von ihnen konnte oder wollte das Städtel vergessen, nicht seinen Glaubenseifer, seine erdrückende Armut und nicht die Lockung seiner Träume und Hoffnungen. Doch haben diese Dichter und alle, die nach ihnen kamen, dieser Literatur das Tor zur Welt geöffnet und ihren Lesern neue Kontinente entdeckt. In den Werken dieser Schriftsteller treten Nichtjuden nicht mehr als fremdartige, episodische Figuren auf, sondern als Weggenossen, als Nachbarn, als Freunde und Geliebte. Zwischen dieser Generation und der nachfolgenden stand I. J. Singer, dessen Romane in ihrer dramatisierten Fassung eine Zeitlang das amerikanisch-jüdische Theater beherrschten. Indes wurde sein jüngerer Bruder Baschevis Singer viel berühmter; er gehört zur Generation, die im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zur Welt kam und unter anderem den hervorragenden Erzähler E.
M. Fuchs, den poetischen Prosaisten Chaim Grade und schließlich Mendel Mann hervorgebracht hat, dessen Trilogie Vor den Toren Moskaus, An der Weichsel und Der Fall von Berlin die zweifellos stärkste Gestaltung der Kriegserlebnisse im jiddischen Roman darstellt. Diese Schriftsteller und jene, die ihnen folgten, kannten die Weltliteratur, waren von ihr beeinflußt und wollten zu ihr gehören. Sie hatten sich auch zumeist vom Städtel entfernt, lebten in Großstädten und richteten sich nicht mehr an die »Luftmenschen«, sondern an die Intellektuellen und an das neue jüdische Proletariat. Der Sozialismus zog sie an, gleichviel, ob sie die Lösung der Judenfrage vom Zionismus erwarteten oder von der proletarischen Revolution. Man weiß, daß zwischen den beiden Weltkriegen das jiddische Theater in der ganzen Welt ein ganz ungewöhnliches Ansehen errang. Dies geschah besonders dank der Wilnaer Truppe und dem Moskauer jiddischen Künstlertheater, dem Kaminski-Theater von Warschau und dem von Morris Schwarz in New York. Doch am stärksten wird die jiddische Literatur jener Zeit gekennzeichnet durch den steilen Aufstieg einer neuen Generation von Poeten, deren Werke der großen Dichtung unseres Jahrhunderts angehören. In Amerika traten an die Stelle der miserabilistischrevolutionären Sänger die Poeten M. L. Halpern, Manjy Leib, H. Leivik, Jacob Glatstein, Aron Zeitlin – um nur einige von ihnen zu nennen. Im wiedererstandenen Polen, wo die Juden eine kulturelle Autonomie genossen
und über Schulen hebräischer und jiddischer Unterrichtssprache verfügten, konnte die neue Generation von Schriftstellern mit einer schnell heranwachsenden Leserschaft rechnen, die die jiddische Sprache auf die gleiche Stufe wie die jeder anderen Sprache stellen würde. Um die Zeitschrift Chaliastre – die »Bande« – scharten sich die begabtesten jungen Dichter. Die meisten sind zusammen mit ihren Lesern im Churban umgekommen. Einer der bedeutendsten unter den Überlebenden ist Uri Zwi Grünberg, der sich recht früh in Palästina niedergelassen hat. Seither schreibt er hebräisch und nur selten jiddisch.
V Ebenso wie Polen hatte die Sowjetunion der kulturellen Tätigkeit in jiddischer Sprache eine weitgehende Autonomie zugestanden. Schulen, Verlagshäuser, Zeitungen und Zeitschriften sowie Theatertruppen förderten die Entwicklung dieser Sprache und verbesserten erheblich die Existenzbedingungen jiddischer Schriftsteller. Diese hatten eine Revolution und zahllose Konterrevolutionen überlebt, waren Zeugen und Frontkämpfer eines langen Bürgerkrieges gewesen; sie waren Zeugen von Progromen geworden, die ebenso mörderisch waren die die zaristischen. Nun nahmen sie tätigen Anteil am Aufbau des Sozialismus und an der radikalen Veränderung des russischen Judentums. Perez Markisch, David Hofstein,
Leib Kwitko und Itzik Pfeffer waren die berühmtesten unter diesen Dichtern. Sie waren von vielen jüngeren Schriftstellern und Journalisten umgeben, denen sich Poeten wie Mosche Kulback und Izi Charik zugesellten, die aus Polen und den baltischen Staaten nach Rußland gekommen waren, um dort eine sozialistische Heimat zu finden. Sie alle bildeten jene Elite, die den Charakter einer Literatur bestimmt und ihre Zukunft sichert. Viele jüdische Intellektuelle, zumeist alte Kommunisten, fielen zwischen 1934 und 1938 den Stalinschen »Säuberungen« zum Opfer, doch setzte die schlimmste Verfolgung gegen die Juden und ihre kulturellen Institute im Jahre 1948 ein: In den letzten Stunden einer herbstlichen Nacht jenes Jahres unternahm die NKWD eine weit ausgebreitete Aktion – sie liquidierte alle Organisationen, Institute, Schulen, Druckereien, Verlagshäuser, Zeitungen und Theater. Knapp bevor der Tag heraufdämmerte, hörten sie alle auf, zu existieren. Die Lehrer, Schriftsteller und Journalisten, die meisten Schauspieler und Mitarbeiter kultureller jüdischer Anstalten wurden verhaftet. Das geschah in Rußland, in der Ukraine, in Weißrußland, in den baltischen Staaten, in dem annektierten Teil Ostpolens. Das spielte sich im Herzen großer Städte, jedoch wie in der Friedhofsstille von Dörfern ab, deren Einwohner vor dem Feind und der Pest geflohen sind. Etwa vierzig dieser Schriftsteller kamen vor 1953 in den Gulags von Kolyma, Workuta und Karaganda um. Vierundzwanzig Dichter aber, unter ihnen David Bergelson und Perez Markisch, wurden aus den Lagern
nach Moskau zurückgebracht und dort am 12. August 1952 erschossen. Nichtkommunistische oder gar oppositionelle Schriftsteller waren schon vorher, vor dem Zweiten Weltkrieg »liquidiert« worden, während sich die meisten dieser vierundzwanzig Opfer genauso wie ihre russischen Kollegen allen Weisungen des Regimes unterworfen, »den größten Menschen aller Zeiten und aller Länder« vergöttert und die »Vernichtung von Verrätern und Konterrevolutionären« bejubelt hatten, wann immer es geboten war. Wie alle anderen, hatten sie selbst ihre Brüder und Freunde verraten, sooft die Treue zur Partei dies erforderte. Doch ein Verrat wollte ihnen nicht gelingen: sie blieben unfähig, ihre Sprache zu verraten, ihre Dichtung zu verleugnen und ihre Wehklage um das ermordete Volk. Deshalb mußten sie sterben. Indem Hitler sechs Millionen Juden Ost- und Mitteleuropas ausrotten ließ, brachte er die jiddische Literatur um ihre Leser. Dieses Werk vollendete Stalin, indem er ihre Schöpfer zu Tode brachte. Dieser kulturelle Genozid ist ohne Beispiel in der Geschichte der Weltliteratur, ohne Beispiel selbst in der Geschichte des jüdischen Martyriums. Und dennoch … Die seinerzeit in den Städteln, die es nicht mehr gibt und niemals mehr geben wird, geborene Dichtung lebt noch immer, sie lebt wieder. Und nicht nur um die letzte Botschaft vom Churban zu überbringen, ist sie aus der Asche wiederauferstanden, und nicht nur um das Unheil zu beklagen und gewiß nicht um einer mitschuldigen Welt Trost über ihr eigenes Versagen zu
spenden. Die jiddischen Dichter schreiben, um zu beweisen, daß das Leben unbesiegbar und eine tausendjährige Treue ein zureichender Daseinsgrund ist. Jedes Gedicht, das von einem, dem Churban Entronnenen geschrieben wird, etwa von Abraham Sutzkewer aus Wilna, von Leivik, von Glatstein oder Itzik Manger, stellt einen Triumph dar – einen unsäglich schmerzlichen Triumph über alle Auschwitze, über alle Henker und ihre Komplizen.
Scholem Alejchem Sechzig Jahre nach seinem Tode wird Scholem Alejchem von jedem seiner jüdischen Leser noch immer so geliebt, als gehörte der Dichter gerade ihm, als hätte er für ihn persönlich geschrieben. Es genügt, seinen Namen zu nennen, um auf den Lippen selbst der Wehmütigen ein Lächeln hervorzulocken. Sooft ein guter Schauspieler Monologe von Scholem Alejchem, seine Erzählungen oder seine kleinen komischen Szenen vorträgt, lachen die Zuhörer unbändig; sie entdecken erst nachher, daß sie ihre Tränen nicht nur gelacht, sondern auch geweint haben. »Scholem Alejchem bringt den Leser dazu, mit einem Augen zu lachen und mit dem andern zu weinen«, dieses Wort ist schon zu Beginn seiner Karriere ein Klischee geworden. Ich hörte es zum ersten Mal, noch ehe ich fünf Jahre alt war. Damals erhielten wir in mehr oder minder regelmäßigen Abständen die einzelnen Bände der Gesamtausgabe von Scholem Alejchems Werken zugesandt. Die Freunde unserer Familie versammelten sich dann am Abend, mein Vater und mein Onkel lasen die noch unbekannten Teile aus dem neuen Bande vor. Das Kind hörte den geliebten Stimmen der Vorleser zu, ohne je zu ermüden, und gewiß lachte es mit allen anderen mit, sooft der Autor die Komik durch häufige Wiederholungen bestimmter drolliger Worte seiner Helden unterstrich.
Man sagte damals, der so beliebte Schriftsteller wäre gefährlich krank. Man mußte ihm helfen, ihm einen Kuraufenthalt in Italien und in der Schweiz bezahlen und für den Unterhalt seiner vielköpfigen Familie sorgen. Es verging einem auch das Lachen, wenn man seine Photos ansah: er sah klein und schmächtig aus; die Wangen des runzligen Gesichts wurden von den Locken verdeckt, jener Haartracht, die damals gleichsam als ein Kennzeichen des in seiner finsteren Provinz verkannten Künstlers erscheinen mochte; die Mitte des Photos bedeckte ein riesiges Plastron, das die schwache Brust zu erdrücken schien; nur die Augen des Schriftstellers zogen einen an, doch mußte man sie hinter den altmodischen Brillen erst entdecken. »Schwer zu sein ein Jude« – so hieß eines seiner Stücke. Und noch schwerer, ein jüdischer Schriftsteller zu sein. Dies mußte man am Ende einer solchen Vorlesung denken, sobald das Gelächter verstummt war. Ein jeder schickte sich sodann an, seine Pflicht zu tun – man sammelte für den kranken Dichter. Das geschah damals überall, man wollte ihm eine materiell sorglose Existenz sichern und brachte zu diesem Zwecke auch seine gesammelten Werke heraus. Der Erste Weltkrieg hat diesen Abenden in unserem Hause – wie soviel anderm auch – ein Ende gesetzt. Die auseinandergetriebenen Freunde sollten nie mehr zusammenkommen. Mit großer Verspätung erfuhren wir, daß der geliebte Dichter verblichen war. Während der Tage und Nächte seiner langen Agonie irrten wir
zusammen mit Tausenden unseresgleichen auf unsicheren Pfaden: wir flüchteten vor den Kosaken in die Berge. Es war damals unsere vierte und letzte Flucht. Wir sind niemals mehr ins Städtchen zurückgekehrt. In den Nächten jener endlosen Wanderung hörte meine Kindheit auf. Zu früh wurde sie Erinnerung, sie, das Städtchen, die weißen Tauben auf dem Dach der alten Synagoge und die hellen Augen Scholem Alejchems, die die Kosaken bei ihrem ersten Einbruch in unser Haus mit der Bajonettspitze geblendet hatten – wie sie die Augen auf allen erreichbaren Photos und Gravüren ausgestochen hatten. Seither habe ich recht oft die unzähligen Bilder des größten jüdischen Humoristen betrachtet, seine geblendeten Augen blicken mich an, sooft ich an ihn denke. Diese Augen lachen nicht.
Scholem Rabinowitsch wurde am 2. März (oder nach russischem Kalender am 18. Februar) 1859 in Perejaslawl geboren, doch verbrachte er seine Kindheit nicht dort, in der wolhynischen Ukraine, sondern in dem jüdischen Städtchen Woronko. Man nannte ihn Scholem Nachum-Wewiks, denn sein Vater Nachum war der Sohn des Wewik. Mütterlicherseits war sein Großvater der fanatische Chassid Mojsche Jossei aus Buguslaw. An manchen Festtagen sah man den alten Mann in den Straßen tanzen, man hörte ihn dabei singen:
Moses fand in der Thora seine Freude Lamteridon hajda Seid glücklich, freut euch mit der Thora Mit der Thora unseres Lehrers Moses. Lamteridon don, don, hajda. Doch der Vater Nachum Rabinowitsch, der gemäß seiner Familientradition ein Anhänger des Wunderrabbis von Talna hätte sein müssen, wurde ein Eiferer der Haskala, der verspäteten Aufklärungsbewegung, die aus Deutschland kam und in den jüdischen Städtchen die jungen Geister in Aufruhr brachte. Er war ein schwacher Charakter, die Mutter Scholems beherrschte ihn schrankenlos. Nach ihrem Tode tyrannisierte ihn seine zweite Frau, die als Stiefmutter in fast allen Erzählungen Scholem Alejchems wiederkehrt. Als der Vater von seinem Teilhaber betrogen und schließlich völlig ruiniert worden war, mußte er in seine Heimatstadt Perejaslawl zurückkehren. Nichts sollte ihm mehr im Leben gelingen außer der Erzeugung von Nachkommen. Er setzte mehr als ein Dutzend Kinder in die Welt. Der kleine Scholem liebte seinen Vater und fürchtete seine Stiefmutter, aber nur in der Freundschaft zu einem Spielkameraden, dem Waisenknaben Schmulik, entdeckte er das Glück des grenzenlosen Vertrauens. Die beiden Kinder verband eine Hoffnung, die einer einzigartigen Liebe glich. Denn Schmulik lebte in einer Welt, die ihm allein gehörte und die er nur dem kleinen Scholem offenbarte. Das Waisenkind war ein leidenschaftlicher
Erzähler: keine seiner Geschichten endete, ehe sie eine andere gebar. Schmulik wußte alles ganz genau, bis in die letzte Einzelheit. Er kannte ein Geheimnis: das der kabbalistischen Zaubermittel, dank denen der unter einem Hügel vergrabene Schatz gehoben werden konnte. Schmulik wußte auch, wie und wo die zwei Zaubersteine zu entdecken waren. Mit ihnen mußte es ein leichtes sein, die Erde in ein Paradies umzuwandeln, in ein Paradies für jene, die die beiden Kinder liebten. Und all das nahte heran. Die Freunde brauchten nicht mehr lange zu warten, nur noch einige Jahre … Doch eines Tages starb der alte Rabbi, der das Waisenkind zu sich genommen hatte; seine Witwe verließ zusammen mit Schmulik Woronko. Die zwei Freunde sollten einander nie wiedersehen. Während Scholem Alejchem, kurz vor seinem Tode, an dem ersten Band seiner Autobiographie arbeitet, sucht er vergeblich die tiefe Erschütterung zu dämpfen, die die Erinnerung an diesen Freund immer aufs neue in ihm hervorruft. Wieder fühlt er die Nähe jenes seltsamen Knaben, der ihn so oft über die Grenzen der Wirklichkeit ins Zauberreich der guten Träume zu führen pflegte. Aus dem fertigen Manuskript seines Lebensberichtes streicht der Dichter die Zeilen weg, in denen von dem ewig feuchten Kopfgrind Schmuliks die Rede ist. Er fürchtet, den Gefährten seiner Kindheit zu verletzen, der vielleicht noch am Leben ist. Gewiß, die Waisenkinder sind die bevorzugten Helden zahlreicher Erzählungen und einiger großer Romane
– besonders des letzten Jahrhunderts. Aber es ist überaus wahrscheinlich, daß die bedrängende Häufigkeit, mit der das Waisenmotiv im gesamten Werke Scholem Alejchems wiederkehrt, auf den kleinen Schmulik zurückzuführen ist und auf seine Geschichten, die ein Leben lang die Einbildungskraft seines Freundes genährt haben. Hinzu kommt natürlich auch, daß Scholem selbst im Alter von 13 Jahren mutterlos und bald darauf das Opfer einer Stiefmutter wurde, die den Mund nicht öffnen konnte, ohne üble Flüche gegen die Stiefkinder hervorzustoßen. Im täglichen Abwehrkampfe gegen das Elend und gegen die Stiefmutter entdeckt Scholem seine wirksamste Waffe: seinen Spürsinn für das Komische, dank dem er die lächerlichen, grotesken oder bizarren Züge bei all denen enthüllt, in deren Mitte er lebt. Das Kind liebte es, die Leute parodierend nachzuahmen, sie in Wort und Gebärde lächerlich zu machen. Man bestrafte ihn, damit er solch frivoles Tun aufgebe, das eines Jungen unwürdig war, der vor allem in den heiligen Schriften die Rechtfertigung seines Seins suchen sollte. Vergebens! Die gleichen Gaben, unter ihnen besonders das ungewöhnliche Gedächtnis, die ihn zu einem Wunderknaben machten, befähigten ihn, das Städtchen und seine Bewohner völlig zu durchschauen und die Komödie zu enthüllen, die der fortgesetzte Widerspruch zwischen Sein, Schein und übertriebenem Ausdruck der Gefühle erzeugt. Das sehr empfindliche Kind litt unter den zu strengen Anforderungen, die man damals an seinesgleichen stellte. Er fühlte sich ununterbrochen beleidigt durch die Härte
seiner Lehrer und gleichzeitig von Gott bedroht, der es keineswegs dulden würde, daß da ein kleiner Bub die gar zu langen Gebete abkürze, nur um die seltenen Minuten der Muße zu vermehren. Solange Schmulik da war, entfloh Scholem mit ihm zusammen in tröstliche Tagträume. Nachher aber wandte er sich mit ironischer Aufmerksamkeit der Wirklichkeit zu. So wurden die erwachsenen Unterdrücker bloßgestellt: sie, ihre Zornausbrüche, ihre Selbstsucht und ihr Mißbrauch der Gefühle. Im geheimen verfertigte Scholem ein Wörterbuch seiner Stiefmutter. Er analysierte ihre Methode, die harmlosesten Zeitwörter für die erschrekkendsten Flüche zu verwenden. Er mußte immerfort studieren: nach dem Alten Testament mit den vielen Kommentaren den Talmud, die hebräische Grammatik, die russische Sprache und Mathematik. Überdies arbeitete er vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in der schäbigen Herberge, die die einzige Einkommensquelle der gar zu zahlreichen Familie geworden war. Sommers und winters mußte er vor dem Tore Posten stehen, bereit, sich auf Fremde zu stürzen, um ihnen die väterliche Herberge anzupreisen. So wollte es die Stiefmutter. Es galt, dem wirklichen Gasthof Konkurrenz zu machen, der alle Gäste anzog, die imstande waren, für ein gutes Bett, ja gar für ein Zimmer den angemessenen Preis zu zahlen. Da steht er, der kleine Scholem, er bebt vor Kälte. Nun wartet er schon seit Stunden auf das höchst unwahrscheinliche Wunder, daß ein Reisender des Wegs
kommt und sich bereit findet, in des Vaters Herberge einzukehren. Der kleine Portier träumt von phantastischen Gästescharen, nicht selten auch von den Schätzen, deren geheimes Versteck Schmulik ihm eines Tages entdecken würde, wenn er endlich wieder auftauchte … Tritt er für eine Weile ins Haus, um sich zu erwärmen, betäuben ihn die Flüche der Stiefmutter, die ihn wieder in die eisige Kälte hinausjagt. Der Vater läßt sie wie üblich gewähren, bis zu dem Tag, da er durch seinen Schachpartner nach endlosen Diskussionen überzeugt wird, daß er seinen begabtesten Sohn in die christliche Schule schicken soll, in die Mittelschule von Perejaslawl. Drei Jahre später, nach Abschluß der Schule, betritt er den Weg ins Leben, der den 17jährigen in ein Dorf führt, zu einem reichen Mann, der ihn als Lehrer für seine Tochter Hodel-Olga anstellt. Jedoch zwei Jahre später wird der junge Lehrer sang- und klanglos entlassen. Man will ihn endgültig von seiner Schülerin trennen und ihrer Liebe ein Ende setzen. Doch ist diese Trennung nur das Ende eines Kapitels und nicht des Liebesromans, denn nach vier Jahren muß Olgas Vater nachgeben. Sie darf Scholem Rabinowitsch heiraten, der inzwischen Standesbeamter der jüdischen Gemeinde Luben geworden ist und dort ein bescheidenes Dasein fristet. Im gleichen Jahr, im August 1883, veröffentlicht er im Petersburger Volksblatt seine ersten jiddischen Schriften. Vorher hatte er hebräisch geschrieben und die veröffentlichten Artikel mit seinem wahren Namen gezeichnet. Fortab nennt er sich Scholem Alejchem. Dieses Pseudonym ist die hebräische Grußformel »Friede
mit Euch«. Er glaubt, hinter dem Schriftstellernamen seinen wahren verstecken zu müssen, weil es nicht gerade eine Ehre ist, »Jargon« zu schreiben. So nannte man damals herabsetzend die jiddische Sprache. Schon vierzehn Jahre vorher hatte Mendele MocherSforim Die Taxe, einen Roman, veröffentlicht, und zehn Jahre vorher sein bestes Buch, Die Mähre. Trotzdem glaubte Scholem Alejchem nicht, daß die jiddische Literatur irgendwann jemandem eine Laufbahn sichern könnte. Zwar hörte er nicht auf zu schreiben, aber erst zu Beginn unseres Jahrhunderts wählte er endlich den Beruf des Schriftstellers. Inzwischen hatte er im Börsenspiel sowohl die Mitgift als auch das Erbteil seiner Frau verloren sowie das Vermögen, das ihm seine Schwiegermutter anvertraut hatte, um ihn vor den Folgen eines Bankrotts zu schützen. Nachdem er etwa ein Dutzend verlockender, aber höchst unsicherer Berufe ausgeübt hatte und in allen jämmerlich gescheitert war, gab er endlich nach. Er fand sich damit ab, zu sein, der er war: ein Schriftsteller. Er hatte bereits das vierzigste Lebensjahr überschritten; außer in Jiddisch lagen seine Bücher auch in Hebräisch vor, manche waren ins Russische übersetzt worden und wenige auch ins Deutsche und ins Englische. Man spielte seine Theaterstücke auf den polnischen Bühnen. In vielen Städten, in allen jüdischen Städtchen, erwarteten die Leser mit Ungeduld ihren Lieblingsautor. Wo immer er hinkam, wurde er mit freudiger Begeisterung begrüßt. Diesmal hatte er Glück: er tat, was er wirklich
konnte. Er war ein wunderbarer Vorleser, sein schauspielerisches Talent verstärkte den Erfolg des Autors. Endlich war er im Hafen des Erfolgs gelandet. Doch das Jahr 1905 brachte neue Unordnung in sein Leben. Die Revolution wurde besiegt; es folgten Pogrome, denen der Schriftsteller und seine Familie nur mit Not entkamen. Aufgewühlt, enttäuscht und verängstigt entschloß sich Scholem Alejchem, Rußland zu verlassen und nach Amerika auszuwandern. Überall auf dem Wege von Kiew nach New York lud man ihn ein, haltzumachen, vorzulesen, sich feiern zu lassen. Das Publikum der großen Städte Mittel- und Westeuropas wünschte, den Dichter zu sehen und seine Vortragskunst zu bewundern. Man nannte ihn den jüdischen Mark Twain. Er blieb nicht lange in den Vereinigten Staaten. Ein Impresario organisierte eine Tournee von Vorträgen und Vorlesungen, die Scholem Alejchem nach Europa zurückbrachte. Doch mitten in dieser triumphalen Reise überraschte ihn das Unglück. In der Stadt Baranowitsche, an einem Sommerabend des Jahres 1908, wurde er plötzlich von einer schweren Lungenkrankheit heimgesucht. Er überlebte die gefährlichen Blutstürze, mußte sich aber bis auf weiteres von jeder Tätigkeit zurückziehen. Seither ließ er sich nirgends mehr endgültig nieder. Bald hielt er sich in der Schweiz, bald in Italien auf oder in deutschen Badeorten. Bei Ausbruch des Krieges fuhr er über Dänemark nach New York zurück. Es war seine letzte große Reise.
Schreiben war Scholem Alejchems Leidenschaft. Er schrieb immer und allerorten. Gewöhnlich schrieb er stehend, über ein Pult gebeugt, aber er schrieb auch in allen Fahrzeugen, in denen er reiste, in den Cafés, in denen er während vieler Jahre fiebrig erregt auf den Erfolg von Börsenspekulationen wartete, die ihm jedoch fast immer mißlangen; er schrieb im Bett, auf Parkbänken, wenn sie nur nicht verschneit waren – er schrieb überall, fast ohne Aufhör. Die Feder allein schützte ihn vor der stets lauernden Trauer, vor der Zukunftsangst, vor dem Schatten des Todes. Nicht selten, in später Nacht, hörten ihn seine Kinder lachen: er stand da, übers Pult gebeugt, schrieb und lachte vor sich hin. Sein Werk umfaßt ein halbes Dutzend Romane, ebensoviele abendfüllende Lustspiele, Hunderte von Erzählungen, Novellen und Monologen, überdies mehrere Einakter. Die Literaturkritiker sprachen zwar seinerzeit von diesen Büchern, jedoch wenig, oft gönnerhaft. Die Leser aus dem Volke waren es, die ihn zuerst entdeckten und bald zum Nationaldichter erhoben; die Intellektuellen, die Ästheten kamen später, gerade zurecht, um sich vor einem Ruhme zu beugen, der unangreifbar geworden war. (Perez zum Beispiel liebte ihn nicht, er begann ihn spät, fast zu spät zu schätzen.) Doch die inzwischen herangewachsene neue Generation jüdischer Schriftsteller erkannte und rühmte dankbar das Genie des »Spaßmachers«. Wie diesen Erfolg erklären, der so durchschlagend war,
daß man ihn eine Zeitlang mit dem Triumph des Autors von Tom Sawyer und Huckleberry Finn vergleichen konnte? Die Ähnlichkeit zwischen Scholem Alejchem und Mark Twain ist auf einige Züge beschränkt, die sie miteinander gemeinsam haben. Zum Beispiel räumt der eine wie der andere in seinen Werken den Waisenkindern eine überragende Rolle ein. Sonst aber unterscheidet sich der jüdische Humorist von dem amerikanischen durch eine paradoxe Eigenart: die Handlung, die Ereignisse und das Ende sind im Scholem Alejchems Erzählungen fast immer traurig, unsagbar traurig. So erklärt es sich auch, daß bei ihm nicht der Inhalt das Gelächter hervorruft, sondern fast immer die besondere Art, in der die handelnden Personen sich vorstellen und in der sie – gewöhnlich hemmungslos – sprechen. Die Helden der Monologe Scholem Alejchems, die sozusagen alles »auspacken«, sich selbst und ihre Familie den Lachern preisgeben, sind keineswegs fröhlich und wollen nicht im mindesten belustigen. Im Gegenteil, ihr Herz ist schwer, sie brechen unter der Bürde des täglichen Lebens zusammen. Vor ihrem Zuhörer – das ist immer der Schriftsteller selbst – breiten sie ungehemmt ihren Kummer aus, weil sie fühlen, daß er ihnen mit liebevoller Aufmerksamkeit zuhört. Die Werke Scholem Alejchems bilden gleichsam ein vollständiges Inventar aller Leiden und Demütigungen, der wirtschaftlichen Not so gut wie der religiösen und politischen Unterdrückung, die die Judenheit des Zarenreichs zwischen 1880 und 1917 ohne Unterlaß ertragen
mußte. So hätte also dieses monumentale Inventar von Schmerzen und Pein das gedemütigte Volk belustigt? Menachem Mendel der Träumer, ein Roman in Form eines Briefwechsels zwischen einem Mann und seiner Frau, ist wohl in mehr als einer Hinsicht das aufschlußreichste Werk dieses Schriftstellers. Immer wieder greife ich nach diesem Buch, aber seit Jahren schließe ich es stets, ehe ich es zu Ende gelesen habe. Ich kenne natürlich den traurigen Schluß seit langem, aber ich ertrage ihn nicht mehr und nicht dieses fortgesetzte trostlose Scheitern, das schließlich zum Unglück wird und mit der schändlichen Flucht des Helden endet. Natürlich muß man lachen, wenn man diese Korrespondenz zwischen der sehr nüchtern-realistischen Ehefrau und ihrem verträumten Gatten liest, der zum Onkel gereist war, um die Mitgift zu holen und, statt mit dem Geld nach Hause zu kommen, sich auf Börsenspekulationen und andere große Geschäfte einließ. Am Anfang jedes Kapitels geht Menachem Mendel mit sicheren Schritten auf den ganz nahen, absolut gewissen Erfolg zu; am Ende des gleichen Kapitels erwartet er in grenzenloser Verzweiflung, daß der Tod ihn dem nutzlosen Leben entreiße, oder daß seine Frau ihm schleunigst einige Rubel schicke, damit er, nun endgültig von allen trügerischen Hoffnungen geheilt, heimkehren könne. Doch sobald er das Geld in Händen hat, wird er von einer neuen Illusion verführt. Er verspielt das Reisegeld, das seine Frau ihm für die Heimkehr gesandt hat, in einer neuen Spekulation, die ihn noch schlimmer enttäuscht als
die früheren. Nein, Menachem Mendel fährt nicht heim. Er tut keinen Schritt, ohne sich zu verirren. Diese Briefe, die im Laufe mehrerer Jahre in Fortsetzungen erschienen, ehe sie endlich in einem Band vereinigt wurden, spiegeln genau die unbesieglichen Illusionen und die Enttäuschungen Scholem Alejchems wider: Menachem Mendel, das war niemand anderer als er selbst, doch wurde er, zum Unterschied von seinem traurigen Helden, dadurch gerettet, daß er endlich mußte, was er wirklich konnte: schreiben. Und dieses Buch, das nichts als erniedrigende Fehlschläge wiedergibt, bringt die Leser zum Lachen? Ja! Schließlich lacht man ja auch über Don Quichotte … Ohne die Frage zu erörtern, wollen wir bemerken: Das spanische Volk war nicht Don Quichotte, sondern eher Sancho Pansa; und Cervantes selbst war auch nicht Don Quichotte. Scholem Alejchem aber war Menachem Mendel, ein zwar karikierter, aber dennoch echter Typus jener Juden, die bis zu ihrer Ausrottung durch Hitler die Städte und Städtchen Osteuropas bevölkerten. Tobias der Milchhändler, Held eines Romans in Monologen, ist gleichfalls zum Typus und zur legendären Figur geworden. Wir lieben diesen Dorfjuden, seine weitschweifigen Reden erheitern. Mit ihm verläßt man endlich das Städtchen, man kommt sogar freundschaftlich mit ukrainischen Bauern zusammen. Aber leider verschont auch ihn das Unglück nicht. Wir werden auch um ihn weinen, genauso wie um den Waisenknaben Mottele, den Helden eines andern Romans in Monologen. Wir
würden um beide weinen, wenn der Verfasser es erlaubte. Aber Scholem Alejchem, der Humorist des Unheils, besteht darauf, daß man lache. Und seine ungewöhnliche Sprache zwingt uns dazu. *** Es ist schwer, jemandem, der das Jiddische nicht kennt, verständlich zu machen, warum und wieso die Sprache dieses Schriftstellers ein stilistisches Phänomen ist, das einzigartig geblieben ist, obschon sie Hunderte von Nachahmern angelockt hat. Man könnte in einem gewissen Sinne an Rabelais oder an Grimmelshausen denken. Die ersten großen Erzähler, die das Idiom ihres Volkes auf das Niveau einer literarischen Sprache erhoben, widerstanden selten der Versuchung, ganze Seiten mit einem »Geschwätz« zu füllen, das sie zum ersten Mal gleichsam »schriftreif« machten. Was auch immer sie schreiben mochten – sie sammelten damit Worte für das erste Wörterbuch ihrer Sprache. Das Spiel der aufeinandergehäuften Synonyme reizte sie ebenso wie die Kaskaden ineinandergefügter Adjektive. Doch bei Scholem Alejchem handelte es sich um eine wesentlich andere Erscheinung, die eher an den Franzosen Louis-Ferdinand Céline denken läßt und an dessen »Trick«, wie er es nannte: die Stimme, der geschriebene Tonfall, und die Worte verbinden sich zu einem fortab untrennbaren Ganzen. Die Worte sind die verbrauchtesten, die in der gesprochenen Sprache geläufigsten, aber
die Stimme, die sie ausspricht, und ihr Tonfall, gehören einem einzigen Menschen, einem Wesen, das sich in der Masse verlieren und für immer auslöschen müßte, wenn ihm nicht der Dichter die Dimensionen der Kunst verliehe. In Scholem Alejchems Tonfall vereint sich eine verhohlene, unerschöpfliche Zärtlichkeit mit einer unermeßlichen Lebenskraft. Er bedient sich der Allerweltssprache und spielt mit Worten, die eine komische Wirkung erzeugen. Diese tausendfach hinter tausend anderen Stimmen verborgene Stimme zwingt uns dazu, an dem flüchtigen Glück und an dem ständigen Unglück eines Volkes teilzunehmen, das ohne Unterlaß bedroht war und damals noch ohne Unterlaß gerettet wurde. Gerettet … Niemand sah damals, als Scholem Alejchem schrieb, die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts voraus: die Hitlersche Ausrottung von Millionen Juden; die Stalinsche Zerstörung des jüdischen kulturellen Lebens und die Ermordung der jüdischen Schriftsteller in Sowjetrußland. Zu Lebzeiten Scholem Alejchems aber wuchsen in Osteuropa die Kräfte des Judentums stetig an. Die zionistische Bewegung und zwei jiddischsprachige Arbeiterparteien, Poale Zion und Bund, entwickelten sich mit einer außergewöhnlichen Geschwindigkeit. Überall entstanden jüdische Zeitungen und Zeitschriften, kulturelle Organisationen und Anstalten wurden täglich zahlreicher. Sie formten eine Jugend, die, obschon sie ihrem Jahrhundert angehörte, nicht mehr das Bedürf
nis verspürte, die Eltern oder ihre Muttersprache zu verleugnen. Zeuge und indirekt selbst Opfer der Verfolgungen des zaristischen Regimes, blieb Scholem Alejchem entschieden hoffnungsvoll. Er wäre es vielleicht heute nicht mehr trotz der Briefmarke, die man in Sowjetrußland zum Andenken an seinen hundertsten Geburtstag herausgebracht hat. Es war damals schwer ein Jude zu sein; es ist heute in Rußland unmöglich, Scholem Alejchem zu sein. Übrigens hat seine Geburtsstadt ihren Namen geändert. Sie heißt jetzt Perejaslawl-Chmelnizkij. Das Stalinsche Regime wollte durch diese Neubenennung das Andenken des größten Judenschlächters ehren, den Europa vor Hitler je gekannt hat. Dennoch ist es wahrscheinlich, daß die von Scholem Alejchem erdachten Städtchen Kasriliwke und Masepewke in der Erinnerung jener, die nach uns leben werden, alle Chmelnizkijs überdauern werden. Denn überall in der Welt gibt es Menschen, Nichtjuden so gut wie Juden, die Scholem Alejchem lieben.
Joseph Opatoshu Joseph Meir Opatowski, genannt Opatoshu, kam am 24. Dezember 1886 in Kongreßpolen zur Welt, am Rande eines großen Waldes in der Nähe von Mlawa, der Hauptstadt der Schmuggler, die politische Flüchtlinge, arme Auswanderer und unverzollte Waren über die Grenze nach Deutschland brachten. Die Auswanderer, zumeist Juden, waren auf dem Weg zu ihren Verwandten im fernen Amerika, »wo man selbst an Wochentagen weißes Brot ißt«, wie es in einem Wiegenlied hieß. Opatoshus Vater war ein Waldjude, ein Förster und Holzhändler, der bis an sein Lebensende ein leidenschaftlicher »Lerner« blieb. Im Jahre 1906 wanderte er aus und ließ sich in New York nieder. Er wurde da im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten noch frömmer; die religiösen Gebote und Verbote bestimmten seine Lebensweise bis ins kleinste Detail. Er suchte die ganze Wahrheit in der Geheimlehre der Kabbala. Opatoshu war immer der Schüler seines Vaters geblieben, der ihn von seinem 10. Lebensjahr an täglich um 6 Uhr morgens weckte, damit er die ersten Stunden des Tages der Bibel, dem Talmud, den Kommentaren und den philosophischen Traktaten widme, vor allem denen des Maimonides. Gleichzeitig bereitete sich der junge Opatoshu für Prüfungen vor, die ihm die Zulassung zu einer Hochschule
ermöglichen sollten. In New York erhielt er das erhoffte Diplom, jedoch zu spät, da er inzwischen seinen eigenen Weg gefunden hatte: er wurde ein jiddischer Schriftsteller. Er trat in die Fußstapfen der Begründer der jiddischen Literatur, im Gefolge von Mendele Mocher Sforim, von Yizchok Leib Perez und von Scholom Alejchem. Perez, dem er seine erste Erzählung, Jenseits der Brücke, unterbreitete, ermutigte ihn zwar, doch mochte er den ungeschlachten Anfänger nicht, der einem Gepäckträger oder einem Stallknecht ähnelte und keineswegs einem Intellektuellen, nicht dem alten Dichter und nicht den Helden seiner Werke. Perez, ein Sozialist, hatte damit begonnen, die soziale Ungerechtigkeit anzuprangern, sodann einen Ausweg zu suchen, den er schließlich in einer Zuflucht zum Chassidismus zu finden glaubte. Diesem verlieh er poetische Kraft und metaphysische Tiefe. Unter Perez’ Einfluß hofften manche seiner intellektuellen Zeitgenossen, daß es einem erneuten, von den Wunderrabbis abgewandten Chassidismus gelingen könnte, den Alltag mit der entrückten Welt der Visionäre zu versöhnen, die ihr Heil in der Intimität mit Gott suchten. Perez hatte den Skeptikern und den Agnostikern die Hithlahawouth, die »Entflammtheit«, die unerschöpfliche Vitalität jener entdeckt, die Gott so lieben, als ob er ohne ihre Liebe fast so verloren wäre wie sie ohne ihn. Man findet die Ausstrahlung dieser Hithlahawouth, den »Funken des Göttlichen«, wie die Kabbalisten sagen würden, in den Werken von Schalom Asch, von Agnon, Martin Buber und schließlich, in der neuen Generation, bei Elie Wiesel.
Der Dichter Opatoshu, der nunmehr ständig in New York lebte, entfernte sich indes von Perez und dessen Visionen immer mehr. Er blieb der Erinnerung an seine Kindheit treu, an die Wälder und an das besondere Milieu der Pferdediebe, Schmuggler, Bordelldirnen und ihrer Liebhaber, die allesamt fehl am Platze und dennoch zu Hause waren in dem ansonsten von gottesfürchtigen Puritanern bewohnten Städtel. Daß Joseph Opatoshu diese Randexistenzen mit ihrer überschäumenden Vitalität und herausfordernden Sinnlichkeit den Helden Mendeles und Perez’ vorgezogen hat, erklärt sich auch daraus, daß er das Tragische von sich wies, daß er sich der traditionellen Welt mit ihren Ängsten und Kümmernissen, mit ihren chassidischen Melodien und dem von der Finsternis stets bedrohten Rembrandtschen Lichte endgültig entziehen wollte. Im Judenviertel der Lower Eastside, entdeckte der junge Schriftsteller nun ein anderes Mlawa, ja viele Mlawas. Und er fand unter den in Amerika bereits niedergelassenen Schriftstellern seinesgleichen: Männer, die sehnlichst wünschten, sich vom Erbe des Städtels und der tyrannischen Glaubensstrenge zu befreien. Fast gleichaltrig – zwischen 1880 und 1890 geboren –, bildeten diese Männer die Gruppe »der Jungen«. Sie waren Poeten, Erzähler, Bühnendichter, Literaturkritiker und Journalisten, und sie gingen darauf aus, Mystik und Mythos durch eine wahrheitsgetreue Darstellung der Wirklichkeit zu ersetzen und die empörende Ungerechtigkeit der Verhältnisse zu enthüllen. Dennoch gelang es ihnen und
Opatoshu nicht, das von Amerika aus betrachtete Städtel nur naturalistisch-kritisch darzustellen. Es wurde für sie wie für die meisten Einwanderer das »alte Heim«, in ihren »Herzen eingeschreint«. So blieb es für sie unverlierbar, auch wenn keiner von ihnen zurückzukehren dachte. In den jüdischen Vergnügungslokalen von New York hörte man die mit einem beklemmenden Heimweh gesungenen chassidischen Melodien neben neumodischen amerikanischen Schlagern. Und sogar die Pferdediebe und Grenzschmuggler von Mlawa verwandelten sich in Manhattan in romantische Figuren. Opatoshu hatte mit seinen Erzählungen bei den jiddischen Lesern Amerikas und Osteuropas einen bedeutenden Erfolg errungen. Im Jahre 1921 veröffentlichte er seinen ersten großen Roman, In den polnischen Wäldern, der ihn berühmt machte. Es wäre abwegig, diesen Triumph mit seiner Tendenz zum Antichassidismus zu erklären, der man in diesem Werke immer wieder begegnet. Damals, vor beinahe 60 Jahren, war die Zeit gekommen, den Chassidismus nicht nur als eine fanatische, von eigenartiger Mystik beherrschte Sekte zu betrachten und ihn vorbehaltlos zu bewundern oder ebenso entschieden zu verwerfen. Es ging nun vielmehr um die Erforschung seiner Anfänge, seiner Entwicklung und nicht zuletzt der gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Bewegung. Opatoshu enthüllte in den Polnischen Wäldern den Zustand des Chassidismus, wie er sich in Polen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer um das Jahr 1860, seinen Anhängern und seinen Gegnern offenbarte.
Damals suchten zahllose Menschen bei den Wunderrabbis Trost, Hilfe, Heilung – Wunder. Doch nicht darum geht es in diesem Roman. Sein der Geschichte entlehnter Held, der Rabbi und Zaddik Menachem Mendl von Kozk, ein höchst merkwürdiger, extrem widerspruchsvoller Mann, hatte im vorigen Jahrhundert tatsächlich einen ungewöhnlichen Einfluß auf all jene ausgeübt, die im Chassidismus ihre geistige und seelische Heimat gefunden zu haben glaubten. Von Jüngern und frenetischen Anbetern umgeben, die von ihm Wunder jeder Art erwarteten, begann der Rabbi sich immer strenger seiner Umgebung zu verschließen und all jene abzuweisen, die an die einzigartige Wirkung seiner Fürbitte bei Gott glaubten. Er verleugnete sie und wollte auch nicht an seine Weisheit erinnert werden, die er selbst verspottete. Mit einer vielbewunderten Geistesschärfe begabt, dem Mystizismus bald feindlich, bald leidenschaftlich zugewandt und zugleich von einem intoleranten Realismus angezogen, blieb der Kozker Rabbi zwar ein Auserkorener, aber ein rebellischer Auserkorener, der mit Schrecken und Widerwillen die Gnade von sich wies und sich von ihr zuweilen gewaltsam zu befreien suchte, indem er Gott herausforderte. Männer und Frauen mit ihren kranken Kindern, verzweifelte Menschen ohne Zahl pilgerten zum »Kozker« auf unwegsamen Straßen zu Pferde, in Fuhren oder zu Fuß. Sie durchquerten die riesigen Wälder Polens, um endlich in seine sichtbare Nähe zu gelangen und seines Segens teilhaftig zu werden. Aber Mendl von Kozk, der gefeierte Wundertäter, glaubte
nicht an Wunder und schon gar nicht an seine Berufung, sie zu vollbringen oder von Gott zu erzwingen. Er wies alle Bittsteller so böse ab, als ob selbst die schmerzlichste Klage über das ungerechteste Schicksal ihn nicht im mindesten berührte. Er verschloß sich vor ihnen, weil ihn immer bedrängender der Zweifel quälte: »Und wie, wenn es Gott gar nicht gäbe? Und wenn es ihn gibt, wie kann man die Posse vertragen, die das irdische Leben ist, die Posse, in die das Leben eines Wunderrabbis von Kozk verwandelt wird?« Und als ob die Bittsteller plündernde Bettler wären, brüllt er denen, die seit Tagen, ja Wochen auf ein Zeichen von ihm warten, seine Verachtung ins Gesicht. Er prangert seine eigene Familie an, die auf der Suche nach ungestehbaren Vergnügungen und Reichtümern verkommen und verderbt ist. Am Ende sieht er sich verfolgt, von einer heuchlerischen Welt angefeindet, weil er sich geweigert hat, die Rolle zu spielen, die man ihm aufzwingen wollte. Neben diesem Rabbi, einer der seltsamsten Romanfiguren der modernen Literatur, begegnet man in Opatoshus Polnischen Wäldern unvergeßlichen Gestalten, so dem wilden Barfüßler Jisroel, der den Rabbi anklagt und dessen Anbeter bösartig bloßstellt; daneben dem Kabbalisten Itsche, dessen Glaube ihn wie ein stählerner Panzer schützt. Eine dem Autor sehr nahe Figur ist der junge Mordechai, der durch ganz Europa reist und an großen politischen Aktionen teilnimmt. Er hätte gewiß neben dem Rabbi die wichtigste Figur des letzten Teils der Trilogie werden können, deren erster Teil In den
polnischen Wäldern hätte sein sollen; der Dichter hat sie jedoch nie beendet. Opatoshu durfte hoffen, daß er sich mit diesem ersten Roman ein für allemal der Vergangenheit entledigt und daß er mit diesem stürmischen Abschied alles hinter sich gelassen hatte. Lange vor Opatoshu hatte Jizchok Leib Perez in seinem Drama Die goldene Kette einen ähnlichen Fall behandelt, den eines Zaddiks, der sich selbst zu einer tragischen Einsamkeit verurteilt. Opatoshu aber ging es vor allem darum, das Ende einer gewissen Gläubigkeit zu verkünden, die unaufschiebbare Zerstörung einer der großen Traditionen der polnischen Judenheit. Wir wissen heute, daß dies ein falscher Abgang war, denn nachdem der Dichter diesen Roman vollendet hatte, trat er den langen Weg zu den Quellen an: zum Judentum des Mittelalters – etwa in der Novelle Ein Tag in Regensburg – und zur Antike im Roman Rabbi Akiba. Joseph Opatoshu starb am 8. Oktober 1954 in New York, lange ehe er sein Werk abgeschlossen hatte. In seinen Schriften zitiert er oft hebräische Gedichte, die alle dem Werk seines Vaters, seines Lehrers und Meisters entstammten. Ihm, dem Kabbalisten David Opatoshu und all seinen Ahnen hat er die Polnischen Wälder gewidmet. Ihm, aber auch uns und all jenen, die nach uns kommen werden.
H. Leivick H. Leivick wurde am 25. Mai 1888 in Ihumen geboren, einem der elendsten »Städtel« Weißrußlands. Er war der Erstgeborene der neun Kinder einer Familie, die das kümmerlichste Dasein führte, ohne die leiseste Hoffnung, sich je der alles beengenden Armut zu entwinden. Mit 10 Jahren verließ Leivick seine Familie, um in einer kleinen Nachbarstadt zu »lernen«. Er mußte jeden Tag aufs neue Nahrung suchen, um nicht zu verhungern, und einen Winkel im Bethaus, um dort die Nacht zu verbringen. Später studierte er in einer Jeschiwah, einer höheren Bibel- und Talmudschule, in Minsk. Er verließ sie im Alter von 15 Jahren; das Studium stärkte seinen Glauben nicht, es zerstörte ihn. Als sein Vater diesen ihm durchaus unerklärlichen Bruch entdeckte, verbrannte er in einem Wutanfall die Hefte, in denen der Abtrünnige seine ersten, hebräischen Gedichte heimlich niedergeschrieben hatte. Der Siebzehnjährige wurde Mitglied der jüdischen Arbeiterpartei Bund, der ersten marxistischen Partei Rußlands, und kämpfte in ihren Reihen; er nahm an allen Aktionen teil, die im Revolutionsjahr 1905 das zaristische Rußland in stürmische Bewegung brachten. Leivick wurde mehrmals verhaftet und schließlich zu fünf Jahren Zuchthaus, zur Katorga in Sibirien, verurteilt. Er hatte dieses so harte Urteil selbst verschuldet, denn die Richter hatten mit dem schwächlichen Jungen Mitleid und wollten eine
mildere Strafe verhängen. Der angeklagte Revolutionär aber trat während des Prozesses als ein Ankläger auf und verurteilte seinerseits den Zaren, sein Regime und seine Tribunale – so erzwang er das harte Urteil. Mit Ketten an den Beinen zog er durch das Land, durch einen großen Teil Sibiriens, von Gefängnis zu Gefängnis, auf »Etappe«, wie man damals sagte, als die Verurteilten den Weg zur Katorga zu Fuß zurücklegen mußten. Nachdem er seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er nach Irkutsk verbannt, der Aufenthalt im europäischen Rußland war ihm für den Rest seines Lebens untersagt. Mit der kleinen Geldsumme, die jüdische Arbeiter in Amerika für ihn gesammelt hatten, erwarb er ein Pferd und ein Bauernwäglein und floh aus der Verbannung; nach Überwindung zahlloser Hindernisse gelang es ihm, das Zarenreich zu verlassen. Im Jahre 1913 erreichte er endlich New York, wo sich die Genossen seiner brüderlich annahmen. Leivick lebte fortab in Amerika. Während langer Jahre verdiente er sein Brot mit manuellen Arbeiten, bis ihn eine Lungentuberkulose aus der Bahn warf. Er durfte die gewohnte Arbeit nie wieder aufnehmen und wurde Journalist. In der Tat aber war er seit seiner frühen Jugend ein Dichter. Er schrieb nicht mehr hebräisch; seine etwa 30 Werke gehören zur jiddischen Literatur; es sind Gedichte, Esssays, Erzählungen und Theaterstücke, die, wie Der Golem, ihn einem großen Publikum bekannt machten. Eines Tages wird man das ganz ungewöhnliche Abenteuer der jiddischen Literatur ausführlich erzählen und
es zu erklären versuchen. Man wird das Wunder ihrer schmerzlichen Geburt und ihres Überlebens rühmen, sie mit einem ungeschützten Licht vergleichen, das sogar Orkane nicht verlöschen konnten. Und man kann die Werke einer Plejade von Poeten nennen, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts geboren wurden. Die erschütternde autobiographische Erzählung Leivicks In der Katorga des Zaren enthält eine lange Erklärung, die er seinem Vater geben wollte, wenn dieser ihn endlich im Gefängnis besuchen käme. Dieser Monolog erweckt in geradezu verwirrender Weise die Erinnerung an den berühmten großen Brief, den Franz Kafka an seinen Vater gerichtet hat, um ein für allemal mit dem eigenen Versagen abzurechnen. Die Erklärung des jiddischen Dichters erhellt nicht nur seine eigenen Entschlüsse und Herausforderungen, sondern auch das eigenartige »Stirb und werde«, die Einsamkeit und die unzerstörbare Kontinuität des Judentums. Während mehrerer Jahre, bis zum 23. Dezember 1962, war ich einer der vielen, die immer wieder an Leivick denken mußten, der, infolge einer unheilbaren Krankheit gelähmt, auf den Tod wartete. Stumm und unbeweglich, blieb der Dichter nur durch den Blick seiner Augen mit der Welt verbunden. So erfuhr er täglich, daß alles weiterging, als ob nichts geschehen wäre. Er verstand alles, denn sein Gehirn war intakt geblieben. Seine Freunde lernten, in seinen Augen zu lesen: sie fanden in ihnen die Trauer des armen Kindes aus Ihumen und die eigenartige, leise Kühnheit des jungen Revolutionärs, des Dichters frühes
Begehren, alles zu wissen und mit wachen Sinnen von einer besseren Welt zu träumen. Nun, da Leivick nicht mehr ist, geht’s mir auf, daß man sein Werk so lesen könnte, als ob es Auszüge aus dem Tage- oder Lesebuch eines Volkes enthielte, das von seinen Söhnen stets die Rechtfertigung ihres Daseins auf Erden erwartet. Ja, die Stimme Leivicks war eine der großen Stimmen des jüdischen Volkes. Ich werde sie immer im Ohr behalten – sie klingt mir manchmal wie der Ruf einer unversöhnlichen Revolte und dann wieder, ohne Übergang, wie ein besänftigendes Wiegenlied oder die Stimme eines Betenden: Mein Gebet Ich weiß nicht, vor wen es bringen, mein Gebet aber ich trage es Ich weiß nicht, wem es sagen, mein Gebet Aber ich sage es Es vereist auf meinen Lippen, das Gebet aber ich trage es Es wird im Zorn lebendig – mein Gebet aber ich sage es Es zerbricht so oft in Scherben – mein Gebet Aber ich trage es Es erhebt sich über sechs Millionen Gräber – mein Gebet Aber ich sage es
Es versinkt und jammert ohne Worte – mein Gebet Aber ich trage es Zu jenem, von dem ich nicht weiß, ob er es erhört, Aber ich sage es.
Jacob Glatstein Der amerikanische Dichter Jacob Glatstein stammte aus Lublin, jener polnischen Stadt, die während vieler Jahrhunderte, bis zum Churban, die Heimat jüdischer Geistigkeit, der rabbinischen Gelehrten und eines der Zentren des Chassidismus gewesen ist. Glatstein war der Sohn eines Mithnaggid, das heißt eines entschiedenen Gegners des Chassidismus, dem nur die Lehre und das Gesetz galten und dem jede Mystik verdächtig, ja häufig verwerflich schien. Ein Jude aus Lublin ist der Titel eines der letzten Bücher dieses New Yorkers, der immer und überall vor allem ein Poet gewesen ist. Seine ungewöhnlichen Gaben hätten ihn als solchen in der Welt berühmt gemacht, hätte er englisch und nicht jiddisch, nicht in dieser Sprache geschrieben, die hoffnungslos verwaist ist nach der Ausrottung des Volkes, dem sie die Muttersprache gewesen war. Ein Dichter, aber auch ein Essayist von scharfsichtiger Intelligenz, hat Glatstein zu den Problemen unserer Zeit stets klar und entschieden Stellung genommen, ob sie nun dem geistigen, nationalen, politischen oder ästhetischen Bereich zugehörten. Als er im Jahre 1921 seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, gehörte er zur Gruppe der »Introspektivisten«. »Wir Introspektivisten streben danach, das Leben genauest so darzustellen, wie wir es erleben – in der Gestalt,
die es in unserm Innern annimmt … Form und Inhalt bilden ein untrennbares Ganzes; ein Gedicht, das man paraphrasieren könnte, wäre keines. Wir sind jiddische Poeten, weil wir Juden sind und in jiddischer Sprache schreiben. Jedoch bedeutet dies keineswegs, daß wir nur jüdische Themen behandeln; es ist nicht die Sendung des Dichters, seine ›Jiddischkeit‹ zu beweisen.« Die Schriftsteller, die sich in diesem Kreis zusammenfanden, glaubten somit nicht, daß sie sich auf bestimmte, etwa nationale oder religiöse Themen beschränken müßten. Zum Unterschied von der Gruppe, die sich »Die Jungen« nannte, war die Generation Glatsteins nicht aus dem Proletariat hervorgegangen; die meisten entstammten wohlhabenden Familien, die ihnen höhere Studien ermöglichten. Da sie deshalb fremde Sprachen beherrschten – insbesondere Englisch, häufig Deutsch und viel seltener Französisch –, fanden sie sich leichter im literarischen Leben der neuen Heimat zurecht. Sie hatten die Wahl und zogen doch – vielleicht aus trotzigem Stolz – die jiddische Sprache der englischen vor. Gewiß entgingen sie nicht dem Einfluß der französischen und der amerikanischen Dichtung, sie bewunderten Baudelaire und Verlaine und Walt Whitman, sie waren von der deutschen Romantik tief beeindruckt. Jedoch verließen diese jiddischen Dichter, verließ insbesondere Jakob Glatstein, nie den eigenen Pfad zwischen den vielen Wegen, die sich ihnen öffneten. Sie wollten Neuerer sein und zugleich Erben, zuweilen widerspenstige Erben, das ist wahr; sie wollten eine der Zukunft, nicht den Ahnen
verpflichtete Gegenwart beginnen – die neue Literatur eines uralten Volkes. Das verkündeten sie laut, doch manchmal mit bebender Stimme. Wenn ich heute Glatsteins Werk wieder lese, überrascht mich ein unauflösbarer Widerspruch, der ihm anzuhaften scheint: einerseits die sinnliche Neugier, eine fast wollüstige Freude, die alle Wahrnehmungen begleitet; andererseits eine ungezähmte Ironie, die alle Äußerungen eines übergescheiten, doch listig verhüllten Didaktismus aggressiv unterstreicht. Während langer Jahre blieb Glatstein überdies der Tendenz treu, die er und seine Freunde zu Beginn ihrer Laufbahn formuliert hatten: die jiddische Schriftsprache von den Schwächen eines Idioms zu befreien und sie sowohl durch archaisierende, wiederentdeckte wie durch neu geschaffene Worte und Wendungen zu bereichern. Gleichzeitig verstärkte sich ihre Neigung, dem thematisch spezifisch Jüdischen immer weniger Raum zu gewähren. Viele Gedichte, die Glatstein zwischen den Weltkriegen geschrieben hat, würden ihn eher als einen amerikanischen oder europäischen Poeten ausweisen. Wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg verbrachte dieser Dichter einige Monate in seiner Geburtsstadt Lublin. In seinem Reisebericht beantwortet er die Frage, was er von dort nach Hause bringen wollte: »Eine voll ausgereifte Trauer, wie sie sich unserer nach Jahren bemächtigt, die wir damit verbracht haben, zu schauen und zu hören. Diese Trauer führt uns an der Hand wie
ein alter Gefährte. Und wir entdecken schließlich, daß unsere eigene Trauer in uns gealtert ist.« Zu jener Zeit konnte niemand, auch nicht ein so scharfsinniger Geist wie Glatstein, ahnen oder auch nur für möglich halten, daß das tödliche Ende der polnischen Judenheit bevorstand, und daß es sich unter den Augen der ganzen, gleichgültigen Menschheit vollziehen würde. Nach diesem unsagbaren Ende, dem Churban, hat sich der Dichter von seinem selbstgewählten Weg abgewandt und wieder völlig der »Jüdischkeit« zugekehrt. Die Gedichte, die er nach dem Krieg geschrieben hat, lassen eine nicht enden wollende Klage ertönen, aber sie unterscheiden sich von dem Jammer eines Jeremias. »Am Sinai empfingen wir die Thora/In Lublin haben wir sie zurückgegeben/Nicht die Toten loben Gott/Zum Leben ward uns die Thora gegeben/Wie wir alle zusammen sie empfangen haben/So sind wir alle zusammen in Lublin gestorben.« … »Ewig ist die Nacht dem toten Volke/Das Licht in Deinem Zelt erlischt/Es ist die letzte Stunde/ Mein Gott schläft, ich allein wache über ihn/Mein müder Bruder träumt von meinem Volk/Er wird klein wie ein Kind/ Ich wiege ihn ein in den Traum von meinem toten Volke …
Mendel Mann Mendel Mann, am 9. Dezember 1916 in Warschau geboren und am 29. August 1975 in Paris verstorben, gehörte zur dritten Generation der jiddischen Literatur. Jene, die ihre Leser gewesen wären – in Polen und in der Ukraine, in Litauen und in Weißrußland, sind nicht mehr. Daher schreiben diese Dichter in einer verwaisten Sprache. Sohn einer dörflichen Familie, deren Ahnen mütterlicherseits Bauern und väterlicherseits Sofrim (ThoraSchreiber) waren, verbrachte der junge Mendel seine ersten Jahre auf dem Lande in einer beglückenden Vertrautheit mit der Natur. Auen und Wälder, Teiche und Flüsse; herbstliche Regengüsse und Schneeverwehungen; der Lärm der Straßen und die Stille selten betretener Pfade – ihre Bilder und Töne kehren in Mendel Manns Israel-Roman Das verwahrloste Dorf, in seiner Kriegstrilogie und in den Erzählungen wieder, die in dem Bande Das Haus in den Dornen vereinigt sind. Für Mendel Mann ist die Landschaft weder Rahmen noch Dekor, sondern die Gegenwartsform des Vergangenen: eines willkürlich zerstörten Seins. Die Helden dieses Dichters sind häufig allein, tragisch, ja gefährlich vereinsamt. Doch sind sie niemals völlig aufgegeben, weil der besonnte Wipfel eines Baumes sie tröstet, weil ein Hügel unter ihren Füßen ihnen Halt gibt und ein verschneiter Busch in der Ferne sie ruft – weil all das sie an das Leben bindet.
Im Jahre 1939 schlägt sich Mendel Mann, ein Soldat der polnischen Armee, bis zum letzten Augenblick in den Straßen Warschaus. In Kriegsgefangenschaft geraten, entflieht er aus dem ostpreußischen Lager, durchquert das von den Russen besetzte Polen und findet schließlich Zuflucht in einem Kolchos in Tienguschai an der Wolga. Da er zu Hause Lehrer war, wird er dort Schulmeister; er selber lernt, wie ein Bauer zu leben. Doch im Sommer 1941 verläßt er das Dorf, um als Freiwilliger gegen die Nazis zu kämpfen. Der junge Jude wird unter den ersten sowjetischen Soldaten sein, die Berlin erstürmen, unter jenen, die in der Hauptstadt des Dritten Reiches auf die verkohlte Leiche Adolf Hitlers stoßen. Was Mendel Mann erlebt, erlitten, was er entdeckt und erlernt hat im Verlaufe dieser furchtbaren Jahre, auf dem langen Wege, der ihn von der Wolga bis zur Wilhelmstraße in Berlin geführt hat, das hat er in seinen Romanen Vor den Toren Moskaus, An der Weichsel und Der Fall von Berlin erzählt. In ihnen hat er Erlebnis, Erfahrung und Ereignis gemäß den Erfordernissen epischer Gestaltung metamorphosiert, bis sie sich zu einer unlösbaren Einheit verwoben. Niemals hat er die trostlose Rückkehr nach Polen erzählt, die Heimkehr ins Dorf seiner Kindheit, ins Städtchen seiner Jugend und nach Warschau, das noch in Trümmern lag. Von den Seinen war keiner mehr unter den Lebenden; das Vaterland hatte sich in einen ungeheuren Friedhof verwandelt, in einen Friedhof von Ermordeten – ohne Gräber und ohne Grabsteine.
Und dennoch versuchte Mendel Mann zu bleiben, zu wirken: er leitete eine Schule für die jüdischen Kinder, die man aus den Verstecken hervorgeholt hatte. Doch als ein Pogrom in der Stadt Kielce ausbrach, der das Werk der Ausrotter vollenden sollte, da wußte der Heimkehrer, daß er seine Heimat zum zweitenmal verloren hatte. Er verließ Polen, der Bruch war unheilbar – niemals würde er zurückkehren. In einem Lager für »deplacierte Personen« mußte er lange warten, ehe das gelobte Land seiner Ahnen ihm und seinesgleichen endlich die Tore öffnen durfte. Gedichte, die er vor dem Kriege in Zeitschriften veröffentlicht hatte, gaben seinem Namen einen guten Klang. Im Dezember 1945 erschien in Lodz sein erster Gedichtband: Die Stille mahnt, und zwei Jahre darauf, in Regensburg: Das Erbe. Nachdem er endlich in Israel gelandet war, suchte Mendel Mann seine Wohnstätte auf dem Lande; er fand sie in Jasur, einem von den Arabern verlassenen Dorfe unweit von Jaffa. Dort arbeitete er schwer und mühsam. Man mußte die Erde wieder urbar machen, die lieblose Eroberer durch viele Jahrhunderte hatten brach liegen lassen, bis sie verdurstet war und versteint. In dieser Landschaft, die dem Lande seiner Kindheit so unähnlich war wie ein fremder Planet, erfuhr der Dichter die Schmerzen einer zweiten Geburt und das seltene Glück einer Wandlung, in der man sich selbst nicht abhanden kommt. Das wesentliche Thema, das die Erzählungen des Bandes Das Haus in den Dornen behandelt, ist aus der
Erfahrung der Entronnenen geschöpft, die den Sinn der menschlichen Existenz in einem Lande wiederfinden, das sie getreu einer 2000 Jahre vorher gefaßten Absicht wieder unter den Pflug nehmen dürfen. Mendel Mann erzählt von diesen Erlebnissen wie ein Bauer, der nach des heißen Tages schwerer Mühsal seinen Rücken an die noch warme Mauer seines Hauses lehnt und im Mondenscheine wie aus dem Schlafe singt. Gewiß gab es palästinensische, zionistische Romane, vor allem in hebräischer Sprache, schon vor der Gründung des Staates Israel, aber Mendel Manns Erzählungen sind die erste epische Gestaltung eines Endens und Neubeginnens: der biblischen Begegnung einer Erde mit Menschen, die im totalitären 20. Jahrhundert, von ihrer nahen Vergangenheit wie von einer unerträglichen Bürde zu Boden gedrückt, sich selber wiederfinden in einem fremden Lande, das sich stets auf sie berufen und ihre Rückkehr erwartet hat. Wie kann eine Wiedergeburt gelingen? Mendel Mann beantwortet diese Frage, indem er erzählt, »wie man wird, was man ist«. Er nimmt hier das Thema auf, das unverlierbar ist, weil jede literarische Schöpfung von ihm ausgehen oder zu ihm zurückkehren muß. In diesen Erzählungen wie in den Romanen Das verwahrloste Dorf und Samsons Füchse harmonisiert der Dichter zwei dissonante Stimmen; mag sein, daß sie zusammen den neuen Ton der jiddischen Literatur bestimmen werden, dieser zweifach ermordeten Literatur, die, wie das alte Volk, ihre Ausrottung und ihre Mörder überlebt.
Isaak Babel Um die Lebenden zu verstehen, muß man wissen, wer ihre Toten sind. Und man muß wissen, wie ihre Hoffnungen geendet haben: ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet worden sind. Genauer als die Züge des Antlitzes muß man die Narben des Verzichts kennen. Am 15. Mai 1939 verschwand der russische Schriftsteller Isaak Babel: ganz plötzlich hinweggefegt vom Sturmwind der »Säuberungen«, verweht in das Inferno der sowjetischen Konzentrationslager irgendwo im Nordosten Sibiriens. Kaum eine Woche später wurden seine Bücher vom Nichts verschlungen; selbst ihre Spur war so gründlich ausgelöscht, daß sie fortab auch in Buchhandlungen und Bibliotheken unauffindbar blieb. Des Dichters Name wurde über Nacht unbekannt, kein literarisches Blatt, kein Nachschlagewerk nannte ihn mehr. In einem Augenblick hatte Babel nicht nur seine Zukunft, sondern eine 43jährige Vergangenheit eingebüßt: wie so viele andere Opfer der gleichen Tyrannis, wurde er zu einer Orwellschen Unperson. Vor einiger Zeit geschah nun das Wunder der Wiederauferstehung – die Literaturnaja Gazeta informierte ihre Leser, daß ein gewisser Isaak Babel einmal gelebt
hatte und daß er ein Schriftsteller gewesen war, dessen großes Talent der vielbewunderte Maxim Gorki entdeckt hatte. Gleichzeitig erfuhren die Leser, daß dieser Babel, seinerzeit in einem nicht näher bezeichneten Augenblick verblichen, nunmehr rehabilitiert wurde. Nun würden seine Werke ungesäumt aus dem Nichts wiederauferstehen. Die offizielle literarische Zeitung enthüllte nicht die Gründe, derenthalben das unfehlbare Regime den schuldlosen Dichter zur totalitären Strafe verurteilt hatte: zur Strafe, niemals gewesen zu sein. Man erfuhr auch nicht, wann und wo Stalins Schergen das Opfer umgebracht hatten. In all diesen Jahren, in dieser langen Zeit der Verachtung, haben wir oft an den Toten gedacht. Im Kampf gegen die Totalitären und ihre intellektuellen Spießgesellen vergaßen wir nie, daß wir es mit Isaak Babels Mördern zu tun hatten. *** »Es gibt bei uns eine neue Art von Literatur: die Literatur des Schweigens. Ich selbst betrachte mich als einen Meister dieser neuen literarischen Gattung.« Indem Babel die Delegierten des Kongresses der sowjetischen Schriftsteller solcherart herausforderte, setzte er sich Gefahren aus. Er wußte es, denn es war spät geworden: man war im Sommer 1934. Noch war er nicht angeklagt und dennoch
schon verurteilt. Verurteilt, weil er nun einmal war, wie er war, und für alles, was er je getan hatte, so gut wie für all das, was er niemals tun würde. Verurteilt wegen seiner schmerzlichen Ironie, die ihn nie verließ, weil er aus seinem Herzen den Herbst nicht verscheuchen konnte, der darin nistete seit einem Oktobertage des Jahres 1905. Da ist er, an diesem Sonntagmorgen: Isaak, der elfjährige Sohn des Manys Babel. Er läuft durch die Straßen der ukrainischen Stadt Nikolajew, denn er hat ein Rendezvous mit dem Glück. In diesen Oktobertagen reifen seine kühnsten Hoffnungen und werden wunderbare Wirklichkeit: der jüdische Knabe hat es endlich erreicht – zweimal hat er das Hindernisrennen des Numerus clausus gewonnen, zweimal hat er mit den besten Noten die Prüfungen bestanden: er ist nun endlich ein russischer Gymnasiast … Und noch Größeres geschieht: ein Manifest des Zaren verspricht dem Reiche eine Konstitution, allen Bürgern die Freiheit, die Gleichheit … Und die Nachbarin, die Gattin eines Offiziers, hat dem Knaben zugelächelt. Galina heißt sie, sie ist die Schönheit, die Heldin aller Gedichte, mit denen der Junge seine Seele nährt … Und der alte Onkel Schojle hat ihm einen Taubenschlag geschenkt; der Vater hat ihm das Geld gegeben, er kann endlich die Tauben kaufen, der Vogelhändler erwartet ihn … Doch diesmal ist der Mann kurz angebunden, er will den Judenbuben schnell loswerden, denn auch er hat ein Stelldichein: jeden Augenblick können die Gewehre losknattern und den guten Christen eine glückliche
Botschaft verkünden: Um Rußland und den Zaren zu retten, wird es jedem freigestellt, die Häuser der Juden zu plündern und die Ungläubigen zu erschlagen, wenn es sich so ergibt. Isaak ist zu glücklich, daher beachtet er nicht das Geknatter der Gewehre. Der Hausierer, den er seit langem kennt, ein Mann, der die Leute immer zum Lachen bringt, winkt ihn zu sich heran und läßt sich die Tauben zeigen. Unversehens entreißt er sie dem Kinde und dreht ihnen, einer nach der andern, den Hals ab. Die blutigen Reste zerdrückt er auf dem Gesicht des Knaben, ehe er davoneilt, um sich den Pogromisten zuzugesellen. Wie geblendet durch das Blut, eingehüllt in die Finsternis des mittäglichen Alptraums, so läuft der Junge nach Hause. Doch das Haus ist leer; im Hof, genau unterhalb des Taubenschlags, strauchelt er über den Leichnam Onkel Schojles, die Mörder haben ihn abscheulich entstellt. Isaak läuft davon, er sucht die Mutter und findet sie endlich bei der Nachbarin. Galina wäscht ihm das Gesicht, sie entfernt die blutigen Federn, die an seiner Brille und an den Haaren kleben. Er möchte sich verstecken, völlig verschwinden, doch muß er hinaus, den Vater holen. Er entdeckt ihn in der Nähe des Hauses, das noch vor wenigen Stunden sein Heim gewesen ist. Mitten auf der Straße kniet Manys Babel im Staub vor dem Kosakenoffizier, den er anfleht, einzugreifen, die Plünderer endlich davonzujagen. Der Sohn wird gequälter Zeuge der Erniedrigung: er muß zusehen, wie der Vater ein Bein des Pferdes streichelt; er muß hören, wie sein
Vater jämmerliche Bitten an den Hauptmann richtet, der, hoch zu Roß, nicht einmal einen Blick hat für den Gedemütigten. Endlich ziehen die Reiter wieder davon: die Pflicht ruft sie – sie müssen die Abwehrgruppen der Juden auseinandertreiben. Als der Abend einbricht, wird Isaak, der mit seinem Vater in das Haus der angebeteten Frau zurückgekommen ist, von Krämpfen erfaßt, die kein Mittel beruhigt; er erbricht bis zum Morgen. Der Arzt rät, ihn sofort zu einem Spezialisten nach Odessa zu bringen. Es würde jedenfalls besser sein, daß das verschreckte Kind niemals mehr nach Nikolajew zurückkehre. Die Familie selbst läßt nichts zurück, wenn sie diese Stadt aufgibt, in der sie alles verloren hat. Sie wird sich in der Moldawanka niederlassen, im jüdischen Elendsviertel Odessas. In der heiteren Hafenstadt des Südens hätte Babel der Freude begegnen und den Herbst vergessen können. Ein Fremder, der aus der Bretagne stammende Professor, der ihn an der Handelsschule in Literatur und französischer Sprache unterrichtete, offenbarte ihm die Schönheit der Werke Flauberts und Maupassants. Der Jüngling war von ihnen so hingerissen, als wären sie die Evangelien einer einzigartigen Kunst und eines neuen Lebens zugleich … Es gab damals einen russischen Journalisten, der sich’s angelegen sein ließ, den Kindern dieser Elendsviertel die Wunder der Natur zu entdecken; er überzeugte Isaak, daß das Wasser des Schwarzen Meeres auch den kleinen
Leib eines Nachkömmlings von Rabbinern tragen würde. Dieser Christ, durch den literarischen Fanatismus des Jungen beeindruckt, drang in ihn, die Namen aller Dinge zu erlernen und immer die richtigsten auszuwählen: für Blumen, für Bäume, für jede Gestalt und für jede Farbe, für alle Gegenstände, die den Blick anziehen. Die Alten der Moldawanka brachten dem jungen Juden bei, was die Religion zu wissen gebietet; doch daneben erfuhr er die Legenden, die sich um die jüdischen Gangster woben, die man noch mehr bewunderte, als man sie fürchtete. In jenen Jahren las Babel alles, was ihm in die Hände geriet; alles schien auf ihn zuzukommen – er vergaß nichts. Er kannte außer dem Hebräischen drei Sprachen: Jiddisch, Russisch und Französisch. Nur seine ersten Erzählungen verfaßte er in der Sprache Maupassants, sein ganzes übriges Werk ist russisch geschrieben – alles in allem nicht mehr als 350 Seiten. Erzählungen, Novellen und Theaterstücke, die zusammen die Autobiographie eines Mannes bilden, der überall der Gewalt begegnet ist; sie war nicht selten mörderisch, immer war sie erniedrigend. Manchmal hätte er sich mit der Gewalt aussöhnen wollen, doch gelang’s ihm nie, denn immer mußte er sich eins fühlen mit den Opfern. Selbst dann, wenn er sich im Lager der Machthaber befand. Die Oktoberrevolution, der er getreu diente, löschte den Oktobersonntag von 1905 nicht aus. Um der Finsternis zu entweichen, ging er manchmal darauf aus, das Licht der armen Kerzen zu suchen, die seine Mutter am Frei
tagabend unter Segenssprüchen entzündete. Auch als er Vertreter der herrschenden Partei war, politischer Kommissar eines roten Kosakenregiments, bewegte ihn das Heimweh nach diesem Licht: in den Städtchen Ostgaliziens und Wolhyniens, in den zerstörten jüdischen Häuschen suchte er es – wie eine Botschaft, die ihm allein zugedacht war. Er setzte sich an den Tisch chassidischer Rabbis und – auf dem menschenleeren Markte – an die Seite alter Trödler, um die Weisheit zu ergründen, mit der sein altes Volk seit Jahrtausenden der Gewalt antwortete – sein immer geschlagenes und nie besiegtes Volk. Babel behauptete häufig, daß seine literarische Laufbahn erst im Jahre 1924 begonnen habe. In der Tat hatte er schon 1915 Odessa verlassen um Petersburg zu erobern. Aber die Residenzstadt widerstand ihm: sie ließ ihn nicht einmal ein. Man verweigerte ihm die Aufenthaltserlaubnis. Die Juden erhielten dieses Privileg nur, wenn es ihnen gelang, bestimmte Gründe geltend zu machen, denen Geld das stärkste Gewicht verlieh. Isaak Babel war aber arm bis zur Lächerlichkeit. Er versteckte sich und schlief in einem Keller; tagsüber rannte er literarischen Zeitschriften die Türen ein, die seine Mitarbeit unermüdlich zurückwiesen. Eines Tages aber traf das mit Verzweiflung erhoffte Wunder ein: der Meister der russischen Literatur, Maxim Gorki in Person, empfing den Eindringling aus der Moldawanka und veröffentlichte kurz danach einige seiner Erzählungen in der angesehenen Revue Letopis. Das war ein Triumph, doch gar zu kurzlebig. Ihm folgte
blitzschnell die Niederlage, denn die Zensur und die Polizei griffen sofort ein. Gorki beschützte seinen Mitarbeiter zwar und ermutigte ihn in so eindrucksvoller Weise, daß Babel bis an sein Lebensende nur in tiefer Bewegung daran zurückdenken konnte. Gleichzeitig aber empfahl ihm der Dichter des Nachtasyl, bis auf weiteres jede literarische Tätigkeit einzustellen und in die Schule des »wirklichen Lebens« zu gehen, dorthin, wo man den »wirklichen Menschen« begegnet. Babels neunjährige Lehrzeit war übervoll ausgefüllt mit diesem wirklichen Leben: mit zwei Revolutionen, einem furchtbaren, langen Bürgerkrieg, schließlich dem sowjetischen Krieg gegen Polen. Noch ehe er sich in die Kavallerie Budjonnys einreihte, schlug sich Babel an der Südfront, sodann im Norden gegen Judenitsch; er wanderte kreuz und quer durch das Wolgagebiet auf der Suche nach Lebensmitteln für die Arbeiter des hungernden Petrograd. Er war ein Mitglied des Revolutionären Komitees in Odessa. Später arbeitete er im Kommissariat für Volkserziehung; er übte gar viele Berufe aus, unter anderen den des Druckers. Während all dieser schweren Jahre bereitete er sich darauf vor, Schriftsteller zu werden. Im Jahre 1924 trat er wieder auf den Plan: die in der Zeitschrift Ljewo erstmalig veröffentlichten Erzählungen stellten ihn sofort neben die besten russischen Prosaiker seiner Generation. Zwei Jahre später erschien Budjonnys Reiterarmee, die ihm einen ganz außergewöhnlichen Erfolg einbrachte. Noch mehr als den Inhalt lobte man
den Stil und die Schönheit der russischen Sprache, die dieser Sohn der Moldawanka meisterte. Sein zweites Buch, Odessaer Geschichten, sodann einige Erzählungen und Novellen, unter diesen besonders Der Taubenschlag, bestärkten die Kritiker und die Leser in der Hoffnung, daß Isaak Babel, seiner Berufung treu, Großes leisten werden. Man kennt zwei Theaterstücke von Babel: Sonnenuntergang und Maria. Das erste Stück wurde 1928 veröffentlicht und blieb während einiger Jahre auf dem Spielplan in Moskau, Kiew, Leningrad und in anderen Städten. Maria, 1935 in einer Theaterzeitschrift veröffentlicht, durfte nicht aufgeführt werden. Es ist gewiß, daß der Dichter auch andere Dramen verfaßt hat; sie blieben verborgen wie alles, was er in der innern Verbannung schrieb. Daneben produzierte er Filmszenarios, die gewöhnlich nicht verwendet, aber honoriert wurden. So fristete er sein Leben. Die Helden des Schauspiels Sonnenuntergang waren den Lesern Babels wohlvertraut. Mit Vergnügen begegnete man wieder der turbulenten Familie Krik aus dem Odessaer Judenviertel Moldawanka. Der alte »Luftmensch« Arje-Lejb, Tempeldiener, Makler, Heiratsvermittler, Friedhofswächter und – in erster Linie – Philosoph, hatte einmal dem kleinen Isaak Babel enthüllt, wie Benja, der Sohn des Fuhrmanns Mendel Krik, König wurde: König der jüdischen Gangster von Odessa. Den Alten wie den Jungen erfüllte Stolz darüber, daß Juden so stark,
so gefährlich sein konnten. Arje-Lejb übertrieb in der besonderen Art des Städtel, dessen Bewohner in ihren ewigen philosophisch-religiösen Disputen pathetisch und in Familienangelegenheiten hemmungslos und gefühlsduselig waren. Doch niemals konnten sie der Ironie entgehen – nicht der eigenen und nicht der fremden. Sonnenuntergang gehört, obschon russisch geschrieben, zum jiddischen Theater, dessen erste Heimat zur Zeit des genialen Abraham Goldfaden die Stadt Odessa wurde – dieses russische und jüdische Marseille. Das ist eine alte Geschichte, die uns Babel da erzählt, vom zu lebenskräftigen alten Vater, der das Abendrot mit dem Morgenrot verwechselt und ein neues Leben mit einer jungen Frau beginnen will. Auch Goldfaden hat diese Geschichte gekannt und vor ihm zahllose Autoren jenes Theaters, dessen »Bilder mit Tanz und Gesang« die Zuschauer im Verlaufe eines Abends abwechselnd tragisch erschüttern und possenhaft erheitern mußten. Und das gelang Abraham Goldfaden fast immer. Doch in Sonnenuntergang sind die Söhne nicht schwächer als der Vater. Mühelos vollziehen sie den Umsturz und retten die Familie. Am Ende gibt es, so verlangt es die letzte Regiebemerkung Babels, »Flötenspiel, Gläserklingen, Rufe, lautes Lachen«. »Doch von jetzt an muß man schreiben wie Stalin!« Auch das sagte er auf jenem Kongreß der sowjetischen Schriftsteller. Folglich schrieb er überhaupt nicht mehr, oder nur insgeheim, für festverschlossene Schubfächer.
Die totalitäre Tyrannis aber ahndet als ein Verbrechen der Majestätsbeleidigung das Schweigen jener, von denen sie erwartet, beweihräuchert zu werden. Man stieß auf den Namen Trotzkis und den vielfachen Widerhall seines Ruhms in den Büchern Babels, bevor diese vom Zensor gesäubert wurden; der Name Stalins hingegen war in ihnen nirgends erwähnt. Auch dies wurde nicht verziehen. Der Dichter wußte es, dennoch unterließ er es, seine Vergangenheit rückwirkend zu revidieren, wie so viele andere es taten, um ihr Leben zu retten. Babel verfiel in ein Schweigen, das täglich gefahrvoller wurde. Er war verloren an dem Tag, an dem Gorki in byzantinischer Pracht begraben wurde, »getötet nicht ohne das Wissen Stalins«, wie Chruschtschow sich ausgedrückt hat. Mehr als 50 Jahre trennen mich von meiner ersten Begegnung mit den Werken lsaak Babels, Da ich in diesen Tagen seine Erzählungen wieder lese, finde ich sie seltsam verwandelt, Ihre Ironie ist abgeschwächt, es gelingt ihr nicht mehr, die Wehmut zu übertönen – im Gegenteil, nun verleiht sie der Klage eine schmerzliche Eindringlichkeit. Der Judaismus erscheint selbst in den Texten, wo es sich keineswegs um Jüdisches handelt, überaus verstärkt, ja fast beherrschend. Die mit einer wunderbaren Kunst gestalteten Einzelheiten verhüllen nicht mehr die tiefere Bedeutung des Ganzen, das Getöse der Schlachten und die wilden Gesänge der kühnen Reiter übertäuben nicht mehr die halberstickten Schreie eines Gewissens. Des Gewissens eines Menschen, der die Helden bewundern möchte, aber
unfähig bleibt, zu vergessen, daß die Gewalt nichts anderes hervorbringt als Gewalt. Nach der mörderischen Schlacht betet der jüdische Kosak: »Mein Gott, gewähr mir die Gabe, daß ich soll töten können, wie es die anderen tun.« Er reitet wie die Kosaken, das hat er endlich gelernt; er ist immer in den vordersten Reihen, wenn es gilt, den Mut zu erproben, dennoch bedrängt ihn jeden Tag stärker die Gewißheit, daß er niemals einer der ihren sein wird. Isaak Babel ist dazu verdammt, sich stets nur mit den Opfern eins zu fühlen, selbst dann, wenn das Schicksal, so gut wie sein eigener Entschluß, den Sohn Manys Babels aus Nikolajew auf die Seite der Revolution stellt, ehe sie zur Verderbnis wird. Eine Epoche großer Umwälzungen bringt häufig solche gleichsam erhabenen Scherze hervor; sie inszeniert tragische Possen mit Finten, die man heute gags nennt. Wir haben verlernt, über diese gags zu lachen. Die frühreifen Begabten müssen mehr als einmal reifen, ehe sie endlich selber ernten dürfen. Babel war einer dieser Frühreifen: in seinen Büchern bereitete er gleichsam die Elemente vor, die er später dazu verwandt hätte, sein Meisterwerk zu schaffen. Dies aber mußte verhindert werden. Das Regime der Mörder wußte, was es tat.
Vor Jahrtausenden sprach ein weiser Rabbi von dem seltsamen Klang, der zu ertönen beginnt, wenn zerstörerische Hände einen Baum fällen, ehe seine Zeit gekommen ist. Diese wortlose Klage geht um die ganze Welt in endlosem Kreislauf; sie verstummt nimmermehr.
Postskriptum: Am 18. Dezember 1954 wurde Isaak Babel insgeheim rehabilitiert. Erst viele Jahre später erfuhr man, daß der Dichter am 26. November 1940 verurteilt worden war – jedoch nicht, von wem, für welches Verbrechen und zu welcher Strafe. Als Todesdatum wird der 17. März 1941 genannt. Dieses einzige, offizielle Dokument enthält vier Zeilen.
Ende e-Book: Manès Sperber – Churban oder Die unfaßbare Gewißheit