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Druso
oder:
Die gestohlene Menschenwelt
Roman
von
Friedrich Freksa
Gescannt von c0y0te.
Verlag Hermann Reck...
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1
Druso
oder:
Die gestohlene Menschenwelt
Roman
von
Friedrich Freksa
Gescannt von c0y0te.
Verlag Hermann Reckendorf GmbH
Berlin SW 68
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Motto: Wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. Es gibt keinen andern. Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuv vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben. Dieses ehrliche Ende ist das einzige, das man dem Menschen nicht nehmen kann. Schlußwort aus Oswald Spengler: „Der Mensch und die Technik“.
Heinz Amelung in Freundschaft gewidmet.
—————————————————————— Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt!
—————————————————————— Titelgestaltung: c0y0te
(unter Verwendung des Titelbildes der französischen Ausgabe)
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1931 by Verlag Hermann Reckendorf GmbH Berlin SW 68
Presse: Hermann Klokow Berlin S 14
I. Motto: Reinigung von Blutschuld suchen sie ver geblich, indem sie sich mit Blut besudeln, wie wenn einer, der in Kot getreten, sich mit Kot abwaschen wollte. Herakleitos von Ephesus. 5. Jahrhundert v. Chr. Vom Auftrag des Erzählers: Die Sage von der großen Fahrt in die Zeit, die um 2300 unternommen ward, wird zum Gedächtnisse des Volkes von Atlantis niedergeschrieben. Ein Rückblick ins Jahr 2000, auf die Abenteuer, die Captain Scott in China erlebte. Wie aus Kriegslust die Menschheit zum Geheimnis des Tiefschlafs kam und der Fernseher im letzten Menschheitskriege die Entscheidung brachte. Aber nach dem Gesetz, daß Böses Gutes zeugen muß, erwuchs aus dem Kriegsmittel Tiefschlaf des Menschengeistes höchster Triumph.
Gehorsam dem Wunsche des großen Rates von Atlantis, schreibe ich nieder die Sage von der Reise aus einem Zeit alter in ein anderes, die wir vier Menschen aus dem Jahre 2300 vollbracht. In Glanz und Glück der Menschheit ver ließen wir unsere Lebenswelt von damals, um sie wieder zufinden nach zweihundertdreiundachtzig Jahren elend und verknechtet und die Menschheit selbst als ein Gebrauchsvieh unter der Herrschaft des Raubsterns Druso. Aber uns vieren war es vorbehalten, das heilige Feuer des Freiheitskampfes zu entfachen gegen die Drusonen. Wir siegten, weil der Erbschatz der Menschen an Wissen, Geduld und nicht zum letzten an Stolz, Menschen zu sein, unerschöpft war! 5
Ich zähle heute dreiundsiebzig Jahre nach der gelebten Zeitenzahl. Nehme ich aber hinzu die Tage der Reise im Schlaf, so komme ich auf das Alter von dreihundertsechsund fünfzig Jahren, und habe erlitten viel Erschütterung, Ver zweiflung, so daß mir wohl nachzusehen ist, wenn ich kunst los berichte, so wie ich's kann. Vieles von dem, was ich melde, wird euch Atlantikern, den Beherrschern der ver jüngten Erde, als selbstverständlich erscheinen, weil ihr mit Schnelle hineingewachsen seid in eine neue Zeit des Erken nens und Wissens, vieles aber fremd und seltsam. Doch um alles zu erfassen, darf ich nichts versäumen und muß, um recht zu berichten, vor allem zwei technische Mittel für den Dienst der Befreiung beschreiben, die uns die Rettung brachten. Die Kenntnis vom biologischen Tiefschlaf war das eine. Ohne dies Wissen wären Judith mit ihrem werdenden Kinde, meine zwei andern Gefährten und ich nicht über die zweihundertdreiundachtzig Jahre hinübergelangt in die Epoche, die heute die atlantische heißt. Ohne uns und den Menschheitsschatz in den Gewölben der wissenschaftlichen Station zu Rhein-Aachen wäre sicherlich vieles nicht so schnell gelungen, wie es gelungen ist. Von allen Erfindungen aber, die wir mitbrachten aus den Tagen der Vorzeit, war die wirksamste der Fernseher. Durch ihn gelang es, die Dru sonen zu beobachten, das Wissen der Menschen über dies seltsame Insektenvolk eines andern Sterns zu vervollstän digen, innere Überlegenheit zu erlangen. Beide aber, Tief schlaf und Fernseher, sind schon in den Tagen ihrer Ent deckung mit dem Geschicke der Menschen aufs engste und 6
seltsamste verknüpft. Ohne den Fernseher hätte das Schicksal der Menschheit schon einmal sich anders gestalten müssen, und ein weißes Volk von Atlantikern würde es wohl nicht geben, hätte damals der Fernseher nicht seine Wirkung getan. Darum will ich zuvor erzählen, wie die Menschheit zu diesen beiden gelangte, Tiefschlaf und Fernseher. Die Menschheit war müde geworden im ungeheuren 20. Jahrhundert der Selbstvernichtung. Vom Jahre 1900 ab hatten die Kriege nicht aufgehört auf der Erde zu wüten, und die Maschinen und Zerstörungsmittel waren so gewaltig geworden, daß die Menschen nicht mehr Herren darüber waren, sondern die Knechte der eigenen Mittel, so daß Kriege der Vertilgung lästiger Wanzen oder Heuschrecken glichen durch eine nie wieder erreichte Technik der Tötung. Darum sollten um die Wende zum 21. Jahrhundert, nach großen Worten und Prophezeiungen vorher, endlich die Kriege ausgemerzt werden. Und es forderten dies ungestüm die Menschen des nordamerikanischen Kontinents, die durch ihren Reichtum und ihre Härte alle Völker in ihre Abhän gigkeit gebracht hatten. Damals war das Problem des Krieges durch große Wissenschaftler völlig klargestellt worden. Arbeitsenergien verschlang ein Krieg! Diese Arbeitsenergien beruhten auf der Maschinenkraft eines Landes zum einen Teil und auf der Menschenkraft zum andern. Was schon ein Staatsmann des 20. Jahrhunderts bei dem Friedensschluß von Versailles ge sagt haben soll ,,Bei unsern Gegnern sind zwanzig Millionen 7
Menschen zuviel, daß wir ruhig leben können“, war in der letzten Tiefe erkannt worden. Planetarischer Friede konnte nur sein, wenn die einzelnen Räume der Erde soviel Ein wohner zugebilligt erhielten, wie sie unterhalten konnten, ohne daß eine bestimmte Höhe inneren Druckes im Volke überschritten wurde. Zuvor, als die Menschen noch nicht so weit domestiziert waren, hatte die Natur selbst ausgeglichen. Nachdem aber durch Wissen und Fürsorge das Lebensalter der Menschen — das noch im Jahre 1700 einundzwanzig Jahre des Durchschnitts betragen hatte bei sehr zahlreichen Kindergeburten — gestiegen war auf ein Alter von sechzig Jahren im Jahre 1990, war es klar, daß nur eine große Vereinbarung der Völker unter sich über die Zahl der Ge burten, die statthaft seien, zum endgültigen Ziel des Frie dens führen konnte. Ein Problem, ihr Atlantiker, war damals gestellt, das es heute nicht mehr gibt, weil ja die Erde wieder menschenleer geworden ist und die Menschen fruchtbar sein dürfen. Allein dies Problem wird sich einst wieder stellen, und die Menschen müssen trachten, rechtzeitig Fehler zu vermeiden, die eine ältere Zeit beging! Zu Genf, der Stadt, in der die Menschen einen Völker bund geschlossen hatten, wurde im Jahre 2012 der Pakt zur Regulierung der Geburten besiegelt. Vom Bunde aus wur den Kommissionen eingesetzt, die die einzelnen Völker unter Beobachtung hielten. Den Regierungen selbst wurde über lassen, Maßnahmen durchzuführen, die das Anwachsen der Bevölkerung verhinderten. Es waren damals manche wissen 8
schaftlichen Methoden bekannt, um Menschen unfruchtbar zu machen ohne große Schädigung. Diese Versuche gingen zurück aus jene biologische Entdeckerepoche, die um 1900 das Wissen der Menschheit bereicherte. Es war nichts Schreck liches, was gefordert wurde. Der Grundgedanke war, daß nur die besten Stämmlinge, von denen die Menschheit wirklich etwas erwarten konnte, weitergezüchtet würden. Zwei Men schenklassen waren damit geschaffen: die fruchtbare und die andere. Aus dieser Tatsache sind in der Folge viel Neid und Not entsprungen. Es waren dies zum Teil Ausläufer der großen Bewegung, die vorher die Völker wie ein Fieber ergriffen hatte, denn es war ein schreckliches Problem, was sich die Völker der Erde damals gestellt hatten. Es gab gewaltige Aufstände in der ganzen Welt. Apostel der Fruchtbarkeit traten auf, die gegen jede Gesundheitsmethode der Menschheit kämpften und erklärten: Es ist besser an Krankheit zu sterben, als den ge waltigsten Trieb, den der Fortpflanzung, einzuschränken. Damals begannen sich die neuen Stände zu entwickeln. Die gewaltigen Beamtenschaften der Staaten wurden zum Schwinden gebracht. Innerhalb einer halben Generation wurden Stellen nicht wieder neu besetzt und ein Ehren beamtentum geschaffen. Damit ward die Verwaltung der Staaten außerordentlich verbilligt. Das Kapital kam unter die Aufsicht der Wissenschaftler und Ingenieure. Ein Erbe, der nicht den Nachweis erbrachte, mit seinem Kapital selbst für die Wirtschaft etwas zu leisten, ward abgefunden. Die ganze neue Form des Wirtschaftslebens, der Selbstverant 9
wortlichen, wie wir es nannten, entstand. Vorhergegangen waren Versuche, das ganze Leben der Beamtenschaft aus zuliefern. Da war der ungeheuerliche russische Versuch ge wesen, die Menschen in rohe Kollektivwirtschaften zusammen zuschweißen. Aber der Nutzen an der Arbeit sank auf ein Minimum, da keiner Verantwortung tragen wollte. Nun waren neue Antriebe gegeben, und sie vermochten sich aus zuwirken, weil die von dem Völkerbund vorgeschriebene Volkszahl es ermöglichte, die Menschheit neu aufzuzüchten. Diese Zeit der Neuordnung der Menschheit wäre vielleicht nach einem halben Jahrhundert plötzlich zu Ende gegangen, wenn der Trotz der gelben Völker, die aus uralter Zeit ge wohnt waren, Fruchtbarkeit als das Heiligste des Lebens zu betrachten, sein Haupt hätte erheben können. Es war nahe daran, daß die Menschheit einen letzten fürchterlichsten Selbstvernichtungskrieg geführt hätte, und was von ihr dann übergeblieben wäre, hätte sicherlich eine Beschränkung der Geburten unnötig gemacht. In China war nach den Wirren unendlicher Bürgerkriege und unter dem Drucke des gesamten übrigen Planeten eine Friedenszeit gekommen, die durch den Namen des großen Präsidenten Sung Fung Li bezeichnet ist. Sein Nachfolger, Sung Yan, Lis Sohn, mußte das schwerwiegende Gesetz über die Selbstbeschränkung der Bevölkerung Chinas mit unterzeichnen. Er tat es und wurde sich wohl erst hernach der Schwierigkeiten bewußt, welche die Erfüllung des Genfer Paktes bedeutete. Daraus mag wohl nun der Plan ent sprungen sein, Hoffnungen bei seinem Volke zu erwecken, 10
zugleich wird aber sein unermeßlicher Ehrgeiz ihm das Traumbild vorgegaukelt haben, Kaiser einer ganzen mon golisch gewordenen Erde zu werden. Dreiundzwanzig Jahre nach dem Genfer Pakt vom Jahre 2012 stellte sich beim Chef der Sicherheit der Vereinigten Staaten, General Peasonby, ein Journalist vor unter dem Namen Richard Cordel, der behauptete, wichtige Nachrichten zu bringen. Diesem Mann ging ein großer Zeitungsruf vor aus über Kenntnisse des inneren Chinas, die von San Fran zisco aus über den Rundfunk und die Fernseher der gan zen Welt verbreitet wurden. Peasonby ließ den Mann sofort vor: er hatte im bewegten Lichtbild eine merkwürdige Ähnlichkeit dieses Mannes mit seinem Jugendfreunde Captain Richard Scott entdeckt, der neunzehn Jahre zuvor in der Mongolei verlorengegangen war. Als die beiden Männer nun beieinander waren und ihre Erfahrungen austauschten, ward Peasonby immer mehr erregt über die Ähnlichkeit mit seinem Jugendfreund. Da begann Richard Cordel unaufgefordert Szenen zu erzählen, die Peasonby mit Scott auf der Militärschule und bei ihrer Dienstausbildung erlebt hatten, so daß endlich General Peasonby ausrief: ,,Wenn Sie nicht über zwanzig Jahre jünger wären als ich, müßte ich Sie leibhaft für Richard Scott halten!" Der Besucher deckte seine Karten auf: ,,Dahin habe ich Sie bringen wollen, Peasonby, denn was ich zu berichten habe, ist so unglaublich, daß Sie nur nach dieser Selbstentdeckung mir folgen können.“ — 11
Der Bericht lautete: Bei seiner Reise durch China im Jahre 2016 war Captain Scott ein reges militärisches Leben aufgefallen, trotz aller Heimlichkeiten und Sicherungen, die von Bevölkerung und Regierung gemeinsam getroffen waren. Fabriken waren in Tätigkeit, die niemand betreten durste. Ganze Landschaften blieben für Europäer praktisch verschlossen. Scott reiste in die innere Mongolei, um Ein sichten zu gewinnen. Hier war im Laufe von 100 Jahren durch Mischung mit Russen eine neue Rasse entstanden. Das war günstig für den Hauptmann, da seine europäischen Züge weniger auffielen. Den Sohn eines Ziegelteehändlers, der in einer Spielhölle das Letzte hergegeben hatte, be stimmte er dazu, ihm seine Papiere zu überlassen. Nun tauchte er unter in dieser gärenden Menschheit, ließ sich an werben für die Kamelpolizei, und da er intelligent war und kühn, ward er in das Hochland von Palai geschickt mit der Aufgabe, geheime Aushebungen zu überwachen. Er ward Gruppenführer, und als solcher ausgebildet für einen chemi schen Zerstörungstrupp. Scott lernte Mittel kennen, die es den Chinesen erlaubten, ganze Quadratkilometer Land so fort unter Brand zu setzen. Es war ein Feuer, das mit außerordentlicher Lichtentwicklung aufflammte, die Augen blendete, Nerven zerstörte, ohne dabei einen allzu großen Schaden am nichtlebenden Material anzurichten. Die Chi nesen nannten es das kalte Kriegsfeuer, und Scott wurde klar, wie furchtbar die übrige Welt von den Mongolen be droht wäre. Da wir als Schüler diesen Bericht für die Prü fungen fast auswendig lernen mußten, als eines der wich 12
tigsten Dokumente der Menschheit, werde ich ihn hier aus dem Kopfe nachschreiben: „Ich übte mit meinen Mannschaften sechs Monate, dann wurden wir zu einem Marsch in die Alahanberge befohlen. Hier hatten wir eine Woche Rast, wurden außerordentlich gut gepflegt, ohne Dienst zu machen. Ich kann wohl sagen, wir wurden gemästet. Dann kamen Ärzte zur Impfung. Es war mir neu, daß die Chinesen in solchen gesunden Ge genden derartige Maßnahmen trafen. Nach der Impfung, die am Nachmittag erfolgte, wurden wir sehr frühzeitig zur Ruhe geschickt, die uns auch wohltat, da wir eine eigentüm liche Schwere in unseren Körpern fühlten. Als ich wieder erwachte, war es Nacht. Ich lag mit unangenehmer Be ängstigung in einem dunklen, kühlen Raume, der aus Fels zu sein schien. Ich hörte die Stimmen von Männern und vernahm in einem Südchinesisch, dessen Worte ich nicht ganz verstehen konnte: „Ja, damit müssen wir rechnen, Herr Doktor, daß von den Tausenden, die wir in den Winterschlaf schicken, einige nicht mit dem Leben davonkommen. Der Helle da —“ und ich sah durch die Augenlider, daß er auf mich wies — „muß irgendeine andere Blutzusammensetzung haben als unsere übrigen Mongolen. Diese da, die wir aus geschieden haben, sind ohne Zweifel Männer mit südlichem Blut und hätten eine andere Impfung haben müssen. Schade um sie! Davonkommen werden sie sicher nicht! Aber der hat noch Hoffnung — nun, wir wollen sehen. Wir wer den ihn gut pflegen, und wenn er wird, kann er an den Auffrischungsübungen der Armee teilnehmen.“ Diese selt 13
samen Worte gingen mir durch den Kopf. Ich beschloß, die Ohren offenzuhalten, und nahm alle Energien in mir zu sammen, meine Lebenskraft zu bewahren. Ich wurde in der Tat von den Ärzten auf das sorgfältigste gepflegt. Nach einigen Tagen konnte ich Dienst tun und sah nun, daß sich unsere Division nach wie vor in den Alahan bergen befand. Wir bekamen neue Instruktionen und für das kalte Feuer neue Geräte, die bedeutend vervollkommnet waren. Mongolische Händler kamen mit einer Karawane durchge zogen. Sie verkauften uns Tee, Leckerbissen, Seidengewän der. Und wir konnten kaufen, denn wir hatten einen zwölf monatigen Sold erhalten. Viel sprechen konnten wir mit diesen Händlern nicht, denn sie redeten in einer uns fremden Zunge. Aber als ich über ihren Lagerplatz schlenderte, nach dem sie auf ihren Kamelen fortgezogen waren, fand ich zer knüllte Zeitungsblätter der „Orient Times“ —. Sie trugen das Datum 5. Februar 2035. Ich schaute im politischen Teil nach, las im Handelsteil. Ja, entweder war ich ein Narr geworden, oder es waren seit meiner Ankunft in den Ala hanbergen über achtzehn Jahre verstrichen. Wer sollte mir das erklären? Die Mannschaften waren stumpfsinnig. Sie taten ihren Dienst, sie hatten zu essen und zu trinken. Sie waren zufrieden, wie es ein Asiat nur sein kann. Und die Offiziere blieben schweigsam. Selbst als es mir gelang, sie zu belauschen, hörte ich nichts von dem, was in meinem Hirn bohrte. Ich übersann genau alles, was ich erlebt hatte. Die Impfung, sagte ich mir, die Impfung birgt das Geheimnis! 14
Da hörte ich nach zweimonatigen Übungen, daß wieder ein Befehl zur nochmaligen Impfung herauskäme. Jetzt war Wachsamkeit not, um aufzuklären, um was es sich handelte. Ich sprach mit einem Kameraden, einem hellen Nord chinesen, daß wir beim Vortreten zum Impfen miteinander die Plätze vertauschen sollten. Er möge zwei Spritzen neh men und ich keine, weil mir davon so schlecht geworden wäre. Für eine genügende Anzahl von Taels tat er mir den Ge fallen. Als es dunkel geworden war in unserer Baracke und alles in einem totenähnlichen Schlaf lag, kroch ich davon, trug einen Schwerschlafenden aus der vordersten Ecke in mein Bett, nahm meine Kleidung, vertauschte meine Hab seligkeiten mit den seinen, machte mich davon und bemerkte nun, wie am Morgen eine Riesenanzahl von Lastwagen kam. In diese wurden die ruhenden Männer in Stroh ge packt, in Regale geschichtet, wie etwa Weinflaschen. Es ge lang mir, mich an einen dieser Wagen zu klammern und eine Fahrt mitzumachen, die uns in ein abgelegenes Berg tal führte. Hier stahl ich mich davon und konnte aus einer Deckung beobachten, was geschah. Die todähnlich Schlafen den wurden aus ihrer Umhüllung ausgepackt, entkleidet und von Ärzten in Bottiche getaucht, die mit einer wachsfarbe nen Flüssigkeit gefüllt waren. Dann wurden sie an Stricken, die unter die Achseln gezogen wurden, wie zum Trocknen ausgehängt. Ich forschte weiter und bemerkte, daß in den Berg Schienen hineinführten. Bald sah ich, wie die starren 15
Soldaten auf Loren geladen wurden, die in der Tiefe des Berges verschwanden. In der Dämmerung pürschte ich mich an den Berg heran. Hier schlief eine Wache von Sanitäts soldaten. Ich bemächtigte mich eines weißen Mantels, zog ihn über und schlich in den Berg. Große Höhlen waren aus gearbeitet, in denen durch gewaltige Thermosanlagen die Luft auf unveränderliche Höhe von vier Grad gebracht war. Überall hingen Thermometer, Feuchtigkeitsmesser, Regi strierapparate. Allmählich erst bemerkte ich, daß eine Wand aus großen Regalen bestand, und hier aus ledernen Kissen ruhten nun die nackten Leiber der erstarrten Soldaten. Ein Arzt kam und fragte mich, was ich zu suchen hätte. Es gelang mir, eine Opiumübelkeit vorzutäuschen. Der Doktor machte mir eine Injektion und befahl mir, schlafen zu gehen. Ich ging hinaus. Das Mittel, das er mir gegeben hatte, wirkte stark, doch hatte ich noch soviel Energie, mich davonzumachen und hinter einem Felsen Deckung zu finden. Hier schlief ich bis in den nächsten hellen Tag hinein. — Da fand ich, daß die Sanitätstruppen abgezogen waren. Der Eingang zu dem Berge war durch gewaltige Tore ge schlossen. Über der Pforte stand in den üblichen lateinischen Lettern des Chinesischen geschrieben: Si Hanon Kohlenberg werk, geschlossener Schacht Nr. 3. Ich machte mich davon, fand Arbeit bei einem herumzie henden Wandermongolen, beobachtete die Alahanberge wei ter und stieß in der Folge auf mehrere solcher Anlagen wie in dem ersten Tal. Gemach wurde mir klar, was die Mongolen in ihrer Klug 16
heit ersonnen hatten, zumal durchreisende Ärzte dieser schla fenden Armee bei einem Jagdausflug sich lebhaft darüber unterhielten, ob es nicht überhaupt gut wäre, wenn jedes menschliche Wesen durch einen längeren Winterschlaf sich von der Tätigkeit der Lebensfunktionen erholte. Die Chinesen hatten als Vorbereitung für einen großen Krieg einfach die biologische Kenntnis vom Winterschlaf ver wertet. Wir wissen ja durch Tierversuche über den Winter schlaf, die der deutsche Professor Währinger in Tübingen ge macht hat, daß es möglich ist, den Winterschlaf bei bestimm ten Tiergattungen über zehn, fünfzehn und auch zwanzig Jahre auszudehnen. Voraussetzung ist nur, daß die Tier gattung die Anlage zum Winterschlaf in ihrer Generations reihe hat. Daß dies beim Menschen mit nordischem Blut sicherlich der Fall ist, wissen wir, und daß die Mongolen zum Nordvolk zählen, ist bekannt. Wahrscheinlich haben die Chi nesen, darauf fußend, ihre Pläne entworfen. Sie sparen ausgebildete Bataillone und Kampftruppen in ihren Berg höhlen auf. Die Lebensfunktionen der Männer stehen still wie beim Bären oder bei den Fischen, die im Eis einfrieren. Die eigentliche Lebenskraft wird nicht verzehrt, das Ge dächtnis, die Erinnerung, alles bleibt. Es ist nur notwendig, von Zeit zu Zeit die schlafenden Bataillone aufzuwecken und mit den neueren Kriegserrungenschaften bekanntzumachen. Dann schickt man sie wieder zur Ruhe. Und während laut den geschlossenen Verträgen von Genf die Chinesen nur sechshunderttausend Mann unter Waffen halten dürfen, be sitzen sie heute in Wirklichkeit ein Heer von schlafenden 17
Millionen. Sie brauchen verlorene Schlachten nicht zu fürchten, die Reserven liegen bereit. Diese Armeen kosten blutwenig, denn die Männer essen nichts, sie schlafen und werden später ins Feuer geschickt, wenn die Stunde kommt, zu sterben. — Sie haben — ich stelle Beweise dafür — eben falls Hunderttausende, ja Millionen von jungen Weibern in gleichen Schlaf versenkt. Sie sorgen dafür, daß, wenn ein großer chinesischer Krieg über den gelben Erdteil dahin braust, Zeugungsreserven in der Erde ruhen, wie die Enger linge der Maikäfer.“ — Die Größe dieses Mongolenplanes ward von Peasonby und den amerikanischen Staatsmännern sofort begriffen, hatte doch noch die weiße Welt die Erinnerung, daß die Chinesenkhane den Imperialismus gezeitigt hatten, und daß die Cäsaren des alten Rom diese Herrschaftsform vielleicht nur nachahmten. Sofort wurden eilige Nachforschungen befohlen, ohne Rücksicht auf Kosten und Mittel. Die Gewißheit stieg, daß Kaiser Sun Yan die Erdherrschaft an sich reißen wollte und gewillt war, alle andern Rassen, außer der seinen, auszu rotten. Diese Austilgung der übrigen Menschheit war vor bereitet mit der stärksten aller Wissenschaften, der vom Leben. Während bisher die Kriege darin bestanden hatten, mit Hilfe roher Gewalt, der Chemie, der Physik zu ver nichten, hatte der Chinesenkaiser Lebensreserven in die Erde gesät. Nach der großen Vernichtung holte er neue Krieger, ein neues Volk aus dem Boden, aus den Kammern der Berge, frische Menschen, die durch keinerlei moralische Ein 18
drücke der Schlacht und Vernichtungsfeuer angekränkelt waren. Aber dasselbe Mittel der Aufspeicherung des Lebens hatte auch den Verrat des Planes gezeitigt. Richard Scott hatte ihn erforscht und kraft des biologischen Schlafes neun zehn Jahre seines Lebens gespart. Er gab die erste Nachricht von dem schlafenden Asien, und alsbald arbeiteten die be drohten Völker an der Abwehr. „Diese im Boden ruhenden Völker dürfen nie erwachen!“ hatte General Peasonby unter das Protokoll geschrieben, in dem er Captain Richard Scotts Erfahrungen weitergab. Um diese Zeit war der Such-Fernseher, den Erik Heßborn erfunden hatte, außerordentlich vervollkommnet worden. Der Ursprung des Fernsehers war die Lichttelegrafie ge wesen; in den primitiven Zeiten des 20. Jahrhunderts ließen sich die Zeitungen Darstellungen von Boxkämpfen, Schönheitskonkurrenzen, Gerichtsverhandlungen und politi schen Ereignissen auf Rasterbildern übermitteln und konnten so im Bild Ereignisse früher bringen, als wenn sie auf postalische Zusendung der Lichtbilder hätten warten wollen. Die Radiomethoden wurden auf diese telegrafische Bild berichterstattung angewandt, und dann kam Heßborn auf den genialen Gedanken des Doppelstroms der radio-elektri schen Zange. Der Empfänger brauchte nicht mehr auf einen Geber zu warten, er selber konnte sich, wenn er einen Platz genau bestimmen konnte, sein Objekt suchen und fixieren, wie es der alte Wald- und Wiesenfotograf früher mit seiner Kamera auf die Entfernung von drei bis tausend Meter gekonnt hatte. 19
Dieser Fernsucher wurde nun in gigantischem Ausmaße gebaute denn damals kannten die Menschen noch nicht die feineren Methoden der Zeit vom Jahre 2300, wo wir Fern seher hatten, die exakt arbeiteten und in der Hand zu tragen waren. — Mit diesem Heßbornschen Sucher wurden die Reserven der Chinesen in ihren Kühlkammern entdeckt. Aber die Beängstigung der Staatsmänner war so groß, daß sie sich nur eilig von der Tatsache selbst überzeugten. Das hastige Verdikt lautete: „Landschaften, in denen sich solche Kampfreserven befinden, werden vernichtet.“ Zu einer bestimmten Stunde, Minute, Sekunde ward das ganze innere China lahmgelegt durch elektrische Wellen, und dann setzte die Vernichtung ein, schweigend, sachlich, schrecklich. Alle Gebirge, in denen schlafende Heere vermutet wurden, überflutete die Kriegschemie dieser Tage mit auf lösenden Gasen. Der Chinesenkaiser selbst ward ergriffen und getötet, auf Beschluß des großen Friedensgerichtshofes im Haag, als Frevler an der Menschheit. Und das Urteil wurde gesprochen und vollzogen im Namen der Menschheit. Sun Yan ward aufgelöst in einem Vernichtungsofen, der innerhalb von zwei Sekunden achttausend Grad annahm. Seine Asche wurde in alle Winde gestreut. Der Schlag gegen China war so furchtbar, daß die Gelben auf zwei hundert Jahre durch keine Fruchtbarkeitsklausel mehr ge bunden wurden. Aber dies Entsetzliche zeitigte ein Gutes. Ausgleich trat in der Menschheit ein, in ihrem Denken, Fühlen, Gewissen, gemeinschaftlichem Wollen, in ihrer bio logischen Weiterzüchtung. Im Laufe dieser zweihundert 20
Jahre konnte sich die gelbe Rasse in das allgemeine wissen schaftliche Denken der erneuten Menschheit einfügen. Die Methode des biologischen Schlafes ward nun genau studiert und erprobt, und vierzig Jahre nach der Vertilgung der chinesischen Lebensreserven fand zu Köln, dem chemi schen Forschungsmittelpunkte der Erde, ein Kongreß statt. Drei Chinesen wurden vorgestellt, die damals nach der Ver nichtung im Tiefschlaf gefunden waren und nun zur Be sinnung gebracht wurden. Experimentell war also erwiesen, Menschen über sehr große Zeitspannen am Leben zu erhalten. Fast unmittelbar darauf wurde von den wissen schaftlichen Regierungen der Erdstaaten der schwerwiegende Entschluß gefaßt, die Tradition der Menschheit nicht zu sichern allein durch Annalen und Bücher, sondern durch die Tradition lebendiger Seelen. Es war erkannt worden, daß der Sinn der Menschheit in drei Generationen einem völligen Wandel unterworfen ist. Die Arbeitsmethoden und Wortsymbole erhalten eine andre Bedeutung und Schwerkraft, der Wille schlägt nach einer anderen Rich tung aus, die Blickfelder verändern sich. Es ist schwer für den Denker, anzuknüpfen an eine Zeit, die hundert Jahre zurückliegt. Viele Ideen, die für die Menschheit Großes bedeuten würden, bleiben im Keim erstarrt liegen, werden vernachlässigt, und es können Jahrhunderte vergehen, ehe sie eine neue Beachtung finden. Aber alle Vorarbeit, die einst geleistet war, ist dann vergebens fast geschehen. Darum erschien es der wissenschaftlichen Leitung der Volker der Welt als eine Notwendigkeit, die Tradition des 21
geistigen Gehalts besonders zu pflegen, und es ward be schlossen, alle neunundneunzig Jahre eine kleine Auslese der geistigen und künstlerischen Menschheit in biologischen Tiefschlaf zu versetzen, damit die Enkel dereinst aus lebendi gem Munde das vernehmen könnten, was vor hundert Jahren die Menschheit beschäftigte. Auch wurde damit ge rechnet, daß durch Nachprüfung diese Eliteschar selbst er kennen konnte, wo geistige Züchtungsstämme verkümmert waren. Kurz, es sollte das Wichtigste der Menschheit ge rettet werden, die Keime der großen Ideen. Und es ward beschlossen, diesen großen Versuch eines neunundneunzigjährigen Schlafes unter wissenschaftlicher Beobachtung zum ersten Male zu machen im Jahre 2100. In jahrelanger Arbeit wurden am Ufer des Rheins zu Groß-Aachen die Vorbereitungen getroffen zu einem unter irdischen Bau. Tiefste Ruhe sollte herrschen, jede Beschädi gung ausgeschlossen sein. Die besten Köpfe ersannen die besten Methoden, war es doch eine Expedition, die über die Zeit geschickt werden sollte, und es herrschte unter der wissenschaftlichen Menschheit ein Enthusiasmus, wie ihn vielleicht nur die Zeit der großen Polarforschung und jene andere Zeit erlebt hatte, da es die Menschen unternahmen, das Fliegen zu lernen. —
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II. Motto: Ein schön Begegnen zwei erwählter Herzen! Der Himmel regne Huld aus das herab, Was zwischen ihnen aufkeimt. Prospero. Shakespeare, Der Sturm. 17. Jahrh. n.Chr. Alf Bentink, der Erzähler, berichtet von seiner Jugend und den Sitten der Menschen im 24. Jahrhundert. Wie er durch Selbstzucht den Berechtigungsschein zur fruchtbaren Ehe erlangt und seine künf tige Braut Judith findet. Wie die überdomestizierten Menschen die Natur suchen. Bentink findet sie durch den Hinweis Judiths in den Bannwäldern Südamerikas. Die Lebensformen der Menschen wan deln sich, aber die Liebe bleibt ewig. Hurst und Flius, Maria Lang land und Hochkofler. Wie Bentinks Vater starb.
Nun muß ich von mir selbst berichten: Meine Geburt, am 25. April im Jahre 2267, stand unter keinem guten Vorzeichen. Als ich aus die Welt kam und untersucht wurde, lautete das Zeugnis des Arztes nicht verheißungsvoll. Hätte mein Vater nicht zu jenen Ben tinks gehört, die dem Erdplaneten eine ganze Reihe wissen schaftlicher Führer schenkten, und wäre meine Mutter nicht eine Walter gewesen, die einen Ehrenplatz unter den Ingenieurfamilien des Landes innehatten, so wäre ich sicher damals schon gemäß den herrschenden Gesetzen als nicht lebenskräftiger Stämmling thermisch vernichtet worden. So wurde meinen Eltern gnädigst die Entscheidung zuge schoben, und sie warteten zwölf schreckliche Wochen, von 23
denen meine Mutter oft später noch erzählt hat. Dann kam ich vor die Lebenskommission, die in allen Fällen ausschlag gebende Entscheidung hatte. Für euch Atlantiker, die ihr froh seid, nach der fürchterlichen Verminderung der ganzen Menschheit überhaupt neues Leben zu erwecken, mag es interessant sein, etwas über die damalige Art der Auslese zu erfahren. Vor allem Mädchen wurden in strengerer Weise geprüft als Knaben. Die erleichterten Lebensbedin gungen auf unserem Erdplaneten, das fast gänzliche Auf hören schwerer körperlicher Arbeit, für die der Sport keinen Ersatz brachte, die bessere nach streng wissenschaftlicher Rech nung durchgeführte Fütterung hatten ein altes biologisches Gesetz für die Menschheit zur Auswirkung gebracht, näm lich, daß die männliche Art rückgeht und die weibliche stärker wird, wenn sich die Lebensbedingungen bessern. Zu unserer Zeit hatte sich das schon dahin ausgewirkt, daß bei der weißen Rasse auf hundert männliche Geburten hundert siebzig weibliche fielen. Das hatte zur Folge, daß bei dem größeren Sterblichkeitssatze, der den männlichen Geburten nun einmal eigen ist, bei einem natürlichen Verlauf der Lebensentwicklung etwa mit zwanzig Jahren fast zwei Frauen aus einen Mann gekommen wären. Die Folge war, daß schon bei der Geburtsprüfung die Auslese beim weiblichen Geschlecht stärker einsetzte als beim männlichen. Aber auch bei der männlichen Geburt wurde sehr stark ausgesiebt. Es gab eine Reihe von Plus punkten. Sie wurden errechnet nach Formeln aus der Genealogie, die sorgfältiger geführt wurde als je Adels 24
Stammbaume vorher. Aber diese Pluspunkte wurden erst im letzten Augenblick als Ausgleichsmomente der Rechnung beigeführt. Vorher durchreiste der Säugling aus einem laufenden Bande die verschiedenen Untersuchungsstationen. Es wurden geprüft das Knochengerüst, der Schädelbau, nach sehr seinen Methoden Augen, Ohren, Nase, Atmungsorgane, Drüsenveranlagung, nervöse Tätigkeit. Dadurch, daß der Prozeß geteilt war in siebenunddreißig Einzelbeobachtun gen, und daß der Säugling nur mit einer Nummer versehen seine Reise durch das Institut in einem Bettkästchen antrat, war eine absolute Objektivität gewährleistet. Selbst bei der Formelberechnung, die zum Schluß ausschlaggebend war, wurde nicht der Name sondern nur die Formelgrößen aus der Genealogie hinzugefügt. Nur zweieinhalb Punkte er reichte ich damals über der sogenannten Notgrenze. Daraus erfolgte die Entscheidung, ich hätte bis zum zweiten Jahre in Höhenluft bei einem warmen, gemäßigten Klima meine erste Lebensentwicklung durchzumachen. Bei meiner Mutter trat ein, was Erfahrung in solchen Fällen meistens lehrt. Sie war eine hochbegabte Frau, die ganz und gar in ihrem Berufe der Pflanzenzuchtexperimente aufging und dabei mit einer hingebungsvollen Liebe an meinem Vater hing, der am außerplanetarisch-elektrischen Forschungsinstitute der astronomischen Hauptstation Eu ropas auf dem Mont Blanc Leiter war. Meine Mutter ließ sich beurlauben, um ganz für mich zu leben, und wählte als Aufenthalt ein Erholungsheim im hohen Taurus des südlichen Kleinasiens unter milder Südsonne in der Höhen 25
lage von zweitausend Meter. Nach zwei Jahren, in denen mich die Mutter, wie sie sagte, als ihre Herzpflanze gepflegt hatte, empfing sie das erlösende Urteil: Er darf weiterleben, darf sich dem Berufe eines Kopfarbeiters widmen. Denn noch immer hatte mich eines bedroht, daß die Erbzüchtungs kommission mir als dem Gliede einer hochgeistigen Familie Kopfruhe und Arbeit im Freien auferlegte. Aber in mir selbst waren naturgegebene Kräfte tätig, die ausgleichend und fördernd in mir wirkten. So entging ich einem andern schrecklichen Lose, das mich durch meine Geburt bedrohte. Ich hatte, ohne es zu wissen, einen Vermerk der biologischen Kommission in meinen Staatspapieren, das sogenannte Endpunktzeichen. Das wurde wie ein Staatsgeheimnis be handelt und erschien nur auf eine bestimmte chemische Reaktion hin, wenn die Papiere wieder zur Vorlage kamen. Es bedeutete für den, der es in seinen Papieren hatte, daß ihm die Erlaubnis zu einer fruchtbaren Ehe in den Jahren der Reife ohne Prüfung nicht gestattet würde. Von diesem Geheimzeichen wußte keiner etwas außer der Kommission, die achtzehn Jahre nach der Geburt etwa die mit chemischer Geheimschrift eingetragene Marke wieder sichtbar machte. Die Originalpapiere selbst ruhten im großen Archiv. Miß brauch konnte mit ihnen nicht getrieben werden. Jemand, der eine Ehe schließen wollte, stellte sich einfach der Kom mission vor. Dann begann rein objektiv die Prüfung genau so wie bei einem Säugling, und es wurde das, was in den Papieren stand, in der Endstation hinzugefügt. Es gab natürlich damals eine ganze Reihe von Menschen, die nach 26
einer fruchtbaren Ehe überhaupt kein Verlangen trugen. Freiwillige Mönche und Nonnen hatte es immer gegeben auf dieser Erde! Aber es galt für einen Mann, der er wachsen war, nicht gerade als ehrenhaft, wenn er, ohne Kinder zu erzeugen, sein Leben abblühen ließ. Gerade die zeigende Verminderung der männlichen Geburten, die starke Auslese, die getrieben wurde, die noch stärkere des weiblichen Geschlechts, ließen Kindererweckung als höchste Selbstehrung erscheinen. Und hinzu kam, daß wohl in keiner Zeit je auf Erden die Frauen so schön, gleichmäßig ge achtet und reif an Geist waren wie damals, wo schon bei der Geburt eine Auslese getrieben wurde wie nie zuvor. Als Wunder mußte es erscheinen, wenn einer nicht nach einer Ehe begehrte, und es wurde bei einem Menschen, der schon bei der Geburt das Vorzeichen „nicht ehetüchtig“ be kan, an die Berufung zur geistigen Arbeit gedacht, um es hinein so unglücklichen zu ermöglichen, sich in der Stille der Forschungsinstitute zu verbergen und durch besondere Leistungen seinen Menschheitswert zu beweisen. Aber in mir regte sich eine natürliche Lebenskraft. Das merkwürdige Gesetz des Gegensatzes zeigte sich. Alle An regungen für geistige Arbeit wies ich ab. Es hatte meinen Kummer erregt, daß andere Jungen schneller liefen als ich und mein kleiner schmächtiger Körper mit dem etwas zu großen Kopfe hatte Sehnsucht, sich auszubilden. Heim lich ahmte ich Übungen nach, die ich von fern den Sporte lehrer mit seinen Zöglingen ausüben sah, Übungen, die man von mir fernhielt, weil die Weisheit meiner Erzieher 27
meinte, es sei nicht nötig, meinen Körper allzu sehr auszu bilden, alle meine Reserven müßten aufgewendet werden für das durch Vorbestimmung hochorganisierte Gehirn. Aber mein Lebenswille setzte sich durch. Das Geistige eignete ich mir im Spiel an, ohne Zeit zu verlieren, ohne Anstrengung, und das Körperliche errang ich mir in zähem Eifer. Die langen Gänge der Wandelhallen, die bei Regen wetter verlassen waren, lockten mich, und ich umkreiste sie, immer mit dem Blick auf die große Zentraluhr. Tausend Kniebeugen machte ich, lief auf den Händen, bildete die Rückenmuskeln durch, und wurde so Läufer und Faust kämpfer. Meinen Lehrern konnte es nicht verborgen bleiben. Probeweise wurde ich in die Sportriegen eingestellt. Nun war der Wetteifer mit den anderen mächtiger Antrieb. Ich errang die Sport- und Schwimmpreise aus meiner Schule, und zur Freude meines Vaters und meiner Mutter als Zwanzigjähriger zwei olympische Siege über die alte klassische englische Meile und im Bogenschießen. Alle meine Neigungen zogen mich zu den Naturwissen schaften. Den größten Anteil daran hatte meine Mutter. Immer hatte ich sie in den Ferien gefunden bei ihrer Arbeit in den großen, hellen, schönen, duftenden Gärtnereihäusern, oder sie saß vor dem Mikroskop und zeichnete mit geschickter Hand, was sie vom inneren Leben der Pflanzen erforschte. Doch immer waren Blumen bei ihr, deren Farbe, Form und seltsamer Duft mich reizten. Hinzu kam meine Liebe für die freie Luft. Alle Bentinks waren Forscher und Abenteurer gewesen, wie die Familienchronik berichtete, und 28
in jenen alten blutgierigen Zeiten der Kriege, Soldaten, Feldherren, Jäger, Männer, die Leib und Geist einsetzten, Freibeuter im Lebenskampf und in der Liebe. Aber noch etwas anderes kam hinzu, was ich ehrlich ge stehen will. Auf dem Olympiafeste in Neapel hatte ich die Frauensiegerin im Schwimmen, die achtzehnjährige Judith Thyrberg kennengelernt. Wir hatten Gefallen aneinander gefunden und waren vertraut geworden. Und sie hatte mir gesagt, während wir aus dem Terrassenhotel aus dem Vesuv den Abend genossen und den über das Meer ihren Heimen zustrebenden Fliegerschwärmen nachsahen: „Was hilft uns all unsere Gymnastik und Körperpflege. Sie er setzt uns doch nicht die Erholung, die zum Beispiel natür liches Gehen bereitet. Ich, die Frauensiegerin im Olympia schwimmen, kann Dir versichern, Alf, daß ich seit zwei Jahren nicht richtig gegangen bin. Gelaufen bin ich, ge sprungen, es gibt nichts an körperlicher Durchbildung, das ich nicht getrieben hätte. Aber in Erinnerung bleibt mir meine Jugend, als ich mit meinem Vater einmal drei Wochen durch die Wälder Südamerikas in den Anden wan dern konnte. Das ist, wie Du weißt, ein menschenarm ge haltenes Land, wo sie die Langholzbäume züchten! Stun denlang sind wir dort keinem Wanderer begegnet. Als, der Mann meiner Wahl müßte einen Beruf haben, bei dem ich zusammen mit ihm zu Fuß gehen müßte. Gehen ist die schönste Fortbewegung des Menschen!“ Und ohne es zu wissen, hatte mir Judith damit An trieb und Lebensvorsatz gegeben. Dort in den Hochgebirgen 29
um den Äquator und weiter südlich in den mittleren Höhen subtropischen Landes lagen die Bannwälder unserer Erde, keine Erholungsparks, sondern hunderte von Meilen Landes, die als Heiligtümer des Lebens galten. Die Mensch heit hatte erkannt, daß ihr eigenes Leben ohne diese riesigen Waldvegetationsflächen bedroht war. So wurden sie ge hegt und gepflegt für die Gesundung des gesamten Lebens und zur Ausnützung ihrer besonderen Eigenschaften. Meine Mutter war erfreut über das, was ich vorhatte. Es war ja ein Teil ihrer eigenen Lebensarbeit, die wieder in mir erwachte. Und so habe ich das Glück genossen, daß mich meine Mutter dieser Welt zum zweiten Male schenkte. Sie wurde meine erste Lehrerin in dem, was mein Lebens beruf sein sollte. Findet Wunsch im Menschen den Willen, der die Er füllung schafft, so kann trotz aller Widerstände und schein barer Unmöglichkeit das Ziel fast immer erreicht werden. Meine Sehnsucht waren die großen Wälder. Ohne ursprüng liches körperliches Zurückgebliebensein wäre nie die Sehn sucht in mir entstanden nach leiblicher Entwicklung, ja Über entwicklung, denn wir Menschen der wissenschaftlichen Herr schaftsepoche der Erde waren nur allzu sehr geneigt, die Spezialbegabung auf die Spitze zu treiben. Gewiß, wir sorgten für die Körper, die tägliche Gymnastik hatte ihre Stelle im Tageslauf genau so wie Händewaschen und Zähne reinigen, aber das hätte nicht genügt, mich fähig zu machen für die großen Anforderungen, die mein künftiger Beruf
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stellte, denn in jenen Wald- und Steppenregionen mußte der Mann noch das altertümliche Automobil meistern, ja selbst Pferd und Maultier wurden noch gebraucht, da die damals modern gewordenen Steigmaschinen ein ruhiges Verweilen auf kleinen Kuppen und engen Hängen nicht gestatteten. Seen und Flüsse waren mit Motorkraft zu be fahren, aber trotz der Technik forderte die große Einsam keit einen Kraftüberschuß von dem auf sich selbst gestellten, ohne Hilfe anderer Reisenden. Hinzu kam, daß unter der Elite unserer Wissenschaftler sich so beschaffene Männer wohl fanden, aber die Leitung des Planeten mußte sie auffordern, und keinem wurde zugemutet, längere Zeit dort unten zuzubringen. Das wird euch wundernehmen, da ihr ja wißt, daß die damalige Menschheit durch Fernseher und Fernhörer eng miteinander verknüpft war, daß jeder, wenn er wollte, das sprechende Abbild des andern in sein Zimmer zu zaubern vermochte, aber wir waren sehr empfindlich geworden. Die gespiegelte Gegenwart des andern schaffte uns unangenehme Reize. Wir Menschen sind nun einmal auf persönliche Gegenwart gestimmt. Da wir zuviel wußten von allen Energievorgängen, schwieg unsere Phantasie da, wo sie bei den Vorfahren arbeitete. Der lebendige Schauspieler ward gesucht und hoch bezahlt, wenn vielleicht auch die Leistung von Stars im gespiegelten Theater eine größere war. Aber wir wußten, daß das Lachen aus Menschenmund den Raum mit Reizstoffen feinster Art erfüllt, daß Lachen und Weinen narkotische Vergiftungen darstellen, die niemals in der Spiegelwieder 31
gabe erfolgen. Als Ästheten waren wir sogar auf altertüm liche Formen der Schattenspiele zurückgekommen, weil doch hinter der Wand des Schirmtheaters lebendige Menschen saßen. „Gefühltes Leben“ war eines unserer Modeworte. Und wir haßten den Ersatz. Wir strebten alle zurück zur gewachsenen Natur. So hatten wir längst jene Zeit über wunden, in der die wissenschaftliche Ernährungsweise vor gewaltet hatte. Vitamine samt Heiz- und Erneuerung stoffen waren in wirksamster Weise zu Tabletten verarbeitet worden. Die Menschheit war begeistert. Aber bald hatte sich ergeben, daß Störungen schwerster Art die Folge waren. Wir hätten unsere Därme verkürzen müssen auf ein Minimum von zwei Meter. Und so war diese Form der Ernährung, die sich mit der Schnelligkeit einer Epidemie über die Erde verbreitet hatte, wieder den Mahlzeiten unserer Vorfahren gewichen. Freilich lebten wir ver nünftiger, wir hatten ja Erkenntnisse genug. Aber dies alles soll euch zeigen, daß wir uns trotz der großen Hilfs mittel, trotz der Selbstbeschränkung in unserer Anzahl, die ein kümmerliches Dasein des einzelnen gar nicht zuließ, dennoch unsere Sorgen und Beschwerden machten. Wir waren allesamt verwöhnt, überdomestiziert, wie es mein Freund und Studiengenosse Hurst nannte, der unserer ganzen Lebensart skeptisch gegenüberstand. Er war ein langer, körperlich fauler, blonder Mensch, der sich begeisterte an den Geschichten alter Abenteurer und Krieger. Mich liebte er. „Alf“, konnte er bewundernd sagen, wenn ich eine neue Kraftleistung gemacht hatte, „in Dir steckt noch 32
etwas vom anständigen wilden Tier!“ — Er hatte sich ein Archiv angelegt von uralten Filmen, in denen Boxkämpfe, Schlachten und Jagden dargestellt waren. Aber er wäre entrüstet gewesen, hätte ich ihm zugemutet, ein Ruder zu gebrauchen, einen Schneeschuh oder auch nur ein Segel. Er pflegte zu sagen. „Mein Kopf ist zu groß, um das auszu halten!“ — Und in der Tat, sah man ihn sitzen, so hatte ein jeder Mitgefühl mit diesen schmalen Schultern, die die Last dieser Schädelkugel tragen sollten. Aber als Denker war Hurst erstaunlich. Trotz seiner Jugend gehörte er zu den bedeutendsten Menschen der damaligen Zeit. Er war der tiefste Kenner der gesamten physikalisch-elektrisch-technischen Entwicklung. Er ironisierte gern sein ungeheures Wissen. Mit seiner langsamen, ein wenig quäkenden Stimme pflegte er zu bemerken, wenn einer ihm eine Injektionsspritze mit Lob verabfolgte: „Die andern wissen das alles auch und noch viel mehr, sie haben bloß ihr Wissen unpraktisch ver packt.“ Im Gegensatz zu dem Zeitmitleid, das wir damals für viele Menschen übrig hatten, die freiwillig aus dem Leben schieden, weil sie das Dasein langweilte — trotzdem ein jeder seine Aufgabe hatte —, fand er für diese Existenzen nur Worte der Anerkennung und des Lobes. Er erklärte den Vorgang: Die Art der gesellschaftlichen Schichtung ließe es gar nicht zu, daß ein Mensch ohne Beschäftigung blieb. Zwei Randschichten, wie er es nannte, würden durch das Dasein unserer Tage entwickelt, die erschlaffenden, die freiwillig aus dem Leben schieden, und die überfanatisch 33
tätigen, die da jammerten, daß der Tag nur vierund zwanzig Stunden hätte, weil man doch achtundvierzig arbeiten müsse. — Nun werdet ihr‘s vielleicht begreifen, daß es ein großes Aufsehen erregte, als ich mich freiwillig zum Dienst in die Wälder meldete. Obgleich ich noch ein junger Mensch war, wurde mein Entschluß von den großen Leitern öffentlich gelobt, und kein Spiegelbild eines Erdenbürgers war für drei Tage aus dem Planeten so begehrt und bekannt wie das meine. Die Fernseher holten mich über die ganze Erde, vom Tagesbeginn an über Arbeit, Ruhepausen und Mahl zeiten bis zur Stunde, da ich mein Lager aussuchte. Und die Fernhörer tasteten sich an mich heran, weil begeisterte junge Damen nur einschlafen konnten, wenn sie meine Atmung neben sich im Bette verspürten. Immer hat ja menschliche Begeisterung seltsame Formen angenommen. Hursts Lob war selbstverständlich, und er versprach, mich persönlich zu besuchen. Ich nahm es mit Freuden aus, zweifelte aber an der Erfüllung des Versprechens. Nur das eine Menschenwesen, aus dessen Beifall und Zu stimmung ich gehofft hatte, verbarg sich vor mir, Judith Thyrberg. Ich hatte gehofft, sie würde auf der Besuchs wand meines elterlichen Hauses zu der üblichen Stunde zwischen vier und fünf erscheinend denn so verkehrten wir Erdplanetarier damals miteinander. Wir sagten durch den Fernhörer uns an und erschienen dann in gespiegelter Leib lichkeit auf der in einem mehr oder minder kostbaren Rahmen sich befindenden weißen Fläche, die in keinem 34
Teezimmer fehlte. Und der sich Spiegelnlassende pflegte stets die Aufmerksamkeit zu besitzen, selbst seinen Tee zu nehmen. Es war sehr spaßhaft, die Besucher auf der weißen Wand zu betrachten, denn einige unterzogen sich ja großer Unbequemlichkeit, da ihre Zone sich mitten in der Nacht befand, oder aber manche waren noch im strahlenden Sonnenschein ihres Südseeinselhauses im Garten zu sehen, etwa im Schatten einer Palme, während wir selbst die nor dische Winterdämmerung, die vor unserm Fenster stand, empfanden. Niemals war Judith Thyrberg erschienen, und es kränkte mich. Darum war ich auch trotzig genug, nicht bei ihr zu erscheinen und mich mit ihr über den Fernhörer auszu sprechen. Ich bestieg eines Tages das Schnelluftboot und brauste in meinen neuen Arbeitsbereich. Da nun nahm mich freilich alles gefangen. Etwas anderes war es doch, auf einem wirklichen Pferde zu sitzen, anstatt sich nur auf der elektrischen Pferdeschaukel zu üben. Hunde, die ich immer verachtet hatte in dem verfetteten und degenerierten Zustand, in dem sie sich bei uns im Norden befanden, lernte ich lieben als die klugen Spürer, die sie sind. Was für eine Umwälzung gibt es, mit einem Wesen zu leben, dessen Nase unser Auge ersetzt. Ich beobachtete die Fische, die Eigentümlichkeiten der Insekten. Ich war überwältigt von einem Dasein, das nicht geregelt war durch den Rhythmus der Maschine. Zu meinen Aufgaben gehörte die Bearbeitung der Lebensbedingungen, denen die Viehbestände des Planeten 35
in diesem Wald- und Ebenengürtel unterworfen waren. Da gewann ich einen prachtvollen Freund, Franz Hoch kofler, der einer Familie der europäischen Ostalpen ent sprossen war. Dieser Mensch kannte keine größere Freude, als in ganz altertümlicher Weise ausgerüstet mit Steig eisen, Pickel, Seil und Kletterschuhen zu Fuß die höchsten Gipfel der Anden zu erklettern. Es gab Sportsmenschen, die in ihren Freizeiten solchen Aufgaben lebten, aber was waren diese im Vergleich zu meinem Freunde, der sich als Alleingänger seinen Steig selbst suchte und hieb und mich erst mitnahm, als er mich, der ihm doch in der Pyramide gesellschaftlicher Ordnung weit übergeordnet war, als einen Menschen erkannte, der des Berges wert war. Freilich, meine Mutter ängstigte sich, als ich ihr von diesen Berg unternehmungen im Fernhörer sprach. Aber mein Vater eiferte mich an, und ich erlebte zum ersten Male, daß meine Eltern sich, wenn auch in freundschaftlicher Weise, meinet wegen stritten. Mein Vater stand vom Tisch auf und ent fernte sich, die Mutter aber bat mich, doch wenigstens die nächsten Tage und Wochen auf meiner Station zu bleiben, ich würde lieben Besuch erhalten. Und da ich fragte, wer es denn sei, wußte ich es schon halb und halb. Es konnte ja nur Judith Thyrberg sein! Unser Zusammentreten sollte anders erfolgen, als es geplant war, nicht unten in Kurano, Las Palmas, dem großen chilenischen Badestrande. In einer Sturmnacht wurde ich benachrichtigt, daß eines der Überkontinent-Luftboote im Nebel an die Kohinniu-Bergwand geraten sei und daß 36
augenblicklich den Passagieren Hilfe gebracht werden müßte. Zu der Hilfsexpedition, die sofort aufgerufen wurde, ge hörte als berggewohnter Mann auch mein Freund Hoch kofler. Wir hatten einen schwierigen Start bei schweren Böen. Aber unsere kräftigen Maschinen hielten dem Sturme stand. Wir erreichten den Kohinniu-Kamm und sahen nun, daß das Flugschiff sich festgedrückt hatte an der Gletscher wand. Das Vorderteil war zerschmettert. Der geistes gegenwärtige Kapitän hatte die Drahtseilankerklammern auswerfen lassen, und nun hing der Koloß, zum Teil ge stützt durch das Eis, mit der ganzen linken Seite frei gegen den Sturm. Wir hatten keine Drahtseile, um vom Kamm aus das Schiff direkt zu erreichen, es mußte ein Terrassen platz gefunden werden, und Hochkofler und ich brachen so fort auf, um möglichst nahe an den in Not geratenen Koloß heranzukommen. Es glückte uns auch, einen Platz zu fin den, und wir gaben den Unseren durch Mikrophonspruch kund, bis wohin sie sich mit den Flugzeugen zu begeben hätten, um uns das Rettungsmaterial zu überbringen. Aber während wir noch darüber verhandelten, zeigte sich ein Offizier zwischen den zerbrochenen Gestängen des Vorderteiles. Er rief uns an und deutete auf den Gletscher. Mit unsern Gläsern sahen wir, daß eine Gruppe Menschen dort sich ungeschickt durch das Eis arbeitete. Es waren dem Anscheine nach Menschen, die sich nicht länger dem ge strandeten Luftriesen anvertrauen wollten. Ich ließ Hoch kofler auf der Terrasse, stieg hinab und zog ein griffiges Seil nach, das Hochkofler, als es abgelaufen war, nach 37
spleißte. So kam ich hundert Meter tiefer über das Eis zu der Gruppe, die völlig erschöpft durch ihren kurzen, aber ungewohnten und beschwerlichen Marsch war. Ich sah, es mußten Sportsleute sein, die das Unternehmen gewagt hatten, aber etwas anderes ist es, die Glieder zu üben in der Turnschule als in der großen Natur. Als ich näher hinzukam, erkannte ich in der Gruppe der Menschen zwei Frauen, und eine war Judith Thyrberg. Mein Herz stand einen Augenblick still. Das war ein Wiedersehen so seltsamer Art, wie ihr Atlantiker es euch nicht vorstellen könnt, denn ihr seid ja angewiesen, die große, menschenleer gewordene Erde wiederzuerobern, und ein Treffen im Freien, in der Wildnis, ist euch nichts Un gewohntes. Aber für uns Menschen des überzivilisierten Planeten war dieses Finden im Eis, nicht weit von dem gestrandeten Luftriesen, etwas, was über die Alltags empfindung hinausging. Als ich Judith und die anderen auf der Terrasse geborgen hatte, bekannte sie noch in Er regung über das Abenteuer, es wäre ihr schrecklich gewesen, daß ihr schöner Gedanke, mich in dem noch nicht platt zivilisierten Teile der Erde zu wissen, ihr profaniert würde durch die ekelhaften Fernseher und Lautsprecher. Darum hätte sie sich nicht gezeigt, und darum wäre sie gekommen, um mich in meinem Wirkungskreise selbst zu sehen. Aber das wäre doch das schönste, was ein Schicksal ihr hätte bringen können: Mich zu finden, als Retter im Eis! Das andere Mädchen aus der Gruppe der Geretteten war Judiths Freundin, Maria Langland, die als Meteoro 38
login in der Forschungsstation Karaga aus Archangelsk tätig war. Nach zweijähriger Arbeit hatte sie Sehnsucht nach einer anderen Welt, aber nach drei Wochen Aufenthalt in den großen Städten begannen ihre an Einsamkeit ge wohnten Nerven zu rebellieren, und darum hatte sie sich Judith angeschlossen. In ihrer Begleitung war ein junger dunkler Herr von zierlichem Körperbau, Dr. Flius. Ich hatte nicht groß acht auf ihn, aber es war nicht schwer zu bemerken, daß er kein Auge von Maria Langland ließ, und es schmerzte ihn, als Hochkofler beim weiteren Rückzuge an einer schwierigen Stelle das junge Mädchen aus seine Arme nahm und über ein schmales Band hinwegtrug, das für den nicht Schwindelfreien gefährlich war. Die Bergungsarbeiten am Luftschiff nahmen ihren Lauf. Hochkofler war der Held des Tages, denn er seilte sich von einem Flugzeug ab, stellte die erste Notverbindung mit dem Wracke her. Ich sah, daß Maria Langland, die in seinen Armen geruht hatte, dem Zauber dieses schönen, kräftigen Menschen verfallen war. Und während ich noch darüber nachsann, erklärte mir Judith: „Flius ist der Chemiker, der die große Atomzertrümmerungsmaschine erfunden hat. Er ist uns gefolgt nur Marias wegen.“ „Und Maria?“ fragte ich. „Sie hat mit ihm zusammen in Archangelsk gearbeitet. Aber Du weißt ja, wie diese Mädchen sind. Sie können sich alles denken, nur nicht das Natürlichste von der Welt.“ Ich sah ihren Blick abirren, schaute mich um und be merkte, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Hochkofler stützte 39
eine lange, hilflose Gestalt, die mir vertraut erschien. „Hallo!“ rief ich hinab. „Kennst Du diesen Menschen?“ fragte mich Judith. „Aber freilich, Hurst ist es!“ „Hurst, der Physiker?“ „Ja, mein Jugendfreund.“ „Den hätte ich mir anders vorgestellt. Die ganze Reise hat er liegend zugebracht, sich nicht vom Fleck gerührt, immer nur durch das Fenster gestarrt mit einem scharfen Glase und nachts stundenlang Notizen gemacht. Geredet hat er mit keinem, doch freilich, Flius hat er kurz begrüßt.“ — Hurst hatte in der Tat wahrgemacht, was er versprochen. Mein schönes weißes Haus auf einer Höhe von 1500 Metern im Chiahuatal war nun plötzlich voller Gäste, die aus dem Erstaunen über mein primitives Dasein nicht herauskamen; denn selbst auf der meteorologischen Station in Archangelsk hatten Maria Langland und Flius ein Leben geführt, das von der Wirklichkeit der Urtatsachen weit entfernt war. Sie erlebten zum ersten Male das Schlachten eines Rindes, das Einbringen einer Jagdbeute. Hurst, der sich immer nach einem wilden, natürlichen Leben sehnte, konnte zwei Tage lang kein geröstetes oder gesottenes Fleisch besehen, nach dem er der Ausschlachtung beigewohnt hatte. Einen halben Tag lag er in der Hängematte, um sich von diesen Ein drücken, „die doch notwendig sind“, wie er bekannte, zu erholen. Und er schloß. „Meine Sehnsucht gehört einer willden Urzeit an, aber ich sehe, ich bin soweit domestiziert, daß ich in ein höher zivilisiertes Zeitalter reisen muß!“ Und 40
da ich ihn fragte, was er meinte, erwiderte er. „Die Expe dition über die nächsten hundert Jahre geht doch in ab sehbarer Zeit vonstatten. Ich werde mich dazu melden und denke, daß ich dann nach hundert Jahren, wenn die Mensch heit sich noch weiter domestiziert hat, der rechte Mann am rechten Orte bin. Aber die Sehnsucht, die meine Phantasie in die Zeiten rückwärts leitet, wird um so schmerzlicher aus ihre Kosten kommen!“ — Schwer litt der arme Flius unter der Freundschaft, die sich zwischen Maria und Hochkofler entwickelte. Er vertraute sich Judith an. Sie ermahnte ihn: „Sprechen Sie sich mit Maria aus!“ „Wir haben doch ein ganzes Jahr jeden Vormittag am gleichen Schreibtisch gearbeitet!“ „Sie haben eben gearbeitet, Flius!“ „Es heißt, die Magie zwischen zwei Wesen erfolgt ohne Worte! Ich habe bei Tieren, die in zwei getrennten Käfigen saßen, einem Männchen und einem Weibchen, nach gemessen, daß bestimmte chemische Erschütterungen in den Körpern stattfanden. Sie können doch nicht sagen, daß Tiere große Worte machen!“ „Jedoch Bewegungen, Verständigungen anderer Art, Flius! Wir sind nun einmal Menschen, — wenn Sie wollen, überdomestiziert, wie Hurst verkündet. Darum müssen Sie reden wie alle Überdomestizierten!“ Dieses Gespräch zwischen Judith und Flius traf mich selbst; denn freilich, ich sehnte mich, Judith das zu sagen, was Flius Maria zu sagen hatte. 41
Ich hatte Inspektionen im kühleren Süden des Kon tinents vorzunehmen. Judith wollte Maria bereden, in mei nem Hause bei Flius und Hurst zu bleiben, beide fühlten sich den Strapazen längerer Märsche nicht gewachsen. Maria wollte nichts davon wissen, drum begleiteten mich beide mit Hochkofler. Der ehrliche Bursche sprach nach acht Tagen bei einem Lageressen des Abends aus, was wir drei andern fühlten, ja wußten: „Warum soll das nicht so blei ben wie es ist? Fräulein Judith geht immer mit dem Herrn Doktor zusammen und heiratet ihn, und Fräulein Maria kann mit mir als Begleiter vorliebnehmen, wenn sie mag!“ Wir lachten. Aber die Mädchen waren von Stund an befangen. Das gab den weiteren Tagen einen erhöhten Reiz. Als wir rückkehrten, fanden wir Flius nicht mehr vor. Hurst berichtete in seiner schläfrigen Weise: „Er hat den ganzen Tag am Fernseher und Fernhörer gesessen und Euch begleitet. Über alles, was er gesehen und gehört hat, führte er Tagebuch und las es mir dankenswerterweise abends vor. Ich habe ihm dann gesagt, wir werden wohl bald zwei fruchtbare Ehen zu feiern haben! Das hat ihn so schwer getroffen, daß er seine Sachen packen ließ und ver schwand.“ Maria wurde nachdenklich. Sie schien jetzt zu verstehen, was Flius vorgehabt hatte. Sie hielt sich von Hochkofler zurück. Um so seltsamer war es, als am Abend nach unserer Rückkehr meine Mutter auf der Besuchswand erschien, mit uns plauderte und wir von ihr die Worte hören mußten: 42
„Habt Ihr eigentlich nachgedacht, daß Ihr füreinander ge schaffen seid? Judith und Als, Maria und Hochkofler?“ — Aber das Eingehen einer Ehe war zu unserer Zeit ein so hoch bedeutsamer, vom Staate mit so vielen Vorsichts maßregeln umgebener Akt, daß die Menschen ihn als das ernsteste Geschäft ihres Lebens ansahen. Freilich, lose Ver bindungen gab es wie zu allen Zeiten, aber diese beiden Mädchen Judith und Maria waren zu stolz dazu. Wir waren in unserm Zeitalter sehr sittlich in den herrschenden Familien. Und die andern, nun, die rüsteten zu Liebes fahrten auf die Koralleninseln der Südsee. Da gab es Hunderttausende von kleinen Eilanden, die von der SüdseeWohngesellschaft auf beliebig lange Zeit abgetreten wurden. Menschen, die für ganz haltlos galten, wurden bezeichnet mit dem Wort: Zwanzigmal schon sind sie in der Südsee gewesen und haben auf den Korallen noch immer keine Ver nunft gefunden! Das Schicksal selbst ersparte Judith und mir ein längeres Zuwarten. In der Nacht vor ihrer Abreise wurde ich fern geweckt. Ich ging ins Besuchszimmer. Auf dem Schirm erschien meine Mutter und teilte mir mit, daß mein Vater bei einer Stern-Fotografie einen Fehltritt getan und von der Eisenleiter am Fernrohr abgestürzt sei. Sie sprach wei ter, aber ich hielt nur das eine Unfaßbare fest: mein Vater war nicht mehr. Freilich, der Gütige war in meinem Leben nicht so be stimmend gewesen wie die Mutter. Aber er war es, der mich denken gelehrt hat, der mich in der Welt mathematischer 43
Formeln heimisch machte. Ihm verdankte ich die Himmels kunde, die Namen der Sternbilder, ihre Sagen, ihre Be deutung, die Heiligkeit des Jahres hatte er mir vermittelt. Er war es gewesen, der mir die Welt der Sprachen geöffnet hatte, die kultische Bedeutung der Urworte, das Wesen des alten Atlantisglaubens von der ewigen Wiederkunft aller Dinge. An diese stillen Zwiegesprächsstunden, die die Mutter nie störte, mußte ich denken. Wie oft war sie gekommen, wenn es schon spät war, hatte den Vater bittend angesehen, aber durchdrungen davon, daß solche Zwiesprachen mehr sind als Lehrstunden, war sie still gegangen und hatte uns Erfrischungen gebracht, sich dann in eine Ecke gesetzt und zugehört. Wie verbunden waren wir drei gewesen, und nun war das nicht mehr. All diese Bilder der Erinnerung zogen an der weißen Besuchswand, von der die Mutter längst entschwunden war, vorüber. So fand mich Judith am Morgen. Sie tröstete mich, und in diesem Troste sanden wir uns. Und unsere Welle schlug über aus die beiden andern. Maria blieb in meinem Hause mit Hochkofler, ebenso Hurst, der über eine Arbeit, die ihn plötzlich gepackt hatte, in seiner Hängematte alles vergaß und nichts bemerkte. Judith und ich schossen hinaus mit dem Flugzeug in den Raum, um das Schnelluftschiff zu gewinnen, das mich zur Einäscherung des Vaters tragen sollte. So waren für uns Tod und höchste Lebensfreude sonderbar vereint. Es war gut, daß sie mit im Trauerhause war. Die Mutter, die gebrochen und starr allein saß, nichts mehr glauben wollte und mochte, wurde bewegt durch unseren Anblick, und wie Versöhnung mit dem 44
Schicksal war es, als wir beide ohne Anstand und ohne hygienische Einschränkung oder Bevormundung die Er laubnis zu einer fruchtbaren Ehe erhielten, jene Erlaubnis, die sich die Menschen unzivilisierter Zeiten selbst nahmen. Denn nun erfuhr ich's, Judith hatte geheime Angst gehabt wie ich. Das war der Grund ihres Zögerns gewesen. Allein war sie aus das Amt gegangen und hatte sich zuerst Sicher heit geholt. So war sie froh, daß sie die Erlaubnis zur Fruchtbarkeit erhielt, denn auch sie gehörte nicht zu jenen ganz fehlerfreien Geburten. Auch ihr war das Leben nur zugebilligt worden, weil sie aus einer besonders gut ge züchteten Familie stammte, und auch sie hatte sich durch Schwimmtraining das wahre Lebensrecht erst erringen müssen. Ihr Atlantiker werdet das alles sehr altmodisch und merk würdig finden, aber für uns gab es damals Feststunden besonderer Art, wenn wir geprüft nicht für zu leicht be funden wurden. Aber der Ernst, der unsere junge Verbindung begleitete, hielt an. Meine Mutter, diese so selbständige Frau, war durch den Tod ihres Gatten aus dem Geleise geworfen und trotz aller Hilfen, die ihr von Staats wegen geleistet wurden, verlosch sie wie eine elektrische Lampe, deren Draht zu viele Überstunden ertragen hatte.
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III. Motto: Memento: Kannst dem Schicksal widerstehen, Aber manchmal gibt es Schläge, Will's nicht aus dem Wege gehen, Ei! so geh du aus dem Wege. Goethe. Die Terrasse vom Ehrenbreitstein und der Rhein um 2300. Eine ehrenvolle Menschheitsaufgabe bedroht eine junge Liebe. Bentinks Bedeutung für die Zivilisation und seine Begegnung mit Don Este ban Cortez, dem Präsidenten von Spanien, zu Aranjuez. Bentink hält Vortrag über die Bewaldung Spaniens, und Don Esteban weist ihm den Weg, sein Schicksal zu meistern.
Wenn das Schicksal hart ist, will es uns wohl. In meinen Trauertagen wurde ich abberufen zu einer Bericht erstattung über Sonnenspiegelanlagen, die zur Verstärkung des Bodenwuchses probeweise eingerichtet waren. Es war einer der Kongresse, in denen Grundansichten verfochten wurden. Es handelte sich kurz darum, daß die einen von einer beständigen Lichtmenge sprachen, während die an dern erklärten, genau so, wie sich der Wasserdruck in einer Turbine in stärkerer Sammlung auswirken kann als über ein altertümliches Mühlrad, genau so könnten Spiegel anlagen den Lichtdruck auf die Pflanzen erhöhen. Es ist eine von diesen großen und letzten Erwägungen meiner Zeit, über deren Ausgang ich nichts mehr weiß. Damals riß sie alle meine Energien wach. Ich kämpfte für die Lichtturbinen 46
Theorie an erster Stelle. Und unsere Meinung siegte. Er schöpft kam ich von Sizilien, wo wir getagt hatten, zurück nach dem kühleren Norden. An einem schönen September tage traf ich mit Judith zusammen. Wir saßen droben aus der Terrasse des Ehrenbreitstein und blickten hinunter in das rheinische Land, das rot überflammt war vom Sonnen untergang. Dieser Tag ist mir lebendig, als wäre es mein letzter Erdentag gewesen. Drunten der Strom schien sich auf zulösen in geschmolzenes Kupfer. Drüben aus dem anderen Ufer stieg das herrliche alte Koblenz aus, zwischen den Kuben der neuen Wohnhäuser mit den Abflugsdächern er hoben sich wie Erinnerungen aus verschollener Zeit die Türme der Kirchen. Rein war die blaue Lust, die weite Fernsicht stromab zum Kranze des Westerwaldes ge währte. Eine erste schwache Mondsichel zeigte sich am blauen Horizont. Fernes Singen war in der Luft. Kleine Schatten, Streifen und Punkte zogen über das Kristallblau des Himmels. Es waren die Heere der zu ihren Heimstätten zurückkehrenden Flieger, die das letzte Licht des Tages noch benutzten, um aus den Dächern leichte Landung zu erlangen. „Wann wollen wir unsere Ehe vollziehen?“ fragte ich Judith und drang in sie, wenn sie sofort ihr Gesuch ab schickte, wäre sie für drei Monate von allen Pflichten ent bunden. Ich sehe noch wie heute, wie sie die Augen schloß, wie ihr Gesicht opalen schimmerte in der Dämmerung, höre ihre tiefe Stimme: „Wir wollen als Menschen, die Ver antwortung tragen, alles genau durchdenken und überlegen. In zwei oder drei Wochen wird an mich die Frage gestellt 47
werden, ob ich in die Reihe der Übermittler eintreten würde oder nicht.“ Mir war es, als ob ich in Finsternis starrte. ,,Du willst an dieser Expedition teilnehmen?“ fragte ich. Ihre Ant wort kam wie aus fernem Dunkel. „Es ist das dritte Mal, daß die Menschheit sie aussendet. Es ist eine Ehre, wenn man mich damit betraut!“ „Aber Judith“, rief ich, „dann werde ich Dich nur noch ein halbes Jahr sehen können und unsere Heirat verflattert!“ „Nein“, sagte sie, „Lieber, ich werde Dir angehören, und noch ein wenig länger als Du denkst. In drei Wochen feiern wir die Erweckung und Begrüßung der alten Schläfer. Da nach beginnt die Verständigung und Verarbeitung des übermittelten Materials. Also rechne es Dir aus, unsere Karawane ins nächste Jahrhundert wird im März statt finden.“ Mir war es, als stürzte ich senkrecht in einen tiefen Schacht. Nacheinander waren mir Vater und Mutter ge nommen, und nun sollte mir der einzige Mensch dieser Erde, an dem ich mit Liebe hing, auch genommen werden! Denn wenn sie diesen Schlaf der neunundneunzig Jahre einging, war sie für mich verloren. Und ich sträubte mich, ich schrie es. „Es ist ungeheuerlich, Judith. Ich werde es nicht dulden! Zu wissen, daß ich eine Frau besitze, die lebendig in einer Gruft liegt, deren Gesicht ich nicht einmal mehr sehen darf!“ Sie antwortete: „Aber ich bitte Dich, wir haben es ge lernt von früh auf, unsere kleine Persönlichkeit dem Wohle der Menschheit unterzuordnen. Ich wäre verachtet bei 48
allen und Du mit mir, wenn Du aus Eigensucht versuchen würdest, mich meinen Pflichten zu entziehen. Denk an die Großtaten der Menschheit! Immer waren Opfer erforder lich. Ehrwürdig ist uns jener alte Norweger aus vergan genen Tagen, Fritjof Nansen, der auszog mit den so pri mitiven Mitteln jener Zeit, die Geheimnisse des Nordpols zu ergründen. Nach Deiner Meinung, die Du hier aus schreist, war er ein Phantast, trotzdem er in glücklicher Ehe lebte und ein Kind hatte, ein Mädchen, Liw. Lies einmal seinen Bericht, wie schwer ihm das Herz war, als er Ab schied nahm. Er war groß genug, trotz seiner Liebe, sich von seinem Weibe zu scheiden und sein Töchterchen zu lassen, weil es die Pflicht gegen die Menschheit gebot. Und wenn ich in meinem Kopf heut die Möglichkeiten habe, getreu zu übermitteln aus unserer Zeit einer späteren Menschheit nach neunundneunzig Jahren, was bei uns war und wie wir dachten, so muß ich folgen. Aber, Lieber, noch ist es nicht ganz so weit. Mary Sidney steht auch auf der Liste der engeren Wahl. Vielleicht wird sie es sein, die sie aussenden.“ Ich drang in sie, zurückzutreten, Mary die Vorhand zu lassen. Aber sie fragte. „Würdest Du selbst Unehrenhaftes tun, Alf?“ Und da ich mich abwandte, umfing sie mich und sagte. „Ich werde Dir angehören, werde ganz Dein sein! Denn das darf mir keiner wehren! Das ist mein Menschenrecht!“ Da fuhr ich auf. ,,Und wenn Du ein Kind von mir tragen wirst?!“ Da lächelte sie. „Dann wird es leben, wie ich hoffe, nach hundert Jahren, und die Menschheit wird um ein 49
Neues staunen, um ein Geheimnis der Natur reicher sein!“ Sie nahm meinen Kopf in die Hände und küßte mich. Ich ließ es geschehen, schwieg und litt. Das Rot über dem Strom war verbrannt, ein letzter grüner Schimmer stand noch am Himmel. Die Sterne traten hervor aus ihrer Ferne. Wir gingen hinunter von der Terrasse, wie zehn tausende, hunderttausende Paare vor uns, herab zum Strom. Und sie schmiegte sich an mich. Aber in mir war Trotz. Wie sehr hatte ich mich auf diese Stunde gefreut. Mir war es, als wäre ich ein König dieser Erde, und ich dachte an all die Waldgebiete der zweiten und dritten Zone Südamerikas, die mir untertan waren. Und die Frau an meiner Seite sollte eingehen in mein Leben wie ich in das ihre. Im Walde wollten wir leben unter den Tieren, und ich wußte, diese ungezähmte Welt würde Judith glücklich machen. Und nun, wo ich sie endlich hatte, sollte ich sie verlieren an dies Phantom der Menschheit! Ich sprach mit dem alten Rechtsberater meines Vaters. „Beeilen Sie die Ehe!“ riet er. „Gestalten Sie sie frucht bar. Noch niemals ist der Fall erwogen worden, eine wer dende Mutter den unstreitbaren Gefahren eines neunund neunzigjährigen Tiefschlafs auszusetzen. Eine gleichwertige Kandidatin ist da. Tun Sie darum alles, Ihre Ehe zu voll ziehen!“ — Ich habe damals genau hin und her erwogen und kam zu dem Entschluß, die Menschheit könne nichts verlieren, wenn ich ihr Judith entzöge durch das, was das natürliche Glück einer Frau ausmacht. 50
Ich begleitete sie am Morgen auf den Flugplatz. Sie gab mir das Versprechen, alles zu tun, um unsere Vereinigung zu beschleunigen, und bestieg das Schnellfahrzeug, das sie an ihre Arbeitsstätte in Berlin innerhalb einer knappen halben Stunde bringen würde. Ich nahm auf einem Regierungs flieger zehn Minuten darauf Platz. Es war eines der großen Fahrzeuge, die ein paar hundert Personen inner halb zwei Stunden nach Madrid befördern sollten. Ich hatte Akten zu bearbeiten, die ich dem spanischen Präsidenten vor zulegen hatte. Gewisse Erfahrungen auf den Hochebenen Limas sollten dazu dienen, die in den Tiefentälern bereits durchgeführte Bewaldung Spaniens über die noch immer nackten Hochflächen zu verbreiten. Während der Fahrt ging ich mein Arbeitsmaterial mit dem Bleistift durch, schrieb mir Notizen zusammen, formu lierte im Geiste meinen Vortrag. Don Esteban Cortez war einer der größten Gelehrten dieser Erde. Sein Arbeitsfeld war die Biologie gewesen, ehe er die Fürsorge über die gesamten Lebensvorgänge der pyrenäischen Halbinsel übernommen hatte. In Peru hatte ich ihn vor zwei Jahren persönlich kennen und die außer ordentliche Begabung dieses nach außen hin matt und schläfrig erscheinenden Mannes schätzen gelernt. Er war mit Worten karg wie der trockene Boden der Mancha, aber seine Gedanken in der Diskussion waren lebensharte Ge schöpfe, die nicht umzubringen waren, sondern weiter wuchsen. Was mich aber in Erregung versetzte, war die Tatsache, daß er ausschlaggebend war im Wahlrat für die 51
Schläfer der neunundneunzig Jahre. Mein alter Rechts beistand war ein großer Jurist und Kenner unsrer planeta rischen Verpflichtungen, aber wenn es mir gelang, Don Estebans Interesse zu erwecken, so hatte ich Sicherheit. Doch wie sollte ich dem Unnahbaren ein Wort sagen? Es wäre gegen die Regeln des Anstandes gewesen, ihn irgendwie zu beeinflussen. Als ein gutes Vorzeichen betrachtete ich es, mit ihm sprechen zu müssen. In diese meine Gedanken hinein sagte einer von zwei Herren am Nebentisch: „Madrid!“ — Heute noch kann ich diese Vision nacherleben, wie ich damals hinabschaute, das graue Gelb der Landschaft sah, die flachen Dächer, die goti schen Kirchen. Jetzt stand unsere Maschine senkrecht über dem Flugplatz. Deutlich hörten wir das Mahlen der Senk rechtpropeller, spürten den Windmantel, der das gewaltige Flugwerkzeug einhüllte, und glitten hinab mit der Ge schwindigkeit eines langsamen Liftes. Ich fühlte das leichte Ziehen die Beine hinauf zur Brust, Federung, Aufsetzen des ganzen Gebäudes aus Aluminiumstahl und durchsichtiger, brennsicherer Cellulose, Wiegen, Stoppen, Ruhe! Mit den geöffneten Türen wurde hörbar das Lärmen der andrängen den Menge. Verwandte und Freunde umarmten sich. Schmucke Träger in schwarzer Uniform mit Gold kamen, die Gepäckstücke in Empfang zu nehmen. Der Kapitän gab dem Flughafenkommandanten einen kurzen Bericht und die Rollen der automatisch meteorologischen Aufzeichnungen der Windströmungen. Draußen stand das Regierungsklein fahrzeug schon bereit, das mich nach Aranjuez, der Sommer 52
residenz des Präsidenten, bringen sollte. Keine zwanzig Minuten später stand ich in dem Park, in dem die artesischen Brunnen sprangen, Koniferen sich wiegten, Rhododendren blühten, während große elektrische Fächerwerke künstliche Winde spendeten, die angenehm durch spritzende Wasser gekühlt waren. Don Esteban empfing mich in einem hohen Oleanderron dell, in dessen Mitte ein Springbrunnen seine Wasser in einen kleinen Teich sandte. Groß, knebelbärtig, mit Augen, die durch eine dunkle Brille geschützt waren, saß er an einem kleinen Tisch. Zur Rechten stand das Mikrophon, das in die verschiedenen Sekretariate seine Diktate übermittelte. Zur Linken war der Überwacher, der durch das Aufblitzen kleiner roter, blauer und gelber Flämmchen anzeigte, von welcher Dienststelle aus der Präsident gewünscht wurde. Zumeist stellte er einen kleinen Hebel an, der da bedeutete: Vorbearbei tung. Das alles führte mir eindrucksvoll zu Gemüt, was es bedeutete, daß Don Esteban mich persönlich empfing. Ja, er erhob sich, reichte mir liebenswürdig die Hand und be fahl ins Mikrophon: „Auf eine halbe Stunde keine Stö rung!“ — Dann nahm er die Brille von den dunklen Augen, setzte sich in seinen Stuhl zurück, kreuzte über der Brust die gefalteten Hände und schloß die Augen. Mein Gedankengang war ungefähr folgender: „Kleinste Lebewesen, die der Eigenart des spanischen Bodens ange paßt sind, müssen mit allen biologischen Hilfsmitteln schnell gezüchtet werden. Dazu brauchen wir, da wir die Vorbe dingungen ja kennen, vielleicht ein halbes Jahr. Zu Hilfe 53
nehmen wir die künstliche Schattengebung. Dafür emp fehle ich die kreisförmig verschiebbare Flechtwand. Wir gehen so vor, daß wir auf dem so vorbereiteten Boden be stimmte Kreise beforsten. Durch die natürliche Schatten gebung der neu wachsenden Flächen sparen wir an Arbeits material für künstliche Schattengebung. Die Sonne ist es, die uns die kleinen nützlichen Infusorien und Keimwesen tötet, die Auflockerung und Fruchtbarmachung des Bodens bedingen. Aber die Sonne ist es auch, wenn einmal Pflanzen wachstum einsetzt, die uns schon in den nächsten zwanzig Jahren günstige Resultate erhoffen läßt. Nun die Beriese lung. Wir greifen auf die Urform der Zisternen zurück, und da eine Zisterne nach unseren heutigen Grundsätzen, wenn sie einmal aus Beton gebaut ist, dreißig Jahre lang reicht ohne Reparatur, so glaube ich, daß die großen Summen, die dafür nötig sind, vom Erdparlament bewilligt werden, denn in einer Generation dürfte bereits Verzinsung durch den entstehenden Wald eintreten.“ „Aber werden die Zisternen, die sich in der Mesaoria in Cypern und Mesopotamien sehr bewährt haben, weil der Boden undurchlässige Schichten hat, bei unserm durch lässigen Boden genügend Feuchtigkeit schaffen?“ „Ew. Exzellenz, wir werden selbst die undurchlässige Schicht des Bodens schaffen. Wir setzen Bohrlöcher ein bis auf sechs, sieben Meter Tiefe und verbreiten dann unter Druck seitwärts die Kedama-Härtungssubstanz. Sie schafft uns dieselbe Dichtigkeit der Unterschicht wie gute Tonlager.“ Ich habe dies so ausführlich beschrieben, damit ihr Atlant 54
tiker wißt, was meine Lebensleistung in der damaligen Welt bedeutete, und es auch verstehen könnt, warum Don Esteban mir so gnädig gesinnt war. Das zeigte sich, denn am Ende meines Vortrages bemerkte er: „Wir haben noch einige persönliche Minuten für uns. Wie geht es Ihnen? Sie sind im Alter, wo es Ihre Pflicht wird, eine Lebensgefährtin zu einer fruchtbaren Ehe zu suchen, denn Sie sehen nicht so aus, wie einer, dem das Gesetz das verwehren könnte.“ Da hatte ich die Frage, die ich so ersehnt hatte. Und meine ganze Sicherheit, die ich beim wissenschaftlichen Vor trag bewahrt hatte, schwand. Ich konnte nur stottern: „Es ist Gefahr, daß mir alles verlorengeht!“ Don Esteban schüttelte den Kopf. „Wir leben in keinem Zeitalter der Sentimentalität! Wenn Sie die Frau wollen und die Frau Sie will, was könnte da ein Hinderungs grund sein?“ Da berichtete ich ihm, daß Judith zu jenen Menschen ge hörte, die nach der Erweckung der letzten Schläfer für die Überlieferung des heutigen Menschheitswissens in Betracht kämen. Don Esteban reckte sich, und ich werde sein erstes hartes Wort nie vergessen, denn ich empfand seine sittliche Kraft wie ein Sünder. „Es ist gut“, sagte er, „daß noch moralische Opfer von den Menschen verlangt werden können und müssen!“ Ich konnte nur nicken. Da legte er mir die Hand gütig auf die Schulter und fuhr fort: „Aber wenn Ihre Hochzeit bald stattfindet, dann dürfte doch der natürlichste aller Hem mungsgründe gegeben sein. Freilich, vom rein biologischen 55
Standpunkte aus wäre es natürlich äußerst erwünscht zu erfahren, ob auch eine wachsende Frucht über neunund neunzig Jahre lebendig erhalten werden könnte. Aber dies wäre ein Experiment, das billigerweise zuerst an Tieren vorgenommen werden müßte.“ Er sann nach, dann fragte er: „Wie ist der Name Ihrer Erwählten?“ „Judith Thyrberg!“ „Ah! Allerdings! Sie ist eine der ersten in der soziolo gischen Sparte, aber Mary Sidney ist, soviel ich weiß, ihr wissenschaftlich gleichwertig. Nun, Mary wird, soweit ich sie kenne, immer ihre Wissenschaft einer Heirat vorziehen und wird heute schon darauf brennen, unter die Schläfer eingereiht zu werden. Darum, junger Freund, machen Sie sich keine Sorgen. Das Leben des Tages und des Wachseins liegt vor Ihnen und nicht der Schlummer über ein Jahr hundert!“ Und er drückte mir herzlich die Hand. „Denken Sie immer daran, daß Sie in mir einen guten Freund besitzen, auf den Sie vertrauen können!“ Ich reiste ab mit dem Gefühl, mein Schicksal wäre wieder in meine Hand zurückgelegt. Doch der Schreck über den möglichen Verlust Judiths wohnte noch in meinen Nerven. Zum ersten Male in meinem Leben schlief ich schlecht und schreckte nachts mit einem dumpfen Angstgefühl auf. Wir sind doch seltsame Antennen, wir Menschen, und können mehr aufnehmen als im kubischen Raum der Zeit umschlossen liegt.
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IV. Motto: Möglich? Möglich ist alles. Doch muß man dazu lachen und sich mit Möglichkeiten nicht unnütz elend machen! Molière, Liebesnöte.
17. Jahrhundert.
Großtag der Menschheit! Fünfundsiebzig Schläfer erwachen nach neunundneunzigjährigem Schlaf. Die neuen Menschheitsschläser werden bestimmt. Judith bleibt vor diesem Lose bewahrt. Selige Südseezeit. Allein das Schicksal macht Judith und Alf zum Narren.
Großtag der Menschheit! verkündeten die Lautsprecher im Lande, und um die zwölfte Stunde der Ortszeit wurden zu Rhein-Aachen die Siegel der unterirdischen Schlafburg er öffnet. Auf allen Lichtschirmen der Welt wurde der Vor gang sichtbar. In weißen Schutzhüllen betraten die Ge lehrten die große Halle. Die einzelnen kapellenartigen Ge mächer des Rundsaales, in denen die siebenundsiebzig Tra ditionsübermittler schlummerten, wurden geöffnet, die Tem peraturen hinter den dicken Glaswänden, die herabgesetzt waren auf vier Grad, langsam erhöht um zwölf, die Sauer stoffpumpen arbeiteten, kleine Maschinen knatterten, die elektrischen Durchströmungen, die die Reize der Nerven er muntern sollten, begannen. Mit Staunen sah das Publikum, wie in diesen mumien artigen Gestalten Regung erwachte, die deutlich wurde durch das Zittern der Fingergelenke. Die Gesichter nahmen Farbe 57
an. Nun traten die Ärzte zu Häupten der Lager und sprachen das erweckende Wort aus, das den ersten Bann hypnotischen Schlafes nahm: Vita somnium breve! (Das Leben ist ein kurzer Traum.) Die Maskenstarre der Ge sichter wich. Augen taten sich auf. Die zum Bewußtsein Ge langenden wurden gelabt mit leichter, wissenschaftlich genau abgewogener Nahrung. Bei den Frauen trat zuerst selbstän dige Bewegung ein. Aber in der dritten Stunde verkünde ten die Lautsprecher Trauer. Professor Antoni, der Che miker aus Neapel, und Fräulein Saratoff, die Soziologin aus Boston, waren nur für eine ganz kurze Frist erwacht, um alsbald in den ewigen Schlaf einzugehen. Opfer der Wissenschaft! Opfer der Menschheit! Denkmäler werden ihnen errichtet für ihre Tapferkeit! kündeten die Lautsprecher. Aber ich, der ich das unmittelbar erlebte, neben Judith saß, mit der ich am Tage vorher den Eheschluß vollzogen, wurde von einer seltsamen Angst geschüttelt. Es war ge rade die Soziologin gewesen, die ein Opfer geworden war. Ich schaute Judith von der Seite an. Sie schien ganz ruhig. ,,Das kann heute noch bei der Geburt eines Kindes ge schehen“, sagte sie, ,,daß eine Frau stirbt. Ganz sind wir immer noch nicht Herren über das Schicksal und den Tod.“ Wir begaben uns nun in den Saal der Verkündung. Hier wurden die Fünfundsiebzig, die ihre volle Kraft wiederge funden hatten, dem Volke vorgestellt und ihre Bilder sofort über das Erdenrund verbreitet. Es war ein erhebendes Gefühl, daß alle Menschen der Erde diese Opferbereiten 58
der Wissenschaft auf ihren Lichtschirmen sehen konnten. Die Namen aller wurden verkündet und von einem jeden be merkt, was er bisher für die Wissenschaft geleistet. Danach wurden ausgerufen die Kandidaten, die für die nächste Ein schläferung in Betracht kamen. Das war als Ehrung ge dacht. Die Menschen der Erde sollten ihre wahren geistigen Repräsentanten sehen! Altem Gebrauche gemäß erfolgte der Aufruf in alphabetischer Reihenfolge, und so sah ich unter den ersten, die das Podium betraten, Flius. Er war blaß. Seine großen dunklen Augen brannten fieberhaft. Wie ein Mensch, der nicht mehr ganz von dieser Welt ist, saß er da. Ihm mochte wohl ein Trost sein, zwischen sich und diese Zeit einhundert Jahre zu setzen. — Hurst kam mit schlenkernden Gelenken. Er schaute ironisch lächelnd nach rechts und links. Als er mich und Judith erblickte, grüßte er mit einer Handbewegung, warf den Kopf zurück und schloß die Augen, als wolle er ein Wohlbehagen ausdrücken. Flius, welcher die Bewegung sah, wandte sich ab. — Nun ward Judith Thyrberg aufgerufen. Mir schnitt es ins Herz. Sie nahm Platz auf einem Sessel neben Mary Sidney, einer großen, dunkelhaarigen Dame mit festen Gefichtszügen. Ich bemerkte, wie Mary einen verzehrenden Blick auf Judith richtete. Aber die beiden sprachen nicht miteinander, denn die Operateure waren am Werk, die Gestalten der Kandi daten den Menschen der Erde zu übermitteln. Als sie das Podium verließen, begrüßte ich Mary und be merkte: „Ich glaube nicht, daß Ihre Mitkandidatin für den Schlaf der neunundneunzig Jahre in Betracht kommt. Wir 59
beide haben gestern unsern fruchtbaren Eheschluß vollzogen, heute wird die Urkunde zu den Akten des Wahlrates ge langen.“ Da flammte Marys Gesicht auf. Sie streckte Judith triumphierend die Hand entgegen. „Alles Glück! Alle Seg nungen einer fruchtbaren Ehe wünsche ich Ihnen!“ Dann atmete sie auf. Ja, Don Esteban hatte recht, diese Frau hätte die hohe Ehrung, die es bedeutete, in die Endliste der Schlä fer aufgenommen zu werden, nie aufgegeben einer Ehe wegen. Judith sagte zu ihr mit einem liebenswürdigen Lächeln: „Die Übermittlung der Soziologie unserer Tage wird in Ihrem Kopfe die beste Erinnerungsstätte haben!“ Mary war ganz rot geworden. Mit jener Naivität, die so oft den ganz hochstehenden Intellektuellen auszeichnet, antwortete sie: „Wie ich mich freue über Ihr Glück und über meines!“ Kräftig drückte sie uns die Hand und ging erblüht, verschönt von dannen. Und ich mußte bekennen zu Judith: „In ihrer Hingabe, auch an eine Idee, ist sie doch eine ganze Frau!“ — — — — Die Nachrichtenübermittler gaben kund, was für Resul tate von den wiedererweckten Schläfern nach den letzten neunundneunzig Jahren übermittelt wurden. Fünf Jahre lang hatten in den einzelnen Disziplinen die Gelehrten, Techniker und Ärzte ihre Fragen vorbereitet, so daß die examinierten Wiedererweckten ohne große Mühe das Vor gelegte aus ihrer Zeit beleuchten konnten. Da zeigte es sich, wie manche unbeachtete Einzelheit aus der alten Zeit plötz 60
lich Bedeutung in der neuen gewonnen hatte und umgekehrt Bedeutungsvolles, was die Alten wichtig genommen, ver blaßt war. Die ganze Erde beredete die Resultate. Jeder ihrer Bürger war ja mit einer der Disziplinen verknüpft. Aus dem Zusammenprall zweier Geisteswelten erwuchs Wärme, Belebung, Beseelung. Und die fünfundsiebzig Über lebenden wurden hoch gefeiert als Stützen der Menschheit. Diese Nachrichtenfülle klang in unsere Heirat hinein. Wir waren still nach den Balearen gegangen, und Judiths Mut ter und ihre Brüder waren auch dort hingeeilt. Es war eine Familie, die der Bentinkschen gleichwertig war. Es be stand wenig Unterschied zwischen dem Fühlen meiner Mutter und der meiner geliebten Judith. Es war ein Glück, daß alles gespannt war durch die großen Erlebnisse der wieder erwachten Schläfer, und so konnten wir uns von der Familie leicht lösen und uns zu unserem Hochzeitsort auf die Süd seeinsel Tosa begeben. In diesem blauen Meere mit seinem warmen, gleichmäßigen Klima fanden wir alles vorbereitet aus dem Eiland, den Bungalow mit den elektrisch gekühlten Schlafzimmern, das geräuschlose Schnellmotorboot zu Aus flügen, die beiden Kleinflugzeuge für den Besuch der austra lischen Weltstädte. Die Dienerschaft bestand aus einem alten chinesischen Ehepaar, das alle die elektrischen Apparate mit Sorgfalt bediente, leise und vorsichtig, so daß sie selbst kaum gesehen wurden. Wir lebten paradiesisch an dem feinkör nigen Sandstrande oder lagerten uns im Schatten der Kokospalmen. Unberührt war die Natur von Dreiviertel der Insel geblieben. Judith hatte ihre Freude an dem bun 61
ten Gesieder der Vogel und den lustigen Sprüngen der frechen kleinen Makaka-Affen. Alle Giftbrut, alles schlechte Ungeziefer waren ausgerottet worden. Zweimal jährlich kamen die Regulatoren und entfernten Krankes oder Über flüssiges, aber so schonungsvoll, daß diese Eingriffe bei der andern Tierwelt nicht gespürt wurden. So führte ich ein Dasein wie Robinson Crusoe mit einem weiblichen Freitag, allerdings nur für den Tag. Des Mit tags, während der Siesta und abends im Bungalow war jedes Hilfsmittel der Zivilisation zu unseren Diensten. Um die siebente Stunde der Inselzeit erfuhr ich alles, was mir meine Sekretäre in Lima zur Entscheidung vorbereitet hat ten. Und nach dem Essen ließen wir an der weißen Be suchswand gleichsam in einem Haustheater uns alles das vorspielen, was in der Welt im Laus des Tages geschehen war. Der Fernsichtbewahrer hatte getreu alle Szenen im plastischen Bild ausgenommen, die an diesem Tage von Be deutung waren, und der Sparlautsprecher gab die Worte dazu wieder. Wir konnten Don Esteban nachträglich sehen und hören, wie er in seinem Repräsentativhause Spaniens meine Aufforstungspläne darlegte und verteidigte. Mit einer kleinen Umschaltung gewahrten wir die Sitzung der Gelehrten in Paris, denen Outford gerade darlegte, wie das große Krankheits-Immunisierungsgesetz der Menschheit ent standen war. Mit Erstaunen vernahmen wir seine Dar legung, daß das damalige General-Impfverfahren, das die Menschen gegen bestimmte Krankheiten sichern sollte, nach fünfzig Jahren bereits geändert werden mußte, weil zwar 62
gewisse Krankheiten erstorben waren, aber neue sich zeigten. — Denn, ihr Atlantiker, der Mensch wird nie fertig mit den Gefahren, die ihn umgeben. Wir besiegen die augen blicklichen Bedrohungen unserer Keime, um neue Feinde heraufzubeschwören. Outford wies darauf hin, daß er selbst gelehrt habe, die Menschheit könne sich jeweilig von Übeln befreien, aber neue Übel müßten kommen. Im Gesetze des Lebens liegt es, sich durch Krankheit und Tod zu begrenzen. Immer wird es Märtyrer geben, wie diesen Barantoff, der eine neue Geißel der Menschheit, den Hautverlust durch Schnell rötung, dadurch bannte, daß er sich selbst die Krankheit ein verleibte, um die Gegenwirkung an sich selbst zu studieren. — Uns aber, die wir einander liebten, reizte es besonders, daß Outford die Frage der Lebensverlängerung behandelte. Er hoffte, das Leben des einzelnen aus dreihundert Jahre bei völliger Frische erhalten zu können und sprach den Lehr satz aus: Des Menschen Leben müsse eine Dauer haben können wie das der Papageien und Elefanten! Er wollte die Fruchtbarmachung hinausschieben. Auf diese Weise würde das ganze Geschlecht älter und zugleich jünger sein können. Und er lehrte: Der Mensch verfügt über eine Summe von Lebenskräften. Er kann sie einsetzen, wie er will, aber er muß immer aus der ganzen Summe seines Lebenskapitals Zahlung leisten. Entweder er lebt mit schmalen Zinsen lange oder mit breiten kräftig aber kurz. Und die wiedererweckten Fünfundsiebzig wurden als Bei spiel angeführt. Sie hatten kaum Lebenskraft verbraucht 63
in den neunundneunzig Jahren. Aber das nun war die Frage, die sich stellte, wieviel Jahre sie in den neunund neunzig von ihrem eigentlichen Leben wirklich verbraucht hätten. Diese Darlegungen ließen Judith ganz zu Ehrgeiz und Sehnsucht werden. „Wie schön hat es Mary, das einmal selbst erleben zu können!“ rief sie aus. „Und Du ziehst das Leben an meiner Seite nicht vor?“ fragte ich eisersüchtig. Da schmiegte sie sich an mich und wußte mich zu be ruhigen, indem sie sagte: „Jetzt habe ich Dich und will nichts anderes!“ Dann erlebten wir den Tag, an dem unter dem Vorsitze Don Estebans der Wahlrat die Kandidaten für die nächste Schicht der Schläfer aufstellte. Um der Sitzung rechtzeitig beiwohnen zu können, mußten wir uns nach der Sonnen zeit unserer Insel um drei Uhr morgens wecken lassen. Wir setzten uns ins Wohnzimmer und schalteten den großen Sitzungssaal des Instituts von Aachen ein. Im Ausschnitte des Herzstücks sahen wir Don Esteban im Vorsitz am Huf eisentisch. Um ihn die beratenden Gelehrten. Auf der Estrade die Kandidaten, in den Logen die Staatsmänner mit ihren Frauen, die Diplomaten. Die Soziologie stand an siebenter Stelle zur Beratung. Judith Thyrbergs und Mary Sidneys Namen wurden genannt. Don Esteban machte bekannt, daß Judith Thyrberg eine fruchtbare Ehe mit Alf Bentink eingegangen sei und bemerkte lächelnd: „Ich glaube, es darf wohl feststehen, daß wir galant genug 64
sind, dem jungen Paar seinen Frieden nicht durch einen neunundneunzigjährigen Schlaf der Partnerin zu stören! Darum möchte ich für die erste Stelle vorschlagen Miß Mary Sidney. Sollte sie, was ich nicht erwarte, ihre Kandidatur nicht ausüben können, muß Judith Thyrberg-Bentink an ihre Stelle treten.“ Einstimmig wurde unter Beifall der Vorschlag ange nommen. Judith schaute mich an. „Wie sich Mary freuen wird!“ sagte sie. „Spielst Du noch immer mit dem Gedanken, mir zu ent weichen?“ eiferte ich. Trotzdem alles gut und schön für uns beide stand, lebte in mir Erregung und Angst. Als wir in das Dunkel der Tropennacht traten, hörte ich im Halse mein Herz laut schlagen. Wir lösten das Boot, fuhren durch die Klippen brandung hinaus auf das offene Meer, legten ein paar hundert Meilen im Renntempo zurück. Als die Sonne mit orangefarbenen Fanfaren ihr Nahen kündete, wendeten wir. Hinter einer Insel leuchtete das Gestirn. Im Augen blick erschien es mir, als ob die Palmen schwarz zu wachsen begännen. Aber die Erscheinung schwand, höher hob sich die Sonne. Grün und still lag ein Archipel vor uns. Boote kamen entgegen. Es waren andere Paare, die ihren Liebes frühling auf den glücklichen Inseln verlebten.
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V. Motto: Die Erzählung, sprach Pantagruel, war ganz artig, wenn wir nicht die Furcht Gottes allzeit müßten vor Augen haben. Francois Rabelais: Gargantua und Pantagruel. 16. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Menschheitsneugier. Die Weltmeinung macht aus tiefem Ernst ein Spiel. Die Selbstachtung gebietet das Opfer. Aber Bentink erreicht es, daß er seiner jungen Frau auf die Reise in die Zeit über neunundneunzig Jahre folgen darf. Abschied von der Insel Tosa, die aus einem Paradies ein Marterplatz wurde.
Es kam der Tag der stillen Freude, da kein Zweifel mehr für Judith war, daß sie Mutter geworden. Jetzt erst glaubte ich mich gesichert. Ein Endziel meines Lebens war erreicht. Darum hatte ich meine ganze Jugend gerungen. Das war mein Ziel gewesen, ein Kind zeugen zu dürfen. Jetzt war der Beweis erbracht, daß ich's konnte und durfte. Auch Judith war glücklich. Das geistig Starke und Scharfe, was sie auszeichnete und mich manchmal doch ein wenig ver letzte, trat zurück in einem ruhenden Gefühl. Neue Augen hatte sie gewonnen für die Pflanzen und für die Tiere. ,,Es ist das Glück“, sagte sie an einem Abend nach dem Schwimmbade, „was ich jetzt erst kenne!“ Und da sie ein wenig fröstelte, drängte sie sich an mich. Ich schlug die Badedecke dicht um ihren Körper. Sie schlief ein in meinen Armen, und ich fühlte das große Geheimnis der Vereini gung zweier Menschen in einem dritten. 66
"Liebster, wie spät ist es?" fragte sie, als sie aufwachte und hineinsah in die Pracht des Sternhimmels. Ich wußte es nicht, ich hatte nicht nach der Zeit gefragt, und so standen wir auf, gingen ins Haus, aßen Früchte, große Melonen und Ananasscheiben, herrliche kernlose Pfirsiche und Riesenaprikosen. Danach tranken wir den ungegorenen süßen Saft wohlduftender Trauben. Judith war durch ihren Schlaf so erquickt, daß sie mich bat, nach der Stille und Seligkeit des Tages etwas vom Getriebe der Welt da draußen zu sehen und zu hören. Wir ließen den Nachrichtenübermittler anspringen. „Wie schön!“ rief Judith, als das Bild ihrer eigenen Mutter erschien, der vom Reichspräsidenten eine Ehren münze überreicht wurde für ihre Fürsorgearbeit an kranken Kindern. — Andere Bilder entstanden auf der Fläche. Dann rief der Lautsprecher, und die Worte klangen in meinen Ohren wie die Stimme des jüngsten Gerichts: „Die Kandi datin für die Übermittlung der soziologischen Tradition, Mary Sidney, trat fehl im Schnellift der Londoner soziolo gischen Bibliothek. Sie hat sich einen schweren Oberschenkel bruch, Rippen- und Lungenverletzung zugezogen. Wir glauben nicht, daß sie mit dem Leben davonkommen kann!“ Wir sahen uns einander an und folgten nicht mehr den Bildern und Worten. Ich sah, daß Judith nachdachte, und mir war es, als könnte ich durch ihre klare Stirn hindurch ihre Gedanken lesen. Darum sagte ich: „Du bist Mutter!“ Sie erhob den Kopf, sah mir tief in die Augen und ant wortete: „Ich wußte vorher, daß ich als Zweite in Betracht 67
käme. Übernommene Pflichten müssen erfüllt werden. Oder willst Du, daß Dein Kind mit dem Schimpf durch die Welt geht, seine Mutter hätte feige gehandelt?“ Und mit jenem Fanatismus, den nur Frauen aufbringen können, fuhr sie fort: „Wieviel Opfer mußten früher für die Menschheit gebracht werden! Wieviel Männer wurden in häßlichen Kriegen wie Ungeziefer vernichtet! Wie viel Frauen starben bei Geburten! Wir gehören zu der führenden Schicht, sind herausgehoben, und gerade darum dürfen wir das Vorrecht, Opfer zu bringen, uns nicht versagen!“ Ich sprach keinen Ton mehr, ich nahm sie in die Arme, ich trug sie auf unser Lager. Ich wußte ja, wie hart die Erziehungsregeln des Erdengeschlechts waren, und daß die Gesellschaft mit ärgeren Strafen drohen konnte als je ein Gesetz. — Als sie eingeschlafen war, verließ ich sie, ging hin unter zum Meer und begann, noch einmal alles zu durch denken. Und da fühlte ich's: Die Ungewißheit, die Angst hatte in mir vorgearbeitet. Mir war es, als hätte ich das gleiche schon geträumt und schon erlebt im Unterbewußtsein. Die Angst hatte alles gespiegelt, alles vorbereitet. So konnte ich schnell handeln, ohne erst mühsam rechnen zu müssen. Ich wußte, es war möglich, Don Esteban um diese Zeit zu sprechen. So ging ich in unser Empfangszimmer, schaltete auf die weiße Wand den Begrüßungschef meines Gönners ein. Don Angualdez grüßte mich aus dem weiten Saal, in dem er auf und ab ging, mit einer Handbewegung, als stände ich ihm unmittelbar gegenüber. „Wir wußten, Sie 68
würden sich heute melden!“ sagte er. Don Estebans erstes Wort nach der Sitzung war Besorgnis um Ihr junges Weib. Wird sie als Kandidatin ihrer Pflicht genügen können? Antworten Sie auf die Frage, die Don Esteban an sie richten wollte: „Fühlt sich Ihre Frau als Mutter?“ „Sie ist es! Kann ich Don Esteban sprechen?“ „Ich diene Ihnen gern!“ Don Esteban erschien wie damals, sitzend im Garten des Parkes von Aranjuez vor dem Springbrunnen. Freundlich nickte er über die Räume und Meere, die uns trennten, und sagte: „Die Verfassung hat diesen Fall nicht vorgesehen! Ich selbst habe ihn nicht durchdacht. Ich bin der staats politischen Meinung, daß über sich selbst ein Mensch frei willig verfügen kann, nicht aber über einen werdenden Menschen. Es ist daher unmöglich, daß Frau Judith ohne ihre Einwilligung unter die Schläfer eingereiht wird. „Und“, fügte er hinzu, „ich denke, der Gatte und Vater hat ein Recht, seine Frau beraten zu können in einem solchen Falle!“ In diesem Augenblicke wurde es in mir licht. Ich hatte Gewißheit, niemals würde es mir Judith verzeihen, wenn ich sie zurückhielte. Sie war zu eng eingegliedert in die Pflichten unserer Gesellschaft, auch würde es ihr ja keiner geglaubt haben, daß sie selbst entschlossen gewesen war. Immer würde sie gedemütigt durch das Leben gehen. Und damit war das Schöne unseres Zusammenlebens gestört. Und da kam es über mich, ich bat Don Esteban: „Es wird Unruhe in der Welt geben, wenn Judith nicht daran teil 69
nimmt, aber ich habe eine Bitte, die mir meines Erachtens gewährt werden muß. Ich lasse sie nur dann einreihen, wenn es mir selbst verstattet sein wird, an dieser Expe dition teilzunehmen!“ Don Esteban erwiderte: „Ich muß Ihren Vorschlag genau erwägen. Er ist ritterlich, ehrenfest. Wir müssen zusehen, ob der andere Kandidat, der für die Forstwissenschaft vor gesehen ist, freiwillig weicht.“ „Lassen Sie mich unter allen Umständen als Überzählig gen teilnehmen!“ bat ich. „Auch dies werde ich erwägen. Ich meine, die Frage ist groß genug, daß wir sie der gesamten Erdenmenschheit zur Diskussion vorlegen. Ihnen danke ich für Ihre Hochherzig keit!“ Aber ich kam mir gar nicht hochherzig und heldenhaft vor. Es war mir sehr elend zumute. Mir war es wie ein mal bei einer Motorfahrt über das Wasser des südlichen Ozeans, als die Maschine aussetzte, und ich das Gefühl hatte, ich sollte mit einem kläglichen Hilfsapparat von Segel tausend Meilen, auf eigene Geschicklichkeit bauend, zurück legen. Aber zum Glück kam damals die Maschine wieder in Gang. Ich begab mich in mein Schlafzimmer. Ich wandte die Mittel der stärksten Sammlung an, und es gelang mir, ein zuschlafen. — Am andern Morgen weckte mich Judiths Stimme. Mit keinem Wort erwähnte sie das, was am Abend vorher geschehen war, und auch ich sprach nichts da von. Ich hatte Angst, daran zu rühren. 70
Mit Staunen merkte ich, daß wir beide zum Mittelpunkt des gesamten Erdeninteresses geworden waren. Unser Empfänger meldete uns die Fragestellungen, die Don Esteban der Bevölkerung des Planeten gestellt hatte, und wir sahen daraus, daß der Freund uns günstig gesonnen war, daß er uns vor uns selbst retten wollte, indem er die ganze Erde zur Anteilnahme für uns aufrief. Inzwischen erließ Mary Sidney von ihrem Krankenlager aus Bekanntmachungen, sie dächte nicht daran, zurück zutreten, sie hoffe in ein paar Monaten so weit zu sein, daß sie teilnehmen könne. Aber ihre Lebensenergien er schöpften sich. Nach acht Tagen wurde ihr Tod gemeldet, und damit war unser Schicksal fast Gewißheit geworden. Wir sahen uns gespiegelt wieder in jeder Versammlung. Die Fernaufnahmeapparate der gesamten Erde hatten sich aus unsere kleine Insel Tosa gerichtet. So erlebten wir es, wenn wir in unserem Wohnzimmer saßen, daß wir unser verkleinertes Abbild mitten im Raum über einer Ver sammlung schweben sahen. Das war lähmend, besonders für Judith. Harmlos hatten wir am Strande gebadet und uns unserer Nacktheit in der Sonne gefreut. Jetzt wagten wir es nicht mehr. Wie schamlos wäre es gewesen, unser natürliches Glück der gesamten Erdenbevölkerung darzu bieten. Wie oft geschah es, daß wir im Gespräche, wenn wir uns einander entzündeten und laut redeten, plötzlich merkten: Jetzt werden wir abgehorcht. Dann suchten wir die verdunkelten Zimmer des Bungalows auf, um uns in die Arme zu nehmen und aneinander auszuruhen. Aber 71
auch dieses Betragen fiel auf und wurde alsbald Beute der Tagesmeinung. Unser Eheglück selbst war ein öffent liches geworden. Versammlungen wurden einberufen. Durfte die Mensch heit von Judith das Opfer fordern oder nicht? Das ward öffentlich verhandelt. Zwischen 18 und 20 Greenwicher Zeit des Nachmittags ward in Europa das Thema aufge nommen, und die ganze Erde ließ sich die Reden über mitteln. In den Vortragsräumen drängten sich die Redner, Männer und Frauen. Darf der Staat ein solches Opfer fordern? Ist ein einziges menschliches Wesen im Werden nicht heilig? Darf es zum wissenschaftlichen Experiment ver wandt werden? Gerade, weil es noch kein Bewußtsein hat, muß es geschützt werden! Gestritten wurde, ob eine Frau gezwungen werden kann, auch moralisch gesellschaftlich, sich und ihr Kind zu opfern. Aber andere wieder fragten: Hat der Gatte ein Anrecht auf die Frau, wenn der Erdenstaat verlangt, daß sie sich für das Allgemeinwohl opfert? Und uralte Erinnerungen vergangener blutiger Zeit wurden wach. Der Gatte hat auf die Frau ebensowenig Anrecht dem Staat gegenüber, wie das Weib seinerzeit gegen das Ausrücken eines Kriegers Einspruch erheben durfte. — Es folgte der Einwurf, daß es hier nicht auf zwei bewußte Menschen ankäme, sondern noch auf ein drittes Leben, das unter Zwang gestellt würde. Und in dieser Frage war das Gewissen der Erdenbürger sehr wach. Fest stand es, daß eine Frau ohne Frucht sich widerstandslos dem Gebote des Erdenstaates beugen müsse. Durfte der Staat über 72
haupt das Opfer einer fruchtbaren Mutter annehmen, wo doch andere Frauen zur Verfügung standen, denen der Staat den Segen der Mutterschaft versagte? Einmütig standen hier zusammen die Männer für die Freiheit der werdenden Mutter. Die Stimmen der Frauen selbst waren geteilt. Sie waren unbarmherziger. Ihnen stand die Mutterschaft bei weitem nicht so hoch wie den Männern, vielleicht weil sie natürlicher empfanden. Selbst in den Familien waren die Meinungen ähnlich geteilt. Judiths Bruder und Ohm wollten die glücklich be gonnene Ehe nicht gestört werden lassen. Aber Judiths eigene Mutter verlangte von ihrer Tochter den Stolz, das Opfer bringen zu können. Sie tröstete: „Du wirst Dein Kind in das andere Leben mit hinübernehmen und so die Erinnerung an Deinen Gatten bewahren!“ Judiths Mutter war zu stolz auf die Ehre, die der Tochter widerfahren war mit der Wahl als Kandidatin der Tradition. Sie hatte einen Ehrgeiz, wie er den Frauen aus Offiziersfamilien längst verschollener Zeiten nachgesagt wurde. Von meinem Entschluß hatte Don Esteban der öffentlich keit noch nichts mitgeteilt. Auf meine Anfrage erklärte er, die Weltmeinung müsse ausschwingen. Das Thema wäre gestellt, die Gewissen sollten wachgerufen werden, es wäre eine unendlich wichtige Frage, an der sich die Menschheit des Planeten erproben müßte. Judith selbst spürte aus Fernunterredungen mit Freundinnen, daß sie alle das Schicksal der Schläferin wünschten. Manchmal sagte sie bitter, ihr wäre es, als ob 73
diese jungen Mädchen ihr das Glück der fruchtbaren Ehe neideten. In der Tat, die eindrucksvollen Bilder von Tosa, die uns beide als Liebende der ganzen Welt übereignet hatten, waren Neidanstifter gewesen. Wir waren wie Figuren in einem Schauspiel, das nur dann vollen Beifall erringen konnte, wenn zum Schluß die Tränendrüsen der Wehmut und des Mitleids zur Auflösung gebracht wurden. Wer ein solches Glück wie wir genoß, mußte es opfern. Don Esteban, der sich jeden zweiten Tag bei mir meldete, ließ einmal hören: „All unsere hohe Zivilisation, all unsere sorgfältige Erziehung hat das Pharisäertum nicht ausge rottet. Gerade weil wir uns sehr vollkommen dünken, sind wir unvollkommen, und besonders die Schadenfreude scheint nicht ausrottbar zu sein aus Menschenherzen.“ Trotzdem ergab eine Abstimmung, die spontan als der Erfahrung erster Ring abgegeben wurde, wie die Regierungen der Erde es nannten, daß sechzig Prozent der Erdenbewohner gegen die Einreihung Judiths unter die Schläfer war. „Sechzig Prozent“, sagte Judith, „das ist eine schöne Zahl, aber keiner wird uns mehr wirklich schätzen, wenn ich hier bleibe.“ Und ich mußte ihr beipflichten. Der Trank des Glücks war uns vom Munde gerissen worden, die Öffentlichkeit hatte uns in sieben Wochen mit harten Schlägen beige bracht, daß wir auf der Erde unter dieser Menschheit nicht mehr glücklich sein würden. Und als Don Esteban sich wieder meldete und uns be glückwünschte, bat ich ihn in Judiths Gegenwart: „Voll 74
ziehen Sie einen Akt der Barmherzigkeit, lassen Sie uns beide aus dieser Erdenmenschheit fliehen! Sollten wir am Leben bleiben, werden die Menschen einer späteren Zeit uns dankbar sein, wenn sie uns erwecken. Heute müßten wir als Verfemte leben. Besser fast ist noch der Tod, als ein solches Leben, das die Offentlichkeit gebrandmarkt hat.“ Don Esteban machte unsere gemeinsame Forderung der Menschheit bekannt. Und ein neues Thema war dem Erden planeten gegeben. Wie ungeheure Wolfsrudel stürzten sich Redner und Gegenredner auf die Beute des neuen Themas: Darf ein Mann in einer so verantwortungsvollen Stellung wie Alf Bentink sein Amt aufgeben, weil seine Frau ein Opfer für die Menschheit bringen muß? Hat er dazu das Recht? Muß er nicht für sich stehen und die Trennung er tragen? Von Anfang bis zu Ende ward auch diese Frage im Suppenkessel der Öffentlichkeit weichgekocht und durch gerührt. Es gab sarkastische Meinungen, die mich mit dem blinden Passagier der alten Zeit verglichen, der sich sehr zum Nachteil einer Luftexpedition in einen Zeppelin oder einen Dornier eingeschlichen hatte. Da war nun leicht das Gegenargument, daß meine Teilnahme niemanden an Leib und Leben gefährdete. Es war ein gewisses Glück, daß Olafson, der Kandidat für die Forstwissenschaften sich bei einem Holzhärtungsversuch infizierte und krank wurde. Nun konnte Don Esteban es durchsetzen, daß ich für Olafson vor geschlagen wurde, und langsam kam die Welt zur Ruhe. Das große Ereignis der Einschläferung kam näher und 75
näher und die Erdenwelt hatte ihr Fieber gehabt, das sie von Zeit zu Zeit brauchte. Don Esteban beglückwünschte uns im geheimen: „Sie haben den Regierungen einen großen Dienst erwiesen. Es ist ja immer genug revolutionäres Gift in den Köpfen der Menschen. Von Zeit zu Zeit muß es einmal auskochen in einem Fieber, damit diese Kräfte sich milde austoben können. Sie haben mindestens für eine Generation dies erreicht und den Regierungen der Erde damit einen unschätzbaren Dienst für die Entgiftung der Menschheit erwiesen.“ Und der Lärm um die Insel Tosa verklang. Wir konn ten es gar nicht glauben, daß wir plötzlich nicht mehr be achtet wurden. So hatten wir noch einige schöne Monate vor uns, wo wir in Sicherheit es wagen konnten, Arm in Arm am Strande zu liegen und uns von der Sonne be scheinen zu lassen. Und ich freute mich an dem mütterlich sich rundenden Leib meiner schönen Frau. —
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VI. Motto: Die Sehnsucht schilt den leeren Raum, Ich weiß nicht, was ich selbst begehre! Des Menschen Leben heißt ein Traum! Johann Christian Günther.
18. Jahrh. n.Chr.
Erdfeiertage! Rüstung zur Abreise ins nächste Jahrhundert. Die große Feier. Don Estebans Rede. Begegnung am Dom Karls des Großen mit Ferryman. Die entscheidende Stunde rückt näher. Vita somnium breve!
Die Erdenfeiertage begannen in der Großstadt der Wissen schaft Rhein-Aachen. In dieser Urzelle des alten Franken reiches waren zum Ausdruck gekommen französische und germanische Kultur, und eine neutralisierte Siedlung war entstanden, die von der alten Stadt Karls des Großen meilenweit über die Lande bis zum Rhein reichte, an dessen Ufer der Menschheitstempel errichtet war. Siebenundsieb zig Schläfer sollten dem kommenden Jahrhundert übergeben werden. Ein gewisses Zeremoniell war bereits Übung ge worden. Zugegen waren der Präsident der Erdenregie rungen und sämtliche Chefs der einzelnen Kulturprovinzen. Der Wahlrat mit Don Esteban an der Spitze eröffnete die Führung in den großen Saal des Menschheitstempels. Die Senatoren und Herren der Erde nahmen im Halbkreise ihre Ehrenplätze ein, dahinter die Gelehrten und wissenschaft lichen Größen. Wir, die Schläfer in die Zukunft, wurden hereingeführt und vorgestellt leibhaft den Großen der Erde. 77
Damit war Gelegenheit gegeben, daß unsere Abbilder bis in die fernsten Gebiete am Nordpol, Südpol, am Äquator als Helden der neuen Zeitepoche von allen gesehen, von allen gehört werden konnten. milder wurden aufgenommen, denn in jeder Regierungsanstalt, jedem Schulgebäude wurden Er innerungsdenkmäler aufgestellt, um immer die Menschen zu mahnen, es sei Pflicht eines jeden, Leben und Glück zu opfern für die Menschheit. Meine Blicke glitten nach rechts und links die lange Reihe hinab. Fast alle Gesichter meiner Gefährten waren mir be kannt. Mit vielen war ich befreundet, mit den meisten hatte ich zusammen gearbeitet auf Kongressen und Beratungen in Sitzungssälen und im Laboratorium, denn die Auslese der Menschheit kennt sich immer untereinander. Leistungen führen einen zum andern, Arbeit verbindet die Pioniere, einer braucht den andern. Da war Bertrandi, der die Baum impfung erfunden, Jusselin, der die mathematischen For meln für den Wasserdruck der Atmosphäre errechnet hatte, da waren Birnstab, Kellog, Horn, Walter, Marini, Ewers, Brandt, Grisebach, Schmidt, Berenger, Bruno Jahn, Winand, Amelung. Zwei oder drei hatte ich hier zum ersten Male getroffen, aber ihre Bilder schon gesehen, von ihren Leistungen vernommen. Und ich sah, daß im Augen blick Hurst wohl denselben Gedanken hatte. Er lächelte mir zu, und unser beider Blicke vereinigten sich auf Flius, der totenblaß dastand und abwesend ins Leere starrte. Flius! Ich erinnerte mich, daß ich ihn am Mittag gesehen hatte im Hause der Wissenschaft, an einem Tische sitzend 78
mit Hochkofler und Maria Langland. Mein guter Hoch kofler war aufgesprungen und hatte mich umarmt. „Wir sind zu spät gekommen!“ jammerte er. „Aber ich bin froh, Dich und Judith noch einmal gesehen zu haben!“ — Maria hatte Judith umarmt. Bei dieser Bewegung fiel mir aus, wie schmerzlich bewegt das Gesicht von Flius erschien, daß seine Lippen, seine Nasenflügel zitterten, daß er in höchster Erregung war. — Feierlich traten uns entgegen in purpurroten Talaren, die den Gewändern altvenetianischer Nobiles nachgebildet waren, die fünfundsiebzig wiedergekehrten Schläfer. Hände drücke wurden getauscht zwischen den Kommenden und den Gehenden. Danach schritt der Festzug der Versammelten die reich geschmückte Straße am Rhein entlang, dem Schicksals strome des alten Europas, damit den von weit und breit auf Luftfahrzeugen Herbeigeströmten Gelegenheit gegeben sei, unsere Heldenschar zu sehen. Eindrucksvolle Sphärenmusik erfüllte die Luft. Tausende von Orgeln schienen Wohlklang zu verströmen. Es war ein brausender Chor menschlichen Stolzes, menschlichen Jubels. Aus der großen freien Terrasse wurde Abschied gefeiert und Hoffnung gesprochen. Im Angesichte der Sonne hielt Don Esteban die Rede. Sie war eine Warnung an die Menschheit. Und wenn ich daran zurückdenke, erfüllt mich fast ihre Prophetie mit einem Schauer. „Fast zu hochmütig sind wir“ führte er aus, „weil uns Großes und Größtes geglückt ist, weil wir Raum und Zeit überwunden haben, weil wir uns frei glauben und schon 79
danach streben, Menschentum von unserm Planeten auf einen andern zu verpflanzen. Wir staunen an die Expedi tion der kleinen ferngelenkten Raumschiffe und die Groß taten einzelner Raumflieger, wie die des jungen Stahlwart, dem es geglückt ist, in die Mondsphäre vorzudringen. Wir stehen vor einer neuen Epoche der Menschheit. Aber laßt uns demütig sein. Soviel wir können, nicht alles kön nen wir. Schmerz und Leid aus einem Menschenherzen zu bannen, ist uns noch nicht geglückt. Als Zeichen dessen, was wir leisten, schicken wir diese Schläfer hinüber in die Zeit von hundert Jahren nachher. Wir wünschen Ihnen, die Sie diese Aufgabe hochherzig auf sich genommen haben, daß Sie eine glücklichere Menschheit finden, eine Menschheit, die ihren größten Feind überwunden hat, den Neid.“ Judith und ich sahen uns an. Ja, Neid! Das war der Feind, der nicht aus der Menschheit geschwunden war. Nachdem das Bankett ausgeklungen war, begaben sich alle an den Rhein in die große Arena. Hier zeigten im Wettspiel die schönsten und stärksten des jungen Menschen geschlechts, was hohe Zucht und Körpererziehung zu schaffen vermögen. Danach ward besichtigt, was die Kunst der Menschheit geschaffen hatte an edlen Statuen und schönen Bildern in den letzten einhundert Jahren. Zwei Wochen lang wetteiferten Musiker miteinander, und Dichter traten aus und kündeten den Preis der Menschheit. Aber Don Esteban sagte zu uns an einem Abend, da wir allein zu dritt am Rhein entlang gingen: „Wir haben uns selbst zu Götzen gemacht. Was können wir danach noch uns antun?“ 80
Und in diesem Triumph der Menschheit erstickten die Tränen der Verwandten und Freunde unserer Siebenund siebzig. Froh war Judiths Mutter über ihre Tochter, aber doch war ihr Stolz nicht so groß, daß sie nicht auch Tränen vergoß. Judiths alter Ohm schloß die junge Frau in die Arme. Er sagte: „Daß ich alter Mensch Dich junges Wesen nicht leibhaft mehr wiedersehen kann, ist so traurig. Aber ich weiß ja, wo Du schläfst, und ich werde, wann ich es vermag, hierher nach Aachen kommen, um Deiner zu gedenken, die ich leibhaft lebend da drinnen weiß.“ Der letzte Tag brach an, der uns in unserer Zeit und Umwelt vergönnt war. Judith und ich machten uns los von allen Freunden in der Morgenfrühe, wir durchstrichen die Straßen der alten Stadt. Ein inneres Gebot zwang uns, in den Dom einzutreten, dessen Gruft die Gebeine Karls des Großen birgt. Wir standen in diesem Kuppelbau, den einst sarazenische Werkleute des Harûn al Raschîd für den großen Frankenhäuptling errichtet hatten. Unter dieser Kuppel des Moscheedomes empfanden wir das Zusammen klingen nordischen und südlichen Menschentums. Zusam menklang der Menschheit! Das war es, was uns bewegte. Und wir beide empfanden wohl das gleiche, die Unzuläng lichkeit der Menschheit, sich in einer einzigen großen Har monie zu einigen. Immer werden ja die Herren mehr sein wollen als die Beherrschten, und immer werden die Dienen den das Gefühl haben, minder zu sein. Der Sehnsuchts traum der Menschen, daß Herren und Diener sich gleich 81
fühlen, eins werden im menschlichen Dasein, scheint wie eine Gleichung, die irrational ist. Am Portal des Domes lief uns ein junger Mensch ent gegen. Blondhaarig war er, ungelenk in den Bewegungen, und schaute uns an aus blauen, überirdischen Augen. Un vermittelt redete er Judith an: „Sie habe ich beobachtet von all den Siebenundsiebzig! Sie wagen es, Leben zu spenden über die Zeiten! Sie sind ein Mund, der zum Künden be rufen ist!“ Und da ich ihn fragend anschaute, sagte er: „Ferryman bin ich, der Fährmann über die Zeiten, gesandt, Eurem Boot die Richtung zu geben über das Meer in die Zukunft! Die Menschheit ist reif, zur Rüste zu gehen. Der Verstand, der Intellekt, die Ratio — nennt es, wie Ihr wollt — hat gierig alles gefressen. Wir leben für den Zweck und nicht für den Sinn. Schafft wieder Sinn des Lebens, das Ihr durch Arbeit versklavt habt! Fragt Euch, wofür schafft Ihr, wofür arbeitet Ihr denn? Daß Ihr weicher schlaft, daß Ihr besser eßt, daß Ihr Gewohnheiten habt, die die Tage ver zehren! Wo sind Eure Träume, wo sind Eure Gesichte? Sie kommen aus Büchsen, aus Maschinen, fertig wie die Konserven, zum Genießen bereit und doch ohne Genuß, da Ihr nicht selbst mitschafft! — Ein Kind, das den Stock ergreift und sagt, es ist ein Pferd, schafft mehr Freude aus sich, als Ihr, die Ihr hinausfliegen wollt selbst in die Sterne! Aber hütet Euch, daß nicht die Sterne kommen und Rache nehmen an der übermütig gewordenen Erde! 82
Meinen Segen auf Euer Haupt! Euch grüßt der Fähr mann, weil Ihr Liebe gezeigt habt und Unterwerfung!“ Mit diesen Worten wandte er sich ab. Judith aber sagte kopfschüttelnd: „Mit wem haben wir da gesprochen?“ Mir fiel es ein: „Ferryman! Das ist der Prophet einer neuen Religion. Wir haben ihn erregt. Er ist uns gefolgt. Immer findest Du die Verrückten auf den Spuren großer Ereignisse!“ — — Müde von Feiern, Ansprachen, Vorbereitungen, Aufzeich nungen waren Judith und ich an diesem Tage eingeschlafen. Wir erwachten in der Morgenstunde früh, weil ein Vogel sich zu uns ins Zimmer verirrt hatte und an den Wänden einen Ausgang suchte. Als ich den Vorhang aufzog, zählte ich sieben gespensterhafte Kreise, ehe die Schwalbe kraftlos ins Freie entwich. War dieses Tier nicht ein Bild unserer selbst, die wir eingefangen waren in Vorschriften, Gesetze, Herkommen und Paragraphen der Menschheit? Aber es fand einen Ausweg, fand die Freiheit des blauen Himmels wieder. O, wären doch Judith und ich Schwalben und könnten verwandelt hinausstoßen in eine freie Welt! Wie töricht erschien mir alles. Es war der letzte Morgen, da sie an meiner Seite ruhte. Friedlich lag sie da, den Kopf ins Kissen geneigt. Die entspannten Züge waren groß und rein, trugen in sich das ganze Geheimnis beseelten, be schlossenen Lebens. Zarter war ihre Haut geworden, weißer. Schon waren die Brüste starr, erfüllt von der zu künftigen Aufgabe der Mutter. Und darunter keimte es, 83
war die Zukunft, war das Kind! Und dieses höchste Gut des Mannes, Mutter und Kind, stand auf dem Spiel zu gunsten „der Menschheit!“ Was war sie, was galt sie gegen die Dreiheit, die hier in einem engen Raum vereint war? Und doch, sie galt aus Erden alles! Das war nicht Lehre, war Erfahrung, und ich mußte an die Vorfahren zurück denken, an jenes sagenhafte Zeitalter, da sich die Menschen in Kriegen aufopferten. Aber waren diese Opfer nicht für alle Zeiten geblieben? Trotz aller Vorsichtsmaßregeln kamen tapfere Menschen in Laboratorien um. Bei den großen Wärmeumwandlungs spiegeln am Äquator, in denen die Sonnenenergie für die ganze Erde eingefangen ward, verbrannten jährlich nach der Statistik fast fünfhundert Menschen. Wofür? Für die Menschheit! Ja, das ließ sich nicht aus der Welt schaffen. Es gab welche, die befehlen konnten, und welche, die ge horchen mußten. Und immer gab es eine Menschheitsarmee, die im Kampf lag mit den Gewalten der Natur, die nie mals ganz bezwungen wurden, und an jedem Tage starben Menschen für die Menschheit! Judith erwachte. Sie nahm mich in die Arme und bat: „Still liegenbleiben! Nicht zeigen, daß wir wach sind. Der Tag beginnt früh genug, dieser letzte. Zwei Stunden wollen wir uns noch schenken.“ Zwei Stunden! Ich fühlte es fast wie Andacht, das war wirklich der Abschied von diesem Leben, von diesem Glück, das eine so karge Spanne gedauert hatte und das uns so bald verbittert wurde durch die Öffentlichkeit, durch die 84
Menschheit, die ihre Forderungen gestellt hatte, unerbittlich, wie eine Gottheit alter Zeit, die Blutopfer verlangte. — — So hielten wir uns umfangen, sahen uns in die Augen, küßten uns, fanden keine Worte. „Jetzt, wo der Tag wirklich da ist, kann ich ihn nicht glau ben!“ klagte Judith. Dann hörten wir aus der Tiefe des Hauses den Laut sprecher, der nicht abgestellt war. Die Kinder wurden kom mandiert zum Paradeaufmarsch. Sie sollten die Heroen der Menschheit noch einmal leibhaft sehen. Da erhoben wir uns, und alles ging an uns vorüber wie wandelnde Bilder. Der Präsident Bertram Mastermann, den in diesem Jahres abschnitt das ehemalige Britische Imperium gestellt hatte, sprach die Abschiedsworte und schüttelte uns allen die Hand. Dann traten wir, während eine leise Sphärenmusik die Lust erfüllte, in das große Schloß des Schlafes ein, das errichtet war unter der Erde am Rhein. Noch einmal sahen wir von der Kuppel, ehe wir hinabstiegen, Landschaft und Himmel, den Zug des Stromes und die feinen Pappeln und Erlen am Horizont. Stiller wurde die Musik, Harfenklänge tropf ten, Celloregister einer Orgel schienen zu schwingen, Geigen und Bratschen zauberten Beruhigung. Hand in Hand war ich mit Judith hinabgestiegen. Da erschien mir's aus einmal, als sähe ich ihr Haupt abgetrennt vom Körper, und auch die Köpfe der andern schienen wie abgelöst in dem großen grausilbernen Raume zu schwimmen. Abseitig, bleich, wie der Kopf eines Gerichteten, erschien das Haupt Flius'! Alle waren wir wie wesenlos. Jeder ward in seine Schlafgrotte 85
geführt, noch einmal belehrt, wo die Arbeitsmaterialien waren, die Instrumente, die wir mit hinwegnehmen sollten über die einhundert Jahre. Dann kamen wir noch einmal zusammen, setzten uns nieder an dem Steintisch und tranken jenes berauschende Gemisch, das nach der Regel als Letztes dem Körper zugeführt werden sollte. Es hatte die Aufgabe, die innere Reinigung festzuhalten. „Auf fröhliche Weiterdomestizierung!“ rief Hurst in den hallenden Raum. — Aber dies Scherzwort schien sinnlos zu sein, es zerklang, verflatterte. Keiner gab Antwort. Hurst schüttelte resigniert den Kopf. Während wir noch am Tische saßen, kamen die Ärzte, gaben uns Injektionen, die notwendig waren. Wie von fern hatte ich das alles erlebt. Nur Judith war mein Ge danke, nur Judith hatte meine Blicke. Ihre Hand ruhte neben der meinen, die sich um ihr Handgelenk krampfte. Ich wußte, ich konnte sie nie lassen. Der leitende Arzt trat zu uns heran und sagte. „Es ist an der Zeit!“ Und ich sah, wie sich Judith erhob, einen Kuß empfing ich auf die Stirn, einen auf den Mund, dann verrann sie wie im Nebel. Ich sah, wie sie schon halb schlafend zu ihrem Lager geführt wurde. Nun wurden meine fühllos werdenden Glieder einban dagiert. Noch spürte ich den fernen Geruch der Harze und mußte denken an den Balsam ägyptischer Mumien. Wieder klang ferne Sphärenmusik. Über mir schwebte ein Kristall, blitzend, und ich hörte die Worte: „Sie werden fest schlafen, 86
fest schlafen! Und Sie werden erwachen, wenn Sie das Wort hören — merken Sie auf das Wort: Vita somnium breve!“ Und es war, als ob Orgelklang diese uralte heilige Er kenntnis ausnahm: Vita somnium breve! Milde durchklang es mich: Ja, warum sich wehren, wa rum sich nicht hingeben! Das Leben ist ein kurzer Traum. Vita somnium breve! Dann war es, als ob dunkle Flügel herabrauschten, eine Halle schien sich zu weiten im grauen Silber. War es nicht die Kuppel des Himmels selbst, schattenhaft, aber durchwebt mit Sternen? Die Uhr des Lebens stand still.
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VII. Motto: Nimm an, du wärst zum Ziel gelangt mit allem Streben — was alsdann? Nimm an, verronnen wäre dir das süße Leben — was alsdann? Ich setze, tausend Jahre schon nach Wunsche hättest du gelebt, Und weitre hundert wollte Gott noch Frist dir geben — was alsdann? Omar Chijam.
11. Jahrhundert n.Chr.
Der Vorhang der Zeit ist zerrissen. Der Schläfer erwacht. Vita somnium breve! Wo blieb die Wirklichkeit? Erschauern vor dem Geheimnis der Zeit. Und Judith? Dreiundsiebzig der Gefährten find nicht mehr. Nur Hurst, Flius, Judith und Alf wurden gerettet in eine neue unbekannte Welt.
Rote Nebel! Nein! Eine rote Kuppel des Himmels! Ein Rot wie auf weicher Wolle. Ganz fern Stimmen, wie hinter dicken Vorhängen. Und plötzlich zerreißt die Kuppel, grelle goldene Buchstaben, wie von Blitzen gebildet, zucken über den Himmel. Im Erzton erklingt es: Vita somnium breve! — Es schwingt ringsum, als rauschten mächtige Vögel davon. Das Rot wird langsam zurückgeschlagen. Mir ist's, als sinke es über Stirn und Hinterkopf in sich zusam men. In meine Augen dringt ein Lichtstrahl, der Dunkel heit öffnet, aus der gemach Gebilde treten. Raum wird. Die Wölbung einer Decke ist ja die der Kapelle des Schlafes. 88
Da vorn gewahre ich ein paar Menschenschatten. Sie stehen in einem Lichtkreis gegen die Wand wie betende Mönche. Vita somnium breve! hallt das Erweckungswort in mir nach. Über mich beugt sich ein altes Gesicht, weißbärtig wie aus den Kinderbüchern, denn an eines lebenden Menschen wei ßen Bart konnte ich mich nicht erinnern. Die Männer unserer Zeit waren bartlos. Ich sehe in Augen, die groß sind durch Schatten. Ich begreife nichts, höre Flüstern in einer Sprache, die fremd ist und dennoch bekannt, wie ein Gemisch aus Dänisch und Englisch klingt es. Ich verstehe unmittelbar die Worte dieses nordischen Idioms: „Thither lifs!“ Dieser lebt! — Die unbestimmten Laute haben etwas zauberhast Geheimnisvolles an sich. Es kommt mir zum Be wußtsein, ja, ich lebe, fühle Hände aus meiner nackten Brust und einen Geruch in der Nase, einen scharfen Geruch, der an Nelken erinnert. Dann wird mir übel. Es ist, als ob sich eine heiße Hand aus die Gurgel legt und alle Stränge des Blutes und der Atmung langsam zusammenpreßt. Die Arme sind wie mit großen Gewichten beschwert und die Füße empfinde ich wie angeschmiedet aus ein Brett. Der Rücken ist steif, aber in den Schläfen pocht es schnell. „Törn“, höre ich und sehe, daß die Lippen des Weißbär tigen sich bewegen. Es ist eine tiefe, sehr männliche Stimme. Törn! Und ich fühle, wie mein Körper gedreht wird wie irgendein Arbeitsstück und verstehe das Wort 'törn'. Dann wird wieder etwas kommandiert, was ich aber nicht verstehe, und meine Füße werden in heißes Wasser getan. Erst 89
durchläuft es mich wie ein schmerzlicher Krampf, aber dann überkommt mich Wohltat. Gedanken werden lebendig, die neben diesen nächtlichen Bildern einherlaufen. Also jetzt bin ich wirklich wach! — Vita somnium breve! das Erwek kungswort ist in mich eingedrungen, ich habe es verarbeitet. Aber die Sphärenmusik, nach der ich mich sehne, wo bleibt sie? Gedanke springt auf: Unsere Erweckung ist doch ein Fest der Menschheit, das größte, das sie alle hundert Jahre feiert! Unser Fest! — Judiths Fest! Ja, Judiths, denn sie ist die Heldin unter uns Siebenundsiebzig. Und ich kann die von Gewichten niedergehaltenen Hände losreißen, es geht wie ein Bruch durch den steifen Rücken, ich werfe die Schultern nach vorn und rufe: „Judith! Wo ist Judith?“ Dann fühle ich Ohnmacht. Es ist, als ob in mir alles Blut nach unten stürzt, wie ein Wasserfall. Ich höre es rauschen. Aber die Augen halte ich krampfhaft weit auf und sehe vor mir in merkwürdige Tracht gehüllt drei Männer, die be schäftigt sind an dem Tisch, auf dem alles bereit steht für die Erweckung, Wasser über Flammen zu kochen. Ja, über Flammen, blauen Flammen. Und das ist sehr seltsam. Ich habe diese Feuer nur in Laboratorien gesehen, als ich noch studierte, denn der Gebrauch offenen Feuers war doch seit alter Zeit auf der ganzen Erde untersagt! Nur der Ge lehrte, der mit dieser Kraft der chemischen Verbrennung experimentierte, durfte die Flamme gebrauchen. Einer der Männer vom Tisch, ein bärtiger Blonder, tritt auf mich zu und sagt im harten Umgangsdeutsch: „Beruhigt Euch, Meister, Ihr seid erweckt! Mehr kann ich zuerst nicht 90
sagen. Ihr seid erweckt und werdet leben! Und Ihr seid Wunder für uns!" Ich sinke zusammen, strecke mich, schließe die Augen, über lege. Was hat dieser Mann gesagt? Ihr seid erweckt, Ihr werdet leben, Ihr seid Wunder für uns!? Wunder? Nein, das ist ein Traum, ein verrückter, seltsamer Angsttraum! Oder sollte ich irgendwie vorzeitig erwacht sein? Bin ich — sind wir gestört worden? Das kann ja Tod bedeuten für Judith, für alle, die mit uns schlummern! Und es erwacht in mir das auswendig gelernte Sicher heitsprogramm. Da heißt es: Sollte etwas geschehen, was den Schlaf stört, so greife nach rechts und drücke den Hebel nieder, der das Läutewerk in Bewegung setzt und die Fern zeichen der Warnung gibt. Ich taste nach rechts, ich fühle den Hebeln er bewegt sich nicht. Ich werfe meinen ganzen Körper daraus und eine Glocke beginnt in tiefen Tönen die Kuppel zu durchschüttern, und ich höre, wie die Menschen um mich in Bewegung ge raten, verstehe die Worte: „Was ist? Was geschah? Was soll das heißen?“ — Und aus der Ferne rufen Stimmen: „Der Führer! Wo ist der Führer?“ Ich schlage die Augen weit aus. Wieder beugt sich der Weißbärtige über mich, schiebt mich beiseite, löst meine Hand vom Hebel. Die Glocke hört auf zu läuten, und der Weiß haarige sagt: „Er gab ein Zeichen, bat um Hilfe! Er scheint verwirrt! Natürlich hat er sich alles anders gedacht! Natürlich!“ Aber ich verstehe nichts. Will denn dieser verrückte 91
Traum kein Ende nehmen? Angst steigt auf in mir — und ich schreie laut: „Wo bin ich? Wo ist Judith?“ Der mit dem blonden Bart tritt an mein Lager. Er ist hochgewachsen und schaut herab aus blauen, beherrschenden Augen. „Judith? Meint Ihr die Frau mit der Nummer fünfzehn, die im Nebenraum liegt?“ „Meine Frau!“ schreit es aus mir. „Ruhe!“ gebietet der Blondbart. „Es ist anzunehmen, daß auch sie leben wird!“ Und da ruft eine Stimme von hinten, die ich verstehe trotz fremdartigen Sprachklanges: „Die Frau von fünfzehn ist plötzlich erwacht. Sie fragt nach ihrem Gatten Alf Bentink im Raum dreizehn!“ Da schreie ich auf: „Judith, wir leben!“ Aber die Anstrengung ist zu groß, ich sinke zurück. Wieder umgibt mich purpurne Finsternis. Gemach weichen die Dunkelheiten. In meinem Schwäche zustand weiß ich jetzt, ich bin wirklich erwacht, Judith lebt! Ich fühle, mein Herz wird ruhig schlagen. Zunächst werden sie mir Nahrung einflößen müssen und meinen Durst stillen. Und richtig, ich spüre, wie meine Zähne geöffnet werden. Saft wird mir durch ein Röhrchen eingeflößt. Der Ge schmack erinnert mich an Tomaten, die ich so gern auf Mallorca aß, wie sie die Mutter selbst züchtete. Ja, die Eltern! Die waren nun über hundert Jahre schon tot. Aber Judith lebt, und sie ward erweckt durch meine Angst und war wach geworden in Angst um mich. Ja, Liebe ist wie ein Läutewerk. Eins weckt das andere, eins ist beim andern. Wie freue ich mich, Judith zu sehen. Aber 92
wie lange wird es dauern, bis wir allein beieinander sind! Die Ausnahmeapparate des ganzen Erdplaneten werden aus uns gerichtet sein, und der Menschheit wird verkündet: Das große Werk der Wiedererweckung ist auch diesmal geglückt! — Und es wird eine Prüfung werden. Wir werden zu nächst getrennt und ins Gesundungsheim geführt, damit wir schnell alle Kräfte wiedererlangen, und wir werden uns nicht viel sehen dürfen, bis das Leben voll und stark in uns pulsiert. Und dann müssen wir Antwort stehen, damit die Prüfer wissen, wie sich die Erde in neunundneun zig Jahren verändert hat. Aber sie müssen Barmherzigkeit haben. Judith trägt doch ein Kind von mir! Wird es leben, dies Kind? Und ich rufe weit hinaus aus einer Angst, die stärker ist als jede Überlegung: „Lebt Judiths Kind?“ Um mich höre ich wieder Stimmen in diesem merkwür digen fremden Dialekt: „Von einem Kinde redet er! War auch ein Kind dabei?“ Wieder beugt sich der Greis über mich und fragt. „Habt Ihr auch ein Kind mit in diesen Schlaf hinübergenommen?“ Ich antwortete: „Nein, aber mein Weib Judith trug ein Kind!“ Das Gesicht des Greises wird sehr ernst. Er wendet sich um und meldet, was er von mir vernommen. Ich verstehe, daß er selbst hinaus will. Er hält die Auskunft für sehr wichtig, und ich glaube, daß er dem andern Arzte drüben nicht soviel Erfahrung zutraut. Jetzt beklemmt mich Angst. Mir ist, als ob glühende Nägel in eine jede Rippe meines Leibes geschlagen würden. Ich ringe nach Atem und fühle 93
im Arm einen Stich, spüre, daß eine Flüssigkeit in das Fleisch gedrückt wird. Leichter wird mir. Ich ruhe zwischen Dämmern und Wachen, weiß nicht, was ist, was wird, habe das Gefühl, auf weißen Wolken zu schaukeln. Wieder werde ich gelabt. Aber wenn ich meine Augen schließe, jagen an ihnen Bilder vorbei. Mir ist, als ginge ich einsam am Strande der Südseeinsel, schaute in der Ferne die Kimmung und davor rollende, weiße Wogen, sonst alles Blau in Blau, dazwischen zuckt grelles, gelbes Licht. Dann beugt sich wieder über mich das Gesicht des Alten, und er erinnert mich an Bilder, die uns überkommen sind aus der Zeit der Renaissance, an einen guten Mönch des Fra Angelico. Und dieser gute Mönch hat Tränen in den Augen. „Wunder!“ ruft er, „Wunder! Dieses Kind lebt! Sollen wir nicht beten? Dieses Kind lebt und ward empfangen vor dreihundert Jahren!“ Ringsum wird es ganz still. Dreihundert Jahre! um zittert es mich. Wie sonderbar. Und ich frage ächzend: „Dreihundert? Was hat das zu bedeuten? Wir haben auf hundert gerechnet!“ Da beugt sich der Alte über mich und sagt gütig: „Es würde zuviel sein, Meister, alles zu fassen! Gemach müßt Ihr es erfahren! Wir erwarten von Euch Großes, Euch Menschen einer mächtigen starken Zeit! Aber jetzt dürft Ihr nicht alles erfahren! Die Erde hat sich zu sehr verändert seit dem Tage, da Ihr einschliefet.“ Und es spricht aus mir: „Vita somnium breve!“ Und 94
die andern im Raum raunen es mit: „Vita somnium breve!“ Und der Alte seufzt, wendet sich ab. Ich sehe, er weint. Wieder falle ich zurück in Ermattung und erlebe im sie brigen Traum noch einmal den Abschied von jenen Men schen, die nun längst verstorben sind. Auf taucht das ernste, kluge Gesicht Don Estebans, und ich vernehme die Stimme unseres Lehrers, des kühlen Professors Sundermark, der uns den ganzen Ritus des Erwachens suggestiv einprägte. „Tief atmen!“ hatte er uns gelehrt, „tief atmen und sich ganz hingeben dem Geiste der Musik, die überleiten soll von einer verflossenen Welt in eine neue, strömende.“ — Aber wo war diese Musik, die uns harmonisieren sollte, hinüber nehmen in den neuen Traum der Zeit? Ja, anders war ich erwacht, als es festgesetzt war, und langsam kam die Furcht über mich. Dreihundert Jahre! hatten diese sonderbaren Menschen zu mir gesagt. War es möglich gewesen, daß die Erde vergessen hatte, ihre Schläfer zu wecken, vergessen ihre Menschheitshelden? Kraft sammeln in sich selbst! hatte die letzte Vorschrift ge lautet für das Erwachen. Aber Judith! Was war mit Judith? Sie lebt! Das Kind lebt! Das stand fest, das hatten sie gesagt. Ja, und ich mit meinem Griff nach dem Hebel zur Glocke hatte sie geweckt. Nein, daran nicht denken! Judith lebt, das Kind lebt! — Genug Kraft sammeln! Kraft sammeln! Und dann selbst helfen, selbst schaffen. Indem ich diesen Vorsatz faßte, fiel ich wieder in einen Schlaf, von dem ich fühlte, er würde Ge sundung nnd Kraft bringen. 95
Mein letzter Gedanke war wie ein Gebet: Judith soll auch schlafen, so wie ich jetzt! — — — — — — — Mit freiem Kopfe aber schweren Gliedern, wie jemand, der in der Nacht nach schweren Erregungen zu früh geweckt wurde und noch einmal im Morgenschlaf Equickung suchte, erwachte ich zum zweiten Male. „Endlich! Alf!“ hörte ich neben mir eine Stimme und sah zu meiner Rechten ein anderes Lager. Ein elfenbeinblasser Kopf ruhte auf Kissen, umgeben von rotblonden Haaren. „Judith!“ „Alf!“ Und sie reichte mir ihre Hand herüber. Ich fühlte die ihre in der meinen zittern, hörte ihre Worte, die in dem gewölbten Raum feierlich klangen: „Als ich wußte, Du seist gerettet, litt es mich nicht länger allein! Neben Dir wollte ich ruhen! Sie taten mir den Willen!“ „Wer tat Dir den Willen?“ „Ich hatte beim Erwachen das Gefühl, alles sei verloren, fiel zurück in den Todesschlummer, bis die Glocke läutete. Dann kam der alte Arzt mit dem weißen Bart. Von ihm hörte ich, Du lebst. Das machte auch mich lebend, mich und das Kind. Die Sorge um Dich brachte uns ins Leben zurück.“ „Die Angst um Dich hätte mich getötet!“ erwiderte ich „Aber was ist das für eine Welt. Sie sprechen hier von dreihundert Jahren unseres Schlafes. Hatte man uns ver gessen? Wie konnte das geschehen? Wo sind die andern?“ „Irgendein großes Unglück ist über die Erde gekommen. Sie sind sehr geheimnisvoll. Aber wir beide und das Kind 96
leben! — Laß es genug sein, gib mir Deine Hand! Laß uns noch ruhen!“ Friede kam über mich durch ihre mütterlichen Worte. Judith war nahe bei mir, Judith und das Kind! Ich schloß die Augen, hörte, wie Schritte an mein Lager kamen, fühlte, daß mir stärkende Substanzen eingeflößt wurden. Ich unterschied nicht recht, was alles geschah! Endlich siel letzte Mattigkeit ab. Ich schaute aus. Halb dunkel herrschte in dem gewölbten Raum. Judith schlief. Dumme Beängstigung überkam mich. Waren wir verlassen? Ich richtete mich auf, sror. Eine weiche Lederdecke lag an meiner Seite. Ich hüllte mich in sie ein, stand auf. Die Füße trugen mich, obwohl mir's war, als ob ich bis zu den Knien durch flockige Wolle schritte. Zwei kamen mir ent gegen. Es war der Arzt und der andere mit dem blonden Vollbart. Der Blonde sprach. „Ihr seid der Stärkste! Die zwei andern Geretteten, außer der Frau, machen uns noch große Sorge. Wer unter Euch war der Führer?“ „Zwei?“ rief ich und fühlte wieder einen Schwäche aufall, „Zwei?“ Arme fingen mich auf. Ich aber stammelte: „Siebenund siebzig waren wir! Wie konnte das geschehen, daß alle an dern starben?“ „Beruhigt Euch!“ bat der Weißbart. „Es ist ein Jammer, daß nicht mehr gerettet werden konnten. Als wir hier nach gruben, glaubten wir ja nicht auf lebende Menschen zu stoßen. Wir suchten nach Aufzeichnungen, Büchern, Tabel len und Instrumenten.“ 97
„Wer sind die beiden Lebenden?“ fragte ich. „Wir wissen es nicht!“ sagte der Blonde. „Führt mich zu ihnen!“ Sie trugen mich an den Armen, und ich stand zwischen zwei Lagern in einem Raum. Menschen waren zurückge treten und schauten mich an. Ich beugte mich über die bei den Köpfe und erkannte Hurst und Flius. Ich sah am Grau ihrer Gesichter, daß es schlecht stand um sie und erinnerte mich, daß zur Erweckung eines jeden der ganze Vorgang ausgezeichnet zur Rechten des Lagers war. Ich berührte die Feder, die Kassette sprang auf. Ich konnte noch daraus deuten, dann überkam mich eine neue Schwäche. —
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VIII. Motto: Mensch und Insekt sind nicht zu vergleichen. Der Mensch ist ein Zellenstaat. Ihm würde nicht entsprechen die einzelne Ameise, son dern der Haufe, nicht die Biene, sondern der Stock. Die Einzelbiene, die Einzelameise sind Funktionenträger, keine Individuen wie der Mensch. Aus Jürgen W. Harms‘ Gesprächen. 20.Jahrh. n. Chr. Die Sicht wird klar. Dreihundert Jahre sind vergangen. Thankmar erzählt von der Niederlage der Menschheit, von der Eroberung der Erde durch Druso und dem letzten freien Menschenplatz auf Boothia Felix. Judith wird zur Mutter der Menschen, zu einer anderen Isis. Hurst heilt sich selbst und sieht mit Entsetzen, daß er in eine barba rische Zeit zurückgereist ist. Es wird sogar wieder Tabak geraucht. Thankmar erzählt bei einer Pfeife aus der Geschichte der Mensch heit in den letzten dreihundert Jahren, von ihrer Sehnsucht, sich über den Weltraum zu verbreiten, einen andern Stern der Fruchtbarkeit zu gewinnen. Aber der Raum nahm Rache am Erdplaneten. Druso kam.
Als ich wieder zu mir kam, war ich ganz klaren Geistes. Judith saß neben mir und war um mich bemüht. Ich schaute auf und sah in die blauen Augen des Weißbartes. „Daß die beiden andern gerettet wurden, ist Eurer Geistesgegen wart zu danken!“ sagte er. „Wir fanden die volle Vor schrift und konnten beide richtig behandeln und auch Euch und die Frau stärken.“ „Wenn Ihr mich ganz heilen wollt“, rief ich, „so sagt, 99
was geschehen ist! Haben wir dreihundert Jahre ge schlafen?“ „Die Zahl wird wohl stimmend wir werden es später ge nau berechnen!“ sagte der Alte. „Und wie ist alles gekommen?“ „Laßt mich ruhig erzählen! Was geschehen ist, dürfte für Euch so unfaßbar sein wie unser Erlebnis, Euch zu fin den! Ich bin Thankmar, der Führer, der ausgesandt wurde, um diese Kultstätte unserer Vorfahren aufzusuchen und nach zuforschen, was wir an Wissen noch bergen könnten. Wir haben diesen Tempel gefunden und die Kammern geöffnet. Wir fanden die Schriften, aber zu spät erst merkten wir, obwohl wir systematisch vorgingen, daß wir das Kühlwerk zerstörten, das noch immer als ein wahres Wunder Eurer Technik im Gange war. Zum Glück hat unser Schriftkun diger in letzter Stunde festgestellt, was wir für einen Fehler begangen hatten. Sicher hätten wir alle gerettet oder doch mehr, aber so ist es uns gelungen, wenigstens Euch vier am Leben zu erhalten. Nun wollen wir arbeiten, um gut zu machen, was gefehlt ist. Und Ihr werdet uns helfen, denn das war es, was uns hinübertrieb über die Halbkugel der Erde, Rettung zu finden im Wissen der Vorfahren. Vielleicht können wir mit Eurer Hilfe die Erde frei machen von jenen Mächten des anderen Sternes.“ „Rettung?“ rief Judith. „Von einem andern Stern?“ fragte ich. Thankmar nahm wieder das Wort: „Ihr seid nun stark genug, um das Große und Schreckliche zu begreifen. Zehn 100
Jahre, nachdem Ihr eingeschlafen, wurde die Erde erobert, gekapert, wie in alten sagenhaften Zeiten ein Handelsschiff von Piraten. Der Raubstern Druso gewann die Herrschaft über die Erde und schlug die Menschheit in seinen Bann, bis auf einen kleinen Rest, der auf Boothia Felix am ma gnetischen Nordpol die elektrische Nordstation verwaltete. Zu diesem Kernvolk schlugen sich unabhängige kühne Män ner durch, Wissende, die sich sagten, nur bei den mächtigen Kraftquellen der Menschheit, am elektrischen Nord- und Südpol sind Möglichkeiten des Daseins. Aber zur Südpol station gelangte keiner damals, denn die Zugangswege zur Südarktis waren alle zerstört. Auf der übrigen Erde er folgte die Unterjochung der Menschheit, die hilflos geworden war und wehrlos, weil sie ohne die Maschinen und ohne die elektrische Kraft nicht zu leben wußte. Zum Glück drangen die Eroberer nicht zu uns hinauf ins Eis des Nordens. Ihre Lebensnatur vertrug dauernde Kälte nicht. Die Geschicke der Erde nahmen ihren weiteren Verlauf. Sie wurde die Wärmequelle für den Raubstern und die Menschen selbst wurden eine Art Gebrauchsvieh für die Drusonen. Eine neue Menschheit wurde, die nichts von ihrer Ver gangenheit, von ihrem Schicksal ahnte, denn das Vergessen ist ja so leicht, wenn keine Zeit bleibt zur Erinnerung, wenn alle Kräfte für den Alltag verbraucht werden. Sie halten die Drusonen für ihre Götter, denen sie sich opfern müssen, um ihre Sünden abzubüßen gegen den Geist des Lebens, wie sie es nennen. Ihr werdet sehr erstaunen, daß der Erd ball von Menschen bewohnt ist, die die Maschinen verachten 101
und unter dem religiösen Druck der Drusonen alles, was Wissenschaft je bereitet hat, als Zauberwerk verfolgen. Diese zur Zivilisation der Bronzezeit zurückgekehrten Stämme wissen nichts von Boothia Felix. Nur dunkle Sagen werden gesponnen, im Eise des Nordens lebten schwarze Zwerge, die Teufelswerk wüßten!“ — Ich hörte diesem Berichte zu, als ginge er mich nicht selbst etwas an, als wäre es der Bericht aus einem uralten Buche. Ich schloß die Augen, senkte den Kopf, dachte nach, aber ich konnte mich nicht einordnen in diese Welt, die mir da plötz lich als eine neue eröffnet wurde. Ich schwebte gleichsam zwischen zwei Schicksalen. Hinzu kam die plötzlich wieder Leib und Seele überfallende Ermüdung. Doch Judith erhob sich. Ein Blick traf mich, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihr erlebt. Sie sagte die einfachsten Worte: „Laß uns nach unfern Gefährten schauen!“, aber die Ströme der Mütterlichkeit, der Fürsorge, die von ihr ausgingen, waren so stark, daß ich die Vision hatte, sie stünde in einer güldenen Wolke vor mir, wie eine vom Himmel herabgestiegene Maria. Wir fanden die beiden völlig erwacht aber ermattet, wie Schwimmer, die erschöpft am Ufer liegen und nichts weiter von der Welt begehren, als Kräfte zu sammeln. Judith schritt zu ihnen und tat das, was Frauen an ermatteten Männern seit Urzeiten getan, sie legte ihre Hand ihnen auf die Stirn, streichelte ihre Hände und sprach ihnen zu. Es waren weniger die Worte als der Ton, der die Wirkung heraufbrachte, jener Ton, der die Erinnerung an früheste 102
Kindheit weckt. Judith war die große Mutter geworden, Isis, Sternenkönigin, Maria vom heiligen Himmel. Die beiden gewannen Kraft. Hurst fragte als erster: „Und die andern?“ Judith suchte ihn zu beruhigen: „Ihr müßt erst stark werden!“ Da wußte Hurst, dieser Hellseher, alles. Er rich tete sich mit einem solchen Schwung aus, als wolle er sich vom Lager schnellen, sank aber zurück und sagte nur das eine Wort: „Alle andern?“ Und ich konnte mir nicht helfen, Tränen traten in meine Augen, ich nickte. „Alle andern!“ wiederholte Hurst. Flius schloß die Augen und seufzte. „Warum mußte ich gerade erwachen, warum wurde nicht ein anderer an meiner Stelle erweckt, einer, der es ersehnt hätte!“ Hurst zog die Mundwinkel ein, sein Gesicht wurde ironisch. Lehrhaft wie ein Professor vom Katheder verkündete er: „Ich habe Störungen im System des Sympathikus! Die Leute sollen mich mit Ringströmen behandeln C 418!“ „Ja, was heißt das?“ fragte ich. „C 418!“ wiederholte Hurst, und dann faßte ihn ein Krampf. Aber Judith rief: „Es ist die Schrankabteilung, wo sich die Apparate befinden!“ Mit Hilfe des Planes, der an der Schrankwand befestigt war, fanden wir den Platz schnell. Der Blonde entnahm dem Schranke die Apparate und freute sich wie ein Kind. „Was für eine herrliche Arbeit!“ Aber Thankmar nahm ihm 103
alles fort, begab sich zu Hurst und fragte: "Was tun?" — Und Hurst befahl: „Roten Knopf drücken, Pol aufsetzen auf Nabel, andern Pol Lendenmarkende, Strom senden!“ In der Tat, der Apparat ging ruhig, als wäre er frisch aus der Werkstatt gekommen. Hursts Krämpfe und Zuk kungen ließen nach. Er setzte sich auf und zeigte bald das alte ironische Lachen. „Soweit ich verstanden habe, Frau Judith“, meinte er, „sind wir unter Wilden aufgewacht! Das habe ich davon, daß ich immer vom Abenteuer geträumt habe! Ich, der gar nicht dazu taugt, soll jetzt als Mensch der Bronzezeit leben! Hu!“ Aber dann wandte er sich Flius zu. „Laßt ihn nur auch durchströmen und seinen Mangel am Sympathikus wettmachen!“ — — — Nachdem wir kräftiger geworden waren, verlangten wir nach Sonne, nach Licht. Thankmar belehrte uns: „Vorsicht ist vonnöten. Wir Männer von Boothia Felix sind hier in dieses Gebiet als nordische Händler gekommen und haben von den Flußanwohnern ein Gebiet als Fruchtgarten ge pachtet. Wir waren nicht darauf gefaßt, Lebende zu finden. Wir müssen sehen, daß wir die Bewohner hier täuschen. Sie dürfen nicht wissen, daß wir mehr geworden sind. Vier von uns werden sich heimlich davonmachen, und Ihr werdet dann an Stelle dieser vier treten. Alles, was hier geschieht, müssen sie ja den Orakeln melden, und wenn die Orakel erfahren, daß hier eine seltsame Veränderung vor sich ge gangen ist, werden wir alle zum Tempel gebracht, und dann sind wir verloren; denn die Drusonen durchschauen alles!" 104
Da spürten wir zum ersten Male die schwere Last, die auf der Menschenerde lag, und Hurst sagte. „Es ist eine Schande!“ — Flius aber schüttelte wehmütig den Kopf. Wir mußten nun schwere Kleider anlegen, wie sie unsere Erretter trugen, und gegen Sonnenuntergang, zu einer Stunde, da der Fußweg am Rhein leer war, begaben wir uns hinaus in den Garten. Judith, Hurst, Thankmar und ich nahmen an einem Tische Platz. Flius wurde in eine Hängematte gebettet. Wie seltsam hatte sich die Erdenwelt verändert. In einem wilden Garten saßen wir, am Flusse standen Erlen und Platanen, deren Blätter im Winde sich regten. Hell übergossen vom Sonnenuntergang schimmerte durch die kupfern blinkenden Zweige der Fluß. Ringsum war der Horizont blutigrot. Wir fragten: „Ist alles ver nichtet, was hier einst als Mittelpunkt der Erdzivilisation stand?“ Und Judith fügte hinzu. „Was wurde aus dem Dom des Kaiser Karl in Alt-Aachen?“ Thankmar erwiderte: „Darinnen haust unser Feind, das Orakel!“ Wir sahen einander an. Drüben am andern Ufer ge wahrten wir eine kümmerliche Holzlandungsbrücke mit ein paar roh gearbeiteten Booten, dahinter ärmliche Hütten und Lehmhäuser. Wo waren die großen städtischen Anlagen geblieben, die den Rhein von seinem Ausgang am Bodensee hinunter begleiteten bis zum Meer? Wir dachten zurück an jenen Abend in Koblenz, da die Luft erfüllt war von dem Ge 105
summe der heimkehrenden Flugzeuge. Droben in der Luft standen ein paar große Vögel als Punkte und spähten aus nach Beute in dem moorig und sumpfig gewordenen Flach lande. Aber die Erde duftete nach Kräutern und Frucht barkeit. Die Luft kam von Norden und erfrischte uns. Thankmar ließ ein Mahl auftragen. „Ihr seid nun kräf tig genug“, sagte er, „Euch an die gewöhnliche Erdenkost zu gewöhnen!“ Geröstete Fleischstücke wurden gebracht, so wie wir es in alten Büchern gelesen hatten, blutig fast, und Gemüse in natürlicher Form. Hurst schüttelte den Kopf. „Wer hätte sich das gedacht?“ seufzte er. „Wir vermeinten ein Jahrhun dert vorwärts zu kommen und sind um ein Jahrtausend zurückgefallen.“ Thankmar wies mit der Hand über den Strom: „Fahrt dahin und mischt Euch unter die Leute dieses Landes, da werdet Ihr etwas erleben, was noch wunderbarer ist!“ Hurst griff nach seinem Beobachtungsglase. „Nicht zu glauben! Sie gehen barfuß, sind roh bekleidet, und in den langen Haaren tragen sie seltsamen Schmuck!“ Judith hatte die Hände schützend über ihren Leib ge faltet. Sie sagte. „Ich denke noch zurück an jenes Wort des alten Tudor von der Yale-Universität, über das viel ge lacht wurde. Warnend sprach er von unseren Versuchen, den Raum zu erobern und in Verbindung zu treten mit anderen Sternen. Wer bürgt uns dafür, daß uns Einwohner eines anderen Planeten nicht als gute Beute betrachten? Wenn die Menschen über die Kriege hinausgewachsen sind, so ist 106
es die große Natur noch lange nicht, denn das Gesetz herrscht, daß eins das andere frißt!“ Nach dem Mahl brachte Thankmar einen seltsamen Apparat, dessen Gebrauch ich zunächst nicht verstand, zum Vorschein. Er tat eine braune, blätterartige Masse in eine Art kleinen Becher, setzte diese dann aus eine Fassung, an der ein Röhrchen war, entzündete eine Flamme, so daß die Blätter zu glühen begannen. Dann sog er am Röhrchen und stieß Rauchwolken aus. „Ach“, rief Judith, „das ist soziologisch sehr interessant! Den Gebrauch des Nikotins hatten wir nach vielen heftigen Kämpfen abgeschafft. Unsere Hygieniker hatten nachge wiesen, daß er ein schwerer Schädiger des Nervensystems sei und so ward er vor allem den Männern untersagt, jetzt also ist dies Laster wieder erwacht.“ Thankmar nickte. „Ich fühle mich sehr wohl dabei und gehöre doch zu den älteren Leuten, bin siebzig Jahre und noch sehr rüstig. Außerdem würde ich unter diesen Wilden hier sehr auffallen, wenn ich nicht rauchen würde. Hier raucht alles, selbst Frauen und Kinder.“ „Über tausend Jahre zurück sind wir gelangt!“ sagte Hurst. „Sie müssen uns noch mehr Aufschluß geben, was ge schehen ist!“ bat Judith. Thankmar begann: „Nur lückenhaft vermag ich zu er zählen, denn wenn ich auch unterrichtet bin, so werden die meisten Kenntnisse, die wieder zutage kommen, von unserm Rate streng bewahrt. Das Wissen soll den Menschen wieder lebendig werden, sie sollen nicht vor dem ungeheuren Ge 107
birge zurückzaudern, das die Vorfahren einst aufgehäuft. Aber die Erdkatastrophe selbst, die die Menschheit in ihren Wurzeln schädigte, hat soviel vernichtet, daß sich natürliche Lücken ergeben, die keiner von uns füllen kann. Keine Veränderung der Erde war für die Menschheit so schrecklich, wie die Eroberung des Planeten durch den Stern Druso. Ich will versuchen, Euch ein Bild zu geben: Drei Jahre, nach dem man Euch dem biologischen Schlafe übergeben hatte, begann eine Bewegung auf der Erde, die sich bis zum Fanatismus gesteigert haben muß. Die Menschen revoltier ten gegen die Beschränkung der Fruchtbarkeit. Die Ver gehen gegen die Geburtsgesetze steigerten sich. Rettet das Leben! hieß die Kampfparole, die eine Frau namens Wall forth in die Massen schleuderte. Mit dieser wilden Be wegung ward das geboren, was die Gegner den planeta rischen Imperialismus nannten. „Warum muß die Menschheit sich auf die Erde beschrän ken?“ lehrte Samuel Ogden. „Streben wir über die Gren zen der Erde hinaus in den Raum!“ Philosophen traten auf, die die Lehren jenes alten Deutschen Nietzsche auf nahmen und weiterführten. Erlöst die Menschen vom Her dentierdasein! predigten sie. Gebt ihnen neue Ziele! Besser ist's, im Kampf unterzugehen, als ein Rinderjoch zu tragen.“ „Aber wie ist das möglich!“ rief Judith, „wie konnte Unzufriedenheit entstehen? Zu unserer Zeit war doch für eines jeden Menschen Leben gesorgt! Wir nannten das Gärtnerarbeit an der Menschheit.“ 108
„Ganz richtig“, pflichtete Thankmar bei, „aber Ihr kennt doch die Gesetze eines Gartens! Wird er überdüngt, sind alle Verhältnisse den Pflanzen günstig, so beginnen wilde Schößlinge zu treiben gegen den Willen des Gärtners. Und wird die Beobachtung nur ganz kurze Zeit schwächer, so ist der Garten stärker als sein Pfleger. Damals entstand spontan solch wildes, geiles Sprossen und Treiben in der Menschheit.“ Hurst schaltete ein: „Du darfst nie vergessen, Judith, daß zu unserer Zeit unsere Oberschicht recht anmaßend ge worden war. Wir Köpfe fühlten unsere Unentbehrlichkeit und ließen es die andern fühlen. Wir erhielten einen Gleichgewichtszustand zu unserem Nutzen!“ „Aber“, rief Judith, „so wird es doch immer sein und wird es immer bleiben, Unterschiede zwischen Herrschern und Beherrschten sind unauslöschbar. Jede Epoche der Mensch heit hat das gezeigt, selbst jene, in denen die Gleichheit als politische Glaubensform verkündet wurde.“ Thankmar nickte. „Unzufriedenheit wird es immer geben, bei unserm heutigen Stamme ist sie sehr zurückgedrängt, weil wir das eine Ziel haben, frei zu werden von jenen Drusogöttern, die uns die Erde gestohlen haben. — Jedoch rückdenkend wollen wir uns nicht verhehlen, es war da mals ein großartiger Zug in der Menschheit, über die Gren zen des Planeten hinauszustreben. Durch Jahrhunderte war Selbstgenügsamkeit mit der Erde das Höchste gewesen. Ietzt richteten sich aller Blicke auf den Raum, und die ganze tech nische Entwicklung der Menschheit diente dazu, das Draußen, 109
das Außerhalb der Erde zu erobern. Die Erde muß eine ungeheure Kraftquelle der Menschheit gewesen sein.“ „Das war sie zu unserer Zeit!“ pflichtete Hurst bei. „Ich erinnere mich sehr genau, daß in unserer Forschungsabtei lung viel von der Gewinnung des Raumes geredet wurde. Der Mond war schon umkreist worden und von sieben aus gesandten Raumexpeditionen hatte eine den Mars erreicht, hatte auch Meldung gegeben, war aber dann wie die an dern untergegangen.“ Bewundernd schaute Thankmar ihn an. „Wie groß waren wir Menschen!“ rief er. „Ich muß es den Meinen verkün den, daß wir das erreicht hatten. Wir müssen es wieder erreichen und müssen frei werden!“ Dann fuhr er in seinem Bericht fort: „Durch die fanatische Stimmung der Wallsorth-Anhänger wurde folgendes er reicht: Einige Wissenschaftler fielen ab von der Beschrän kungszuchtreihe. Reichbergs Lehre von der Selbstverbesse rung des Lebens entstand. Er wies nach, das Entscheidende sei der eigentliche Lebenswille. Menschen, die sich selbst in der Fruchtbarkeit beschränken, wären auch bei der besten körperlichen und seelischen Bildung innerlich unfruchtbar. Und wenn man darüber spotte, daß in alten Zeiten Ent artete, Herabgekommene sich weiter fortpflanzten, so hätten doch gerade diese den Lebenswillen an sich erhalten, das Beste, was die Natur überhaupt zu spenden hätte. Allein die Staatsmänner beharrten auf ihren Gesetzen. Nur eins wurde zugestanden: Würde es möglich sein, einen andern Planeten in Besitz zu nehmen, dann möge dieser 110
Planet nach Reichbergschen Grundsätzen regiert werden und alle Anhänger Wallforths sollten die Freiheit haben, dort so zu kolonisieren, wie sie es für am besten hielten. Viele Raumexpeditionen wurden damals ausgerüstet. Es wird behauptet, der Deutsche Friedrich Herkner hätte mit einem Raumschiff den Mars erreicht und wäre auch zurück gekommen. Wir haben das bisher immer für eine Sage, als Wunschwillen der Menschheit jener Tage aufgefaßt, aber Ihr habt uns bestätigt, daß die Menschheit diesem Ziele sich näherte. Dann erfand ein Doktor Mannhardt ein Raum schiff, wie es keins zuvor gegeben hatte. Er soll ein paarmal den Mond umfahren haben, und endlich trat er eine Expedi tion an nach einem neuen Außenplaneten, der nach Mei nung der damaligen Astronomen uns Erdenbewohnern günstige Lebensbedingungen gewährte. Allein das ganze Forschungsmaterial ist verlorengegangen, die Mannhardt sche Expedition fällt bereits in den kritischen Zeitpunkt des gesamten Erdenschicksals. Soviel nur haben wir aus Auf zeichnungen unserer Boothia Felix-Sternwarte entnommen, immer wieder kamen Meldungen von Mannhardt, und end lich war festgestellt, daß diese Meldungen von einem kleinen Stern kamen, der sich der viel größeren Erde wie ein ge waltiges Raumschiff näherte. Die Menschheit lebte damals in der Erwartung von etwas Ungeheurem. Immer wieder kamen Meldungen von Mannhardt, man solle sich nicht be unruhigen, der größte Fortschritt der Menschheit würde erreicht werden, Wesen beherrschten ihren Wohnstern so, daß sie mit ihm durch den Raum steuerten, wie auf einem 111
Flugschiff. Das menschliche Genie und das der Drusonen würde vereint eine neue Geistesepoche heraufbringen. Damals müssen die Menschen dauernd in Erwartung ge fiebert haben. Vielleicht gibt es einen Vergleich damit in der Geschichte der menschlichen Erde: So müssen die Mexi kaner auf die weißen Götter gewartet haben, wie die Men schen damals auf die Drusonen.“ Judith rief aus: „Ich kann mir vorstellen, was in der Menschheit vorging. Alle waren wir gerichtet auf höchste Geistigkeit. Wir wollten uns über uns selbst hinaus schaffen, besser werden, seelisch mächtiger. Was mögen sich die Menschen damals versprochen haben von der Begegnung mit anderen geistesmächtigen Wesen?!“ „Nun,“ erwiderte Thankmar, „die Drusonen hatten an deres vor. Als jener schreckliche Tag kam, an dem sie ihre Kräfte äußern konnten, versagten sämtliche Elektrizitäts werke der Erde, und damit stand das gesamte bewegte Leben des Planeten still. Grün erschien der Himmel und die Tem peratur sank um zwanzig Grad. Da die Elektrizität fehlte, war kein Wärmemittel gegeben. Mühselig erinnerte man sich an Öfen, an Flammen, an Feuer, aber da keiner es anzuwenden verstand, brachen Brände aus, Revolutionen entstanden, um Decken, Kleidungsstücke schlugen sich die Menschen tot. Wilde Propheten traten auf und lehrten, das sei Gottes Strafe; weil die Menschen selbstsicher, stolz und übermütig geworden, müßten sie noch einmal die Schrecken der Urzeit erdulden, um Demut zu erlernen. Vergebens suchten die wenigen Köpfe, vor allem die Raumforscher und 112
Astronomen, Vernunft zu predigen. Alles ward betäubt, als Mannhardts Wort kam: „Ergebt Euch in Euer Schicksal; Ihr seid machtlos! Erkennt die neuen Götter dieser Erde an! Dient ihnen!“ Es hat niemals ein Mensch erfahren, ob Mannhardt das selbst verlangt hat oder ob sich die Drusonen seiner Radio wellenmethode bedienten. Jedenfalls genügte diese Verkün dung, um die Verwirrung zum Chaos zu steigern. Nur eine Elite von Menschen wußte sich heliographisch zu verständigen. Es waren die Kenner der großen elektrischen Stationen, vor allem die Ingenieure und Arbeiter am Pol, die sich sagten: Sichern wir das größte Laboratorium der Menschen auf Boothia Felix! Und so strebte in dieses Eis des Nordens alles, was Hirn und Herz hatte. Nach neun Monaten kam die Elektrizität wieder und damit uns die Rettung im eisbegrabenen Lande. Die übrige Erde verfiel dem Raubstern. Klug hatten die Drusonen damit gerechnet, daß die Entziehung der Elektrizität und die Herabsetzung der Wärme den Erdplaneten mürbe machen würde. Wir oben im Norden hielten uns verborgen in unseren Höhlen; uns schützte die Winternacht. Wir hörten über uns kleinere Raummaschinen der Drusonen. Sie erforschten die Welt des Pols von oben, nahmen uns nicht wahr oder hielten uns nicht für menschliche Wesen in unsern Tierfellen. Das Un glück, entdeckt zu werden, ging an uns vorüber. Alles in allem zählten wir vielleicht zweitausend Köpfe. Aber wir hatten ungeheure Hilfsmittel an Maschinen, Apparaten, Chemikalien und gewannen an Zahl mit jedem 113
Monat. Es schlugen sich weiße Männer und Frauen zu uns durch; nur die besten, denn andere waren den fürchterlichen Anstrengungen nicht gewachsen. Und Arko, der Chef der tation, erließ harte Gesetze zur Sicherung unseres Lebens, unserer Freiheit.“ „Was aber wurde aus der anderen Menschheit?“ fragte ich. „Diese Menschen“, erwiderte Thankmar, „waren in Schrecken und Furcht vor den neuen Göttern. Einige warfen sich zu Priestern und Propheten auf, bezwungen durch die magischen Kräfte der Drusonen. Sie predigten die Ver achtung aller Wissenschaft, aller Teufelei des Hirns, wie diese falschen Propheten es nannten. Alle Bücher wurden ver brannt, alle Aufzeichnungen, alle Apparate wurden zerschla gen, die Laboratorien zerstört. Zurück zur Natur! schrien die Teufelspriester. Bald war ein Urzustand wieder herge stellt, des einen Hand war wieder die des andern, und die Er oberer lenkten die sich zerfleischende Menschheit als Götter.“
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XI. Motto: Arme, gestohlene Erde! Menschheit geknechtete Herde! Soll so das Ende sein? Nein! Atlantisches Volkslied.
25. Jahrh.
Fortsetzung. Was sind die Drusonen für Wesen? Der Schmarotzer stern Druso. Die Flugwachen der Drusonen. Die Uneinigkeit der Menschen. Wir finden Ferryman wieder als geistige Macht. Wie Thankmar Rhein-Aachen wiederfand. Das Ziel ist Befreiung der Erde von Druso.
Mühsam erhob sich aus seiner Hängematte Flius: ,,Sind die Bewohner Drusos menschenähnliche Wesen?" fragte er. Thankmar antwortete: "Wir sind nicht ganz im klaren, was für Wesen es sind, nehmen aber an, daß sie am mei sten sich den Insekten annähern, die auf unserer Erde leben. Es spricht auch dafür der Umstand, der sehr seltsam ist, Ameisenvölker müssen auf Erden geschont werden, und immer werden die Menschen auf die Ameisen hingewiesen in den Orakeln. Systematisch wurden in Atlanta, unserer Stadt, Sammlungen angelegt über alle Nachrichten, die uns über die Drusonen zukamen. Die Erde ist überzogen mit einem Netz von Sendlingen, die sich an Geheimzeichen erkennen. Ein besonderes Institut besteht zu ihrer Ausbildung und ihrer Beeinflussung. In der Tat ist Untreue nicht vorge kommen. In ein paar Fällen erlebten wir, daß Sendlinge 115
verrückt wurden; sie konnten rechtzeitig beseitigt werden. Einige dieser Männer sind vermöge ihrer Klugheit und Besonnenheit Priester der Orakel geworden und stehen fest in unserem Dienst. Von ihnen wissen wir, daß diese Wesen, die in Kristallzylindern leben, nichts Menschliches an sich haben, aber scheinbar auch kaum Ähnlichkeit mit den käfer artigen Wesen besitzen, die die Flugwachen ausüben. Es ist sogar die Vermutung ausgesprochen worden, daß diese Wesen in den Kristallzylindern eine Mehrheit von Drusonen seien, aber es ist noch nie gelungen, den Inhalt eines dieser Zylinder zu untersuchen. Befehle werden gegeben in einer seltsam tönenden Sprache, die nichts Menschliches an sich hat, also wohl Maschinen entstammen muß. Einige unserer Sendlinge sind als Ingenieure und Ar beiter in die Raumschiffahrt der Drusonen gelangt. Wir wissen durch sie sogar Bescheid, wie diese Raumschiffe be wegt werden. Wieder andere sind auf Druso selbst gelandet und haben durch ein Übermittlungssystem besonderer Art Beschreibungen des Sterns und seiner Bewohner geliefert. Es gibt da wieder andere Wesen von ameisenähnlicher Ge stalt, die aus sechs Füßen laufen, sich fünfundzwanzig Zen timeter über den Boden erheben und eine Länge von ein bis eineinviertel Meter haben. Aber wir wissen durchaus nicht, wie diese Wesen miteinander verknüpft sind. Es kön nen ja auch verschiedene Arten eines Insektenzustandes sein. Wir wissen, die Menschen dort oben leben in ähnlichen Siedlungen wie hier unten; auf Druso herrscht Friede. Aber wozu diese Menschen den Drusonen dienen, wissen wir wie 116
derum nicht. Die Macht der Drusonen beruht auf ihrem magisch-geistigen Einfluß. Sie spielen die Götter. Einer unserer Forscher hat vor fünfzig Jahren die Behauptung ausgesprochen, daß die Drusonen ein Höchstmaß von Ent artung darstellen müßten. Auf jeden Fall, in der Kälte vermögen sie nicht zu leben, und darauf beruht die Erhal tung von Atlanta, der letzten freien Menschensiedlung." „Kann man den Druso erblicken?“ fragte Hurst. „Wenn der Mond untergeht,“ erwiderte Thankmar, „zeigt sich in dieser Breite die rötliche Scheibe des Raubsterns, der sich in die Hälfte des Mondumlaufs gehängt hat.“ „Sehr interessant!“ meinte Hurst, „danach läßt sich vieles mathematisch genau berechnen.“ „Dafür ist Vorarbeit geleistet!“ rief Thankmar. „Kommt zu uns in unsere Laboratorien. Ihr werdet uns viel helfen können!“ Judith fragte: „Warum aber hat Druso die Erde wohl erobert?“ „Darüber haben wir auch nur Vermutungen. Es scheint, daß der Raubstern die Kräfte anderer Planeten braucht, um sich selbst regenerieren zu können. So sind, wie unsere Messungen feststellen, von dem Stern über dreißig Prozent der elektrischen Energie der Erde mit Beschlag belegt. Das konnten wir gut an Hand der alten Tabellen der großen Kraftwerke ausrechnen. Und wir leben gewissermaßen nur von einem kleinen Überschuß, müssen uns hüten, Kräfte zu erzeugen. Zwar sind die alten Generatoren in Gang und einzeln werden sie auch benutzt, wenn der Druso kleinere 117
Anforderungen an die Erde stellt, aber im wesentlichen be helfen wir uns mit der Strahlungsenergie der Sonne. Da haben wir, glaube ich, durch die Not vielerlei Verbesserun gen an den alten Maschinen gefunden und auch neue ge schaffen. Denn wir waren gezwungen durch die Not, eine große unterirdische Höhlenkultur anzulegen auf unserer Halbinsel. Dort gedeihen unsere Gärten, dort züchten wir die Pilze, von denen wir hauptsächlich leben, indem wir die unterirdischen heißen Wasser ausnutzen. Jeder neugeborene Mensch hat für die Menschheit Bergwerksarbeit zu verrich ten, fünf Jahre seines Lebens. Sie werden verteilt, aufge schoben, aber nicht erlassen. Und als ehrenvoll gilt es, frei willig Arbeit unter der Erde zu verrichten.“ Judith nickte. „Aus den Höhlen kam der Mensch, in die Höhlen fand er zurück. Und schließlich, wenn wir es über legen, jene mammuthaften Großstädte des 21. und 22. Jahrhunderts waren auch nur Höhlen, Steinhöhlen, in denen es von Menschen wimmelte.“ Hurst sagte eindringlich: „Verlassen wir das Thema nicht! Diese Erobererwesen der Erde sind eine Insektenart, wie wir annehmen müssen. Sie herrschen durch Orakel über die Erde. Wodurch halten sie die Erde noch in Bann?“ „Durch Flugzüge!“ antwortete Thankmar. „Das sind Wesen, insektenartig gestaltet, die 15 an der Zahl in Form eines Keils die Erde in regelmäßigen Flügen umkreisen. Aber sie vermeiden die Gegenden des Nordens und der Kälte, das betone ich; denn geringeren Temperaturen sind sie, wie alle Insektenarten, nicht gewachsen. Aus alten Zei 118
ten wird berichtet, daß Aufstände in verschiedenen Teilen der Erde stattfanden, daß die Orakel zerschlagen und die Orakel wesen getötet wurden. Dann kamen von allen Seiten die Flugzüge herangebraust und tilgten die dort lebenden Menschen aus durch giftige Gase, die sie versprühten.“ „Haben die Menschen vergessen, daß sie selbst Beherrscher der Luft waren?“ „Die einzigen Flugzeuge, die es aus Erden noch gibt, haben wir Nordländer. Aber wir hüten uns in der Regel, mit ihnen nach Süden vorzustoßen. An der Polargrenze lassen wir sie gesichert stehen und begeben uns nach Süden weiter mit besegelten Schiffen, die wir für den Sturm mit Motoren ausgerüstet haben. Wir würden es nicht wagen, große Fahrzeuge zu bauen. Die Drusonen würden uns er spähen und vernichten.“ „Woraus kommt es nun diesen Wesen bei der Beherr schung der Menschheit an?“ fragte Judith. Thankmar erwiderte: „Auch das läßt sich nur schließen aus dem, was sie fordern. Unserer Überzeugung nach brau chen sie Menschen zur Arbeit, vielleicht zur Nahrung. Sie erregen Krieg unter den Stämmen, ein Orakel zum andern, und verlangen, daß die Gefangenen der Gottheit ausgelie sert werden. Von den Erschlagenen begehren sie die Köpfe, die Geschlechtsteile und alle Organe, die Drüsen besitzen. Das Sammeln dieser von den Göttern begehrten Beutestücke ge schieht unter religiösen Zeremonien, und von unsern Beob achtern haben wir erfahren, daß sehr feine chemische Metho den bestehen, um diese Teile für lange Zeit zu bewahren. 119
Die einzelnen Stämme und Völker aber, die sich befeh den, glauben, sie erfüllen den Willen der Gottheit oder üben Gerechtigkeit, sie verteidigen höchste Güter. Und das alles geschieht in Wahrheit nur, um den Drusonen durch Selbst zerfleischung Leben zu gewähren. Was man von früheren Zeiten wilder Kriege auch sagen mag, wenn Menschen einander umbrachten oder bedrückten, so geschah es um anderer Menschen willen. Heut aber ge schieht dies alles nur, damit fremde Parasiten sich nähren, ihre Kräfte verdoppeln. Es liegt nun einmal im Prozeß des Lebens beschlossen, daß eines für das andere da ist. Wir Menschen haben im ähnlichen Sinne die Tiere für uns ausgenutzt und sind nun selbst an der Reihe. Aber für uns Menschen ist dies das bewußt Böse. Wir sehen dieses System der Beherrschung und Ausnutzung ein, wenigstens wir Atlantiker, und weil wir es einsehen, weil wir das Joch empfinden, wollen wir es brechen. Wir haben die Zuver sicht, weil wir Euch gefunden haben, weil Ihr uns ein Wissen lebendig machen könnt, das uns fehlt, um das Letzte zu tun. Darum ist die Erweckung von Euch Schläfern von ungeheurer Bedeutung für die Geschicke der Menschheit. Wenn Menschen fertig gebracht haben, Leben aus dreihun dert Jahre ruhen zu lassen, werden sie es auch fertigbrin gen, sich frei zu machen von der Herrschaft eines fremden Sternes.“ — Ich sah Judith an; ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen schauten begeistert, während an mir das alles vor beigerauscht war, wie eine alte Sage. Ja, die Frauen sind 120
die Mütter der Menschheit! Sie spüren, was ihre Kinder angeht. Wir Männer stehen überlegend dabei, sinnen nach und empfinden erst später. Hurst fragte: „Auf Boothia Felix, sagt Ihr, sei Eure Kolonie? Warum nennt Ihr Euch Atlantiker?“ „Wir sind dem großen Warner gefolgt,“ erwiderte Thank mar, „Ferryman, der der Menschheit Selbstbesinnung pre digte vor dem Untergang und der der neuen Menschheit im Norden Ziel und Richtung gab. Ferryman wies uns den Weg in die Unendlichkeit der Sterne zurück, gab uns wieder den Sternenglauben an den Gekreuzigten, den Gott des Jahres. Im Norden haben wir den Weg des Jahressohnes erkannt, seine Geburt, sein Heldentum und sein Leiden, Thyr, den sie auch Jesus nannten. In Atlantis ward solche Lehre geboren vor Jahrtausenden und erwachte wieder in den Menschen zur rechten Zeit, da sie ganz befangen waren im bösen Geist, in einer leblosen Technik, im Wohlsein und in Genüssen ohne Seele. Ferryman hat alles vorausgesagt und auch gekündet, wie die Menschheit frei werden müsse, indem sie Stolz wiedergewänne und innerlich frei würde. Kehrt nach Atlantis zurück! hat er gefordert. Wenn auch Atlantis verloren und versunken war, so haben sich doch Teile jetzt wieder gezeigt von jenem Lande der Väter; denn Eng land ist keine Insel mehr und neue Inseln haben sich erhoben zwischen den Azoren und der Küste Afrikas. Wir harren des Tages, wo Atlantis, das Land der Väter, wieder das unsere ist, und darum nennen wir uns Atlantiker!“ Judith sah mich an. „Erinnerst Du Dich des letzten Tages, 121
da vor dem Dom jener sonderbare Schwärmer auf mich einredete? Er nannte sich Ferryman!“ Thankmar fragte: „So habt Ihr selbst Ferryman ge sehen?“ „Ja,“ erwiderte Judith, „wir haben ihn gesehen und haben nicht an ihn geglaubt!“ Thankmar nickte. „Seid froh, daß Ihr ihn gesehen habt! Er allein von Eurer Welt ist außer Euch lebendig auf uns gekommen!“ Hurst, der sich alles mit angehört hatte, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Aber er fragte, um unsern Gast freund nicht zu verletzen, schnell: „Wie kam es, daß Ihr Euch unserer erst nach dreihundert Jahren wieder erinnert habt?“ Thankmar berichtete: „Vor fünfzig Jahren gelang es Beaulieu, dem großen Historiker und Philologen, aus alten Nachrichten den Schluß zu ziehen, die Vorfahren hätten bei Aachen, von dem aus vereint Kaiser Karl der Große ein Weltreich regierte, einen Kultplatz gehabt, ein Heiligtum der Menschheit, einen Sammelplatz allen Wissens. Gelänge es, diese Stätte wieder aufzufinden, so würde das eine reiche Ergänzung von Bibliotheken und Laboratorien von Boothia Felix geben. Über diese Theorie ist lange gestritten worden. Immer wieder erregte sie Sehnsucht und Neugier. Neue Funde in alten Aufzeichnungen setzten die Theorie des geist reichen Beaulieu in ein besseres Licht. Sein Sohn lebte nur dem Gedanken des Vaters. Er starb vor vier Jahren und hinterließ ein Testament, in dem er alles, was er sein eigen 122
nannte, für eine solche Expedition zur Verfügung stellte. Genaue Merk- und Reisekarten hatte er ausgearbeitet, ge naue Erwägungen angestellt und die Möglichkeiten abge wogen. Wie es oft gegangen ist, der Tod war die beste Hilfe für Beaulieus Lehre. Aller Streit schwieg, alle waren sich einig, die Gedanken der beiden großen Männer zu erproben. Aber es war noch viel zu leisten, um die Expedition zu ver wirklichen. Da ich Arzt bin, das Glück hatte, mit Beaulieu befreundet zu sein, und viele Reisen im Auftrag unserer Regierung nach diesem Teil der Erde gemacht hatte, wurde ich mit der Aufgabe betraut. Mit Flugzeugen erreichten wir nachts die Lapplandküste. Dort haben wir seit alters her eine Kolonie unserer Leute. Und von dort aus haben wir eine Reihe von Stationen angelegt, in denen wir Ver trauensmänner besitzen. Freilich, diese müssen zuschauen, dürfen sich in nichts mengen, müssen den Wahnsinn der Menschen dulden. In den Tempeln nämlich wird die Kunst der Taktik und Strategie und allen kriegerischen Han delns gelehrt, von ihnen aus werden die Kriegszüge in Gang gehalten, um den Drusonen ihre Gefangenen zu liefern. Der Militarismus ist etwas Heiliges geworden, weil er den Göttern dient, diesen Wesen, die unsere arme Erde aus nutzen. Und unsere Abgesandten müssen sich dem fügen. Von Lappland sind wir als Seehundsfellhändler nach Süden gegangen und über Finnland zur Ostsee gelangt, von da aus Seglern zur Rheinmündung. Mit einem Fuhr mannszug sind wir rheinauf gegangen und haben hier eine Handelsniederlassung gegründet und nach Beaulieus Aus 123
zeichnungen dieses Stück Land gekauft als Garten und als Weide für Pferde. Über ein Jahr hat es gedauert, bis wir endlich den Eingang zum Tempel fanden, vom Rhein aus durch ein Tor, dessen Bestehen wir uns lange nicht haben vorstellen können, da er zum Teil im Wasser lag.“ „Jch kann es erklären“, sagte ich zu Thankmar, „das war das Wassertor, durch das das Schwimmstadion gespeist wurde. Von da aus also seid Ihr eingedrungen? Das war sicher der mühseligste Weg.“ „Es hat viele Zwischenfälle gegeben,“ fuhr Thankmar fort. „Eine zweite Expedition, die uns neue Entdeckungen aus Aufzeichnungen vermitteln sollte, wurde in Finnland auf Befehl des Orakels in Ulia festgenommen. Zum Glück haben die Finnen weder Waren noch Papiere untersucht, denn der Priester dort war einer der unsern und wußte es zu ver hindern. Der Sekretär nahm unsere Freunde in Aufsicht, stellte sie dem Orakel vor, der Gott gebot, daß die Ware gebracht würde. Die Felle wurden im Tempel ausgebrei tet und uns der Handel erlaubt.“ ,,Was ist das für ein Tempel?“ fragte Judith. „Eine kleine Halle mit einer Kuppel, die mit blauer Seide bespannt ist. Alle Sternbilder sind ihr eingewebt, auch Erde und Mond, und gegenüber dem Monde aus kupferrotem Gold der Raubstern, der sich ja mit dem Mond im Gleich gewicht halten muß. Der Raubstern gilt in diesem Kult als Sitz der Götter. Senkrecht unter ihm besindet sich eine zylindrische Kristallsäule, aus deren Kopf tausende von gol denen Fäden, einem Haarschopf gleich, herauswachsen. Diese 124
Fäden knistern, geben elektrische Funken. Sie dürften eine Antenne darstellen, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Raubstern steht. Alle diese Orakel suchen wir zu beobachten, und wir haben viel aus den Vergleichungen entnommen. Denn für die unterjochten Menschen sind die Tempel gleichzeitig meteoro logische Stationen. Das Orakel gibt an, was es für Wetter werden wird. Die Beobachtungsmethoden der Drusonen müssen sehr fein sein, denn sie irren sich nie, und ein sehr großer Teil ihres Einflusses beruht bei den abergläubischen, unwissenschaftlichen Menschen daraus, daß ihnen verkündet wird, ob am nächsten Tage ein Gewitter oder ein Sturm ist, oder ob die Sonne scheint.“ „Also“, sagte ich, „unsere erste Aufgabe muß sein, genaue Lebens- und Wesensart der Drusonen zu bestimmen.“ „Zum zweiten ist erforderlich,“ rief Hurst, „genau zu wissen, mit welchen Kräften der Stern Druso sich im Gleichgewicht zum Monde hält. Daraus würde sich der Plan gründen, den Raubstern in den Raum abzuschütteln.“ „Das Wichtigste scheint mir“, sagte Judith, „den Druso selbst zu erforschen, um zu wissen, woraus sich die Kraft jener erdbeherrschenden Wesen stützt.“ „Erst müßt Ihr Eure vollen Kräfte wiedergewinnen, Ihr Meister der alten Zeit!“ sagte Thankmar; und warf einen Blick aus den apathisch in der Hängematte liegenden Flius. „Denn wahrlich, wir werden Euch brauchen! Aber ich habe die Gewißheit, daß wir frei werden und eine neue Mensch heit auf dieser Erde friedlich blühen wird.“ 125
Es war, als hätten die Worte Thankmars Flius erweckt. Er hob seinen Kopf und sagte verloren: „Wir von damals hatten gedacht, der Krieg wäre für die Menschheit Sage geworden. Nun wachen wir aus nach dreihundert Jahren und finden, daß die Menschheit wieder unmittelbar vor einem Kriege steht, um der Freiheit willen, die das Höchste ist!" „Nein“, rief Thankmar, „das ist kein Krieg! Krieg haben wir Menschen genannt, wenn wir uns selbst töricht vernich teten. Krieg herrscht hier aus Erden, weil diese armen Wesen in ihrer Blindheit sich um der Götter willen ausrotten. Aber was gegen Druso uns treibt, ist Selbstbehauptung! Als die Menschheitsvölker sich mit sich selbst versöhnt hatten, waren damit noch nicht die Bürgerkriege beendet. Aber gegen Druso kämpfen wir den ewigen Kampf der Menschheit gegen die Natur, die uns zerstören will!“
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X. Motto: Siebenschläfer! — O, so hört die hellen Hörner klingen und die Doggen bellen! Schiller, Gedichte.
18./19. Jahrhundert.
Wie wir unser neues Leben führten. Von Liuwenhord, dem Führer. Die wilden Eingeborenen des Rheinlandes. Das Gold ist wieder Götze geworden. Mit Hursts Hilfe baue ich ein Kraftboot. Heim licher Aufbruch zur Jagd. Kampf mit einer Drusonen-Flugstreife. Seltsame Jagdbeute. Heimkehr. Auswertung des Erfolges.
Unser Leben, das wir in dem unterirdischen Menschheits tempel und in dem verwilderten Garten führten, war ge dämpft wie das von Rekonvaleszenten. Wir lebten kein wirkliches Leben, erfuhren aber durch Thankmar und seine Gefährten soviel von der neuen Welt, daß wir uns völlig hilflos vorkamen. Wir begannen die Sprache besser zu ver stehen. Das bedeutete schon einen Vorteil; doch hielten sich die Gefährten Thankmars sichtlich zurück. Auf unser Be fragen erklärte der Alte, es sei Weisung gekommen aus Boothia Felix, daß Abstand zu uns gewahrt würde; so hätte es Liuwenhord geboten. Und auf die Frage, wer Liuwen hord wäre, erwiderte Thankmar, demütig das Haupt sen kend: „Der Führer!“ Zu den Eingeborenen des Landes fanden wir kaum eine Fühlung. Es kam von Zeit zu Zeit ein Mann auf einem Ochsengespann, der uns Holz brachte. Ein großer, unge 127
schlachter, blonder Geselle war es, der uns mit lauten Hä's und Ho's anries. Thankmar verriet uns, daß er gerne Spi ritus gehabt hätte, um sich zu berauschen. Das Betragen dieses Mannes wirkte abschreckend auf uns, und unsere Be gegnungen mit Schiffern und Fischern bestätigten, daß das Volk roh und streitsüchtig war. — Wir begannen, da die Lust zur Arbeit kam, die Sammlungen zu sichten und halsen Thankmar beim Registrieren des aufgefundenen wissen schaftlichen Materials. Das nahm lange Tage in Anspruch. Auch Flius ward von Arbeitsdrang ergriffen. Von seiner Hängematte aus, mit dem Notizbuch bewaffnet, gab er Be fehle und Erklärungen. Judiths Schönheit erblühte neu. Ich sah, wie die jungen Leute und der blonde Begleiter Thankmars sie ehrfürchtig wie eine Fürstin, ja, wie eine Göttin betrachteten. Aber das Dasein war unbefriedigend, im wesentlichen ge teilt zwischen den unterirdischen Hallen, die matt erleuchtet waren, da die Kraftzufuhr fehlte, um dem Menschheits tempel seinen vollen Glanz zu leihen, und noch trauriger war es oben in dem herbstlich werdenden Garten. Wir sehnten uns sehr, nach Boothia Felix zu kommen. Dort mußten Lebensverhältnisse sein, die unsern alten eher ent sprachen. Auch wir waren begierig, die dortigen Samm lungen von Maschinen durchzusehen. Wir wollten arbeiten, wir wollten schaffen! Jch hatte inzwischen eine Kartothek angelegt und begann systematisch alle Nachrichten zu sammeln über vorkom mende Tiere und über alles, was die Menschen anlangte. 128
Ich gab diesem fremden Holzknecht, der sich Schrott nannte, Branntwein und maß seinen Schädel und seine Körper verhältnisse, während Judith den Riesen von verschiedenen Seiten fotografieren mußte. Fernaufnahmen von den Frauen, die am Wassersteg wuschen, und von den Fischern auf dem Rhein wurden gemacht. Ein merkwürdiges Erlebnis hatte ich selbst mit einem dieser Wilden. Ich ging am Ufer entlang und beobachtete einen Fischer, der sein Netz ordnete; es hatte sich verknotet. Ich zog mein Taschenmesser heraus, ließ die kleine Schere herausschnappen und beseitigte seinen kleinen Schaden mühelos. Aufmerksam verfolgte er mein Beginnen, lachte, ließ sich das Messer zeigen, begriff die verschiedenen Klin gen und zog schließlich unter dem Fell, das seine Brust be deckte, eine Goldmünze hervor, ein altertümlich Ding auch für unsere Zeit, denn es war eine Schaumünze, geschlagen zum Gedächtnis des Nobelpreises im 20. Jahrhundert. Ich konnte die Umschrift nicht ganz lesen, denn die Frau des Fischers kam dazwischen, wies mit heiliger Scheu auf mein Messer und rief: „Isen!“ Thankmar erklärte mir hernach, daß Eisen lange Zeit vom Orakel verfemt worden war, allerdings hätte jetzt die Strenge des Verbots nachgelassen. Die Männer nähmen ganz gern eiserne Werkzeuge, die sie sehr hoch schätzten und mit Gold bezahlten. Die älteren Frauen, konservativer als die Männer, hätten immer noch Abscheu vor dem Eisen, das die Drusonen voll Arglist in Verruf gebracht hatten. „Aber interessant ist es“, sagte Thankmar, „daß auf der 129
ganzen Erde, mit Ausnahme von Boothia Felix, Gold wie der Maßstab des Wertes wurde, wie in grauen Zeiten.“ Ja, das Gold! Ich dachte daran zurück! Wir Menschen um 2300 kannten es nur zum Schmuck und für festliche Gegen stände. Es war zwischen 1930 bis 2000. In diesen zwei Menschheitsgenerationen wurde es entthront. Zwar hatten schon vor 1930 viele Länder aufgehört, gemünztes Gold von Hand zu Hand gehen zu lassen. Es lag in Kellern, und die Gegner des Goldes nannten es den Gott im Keller. Natürlich war es in dieser Zeit hoher Warenproduktion ein Nonsens, mit einem Mittel ausgleichen zu wollen, das selbst Ware geworden war. Das war so, als ob jemand mit einem Metermaß messen wollte, das manchmal kurz und manchmal lang war. Aber es hat da vieler Kämpfe und starker geistiger Durchdringung der Welt bedurft, um dies plumpe Tauschmittel aus uralter Zeit zu verdrängen. Gold war in Verhältnis gesetzt worden zu anderen Werten wie Getreide, Kupfer, Leder, Platin. Wurden größere Ge schäfte gemacht, war immer eine kleine mathematische Rech nung notwendig, um einen gerechten Wert zu finden. Diese Künsteleien hießen damals Indexgeld. Das alles erst hatte ein Ende genommen, als die Erde planetarische Einheit ge worden war und die Vereinigten Staaten der Erde aus einem Traum zur Wirklichkeit erwuchsen. Da hatten wir unser Buchgeld, wie ihr Atlantiker es ja alle kennt. Jeder Mensch hatte sein Büchlein, in dem der Wert verzeichnet stand, für den ihn sein Volksstaat anerkannte. Und wer mit ihm handelte, schrieb selbst aus dem Büchlein sich seinen Scheck 130
ab, vermerkte die Summe, erhielt die Quergegenschrift des Käufers und besaß damit Geld. Es gab keine Notenpresse mehr, keinerlei Kompliziertheiten, keine Kursberechnungen. Und nun war der alte Gott Gold wieder aus seinen Kellern herausgekrochen, hatte sich mit seinem lockenden Glanze der Menschen bemächtigt, hatte seine Herrschaft wieder angetreten als ein Untergott und Sklavenvogt der Drusonen. Hurst ging ins Dorf. Er wollte mit Hilfe eines kleinen Taschengrammofons die Sprache dieser Wilden aufneh men, aber er wurde als Fremder mit Mißtrauen betrachtet. Vor seinem Maschinchen hatte alles Abscheu und Grauen, hatten doch die Orakel gegen Zauberei und mechanisches Teufelswerk den großen Bann ausgesprochen. — Das an derte sich, als Judith ihn begleitete. Ihre Magie zog die Kinder an. Ihre erwachende Mütterlichkeit strömte auf sie über. Sie spielte und scherzte mit den Kleinen durch Augen sprache und Gebärden; so wurden sie zutraulich. Und als nun Hurst ihnen kleine Geschenke machte, die sie jetzt an zunehmen wagten, war das Spiel gewonnen, und es ergab sich nach aller Bemühung, daß diese Sprache ein seltsam verkümmertes Deutsch war. In mir selbst wuchs mit den Monaten die Sorge um Judith. Nach der Berechnung mußte der Tag ihrer Nieder kunft bald herannahen. Ich geriet in eine solche Unruhe, daß ich es nicht mehr im Tempel und Garten aushielt. Ich mußte etwas unternehmen, um frei von mir selbst zu werden. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, so kann ich mich eines ungeheuerlichen Leichtsinnes nicht frei 131
sprechen. Was ich damals tat, konnte alles gefährden, aber ich tat es aus einem Trieb heraus, aus keiner Überlegung. Dieser 17. September, an dem ich mich in das Abenteuer stürzte, ist ein Tag der Entscheidung für das ganze Men schengeschlecht geworden, nur soll man es mir nicht Helden mut nennen. Ich war, um mit Ferryman zu reden, ein Ge führter, der sich dem Dämon ergab. Ich hatte in der Woche vorher unter den Materialvor räten, die mit uns über die drei Jahrhunderte gereist waren, den kleinen Kraftmotor gefunden, ein Wunderwerk unserer letzten Technik, der es gestattete, aufgespeicherte Sonnen energien zur Kraftentfaltung zu bringen mit einer Wirkung von hundert Pferdekräften auf einen Raum, der zwei hundertfünfzig Kubikzentimetern entsprach. Hurst half mir. Er fand auch den Spiegelapparat zur Neuladung. Ich baute das Maschinchen in eines der Flach boote ein, die wir von den Einwohnern drüben gekauft hat ten. Nachts probierten Hurst und ich das Boot aus. Mit dem Geräusch eines starken Windes schob es über das Wasser. Es flog fast, so stark war die Wirkung auf das Windschraubensystem. Dieser Apparat war der Anlaß zu meiner Unternehmung. Ich hatte gehört, daß vor der Rheinmündung, die sich ganz nach Osten verschoben hatte, weil die frühere britische Insel wieder zusammengewachsen war über die Doggerbank mit dem Festlande, ein außerordentliches Haffmeer entstanden sei, in dem es von seltsamen Vögeln und Robben wimmele. Ich prüfte meine Jagdwaffen, nahm zur Sicherheit eine 132
sehr schwere elektrische Büchse und zwei leichte Vogelflinten nach dem System „Flüssige Luft“ mit und jene vielfarbigen Mimikry-Decken, die es uns ermöglichten, ganz nahe an das Wild ungesichtet heranzukommen. Das waren noch Ca mouflage-Entdeckungen aus der Zeit alter Kriege. So ge rüstet erhob ich mich in der Morgenfrühe, ließ meinen Ge fährten eine kurze schriftliche Nachricht zurück, und zog den Rhein hinunter in ganz großer Fahrt. Ich legte an 120 Kilometer die Stunde zurück, kam auch wirklich in das Jagd gebiet und schoß beim Morgengrauen ein paar riesige Reiher, landete auf einer Insel, machte ein Feuer an und briet mir über der Spiritusflamme das Fleisch. Da vernahm ich in der Luft ein Surren und griff zu meinen Waffen. Im Keilfluge nahten 15 dunkle Flug gestalten, und ich wußte es aus dem Gefühl, daß es eine Flugstreife der Drusonen war. Verbergen konnte ich mich auf der flachen Sandinsel nicht, also warf ich schnell die Ver steckdecken über Boot, Beute und mich selbst und schaute, die elektrische schwere Büchse in der Hand, nach den nahenden Ungetümen aus. Sie bildeten einen Kreis um die Insel und der Führer, wie es schien, senkte sich. Er erinnerte mich an einen ungeheuren schwarzen Hirschkäfer. Und nun war es mir klar, was ihn anzog. Nicht die Farbe war es, sondern mein Geruch. Da blieb mir nichts anderes übrig als Kampf. Ich entsicherte die Büchse, und als das Geschöpf in etwa zehn Meter Entfernung über mir schwebte, schoß ich. Es stürzte ab. Sofort sprang ich auf und nahm Deckung, in der Meinung, die andern müßten herabkommen. Aber siehe da, 133
sie blieben, kleine Kreise beschreibend, wie Wachen über der Insel. Ich nahm ein anderes Geschöpf aufs Korn, traf, es flatterte krängend, ein Flügel schien verletzt. Ich schoß zum zweiten Mal; es stürzte ab. Aber merkwürdigerweise, alle anderen blieben in ihrer Kreisbewegung, so daß ich ohne Ge fahr Stück um Stück abschoß, zu meinem eigenen Erstaunen. Als ich das letzte erlegt hatte, kam ich hervor und fand zwischen dem Strandhafer die Körper. Ich wandte sie um, und was sah ich? Vierzehn waren metallene Maschinen. Nummer eins, das Wesen, das ich zuerst abgeschossen, war ein großem Insekt, ausgerüstet zwischen den Fühlern mit einem kleinen elektrischen Apparat, den ich sofort an mich nahm. Einen der Metallkäfer lud ich neben dem Körper des Insekts in den Kahn, die andern wälzte ich ins flache Meer. Dann strebte ich der Rheinmündung zu, wo ich mich im Röhricht bis zur Nacht verbarg. Von hier spähte ich aus und sah im Verlaufe der Stunden viele Gruppen dieser Flugschwärme von Süden, Osten und Westen heran kommen. Sie verteilten sich in Richtung auf Norden. Ein Glück für mich war es, daß ein großes Unwetter losging, denn sonst wäre ohne Frage das Geräusch meines Bootes rheinauf den alarmierten Flußbewohnern ausgefallen. So erreichte ich in ein paar Stunden unseren Garten. Als Erster kam mir Hurst entgegen. Bei meinem An blick wurde er ganz bleich, ich mußte ihn stützen, und er sagte: „Wärst du nicht zurückgekommen, ich glaube, wir alle wären daran gestorben! Denn unsere Gastfreunde sind ja ganz gute Menschen, aber was verstehen sie von uns und 134
wir von ihnen! Manchmal habe ich das Gefühl — verzeih es —, als ob selbst diese Nordmenschen, die sich von den Eingeborenen unterscheiden wie Griechen der Heroenzeit von Affen, gegen uns Tiere sind. Einen von uns missen, ist ein Stück der Welt verlieren. Wäre nicht Judith gewesen, die einfach an das Wunder glaubt, ich fürchte, Flius und ich hätten uns gegenseitig die Lebensschnur abgeschnitten. So müssen in uralten Zeiten Schiffbrüchige empfunden haben, die auf eine fremde Insel geworfen wurden. Die Spannung zwischen uns und ihnen ist zu groß.“ „Und Judith?“ fragte ich und fühlte, wie ich selbst blaß wurde. „Judith“, sagte Hurst, und wieder kam das alte ironische Lächeln auf seine Lippen, „ist ganz Frau, Königin, Mutter! Ich verstehe jetzt das alte Biologenwort des Jürgen W. Harms: Die Frau ist der Mensch und der Mann ist die Luxusform! Sie trägt neues Leben in sich und ist darum unerschöpflich, wo wir verzagen.“ Jetzt kamen Judith und Flius uns entgegen. Flius brach in Tränen aus und umarmte mich. Judith ergriff schwei gend meine Hand. Dann fragte sie: „Was bringst Du uns Gutes?“ Es war Wärme und Kraft in ihren Worten, Ein fachheit und Glauben. Nun berichteten die Drei, am Nachmittage hatten Thank mar und seine Leute im Dorfe drüben erfahren, daß etwas Außerordentliches geschehen sei. Geschwader der Flugstreifen waren nach Norden gegangen. Das Orakel hatte geboten, es wäre auf alles zu achten, was auf dem Flusse geschähe. 135
Wir begannen nun diese seltsame Jagdbeute auszuwer ten. Da war zum ersten klar, daß der einzelne Flugwächter seine Kraft vervielfältigte durch die metallenen Maschinen, die er mit einem verhältnismäßig einfachen aber sehr sinn reichen Induktor lenkte. Die Metallmaschine enthielt, wie wir feststellten, eine Reihe von chemischen Substanzen, die wir in einem Laboratorium näher zu untersuchen be schlossen. Wir konnten uns aber denken, daß es Gase waren, die dem verschiedensten Gebrauch dienen mußten. Der Führer der Schar hatte einen Chitinpanzer von be sonderer Stärke, wie er bei Insekten auf Erden nicht gefun den werden konnte. Er erinnerte uns in seiner Masse an die harte Schale von Seeschildkröten. Eigentümlich war der Geruch. Flius stellte fest, daß das Tier ein Organ hatte, um Geruchswellen verstärkt ausgehen zu lassen, und vielleicht bestand die Verständigung dieser Wesen überhaupt in Form einer Geruchssprache. Hurst fand, daß die Fühler beweglich waren und Töne hervorbringen konnten. Es war also ein sehr seltsames Wesen, was da vor uns lag. Es wurde sorg fältig zerlegt, und Hurst faßte unsere Untersuchung zu sammen: „Wir haben es mit einem Insektenvolke zu tun. Es schafft sich seine besonderen Funktionäre. Dieses Wesen hier hat die Funktion, zu wachen. Es ist ein Polizeiorgan im vollsten Sinne des Wortes und nichts als das. Sicherlich werden sich bei den andern Wesen dieses Volkes noch organi sierte Apparate finden, die ihrerseits besonderen Funktionen dienen. Es ist zu bezweifeln nach den vorliegenden Nach richten, daß diese Wesen einem einzigen Stamm angehören. 136
Es muß füglich angenommen werden, daß ein geistig her vorragender Stamm andere Insektenarten ausbeutet, wie etwa die Ameisen die Blattläuse usw. Aus dieser Übung heraus läßt sich auch die Ausbeutung der Menschen durch den herrschenden Insektenstamm erklären. Beweise dafür wären noch zu erbringen.“ In der Tat bestätigte eine Expedition, die Hurst nach vier zehn Tagen mit mir zu der Watteninsel ausführte, daß die Stahlkörper sehr feine Lichtaufnahmeapparate besaßen, und daß sie befähigt waren, meteorologische Veränderungen selb ständig zu registrieren. Tatsächlich versah also eine jede Streife der Drusonen einen sowohl polizeilichen als auch wissen schaftlichen Sicherheitsluftdienst. Wir nahmen alle diese fei nen Apparate an uns und versenkten die Körper in einer Meerestiefe, die wir auf achtzig Meter schätzten. Wir ent kamen mit schnellster Fahrt wieder zu unserm Zufluchtsort und hörten am nächsten Morgen von den Dörflern, es wäre eine Luftstreife von Norden nach Süden gegangen, den Fluß entlang. Da wußten wir, daß unsere Luftpropeller als das Surren der Streife gegolten hatten. Das gab uns Sicherheit, nachts nach Norden vorzubrechen. Aber wir sahen bei diesen Fahrten, daß da, wo sich das Meer zwischen Schottland und Skandinavien breit öffnete, ein guter Beobachterdienst einge richtet war. Die Bewohner Drusos waren alarmiert durch den verlorengegangenen Flugzug. Sie waren auf der Wacht. Thankmar schloß daraus, daß wir noch einige Monate warten müßten, um die Ergebnisse der Expedition in ge nügender Sicherheit zu bergen. 137
XI. Motto: Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich. — Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. Friedrich Nietzsche.
19. Jahrhundert.
Die Atlantiker von Boothia Felix als Händler haben ihre strengen Gesetze. Hursts Idyll verstößt dagegen. Die wilden Rheinmenschen erregen sich. Zwist. Vorbereitung zur Abfahrt. Kampf mit den Eingeborenen. Helgeland. Das Mutter-Wunder. Judith bringt ein Kind zur Welt. Thankmar und seine Mannen beten Mutter und Kind an.
Jedes organische Leben, auch geistiger Art, entwickelt sich nach den eigenen Gesetzen. Wir im engeren Kreise hatten keinen Anschluß an die Außenwelt gesucht. Thankmars Mannschaft hielt sich zurück. Die meisten waren abwesend, mit Lederverkäufen und anderem Handel beschäftigt. Sie mußten ja ihre Rolle als fremde Kaufleute und Faktorei besitzer durchführen. Wir selbst hatten genug zu tun, die Mannschaft Thankmars in Kursen zu unterrichten, ihnen den Gebrauch unseres geretteten Materials, der Maschinen und Waffen klarzumachen. Das bedeutete Arbeit genug. Wir waren gewissermaßen die Professoren einer kleinen Universität. Der einzige, der nach außen strebte, war Hurst. 138
Und das sollte Folgen haben, die wir durchaus nicht in Rechnung gezogen hatten. Hurst, dessen Sport es war, die Sprache der Dörfler auf zunehmen, knüpfte naturgemäß mit den Mädchen an, die die Gärtnereiarbeiten zu verrichten hatten. Grietche, ein junges, geistig regsames Ding, ward seine besondere Be gleiterin beim Fischen. Er gab als Entgelt der Mutter etwas höchst Kostbares für diese Gegenden, Nähnadeln. Er sprach von Grietche zu uns, wie etwa ein Jäger von seinem Lieblingshund, und wir dachten uns dabei nichts Böses, denn Hursts phlegmatische Art war uns bekannt. Aber Judith, die Grietche zweimal gesehen und gerochen hatte, fühlte sich verpflichtet, dem Mädchen den Gebrauch von Seife beizubringen. Von nun an kam das junge Ding mit glänzenden Backen zur Gartenarbeit. Da die Seife gut duftete, benutzte sie sie nicht nur zum Waschen, sondern schmierte sich damit aus giebig ein, um durch Wohlgeruch aufzufallen. Von Grietche erfuhr Hurst einige der primitiven Sagen und Märchen, die die Bevölkerung sich erzählte. Sie sind ge sammelt in dem großen Forschungsbericht des Archivs. Eine aber ist mir unvergeßlich geblieben, weil sie uns selbst be traf. Grietche erzählte, unter dem Rhein schliefen böse zau berhafte Männer. Sie hätten den Zorn der Götter heraus gefordert, weil sie sich Flügel gemacht, um zum Himmel zu fliegen. Bis zum Göttersaal seien sie gelangt und hätten dort gestohlen von dem Wein, der die Götter unsterblich macht. Da wären die Herrscher des Himmels ergrimmt 139
herabgefahren auf die Erde, hätten den Zauberern die Herrschaft entrissen und die Menschen wieder Glauben an die Götter gelehrt. — Die Zauberer seien versenkt und ruhten dort unter dem Rhein, in einem großen Saale, verdammt zu tausendjährigem Schlaf und wenn sie wieder hervorkommen, wird das Wasser des Rheins siedend heiß, und sie werden wie gekochte Fische hinabschwimmen müssen zum Meer. — — — Es hätte uns zu denken geben sollen, daß Grietche kaum noch unsern Garten verließ, und daß sie lieber im Gebüsch schlief, wenn Hurst sie fortschickte, als in die Hütte ihrer Eltern heimzukehren. Aber wir waren damals so ab strakt, so außerhalb der wirklichen Welt, daß wir so kleine Zeichen nicht merkten. Und dann war das Unglück eines Tages da. Während wir in der Holzhalle das Abendessen einnahmen, kam Grietche mit ihrer Mutter in den Garten gelaufen und bat um Hilfe. Ihr Vater, der Häuptling des Ortes, hatte sie einem Häuptlingssohne flußaufwärts zur Ehe angeboten. Der junge Mann war nun gekommen, sie zu holen, denn vor der eigentlichen Hochzeit fand bei diesen Menschen eine Art Probeehe statt. Grietche hatte gräßliche Angst und war mit der Mutter, einer hageren, knochigen Frau, die sicher das Glück ihrer Tochter wollte, hergekommen und bat und flehte, wir sollten sie behalten. Und da Thankmar, der in solchem Falle unser Führer war, die Mutter befragte, wie sie sich's dächte, meinte die ältere Frau ganz einfach, wir könnten ja doch Grietche dem Vater und dem Bräutigam 140
abkaufen. Sie nannte den Preis: Einige Äxte, Nähnadeln, eine Säge, die sich der Vater besonders wünschte. Im wesentlichen also Metallgegenstände. Hurst sah recht bekümmert drein. „So kauft sie doch!“ drängte er. Aber Thankmar wurde sehr ernst. Er ließ Mutter und Tochter sofort in das Dorf zurückführen, versammelte uns alle und sagte: „Hier ist ein Fall, den wir nicht vorgesehen hatten. Meine jungen Männer müssen schwören, daß sie während der Expedition mit den Frauen des Landes kei nerlei Berührung haben. Wir wollen nicht unser Blut hier hineintragen. Es sind sehr schwere Fragen, die sich daraus ergeben würden. Wir müssen abgeschlossen sein. Das hat sich seit Jahrhunderten als richtig erwiesen. Nun seid Ihr gekommen, vom Himmel gleichsam herabgefallen. Dieser junge Meister“ — und er wies aus Hurst — „hat nichts von unseren Gesetzen gewußt. Was er also getan hat, fällt nicht unter unser Gesetz, das für ein solches Verhalten schärfste Ahndung fordert. Aber es geht nicht an, daß wir die Leiden schaften hier erregen. Ich muß sofort alle rückberufen. Wir müssen abbrechen, davongehen. Es ist gut, daß die meisten Funde im Menschheitstempel schon verarbeitet und verpackt sind. Jetzt heißt es die Arbeit beschleunigen. Wir müssen fort, denn sonst gibt es Krieg, und damit ist das Eingreifen der Drusonen sicher zu erwarten.“ Hurst wurde nachdenklich. Er sagte zu Judith bewegt, daß er das Mädchen gern hätte und zu sich nehmen wolle. Es ward uns sauer genug, ihm klar zu machen, in was für einer 141
Lage wir wären. Trotz seiner Kenntnis alter Abenteurer bücher konnte er sich als Ästhet und Egoist in die wirkliche Gefahr unserer Lage nicht hineindenken. Thankmar ging sofort ans Werk. Noch in derselben Nacht ging ein Zug mit Waren den Rhein hinunter. Wir selbst bauten mit Hurst den Motor in ein größeres Fahrzeug ein. Es sollte für den Notfall uns beschleunigte Flucht erlauben. — Durch Lichtsignale rief Thankmar die außenbefindlichen Leute ein, und der nächste Tag schon bewies, daß er mit seiner Fürsorge recht gehabt hatte. Bewaffnet mit Keulen, Spießen, Bogen erschienen die Bewohner des Dorfes in drohender Haltung und verlangten die Herausgabe des Mädchens. Thankmar sprach mit dem Vater, der Mutter und dem Bräutigam und sagte, sie möchten hereinkommen und möchten alles durchsuchen. Er selbst wolle draußen bleiben mit zwei der jungen Leute. Die Drei kamen, durch schnüffelten jeden Winkel des Gartens und der oberirdischen Behausungen, aber fanden das Mädchen nicht. Die Menge zog enttäuscht ab. Aber schon nach ein paar Stunden kam der Vater wieder und drohte: „Boote sind den Rhein hin untergegangen! Auf ihnen habt Ihr das Mädchen entführt, Ihr habt sie gestohlen!“ Thankmar tat ein übriges, er schwur dem Alten bei seinem Leben und bei dem Orakel, das eine Unwahrheit rächen sollte, wir hätten nichts mit dem Mädchen zu tun gehabt. Und um ihn zu versöhnen, schenkte er ihnen die erbetene Säge und zwei Äxte. Judith schüttelte den Kopf. „Klug hast Du gehandelt, 142
Thankmar, aber zu klug! Jetzt hast Du die Begierde dieser Menschen geweckt!“ Und so war es. Am nächsten Tage kamen Boten und for derten mehr. Zum Glück war nun alles so weit vorbereitet, daß Thankmar dem ein Nein entgegensetzen konnte. Wir bestiegen das große Flachboot, auf dem wir den Motor fest gemacht hatten, nahmen den Rest unserer Waren an Bord, und fuhren, indem wir ruderten, des Nachmittags den Rhein hinunter. Aber als wir die erste Biegung umschiffen wollten, sahen wir, daß uns zwölf Kähne der Eingeborenen entgegenkamen. Das bedeutete Kampf! Ich steuerte unser Boot. Schein bar ruderten wir noch, aber schon ließ Hurst die Maschine anlaufen, und ihr war es zu danken, daß wir, nachdem ein Hagel von Pfeilen und Speeren neben uns in den Rhein niedergegangen war, mit einer schnellen Wendung zwischen zwei Booten hindurchschlüpften. Das eine wurde am Hinter teil von unserm Steven getroffen, drehte sich und schlug um. So hatten wir Raum. Noch eine Pfeilsalve kam, aber wir hatten acht, duckten uns und ich querte den Strom. Wir beschleunigten den Lauf des Schiffes und zogen, jedenfalls zum Staunen der wilden Menschen, schneller flußab als sie es je gesehen. Als die Nacht uns aufnahm, durchfuhren wir das ganze Gebiet bis in das Wattenmeer. Hier sammelten wir uns zwischen den Seehundsinseln, musterten unsere Packen und überlegten. Thankmar riet: „Laßt uns die Boote teilen! In der näch 143
sten Nacht könnt Ihr mit dem Flachboot die Halbinsel Helgeland erreichen. Dort auf den roten Felsen haben wir einen Fischerhorst eingerichtet. Die Unsern werden Euch auf nehmen und Ihr könnt da in den Höhlen des Gesteins in Sicherheit verharren!“ Wir erreichten die Felsnase von Helgeland, die über Meer und flachen Sandboden, der mit groben Gräsern bedeckt war, emporragte wie eine Steilfeste aus alter Zeit. Weite, geräumige Höhlen befanden sich in dem roten Gestein, die den Boothia Felix-Leuten gehörten. Sie waren trocken und empfingen Licht durch große, wie es mir schien, natürliche Fenster in der Felswand. Feine Drähte waren davorge spannt, damit die Meervögel nicht hineinflögen. Hier konnte Judith, wohl verborgen vor den Augen der mit unsern Leuten Handel treibenden Bevölkerung, leben. Schien die Sonne, stieg sie auf einer eisernen Leiter hinauf zum Fels, auf dem sie ruhen und sich sonnen konnte. — Droben hatten wir einen weiten Ausblick, nach Osten die große Ebene, nach Norden und Westen das graue ruhige Haffmeer, aus dem hier und da kleine Düneninseln hervor ragten, umflattert von Möwen. Auch sahen wir viele See hunde, die um die Eilande spielten. Hier war die Nordsee ge wesen zu unserer Lebenszeit, und diese Veränderung des zum Haff gewordenen Nordmeeres war ein Symbol für die Veränderung der ganzen Menschenwelt. In jenen Tagen, da Druso die Erde eroberte und mit einer dem Monde glei chen magnetischen Kraft auf die Erde einwirkte, war es zu gewaltigen Veränderungen gekommen. So hatte sich das 144
Niveau der Nordsee gehoben, ein Zustand war hergestellt worden wie in einer ganz fernen Erdepoche. Aber mehr noch als diese neue, bedrängende Umwelt, die hier so sinnfällig für uns wurde, war unsere Erwartung um Judith. Hurst, Flius und ich bewunderten sie, weil ihre schwere Stunde erfolgen sollte fern von all der Fürsorge und Kunst der Zeit, in der ihr Kind empfangen ward. Ganz schweigsam war in diesen Tagen Thankmar. Eines Nachts, da ich nicht schlafen konnte, weil Judiths Atem schwer ging, stieg ich den Fels hinauf. Es war eine klare Nacht. Ich sah Thankmar, die Hände erhoben zum Aldebaran. Er betete. Als er sich umwandte, fuhr er mit der Hand über die Augen; er hatte geweint. „Was ist?“ fragte ich. Er antwortete: „Ich habe gebetet zu dem Träger des Himmelskreuzes! Ein Zeichen menschlicher Unerschöpflichkeit wäre es, wenn dieses Kind, das Judith erwartet, über die Jahrhunderte Lebenskraft gewinnt. Zu denken, ein Kind, das so lange im Schoße der Mutter geruht hat, das ist Gedanke der ewig in sich ruhenden Menschnatur selbst. Ein Wunder! Und wir brauchen Wunder! Brauchen das Unbegreifliche, weil uns nichts anderes aus der Ver strickung löst.“ — Und dann war es wirklich wie ein Wunder. Schmerzlos fast und ohne Mühe war dies Kind zur Welt gelangt, ein Mädchen! Am Morgen lag es neben Judith. Thankmar leistete Hilfe, da wir keine Frau hatten, die der Mutter zu Diensten sein konnte. Und nun lag sie da, aufatmend auf 145
ihrem Lager von Fellen und schaute aus dem Felsenfenster hinaus auf das graue Meer, dessen Schaumkronen in der Sonne aufleuchteten. „Ihr Lieben!“ sagte sie zu Hurst und Flius, die ihre Hände streichelten. Ich aber hielt ihren Kopf wie eine Schale, hinter ihr sitzend, in beiden Händen. Da hörten wir Schritte. Thankmar kam mit seinen Man nen. Sie warfen sich nieder und verehrten stumm Mutter und Kind, wie ein Göttliches. Judith aber sagte. „Unbe zwinglich ist der Menschen Art, und wir werden Herr wer den der Drusonen, wie wir Herr geworden sind anderer Naturmächte. Wir haben Niederlagen erlitten und immer den Sieg errungen. Wir sind gestorben in Geschlechtern und leben weiter in Geschlechtern. Wir tragen in uns den Gott, den unbezwinglichen.“ Dabei streiften ihre Augen das Kind, und wir wußten es, was sie als Gott fühlte: Das Leben selbst, das ewige, das wir weitergeben von Geschlecht zu Geschlecht. Es war ein Glück für uns, daß die Beobachtungsflüge der Drusonen nicht mehr in voller Stärke schwärmten. Durch genaue Beobachtung hatten wir festgestellt, daß diese Schwärme regelmäßig in drei Tagen wiederkehrten. Drum ward beschlossen, nach Norden durchzubrechen, am Abend des ersten Tages, wenn die Schwärme Helgeland passiert hatten. Unser Motor, der uns so gute Dienste geleistet hatte, wurde auf einem Schnellsegler eingebaut, der uns größere Bequemlichkeit und auch Sicherheit gegen den Wellenschlag 146
verhieß. Es war ein scharf geschnittenes Boot, das zur Sicherung noch einen Ausleger besaß. Aus solchen Booten hatten die alten Meerwanderer des untergegangenen Atlan tis Afrika umfahren. Als Erbgut waren sie in der Südsee geblieben, und um das Jahr 1000 nach der christlichen Zeit rechnung waren auf den gleichen scharf gebauten Kielen die Malaien aufgebrochen, um den Südsee-Archipel zu besetzen. Und ein solches Boot, das menschliche Übung wieder hatte er stehen lassen, trug uns hinaus zum Freiheitsland des Nordens. Wir brachten Judith, die Thankmar und seine Leute nur die Mutter-Göttin nannten, an Bord. Wie unbequem war die Enge dieses langgestreckten Schiffes gegen das, was unsere Verkehrsmaschinen vor dreihundert Jahren darstell ten! Und die See war rauh, stieß hart gegen den Steven des Bootes, das schäumend daherzog. Die mächtigen Segel nahmen den Wind voll auf. Wir ließen das Maschinchen laufen. Das Boot zog schnell durchs Meer, die mit uns flie genden Möwen überholend. Was für ein anderes Reisen war das als zu unserer Zeit. Tag und Nacht wechselten. Sechs Tage brauchten wir, während sich zu unserer Rechten hohe Bergkuppen mit Frühschnee zeigten und weite Felstäler öffneten; Norwegens Fjorde waren sich gleichgeblieben. Wir schliefen wenig. Das brausende Meer schien uns selbst im Traum wachzuhalten. Das Sonnenlicht war grausilbern; die Schatten der langen Winternacht des Nordlandes be gannen auf unseren Gemütern zu lasten. Niedriger schien der Himmel zu werden, grün und rot schimmerten die kleiner werdenden Sterne. 147
XII. Motto: Viel werther als Furcht ist fester Wille dem Reisebereiten. Auf Einen Tag ist mein Alter bestimmt, und das Loos meines Lebens. Edda, Schirners Fahrt. Liuwenhord, der Herrscher von Atlantis, empfängt die Geretteten und begrüßt Judith als Menschheits-Königin. Er tauft ihr Kind Urania. Er läßt sich Bericht erstatten. — Zweifel an der neuen Menschenerde. Judith allein ist stark durch das Kind. — Karaga, die Kraftstation in der Sage der Lappländer. — Liuwenhord stellt Flius vor die Aufgabe, Karaga wieder zu erschließen. Flius ist zermürbt im Gedenken an Maria Langland, aber Liuwenhord weiß ihn zu meistern.
Endlich, am achten Tage gelangten wir in eine Bucht. Wir sahen die Feuer einer Siedlung und wurden aufge nommen in einem schönen steinernen Bau. An einem offe nen Kaminfeuer in einer großen Halle stand ein mächtiger graublonder Mann. Seine starken blauen Augen wei teten sich, als wolle er uns ganz in sich aufnehmen, und er betrachtete mit ein wenig Hochmut Hurst, Flius und mich. Da ergriff Thankmar Judith bei der Hand und führte sie vor ihn. Der Mann, der uns gegenüber das Kinn gereckt und die Schultern zurückgenommen hatte, hob die Arme, dann sank er wie ein gefällter Baum auf beide Knie nieder
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und sagte. „Menschheits-Königin!“ Und er ergriff den Saum von Judiths Gewand und führte ihn an den Mund. Da nach stand er auf und seine Hand streichelte das Köpfchen des Kindes. „Urania soll sie heißen“, sagte er, „denn sie ist vom Himmel durch die Zeiten aus uns herabgekommen und soll werden die neue Menschheits-Königin!“ Dann reichte der Mann uns die Hand. Es war Liuwen hord, der Herr der Boothia Felix-Leute. In einem knapp anliegenden Gewande, ähnlich einem Jäger aus alten Tagen, stand er da. „Wärmt Euch, erquickt Euch und rastet!“ mahnte er. „In vier Tagen werden unsere Flieger uns in die „Letzte Heimat der Menschen“ bringen!“ Wir schauten befremdet einander an, bis Thankmar er klärte, daß Boothia Felix in der Staatssprache seiner Be wohner „Letzte Heimat der Menschen“ hieße. „Denn“, sagte er, „diese andern, die die Erde bevölkern, sind keine Men schen mehr!“ Und zum ersten Male wurden wir befallen von dem größten Problem, das sich uns stellen sollte für die Zu kunft: Was wird aus diesen andern von Menschensamen stammenden Geschöpfen werden, wenn wir die Erde frei machen von Druso? Liuwenhord war eine echte Häuptlingsnatur, ein Herr schermensch! Sein Name, der Löwenhaupt bedeutet, war wie das Panier seines Wesens. Zumeist saß er lauschend da, hörte schweigsam zu, aber seine graublauen Augen verrieten inneren Anteil und Mit arbeit. Er war gegen uns wie ein Vater. Mit einem jeden 149
war er auf Stunden zusammen, am liebsten auf einem Fuß marsch. „Wir wollen zusammen laufen!“ sagte er, und dann ging es im rüstigen Schritt durch diese einsame Landschaft der Zwergbirken und Wacholderbüsche. Erklommen wir einen Felsen, so sahen wir hinaus auf dieses unwirtliche, wie graues Eisen schimmernde Meer. Aber Liuwenhord sog den Wind ein und sagte: „Die Mutter atmet!“ Die Erde war seine Großmutter, der Erdentag sein großes Erlebnis, das Licht sein Gott! Druso war für ihn das schlechthin Böse. Hier hatten es sich Wesen vermessen, die Harmonie der Himmel zu stören. Er fühlte sich berufen als Befreier, denn er war tief davon überzeugt, der Erde sei unrecht geschehen. Aber Flius steckte Hurst mit seiner Meinung an: Warum sollten nicht andere Wesen, die es vermochten, ein größeres Recht auf Herrschaft haben als Menschen? Wir sprachen dies Problem durch als Wissenschaftler, als Menschen, die gewohnt waren, auch die andere Seite zu sehen. Wir saßen zumeist in Flius' Zimmer, und ich bekämpfte die Meinung dieser beiden Intellektuellen, die sich in alles hineindenken wollten, selbst in die „Seele“ der Drusonen. Hurst meinte, indem er den Standpunkt der Hoffnungslos keit annahm: „Es wäre doch so einfach, wenn die Mensch heit resignierte und wir allem Erdenleben den Tod versetzen. Wir könnten aufhören und die Drusonen mit uns. Nur in den Meerestiefen würden noch Protoplasmen und niedere Wesen zurückbleiben, und die können ja in den Jahrmillionen 150
von neuem anfangen!“ Und Flius pflichtete ihm mit Bitter keit bei: „Recht ist den Menschen geschehen! Haben sie sich ihr Herrschaftsgebiet, die Erde, abnehmen lassen, gut, dann sind sie ihrer nicht wert gewesen!“ Am siebenten Tage unseres Aufenthaltes geschah es, daß sich die beiden wieder einmal in ihre Hoffnungslosigkeiten verkrampften. Judith kam hinzu, ihr kleines Mädchen auf dem Arm. Wieder war das Wort gekommen: „Warum nicht ein Ende machen?“ — Da hatte Judith sich zur Wehr ge setzt: „Weil dies Kind hier es verbietet!“ Bei diesen Worten war Liuwenhord eingetreten. Er sagte nichts, er schaute Judith mit seinen Löwenaugen an, ging an das Lager Flius', hob diesen leicht gewordenen mit seinen mächtigen Armen aus und rief: „Wir müssen ihn zu Gott bringen!“ In der Tat hatte die Sonne zum ersten Mal wieder den Nebel durchbrochen, und so erschien dieses ganze Nordland, als wäre es aus Metall, aus rostigem Eisen, Bronze und Silber gebildet. Liuwenhord legte den Kranken auf einen Ruhestuhl, warf eine Pelzdecke über seine Füße und sagte, gegen die Sonne gewandt: „Wärme ihn, Gott, und erleuchte ihn!“ Uns Menschen einer wissenschaftlichen Gedankenwelt er schien das wie die Tat eines Mystikers, eines Dichters, eines Propheten. So mächtig war die unmittelbare Wirksam keit dieses Mannes, daß wir uns seinem Wesen nicht zu ent ziehen vermochten. Liuwenhord nahm ein starkes optisches Glas aus der Tasche und sagte: „Wir haben Fernsicht gegen die Südbai. 151
Die hier hausenden lappischen Jäger erzählen, dort wäre ein Tempel der Macht versunken. Diese Nachricht habe ich, trotzdem wir eine Siedlung hier besitzen, erst vor wenigen Tagen erhalten, denn diese ganze Gegend wird von den Stämmen gemieden auf Meilen im Umkreis. Sie sagen, wer sich der Südbai nähere, falle um und sei tot. Wir haben durch Jahrhunderte solche Gerüchte gesammelt, ge prüft und zumeist gefunden, etwas Wahres muß einer solchen Sage zugrunde liegen. Auch Eure Errettung ging auf sagenhafte Überlieferungen zurück. Erst danach haben wir den Tempel zu Aachen errechnet. Was nun wißt Ihr von dieser Südbai?“ Und er brachte uns den Band einer geographischen Erdbeschreibung aus unseren Tagen und wies auf die Landmarken der alten Zeit. „Seht“, sagte er, “hier hat sich in dreihundert Jahren die Erde gehoben, die Landmarken sind verändert, aber dennoch geblieben. Dort in der Südbai ist ein Platz verzeichnet, KaragaQueenshafen, Königinhafen also. Was wißt Ihr darüber?“ „Karaga!“ rief Flius, und zum ersten Male, seit er mit uns zusammen war, erwachte er zum Leben. „Dort habe ich meine Werkinspektion gehabt!“ „Was war das für ein Werk?“ fragte Liuwenhord. „Wir waren in einer Tiefe von achthundert und mehr Meter nach Durchstoßung eines großen Kohlenflötzes auf eine Tonschicht gestoßen, die stark radiumhaltig war. Diese wurde benutzt, um eine Kraftstation zu errichten.“ „Was für Kräfte?“ forschte Liuwenhord weiter. Und da Flius, in seine Erinnerungen versunken, mit abwesenden 152
Augen in die Ferne starrte, legte er ihm die Hand aus die Achsel und schüttelte ihn: „Sprecht das Wort aus, das ich erhoffe! Der Gott hat Euch erleuchtet!“ Verwirrt stammelte unser Gefährte: „Wir hatten dort eine Atomzertrümmerungsstätte gebaut. Wir konnten be liebig große Elektrizitätsmassen herstellen. Ihr wißt doch — oder ist es Euch nicht bekannt, wieviel Energien durch die Zertrümmerung eines Atoms allein frei werden?!“ „Danach haben wir gesucht durch Jahrhunderte!“ sagte Liuwenhord, „und das Licht hat uns Euch zurückgebracht, daß wir das finden, denn das ist die Befreiung der Erde, dies Wissen! ― Sternenjhelm, der Leiter unserer Himmelsbeobachtungs station hat mir erklärt, durch Atomzertrümmerung könnten wir soviel Kraft frei bekommen, um Druso abzuschütteln, und das andere wäre nur ein Spiel, die Orakelstätten zu vernichten, wenn wir den Stern abgeschüttelt hätten!“ Wir schauten uns an. Flius atmete tief auf. Er nahm das Glas und spähte hinüber zu der Südbai. „Ich erkenne die Double-Mountains“, sagte er bewegt. „In dem Sattel dort lag der Kraftort, denn Queenshafen war nur für an legende Schiffe und landende Flugmaschinen bestimmt. Der Kraftort war geheim. Niemand durfte dorthin. In einem Umkreise von vierzig Kilometern hatten wir eine elektrische Strahlensicherung eingebaut, die jede Annäherung unmög lich machte, ebenso hing eine Strahlenglocke über dem Kraft ort, so daß auch nicht von oben Unberufene herankommen durften.“ Und gedankenvoll fügte er hinzu: „Ich kann nicht 153
verstehen, daß die Ingenieure dort nicht alle Energien auf geboten haben, um Druso abzuwehren!“ „Hat Euch Thankmar nicht erzählt, daß diese Wesen vom Druso die Erde in Lügengewebe verstrickt hatten, ehe sie von ihr Besitz ergriffen? Nein, ich, der ich die Nachrichten durchforscht habe, kann es verstehen. Der Gedanke von Krieg war den Menschen jener Tage so fremd, daß es ihnen unmöglich war, an einen Überfall zu glauben. Sie schwelg ten alle in dem Gedanken einer nun kommenden Sternen kultur, wie sie es nannten. Durch diese ewige Friedenszeit muß eigentlich das Leben der Erde sehr langweilig geworden sein, habe ich mir oft vorgestellt. Die Menschen hatten, was sie brauchten, waren gut regiert, die Ungerechtigkeit war auf ein Minimum gesun ken, das kaum ausdenkbar ist. Die Erde war ein Rentenbesitz geworden. Wer zur Welt kam, hatte seinen Anteil am Leben und am Genuß, denn selbst die Arbeit muß diesen Menschen ein Genuß gewesen sein, weil sie eine Abwechslung war.“ Und er schloß: „Auf dieser Erde ohne Gefahr, ohne Willen und ohne Sehnsucht hätte ich nicht leben mögen!“ Wir Bürger einer anderen Welt sahen uns an. Hurst seufzte und gestand: „Ähnliches habe ich damals empfun den! Aber wir hatten soviel noch zu arbeiten und zu lösen! Die Kämpfe unserer Zeit fanden im Geiste der Wissenschaft statt!“ Liuwenhord nickte. „Ein solches Zeitalter wird einmal wiederkommen, aber mit einer anderen Spannung. Die Menschen werden nicht vergessen, daß ihnen einmal die 154
Erde geraubt worden ist! Und wir haben die Pflicht, sie frei zu machen, diese Erde den Menschen zu retten und Ihrem Kinde!“ Zärtlich legte er bei diesen Worten die Hand auf Judiths Kind. Nachdem Liuwenhord seinen Entschluß kundgegeben, sahen wir zu unserm Erstaunen Flius unruhig auf der Terrasse auf und ab laufen, abweisend gegen jeden den Kopf schüt teln, der ihn sprechen wollte, und zum Schluß das Haus ver lassen. Wir waren besorgt um den Gefährten; wenn es auch praktisch für ihn das Richtigste war, sich zu bewegen, um den Anstrengungen der kleinen Expedition gewachsen zu sein, so war doch sein Unterfangen bedenklich. Entgegen unserm Zureden hatte er die ganzen Tage nur liegend ver bracht, kaum daß er ein paar Schritte machte vom Bett zur Hängematte und von der Hängematte zum Bett. Sein Körperzustand war der denkbar schlechteste. Darum ging ich ihm nach. Ich sah, daß er den Strand aufsuchte, sich umwandte, unser Haus beobachtete. Dabei verhielt er sich nicht ruhig. Er ging aus und nieder, stolperte unbeholfen zwischen den Steinen des Ufers. Endlich wandte er sich nach rechts, klomm die Böschung hinauf und suchte einen Punkt auf, den unsere Leute das Weiße Kap nannten. Das war wohl eine Stunde Wegs. Ich folgte und beobachtete ihn durch das Glas. Endlich fand ich ihn oben aus dem Kap zwischen Steintrümmern liegen und schluchzen. Im Augenblick wäre ich gern wie Judith gewesen in ihrer Zuversicht, Güte, so aber wagte ich mich nicht an ihn heran. Ich ließ erst den Ausbruch, der ihn schüttelte, vorübergehen. 155
Dann sah ich, wie er sich aufrichtete und mit einer Be wegung der Hände den Horizont umgreifen wollte. Ich war auf der Hut und neben ihm, als er zusammenzubrechen drohte. Ich befreite ihn sofort von Schuhen und Strümpfen, massierte ihm die Füße, war ganz sachlicher Helfer, ohne ein Wort an ihn zu richten. Er wachte auf, sah mich an. Ich gab ihm ein das Sympathikussystem anregendes Medi kament und massierte seine Fußsohlen mit einem glatten Stein, denn der menschliche Körper ist ein Akkumulator, der geladen wird von der Erde aus, wie es einst Schleich gelehrt. Wir Menschen unserer Zeit wußten es längst, daß es nichts Besseres für die Erfrischung des Körpers gäbe, als auf einem nicht zu kalten rauhen Boden barfüßig spazierenzu gehen; Sohlenmassage ist ein Ersatz dafür. Flius verstand mich sofort. Er lächelte schwach. „Gänz liche Vernachlässigung!“ sagte er. „Du hast recht, aber ich war in einem Traumzustand, konnte nicht in dies Leben zurückfinden, das ja auch nicht mein Leben ist, oder —“ und so fuhr er auf, „ist es denn Euer Leben, das Ihr hier lebt? Seid Ihr nicht schmählich beraubt worden? Ja, frei lich, ich vergaß“ — und er wurde bitter, „Du hast Judith, Du hast ein Kind, und weißt vielleicht gar nicht, was dieses Gut bedeutet! Wie im Traum bin ich hierher zurückgelangt und wußte nicht aus und ein, ist es das alte Land oder nicht! Seht, hier auf diesem Kap stand eine kleine meteorologische Beobachtungswarte. Hier lernte ich Maria Langland ken nen. Aber Ihr erinnert Euch ja noch, wie unsere Frauen 156
aus edlem Geschlecht waren. Sie schoben eine Ehe hinaus, weil sie Probleme zu lösen hatten. Mit Marias Hilfe hatte ich begonnen über Atmosphärenchemie zu arbeiten, und ihrer Anregung verdankte ich meine besonderen Leistungen. Damals, auf unserer Fahrt nach Südamerika zu Dir, hoffte ich, die Freundschaft und Zuneigung, die aus dieser Arbeit entsprossen war, würde zu der Ehe führen, nach der ich mich sehnte. Und da mußte sie, die Geistige, die Feine, Deinen Freund, diesen Muskelmenschen finden, diesen Bergkletterer. Ich erlebte, wie sie mir verlorenging, Stunde um Stunde, Minute um Minute. Und als Letztes empfing ich die ironische Dornenkrone der Berufung zu unserer Expedition in die Zeit. Ursprünglich war ich der zweite auf der Liste gewesen, aber gerade die Arbeiten, die ich Maria verdankte, brachten mich auf den ersten Platz. Sie, die ich liebte, hatte mich hinausgehetzt und schrieb mir einen stolzen Brief, als meine Wahl bekannt ward. Jetzt komme ich hier her zurück in das graue Land, das mir damals golden schien, und alle Träume sind zerflattert. Die Erde selbst wird be herrscht nicht mehr von Menschen, sondern von einer Insek tenform! Und wir Menschen sind Wesen, die herabgedrückt sind in neue Tierheit! Weißt Du noch, Alf, wie wir über den alten Professor Seurat gespottet haben, wenn der auf der Sorbonne seinen berühmt gewordenen Satz aussprach, der jedes Semester wiederkehrte: Sie jungen Menschen glauben, die Erde wird von den Menschen beherrscht! Sie irren sich! Die Erde wird von den Insekten beherrscht, und wir Menschen sind auch 157
nur Ausbeutungsobjekte dieser Insekten! — — Das, was im wissenschaftlichen Scherz-Ernst damals gelehrt wurde, ist jetzt bittere Wirklichkeit geworden. Was sind wir Menschen? Warum haben wir gearbeitet?“ „Wir werden die Erde befreien von den Drusonen!“ ant wortete ich. Da lachte Flius. „Wirkt die Suggestion dieses Liuwen hord? Womit wollen wir befreien? Jene Atlantiker sitzen nun mit ihrer Hoffnung schon dreihundert Jahre in ihren Erdfalten des Boothia Felix-Landes und sorgen sich um Be freiung!“ „Was sind dreihundert Jahre im Leben der Menschheit!“ rief ich. Flius wandte sich ab. „Du willst mich nicht verstehen!“ Wir waren während des Gesprächs gegangen. Ich mußte ihn öfter stützen und war froh, als ich drunten am Gestade unser Meerboot in Sicht bekam. Judith saß am Steuer; Hurst stand am Steven. Da das Meer an den Felsen scharf abfiel, konnte das Boot einlaufen in eine Felsenzange, und mit einiger Mühe gelang es mir, Flius an Bord zu bergen. Der ungewohnte Gang und die Aufregung hatten ihn müde gemacht, und Judith gab ihm ein Glas Fruchtsaft. Er trank es aus, streckte sich, wir schützten ihn gegen das letzte Licht des Tages, und er schlief alsbald ein. Liuwenhord suchte ihn am Abend auf und belobte ihn in unserer Gegenwart. „Es ist gut, daß Ihr Euren Körper tüchtig machen wollt, denn Ihr werdet unser Führer sein, da Ihr den alten Platz gekannt habt.“ 158
Flius wurde blaß. „Der Führer sein?!“ fragte er. „Gewiß“, sagte Liuwenhord, „Ihr werdet uns helfen, damit wir in unserer Unkenntnis nichts verderben! Hätten wir einen Führer gehabt, wie Euch, wären mehr von Euren Gefährten am Leben erhalten geblieben.“ Als Liuwenhord gegangen war, seufzte Flius. „Was ist das für eine Welt, die fordert und immer nur fordert!“
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XIII. Motto: Denn ich bin ein Mensch gewesen, Und das heißt ein Kämpfer sein! Goethe, Gedichte.
18./19. Jahrhundert.
Judiths Stärke. Liuwenhord fügt die drei geretteten Männer in die Lebensgemeinschaft der Atlantiker ein. Die Sonnen- und Ster nenreligion der Atlantiker. Liuwenhords Führerschaft. Das Mutter recht. Expedition nach Karaga. Flius beginnt aufzuleben. Selt same Funde. Flius erkennt die alten Plätze wieder und findet das, was von Maria Langland übrigblieb.
Ich hatte mit Judith eine lange Unterredung. „Woher kommt es“, fragte ich sie, „daß wir Männer in diesem neuen Leben stehen wie Bäume, die man aus dem Erdreich genom men hat und nun zu vertrocknen beginnen, während Du Dich eingefügt hast in diese neue Welt?“ „Ich bin die neue Welt!“ sagte Judith. „Ich habe das Kind! Liuwenhord hat das ausgesprochen und in mir ge löst, was noch verstockt war. Laß nur die andern, für sie sind diese Männer von Boothia Felix ohne Bedeutung, denn Euer Denken ist feiner, Ihr seid ihnen überlegen. Aber die Atlantiker haben eins vor Euch voraus, sie leben einer für den andern, sie sind froh, Euch als Führer zu haben. Sie wollen die Befreiung dieser Erde, sie sind voll von einem großen Gefühle! Aber Ihr, entkleidet von Eurer Lebensgewohnheit, seid aufgewacht in der Enttäuschung! Ihr wolltet, wie jene andern Übermittler unserer Zeit geben, aber auch nehmen! Ihr wolltet das Leben der Erde 160
mit neuer Gewalt beginnen, neu hinzulernen, hundert Jahre überspringen. Nun seid Ihr erwacht, und das Rad der Zeit hat rückgedreht, und Ihr seid noch nicht zu dem Willen des Menschen gelangt, zu kämpfen, nach vorn zu drängen. Aber das alles wird sich wenden, wenn Ihr in der Verbundenheit mit den andern lebt, eingeordnet seid, geben könnt, aber auch nehmen. Dazu aber braucht Ihr die Frauen. Das heißt“ — und sie breitete die Arme aus, „Du hast ja mich!“ Aber sie hatte dennoch recht. Auch Judith war nur dann eine volle Frau für mich, wenn andere Frauen dabei waren. Einsam leben ist schön, wenn du eine Welt dahinten weißt. Aber einsam leben, ohne eine Welt hinter dir zu wissen, das ist, um die Seele zerfrieren zu lassen. Liuwenhord schien selbst sich darüber klar zu sein, was uns fehlte, wessen wir bedurften. Er ordnete an, daß die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen würden. Bisher waren wir unter uns und abgeschieden geblieben. Thank mar hatte uns wie Häuptlinge oder Götter verehrt. Jetzt lernten wir mehr kennen in zwei oder drei Tagen der Vor bereitung zur Expedition von dem Wesen der neuen Men schen, als in den Wochen zuvor. Wir mußten teilnehmen an den körperlichen Übungen, bei Tisch erfuhren wir Nach richten aus Voothia Felix, die uns durch die nächtens ge kommene Luftseglerflotte vermittelt wurden. Hurst fand eine neue Aufgabe. Er untersuchte die Ma schinen, begann sie zu verbessern. Um ihn versammelte sich ein fröhlicher Kreis von Arbeitenden, und Hurst wurde 161
frisch und lebendig. Ich sah, wie Liuwenhord ihn mit freu digen Blicken musterte. Er sagte zu mir: „Ihr werdet alle die Stockung der Seele überwinden, die noch in Euch ist, wie Hurst! Eine Aufgabe haben, heißt Mensch sein!“ Das, was aus Boothia Felix an Nachrichten kam, erschien uns ähnlich den Nachrichten einer unserer kleineren Städte der früheren Zeit. Es war von Kampfspielen die Rede, von sportlichen Rekorden, und wir stellten fest, daß die Leichtathleten unserer Zeit besser gewesen waren. Wir konnten es uns auch erklären, denn zu unserer Zeit hatte Spezialistentum geherrscht, wenn auch Ansätze vorhanden waren, den harmonischen Athleten zu züchten. Draußen in Boothia Felix wurde nur eine Gesamtleistung gewertet, wie in den alten olympischen Spielen der Griechen. Aber was uns auffiel, war ein Wort, wie „Der hohe Rat der Mütter hat beschlossen“, oder Aufruf einer Frau, die als Priesterin des inneren Tempels sprach. Es war eine Er mahnungsrede, die uns selbst betraf. Die Mütter erwarte ten, daß die Söhne mehr von sich verlangten, da die Be freiung der Erde näher gerückt sei durch die Erweckung der Schläfer im Sonnentempel zu Aachen. Uns wurde nun bestätigt, was wir schon vorher wußten, daß alle Kulthandlungen dieser atlantischen Menschen Be zug hatten auf die Sonne. Sie war nach uraltem Sprach gebrauche des Nordens die große Mutter geworden, auch der Erde. Und unsere Schlafburg zu Aachen wurde als Sonnentempel aufgefaßt, weil sie neues Licht brachte für die Menschheit. Aber darüber hinaus hörten wir von einem 162
Künder des großen „Es“. Dieser Künder war Ferryman, jener junge Mensch, der vor dem Tage der Abfahrt Judith vor dem Kathedralentore angesprochen, den wir als einen Besessenen innerlich verspottet hatten. Des weiteren vernahmen wir, daß sich die gesamte Ge setzgebung und Einstellung der Menschen ins Mutterrecht gewandelt hatte. Liuwenhord erklärte es uns selbst. „Alles was geschieht, um die Erde frei zu machen, alle diese Kräfte, die sich nach außen richten, betreffen die Männer. Bei der geringen Zahl von Menschen, die die große Ausgabe unter nehmen müssen, bleibt von Männerkraft und Arbeit wenig mehr übrig für den inneren Ausbau des Menschenstaates aus Boothia Felix. Es war nur eine Folge der Gerechtig keit und Anerkennung des bestehenden Zustandes, daß wir die innere Leitung den Frauen überließen. Wir leben droben in unseren Höhlen wie ein Heer vor dem Aufbruch. Die Männer sind die Soldaten, die Frauen aber sind Hel ferinnen und Gebärerinnen des Heervolkes. Ich bin der Führer, der Herrscher über die junge Mann schaft, solange ich’s kann. Werde ich zu alt, ersetzt mich ein anderer, und ich nehme meinen Sitz ein unter den beraten den Greisen. Jede meiner Handlungen, in denen das Leben der jungen Mannschaft aufs Spiel gesetzt wird, habe ich zu verantworten vor dem hohen Rat der Mütter, denn sie, die das Leben geben, haben wahrlich Anspruch auf einen Rechenschaftsbericht über das Leben!“ Judith erinnerte: „Nach unseren Forschungen hat vor Jahrtausenden eine Lichtreligion bestanden, in der auch die 163
Frauen die Führerinnen waren. Das war die Zeit, als die alten Atlantiker auszogen aus dem Norden, dem Paradies der Seelen, wie es einer unserer Dichter genannt hat, um die Erdenfahrt anzutreten. Es waren die ersten seefahren den Völker, und Eure Segelboote haben uns seltsam an sie erinnert.“ „Unsere Segelboote“, erklärte Liuwenhord, „sind so ge baut, damit sie den Drusonen nicht auffallen. Wir besitzen auch Boote mit Maschinenkraft, und wir vermögen sogar unter dem Wasser des Meeres zu fahren. Denn auf der Nordstation haben uns die Vorfahren diese Wunder ihrer Technik für die Meeresforschung hinterlassen, und heute sind diese Boote notwendig für die Erdenmenschheit, wenn sie in die Meere des Äquators vorstoßen will. Hier im Norden setzen wir sie nicht aufs Spiel ohne großen Nutzen, denn Ihr müßt bedenken, alles was wir wissen und können, muß verborgen bleiben. Das ist eine Politik, die wir in den letzten Jahrhunderten gelernt haben. Würden die Drusonen eine einzige sinnreiche Maschine erbeuten, wäre unser gan zes Dasein gefährdet, vielleicht schon erloschen.“ „Habt Ihr Stützpunkte in der äquatorialen Zone?“ fragte ich. Wir hörten nun, daß einige Inseln, die durch das Zeit geschehen verödet waren, von seefahrenden Atlantikern in Besitz genommen waren, so die Falklande, die Galapagos, einige Eilande am Rande des Südpolarmeeres und vor allem St. Helena. „Wir sind dort sicher“, erklärte Liuwenhord, „denn Groß 164
schiffahrt treiben nur die Drusonen, und um diese entlege nen Inseln kümmern sie sich nicht. Uns sind sie notwendig, die Ernährung zu verbessern.“ Liuwenhord war Menschenkenner genug, um zu wissen, daß wir nicht Geschöpfe waren, denen er seine eigene ge waltige Willenskraft bloß einzublasen brauchte. Er wirkte, um im Gleichnis zu sprechen, rund von allen Seiten auf uns ein. Der Montag war festgesetzt, die Expedition nach der Süd bai zu unternehmen. Am Sonntag wurden wir nach dem Frühstück versammelt in der großen Halle. Durch einiges Grün hatte sie festlichen Schmuck gewonnen. Was uns aber vor allem auffiel, war ein silbernes Menschenbild, das auf einem Altar stand, mit ausgebreiteten Armen, hinter ihm ein Kreuz. Soviel wußten wir, daß dies Bild nicht den Gottessohn aus Galiläa darstellte, den die Atlantiker unter sich den Wiederverkünder nannten. Diese Figur, die von einer seltenen Reinheit und Schönheit war, sollte den Licht bringer darstellen, den uralten, ewig wiederkehrenden, der nach der atlantischen Sage auch in dem Zimmermannssohne aus Galiläa seinen Geist hatte sprechen lassen. Am heutigen Tage nun erlebten wir eine erste religiöse Sammlung. Liuwenhord selbst hielt die Feier ab. Er trat vor uns hin, nicht in einem priesterlichen Gewande, aber seine ganze Hal tung verhieß Feierlichkeit. Und er sprach: „Auf, stärket Eure Seelen! Laßt uns unsere Gedanken zu ihm neigen, der uns Menschen Sinngeber dieser Welt ist und Ordner. Väter und Vorväter haben nach ihm getrachtet und sich zer martert, ihm einen Namen zu geben. Gott haben wir ihn 165
zum Ende also wieder benannt, wie ihn jene Menschen nannten, die in der Urzeit ihn im Lichte erkannten. Gott! Lichtbringer! Held! wollen wir ihn nennen, wie Ferryman es tat! Ihn laßt uns künden, der die Tage nicht einzeln sieht, sondern zusammen, dem die Räume nicht getrennt find, sondern ein einzelner, der uns das Wunder gezeigt hat, indem er uns über die Zeiten sandte die Väter, die Mutter und das Kind, die Ihr hier vor Euch seht!“ Und er legte Zeugnis ab von Gott und von seinem Glau ben an die Menschheit, daß es uns ergriff und wir eins wurden mit seinen Gedanken. Flius sagte leise, indem er sich zu Judith wandte: „Altes Menschengut ward wieder lebendig! Was ist Wissen, Technik und Erkenntnis gegen das Fühlen, das sich in den Visionen der Menschen des Glaubens ballt!“ Judith sah mich an. Ich nickte. „Wie haben wir über diesen Fährmann gelächelt, und heute fahren wir in seinem Boot über das Meer einer neuen Menschheitszeit!“ sprach es aus mir. — Liuwenhord, Thankmar, Flius, Hurst und ich bestiegen mit vierundzwanzig Atlantikern unser Rennboot und leg ten in zwei Stunden die Entfernung zur Südbai zurück. Das Wasser war still und durchsichtig, da der Fluß in der fast geschlossenen Bai das Salzwasser zum guten Teile ver drängte. Wir sahen einen flachen Strand. Auf ihm war aufgehöht eine seltsame Gesteinsformation, zwei schmale Hügelketten, nicht höher als zwei oder drei Meter. Flius' Gesicht hatte einen qualvollen Ausdruck angenom men. „Das Land hat sich verändert!" seufzte er. 166
Da sprach Hurst: „Sollte das da drüben nicht die alte Hafenanlage gewesen sein? Die verwitterten Zementmolen der Vorzeit?“ „Jetzt kenne ich’s wieder“, sagte Flius, „wir wollen an der Westmole landen!“ Wir mußten das Boot mit Ankern festmachen und durch das flache Wasser waten. Flius ging, und zwar mit ge schlossenen Augen, die Mole hinunter, wandte sich zur Lin ken und sagte. „Hier nun war die große Treppe zum Plateau!“ Vor uns war ein Geröll. Wir erkannten Bruch stücke alten Mauerwerks, doch Liuwenhord gab Befehl an seine Gefolgschaft. Ein paar der jungen Leute schlugen Bolzen ein und kletterten gewandt die Höhe von fünfzig Meter empor. Ein Tau ward herabgelassen. An ihm stie gen auch wir hinauf. Hurst zog den elektrischen Kräftemesser aus der Tasche und stellte fest: „Keinerlei Energie ist vorhanden! Wir können ohne Gefährdung vorwärts!“ Liuwenhord besah das Instrument und ließ sich seinen Gebrauch von Hurst erklären. Er sagte: „Ein paar Jahr hunderte muß die elektrische Sicherung dieses Landes be standen haben, sonst würden die Lappländer Jäger es nicht so ängstlich meiden!“ „Hier war der Weg!“ rief Flius, indem er wieder die Augen schloß. „Zweihundert Meter einwärts war die große Funkstation!" Nichts zeugte mehr davon. Er sah sich um. “Sonderbar, hier ist der ganze Boden zerklüftet! Das alles war vordem mit Granitplatten belegt!“ 167
Wir suchten weiter und schauten in einen ungeheuren Trichter hinab. Zweihundert Meter fast fiel die Erde hin unter in eine kraterartige Mulde. „Erdbeben?“ fragte Thankmar. „Nein“, rief ich, „das sind keine Feuersteine, das sind keine Zeichen, das ist keine Lava! Es muß etwas anderes hier gewesen sein, vielleicht hat ein Kampf stattgefunden mit Drusonen!“ Liuwenhord schüttelte den Kopf: „Wir kennen die Spuren der Kampfmittel der Drusonen. Es sind Gase, die sich mit der Erde verbinden und sie in Brei verwandeln. Auf Boo thia Felix wurden unsere Vorfahren vor der Vernichtung nur dadurch bewahrt, daß das kalte Gestein und das Eis die Vernichtung aufhielten. Kommt Ihr zu uns hinauf, könnt Ihr die Spuren jenes alten Angriffs auf der West küste noch sehen.“ Wir umschritten in einer Stunde wohl die kreisförmige Mulde, ehe wir zur andern Seite gelangten. „Hier gab es vordem eine Erdfalte!“ stellte Flius fest. “Und darinnen lag gut geschützt vor den nördlichen Winden die Station!“ Die Erdfalte zeigte sich. Sie war ausgefüllt mit Brom beer- und Birkengestrüpp; es war undurchdringlich fast. Die Gefolgschaft hieb mit kleinen Äxten einen Weg hinunter. Am Ende des Nachmittags erreichten wir den Grund und sahen merkwürdige Gebilde, kleine Hügel, ganz überwuchert von Heidekraut, Brombeeren und Wurzelwerk. „Hier muß es sein!“ sagte Flius hoffnungsvoll. 168
Ein paar der Atlantiker begannen die Pflanzenumklei dung abzuschälen, Wand kam zum Vorschein aus Granit, und da eine Öffnung, ein Fenster! Wir hoben Flius hinein. Es begann zu rascheln; Dohlen stießen hinaus. „Es ist die Krankenstation!“ rief er von drinnen. „Ich bin im Ordinationszimmer des Arztes. Melburne hieß er. Seine nichtrostenden Instrumente liegen unversehrt im Schrank. Es muß eine Katastrophe hereingebrochen sein über den Platz. Geht außen herum, ich werde an der Tür klopfen. Macht sie frei. Von da aus finde ich weiter den Weg zur Hauptstation.“ Wir hörten im Innern des verwunschenen Hauses das Pochen, umgingen das Gebäude, und die Gefolgschaft machte schnell die Tür frei. Über anderthalb Meter Pflan zendecke war zu entfernen. Flius kam geisterhaft blaß zum Vorschein. „Die Betten“, meldete er, „sind zwar verrottet und zerfallen, aber die Ge stelle stehen noch wie Gerippe da!“ Und er zeigte uns die Krankenräume, das Schlafzimmer des Arztes. Die Möbel, aus Metall und Glas, hatten standgehalten, die sehr solide Bauart unserer Tage, nichtrostender Metallfußboden, fest gefügte Wände bewiesen ihre Vorzüge. Liuwenhord lobte: „Diese Station wird uns von Nutzen sein!“ Indessen mußten wir Flius laben. Die innere Erregung hatte ihn schwach gemacht. Bald aber raffte er sich wieder auf und schritt erregt rechts am Hause entlang, durch Ge 169
strüpp und Geröll, wandte sich dann scharf nach links. Wir gelangten vor einen anderen, höheren Hügel. „Hier ist das Tor!“ rief er heiser. Ein paar Stufen wur den freigelegt. Die Gefolgschaft arbeitete in erregter Hast. Es war Entdeckungsfieber, das uns alle schüttelte. Eine große Stahlpforte ward freigelegt, vor der wir hilflos stan den, da sie von innen verschlossen war. „Über der Pforte ist eine Terrasse. Von da aus geht es in den Versammlungsraum! Hinauf!“ befahl Flius. Die jungen Männer turnten empor. Wir hörten die Beile sausen, die Messer knirschen, große Stücke morschen Holzes und Fetzen frischen Holzes fielen herunter. Wir wurden hinaufgehißt. Flius ging voran durch die schwere gläserne Pforte. Eine seltsam trockene Luft nahm uns auf. Liuwenhord sah sich um. „Was ist in den Schränken?“ „Die Protokolle der Station über Wetter, Meerbeobach tung und die gesamten elektrischen Bewegungen der Erd ströme!“ Flius eilte weiter. Er wandte sich nach rechts. Wir kamen in einen Gang, der völlig verdunkelt war. Unsere Begleiter entzündeten kleine elektrische Laternen. Flius stürmte voraus. An der letzten Tür des Ganges zauderte er. Endlich öffnete er sie mit einem gewaltsamen Ruck. Wir befanden uns in einem Arbeitsraum, der mit Stahlmöbeln ausgestattet war. Tafeln wissenschaftlicher Kurse streifte der tastende Lichtfinger der Laternen an den Wänden. Ein Schreibtisch stand da mit einer Maschine zum Schreiben. Mappen, die verdorrt schienen durch das Alter, 170
lagen daraus. Die Lichtfinger tasteten weiter und ver einigten sich auf einem Ruhebett, einem dieser leichten Stahlrohrgestelle, die so gut federten. Daraus waren zu sehen die Reste einer Decke und eingesunkene Polster, und dazwischen schimmerte etwas Bräunliches. Flius brach zusammen. Wir traten näher und sahen in den Resten eines ehemals weißen Leinengewandes den mumifizierten Körper einer Frau. Der Kopf erinnerte an den einer Eule. Darüber hing das kastanienbraune Haar, wohlerhalten. Flius, den wir ausrichteten und zu dem Schreibtischsessel führten, starrte vor sich hin und rief: „So muß ich Dich wiedersehen, Maria! So!“ — Hurst, der immer ruhige, konnte die Tränen nicht aus halten. Er trat an den Schreibtisch und zog, um etwas zu tun, eine Schublade aus. Ich trat hinzu, da auch ich nicht Herr meiner Gefühle werden konnte. Von ungefähr nahm ich die Blätter heraus. Es war das zähe Dokumenten papier unserer Regierung, die Schriftzüge darauf fast er loschen. Hurst riß ein Blatt empor und hielt die Lampe da gegen. Ja, die scharfen Tasten der Maschine hatten sich ab gedrückt, und wir lasen, indem wir die Worte laut vor uns hersagten: „Heute wird es zu Ende gehen. Ich hoffe auf Freiheit! Fände einer nur diese Blätter!“ „Was bedeutet das?“ fragte Liuwenhord. Hurst, der andere Blätter schnell vor dem Lichte passieren ließ, sagten „Die Lösung! Der letzte Kampf der Station! Diese Frau dort war eine Heldin!“ 171
XIV. Motto: So ist es zu verstehen: die Seele ist das Gottesreich. Dies sollte alle unsere Sorge und all unser Suchen sein: wie wir zu erkennen fähig würden die Herrlichkeit Gottes und die Herrlich keit der Seele! Aus Meister Eckeharts Schriften. 13/14. Jahrh. Karaga wird weiter durchsucht. Die Atomzertrümmerungsmaschinen werden gefunden. Die Rettung der Erde gewinnt im Plane festere Gestalt. Abfahrt nach Boothia Felix. Ehrung des Nordpols. Lan dung im Eise. Die Stadt unter der Erde. Der unterirdische Tempel. Das Fest der großen Mutter. Die Ehrung Alf Bentinks. Hurst gibt Kunde vom Tagebuch der Maria Langland. Er verliest ihren Bericht von der Eroberung der Erde durch Druso.
Wir verbrachten eine schlaflose Nacht. Flius, der fieberte, bedurfte unserer Pflege. Frühzeitig machten wir uns an die weitere Sucharbeit. Am Nachmittag des nächsten Tages konnte uns Hurst verkünden, er habe vier wohlerhaltene Atomzertrümmerungsmaschinen gefunden. Liuwenhord ließ sich genauen Bericht erstatten über die einzelnen Funde. Ein Teil wurde eingepackt und zu unserer Station hinübergeschafft, ein Teil blieb an Ort und Stelle. „Wir können das Material hier brauchen“, entschied Liuwenhord, „hier soll ein Kraftdepot bleiben!“ Hurst hatte sich inzwischen darangemacht, die Dokumente der Maria Langland-Hochkofler zu übertragen. Aber trotz 172
unseres Drängens gab er nichts kund. „Später“, vertröstete er, „sollt Ihr die Sage über den letzten Kampf der Erde hören! Flius könnte jetzt daran sterben!“ Liuwenhord und Thankmar gaben ihm recht. Eine der Großmaschinen, die zu unserer Zeit den schnellen Erdflügen gedient hatte, war in der Nacht gelandet. Hurst freute sich, als er die mächtigen Motore sah. Thankmar er klärte, daß der Gebrauch sehr eingeschränkt werden müßte, weil es schwierig sei, den besonderen Brennstoff herzustellen. „Habt Ihr keine Kohlen?“ fragte Flius. Thankmar nickte. Der Chemiker erwiderte: „Es wird uns ein leichtes sein, was uns fehlt aus der Kohle zu ge winnen!“ — Danach kam Liuwenhords Entscheidung: „Wir brechen nächste Nacht nach Boothia Felix-Land auf!“ — — Der riesige Flugwal rauschte durch die Luft. Wir sahen unter uns die Schollenmassen des Packeises, diese Wüsten des Nordens, die Menschen durchwandert hatten in Urzeiten mit Hunden und Schlitten. Wir neigten uns vor diesen Heroen der Arktis Nansen, Johannsen, Peary, Amundsen. „Jetzt stehen wir über dem Pol!“ meldete der Navigator. Liuwenhord nahm seine Mütze ab. Wir entblößten die Häupter, wir ehrten diesen Ideenpunkt der Menschheit. — Auf einem kleinen See im Eise gingen wir nieder. Filz stiefel wurden uns gegeben, Pelzmäntel angelegt. Ein Motorboot nahm uns auf. Geräuschlos fuhren wir in eine Eisrinne und traten in eine Grotte aus Eis, wie es schien. „Glas!“ erklärte Thankmar, der uns führte. Es war die 173
Verkleidung eines Ganges, der in den Berg getrieben war. Wir gelangten in eine Galerie, bestiegen eine Art Berg werkszug und fuhren sanft hinab in eine mäßige Tiefe. Der Erdboden öffnete sich, rechts und links sahen wir Wände, aus denen Fenster leuchteten. Ein anderer Zug, ähnlich dem unsern, kam uns entgegen. Plötzlich erscholl ein Jubelge schrei. Liuwenhord machte ein ernstes Gesicht. „Sie sollten es doch nicht wissen!“ sagte er zu einem unserer neuen Be gleiter. Der antwortete etwas, Liuwenhord ließ die Fahrt beschleunigen. Nach einer Stunde hielten wir in einer klei nen Halle aus Stahl. Wir stiegen aus, wurden begrüßt, gelangten mit einem Aufzug in irgendeine Höhe. Wir wur den voneinander getrennt. Thankmar geleitete Judith und mich in eine Art Wohnung, die aus vier Zimmern bestand. Er machte uns daraus aufmerksam, wie wir durch Hand griffe frische Luft, geheizte Luft, frisches Wasser, kaltes Wasser uns selbst verschaffen konnten. Ein Signal war für die Dienerschaft in unserer Sprache geschrieben, neben der atlantischen war eine kleine Knopfregistratur. Jeder Druck ließ erscheinen, was wir brauchten. Es war ganz das System unserer großen Reisehotels. Aber die Einrichtung der Zimmer berührte uns besonders angenehm. Es waren Möbel aus unserer Zeit, oder ihnen nachgebildet. Wie wohl tat es uns, auf einmal in einem Raum zu sein, der unser war in seinen Formen, in der Erinnerung! Judith dankte. Sie war besorgt um Urania, die noch unter den Nachwirkungen des Fluges litt und ganz taumlig war. 174
Wir waren allein, und hatten zum ersten Mal seit dem Erwachen das Gefühl, wir könnten einander gehören. Wir saßen auf einem Ruhelager, daraus das Kind gebettet war. In diesem seltsamsten Augenblick unseres Lebens fanden wir keine Worte, es sei denn das eine, das Judith sprach, als sie ausstand: „Es ist kein Märchen, es ist kein Traum! Es ist hartes Leben, das alles von uns fordert!“ Aber damit waren wir schon wieder im Übergang, be gannen nachzudenken. „Was ist meine Ausgabe?“ fragte Judith. „Was die Deine? Hurst und Flius haben ihren Pflichtenkreis, aber Du, wo ist Dein Südamerika, dessen Forsten Du verwalten kannst? Und ich, was ist mit mir? Wo ist mein Sozialamt, in dem ich zu schaffen habe?“ — — Und wieder war es Liuwenhord, der uns die Antwort gab: “Die große Mutter wird von ihrem Volk erwartet! Und der Kämpfer, der uns Klarheit verschafft hat über die schwarzen Flugwachen, hat schon bewiesen, zu welcher Auf gabe er uns gesandt ward. Vernichtung der Feinde!“ Wir beide schauten auf, sahen in Liuwenhords uner bittliches Kriegergesicht. Hinter ihm stand ein schönes zier liches Mädchen, das in all seiner Weichheit und Milde ihm glich, wie ein junger Apfelstamm einem alten gleichen kann. “Hilfe für das Kind! Meine Tochter Irmfried!“ sagte der Recke. Wir sahen, daß das Mädchen ein Gewand im Arm hielt. Sie breitete es aus auf dem Diwan, und Liuwenhord er klärte: „Das Festgewand zur Feier im Tempel! Wir ver 175
ehren die große Mutter, die Kommen und Gehen des Licht sohnes bewacht, des Jahresgottes wie Ihr ja wißt. Frauen gebunden ist unsere heutige Erde. Und Dir kommt die Lei tung zu als der Frau, die am meisten erfahren hat von allen. Denn Du hast geboren in unsere Zeit, was Du emp fangen hast in der Zeit der Vorväter!“ Ungeheuer erschien uns der unterirdische Tempel, dessen Kuppel aus dem Gestein der Erde selbst gewachsen war. Da es nicht die Lichtverschwendung unserer Tage gab, son dern nur im Kranz in der Ferne Lichter glommen und oben kleinere Lichter, die den Sternenhimmel darstellten, so hatten wir das Gefühl eines ungeheuren Raumes, groß wie der Nachthimmel der Erde selbst. Einem Priester gleich kam Liuwenhord, stand in der Mitte des Raumes, erhöht, beleuchtet vom Licht. Und er kündete, während wir noch im Dunkel standen und harrten auf einer erhöhten Plattform, das Gebet: „Es kreist die Sonne Um unsere Erde — so scheint es. Aber die Erde — sie dient der Sonne selbst. Aus dem Dunkel der Nacht tritt der Jahressohn des Lichts, Wandert hinüber ins Dunkel und kehrt zurück. So kehrt alles zurück, Ihr Menschen, Und alles bleibt ewig! Hütet Euch vor schlechten Gedanken, Hütet Euch vor schlechten Taten. Hütet Euch vor schlechten Worten, Denn sie sind ewig. 176
Wir waren frei und sind unfrei,
Wir werden frei, weil wir es waren!
Ein Zeichen ward uns gegeben!
Über die Brücke der Zeiten von dreihundert Jahren
Sind zu uns zurückgewandert die Ahnen.
Sie haben mit sich geführt
Die große Mutter mit ihrem Kind,
Das geboren ward in unsere Zeit!
Ein Zeichen, daß wir frei werden!
Sie stammen aus dem Geschlecht, das frei war
Und die Freiheit verlor,
Und wurden neu hineingeboren
In unser Geschlecht,
Das frei sein wird!“ — — —
Und geleitet von einem Lichtkegel trat er langsam durch das große Dunkel hinüber zu unserer Estrade. Plötzlich er strahlten wir im Licht. Erhöht zwischen uns saß Judith in dem weißen mit Gold und Rubinen geschmückten Gewande, das Haupt verschleiert, ein Bild einer Göttin gleich, und hielt in ihren Händen das Kind. Um sie floß der blaue Mantel des Lichts, der innen ausgeschlagen war mit Rot, der Farbe des Blutes, der Liebe, des Lebens. — Ein Rau schen ging durch den Saal. Alle knieten sie nieder und riefen: „Bring Deinen Kindern Freiheit, große Mutter! Freiheit!“ Wieder wanderte der Lichtkreis. Befestigt auf einem un geheuren silbergleißenden Schilde waren die Metallkörper der Wachtkäfer und in der Mitte nachgebildet der des leben 177
digen Wächters. Nie war mir so angst, als mich plötzlich Liuwenhord zur Seite dieser seltsamen Jagdbeute stellte und rief. „Der Krieger! Der Überwinder, der uns gesandt ward!“ Ich wollte abwehren, aber Judith bedeutete mir durch einen Blick, zu stehen. Mir war es vor Scham, als zer schmölzen meine Knie in Wachs. Dann ward es dunkel um uns, wir wurden fortgeführt und kamen in einen Raum, in dem saßen ringsum auf Bänken Frauen und Männer. In kurzen Worten schilderte Thankmar das, was er und seine Gefolgschaft geleistet. Zum ersten Male vernahmen wir selbst die ganze Vorge schichte unserer Errettung. In wenig Worten wußte der Alte alles gut zu gestalten. Dann berichtete Liuwenhord selbst vom Auffinden der wichtigen Kräftemaschinen und den neuen Funden aus den Arbeiten unserer Vorväter, und schließlich wandte er sich an Hurst. Der trat vor und las die Geschichte des letzten Kampfes der Menschheit, aufgeschrieben von der tapferen Frau, die wir als Mumie gefunden! 24. Mai: Druso nähert sich beständig mit großer Ge schwindigkeit, hat sieben Achtel der Mondgröße erreicht. Zeichen gegeben auf Gammastrahlung, er wolle sich am 1. Juni in Mondbahn einschalten, zwölf Stunden nach Mond. Bittet, auf gegebenes Zeichen alle Elektrostationen der Erde Vibrationsstrahlen Kala auszusenden, um magne tische Außensphäre der Erde zu erschüttern. Große Be ratung. Planetarische Abstimmung, ob Erde Druso als Mond annimmt. Freudenfeste der ganzen Erde. Drei 178
Raumschiffe werden für Druso gestellt. Voraussichtliche Verbindungsstation Kapstadt. 25. Mai: Die Nachrichten häufen sich. Begeisterung aus Erden beispiellos. Neues Zeitalter des Raumverkehrs in den Welten. Vielleicht möglich, Mond durch Druso zur Ab lösung zu bringen und Mond als Raumfahrplaneten nutzbar zu machen. Großingenieur Heik hält Vortrag in Washington über die Frage. Kann Mond in Rotation versetzt werden? Große Störungen atmosphärischer Art auf Erden. Starke Stürme. Wir lenken sie als Wirbel in die Südfläche des Stillen Ozeans ab. Flutwellen steigen. Selbst Mittelmeer hat Flutwellen von über fünf Meter. Seefahrt Nordsee gestört. Zeitweise auftauchen Landflächen. Landflächen zei gen sich auf Azoren. Große Flutwellen. Luftschiffdienst verstärkt. Bei uns ein fröhlicher Kommers. Goldene Zukunft. Hoch kofler, mein großes Kind, träumt von Drusogipfeln. Er kam gerade zurecht, geht mit Raumschiff II hinaus. Ich bin namenlos glücklich, ihn nach langer Zeit auf ein paar Tage wiederzuhaben. 26. Mai: Die atmosphärischen und elektrischen Störungen stärker. Es sind Menschenverluste zu beklagen draußen auf den Inseln. Südseeliebesleute kehren zahlreich zurück. Be geisterung aber ungeheuer. Alle entstandenen Schäden er setzt der Staat. 28. Mai: Abschied von Franzl. 1. Juni: Druso in Mondgröße, hat sich eingeschaltet. Alle elektrischen Stationen der Erde vibrieren. Kraftstromver 179
brauch überall nach Kräften eingeschränkt. Wir sind in Er wartung. Die Raumschiffe gingen ab. 3. Juni: Wir wachen alle aus lähmendem Schlaf auf. Was ist geschehen? Verständigung mit anderen Stationen unmöglich. Flugzeugverkehr unmöglich. Keine elektrische Kraft. Wir sind abgeschnitten. Ist eine Katastrophe ge schehen? Wir warten. 4. Juni: Wir warten weiter. Es ist seltsam, den rot glühenden Druso aufgehen zu sehen, wenn Mond unter geht. Die ganze Welt ist still geworden. Nichts zeigt sich in der Luft. Wir warten weiter. 12. Juni: Die Temperaturen sind stark heruntergegangen. Wir haben die kleinen Atomzertrümmerungsmaschinen in Tätigkeit gesetzt mit Hilfe von angesammelter Strahlen energie. Korbe besorgt alles. Das alte Seeschiff Kenjon wird klargemacht und kleine Energiemotoren werden ein gebaut. Hustermann will nach Tromsoe fahren und Nach richten einholen. 13. Juni früh: Hustermann kommt zurück. Hat heliogra phische Hilferufe empfangen vom Schallkliff. Fand bei Kola Raumschiff II halb zerschmettert. Franzl ist gerettet, mit ihm fünf Kameraden. Wir haben Nachricht, Druso hat Angriff auf Erde gemacht. Wissen noch nichts über Aus maß. Franzl ist auf Schneeschuhen ausgezogen, um Licht blitzverbindungen aufzunehmen. Wir arbeiten an Fern sehern. Elektrische Kraft zwei oder dreimal wieder gekommen. 24. Juni: Nachricht. Planetarische Regierungssparte 180
Genf meldet: Neuer Erdenzustand. Herrschaft ging über an Planet Druso. Nutzlos, Widerstand zu leisten. Alle haben sich zu fügen. Druso senkte Äquatortemperaturen um dreißig Grad. Gegenwehr ist vorläufig unmöglich. Der Ernäh rungsgürtel der Erde bedroht. Wir haben Verhandlungen angeknüpft. Alle Kraftwerke sind auszuliefern. Der Prophet Ferryman ist gefangenzunehmen, da er Widerstand predigt. Jeder Widerstand unnütz. Ergebt euch in euer Schicksal! Wir sind erschüttert, aber wir glauben noch nicht, was uns die Nachrichtenwellen zeigen. Die elektrische Kraft kommt wieder. Temperaturen steigen. Wir benutzen Fern seher. Blick nach Kapstadt. Wälder, Bäume entlaubt. Ster bende Herden. Kapstadt ein Trümmerhaufen. Flüchtende Menschen auf Straßen. Über dem Kontinent kreisende Riesen-Insekten. Walzenförmige Raumschiffe stoßen herab. Ein reger Verkehr vom Druso zur Erde. Franzl wehrt sich gegen Übergabe. „Wir stoßen Druso ab! Vergeßt nicht die Senkröhre von 1100 Meter in das Iridiumlager!“ ruft er. Dort unten Einbau zweier Atomzertrümmerungsmaschinen. Erdausbruch, stärker als Vulkan muß folgen. Verschiebung der Kraftzentren. Umsetzung eines Teiles der Kraft in elek trischen Strom. Vielleicht kann es genügen. 25. Juni: Die Männer arbeiten. Wir beobachten Druso. Die Insekten-Fluggeschwader ziehen ihre Kreise um die Erde, aber sie meiden nördliche und südliche kalte Gegenden. Wir vermeiden alles, was uns auffällig macht. Auf Genf antworten wir: Station durch Flutwellen zerstört, gehen nach Süden! 181
1. Juli. Ich wache auf. Was für ein Schlag war das: Ich kann mich kaum noch erholen. Beim Zurtiefebringen der Atomzertrümmerungsmaschine B muß es geschehen sein. Außer mir kein Mensch am Leben. Fürchterlich ist der gäh nende Abgrund, der alles verschlang. Ich glaube, Franzl hätte gesiegt, hätte er beide in der Tiefe einbauen können. Durch Fernseher beobachte ich Rückfahrt aller Drusonen nach Kapstadt. Sie vernichten jede menschliche Großsiedlung in ihrem Bereich. Ein Erkundungsflug nähert sich unserm Ge biet. Ich verstecke mich in den Büschen an der Hochwarte und sehe, sie kreisen über dem ungeheuren Loch der Tiefe. Sie fliegen fort. Es ist sehr kalt geworden. Ich bin erschöpft von Warten und von Trauer. Der Fernseher zeigt mir Bilder von Men schen, die zusammengetrieben werden durch die geflügelten Wesen; von Kapstadt aus gehen Züge mit gefangenen Weibern und Kindern hinauf zum Druso. Sollen sie fronen? Was wird mit ihnen? Keine Station antwortet mehr auf das Notzeichen SOS. Die Erde mit all ihren Stimmen ist erloschen, die Menschheit ist hilflos geworden wie ein Gewürm. 3. Juli: Hoffnung. Ich habe heute den Fernseher nach Norden einstellen können, was mir solange nicht geglückt, plötzlich gelang es. Die elektrische Nordpolstation ist nicht in Trümmern. Ein Beweis, die Drusonen gehen nicht in die kalten Gebiete. Ich sehe dort Menschen an der Arbeit, auf Schneeschuhen, mit kleinen Hilfsmaschinen, mit Segelflug zeugen langen dort Menschen an. Ich sehe Halberstarrte, 182
denen Hilfe gewährt wird. O Geist der Erde, schaff uns Rettung aus dem Norden. 4. Juli: Ich versuche Verbindung mit Boothia Felix. Es ist nicht möglich. Sie müßten wissen, daß hier noch Ma schinen sind, Hilfsmittel. Ich kann sie nicht bewegen, ich allein. Ich will sie anrufen jeden Tag, wenn sie das Mit tagszeichen haben. — — — — Das war die letzte Nachricht, die uns das Buch verkündete. An einer Stelle wenigstens haben die Menschen versucht, Widerstand zu leisten. Aber unser zentralplanetarisches Regierungssystem muß sich als ganz hilflos erwiesen haben. Freilich, das ging aus dieser Niederschrift deutlich hervor, mit Hilfe der Menschen selbst haben die Drusonen die Erde erobert. Die natürliche Schutzzone der elektrischen Ring wellen, die den Planeten jenseits der Stratosphäre schützte, haben die Menschen selbst geöffnet, wie die Tore einer Burg. Ich erhob mich sofort und fragte. „Sind Drusonenwachen hier in diese Breiten geflogen?“ Ich wurde belehrt, daß die Käfergeschwader niemals über den nördlichen Wende kreis hinübergegangen sind. Allerdings hätten die Drusonen Luftwachtschiffe ausgerüstet, um von Zeit zu Zeit die Pol gegenden zu beobachten. Aber die Annäherung dieser Expeditionen wurde rechtzeitig maschinell gemeldet durch Vibrationsempfänger. Alle Vorsorge war getroffen, daß nichts gesehen wurde. Einmal vor Jahrhunderten nur war ein großer Angriff erfolgt, um die Kraftstation zu vernich ten. Er war, wie uns Liuwenhord schon berichtet hatte, fehlgeschlagen. — Ich konnte die Verwüstungsspuren unter 183
suchen. Eine chemische Masse sollte sich mit der Erdober schicht verbinden, aber die Drusonen hatten wohl nicht be rechnet, daß die Kälte, die sie auf ihrem Stern scheinbar nicht kannten, genügt hatte, dies Kampfmittel für die Tiefe unwirksam zu machen. Es war klar, daß der beste Schutz der noch freien Mensch heit auf der Kälte beruhte, dem uranfänglichen Feind allen Menschenwesens.
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XV. Motto: Erst wägen, dann wagen!
Helmuth von Moltke.
Feldherr des 19. Jahrhunderts.
Wie das Leben in der unterirdischen Stadt verlief, die viel Ähn lichkeit mit einem Insektenbau hatte. Die Drusonen sehen kein Blau. Ausnutzung dieser Erkenntnis. Lange Vorarbeit für die Befreiung. Erwägungen, was eine gewaltsame Loskoppelung der Erde vom Druso kosten würde.
Als wir die unterirdische Stadt Atlanta näher kennen lernten, staunten wir, was der menschliche Geist für Hilfs mittel ersonnen hatte, um ein Gefängnisleben erträglich zu machen; denn um ein solches handelte es sich in Wirklichkeit. Freiwilliger Einschluß mit Beurlaubung! so definierte Judith dieses Dasein. Allerdings, Zustrom von frischer, bakterienfreier Polarluft war genügend da. Musterhaft waren die Heizanlagen, aber Raum und Bewegung waren rationiert. Um den Lichthunger zu stillen, waren Be strahlungsräume mit ultraviolettem Licht gebildet, und hier fanden sich die Hausgenossenschaften für die Bestrah lungsstunden zusammen, und diese Stunde der Gemein samkeit wurde gleichzeitig benutzt, um durch Lautsprecher die Tagesereignisse verkünden zu lassen. Die Kunst des Fernsehens war verlorengegangen. Hurst war dabei, die große Maschine, die wir unterwegs gefunden hatten, zu sammenzusetzen und abzustimmen. Gleichzeitig wurden 185
kleinere neue gebaut nach dem System unserer Hand apparate. Die Arbeitszeiten in Atlanta waren streng geregelt, ebenso Bewegungsspiele draußen im Eis. Aber alles mußte unter Bewachung geschehen, denn hätte ein Flug schiff der Drusonen Lebenszeichen der Kolonie auf Boothia Felix gesichtet, so wären wir selbstverständlich verloren ge wesen. Judith, die gut beobachtete, machte mich aufmerksam: „Es war eine alte Sozialerfahrung der Kriege, daß die Ideen der Sieger von den Besiegten übernommen wurden. Schau Dir jetzt hier diesen letzten selbständigen Menschenstaat an. Ist er nicht ein gewisses Abbild des Insektenlebens?“ In der Tat hatte hier jeder eine Lebensfunktion, mit der er unlösbar verknüpft war. Der Soldat blieb Soldat, die Handwerker waren auf Handgriffe festgelegt. Es mußte ja mit Kräften hausgehalten werden. Das Leben in der Dunkelheit bedingte andere Erholungsarten als ein Leben in freier Luft. Aber alles war untergeordnet den Frauen. Ihre Fruchtbarkeit auszunützen war höchste Pflicht. Wurde eine Frau Mutter, war sie Herrin ihres Hausabschnittes. Sie ward heilig gehalten. Vom Rate der Mütter hing alles ab, was soziales oder politisches Leben hieß. Und Liuwen hords Regierungskunst bestand nicht zum wenigsten darin, daß er die Frauen für sich gewonnen hatte. Judith erörterte mit ihm, daß es doch grausam gewesen sein müsse, die alte große Mutter abzusetzen. Sie erhielt die Antwort: „Ein Segen war es, daß gerade zu dieser Zeit, 186
als Ihr aufgefunden wurdet, die Priestermutter erloschen war. Die Wahl einer neuen Herrin hat stets zu jahre langen Zerwürfnissen und Zwistigkeiten geführt. Wir sind froh, daß Ihr gekommen seid und uns mindestens zehn Jahre innerer Streitigkeiten erspart habt.“ Nachdem wir die Hilfsmittel der Kolonie genau studiert hatten, die etwa dreihundertfünfzigtausend Menschen um faßte, fanden wir, daß die Kraftreserven außerordentlich waren. Das lag daran, daß die gewaltigen Regeneratoren und Arbeitsmaschinen, die vorzeiten schon unterirdisch ein gebaut waren — weil sich ja der elektrische Nordpol auf Boothia Felix befindet — durch wenig Hilfskräfte in Ord nung gehalten werden konnten. Durch Fernuntersuchung konnte Hurst feststellen, daß die großen Parallelmaschinen, die den magnetischen Südpol ausnutzten, in fast ähnlicher Vollkommenheit vorhanden waren. — Die Drusonen hatten in der ersten Zeit der Unterjochung der Erde ihre Angriffe gemacht, das Land beobachtet, aber aus Scheu vor der Kälte sich mit zeitweiliger Überwachung begnügt. Da die Menschen nicht weiter reagierten, waren sie zu der Über zeugung gekommen, daß alles für sie gefährliche Leben er loschen sei. Sie führten regelmäßige Expeditionen aus, deren Zeiten bekannt waren. Freilich, mit unregelmäßigen Streifen mußte auch gerechnet werden; für sie war alles vor bereitet. Aber warum es den Menschen geglückt war, verborgen zu bleiben, wurde erst in den letzten hundert Jahren er^ kannt, und meine Jagdbeute bestätigte die Vermutung. Es 187
war aufgefallen, daß die Drusonen sich in der Luft sehr still verhielten, wenn blaue Dämmerung eintrat. Durch Nach richten der auf den Druso gelangten Atlantiker war die Be stätigung eingetroffen, daß das Licht auf Druso ein rötlich gelbes war. Die Orakel sprachen von der Farbe des Ver derbens, von dem Dunkel der Ewigkeit. Das konnte sich nur auf die blaue Farbe des Himmels beziehen, und jetzt erwies die optische Untersuchung des Sehorgans aus meinem er beuteten Riesenkäfer, daß diese Wesen blau nicht wahrneh men konnten. Das war sehr interessant, da wir ja wissen, daß auch für die Menschen violett und blau späte Farben sind, und daß 2000 Jahre vor Christi Geburt die Mittelmeervölker auch blau nicht gesehen haben, dafür um so weiter hinein in die rote Skala des Spektrums. Ich folgerte darum: Die Drusonen stammen aus einer Atmosphäre, die mit rotem Licht gesättigt ist. Sie sind keine Blauseher! Liuwenhord bestätigte diesen Schluß. Darum war blau instinktiv von den Atlantikern als heilige Farbe begriffen worden. Im blauen Gewand sahen sie den Sohn des Himmelsjahres dahinschreiten, blau war ihr Geheim zeichen unter den anderen Menschen. Wer auszog, erhielt unter dem linken Ohr einen kleinen blauen Punkt ein gebrannt, als Erkennungszeichen für Atlantis! Hurst, der die Sehnsucht zum Abenteuer in sich hatte, sagte: „Blau müßte die Farbe sein, mit der eine Eroberer raffe nach dem Druso schiffte!“ Und er ging daran, blaue Kampf- und Schutzgewänder arbeiten zu lassen. „Warum 188
müssen die Unseren die frische Luft meiden!“ meinte er. “Ziehen wir die Folgerung, lassen wir unsere Männer, die draußen aus dem Eis jagen, blau gerüstet sein!“ Und in der Tat, ein Jagdzug, der in der Bassinsbai über raschend in Sicht eines Drusonenfahrzeuges kam, machte die Erfahrung, daß sie unsichtbar blieben dank der blauen Gewandung. Diese neue Erkenntnis nutzte ich aus, um die für den Kriegszug bestimmten jungen Männer tüchtiger zu machen. Mit Flugzeugen übersetzten wir das Eismeer von Boothia Felix bis nach Spitzbergen, und von da aus stießen wir nach Süden aus Schneeschuhen vor. Aus Spitzbergen wur den die alten Kohlengruben festgestellt und wieder in Be trieb genommen. Eine Jägerkolonie ward hinverlegt, um streifende Eskimos aufzufangen. Wir waren genötigt, mühsam Ölprodukte durch die Luft nach Boothia Felix zu bringen, weil wir mit der bequemeren Art von Kraftge winnung durch Zertrümmerung der Atome zögern mußten; die Störung im Kraftnetz der Erde wäre zu groß gewesen. Die gesamte Erdenergie war von den Drusonen mit Beschlag belegt, die ja ein Drittel davon abzapften. Wir lebten gleich sam von ihren Abfällen. Die waren reichlich für einen Staat von noch nicht einer halben Million Menschen, aber spärlich, wenn wir Druso von der Erde loskoppeln wollten. Auf einem meiner Jagdstreifzüge nach Süden stieß ich auf mongolische Jäger. Sie bedeuteten mir, ich solle nicht weiter fahren nach Westen. Dort wäre Zauber. Das konnte sich nur auf den Bannkreis beziehen, der die alte Kraftstation 189
Karaga noch in der Erinnerung der Menschen schützte. “Geister! Zauberer! Böse Mächte!“ soviel verstand ich aus ihren Warnungen. Ich blieb bei diesen einfachen Menschen zwei Tage. Sie waren traurig und niedergeschlagen. Einer unserer Leute, der meiner Spur nachgelaufen war, fand mich. Da er ein wenig die mongolische Jägersprache verstand, brachte er heraus, was diese Armen bedrückte. Er berichtete: „Sie müssen ein Kind, den ältesten Sohn, an das Orakel ab liefern!“ „Was bedeutet das?“ fragte ich. Da wurde mir erklärt: „Die Drusonen erheben Steuern unter den Menschen. Kinder, stillende Mütter und beson ders kräftige junge Leute werden abgeliefert und verschwin den. Wir wissen nicht wohin. Es scheint, daß sie zum Druso gebracht werden.“ Da erinnerte ich mich des alten Berichtes. Bis hier hinauf also reichte der Drusonen Macht. Verlangten sie nun die Opfer, um diese Macht zu beweisen oder was hatten sie mit diesen Opfern vor? Dies kleine Erlebnis — immer sah ich im Zelt die wei nende Frau und den bekümmerten Mann, die ihre andern Kinder betrachteten — ließ mich nicht los. Das zu ergrün den, schien mir Pflicht. Als ich hinauskam nach Boothia Felix, sprach ich mit Hurst. Der sagte mit dem stillen Lächeln des stets mit andern Problemen Beschäftigten: „Ich glaube, ich bin bald so weit, daß wir eine Druso-Patrouille ausrüsten können!“ 190
Anderthalb Jahre hatten wir Vorarbeit geleistet. Hurst forderte jetzt systematische Beratungen, um das Problem der Befreiung wenigstens gedanklich zu lösen. Für uns zählte die Blausicherung. Überlegen waren wir den Dru sonen durch Fernseher und Fernhörer; derartige Maschinen kannten sie nicht, sonst hätten sie unsere Kolonie langst ver nichtet. Sie beherrschten die Erde, weil die Menschen in ihnen Götter sahen und selbst im Kriege niemals ver suchten, ein Orakel zu vernichten. Sie beuteten als unsicht bare Oberschicht die Erde aus. Eine schwache Verbindung mit dem Druso bestand. Atlantiker, die hinaufgelangt waren, gaben Kunde, aber über die staatliche Verfassung der Drusonen, über ihre Hilfs- und Machtmittel wußten wir nichts. Die Lehre, daß wir es mit einem der Dekadenz ent gegengehenden Schmarotzervolk zu tun hätten, das eigene Arbeit kaum noch leisten könnte, schien durch alle Tatsachen bestätigt zu sein. Es kam also darauf an, die Verbindung des Druso mit der Erde zu stören. Ein Plan war bedacht von den Astronomen durch Jahr hunderte und berechnet. Ihm zufolge mußte die Erd-Elek trizität in ihrer ganzen Stärke aufgeboten werden, um durch Longitudinalwellen die unsichtbare Trosse zu erschüttern, an die gleichsam sich Druso gehängt hatte, wie ein Schlepp schiff an einen starken Dampfer. Flius’ Vorschlag ging dahin, durch Atomzertrümmerung eine solche Kraftmasse frei zu machen, daß eine leichte Ver zögerung in der Erdumdrehung selbst hervorgerufen würde, ein Rückstoß gegen die drehende Masse der Erde selbst. 191
Dies würde gewissermaßen eine Stauung bedeuten, einen Wirbel, der sich auf Druso und Mond miterstrecken müßte. Wenn nun in diesem entscheidenden Augenblick die Kraft station auf der Südspitze Afrikas vernichtet würde, in der die unsichtbare elektromagnetische Trosse verankert war, so mußte es nach seiner Berechnung gelingen, den Schmarotzer abzuschütteln. War erst das einmal gelungen, dann schützte die Erde die eigene Krafthülle, die der Raubstern ja nicht hatte durchbrechen können ohne Mithilfe der Erdplanetarier. Die Lage der südafrikanischen großen Station zu erkun den, war im Augenblicke leicht, wo der große Fernseher wie der in Tätigkeit war. Hurst ließ Tag und Nacht beobachten, zeichnen und fotografieren. „Auf jeder Station, die von solcher Wichtigkeit ist“, sagte er, „müssen Reserven vorhan den sein. Es gilt, ganze Arbeit zu leisten, jeden Saugarm des Druso abzuschneiden.“ Danach prüfte er die Anlagen der Kraftstationen bei uns und auf Amundsenland am Südpol noch einmal genau durch. Da er selbst einer der leitenden Ingenieure gewesen war, kannte er alle die kleinen Tricks der Überprüfung. Er schulte Mannschaften und ließ die Männer auf Amund senland ablösen. Sonst zogen auf Unterseebooten alle drei Jahre Mannschaften hinüber und lebten dort in der Ver bannung, wie sie sagten, denn im Süden war alles Not anlage, größere Einsamkeit noch als im Norden und nicht die Annehmlichkeit einer Stadt. Achthundert Menschen waren dort unten tätig, und wer die vorgeschriebenen Jahre dort zugebracht hatte, galt als bevorrechtigter 192
Bürger. ― Das änderte sich alles jetzt, wo Fernseher und Fernhöranlagen in Tätigkeit waren. Nun waren diese auf den äußersten Punkten abgeschnittenen Atlantiker sofort in geistiger Verbindung mit der andern aktiven Menschheit. Als die Ablösungsmannschaften angelangt waren, ließ Hurst Übungen vornehmen, galt es doch, im entscheidenden Moment die sämtlichen elektrischen Kräfte der Erde von der Station des Druso abzulenken. Das sollte die erste Störung sein. Darauf mußte der Schlag der Kraftwerkvernichtung durch Atomzertrümmerung durchgeführt werden. Der weitere Feldzug sollte in der Vernichtung der Orakel bestehen und der Zerstörung der noch bestehenden Kraft nester und Stationen der Drusonen. An all diesen Plänen arbeiteten wir zugleich. Hursts ganzes Genie zeigte sich. Er berechnete und konstruierte eine Atomzertrümmerungsmaschine, die geeignet war, die Der hung der Erde bis auf ein Minimum zu bremsen. Nach seiner Berechnung würden durch diese Bewegung siebzehn astronomische Minuten verlorengehen, aber die Hauptsache war, die Erde würde nach dem Stop weiterschwingen. Er hatte das Ganze so berechnet, daß der große Stoß an den Nord- und Südstationen nicht so fühlbar sein würde. Aller dings mußte mit einer gewaltigen Vernichtung gerechnet werden. Die Meinungen gingen darum sehr auseinander, ob nicht diese Befreiung einer Vernichtung der gesamten Erde überhaupt gleichkäme. Einsturz von Gebirgen konnte er folgen, Überschwemmung der Kontinente und ein Sturm, gegen den Taifune und Hurrikans ein Badewannenscherz 193
von Kindern gewesen wäre. Hurst berechnete und experi mentierte mit Rotationsrädern. Er kam zu dem Schluß, daß die unterirdische Stadt besten Schutz verhieß; es sei möglich, ihn zu erhöhen. Weitere Frage war, ob es nicht genügte, diese Anker station allein zu vernichten und gleichzeitig elektrische Kräfte gegen den Druso anzusetzen. Hurst erklärte, das ganze Problem wäre zu lösen, wenn wir den Druso selbst erforschen könnten, hinübergingen, um den Feind zu er kunden. Das aber galt als schlechthin unmöglich. Doch Hurst begnügte sich nicht mit diesem Unmöglich. Er selbst begab sich auf einem Unterseeboot über St. Helena nach Kapstadt, um dort alle Verhältnisse zu studieren und Einsicht zu gewinnen in die Methoden, die die Drusonen gebrauchen, um die Erdkräfte für sich abzuzapfen. Wir andern taten indes unsern Dienst aus Boothia Felix. Jeder Tag brachte neue Arbeit, neue Probleme. Es war ein wildes, innerlich bewegtes Leben, das wir führten.
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XVI. Motto: So tötet mich das Leben, Das Leben wird vom Tode mir geliehen; Wohin soll ich entfliehen, Da Leben mir und Tod nicht Ruhe geben? Cervantes, Don Quixote.
17. Jahrhundert.
Urania, das Kind. Sonnenhunger. Judith, Flius, Irmfried und Klein-Ura gehen ans Mittelländische Meer nach St. Jean. Die Arbeit an der Befreiung geht weiter. Hurst legt dar, was an Er kenntnissen über die Drusonen vorhanden ist. Schicksalsschlag: Urania gestohlen! Sie soll auf den Druso gebracht werden. Judiths Befreiungsversuch mißlingt, sie wird selbst gefangen.
Urania, unser kleines Mädchen war nun fast zwei Jahre geworden. Seltsam mutete das frühgereifte Gesicht an, aus dem zwei blaue Augen überirdisch groß leuchteten. Sie zeigte noch keinen großen Drang zu sprechen, nur durch Be wegungen der kleinen Hände und durch das Mienenspiel wußte sie ihren Empfindungen Ausdruck zu geben. Um so stärker aber wirkte dann ein oder das andere Wort KleinUras, das sie in der Erregung sagte und das bewies, daß sie wohl verstand, was um sie vorging. Bei den Feiern im Tempelraum war sie still und richtete den Kopf aufmerksam nach allen Seiten und vermehrte so das Geheimnis, das Judith für die Atlantiker umgab. Aber trotz aller aufge wandten Sorgfalt gedieh sie nicht recht. Thankmar, der das
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Kind sorgfältig untersuchte, sprach den Gedanken aus. ,,Diesem jungen Organismus sind zu schwere Lebensbedin gungen auferlegt. Ein Wunder, daß es den Stillstand der dreihundert Jahre im Mutterleibe überdauert hat. Freilich, die Frucht ist oft zäher als der mütterliche Organismus. Allein der mütterliche Organismus selbst war an andere Be dingungen gewöhnt, an mehr Licht, Sonne, an andere Kost. Das macht sich jetzt bemerkbar. Während unsere Kinder hineingeboren sind in die Verhältnisse, aus denen die Eltern kamen, findet diese junge Menschenpflanze nicht das Erdreich, aus dem sie Kraft saugen könnte.“ Judith selbst sehnte sich nach Sonne, nach Licht, nach offenem Meer! Liuwenhord, der in ihr und dem Kinde die Verheißung der Menschheit sah, war um beide aufs höchste besorgt. ,,Das Kind muß am Leben erhalten bleiben.“ erklärte er. „Wir müssen alles wagen!“ Nach langer Beratung ward die Entscheidung getroffen, Mutter und Kind nach St. Jean zu bringen, einer kleinen Bucht des ehemaligen Golfes von Nizza. Hier hatten die Atlantiker seit alters her eine Station. Sie konnten den Schiffahrtsweg rheinaus benutzen. Der Kanal, der Rhein und Rhone verband, dieses alte Kulturwerk, hatte der Zeit Trotz geboten. Seinem Zuge folgend gewannen sie die Rhone und auf dieser fuhren sie hinab, an der CamargoInsel vorbei hinaus ins Meer und wandten sich alsdann ostwärts nach St. Jean. Hier stapelten die Seefahrer Güter auf, die sie aus Afrika bezogen. Im Lande selbst galten sie als dänische Nordmänner. 196
Ich hatte gedacht, mit ausziehen zu können nach St. Jean, aber Liuwenhord versagte es zwar nicht gerade, doch fragte er mich: „Wer wird Deine Arbeit hier tun unter uns?“ Judith, die ihm beistimmte, verlangte: „Flius soll mitkom men. Ihm tut die Sonne not und das blaue, warme Meer des Südens. Es wird auch seine Arbeit fördern. Irmfried wird mir helfen, für das Kind zu sorgen. Du kannst uns immer durch die Fernapparate sehen und hören. Ich selbst werde mich begnügen mit einem kleinen Wellensprecher, so daß wir Deine Stimme vernehmen können und wissen, was auf Boothia Felix vorgeht.“ Sie hatte recht, eine Fernseheranlage dort unten hätte verraten werden können. Der Wellensprecher war ein Ding, unbegreiflich für die Eingeborenen von St. Jean und konnte nicht verraten werden. So trennten wir uns. Ich gab ihnen das Geleit im Flug zeug bis zur Kolabucht. Von da aus besuchte ich die auf gefundene Stätte. Still und ruhig ging die Arbeit in der großen Sammlung, die von den Stationsleuten hinterlassen war, vorwärts. Hurst war zurückgekommen von seiner Erkundungsfahrt aus dem Süden Afrikas. Er saß mit seinem Stabe junger Mitarbeiter Tage und Wochen lang in seinen Werkstätten und Laboratorien, um die Ergebnisse auszuwerten. Dann berief er eine Sitzung des Rates ein, die unter Liuwenhords Vorsitz stattfand. Bescheiden wie immer, begann er seine Rede: „Wir haben viel gelernt! Zunächst konnte ich durch radio elektrische Messungen feststellen, daß vielleicht drei Zehntel 197
der gesamten Erdenergie heute dazu verwendet wird, um Druso festzuhalten. Druso liegt gleichsam an einer aus elektrischer Kraft gebildeten Spannungstrosse. Es ist nur logische Folge, wenn wir diese Spannungstrosse kupieren, muß Druso sich lösen, oder er kommt in die Gefahr, in die Bahn des Mondes zu gelangen und mit diesem zusammen zustoßen. Was dann für uns folgen würde, ist schwer in seiner ganzen Schrecklichkeit auszudenken, die Meere wer den übertreten, es dürften sich die Pole verlagern; das alles könnte entsetzlich werden. Doch ich glaube nicht, daß die Drusonen zögern werden, ihre Kraft zu benutzen, um der eigenen Vernichtung durch den Mond auszuweichen. Mich hat die Überlegung gelehrt, daß die Drusonen aus der Einsteinschen Formel E=mc² noch eine andere praktische Folgerung gezogen haben als wir. Diese Formel haben wir der Atomzertrümmerung zugrunde gelegt und Energie = E freigemacht, indem wir Masse, die zertrümmert werden soll, in Beziehung zur Lichtgeschwindigkeit c gebracht haben. Ich glaube, daß die Drusonen auf die Lichtgeschwindigkeit ihr Forscheraugenmerk gerichtet haben und mit Hilfe der selben Formel in überlegener Anwendung Massen und Energien des eigenen Sterns so ausbalancieren konnten, daß sie die Bewegungstendenzen zu anderen Massen = Sternen in Beziehung setzen konnten. Wir wissen, daß wir ein Schiff durch einseitige Belastung zum Abweichen des Kurses bringen können. Dieses Experiment haben die Drusonen im ganz Großen auf ihren eigenen Planeten angewandt. Lichtschwingungen c sind Bewegungen. Mit 198
den Lichtschwingungen des Raumes müssen sie gesteuert haben wie der alte Schiffer mit dem Wind. Ich bin dabei, die Formeln für ihre Raumfahrt zu errechnen, aber ich muß das Problem, das mich mehr als alle andern fesselt, hintansetzen, denn zur Befreiung der Erde vom Druso reichen unsere Machtmittel schon aus. Zur Verfügung steht uns vor allem die Schließung des Spannkreises der erd elektrischen Kräfte. Sie muß dieselbe Wirkung aus Druso ausüben wie auf ein Schleppschiff, dem die Trosse gekappt wird. Das Schleppschiff treibt ab. Sollte den Drusonen dennoch ein Gegenzug gelingen, der uns unbekannt ist, so haben wir als letztes, schrecklichstes Mittel die Atomzertrüm merer auf Karaga. Das würde einen neuen, entscheidenden Stoß geben.“ Alle Anwesenden waren sich klar, was ausgesprochen war. Thankmar sagte: „Lieber frei auf einer zerstörten Erde, als unfrei auf einer gebändigten!“ Hurst entwickelte seine Gedanken weiter. „Mir scheint, daß Vorsicht und Klugheit uns folgende Maßnahmen ge bieten: Im gegebenen Moment müssen sämtliche Kraftwerke bei uns auf Boothia Felix und am Südpol anfangen zu mahlen. Dadurch allein wird der Drusonen Kraftwerk im Lauf gestört. Die elektrische Trosse beginnt zu schlingern. Als zweites muß eine Vernichtung des Werkes selbst er folgen durch Explosivkraft. Wir müssen einen Atomzer trümmerer dort einbauen, der elektrisch-magnetisch soviel Kraft auslöst, daß das Werk fortgefegt werden kann. Im Tafelberg haben wir alte Gänge, die wir benutzen können. 199
Der Berg würde hinabstürzen und das Kraftwerk zerreißen und begraben. Dies muß meiner Ansicht nach genügen, um den Druso abtriften zu lassen. Wir können das beschleuni gen, indem wir danach alle elektrischen Energien in Lon gitudinalwellen umwandeln. Sie wirken gegen die Kraft des Raubsterns wie Puffer.“ — „Inzwischen“, fuhr Hurst fort, „konnte das Raumschiff selbst untersucht werden. Wir gingen mit Vorsicht daran, die Entdeckung auszunutzen, daß die Drusonen blind sind gegen blau, um so in die abgesperrte Zone einzudringen. Eine große Bewachung des Bezirks findet nicht statt; sie ist überflüssig, weil der ganze Einschiffungsraum durch elek trische Drähte gesichert ist, die Blitze schleudern, wenn sich ein Wesen auf mehr als fünf Meter nähert. Mir war es möglich, hinüberzukommen, da ich mich isolierte. Wir maßen die Stärke der Ströme. Sie sind auf 900 Volt ge stellt, also tödlich und schmerzlich. Das Raumschiff selbst geht, wie wir bei einer Abfahrt beobachten konnten, mit großer Schnelligkeit, Stetigkeit, ohne Erschütterung. Während der Überfahrt befinden sich die Insassen in einem Schlafzustand. Es scheint, daß sie schon in ihrem Lager auf dem Kap städter Feld durch Medikamente beeinflußt werden, denn wenn sie in zwei Einerreihen an Bord geführt werden, machen sie den Eindruck von Somnambulen oder Hypnoti sierten. Erst an Bord werden sie gezählt und danach in Drahtkojen gelegt, in denen sie die Überfahrt im Schlafzu stande überstehen. Interessant ist die Einzelheit, daß an Bord sich Sohlen 200
aus Schwermetall befinden, mit denen die Auswanderer bei der Ausschiffung versehen werden, wie uns atlantische Raumschiffer berichteten. Das ist notwendig, solange sie den veränderten Gewichtsverhältnissen aus Druso nicht angepaßt sind. Aber meines Erachtens muß die chemisch-elektrische Um stellung des Körpers ziemlich schnell erfolgen. Die Schiffsleute erhalten beim Erwachen besondere Appa rate. Sie sind ähnlich denen unserer Raumschiffer alter Zeit. Ich habe einen besichtigen können, und es ist ein leichtes, solche Apparate herzustellen. Sie ermöglichen der Mann schaft die Arbeit an Deck. Die Sohlen aus Schwermetall sind ein primitives Mittel. Ich denke mir, daß die Dru sonen die in den ersten Wochen noch hohe erdentsprechende Muskelkraft der Menschen zu ihrem Vorteil ausnutzen werden. Wir haben bis in kleine Einzelheiten die Raumschiffer ausgeforscht und die alten Beobachtungen mit den neuen verglichen. Es ergibt sich daraus mit Wahrscheinlichkeit, daß die Drusonen zu einem Geschlecht zählen, das nicht sehr zahlreich sein kann. Es müssen auf dem Raubplaneten solche Veränderungen vorgegangen sein, daß wenig Drusonen dort ihre natürlichen Lebensbedingungen finden. Es sind die Neste einer hochintelligenten Wesensrasse, die sich nur da durch hat halten können, daß sie den Gewaltstreich gegen unsere Erde unternahm. Dreierlei Wesen stellten wir bisher fest, die Kampfkäfer, die Riesenameisen und eine andere Art, die wir in den Orakeln finden und die sehr künstlich in einem Kristallgehäuse lebt, fast nur aus einer den Gehirn 201
zellen ähnlichen Masse bestehend. Es ist natürlich möglich, daß noch andere Wesen auf dem Stern selbst leben.“ An Hursts Vortrag schlossen sich Einzelerwägungen, die bis zu bestimmten Befehlen verdichtet werden konnten. Es handelte sich um Zeitberechnungen, um Dispositionen von Arbeits- und Streitkräften. Über eine Woche dauerten diese Beratungen. Es war am siebenten Nachmittage, mitten in bester Arbeit, als sich der Fernhörer meldete. Liuwenhord ward gerufen. Wir sahen ihn erschüttert zurückkommen. Er begann: „Die Zeit des Beratens muß abgekürzt werden, die Zeit des Handelns steht vor der Tür. Die Tochter der Menschen mutter ist verlorengegangen.“ Ich hatte im selben Augenblick das sonderbare Gefühl, als träte ich in einen schwarzen leeren Raum. Mir war zumute, wie einem, der vom Schlage getroffen ist und nicht mehr Anteil aufzubringen vermag für das, was um ihn und mit ihm geschieht. Nur so vermag ich mir zu erklären, daß ich diese schrecklichsten Tage meines Lebens zu über stehen vermochte. — Wie hinter einem Vorhang hörte ich Liuwenhords Stimme: „Irmfried hat mir soeben alles genau erzählt. Vor zwei Tagen war Unruhe in St. Jean. Nach dem Ge bot des Orakels sollten aus der Landschaft drei kräftige Männer von vierundzwanzig Jahren, vier stillende Mütter mit ihren Säuglingen und drei Mädchen, die noch nicht ge boren haben, nebst drei hübschen Kindern weiblichen Ge schlechts dem Orakel als Opfer abgeliefert werden. Wie 202
üblich, wurde nun in St. Jean ein großes Fest gefeiert mit Gesängen, Wein trinken und Gebeten zu den Drusogöttern. Der Aufregung wegen hielten sich Judith, Irmfried und Flius diesem Treiben fern und gingen den Berg hinaus zu einer Höhe, wo die Reste eines alten zerfallenen Klosters stehen. Das Kind schlief im Schatten eines Ölbaumes ein. Flius besichtigte die Reste der Malereien an den Wänden, die Frauen pflückten wilde Rosen. Als sie wiederkamen, war das Kind fort. Die Spuren wiesen auf einen der Berg höfe, die zu St. Jean gehören. Aber dort fanden sie nichts. Das Tor war schlecht verschlossen, kein Mensch zu sehen. Judith und Flius nahmen die Verfolgung auf, Irmfried hat mich sofort benachrichtigt. Sie hat ganz richtig ge schlossen, daß die Frau dieses Berghofes aus Angst, ihr Kind zu verlieren, das fremde Kind gestohlen hat, um es als Opfer den Göttern unterzuschieben. Es ist beim Wesen dieser Bevölkerung klar — wir müssen uns das eingestehen - daß im Augenblick nichts zu unternehmen ist.“ „Aber es muß etwas geschehen!“ rief es aus mir. Liuwenhord nickte. „Wir werden sofort ein Unterseeboot ausrüsten und es auf Fahrt schicken.“ „Ich selbst fahre mit!“ hörte ich meine Stimme eifern. „Gewiß“, sagte Liuwenhord, „es ist eine Unternehmung, die das höchste Staatsinteresse angeht, aber ich erkläre das Kriegsrecht! Keiner handelt ohne meinen Willen." Thankmar redete mir eifrig zu. Er ließ Fernseher und Fernhörer einstellen. Irmfried kam in Verbindung mit uns. Sie gab die geographischen Orte nach der Karte an. Wir 203
fanden die Stelle des Unglücks, ja wir konnten mit Hilfe des Sehers wie leibhaft auf der Bergstraße zwischen hohen Bäumen der Koniferenart dahinwandeln. Wir kamen nach St. Jean und sahen auf der Straße den schwarzbärtigen Ortsvorsteher mit großen Gesten auf Judith und Flius ein reden, hörten durch den Mund unseres Übersetzers die ab weisenden Reden. Der Sucher wurde auf Monte Carlo eingestellt, aber wir vermochten in den niedrigen Hütten aus den Klippen nichts zu erkennen. Der Blondbart, Thankmars Assistent aus seiner Expedition zu uns, brachte Karten und Zeittafeln. Er meldete: „In drei Tagen findet das Opferfest im Orakel in Monaco statt!“ Er ließ uns die Fernseher einstellen, und wir sahen ein großes verwittertes Gebäude auf der Höhe. Ich erkannte die Tiefseeforschungsstation, die an der Stelle des alten Museums der Fürsten von Monaco entstanden war. Der mächtige Steinbau hatte den Jahrhunderten getrotzt. Es war so recht ein Ort für Opfernahme. Die Drusonen ver standen sich auf Effekte. Wir durchforschten die Räume und sahen den Altar, der über der Tiefe hing, die von dem Ge bäude zum Meer hinabführte. Hier also würden die Opfer verschwinden in irgendeinem Seefahrzeug. — Der junge Mann bestätigte es: „Dort werden sie hinabgelassen und zum Hafen von Villa Franca gebracht. Da liegt das große Überseeschiff, das mit elektrischen Kräften getrieben nach Kapstadt geht.“ Meine Vorstellungskraft arbeitete. „Es wäre also Gelegen heit, dieses Boot zu überrumpeln und das Kind zu befreien.“ 204
Liuwenhord schüttelte den Kopf. "Das würde die Aus merksamkeit der Drusonen erregen und das Wert der Be freiung gefährden.“ „Aber wenn das Kind ins Meer stürzt!“ fragte ich. Liuwenhord sah mich an: „Willst Du es selbst unter nehmen?“ „Ja, ich werde dem Kind zurufen aus dem Wasser, nachts. Ich werde es zu mir locken!“ „Sie werden den Schwimmer erspähen!“ „Aber des Nachts!“ wehrte sich meine Hoffnung. Er schüttelte den Kopf. „Es ist keine Zeit mehr, dahin zugelangen!“ Allein mein Entschluß war gefaßt. In diesem Zustande, in dem ich im wahren Sinne des Wortes außer mir war, entwickelte ich die Zähigkeit eines Menschen, der von einer Manie besessen ist. Ich wollte Judith den Plan mitteilen. Judith war Schwimmerin. Vielleicht konnte Judith das Ziel erreichen. Inzwischen rechneten Liuwenhord, Thankmar und dieser blonde Mensch weiter. „Es ist nur eine Möglichkeit“, sagten sie, „daß in Kapstadt selbst ein Befreiungsversuch ge macht wird.“ Das war der Rechnung letzter Schluß. Ich begab mich zu Hurst. Der hob den Kopf nicht von seinen Plänen auf, aber ich sah seine innere Bewegung an den zuckenden Schultern und dem pulsenden Halse. Grimmig sagte er: „Verlange keine Teilnahme, lieber Freund, die Zeit kostet! Ich sehe eine Rettung und Befreiung nur darin, daß wir Druso loskoppeln. Liuwenhord hat recht! Jede 205
Piraterie würde die Drusonen bewegen, die Erde neu zu untersuchen, und dann wehe uns, wenn sie uns und unsere Vorbereitungen finden!“ Und über seine Karten gebeugt, murrte er: „Die beste Kraft des wissenschaftlichen Denkers ist die Zeit in ihm. Sie macht Probleme in sich klar. Aber jetzt Probleme beeilen zu müssen, ist, als wenn man den Denker mit Peitschenhieben stört.“ Ich verließ Hurst. Ich eilte zum Fernseher und Fern hörer. Judith sprach und der Klang ihrer Worte war für mich wie ein kühler Trunk in heißer Wüste: „Mein Kind! Unser Kind! Es soll versklavt werden! Ich muß es retten, oder ich will mit ihm sterben!“ Ich sprach mit ihr von der Möglichkeit, das Kind viel leicht abzufangen, wenn es an der Stelle des Orakels dem Boote für Villa Franca übergeben würde. Judith sagte. “Unbedingt ja! Ich versuch’s! Was kann mir schließlich geschehen, da ich mein Kind will und nichts anderes!“ Und in diesem Gefühle waren wir beide uns eins. Ihr Plan war einfach. Eines der Fischerboote sollte aus gerüstet werden mit dem kleinen Motor. So würde es eine genügende Geschwindigkeit besitzen. Sie selbst wollte mit einem Schwimmgürtel versehen, der dem Kinde über den Kopf gezogen würde, bei der Einschiffung warten und das Kind ins Wasser locken. Wäre dann das Boot gewonnen, mußte das ganze Wagnis glücken. Schrecklich war es nur, daß ich selbst indessen auf einem Unterseeboot sein würde, vom Mittelmeer durch die ganze Land-Halbinsel Spanien getrennt. Es waren verzehrende Tage für mich. Nur die Vor 206
bereitungen, die getroffen werden mußten, und der Anblick der Mannschaft, der ich ein Vorbild geben sollte, hielten mich innerlich aufrecht. — Endlich lag unser Boot in Fahrt aus dem Meere. Noch waren wir in sicheren Zonen, so daß wir nicht zu tauchen brauchten. Zum ersten Male an der West küste Irlands mußten wir unter Wasser gehen, und saßen nun in dem zitternden, hämmernden Raum gespannt und er wartungsvoll. Weit vor der Biscaya war es, in der Nacht des Opfertages, als wir auftauchten. Fernseher und Fernhörer waren eingestellt auf Monaco. Wir gewahrten das dunkle Gebäude auf der Höhe einsam stehen. Mit Fackeln in den Händen kamen die Bewohner, um das Fest zu feiern. Sie wurden eingelassen über die Treppen in die große Vorhalle, gingen durch die Gänge des alten Aquariums zu dem Ab grund. Es war wie Gespenstersehen. Wer den Fernseher kennt, weiß, daß dazwischenliegende Wände in ihm wie aus Glas geformt erscheinen, während ganz scharf nur das in die optisch-elektrische Wellenzange genommene Objekt er scheint. Das war für uns die große metallene Schale, in die die Opfer der Gegend, an dreihundert Menschen, hinein traten. Alles andere darum war wie aus dunklem Glas gebildet. Blaue Feuer leuchteten auf, Priester reichten Wein, Blumen wurden den Opfern nachgeworfen. Wir hörten den Ruf des Priesters: „Sie sind zum Segen der Menschheit bestimmt!“ Dann sank die Schale hinab in jene weite, hohe, von Felsen gebildete Grotte, vierzig Meter unter dem Fuß des Gebäudes, in die unmittelbar das Meer hineinspült. Die Opferschale begann sich zu drehen. So mußten die Opfer 207
schwindlig werden, daß sie beim Aussteigen wie Bündel in Empfang genommen und auf Deck des Bootes verstaut werden konnten. Es war das ein wohl mit elektrischer Kraft betriebener Kahn, der ein Ausmaß hatte von sechzig Meter Länge und etwa fünfzehn Meter Breite. Die Men schen waren auf dem Achterdeck eng zusammengepfercht. Wir konnten die einzelnen nicht erkennen, da die Beleuch tung sehr spärlich war. Das Boot setzte sich in Fahrt. Wir verfolgten es mit dem Sucher. Ich wurde gewahr, daß sich eine Gestalt an ein Tau anklammerte und emporkletterte. War es Judith? Meine Ohren brausten, mein Herz schlug wild. Aber seltsam, bei aller brennenden Hoffnung wußte ich schon im voraus, es würde nicht gelingen. Da gab es plötzlich eine Bewegung. Hatte Judith das Kind erkannt und ihm zugerufen? Dann war es mir, als fiel ein Körper ins Wasser. Ich atmete auf. Tapfere Judith! sagte ich zu mir. Doch da hielt die dunkle Masse des Bootes; nichts war zu erkennen. Ich stand, beobachtete und krampfte die Hände ineinander. Endlich meldete sich der Fernhörer und Flius berichtete: ,,Judith und Kind sind aufgefischt vom Trawler und fahren jetzt miteinander nach Villa Franca.“ Wir konnten in dieser Nacht trotz eifrigen Suchens Flius’ Kahn nicht finden, aber auch der Trawler, der Judith und das Kind fortführte, war uns verloren. — Ich jedoch lebte weiter in der Betäubung des Schmerzes. Was war mir die ganze Erde ohne Judith und das Kind? Dumpf kam es mir zum Bewußtsein: Die ganze Erde bangt um Judith und das Kind! 208
XVII. Motto: Vieles hast du erduldet, mein liebes Herz, Homer, Odyssee. erdulde auch dieses. Das Trajektschiff mit den Opfern der Erde für Druso. Fernseher und Fernhörer leisten Dienste. Judiths Schlummerlied. Der Woll faden, der Stelithdraht und der Hörer für Judith. Die Tiefe der menschlichen Niederlage: Frauen als Milchkühe der Drusonen. Alf Bentink entschließt sich, selbst die Befreiung zu unternehmen und, wenn es not tut, auf den Druso zu fahren. Er bricht Liuwenhords Widerstand. Hursts Hilfe. Wie das Raumschiff beschaffen war, das zwischen Erde und Druso verkehrte. Pläne werden erwogen, um an Bord des Raumschiffes zu gelangen. Die Befreiung Uranias würde Befreiung der Erde bedeuten. Abschied von Hurst. Das Abenteuer beginnt.
Am nächsten Morgen lag unser Unterseeboot klar vor der Nordküste Spaniens. Wir schickten uns an, das Kap zu runden, um nach Süden zu kommen. Der Fernseher war auf die fast viereckige Bucht von Villa Francs gerichtet, deren Nordwestteil sich freilich nicht klar zeigte, sondern glasig erschien durch die Massen des vorgelagerten Landes. Ich war kalt und klar, ein Mensch, der abgeschlossen hatte mit dem Leben, der nur noch atmet, um ein Ziel durchs zusetzen, ein Ziel zu erreichen: Judith und das Kind zu be freien. Das Glück wollte uns an diesem Morgen wohl. Das große unförmige Trajektschiff lag in dem sichtigen Teil der Bucht, und auf dem Achterdeck, das durch fast vier 209
Meter hohe Verschanzungen gesichert war, lagerten wie Auswanderer einer verschollenen Epoche all die Menschen, die zum Opfer der Drusonen bestimmt waren. Die Be mannung bestand aus dunkelhäutigen Menschen; irgend einen Drusonen konnten wir nicht erblicken. Diese Neger nahmen sich ihrer Menschenfracht in gütiger Weise an und es herrschte unter diesem zahlreichen Volk von sicherlich mehr als tausend Menschen eine fröhliche, harmlose Stim mung. Unter ihnen fanden wir abseits, wie einen Schatten, Judith, bekleidet nur mit ihrem Badeanzug, am Boden sitzend. Neben ihr stand Urania, das Ärmchen um ihren Hals gelegt, zur Seite eine fremde Frau. Durch den Fernhörer vernahmen wir, daß Judith mit der Fremden in dem ver schliffenen Romanisch redete, zu dem die französische Sprache am Mittelmeer herabgesunken war. Wir konnten hören, daß sie sich beklagte, ihr Kind sei entführt worden, aber die andere Frau sagte. „Nun, da Sie mitgenommen werden auf Geheiß des Schiffsorakels, können Sie froh sein. Uns allen steht ja das höchste Glück bevor!“ Eine der aufwartenden Negerinnen kam und brachte Judith ein langes weißes Gewand, wie es die andern Frauen auch trugen. Judith zog sich zurück, legte das Ge wand an und setzte sich abseits mit dem Kind. Sie begann zu singen in ihrer schwedischen Muttersprache, und alsbald begriffen wir ihre List. Sie sang, was sie vorhatte, wie ein Schlummerlied: „Schlaf, mein Kind, schlaf! Die Mutter räufelt Wolle geschwind, — schlafe! 210
Die Wolle flattert hinab zum Meer — schlafe, mein Kind! Mit diesem Stückchen ich sie beschwer — schlafe, mein Kind! Und daß Ihr Lieben es nun erfaßt — schlafe, mein Kind, Ich bleibe hier nur als Gast — schlafe, mein Kind! Ich geh nun mit ihm hinaus in das Meer—schlafe, mein Kind, Und sendet mir, was ich begehr — schlafe, mein Kind, Den Fernhörer her!“ Alsobald suchten wir Verbindung mit Flius und wiesen ihn an, aus den Wollfaden zu achten. Flius hatte zum Glück eine dünne Stelithbindedrahtrolle in seinem kleinen Werkkasten. Er versprach, mit Hilfe des Wollfadens und des biegsamen Steliths den Fernhörer, wenn nur irgend möglich, zu Judith zu befördern. Dann wieder richteten wir die Aufmerksamkeit auf Mutter und Kind. In singendem Ton meldete uns Judith, daß das große Schiff am nächsten Morgen aufbrechen würde. Sie war, nachdem sie aufgefischt, in die Kajüte gebracht worden. Dort war hinter einem Kristallzylinder von Mannshöhe eine seltsame Masse gewesen mit zwölf betrachtenden Augenpaaren, die an die Seher von Hummern erinnerten. Ein Priester hatte sie befragt. Sie hatte die Geschichte vom Diebstahl des Kindes frank und frei erzählt. Darauf hatte der Priester ihr be deutet, ihr wäre die größte Gnade widerfahren, Druso nehme ihr Opfer an, sie gefiele ihm wohl. Sie meldete uns, daß das Schiff durch das Orakel in dauernder Verbindung mit dem Hauptplatze Kapstadt wäre, und selbstverleugnend schloß sie: „Ihr dürft nicht das Schiff angreifen. Es muß versucht werden, uns in Kapstadt zu befreien." — 211
In der Nacht glückte es Flius, schwimmend den Woll faden zu erreichen. Der Stelithdraht lief durchs Wasser an die Küste, hundertfünfzig Meter weiter. Judith zog mit dem Wollfaden den Draht hinauf und an diesem den Fern hörer. Nun konnten wir sie befragen. Sie meldete: „Bis jetzt geht es uns gut! Eine priesterliche Ärztin hat mich genau untersucht. Ich hatte das Gefühl, wie eine Zuchtstute behandelt zu werden. Nach dem, was ich sehe, glaube ich, daß die Drusonen uns zur Arbeit droben bei sich verwenden wollen. Beobachtet habe ich, daß einige stillende Frauen von den Priestern bewogen wurden, ihre Milch in Gefäße zu füllen, die der Priester ins Innere des Schiffes brachte. Es scheint mir, daß mit dieser Milch dies eigentümliche Wesen im Orakel ernährt wird. Viele Frauen sind aus probiert worden und jetzt sind drei endgültig bestimmt, ihre ganze Milch zu opfern.“ Auf diese Meldung hin sahen wir uns an. Thankmar sagte trocken: „Diese Wesen verwenden unsere menschlichen Frauen, wie wir die Kühe verwenden!“ Die Tiefe menschlicher Niederlage tat sich mit einem Schlage in ihrer ganzen Furchtbarkeit vor uns auf. Ich aber, von Verzweiflung ergriffen, schrie auf: „Soll Judith dazu erniedrigt werden?“ Liuwenhord beruhigte mich. „Die Menschenmutter wird nicht erniedrigt werden. Sie mußte ihr Kind suchen und finden! Das ist ihre Bestimmung! Auch Isis, wie uns die alten Sagen berichteten, suchte ihr Kind durch die ganze Welt! Mutter des Menschen sein, heißt ewig das Kind suchen!“ — 212
Acht Stunden später gelang es uns, Flius und Irmsried auszunehmen. Weinend sank das Mädchen an die Brust ihres Vaters. Sie bezichtigte sich der Untreue, hätte sie nicht die Blumen gesucht, das Kind wäre nicht verloren gegangen! Flius war ein neuer Mensch geworden. Alles Traum hafte, Ungewisse war von ihm abgefallen. Ich sah, daß seine Augen heller schienen, wenn seine Blicke Irmfried trafen. Liuwenhord tröstete die Tochter, als wäre sie ein kleines Mädchen, gut und lieb. Auch er schien zu verstehen, wie ich, was Flius' Blicke bedeuteten, und so gesammelt und ernst er war, er vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, während er der Tochter die tränenfeuchten Wangen streichelte. Durch Fernhörer und Fernseher gelang es uns, in den Kurs des großen Menschenfrachtschiffes zu kommen. Aber als dies den Ozean erreicht hatte, steigerte es seine Ge schwindigkeit so außerordentlich, daß wir weit zurückbleiben mußten. Ein Trost nur war es, daß wir Judith und das Kind sehen konnten. Es spielte mit den andern kleinen Mädchen, an Bord ward getanzt, Frohsinn herrschte. Judith mußte teilnehmen, um nicht aufzufallen. Ihre Meinung faßte sie in die Worte zusammen: „Meine Mitgefangenen, denn das sind sie ja doch nur, gebärden sich wie fröhliche Opferschafe!“ Die Besatzung schien gutmütig und fröhlich, nach Art der Neger. Ihnen war es große Ehre, den Dru sonen zu dienen. Vor der Kammer des Orakels bezeigten sie Ehrfurcht und Scheu. Gingen sie an der Tür vorbei, 213
so verbeugten sie sich und führten die Hand an die Stirn zum Zeichen sakraler Unterwerfung. Aber auch die Weißen waren von derselben Ehrfurcht für das Orakel erfüllt. Judith berichtete, daß die Frauen, die ihre Milch opferten, als besonders hoheitsvolle Wesen von den andern verehrt würden. Wir nahmen Kurs auf Kapstadt. Liuwenhord erwog, ob er eines unserer Flugzeuge, das in der Bucht von St. Helena ankerte, herbeirufen solle, aber die Berechnung lehrte uns, daß wir durch das Flugzeug vielleicht neun Stunden Ge winn hätten, aber danach ohne Hilfsmittel und Basis wären. “Mit dem, was ich hier an Maschinen und Material habe“, erklärte Hurst, „kann ich etwas unternehmen. Ich habe den Atomzertrümmerer da, ich kann den Kampf beginnen, wenn es darauf ankommt, aber ich brauche dies schwimmende Laboratorium.“ Doch diese neun Stunden sollten tatsächlich von Bedeutung sein, denn als wir uns Kapstadt soweit genähert hatten, daß wir rechnen konnten, in sechs Stunden vor der Tafel bergbucht zu ankern, konnten wir durch den Fernseher be^ merken, daß das große Raumschiff in der Bucht fertig ge macht wurde. Ich mußte mit ansehen, wie die Opfergänger in langem Zuge über eine Reeling einer Wasserplattform in das Innere des Kolosses geführt wurden, der aus einem wunderbar dichten, iridiumähnlichen Metall bestand. Zum letzten Mal hörten wir Judiths Stimme: „Verzagt nicht, das Ärgste wird uns nicht widerfahren! Lieber tot! Aber noch glaube ich an Rettung, Befreiung. Ich hörte sagen, ein 214
anderes Raumschiff träfe in einem halben Monat hier ein und ginge alsbald wieder ab. Paarweise ist der Verkehr dieser Raumschiffe.“ Hurst nickte. „Es ist das Prinzip der Seilbahnen aus den elektrischen Stromweg übernommen. Das Problem scheint klar.“ Diese Nachricht kam so unerwartet, daß ich zunächst noch gar nicht auszudenken vermochte, was sie bedeutete. So stand ich mit den andern vor der Schirmwand unseres mächtigen Fernsehers, und wir beobachteten hilflos, wie ein Bildgeschehen, die Abfahrt des Raumschiffes. Ein großer Teil der von Molen eingefaßten Bucht ward vom Wasser entleert, und der walzenförmige Koloß des Schiffs selbst rückgesaugt in das riesenhafte Abgangsrohr. Dann sahen wir nur noch einen goldenen Blitz. Ich aber fühlte meine Knochen wie Eis, mein Hirn wie Feuer, und schrie: „Ich hole meine Frau und mein Kind zurück!“ Liuwenhord erwiderte hart: „Ich erteile den Befehl dazu nicht! Du bist unser Kriegsführer!“ Ich aber, außer mir, rief: „Jeden schlage ich tot, der mich hindert!“ und muß so furchtbar ausgesehen haben, daß Liuwenhord blaß die Führerkajüte verließ und, nachdem er mit Hurst und Thankmar gesprochen hatte, zu mir kam und sagte. „Du handelst nach dem Gefühl und handelst richtig! Wenn Du auch untergehst, dem Mythos der Menschheit wirst Du dienen!“ Da trat Irmfried zu uns. In ihrer stillen, festen Art sagte sie: „Ich bin mit schuld daran, daß das Kind entführt 215
wurde, schuld also, daß unsere Judith nach dem Druso hin entschwand. Ich bin entschlossen, mitzugehen!" Und Flius rief: „Wenn Irmfried geht, fahre auch ich mit hinaus!“ Liuwenhord war blaß geworden. Er fuhr Flius an: “Es ist genug, wenn Alf auszieht in das Abenteuer, und ich der Mutter der Menschen meine Tochter opfere!“ Doch Flius schüttelte den Kopf: „Diese Sache ist die meine geworden! Irmfried wollte sogar heimlich sich in Villa Franca an Bord des Transportschiffes stehlen. Ich hab's ihr abgerungen, es nicht zu tun, und muß nun für sie einstehen und sie begleiten. Mein Wissen tut ihnen mehr not, als Euch hier drunten auf der Erde, die Ihr Hurst habt!“ Liuwenhord schloß die Augen. Ich sah, daß er Tränen nicht unterdrücken konnte. Er sagte: „Wille und Verstand genügen nicht bei einer Schicksalswende! Das Gefühl muß sprechen. Ich muß Euch gehen lassen! Der Mythos der Menschheit will es!“ Nun, da das Abenteuer beschlossen war, zeigte Hurst seine ganze bewunderungswürdige Energie, die auch mich bewegte, so daß ich wieder Hoffnung zu hegen begann. Hurst ließ durch kleine Fernseher jeden Annäherungsweg beobachten. Ein paar junge Männer mußten die Pfade, auf denen die Absperrung ungesehen erreicht werden konnte, durchmessen. Er isolierte nahe der Meeresbucht eine Stelle von zwanzig Meter Breite und ließ praktisch den Versuch machen mit ein paar Ratten, ob Durchbruch möglich sei. Danach be 216
arbeitete er systematisch die blinde Passage. Er stellte fest, daß es möglich war, Güter, die für Druso bestimmt waren, auszutauschen. Wohl patrouillierten Flugsicherungskäfer über dem ganzen Raum, aber sämtliche Arbeiten wurden durch Menschen ausgeführt, die nach dem Signal des Hafen orakels arbeiten mußten. Dank einer kleinen Handels kolonie, die von Boothia Felix aus unterhalten wurde, konnte Hurst selbst und ein paar seiner Leute sich in Kap stadt bewegen. Von St. Helena war ein Segler angelangt mit Atlantikern. Unter diese wurden auch wir gemischt, Flius, Irmfried und ich. Liuwenhord ließ auf dieses Schiff alles bringen, was wir brauchten an Apparaten und Ma schinen. Ein Teil der Mannschaft wurde in eine der Höhlen des Tafelberges geschmuggelt. Hier hatte sich Hurst beim letzten Aufenthalt Land sichern lassen. Weinkulturen gaben den Vorwand zu Arbeiten. Es war ein weitver zweigtes, mühseliges Unternehmen, aber für uns Drei selbst war es schrecklich, daß wir aller Arbeit zum Trotze warten mußten! Liuwenhord nahm von uns feierlich und still Abschied. Er mußte nach dem Norden zurück, um weiterzuarbeiten für das große Werk der Befreiung der Erde, in dem wir Fahrer nach Druso nur noch eine kleine Episode darstellten. Liuwen hord versammelte uns und seine treuesten Gefährten in der Hauptkajüte des Unterseebootes. „Wir wollen des Ferryman gedenken“, sagte er, ,,der uns das Herz gegeben hat, Men schen zu bleiben mit menschlichem Hochsinn!“ — Und er schlug das Buch auf und las die berühmten Verse, die den 217
Atlantikern die Wegweisung zu Gott bedeuteten. Und Liuwenhords Glauben war wie ein kühlendes Öl, das mild in die Wunden meiner Seele floß. Zum Abschied umarmte er Irmsried, Flius und mich. Mit geschlossenen Augen verließ er unser Boot und begab sich an Bord des zweiten Unterseebootes, das ihn zurück nach St. Helena bringen sollte. Das große Unterseeboot, das uns herangebracht hatte, blieb als Sicherung unter Wasser an einem stillen Teil der Küste liegen, achtzig Kilometer entfernt. Wir blieben durch Fernhörer und Fernseher miteinander in Verbindung. Inzwischen rüstete uns Hurst aus mit allem, was er für die Überfahrt für notwendig hielt. Und er belehrte vor allem Flius über die Möglichkeiten des Lebens aus dem Raumschiff und Druso. Der biochemisch-elektrische Prozeß mußte nach der Berechnung anders verlaufen als aus Erden. “Daß die Drusonen Mannschaften und Menschenfracht schlafen lassen“, erklärte er, „daß nur der Steuermann wach zu bleiben scheint auf einem elektrisch geladenen Lager, weist darauf hin, daß die Drusonen von den Menschen erst Gebrauch machen wollen, wenn sie auf ihrem Stern an gelangt sind. Dort wird sich der Organismus anpassen. Alle Prozesse des Lebens werden weniger chemisch-elektrische Energie verschlingen als aus der um soviel mal schwereren Erde. Ihr werdet im einzelnen ja sehen, wie sich das aus wirkt. Aber ich gebe Euch meine neu gearbeiteten Apparate mit, die besser sind als das Muster der Drusonen. Sie stellen die Körperchemie und Elektrizität automatisch auf die 218
Massenverhältnisse um, zu denen sie in Beziehung stehen. Ich hoffe also, Ihr werdet nicht den Kopf verlieren!“ Wir wurden ausgerüstet mit Sprengstoffen, mit Blau panzern und mit jenen metallenen Sicherungen, die wie ein Netz übergeworfen es dem Körper erlauben, starke elektrische Kraftfelder zu passieren. Diesen Behelf hatte Hurst arbeiten können in Erinnerung an die Kriegsmittel der Menschheit aus vergangenen blutigen Tagen, da der elektrische Krieg Trumpf wurde. Bis ins kleinste war alles durchdacht. Wir gingen in das Abenteuer hinein als wohlvorbereitete Pioniere. Hursts Plan, uns auf dem Raumschiff unterzubringen, war an sich sehr einfach. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß sehr viel Wolle vom Raumschiff mitgenommen wurde und hielt es für das Einfachste, daß wir als Wolleballen mit überführt würden. Es war dies deshalb möglich, weil die Unterbringung der Waren im Raumschiff nicht wie im Laderaum eines Schiffes getätigt wurde, sondern die Ballen wurden eingeklemmt zwischen Haltenetze. Das war wohl notwendig, damit bei der Fahrt durch den Raum, bei dem sich ja die Schwereverhältnisse dauernd änderten, keine Massenverschiebung möglich war. Aber es ergab sich, daß dieser so einfache und sinnreiche Plan ein Loch hatte. — Unter der Lademannschaft befanden sich Atlantiker, die seit Jahren für Liuwenhord tätig waren. Hurst rechnete sicher mit der Möglichkeit, daß einer dieser Männer Zugang zu dem Warenpier hätte und uns also leicht einschmuggeln könnte. Aber er hatte nicht bedacht, daß die Drusonen automatische 219
Sicherungen durchgeführt hatten. In der Tat, einen Tag vor Rückkunft des Schiffes wurden sämtliche Lagerräume geschlossen. Keinem wäre es möglich gewesen, dort noch einzudringen innerhalb einer so kurzen Zeit. Wir wurden von einer schrecklichen Unruhe ergriffen, daß unsere Fahrt im letzten Augenblick in Frage gestellt sein sollte, nachdem wir fest an unsern ersten Plan geglaubt hatten. Aber Hurst verzagte nicht. Aus den ihm über mittelten Ladelisten hatte er ersehen, daß es brennbare Güter an Bord gab. Freilich waren sie so untergebracht, daß sie niemals eine wirkliche Gefahr bedeuten konnten, aber in der Geschichte der Raumschiffahrt spielten in der Tat Brände eine gewisse Rolle. Es wurden also drei Atlantiker unter der Lademannschaft mit bestimmten Be fehlen versehen. Der Zugang sollte diesmal so erlangt werden, daß, während die Menschenfracht auf das Raum schiff übernommen wurde, Brand und Verwirrung ange richtet werden sollten. Die Drusonen brachten vor der Einschiffung die ver schiedenen Menschengruppen in einer großen Auswanderer halle unter, zu der Zugang zu erreichen war für jeden, der sich überhaupt in der gesicherten Umfriedung befand. In dieser Halle einzelne vor der Eröffnung unterzubringen, war möglich, denn die Drusonen versahen sich ja keines Arges; die Opfer der Götter waren gefügig und fromm. — Diese ganze Menschenmenge wurde dann auf das Schiff ein getrieben und erst hier auf dem Schiff, wenn alles ver sammelt war, begann eine eigentliche Zählung. Darauf nun 220
baute Hurst. Eine Verwirrung an Bord sollte die Aufmerk samkeit ablenken, ein Rauchnebel die Sicht erschweren, und die Staumannschaften uns in den Laderäumen unterbringen. Wir wußten durch die Berichte der menschlichen Maschinisten, die unter dem Befehl der Drusonen im Raumschiff dienten, den genauen Verlauf der Fahrt. Die Pforte wurde ge schlossen, elektrisch alle Maschinen und Apparate des Schiffes von der Zentralstelle aus kontrolliert, von jenem seltsamen Kristallzylinder, in dem sich ein Wesen befand, ähnlich dem in den Orakeln. Ein letztes Zeichen wurde gegeben, Schrillen der Klingeln, Aufzucken roter Lichter. Der mensch liche Kapitän begab sich in seine Kajüte auf sein Lager, wie jeder andere der Mannschaft. Setzte sich das Schiff in Be wegung, so wurden alle von einer seltsamen Starre be fallen, aus der sie erst erweckt wurden, wenn das Schiff schon im Drusohafen verankert war. Auch mit dem Grunde dieser Starre wurden wir durch den Bericht eines der Atlantiker bekannt. Bei diesem Maschinisten hatte sich der Bann durch irgendwelche Ursache gelöst, und als er, erwachend, gehen wollte, glaubte er ver rückt werden zu müssen, denn er konnte sich nicht auf den Füßen halten, geriet in einen Gliederwirbel; bei der kleinsten Bewegung machte sein Körper Sprünge von fünf bis zehn Meter. — Unsere Hilfsmittel mit an Bord zu nehmen, würde keiner verhindern. Wie Auswanderer nahmen die Menschen, die aus das Raumschiff gingen, alle Erinnerungsgegenstände, Kleider, Andenken mit. Die Drusonen wußten aus Erfahr 221
rung, wie sehr die Menschen an Kleinigkeiten hingen, und wie leicht es war, sie durch Gewährung geringfügiger Ver günstigungen bei guter Laune zu erhalten. So schnell improvisiert der zweite Plan war, er hatte viel Gutes für sich. Wir waren nicht auf Zufälle angewiesen, sondern konnten mit Hilfe der uns ergebenen Mannschaft selbst einen gesicherten Platz finden. Und bei der Landung mußten wir uns eben auf das gute Glück verlassen, auch dar auf, daß in den Aufnahmehallen wieder Männer von Boothia Felix — die wir an dem blauen Punkte unter dem Ohr erkennen konnten, ebenso wie sie uns — zur Stelle waren. Schade nur war es, daß wir nicht das Raumschiff zur Verfügung hatten, auf dem seit fünf Jahren ein Atlantiker Steuermann und ein anderer erster Ingenieur war. — Aber auf dieses Schiff sollten wir unser Augenmerk richten für die Rückfahrt. „Im Notfall“, rief Hurst, „werden wir es erobern und selbst kommen, Euch zu holen!“ In diesem Augenblick erschrak ich heftig, denn dies Wag nis erschien mir, der manches Abenteuer bestanden hatte, toller als alles andere: Hurst als Pirat war nicht denkbar! Ich muß es heute noch bewundern, daß wir seinen Wei sungen mit absolutem Vertrauen folgten. Wir setzten nie einen Zweifel in seine Worte. Wir beugten uns vor seiner Überlegenheit. Aber es wäre uns auch nichts anderes übrig geblieben. Die Erde hatte jetzt für uns Drei jeden Sinn ver loren, wir mußten zum Druso, wir mußten aufbrechen zur Befreiung! Wir waren wie Kugeln vor dem Abschuß. 222
Wir hatten die Rückkehr des Raumschiffes von unserm Segler aus erlebt. Einen Augenblick schien es, als ob ein dunkles Loch im Himmel entstände, dann sahen wir ein feuriges Gleißen, und es folgte das geyserartige Aufspritzen des Meerwassers aus der Sicherungsfläche. Und das Boot verdrängte das Wasser in dem Aufnahmetunnel mit solcher Kraft, daß sich Dampfwolken bildeten. Dann ragte aus dem Wasserschacht das konische Achterteil heraus und glänzte gol den in der Sonne. Stahlbrücken wurden herangeschoben, doch sechs Stunden vergingen, ehe irgend etwas weiteres ge schah. Dann öffneten sich die Luken, und Ameisen schienen aus dem Koloß herumzuwimmeln. Das war für uns das Signal, an Land zu gehen. Ein Atlantiker geleitete uns in eine Hafenkneipe. Hier fanden wir die beiden Stauer, Menschen von großer Kraft, die aber im Beobachten gut durchgeschult waren. Zwölf Jahre verrichteten sie hier den Dienst, treu wie Soldaten. Sie waren freudig erregt, daß wir das Wagnis unternehmen wollten, und gaben uns Ratschläge, soweit sie konnten. Als es dunkel geworden war, ging der eine zu der Aus wandererhalle und der andere an die ihm bezeichnete Bresche in der Sicherung. Hier verließ uns Hurst: „Vergeßt nicht, bei der Rückkehr meinen magnetischen Apparat in Tätigkeit zu setzen, sonst könnt Ihr hier unten sechs Stunden lang nicht laufen, nnd diese Zeit kann für Euch Gewinn und Sieg be deuten!“ — Das waren seine letzten Worte, in denen sich die Sicherheit ausdrückte, wir müßten zurückkommen.
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XVIII. Motto: Alles, was Menschen je erlebten oder durch führten, war Jahrhunderte zuvor Traumgut der Menschheit und wuchs, durch Sehnsucht getrieben in die bewußte Vorstellung. Alles, was Tat wurde, hat der Gedanke vorweg genommen. Herwig, Denker des 21. Jahrhunderts. Die Wartehalle der Druso-Auswanderer. Der erste Teil des Planes gelingt, das Raumschiff wird erreicht. Das Innere des Raumers. Die Fahrt beginnt und zeigt ihre Tücken. Die Metallschuhe. Vor bereitung für die Landung. Der Raumer gelangt in die DrusoAtmosphäre.
Draußen empfing uns der Stauer. Wir schritten durch einen großen menschenleeren Raum. Die Maschinen waren verlassen, alles ruhte. Er öffnete uns die Auswandererhalle. Große Leinwandpläne lagen neben Ladetischen. Es war sehr einfach, sich dem Eingange gegenüber niederzulassen und zu warten. Wurde die Halle geöffnet, konnte es nicht schwer sein, wenn sie einigermaßen gefüllt war, aufzustehen. Bis hierher war also das Unternehmen für uns ohne Ge fahr und Schwierigkeit. Die Nacht, die wir in der Halle zubrachten, ließ uns nicht schlafen. Wir sprachen über das Unternehmen, wir über legten, was wir tun wollten, und endlich sagte Irmfried: “Nichts werdet Ihr erreichen, wenn Ihr jetzt vorzeitig alles denken wollt!“ 224
Endlich brach der Morgen an. Aus unsern Uhren sahen wir, daß es etwa gegen Zehn war, als sich ein großes Ge trappel der Eingangspforte näherte. Befehle wurden er teilt. Wir duckten uns hinter die großen kastenähnlichen Tische. Die Menschenmenge quoll herein, fröhlich und unter Gelächter. Sobald wir merkten, daß sie in der Nähe waren, stand Flius zuerst auf, dann erhob ich mich, als ob ich etwas aufgenommen hätte, und schließlich setzte sich Irmfried auf den Tisch. Ein paar Frauen mit Kindern kamen, die sie streichelte. Aus den Gesprächen, soweit wir sie verstehen konnten, entnahmen wir, daß die gesamten Abfahrer herrlich am Abend zuvor bewirtet waren und darauf fest und gut geschlafen hatten. Sie lobten die guten Götter, die sie in das Land aller Herrlichkeiten zu sich beriefen. Selbst jene Kinder, die ohne Eltern unter der Aufsicht von Pflegerinnen da waren, zeigten keine Traurigkeit oder Tränen. Sie waren mit allerhand Spielzeug erfreut und tollten und jubelten in dem großen mächtigen Raum, daß es hallte. Irmfried sagte zu mir: „Die Halle erinnert mich an einen großen Hühnerkäfig, in dem alles durcheinanderschwirrt.“ Endlich öffnete sich die Ausgangspforte, und alle strömten zu den sechs Aufgangstreppen, die zum Sammlungsdeck auf dem Schiffe führten, jeder mit seinem Bündel in der Hand oder dem Sack auf dem Rücken. Es sah aus, als ob wir einen schiefliegenden metallenen Turm besteigen sollten. Die erste der Aufgangstreppen war für die Kinder bestimmt. Sie war flach gehalten und zog sich in Spiralen mit durch Segel gesicherten Seitenwänden zu der ersten Plattform. 225
Danach kam eine zweite Treppe für Frauen mit Kindern, die dritte für Frauen und die steilste für die Männer. Wir mußten uns von Irmfried trennen und sahen sie im gleichen Abstande mit uns langsam dem Schiff entgegenstreben. Ich weiß nicht, wieviel hundert Stufen wir hinauf mußten. Es war beschwerlich und einer drängte den andern. Stimmen schwangen durcheinander. Wir aber hatten nur Blicke für das Mädchen, das etwas weiter unter uns langsamer empor kam, da der Weg ein größerer war. Wir standen schon auf der Plattform, als sie den Fuß endlich hinaufsetzte. Ihr blon der Kopf war unter den vielen Frauen und Mädchen für uns gut erkennbar. In dem dichten Gedränge trachteten wir nach der Verabredung auf die rechte Seite zu gelangen, da von dort aus die Aufstiegstreppe in die Schiffsräume führte. Jede dieser Treppen war besetzt durch zwei Wach habende. Unsere Spannung wuchs. Wir sahen auf die Uhr. Zwölf Uhr und fünfunddreißig Minuten sollte geschehen, was verabredet war. Flius wurde erregt. Die Trennung von Irmfried beraubte ihn jeder inneren Sicherheit. Das Mäd chen winkte uns heiter zu. Ihre Selbstbeherrschung war be wundernswert. Ich stand unter meinem Entschluß. Da es jetzt soweit war, schien mir alles gleich. Dabei war ich seltsam hellsichtig und gespannt. — Auf einmal ertönten drei hef tige Glockenschläge. Wir sahen, daß die Wachhabenden sich umwandten, Pfeifensignale schrillten, und schon schlug bei ßender Rauch von oben hernieder. Die Wachhabenden, zu denen die Menge aufschrie, wand ten sich beruhigend hinunter, aber der Rauch wurde uner 226
träglich, sie mußten sich Augen und Nasen zuhalten. Dies war der gewonnene Moment. Wir stießen den einen hin unter, den andern mit den Armen fort. Wir sprangen hin auf und sahen zur Freude im Gange, der leer war, daß das Mädchen gleichfalls Glück gehabt. Sie wurde von dem Stauer, der mit uns im Bunde war, ergriffen. Der Mann winkte uns, wir liefen ihm schnell nach. Er flüsterte uns zu. „Alle sind hinüber zu den Öl- und Ätherräumen!“ Der Bau dieses Schiffes war für uns verwirrend. Zwar hatte Hurst uns aus dem Plan, den er gezeichnet, alles ge wiesen, es uns klargemacht, daß bei dem Schiff der Insekten körper eine Rolle spielt, daß die Chromosome der Insekten durch elektrische Stationen nachgebildet waren. Durch be stimmte, Nerven nachgebildete Stränge pulsierten ungeheure elektrische Ströme, und jeder Raum war um einen solchen Strang angelegt. Es gab darum nicht große, hohe Räume, sondern das ganze Schiff war in Zellen geteilt von vier Meter Länge, zweieinhalb Meter Breite, drei Meter Höhe, eine in die andere fassend. Wer sich hier in diesem Gerüst verirrte, war leicht verloren. Der Stauer machte uns darauf aufmerksam, daß unser Rückweg durch kleine blaue Flecke gesichert wäre, die er in die Ecken gewischt hätte. Endlich er reichten wir einen Laderaum. Der Stauer baute vor uns eine Barrikade aus viereckigen Metallkästen auf. Wir hat ten jetzt eine Ecke zur Verfügung von zweieinhalb Meter im Geviert und drei Meter HöheAn dem Geschrei und den Befehlen hörten wir, daß der Kampf gegen den Brand im Gange war, aber schon zehn 227
Minuten, nachdem wir glücklich untergebracht, hörte die große Bewegung auf. Wir vernahmen wieder einfache Signale. Es wurde geklopft, gearbeitet, gestaut, wie nur auf einem Verkehrsflugzeug unserer längst entschwundenen Zeit. „Woher empfangen wir eigentlich Licht?“ fragte Irmfried, als wir uns ein wenig beruhigt hatten. Wir sahen, daß die Deckfläche selbstleuchtend war und konnten es auch prüfen. Zuerst war sie uns wie ein mattes Glas erschienen, aber ein Klopfen belehrte uns, daß es ein Metall war, dessen Herkunft wir nicht kannten. Am ruhigsten war Irmfried, während Flius und ich uns gegenseitig darauf aufmerksam machten, wir hätten rote Köpfe. Mit einem Male war es uns, als ob wir taub würden. Ich sah, daß Flius sich zur Seite neigte, wie von Müdigkeit ergriffen, und auch ich fühlte mich von einem nicht abwehr baren Schlaf befallen. Es mochte das die Rückwirkung der aufgeregten, unter Gesprächen hingebrachten Nacht sein. Aber als ich die Augen wieder öffnete, hörte ich Irmfrieds Stimme: „Bin ich froh! Ich dachte, Ihr beiden würdet nie mals erwachen! Flius kommt immer noch nicht ganz zu sich. Vierundzwanzig Stunden habt Ihr dagelegen. Ich habe auch geschlafen, aber bei mir war es mit acht Stunden genug!“ „Was ist denn?“, fragte ich, noch ganz benommen. “Fahren wir schon?“ „Gewiß“, sagte Irmfried, „und Ihr habt vergessen, Hursts Rat zu befolgen und die elektrischen Apparate einzuschalten. Wir haben doch lange besprochen, daß die Starre bekämpft 228
werden muß und daß diese kommen müsse, weil der Raum andere Gesetze hat als die Erde, und daß die früheren Raumfahrten, die uns Hurst genau beschrieben, den Men schen gezeigt haben, sie brauchten für Raumfahrten beson dere Apparate, um ihr chemisch-elektrisches Nervenleben nicht aus einen Nullpunkt sinken zu lassen!“ Ohne Irmfrieds Bedachtsamkeit wäre schon so unser Abenteuer durch törichten Selbstverrat im ersten Anfang gescheitert. Das Wundersame in der Rückerinnerung dieser Fahrt wird für mich die Stille bleiben. Wir hatten kein Gefühl einer Bewegung, wir hatten kein Gefühl der Zeit, alles um uns war ganz still. Flius dachte angestrengt nach. „Einer von uns muß hinaus!“ sagte er. „Wir brauchen die Schuh, von denen Hurst uns gesprochen hat.“ „Aber Hurst hat auch vermutet“, erwiderte Irmfried, ,,daß wir mit der Körperstromanpassung allein vielleicht ankommen können.“ Ich sagte: „Nein, ich werde die Schuh besorgen. Das ganze Schiff befindet sich im Bann. Daß die Drusonen keine geheimnisvollen Überwachungsapparate haben, Fern seher wie wir, wird dadurch bewiesen, daß wir bisher un behelligt sind." „Stellen wir den Fernseher auf die Drusonen ein!“ rief das Mädchen. Soweit waren wir von der Ausnutzung logischer Mög lichkeiten entfernt gewesen in unserer Verwirrung, daß wir 229
das Naheliegende nicht gleich getan hatten. Der Fernseher tat uns sehr große Dienste. Wir sahen das ganze Zellen gewebe des Schiffes. Dort, wo die Leitung war, konnten wir keine kristallene Orakeltube erblicken. Ein Metallzylin der, der für unsere Strahlen erster Ordnung undurchdring lich war, beherrschte mit seinem Schatten einen großen Tei. des vor uns liegenden Schiffskörpers. Die Drusonen also waren nicht zu fürchten, denn kein Spiegelapparat oder eine Öffnung zeigte, daß sie Ausschau halten konnten. Der Zylinder war hermetisch verschlossen, wie ein Rollschrank. Strahlen zweiter Ordnung einzuschalten, wagten wir nicht. Ihr Reiz hätte unsere Wirksamkeit und uns selbst vielleicht verraten. Aber wir hatten den Vorteil zu sehen, wo das Schuhlager war. Wir brauchten nur den Weg, den wir ge kommen, zurückzugehen, so befand sich das Lager neben der Pforte vom Ausgang. Die Schuhe waren in Draht regalen festgeklemmt und konnten sich nicht verschieben. Ich unternahm den Weg dorthin. Aber es war sehr seltsam. Meine Füße sanken zwar nach unten, hafteten aber nicht. Es war, als ob ich durch den Raum hindurchschwamm. Eine kleine Bewegung genügte, um mich über Meter hinwegzu befördern. Natürlich, das Raumschiff hatte nur für alle Gegenstände die Haftung, die ihm die eigene Struktur ver lieh. Ietzt war mir das seltsame Geräusch im Anfang klar. Der ganze Körper war innerlich durch Hochdruck gespannt. Dieser Hochdruck hatte die Müdigkeit erzeugt. Die um so vieles dichtere Innenatmosphäre des Raumschiffes wirkte auf die leicht gewordenen Körper hemmend ein, wie eine 230
Flüssigkeit. Durch diese Atmosphäre schwamm ich gewisser maßen durch das Schiff hindurch, und es war nur ein leichtes, die auf der Erde sicher sehr schweren Schuhe zu nehmen, um mit ihnen wieder durch die Gange, Türen und seltsam geformten Räume zurückzurudern zu unserm Versteck. Jrmsried hatte mich verfolgt. „Wie eine Kaulquappe in einem Aquarium hast Du ausgesehen!“ sagte sie mir und machte mir lachend nach, wie ich an einer Türschwelle, nach dem ich mühsam die Tür selbst mit Schwimmbewegungen beiseite bewegt hätte, hinübergeglitten sei wie ein Fisch, der sich vom Bauch auf den Rücken legt. Wir prüften die Metallschuhe. Sie waren kunstvoll ge arbeitet und gelenkig. Ich hatte gut gewählt. Sie paßten uns allen ganz gut. Wir berechneten die Zeit und hatten nach unserer Meinung noch zweiundneunzig Stunden bis zur Landung vor uns. Wir begannen das Schiff in seinen Einzelheiten zu studieren; denn das war ja erste Bedingung für unsere Rettung, ein genaues Bild von jedem Tritt zu haben, den wir zu machen hatten. Die Menschenladung war untergebracht im Vorschiff in einem großen kubischen Raum. Jeder hatte zur Abfahrt auf sein Lager steigen müssen, das einer an den Füßen offenen Kiste glich von zwei Meter Länge, anderthalb Meter Höhe und anderthalb Meter Breite Auch hier bestand außer den Stützpfosten alles aus Federn. Dieselben Federungen lagen zwischen Bodenbelag der einen und Decke der anderen Raumes durch das ganze Schiff hindurch. Aber die Beo bachtung vermochte mich nicht ganz zu fesseln, mir Ruhe 231
zu schaffen. Immer wieder mußte ich an Judith und das Kind denken. Zu mir selbst kam ich mit einem Male durch den Ruf Irmfrieds: „Alf Bentink, den Trost haben wir, daß Judith und Urania auf der Fahrt nichts hat geschehen können!“ — Prächtig war es, durch die Röhrenanlagen die Hochspan nungslichter der elektrischen Ströme zu beobachten. Es war, als ob ein ganzes Nervengeflecht von Geißlerröhren aufflammte. Wir unterschieden sehr gut die nach Ultra violett und nach Ultrarot hin bestimmten Wechsel. Stunden lang konnte man sich nicht satt sehen an dem Anblick. „Das wäre etwas für Hurst!“ meinte Flius. „Der würde sich von dem Schiff überhaupt nicht mehr trennen!“ Wieder war es Irmfried, die an das Nächste dachte: “Wie werden wir uns bei der Landung verhalten?“ Ich erklärte: „Wir müssen in Wachen schlafen, wie See leute, immer zwei wachen, einer vier Stunden schlafen; denn sowie die Landung erfolgt ist, müssen wir unsere Plätze in der Nähe der Ausgangspforte einnehmen!“ „Gewiß“, pflichtete Flius bei, „und Hurst bemerkt nun in seinen Ratschlägen — er zog den Aufzeichnungsstreifen hervor — „wir sollten uns unter die Auszuschiffenden mischen.“ Ich dachte nach. „Aber wenn sie nun bei der Ausschiffung Frauen und Männer trennen?“ Irmfried muß als Mann auftreten! Das gab die nächste Arbeit, dem Mädchen Mannskleidung zu verschaffen. Dieser Aufgabe unterzog sich Flius. Dank 232
des Fernsehers gelang es ihm, ein paar Hosen aus der Schlafkammer des uns vorher benannten Boothia FelixSteuermannes zu holen, der mitfuhr. Durch ein atlan tisches Geheimzeichen verständigte er den Ruhenden. Irmfried paßte sich das Gewand an. Unter Flius’ Kappe sah sie aus wie ein etwas knabenhafter junger Mensch. ,,Daß keiner der Atlantiker von Druso zurückgekehrt ist!“ erwog Flius nachdenklich. Trotz meiner eigenen Beklemmung mußte ich lachen. Es war ganz seine Art, vorher alle Schwierigkeiten zu beden ken. ― Irmfried wußte zu erzählen von Männern, die hinübergeschickt wurden. „Jeder hatte den Auftrag erhal ten, die Rückkehr zu versuchen! Der Vater hat oft Hoff nungen daran geknüpft. Seit über hundert Jahren haben wir unsere Männer eingefädelt in die Raumschiffahrt. Da sie intelligenter sind und besser vorgebildet als die andern Arbeiter, die sich die Drusonen aussuchen, so rücken sie bis zu den höchsten Stellen auf. Ich erinnere mich daran, daß vor sieben Jahren Cassaniak verschwand. Das war ein prachtvoller Skiläufer, der mir als Kind die ersten Bewe gungen auf Schnee und Eis beibrachte. Cassaniak war sogar Steuermann und Kapitän des Raumschiffes, kannte alle Einrichtungen, und die Drusonen haben ihn drüben behalt ten, vielleicht weil er zuviel wußte oder weil er sich irgendwie verraten hatte durch Wißbegier. Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist.“ Stark kam es uns zu Bewußtsein, daß wir auf Druso auf die Menschen angewiesen sein würden, die dort in 233
Knechtschaft und Schimpf leben. Aber eine genaue Vor stellung konnten wir uns freilich nicht machen. Flius be hauptete: „Nach meiner Meinung sind die Drusonen trotz ihrer Macht und Klugheit ein schwindendes Geschlecht. Wären sie das nicht, würden sie die Erde bevölkern. In der Tat halten sie die viel größere Erde besetzt wie ein Latifun dium. Sie treiben Raubwirtschaft mit möglichst wenig Kräften. Und gibt es nicht zu denken, daß selbst die Kampfkäfer nur dadurch imponierend erscheinen, daß sie durch Metallmaschinen ihre Wirkung und Kraft verstärken? Wie so manchem Erobererfürsten der Erde geht es viel leicht den Drusonen so, daß die unterdrückten Menschen ihren Stern selbst erobern.“ „Was für eine merkwürdige Empfindung ist das!“ rief Irmfried aus und griff sich an den Rücken. Im gleichen Augenblick tastete Flius nach vorn und ich, der hastig auf fuhr, fühlte, wie meine Füße die Wand berührten. Flius rief: „Anziehung Drusos!“ — Alsbald merkten wir, daß die Empfindung wieder nachließ, aber ständig kehrte sie wieder. Wir spürten, wie irgend etwas im Schiffe regulierend wirkte. Durch den Fernseher sahen wir, daß die elektrischen Strommaschinen aufs heftigste arbeiteten. „Fertigmachen!“ mahnte Flius. Seine Stimme war belegt. Wir zogen die Leinenkleider über unsere blauen, bestie felten uns mit den schweren Metallschuhen, machten im Bündel alles griffertig und schoben uns, das neuartige Gehen versuchend, durch die Gänge. Ein wenig kamen uns 234
bereits die Galoschen zu Hilse, aber eigentliche Schritte durften wir noch nicht machen. Wie Taucher aus dem Meeresgrund bewegten wir uns und kamen zu jenem Durchgang, wo wir in eine Ausschaunische treten konnten. Wir waren sicher, daß auch Mannschaft nicht hierher kom men würde, da die Mannschaftskojen ganz im Vorschiff ge legen waren. Plötzlich wurden wir gerüttelt. Wir wären an die Decke geflogen. hätten uns die Galoschen nicht gehalten, die jetzt fühlbar schwer waren. Draußen brauste es auf. Es klang wie eine Dampfexplosion. Der Schiffskörper begann zu zittern. Die Bodenebene veränderte sich. Wir sahen jetzt den sinnreich geordneten Innenbau in seiner Ingenieur klarheit. Alle Räume drehten sich selbständig im rechten Winkel. Wir hatten das Gefühl, als würden wir auf den Rücken gelegt, und doch standen wir. „Eine Zellenanpassung an veränderte Verhältnisse! Wir sind in der Drusoatmosphäre!“ erklärte Flius die Er scheinung.
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XIX. Motto: Wer die reißenden Wogen überkreuzen will, auf eigener Brücke läßt er das Gestade zurück: ein Floß wohl zusammenbindet der Mensch, entronnen sind Weise hinübergelangt. Aus den letzten Tagen Gotamo Buddhos. 6. Jahrhundert v. Chr. Landung. Bekanntes und Unbekanntes fluten durcheinander. Die Verbindung der Atlantiker bewährt sich. Vern. Erste Nachrichten über die Menschensiedlungen auf Druso. Das Rot der Atmosphäre. Cassaniak und die Blauen. Suche nach Judith mit dem Fernseher. Die Sprache der Drusonen. Flius findet mit dem Fernseher Judith. Wie Alf sie wiedersah. Sklavendienste der Menschen.
Sausen wuchs zum schrillen Kreischen. — Stoß. — Er schütterung! — Draußen hörten wir menschliche Stimmen schreien. Irm fried und Flius horchten auf. Irmfried unterschied Worte der Mittelmeersprache. Es dauerte eine Zeit, ehe wir Schritte im Schiff hörten. Plötzlich stand ein Wachhabender vor uns. Ich griff zur Flüssigluftpistole, aber der Wach habende machte die Bewegung der Atlantiker. Es war einer unserer Vertrauensleute an Bord. „Still!“ sagte er, „bleibt hier.“ Er schob eine Wand beiseite. Es war das der kleine Raum zwischen den ge drehten Wänden. „Wartet hier! Ihr könnt im Menschen strom an Land gehen. Wir dürfen nicht folgen, müssen 236
bleiben. Aber in der Halle sind ein paar der Unsern. Sie werden Rat schaffen!" So war alles besser, als wir es gedacht hatten. Wir war teten ab, hörten Durcheinander von Stimmen. Die Mann schaften beförderten die Menschenlast hinaus. Zuerst die Männer. Durch den Spalt konnte ich sehen, wie der erste mit einem mächtigen Sprung aus der Tiefe emporschoß und sich den Kopf empfindlich stieß. Er fiel zurück wie ein Gummiball, aber schon ergriffen ihn zwei der Matrosen, führten seine Füße in die Metallgaloschen, und mühselig schaukelnd, wie ein Taucher auf Grund, stand er. Rasch füllte sich der Raum. Wir traten heraus, mischten uns unter die Masse und gelangten so über eine breite Fläche herabrutschend auf eine Art Mole. Wir sahen uns um und schauten in eine Luft, die rot war, wie Sonnenuntergang. Und über uns hing dunkelrot ein mächtiges Gestirn: Die Erde. Sie schien uns den achten Teil des Himmels einzu nehmen. Alle um uns herum schauten hinauf, und wir ver standen das Wort in den verschiedenen Sprachen: Die Erde! Aber das Volk, das uns umgab auf Druso, war nicht an ders, als ein Haufen Volk sonst. Mit Geschrei wurden wir in Empfang genommen. Wir sahen, daß viele der Menschen, die auf Druso Dienste taten, keine Galoschen mehr trugen. Andere wieder gebrauchten kleinere Schuhe. An den Füßen konnte man diesen Geschöpfen den Grad der Anpassung an den neuen Stern ansehen. Konische Stumpfe standen auf der Mole und auf ihnen wie Monumente Wachen der Riesenkäfer. Ein paar flogen 237
über den Haufen; das waren die Ordnungssoldaten. In verschiedenen Sprachen der Erde ertönte eine laute Stimme: „Links zur Halle I!“ Betäubt ließen wir alle uns dahin schieben. Als ich mich von ungefähr zu dem halb aus dem violett schimmernden Wasser herausragenden Raumschiff um wandte, sah ich droben auf der Plattform unfern Betreuer vom Schiff her. Er machte das Zeichen der Atlantiker, und sofort bemerkte ich, daß einige unten erwiderten. Wir mach ten dasselbe Zeichen. Ein großer, blonder Mann trat an unsere Seite. „Folgen!“ sagte er halblaut. Und er führte uns in die Halle. Irmfried redete so schnell mit ihm, daß ich kaum zu folgen vermochte. Ganz rot wurde der blonde Mensch. Auf das Wort „Liuwenhord“ hin neigte er den Kopf. Die Halle, in die er uns führte, war abgeteilt. Wie eine Herde wurden immer sechzig und sechzig eingepfercht. Der Blonde ließ uns hinter einer Metallschranke verschwinden. Es war im Durcheinander nicht zu sehen, denn er deckte uns und brachte uns in einen Raum, der als Schreibstube diente. „Hier bleibt!“ sagte er. „Wasser ist im Schrank, auch einige Nahrung. Ihr werdet Euch daran gewöhnen müssen!“ In diesem Raum war ein Fenster. Vorsichtig schaute ich hinaus. Die Wand ging auf eine große Tiefe hinunter. Es war zu begreifen, denn die Mole war für die Aufnahme des Raumschiffes sehr hoch gebaut. Wir befanden uns über dem Boden des Druso, wohl sechzig Meter hoch. Drunten 238
arbeiteten Menschen. Sie hämmerten, und es war seltsam anzusehen, mit was für gigantischen Werkzeugen sie um zugehen wußten, was sie für Kräfte entfalteten. Nach einer Stunde ungefähr kam unser rotblonder Be treuer zurück. Er bat uns, Geduld zu haben, noch seien die Arbeiten am Kai im Gang, er würde uns beim Eintritt der Dunkelheit in seine Behausung führen. „Ja, lebt Ihr denn hier frei?“ rief ich erstaunt. „Frei?“ antwortete er, „wie man es nimmt! Wir haben hier unsere Menschensiedlungen und Städte, genau wie auf der Erde, nur dürfen keine Stammeskriege geführt werden und die Flugwächter halten scharfe Wacht über den Ver kehr. Wir haben unsere Arbeit, ein auskömmliches und genußreiches Leben. Lesen und Schreiben ist bestimmten Klassen erlaubt, anderen verboten. Die Priester pflegen den Kult der Götter. Die Orakel sind auf Druso wie auf Erden. Die größeren Kräfte im Anfang machen allen Spaß, aber das verliert sich im Laufe von sechs Monaten. Dann sind wir angepaßt, aber nicht unzufrieden.“ Dabei lachte er. „Aber was heißt unzufrieden! Es gibt Unbe zähmbare, und die Blauen machen den Drusonen viel zu schaffen.“ „Die Blauen?“ „Ia, die Blauen! Da kam ein gewisser Cassaniak auf Druso! Ein unternehmender Kerl, dieser Cassaniak. Er war Kapitän des Raumschiffes und verließ sein Boot gegen den Befehl. Natürlich kam er nicht wieder hinauf. Er sollte bestraft werden. Für derartige Verbrechen ist die Strafe 239
immer die gleiche. Die Zunge wird herausgeschnitten. Cassaniak wußte, was ihm bevorstand. Im gegebenen Augenblick gebrauchte er seine überlegene Kraft, riß sich los, floh trotz der Verfolgung und gelangte in das blaue Gebiet. Das sind Hügel und Täler, die eine intensive blaue Farbe haben. Eine Katastrophe muß vor nicht allzu langer Zeit diesen Bodenriß herbeigeführt haben. Cassaniak wußte darum, daß es für die Drusonen ein Blausehen nicht gibt. Ihr werdet ja bemerkt haben, alles Licht ist hier röt lich, und der Zustand steigert sich, wenn die Dunkelheit kommt und die Erde scheint. Dann leben wir in einem Purpurlicht.“ Jetzt begriffen wir, warum im Laufe der beiden letzten Stunden die Beleuchtung tiefer und heißer geworden war. Druso drehte sich seinen dunkleren Stunden zu. Und in der Tat, als wir das ungeheure Schauspiel der in roten und gelben Massen untergehenden Sonne gesehen hatten, waren wir alle wie in ein weiches Feuer getaucht. Flius stellte fest: „Wir haben recht behalten mit unserer Annahme, die Sehwerkzeuge der Drusonen sind eingestellt auf die Skala nach rot hin. Wir wissen ja auch von den Menschen der Mittelmeerrasse, daß sie erst sehr langsam violett und blau sehen gelernt haben.“ Vern, so hieß unser Gastfreund, spann seine Geschichte von Cassaniak weiter. Dieser hatte im blauen Gebiet sich blau gefärbt und war besonders in dunklen Stunden oft in die Siedlungen eingebrochen, um sich Werkzeuge, Lebens mittel, Stoffe zu verschaffen. Es war ihm auch gelungen, 240
ähnlich Unzufriedene um sich zu scharen. Wie stark an Zahl die Blauen zurzeit waren, wußte kein Mensch. Die Drusonen überflogen dies Gebiet und suchten durch Gasgifte und auch elektrische Wellen die Blauen abzutöten. Aber diese hatten wohl besondere Schlupfwinkel gefunden und waren den Nachstellungen bisher entgangen. Die Drusonen, die menschliche Wächter nur beim Raumschiff hielten, dachten nicht daran, von ihren Arbeitern welche zu bewaffnen. Im Augenblick war eine große Aufregung, denn es war aus eine Drusonenfeste ein Angriff erfolgt, und die dort gehaltenen Frauen waren von den Blauen ent führt worden. „Warum wurden die Frauen dort gehalten?“ fragte ich hastig. „Die Drusonen ernähren sich hauptsächlich von Menschen milch, unten auf der Erde wie bei uns auf Druso. Alle Men schen, die Handarbeit leisten, verschwinden auch in der Regel mit dem achtundzwanzigsten, dreißigsten Jahr. Kei ner von diesen kommt je zurück. Die Priester behaupten, daß sie für ihre Dienste belohnt würden und in das schönere Leben eingingen, das die Götter denen verliehen, die ihnen treu gedient.“ „Wieviel Drusonen gibt es?“ fragte Flius. Vern schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß es viele gibt.“ „Und warum erfolgt kein Aufstand?“ Der Blonde schüttelte wieder den Kopf. „Der wird vor bereitet von den Blauen, aber das ist eine langsame und mühsame Arbeit. Solange die Blauen sich nicht ungestört 241
entwickeln können, wie wir Atlantiker aus der Erde, so lange ist nicht daran zu denken, auf Druso einen Aufstand zu machen.“ „Haben Sie inzwischen etwas über Judith und ihr Kind erfahren?“ fragte Irmfried. „Ich habe die Listen durchgesehen und festgestellt, daß diese Frau und ihr Kind ins große Heiligtum gebracht sind.“ „Ins Heiligtum?“ fragte ich. „Was ist das?“ „Das Heiligtum ist im Lande gelegen, in einem von Wallgräben und elektrischer Sicherung umgebenen Walde. Kein Mensch, der es je betrat, ist zurückgekehrt. Was die Drusonen dort treiben, wissen wir nicht.“ „Wie gelangt man in das Heiligtum?“ fragte Flius. Der Rotblonde zuckte die Achseln. „Freiwillig hat's noch keiner versucht. Es gehen Transporte dorthin. Kräftige Männer von achtundzwanzig bis dreißig Jahren werden dahin verschifft. Keiner ist je zurückgekommen. Frauen mit Kindern werden überführt, besonders lebenskräftige und schöne Menschen. Gerade in diesen Tagen wird wieder eine Auslese getroffen aus der Zahl der Neuangekommenen, die in das Hauptheiligtum abgehen soll, aber wir wissen nicht wozu!“ „Ist der Einfluß der Blauen stark?“ fragte ich. „Jeder Atlantiker unterstützt die Blauen! Hätten wir nur dauernde Verbindung mit dem Mutterstern, sicher könnten wir uns von den Drusonen befreien! Freilich, das dumme Volk hier wird von den Priestern erschreckt. In den fürchterlichsten Farben haben sie ausgeschmückt, daß eine der neuen Menschenstädte aufsässig geworden sei wider die 242
Götter und zur Strafe dafür mit Gift und Flammen aus getilgt wurde. — Aber noch andere Überlieferungen gehen von Mund zu Mund, werden doch seit Jahrhunderten Men schen herübergeschafft, so daß sich gut eine Sage bilden kann, die nicht ohne Bedeutung ist. Früher soll es sieben Heiligtümer auf Druso gegeben haben. Heute haben wir nur noch drei, zwei kleinere und das große. Dahin haben sie Judith und ihre Tochter entführt.“ „Ich muß zu Judith ins Heiligtum gelangen!“ bat Irm sried dringend. Der Blonde erwiderte: „Liuwenhords Tochter hat mir zu gebieten! Aber fürs erste müssen wir sorgen, daß Ihr, Abgesandte der Erde, unerkannt bleibt!“ — Es hatte nun das purpurne Helldunkel seine höchste Tiefe erreicht. Wir wurden belehrt, daß auf Druso helleres und dunkleres Licht im Verlaufe von sechs Stunden wechselte, weil der Stern die doppelte Umlaufsgeschwindigkeit der Erde besaß, und demgemäß gab es den Wechsel von Ruhe und Arbeit auch innerhalb von sechs zu sechs Stunden. Vern brachte uns Werkmannskittel, die wir überwarfen. Wir folgten ihm durch einen Treppenbau zur Höhe des Hauses. Hier hatte er drei Räume inne. Für Schlafen wußte er Rat. Leinewand war genug zur Verfügung. Er befestigte an den Wänden Haken, und wir machten uns Schiffshängematten. Er stellte Speise und Trank neben uns nieder und sagte, er würde die Wohnung am Morgen abschließen. Wir müßten, bis er mit uns im klaren sei, uns still wie Gefangene verhalten. 243
Noch immer wirkte die Erschöpfung der Reise nach. Wir wachten erst auf, als Vern die Wohnung wieder betrat. Es war ihm möglich, versicherte er uns, Irmfried gegen eine andere Frau auszutauschen. Er hatte das Einfachste von der Welt getan, er hatte mit einer Mittelmeerländerin, die Erdsehnsucht hatte, geflirtet, sie getröstet, und sie ging gern auf seinen Vorschlag ein, mit ihm zu kommen. Für sie würde, so sagte er, seine Schwester eintreten. Was aber noch viel wichtiger für uns war, Vern hatte mit Hilfe eines anderen Atlantikers die Richtungsbestim mung für das Heiligtum herausgefunden. Vom flachen Dach des Hauses aus, auf das uns Vern geleitete, sahen wir, wie durch die Stadt und hinter ihr, die Ebene querend, in der Entfernung von vielleicht fünfzig Hekto meter von Punkt zu Punkt ein Zug von Pagoden mit goldschimmernden Dächern gebaut war. Diese Pagoden, über deren Bedeutung keiner sich klar war, führten in ge rader Linie zum großen Heiligtum. Nun begannen wir mit dem Fernseher zu suchen. Dabei ward uns die Bedeutung der Pagoden sofort klar. Es waren Radiostromsammler und Verstärker. Ohne Frage bedeutete jede Pagode Kern eines Kraftfeldes. Da sie strah lenförmig vom Heiligtum ausgingen, konnten seine Be wohner das ganze Land mühelos elektrisch beherrschen. Wir reisten mit dem Fernseher gleichsam über einen großen Teil der Druso-Oberfläche. Wir sahen Frucht anpflanzungen, aber keine Weiden, Bäume einer Art, die unserm Farnkraut ähnlich waren, nur unendlich viel 244
größer. Die Farbe dieser Landschaft gemahnte an nord afrikanisches Land. Es gab kein richtiges Grün; es war abgeschattet nach Gelb, ja nach Rot. Einzelne Gewächse trugen ein Laub, das dem unserer Blutbuchen ähnlich war, aber sehr viele weiße Blüten erschienen in dieser Landschaft wie Flocken. Hohe Berge gab es in diesem Bereich über haupt nicht, aber grüne Seen und breite weiße Ströme. Endlich stieß der Fernseher auf eine Landschaft, die wie mit Metallspießen bestellt schien. Das war ohne Frage das elektrisch geladene und gesicherte Vorland. Straßen führten hindurch. Dann wanderte der Blick zu einem See, der von Wald umgeben war. Hinter dem See war wieder Wald. Inmitten seiner Bäume erhoben sich bienenkorbähnliche Gebäude. Wir sahen, daß auf erhöhten Steinsäulen die Wachtkäfer Ausschau hielten. Als Vern hinübergesehen hatte und sich vom Staunen über die Erfindung des Fern sehers erholte, fing er an zu lachen. „Immer reden doch diese Wächter dasselbe miteinander!“ sagte er. „Was reden sie?“ fragte Flius. „O, sie verständigen sich über ihr Abendessen und über ihr Frühstück. Diese Luftbeherrscher denken überhaupt nur an Essen und Trinken.“ „Woran ist das zu erkennen?“ Da streckte der Rotblonde seine Hände vor, als wären es Fühler und machte bestimmte Bewegungen. „Soviel wissen wir von der Drusonensprache der Käfer, was das bedeutet, denn die Drusonen reden nicht durch den Mund, wie wir Menschen, sie machen Bewegungen mit ihren 245
Fühlern und haben eine Klopfsprache auf große Ent fernung. Dann trommeln sie und schlagen die Fühler gegeneinander. Wenn man die längeren und kürzeren Schläge in der Zusammenstellung kennt, so erinnert das etwa an die alte Morsesprache der Menschen. Cassaniak kennt viel von der Sprache der Drusonen.“ „Können wir Verbindung mit Cassaniak gewinnen?“ fragte Flius. „Wir werden es versuchen!“ Inzwischen durchforschten wir diese Waldinsel im See, die das Heiligtum der Drusonen hieß. Es war alles zu bereitet für die Lebensweise von Rieseninsekten. Wir sahen jetzt viele dieser ameisenähnlichen Wesen mit sechs Beinen, und es kam uns in Erinnerung, daß die Drusonen die Ameisenhügel auf Erden für heilig erklärt hatten. Bei einer näheren Betrachtung zeigte es sich, daß diese Bienenkörbe, von denen jeder in Wirklichkeit wohl die Größe eines der Riesenhäuserblocks vergangener Zeit hatte, aus regelmäßig angeordneten Materialstücken aufgebaut waren. Von menschlicher Baukonstruktur war keine Rede. Diese Rieseninsekten krochen hinauf, krochen hinein und es schien ihnen wohl zu sein, wenn ihre Körper die Ein fahrtswände streiften. Trotz der Tabelle des Fernsehers konnten wir uns nicht klar werden, wie groß diese Wesen eigentlich seien, es fehlte uns ein Vergleich. Erst als wir eines vor einem der Flug käfer sahen, wußten wir, daß diese Wesen zweimal so lang waren wie die Flugkäfer, also auf ihren sechs Beinen einen 246
Körper von vielleicht drei Meter Länge tragen mußten. Das ergab, daß ihre Bauten ganz hübsche Kolosse waren. Aber die Erinnerung an Kapstadt lehrte uns, daß es zwei Rassen von diesen Ameisenwesen geben müsse, eine kleinere und eine größere. Die kleinere allein war also den Erd bedingungen gewachsen. Endlich reiste unser Blick auf einen Platz, der umgeben war von Bäumen. Hier ruhten auf Steinbänken Frauen oder Mädchen, und sie hatten auf ihren nackten Leibern kleine, kugelförmige Wesen, die sie zu hüten schienen. Wir wurden uns dunkel bewußt, zu was wohl die Frauen im Heiligtum der Drusonen dienten. Aber von Judith und Urania fanden wir noch keine Spur. „Es ist viel einfacher freilich“ tröstete Flius, „ein Schiff auf dem Meere mit dem Fernseher einzusaugen oder einen verabredeten Punkt einzustellen, als hier das Areal einer immerhin beträchtlichen Stadt abzusuchen.“ „Noch rechne ich auf Judiths Fernhörer!“ sagte ich, aber es war Hoffnungslosigkeit in mir. Ich fürchtete, um alles betrogen zu sein und schickte nun die Hilferufe hinaus: „Judith, wir sind Dir gefolgt! Alf, Irmfried, Flius! Judith, gib Antwort!“ Eine halbe Stunde wohl suchte ich Verbindung und fand keine. Irmfried tröstete mich. „Sie kann nicht immer den Fern hörer am Ohr haben. Wir müssen geduldig sein!“ Flius, der den Fernseher weiter bedient hatte, rief plötz lich: „Ich glaube, jetzt hab’ ich sie!“ Ich ließ meinen Sucher fallen. Hätte ihn Irmfried nicht 247
aufgefangen, schrecklicher Schaden wäre für uns entstanden. Ja, ich sah Judith. Sie und noch eine Frau waren um ein Wesen bemüht, ein Rieseninsekt mit gewaltigem, haarigen Hinterleib. Im Verhältnis zu den beiden Frauen war der Bauch allein so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Die Beine waren nicht stärker als ein Daumen. Der Kopf, eingewachsen fast in dem gewaltigen Rumpf, hatte die Größe einer kräftigen Männerfaust. Aus ihm hervor glotzten zwei große Augen, die die Hälfte des Kopfes ein nahmen. Unter dem Kopf waren zwei gewaltige Fühler, jeder vielleicht zwei Meter lang. Judith und die andere Frau arbeiteten angestrengt an dem Wesen. Sie strichen von oben nach unten den haari gen Riesenleib mit den Händen, sie übten eine Art Massage aus. — „Aber wo ist das Kind?“ Flius markierte an den Schraubenumdrehungen die Ein stellung, um Judith wiederzufinden, und begann, als der Ruhigste von uns, die Suche nach dem Kinde. Der Apparat zeigte uns zuerst die Bilder des bienenkorbartigen Ge bäudes, in dem Judith untergebracht war. In den ein zelnen Zellen gab es viele dieser insektenartigen Wesen mit großem Hinterleib. Wir nahmen Irmfrieds Deutung an, daß diese Wesen Drusonenweibchen sein müßten. Wir sahen auch wieder eine gekrümmte nackte Menschenfrau hocken. Auf ihrem Schoß, geschützt durch die angezogenen Ober schenkel, ruhte ein braunes, ovales Paket. „Wie ein Wärm kissen sieht es aus!“ meinte Flius, aber Irmfried schüttelte 248
sich. „Nein, diese zusammengedrückte Haltung, alles be weist: diese Frauen müssen Drusoneneier ausbrüten!“ Und vor Erregung und Ekel war sie weiß geworden. Unser Blick verließ das Innere des Gehäuses, und wir traten gleichsam ein in einen Farnenpark. Immer wieder an sonnigen Plätzen sahen wir nackte Mädchen und Frauen, die auf dem Schoße die kleinen Drusonenwesen wärmten. „Es ist sicher eine Nurserie!“ behauptete Irmfried.
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XX. Motto: Gerötet ist der Himmel weit und breit und zeigt der Welt des Schicksals Herrlichkeit. Liliencron, Poggfred, 19. Jahrhundert. Fortsetzung. Das Menschenvieh. Judith schleppt sich nach Hause. Ihre Erschöpfung. Klein-Ura. Nach drei Stunden spricht sich Judith aus. Sie wird getröstet; Jrmfried wird die Verbindung aufnehmen. Cassaniak kommt. Irmfried und Cassaniak. Cassaniaks Aufgabe. Er verachtet die Drusonen. Das Fest im großen Heiligtum. Was die Drusonen unter dem Eingang in das bessere Leben verstehen. Menschen werden Nahrung der Götter. Cassaniaks Racheschwur.
Wege führten strahlenförmig ab zu Bauten, die ohne Frage menschlichen Wesen bestimmt waren. Aber diese Bauten waren auf der einen Wand, die uns zugekehrt war, offen, wie Puppenhäuser. Wir konnten nicht erkennen, ob sie geschlossen waren mit Glas, aber wir konnten sehen, daß jede Etage gesichert war durch ein Gitter, und in einer dieser Puppenstuben sahen wir mit anderen Kindern Urania spielen. Unser Freund Vern hatte uns arbeiten lassen, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt bemerkte er grimmig. „So sind die Drusonen! Sie halten hier die Menschen, wie wir Tiere in einem Zoologischen Garten. Seht nur, wie die Drusonen gegenüber auf einer Wand sitzen und hineinstarren. Sie beobachten das Treiben der kleinen Menschen, und alles
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ist unter Bewachung durch dieses System.“ Und er knirschte: „Wenn doch die Blauen dies alles vernichteten!“ Flius erwiderte sachlich, indem er seine Erregung zu unterdrücken suchte: „Es stellt sich das Problem, wie wir die Befreiung durchführen können. Wenn es Irmfried ge länge, einen Blaupanzer durchzuschmuggeln, so wäre es möglich, daß Judith und Urania zu einer bestimmten Stelle gelangen könnten, wo wir sie in Empfang nehmen. Aber wie würden wir weiter eine Flucht durchführen?“ Vern nahm das Wort. „Nichts geht ohne Cassaniak! Wenn er mit uns im Bunde ist, können wir Vieles er reichen. Aber wie weit ist es vom Heiligtum zum Lan dungsplatz? Und sobald Ihr eine Zone durchschritten habt, stoßt Ihr aus die Wachen der Menschenpolizei.“ „Wieviel Mann wachen?“ „Immer zwei.“ „Mit denen werden wir fertig!“ sagte Flius. Ich selbst konnte im Augenblick nichts raten, denn nach der Angst und der Ungewißheit war jetzt eine Erregung eingetreten, die mir klares Denken verbot. Aber diese Hochspannung war wohl eine Gunst, die mir erwiesen war, denn ich sah von ungefähr drunten auf der Straße ein Fahrzeug sich bewegen. Auf leichten Metallrädern rollte ein Korbkasten, gezogen von einem Manne, daher. „Wieviel wiegt das? Wieviel trägt das?“ fragte ich barsch. Vern, der ganz erstaunt war über den Kommandoton, antwortete: „Ah, ein Zubringwagen! Den trägt ein Mann 251
auf dem Rücken. Er ist ganz leicht und kann ein großes Gewicht aufnehmen, denn das Flechtwerk aus Farnfaser ist sehr stark, das Metallgerippe aus einer Mischung, die wir auf der Erde nicht kennen, leicht und sehr hart.“ „Hört“, sagte ich, „wir haben ja zwar nicht das Geschick von Hurst, aber das müssen wir fertigbringen. Ein solcher Wagen, blau bedeckt, angetrieben von unserm Kraftmotor mit Luftpropeller, müßte viele Kilometer in der Stunde zurücklegen können.“ „Wir brauchen Cassaniak“, sagte Bern, „ohne ihn ist auch das nicht zu machen! Er ist Ingenieur!“ „Nein“, rief Flius, „wir verlieren Zeit!“ „Cassaniak“, erklärte Vern, „kann vielleicht in vier maligem Helldunkelwechsel da sein!“ — Er ging eilends, um seinen Vorsatz auszuführen. Wir aber richteten wieder den Fernseher auf die Parks des Heiligtums, und jetzt hatte ich Glück. Mit schweren, schleppenden Schritten kam Judith mit ihrer Gefährtin durch den Park gegangen, taumelnd, als hätten sie schwerste Sklavenarbeit verrichtet. Sie ging ins Haus. Urania flog ihr entgegen und umarmte sie. Sie suchte mit dem Kind ein Lager auf in einem der Räume im obersten Stockwerk dieses Riesenpuppenhauses. Sie nahm das Kind an sich, als brauchte sie seine Wärme. Sie zitterte, sie weinte. Dann streckte sie sich aus, griff in die Ecke, und ganz heimlich legte sie den Fernhörer an, nicht, als ob sie erwartete Antwort zu erhalten, sondern wie man einen lieben Gegenstand eines Ewigverlorenen an sich drückt. 252
Da sprach schon Irmfried: „Geduld, wir sind da!“ Und reichte mir den Hörer. Ich sagte: „Alf ist bei Dir! Wir kommen! Wir befreien Dich!“ Judith bat: „Laßt mir zwei Stunden Ruhe, drei Stun den. Weckt mich dann wieder. Aber jetzt kann ich nicht, ich bin zu matt!“ Wir schauten uns an und begriffen nicht. Aber wir ge horchten. Ich wußte kaum noch, wie ich mich beherrschen sollte. Vern kam zurück und meldete: „Es geht ein Trans port nach zwölfmaligem Helldunkel hinüber zum großen Heiligtum. Der Schiffsführer auf dem Kanal ist einer der Unsern. Irmfried wird den letzten Platz im Boot erhalten, so daß sie Zeit gewinnt, die Kleider abzuwerfen und an den Käferwachen im blauen Panzer vorbeizukommen.“ „Und er wird nichts verraten?“ fragte Irmfried. „Er wird nichts verraten! Er freut sich aus Rache. Sie haben ihm die Zunge genommen!“ Wir begannen fieberhaft zu arbeiten. Es galt, einen Gesamtplan der Drusonenstadt zu machen und die Orte ein zuzeichnen, wo man sich finden könnte. Das alles hatte Irmfried zu lernen. Nach drei Stunden weckte ich Judith. Sie schluchzte. “Ich bin ja so froh! Ich war hoffnungslos, wollte mir und dem Kinde das Leben nehmen, weil es so entwürdigend ist. Die andern haben mir erzählt, daß ich zur hohen Ehre berufen sei, der Frau des Fürsorgers der Menschen den Leib zu streichen. Ich dachte, das wäre einfach und zwei Stunden mit einer andern zusammen ihr den Leib zu 253
massieren, würde mich nicht schwer treffen. Allein durch diese Berührung entnehmen die Drusonen uns Menschen ursprüngliche Lebenskraft. Sie laden sich auf mit unserer Elektrizität, und wenn ich nach Hause komme, bin ich er schlafft. Wenn nicht das Kind neben mir schliefe, glaube ich kaum, daß ich wieder zu mir käme. Aber dem Kind geht es auch nicht gut. Ich merke, daß es trotz sorgfältiger Kost abmagert und so geht es allen Kindern hier.“ Ich berichtete ihr nun genau, was wir zu tun gedächten. Irmfried würde sich einschleichen, würde sie mit dem Kinde holen. „Ja“, sagte sie, „kommt nur bald!“ Sie war so plötzlich von der Hoffnungslosigkeit zur Freude erwacht, daß sie gar nicht fragte, wie wir gekommen seien, sondern nur be sprach, was ihre Flucht anging. An diesem Abend machten wir noch eine Entdeckung, die uns das Herz leichter werden ließ. Wir sahen, daß auf einem Kanal ein Zubringschiff schnell heranfuhr zu einem der Wassertore des Heiligtums. Lasten und Menschen wurden übernommen. Die Bewachung bestand aus zwei Käfern, die die Menschen und die Waren mit ihren Fühlern betasteten. Als das Tor sich geschlossen hatte, entkleidete sich der Mann, der das Boot geführt, sprang ins Wasser und schwamm. Nun wußten wir, das Wasser war kein Hindernis für uns, und für die Hochspannung hatten wir die Ableitungssicherungen, die uns Hurst mitgegeben. Durch den Wald der Speere gedachten wir schon hindurch zukommen. 254
Wir arbeiteten, sichteten die Instrumente, überlegten noch einmal die Verpackungen, blauten ein jedes ein, als sich die Tür öffnete und ein großer, grauäugiger Mann mit Vern eintrat. Es war Cassaniak. Von diesem Manne ging ein starker Lebensstrom aus. Flius gab einen kurzen Bericht. Er zeigte Cassaniak das Erkennungszeichen, sprach von Liuwenhord und zeigte auf Irmfried, die in der Ecke saß und helle Mädchenaugen machte. „Irmfried“, rief Cassaniak, „also bist Du gekommen, weil ich nicht kommen konnte!“ Seine Stimme war ganz kind lich. „Ich hatte Dir versprochen, Dich zu meiner Frau zu machen, wenn ich zurückkäme von Kapstadt. Bist Du hier, mich daran zu erinnern?“ „Nein! Wir wollen Judith befreien!“ Cassaniak, der noch nichts von unserer Geschichte erfahren hatte, fragte. Flius erzählte knapp, kalt, aber ich sah, Flius war feindlich. Er schaute auf das Mädchen, das Cassaniak nicht aus den Augen zu lassen vermochte. Cassaniak sprang sofort an die Arbeit. „Der Wagen! Wie denkt Ihr ihn Euch?“ Ich begann das Gestell auszuzeichnen und machte ihm klar, daß unsere Maschine einen Propeller zu treiben hätte. Damit wußte er Bescheid. Er ließ sich die Maschine er klären. Wir setzten sie in Gang. „Laßt“, sagte er, „das kann hier im Raume Erschütte rungen geben, die sie merken. Aber ich weiß einen Platz, wo ich arbeiten kann.“ 255
Wir zeigten ihm den Fernseher. Er war begeistert, wie nur ein Mensch es sein kann, der in der Technik lebt. Während er beobachtete, wies er auf eine Stelle des Licht schirms hin und erklärte: „Diese Pagode hier tauscht die Ströme zwischen den drei Heiligtümern aus. Es war immer mein Plan, sie einmal lahmzulegen für den Fall, daß ich in Not geriete. Aber ich wagte es nicht, weil die Jagd auf mich allgemein würde.“ Wir zeigten ihm vom Sprengstoffiridium ein fünf Kubik zentimeter großes Stück. „Das genügt, um eine Pagode fortzublasen!“ „Gut“, sagte er, „einer meiner Leute soll es besorgen! Es ist ein Läufer ersten Ranges. Er wird sich hinschleichen. Wir wollen es beobachten. Ist diese Pagode fortgeblasen, stockt augenblicklich alle elektrische Kraft. Sie brauchen Zeit, sie wieder instandzusetzen. Auch werden die Drusonen irregeführt, werden auf keinem andern Wege suchen, als auf diesem. Wir aber weichen aus.“ Da zeigten wir ihm den Plan der Stadt und des Heilig tums, soweit wir Aufzeichnungen gemacht hatten. „Ich kenne das alles!“ sagte er, dann wies er auf die Karte. „In dieser Richtung sind die blauen Berge. Die Drusonen werden sofort einen großen Angriff dahin machen, weil sie annehmen, ich und die meinen sind von dort wieder ausgebrochen. Aber wir haben längst einen andern Platz, eine Reihe von Höhlen des Stiriakanyons. Hier ist die Erde auch blau, aber die Schichtung fängt erst fünfzig Meter unter dem Einschnitt an. Das ist der ver 256
borgene Halteplatz für mich und die Meinen. Dorthin werden wir uns alle zurückziehen. Was bei der Pagode geschehen ist, werden sie nicht gleich herausfinden, so starke Denker sie auch sind. Ein Glück ist es, Fernseher besitzen sie nicht.“ Flius rief mich an seine Seite und zeigte mir die Gegend der blauen Berge auf dem Lichtschirm. „Sieht diese For mation nicht so aus“, fragte er, „wie die Explosionsstelle auf Karaga? Ist hier vielleicht auch in einer früheren Zeit eine Katastrophe herbeigeführt durch Atomzertrümmerung? Sie muß mächtig gewesen sein, und vielleicht war sie die Ursache, daß der Druso aus seiner festen Sternenbahn ge schleudert ins Wandern geriet!“ Cassaniak drängte sich heran: „Laßt mich das Heiligtum untersuchen! Das ist wichtig für mich und meinen Angriff! Übersicht will ich gewinnen und Einzelheiten sehen!“ Wir stellten den Apparat auf eine Suchentfernung ein, die uns das Heiligtum spiegelte in der Größe eines riesigen Kartenbildes. Cassaniak spähte, machte sich Aufzeichnungen und sprach dabei: „Ich habe den Stern erforscht. Die Dru sonen waren einmal eine große lebensfähige Rasse. Was von ihnen übrigblieb an Kraft, sind die Kampfkäfer, aber die haben wenig Hirn. Ihre Denker sind Moluskenwesen, und ihre Weiber sind nicht mehr fähig, selbst ihre Eier aus zubrüten. Darum brauchen sie die Menschen, weil sie degeneriert sind. Sie brauchen die Milch der Frauen, sie brauchen die Wärme der Frauen, sie brauchen die Arbeits kraft unserer jungen Männer. Ich will Gefangene be 257
freien, will wissen, was aus denen wird, die mit achtund zwanzig und dreißig Jahren in der Blüte ihrer Kraft ver schwinden, Männer und Frauen. Ihre Hochspannungs ströme sind fürs erste nicht zu fürchten, wenn die Pagode zerbrochen ist. Dann kann ich eindringen und Musterung halten unter den Drusonen!“ Er schaltete die stärkeren Vergrößerungen ein, und wäh rend er die Bilder auf dem Schirm wechseln ließ, erklärte er uns Wohn- und Bauweise dieser intelligenten Insekten wesen. Er schloß: „Das alles ist nicht für mich von Inter esse, ich muß menschenähnliche Wohnungen finden!“ In unsern Gesichtskreis trat jetzt ein langer Zug von Ge bäuden, ähnlich einem langgestreckten Fabriksystem, in dem die Fabrikate zur Fertigstellung von einem Arbeitsraum in den andern wandern. An jedem der beiden Enden des langen Traktes erhob sich ein tempelähnlicher Turm mit Terrasse, und wir sahen auf der einen Plattform unter bunten Lichtern das Ende eines Festes von Männern. Gastmahl war gehalten, neue Getränke wurden ausge tragen, festlich wurden die Haare bekränzt. Priester legten den Tafelnden eine Art Geflecht wie von Seidenfäden über das Haupt und befestigten es unter dem Kinn. Efeuartiges Laub ward hineingeflochten und die Haare kunftvoll mit hineinverwebt. Dann fand auf der Terrasse ein Umgang mit Fackeln statt. Wie Korybanten in bacchischer Freude bewegten sich die Männer, die alle Kleider abgeworfen hatten. Flius schwenkte den Fernseher und wir entdeckten auf 258
der andern Seite der langgestreckten Gebäude aus dem entsprechenden Turme ein ähnliches Fest der Frauen. Auch hier wurden die Haare geflochten, die Häupter geschmückt, die Kleider abgeworfen, und mit Fackeln unter Vorantritt einer Priesterin ein Umzug vollführt. Wir kehrten mit dem Blickfelde wieder zu den Männern zurück. Da fanden wir, daß eine Pforte zu einem engen Gange geöffnet wurde. Unter Gesang und Musik führte der Priester die in einer langen Reihe geordneten hinzu und rief: „Euch Beseeligten wird nun offenbar, was an Geheimnissen und Wundern die Götter Euch vorbehalten haben!“ Wir sahen, wie der Priester als erster in das Tor hineintrat, einer nach dem andern folgte ihm. Immer schlug eine kreisende Pforte zu hinter jedem einzelnen der Schreitenden, der eingetreten war. Der Priester ging durch eine Geheimpforte nach rechts und stieg eine Treppe hinab ins Innere des Turmes, während die ihm Folgenden mit betend erhobenen Armen geradeaus schritten. Jeden schien ein Wirbel zu verschlingen. Aber der schärfer eingestellte Fernseher belehrte uns wohl, was geschah. Jeder einzelne glitt auf einer schiefen Ebene mit erhobenen Armen herab. Aus der Wand streckte sich ihm ein spitzer Dorn entgegen, der das Herz genau traf, zumal die Arme sich fingen auf Stangen, die sie nach oben hochhielten. In die Haare und das von den Priestern angeordnete Geflecht senkte sich als bald eine Greifzange. Unter den Achseln hielten den Körper, der noch zuckte, die Stangen. Zwischen die Beine schob sich ein dreieckiger Block, der sie im Gleiten spreizte. 259
So gelangte der gespannte Körper, indem sich die Tür hinter ihm schloß, in einen zweiten langen Raum. Eine metallene Klammer griff um den Rumpf. In einem ein zigen Arbeitsgange wurden dem Opfer Kopf, Hände und Füße mit scharfen Messern abgetrennt. Dieser Akt wurde beobachtet und gerichtet durch einen Drusonen der Über ameisengattung. Der hielt Hebel und Beobachtungsspiegel unter Kontrolle. Der Kopf am Greifer wanderte für sich weiter. Füße und Hände gelangten fallend in eine Rinne und rutschten hinunter an einen andern Ort. Der dieser Glieder entblößte Rumpf wanderte mit gespreizten Armen und Beinen weiter auf feinem Blockbalken, wurde gestreckt, und nun begannen Messer den rutschenden zu bearbeiten. Arme, Beine wurden geschlitzt, Einschnitte unten am Kör per gemacht, Haken schoben sich ein, Gewichte hängten sich an, und Muskeln und Fett waren in kürzester Frist aus geschält aus der Haut, die an einem Greifer für sich weiter wanderte. Arme, Schenkel wurden abgetrennt. — Ein großes Messer teilte den Rumpf in zwei Stücke, Fett wurde abgeschabt, kunstvoll oberes Teil vom unteren gesondert, so daß der Rumpf in vier Teilen weiterwanderte auf Platten. Bisher hatten Drusonenmeister der Ameisenart die Ar beit überwacht. Die übrigen Teile aber gelangten in einen dritten Raum. Hier sahen wir Menschen ihre Arbeit tun. „Sie sind blind!“ schrie Vern auf. Er erkannte es an einem der Arbeitenden, einem Atlantiker, der wegen Widersetz lichkeit zur Blendung von dem Orakel verurteilt wor den war. 260
Ohne zu wissen, was sie taten, schnitten nun diese Blin den nach dem Gefühle Nieren, Lebern und Drüsen aus. Im Nebenraume wurden die Hirne zugerichtet. Denn die Köpfe waren ihrer oberen Hälfte indessen durch Maschinenring schnitt beraubt und der Schädelinhalt in an Drähten wan dernde Bottiche entleert. Alle diese wertvollen Drüsen wurden sofort von den Hän den der Blinden verarbeitet. In wenig Stunden war aus den Menschen des Festes ein Genußmittel der Drusonen geworden unter Mithilfe anderer Menschen! Und auf der Frauenseite fand derselbe Gang der Ver arbeitung der Festgenossinnen statt. — Die kräftigen Rücken- und Bauchstücke wurden durch Maschinen in kleine, gulaschähnliche Teile zerhackt. Sie wanderten in Retorten, und andere Frauen gossen Wasser aus, um aus mensch lichem Fleisch etwas zu bereiten, das dem früheren Beeftea entspricht. Alle großen Fleischteile, Stücke der Schenkel und Oberarme, wurden in einem Kühlhaus aufbewahrt. — Später erst erkannten wir, daß diese für die Drusonen nicht brauchbaren Teile als Fleischgerichte für die Festmahlzeiten dienten, die die Götter ihren Opfern vor der Schlachtung verabreichten. Alles, was diese Opfer besaßen, wurde von den Dru sonen verwendet: Ihr Glaube, ihr Wissen, ihre Arbeit, ihre Wärme, ihre Elektrizität, ihre Milch, Fleisch, Knochen, Haar, Haut, Drüsen, Hirn, Saft des Fleisches. Die Aus beutung war eine vollständige. Rinder vielleicht wur den von Menschen des ersten Maschinen-Zeitalters ähnlich 261
verarbeitet und nutzbar gemacht, wie hier Menschen von einer Insektenart, den Drusonen! Nur daß die Menschen den Rindern nicht auch noch Glauben und Wissen stehlen konnten! „Wie Wanzen will ich sie vernichten!“ knirschte Cassaniak, der bleich zurückgetreten war, während der Schirm noch immer die unbarmherzige Menschenverarbeitungsfabrik zeigte. Erregt ging er auf und nieder. „Sie werden von den andern Heiligtümern aus einen Rachezug in die blauen Berge unternehmen, aber ich kann ihrer spotten. Meine Höhlen werden sie nicht finden! Dann breche ich wieder her vor und raste nicht, bis es zertreten ist, dieses Gezücht!“ „Vergiß nicht“, rief Irmfried, „wir müssen Judith be freien, die Rückfahrt wagen zur Erde! Willst Du nicht mit kommen?“ „Meine Aufgabe ist, die Drusonen zu vernichten! Nur wenn ich sie vernichte, wird die Erde frei von ihnen!“ „Die Erde wird frei durch sich selbst!“ sagte Irmfried ein dringlich. „Sind wir zurückgekommen, wird Hurst und mein Vater die Station zerstören und Druso schwingt hin aus in den Raum!“ „Und die Menschen hier?“ rief Cassaniak. „Sollen sie weiter leiden? Ich bleibe! Denn die Erde ist nicht frei und das Menschengeschlecht bleibt beschimpft, solange ein Drusone noch lebt!“ Wieder lief er auf und nieder, und die schrecklichen Bilder der Schlachtung gaben seinem Zorne recht. Endlich raffte 262
er sich auf. „Mein Los ist nicht das Eure! Wenn nach dem ersten Angriff sich alles beruhigt hat, geleite ich Euch aufs Raumschiff. Als alter Kapitän weiß ich mit den Maschinen und Art der Fahrt Bescheid. Ihr braucht nur in der letzten Minute der Abfahrt einzudringen mit einem Dutzend meiner blauen Gesellen, die ich Euch stellen werde. Norn wird den Kontakt schließen, und das Schiff jagt hinaus in den Raum — Ihr seid gerettet!“ Irmfried wollte ihm zureden, aber Cassaniak hob seine Hände hoch. „Genug geredet! Laßt mich tun!“ Und er ging, ganz Kämpfer und Krieger. Ich fühlte jetzt wieder Boden unter mir. Hier war ein Mensch, der mir selbst ähnlich war. Wie prachtvoll von ihm, Schlag mit Gegenschlag zu vergelten, Rache zu nehmen an den Drusonen für das beschimpfte Menschengeschlecht! Flius sagte leise und nachdenklich zu mir: „Gut, daß die Stiere auf Erden nicht über die Menschen so denken, wie Cassaniak über die Drusonen!“
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XXI. Motto: Welt, nach der ich hungrig bin zwischen Tag und Mitternacht —: beginn! Rimbaud, 19. Jahrhundert. Durchführung der Pläne. Irmfried nimmt Abschied. Es gelingt ihr, unter blauer Verkappung in das große Heiligtum der Drusonen ein zudringen. Alf und Flius brechen auf. Cassaniak nimmt den Kampf auf. Der zweite Teil des Plans gelingt, Judith und Klein-Ura werden durch Irmfried, Flius und Alf aus dem großen Heiligtum befreit.
Endlich war jede Lösung gefunden. Ausgemessen war die Strecke von der Landungsstadt zum Heiligtum. 123 Kilo meter. Unser Wagen, der mit einem Luftpropellerantrieb versehen war, durfte vorher nicht gezeigt werden. Er sollte der Flucht dienen nach dem Kanyon, und das hatte seine Berechtigung, weil uns eine glasharte Straße durch ein verödetes Kulturgebiet zur Verfügung stand, wo keine Seele zu sehen war. Kreisenden Luftstreifen blieben wir durch unsere Farbe verborgen. Menschen gab es dort nicht, auch rechneten wir mit der Zerstörung der elektrischen Kraft des Heiligtums, die alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Die Frage, wie wir hinübergelangten, war beantwortet. Für Irmfried war Platz gewonnen durch den Tausch mit dem anderen Mädchen, das Vern zu sich genommen hatte. Es traf sich gut, daß auf dem Hauptkanal ein Transport zum Heiligtum erfolgte, dessen Führer ein Unzufriedener war,
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ein heimlicher Blauer. Er sollte für Irmfried den letzten Platz zum Aussteigen sichern, damit sie einschlüpfen könne in das Wassertor des Heiligtums. Für Flius und mich war Abrede getroffen mit dem verstümmelten Atlantiker, der seiner Zunge beraubt war. Ergänzend zum Schicksal dieses Mannes erzählte uns Vern noch, es gehöre zur Tagesordnung, daß sich Men schen von Zeit zu Zeit ihrer Pflicht gegen die Götter ent zögen. Sie würden mit besonders schwerer Arbeit bestraft, wenn sie wieder heimkehrten oder eingefangen wurden. Die Drusonen sähen das gar nicht einmal ungern, wenn jemand Nebenwege ginge. Sie könnten ihn dann mit einer Arbeit quälen, ohne ihr Götterwort zu brechen. Irmfried nahm festen Mutes von uns Abschied. Wir konn ten sie vom Dach aus mit dem Fernseher verfolgen, sahen, wie sie glücklich den ersehnten Schlußplatz in der engen Kajüte bekam, und konnten verfolgen, daß alles planmäßig vonstatten ging. Das Boot machte halt vor der Wasser pforte, von der zum Kanal nicht Treppen, sondern eine schiefe Ebene hinabführte. Zwei Bäume mit rotem Blatt werk standen zur Rechten und Linken der engen, niedrigen Pforte, die von zwei Käfern bewacht war. Die Menschenopfer schlüpften hinein in das Loch, einer nach dem andern, in langem Zuge. Zum Schluß erschien Irmfried. Sie war wie eine Märchengestalt, als sie im blauen Gewande, mit blauer Maske und sicherlich ge schlossenen Augen, da die Lider blau gemacht waren, an den beiden Käferwachen auf Gummisohlen lautlos vorbei 265
schritt. Es war alles recht abgepaßt. Noch war Bewegung im Tore. Sie blieb in einer dunklen Ecke, bis die andern weitergeleitet waren. Da sie nach der Verabredung nichts ge sprochen hatte, fiel ihr Fehlen nicht weiter auf unter den Menschen, auch waren die Ankömmlinge ganz in Bann und Ehrfurcht gehalten durch das Betreten des Heiligtums. Es war aufregend und zum Lachen reizend trotzdem, zu sehen, wie das Mädchen furchtgebannt stehenblieb, als sie dem ersten Drusonenwesen begegnete, eines, das der Ameisen art ähnlich sah. Dieses Wesen schnüffelte; es schien etwas zu riechen. Aber Irmfried trat schnell beiseite und merkte nun, daß sie tatsächlich die Vorteile der Unsichtbarkeit ge noß. Da ward sie kühner. Sie wußte nach unseren Be obachtungen, daß zu dieser Zeit und Stunde kein mensch liches Wesen mehr außerhalb der Häuser war. Darum schritt sie mutig aus, und wir gaben aus der Ferne Judith das verabredete Zeichen. Sie ging hinunter, schloß auf und warf sofort dem Mädchen ein Gewand über. In aller Heim lichkeit gelang es beiden, Judiths Zimmer zu erreichen. Klein-Ura schlief. Irmfried und Judith konnten eilig und emsig besprechen, was zu tun war. In guter Voraussicht hatte uns Hurst Stelithbänder mitgegeben. Sie waren fast unzerreißbar, aber an sich zu dünn, um einer Hand Sicher heit zu geben; beide Frauen knüpften nun in Schlingen des Stelithbandes Wäsche und Lumpen. So war es möglich, den dünnen Draht wie ein richtiges Seil zu verwenden. An ihm ließ sich Irmfried wieder herab, weil sie ja die Verbindung mit uns aufnehmen mußte. Judith sah noch 266
mindestens zwei Erdentage als Gefangene im Heiligtum vor sich. Unmöglich war es, ihr diese Qual zu ersparen. Ich konnte es mitfühlen, was sie empfand, als ich sie durch den Fernseher erblickte. Sie griff nach dem Verschwinden Irm frieds sich an den Hals und preßte die Ader zu, als könnte sie so das Toben ihres Herzens unterdrücken. Cassaniak war vorausgeeilt, um seine Leute aufzurufen. Flius und ich erreichten als blinde Passagiere des Ver stümmelten den verabredeten Platz am Kanal, an dem wir das Boot verließen. Eine seltsame Fahrt war es gewesen; aus diesem flachen Kahn lagen wir hinter allen möglichen Gütern versteckt. Einmal kam einer der Flugkäfer ge schwirrt, um das Boot zu inspizieren. Wir deckten unsere Kleider ab, und so schützte uns das Blau. Aber beide hatten wir die Flüssigluftpistolen in den Händen. Wäre der Herr Flugkäfer heruntergekommen, er wäre im Kanal ge blieben. Aber das Glück, ohne das ja nichts gelingt, wollte uns wohl. An der zweiten Pagode vor dem Heiligtum setzte uns unser Fährmann ans Land. Auf unsern Dank konnte er nur nicken, denn zu sprechen vermochte der Arme ja nicht. Doch er wies aus sein Ohr und machte die Kenn bewegung der Atlantiker. Das Flußgebiet war mit orangefarbenem Röhricht be standen. Dahinter wucherte rotes, hochgewachsenes Farn gebüsch. Im Schatten dieses Niederwaldes pürschten wir uns an die große Straße heran. Hier standen nachlässig die letzten Menschenwachen der Drusonen. Mit viel Vor sicht gelang es uns, an ihnen vorbeizukommen. Geduckt 267
überquerten wir das Übergangsgelände bis zum Speerwald der Hochspannung. Ein paar Eidechsen, die wir unterwegs gefunden, warfen wir in das elektrisch gesicherte Gebiet. Sie waren sofort gekrümmte Muskelbündel. Nun legten wir das Metallschutzgeflecht an, prüften die Voltspannung des gesperrten Geländes und schickten durch unser Geflecht nach Hurstscher Anleitung den entsprechen den Überspannungsstrom von sechstausend Volt. Der Ge danke bei diesem Apparat war, den eingreifenden Strom von neunhundert Volt überzukompensieren durch die Hoch spannung von sechstausend, da nach dem Teslaschen Gesetz der Mensch sechstausend Volt ja verträgt, während er an neunhundert zugrunde geht. — Wir bedeuteten uns mit einem Blick. Ich trat vor, fühlte, daß der Schutz der Ab leitung genügte. bequem konnten wir zwischen den Speer stangen bis zum Wasser gelangen, indessen die Metallringe unserer Sicherung große Funken und zischende Lichtbänder aussendeten, so daß einer dem andern wie in kaltes Feuer gehüllt erschien. Als die Speere aufhörten, warfen wir eine zweite Eidechse zu Boden. Sie schlüpfte fröhlich im Grase fort. Flius schritt zurück. Ich legte mich nieder, sprach in den Fernhörer und erhielt Antwort von Irmfried. Genau konnten wir jetzt feststellen, daß die Stunde der Flucht richtig verabredet war. Irmfried hatte im Park einen Weg gefunden, einen leichten Zugang zu dem Wasser des Sees, in dem das Heiligtum lag. Gegenüber nahm ich Platz. Flius, dem ich eine Botschaft in einem blauen Kuvert niedergelegt, fand mich. Er meldete von Cassaniak, 268
alles sei bereit. Das Zeichen für uns würde das Heiligtum selbst geben, denn das große rote Licht, das über dem Haupt eingang schwebte, würde verlöschen. Das war um die dritte Stunde der nächsten Dunkelheit. Solange also hieß es nun zu warten und zu harren. Wir beobachteten Judith, sahen, wie ihr das Herz schwer war, sahen ihre Erschöpfung, nach dem sie das Drusonenweibchen gepflegt. Das hatte wenig stens den armen Vorteil, daß sie zwei Stunden schlief und an nichts zu denken brauchte. Schlimmer war es um Irm fried bestellt. Einmal war sie doch einem Menschenmädchen begegnet, das, über die Larve entsetzt, zur Seite sprang. Nach der Verabredung, da es sich nur um eine handelte, war sie auf sie zugesprungen und hatte sie durch Juwaessenz betäubt. Aber das durfte nicht öfter geschehen, sonst wurde es im Heiligtum bekannt. Wir verfolgten, wie sich Irm fried und Judith leise erhoben, das Kind in das blaue, hauchdünne Tuch einschlugen und sich abseilten. Als Irm fried den Draht herunterriß, wollte sich die Schlinge nicht gleich lösen; sie riß stärker. Die Bewohner des Hauses wurden wach, aber der Draht war gerettet. Ich konnte sehen, wie sich Köpfe herausschoben, aber danach das Haus sich wieder beruhigte. Beide Frauen verirrten sich in ihrer Erregung. Es war gut, daß sie den Fernhörer hatten, denn wir konnten ihnen nun sagen: „Links! Geht zu dem großen Baum, danach geradeaus!“ Wir waren ihre Führer, so sonderbar es war, Führer, die entfernt lagen in der Nacht, die ja keine war. Am liebsten hätte ich mich selbst ins Wasser geworfen, um ihnen entgegenzuschwim 269
men, aber Flius hielt mich zurück. Endlich bewegte sich drüben das Buschwerk. Wie Schatten traten die beiden blau maskierten Gestalten an das Ufer des Kanals, ließen sich sorgsam leise ins Wasser und begannen hinüberzu schwimmen. Ich sah Irmfried in der Rückenlage. Sie hielt das Kind über ihrer Brust mit den Händen über Wasser, und ich hörte, angespannt lauschend, die leisen Worte: “Nicht weinen, Klein-Ura, wir kommen zum Väterchen!“ — Nun lag Judith in meinem Arm und im andern hielt ich das Kind, und ich war gar nicht erstaunt, daß Flius und Irmfried sich küßten. Ura sagte: „Du bist ein böses Väter chen, daß Du uns so lange allein gelassen hast!“ Da mit einem Male schien die rötliche Nacht dunkler zu werden. Wir schauten auf. Droben das rote Licht über der Stadt war erloschen. Ich warf eine Eidechse in die Spannungs stangen: Die Eidechse kroch. „Durch!“ rief ich. „Ehe der Strom wiederkehrt!“ Und dann durchquerten wir dieses Gebiet von vielleicht zweihundert Meter, und mir schlug das Herz und der Schweiß brach mir aus. Was für eine Torheit hast du ange richtet! Du hast vergessen Judith, Ura, Irmfried die Siche rungen anzulegen. Kommt jetzt der Strom wieder, sind alle drei zuckende Muskelbündel! — Wir jagten weiter. „Kommt! Kommt!“ rief ich. Und ich trug in meiner Angst beide, Mutter und Kind. Judith lachte und sagte: „Aber wir laufen schneller, wenn Du mich nicht trägst!“ und ich sah, daß Flius, von der selben Angst ergriffen, Irmfried auf den Armen hielt. Als wir das Speergelände durchquert hatten, ließen wir 270
uns draußen erschöpft zu Boden fallen, so hatte uns die Angst vor dem elektrischen Tode unserer Lieben in diesen letzten Augenblicken beherrscht. Irmfried gewann zuerst die Selbstbeherrschung wieder. “Wohin jetzt?“ fragte sie fest. Ich war noch verwirrt. Flius beleuchtete mit der elek trischen Lampe schnell die Karte. „Nach rechts müssen wir!“ Und nun liefen wir nach rechts in dieser braunroten Dämmerung, die uns unser guter Stern, die Erde, spendete, die groß und drohend über dem Druso am Himmel lag. Wir konnten über uns die Küstenbildung von Neuseeland und den Südpol genau erkennen. Gestalten standen plötzlich vor uns. Ich griff zur Waffe. “Cassaniak!“ rief Irmfried. Es war Cassaniak. „Drauf und dran!“ rief er seine Leute an. Er hatte uns erwartet an einem Farngebüsch, an dem die eine der Landzufahrtstraßen zum Heiligtum vorbeiführte. Zwei der Blauen geleiteten uns zum Wagen. Cassaniak zeigte uns die sehr einfache Radsteuerung mit Ketten. „Es soll ja mal Automobile gegeben haben noch vor Eurer Zeit!“ sagte er. „So ähnlich ist das auch, und läuft ganz gut und gern die Stunde dreißig Kilometer. Mehr wage ich dem Gestell nicht zuzumuten.“ Wir stiegen ein. Flius nahm die Steuerung. Es war ein einfacher, an einer Stange geteilter Hebel mit zwei Kugeln griffen, und durch Hin- und Herbewegung wurde das Vorderteil des Wagens leicht verschoben. Ich ließ die Kraft des kleinen Motors wirken, und schon drehte der Propeller 271
vor uns, und der Wagen jacherte hopsend über die Straße. Von den beiden Blauen war der eine Atlantiker, der an dere ein Norweger. Sie waren schweigsam, und da wir sie fragten, antwortete der Atlantiker: „Wir sind traurig, keine Drusonen töten zu dürfen!“
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XXII. Motto: So nahmen wir denn Abschied von dem Hafen Mit hoher Hoffnung, doch noch tiefrem Weh. Luis de Camões, Die Lusiaden.
16. Jahrhundert.
Im Kanyon der Blauen. Urzeitliches Menschentum. Der letzte Plan Cassaniaks: Wiedergewinnung des Raumschiffes. Cassaniak und Irmfried. Gefahr im Menschlichen. Wieder in der Raumhafen stadt Drusos. Der Kapitän Norn. Das Raumschiff wird erobert, die Fahrt zur Erde beginnt.
Wir erreichten den Eingang zum Kanyon gerade, als die Erde hell ausging. Die Westküste von Südamerika trat in unsern Blickbereich. Das tief eingeschnittene Zufluchts tal nahm uns auf. Wir fuhren langsam und machten Licht mit unseren elektrischen Lampen. In diesem Tal, in dem ein dunkles Wasser kochte und brodelte, fuhren wir, ohne ein Wort verstehen zu können vor dem Gehämmer des Wassers, weiter über Geröll. An einer Stelle winkte der Norweger. Wir hielten an, stiegen aus. Der Wagen wurde in eine Felsbresche geschoben, Steine davor gelegt. Zu Fuß ging es weiter. „Vater“, fragte Klein-Ura, „kommen wir in unsere Stadt zurück?“ „Ja“, sagte Judith, „wir kommen in unsere Stadt zurück, wir sind auf dem Wege dahin!“ „Ach,“ seufzte das Kind, „ich dachte, wir wären schon da.“ Abseits führte ein Gang in Höhlen. Wasser tropfte. Auf 273
blauem Gestein war Kalkstoff abgesondert. Wir gingen im Scheine der Lampen wie durch blaue gleißende Zauber grotten. Endlich gelangten wir auf eine Sole der Schlucht. Über uns war wie ein schmales Band der Himmel zu sehen. Menschen kamen uns entgegen. Sie begrüßten uns, und wir hörten, daß sie stolz waren aus uns. Wieder wurden wir in eine Höhle gebracht. Hier saßen Frauen, einige mit ganz jungen Kindern; ein paar blaue Krieger wärmten sich am Feuer. Zu ihnen wurden wir geführt, und erst jetzt merkten wir, daß gegen die südliche Wärme draußen hier Kühle herrschte. Die roten Feuer warfen große Schatten an die Wände. So müssen Menschen der Urzeit in den kan tabrischen Höhlen gelebt haben, wie dieser auf Druso ausge stoßene Menschenstamm! Das Kind war eingeschlafen. Wir hüllten es fester ein in Decken, die uns gegeben wurden. Für sein Gemüt war der Schlummer das Beste. Wir aber, Judith, Irmfried, Flius und ich waren müde und dennoch unfähig zu schlafen, ge spannt und gleichzeitig erschöpft. Da brachte uns eine Frau eine Fischsuppe und Knollen, die gekocht waren. Wir aßen und fühlten auf einmal: Speise hatte uns gefehlt. Diese Frau sagte zu Judith und Irmfried: „Aus dem Heiligtum seid Ihr entronnen? Mir ist es auch geglückt, anders wie Euch. Mein Kind war gestorben. Alle Kinder sterben dort, deren Mütter die Drusonenweiber streichen. Diese Teufel zehren unsere Kraft auf und verbrauchen auch noch die der Kinder durch uns. Ich habe mich ins Wasser geworfen, weil ich nicht mehr leben wollte. Eines der Boote 274
ist vorbeigekommen, ich habe mich angeklammert, ich wußte nicht warum — und so bin ich durch das Wasser hinaus gelangt. Ich lag irgendwo am Ufer und bin weiterge krochen. Einer der Blauen hat mich gefunden.“ — Judith hatte bei den Worten der Frau, da sie von dem Tod der Kinder sprach, Ura umfaßt. ,,Ich hätte Dich getötet, Liebling“, rief sie, „nur weil ich Liebe fand in Deiner Wärme!“ Ura machte eine Bewegung im Schlaf, schlug die Augen aus, umfaßte den Hals der Mutter und schlief wieder ein. Schlaf überkam uns alle endlich. — Wir wurden erst wach, als wir freudige Stimmen hörten. Cassaniak war zurückgekehrt. Sechzig Kämpfer hatte er mitgenommen, zwei nur verloren. Der Überfall war ge glückt. Alles, was ihnen auf der Streife begegnet war an Drusonen, hatten sie mit Keulen erschlagen. Zwanzig Frauen hatten sie befreit und mitgenommen. Sie hatten die Drusonen überrascht bei einem Gelage und brachten Proben des Getränks mit, durch welches sie sich berauscht hatten. Es war gegorene Frauenmilch. Cassaniak hatte genau errechnet, wann den Drusonen Hilfe kommen könnte. Zwei Stunden hatte er das Heiligtum in Schrecken und Angst gehalten. „Jetzt“, sagte er, „sind die Kampfkäfer auf der Spur nach den blauen Bergen. Wir haben noch gehört, wie sie die Talfurchen beworfen haben mit Bomben und Explosiven. Sie haben alle elektrischen Kräfte der andern Heiligtümer dahin wirken lassen. Es ist notwendig, daß wir uns jetzt ganz ruhig verhalten.“ 275
Unter den Frauen war eine alte. Sie schien taub und stumm, lebte unter Schrecken und Angst, aber als sie aus geschlafen hatte, begann sie zu berichten. Sie hatte Nahrung für die Drusonen arbeiten müssen, Bouillon und Fleisch gelee. Sie wußte nicht, aus was für einem Tiere die Nahrung zubereitet würde und meinte, es wären wohl Schweine gewesen. — Durch den Fernseher war es uns möglich, die Bewegung gen der Drusonen zu beobachten. Große Menschenhaufen wurden aufgeboten, und das ganze blaue Gebiet ward mit elektrischen Sicherungen umzogen. Sie arbeiteten fieberhaft. Cassaniak lachte. „Sie kennen das Gebiet nicht! Es gibt Zugänge unterirdischer Art; ich habe nicht umsonst den Druso durchstreift. Sie sind dazu ganz unfähig. Sie können nur denken, und ein paar von ihnen fliegen!“ Wir sprachen nun von dem letzten Abenteuer: Wieder gewinnung des Raumschiffes! Cassaniaks Plan war fertig: „Wir begeben uns einzeln in die Stadt, sechzig meiner Leute und ich selbst. Wenn das Schiff das erste Abfahrtszeichen gibt, brecht Ihr durch und schließt die Pforte. Ich kenne die Maschinerie als alter Steuermann. Ich löse aus, und das Schiff fliegt. Das Orakel wird unschädlich gemacht durch Zertrümmern des Kristalls. Gießt Säure auf die Quallen; sie sterben!“ Flius machte seine Einwände. „Wir brauchen doch Unter stützung vom Schiff, Benachrichtigung zur Erde, daß wir drunten nicht den kapstädtischen Wachen in die Hände fallen.“ „Wir werden Liuwenhord auf alte Weise benachrichtig 276
gen!“ sagte Cassaniak. „In die Verpackung eines der Güter wird die Nachricht geschoben. Das Stück wird einer der Atlantiker begleiten und an Deck unser Mann bezeichnen. Liuwenhord wird dafür sorgen, daß Atlantiker an Bord sind. Am besten wäre es, Ihr fahrt mit dem Raumer unter der Führung Norns, der auch Atlantiker ist. Er kann die Auslösung selbst bewirken. Während der fünf Minuten wer den meine Leute einen solchen Aufstand in der Stadt er regen, daß die Drusonen zu tun haben!“ „Aber werden die Leute nicht mit hinüber wollen zur Erde?“ fragte Irmfried. „Das Los wird entscheiden, wer bleibt!“ Alle diese Besprechungen erregten in mir das Gefühl der Unsicherheit. Die Drusonen waren in der Stadt weniger zu fürchten als die Menschen. Ich sprach mit Judith. Sie war nach ihrer Befreiung in einen müden lethargischen Zustand verfallen. Sie sehnte sich nach der Erdensonne. Das ewig rötliche Licht tat ihr weh, und auch das Kind machte uns Kummer. Die Erschöpfung der Mutter hatte es mit erschöpft. Irmfried kam verstört zu uns. „Was soll ich tun? Cassaniak hat mich gefragt, ob aus dem Scherzabschieds wort der Kinderjahre Ernst gemacht werden könne. Er hat mich schnell verlassen. Ich solle es überdenken, sagte er. Aber ich und Flius sind eins!“ — Das war eine neue Schwierigkeit, denn ohne Cassaniak waren wir hilflos. Judith unternahm es, mit diesem Kämpfer zu sprechen. Und ihr gelang, ihn zu besänftigen. 277
„Was hast Du gesagt?“ fragte ich sie. „Oh“, erwiderte Judith, „ich habe Cassaniak gesagt, Irm fried handelt auf Befehl ihres Vaters, tut mir alles zur Liebe, und wenn Cassaniak uns nur helfen will, wenn Irm fried sich ihm gibt, wird er sie haben. Das ist ihm nahge gangen. Er ist sofort mit einigen seiner Leute zu einem Zug aufgebrochen. Draußen tobt er sich aus.“ — Cassaniak kam zurück. „Ich bin entschlossen, auf dem Druso zu bleiben!“ sagte er und schaute Flius und Irm fried an. „Auf der Erde würde ich's doch nicht mehr er tragen. Ich brauche den Kampf! Und es ist besser so!“ fügte er schnell hinzu. „Ich habe mit meinen Leuten ge sprochen und gefragt. Wer kämpft mit mir auf Druso und wer will zurück auf die Erde? Alle haben sie gesagt: Wir kämpfen! Aber ich habe erklärt. Lost es aus! Und wer sein Los an einen andern abtreten mag, der tue es. Da hat sich's denn gefunden, daß doch dreizehn zurück wollen. Sie genügen, um aus dem Raumer Klarschiff zu machen; denn was nicht Atlantiker ist, muß auf dem Raumer ster ben, sonst seid Ihr nicht sicher.“ — — Vern gab, wie verabredet, Nachricht an Liuwenhord. Wir aber mußten ausharren in der Höhle, bis der Zeit punkt kam, daß Norn das Raumschiff von der Erde herauf brachte. Das bedeutete weitere vier lange Erdenwochen. — Judith und Klein-Ura kamen wieder zu Kräften. Flius war auf den Gedanken gekommen, ihnen die Anpassungsapparate Hursts anzulegen, und die Belebung durch die Ströme brachte wieder Ordnung in beider biochemisch-elektrischen 278
Haushalt des Körpers. So waren wir besser den Drusover hältnissen angepaßt als zuvor und verließen mit Hoffnung den schützenden Kanyon. Wieder wurde für uns der Wasserweg gewählt, und das Glück wollte es, daß der gleiche zungenlose Atlantiker unser Bootsmann war. Wie der saßen wir droben in der Wohnung Verns und harrten des Raumschiffes. Der kupferne Blitz schwang sich hinab in das Wasser, das aufdampfte. Die Hafenarbeiten be gannen. Wir sahen die Scharen der Menschen das Schiff verlassen: Neues Opfervieh für die Drusonen. Weisungen Liuwenhords waren überbracht worden durch einen Atlantiker, der eingeschmuggelt gewesen war, ge waltsam vertauscht gegen einen Mittelmeerländer. Liuwenhord wollte zur Stelle sein mit zwei Untersee booten und einer starken Mannschaft, die sofort den Raum hafen in Besitz nehmen mußte, sobald erkannt war, daß das Raumschiff in unserer Gewalt sei. Als Zeichen dessen sollte sofort eine blaue Flagge herausgesteckt werden und wir sollten rücksichtslos hinabstürmen, alles überrennen. Waffen würden an Bord sein. Wären wir heraus, hieß es, sofort die Unterseeboote zu gewinnen und zu tauchen. Die Spren gung wäre vorbereitet. Hurst würde im Flugzeug davon rasen. Auf die Streifwachen würden sich die blaugestriche nen Flugzeuge stürzen. Wir sollten tapfer bleiben. Cassaniak jauchzte: „Das wird der Tag sein, wo die Menschen über die Insekten siegen werden! Denn hier oben wird alles in Aufregung sein! In Raumhafenstadt haben wir mehr Anhänger als die Drusonen ahnen!“ 279
Wir gaben nun Cassaniak die Sprengkapseln, und er arbeitete einen genauen Plan aus, was alles sofort zu ver nichten sei nach der Abfahrt des Raumschiffes. „Ich lege den ganzen Druso lahm, und den simplen Kampf mit dem Käfergezücht fürchte ich nicht.“ Er erhielt unsere ganze Ausrüstung, die für uns unnütz geworden war. Wir bewaffneten uns nur mit den Flüssig luftpistolen und den von Cassaniak erfundenen Kampfhäm mern aus einem auf Erden unbekannten Schwermetall, aus dem auch die Anpassungsschuhe im Raumer für die Aus wanderer zum Druso gemacht waren. Mit ihnen konnte sogar der Metallkörper einer der schwirrenden KäferMaschinen zertrümmert werden. So war der für das Menschengeschlecht entscheidende Tag herangekommen! Wir wurden eingelassen in eine leere Halle, deren Tür geöffnet wurde. Die letzten Gepäckstücke wurden an Bord des Raumschiffes gebracht. Der Kopf Norns zeigte sich in der Öffnung der Schiffspforte. Da sprangen wir heraus, stießen die überraschten Menschen wachen, acht an der Zahl, nieder und stürmten in blauer Gewandung hinein in die Öffnung, die sich uns bot. Zwei Blaue trugen Judith, ich selbst Urania. Irmfried lief an der Seite von Flius. Norn riß die Pforte hinter uns zu. Ein paar Drusonen knechte im Innern des Schiffes wollten uns wehren, wir schossen und hämmerten sie nieder. Norn lief zum Abzugs hebel, Vern und ein paar der Blauen mit mir zum Kristall zylinder. Wir kamen gerade recht, denn die große Metall 280
hülle schraubte sich herab. Vern warf rechtzeitig noch in die Kristallmasse seinen Streithammer. Wir schossen auf die Moluske, aber Irmfried, uns nachgekommen, schleuderte eine Flasche Kupfervitriol auf die zuckende Masse. Im Augenblick fühlten wir eine Beengung. Die Abfahrt hatte begonnen! Unsere elektrische Selbstsicherung — Heil dem Genie Hursts — verhinderte, daß wir in den be sinnungslosen Zustand fielen, der alle ergriff. Wir begaben uns in die Mannschaftsräume. Alles, was nicht das blaue Abzeichen trug, wurde gefesselt und unschädlich gemacht. Unsere Leute bargen wir in den Betten. Es war nicht leicht, wie ein Schwimmen unter Wasser war es und ein Nachziehen von Ballen. Jeder einzelne mußte gesichert werden auf seinem Lager, daß er nicht in den Räumen herumtaumelte. Endlich, nach vielen Stunden, hatten wir Zeit und setzten uns in Norns Kajüte. Der Kapitän ruhte neben dem Abzugshebel. Sein Lager war sinnreich elek trisch so eingerichtet, daß er während der Fahrt bei Be sinnung blieb, als einziger. Neben seinem Kopfe befanden sich eine Reihe von Hebeln, die er auf Befehl der Dru sonen zu bedienen hatte. Aber er kannte selbst alles genau. Er wußte, von einer bestimmten Bewegung ab war die Erdanziehungsgrenze erreicht. Eine neue Schaltung war dann notwendig, um den Kapstädter Strom auf sich zu lenken, der das Schiff dann automatisch bis in die Mün dungskehle hineinführte. Wir blieben bei Norn. In seiner Kajüte hingen wir Hängematten auf, schliefen und dachten, was wohl auf Druso geschehen würde. 281
XXIII. Motto: Glauben Sie, sagte Martin, daß die Sperber immer Tauben gefressen haben, wenn sie gerade welche fanden? Natürlich, sagte Candid. Voltaire, Candid.
18. Jahrhundert.
Die Fahrt. Noch immer lastet der Alp Drusos auf den Herzen. Die Drusonen melden sich. Letzte Entscheidung: Muß das Raum schiff zurück? Die Erdanziehungssphäre wird erreicht, die Landung vorbereitet und zugleich der Kampf unter der blauen Flagge Landung. Liuwenhord ist bereit zum Befreiungskampf. Letzte Rache Drusos: Der zweite Raumer rammt den ersten.
„Wie seltsam waren doch die roten Landschaften des Druso!“ erinnerte mich Judith. „Mir ist immer noch, als wäre das alles ein toller Traum im Traum.“ Irmfried seufzte: „Wie nah war, als wir abfuhren zum Druso, noch jene Zeit, da wir aus der von Menschen be herrschten Erde lebten, und jetzt, nach diesen wenigen Wochen auf Druso, scheint es, als ob wir wirklich Jahr hunderte alt wären.“ Flius rechnete und weihte Irmfried in die Künste chemischer und mathematischer Formeln ein. Judith begann zu erzählen, wie es ihr selbst ergangen war in dieser schrecklichen Zeit. Noch in Kapstadt hatte sie gehofft, eine Befreiung wäre möglich. Sie hatte es gewagt, sich mit dem Kind vom Kai ins Wasser fallen zu lassen, aber 282
mehr als zwanzig Männer hatten sich ins Wasser gestürzt, um die Opfer der Götter zu retten. Ein Trost war noch, daß sie wenigstens von uns gesehen wurde. Aber wie oft war ihr ein Sprechen mit uns unmöglich. Das war bitterste Qual. Und dann, als sie im Raumschiff war, schien alles endgültig besiegelt. Sonderbar hingegen wirkte auf sie die Ausnahme im Raumschiffhafen. Das war ja eine Stadt wie auf Erden. Freilich, zuerst wußte sie nicht mit dem Überschuß körperlicher Energie wohin, aber sehr bald war dieser Überschuß verbraucht im Heiligtum. Wie ekelhaft war es gewesen, dieses Rieseninsekt am Bauche streichen zu müssen. In jedem der Räume lag so ein Klumpen und erfüllte die Luft mit einem merkwürdigen Geruch. Säugende Frauen, deren Kinder gestorben, wurden Milchgeberinnen. In einem besonderen Wäldchen wurden die Frauen gehegt, die Milch geben sollten. Die Drusonen hatten Maschinen erfunden, die an die Brüste gesetzt wurden, und die Frauen wurden mit besonderer Nahrung gefüttert, die eine Verlängerung der Milchperiode ermöglichte. Sonst hatten sie es gut. Sie wurden alle sehr dick, da sie wenig Be wegung hatten, wurden aber sehr sauber gehalten, drei mal am Tage gescheuert und abgebürstet von alten Melke rinnen. Einzelne Drusonen ließen sich Frauen kommen und sogen an der lebendigen Menschenbrust. Das schmerzte, und jede Frau fürchtete diesen Dienst. Aber es dauerte nicht lange, denn die Drusonen waren Feinschmecker. Sie unter schieden die Frauenjahrgänge und sogar die Rassen nach der Milch. Jede Frau war nach Alter und Herkunft auf dem 283
Rücken gestempelt, und die gleichen wurden zusammengelegt und gleichmäßig behandelt. Es war ein wissenschaftliches System, nach dem sie alle Frauen behandelten. Zuerst be gann eine Impfung, denn die Drusonen wollten sich schützen gegen die Einflüsse bestimmter Erdbakterien. Alle diese Arbeiten wurden von den ameisenähnlichen Drusonen ver richtet. Das Schlimmste für Judith war das Gefühl der Energie losigkeit gewesen. Hatte sie ihren Dienst verrichtet, war ihr soviel eigene Vitalität entzogen, daß sie froh war, wieder schlafen zu können. Am liebsten hätte sie ein Ende gemacht, aber dazu reichte es nicht mehr hin. In einem Zeitraum, der vierzehn Tagen entsprach, war sie ein hilf loses Dienstgeschöpf der Drusonen geworden. Noch jetzt, wenn sie vom Heiligtum träumte, weinte sie im Schlaf. Judith war müde geworden von dem Sprechen, das ihren seelischen Druck erleichtert hatte. Sie schloß die Augen und legte den Kopf zurück. Ich sah, daß Flius Schweißtropfen auf der Stirn perlten, während er rechnete, und daß er sich um Irmfried, die mit irgendeiner Aufgabe beschäftigt war, nicht mehr kümmerte. Ich setzte mich neben ihn und sah auf die Blätter. Die Formeln, die er niederschrieb, erstaunten mich. Ich legte die Hand auf seine Schulter. Er schaute mich an mit dem Blick eines gehetzten Tieres und fragte Norn: „Läuft das Schiff gut?“ Norn nickte mit der Ruhe des alten Raumfahrers: „Alles in Ordnung!“ 284
Flius sprach leise zu mir. „Wenn sie die Kraft hätten, unseren Lauf zu wenden! Wenn wir zurückkehren müßten zum Druso!“ Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde. Ich stieß hervor: „Aber Hurst meint doch, das Schiff im Laufe ist unaufhaltbar!“ „Ich rechne eben nach, aber es ist natürlich Irrsinn, das jetzt ausrechnen und finden zu wollen aufs Geradewohl!“ — Aber wieder machte er sich daran und schrieb Formeln nieder. In mir stieg Angst auf. „Wie lange noch brauchen wir, um die Erdanziehungssphäre zu erreichen?“ fragte ich Norn. Er schaute auf die Uhr: „Siebzig Erdminuten! Dann tritt die Gleichgewichtsänderung im Raumschiff ein!“ Flius flüsterte mir zu: „Das vielleicht ist Rettung!" Und während er rechnete, schaute er auf die Uhr neben Norns Lager. Irmfried wurde aufmerksam. „Was habt Ihr?“ fragte sie. „Oh“, sagte Flius, „wir kontrollieren den Lauf des Schiffes. Das vorige Mal waren wir noch so von allem Neuen bewegt und in Spannung vor dem Abenteuer — — — — " — Er brach ab, denn ein Apparat meldete sich. Norn richtete sich auf, ahmte mit dem Finger den Rhyth mus auf der Metallwand nach und sah ein rotes Licht auf blitzen, mit einem gelben wechseln. „Was bedeutet das?“ Wir alle drei riefen durcheinander. Norn erklärte: „Die Drusonen geben Befehl, Maschinen halten zu lassen!“ 285
„Ist Rückantwort möglich?“ fragte ich. „Gewiß! Taste ich hier, heißt es Befehl ausgeführt! Taste ich hier, heißt es Befehl unmöglich auszuführen! Das ist ganz klar!“ „Und hält das Schiff, wenn es heißt, Befehl ausgeführt?“ „Nein“, sagte Norn, „das ist etwas ganz anderes! Das würde uns vielleicht sogar Kopf und Kragen kosten, da wir auf der Schwebe sind zwischen Erd- und Drusosphäre!“ Da sprang ich auf und drückte den Hebel nieder: Befehl ausgeführt! „Wieviel Minuten zur Erdsphäre?" hastete Flius' Stimme. „Elf!“ Nun saßen wir alle drei — denn Irmfried hatte be griffen, um was es sich handelte — still, wie Wild, das auf den Sprung des Raubtieres wartet. — Mit einem Male hatten wir die Empfindung eines Übelwerdens, eines Schwankens. „Es ist aus!“ rief Flius, so daß Judith erwachte. Aber Norn, der sich über den Ernst der Lage gar nicht klar zu sein schien, beruhigte ihn: „Die Erde meldet sich! Unsere Bewegung nimmt zu, die Körper stellen sich im Gleich gewicht um!“ Flius schloß die Augen. Seine Mundwinkel krümmten sich. Ich faßte seine Hand; sie war eiskalt. Er sagte. „Ich glaube, wir haben es überstanden.“ — „Was ist das?“ rief Norn, „der Kurs schwankt!“ Er griff an einen .Hebel und bemerkte: „Sie werden glauben, 286
wir haben die Maschinen abgestellt und haben uns einen Strom nachgejagt. Aber sie können uns nicht stören! Wir arbeiten jetzt mit Erdenergie!“ Und befriedigt sah er auf die Kontrollapparate. „Alles in Ordnung!“ — Aber wir blieben in der Spannung. Was konnte uns noch geschehen? Welche Tücken hatte Druso noch gegen uns auszuspielen? Irmfried riet: „Laßt uns alles fertigmachen für die Ausschiffung! Denkt, was uns Hurst geraten hat: Jede Minute, die wir von den sechs Stunden sparen, kann von Wert sein, und vielleicht wissen die Drusonen der Erde schon, was es mit dem Raumschiff für eine Bewandtnis hat!“ Wir begannen die Waffen vorzubereiten und kümmerten uns um die Mannschaften. Apparate für so viele, um das biochemische Erdgleichgewicht herzustellen, hatten wir nicht. Flius sann nach. „Gibt es im Schiffe Reserveerzeuger für Elektrizität?“ Norn nickte. Flius begab sich in den Raum und begann zu arbeiten. „Der Versuch muß gemacht werden!“ sagte er. Er leitete Elektrizität ab, schloß die Gruppe der Schlafenden anein ander. „Ich behandle sie mit Hochfrequenz in der Weise Bergoniers. Das gestattet ein schnelleres Arbeiten der Muskulatur.“ „In zwölf Stunden sind wir auf der Erde!“ meldete Norn. 287
Wir schauten auf die Uhr, und als die zwölf Stunden sich auf zwei vermindert hatten, schaltete Flius den Strom ein. Wir sahen, wie schön die Muskeln der Gebannten arbeiteten und zuckten und hatten das Vergnügen, den ersten Erwachenden nach einer Stunde zu begrüßen. Wir ließen ihn aber noch unter der elektrischen Einwirkung, die ihm wohltat. Alle wachten sie auf, einer nach dem andern. „Wir wer den die Erde wiedersehen!“ sagten diese Blauen. Aber Flius erklärte: „Wir werden sofort kämpfen müssen!“ Immer noch aber saß in uns die Furcht, es könnte von Druso oder von der Erde aus uns irgend etwas geschehen. Ohne den Fatalismus des alten Raumfahrers Norn wären uns die Nerven gesprungen. Es wurde heiß im Raum und zischte. Aus der Strato sphäre waren wir in den Luftraum eingetreten. Die Kühler begannen zu arbeiten; zum ersten Male hörten wir Maschinen schwirren. Dann Erschütterung — Explosion — Zischen von verdampfendem Wasser — das Raumschiff saß fest, die Fahrt war zu Ende! — „Wir haben den Vorteil der Überraschung!“ sagte ich, “Denn nach sechs Stunden erst erwarten die Drusonen draußen das Öffnen des Schiffes. Also die blaue Flagge bereit, die Waffen zur Hand, — hinaus!“ Die Tür flog auf, die blaue Flagge wehte! Greller Sonnenschein drang uns in die Augen. Wir waren ge blendet und sahen, daß Unruhe herrschte über das vor zeitige Öffnen der Pforte. Zwei Käfer schwirrten heran. 288
Schuß auf Schuß. Sie fielen klatschend ins Wasser. Hinaus! Die paar Arbeiter, die drunten am Pier standen, waren überrascht, blaue Gestalten zu sehen, aber im Nu waren sie überwältigt, zu Boden geworfen. Wir sprangen in Boote. Wieder kam ein Käfer nah herangepürscht mit seinem ganzen Geschwader, aber die Pistolen taten ihre Schuldig keit. Und jetzt begannen über der Stadt Flugschwärme unserer Flieger zu kreisen. Aus dem Wasser hoben sich die mächtigen Unterseeboote, Taue flogen, wir wurden herangeholt. Über uns war ein Käfergeschwader ver nichtet. Die Eisenkörper krachten ins Wasser. Da, wo das Hauptorakel von Kapstadt war, sauste eine Bombe herunter und zerschmetterte alles. Das Hafenorakel ward in die Luft geblasen. Tat auf Tat folgte schnell, daß wir es kaum fassen konnten. Auf dem Stahldeck des U-Bootes flossen die jagenden Bilder ineinander. Da steht ragend Liuwenhord, preßt die Tochter in die Arme, küßt sie, erblickt Judith, sinkt vor ihr nieder, berührt mit den Lippen den Saum ihres Gewandes, steht auf und kündet wie ein Herold: „Be freiung der Erde! Die Mutter der Menschen bringt uns ihr Kind zurück aus der Welt der Vernichtung, bringt uns die Blüte des Lebens im Jammer und Tod!“ Da sauste ein kupferner Blitz durch die Luft. Wo eben noch das Raumschiff gelegen hatte, glüht Metall auf und spritzt auseinander, das ganze Hafenbecken zerreißend. Unser Schiff, das jenseits der Kaimauer lag, gerät ins Schwan ken, weil die Kaimauer einstürzte. „Sprengt Hurst?“ frage ich. 289
„Nein“, schreit der Führer des Unterseebootes, „das zweite Raumschiff ist auf das erste geprallt!“ — Danach war es, als erwachten wir aus einem Traume und er kannten, wie gut es gewesen war, vorzeitig den Raumer zu verlassen. Die Drusonen hatten das zweite Schiff ge opfert, um die Aufrührer zu vernichten!
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XXIV. Motto: Wer da suchet seine Seele zu erhalten, Der wird sie verlieren; Und wer sie verlieren wird, Der wird ihr zum Leben helfen. Jesus von Nazareth, Evangelium Lucae 17, Kap. 33. Vernichtung der Orakel. Erdkatastrophen. St. Helena. Druso nähert sich von neuem der Erde. Erneute Gefahr für die Menschen welt. Der zum Orakel gewordene Hurst meldet sich. Er gibt den entscheidenden Rat zur Rettung der Erde. Druso wird abgedrängt. Der Mond beginnt sich zu drehen. Auf Druso aber herrscht Cassaniaks Geschlecht.
Das Unterseeboot furchte das Meer. Ein Drusonenschiff nahm Kurs auf uns. Zwei Torpedos brachten es zum Sinken. Ietzt nahm Liuwenhord den Fernhörer und rief: “Hurst! Ausführen!“ — Da sahen wir, wie die Blöcke des Tafelberges einem Vulkan gleich hinunterstürzten zur Ebene, sahen, wie sich das ganze Hafengebiet hob. Die Drusonenstation war vernichtet! Und Befehl ging an die Flugzeug-Geschwader: Vernichtung aller Orakel! Aber eine ungeheure Flutwelle kam dahergebraust. Gut war es, daß wir noch tauchen konnten, aber selbst in der Tiefe, in der wir uns befanden, spürten wir den Druck der brandenden Wassermassen. Wir bohrten uns in den Ozean, um abzuwarten. Ein Orkan schnob über die Erde. Was war geschehen? Wir wußten es nicht. Das Meer empörte sich. Druso rüttelte bis zu unserer Tiefe hinab die Gezeiten 291
auf. Flutwellen umbrausten die Erde. Das war das Werk des feindlichen Sternes droben. Nach drei Stunden tauchten wir zum ersten Mal auf in kochender See und suchten sofort Verbindung mit Boothia Felix. Aus dem Lautsprecher tönte die Stimme des astro nomischen Beobachters: „Starke Erdbebenzeichen! Boothia Felix hat alles überstanden! Risse in einigen Mauern. Vorbereitungen haben sich glänzend bewährt! Druso ist aus der Bahn geschleudert. Sein bisheriger Standpunkt zur Erde scheint verschoben. Die Entfernung ist vergrößert. Druso ist in der Meßlinse auf zwei Drittel verkleinert. Luftfahrzeuge im Sturm abgetrieben gegen Arabien. Vier Verluste werden gemeldet. Unterseeboot Beta gab Nach richt, alles wohlbehalten. Von Hurst fehlen Nachrichten!“ Wir nahmen Kurs auf St. Helena. Die Gezeitenwelle kehrte wieder. Abermals mußten wir tauchen, um dem Sturm zu entgehen. Empfingen neue Nachrichten: Überall Kämpfe auf Erden. Die Priester rufen zum religiösen Rachekrieg auf gegen die Götterverräter! Einer bezichtigt den andern. Liuwenhord befahl, die Atlantiker zu sammeln und zu den Sicherungsplätzen zu bringen. Von Hurst kam noch immer keine Nachricht. Neue Befehle: Flugzeuge hatten Hurst zu suchen. — Meldungen trafen ein von Küsteneinbrüchen auf dem süd amerikanischen Kontinent. Mächtige Erdinseln hatten sich aus der indischen See erhoben. Taucht da der uralte Erd teil Lemuria wieder auf? Flius rechnete: „Die Erde muß eine Schwankung durch 292
gemacht haben, nicht allzu groß, und sie muß noch jetzt in Bewegung sein. Wäre nur Hurst da!“ Wir waren unseres Sieges nicht recht froh! Nur Judith schien wie unberührt, ganz versunken im An blick ihres Kindes, ganz hingegeben der Erdensonne, in der sie beide aufblühten. Eine heilige Zweiheit war es und keiner bedrängte die Mutter der Menschen mit Sorgen und Kümmernissen. Die Atlantiker auf Boothia Felix begingen ein großes Fest und feierten meine Judith als ihre Göttin und Befreierin von dem Stern der Verdammnis. Die astronomische Beobachtungswarte meldete, Druso würde wieder größer, er nähere sich mit auffallender Ge schwindigkeit der Bahn des Mondes. Mit eigenen Augen konnten wir in der Nacht sehen, wie Druso wuchs und er kannten seine veränderte Stellung. Allein die Spannung und Erschütterung, die in den letzten Stunden an uns ge rüttelt hatte, war so übermäßig gewesen, daß wir die Tat sache nur buchten, ohne die Fähigkeit zu haben, sie gedanklich auszuwerten. Diese Erschöpfungszustände sind es ja, die oft Umschwung und Entscheidung in den Krisen des Weltspiels hervorrufen, einen Sieg in Niederlage verwandeln, einen großen Plan zunichte machen können. Asche hatte sich über das Feuer unserer Willenskraft gelegt, wir alle waren matt. So erreichten wir St. Helena und ruhten wieder einmal aus auf Erden. Die Luft war tropisch drückend, aber uns, die wir vom heißen Druso gekommen, tat die Wärme nichts. — Wir besuchten die Stelle, wo Napoleons Sterbe 293
haus gestanden. Zu unserer Erdepoche hatten es die Menschen noch erhalten; jetzt war es längst in Trümmer zusammengesunken. Nur der Fels stand noch, von dem der verbannte Kriegsfürst über den Ozean geschaut. Hier war ich mit Flius allein. Sehr blaß sagte er mir: “Kannst Du Dir deuten, was dort droben am Himmel vor geht? Die Drusonen versuchen Klammerung an den Mond! So kann die eine Deutung sein. Oder aber, sie erkennen, daß ihrem Geschlecht ein Ziel gesetzt ist. Die Menschen herden lassen sich nicht mehr beherrschen, ihre Arbeiter reichen nicht aus, ihre elektrischen Kräfte werden durch Cassaniak gestört, und vielleicht sinnt der Drusone, der diesen irrenden Stern lenkt, auf Rache!“ „Rache?“ fragte ich. „Wenn er seine Kraft benützt, um auf den Mond zu stoßen, so gibt dies eine Störung des Raumfeldes, die nicht abzusehen ist. Eine Hitzewelle wird entstehen, die alles Leben der Erde vernichtet. Der alte Planet, der so viel gesehen hat, wird mit den Kräften, die vielleicht ihm das Meer noch erhält, von vorn anfangen müssen, die Entwick lung vom Protoplasma zum denkenden Wesen.“ Die Vision griff mir ans Herz. Darum also der Kampf! Darum also Befreiung, um unterzugehen in einem Gluthauch, im Dampf des aufzischenden Meeres? Darum hatten wir dreihundert Jahre als Keime in der Erde ge ruht, waren wieder zum Leben aufgewacht, um dieser Menschheit, die wir befreien wollten, den Tod zu bringen? Mich verließen die Kräfte, ich setzte mich nieder. 294
Da kam Irmfried gelaufen: „Kommt sofort! Der Vater braucht Euch! Hurst hat sich gemeldet!“ „Hurst?” „Ja, Hurst! Er ist in Beeny, hundertfünfzig Kilometer von Kapstadt. Er hat seinen persönlichen Scherz gefunden. In Beeny war ein kleines Orakel. Er hat sich dessen be mächtigt, die Priester hypnotisiert und beginnt von dort aus Afrika zu beherrschen. Die Gläubigen strömen ihm zu. Er verlangt vom Vater, sechs Flugzeuge sollen landen aus eine bestimmte Stunde. Das will er prophezeien. Er sagt, nur so ist es möglich, die Macht über die Menschenmassen der Erde zu gewinnen, daß wir Atlantiker zunächst die Orakel besetzen und aus dem Aberglauben einen Glauben schaffen für Atlantis. Aber er braucht vor allem Dich, Flius! Nach Dir verlangt er!“ Noch während das Mädchen erzählte, waren wir aufge sprungen. In fliegender Eile erreichten wir die Station und verbanden uns durch den großen Fernhörer und Fern seher mit dem kuppelförmigen Tempel von Beeny. In der Kristalltube des Orakels saß mit gekreuzten Beinen unser lieber alter, ironisch lächelnder Hurst. Er betrach tete uns durch seine kleineren Apparate, nickte und sagte: „Habt Ihr den Marsch Drusos gegen den Mond be obachtet?“ „Ich habe die größte Sorge!“ rief Flius, sah sich um im Raum und befahl barsch. „Außer uns, Irmfried und Liuwenhord, alles hinaus!“ Liuwenhord erschrak über die Kommandostimme, die er 295
noch nie bei dem stillen Menschen gehört, aber er winkte. Alle Atlantiker, die den Raum füllten und mit Begeiste rung und Rührung auf Hurst geblickt hatten, traten be schämt und verwirrt zurück. Flius sagte kurz, was er mir zuvor erzählt. Ich sah, wie Liuwenhord beide Hände auf die Brust legte und sich be zwang, um nicht in ein Gestöhn auszubrechen. Er zog Irmfried an sich und küßte sie auf die Stirn. Stark war die Geste dieses schützenden Vaters. Hurst nickte. „Ja, es ist ernst, aber noch können wir helfen. Die Maschinen, die die Kräfte hinausschicken in den Raum, sollen alle Spannungen hinter der Mondsphäre ver einigen. Die Astronomen sollen bestimmen! Es ist die gleiche Radiusentfernung vom Zentrum des Mondes, wie jene Entfernung beträgt, wo sich der Gleichgewichtspunkt der Erd- und Mondanziehung befindet. Also den Durch messer dieser Kugel über den Gleichgewichtspunkt der Erde heißt es hinauszuschießen, um den Mond zu schützen mit allen erdmagnetischen Kräften unseres Gestirns. Einen andern Rat weiß ich nicht, aber ich hoffe, daß, wenn richtig gerechnet wird, der Stoß genügt, um Druso abgleiten zu lassen. Richtig rechnen! Umstellen, wenn Druso heran gleitet! Es muß wirken im Raum wie ein Puffer, an dem sich der Stoß fängt.“ Liuwenhord wandte sich, grau geworden, an Flius. Der saß nieder und rechnete. Hurst aber meinte, ironisch lächelnd: „Vergeßt über den Mond Euer altes Orakel in Beeny nicht!“ — Und so schwer uns die Herzen waren, 296
wir mußten lachen über diesen furchtlosen Denker, der das Geschick nahm, wie es sich gab. Vier Tage noch vergingen im Warten und Beobachten, vier Tage, an denen wir nicht mehr die Erde unter uns zu fühlen glaubten. Selbst Judith ward aufmerksam. „Haben wir zwei Monde?“ fragte sie am letzten Abend. „Es ist Druso, der entschwindet!“ sagte ich leise. Aber sie schützte die Augen mit den Händen: „Druso ent schwindet uns nie! Wir, die wir Druso erlebt, tragen ihn in uns!“ Und dann kam jene denkwürdige Nacht der letzten Be obachtung. Flius saß am Fernseher, und wir hatten die kleineren Apparate zu Hilfe genommen und beobachteten die Fernmelder. Jetzt kam der Augenblick, da auf den Druck des Tasters von Boothia Felix sämtliche Stromkräfte der Erde hinauseilten in den Raum, um den Mondtra banten zu schützen. Wir blieben in der Spannung Da tönte vom Fernhörer in unsere Ohren die Stimme Hursts: „Geht zu Bett, Herrschaften! Wenn bis jetzt nichts erfolgt ist, nach meiner Uhr, die ich nach der auf Boothia habe stellen können, — dann können wir alle ruhig schlafen und aufwachen für einen neuen jungen Erdentag!“ Da umarmten wir uns weinend. In der nächsten Nacht bemerken wir hinter dem ab nehmenden Mond den scheinbar abweichenden Druso. Aber Flius, der genau beobachtete, rief: „Was für Veränderungen gehen auf dem Mond vor? Nichts mehr ist von seinen alten Gebilden zu erkennen!“ 297
Heute wissen wir, was damals geschah. Der vorüber ziehende Druso hatte mit seiner Masse auf den Mond be wegend gewirkt, und heute weiß jeder Mensch auf Erden, daß nach den damals erfolgten schnellen Umdrehungen die Umlaufszeit des Mondes um seine eigene Achse noch jetzt zweieinhalb Jahre beträgt, bis sie endlich einmal wieder aufhören wird. Und was danach geschah, das wißt ihr Atlantiker aus nächster Vergangenheit. Hursts politischer Plan wurde be folgt: Durch die Orakel, die wir besetzten, wurden die Men schen beruhigt, die Fehden verboten, die Opfer abgeschafft. Boothia Felix, die letzte Heimat der Menschen, erlebte den Auszug der Atlantiker. Die wilde Bevölkerung der alten europäischen Kulturlande ward ausgesiedelt und Frankreich, Deutschland, Dänemark, Skandinavien, Holland und das mit dem Festlande verbundene England wurde die neue Atlantis, das Land der Zukunft und der Verheißung! Geblieben sind uns die Feste der Erdenmutter. Freilich, Judith hat die Freude der Errettung nur zehn Jahre noch erleben können, aber als neue Erdenmutter ward Urania, das Kind, erwählt. Heute bin ich der Letzte. Hurst und Flius sind heim gegangen. Aber Irmfrieds Geschlecht blüht. Ich lege euch auf einer befriedeten Erde noch einmal des Weisen Wahl spruch ans Herz: Dennoch bleibt der Krieg der Vater allen Geschehens! Niemals hört der Kampf auf, solange Welten bestehen. Laßt die Menschheit einig sein, führt sie zu euch empor, ihr Atlantiker, damit ihr gewachsen seid irgend 298
einem Angriff, der aus irgendeinem Teil der großen Natur jedes Geschlecht, das gezeugt ist, treffen kann. Werdet als Beherrscher der Erde nicht wie die Drusonen selbst schwäch lich und selbstsüchtig. Seid auf der Wacht! Als Fluch gelte der Name Drusone für jeden, der über Menschen ge bietet und der Menschentum mißbraucht! Seid gedenk der Worte Ferrymans, des Künders: Macht den Menschen nicht zur Sache, Tiere nicht zu Menschen und Sachen nicht zu Göttern! Ich schreibe dies nieder in der glücklichen Stunde, da dreißig Jahre nach der Befreiung der Erde zum erstenmal wieder Druso, näher gekommen, sich meldete durch ge waltiges Blinken. In dem Lang-Kurz der uralten Morse sprache erkannten wir menschliche Zeichen nach erstem Er schrecken. Droben sind die Drusonen vernichtet! Cassaniaks Sohn herrscht auf dem Raubstern! — Und vielleicht kommt die Stunde, da wieder einmal Verbindung besteht zwischen uns und ihnen, wo Druso nicht der böse Feind und Be herrscher der Erde, sondern ihr gutwilliger Freund ist. Aber seid auf der Hut! Werdet nicht schwach! Wer an den Frieden der Natur glaubt, geht unter in ihrem Kampf!
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Nachtrag. I. Zu Liuwenhords Predigt auf Seite 165 folgen hier die Worte aus Ferrymans Verkündung:
Und er schlug das Buch auf und las diese Worte des großen Fährmannes über die Zeiten: „Der Künder ruhte des Nachts in seinem Bett ohne Schlaf. Seine Gedanken strömten ins Dunkle, und siehe, unter ihm wuchs ein reißender Fluß, des Welle hieß: Not und Qual. Und das Bett ward zum Boot und ward dahin getragen auf dem reißenden Flusse durch die Nacht in das deutsche Land. Und siehe, ein Schein der Hölle rötete das Dunkel. Schwärzer noch als die Nacht stiegen auf: die schlanken Türme der Essen, eiserne Brücken flochten sich über Wasser, und die Erde war voll von den Häusern der Menschen. Leer waren die Straßen und dunkel, ein Seufzen stieg auf von den Steinen des Pflasters, Waffen rasselten, Ma schinen der Tötung drohten auf Plätzen; Schüsse der Be dränger peitschten die Luft, dann wieder hielt Atem an das ganze Land. Aber die Welle Not und Qual riß das Boot weiter fort, und siehe, der reißende Fluß mündete in den Rhein und die Welle geleitete das Boot aus einen kleinen Werder im Strom. Sanft setzte es sich auf den Sand und verharrte.
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Der Künder schritt auf den Werden hell schien die Sonne; zu seiner Rechten erhob sich ein Hügel, wo die Finken des Morgens Unschuld priesen. Durch ein Gestrüpp mußte er den Fuß zwängen, und mit Gekreisch fuhren auf Dohlen, Krähen und häßliche Vögel. Da er durch das Gestrüpp gedrungen war, fand er auf einem kleinen Platz das Ge mäuer einer Kapelle, deren Dach zerstört war; aus den Fenstern aber wuchs Efeu und Schlingwurz. Er trat durch das zerbröckelte Portal in einen kleinen ver wilderten Hof voller Disteln und Unkraut. Über ihm war die blaue Luft erfüllt von dem Gekreisch der schwarzen Vogel, aber wie er vorwärts schritt, setzten sie sich nebeneinander auf den brüchigen Mauerkranz, einer dicht neben den anderen und schauten mit bösen Augen und spitzen Schnäbeln hinab. Da aber, wo einst der Altar gestanden hatten lag ein Schutthaufen, und vor dem Schutthaufen kniete ein Mönch in einer weißen Kutte, versunken im Gebet. Als der Verkünder herzutrat, wandte der Kniende seinen Kopf, stand auf und begrüßte den Kommenden mit den Worten: „Lang habe ich deiner gewartet, aber endlich bist du doch gekommen, nachdem beinahe die letzten Mauern gefallen sind.“ Da aber der Verkünder fragte: „Wer bist du?“, ant wortete der Mönch: „Siehe, ein Zeichen gab ich dir in einer Stunde mit einem Wort, das dich ergriff, und das ich dir nennen will.“ Da erhob sich Gekreische auf dem Gemäuer die Dohlen und das Raubzeug fuhren davon, darnach aber kam ein leichter Wind durch die offenen Fenster des Ge
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mäuers gegangen, leise, — und leise klangen die Worte des Mönchs: „Gott schläft in den Dingen und wird er weckt in dem Herzen des Menschen.“ Da rief der Ver künder: „Habe ich dich gefunden, seliger Meister Ekkehard!“ und wollte dem Mönche die Hand küssen. Der aber wehrte seiner und hieß ihn aufzublicken, und siehe, das zerbrochene Gemäuer schien Kraft zu finden im Boden der Erde und wuchs auf wie ein Wald, und weitete sich und wurde ein Dom von Größe und Pracht, und Kinderstimmen priesen zur Orgel die Gnade der Stunde. — Es geschah aber, daß der Verkünder am Ufer eines großen Sees stand, er fühlte den Hauch des Windes und alsbald sah er, daß kleine Wellen über den See liefen, als wäre ein sanfter Flügelschlag unter der Haut des Wassers. Da hörte er neben sich die Stimme des Mönches, aber er sah ihn nicht. Der Mönch sprach: „Sieh den See an, nicht er ist es, der sein Wasser erregt, der Wind ist es, der ihm Kraft zur Welle leiht. Sieh, also bist du es nicht, der da wünscht und denkt, also bist du es nicht, der da spricht und schreibt. Ein anderes ist es außer dir, das dich wünschen und denken läßt, das dich sprechen und schreiben heißt. Also war auch ich es nicht, den sie in leiblicher Gestalt den Meister Ekkehard nannten, der da kündete von Gott und seiner Gnade. Es war ein Wind, der ihn tönen hieß, so wie die Flöte singt oder ein Gras im Ried.
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Es tat das, was in ihm wirkte Und also du, der da künden soll von dem „Es“, was plagst du dich, und marterst dich, da du es ja nicht bist, der da spricht, da ja du es nicht bist, der da denkt. Laß ab von deinem törichten Ich und sei ganz was du bist, eine Saite unter den Bogenstrichen des Meisters, ein Ton, der da klingt und verschwingt, doch niemals vergeht, da er ja einmal gehört wurde, und wäre es auch nur von diesem Stein, der da vor dir liegt.“ Da hob sich von den Bergen fallend ein Sturm und wühlte den See auf, daß das Wasser plötzlich mit Ge brause an das Ufer drang. Das Herz des Verkünders aber ging mit schnellen Schlägen, und der Strom seines Blutes brauste unmutig. Er sagte: „Wie, soll ich denn der ich ein Mensch bin, nichts anderes als eine Pflanze oder ein totes Stück sein, soll ich nicht Herr mehr sein meiner Gedanken und Wünsche? Soll ich nicht sein in der Freiheit meiner selbst?“ Da lachte der Unsichtbare und sagte: „Lernest du nicht die Namen der Dinge von deiner Mutter und deinem Vater, haben nicht andere vor dir gedacht wie zu essen habest und wie du dich kleiden sollst; nenne ein Ding, das du je erlangt hättest, ohne daß nicht ein anderer Mensch dir ge holfen hätte! Freilich, da deine Mutter dich gebar aus ihrem Leib, wurde die Nabelschnur zerschnitten, die dich mit ihr ver band, aber verlorst du damit ihr Blut? Also hast du keinen deiner Gedanken, der dir gehört, wie
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du keinen Tropfen deines Blutes hast, der nicht vorher be schlossen war in den Leibern deiner Eltern. Deine Ahnen sind in dir lebendig, mit ihrem Blute, mit ihrem Leben, mit ihren Leiden und ihren Lastern, mit ihrer Sehnsucht und ihrem Wollen, mit ihrer Kraft und ihrer Schönheit. Und darum, du Mensch, ist es töricht von dir zu sagen: “Ich bin es, ich tue, ich denke.“ „Es“ ist in dir mächtig, „Es“ denkt in dir, „Es“ tut in dir. Wer aber ein Geheimnis erkennt, wer nicht denkt und wünscht und tut als ein Ich, sondern weil er erkannt hat in sich das Es, der gelangt zur Gnade, das heißt. Wir gehen ein in Gott. — Das aber, Weiser, sollst du künden: Nichts Neues erscheint, nur Erneutes. Die da meinen, sie schreiten fort, sehen nicht, daß alles im Kreise wandelt. Die Gestirne wandeln im Kreise, und die Scharen der Gestirne rings umeinander. Im Rund ist alles befangen. Wie sollte da einer fortschreiten auf einem geraden Wege! Was die Menschen ein Neues nennen, ist ein Anderes in der Wahrheit; ihre Sehnsucht sucht das Bessere aus einem äußeren Weg. Aber es führt nur ein innerer Weg zur Gnade. Die Gnade aber ist der Seele Grund aus der sie kommen, dahin sie gehen. Wie die Nadel des Kompasses nach ihrem Pole zeigt, der sie anzieht, so zielt die Seele nach dem Pole der Gnade, wenn sie stark ist in ihrer Kraft. Und sie 304
schwankt wie eine schwache Nadel des Kompasses, wenn ihre Kraft sich mindert. — So gibt es denn nur eine einige Kraft der Seele, die heißt: Gott. Und ein Teil der dir geliehenen Kraft ist in dir wach, sie heißt Es und gleicht dem Kern einer Nuß, aber die hölzerne Schale gleicht deinem Ich. So nun die Nuß zerbrochen wird, zerspringt das Ich, aus ihrem Kern aber vermag ein neuer Baum des Lebens zu wachsen. Das macht, weil ihm Kraft geliehen ist; so kannst auch du, Mensch, deine Kraft weiterleihen in der Zeugung und Ur vater werden oder Urmutter eines Volkes. Aber nur wenn die Gnade es aus dir wirkt. Nicht ewig bist du in deinem Ich, das nur einer Nuß schale gleicht. Ewig in dir ist das Es, das nicht deinen Namen trägt. Darum ist dir kein Grund gegeben zu einem Stolz, so du etwas schaffst oder wirkest, denn es ist das Es in dir, das es also schafft, darum sollst du dankbar sein denen, die dir die Kraft des Es erhielten, deinen Vor vätern und deinen Vormüttern. Und darum sollst du deine Sinne aus den Pol richten, von dem alle Kraft ausgeht, und sollst in dir erneuern in Demut die Gewalt des Es. Siehe, ein Magnet, dessen Strom nicht gebunden ist, wird schwach und untüchtig in seiner Kraft, aber ein Magnet ver mag nur Eisen zu binden, das in seine Nähe gebracht wird. Du aber, du Mensch, bist der Gnade so nahe, daß du dich selbst in ihren Strom werfen kannst. Wer sich durchfluten läßt von der Gnade, ist gut, und wir nennen ihn gesund. — 305
Wer aber nicht durchströmt ist, den nennen wir krank. Die Krankheit aber, die gemein ist in diesen Tagen, ist die Erkrankung am Ich. — So findest du viele Nüsse, deren hölzerne Schale dick ge worden ist, so daß du schier vermeinst, man könne sie nicht knacken. Wenn du sie aber zerpreßt mit Gewalt und Stein, so wirst du finden, daß der Kern vertrocknet ist. Ihr seid nicht ewig in eurem Ich, aber ihr seid ewig in eurem Fühlen, ewig in eurem Wünschen und Wollen, ewig in eurem Denken und Schaffen, ewig in eurem Tun und Leisten, denn der Strom, der euch durchdringt, ist ewig, wenn auch die Welle zergeht, jedes Gefühl, das euch durch bebt, jeder Gedanke, der euch durchrann, jede Tat, die ihr getan, denn sie fließt über in das Leben, in das Leben der anderen, die mit euch sind, und wirkt weiter im Wesen eurer Kinder. Siehe die kleinste Welle, die über den See läuft wie ein Lächeln über ein Mädchenantlitz im Mai, wird dennoch am Ufer gefühlt, das anders sich gestaltet durch die tausend Wellen, die spielend am Sommertage er scheinen wie Frauenlaunen und dennoch Wandlungen schaffen. Alles was euch durchpulst, pulste im Blut eurer Ahnen. Nicht trägt euch der Strom, der neben euch rauscht, aber es trägt euch der Strom, der unter euch schwillt. Allein vergiß nicht, die Welle, die neben dir rauscht, kann dich betäuben, und so kannst auch du eine Welle sein, die betäubt. Wer sich bewußt wird dieses Gleichnisses, kommt näher der Gnade. 306
Warum aber, so fragst du, besteht Ferne der Gnade. Warum ist nicht ausgegossen Ruhe Gottes ins All? Weil Gott das Leben selbst ist und die Erfüllung seines Gesetzes, weil er ein fließender Strom ist, der sich erneut und verjüngt, weil die Ruhe der Tod ist und die Unfrucht barkeit, weil nicht Gott außer dir ist, sondern in dir, weil du sein Bild täglich erneuen sollst und nicht aufhören darfst, ihn selbst dir zu bilden. Aber es ist nicht ein solches Bild, daß dein Ich sich einen Götzen schafft, es ist die Entfaltung jener Kraft des Anfangs, die in deinen Keim gelegt wird, der sich entfaltet wie ein Keim im Boden der Erde. So wie der Keim unter der Ackerkrume die Sonne des Frühlings empfindet und, genährt von der Feuchtigkeit, seine Kraft bezeugt, so auch bezeugst du deine einige Kraft. Denn ein einig Teil nur an Kraft war dir verliehen und mit gegeben, nachdem du dich vom Schoße der Mutter getrennt, und aus dieser Kraft wirst du getrieben, und dein ganzes Leben gleicht einem Wuchse aus Gott. Und du magst deine Kraft verschwenden durch schnelles Blühen und in Frucht barkeit, so ist dein Teil von dir genommen. Oder auch du verwirkest es in Arbeit, so ist es von dir genommen. Oder auch du treibst es um mit Essen, Trinken, Tanzen und Spielen, immer ist es von dir genommen. Nur wer weise ist und sich selbst zügelt, scheint seine Kraft zu verdoppeln. Aber auch das ist nur Trug, auch dem Weisen ist nur sein Teil gegeben, und so er es verbraucht hat, ist es von ihm genommen. 307
Wenn du aber die Gnade erlangst und das Es erkennst als das, was dich lockt, so gleichst du einem Baume im Schatten des Waldes, der den leichten Strahl der Sonne spürt und rascher emporwächst aus dem Schatten ins Licht. Weil du Mensch bist, wird Gott in dir erweckt, und gleich ist es, was du im zeitlichen Leben tust, ob du den Acker bereitest oder das Korn mahlst, ob du das Leder gerbst oder Schuhe nähst, ob du über Rechentafeln sinnst oder über Büchern, ob du dies tust oder das. Denn die Begnadung ereilt dich nicht in deinem zeitlichen Werk, sondern in deinem ewigen, und den einen mag sie ereilen im Straßengraben auf der Wanderschaft und den andern aus weichem Bett im Traum. Der eine hat sie, der sich vielleicht rühmt, gottlos zu sein, und dem andern fehlt sie, der vielleicht stolz ist auf seinen Glauben. Nicht der fromme Gedanke, der in einer Stunde des Leids oder in einer Stunde der Freude dich durchklingt, schafft dir die Gnade; solch ein Gedanke ist nur wie ein schöner Klang vom andern Ufer und nicht das Ufer selbst. In Gott beschlossen sein, heißt ihn tun, in Gott beschlossen sein, heißt nicht in ihm rasten, sondern in ihm leben. Darum verurteile nicht deine Nächsten, denn die Men schen sind wie Glocken, die gegossen werden, um in Gott zu klingen, aber eine Glocke hört die andere nicht.“ — — —
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II. Zu Liuwenhords Ansprache auf Seite 176 folgen hier die Worte aus Ferrymans Verkündung:
„Mannigfaltig sind die Wege, die in die Gnade Gottes führen, und keiner ist zu verachten. Der Glaube ist der Grund, aus den alle die Leiter stellen, die hinausführen soll zu Gott. So seltsam sie von ihm auch reden, ihr sollt ihrer nicht spotten, denn fürwahr selbst ein Mensch, der sich vor einem Stein oder einem Holz demütigt, demütigt sich dennoch nur vor dem Einen. Wer das Geheimnis kennt, weiß, daß sein Schrei heißt: Ehrfurcht. Wer keinen Glauben des anderen zu dulden vermag, ist nicht in Gnade. Wir aber wollen den Einen den Unaus sprechbaren nennen. Gott, weil diesen Namen voll Ehr furcht unsere Väter sprachen, und wir selbst, indem wir ihn also nennen, die Ehrfurcht vor unseren Vätern bezeugen. Andere mögen ihn anders benennen, darum tragt keine Sorge und erregt darüber keinen Zank noch Streit, dienen wir doch nicht einem Namen, dienen wir doch einem „Es“, dem Unaussprechlichen, das in uns ist, und außer uns, das uns durchströmt, solange eine zeitliche Form dauert. Du sollst auch keinen Versuch machen, deinen Glauben an das „Es“ zu beweisen, denn es wird doch mit Worten nichts bewiesen. Aber du sollst ihn bekennen. Das beste Bekenntnis aber heißt: Leben und Tod. 309
Wer aber den Wunsch hat, den Weg der Gnade zu be schreiten, der soll wissen, daß es ein stiller Weg ist der Übung und der Selbsttröstung, nicht der Verzücktheit oder der Verrücktheit. Unrast, Fieber, Lärm, Gier, Neid, Hohn, Trotz heißen die Geister, die deinen Tag und deine Nacht beherrschen. Willst du darum dich vorbereiten für die Gnade, so mußt du zur Sammlung und zur Besinnlichkeit gelangen. Ein mal zum mindesten am Tage sollst du rasten in dir, um dich zu vergessen im Es. Auf leisen Sohlen überrascht dich die Gnade gleich dem Schlafe nach einem Tage der Arbeit, aber wie du den Schlaf erlangst, in dem du dich des Nachts auf deinem Lager in Decken hüllst, die Lider schließt und in Ruhe die Haltung des Schlafes einnimmst, so vermagst du auch die Gnade heranzulocken, indem du dich für sie bereitest wie der Schlaf-Suchende für den Schlaf. Alles was besteht, will beharren, und ein Schmerz ist selbst altem Gemäuer der Schlag, der die Steine aus ihrem Mörtel reißt. So hängt auch das Leben an seiner Form und will sie nicht lassen; Lebensgier wächst mit dem Siechtum und der Krankheit, und Schmerzen machen die Kreatur feige zum Tod. Tod aber ist Wandel; Wandel ist Leben und Erneuerung. Tod ist die Mutterkammer, daraus neues Leben hervorgeht. Deine Seele, die ein Gnadenteil Gottes ist, haust in deinem Ich wie in einem Gefängnis; wird nun das Ge fängnis brüchig, bersten seine Mauern, so kehrt dein 310
Gnadenteil zurück zu Gott, der sich erneuert, indem er Strom aufnimmt aus den Seelen der Welt und Strom rückgibt als Gnadenteil in die Seelengefäße der Welt. Dein Ich zerbricht, aber der Teil deiner Gnade lebt. Darum verharre nicht in deinem Ich; wird denn ein Ge fangener gerne in seinem Gefängnis verharren? Nur die, so sich ihrer Schwächen bewußt sind, kehren freiwillig ins Gefängnis zurück; sie sind es, die an sich und dem Leben verzagen. Wer darum an dem Leben verzagt und an seiner Gnade, der will sich nicht trennen von seiner zeitlichen Form im Ich und möchte ein ewiges Leben führen. Aber dies ewige Leben, und wäre es noch so voller Lust und Prassen, voller Tollheit und Vollheit, es wäre doch nur ein Leben des Ge fängnisses, des Gleichmaßes. Ewiges Leben also hieße, ein ewiger Tod ohne Erneuerung. Aber, so erinnerst du mich, ward uns nicht verheißen von frommen und heiligen Männern ein Leben nach dem Tode, ein Paradies, ein Lustland der Seligkeiten über dem Himmel? Weil das Ich der kleine Spiegel ist, in dem du die Welt wiederspiegelst, so meinst du, die Genüsse und Lüste deines Lebens sollten dir nach deinem Tode nachfolgen? So vollgesogen bist du von all den Reizen deiner Welt, daß du ohne sie nicht glaubst zu leben; aber alle Freuden deiner Welt sind auch verknüpft mit Leiden; Leid und Arbeit verursachten ein jedesmal, daß du froh genießest. Mühe und Qual ward den Leuten beschert, die deinen Wein kelterten. Dein Haus, in dem du wohnst, ward getürmt 311
mit Lasten der Arbeit, und das Feuer, das dich wärmt, soll dich mahnen an die Dunkelheit der Schächte und Schollen und an Schweiß und krumme Rücken. Und du selbst? Deine Tage sind Sorgen und Qual in der Arbeit, Zittern und Beben um das Errungene. Deine Freuden sind kleine Oasen auf einer Wanderung durch die Wüste. Aber du liebst dies Leben der Ketten und Qualen, weil das Leid an das Leben kettet und weil die quälende Wunde all deine Kraft zur Heilung verzehrt. Nur in den Stunden warst du wirklich, in denen dein Ich im Es verging. In der höchsten Lust wünschtest du dir den Tod! In den Armen der Liebe, da du die Kraft Gottes weiterpflanztest, riefst du den Tod herbei, um in Umarmung und Küssen zu sterben. Siehe, Seligkeit auf Erden steht stets an der Grenze zwischen Leben und Tod, an der Grenze des Wandels von der einen Form in die andere. Sterben können ist der Beweis, daß das Ich überwunden ist. Das Bild des Überwinders bleibt der Krieger der Vorzeit, der sich in die Schlacht stürzt mit dem Gedanken, er ginge dem Tod entgegen. Aber er wußte, er würde über sich selbst hinaus weiterleben in der Familie, im Ge schlechte, im Volke! Sein Tod würde schaffen ein Leben der Freiheit, ein Leben der Würde! Wer das Leben für andere darbringt, steht unter dem Gesetz der Gnade und gehorcht dem Es. Wer das Leben für andere darbringt, hat Gottes Flamme in sich. 312
Wer das Leben für andere darbringt, sühnt die Gier seines Ich. Für andere leben und sterben ist der Sinn dieses zeit lichen Lebens; denn überwindest du das Ich in dir, so näherst du dich dem göttlichen Teil des Anderen, dem Es, das in ihm wirkt. Du verstärkst den Strom zum Pol und bist darum selbst in Gnade. Darum heißt gut sein, Gott sein. Das ist: zur Gnade gelangen. Du tust das Gute nicht um der anderen willen, auch nicht um der Eitelkeit deines Ich willen, sondern du tust das Gute, weil dein Es in dir Gebieter wird, weil du Gott bekennst und ihn fühlst. Schadest du einem anderen, so verleugnest du die Gnade und sinkst tiefer hinein in dein Ich. Furcht wirst du in dir wecken vor dem Anderen, Haß, Not und Qual. Du wirst krank werden und siech am Ich, und je kränker du wirst und je mehr siech, desto mehr wirst du lebensgierig sein; schwach werden wirst du, verzagen, und sein eine Qual dir selbst. Der aber, in dem die Gnade mächtig ist, wird den Tod empfinden wie der Baum im Herbst einen leichten West wind, der die gelben Blätter weich von den Bäumen in die Nacht trägt durch blaue Luft, auf die Erde, aus deren Säften sie aufstiegen zum Gipfel des Baumes. Nun kehren sie wieder zurück, um von neuem zu kreisen aus den Schollen zur Höhe eines anderen Baumes. — Sieh an deinen sterblichen Leib, ihn umklammert dein Ich, dennoch altert er, wird krank und stirbt wie ein Blatt am Baume. 313
Was willst du um dich trauern! Da du dies alles er kennst, ist in dir ein Teil der Gnade, und sie soll dir Gewiß heit geben von dem Strom, der dich durchdringt, der Seele, die das Leben leiht und Tod als neue Wandlung zum Leben. Einig ist die Kraft Gottes, unvergänglich, aber das Ich ist klein und vergänglich. Du Mensch stehst in Gottes Schuld, da er dir seine Gnade geliehen. Das Tier lebt in Unschuld, aber nicht in Gott, da es seinen Strom nicht fühlt. Es ist die Gnade, die Sünde schafft, wenn du der Gnade vergissest. Sünde aber erweckt Sehnsucht zu Gott. Lebtest du einsam mit dir auf einer Insel im weiten Meer und hättest alles, was zur Leibesnahrung und Notdurft gehört, so könntest du der Gnade nachsinnen und im Gebet Gott nahekommen, aber die volle Gnade fändest du nicht. Denn als Mensch gehörst du zu Menschen, und du fühlst den Strom von Gottes Gnade nur, wenn du ihn zu anderen Menschen lassest überströmen. Dies aber ist das Geheimnis der Liebe. Weil du teilhast an der Gnade, sollst du begnaden. Aber in Gott sein, ist Tat und nicht Predigt. Die beste Tat aber ist immer die Tat der Nähe, und daß du sie erkennst, dafür sind die Bindungen gesetzt in deinem Blut. Die Eltern sollen in den Kindern den Gnadenteil lieben und achten, den die Kinder weitertragen; die Kinder aber sollen nicht vergessen, daß der Gnadenteil ihrer Eltern auf sie übergeflossen ist. 314
Es ist die Ichsucht, die den Streit in die Familie bringt. Nicht sind die Kinder Eigentum der Eltern, aber nicht sind auch die Eltern Melkkühe der Kinder. Ehrgeiz und Eitelkeit sind schlimme Früchte am Baume der Ichsucht. Ehrgeiz und Eitelkeit lassen Eltern ihre Kinder peitschen. Ehrgeiz und Eitelkeit vergiften den Kindern die Jahre der Jugend, und zwingen sie zu einem Berufe, den sie nicht erfüllen, aber Ehrgeiz und Eitelkeit schaffen Achsel zucken und Verachtung armer Eltern; der kleinste Mensch ist der, der sich seiner Herkunft schämt. Steht der Haß zwischen Eltern und Kindern, so ist der Strom der Gnade gehemmt, darum ist die erste Tat, die geboten ist, die Wohltat von Eltern zu Kindern und Kindern zu Eltern, denn Blutband heißt erste Bindung. Alles, was du Mensch in dir erweckst in Bildern, Gedan ken, in Sprache und Kunst, in Schaffen und Form, kam dir aus dem Boden der Heimat, aus dem Blutstrom deines Volkes. Der rote Strom deines Blutes trägt die Gnade Gottes in seinem Puls, darum heißt zweite Bindung: Liebe zu Volk und Land, und sie soll sich erproben in Taten. Helfen sollst du und nicht hassen, erst dem Landsmann zur Seite stehen und dann dem Fremden. Denke immer zuerst an die Not deines Landes und deines Volkes, wenn du die Not deiner Kinder gestillt. Siehe, wer zuerst an den Ring seines Geschlechtes denkt und seine Pflichten erfüllt, wird geringer Hilfe nur des Nachbarn bedürfen. Doch des Nachbarn Not stillen ist besser als einer fernen Not helfen. 315
Darum ist die Tat in der Nähe die beste und die hilfreichste. Würde ein jeder Mensch, der ohne Not ist, der Not seines Nächsten helfen, wie wenig Not würde bestehen bleiben im Volk! Aber dein Herz wird eher bewegt, wenn du von einer Wassersnot liest und hörst, was hundert Meilen von dir geschehen, als wenn du das blasse Gesicht beobachtest der Witwe, die in deinem Nachbarhause wohnet, und leise wie ein Schatten vorbeigeht. Krieg, Pestilenz, Feindesdruck, Überschwemmung und Feuer sollen dich für die Deinen auf den Plan rufen! Un verzagt sollst du sterben, da du dem Es gehorsam bist und deine Schuld an Gnade abtragen kannst. Erst wenn du den zweiten Ring erfülltest, dann gedenke des dritten, des weitesten, gedenke der Menschheit. Auch im Fremden sollst du einen Gnadenträger sehen und nicht hochmütig sein. Aber falsch handelt der, der seine Gedanken an die Mensch heit hängt und des eigenen Volkes vergißt, falsch handelt der, der auszieht, die Not seines Volkes zu mindern und nicht sieht die Not seines eigenen Fleisches und Blutes. Alle Not dieser Welt rührt davon her, daß das einfache Gesetz, dem zu helfen, der dir nahe wohnt, nicht erfüllt wird. Wer hilft um des Ruhmes willen, leistet nicht Hilfe, er ver schwendet nur Kraft und Blut. Darum öffne der Nähe die Augen! Erfüllt ihr alle dies Gesetz, so wird es keine Armut und keine Not mehr geben, nur Güte und Gerechtigkeit!“ 316
Die Sprüche am Portale des Tempels der großen Mutter. Wehe, wenn des Menschen Mittel sich stärker zeigen als der Mensch! Denkt zurück an das Zeitalter, da das Mittel Geld die Menschheit versklavte, als durch Gelddenken zerrüttet wurden Handel, Wandel, Geist und Seele der Menschen. Habt acht auf die Gewohnheit! Angenehm ist weiches Bett. Aber in diesem Bette erschlaffen Seele. Vertauscht das weiche Lager mit dem tauscht den Rausch mit der Mäßigkeit, seid selbst fleißig. Denn selbst der Fleiß kann durch die nichts anderes werden als ein fleißiger Müßiggang.
sie, wie ein Körper und harten, ver nicht immer Gewohnheit
Nachreden ist leichter als nachdenken. Der ehrliche Mensch wählt den härteren Weg. Der junge Mensch sieht in der Welt nur sich, der ältere Mensch sieht nur den andern. — Wer jung bleiben will, achte in sich den andern. Habt acht auf den Nutzen „für uns“! — Sei träg gegen den Nutzen für dich! — Im Nutzen für sich verkauft doch ein jeder ein Stück seiner Freiheit — und wer ganz Nutzen ist, steht unbeweglich und starr, wie ein festgeschmiedeter Mann im Nutzen. Macht einen Menschen nicht zur Sache, ein Tier nicht zum Menschen, eine Sache nicht zum Gott! 317
Erste Niederschrift vollendet
im Casinogarten zu
Ospedaletti, Juni 1930
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