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Seewölfe 133 1
Fred McMason 1.
Dunkelheit lag wie ein schwarzes Tuch aus Samt über dem Hafen von Shanghai. Alles sah friedlich aus, doch in dieser Dunkelheit lauerte eine unbekannte Gefahr. Was hatte die Anwesenheit der merkwürdig geformten Drachenboote, die so plötzlich während der Dämmerung aufgetaucht waren, zu bedeuten? Der Seewolf zermarterte sich das Gehirn. Er stand auf dem Achterkastell, zusammen mit dem jungen O'Flynn, und beide versuchten, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Die „Isabella VIII.“ war heimlich auf Hasards Anordnung in eine schwimmende Festung verwandelt worden. An den vorderen und achteren Drehbasen warteten die Seewölfe, an den acht Culverinen standen sie geduckt da, bereit auf den Befehl des Seewolfs die Hölle zu entfesseln. Zu der samtenen Dunkelheit kam die Ruhe, die für einen Hafen dieser Größe absolut unglaubwürdig wirkte. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand jegliches Leben im Hafen ausgelöscht. Daß dem nicht so war, das wußten sie alle, denn vor ein paar Stunden waren kleine Drachenboote in den Hafen eingelaufen und hatten die strategisch wichtigsten Punkte bezogen. In diesen Booten saßen jeweils vier Chinesen. Das hatte der Seewolf .im Dämmerlicht gerade noch erkennen können. Und noch etwas wußten sie: Die Chinesen, die sich so unauffällig verteilt hatten und deren Boote jetzt reglos auf dem Wasser lagen, hatten Bronzegestelle an Bord, Abschußrohre, mit denen sich die funkenspeienden Brandsätze verfeuern ließen. Wollte man ihnen jetzt aus Rache für den Untergang der großen Kriegsdschunke die Hölle heiß machen? Es konnte nichts anderes zu bedeuten haben, überlegte der Seewolf. Hier war eine Gemeinheit im Gange, ein blitzartiger Überfall auf den Rahsegler stand bevor.
Chinesische Rache
In Gedanken rekapitulierte der Seewolf noch einmal die beiden letzten Tage. Beim Einlaufen in den Hafen von Shanghai waren sie von einer großen Kriegsdschunke unter Feuer genommen worden. Der Treffer hatte die Blinde wegrasiert und sie zerschmettert. Hasards Antwort darauf war eine Breitseite gewesen, und der Teufel persönlich hatte es anscheinend so gewollt. Das riesige Schiff war nach einem Treffer in die Pulverkammer total auseinandergeflogen, ohne noch einen einzigen Schuß abgegeben zu haben. Es war ein Bilderbuchtreffer gewesen, ein Zufall, wie er nur selten passierte, und dieser Treffer hatte die Chinesen wie auch die Seewölfe gleichermaßen geschockt. Der Kuan von Shanghai hatte es später mit stoischem Gleichmut hingenommen und das Thema auch nicht berührt. Sie waren seine Gäste gewesen und mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden. Jetzt umlauerten sie von überall die kleinen Drachenboote, und daher waren die Nerven der Männer auch zum Zerreißen gespannt. Eröffneten die Chinesen das Feuer mit Brandsätzen, dann hatte das Schiff selbst nicht die geringste Chance, dem höllischen Inferno zu entkommen. Da halfen kein Mut, keine Tapferkeit und kein Eifer. Sie konnten sich vielleicht selbst in Sicherheit bringen, indem sie auf die Pier sprangen, aber das Schiff waren sie los. Wie sollten sie einen Gegner bekämpfen, der mit fünfzehn kleinen wendigen Booten das an der Pier liegende unbewegliche Schiff aus allen Richtungen beschießen konnte? Es sah schlecht aus für die Seewölfe, und vielleicht auch für das schwarze Schiff der Roten Korsarin, das nicht weit von ihnen entfernt ebenfalls an der Pier lag. „Kannst du etwas erkennen, Dan?“ fragte der Seewolf im Flüsterton den jungen O'Flynn. „Nein, überhaupt nichts. Ich fühle aber, daß die Kerle ganz dicht in unserer Nähe liegen. Ich schlage vor, wir fackeln nicht
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lange und brennen ihnen kurzerhand eins über.“ Der Seewolf antwortete nicht gleich. Erst als Dan sich kaum merklich räusperte, trat er einen Schritt vom Schanzkleid zurück. „Vielleicht begehe ich einen Fehler“, sagte er leise, „aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. Es widerstrebt mir, auf die Leute zu schießen.“ Dans Erwiderung klang hart und knapp. „Dann laß dich mitsamt der ‚Isabella' in Klumpen schießen, Sir!“ Hasard war zwar erstaunt, aber er ging auf den harten Tonfall Dan O'Flynns nicht ein. Er verstand die Männer, denen die augenblickliche ungewisse Situation nicht behagte und die keine Lust hatten, sich einfach übertölpeln zu lassen. Ließ er das Feuer eröffnen, gab es ein zweites Chaos im Hafen. Wartete er, dann waren sie vielleicht erledigt. „Verdammter Mist“, fluchte er leise. „Die Entscheidung nimmt dir keiner ab, Sir“, sagte Dan wieder neben ihm. „Aber die Männer werden es dir bestimmt nicht verzeihen. Wir haben schon oft zu lange gezögert, aus purer Gutgläubigkeit und Humanität. Was war das Ergebnis? Man haute uns regelmäßig in die Pfanne!“ „Verdammt! Ich weiß, daß du recht hast, aber es ...“ Dan ergriff hart seinen Arm. Der Seewolf fuhr herum. „Da“, sagte O'Flynn, „es geht los! Eben habe ich eins der Bronzegestelle aufblinken sehen. Jemand hat wahrscheinlich eine Lunte entzündet!“ Hasard hatte das kurze Aufblinken auch bemerkt. Aber er sah noch etwas anderes. Das kurze gedrungene Bronzegestell wies in diesem Augenblick fast senkrecht in den Himmel und war nicht auf die „Isabella“ gerichtet. Was, bei allen Meeresgeistern, hatte das nur zu bedeuten? Die Männer warteten auf den Befehl zum Feuern, der immer noch nicht erfolgte. Hitzköpfe wie Luke Morgan rieben sich schon die Nerven auf und waren drauf und dran, eigenmächtig zu handeln, doch der Respekt vor dem Mann auf dem
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Achterkastell hielt sie zurück, obwohl es ihnen in den Fäusten juckte. Hasard wog immer noch das Für und Wider ab. Er dachte weiter als die anderen, wie der junge Dan oder Luke Morgan. Es ergab einfach keinen Sinn, sie anzugreifen, es war keine Logik dahinter! Das Einlauf en der Drachenboote war von allen beobachtet worden, und natürlich hatte jeder gründlich darüber nachgedacht. Wenn der Kuan also einen nächtlichen Überfall gegen sie plante, hätte er dann die Boote einfach einlaufen lassen? War nicht die Nacht sein bester Schutz. eine Nacht. in der niemand die Boote bemerkt hätte? Auch Dans scharfen Augen wären sie entgangen. Nein, da stimmte etwas nicht, überlegte der Seewolf. Entweder war es ein Mißverständnis, oder es lief auf etwas anderes hinaus. Fast körperlich spürte er die Ungeduld Dan O'Flynns, der sich am liebsten mit einer dröhnenden Breitseite Luft verschafft hätte. Er glaubte, leises Flüstern aus den Booten zu hören, unwirkliche Stimmen, die nur schwach durch die Finsternis drangen. Dann versuchte er, seine Leute an Deck zu erkennen, aber selbst das war wegen der Dunkelheit nicht möglich. Luke Morgan stand fiebernd vor Ungeduld an der Culverine, die glimmende Lunte hielt er in der Hand versteckt. Der gedrungen wirkende dunkelblonde Engländer wurde von einer unheimlichen Wut erfaßt. Er haßte es zu warten, bis die anderen anfingen, und versuchte immer wieder, etwas zu erkennen. Einmal hatte er es ebenfalls kurz aufblitzen sehen, und so hatte er das Rohr der Culverine etwas höher in Stellung gebracht. Es zeigte jetzt genau auf jene Stelle, die er einmal kurz erkannt hatte. „Warum, verdammt noch mal, läßt der Seewolf nicht endlich feuern?“ fragte er seinen Nebenmann Gary Andrews. „Will er warten, bis wir ein Trümmerhaufen sind?“ „Halt die Schnauze, Luke“, flüsterte Gary Andrews zurück. „Es soll nicht gequasselt werden.“
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Dem Seewolf war das kurze Flüstern ebenfalls nicht entgangen, und während er noch überlegte, wer es wohl gewesen sein könnte, ging es urplötzlich los. Schlagartig schien der ganze Hafen zu explodieren. Aus allen Richtungen rasten funkenspeiende, kreischende und heulende Brandsätze in die Nacht. Sie rasten steil in den Himmel, explodierten dort in farbenprächtigen Wolken, knallten bestialisch, wenn sie ihren Scheitelpunkt erreicht hatten, und regneten dann nach allen Seiten langsam zur Erde zurück. Brandsätze, die wie kleine Sonnen aussahen, erschienen weit oben am Himmel, dazwischen jagten schlangengleiche grüne, gelbe und rote Linien hinauf. In diesem Augenblick fuhr Lukes Hand nach unten. Er drückte die Lunte auf das Zündkraut und sprang zur Seite, als der Funke sich blitzschnell durch das Kraut fraß. Der donnernde Abschuß der Culverine, die wild auf ihrer Lafette zurückfuhr, übertönte das Knallen und Bersten der Brandsätze. Haarscharf neben dem nun hell erleuchteten Drachenboot schlug die Siebzehn-Pfünder-Kugel ins Wasser und warf eine große Fontäne nach oben, die im Schein der bunten Lichter farbig in sich zusammenfiel. „Ihr verdammten Drecksäcke!“ brüllte Luke, mit dem die Wut jetzt durchging. Dann drehte er sich um und sah in erstarrte Gesichter. „Weshalb feuert ihr nicht!“ brüllte er, außer sich vor Zorn. „Gleich brennen wir wie ein Strohhaufen!“ Niemand rührte sich. Allen stand die Überraschung im Gesicht geschrieben, denn sie sahen, was Luke nicht mehr sah. Die Fontäne hatte das Boot kentern lassen, und jetzt trieben vier wild um sich schlagende Chinesen deutlich sichtbar im Hafenwasser und versuchten ein anderes Boot zu erklimmen. Hasard hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Er war
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unwillkürlich zusammengezuckt, als die Culverine unvermittelt losdonnerte. Er wußte im ersten Augenblick nicht, wer gefeuert hatte, aber jetzt hörte er Morgan brüllen und toben. Er sah auch, daß selbst der Profos sich nicht rührte. Steif und hölzern stand er neben der Culverine und dem Waffenmeister Al Conroy, der sich ebenfalls nicht aus seiner Erstarrung lösen konnte. Es war zuviel, was da von allen Seiten auf sie einstürzte, deshalb kümmerte sich der Seewolf auch nicht weiter um die Männer. Das, was er soeben entdeckt hatte, beschäftigte ihn viel zu sehr. Es waren keine der normalen Brandsätze, die die Chinesen verwendeten, um andere Boote in Brand zu schießen. Diese Brandsätze waren nicht in der Lage, irgendetwas zu entzünden, und sie dienten daher einem völlig anderen Zweck, den Hasard noch nicht durchschaute. Ausnahmslos jede der unzähligen farbigen Kugeln zerplatzte in der Luft, und noch bevor sie herabregneten, erloschen sie, ohne den geringsten Schaden anzurichten. Allerdings hatte der Schuß aus der Culverine die Chinesen in Verwirrung gebracht, denn jetzt wurden die Brandsätze spärlicher gezündet, und nur noch vereinzelt stiegen sie in den Himmel, um sich dort in unvorstellbarer Pracht zu entfalten. „Das gilt nicht uns“, sagte Hasard erleichtert. „Aber was hat es dann zu bedeuten?“ fragte Dan erstaunt. „Ich weiß es nicht. Wer kann sich schon in die Gedanken dieser Leute hineinversetzen?“ Nein, die Brandsätze waren harmlos, auch wenn ihre Feuerblumen, die immer wieder zerplatzten, gefährlich aussahen. So dachten jetzt alle, und die Starre fiel von ihnen ab. Neugierig blickten sie jetzt auf die Wasserfläche des Hafens, die mitunter taghell erleuchtet war und zu brennen schien, wenn sich die Feuerrosen darin spiegelten. Nach und nach, als die Chinesen in den Drachenbooten sich von ihrem Schock
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erholt hatten, wurde das Schauspiel farbenprächtiger und lauter. Der Himmel schien jetzt zu brennen, als immer mehr der feuerspeienden Dinger steil hinaufrasten, dort mit Getöse und riesigem Krach detonierten und dann auseinanderspritzten. Gold und Silber regnete aus der Dunkelheit, dazwischen wanden sich heulende und knatternde Schlangen, die lange feurige Schwänze hinter sich herzogen, ehe auch sie in einem ohrenbetäubenden Krachen vergingen. Einer nach dem anderen begann zaghaft zu grinsen, als sie merkten, daß dem Schiff nichts geschah, und dies alles andere war als ein Angriff auf sie und die „Isabella“. Jetzt sahen sie auch die Drachenboote deutlicher, die auf einander zusteuerten, bis sie sich in der Hafenmitte begegneten. Die Abschußrohre ihrer bronzenen Gestelle wiesen immer noch in schrägem Winkel oder mitunter steil in den Himmel, und immer wieder wurden neue Brandsätze .hineingeschoben und entzündet. Als wieder eine der goldenen Sonnen hoch über dem Schiff auseinanderplatzte, blickte der Profos mißtrauisch über Deck, als die Teile abregneten. Im hellen Widerschein fand er zwei kleine dunkle Körner, die er vorsichtig berührte. Sie waren lauwarm, wie er erstaunt feststellte, und sie waren auch keinesfalls mit jenen identisch, die auf dem Holz sofort zu glühen begannen und sich hineinfraßen. Er sah finster auf Luke Morgan und warf ihm aus dem Handgelenk eins der schwarzen Körner zu. „Und du karierter Affenarsch hast gefeuert“, stellte er mißbilligend fest. „Das gibt noch ein Nachspiel, das verspreche ich dir schon jetzt.“ „Sollte ich vielleicht warten, bis die uns erledigt hätten?“ rief Luke wütend zurück. „Du hattest keinen Befehl zum Feuern“, sagte Ed kurz. Er wandte Luke seinen breiten Rücken zu und betrachtete das Schauspiel. Er genoß es jetzt sichtlich und sah, daß auch die anderen immer wieder grinsten, wenn
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besonders farbenprächtige Dinger auf ihrem Feuerschweif in den Himmel jagten. „Hast du eine Ahnung, wozu das gut sein soll?“ fragte Carberry den Waffenmeister. Al Conroy zuckte mit den Schultern. „Nicht die geringste Ahnung“, gab er zu. „Aber Old O'Flynn hat eine Erklärung!“ „Tatsächlich?“ Carberry fixierte den Alten, der sich anfangs mit der Bemerkung verdrücken wollte, hier seien tausend Teufel persönlich durch die Lüfte gefahren und dementsprechend würde es auch nach Schwefel stinken, aber der jetzt an dem Schauspiel ebenfalls seine Freude hatte. „Damit vertreiben sie die Drachen“, sagte O'Flynn todernst. „Etwas anderes kann es gar nicht bedeuten.“ „Dann paß bloß auf, daß sie dich nicht gleich mitvertreiben“, erwiderte der Profos grinsend. „Und erzähl uns ja nicht, daß ihr das auf der ,Empreß of Sea` auch schon gehabt hättet“ Der Alte sah den Profos nur verächtlich an und gab keine Antwort. Aber in seinem granitharten Gesicht spiegelte sich der Schein der tausend bunten Feuer wider, und wenn der Alte mit schmalen Lippen grinste und sein Gesicht wechselweise grün oder rot leuchtete, dann sah er aus wie ein Dämon, dachte Ed unbehaglich. Jedem stand die Erleichterung überdeutlich im Gesicht geschrieben. Auch hinter ihnen, auf dem schwarzen Segler, waren jetzt laute Rufe der Bewunderung zu hören. Die vormals so gespannte Atmosphäre wirkte gelöst und heiter, denn jetzt feuerten die Seewölfe die in den Drachenbooten sitzenden Chinesen mit lautstarkem Gebrüll an, weiter Leuchtkörper in den Himmel zu jagen. „Mann, wie das knallt“, sagte Ferris Tucker bewundernd. „So was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Schau dir das an, Junge“, sagte er zu dem Bengel Bill, der mit leuchtenden Augen dem Schauspiel folgte. „So was kriegst du vielleicht nie wieder zu sehen.“ Auch das Mädchen „Flüssiges Licht“ war an Deck erschienen und zu Hasard getreten. Fassungslos sah sie diesem einmaligen Schauspiel zu.
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„Du mußt doch eine Erklärung dafür haben“, sagte Hasard. „Dir sind doch die Sitten und Gebräuche dieses Landes bekannt.“ Zu seiner Verwunderung schüttelte sie den Kopf. „Ich habe es noch nie gesehen. Es hat mit den Blumenbooten nichts zu tun, aber offenbar ist es ein Fest, das gefeiert wird. In der Provinz, aus der ich stamme, gibt es das nicht.“ Immer noch lagen Heilen, Knattern und das Donnern der Explosionen in der Luft. Dazwischen zuckten die farbigen Blitze in den Himmel. Manche von ihnen blieben lange dort stehen, ehe sie auseinanderstrebten und vergingen. Einige rasten grün in den Himmel, zerteilten sich da zu einer gewaltigen Woge und regneten purpurrot auf das Wasser nieder. Zwei Drachenboote legten weiter vorn an der Pier an, und nach und nach folgten auch die anderen, nachdem sie ihre Brandsätze verschossen hatten. Jetzt stiegen nur noch vereinzelte Feuer auf, und die Dunkelheit begann sich wieder über den Hafen zu senken. Hasard fuhr herum, als er eine dünne piepsige Stimme von der Pier her vernahm. „Ist es erlaubt zu fragen, wie dem hohen Herrn des Schiffes es gefallen hat?“ Einige der Seewölfe hatten Lampen entzündet, und in deren milchigem Schein erkannte Hasard die abgezehrte Gestalt des Dolmetschers, der auf den Bohlen stand und sich ständig verbeugte. „Laßt ihn an Bord“, sagte Hasard. als er den Dolmetscher des Kuan in dem Mann erkannte. Er ging in die Kuhl und lächelte, als der magere Bursche sich so tief verneigte, daß er gleich mit dem Schädel die Planken berühren würde. Seine langen Haare fielen auf das Deck, und immer, wenn er sich wieder aufrichtete, warf er sie schwungvoll zurück. „Ich verstehe nicht ganz“, sagte Hasard auf Portugiesisch, als die vielen Bücklinge endlich ein Ende gefunden hatten. „Es war ein Fest zu Ehren der hohen Herren des Schiffes“, erklärte der Chinese
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umständlich. „Der ehrenwerte hohe Herr Kuan hat es angeordnet, damit sich der hohe Herr des Schiffes daran freuen würde. Hoffe, hohen Herrn hat alles sehr gut gefallen, und hoher Herr sein froh darum. Mit viel Ehrerbietung von ehrenwerten hohen Herrn Kuan.“ „Vielen Dank“, murmelte Hasard verblüfft und bemühte sich, die durcheinander gesetzten Worte richtig zu rücken. „Es hat uns sehr viel Freude bereitet.“ „Dann gut, alle froh. Hoher Herr Kuan hat kommen lassen fünf mal zehn Feuerwerker aus ganzer Provinz. Vielen Dank, vielen Dank“, murmelte der magere Bursche, und bevor Hasard noch ein weiteres Wort sagen konnte, hatte er sich schon über das Schanzkleid bis auf die Pier zurückgedienert und war entschwunden. Brighton sah den Seewolf an, der mit dem Zeigefinger nachdenklich über seine Narbe an der rechten Stirn fuhr. „Fünfzig Feuerwerker“, sagte Ben Brighton staunend. „und das hat er alles wegen uns getan. Das ist nicht zu fassen. Beinahe hätten wir die Burschen unter Feuer genommen. Hier hören die Mißverständnisse wohl nie mehr auf, was?“ „Das scheint mir auch so“, erwiderte der Seewolf und war unendlich erleichtert darüber, daß er den Feuerbefehl immer wieder hinausgezögert hatte. Und wegen Luke Morgan, dem übereifrigen Hitzkopf, hätte es beinahe ein Chaos gegeben. Hasard konnte das nicht auf sich beruhen lassen, denn damit hätte er die Borddisziplin ernstlich gefährdet, und er hatte auch nicht die Absicht, die Zügel so schleifen zu lassen, wie es mitunter auf dem schwarzen Segler geschah, obwohl die Rote Korsarin mitunter hart durchgriff. „Luke Morgan soll auf das Achterdeck kommen“, sagte er zu Ben. Sein Gesicht war hart und kantig, als Ben nickte. Luke Morgan stieg den Niedergang hinauf, trotzig und ein wenig verärgert. Verärgert auch über sich selbst, weil er sich so unbeherrscht benommen hatte. Er konnte nichts dafür, entschuldigte er sich vor sich selbst.
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Er sah in Hasards eisblaue Augen und schluckte unwillkürlich. „Es kotzt mich an“, sagte der Seewolf hart, „einen Mann aus meiner Crew bestrafen zu müssen, Luke Morgan. Aber ich kann deine verdammte Hitzköpfigkeit nicht immer entschuldigen. Du sollst dir dieses vorschnelle Handeln endlich einmal abgewöhnen.“ Morgan stand mit hängenden Schultern da. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und hingen kraftlos am Körper herab. „Ja, Sir“, sagte er leise. „Weißt du, welche Folgen dein unüberlegter Schuß beinahe für uns alle gehabt hätte?“ „Das Feuer hätte uns gelten können“, erwiderte Luke hitzig. „Sollen wir vielleicht jedesmal warten? Ich habe einfach geschossen, weil mir die Nerven flatterten.“ „Ich weiß, die Situation war sehr brenzlig. Trotzdem hattest du keinen Befehl zum Feuern erhalten. Es geht nicht, daß jeder wild drauflosballert, Luke Morgan. Hoffentlich geht das auch in deinen verdammten Dickschädel.“ „Aye, aye, Sir“, murmelte Luke. „An Bord meines Schiffes ist schon lange kein Mann aus der Crew bestraft worden, aber es geht nicht anders. Du erhältst nur drei Hiebe, Luke Morgan, damit dir in Zukunft nicht mehr die Nerven durchgehen. Verstanden?“ „Aye, aye, Sir.“ „Gut. Der Profos wird das erledigen, aber ich schiebe die Bestrafung so lange auf, bis wir wieder auf See sind. Wir brauchen keine schadenfrohen Gaffer, weder an Land noch die Leute des schwarzen Seglers. Diese Bestrafung bleibt unter uns. Und jetzt verschwinde, Luke Morgan!“ „Aye, aye, Sir“, sagte Morgan leise. Er drehte sich um und ging zurück, daß er Carberry fast in die Arme lief. Der Profos hielt ihn fest. „Sei froh, du Rübenschwein“, sagte er leise, „jeder andere hätte dich vor aller Augen auspeitschen lassen und dir die Schadenfreude gegönnt. Du meldest dich
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freiwillig bei mir, wenn wir aus diesem lausigen Hafen heraus sind.“ „Ich werde es bestimmt nicht vergessen“, sagte Luke. Damit war der Vorfall vorerst erledigt, und es wurde auch nicht mehr davon gesprochen. Ein Mann würde seine Strafe erhalten, das war das Gesetz der See, und Luke Morgan war dabei mit drei Schlägen noch verdammt glimpflich davongekommen. Etwas später kehrte auf der „Isabella“ Ruhe ein. 2. Am anderen Morgen war der Himmel klar, aber der Wind blies kühl aus nordwestlicher Richtung. Hasard wollte an diesem Tag noch Proviant übernehmen, auch Tee und Reis, den seine Männer anfangs so verschmäht hatten, und den Seewölfen Landurlaub geben, damit sie sich in der Hafenstadt Shanghai ein wenig umsehen konnten. Er stand auf dem Achterdeck und sah sich das langsam erwachende Treiben in dem großen Hafen an, als ihn eine Hand zart am Arm berührte. Zwei traurige Mandelaugen sahen ihn an. „Flüssiges Licht“, das kleine Chinesenmädchen, senkte den Kopf. Ihre Stimme war wie ein Hauch. „Das unwürdige kleine Mädchen möchte sich von dem hohen Herrn verabschieden“, sagte sie sehr leise. „Er wird meine Dienste nicht mehr brauchen, wenn er jetzt weitersegelt.“ Hasard gab es einen leichten Stich. Wie rührend die Kleine war. Ohne sie wäre die ganze Chinareise ein einziges Fiasko geworden. Ja, ohne. sie wäre die Rote Korsarin ganz sicher enthauptet worden, das stand fest. Er legte ihr die Hand auf die schmale Schulter. „Stimmt es, daß du hier eine Familie hast, die dich aufnimmt?“ vergewisserte er sich nochmals. „Es stimmt, hoher Herr!“
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Er wußte, daß sie nicht log, sie hatte noch nie die Unwahrheit gesprochen, seit er sie kannte, von jenem denkwürdigen Tag an, als die Crew der „Isabella“ sie aus der See gefischt hatte. „Wir gehen nach achtern, in meine Kammer“, sagte er knapp. Dort ließ er sie Platz nehmen und holte aus dem eingebauten Wandschrank einen hellgrauen Beutel hervor, den Will Thorne genäht hatte. In dem Beutel befand sich ein weiterer aus feinem weichen Leder, rund und schwer. „Das ist ein Geschenk von der ganzen Mannschaft und mir an die Mandelblüte 'Flüssiges Licht im beginnenden Sommer'. Es ist unser Dank an dich für das, was du getan hast. Wir alle möchten, daß du ein sorgenfreies Leben führst, nie Hunger und Armut kennenlernst und glücklich lebst.“ Sie wollte kopfschüttelnd abwehren, doch der Seewolf hob leicht die Hand. Er kannte sie genau, sie wollte keine Geschenke annehmen. Das, was sie getan hatte, erschien ihr ganz selbstverständlich. Aber für ihn war es längst nicht selbstverständlich, und so blitzte es auch in seinen blauen Augen plötzlich auf. „Du würdest uns alle beleidigen und tief kränken, wenn du das kleine Geschenk nicht annimmst“, sagte er. „Und ich selbst wäre immer sehr böse auf dich! Möchtest du das?“ „Nein, hoher Herr“, stammelte sie. „Öffne den Beutel!“ Sie tat es mit zitternden Fingern und wurde blaß, als sie den Inhalt sah. Es waren zwei Hände voll erlesener Perlen, wie sie schöner nicht sein konnten. Das Licht der Morgensonne verlieh ihnen einen schimmernden zarten Farbton. Benommen blickte sie auf matte, rosa, weiße und schwarze Perlen, die ein nicht schätzbares Vermögen darstellten. Lange Zeit saß sie still da und konnte nichts sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Hasard hörte sie leise schluchzen. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte, und lächelte.
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Dann griff er in den Leinenbeutel und holte eins der indianischen Kleinode hervor, das einem Tier nachgebildet war. Die leuchtenden Augen waren Rubine, der nachgebildete etwas plump wirkende Vogel bestand aus purem blinkendem Gold, und in seine Schwanzfedern hatte man Edelsteine eingelegt. Allein von diesem Prunkstück konnte ein Chinese in diesem Land sein ganzes Leben fristen. Das Mädchen starrte Hasard an, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah nur noch ganz verschwommen die Gegenstände. die er aus dem Beutel holte. Andere Edelsteine waren dabei, Goldstücke und große Silberscheiben. Sie erhob sich taumelnd, schritt auf den Seewolf zu und umarmte ihn. Dann küßte sie ihn zart auf die Wange. „Es gibt leider keine Worte, um die Freude auszudrücken, die ich empfinde, hoher Herr“, sagte sie leise. „Aber ich kann das wirklich nicht annehmen.“ „Quatsch“, sagte Hasard rauh. „Eine Flußbraut muß doch richtig ausstaffiert sein, oder nicht? Du kannst wie eine Prinzessin leben und dir jeden Wunsch erfüllen. Einer meiner Männer wird dich nachher bis in die Nähe des Hauses deiner Familie begleiten, damit man dich nicht ausplündert. Und bevor du uns verläßt, möchte dich die Rote Korsarin noch einmal sprechen.“ „Ich finde keine Worte, hoher Herr!“ „Was sind schon Worte?“ sagte Hasard. „Sie vergehen wie der Wind. Die Worte stehen in deinen Augen geschrieben.“ Das Mädchen konnte es nicht fassen, daß man es hier so reich beschenkte, da sie ihrer Meinung nach nichts Besonderes geleistet hatte. Aber diese Männer dachten darüber anders. Der Abschied von diesem Schiff und seiner Besatzung fiel ihr ungemein schwer. Ein trockener Kloß saß ihr im Hals, und sie war kaum in der Lage, richtig zu sprechen. Hasard geleitete sie nach einer Weile an Deck, weil er sah, wie sie immer wieder mit den Tränen kämpfte. Dort war inzwischen die ganze Crew versammelt. Auch den harten Kerlen fiel
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der Abschied schwer, sie räusperten sich, grinsten verlegen oder traten von einem Bein auf das andere. Sie ging zu jedem einzelnen, Tränen in den Augen, drückte ihm die Hand und bedankte sich. Der Seewolf hatte seine Mannschaft selten so verlegen gesehen. Er sah auch noch etwas anderes: Der Bengel Bill stand am Schanzkleid, klein, schmal und schmächtig und hatte sein ganzes verdammtes Imponiergehabe abgelegt. Sein Gesicht war krampfhaft verzogen, und in seinen Augen blinkte es verdächtig, aber er versuchte, sich wie ein Mann zu benehmen, als sie ihm die Hand gab. Am liebsten hätte er Rotz und Wasser geheult, denn die Aussicht, sie nie mehr wiederzusehen, war ihm unerträglich. Übertrieben länge schlenkerte er ihre Hand, bis Carberry ihn mit der Hüfte leicht anstieß und sich räusperte. „Ben wird sie begleiten“, sagte der Seewolf. „Du kannst dir noch einen Mann dazu nehmen, denn ich möchte, daß sie sicher und heil nach Hause gelangt.“ „Dann nehme ich ...“ ,Dan mit', wollte Ben gerade sagen, aber da sah er die Augen des Schiffsjungen auf sich gerichtet, und in diesem Blick lag etwas so Zwingendes, wie er es bei dem Moses noch nie gesehen hatte. Die Augen schienen ihn direkt anzuschreien. „Bill wäre vielleicht der richtige Kerl“, sagte der Profos ernst und ohne zu grinsen. „Der wird die Kleine bewachen wie seinen Augapfel, da gehe ich jede Wette ein.“ Der Bengel sprang vor, knallrot im Gesicht und bereit, jeden auf der Stelle umzubringen, der das Mädchen auch nur schief angesehen hätte. „In Ordnung“, sagte Hasard. „Ben und Bill also.“ Ihm war der Blick ebenfalls nicht entgangen, und eins wußte er diesmal verdammt genau: Der Bengel würde sich in Stücke reißen lassen für das Mädchen. Was diese Sache betraf, da war er auf einmal härter als jeder harte Kerl. Carberry grinste vor sich hin, als er Bills Blick auffing. Da lag eine Bewunderung
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für den Profos drin, die Ed direkt peinlich war. Und wie es seiner Art entsprach, wurde er auch gleich grob. „Glotz nicht wie ein Stockfisch, du Lümmel“, sagte der Profos, „Trag lieber den Beutel und paß auf das Mädchen auf!“ Das „Aye, aye, Mister Carberry“, das dann ertönte, ließ die Männer zusammenzucken. So brüllte nur einer, wenn er das Heulen eines Orkans übertönen wollte. Auf der Pier erwartete sie Siri-Tong, die die Chinesin herzlich umarmte und sich bei ihr nochmals bedankte. Wortlos nahm sie dem Schiffsjungen den Beutel aus der Hand und steckte einen zweiten hinzu, der sehr schwer zu sein schien. Er war bis an den Rand mit den erlesensten Edelsteinen gefüllt, die die Rote Korsarin auftreiben konnte. „Flüssiges Licht“ schritt mit tief gesenktem Kopf die Pier entlang. Alle Augenblicke blieb sie stehen und wandte ihr trauriges Gesicht den Männern der „Isabella“ zu. Dann hob sie jedesmal ganz leicht die Hand und winkte verhalten. Hasard und die Seewölfe blickten ihr lange nach, bis sie kleiner und kleiner wurde, einer zerbrechlichen Puppe ähnlich, die sich ein letztes Mal umdrehte und winkte. Dann waren sie hinter einer Biegung verschwunden. „Da geht das Beste, das das Land des Großen Chan zu bieten hat“, sagte Smoky tiefsinnig, und die anderen nickten alle. „Ein großartiges Mädchen“, sagte auch der Schiffszimmermann Ferris Tucker, und wieder nickten sie alle. Irgendwie, das spürte jeder, ohne es auszusprechen, waren sie hier wieder einmal an einem Wendepunkt angelangt. Praktisch war die große Reise über den Pazifischen Ozean beendet, und es ging neuen Taten entgegen, so, wie der Seewolf es schon angekündigt hatte. Aber wo es genau entlangging, das wußte noch keiner so recht. Das waren alles vage Begriffe. Hasard sah Siri-Tong an, die jetzt an Deck stand. Was hatte sie vor, was Wollte sie unternehmen?
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Als hätte sie seine Gedanken erraten, blickte sie ihn an. „Sicher fragst du dich jetzt, wie es weitergeht“, sagte sie. Der Seewolf nickte. „Es wird Zeit, daß wir das besprechen. Was hast du vor?“ „Zunächst wollte ich diesen feisten Kuan, der mich auf der Gemüsedschunke nach Shanghai bringen ließ, ans Messer liefern“, erklärte sie. „Aber es ist seltsam, ich verspüre keinerlei Haßgefühle mehr gegen ihn. Es ist mir gleichgültig, was aus ihm wird. Soll er ein korrupter Hund bleiben, sein Leben lang.“ Sie lehnte sich ans Schanzkleid und trommelte mit den Fingern auf dem Holzlauf herum. „Ich werde meine Mutter besuchen. Hasard. Jetzt ist alles vorbei, meine Mission ist erfüllt, ich bin freigesprochen worden und kann mich jetzt um sie kümmern. Ich bin ihr das schuldig.“ „Ja, natürlich. Sie wird sich sehr freuen. Du kennst den Weg?“ „Ich weiß, wo sie lebt. Ich werde sie von diesen stinkenden Sampans holen. Sie soll in einem kleinen Palast wohnen. Erst nach dem Besuch werde ich wissen, wie es weitergeht.“ Eine unsichtbare Mauer hatte sich zwischen ihnen errichtet. Hasard spürte das ganz deutlich, aber er wußte nicht, woran es lag. Es war jedenfalls nicht mehr so wie früher. Siri-Tong schien abgeklärter geworden zu sein, reifer, und nach all dem, was passiert war, war das auch kein Wunder. Die Zeit im Reich des Großen Chan hatte sie gewandelt. Nun, dachte der Seewolf, sie mußte selbst wissen, was sie tat, und sie würde sich sicher bald entscheiden. „Wir haben schon einmal kurz darüber gesprochen“, sagte er. „Ich werde versuchen, den Seeweg nach England zu finden, und zwar auf einer Route, die genau entgegengesetzt liegt. Sofern es sie überhaupt gibt“, setzte er leise hinzu. Sie zuckte mit den Schultern. „Die Portugiesen und die Spanier werden es ganz sicher wissen. Wenn du einen von
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ihnen aufbringst, würde ich an deiner Stelle genau in den Verstecken suchen, wo sie ihre Karten aufbewahren. Die sind mehr wert als Gold und Silber.“ „Ja, die Roteiros“, sagte Hasard. „Aber die Spanier fressen sie lieber vorher auf, wenn sie gekapert werden, als daß sie sie in fremde Hände fallen lassen.“ Die Korsarin stieß sich vom Schanzkleid ab, als der Wikinger vom schwarzen Schiff etwas herüberbrüllte. „Wir sehen uns später noch“, sagte sie. „Ich werde jetzt erst zum Wasserwohngebiet gehen.“ „Wenn du willst, gebe ich dir Begleitung mit.“ Siri-Tong schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Ich möchte sie gern allein besuchen.“ „Wie du willst.“ Als die Rote Korsarin gegangen war, blickte Hasard seine Männer an. Einige standen in der Kuhl, andere auf dem Vordeck. Das Schiff war klariert, der Profos hatte keine Arbeit angeordnet. „Ein paar von euch können an Land gehen“, sagte er, „und sich die Stadt ansehen. Der Profos wird euch Silberstücke auszahlen. Ihr könnt die Märkte besuchen oder euch die Kneipen ansehen, spazieren gehen oder faulenzen, ganz wie ihr wollt. Na, was ist?“ „Ja, wo, zum Teufel, bleibt die Begeisterung?“ fragte Carberry. „Sonst könnt ihr Rübenschweine nicht lange genug in den Kneipen 'rumhocken, saufen und huren und euch 'rumprügeln. Und jetzt hat keiner Lust?“ Smoky, der Deckälteste, kratzte sich den Schädel. „In den Kneipen gibt es doch bloß Tee zu saufen, und kein Mensch versteht unsere Sprache. Und Weiber? Na, ich weiß nicht! Mach denen mal klar, was wir wollen, falls wir überhaupt welche finden. Die sagen doch bloß lüschihaschikischi, und kein Schwein versteht das.“ Gelächter brandete auf, und auch der Neger Batuti lachte laut. „Wenn Batuti gehen an Land“, sagte er, „kommen immer gelbes Zopfmann,
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glotzen mit geschlitzte Augen, warum Batuti schwarz, und kratzen an Farbe. Und gelbes Mann wie Don. Fressen Kastanien und Schnecken, und wenn Batuti das sehen, dann immer kotzen. Batuti bleiben an Bord.“ Es wurde hin und her palavert. Jeder hatte sich seine ganz spezielle Meinung über das Land des Großen Chan gebildet, aber es gab doch genügend Neugierige, die sich die Stadt und die bunten Märkte wenigstens einmal ansehen wollten, denn mit der eigentlichen Bevölkerung hatte es nicht viele Kontakte gegeben. „Ich würde gern an Land gehen“, sagte der junge O'Flynn. Gary Andrews, Sam Roskill, der Kutscher, Stenmark und Ferris Tucker waren ebenfalls mit dabei. Der Kutscher wollte dem „Volk mal aufs Maul schauen“, wie er sich ausdrückte, sehen, was es auf den Märkten zu kaufen gab und was man alles feilbot. „Komm ja nicht mit Wasserschnecken und Fichtenzapfen zurück“, sagte der alte O'Flynn, „sonst laß ich mein Holzbein auf deinem Kreuz tanzen.“ „Für dich bring ich Rattenfleisch mit“, sagte der Kutscher grinsend, „roh, in scharfer Soße und fein gewürfelt.“ „Wage es nicht!“ schrie der Alte. „Sonst kriege ich auch diese gelbe Gesichtsfarbe.“ „Was ist mit dir, Ed?“ fragte Hasard den Profos, der ein lustloses Gesicht zog. „Hast du auch keine Lust?“ Carberry druckste herum. Er liebäugelte immer noch mit einem ganz gewissen Gedanken, denn vor einer Weile hatte er die beiden Chinesen wieder gesehen, die aus der Ferne das Schiff, und wie er glaubte, ganz besonders ihn, anstarrten. Zudem wollte er wissen, was das verdammte Faß am Ende der Pier enthielt, und das konnte er bei einem Landgang in die Stadt schlecht untersuchen. „Einer muß ja an Bord bleiben“, sagte er lahm. „Du wolltest doch auch noch an Land wegen Tee und Hagelkörnern, äh – Reis meine ich natürlich.“ Der Seewolf nickte.
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„Das wird auch noch ein Problem für sich“, sagte er, „ich habe ganz vergessen, der Chinesin das zu sagen. Oder ich werde warten, bis Siri-Tong zurückkehrt.“ „Das schaffen wir doch auch allein, Sir“, versicherte der Kutscher. „Wir gehen zusammen los, und mit Hilfe der Zeichensprache werden wir es den Burschen schon beibringen, was wir wollen.“ „Na gut, versuchen können wir es immerhin. Dann gehen wir möglichst bald. Carberry vertritt mich, bis ich wieder zurück bin.“ * Etwas später zog der Trupp ab, und jetzt fand Carberry endlich Zeit, das zu untersuchen, was ihn so beschäftigte. Er sah Matt Davies an, blickte auf Big Old Shane, den ehemaligen Schmied von der Feste Arwenack, und warf auch Batuti einen Blick zu. Jeder hatte es sich auf seine Art bequem gemacht. Sie faulenzten oder ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen, dösten vor sich hin, und selbst Matt Davies hockte faul und träge herum. Auf dem schwarzen Segler rührte sich auch kaum etwas, seit die Korsarin an Land gegangen war. Nur zwei Bordwachen schlichen auf dem Deck hin und her, genau wie auf der „Isabella“ auch. Carberry verzichtete darauf, Matt Davies mitzunehmen, obwohl es für den Mann mit der Hakenprothese leicht gewesen wäre, das rätselhafte Faß zu öffnen. Aber Ed würde es selbst schaffen, er hatte ja ein Messer dabei. Ed flankte von der Kuhl aus mit einem Satz auf den Holzsteg. Es wurde langsam wärmer, stellte er fest, und der Wind blies auch nicht mehr so kalt wie zuvor. Er vergewisserte sich, daß die beiden Wachen auf der „Isabella“ auch aufpaßten und lümmelte sich an das Geländer, das Schiff mit schiefgelegtem Kopf betrachtend.
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Dabei schielte er aus den Augenwinkeln wieder nach den Chinesen. Die beiden Kerle hatten Verstärkung erhalten, wie es schien, denn es waren jetzt mindestens sieben, die immer wieder die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Carberry hätte etwas darum gegeben, wenn er gewußt hätte, wovon sie sprachen. Aber er legte sich seine eigene Theorie zurecht. Die Kerle hatten etwas vor, das mit der „Isabella“ zusammenhing. Sie heckten irgendeine große Lumperei aus, und das lausige Faß ganz am Ende des Stegs schien dabei eine Rolle zu spielen. Beklauen wollten sie das Schiff, das stand für ihn fest, aber damit hatten sie Pech. Und wenn es zwanzig Mann oder mehr waren, an den Rahsegler kamen sie nicht heran, auch wenn die Hälfte der Besatzung nicht an Bord war. Sie würden sich nur blutige Köpfe holen. Der Profos stieß sich leicht ab und schritt den Bohlengang weiter entlang, bis er den schwarzen Segler passiert hatte. Sein gewaltiges Rammkinn war angriffslustig vorgeschoben. Er hatte die Hände tief in die Hosentasche geschoben und blickte immer wieder auf die Kerle. Seine gewaltige Figur schindete Eindruck. Sein riesiges Kreuz füllte fast die gesamte Breite des Stegs aus. Er registrierte, daß die Kerle langsam zurückwichen, obwohl er noch mehr als hundert Yards entfernt war. Zwei schlenderten über den schmutziggrauen Platz in Richtung der kleinen Gemüsedschunken, die an einer anderen Pier lagen, und drei taten so, als würden sie nur herumspazieren. Für Carberry war es nicht einfach, die Gesichter der Chinesen auseinander zu halten. Anfangs hatten sie für ihn alle gleich ausgesehen, jetzt schienen sie immerhin noch Brüder zu sein. Aber er sah doch die beiden Typen, die ihn schon vorgestern belauert hatten, und konnte sie mit ein wenig Mühe von den anderen auch unterscheiden. Der eine hatte eine ziemlich spitze Nase, was für einen Chinesen ohnehin selten war.
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Der andere war jung, mindestens zehn Jahre jünger als der Spitznasige. Etwas später waren sie zu Carberrys Verwunderung alle verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Er ging weiter, bis er das Faß sah. Das kleinere mit der Taurolle darauf interessierte ihn nicht sonderlich. Er befand sich jetzt in einem Teil des Hafens, von dem aus die „Isabella“ nur noch an ihren Mastspitzen zu erkennen war. Den Profos beschlich ein Gefühl des Unbehagens. Nicht, daß er Angst hatte, es war mehr ein Gefühl der Schuld, weil er hier herumstrolchte, obwohl er die Bordaufsicht hatte. Aber was soll schon passieren? dachte er. Die restlichen Männer an Bord waren gewarnt, und er selbst würde ohnehin gleich wieder zurück sein. Noch einmal sah er sich nach den Kerlen um, die anscheinend der Boden verschluckt hatte. Dicht vor ihm befanden sich kleine hölzerne Unterstände, in denen Gemüse gelagert wurde. Säcke und Fässer stapelten sich dort, ein paar Kisten lagen herum, und daneben befand sich ein Berg aus Unrat, der entsetzlich stank. Der Profos nahm das Messer, stieß es in die schmale Spundritze und hebelte ein wenig, bis der Holzpfropfen sich lockerte. Winzige schwarzgraue Körner rieselten aus der Ritze und fielen auf den Steg. Ed nahm etwas davon in die Hand und schnupperte. Das Zeug roch nach gar nichts. Er tupfte ein paar der feinen Körner auf seine Zunge und prüfte weiter. Es hatte einen leicht metallischen Beigeschmack, fand er, aber er wußte nicht, zu was das Zeug benötigt wurde. Angewidert spuckte er die Körner aus und trat mit dem Absatz gegen das Faß, bis der Pfropfen festsaß. War wohl nichts, überlegte er. Seine Sorge schien unbegründet zu sein. Ein paar von den Körnern steckte er in seine Hosentasche. Vielleicht konnten Al Conroy oder Ferris etwas damit anfangen.
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Er spie wieder aus, denn das Zeug begann jetzt auf seiner Zunge leicht zu brennen. Er dachte an das verbotene Gift. das es hier gab und das von manchen Chinesen geraucht wurde. Daß er soeben auf chinesischem Schießpulver herumgekaut hatte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. 3. Die Chinesen hatten sich hinter einer alten, halbzerfallenen Bude versteckt, in der nur Gerümpel lagerte. Haßerfüllte Augen betrachteten den Profos. „Er hat etwas gemerkt“, sagte der mit der spitzen Nase. Er hieß Sung und wandte sich mit der Feststellung an seinen Bruder Li. „Von hier aus könnten wir ihn mit einem Bolzen töten“, sagte ein anderer, aber Sung schüttelte nur den Kopf. „Nein, so nicht“, sagte er hart. „Ich will die Visage von diesem Kerl sehen, wenn er vor Angst halbtot ist. Er soll vor Angst Blut schwitzen, dieser Mörder.“ „Weißt du genau, daß er es ist?“ fragte Li. „Auf dem Schiff gibt es so viele große Kerle.“ „Aber keinen wie den“, sagte Sung voller Haß. „Ich habe mir das Gesicht mit den vielen Narben genau gemerkt. Und seine Stimme klingt wie Donner, wenn er etwas sagt. Nein, er ist es, der andere Kerl hat Feuerhaare, und der eine ist grau.“ „Hei Lien, das schwarze Gesicht, war auch dabei“, sagte der vierte Mann. „Ich habe selbst gesehen, wie er zwei Männer erschlug, als der Kampf im Hafen begann.“ „Der interessiert uns nicht. Diesen Kerl müssen wir kriegen, der unseren Bruder erschlagen hat, und dann wird er tausend Tode sterben, der fremde Teufel.“ Carberry, den sie den fremden Teufel nannten, ahnte von alledem nichts. Für ihn war es ein Kampf wie jeder andere auch gewesen. Als sie in Shanghai die Rote Korsarin im allerletzten Augenblick vor dem Schwert des Henkers gerettet hatten, war ein blutiger Kampf entbrannt, und die Seewölfe hatten unter den chinesischen Soldaten wie die Teufel gewütet. Ferris
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Tucker und Edwin Carberry hatten dabei wie die Rasenden gekämpft. Dabei hatte der Profos den Bruder Sungs getötet, und das war es, was die Chinesen ihm nicht vergaßen. Tagelang hatten sie versucht, den Profos umzubringen, doch nie hatte sich eine Gelegenheit dazu ergeben. Jetzt war sie da, jetzt, nachdem sich der fremde Teufel von dem Schiff entfernt hatte und das Faß untersuchte. Aber der Haß, den sie auf ihn hatten, ließ es einfach nicht zu, den fremden Teufel aus der Ferne mit einem Bolzen zu töten. Er sollte qualvoll und unter Todesängsten sterben, nicht schnell und schmerzlos, ohne zu wissen, weshalb er starb. Sie hatten Angst vor ihm, denn gegen seine Körperkraft kamen sie nicht an, auch wenn sie sieben Leute waren. Wenn der Riese erst einmal in seinem Element war, dann schlug er alles ‚zusammen, und da störte ihn eine Übermacht nicht im geringsten. Fieberhaft überlegten sie, wie sie an ihn heran könnten, ohne daß er in der Lage war, seine riesigen Fäuste einzusetzen. „Wir schneiden ihm den Weg ab, solange es noch möglich ist“, sagte Sung. „Wenn wir uns unter den Steg schleichen und ihn an den Beinen herunterreißen, kann er sich nicht wehren. Aber wir müssen uns beeilen, sonst kehrt er zurück, und die anderen können ihn sehen.“ Viel mehr wurde nicht besprochen. Augenblicklich gab es keine bessere Gelegenheit, um den verhaßten Mann zu stellen. Lautlos huschten sie davon, bewegten sich durch das brackige, am Steg nur knietiefe Wasser und gaben acht, daß der Mann sie nicht sah, dessen Tod sie beschlossen hatten. * Carberry hatte die Chinesen nicht mehr gesehen, obwohl er immer wieder den Kopf wandte und die Gegend absuchte. Es gab zu viele Versteckmöglichkeiten für die Chinesen. Der Hafen war ein großes Rattennest, in dem es von Booten, Menschen, Lastenträgern und kleinen
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Dschunken nur so wimmelte. Alles war verschachtelt, und man konnte sich in dem Gebiet leicht verirren. Nachdenklich kehrte der Profos zurück. Wasser plätscherte leise an die Bohlen des Stegs, und so hörte er auch nicht die leisen Schritte im Wasser, die sich fast genau unter ihm befanden. Von der „Isabella“ und dem schwarzen Segler sah er immer noch nur die hohen Mastspitzen, die Rahen und die aufgegeiten Segel. Er blickte zu einer einlaufenden Dschunke, die mit stark geblähtem Segel in den Hafen steuerte. In diesem Augenblick geschah es. Etwas riß und zerrte mit unwiderstehlicher Kraft an seinem rechten Bein. Ein kurzer Ruck, Carberry fluchte unterdrückt, und dann landete er hart auf den Bohlen. Er wollte hoch, doch plötzlich schien der ganze Steg lebendig geworden zu sein und tausend Arme zu haben. Die Chinesen! schoß es ihm durch den Kopf. Mit einem Wutschrei versuchte er sich hochzustemmen. Vergebens. Der Druck wurde größer, Hände griffen nach seinem Hals, seinen Armen und Beinen und zerrten ihn weiter, bis er das Gleichgewicht verlor. Kopfüber landete der Profos in der dreckigen Hafenbrühe. Er war leicht benommen, als er mit dem Schädel auf den sandigen Grund stieß. Eine würgende Klammer legte sich um seinen Hals. Schläge prasselten in sein Gesicht, schmerzhafte Schläge aus allen Richtungen. Carberry kämpfte gegen unsichtbare Gegner, schlug um sich, hieb in wilder Wut zu und spürte, wie seine Faust in etwas Weiches hineinstieß. Halb im Unterbewußtsein hörte er einen unterdrückten Schrei. Neben ihm klatschte etwas ins Wasser. Die würgende Klammer um seinen Hals verstärkte sich und schnürte ihm die Luft ab, bis feurige Ringe vor Augen kreisten.
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Er sah die Männer nicht, die ihm eine Schnur um den Hals geworfen hatten und sie mit allen Kräften zuzogen. Seine Hände versuchten die tödliche Schlinge abzustreifen, doch er kriegte die Hände nicht mehr frei. Von allen Seiten waren sie umklammert. Carberry gab trotzdem nicht auf. Er stieß mit dem Kopf, mit den Beinen und stemmte sich mit dem ganzen Körper gegen den würgenden Druck. Sein Gesicht war voll Schlamm, Dreck und Wasser. In seinen Augen biß und kratzte es, er litt unter Luftmangel und spürte am ganzen Körper rasende, stechende Schmerzen. Immer noch tobte er herum, bäumte sich auf, versuchte auf die Beine zu gelangen. Sieben Chinesen hatten die allergrößte Mühe, den tobenden Koloß zu bändigen. Sie keuchten, schwitzten, rangen und droschen von allen Seiten auf ihn ein, aber der Kerl war stark wie ein Stier. Sie hatten ihm eine Schlinge um den Hals geworfen, zerrten sie zu, stemmten sich in sein breites Kreuz, warfen ihm andere Taue um den Körper, hielten seine Beine fest und drückten ihn unter Wasser. Doch immer wieder zuckte der Riesenkerl hoch, wühlte den Sand und Schlamm auf, tobte herum. Sie steckten Schläge ein, aber ihr Haß verlieh ihnen Riesenkräfte. Sung fand einen Stein im Wasser. Er riß ihn aus dem Dreck, hob ihn hoch und schmetterte ihn dem Kerl an den Schädel. Mit einem Ächzlaut brach der Mann zusammen. Sein Kopf geriet unter Wasser, und so hielten sie ihn fest. Sung keuchte über dem gefällten Riesen, seine Lungen drohten von der Anstrengung zu platzen, er zitterte am ganzen Körper. „Laßt ihn los“, keuchte er, „er soll nicht ersaufen, noch nicht. Zieht ihn da entlang!“ Jetzt hatten sie ihn gefesselt wie einen tobenden Elefanten und schleppten, zerrten und schleiften ihn durch das seichte Wasser bis zum Ende der Pier. Dort mußten sie erneut verschnaufen. „Der Kerl ist schwerer als ein Ochse“, sagte Li schnaufend. Er wischte sich das
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Blut aus dem Gesicht und sah aus verschwollenen Augen voller Haß auf den leblosen Mann hinunter, der sich nicht mehr rührte. „Ist er tot?“ fragte einer. Sung legte die Hand auf den mächtigen Brustkasten, der so groß wie das Faß war, das auf der Pier stand. „Nein, nur bewußtlos“, sagte er stöhnend. „War das eine Schinderei.“ Ausgepumpt, stöhnend und immer noch schwer atmend standen sie unter den Bohlen. Carberry rührte sich nicht. Für ihn war die Welt mit einem Donnerschlag untergegangen. Mit vereinten Kräften zerrten sie ihn an den Stricken aus dem Wasser, schleiften ihn die kurze Böschung hinauf und warfen den wassertriefenden Körper auf den Steg. Hier sah niemand zu, hier kümmerte sich keiner um sie, und von den beiden Schiffen der fremden Teufel war diese Stelle ebenfalls nicht einsehbar. „Holt das Faß“, sagte Sung. „Wir binden ihn daran fest und jagen ihn in die Luft, wenn er wieder bei Besinnung ist.“ Zwei Männer rollten das schwere Faß über den Steg, stellten es auf und entfernten den kleinen Spund. Carberry, immer noch bewußtlos, wurde hingesetzt. Sie schlangen die Taurolle um seinen Oberkörper, verbanden sie mit dem Faß voller Schießpulver und verknoteten das Tau so fest, daß keine Haaresbreite Platz mehr zwischen Körper und Faß war. Dann bogen sie ihm die Arme herum, fesselten sie und banden sie ebenfalls an dem Faß fest. Sung überprüfte noch einmal die Stricke. Sie waren so fest, daß sich das Narbengesicht auf keinen Fall mehr befreien konnte, mochte er Kräfte wie drei Ochsen haben. Erschöpft warteten sie. Etwas später steckten sie eine Lunte in das Spundloch und verkeilten das Loch wieder. Sung grinste jetzt zum ersten Mal. „So wird er seinen Tod direkt genießen“, sagte er. „Sobald er erwacht, stecken wir die Lunte in Brand, und dann wird dieser
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Teufel davonfliegen wie eine Taube. Aber vorher soll er sich über seine Lage klarwerden. Schade, daß er unsere Sprache nicht versteht, dieser Teufel!“ „Ich verstehe zwei oder drei Sätze der fremden Teufel, die werde ich ihm sagen. Vielleicht begreift er sie“, sagte einer. Danach warteten sie in stoischer Ruhe und mit asiatischer Geduld, bis der fremde Teufel erwachte. * Der Profos hatte das Gefühl, einem dunklen Abgrund entgegenzurasen, der kein Ende mehr nahm. Er fiel und fiel, griff haltsuchend um sich und wollte schreien, weil er nicht begriff, was um ihn herum vorging. Doch plötzlich hatte der Abgrund ein Ende, und an diesem Ende leuchtete eine große Sonne, die in einem riesigen Blitz verging. Danach verspürte er überhaupt nichts mehr. Er schlug blinzelnd ein Auge auf, schloß es jedoch sofort wieder, als sich ein rasender Schmerz in seinem Schädel ausbreitete. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm der Großmast der „Isabella“ auf den Schädel gefallen. In seinem Mund war der ekelhaft süßliche Geschmack nach Blut, und sein Hals fühlte sich an, als hätte ihn ein Pferd getreten. Er stöhnte leise und unterdrückt. Sobald er ein Auge öffnete, blendete ihn grelle Sonne, und der Schmerz wurde unerträglich. Noch einmal fiel er in den dunklen Abgrund, vor seinen Augen verschwamm alles, und er versuchte verzweifelt, gegen die plötzliche Schwärze anzukämpfen. Er wußte nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hatte, doch als er diesmal zu sich kam, waren die Schmerzen etwas erträglicher geworden, und er kriegte besser Luft. Nur seinen Körper konnte er nicht bewegen, der schien irgendwo angeschmiedet zu sein.
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Langsam kehrte sein Bewußtsein zurück, und er versuchte, die bohrenden Schmerzen zu ignorieren. Neben sich hörte er hämisches Gelächter. Als er die Augen nach rechts drehte, sah er sie. Ein halbes Dutzend triefnasser Chinesen grinste ihn höhnisch an. Er vernahm Worte in der hohen Singsangsprache, aber er verstand nichts davon. Dann überfiel ihn schlagartig die Erkenntnis. Die Chinesen! Da war der Kerl mit der spitzen Nase, aber wie sah der jetzt aus? Sein Gesicht glich einem angeschwollenen Kürbis, und seine Augen waren in dem Gesicht fast verschwunden. Wie eine Ratte, die aus der Hafenbrühe gekrochen war, sah er aus. Ed kümmerte sich nicht weiter um die Kerle, die ihn fortwährend angrinsten. Er versuchte, sich auf die Beine zu stellen, doch das war ein Ding der Unmöglichkeit. Nach und nach begriff er seine Lage. Er hockte mit dem Hintern auf der Bohlenpier, und um seinen Körper hatten die Halunken Tauwerk geschlungen. Seine Arme waren nach hinten ausgestreckt und gefesselt. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen, und in seinem Rücken befand sich das große Faß mit dem merkwürdigen Inhalt. Daran hatten sie ihn festgebunden. Sung trat jetzt ganz dicht an ihn heran und sagte etwas. Dann schoß seine rechte Hand vor und klatschte dem Profos ins Gesicht. „Du mieses Rübenschwein!“ brüllte Ed und versuchte wieder, sich aufzurichten. Aber sie hatten sogar um seinen Hals einen Strick gelegt. Der Chinese zuckte zurück, als der Profos brüllte, ging einen Schritt zur Seite und trat ihm in die Rippen. Er registrierte ihre ängstlichen, verkniffenen, aber zugleich auch von Haß erfüllten Gesichter, als er erneut versuchte, sich aufzurichten. Sie hatten Angst vor ihm, obwohl er gefesselt war. Was, zum Teufel, bezweckte das nur alles? Diese Frage stellte sich der Profos immer
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wieder, ohne eine Antwort darauf zu erhalten. Was wollten sie von ihm? Einer der Chinesen entnahm jetzt dem Faß etwas von dem Pulver, das er auf dem Steg dicht vor Carberrys Augen aufhäufte. Während er das tat, palaverte er ohne Pause, warf dem gefesselten Mann immer wieder Blicke voller Haß zu und ließ sich von einem anderen schließlich eine glimmende Lunte reichen. Mit ausgestrecktem Arm hielt er sie grinsend an das kleine schwarzgraue Häuflein. Gleichzeitig wandte er dabei sein Gesicht zur Seite. Ed musterte den Kerl aus schmalen Augen. Er konnte sich Sinn und Zweck der Vorbereitungen immer noch nicht erklären. Ein greller Blitz blendete seine Augen, sengend heiße Luft streifte ihn für Sekunden, und ein leises Fauchen war zu hören. Der Spitznasige zeigte auf Ed und grinste höhnisch. Schießpulver, dachte Ed. In dem Faß befanden sich mindestens zwei Zentner von dem höllischen Zeug! Abwechselnd wurde ihm heiß und kalt, wenn er daran dachte, daß sie ihn an das hochbrisante Faß gebunden hatten und daß der eine Kerl eine glimmende Lunte in der Hand hielt. Er demonstrierte dem Profos genau, was er vorhatte, denn er steckte die Lunte in das Faß und grinste weiter. Dann zeigte er mit der Hand auf den Profos. Ed mußte sich anstrengen, um die Ungereimtheit zu verstehen, die der Kerl von sich gab. „Bruder - tot“, sagte er schrill. „Du - tot! Feuer!“ „Was faselst du gelbes Rübenschwein da?“ schrie Ed, der den Sinn der Worte nicht begriff. Er hörte dicht neben sich das leise Knistern und Knacken, mit dem die Lunte brannte und glomm. Er konnte sie aus den Augenwinkeln sehen und sich selbst ausrechnen, wie lange sie noch brannte, bis die Funken das Pulver erreichten. Carberry schluckte hart, als er daran dachte. Wenn das Faß explodierte, würde
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es nicht einmal Überreste von ihm geben. Dieses lausige verdammte Faß, das seine Aufmerksamkeit so erregt hatte! Jetzt wußte er endlich, was es enthielt. Es enthielt den Treibsatz zu seiner Höllenfahrt. Mit Blitz und Donner würde er in der Hölle beim Satan erscheinen. „Bruder tot. Du tot“, hörte er wieder und wieder von dem Kerl, der die Worte monoton wiederholte und dessen Gesicht sich vor Haß immer mehr verzerrte. Ed versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Vielleicht war alles nur ein Mißverständnis, und es ließ sich wieder aufklären. „Bruder tot“, sagte er. „Warum? Weshalb ich auch tot?“ Er hörte sie miteinander schnattern, spürte wieder den Gestank der verdammten qualmenden Lunte und dachte an die Sekunde, in der das Faß auseinanderflog. Sie verstanden ihn nicht, wie er feststellte. Sie begriffen seine Frage nicht, und so hockte sich der Spitznasige vor Ed auf die Planken und versuchte, es ihm mit Gebärden auszudrücken. „Ihr spinnt ja, ihr Säcke!“ sagte Ed laut. „Was soll das ganze Theater bedeuten?“ Jetzt begriff er überhaupt nichts mehr. Der eine kniete sich hin, der andere hob die gefalteten Hände wie ein Schwert auf seinen Kopf und ließ sie dann heruntersausen. Bevor sie jedoch ihr Ziel trafen, sackte er zusammen und griff sich mit beiden Händen an den Hals. Der andere erhob sich darauf hin und tat so, als wolle er wegrennen. Wieder ein anderer, der absichtlich seinen Brustkorb aufblähte, rannte wie ein Irrer auf dem Steg herum und schlug voller Wut auf unsichtbare Gegner ein. Immer wenn er innehielt, zeigte er mit der ausgestreckten Hand auf den verdutzten Profos. „Du!“ brüllte er dabei. „Du!“ Carberry blickte ihn verblüfft an. „Du spinnst ja, du Reisfresser“, sagte er. „Dir ist wohl eine Muck aus dem Schapp gefallen, was, wie?“ Wieder und wieder demonstrieren sie ihm das gleiche, bis es dem Profos endlich dämmerte.
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In einer Art Kampfszene deuteten sie die Hinrichtung der Roten Korsarin an, dann den Henker, als ihn Big Old Shanes Pfeil traf und er zusammensackte. Dann folgte offenbar der Kampf der Seewölfe, die alles kurz und klein schlugen, wenn Ed das richtig deutete. Als der Kerl dann wieder haßerfüllt „Bruder“ schrie, kapierte der Profos auch die letzten Zusammenhänge. Bei dem Kampf am Hafen hatte er offensichtlich den Bruder der lausigen. Spitznase getötet. Deshalb hatten sie ihn ständig belauert, verfolgt und auf eine Gelegenheit gewartet, bis sie ihn endlich erwischt hatten. Das war jetzt ihre Rache. Dafür sollte er büßen. Carberry wußte, wie nachtragend die Chinesen waren, er hatte es schon oft erlebt. Die Kerle vergaßen nichts, was man ihnen angetan hatte: Das hatten sie an der Roten Korsarin zur Genüge immer und immer bewiesen. Er entsann sich wohl, einige der Soldaten hart angegriffen zu haben, und ganz sicher hatte er bei dem tobenden Kampf auch einige von ihnen getötet. Und diese Kerle mußten das beobachtet haben. Mit dieser Erkenntnis konnte er jedoch nichts anfangen. Sie hatten ihn und würden ihn erbarmungslos in die Luft blasen. Er schielte wieder auf die Lunte, hörte sie leise und gefährlich knistern und sah, wie die Kerle auf ihn deuteten und drei von ihnen dann verschwanden, bis sie in sicherer Entfernung von dem todbringenden Faß standen. Gleich darauf folgten zwei weitere, nachdem sie einen Blick auf die Lunte geworfen hatten. Jetzt waren noch der Spitznasige und der andere Kerl da, die durch Gesten andeuteten, daß es für ihn bald so weit war, zu seinen Ahnen zu fliegen. Carberry fühlte, wie ihm kleine Bäche von Schweiß über das Gesicht liefen. Seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen, ihm tat überhaupt nichts mehr weh. Und innerhalb ganz kurzer Zeit würde ihm nie
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wieder etwas wehtun. Dann war er alle Schmerzen für immer und alle Zeiten los. Unmerklich spannte er seine mächtigen Muskeln und versuchte, sich ein wenig Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Doch die Stricke, mit denen sie ihn gefesselt hatten, saßen fest. Sie gaben nicht nach. Ein verdammt höllischer Tod, dachte er, und sah den beiden anderen nach, die sich jetzt ebenfalls langsam entfernten. Sie gingen fast fünfzig Yards weit, und allein daran konnte sich Ed ausrechnen, wie gewaltig die Detonation sein würde, wenn das Faß in die Luft flog. Vielleicht erwischte es die Burschen auch noch, dachte er wie betäubt. Zähneknirschend hockte er da, festgebunden an das Faß, und schielte immer wieder nach der glimmenden Lunte. Nur eine Fingerlänge trennte sie noch von dem Pulver, dann nur noch die Hälfte einer Fingerlänge. Carberry schwitzte immer stärker. Er sah, wie einer der Chinesen eine zweite Lunte zur Hand nahm und sich ihm näherte. Wollten sie die Quälerei jetzt beenden? Der Kerl blieb breitbeinig vor ihm stehen und blickte ihn grinsend an. Dann riß er den kleinen Stummel der Lunte aus dem Faß, entzündete die andere daran und steckte sie in das Faß. Den glühenden Rest der fast heruntergebrannten Lunte warf er Ed lachend ins Gesicht. Der Profos wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte, daß die neue, längere Lunte sein Leben verlängerte. Das zögerte seine Qual nur um wenige Minuten hinaus. Aber es war eine Hoffnung für ihn. Vielleicht geschah in der Zeit etwas, womit selbst die Chinesen nicht rechneten. Sie jedenfalls hatten ihre Freude daran, ihn zu quälen. Ed sah es an ihren erwartungsvollen Gesichtern. Immer noch grinsten sie. Ihm selbst war das Lachen längst vergangen. Es knisterte immer bedrohlicher. 4.
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Hasard und der Kutscher kehrten an Bord zurück. Die anderen waren immer noch unterwegs, um sich die Stadt anzusehen. „So ein Mist“, sagte der Kutscher. „Wir haben versucht, von diesen Kerlen Reis und Tee zu kaufen, und es war verdammt umständlich, ihnen das zu erklären.“ „Und wo habt ihr das Zeug?“ fragte Big Old Shane. Der Kutscher lachte meckernd. „Dagelassen natürlich, weil keiner dieser Burschen kapierte, daß wir von dem Zeug ein paar Tonnen haben wollten. In kleinen Säcken haben sie uns das Zeug pfundweise verkaufen wollen.“ „Und wie kriegen wir jetzt Reis und Tee?“ fragte Smoky. „Wir warten, bis die Korsarin zurück ist. Dann besorgen wir es über größere Händler.“ Hasard, der diese Worte gesprochen hatte, blickte sich suchend auf der Kuhl um. Batuti döste am Schanzkleid vor sich hin. Blacky riß den Mund auf und gähnte laut, Big Old Shane stand wie ein gewaltiger Felsen auf der Kuhl. „Wo ist der Profos?“ fragte der Seewolf. Smoky kratzte sich wieder den Schädel. „Der Profos?“ fragte er. „Vor einer Weile habe ich ihn noch hier an Deck gesehen.“ „Wo er vor einer Weile war, will ich nicht wissen“, sagte Hasard. „Also, wo ist er?“ „Blacky, such den Profos!“ befahl der Decksälteste. Blacky trollte sich. Er ging in den Mannschaftsraum, suchte in dem Zwischendeck und kehrte wieder zurück. „Keine Ahnung, wo Ed steckt.“ Batuti löste sich vorn Schanzkleid. „Ah, Batuti haben Profos gehen sehen auf Steg“. sagte er. „Profos bestimmt zu Nordmann gehen, auf schwarzes Segler.“ Matt Davies entsann sich jetzt auch, daß der Profos vor einer Weile über das Schanzkleid gesprungen war und eine ganze Weile vor der „Isabella“ gestanden hatte. Hasard runzelte die Stirn und blickte zu „Eiliger Drache über den Wassern“. Aber dort rührte sich kaum etwas an Deck. wenn
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man von den beiden schläfrigen Wachen absah. Hasard wollte sich gerade abwenden. Der Profos würde schon wieder auftauchen, vielleicht hatte er wirklich nur einen kleinen Abstecher zu dem schwarzen Schiff unternommen und trank mit dem Wikinger eine Flasche leer. Soll er, dachte der Seewolf. Ihnen drohte keine Gefahr mehr, weshalb sollte sich der Profos nicht mal einen kleinen Schluck genehmigen? Irgendwie paßte es allerdings nicht zu Ed, daß er solange wegblieb, denn wie Batuti sagte, war er gleich anschließend nach Hasard auf den Steg gegangen. Doch dann vergaßen sie den Profos wieder, denn auf der Pier tat sich etwas. Zwei Wagen, gezogen von den kleinen zähen Pferden, die es hier gab, tauchten auf und näherten sich auf dem staubigen Weg neben der Pier der „Isabella“. Gleich darauf bogen noch einmal zwei Wagen um die Ecke. Auch sie hielten auf die „Isabella“ zu. „Was hat denn das wieder zu bedeuten?“ fragte der Kutscher. „Das sieht doch nach Reis aus, oder täusche ich mich?“ Hasard kniff die Augen zusammen. „Nein, du täuschst dich nicht. Kutscher“, sagte er langsam, „die bringen tatsächlich eine Ladung Reis.“ Der Kutscher strahlte über das ganze Gesicht. „Dann haben sie mich auf dem Markt also doch verstanden“, meinte er zufrieden. Aber so ganz klar war ihm das doch nicht, denn keiner der chinesischen Händler hatte auch nur ein Wort kapiert. Immer wenn der Kutscher auf Früchte oder anderes Zeug zeigte, dann hatten ihn die Händler äußerst freundlich angegrinst und sich immer wieder tief vor ihm verneigt. Aber sie begriffen nicht, was er wollte und boten ihm nur kleine Bastkörbe an. Und jetzt sollten sie das plötzlich kapiert haben? Hasard blickte einmal mißtrauisch auf den stolzgeschwellten Kutscher, dann wieder auf die Karawane, die da gemütlich und von vielen Leuten begleitet heranzockelte.
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„Wenn die deine krausen Worte verstanden haben, Kutscher“, sagte er verwundert, „dann fresse ich die beiden Ladungen roh und hintereinander. Das gibt es doch nicht!“ „Und ob es das gibt“, sagte der Kutscher. „Die haben mich ganz sicher verstanden.“ „Vielleicht gilt das gar nicht uns“, sagte Matt Davies und schwächte die Freude des Kutschers damit erheblich ab. „Die können das Zeug genauso gut auf irgendeine von den vergammelten Dschunken bringen. Wäre ja auch gelacht, wenn ausgerechnet du den Chinesen was verklickern könntest.“ „Was heißt hier ausgerechnet ich, du Stint?“ schrie der Kutscher empört. „Kannst du es vielleicht besser, he?“ „Ruhe“, fuhr der Seewolf dazwischen, „die halten tatsächlich auf uns zu.“ Daran bestand kein Zweifel mehr. Der Zug — mittlerweile waren es jetzt drei Wagen — bewegte sich weiter und kam schließlich dicht vor der „Isabella“, allerdings auf der jenseitigen Seite der Pier, zum Stehen. Hasard und die Seewölfe zählten fast zwanzig ärmlich gekleidete Lastenträger, die sich grinsend vor dem Schiff verbeugten. Einer faßte sich schließlich ein Herz und ging mit trippelnden Schritten bis an die Bordwand. Beim Grinsen entblößte er lange gelbliche Zähne. Er dienerte endlos lange, sah dann hoch und grinste wieder. „Lü-scha, kum, hot-Cha“, zählte er auf. „Hier Schiff!“ Das war alles, was er auf Portugiesisch hervorbrachte, aber es gab nicht den geringsten Zweifel daran, daß er die Absicht hatte, alles auf die „Isabella“ zu verfrachten. Hasard war immer noch fassungslos. Er sah das impertinente Grinsen des Kutschers, der sich so gab, als hätte er sein ganzes Leben lang keine andere Sprache besser beherrscht als ausgerechnet Chinesisch. Hasard dienerte der Höflichkeit halber zurück und wunderte sich einmal mehr
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über die Chinesen, die das alles verstanden hatten. Sofort setzte eine Emsigkeit ein, die ihn fast erschreckte. Die Lasten-träger begannen damit, Reis in Jutesäcke zu schaufeln und zum Schiff hinüberzutragen. „Du bist ein Prachtkerl, Kutscher“, sagte der Seewolf. Der Kutscher grinste immer noch stolz. „Ich bin gespannt, wie du die Wagenladung Reis schaffen willst, Sir“, sagte er. „Aber ich entbinde dich gern von dem Versprechen. Schließlich bin ich ein Mann von Welt.“ Hasard ging lächelnd zu den Wagen hinüber. An Bord wurde der vordere kleine Laderaum geöffnet, und die Seewölfe nahmen den Kulis die Säcke ab, um sie unten zu verstauen. Als Hasard die Wagen erreichte, lümmelten auf dem schwarzen Segler die Kerle herum und wunderten sich. Thorfin Njal war allerdings nicht zu sehen. „Schickt mal unseren Profos zurück!“ rief Hasard über die Schulter dem BostonMann zu, der ihn verständnislos anblickte. Der Seewolf nahm an, daß man Carberry Bescheid sagen würde und hielt die Angelegenheit damit für erledigt. Dann sah er sich die Ware an und staunte immer noch fassungslos, daß dieses alles der Kutscher mit seinen verzweifelten Handbewegungen, seinem unverständlichen Geschrei und seinen merkwürdigen Gesten besorgt haben sollte. Es ist nicht zu fassen, dachte er. Der kleine Kerl mit den langen gelben Zähnen umdienerte ihn immer wieder grinsend und sprach auf ihn ein. „Jaja“, sagte der Seewolf, „ich verstehe ja doch kein Wort, quassel ruhig weiter!“ Die Chinesen legten eine unheimliche Emsigkeit an den Tag. Sie schaufelten, schleppten, flitzten herum. Hasard besah sich den zweiten Wagen. Dort befand sich Tee in kleinen Säcken, roter und grüner, gut abgepackt und so viel, daß sie ihn später in England gut verkaufen konnten, wenn sich das Teetrinken dort erst einmal herumgesprochen hatte.
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Vor dem letzten Wagen traf den Seewolf fast der Schlag. Ihm entströmte kein herrlicher duftender Geruch. Dort lagen große Ballen aus jenem seidigen Stoff, wie ihn die Mandarine oder andere höhergestellte Persönlichkeiten zu tragen pflegten. Verständnislos sah er den Händler an. Aber der grinste nur, murmelte etwas und zeigte seine gelben Rattenzähne. Hasard kehrte an Bord zurück. Insgeheim wunderte er sich immer noch darüber, warum sich der Profos nicht blicken ließ, aber die neuen Umstände ließen den Profos etwas in den Hintergrund treten. Hasard nahm sich nur vor, ihn später gehörig anzupfeifen. „Wie, bei allen Teufeln, ist es dir denn gelungen, die Seide zu bestellen, Kutscher?“ fragte Hasard. „Seide, Sir?“ „Ja, teure Stoffe, aber die beste Qualität. Wie hast du ihnen das erklärt, Mann?“ Was muß mir so 'rausgerutscht sein“, stotterte der Kutscher. „Oder der Kerl hat mich falsch verstanden. Wolltest du denn Seide, Sir?“ „Ja, natürlich, das ist sicher ein begehrter Artikel, der besonders die Frauen erfreuen wird.“ Jetzt war der Tee an der Reihe, der ins Schiff getragen wurde, und damit stieg der Kutscher in der Hochachtung der anderen ganz beträchtlich. Jeff Bowie sah ihn überrascht an. „Man merkt eben doch, daß du mal bei einem studierten Mann der Kutscher gewesen bist“, sagte er anerkennend. „Aber das erklärt noch lange nicht, daß du auch Chinesisch kannst.“ „Man muß sich eben auf die Leute einstellen können, das ist alles. Ich kann das eben“, sagte der Kutscher hoheitsvoll und sah verdattert zu, wie jetzt auch die ersten Seidenballen an Bord getragen wurden und in dem gefräßigen Bauch des Schiffes blitzschnell verschwanden. Seide, dachte er. Nicht im Traum hatte er davon etwas gesagt. Aber weshalb sollte er sich nicht in dem Gefühl sonnen, ein Halbstudierter zu sein!
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Big Old Shane hatte unterdessen die von Ferris Tucker zersägten Silberbarren gebracht. Es waren eckige Scheiben reines Silber, für die Chinesen ein beliebtes Zahlungsmittel. „Mal sehen, ob die Brüder feilschen“, sagte Hasard. „Bring mir den Kerl mit den langen Zähnen her.“ Die letzten Ballen verschwanden im Schiff. Tee und Reis waren ebenfalls verstaut. Der kleine Chinese mit den langen Zähnen dienerte sich grinsend an Bord. Hasard ließ ihn die Silberstücke sehen und reichte sie ihm. Aber der Chinese lächelte jetzt nicht mehr. Sein Gesicht war ernst, und er wirkte ein wenig entsetzt. „Zu wenig?“ fragte Hasard. Der Kleine schüttelte den Kopf. „Zu viel etwa?“ Der Händler verstand ihn nicht. Mit beiden Händen schob er das Silber weit von sich und schüttelte nur immer wieder den Kopf. „Kutscher!“ rief Hasard. „Du kannst dich doch so gut mit den Burschen verständigen. Was will er? Gold? Perlen? Oder etwas anderes tauschen?“ „Ich werde ihn fragen!“ „Willst du Gold oder Perlen oder was anderes?“ fragte der Kutscher laut. Hasard stand da, die Arme in die Hüften gestemmt, und sah auf den Kutscher, der sich aufplusterte und immer lauter brüllte, als der andere ihn nicht verstand. „Du Hammel“, sagte der Seewolf andächtig, „du ausgesprochener Riesenhammel! Das kann ich ihn selbst fragen, und wenn du noch lauter brüllst, versteht er erst recht nichts mehr. Der Kerl ist ja schon ganz verängstigt.“ Der Händler zuckte unter den lauten Fragen zusammen und fing wieder an zu dienern. Hasard scheuchte den Kutscher zur Seite und widmete sich wieder dem Chinesen. Er holte zwei Perlen aus der Tasche, zeigte sie ihm, und als der Mann immer wieder ängstlich den Kopf schüttelte, versuchte er es mit Goldstücken.
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An Bord wuchs die Ratlosigkeit, als der Händler alle gängigen Zahlungsmittel ängstlich ablehnte. Der Seewolf seufzte und stieß die Luft aus. „Jetzt bin ich mit meiner Weisheit am Ende“, gestand er. „Ich weiß nicht mehr weiter. Was können wir dem Burschen denn noch anbieten? Die Ladung ist doch sehr wertvoll!“ Das wußte allerdings keiner. Hasard versuchte es erneut, deutete auf den Laderaum, auf die Pferde, die Leute, die schon wieder bei den Wagen standen, und dann auf das Silber. Der Chinese fischte in seinem Kittel herum, fand ein kleines, zerfleddertes Stück Pergament und starrte auf die seltsamen Zeichen, die darauf standen. Er brauchte lange, um sie zu entziffern. Wahrscheinlich konnte er nicht schreiben und nur ein paar Zeichen lesen. „Ch'ing-chao Li-Hsia“, las er vor. Die Männer blickten sich an, niemand wußte etwas mit den Worten anzufangen, und als sie Sich noch ansahen, wiederholte der Händler die Worte. Diesmal etwas langsamer. Hasard schlug sich vor die Stirn. „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“, sagte er, „das bedeuten diese Worte, die sich so schlecht merken ließen.“ „Die Chinesin hat das besorgt?“ fragte Matt Davies, und dabei traf den erbleichenden Kutscher gleichzeitig ein vernichtender Blick, der es in sich hatte. Der Kutscher kroch in sich zusammen und wurde klein und häßlich. „Ja, natürlich! Deshalb nimmt dieser Bursche auch kein Geld von uns an, weil sie es ihm verboten hat.“ Der Seewolf war gerührt. Diese Ladung war ein Abschiedsgeschenk der Chinesin an die Seewölfe. Er lächelte verstehend und wiederholte den Namen, bis der Chinese endlich grinste. Hasard wollte ihm wenigstens als Anerkennung noch ein paar Silberstücke in die Hand drücken, doch der Bursche hatte es jetzt eilig, von Bord zu gehen.
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Höflich, aber bestimmt lehnte er alle Geschenke ab, schnatterte etwas und entfernte sich zu den Wagen. Innerhalb kürzester Zeit war der ganze Spuk vorbei. „Ein phantastisches Mädchen“, sagte Big Shane gerührt. „Wer hätte das gedacht!“ „Ein Prachtkind“, sagte auch Matt Davies, und die anderen nickten in Erinnerung an die kleine Chinesin. Dafür hackte jetzt alles auf dem Kutscher herum „Du und gebildet“, sagte Jeff Bowie, „du und ein Mann von Welt, was? Die Zopfmänner haben von deinem blöden Gefasel kein einziges Wort kapiert. Deinem Händewedeln nach dachten die bestimmt, du wolltest dich in China beerdigen lassen, Mann!“ „So ein lausiger Stint“, sagte auch Smoky. „Spielt sich hier als Dolmetscher auf und kann nicht mal auf Chinesisch einen Furz lassen, der Kerl.“ „Ich habe jedenfalls mein Bestes versucht“, verteidigte sich der Kutscher. Hasard legte die Angelegenheit mit ein paar Worten bei. „Laßt den Kutscher in Ruhe, er hat es nur gut gemeint. Jeder kann sich mal irren, er hat wirklich mit Händen und Füßen geredet.“ Er sah zu dem schwarzen Schiff hinüber und entdeckte Juan und den Boston-Mann. Dann suchte er nach dem Profos, aber er sah ihn noch immer nicht. „He, Boston-Mann!“ rief er laut hinüber. „Ich sagte dir doch, du solltest den Profos zurückschicken. Was tut der denn so lange bei euch? Wo ist er?“ „Carberry war nicht hier!“ rief der BostonMann zurück. „Er ist auch jetzt nicht auf dem Schiff, sonst wüßte ich es. Aber er ist vorhin hier vorbeigegangen, ein paar Männer haben ihn gesehen.“ Hasard winkte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. An seinem Hals schwoll eine kleine Ader an. „Was hat sich denn der Profos eigentlich dabei gedacht“, wetterte er los. „Verschwindet, läßt sich nicht mehr blicken und ist einfach verschollen.“
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Matt Davies fiel plötzlich etwas „Ed hatte doch seit zwei Tagen schon ein paar Kerle im Auge, die immer in der Nähe herumstrolchten, Sir. Und ganz am Ende der Pier stand ein Faß, das er untersuchen wollte. Er muß also irgendwo dort hinten sein.“ Hasard entsann sich der Angelegenheit jetzt auch. Carberry hatte ihm von den herumstrolchenden Chinesen berichtet und den Männern eingeschärft, ein waches Auge zu haben, denn er nahm an, daß die Burschen das Schiff beklauen wollten. „Hast du ihn über die Pier gehen sehen, Matt?“ „Ja, er stand eine Weile hier herum, dann ging er weiter, blieb wieder stehen und sah sich immer wieder um. Keiner hat sonderlich darauf geachtet, und als er weg war, fiel es auch nicht weiter auf. Jeder nahm an, daß Ed gleich zurückkehren würde.“ „Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen“, sagte Hasard. „Das ist nicht Carberrys Art, still und heimlich zu verschwinden.“ Ja, der Profos kannte seine Pflicht, dachten sie. Dem würde es wirklich nicht einfallen, einfach wegzugehen. Zumindest hätte er etwas gesagt. . Vermutlich war er ein Stück die Pier entlang gewandert, und dann hatte es einen Zwischenfall gegeben, etwas Unvorhergesehenes war passiert, sonst hätte er sich längst gemeldet. „Smoky, Blacky, ihr geht mit!“ sagte Hasard. „Die anderen passen gut auf. Shane vertritt mich solange. Los, beeilt euch!“ Blitzschnell sprangen die Männer auf den Steg und liefen los. 5. Schon zum zweiten Male hatten die Halunken die Lunte immer dann ausgewechselt, wenn Ed glaubte, jetzt würde das große Pulverfaß mit ihm in die Luft fliegen.
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Sie verstanden sich ausgezeichnet darauf, an seinen Nerven zu sägen. Dabei grinsten sie ihn jedesmal hinterhältig an. Bäche von Schweiß liefen ihm über den Körper. Seine Glieder fühlten sich taub an, das Holz des Fasses drückte in sein Kreuz. Seit einiger Zeit hatten auch wieder die bohrenden Schmerzen in seinem Schädel eingesetzt, und ab und zu tanzten vor seinen Augen feurige Ringe. Jetzt war die Lunte wieder weit heruntergebrannt, und es sah nicht so aus, als würden sie sie noch einmal auswechseln. Carberry merkte es daran, daß sie sich noch weiter zurückgezogen hatten, weiter als fünfzig Yards, fast die doppelte Strecke. Wenn er die Augen verdrehte, konnte er die Lunte sehen, die qualmte und rauchend vor sich hin glomm. Trotz der Entfernung sah er auch die Gesichter der Kerle, die ihre Rache bis zur Neige auskosteten und ihm aus sicherer Entfernung höhnisch zuwinkten. Der eiserne Profos hatte sich schon in vielen scheußlichen Situationen befunden. Einmal war er über Bord gestoßen worden und hatte bereits mit seinem Leben abgeschlossen, als man ihn dennoch fand. Einmal hatten die Dons ihn geschnappt und gefoltert. Jedes Mal war er entkommen oder befreit worden. Aber jetzt? Er sah keinen Ausweg, es gab keine Hilfe, obwohl seine Kameraden nicht weit waren. Erreicht der Funke das Pulver, dann geht es hoch, da beißt keine Maus den Faden ab, dachte er. Das Pulver war trocken und hochexplosiv. Wahrscheinlich bauten sie daraus ihre teuflischen Brandsätze. Er schrak zusammen, als es lauter knisterte. Der Wind fachte die Glut der Lunte an und ließ sie hellrot aufleuchten. Carberry zog rein instinktiv das Genick ein, obwohl das nichts nutzen würde. Jeden Augenblick erwartete er die brüllende Detonation. Würde er sie überhaupt noch hören? Er glaubte es nicht. Wahrscheinlich ging alles viel zu schnell Ein riesiger Blitz würde
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zum Himmel zucken, eine Stichflamme, dann ein wildes Brüllen. Und dann? Dann war er längst auf dem Weg zur Hölle und würde dem Satan mit Donnergetöse direkt um den Hals fliegen. Ed grinste hart. Sein narbiges Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken. Mühsam wandte er den Kopf etwas nach links. Er sah die Chinesen rennen. Alle sieben hatten es plötzlich furchtbar eilig zu verschwinden. Da wußte er, daß seine Zeit gekommen war. Wieder zog er das Genick ein und sah, wie die Lunte wild aufglühte und ihre Funken sich anschickten, das Pulver zu erfassen. Er sah aber auch noch etwas anderes. Der Seewolf stürmte über den Bohlensteg, gefolgt von Blacky und Smoky. Die Chinesen sprangen ins Wasser und rannten nach verschiedenen Richtungen in wilder Angst davon. Zu spät, dachte Ed. Es ist ein paar Sekunden zu spät. Sahen die Kerle denn nicht, daß ihm das Faß jeden Augenblick um die Ohren fliegen würde? Er bäumte sich auf und brüllte ihnen eine Warnung zu, aber der Seewolf störte sich nicht daran. Auch die anderen liefen weiter, genau auf das Faß zu, das jeden Moment explodieren mußte. „Bleibt stehen!“ schrie der Profos, so laut er konnte. „Bleibt stehen und rührt euch nicht!“ Nein, es langt, wenn einer zur Hölle fährt, dachte er wie betäubt. Die anderen sollten nicht mit auf diese Höllenreise. „Bleibt stehen!“ schrie er noch einmal aus Leibeskräften. Dann packte ihn die Wut, eine unbeschreibliche Wut. Zum Teufel! Sie sahen doch, was los war! Waren die Kerle denn verrückt? Sie konnten ihn nicht mehr retten. Wenn den Profos die hitzige Wut packte, veränderte sich meist etwas in der Welt. Dann gingen ganze Schiffe einschließlich der Besatzungen unter, dann kniff sogar der Teufel den Schwanz ein und nahm
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Reißaus, bis der Profos sich wieder beruhigte. Und dann verfinsterte sich vor Angst sogar die Sonne. Deshalb wog das Faß auch keine zwei Zentner mehr, und der Steg bestand nicht aus dicken Bohlen. Und die Stricke, die ihn hielten, waren nichts anderes als dünne Bändsel. Mit einem brüllenden Schrei stemmte Carberry sich hoch. Hinter ihm knirschte es, als sich die dicke Bohle aus ihrer Verankerung löste, das Holz zerbarst und Ed sich mit einem Ruck erhob, das schwere Faß auf dem Rücken. Der ganze Steg erzitterte wie unter einem heftigen Erdstoß. Der Seewolf blieb so abrupt stehen, daß Smoky hart gegen ihn prallte. Was vor seinen Augen ablief, hielt er einfach nicht für möglich. Solche gigantischen Kräfte besaß kein Bann. Er hörte und sah Holz splittern, Taue zerreißen und vernahm Eds mörderisches Brüllen. Carberry hatte ein Riesenfaß hinter dem Hals hängen, es baumelte auf seinem Rücken und wurde durch die heftige Bewegung nach vorn gerissen, als wäre es ein Spielzeug. Mit einem mächtigen Satz sprang der Profos in das flache dreckige Hafenwasser. Das Wasser war flach, und Ed donnerte, das Faß voran, mit voller Wucht in den Sand. Eine riesige Fontäne stob hoch. Das Faß flog auseinander, als hätten riesige Schmiedehämmer darauf geschlagen. Die Dauben spritzten, zusammen mit schwarzgrauem Pulver, nach allen Seiten davon. Der Seewolf hatte gerade noch die glimmende Lunte gesehen und erwartete die brüllende Explosion. „Mein Gott“, hörte er Smoky wie aus weiter Ferne schreien. „Das gibt es gar nicht!“ Hasard sprang, so wie er war, über den Steg und landete neben Carberry im flachen Wasser. Aber der Profos kämpfte sich schon wieder hoch, fluchend, brüllend und um sich tretend. Die Lunte war längst erloschen,
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aber er tobte zwischen den Dauben herum, schüttelte sich und schlug die Holzreste kurz und klein. Erst dann sah er aus blutunterlaufenen Augen hoch. „Himmel!“ brüllte er verärgert. „Beinahe wärt ihr in die Luft geflogen. Habt ihr mich denn nicht schreien hören?“ Hasard schüttelte nur den Kopf. Er ergriff den Profos beim Arm und wollte ihm aufhelfen. „Nicht nötig“, sagte Carberry etwas versöhnlicher. „Ich schaffe das allein.“ „Wenn wir stehengeblieben wären“, sagte Hasard ernst, „dann hättest du vermutlich nie die Kraft aufgebracht, ins Wässer zu springen. Du hast mehr an unsere Sicherheit gedacht als an deine eigene.“ Für Carberry war es typisch, daß er sich zuerst nach den Chinesen umsah, als er den Steg zusammen mit dem Seewolf erklommen hatte. „Habt ihr gesehen, wohin diese Würstchen gelaufen sind?“ fragte er. „Hast du jetzt keine anderen Sorgen, Profos?“ In Eds narbigen Gesicht erschien ein Grinsen. Er sah scheußlich aus. Triefend naß stand er da, eine mächtige Beule am Schädel, und hielt grimmig Ausschau nach den Kerlen, die ihn hatten zur Hölle schicken wollen. „Gehen wir zurück“, sagte er trocken, „wenn ich die Halunken doch noch erwische, werden sie den Tag ihrer Geburt verfluchen, so wahr ich Edwin Carberry heiße.“ „Wie ist das passiert?“ fragte Blacky. „Sieben Kerle waren es“, berichtete Ed, „und sie haben mir unter dem Steg aufgelauert, einfach die Beine weggerissen, verstehst du? Dann kriegte ich einen Stein an den Schädel, und weg war ich.“ Hasard sah den Profos, der mit wütenden weitausholenden Schritten über die Bohlen marschierte, von der Seite an. „Es muß doch einen Grund geben, warum sie dich überfielen, Ed“, sagte er verwundert. „Hast du sie provoziert?“
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„Nein, überhaupt nicht. Sie lungerten nur so herum, aber den Grund erfuhr ich später.“ „Konnten die denn deine Sprache verstehen?“ fragte Smoky. „Natürlich nicht. Und ich ihre auch nicht. Sie haben es mir vorgeführt, mit Händen und Füßen.“ Alle drei blickten ihn verwundert an. „Als Siri-Tong geköpft werden sollte, befreiten wir sie“, fuhr der Profos fort. „Und dann gab es den großen Kampf, die Schlacht am Hafen. Dabei habe ich einen ihrer Brüder getötet, und deshalb wollten sie sich rächen. In dem Faß war Schießpulver, ich habe es untersucht, weil ich annahm, die Kerle hätten mit diesem Faß etwas vor.“ „Chinesische Rache“, sagte Hasard leise. „Die werden dich auch noch weiterhin verfolgen, solange wir hier sind.“ „Darauf warte ich nur“, sagte Ed mit schmalen Lippen. „Ich werde jeden einzelnen dieser Bastarde in die Culverinen stopfen und über den Hafen feuern.“ Mittlerweile hatten sie den schwarzen Segler erreicht. An Deck waren nur der Bootsmann Juan und Mike Kaibuk zu sehen. Aber aus dem Inneren waren Hämmern und Sägen zu hören. Dort wurde vermutlich etwas ausgebessert. „Da ist er ja“, sagte der Bootsmann, als er Carberry sah. „Was ist denn los, Profos. wie siehst du denn aus?“ Ed blieb stehen und grinste. „Was soll denn passiert sein?“ fragte er zurück. „Na, die Beule am Schädel, und klatschnaß bist du auch!“ „Ach das!“ Der Profos winkte ab. „Ich habe da hinten geangelt“, sagte er trocken, „da, wo der Steg aufhört. Und dann bin ich ausgerutscht und genau auf einen Stint gefallen.“ Juan riß ungläubig den Mund auf. „Auf einen Stint?“ fragte er fassungslos. „Ja, gibts denn hier auch Stinte?“ „Klar, knochenharte“, versicherte Ed. „Ganze Stintfamilien gibt's hier, und die sehen aus wie die Chinesen.“
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Das kapierte der Bootsmann nicht, und so blieb er immer noch mit offenem Mund an Deck stehen und sah den Männern nach, bis sie wieder auf ihrem Schiff waren. Auf der „Isabella“ wurde Ed ebenfalls wie ein Geist angestarrt, und tausend Fragen schwirrten ihm um die Ohren. Er fühlte sich wieder pudelwohl und wehrte den Kutscher ab, der sich die Beule mit besorgter Miene ansah. Aber Carberry mußte erst seine Geschichte erzählen, und das tat er denn auch, bis es ihm selbst zuviel wurde und er die ganze leidige Angelegenheit mit einer unwirschen Handbewegung abtat. Batuti hörte mit ernstem Gesicht zu, nickte und sagte dann: „Wenn Profos mit Faß durch Luft fliegen, dann Zopfmann staunen. Größtes Brandsatz, was in China gibt. Selbst Großes Chan sich viel wundern. Profos-Brandsatz fliegen bis nach Peking.“ Daraufhin brach ein tosendes Gelächter aus, dem nur Batuti nicht zustimmte, denn er hatte es ernst gemeint. „Laß doch endlich die verdammte Beule“, sagte Ed zu dem Kutscher, der immer wieder seinen Schädel befingerte. „Bis heute abend ist die von allein verschwunden.“ Doch der Kutscher ließ das nicht gelten. „An Deck kannst du brüllen und bestimmen, soviel du willst“, sagte er energisch. „Für die ärztliche Kunst bin ich zuständig. Und wenn ich sage, die Wunde wird gereinigt, dann wird sie gereinigt, Profos. Oder willst du vielleicht eines Tages verrückt werden?“ „Verrückt?“ fragte Ed. „Jawohl, verrückt! Die ersten Anzeichen sind schon da.“ Carberry musterte den schmalbrüstigen Kutscher mißtrauisch. „Und wie äußert sich das?“ „Es fängt damit an“, erklärte der Kutscher todernst, „daß man seine Wunden nicht behandeln läßt. Das ist der Anfang, später wird es dann noch schlimmer, dann beleidigt man die Leute, die einem helfen wollen.“
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„So ist das also“, meinte Ed. „Na, dann fang mal an, du Wunderheiler!“ Etwas später marschierte Carberry mit einem kleinen Verband um den Schädel herum und fühlte sich gar nicht mehr wohl. Hasard hatte sich inzwischen noch einmal zu dem schwarzen Segler begeben. Er wußte nicht, ob die Korsarin mit dem Boot gefahren war oder ob sie den Landweg genommen hatte. Er wußte nur, daß sie Gold und Perlen bei sich hatte. An Deck traf er den schwitzenden Wikinger. „Wir bessern aus“, sagte Thorfin. „Im Laderaum leckt es ein wenig, und da will ich gleich vorbeugen.“ Der Seewolf erzählte dem Wikinger von dem Vorfall mit den Chinesen an der Pier, den niemand bemerkt hatte. „Verdammt!“ rief Thorfin. „Aber du willst doch damit sicher etwas anderes sagen, Seewolf.“ „Ich denke an die Rote Korsarin“, erwiderte Hasard, „und daran, daß sie mit einem Vermögen durch das schlimmste Viertel von Shanghai spaziert. Wir haben eben erlebt, daß diese Kerle ihre Rache nie vergessen, sondern nur aufschieben, und die Korsarin war immerhin die Hauptperson bei dem Drama.“ „Du glaubst, daß man ihr ebenfalls auflauern wird?“ „Möglich wäre es doch, oder nicht?“ „Vielleicht hast du recht, Seewolf. Aber sie ist selbst fast eine Chinesin und kennt sich hier gut aus.“ Thorfin blickte den Seewolf nachdenklich aus seinen graublauen Augen an. Dann nickte er verstehend. „Du denkst an Fei-Lin“, sagte er dann. „Ich denke mehr an seinen Bruder, der noch lebt.“ „Bei Odin. Dieser Hund wird genauso nachtragend sein wie alle anderen. Er hat Zeit, er kann warten, und niemand kennt ihn.“ „Das meinte ich, Thorfin. Wir sollten ihr einen Mann nachschicken, oder ich gehe selbst.“ „Sie hat es ausdrücklich verboten“, erinnerte der Wikinger den Seewolf. „Du
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weißt, wie sie sich in der letzten Zeit verändert hat. Ich würde es nicht riskieren.“ Das stimmt allerdings, dachte Hasard. Sie hatte jegliche Begleitung fast schroff abgelehnt. Vielleicht schämte sie sich vor den anderen, daß ihre Mutter in ärmlichen Verhältnissen lebte. Wer konnte das schon so genau wissen? „Nun gut, ich will ihr nicht nachlaufen, sie wird sich allein zurechtfinden. Sie hat lange und ausführlich mit der kleinen Chinesin gesprochen, die ihre Mutter gefunden hat. Aber ich schlage vor, du schickst wenigstens einen Mann im Boot zu dem Wasserwohngebiet hinüber. Vielleicht kann er sich zwischen den Sampans so verbergen, daß er nicht bemerkt wird.“ „Das werde ich tun, zumindest versuchen“, versprach der Wikinger. Der Boston-Mann, der zuverlässigste und ehrlichste Kerl, den sie an Bord des schwarzen Seglers hatten, übernahm die Aufgabe. Etwas später, als Hasard an Bord zurückkehrte, ruderte der Boston-Mann los. Seine goldener Ohrring schimmerte und blitzte, wenn ihn ein Sonnenstrahl traf. 6. Je mehr sich die Rote Korsarin dem Wasserwohngebiet näherte, desto stärker spürte sie ihr Herz klopfen. Vertraute Gerüche aus ihrer Kindheit umgaben sie und drangen von allen Seiten erinnerungsschwer auf sie ein. In der Ferne sah sie die Sampans liegen, ein unübersichtliches Gewirr aus faulenden stinkenden Wohnbooten, die in einer Brühe lagen, die man kaum noch als Wasser bezeichnen konnte. Vereinzelt blühten in diesem Gewässer herrliche Lotosblumen. Aber sie überlebten den Tag nicht. Nachdem der Lotos seine Blüte geöffnet hatte, wurde er von gierigen Händen aus der schillernden Brühe gerissen und verzehrt. Hier lebten die Ärmsten der Armen, Leute, die nicht in der Lage waren, ihre spärlichen
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Steuern in Form von Hanf, Seide, Silber oder Tüchern zu bezahlen. Für sie gab es keine Gelegenheit mehr, diesem Elend jemals zu entrinnen. Wer einmal in den Sampans lebte, würde dort auch sterben, so sagte man in Shanghai. Siri-Tong ging weiter, ihr Blick war verklärt und in die Ferne gerichtet, und mehr als einmal blieb sie stehen, weil der Weg über Land teilweise nicht passierbar war. Nach jedem Regen hatte sich das Wasser auf dem Lehm gestaut und floß nicht mehr ab. Diese Regenpfützen brachten vielen den Tod, so unbedeutend sie auch aussehen mochten. Aber hier brüteten in der warmen Sonne die Eier der Stechmücken, die kleinen harmlos aussehenden Larven, deren Stiche später Fieber und Tod brachten. An und in den Pfützen spielten nackte, dreckige und verhungert aussehende Kinder. Sie prügelten sich um eine tote Ratte, die sie wohl erschlagen hatten, um sie nach Hause zu bringen. Als sie die Korsarin erblickten, ließen sie die räudige Ratte fallen und näherten sich. Kinderaugen bettelten sie an, magere Ärmchen reckten sich ihr entgegen, Münder mit schwarzen Zahnstummeln schrien nach Essen. Siri-Tong kannte den alten Grundsatz, der in den meisten Provinzen des Großen Chan galt und der da lautete: Gibst du bettelnden Kindern Geld, werden sie wie Kletten an dir hängen, und sie werden immer mehr, sie lassen dich nicht mehr los, und sie werden dich verfluchen und mit ihren Krankheiten anstecken, denn allen kannst du nicht geben. Die Kinder hatten den Blick alter Leute, auf ihren ernsten Gesichtern lag nie die Andeutung eines Lächelns. Eben waren es nur drei oder vier gewesen, die sich ihr in den Weg stellten, jetzt hatte sich ihre Anzahl auf geheimnisvolle Art verdoppelt. Sie schienen aus dem Nichts aufzutauchen. Siri-Tong blieb stehen, sah auf die halbverhungerten Kinder und fühlte, wie eine Welle des Mitleids sie überrollte.
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„Frau, gib uns was zu essen!“ tönte es von allen Seiten. „Frau, wir haben Hunger, unser Vater ist tot, die ehrwürdige Mutter ist krank. Wir haben Hunger, Frau!“ Nein, sie brachte es nicht über sich, an der Armut der kleinen unschuldigen Kinder vorbeizugehen, mochte das alte Sprichwort lauten, wie es wollte. Schon wollte sie zu einigen Silberstücken greifen, als sie die armselige Hütte eines Händlers sah, der auf einem zerfallenen Bambusstuhl in der Sonne hockte. Siri-Tong drehte um und ging auf ihn zu. Die Kinder folgten ihr, bettelnd, fordernd, sie immer wieder an den Kleidern anfassend. Der alte Mann stand auf, verbeugte sich und dienerte. „Hast du Reis?“ fragte die Korsarin in ihrer Landessprache. „Vier Sack Reis, Frau“, sagte der Alte. „Ich möchte sie dir abkaufen. Hier ist Silber, es wird für die vier Sack reichen.“ „Es ist zuviel, Frau“, sagte der Alte dienernd. „Behalte den Rest. Verteile den Reis an die Kinder, aber verteile ihn gut, hast du verstanden? Ich werde mich später davon überzeugen, wenn ich zurückkehre.“ „Gütige Frau“, murmelte der Alte. „Es soll so geschehen, wie du es befiehlst.“ „Der Mann wird euch zu essen geben“, erklärte Siri-Tong der hungrigen Meute, die brüllend die Hütte stürmte und den Alten von allen Seiten belagerte. „Du bist ein Engel, Frau“, sagte der Alte. „Du erbarmst dich der Not dieser Kinder.“ Siri-Tong nickte bitter und ging weiter. Kein einziges Kind folgte ihr mehr. Die dachten jetzt nur noch an den Reis, den der Alte mit den Händen austeilte. Als die Korsarin nach knapp zweihundert Yards einen Blick über die Schulter warf, wimmelte es um den alten Laden wie in einem Ameisenhaufen. Trauben von Kindern balgten sich dort herum, und es schienen immer mehr zu werden. Wieder mußte sie eine schmutzig-gelbe Riesenlache umgehen, aus der ganze Schwärme von Stechmücken hochstoben.
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Sie blieb stehen und orientierte sich. Rechts von ihr gab es verfallene Bretterbuden, vor denen apathische Leute saßen, die ihr kaum nachblickten. Der breite wässrige Weg war mit Unrat, Abfällen und menschlichen Exkrementen übersät. Die Luft stand hier wie eine Mauer, grünschillernde Fliegen summten in der Luft. Links befand sich das Wasserwohngebiet, wie die Leute die Ansammlung schmutziger Boote und Flöße nannten. Ab und zu ragte ein morscher Holzsteg ins Wasser. Daran waren Wracks vertäut, Flöße, -die nur ein zerschlissenes Segel als Dach hatten, und Behausungen, die absolut menschenunwürdig waren. Es stank entsetzlich nach fauligem Wasser, Abfällen und Tierkadavern, die in der Sonne verwesten. Der anfangs vertraute Geruch des Hafens hatte sich längst zu einer stinkenden Kloake gewandelt. Der Beschreibung nach wußte Siri-Tong, wo sie zu suchen hatte. „Flüssiges Licht“ und auch Hasard hatten es ihr genau erklärt. Zögernd betrat Siri-Tong den Steg, der unter ihrem leichten Gewicht sofort nachgab und sich tief auf das Wasser senkte. Eine Wasserratte schwamm eilig davon, in der stinkenden Brühe schwamm der angefressene Kadaver einer aufgedunsenen Katze. Die Alten auf den Booten blickten kaum hoch. Sie hatten ausgemergelte, verhärmte Gesichter, und die meisten waren krank. Siri-Tong überquerte zaghaft ein Boot nach dem anderen, sprang von einem schwankenden Steg zum nächsten und blieb immer wieder stehen, um sich in diesem Gewirr zu orientieren. Bei einer älteren Frau mit schlaffen Gesichtszügen blieb sie schließlich stehen. „Kennst du ,Blumenschatten hinter dem Bambusvorhang'?“ fragte die Korsarin. Das war der Name ihrer Mutter, wie er in der blumenreichen Sprache der Chinesen hieß. Die alte runzelige Frau nickte.
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„Wer kennt die nicht“, sagte sie gehässig. „Es heißt ja, daß sie bald wegziehen wird. Sie ist etwas Besseres geworden, und man sagt, sie kann auch die Steuern bezahlen. In Silber!“ Die Alte lachte schrill. „In Silber!“ wiederholte sie. „Nicht etwa in Hanf oder Tüchern, nein, in Silber!“ Dann wurde ihr Gesicht ernst, und sie musterte Siri-Tong. „Wer bist du?“ fragte sie. „Ich bin die Tochter von ,Blumenschatten hinter dem Bambusvorhang', und ich hoffe, es geht ihr gut.“ „Die Tochter? Ha, du bist der von einem fremden Teufel gezeugte Bastard.“ Sie ging so nahe an die Korsarin heran, daß Siri-Tong den Atem der alten Frau im Gesicht spürte. „Suchen dich nicht die Soldaten?“ fragte sie leise. „Bist du nicht dem Henker entwischt? Gibt es nicht eine Belohnung auf deinen hübschen Kopf?“ Die Alte lachte wieder gehässig. „Und wartet nicht der Bruder Fei Lins auf dich? Wir kennen die Geschichte. Sie hat sich in Shanghai herumgesprochen, hier gibt es tausend Ohren und mehr als tausend Lippen, die alles weiterflüstern. Sag, wie hoch ist die Belohnung?“ „Verschwinde, du zahnlose Hexe“, sagte die Korsarin grob und drückte die gehässige Alte zur Seite, die ihr mit bösen Augen nachblickte. Wie in Trance ging sie weiter, überquerte immer wieder alte, schaukelnde Wohnboote, sprang auf Flöße, zwischen deren Ritzen das dreckige Hafenwasser hervorquoll, und gelangte dann auf die restlichen drei Sampans. Auf dem vorletzten saß eine Frau auf einer Bambusmatte und wandte ihr den Rücken zu: Still und in sich gekehrt hockte sie da, den Blick fast träumend auf das Meer gerichtet, das eine Viertelmeile weiter blauschimmernd begann. Siri-Tong blieb reglos stehen. Die schmächtige Frau mit den langen Haaren war ihre Mutter, die ihren
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Erinnerungen an längst vergangene Zeiten nachhing. In jeder Einzelheit nahm sie das Bild der alten Frau in sich auf, die wie erstarrt auf der Matte saß. Die harte Korsarin merkte nicht, wie zwei Tränen aus ihren Augen perlten und die Wangen hinabrannen. „Mutter!“ rief sie leise. Die alte Frau drehte sich um. Sie sah verhärmt, verbittert und abgezehrt aus. Sie hatte sich von der Umwelt abgekapselt und unterhielt mit niemanden Kontakt, seit die anderen ihre Geschichte kannten. Aber jetzt wurden ihre erloschenen Augen lebendig und sprühten Feuer. Es war erstaunlich, welche Wandlung mit der verbitterten alten Frau innerhalb kürzester Zeit vor sich ging. Ihr Gesicht wurde weich und jugendlich, und auf ihren faltigen Lippen lag ein Lächeln, als wäre Sonnenschein in eine graue, trübe Welt gefallen. Langsam und umständlich stand sie auf. „Meine Tochter“, murmelte sie unhörbar. „Du bist also doch noch gekommen. Ich habe es gewußt.“ Die beiden Frauen umarmten sich. 7. „Hier gibt's ja doch Kneipen“, sagte Sam Roskill erstaunt. „Und Weiber sind auch genug da.“ Andächtig blieb er stehen. Vor ihnen befand sich ein nur schwach von pendelnden Öllampen erhellter Raum. Stimmengewirr tönte heraus, und in dem Qualm, der aus dem Dämmer drang, waren Frauen und Männer zu erkennen. „Das ist keine Kneipe, das ist ein Tempel, du Stint!“ sagte der junge Dan O'Flynn. „Und die Weiber beten oder opfern etwas. Das sieht man doch an den Räucherstäbchen.“ „Wenn man so gute Augen hat wie du, vielleicht“, erwiderte Sam enttäuscht. Kreuz und quer waren sie jetzt durch die verschachtelten Gassen und Straßen von Shanghai gelaufen, hatten sich das bunte
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Treiben auf den Märkten angesehen und bisher noch keine einzige Kneipe gefunden, um ihren Durst zu löschen. Fast jeder Chinese starrte ihnen nach, denn der blonde Schwede Stenmark und der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker fielen durch ihr Aussehen immer wieder auf. Es war tatsächlich ein kleiner Tempel. Sie sahen es deutlich, als sich ihre Augen an das Dämmerlicht im Innern gewöhnt hatten. Auf einem erhöhten Podest stand eine golden schimmernde Figur, vor der sich unzählige Chinesen immer und immer wieder verneigten und schließlich auf die Knie sanken. „Das ist nichts für uns“, entschied Ferris Tucker. „Hier, in der Innenstadt, gibt's nichts, womit wir unseren Durst löschen können. Wir ziehen weiter.“ „Wir finden ja doch keine Kneipe“, sagte Gary Andrews, der sich unternehmungslustig immer wieder umblickte. „Kneipen sind meist in der Nähe des Hafens“, belehrte Stenmark die anderen. „Und vom Hafen haben wir auch noch nicht viel mehr gesehen als einen Teil der Anlegestelle.“ „Das ist richtig, auf der Westseite waren wir noch nicht. Da liegt ein Portugiese, der gestern abend eingelaufen ist. Vielleicht gibt's da doch Kneipen in der Nähe.“ Der Trupp zog weiter, allen voran Ferris Tucker, dessen breitgebaute Figur immer wieder Aufsehen erregte. Chinesen blieben auf der Straße stehen und tuschelten, und einer blieb direkt vor Ferris stehen, der ihn fast überrannte. Verblüfft starrte der Chinese den rothaarigen Riesen an. „Da staunst du, du schwarzgelacktes Rübenschwein, was?“ sagte Tucker freundlich. Der Chinese schnatterte drauflos und grinste. Immer wenn er den Kopf bewegte, flog sein armlanger Zopf von einer Seite auf die andere. Tucker wollte ihn gerade umgehen, als ihm etwas einfiel.
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„Wollen doch das Triefauge mal fragen, wo es eine Kneipe gibt“, sagte er bedächtig. „Der versteht dich doch nicht, Ferris.“ Tucker grinste den kleinen Kerl freundlich an, zeigte dann auf seinen Hals, verzog das Gesicht und ließ die Zunge sehen. Mit der rechten Hand hob er ein imaginäres Glas an die Lippen und leckte sich anschließend genüßlich die Lippen.. Die anderen bogen sich vor Lachen, denn der Schiffszimmermann bot einen erstaunlichen Anblick. Doch das Lachen verging ihnen schnell, denn der Chinese begriff, was der fremde Teufel wollte. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, er drehte sich um, verbeugte. sich tief und deutete mit der Hand an, die Männer sollten ihm folgen. „Der hat aber schnell kapiert“, sagte Sam Roskill bewundernd. „Durst gibt es auf der ganzen Welt“, sagte Tucker. „Klar, daß er das gleich kapiert hat. Mit meinem Chinesisch hat es eben eine ganz besondere Bewandtnis.“ Der Chinese ging trippelnd vor ihnen her, drehte sich immer wieder um, verbeugte sich und grinste, während die anderen ihm wie eine Hammelherde folgten. Es ging in Richtung Hafen, wie sie sehr schnell feststellten, und zwar zu der Seite, wo sie noch nicht gewesen waren. Etwas später befanden sie sich in einer engen schmutzigen Gasse, in der die geduckt dastehenden Hütten oben zusammenwuchsen. Auf den lehmigen Straßen hockten Chinesen. Händler hatten ihre Ware ausgebreitet, und ein Geschnatter umgab sie von allen Seiten. Der Chinese wies auf einen dunklen Eingang und grinste. Tucker sah ein paar Stufen, die ziemlich steil nach unten führten wie in einen Keller. Lärm und Gejohle drang undeutlich bis zu den Männern hin. Der Chinese verneigte sich und wollte weitergehen, aber Tucker hielt ihn am Ärmel fest und fischte in seiner Hosentasche nach einer kleinen Silberscheibe.
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„Hier, du freundliche Kakerlake“, sagte er zu dem Mann und hielt ihm das Silberstück unter die Nase. „Kauf dir auch was zu trinken, weil du so nett warst.“ „Schon gut, schon gut“, sagte Dan, als der Chinese sie buchstäblich anzubeten drohte. „Hoffentlich ist das so ein Laden wie die ,Bloody Mary' „, sagte Sam Roskill, „dann ist bestimmt gleich was los.“ Ihre Vorstellung von einer ähnlichen Kneipe verschwand jedoch rasch, als sie die Stufen hinuntergingen und vor einem Vorhang aus bunten Glasperlen standen. Süßlicher Duft stieg ihnen in die Nase, und Tucker schnupperte, indem er tief die Luft einsog. „Die rauchen hier Tabak“, sagte er erstaunt. „Genau wie in England, als wir das Kraut an Bord hatten.“ Der Duft, der sie umfing, war schwer und süßlich und klebte in der Luft. Etwas anders als Tabak riecht es doch, dachte Tucker, aber vielleicht gibt es hier eine andere Sorte. Tucker trat ein, gefolgt von den anderen. Zunächst erblickte er eine große geräumige Höhle, die in viele einzelne Nischen eingeteilt war. Dünne Bambusstäbe trennten die Ecken voneinander ab. Die Höhle wurde weiter hinten, wo der Qualm am dichtesten war, zu einem Schlauch, der sich immer mehr verjüngte. Links von ihnen befand sich das, was die Chinesen offensichtlich unter einer Theke verstanden. Es war ein aus der Lehmerde herausgehauener großer, länglicher Block, und dahinter stand unbeweglich ein Chinese, der die Seewölfe an den Henker von Shanghai erinnerte. Das Licht war schwach, und so brauchten sie eine geraume Weile, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Überall hingen winzige kleine Öllampen, wie Spielzeug sahen die Dinger aus. Einige täuschten kleine Drachenköpfe vor, andere wieder wirkten wie feuerspeiende Schlangen. „Wo, bei allen Meermännern, soll man sich denn da hinsetzen?“ fragte Stenmark.
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„Auf die Matten natürlich“, sagte Dan, „oder hast du irgendwelche Stühle gesehen?“ „Keinen einzigen. Ah, deshalb sind die Tische auch so niedrig.“ Stenmark wunderte sich. Zwei gebeugte Chinesen flitzten auf sie zu und verneigten sich bis fast auf den Boden. Fremde schienen hier gar nicht einmal ungewöhnlich zu sein, man starrte sie jedenfalls nicht an. Tucker deutete mit dem Daumen auf die Matten. „Setzt euch erst einmal.“ Aus dem hinteren Schlauch drangen laute Wortfetzen. Die Männer, die sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannten jetzt auch die anderen Gestalten, die in den Nischen hockten oder lagen und sich kaum bewegten. Einige hatten lange dünne Tonpfeifen in der Hand und entlockten ihnen hingebungsvoll kleine graublaue Wölkchen. Sie waren in ihre Qualmerei so vertieft, daß sie nichts wahrnahmen. Unentwegt dienerten die beiden Chinesen weiter herum. „Was wollen die denn bloß?“ fragte Dan. „Wahrscheinlich wollen sie uns bedienen“, meinte Tucker. „Aber wie erklären wir ihnen, was wir wollen?“ „Na, mit deiner Zeichensprache natürlich, Ferris.“ „Hohe Herren Protugiesener?“ fragte zu ihrer Verblüffung der eine Chinese. Er sprach das Portugiesisch ähnlich wie der Dolmetscher am Hafen, und es war schwer verständlich. Aber Dan O'Flynn verstand ihn dennoch. „Etwas zu trinken“, sagte er, „nein, wir sind keine Portugiesener.“ „Ah!“ der Sprachgewandte dienerte weiter. „Hinten, Ecke, da auch Portugiesener, große Schiff.“ „Das habe ich doch vorhin auch schon gehört“, sagte Stenmark. „Ich dachte erst, es wären Spanier. Wollen wir mal nachsehen?“ „Laß die Rübenschweine in Ruhe“, befahl Tucker.
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„Was zu trinken?“ fragte der Chinese dienstbeflissen. „Was gibt's denn hier, außer Reiswein?“ „Reiswein, ja, ich holen.“ „Da kann man so prächtig drauf kotzen“, meckerte Sam Roskill. „Ein scharfer Brandy wäre mir lieber.“ „Du bist hier nicht in London“, erinnerte ihn Dan. Der Chinese kehrte gleich darauf zurück. Aber statt einer Flasche, wie es alle erwartet hatten, brachte er kleine zerbrechlich aussehende Mucks, die Ferris Tucker sich nicht traute, in die Hand zu nehmen, aus Angst, er würde sie zerquetschen. Er stellte sie alle vor Ferris Tucker hin. „He, und wir?“ fragte Andrews. „Hohe Herr probieren. Alles anderes“, sagte der Chinese. Offenbar hielt er Ferris für den Kapitän eines Schiffes. Tucker probierte. Das erste war Reiswein, lauwarm, und es widerte ihn an, denn es schmeckte nach gar nichts, fand er. In der anderen Muck, die kunstvoll bemalt war, befand sich ein undefinierbares Gebräu. Die dritte' schmeckte schon besser. Das Zeug erinnerte ihn an den scharfen südamerikanischen Schnaps. Da ist Musik drin, dachte er, man spürt es in der Kehle. Nachdem er alles probiert hatte, entschied er sich für das scharfe Gesöff und bestellte zwei Flaschen. „Das kann man wenigstens trinken“, sagte Dan, und auch die anderen nickten zustimmend. „Viel los ist in dem Saftladen ja nicht”, sagte Dan abfällig. „Und der Henker da hinten sieht aus, als wäre er schon vor drei Tagen eingeschlafen. Mit Weibern ist jedenfalls nichts drin,“ Tucker stand auf und sah in dem fast dunklen Schlauch nach. Dahinter erkannte er mindestens acht oder zehn schwarzhaarige Kerle, die sich grölend besoffen. Ausnahmslos alle waren Portugiesen, das sah er auf den ersten Blick. Sie lagen oder hockten auf den Matten und gossen Unmengen Zeugs in sich hinein.
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In den Nischen daneben hockten ausgemergelte Chinesen, so dürr, daß sie fast nur noch aus Knochen bestanden. Einige schliefen, andere qualmten die dünnen langen Pfeifen aus Ton. Aber eins hatten alle gemeinsam. Die Burschen wirkten so unterernährt, als hätten sie wochenlang nichts mehr gegessen. Statt Flaschen brachte der Chinese dickbauchige Tonkrüge und goß den Männern ein. Nebenan wurden die Stimmen lauter. Die Portugiesen hatten einen Punkt erreicht, an dem sie hitzig wurden. Tucker trank einen langen Schluck. „Es ist wohl besser, wir trinken aus und verschwinden“, sagte er leise. „Aber warum denn?“ protestierte Roskill. „Weil hier erstens nichts los ist“, sagte Ferris bedächtig, „weil wir zweitens morgen früh auslaufen und uns nicht besaufen wollen, und weil wir drittens Streit aus dem Wege gehen werden.“ Er deutete nach hinten, wo das Gebrüll lauter wurde und jetzt ein paar Kerle Lieder sangen. „Die fangen bestimmt an zu streiten, wenn sie uns sehen.“ Sam Roskill, der Draufgänger, kniff die Augen zusammen. „Hast du etwa vor den Portugiesen Schiß?“ fragte er anzüglich. Tucker warf ihm einen finsteren Blick zu. „Sag das noch einmal, und du hast eine im Gesicht hängen, Sam!“ „War nicht so gemeint“, sagte Sam Roskill. „Aber ich sehe nicht ein, warum wir uns wegen ein paar stinkiger Portugiesen den Tag versauen lassen. Hasard hat uns frei gegeben. Wenn du an Bord willst; dann geh nur. Ich bleibe noch hier.“ „Das ist auch meine Meinung“, sagte Stenmark. „Gut, dann bleiben wir noch.“ „Wir könnten doch mal von dem Tabak rauchen“, schlug der ahnungslose Gary Andrews vor. „Jeder nuckelt an so einem Pfeifchen, wie wir es damals auf der ‚Isabella' ver- sucht haben.“
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„Nach dem Mist hustet man sich ja zu Tode“, warf Dan ein. „Aber so schlecht war es nicht.“ „Versuchen könnte man es schon“, meinte Ferris nach einer Weile, „aber erst trinken wir noch einen Schluck.“ „Rauchen wie die Herren bei Hofe“, begeisterte sich Stenmark. „Das möchte ich auch gern mal.“ Je mehr sie tranken, desto übermütiger wurden sie, obwohl sie noch weit davon entfernt waren, auch nur angetrunken zu sein. Der scharfe Schnaps löste die Zungen. Sie waren schon seit Ewigkeiten in keiner Kneipe mehr gewesen, und daher wurde es mit der Zeit immer gemütlicher. Diese Gemütlichkeit wurde jedoch jäh gestört. Einer der angetrunkenen Portugiesen erschien aus der hinteren Grotte und baute sich breitbeinig und prahlerisch an der aus Lehm gehauenen Theke auf. Er entdeckte die Männer und schwankte leicht. Seine schwarzen Haare hingen ihm wirr in die Stirn. „He!“ grölte er laut. „Seid ihr Spanier oder Landsleute?“ Fast alle verstanden sein Portugiesisch, zumindest die meisten Worte davon. „Weder, noch“, sagte Dan O'Flynn kurz angebunden. Hinter der Lehmtheke stand immer noch, wie aus Stein gehauen, der glatzköpfige große Chinese. Er rührte sich nicht, nur seine kohlschwarzen Schlitzaugen musterten immer wieder die Männer. Der Portugiese schob sich näher heran und ging auf Dan zu. „Was heißt hier, weder, noch?“ fragte er lallend. Dan O'Flynn musterte ihn kurz. Er konnte Kerle dieser Sorte nicht leiden, und die aufdringlichen besoffenen Typen mit ihren dämlichen Fragen, und dem blöden Gequatsche, die mochte er erst recht nicht. Dementsprechend ruppig war auch seine Antwort. „Schieß in den Wind!“ sagte er nur. Der Portugiese bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust und sah ihn bösartig an.
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„Weder, noch“, wiederholte er. „Ihr seid keine Spanier, und ihr seid keine Portugiesen. Was seid ihr denn, he? Los, ich will das wissen, sonst ...“ Dans Gesicht wurde hart. Schon als er noch das ruppige Bürschchen gewesen war, gingen ihm selbst die Älteren gern aus dem Weg, wenn er diesen Gesichtsausdruck hatte. Dann dauerte es nämlich nicht lange, bis er zuschlug, und dabei war es ihm verdammt egal, ob er dabei mit fliegenden Fahnen unterging. Die Hauptsache war, daß sein Gegner ebenfalls gehörig einsteckte. Schon ballte er die Hand zur Faust, als Ferris Tucker sehr ruhig von der Matte aufstand. Sein Kreuz, breit wie eine Großmastrah, füllte fast die gesamte Nische aus, als er sich erhob. Seine mächtige Pranke legte sich dem Portugiesen auf die Schulter, und er sah ihn drohend an. „Zisch ab und laß uns in Ruhe, Junge“, sagte er freundlich. „Wenn du stänkern willst, such dir andere aus!“ Das schien den Portugiesen zu ernüchtern. Er sah aus den Augenwinkeln auf die rotbehaarte Pranke des Schiffszimmermanns, die seine Schulter wie einen Schraubstock umklammerte, und wurde merklich kleiner. „Bist du der Kapitän?“ fragte er, etwas höflicher. „Nein, ich bin der Zimmermann“, sagte Tucker. „Der Kapitän ist doppelt so groß und breit wie ich. Und wir sind Engländer, Junge, und sind sogar stolz darauf. Wenn du also einen mittrinken willst, dann sage es uns, wir geben einen aus. Und wenn du Streit haben willst, kannst du es auch sagen. Dann geben wir ebenfalls eine Runde aus.“ Er lachte dröhnend und ließ den Portugiesen los, der sich ohne ein weiteres Wort zurückzog. „Dem hast du aber mächtig imponiert, Ferris“, sagte Sam. Hinter ihnen wurde das Grölen jäh unterbrochen. Unheimliche Stille trat ein. Die fünf Seewölfe lauschten, aber sie verstanden kein Wort mehr. Einer flüsterte
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leise, das war alles, was sie hörten, und offenbar lauschten die anderen gebannt. Gleich darauf wurde wütendes Gebrüll laut. Allem Anschein nach ging ein Tisch zu Bruch, als sich mehrere Männer erhoben. Tucker blickte ruhig auf, als fast gleichzeitig sechs oder sieben Portugiesen durch den Schlauch stürmten und sich breitbeinig vor ihnen aufbauten. Allen voran stand ein Mann, der Ferris Tucker in der Statur nicht unähnlich war. Er war groß und breit, hatte Hände wie Schaufeln und ein Gesicht, über das sich zwei Narben zogen, die sich oberhalb der Nasenwurzel kreuzten. Anscheinend hatte ihn dort zweimal hintereinander ein Degen erwischt. Verächtlich sahen die Portugiesen auf die Seewölfe. * Ferris Tucker wollte sich nicht provozieren lassen, deshalb blieb er ruhig am Tisch sitzen, hatte sich auf der Matte zurückgeschoben und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Das schien den großen Kerl jedoch noch mehr zu reizen. „Engländer“, sagte er abfällig. „Kerle, die von einer miesen Königin regiert werden. Bei denen haben die Weiber die Hosen an.“ Noch zwei weitere Kerle schoben sich herein. Jetzt waren es insgesamt neun Männer, und alle neun waren auf Streit aus, wie es aussah. Der junge O'Flynn kochte vor Zorn, aber der Zimmermann zwinkerte ihm nur grinsend zu. Auch Stenmark und Gary Andrews waren drauf und dran, aufzuspringen, um es diesen Kerlen zu zeigen. Nur Sam Roskill hockte wie unbeteiligt da, hob die hauchdünne Muck an die Lippen und trank. Aber er brachte das Faß zum Überlaufen. „Herrlich schmeckt das“, sagte er auf Spanisch. „Aber es würde noch besser schmecken, wenn diese Kastanienfresser
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nicht da wären. Ihr freßt doch auch Kastanien wie die Dons, oder nicht?“ fragte er freundlich. Der große Kerl war mit zwei Schritten bei ihm. Er hatte jedes Wort verstanden. „Engländer, pah“, beleidigte er sie weiter, „haben euch die Chinesen immer noch nicht aus ihrem Land gejagt? Ihr Drecksäcke seid es doch, die die Pest hier einschleppen.“ Tucker blieb immer noch auffallend ruhig. „Das muß wohl ein Irrtum sein“, sagte er. „Die Pest habt ihr gebracht, deshalb sehen euch die Chinesen auch lieber von hinten, wenn ihr wieder wegsegelt. Ihr seid genauso unbeliebt wie eure Nachbarn, die Spanier!“ Der Mann wandte sich jetzt Tucker zu. „Ich bin der Kapitän des Schiffes, das da draußen ...“ „Interessiert uns nicht“, sagte Tucker kalt und verletzend. „Kapitäne wie dich gibt's wie Sand an den stinkenden Flüssen. Ich sage es zum letzten Mal: Verschwindet und laßt uns in Ruhe, wir wollen mit euch nichts zu tun haben!“ Während er das sagte, nahm einer der Portugiesen den dickbauchigen Tonkrug vom Tisch und leerte ihn auf den Boden. Dann wollte er nach der Muck greifen und sie ebenfalls auf den Boden werfen. Da hakte bei Dan O'Flynn etwas aus. Verdammt, sollten sie sich denn von jedem hergelaufenen Kerl beleidigen lassen? Sie hatten schließlich auch ihren Stolz. Mit einem Satz war er auf den Beinen, holte blitzschnell aus und schlug hart und trocken zu. Der Portugiese, der eben noch den Schnaps ausgeleert hatte, hob ein Stückchen vom Boden ab. Er ruderte wild mit den Armen, konnte sich nicht mehr halten und segelte auf die Theke zu, vor der er mit einem leisen Stöhnen zusammenbrach. Damit war die Beschaulichkeit dahin. Wie ein Mann drangen die Portugiesen vor und warfen sich auf die Seewölfe. Die chinesische Kneipe erzitterte bis in alle Nischen, als Dan grinsend vorstürmte. „Arwenack!“ brüllte er. „Auf die lausigen Schneckenfresser!“
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Ferris Tucker hob den Kapitän aus den Angeln. Mit harten Schlägen trieb er ihn vor sich her, bis der Mann sich krümmte. Aber er gab nicht auf. Er steckte einen harten Brocken ein, bückte sich und rammte dem Schiffszimmermann seinen Schädel in den Magen. Ferris wurde an die Wand katapultiert und zog das Genick ein. Der Kapitän war ein jähzorniger Mann, denn kaum hatte er Ferris festgenagelt, griff er auch schon nach seinem Messer und stach in blinder Wut zu. Tucker entging dem Stich um Haaresbreite, indem er sich zu Boden warf und den Riesen zu Fall brachte. Während die beiden Männer auf dem Boden entlangrollten und sich gegenseitig mit den Fäusten bearbeiteten. griffen auch die anderen in den Kampf ein. Stenmark unterlief einen der Kerle, hob ihn hoch und schmetterte ihn über die Theke an die Wand. Er verstand nicht, warum der glatzköpfige Chinese hinter der Theke mit einer Gelassenheit zusah, als ginge ihn das alles nichts an. Er zog nur den kahlrasierten Schädel etwas zur Seite, als der Portugiese krachend neben ihm an der Wand landete. Aber dann sah Stenmark, daß die Portugiesen anscheinend doch nicht so beliebt waren. Denn als der Bursche versuchte, sich aufzurichten, stellte sich der Chinese wie unbeteiligt mit seinem ganzen beachtlichen Körpergewicht auf ihn, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Ein Tonkrug flog Sam Roskill an den Schädel. Die Scherben regneten nach allen Seiten an ihm nieder, und das versetzte ihn in eine unglaubliche Wut. Sam Roskill war schon immer ein harter Kämpfer gewesen, der vor nichts zurückschreckte, aber jetzt griff er wie ein wütender Bulle an. Er sah rote und grüne Nebel vor seinen Augen, und beinahe hätte Dan O'Flynn den gewaltigen Hieb eingesteckt, aber der bückte sich noch rechtzeitig, als er die heranfliegende Faust sah, und so landete sie mitten im Gesicht
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eines Portugiesen, der schreiend zu Boden ging. Drei Portugiesen waren innerhalb kurzer Zeit zu keiner Aktion mehr fähig. Der eine hockte blutend am Boden und hielt sich das Gesicht mit beiden Händen, auf dem anderen stand immer noch der Chinese, und ein dritter lag in einer Nische und rührte sich nicht mehr. „Gebt's ihnen!“ brüllte Dan. „Bald sind wir gleich stark, und dann werden diese Kerle sich wundern.“ Tucker kämpfte immer noch mit dem Kapitän, einem zähen Brocken, der unglaublich viel einstecken konnte. Seine Nase war platt gedrückt und blutete, und ein Zahn stand völlig verbogen zwischen seinen Lippen. Und auf den ließ Tucker jetzt seine riesige Faust fliegen. Zu allem Überfluß öffnete der Kerl gerade jetzt das Maul, und Ferris Tucker schlug ihm die Faust voll in den Rachen. Es hörte sich an, als zersplittere eine Holzplanke. Den Kapitän warf dieser Schlag bis an die Theke, er rutschte daran hinunter, aber Ferris war schon wieder da und riß ihn mit der rechten Hand hoch. Zweimal hintereinander landete seine harte Faust im Magen des Portugiesen, dann hob er ihn ein letztes Mal hoch, holte aus und warf ihn voller Wut auf den Boden. „So, du Rübenschwein“, sagte er keuchend, „von wegen, wir bringen die Pest ins Land.“ Die Portugiesen waren harte Schläger, und sie wehrten sich verbissen. Bis vor kurzem waren sie noch in der Überzahl gewesen, aber jetzt sah das Bild anders aus. Fünf waren noch übrig, und die kämpften jetzt gegen fünf knüppelharte Seewölfe, was den Ausgleich wieder herstellte, wie Dan sich so treffend ausgedrückt hatte. Mann gegen Mann ging es weiter. Jetzt hatte jeder nur noch einen Gegner, und mit denen wischten sie die Kneipe auf, daß der alte Plymson seine helle Freude an ihnen gehabt hätte. Der Chinese hinter der Theke, der immer noch in asiatischem Gleichmut auf dem Portugiesen stand, schien Ähnliches zu empfinden, denn jetzt bewegte sich sein
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kahler Schädel ab und zu beifällig, wenn wieder einer der Portugiesen jede Lust an dem weiteren Kampf verlor und lädiert an der Theke landete. Der Kapitän erhob sich fluchend, richtete sich auf und wollte weiter prügeln. Torkelnd ging er auf Ferris Tucker los. Er sah aus, als hätte er auf einer Schlachtbank übernachtet. Ferris ließ ihn heran, wartete, bis der Brocken dicht vor ihm stand, und schlug zweimal zu. Damit war der Kampf entschieden. Zwei Portugiesen standen noch auf den Beinen und hoben die Arme, als hätte man ihnen eine Muskete vor die Brust gehalten. Tucker zog den einen zu sich heran. „Wieviel Mann Besatzung seid ihr?“ fragte er hart. „Sechsundzwanzig“, nuschelte der Mann, dem Blut über die Wange lief und dessen rechte Augenbraue aufgeplatzt war. „Dann hau ab und hol sie her“, sagte Tucker, „damit wir ganze Arbeit leisten können. Bis jetzt haben wir uns nur warm geprügelt, bei dem Rest können wir uns dann richtig aufheizen.“ „Ich will nichts mehr“, sagte der Mann kleinlaut. „Aber der Kapitän wird es euch nicht verzeihen.“ „Das tut uns aber leid“, höhnte Dan. „Wie können wir ihn nur um Vergebung bitten?“ Der Kapitän, ein Kerl aus Felsen, hatte jetzt auch die letzten Schläge verdaut und versuchte noch einmal aufzustehen. Aber bei dem Versuch blieb es, er schaffte es nicht mehr. Er stand kaum auf den Beinen, als er auch schon zusammensackte und der Länge nach auf den Boden kippte. Dort blieb er eine Weile liegen. „Ich denke, jetzt wird er es doch verzeihen“, sagte Ferris Tucker und grinste vor sich hin. Der andere, nur wenig ramponierte Portugiese, strich ebenfalls die Flagge. Er war drauf und dran, mit den Seewölfen anzustoßen, so hatten sie ihm das Fürchten beigebracht. Das Schlimmste war, daß diese Satansbraten nur geringfügige Blessuren aufwiesen. Der eine hatte eine rötlichblaue Wange, zwei Kerlen sah man nicht das geringste an, und einer schwitzte.
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Der rothaarige Bulle dagegen griff schon wieder nach seiner Muck und tat so, als sei nichts gewesen. ,,Hier, trinkt einen mit“, sagte Tucker. „Die andere Buddel habt ihr Blödmänner ja ausgeschüttet.“ Zuerst wollte der Portugiese zugreifen, doch dann sah er seinen Kapitän, der erneut den Versuch unternahm, sich auf die Beine zu stellen. „Lieber nicht“,. wehrte er ab, warf den Seewölfen noch einen kurzen Blick zu und winkte seinem Kumpan, ihm zu folgen. Beide hatten es ziemlich eilig zu verschwinden. „Bin mal gespannt, ob der es schafft und seine normale Höhe erreicht“, sagte Dan und wies auf den Kapitän, der sich jetzt mit letzten Kräften an der Theke hochzog. Sein Kopf pendelte hin und her, er heftete den Blick seiner verquollenen Augen auf Tucker und stieß sich von der Theke ab. „Bleib stehen, Kerl, sonst fällst du über deine eigenen Knochen“, warnte Ferris, doch der Portugiese hörte ihn nicht. Er nahm seine Umwelt wie durch dichten Nebel war. Aber er vergaß die Niederlage nicht, er mußte sie ausbügeln, und wenn er dabei zugrunde ging. Torkelnd und taumelnd suchte seine Faust ein Ziel. Sam Roskill streckte sein Bein aus, der Kapitän stolperte und fiel wieder hin. Ferris Tucker hatte sich noch immer nicht bewegt. „Der kann einfach den Hals nicht voll kriegen“, sagte Stenmark. „Ich werde ihn mal an die Luft setzen, vielleicht wird sein dicker Schädel dann wieder klar.“ Er ergriff einen Arm des Mannes, schlang ihn sich über die Schulter und schleppte den schweren Kerl mühelos die Treppen hoch. Draußen setzte er ihn auf die Straße, lehnte ihn gegen die Wand einer Bretterhütte und kehrte wieder zurück. „Der fällt da draußen nicht auf, da hocken noch so ein paar müde Gestalten herum.“ Der chinesische Glatzkopf grinste ihnen zu, die anderen Chinesen hatten sich bei dem Radau nicht einmal umgedreht.
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Weltentrückt nuckelten sie in. den Nischen an ihren Pfeifen weiter. Etwas später erhob sich wieder einer der Portugiesen und wankte benommen hinaus, ein zweiter folgte, und endlich ließ der Glatzkopf hinter der Theke auch sein Opfer los. Sie wollten nichts mehr, sie waren restlos bedient. Seit der Kapitän nicht mehr da war, war ihnen, als wäre das Schiff gesunken. Wie geprügelte Hunde schlichen sie hinaus. „Jetzt werden wir mal das Kraut versuchen“, schlug Stenmark vor. „Soll ich ein paar Pfeifen bestellen?“ „Klar, wir probieren es, ist doch mal was anderes.“ Ferris winkte den beiden Chinesen, die ihnen den Schnaps gebracht hatten. 8. Inzwischen war es Nachmittag. Siri-Tong und ihre alte Mutter hatten sich unglaublich viel zu erzählen gehabt. Nach und nach erfuhr die alte Frau, was alles passiert war. Zuerst war sie schockiert, dann aber hellte sich ihr runzeliges Gesicht immer mehr auf, als die Rote Korsarin von der Purpurnen Verbotenen Stadt und vom Empfang am kaiserlichen Hofe des Großen Chan berichtete. Für sie war das eine andere Welt, eine Welt, zu der sie niemals Zutritt haben würde, aber trotzdem fiel dabei auch der Abglanz ein wenig auf sie, und das erfüllte sie mit Stolz. „Ich werde dich nachher an Bord meines Schiffes holen lassen“, sagte Siri-Tong. „Da kannst du solange bleiben, bis wir für dich ein Haus mit Dienern gekauft haben.“ „Mit Dienern?“ fragte die alte Frau ungläubig. „So etwas bin ich doch gar nicht gewöhnt.“ „Du wirst dich daran gewöhnen.“ „Aber wird das Schiff solange warten? Es muß doch sicher bald weitersegeln. Die anderen Schiffe liegen auch nicht lange im Hafen.“
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„Das Schiff gehört mir und meinem Partner. Es segelt erst dann weiter, wenn ich es will, und das wird noch eine ganze Weile dauern, solange, bis hier alles geregelt ist.“ Die alte Frau begriff nicht, was hier alles auf sie eindrang. Ihr Leben wurde in ganz neue Bahnen gelenkt —sie sollte das Wohnwassergebiet verlassen. Es hatte ihr hier noch nie gefallen, dieser Dreck, die dumpfe Hitze. wenn die Sonne brannte, und die üblen Gerüche. Und alle paar Tage erschien ein Beauftragter der Regierung und kontrollierte die Hütten, ob die Menschen auch keine wertvollen Sachen besaßen oder versteckten, um die Steuer zu umgehen. Jetzt war das alles vorbei, und ihr Leben würde neu geordnet sein, dank ihrer so lange verschollenen Tochter. „Ich werde dich nachher mit einem Boot abholen, der Weg über Land ist zu beschwerlich“, sagte Siri-Tong. Ganz dicht vor ihr im Wasser schwamm eine Ratte, die sich anschickte, das verfallene Wohnboot zu erklimmen. Es war ein räudiges, ekelhaft aussehendes Biest, dessen Fell Löcher aufwies. Von den Ratten wimmelte es hier, sie vermehrten sich rasend und fraßen den Armen auch noch die letzten Reste weg. Siri-Tong schleuderte die Ratte mit einem Fußtritt wieder ins Wasser zurück. Der Tritt hatte ihr das Genick gebrochen, sie trieb ein paar Sekunden lang in der Brühe und ging dann unter. „Tag und Nacht sind sie hier“, sagte die Alte. „Wenn man schläft, laufen sie einem über das Gesicht, und ab und zu hört man Kinder schreien, wenn sie von den Ratten angefallen werden.“ „Ich werde dich gleich von hier wegholen lassen“, versprach die Korsarin und blickte wieder über das Wasser. Sie kniff die Augen zusammen und musterte das kleine Boot, das weit draußen herumtrieb. Es war das kleinere Beiboot des schwarzen Seglers, daran konnte es keinen Zweifel geben, und der Mann, der darin saß, mußte der Boston-Mann sein.
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Aber was tut er hier draußen? fragte sie sich. Was sucht er hier? Wahrscheinlich hatte ihn Thorfin ins Wasserwohngebiet geschickt, um sie zu überwachen. Der Wikinger war ja immer so besorgt um sie. Sie ärgerte sich darüber, denn sie hatte ausdrücklich angeordnet, daß niemand hinter ihr herschleichen solle. Jetzt tat der Boston-Mann so, als unternehme er eine kleine Spazierfahrt, und natürlich hatte er sich nur „rein zufällig“ in diese Ecke verirrt. Soll er suchen, bis er schwarz wird, dachte sie, er wird sich zwischen den vielen hundert Wohnbooten doch nicht zurechtfinden. Das hier war ein Labyrinth, in dem man sich hoffnungslos verirren konnte. Man fand einfach den Weg an Land nicht mehr oder landete unweigerlich im Wasser, besonders wenn es dämmerig war. Andererseits, überlegte Siri-Tong, kam der Boston-Mann gerade recht. Sie würde keine Zeit verlieren und konnte ihre Mutter sofort mitnehmen. „Weshalb starrst du das Boot so an?“ hörte sie die Stimme der alten Frau. „Das Boot gehört zu meinem Schiff, ich werde den Mann rufen, und du gehst jetzt gleich mit.“ Für die Alte war das wieder eine neue Überraschung. „Jetzt gleich? Aber du sagtest doch ...“ Ja, sie kannte das impulsive Handeln ihrer Tochter. Siri-Tong entschied sich immer blitzschnell. Die Alte zuckte zusammen, als die Tochter neben ihr einen schrillen Pfiff ausstieß. Darauf wandte der Mann in dem Boot ruckartig den Kopf und blickte in ihre Richtung. „So zu pfeifen, schickt sich nicht für ein Mädchen“, sagte die Alte entsetzt. Siri-Tong lachte nur. „Ich habe andere Sitten kennengelernt, Mutter. Es schickt sich für ein Mädchen auch nicht, gegen Männer zu kämpfen, und doch habe ich es getan, sonst wäre ich längst tot.“
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Sie unterbrach sich und winkte zu dem Boot hinüber. Der Boston-Mann hatte begriffen. Er pullte los. Vermutlich hat er jetzt ein schlechtes Gewissen, dachte sie belustigt. „Der Mann sieht ja wie ein Pirat aus“, sagte die Mutter voller Entsetzen, als der Boston-Mann heranpullte und ihr einmal das Gesicht zuwandte. „Er ist auch einer.“ Die Alte schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Fassungslos blickte sie auf den breiten Rücken des Mannes, der ein rotes Kopftuch trug, dessen Gesicht von der Sonne dunkelbraun verbrannt war und der im Ohr einen schweren goldenen Ring trug. Sie begriff noch so vieles nicht —daß ihre Tochter ein großes Segelschiff befehligte und Männer kommandierte und daß sie sich gar nicht wie eine gehorsame Tochter benahm. Was ist nur mit dieser Welt los, dachte sie betäubt. Der Boston-Mann legte an, sprang auf einen Sampan, aus dem keifende Stimmen drangen, und war mit ein paar schnellen Sätzen bei der Roten Korsarin. „Was hast du hier zu suchen, BostonMann?“ fragte sie. „Guten Tag, Madam“, sagte der BostonMann und verbeugte sich vor der Alten. Dann sah er die Korsarin an. „Erzähle mir nicht, daß du im Hafen angeln wolltest!“ „Keinesfalls, Madam. Ich wollte mir nur das Wohngebiet hier ansehen und ...“ „Boston-Mann!“ sagte sie scharf. „... dabei gleich ein wenig auf Sie acht geben“, fuhr der Boston-Mann ungerührt fort und grinste verwegen. „Sie gestatten doch, daß wir uns ein wenig um Sie sorgen, Madam.“ „Du bist ein lausiges Scheusal, BostonMann!“ „So ist es, Madam“, erwiderte der BostonMann immer noch grinsend. „Wir . nehmen meine Mutter an Bord, für ein paar Tage, bis ich ein Haus für sie gefunden habe. Hilf mir, ihre persönlichen Sachen in
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das Boot zu laden, und dann rudere mit ihr an Bord zurück.“ „Aye, aye, Madam.“ Die Alte begriff nur die Hälfte von dem, was um sie herum vorging, aber sie sagte zu allem ja, denn es war nur zu ihrem Besten. „Was wird aus dem -Boot?“ fragte sie, auf ihre ärmliche Hütte deutend. „Verschenke es, Mutter, gib es jemandem, der es brauchen kann, du kennst sicher ein paar Leute.“ Die Alte nickte beklommen. Natürlich war sie heilfroh, diese dreckige Gegend verlassen zu können. Aber das alles geschah doch so schnell und überraschend, daß sie sich kaum an den Gedanken gewöhnen konnte. Ihre persönliche Habe wurde verstaut, Sachen, von denen sie sich nicht trennen wollte, wie sie sagte. Es war nicht viel, aber das kleine Boot war doch ziemlich beladen. „Gib gut auf sie acht, Boston-Mann“, sagte Siri-Tong. „Ich selbst gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin. In dem Boot ist ohnehin nicht viel Platz.“ „Es würde reichen, Madam.“ „Laß nur, sie soll es bequem haben, und mir bedeutet die kurze Strecke nicht viel.“ Ergeben nickte der Boston-Mann, dann half er der Alten beim Einsteigen und wartete, bis sie mit einer Nachbarin etliche Worte gewechselt hatte. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Gespräch um ihre armselige Hütte, dachte er. Innerhalb einer halben Stunde war alles erledigt. Die Alte winkte zaghaft, als der BostonMann lospullte, und klammerte sich ängstlich an der Ducht fest. Starr sah sie geradeaus und blickte an dem BostonMann vorbei, vor dem sie sich ein wenig fürchtete. Der Boston-Mann merkte es und verzog grinsend das Gesicht. Wenn sie erst die anderen sieht, wird sie sich vermutlich noch mehr fürchten, dachte er. Den Wikinger in seinen Fellen und dem
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glänzenden Kupferhelm, dann Mißjöh Buveur oder Muddi. Siri-Tong wartete, bis das Boot sich entfernt hatte, dann warf sie einen letzten Blick in die Hütte, schüttelte den Kopf und ging davon, in Gedanken versunken. * Diesmal wählte sie nicht denselben Weg, sondern versuchte, die schlammigen Lehmpfützen weiter südlich zu umgehen. Der Weg war etwas weiter, und sie mußte durch das Gewirr unzähliger kleiner Gassen wandern, die sie nicht kannte. Daß zwei Männer sie seit mehr als drei Stunden beobachteten und keinen Moment aus den Augen ließen, ahnte sie nicht. Schon ein paarmal hatten die Männer versucht, sie zu schnappen, aber es hatte nie geklappt. Sie hatten sie auf dem Weg zu dem Wasserwohngebiet beobachtet, aber nicht eingreifen können. Jetzt, da sie durch die häßlichen Straßen ging, war die Gelegenheit mehr als günstig. Geschäftiges Treiben herrschte in den Gassen, über denen ein aufdringlicher Geruch nach Gewürzen lag. Hier vermischten sich tausend Düfte zu einem einzigen, hier umstrichen sie die Händler, und immer wieder wurde sie von Bettlern aufgehalten. Von überall gähnten ihr dunkle Löcher entgegen, höhlenartige Eingänge von schiefen primitiven Hütten. In der dahinter herrschenden Dunkelheit kauerten ausgemergelte Gestalten. In den Rinnsteinen lagen tote Ratten. Ab und zu mußte sie sich eng an die kleinen Hütten drücken, um einen Karren vorbeizulassen, der von Menschen gezogen wurde. Sie zuckte zusammen, als eine magere Hand nach ihr griff. Ein Aussätziger starrte sie aus einem Auge an, das andere war nur ein dunkles häßliches Loch. Der Mann hatte eitrige Wunden im Gesicht, und ihm fehlte der rechte Arm bis zum Ellenbogen. Siri-Tong riß sich los, doch der Aussätzige folgte ihr beharrlich, keuchte und stammelte etwas, das sie nicht verstand.
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Sie griff in den grauen Beutel, eine aus Segeltuch gefertigte Tasche, die man über die Schulter hängen konnte, und holte ein Silberstück hervor. Der Aussätzige wollte es ihr aus der Hand reißen, und griff gleichzeitig nach der Tasche, aber die Rote Korsarin stieß ihn fort und warf das Silberstück in den Rinnstein. Kreischend, fast panikartig stürzte sich der Mann darauf, und sie war ihn endlich los. Diese Gegend ekelte sie an, der pestilenzartige Geruch, die vielen Bettler, die Kranken und die keifenden Weiber, die in ihrem eigenen Dreck umkamen. Auf der Straße lag ein alter Mann der Länge nach ausgestreckt. Ein Hund beschnüffelte ihn, zog dann den Schwanz ein und schlich davon. Siri-Tong merkte es erst, als sie vorüber war. Der alte Mann war tot, man hatte ihn einfach auf die Straße gelegt. Niemand kümmerte sich darum. Sie hastete weiter und wollte sich gerade ärgerlich abwenden, als schon wieder eine Hand nach ihr griff. Diesmal war es kein Bettler, die Hand war hart und schnell, und sie legte sich ihr um den Nacken und zerrte sie in einen dunklen Eingang. Noch bevor sie sich zur Wehr setzen konnte, wurden ihre Beine hochgehoben. Zwei andere Hände zerrten ihre Arme nach oben, und dann wurde sie in einen dämmerigen Hinterhof getragen. Sie wehrte sich verzweifelt, wand sich, versuchte zu stoßen, aber sie hatte keine Bewegungsfreiheit. Man will mich ausplündern, dachte sie halb betäubt. Aber sie hätte es wissen müssen. Ihre Kleidung unterschied sie von den Leuten hier ganz beträchtlich, und natürlich vermutete jeder Geld oder Wertsachen bei ihr. Ein Tor schloß sich quietschend. Übergangslos ließen die Hände sie auf den Boden fallen. Wie eine Tigerin sprang die Korsarin hoch, bereit, ihr Leben so teuer wie nur möglich zu verkaufen. Vor ihr standen zwei Männer. Der eine befand sich etwa vier Yards von ihr entfernt. Er hielt eine Radschloßpistole in
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der Hand, die er irgendwo, bei einem Spanier vielleicht, geklaut hatte. Der andere trug keine Waffe. „Bleib so stehen“, ertönte eine dünne Stimme. „Wenn du dich bewegst, schieße ich dir ein Bleistück in das Gesicht.“ „Was wollt ihr?“ fragte sie kalt. .Mich ausplündern?“ „Dein Geld interessiert mich nicht, ich will deine Seele“, sagte der Mann, der unbewaffnet war. „Sieh mich an!“ Sie tat es und konnte in dem Halbdämmer des Hofes seine Züge auch gut erkennen. Es war ein glattes, faltenloses Gesicht mit schmalen Lippen und einer deinen Nase. Der Mann war gut gekleidet und sah nicht so aus, als wäre er auf ihre paar Silberstücke erpicht. „Was soll das?“ fragte sie zornbebend und wollte einen Schritt auf den Mann zugehen, aber die Waffe hielt sie zurück. Sie wußte, wie groß das Loch war, das so ein Stück Weichblei reißen konnte. „Ich habe deine Visage jetzt lange genug angestarrt“, sagte sie ärgerlich. „Sie gefällt mir nicht.“ „Kennst du mich wirklich nicht?“ „Nein“, erwiderte sie schroff, sie entsann sich nicht, diesen Kerl schon einmal gesehen zu haben. „Mehr als acht Jahre habe ich auf dich gewartet. Seit du in Shanghai bist, habe ich jeden deiner Schritte verfolgen lassen. Die Rote Korsarin nennt man dich jetzt. Du bist hübsch geworden, mein schönes Kind, aber du wirst nicht mehr lange eine Schönheit sein, denn du wirst in diesem Hof sterben!“ „Dann liegst du hier auf dem Boden wie der Mann da draußen auf der Straße, und die Hunde werden dich beschnüffeln.“ Diesen Satz hatte der andere gesagt, aber Siri-Tong entsann sich immer noch nicht der Gesichter. „Ich bin der Bruder von Fei Lin“, half er ihrem Gedächtnis auf die Sprünge. Sie zuckte zusammen und wurde bleich. Da war sie wieder, diese lausige Vergangenheit, die sie immer einholte, der sie nicht entwischen konnte.
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Benommen schloß sie für einen Moment die Augen. Fei Lin, der Kaufmann aus Shanghai, der sie mit Gewalt hatte nehmen wollen, ihr Zwangsverlobter, der fette schwitzende Kerl, gegen den sie sich gewehrt hatte und der sein Leben aushauchte, nachdem er sich an einem Bambustisch das Genick gebrochen hatte. Die Erinnerung stand leibhaftig vor ihr. „Der Sippenrache nach wollte ich zuerst deine Mütter töten“, sagte der Mann. Er sprach nicht hitzig, seine Stimme klang ruhig und leidenschaftslos, fast sachlich, aber das ließ ihn nur gefährlicher erscheinen. „Aber deine Mutter ist eine alte Frau, und sie trug keine Schuld daran. Sie war mit der Heirat einverstanden.“ „Wenn du alles so genau weißt, dann wirst du auch wissen, daß es ein Unfall war, als ich mich zur Wehr setzte. Das habe ich sogar schriftlich durch das Gericht erhalten.“ „Es war Mord, Richter können sich irren“, sagte der Mann kalt. „Und für diesen Mord wirst du jetzt bezahlen. Deshalb bist du damals auch aus Shanghai verschwunden. Aber die Sippe der Lin vergißt nicht, schönes Kind.“ In seinen Augen stand eiskalte Entschlossenheit. Der Bruder des Getöteten war gefährlicher als eine Giftschlange. „Wir wollen es schnell hinter uns bringen“, sagte er wie unbeteiligt. „Ich will dich auch nicht unnötig quälen. Aber ich kann dich nicht am Leben lassen. Das Gesetz der Sippe läßt es nicht zu, und du weißt das.“ O ja, sie wußte es, sie kannte es, das verdammte Gesetz der Sippenrache, es hatte sich nichts daran geändert. Tausend Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie hatte das Entermesser im Bund ihrer Hose stecken, das Messer, auf das sie nie verzichtete, ohne das sie nie ausging. Es war zu einem festen Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden, und die Kerle hatten es noch nicht bemerkt. „Ich will mich mit dir nicht arrangieren, Lin“, versetzte sie ebenfalls kalt und
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abweisend. „Ich sehe nur nicht ein, daß ich für etwas sterben soll, das ich nicht getan habe.“ Sie redete weiter, um Zeit zu gewinnen, und ließ dabei die Tasche unmerklich von ihrer Schulter gleiten. Es sah so aus, als rutsche die Tasche zufällig über ihre Schulter. Lin, dessen Vornamen sie nicht kannte, hörte beflissen und höflich zu. Er war alles andere als ein Hitzkopf, nur ließ er ihre Argumente nicht gelten. „Es ist zwecklos, noch mehr zu reden. Deine Worte können nichts ändern, du bist eine Frau, die sich fügen muß, denn dein Tod ist eine beschlossene Sache.“ Ganz ruhig griff er in die Tasche und holte eine Seidenschnur hervor, die er prüfend zwischen den Fäusten spannte. „Es geht ganz schnell“, sagte er fast bedauernd. „Wenn du dich allerdings wehrst, wird mein Schwager dich erschießen.“ Der Kerl glaubt doch tatsächlich. daß ich einfach meinen Hals hinhalte, dachte sie. Der hängt an den alten Bräuchen und Sitten und nimmt an, daß sich für mich nichts geändert hat und ich als Frau ergeben warte, bis er die Schnur um meinen Hals zusammenzieht. Ihre Rechte umspannte den Knauf des Entermessers. Ihre Stimme klang ruhig. „Ich kann dich nicht daran hindern, ich bin nur eine schwache Frau, die zwei Männern gegenübersteht“, sagte sie und wunderte sich, wie leicht ihr die Worte über die Lippen gingen. Lin lächelte flüchtig, holte mit der Schnur aus und warf sie ihr zu ihrer Verblüffung schnell und zielsicher über den Kopf. Siri-Tong hatte auf diese letzte, allerletzte Chance gewartet. Es kostete sie eine ungeheure Überwindung, die Unterlegene zu spielen, aber sie hatte das Messer, und das verlieh ihr zusätzliche Sicherheit. Durch zahllose Kämpfe war sie schnell, geschmeidig und unheimlich flink geworden, und dieses Können warf sie jetzt in die Waagschale, selbst auf das
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Risiko hin, daß es Lin doch irgendwie gelang, sie zu erwürgen. Der Tölpel rechnete nicht mit der geringsten Gegenwehr, als sie leise aufschrie. Dann ging alles blitzschnell. Mit einem Ruck riß sie das scharfe Messer heraus. Ihr Arm zuckte blitzschnell hoch über ihren Kopf, eine schnelle Drehung, und die dünne Seidenschnur zerfetzte. Sofort wirbelte sie herum und sah die grenzenlose Verblüffung im Gesicht des Mannes, der den Halt verlor und zurücktaumelte. Lins Schwager wollte schießen, fuchtelte mit der Waffe herum und konnte sich nicht entschließen, denn die Rote Korsarin sprang Lin mit einem wilden Satz an und stieß ihm das Entermesser hart in die Brust. Sie umklammerte von hinten seine Hüfte und hielt den zusammenbrechenden Mann aufrecht, ihn als Schild benutzend. Mit hervorquellenden Augen starrte der Schwager sie an. Seine Lippen formten unhörbare Worte, er begriff den Vorgang nicht so richtig, der sich hier vor seinen Augen in unglaublich kurzer Zeit abgespielt hatte. Die wehrlose Frau hatte es geschafft, dem schnellen und wendigen Lin ein Messer in die Brust zu stoßen. Er schoß, mehr aus einem Reflex heraus, ohne richtig zu zielen. Der Körper von Siri-Tong zuckte zusammen, als die Bleikugel in ihn einschlug. Lins Schwager stand da, blaß, zitternd und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Radschloßpistole fiel ihm aus der Hand. Siri-Tong riß das Messer aus der Brust des Toten, der jetzt auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte. Sie wußte, daß sie ihn getötet hatte. Er hatte sein Leben schon ausgehaucht, als die Kugel ihn traf, aber Lins Schwager sah das anscheinend anders. Er hatte gesehen, wie der Körper zusammenzuckte und schüttelte sich in namenlosem Entsetzen, wenn er
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daran dachte, daß er selbst ihn getötet hatte. Siri-Tong griff nach ihrer Tasche. Ihr Atem ging schnell, ihr Herz klopfte wie rasend, und ihr Puls flog. Die beiden standen sich gegenüber und blickten sich an. Unbeachtet lag die doppelläufige Waffe immer noch auf dem Boden. „Ich habe ihn getötet“, sagte der Mann dumpf. „Dein Messer hat ihn nur verwundet. Ich sah, wie sein Körper zusammenzuckte, als die Kugel ihn traf. Zur Hölle mit dir, du verfluchtes Weib.“ „Sollte ich mich vielleicht von euch abschlachten lassen?“ fragte sie kalt. ,.Wenn man jemanden töten will, muß man damit rechnen, selbst getötet zu werden.“ „Die Rache der Sippe Wird dich verfolgen, Weib!“ „Ich pfeife auf deine Sippe. Du wirst ihnen eine Erklärung schuldig sein, und es wird dir verdammt schwerfallen, eine Ausrede zu finden, denn in seinem Körper befindet sich die Kugel aus dieser Pistole. Ich werde sie mitnehmen.“ Sie bückte sich und hob die Waffe auf, ohne daß der Mann sich von der Stelle rührte. „Und jetzt geh mir aus dem Weg“, sagte sie. „Man wird dich finden“, warnte er tonlos. Siri-Tong hatte dafür nur ein verächtliches Lächeln übrig. „Gib lieber acht, daß sie dich nicht finden, und überlege dir das alles genau“, sagte sie. Sie ging bis an das schief in den Angeln hängende Tor. Dort drehte sie sich noch einmal um. Lins Schwager rührte sich immer noch nicht. Geistesabwesend stand er da und starrte auf die Leiche. Die liegt jetzt genauso da wie der alte Mann auf der Straße, dachte die Korsarin. Und wenn alles nach Lins Wünschen verlaufen wäre, dann würde sie jetzt an seiner Stelle auf dem Boden liegen, tot, erwürgt. Sie öffnete das Tor, unsagbar erleichtert, und trat hinaus.
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Der alte Mann lag immer noch im Straßenstaub, und obwohl die Sonne schien, spürte die Korsarin, wie ihr ein kühler Schauer über den Rücken lief. Sie drehte sich nicht mehr um, als sie Weiter durch die stinkenden Gassen ging. Sogar die Bettler und die Aussätzigen gingen ihr schweigend aus dem Weg, denn die schlanke Frau hatte etwas in ihrem Blick, das sie zurückschrecken ließ. Nach einer Viertelstunde lag das Hafenviertel endlich hinter ihr. 9. Die grinsenden Diener brachten lange Tonpfeifen und reichten sie den Seewölfen. Seit die letzten angeschlagenen Portugiesen sich verholt hatten, herrschte eine fast beängstigende Ruhe in der seltsamen Kneipe, denn die meisten Gäste, ausnahmslos Chinesen, schliefen. „Die Kerle können doch von dem bißchen Gesöff nicht alle stinkbesoffen sein“, sagte Sam Roskill verwundert. Dann starrte er auf den Tabak in der Pfeife. „Viel ist es ja nicht, und das Kraut sieht auch ganz anders aus als das, was wir an Bord hatten.“ „Ja, da waren es große Blätter, gelbbraun“, meinte Stenmark. „Hier hat man Kugeln daraus gedreht.“ Dan O'Flynn grinste. „Vielleicht ist das Schießpulver, und wir fliegen alle in die Luft. Aber nachher können wir an Bord erzählen, daß wir in einer Kneipe richtigen Tabak geraucht haben.“ Der Diener erschien mit einem langen brennenden Span, den er unter vielen Verbeugungen an die Pfeife hielt. Sam Roskill qualmte als erster, nuckelte an der ungewohnten Pfeife und versuchte, ihr große Wolken zu entlocken. „Du rauchst ja gar nicht richtig“, erklärte Stenmark. „Wenn Ben hier wäre, der könnte es, der hat in England damals so geraucht, wie es sich gehört.“ „Und wie gehört es sich?“ „Du mußt an der Pfeife ziehen und statt Luft zu atmen, mußt du den Qualm atmen. Ich zeige es dir!“ Stenmark wartete, bis
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seine Tonpfeife qualmte, und inhalierte dann tief. Er würgte und hustete, hielt sich die Hand vor den Bauch und schüttelte sich wie in Krämpfen. „Himmel, daran erstickt man ja“, keuchte er entsetzt. „Aber große Reden halten, was?“ Die anderen versuchten es ebenfalls. Sobald man den Rauch aber inhalierte, hatte man das lausige Gefühl, man würde von innen heraus explodieren. Erst nach dem dritten und vierten Zug ging es etwas besser. Ernst hockten sie im Kreis herum -und nuckelten voller Andacht den süßlichen Tabak, und keiner wollte vor dem anderen zugeben, daß das Zeug eigentlich zum Kotzen schmeckte, daß es einem die Lunge verpestete und das Atmen zur Qual werden ließ. Das verdroß sie jedoch nicht. Sie qualmten weiter und hielten sich an den Grundsatz des Seewolfs. Man soll wenigstens alles mal probieren, hatte Hasard gesagt, wenn es einem nicht schmeckt oder nicht gefällt, läßt man es eben bleiben. Das war mit dem Reis so gewesen, den geschwärzten Bohnen und dem Tee, den sie anfangs so verabscheut hatten. Der erste, der plötzlich sehr bleich wurde, war Gary Andrews. Er hatte das Gefühl, völlig betrunken zu sein, außerdem rebellierte sein Magen, und er mußte mal. „Gleich scheiß ich mir in die Hosen“, sagte er kleinlaut. Er sah seine Kameraden nur noch wie durch dichten Nebel, und sie hatten alle merkwürdig lange Gesichter. Und Tuckers rote Haarborsten hatten auf unerklärliche Art eine grüne Farbe angenommen. Gary wankte auf den Schlauch zu, zeigte dem Chinesen, daß er mal müsse, wobei er sich demonstrativ hinhockte und das Gleichgewicht verlor. Der Chinese zeigte ihm irgendwo im Hof eine Art Donnerbalken, aber das nahm Gary Andrews gar nicht richtig wahr.
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„Verdammter Nebel“. lallte er. „Wenn der anhält, können wir sowieso nicht auslaufen.“ Auch die anderen wurden von merkwürdigen Vorstellungen geplagt. „Ob das der Schnaps ist?“ fragte Tucker schwerfällig. Er wirkte schwerfällig und behäbig. Seine Glieder fühlten sich an, als wären sie aus Blei, und er schwankte im Sitzen wie die „Isabella“ in einem heftigen Sturm. Gary kehrte taumelnd zurück und fiel auf die Matte. „Alles voll Nebel“, murmelte er. „Aber der Nebel ist ganz bunt, verdammt. Da können wir nicht auslaufen.“ „Hier drin ist auch alles voll Nebel“, sagte Dan. Ein unerklärliches Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen. Er glaubte, hoch oben in den Wolken zu schweben, mühelos fliegen zu können, und fühlte sich pudelwohl. Wenn nur die verdammte Müdigkeit nicht . gewesen wäre. Stenmark hatte noch einen einigermaßen klaren Blick, und er konnte auch noch zusammenhängend denken. „Die – die wollen uns pressen“; sagte er, „genau wie in der ,Bloody Mary' beim alten Plymson. Die haben uns was in den Schnaps getan. Wenn wir aufwachen, sind wir vielleicht auf so 'ner lausigen Gemüsedschunke.“ Er sah den Chinesen hinter der Theke an, der ausdruckslos zu ihnen herüberblickte. „Verdammt“, murmelte er, denn jetzt wirkte der sonderbare Tabak auch ganz plötzlich bei ihm. „Das –das ist doch tatsächlich der alte Plymson, der hat seine Perücke abgenommen. Wir sind in England, Männer, glaubt mir das, da – da steht der alte Plymson.“ Sein Kopf sank ihm auf die Brust. und übergangslos begann er tief und fest zu schlafen. Auch den jungen O'Flynn hatte es erwischt. Er pennte mit eingezogenem Kopf und schnarchte laut. Tucker hielt sich noch ein wenig. Sein Gesicht war maskenhaft starr. Er wäre jede Wette eingegangen, daß hinter der Theke
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der alte Plymson persönlich hockte und sie angrinste. „Noch einen Schnaps, Plymson, du alte Hafenratte“, sagte er. Aber Plymsons kahler Schädel verwandelte sich in einen riesigen gelben Ball und rollte ihm von den Schultern. Tucker rülpste laut und wollte sich wieder an die Wand lehnen, doch die gab es nicht mehr. Da war nur noch ein riesiges schwarzes Loch, in das er seufzend hineinfiel. Ein paar Minuten später pennte auch der letzte von ihnen. Kreuz und quer lagen sie herum. * Ben Brighton und der Profos waren jetzt seit einer Stunde unterwegs, um die verschollene Schar zu suchen. Brighton und der Moses Billwaren schon lange wieder zurückgekehrt, nachdem sie das Mädchen „Flüssiges Licht“ begleitet hatten. „Die hocken in irgendeiner Kneipe“, hatte Hasard gesagt, „und haben die Zeit vergessen. Sucht sie also!“ „Daß diese Kanalratten sich immer bis an den Stehkragen besaufen müssen“, schimpfte Ben, als sie den gesamten Hafenbereich abgrasten. Zwei Kneipen hatten sie bereits entdeckt, aber in denen hockten nur Chinesen und zwei besoffene Portugiesen, die von dem Schiff stammten, das heute eingelaufen war, und sich hier anscheinend ganz gut auskannten. „Ich verstehe das auch nicht“, wetterte der Profos. „Ferris ist doch dabei, der müßte doch wissen, was los ist. Sonst ist der Kerl doch immer so pflichtbewußt.“ „Wir werden sie schon finden“, versprach Ben. Ab und zu hielt er an und deutete durch Gesten den Chinesen gegenüber an, daß sie eine Kneipe suchten. Er benutzte dabei unbewußt die gleichen Gebärden wie Ferris Tucker. Wenn man erst einmal ein oder zwei dieser merkwürdigen Felsenkeller gesehen hatte,
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entdeckte man die Kneipen auch. Meist waren es dunkle Schlünde, aus denen süßlicher Duft drang, und es ging immer ein paar Treppen hinunter. Jetzt hatten sie wieder eine entdeckt, die ein Chinese ihnen beschrieben hatte. Carberry prallte fast mit einem Sänftenträger zusammen, der gemeinsam mit einem anderen einen Kasten schleppte, in dem ein kleiner gut gekleideter Kerl saß. Von denen gab es hier unglaublich viele, und darüber kam der Profos immer noch nicht hinweg, daß sich die Leute von anderen durch die Straßen schleppen ließen. „ „In England gibt es wenigstens noch Kutschen”, sagte er grummelnd. „Da schleppen sich die Leute nicht gegenseitig durch die Straßen und rennen alles um.“ Zusammen mit Ben stiegen sie die Stufen hinunter. Niemand kümmerte sich um sie, alles war in dichte süßliche Rauchschwaden gehüllt. Auf dem Boden lagen ein paar schlafende Gestalten. „Daß die in den Kneipen immer pennen müssen, verstehe ich auch nicht ganz“, sagte Ed zu Ben. „In einer Kneipe hockt man sich doch hin, säuft ordentlich oder spielt, würfelt, hat ein paar Weiber um sich, aber man pennt doch nicht.“ „Ich begreife das auch nicht.“ „Und jeder raucht so stinkiges Kraut“, sagte der Profos. Fluchend tastete er sich durch den halbdunklen Kellerraum, stieg über Schläfer, tastete sich durch die Nischen und kehrte wieder zurück. „Da sind sie auch nicht, verdammt! Wie viele dieser stinkenden Kneipen mag es denn noch geben?“ Eine halbe Stunde später entdeckten sie wieder eine. Das gleiche Spiel begann. Hinuntertasten und suchen, bis sich die Augen an das ungewohnte Licht gewöhnt hatten. An der Theke stand ein riesiger Glatzkopf. Er sah den beiden Männern entgegen und rührte sich nicht.
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Carberry stolperte fluchend über einen lang auf dem Boden hingestreckten Mann und stieß eine Reihe von Verwünschungen aus. „Zum Teufel, das ist ja Dan!“ „Und da sind die anderen“, sagte Brighton. „Was ist denn mit denen los? Die pennen ja auch.“ Der Profos griff angewidert nach einer zerbrochenen Tonpfeife, hob sie auf und schnüffelte an dem Kopf, bevor er sie an Ben weiterreichte. „Diese Rübenschweine haben Tabak geraucht“, stellte er mißbilligend fest. „Und gesoffen haben sie auch jede Menge.“ Verwundert blickten sie auf ihre Kameraden. Dann fuhr der Profos herum und musterte den Wirt. „Hör zu, du verlauste Kakerlake“, sagte er: „Wenn ihr Triefaugen die Männer pressen wollt, dann nehme ich dich auseinander und sehe mal nach, was unter deiner polierten Kugel steckt.“ Der Wirt gab keine Antwort. Er verstand sowieso kein Wort. Carberry schnappte sich seinen Freund Ferris Tucker und riß ihn zu sich heran. „He!“ brüllte er, daß sich das Echo dumpf von den Lehmwänden brach. „Wach auf, du rothaariger Affe!“ Tucker sank schlaff zurück, als der Profos ihn losließ. Auch die anderen waren nicht wach zu kriegen. „So besoffen habe ich die Keile noch nicht gesehen, nie und nimmer in meinem Leben. Vielleicht haben sie den verdammten Schnaps nicht vertragen. Oder der Kerl hat ihnen ein Betäubungsmittel verpaßt. Wie kriegen wir sie denn an Bord?“ Ben kratzte sich den Schädel und überlegte. „Wenn Hasard die sieht, dann steigt er in die Wanten“, sagte er düster. „Einer von uns muß an Bord zurück und die anderen holen, dann müssen wir sie tragen.“ „Bist du verrückt?“ brauste der Profos auf. „Ich soll diese besoffenen Rübenschweine durch die Straßen schleppen? Bin ich vielleicht ein Chinese, was, wie? Eben
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habe ich noch darüber gemeckert und jetzt ...“ Er brach ab und überlegte. „Vielleicht sind diese Sänften doch gar nicht so übel“, meinte er. „Wir packen die Saufbrüder hinein und lassen sie an Bord bringen, dann ist das Problem gelöst.“ „Was werden die anderen denken?“ „Die erfahren es ja sowieso, und der Seewolf wird Verständnis dafür haben. Außerdem ist es gleich dunkel.“ „Dann wollen wir dem Glatzkopf mal erklären, was wir vorhaben.“ Sie versuchten es mit Händewedeln und beschwörenden Gesten, bis der Chinese begriff. Er lief selbst auf die Straße und kehrte nach einer Weile wieder zurück, gefolgt von fünf Kerlen, die sich diensteifrig verbeugten. Carberry hielt dem Wirt ein paar Silberstücke hin, denn wahrscheinlich hatten die Kerle noch nicht bezahlt. Er wunderte sich, daß der Glatzkopf nur eine ganz dünne Scheibe nahm und sich eifrig verbeugte. Ein verdammt billiger Laden, folgerte der Profos daraus. Tucker lud er sich selbst auf den Rücken, während Ben den schnarchenden Dan nach oben trug. Die drei anderen trugen die Chinesen bis nach oben, wo in Reih und Glied die hölzernen Kästen standen. Carberry bedauerte die beiden Kerle, die den schweren Ferris Tucker schleppen mußten, aber dann hatten sie selbst alle Mühe, den flinken Burschen zu folgen, denn die schien die Last nicht im geringsten zu stören. Eilig trabten sie los. Bis sie den Hafen erreichten, war nochmals eine halbe Stunde vergangen. Es dämmerte bereits, als die Sänftenträger über den Steg liefen und ihre Kästen vor der „Isabella“ abstellten. Zum Glück ist auf dem schwarzen Segler keiner zu sehen, dachte der Profos in einem Anflug leichter Verschämtheit, oder wenn sie einer sieht, hält er es vielleicht für einen besonders gut gelungenen Witz. Er griff in die Hosentasche und gab jedem der Kerle eine kleine Silberscheibe. Die
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Kerle bedankten sich nicht einmal richtig, wie er erstaunt feststellte. Sie rannten los, als wären sämtliche Teufel hinter ihnen her. An Bord standen die Seewölfe am Schanzkleid und blickten verwundert auf die ausgeladenen Kameraden, von denen keiner mehr in der Lage war zu stehen, geschweige denn, sich zu bewegen. „Hoffentlich seid ihr bald hier und tragt sie an Bord!“ schrie Ed wütend, als sich keiner rührte. Morgan, Davies, Pete Ballie und Big Shane liefen herbei, gefolgt von allen anderen. Nur Hasard rührte sich nicht. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er auf den traurigen Haufen, der da an Bord wanderte. In der Kuhl legten sie die fünf Männer hin. „Was ist mit ihnen?“ fragte der Seewolf ausdruckslos. „Vielleicht haben sie zuviel gesoffen“, erwiderte Ben. „Dann werden sie morgen Gelegenheit zum Beten haben“, sagte Hasard hart. „Gott sei ihren armen Seelen schon jetzt gnädig.“ Der Kutscher erschien und nahm Sam Roskill eine Tonpfeife aus den verkrampften Fingern, die Sam eisern umklammert hielt. „Total besoffen“, sagte auch der Kutscher, als ihm von den fünf Männern eine Wolke entgegenwehte, wie sie nur billiger Fusel verursachen konnte. Aber dann stutzte er, und auch der Seewolf trat näher heran. Er hob Dans Augenlid an und sah nur das Weiße. Der Augapfel war total verdreht. „Das ist nicht vom Saufen”, sagte der Kutscher entschieden. „Entweder hat man ihnen was in den Schnaps getan, oder der Fusel hat nichts getaugt. Es gibt da nämlich so ein Zeug, von dem man blind werden kann, und das schlägt verdammt auf den Schädel.“ „Wir dachten anfangs auch, daß man sie auf Dschunken pressen wollte“, erklärte Ben, „denn ich habe noch nie gesehen, daß sich Männer so sinnlos besaufen.“
Chinesische Rache
Der Kutscher war ratlos. Er wußte nicht, wie er die fünf Burschen wachkriegen sollte. „Holt Siri-Tong“, befahl Hasard. „Auch wenn sie noch ein wenig durcheinander ist. Sie weiß vielleicht mehr darüber.“ „Wieso ist sie durcheinander?“ fragte Ed. „Ich erkläre es euch später. Nur soviel: Sie hat ihre Mutter an Bord geholt, und auf dem Rückweg ist ihr dieser Kerl begegnet, der Bruder von ihrem Verlobten, und wollte sie umbringen.“ „Und dann?“ fragte der Profos gespannt. „Sie lebt noch“, erwiderte Hasard lakonisch. „Aber der Bruder hat es wohl nicht überlebt.“ Nur ein paar Minuten später erschien die Korsarin. Man sah ihr nicht an, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Der Profos wies auf die bewußtlosen Männer, von denen sich immer noch keiner rührte. „Wir fanden sie in einer Kneipe, so einer Art Keller, und sie pennten wie Tote. Wir glauben, daß der Wirt sie pressen wollte und ihnen was in den Schnaps schüttete, Madam.“ „In Shanghai würde man keine fremden Teufel zum Dienst auf die Dschunken pressen“, sagte sie entschieden. „Dafür gibt es genügend einheimische Leute.“ „Was fehlt ihnen dann?“ Siri-Tong entdeckte die Pfeife, die der Kutscher gedankenverloren in den Händen hielt. Vorsichtig nahm sie ihm das Ding aus der Hand und roch daran, ehe sie sie angewidert zurückgab. „Haben alle geraucht?“ fragte sie. Der Profos nickte. „Ja, neben jedem lag so ein Ding, und in der Kneipe war alles voller Qualm.“ Zum ersten Male lächelte die Korsarin flüchtig. „Sie werden noch mindestens zehn Stunden schlafen, und wenn sie erwachen, werden sie einen dicken Schädel haben, aber das vergeht wieder.“ „Wie kann man ihnen helfen?“ fragte der Kutscher.
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„Gar nicht. Laßt sie ausschlafen. Sie waren in den Höhlen des Lasters, und weil dort alle rauchen, haben sie es aus Neugier sicher auch versucht.“ „Ich habe selbst schon mal Tabak geraucht“, wandte Ben ein, „aber deswegen fehlte mir noch lange nichts.“ „Das hier war auch kein Tabak. Es ist eine Art Gift, das gute oder böse Träume erzeugt. In China wird es aus der Pflanze des Schlafmohns gewonnen und künstlich verfeinert. Auf den Dschunken raucht man das Teufelszeug, bis man süchtig wird und daran stirbt.“ Der Kutscher zuckte zusammen. „Was wird den Männern passieren?“ „Keine Sorge, Kutscher, ihnen wird nichts passieren, bis auf den dicken Kopf am anderen Tag, das vergeht wieder.“ Sie sah Hasards harten Blick und schüttelte den Kopf. „Sie wußten doch gar nicht, was es ist, Hasard“, sagte sie leise. „Es hätte dir und jedem anderen auch passieren können. Sie dachten an Tabak und probierten es. Ihr Pech, daß es keiner war. Wir sind immer noch im Land des Großen Chan.“ Hasards Gesicht entspannte sich wieder. „Bringt die Kerle nach unten und legt sie in die Kojen.“ Batuti rannte besorgt um „kleines Dan“ herum und trug ihn wie ein rohes Ei weg. „Kleines Dan“, murmelte er immer wieder, „kleines Dan muß mächtig krank sein.“ Dan blinzelte, aber er kehrte nicht in die Wirklichkeit zurück. Er verstand aber den Sinn in etwa. „Kleines Dan ist schon im Himmel, du Urwaldaffe“, murmelte er mit halbgeschlossenen Lippen und schlief weiter. Auch die anderen schliefen tief und fest. 10. An diesem Abend fand auf dem Achterdeck der „Isabella“ eine letzte Besprechung zwischen dem Seewolf, dem Wikinger und der Roten Korsarin statt. Ein Großteil der Crew hatte sich ebenfalls in der Nähe versammelt und hörte zu.
Chinesische Rache
„Ich habe beschlossen, morgen bei Sonnenaufgang weiterzusegeln“, sagte Hasard. „Wir haben Proviant und Wasser, und es fehlt uns an nichts. Das, was wir uns vorgenommen hatten, haben wir ebenfalls erfüllt. Und über unseren Kurs haben wir auf der Fahrt von Peking nach Shanghai ebenfalls gesprochen.“ „Du willst wirklich nach England?“ fragte Siri-Tong. Hasard nickte entschlossen. „Ich werde versuchen, den anderen Seeweg zu finden, irgendwie wird es uns gelingen.“ „Und wenn man dich in England so empfängt wie damals?“ „Das muß ich in Kauf nehmen. Aber dort dürfte sich in der ganzen Zeit auch einiges geändert haben. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen, Siri-Tong, aber du hast dich ja entschlossen, vorerst noch hierzubleiben. Was hast du danach vor?“ Ihr Blick schweifte in die Ferne. „Zuerst sorge ich für meine Mutter“, sagte sie und lächelte, „dann werden wir vielleicht auch in eure Richtung segeln, oder ich kehre zur Schlangen-Insel zurück. Aber wie gesagt, ich weiß es noch nicht genau.“ „Grüße deine Mutter von mir, es tut mir leid, daß ich sie damals angelogen habe.“ „Oh, das war eine fromme Lüge, die die alte Frau geschont hat. Dafür bin ich dir heute noch dankbar.“ „Die Schlangen-Insel“, sagte Hasard. „Sie erscheint mir fast wie ein ferner Traum, aber auch wir werden wieder dorthin segeln, Jean Ribault vielleicht treffen und nach unseren Schätzen sehen. Wann das sein wird, steht allerdings noch in den Sternen.“ Erst sehr spät in der Nacht gingen sie auseinander. Damit hatten sich ihre Wege vorübergehend getrennt. Hasard akzeptierte den Entschluß der Korsarin und des Wikingers, erst für die alte Frau zu sorgen, bis alles seine Richtigkeit hatte. Die Seewölfe waren zu neuen Abenteuern bereit, und jeder fragte sich gespannt, was diese Reise wieder bringen würde.
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Bald darauf kehrte Ruhe auf dem Schiff ein. * Kurz bevor die Sonne aufging, herrschte reges Leben an Bord der ..Isabella“. Des Profos' Stimme tönte durch den Hafen und scheuchte sogar die Dschunkenkapitäne aus dem Schlaf. „Steht nicht so müde 'rum, ihr triefäugigen Wanderratten!“ schrie er. „Heißt auf die Lappen, hopp, hopp, und drückt das Schiff von der Pier ab, oder seht ihr nicht, daß die alte Tante daran kleben bleibt, was, wie?“ Gary Andrews, Dan, Sam Roskill, Stenmark und Ferris Tucker standen an Deck, verkatert wie noch nie in ihrem Leben. Ganze Bienenschwärme schienen in ihren Schädeln zu kreisen. Ihre Gesichter waren blaß, und alle paar Minuten hängte sich Gary Andrews über das Schanzkleid, rülpste und kotzte sich die Seele aus dem Leib, bis seine Kehle brannte und sein Magen schmerzte. Den anderen erging es ähnlich, aber sie fühlten sich schon etwas besser, als ihnen eine leichte Brise um die Ohren zu wehen begann. Die „Isabella“ löste sich von der Pier und schwamm hinaus, träge, als wolle sie noch einmal zurück. Carberry stand an Deck, die Arme in die Hüften gestemmt. „Nun seht euch diese Rübenschweine an“, sagte er. „Hocken in den Kneipen 'rum, saufen wie die Ochsen und können doch nichts vertragen.“ „He, he!“ protestierte Dan schwach, dem es wieder etwas besserging. „Warst du gestern nicht so besoffen, daß du nicht mehr laufen konntest, du Hering?“ schrie der Profos. „Ich bin an Bord geflogen“, behauptete Dan, „das weiß ich noch ganz genau.“ „Dann wird es höchste Zeit, daß man dir mal die Flügel stutzt. Geflogen, was, wie?
Chinesische Rache
In der Sänfte haben wir euch Kakerlaken an Bord gebracht.“ „Weißt du was von einer Sänfte?“ fragte Dan Sam Roskill. Aber der schüttelte nur müde den Kopf und sagte gar nichts. Die „Isabella“ segelte langsam hinaus. In dem Halbdämmerlicht sah Hasard die Rote Korsarin an Deck stehen und winken. Sie winkte so lange, bis der Rahsegler das offene Meer erreichte, und der Seewolf winkte zurück. Wer weiß, dachte er, vielleicht würden sie sich einmal wiedersehen. In England oder auf der Schlangeninsel oder sonst wo. Dann blähten sich die Segel, und wie ein großer Schwan rauschte die „Isabella“ auf ihrem Kurs nach Süden. In der Kuhl aber stand der Profos und starrte auf Luke Morgan. „Was, zum Teufel, maulst du denn dauernd hier herum, du Hering?“ fragte er. „Ich sollte mich doch bei dir melden. Wegen der Kanone.“ „Ach, richtig. Nicht wegen der Kanone, wegen deines lausigen Hitzkopfs. Jetzt muß ich dieses Rübenschwein auch noch verprügeln. Du kannst einem aber auch den ganzen Tag versauen, Mann!“ „Das beruht auf Gegenseitigkeit“, sagte Morgan und grinste lahm. „Na, dann werde ich mal die Neunschwänzige holen“, sagte Ed, „denn Befehl ist Befehl. Du kriegst hinterher auch einen Schluck Rum, du dämlicher Hund.“ „Das sind mir drei Hiebe wert“, sagte Luke kläglich. Die „Isabella“ rauschte weiter nach Süden. Das gewohnte Leben an Bord nahm seinen Gang. Der Profos vergaß auch Luke Morgan nicht und holte die Peitsche. Er wartete aber mit der Bestrafung so lange, bis die Küste nur noch als feiner Strich zu erkennen war.
ENDE