Blutspuk in Venedig
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 171 von Jason Dark, erschienen am 27.06.1995, Titelbild: Richar...
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Blutspuk in Venedig
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 171 von Jason Dark, erschienen am 27.06.1995, Titelbild: Richard Newton
Der Popstar Rock Paretti hatte sich einen Traum erfüllt und einen alten Palazzo in Venedig gekauft. Nur paßte das den Mächten der Finsternis nicht. Die erste Warnung erreichte Paretti mit der Post. Die Worte waren mit Blut geschrieben. Als zweite Warnung fand man Rocks Sekretär tot und gesichtslos im schmutzigen Wasser des Canale Grande treibend. Von nun an wurde es ein Fall für Suko und mich. Wir düsten in die Lagunenstadt, wo wir nicht nur eine rätselhafte Frau kennenlernten, sondern auch den Blutspuk von Venedig am eigenen Leib erlebten...
»Wieviel Fanpost ist heute eingetroffen?« Sid Arnos schaute hoch. Wie immer hatte Rock Paretti sehr kalt, arrogant und unpersönlich gesprochen. Es war eben seine Art, Menschen auf diese Art und Weise zu behandeln. Er war der Star, und solange er gut zahlte, war es Sid Arnos, dem Sekretär, egal, wie man ihn ansprach. »Drei Briefe, Rock!« »Was?« Paretti blieb stehen, als hätte ihn der plötzliche Anblick deiner Person geschockt. »Drei nur?« »So ist es.« »Scheiße!« Paretti hob die Arme und spreizte die Finger. Er bewegte sie, als wollte er in der Luft auf dem Klavier spielen. »Das muß sich ändern, Sid, verstehst du?« »Sicher.« Paretti blickte Arnos starr an. »Sieh zu, daß du eine Kampagne anlaufen läßt. Laß dir was einfallen! Ich muß wieder in die Presse. Ich brauche Öffentlichkeit. Ich brauche alles. Printmedien, TV«, er holte Luft und suchte dabei nach Worten. »Ich brauche auch Skandale. Nicht zu große, nicht zu kleine. Dinge, die in der Mitte stehen, die man einem Mann wie mir verzeiht, weil ich eben ein Star bin. Laß dir was einfallen, Sid, und zwar schnell.« »Das wird schwer sein.« »Weiß ich, aber ich bezahle dich gut. Ich habe meine Ideen auf dem Klavier und im Studio. Du bist doch derjenige, der den Kontakt zu den Medien hält – oder?« Arnos nickte. Er schaute dabei auf die Tür, die zu Parettis Büro führte. Sie hatten die beiden Räume nahe des Piccadilly gemietet, um irgendwelche Verhandlungen nicht in Hotels führen zu müssen. »Warum sagst du nichts?« »Ich denke nach, Rock.« »Schön. Und wie sieht der Erfolg aus?« »Es gibt ihn noch nicht.« »Ach ja?« »Mir ist da eine Idee gekommen, aus der man vielleicht etwas machen könnte!« Paretti fand seinen Platz zwischen zwei Fenstern. Er baute sich dort auf und berührte mit dem Rücken die Wand. »Ich höre, Sid.« »Du hast doch den Palazzo gekauft.« »Ja.« »Daraus könnte man was machen.« »Was?« Der Sekretär hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber mir wird schon etwas einfallen, wenn ich nach Venedig fliege.« Paretti lachte kalt. »Dort willst du hin?«
»Sollte ich doch.« »Ach ja, stimmt. Jemand muß die Renovierungsarbeiten überwachen.« Der Rockstar nickte. »Nicht schlecht. Wann wolltest du fliegen?« »Morgen.« »Auch gut. Und weiter?« »Ich habe mir gedacht, daß wir den Kauf medienwirksam in Szene setzen. Großer Rockstar kauft kreative Stätte in Venedig. Fühlt sich der europäischen Kultur und Geschichte verbunden. Moderne Topmusik inmitten alter Mauern. Könnte dir das gefallen? Es ist nur eine erste Idee gewesen, und du weißt selbst, wie oft man sie umwirft, aber eine Basis hätten wir damit schon. Außerdem solltest du, wenn du hinziehst, eine große Einweihungsfete geben und dabei nicht nur Typen aus der Szene einladen, sondern auch die Vertreter der Medien. Mädchen werden auch genügend kommen, so daß eigentlich alles seinen normalen Weg gehen kann. Ist ein Vorschlag, Rock.« Paretti nickte. Dieses Nicken kam bei Sid Arnos gut an. Er war ja froh, daß sein Chef nicht tobte, denn so etwas passierte leicht, wenn ihm etwas nicht paßte. Für seine Wutausbrüche war Rock Paretti berühmt und berüchtigt. Diesmal krauste er nur die Stirn, strich über sein glattes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. »Könnte was werden.« »Danke, Rock.« »Wozu?« »Daß du es nicht abgelehnt hast. Du wirst übrigens in der nächsten Woche schon einziehen können, die Arbeiten gehen zügig voran.« »Woher weißt du das?« »Ein Bekannter von mir hält sich in Venedig auf. Ich habe ihn gebeten, mal nachzuschauen. Er meinte, daß alles okay wäre.« »Ja. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Du wirst selbst hinfliegen und dich umschauen.« Paretti deutete mit dem Zeigefinger auf Sid Arnos. »Und zwar morgen.« »Das Ticket ist bereits reserviert.« Der Rockstar lachte. »Weißt du was, Sid? Manchmal wirst du mir direkt unheimlich.« Der Sekretär lächelte. »Was heißt unheimlich? Ich bin es eben gewohnt, mitzudenken.« »So kann man es auch sehen.« Paretti löste sich von seinem Platz und wanderte auf seine Bürotür zu. »Gibt es noch irgend etwas, das ich wissen müßte?« »Jaaa…« Arnos dehnte die Antwort. »Da wäre noch was.« »Und?« »Ein vierter Brief.«
»Wie toll.« Parettis Lachen klang kalt. »Ein kleiner Hoffnungsschimmer der Fans?« »Das denke ich nicht.« Sid Arnos hob einen braunbeigen, neutral aussehenden Umschlag hoch, der bisher auf dem Schreibtisch gelegen hatte. »Das ist er.« »Von wem?« »Es gibt keinen Absender.« Der Rockstar verengte die Augen. »Eine Briefbombe?!« Nun trat er sicherheitshalber einen Schritt zurück. »Nein, das glaube ich nicht.« »Was macht dich so sicher?« »Mein Gefühl.« Paretti schaute seinen Mitarbeiter an und grinste. »Briefbomben«, so erklärte er, »sind sehr wirkungsvoll, doch in ihnen steckt nie soviel Sprengkraft, daß sie alles in einem Zimmer zerstören. Deshalb werde ich jetzt in mein Büro gehen und dich diesen Brief öffnen lassen, Sid. Du brauchst es nicht, wenn du es nicht willst. Du kannst ihn auch den Bullen übergeben, die haben Spezialisten dafür. Ich überlasse es dir. Nur bin ich neugierig und möchte wissen, wer mir da geschrieben hat.« »Kannst du alles erfahren.« »Dann öffne den Umschlag, aber erst, wenn ich in meinem Büro verschwunden bin.« Sid Arnos nickte. Er schaute kopfschüttelnd zu, wie sein Chef das Vorzimmer verließ. Für ihn war Paretti ein Idiot. Der glaubte natürlich an eine Briefbombe oder an einen vergifteten Brief. Das tat Sid Arnos nicht. Rock Paretti hatte zwar nicht nur Freunde – wer hatte die schon im Showgeschäft? – , aber daß ihn jemand auf diese Art und Weise in die Luft jagen wollte, war sicherlich abwegig. Der Umschlag hatte die doppelte Größe eines normalen Briefes. Arnos nahm einen Öffner, schlitzte das Papier auf, und für einen Moment beschleunigte sich sein Herzschlag. Da war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, aber seine negativen Gedanken gingen vorbei, er griff in den Umschlag hinein und holte den Brief hervor. Nun faltete er den Briefbogen auseinander. Plötzlich saß er starr. Sid Arnos wußte augenblicklich, daß die Nachricht nicht mit roter Tinte geschrieben worden war. Das war… das mußte… verdammt, das konnte nur Blut sein! Er kam zu keinen langen Überlegungen, denn Rock Paretti öffnete die Tür seines Zimmers und schaute herein. Da nichts passiert war, betrat er den Raum. Arnos saß noch immer auf dem Stuhl wie festgenagelt. Er nahm seinen Chef erst zur Kenntnis, als dieser direkt neben dem Schreibtisch stehenblieb. »Na, was ist?«
»Der Brief.« »Und?« »Keine Bombe.« »Wie schön für uns.« Arnos hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob es so schön ist«, murmelte er. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dieser Brief nicht mit roter Tinte, sondern mit Blut geschrieben worden. Vielleicht sogar mit dem Blut eines Menschen, Rock.« »Gib ihn her!« Parettis Stimme zitterte. Er riß das Blatt förmlich an sich, las und wurde blaß. Arnos beobachtete ihn dabei. Er sah den Schweiß auf Parettis Stirn und bekam auch mit, wie der Mann seine Lippen bewegte. Mit tonloser Stimme las er den Text halblaut vor. »Wenn Du den Palazzo beziehst, wirst Du ein Opfer des Blutspuks werden. Kein Fremder kann ihm entkommen. Also hüte Dich…« Der Text trug natürlich keine Unterschrift. Die Hand mit dem Papier sank langsam nach unten. Paretti schluckte. Er saugte die Luft scharf durch die Nase ein, suchte nach Worten, hatte sie endlich gefunden und fragte mit leiser Stimme: »Was sagst du dazu, Sid?« »Keine Ahnung.« »Ist das echt?« »Wir sollten davon ausgehen.« Paretti überlegte. Urplötzlich lachte er auf. »Verdammt«, sagte er und rannte durch den Raum. »Das ist ein Hammer. Das ist ja der Hammer überhaupt! Das nutzen wir als PR-Meldung, da brauchen wir uns nichts auszudenken. Das machen wir publik. Jemand hat mir einen Brief geschickt. Jemand will nicht, daß ich in den Palazzo einziehe. Man stemmt sich dagegen. Man schickt mir eine schriftliche Warnung, mit Blut geschrieben! Das ist es doch, was wir brauchen, Sid.« Er schlug Arnos auf die rechte Schulter. »Na? Was sagst du dazu? Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Behalte deine Gedanken und deine Kreativität für dich. Du fliegst nach Venedig, während ich hier für die entsprechende Presse sorge.« Sid Arnos war nicht wohl. Sicherheitshalber fragte er nach. »Ich soll also nach Venedig fliegen und mich um den Palazzo kümmern?« »Wie besprochen.« Er deutete auf den Brief. »Trotz der Drohung?« »Klar – klar doch. Das schlachten wir aus. Zudem wollen diese Schreiber oder dieser Schreiber ja nichts von dir, sondern von mir. Du bist außen vor, mein Freund.« »Meinst du?« »Immer.« Paretti nahm eine Wanderung auf. Er war plötzlich in Form, sah Licht am Ende des Tunnels und brauchte für die Werbung nicht mal
etwas zu zahlen. »Das wird eine Sache«, flüsterte er, »die ziehen wir durch und kommen groß raus…« Ja, als Leichen, dachte Arnos und schüttelte sich… *** Venedig! Eine Stadt wie ein Traum, eine Stadt wie ein Alptraum und manchmal wie der personifizierte Untergang des Landes Italien, das von einer Krise in die nächste stürzte. Und doch – Venedig lebte. Es ging immer weiter, nicht nur mit Italien, auch mit Venedig, wo die Menschen im und mit dem Wasser lebten. Sie gaben nie auf. Trotzig restaurierten sie ihre Paläste oder feierten rauschende Feste, besonders zu Zeiten des Karnevals. Noch immer gehörte Venedig zu den bevorzugten Reisezielen, überströmt von Touristen, die im Frühjahr und im Sommer einfielen wie die Heuschrecken und die Stadt unter Streß setzten. Das änderte sich in den Wintermonaten. Da atmete das holde Venezia auf und verfiel gleichzeitig in eine Agonie, die Stadt und Bewohner als Wohltat empfanden. Die wenigen Touristen verliefen sich. Und diejenigen, die kamen, begrüßte man gern, denn sie paßten sich dem Lebensrhythmus der Einheimischen an. Sie genossen die Kühle, den Nebel, das Wasser, den Dunst. Die besondere Melancholie, die nicht nur auf der Friedhofsinsel San Michele zu Hause war. An all die besinnlichen Schönheiten der Stadt dachte ein Mann wie Sid Arnos nicht, als er in Mestre aus dem Jet stieg und feststellen mußte, daß sich die Sonne aus dieser Region zurückgezogen hatte. Es war ebenso kühl wie in London, und er stellte den Kragen seines Mantels hoch. Noch befand sich Arnos nicht in der Stadt. Er wollte vom Flughafen mit dem Zug hineinfahren und sich anschließend ein Wassertaxi nehmen, um zu seinem Ziel zu gelangen. Zuvor brauchte er einen Kaffee. Er fand einen Platz an einer offenen Bar, bestellte den Espresso, der sehr heiß war, blies gegen die Oberfläche und schaute dabei sinnierend ins Leere. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Er verfluchte seinen Job, er verfluchte Paretti, der selbst zu feige gewesen war, in die Stadt zu fliegen, wo er sich einen Palazzo gekauft hatte. Sid Arnos wußte, daß er nicht mal sehr viel Geld dafür hatte bezahlen müssen. Er war relativ preiswert gewesen, und die Renovierung der Zimmer stand heute vor dem Abschluß. Rock Paretti hätte praktisch einziehen können. Da war die Warnung gekommen.
Wenn er einzog, würde er ein Opfer des Blutspuks werden. Obwohl diese Zeilen an Paretti gerichtet gewesen waren, wollten sie Sid Arnos nicht aus dem Kopf. Schließlich arbeitete er für Paretti. Er war gewissermaßen sein Vertrauter, und er konnte sich vorstellen, daß dieser Blutspuk nicht nur dem Besitzer galt, sondern auch ihm. Genau dieses Denken drängte die Furcht in ihm hoch. Er bestellte einen zweiten Espresso, um die Kälte in seinem Innern zu vertreiben. Mochte das Gebräu noch so heiß sein, es konnte das Gefühl der Angst nicht unterdrücken, das sich auch in den dunklen Augen des Mannes festgesetzt hatte. Wenn er den Kopf nach rechts drehte, konnte er sich in einem Wandspiegel betrachten, und er glaubte, die Angst zu sehen, die wie ein Schatten auf seinem Gesicht lag. Er schluckte, wischte über seine Stirn und stellte fest, daß seine Hände zitterten. Er war ein hochgewachsener Mensch mit dunkelblonden Haaren. Sie waren zurückgekämmt, die Stirn lag also frei, und seit seiner Geburt schon – so hatten es ihm die Eltern berichtet – lagen dünne Falten auf der Haut, so daß er immer sehr nachdenklich und auch älter wirkte, als er tatsächlich war. Eine gerade Nase, Augenbrauen wie dünne Striche vervollständigten den Gesichtsausdruck. Er trug legere, aber teure Kleidung. Einen braunen Mantel, ein braun und beige gemustertes Kaschmirjackett, dazu eine ebenfalls dunkle Hose und ein Hemd mit feinen Streifen, zu dem die bunte Krawatte einen nicht zu starken Kontrast bildete. Arnos schaute sich um. Es war kein Verfolger zu sehen. Trotzdem glaubte er, verfolgt zu werden. Das jedoch spielte sich ausschließlich in seinem Kopf ab. Die Realität sah dagegen anders aus. Er bildete sich den Verfolger ein, und er hatte für ihn auch einen Namen gefunden. Es war der Blutspuk! Verrückt, dumm, irreal. Ein Blutspuk konnte nicht verfolgen. Er war nicht konkret, trotzdem wollte ihn dieser Name nicht loslassen. Er war ein Begriff des Grauens, des kalten Horrors, und dickte das Blut in seinen Adern zu Eis an. Der Keeper nickte ihm zu. Außer Arnos saß noch eine ältere Frau an der Bar. Sie las in einem Magazin. »Ich möchte bezahlen.« »Gern.« »Ist immer so wenig los?« Arnos reichte dem Mann das Geld. »Nein, aber im Winter stehe ich mir manchmal schon die Beine in den Bauch.« »Bis auf den Karneval – oder?« »Si, das stimmt.« Arnos verzichtete auf das Wechselgeld. »Dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen.«
»Genießen Sie die Stadt, Signore. Sie haben die Chance.« »Ich werde mein Bestes tun.« Knapp eine halbe Stunde später saß Sid Arnos im Zug, der ihn in die Stadt brachte. Sie mußten über den Brückendamm fahren, der Ponte della Ferrovia hieß. Zu beiden Seiten schimmerte trüb und grau das Wasser der Lagune. Ein leichter Wind strich darüber hinweg und zeigte auf der Oberfläche die kräuselnde Unruhe der Wellen. Der Zug rollte in den Sackbahnhof, an dessen Ostseite der Kanal die Grenze bildete. Viel Gepäck hatte Arnos nicht mitgenommen. Er stieg aus, und die Luft war noch feuchter und klammer geworden. Über der Stadt lag ein Dunst wie der Atem gewaltiger Kessel, die ihren Dampf abgelassen hatten. Arnos verließ den Bahnhof, ging die paar Schritte zum Kai und kam sich für einen Moment verloren vor, als er über den breiten Kanal hinwegschaute, gegen die geballte Wucht des Häusermeeres, durch das die vielen Wasseradern liefen, als wäre die Stadt ein pochendes, pulsierendes Herz, das mit Blut versorgt werden mußte. Möwen segelten durch die Luft. Selbst sie wirkten müde und traurig, als hätten sie ebenfalls das Kleid des Monats November übergestreift. Die Stimmen der Menschen klangen gedämpft, und das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauern hörte sich an wie verhaltener Beifall. Arnos machte sich auf die Suche nach einem Boot. Weit brauchte er nicht zu laufen. An der Anlegestelle warteten die Wassertaxis. Ihre Fahrer hatten nicht viel zu tun. Wer nicht gerade unterwegs war, unterhielt sich mit seinem Kollegen, rauchte, las auch hin und wieder in irgendwelchen Zeitungen oder hatte die Hände tief in den Taschen der wärmenden Jacke vergraben. In der Nähe schaukelten einige Gondeln auf den trüben Wellen. Sie sahen aus, als wären sie verlassen worden, um irgendwann unterzugehen. Kein Hauch einer romantischen Gondelfahrt durchzog die Gewässer. Venedig trauerte, was sich auch auf die Geräuschkulisse bezog, denn sie klang dumpf und irgendwie fern, als wäre sie hinter einem dünnen Vorhang verborgen. Andere Reisende waren schon mit ihren Wassertaxis losgefahren. Als letzter trat Arnos an den Stand der Wassertaxis heran. »Bon giorno, Signore, wohin?« »Palazzo Ferrini.« »Ah, das ist am Canale Grande.« »Si.« »Steigen Sie ein.« Arnos stieg in das Boot. Er spürte die leicht schwankenden Planken unter seinen Füßen. Die Augen hatte er zusammengekniffen. Für einen Moment stand er im Dunkeln. Er fror, er ergab sich seinen Gedanken. Er
wußte, daß der Schlüssel zum Portal des Palazzo in seiner Tasche steckte, und er merkte, wie die Angst wuchs. Sie nahm immer dann zu, wenn er an den Palazzo dachte. Was erwartete ihn dort? Der Tod? Der Blutspuk? Beides konnte er sich nicht vorstellen, und doch hätte er sich nicht gewundert, wenn der Tod als monströses Skelett wie ein Schatten über dem Häusermeer dahingeschwebt wäre. Venedig liegt im Sterben, dachte er, und auf mich wartet der Blutspuk… *** Der Palazzo Ferrini! Ein altes Gebäude, das bereits große Zeiten erlebt hatte, als die Dogen von Venedig noch zu den Herrschern des Mittelmeeres gehörten und auch die Familie Ferrini in ihrem Palazzo große Feste gefeiert hatte. Doch diese Zeiten waren vorbei. Das herrschaftliche Haus am Canale Grande stand leer. Niemand wollte es mehr haben. Die Venezianer wehrten ab, wenn darauf die Sprache kam. Andere zuckten zusammen und bekreuzigten sich, wenn sie den Namen nur hörten, denn es gab Dinge, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte. So blieb es nicht aus, daß der Palazzo verfiel, daß das salzige Wasser seine Furchen immer tiefer in die Außenhaut hineingrub und auch das prächtige Innere allmählich verfiel. Die herrlichen Räume, die jetzt leer standen. Die Decken mit ihren Fresken, die kunstvollen Malereien an den Wänden, die den Grauschleier der Spinnweben bekamen, all das zeugte vom Untergang dieses einst so prächtigen Bauwerks, das nicht weit von der weltberühmten Rialto-Brücke entfernt lag. Der Landesteg war noch vorhanden, sah allerdings ziemlich marode aus. »Wir sind da, Signore.« Sid Arnos nickte und betrachtete die Fassade. Nach einigen Sekunden hörte er das Lachen und die Frage des Fahrers. »Sieht nicht gerade gut aus, wie?« »Stimmt.« »Ich möchte hier nicht wohnen.« Arnos hob die Schultern. Er lauschte für einen Moment dem Plätschern der Wellen. »Manchmal kann das Äußere auch täuschen, wenn Sie verstehen.« »Si.« Der Mann stand da mit offenem Mund. Er zupfte an seiner dunkelblauen Pudelmütze und sagte: »Si, Sie haben recht. In meinem Job erfährt man so einiges. Wie ich hörte, ist der Palazzo renoviert worden. Ich habe auch Handwerker gesehen.« »Stimmt.«
Der Mann pfiff durch die Zähne. »Dann kann ich davon ausgehen, daß Sie damit zu tun haben? Weshalb hätten Sie sich sonst herfahren lassen?« »Nicht direkt. Ich will ihn mir nur einmal anschauen.« Arnos suchte nach Geld. »Nehmen Sie auch englische Pfund?« »Klar. Wo es mit unserer Währung so bergab geht.« »Ein Bekannter hat den Palazzo gekauft.« Der Fahrer staunte. »Ein Engländer?« »So ist es.« Das Lachen hallte in Sids Ohren wider. »Das… das… habe ich mir gedacht.« Der Mann zog die Nase hoch. »Wenn schon jemand das Ding kauft, kann es nur ein Ausländer sein.« »Warum?« Die dunklen Knopfaugen des Mannes starrten Sid Arnos an. »Schon gut, es war nur so dahingesagt.« Das glaubte Sid nicht. Er lächelte und holte eine weitere Banknote aus seiner Hosentasche. Das Geld würde dem Italiener schon die Zunge lockern, davon ging er aus. »Erzählen Sie mir, was Sie über den Bau hier wissen.« Er grinste müde. »Es bleibt ja unter uns.« »Das ist nicht viel.« »Ich bin auch für das Wenige dankbar.« Arnos drückte dem Mann das Geld in die rechte Hand. Der Fahrer schaute für einen Moment darauf, hob die Schultern. Dann ließ er die Scheine verschwinden. »Nun ja, man erzählt sich so allerhand.« »Und die Leute reden viel.« »Das können Sie sagen.« »Was spricht man denn so?« »Nun ja, schauen Sie sich um, Signore. Hier hat jedes Bauwerk seine Geschichten. Auch dieser Palazzo hier macht keine Ausnahme.« Er krempelte den Saum seiner Mütze höher. »Er heißt Palazzo Ferrini, und den Ferrinis sagt man gewisse Dinge nach.« »Welche denn?« »Weiß ich auch nicht genau. Es ist ein sehr altes Geschlecht. Man spricht von magischen Praktiken, von Alchimie und Zauberei. Dinge, die ins Mittelalter gehören.« Arnos gab dem Mann recht. »Aber trotzdem wird heutzutage darüber geredet, denke ich.« »Stimmt schon.« »Was ist dabei herausgekommen?« Der Mann stöhnte, als hätte er schon zuviel gesagt. »Nun ja, ich weiß nicht, wie viel Ihr Freund für das Haus bezahlt hat, aber sehr teuer kann es nicht gewesen sein.« »So etwas ist relativ. In der Tat ließ es sich bezahlen.« »Und das bei den Preisen hier!«
»Was wollen Sie damit andeuten?« »Daß die Einheimischen den Palazzo nicht kaufen wollten, obgleich er ihnen angeboten wurde.« »So meinen Sie das.« »Und so was läßt tief blicken.« Der Fahrer trat näher an seinen Gast heran. »Das Gebäude ist den Einheimischen unheimlich. Da ist etwas in ihm, mit dem sie nicht zurechtkommen, müssen Sie wissen. Aber fragen Sie mich nicht, was es genau ist. Ich kann Ihnen das nicht sagen. Es gibt Gerüchte, mehr nicht.« »Haben die auch einen Namen?« Der Angesprochene senkte den Kopf. »Kommen Sie, Mann! Jetzt haben Sie mir schon so viel gesagt, jetzt können Sie mir den Rest auch noch erzählen.« Der Fahrer nickte. »Die Gerüchte haben einen Namen. Man spricht von einem Blutspuk.« »Aha.« »Mehr sagen Sie nicht?« »Nein, warum?« »Aber es ist nicht einfach für Sie, darüber hinwegzugehen. Das bringt schon Probleme mit sich.« Sid Arnos grinste. »Falls man abergläubisch ist.« »Weiß ich nicht, ob man dazu abergläubisch sein muß. Doch das ist nicht mein Problem.« »Klar. Jedenfalls bedanke ich mich für die Auskünfte.« Arnos hatte genug gehört. Er wollte das Haus endlich von innen sehen. Das Boot hatte den Rand der Anlegestelle nicht verlassen. Träge schwappte das Wasser in dem Kanal, und das Boot schaukelte im selben Rhythmus, trotzdem war es für den Fahrgast leicht, trockenen Fußes auszusteigen. Arnos winkte seinem gesprächigen Fahrer zu, bevor er sich dem Haus zuwandte. Er konnte nicht behaupten, sich sehr wohl zu fühlen. Die Worte hatten ihn schon aufgewühlt. Er dachte immer wieder über sie nach, während das Boot davonfuhr. Arnos kam sich einsam vor in diesem vorwinterlichen Venedig. Der Himmel war eine Masse aus grauem Blei und ließ den Mann an die berüchtigten Bleikammern von Venedig denken, in die vor Jahrhunderten die Gefangenen hineingepfercht worden waren. Die Geschichte dieser Stadt konnte als äußerst wechselvoll bezeichnet werden. Es hatte gute und auch schlechte Zeiten gegeben, aber das interessierte ihn im Moment nicht, denn die Erzählungen des Mannes wollten ihm nicht aus dem Kopf. Man hätte darüber lächeln können. Daß Arnos es trotzdem nicht tat, lag allein daran, daß er an die schriftliche Warnung dachte, die sein Chef Rock Paretti erhalten hatte. Und die wollte keiner von ihnen auf die leichte Schulter nehmen. Schon jetzt
ärgerte er sich darüber, daß er überhaupt nach Venedig gefahren war, aber er dachte an seine Bezahlung. Sie war äußerst großzügig. Dafür nahm man schon so manchen Ärger in Kauf. Das Haus sah wirklich nicht besonders einladend aus. In den hohen Fenstern spiegelten sich die Wolken. Hineinschauen konnte man deshalb nicht. Über vielen Dächern breitete sich der Qualm wie zitternder Nebel aus. Er drang aus den zahlreichen Kaminen hervor, und der Geruch verteilte sich ebenfalls. Es roch nach Verfall, nach schmutzigem und brackigem Wasser, nach der Vergänglichkeit. Aber die Stadt hatte stets dem Untergang getrotzt. Sie würde es auch weiterhin tun. Die Eingangstür war sehr breit, auch relativ hoch, und auch an ihr hatte der Zahn der Zeit genagt. Grünspan bedeckte die Messingbeschläge. Sid Arnos würde hineingehen müssen. Er konnte sich nicht weigern. Er sollte Fotos machen. Sein Chef würde sie sehen wollen, und Sid Arnos hatte eine Gänsehaut bekommen. Er saugte die Luft durch die Nase ein. Das Panorama der Stadt lag in seinem Rücken. Vor ihm stand das Haus. Ein normaler Palazzo. Trotzdem hatte der Mann den Eindruck, als würde er an der Schwelle zu einem gewaltigen Grab stehen. Zu seinem Grab… *** Sid Arnos stand da, ohne sich zu bewegen. Er lauschte den Geräuschen der schweren Tür, die hinter ihm zufiel. Sie knarrte und schabte, sie jammerte, quietschte, als wäre sie ein alter Sargdeckel, den jemand nur mit großer Mühe bewegte. Und dann schlug sie mit einem dumpfen Geräusch ins Schloß. Wie der Eingang zu dem großen, kalten Grab, in dem der Tod seine Spuren hinterlassen hatte. Sid Arnos war ein wenig atemlos geworden. Er stand einfach da und staunte. Obwohl er seine unmittelbare Umgebung als schummerig ansehen mußte, waren die Fresken und Malereien doch gut zu erkennen. Die Farben kamen ihm vor, als würden sie leuchten, und der mit Marmor belegte Boden schimmerte an einigen Stellen wie ein Spiegel. Alles war sehr sauber und glatt, die Handwerker, die hier gearbeitet hatten, gehörten zu den Künstlern ihrer Branche. Sie hatten es verstanden, das Innere des Palazzo wie neu aussehen zu lassen, als wäre er soeben erst gebaut worden.
Sid Arnos schloß für einen Moment die Augen. Er gehörte zu den phantasiebegabten Menschen und konnte sich gut vorstellen, wie sich seine Umgebung in einen prächtigen Ballsaal verwandelte, gefüllt und besucht von festlich gekleideten Menschen, die nach den Klängen der Musik tanzten und ihre Reigen abschritten. Nur blieb das Bild nicht lange. Ein anderes schob sich darüber hinweg. Es war dunkler, grauer und gefährlicher. Auch düster und zugleich unheimlich. Die Wahrheit… Er sah sie, als er die Augen öffnete und mit einer langsamen Bewegung den kleinen Fotoapparat aus der Tasche holte. Sein Chef hatte es so gewünscht. Er wollte sich ein Bild von den leeren Räumen machen. Er würde die Aufnahmen vergrößern und selbst die Einrichtung hineinzeichnen. Dieser Palazzo würde wieder, wenn es nach Rock Paretti ging, seine alte Pracht erhalten, jedoch vermischt mit den Errungenschaften der modernen Unterhaltungselektronik. So würde es ein Studio geben, das direkt neben einem Raum stand, in dem die Zeit stehengeblieben war, zumindest was die spätere Einrichtung anging. Denn bei ihr sollte mit kostbaren Möbeln nicht gespart werden. Sid Arnos fotografierte. Er konzentrierte sich dabei so sehr auf seine Arbeit, daß das ungute Gefühl, das ihn bei seinem Eintreten überfallen hatte, zurückgedrängt wurde. Es gab ja nicht nur die eine große Halle. Eine Treppe führte hoch in die nächsten beiden Etagen, wo die anderen Räume durch breite Gänge miteinander verbunden waren. Allerdings war die Halle hinter der Tür der größte Raum, und ihre Decke mußte auch durch starke Säulen abgestützt werden. Sid Arnos verknipste drei Filme. Er hoffte, daß sie reichten, um Paretti die Möglichkeit zu geben, diesen Palazzo nach seinen Wünschen einzurichten. Es war kühl zwischen den noch nach Farbe riechenden Wänden. Es herrschte auch eine gewisse Feuchtigkeit vor. Hier mußte geheizt werden, doch die neue Anlage war noch nicht in Betrieb. Das würde sich bald ändern. Rock Paretti hatte es versprochen. Sids Job war im Prinzip getan, und es war nichts passiert. Genau in dem Augenblick, als er die Kamera wegsteckte, überfielen ihn wieder die Gedanken. Er nahm sie hin wie einen wuchtigen Stoß. Für einen Moment stand er unbeweglich, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Er holte tief Luft. Dabei hatte er das Gefühl, sie trinken zu müssen. Die mit Blut geschriebenen Worte der Warnung tanzten vor seinem geistigen Auge. Er sah sich wieder neben Parettis Schreibtisch stehen und über die Worte nachdenken. Da hatte er sie schon als schlimm empfunden, doch sie waren plötzlich wie Lanzen geworden, die durch seinen Kopf stachen. Schlimm und brutal. Er stand da, schaute nach vorn, ohne etwas zu sehen. Ihm fiel
ein, daß er sich in der ersten Etage befand. Er mußte die breite Treppe hinabgehen, um den Ausgang zu erreichen. Es war doch alles so einfach, er hatte den umgekehrten Weg auch geschafft, und doch gab es da etwas, das ihn daran hinderte. Furcht? Wenn ja, wovor! Sid Arnos überlegte. Sein Mund war trocken geworden. Wenn er schluckte, schmerzte sein Hals. Er runzelte die Stirn, fuhr mit zwei Fingern darüber hinweg, und als er auf seine Kuppen schaute, sah er den Schweiß, der dort zurückgeblieben war. Er gab zu, daß er vor Angst schwitzte. Wieder mußte er schlucken. Wieder brannte es in seiner Kehle, und er wollte sich unbedingt zusammenreißen. Er sagte sich, daß es dort einfach nichts gab, was ihm gefährlich werden konnte, aber er wollte sich selbst nicht glauben. Bin ich allein? Eine dumme Frage – zunächst. Wenig später kam sie ihm nicht mehr so dumm vor, da war er bereits damit beschäftigt, über sie nachzudenken. Er hätte allein sein müssen, er war es trotzdem nicht, auch wenn er nichts sah. Irgendwo lauerte etwas, wartete jemand. Etwas Unheimliches, etwas, mit dem er nicht zurechtkam, das eigentlich nicht menschlich war, sondern anders. Aber wie anders? Sid Arnos hatte nicht bemerkt, daß er den Raum bereits verlassen und sich der Treppe genähert hatte, wo er stehenblieb, eine Hand auf den Beginn des Geländers gelegt. Er schaute den geschwungenen Bogen mit den zahlreichen Stufen hinab, ohne allerdings das Ende der Treppe sehen zu können, weil sein Blickwinkel zu schlecht war. Stand da jemand? Groß genug war die Halle ja, nur hörte er nichts. Die Stille lag dort unten wie eine Mauer. Sie wartete auf ihn, denn sie wußte ja, daß er sie durchqueren mußte. Arnos räusperte sich die Kehle frei. Er biß die Zähne zusammen, er preßte die Lippen aufeinander, und durch die Nase holte er Luft. Okay, dachte er, okay, ich muß es packen. Ich darf mich nicht benehmen wie eine Memme. Da unten war nichts, da unten ist nichts. Nur die leere Halle. Niemand hat sie betreten. Ich bilde mir da etwas ein, ich mache mich selbst verrückt, und das will ich nicht mehr, verdammt noch mal! Er gab sich einen Ruck und wunderte sich selbst darüber, wie schnell er die ersten drei Stufen hinter sich gelassen hatte. Seine rechte Hand lag noch immer auf dem Geländer, sie rutschte auch weiter, als er die nächsten Stufen hinabging, und er merkte, wie es in seinem Kopf anfing zu bohren.
Er ging, er schlich. Sein Herz hämmerte. Die Schläge kamen ihm lauter vor als gewöhnlich. Er schaute zu Boden und sah die Stufen vor seinen Augen tanzen. Alles ist normal, alles ist gut. Ich bilde mir die Dinge nur ein, ich mache mir selbst etwas vor. Es liegt einzig und allein an dieser feuchtstickigen Atmosphäre, die mich umgibt. Ich kenne sie nicht so, deshalb reagiere ich so komisch. Sein Blick streifte bereits durch die Halle. Sie war tatsächlich leer. Seltsamerweise beruhigte ihn das nicht, und er blieb am Ende der Rundung stehen, überlegend, die Stirn dabei gekraust, und in diesem Augenblick dachte er wieder an die schriftliche Warnung, die seinen Chef erreicht hatte. Obwohl er das Papier nicht in der Hand hielt, flimmerte die Schrift vor seinen Augen. Er sah sie deutlich vor sich. Jedes Wort, jeden einzelnen Buchstaben, wie in einer Reihe aufgestellte Brandmale leuchteten sie. Rot und grell. Sie verschwanden wieder. Seine Furcht aber blieb. Sie war konkret geworden. Es war einzig und allein die Furcht vor der Halle am Ende der Treppe, obwohl dort keiner auf ihn wartete, der ihm ans Leben wollte. Und doch hatte sich etwas verändert. Seine Augen bewegten sich, sein Blick war unruhig geworden. Auf der Stirn schimmerten Schweißperlen, und er brauchte einige Sekunden, um festzustellen, was sich da unten verändert hatte. Es war Zeit vergangen, in der er fotografiert hatte. Bei dieser Arbeit war die Zeit bedeutungslos geworden. Nun aber kehrte sie sichtbar zurück, und er konnte genau sehen, was sich in der Halle verändert hatte. Durch die Fenster waren die Schatten gekrochen und hatten sich wie hauchdünne Teppiche auf dem Marmorboden verteilt. Sie sahen staubig aus, sie wirkten bleich trotz der grauen Farbe. Sie waren einfach normal, denn jeden Tag würde das gleiche geschehen. Dennoch kam es ihm hier anders vor. Er ging weiter. Unten lag die Halle. Der Boden schimmerte nicht mehr blank, sondern düster. Er war für Sid Arnos zu einem See geworden, unter dessen Oberfläche das Verderben lauerte. Schritt für Schritt bewegte er sich weiter. Er hörte unter seinen Füßen das leise Schaben, wenn er die blanken Stufen berührte, doch das machte ihm nichts mehr aus. Es gehörte einfach dazu. Es war nicht fremd, obwohl es ihm so vorkam. Ich muß mich von diesem verdammten Druck befreien, verflucht noch mal! Sid gab sich einen Ruck.
Er ging jetzt schneller. Die Stufen kamen ihm weich vor, als wären sie dabei, sich aufzulösen. Die letzten lagen bereits im Schatten, so hatte er den Eindruck, ins Leere zu treten. Schließlich stand er in der Halle und mußte feststellen, daß nichts passiert war. Er war allein. Tatsächlich allein? Mit der Hand wischte er durch sein Gesicht. Als er auf die Fläche schaute, war sie naß. Angstschweiß… Nur gab es keinen Grund! Oder doch? In seinem Innern wechselten sich die Fragen ab. Er wollte sich beruhigen, aber sofort war seine Psyche dabei, dies in Frage zu stellen. Sie hielt immer ein Gegenargument bereit, und das war es, was ihn mürbe machte. Dieses verdammte zweite Ich oder was immer es sein mochte. Die Halle kam ihm unheimlich vor. Sie schien in der letzten Zeit gewachsen zu sein. Die Entfernung zur Tür kam ihm viel länger vor als noch bei seinem Eintritt. Alles hatte sich verändert. Die Perspektiven waren völlig fremd für ihn geworden, und die beiden Säulen sah er an wie mächtige Beine eines vorsintflutlichen Ungeheuers. Der Mund war noch immer trocken. In den Knien spürte er das Zittern. Die Luft war feucht und schleimig. Sie klebte in seinem Gesicht, und der Geruch nach Farbe hatte zugenommen. Er ging zur Tür. Links an der Säule mußte er vorbei. Die ersten Schritte legte er normal zurück, dann hatte er die Säule erreicht und blieb stehen. Er wunderte sich selbst darüber, weshalb er nicht weiterging, aber irgendwie hatte er das Gefühl, an einer Grenze zu stehen. Er hatte etwas erreicht, das es gab, das aber nicht zu sehen war. Eine unsichtbare Linie. Das Limit! Für ihn? Nur für ihn allein? Lauerte diese Kraft, diese Macht hier in der Halle? Sid Arnos schaffte es, sich auf die Stille zu konzentrieren. Er lauschte in sie hinein. Sie war da, aber sie lebte. Der Vergleich schoß plötzlich durch seinen Kopf. Sie lebte, das wußte er und dachte gleichzeitig darüber nach, ob es überhaupt eine lebende Stille gab. Eigentlich nicht. Das war alles Unsinn. Eine Stille war still, wie schon das Wort sagte. Aber warum kam sie ihm anders vor? Er fand keinen Grund, ging und kam aber nur einen Schritt weit. Da spürte er den Hauch! Er war kalt, er war eisig, als wäre irgendwo eine Luke geöffnet worden, um die eisige Luft in die Halle zu lassen. Er konnte diesen Hauch nicht
begreifen, die Fenster waren zu, die Tür ebenfalls, und trotzdem hatte er ihn erwischt. Sid drehte seinen Kopf nach links. Er schaute die Säule an. Neben ihr bewegte sich etwas. Ein Schatten. Und dann sah er die Maske! *** Der Mann aus London war nicht in der Lage, sich zu bewegen, auch wenn er es gewollt hätte. Dieser Anblick hatte ihn geschockt, er war wie ein Volltreffer gewesen, denn für das Auftauchen der Maske gab es keine logische Erklärung. Sie schwebte etwa in Kopfhöhe über dem Boden und hatte ihren Weg um die Säule herum beendet. Arnos versuchte, sich das Aussehen der Maske einzuprägen. Er überlegte auch, mit wem oder was er sie vergleichen konnte, aber er kam zu keinem Ergebnis. Nur das Wort Karneval schoß ihm durch den Kopf. Ja, Karneval in Venedig. Dafür war die Stadt berühmt. Da wurde gefeiert, da versteckte man sich hinter Masken, um sich endlich einmal so geben zu können, wie man es im normalen Leben nicht durfte. Doch es war keine fröhliche, keine bunte Maske. Sie glich eher der eines Toten. Sie schimmerte dunkel und hell zugleich. Sie konnte aus Metall, aber auch aus Porzellan bestehen, und ihr Ausdruck war mehr als traurig. Eine glatte Stirn, unter der sich die beiden leeren Augenhöhlen verteilten. Darin schimmerte eine böse, unheimliche Schwärze, die Angst machen konnte. Die Nase war relativ lang. Sie begann dicht unter der Stirn sehr schmal, nahm aber später an Breite zu, so daß sie an ihrem Ende sehr flach wirkte. Rechts und links der Nasenlöcher begannen zwei gekrümmte, starre Falten, die in das Gesicht einschnitten und erst in Höhe des weich wirkenden Kinns zusammenliefen. Zwischen Nase und Kinn aber befand sich der Mund. Welch ein Mund! Lippen, die nicht zusammenlagen. Eine breite, verzogene, geschwungene Öffnung. Ein Mund, der aussah wie der eines Trauernden, der jeden Augenblick anfangen wollte zu zucken, weil zugleich Tränen aus den Augen nach unten kullerten. Der Mund war traurig, aber auch bösartig. Er stand offen, war jedoch verzogen, als wollten sich die Rundungen zum Kinn hinwenden. Und das war nicht alles. Im leeren Raum zwischen den Lippen, wo die gleiche Düsternis lauerte wie in den Augen, steckte quer der Stiel einer Rose. Sie wurde von der
nach oben weisenden Unterlippe gehalten, und die Blume selbst öffnete ihren Kelch an der linken Mundseite. Dunkelrote Blütenblätter gaben einen Duft ab, der auf Sid Arnos leicht betäubend wirkte. Ein starker, schwerer Rosenduft, in den hinein sich noch etwas anderes vermischte. Zuerst kam der Mann damit nicht zurecht, bis ihm klar wurde, daß er einen gewissen Blutgeruch wahrnahm. Und das stimmte auch mit dem überein, was er an den Blütenblättern der Rose entdeckte. Blut… Blut in Form von kleinen Tropfen, die an den Rändern der Blätter hingen und aussahen, als wollten sie jeden Augenblick abfallen und auf den sauberen Boden klatschen. Eine blutige Rose, ein Zeichen des Todes… Sid Arnos wurde übel. Er wußte auch nicht, wie lange er auf die silbriggrün schimmernde Maske gestarrt hatte, er senkte irgendwann den Blick und sah dorthin, was sich unterhalb der Maske abzeichnete. Zuerst hatte er es kaum wahrgenommen. Nun aber fiel es ihm auf, daß die Maske nicht so einfach nur in der Dunkelheit schwebte, sondern sich unter ihr etwas abzeichnete, für dessen Beschreibung ihm die Worte fehlten. Es war keine Gestalt, auch wenn sie so wirkte. Es war einfach nur ein Umriß, ein Gespinst, ein leicht schimmerndes Etwas. Man konnte es als einen Geist bezeichnen oder als einen Körper, der einfach in die Luft hineingemalt worden war. Wie auch immer, an die Wahrheit würde Sid wohl nie herankommen. Er wollte es nicht als Körper ansehen, obwohl dieses Gespinst die Maske trug. Kälte – Kälte strömte ihm entgegen. Die unheimliche Maske war die Ursache. Die Kälte erfaßte ihn, sie strich über sein Gesicht hinweg, sie war wie der Eishauch aus einem Geisterreich, sie ließ ihn schaudern. Er mochte die Kälte nicht, weil sie seiner Meinung nach nicht natürlich war. Da steckte etwas anderes dahinter, etwas Endgültiges, das auch blieb, als die Maske auf ihn zuschwebte. Sie wollte zu ihm, er war ihr Opfer. Sie kam langsam näher, wie jemand, der sich seiner Sache völlig sicher ist. Normalerweise hätte Sid Arnos fliehen müssen. Das War ihm nicht möglich. Der Anblick dieser Maske hatte ihn gebannt. Auch sein Gehirn war leer geworden. Er konnte nur schauen und zusehen, was die Maske tat, die noch immer über der seltsamen Gestalt schwebte und sich urplötzlich umdrehte, kaum daß sie dicht vor seinem Gesicht war. Er sah gegen ihren Rücken. Schwarz, tintig und leer. Und einen Moment später erwischte sie ihn. Da preßte sie sich plötzlich brutal gegen sein Gesicht! ***
Sid Arnos war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Er kam sich vor wie jemand, dem der Körper entrissen worden war, denn alles konzentrierte sich einzig und allein auf sein Gesicht. Hier spürte er es, hier brandeten die Schmerzen auf. Hier strichen die Finger mit den langen Nägeln über seine Haut hinweg, als wollten sie jeden Quadratzentimeter aufreißen. Es waren mörderische Schmerzen, die ihn überfallen hatten. Sein Gesicht brannte, aber nicht so, als würde es in Flammen stehen. Jemand war dabei, mit zahlreichen Händen an seiner Haut zu zerren. Arnos erlebte die Schmerzen und wurde zugleich von einem nicht gekannten Grauen gepeitscht. Etwas riß an seinen Lippen, machte sie zu blutigen Fetzen, obwohl er selbst keinen Blutgeschmack spürte. Auch an seinen Augen wurde gezerrt. Sie waren plötzlich aus Eisen, und ein starker Magnet riß sie zu sich heran. Er hörte sich stöhnen, dann schreien. All die Geräusche klangen dumpf und sehr undeutlich. Die Maske verschluckte alles. Sie stemmte sich selbst gegen die akustische Gegenwehr, und auch die Stirn des Mannes fing an, in Fetzen von dem Knochengerüst herangezogen zu werden. Das Grauen erstickte ihn. Er bekam auch keine Luft mehr, obwohl sich die Mundöffnung der Maske direkt vor seinen Lippen befinden mußte. Alles war anders geworden, diese normale Welt gab es für ihn nicht mehr. Er war in einen Strudel hineingerissen worden, den er nicht mehr begriff. Aber dieser Strudel führte nicht mehr hinein in das Leben, er würde ihn dort nicht mehr ausspeien, er war der Besuch, ein Gruß aus dem dunklen, kalten Jenseits. Sids Überlebenswille war zwar vorhanden, ihn jedoch in die Tat umzusetzen, wollte ihm kaum gelingen. Er riß in einer verzweifelten Geste die Arme hoch und führte die Hände dorthin, wo die Maske vor seinem Gesicht klebte. Zum erstenmal berührte er sie mit den Händen. Sie kam ihm zugleich kalt und warm vor. Aber auch fest und weich. Paradox… Er wollte daran zerren. Sie saß fest. Sie ließ ihn nicht los. Sie war eine grausame Mörderin. Sie war etwas Unvorstellbares, und sie sorgte mit zuckenden und hastigen Bewegungen dafür, daß Sid Arnos nicht mehr auf seinem Platz stehenblieb, sondern anfing, durch die Halle zu taumeln. Er ging gebückt, die Arme halb erhoben. Die Hände an die Seiten der Maske geklammert, ohne etwas erreichen zu können. Er wirkte wie ein Tänzer, der müde geworden war, sich zwar noch bewegte, aber die Beine kaum in die Höhe bekam.
Irgendwann prallte er gegen die Tür, aber auch das bekam er nicht richtig mit. Er spürte nur einen dumpfen Schlag, und sein Gesicht, mein Gott, sein Gesicht löste sich mehr und mehr auf. Der Mann fiel zu Boden. Er schlug hart auf. Noch immer klebte die Maske vor seinem Gesicht. Doch Mundraumund Augenhöhlen waren nicht mehr von dieser absoluten Schwärze erfüllt. Aus ihnen quoll das rote Blut. Es verfing sich am Stiel und an der Blüte der Rose, wo es dann zu Boden tropfte und die roten Flecken hinterließ, eine Spur des Todes… *** Dino Zingara hieß der Fahrer des Motorboots, der den Fremden zum Palazzo Ferrini gefahren hatte. Der Mann war Venezianer, erkannte die Stadt, die Geschichten, er kannte die Kanäle und Brücken, die Palazzi und Hotels, er wußte, wo es den besten Kaffee gab und die tollsten Huren. Er ging seinem Job im Sommer ebenso nach wie im Winter, wenn die Stadt wie unter einem grauen Totenhemd lag, aber er war selten so nervös gewesen wie an diesem spätherbstlichen Tag, als er den Fahrgast am Palazzo Ferrini abgesetzt hatte. Zingara wußte selbst nicht, was ihn störte. War es die Geschichte des Hauses, in das kein Venezianer freiwillig einen Fuß hineinsetzte? Es konnte sein, und er hätte eigentlich so schnell wie möglich die Anlegestelle verlassen müssen, was er auch getan hatte, aber die Idee, wieder umzukehren, wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf. Nahe der Rialto-Brücke winkten ihm zwei junge Leute zu, die sich zu einem Hotel fahren lassen wollten. Es waren Deutsche, und das Paar hatte den Aufenthalt in der Lagunenstadt bei einem Preisausschreiben gewonnen. Sie sprachen nur davon, sie konnten sich richtig freuen, und etwas von diesem Funken sprang auch auf Dino Zingara über, so daß er sich mit ihnen unterhielt und den Fremdenführer spielte. Er erklärte ihnen viel, sie hörten begeistert zu, während sich ihre Hände ineinander verschlungen hatten. Sie waren verliebt und genossen Venedig auch bei diesem Wetter. Doch seine Sorgen und sein Unbehagen wurde Dino Zingara nicht los. Beides steigerte sich noch, als er das Paar am Hotel abgesetzt hatte, wo sie sich noch für die tolle Führung bedankten, die sie so schnell nicht vergessen würden. Was tun? Zingara überlegte. Er konnte zurück zu seinem Stammplatz fahren – oder sollte er noch mal zum Palazzo Ferrini fahren? Es war kaum zu erklären, doch in seinem Innern tobte nur immer dieser eine verfluchte Name. Er hatte wohl gewußt, daß sich um dieses
Gebäude einige Geschichten und Legenden rankten, aber er hatte nie darüber nachgedacht, weil sie ihm lächerlich vorkamen. Nur jetzt nicht. Was war der Grund? Die Worte des Engländers mußten ihn aufgewühlt haben. Nein, eigentlich nicht seine Worte, wenn er darüber nachdachte. Viel hatte der Mann nicht gesagt, er war nur so etwas wie der Beschleuniger für seine Gedanken gewesen, ein verschüttetes Gut, das wieder an die Oberfläche gestiegen war. Nun kreisten seine Gedanken darum. Er lenkte das Boot im Unterbewußtsein. Die Kanäle kannte er, sie waren ihm so vertraut wie seine eigene Wohnung in einem Hinterhaus, das über dem Wasser schwebte. Er hörte das Klatschen der Wellen nicht mehr und nahm auch nicht das herrisch klingende Schreien der Möwen wahr, die über den Häusern und den Kanälen segelten. Er fuhr, er dachte nach, er hatte die Stirn gerunzelt und versuchte, sein Gedächtnis anzuturnen. Da mußte es doch etwas geben, das ihn so nervös hatte werden lassen. Für die Bauten an den Ufern hatte er keinen Blick übrig. Er tuckerte langsam weiter, hielt den Blick nach rechts gerichtet, wo bald der graue Palazzo Ferrini erscheinen mußte. Die aus dem Wasser ragenden, blau und weiß gestrichenen Pfosten der Anlegestellen erinnerten ihn an angestrichene Totenarme. Sein Venedig sah plötzlich noch düsterer, unheimlicher und verwunschener aus, als es ohnehin schon war. Über die Dächer hinweg grüßten die Kuppeln der Kirche Santa Maria della Salute, und auch sie sahen bei dieser spätherbstlichen Witterung trostlos aus. Der Palazzo Ferrini! Welches Geheimnis bargen seine Mauern? Er wollte darüber nachdenken, um sehr bald festzustellen, daß es ihm nicht möglich war, sich intensiv damit zu beschäftigen. Immer wieder gerieten seine Gedanken auf Abwege und blieben bei dem Engländer hängen. Er stellte sich plötzlich vor, ihm noch einmal zu begegnen, aber diesmal nicht lebend, sondern tot. Tot… tot… tot… Er schluckte schwer. Der Schweiß brach ihm aus. Allmählich zog sich auch die Wolkendecke über der Stadt zusammen und schickte das Grau der anbrechenden Dämmerung hernieder. Er verspürte Hunger und Durst. Zugleich hatte er keinen Appetit. Das Boot tuckerte durch die Wellen. Spritzwasser drang manchmal über die Bordwand hinweg, und das Wasser nahm in der Düsternis grauere Färbung an. In den Kanälen schwamm auch Abfall. Obwohl immer wieder Aufforderungen die Bewohner und Touristen erreichten, mit ihrem Müll doch umweltfreundlicher umzugehen, fand man alles Mögliche auf den
Wellen schwimmend. Papier, Kunststoff, anderen Kram, über die er lieber nicht nachdenken wollte. Zingara entdeckte einen größeren Gegenstand, der auf dem Wasser trieb. Er drosselte die Geschwindigkeit, drehte bei und schaute kurz auf. Er sah die graue Fassade des Palazzo Ferrini. An ihn verschwendete er jetzt keinen Gedanken, der treibende Gegenstand war für ihn wichtiger. Der Gegenstand gehorchte den Kräften des Wassers, aber er führte auch ein gewisses Eigenleben, denn er drehte sich dabei mehrmals um die eigene Achse. Ein Baumstamm war es nicht, da war sich Zingara sicher. Und plötzlich erkannte er, was da vor ihm auf dem Wasser trieb. Er wollte es kaum glauben und spürte den eigenen Herzschlag überlaut – ein Mensch! Der Fahrer hielt den Atem an. Vor seinen Augen tanzte die Welt, und er schrak zusammen, als sein Boot mit dem treibenden Körper kollidierte. Zingara stellte den Motor ab. Er kniete sich hin. Obwohl es ihn Überwindung kostete, streckte er seinen Arm aus und schlug einen Bogen über die Bordwand hinweg. Seine rechte Hand krallte sich in der nassen Kleidung fest. Mit der linken Hand griff er ebenfalls zu. Er hatte bereits eine Idee, wollte aber nicht weiter darüber nachdenken, sondern den Toten zunächst in sein Boot hieven. Es war nicht einfach. Er mußte mehrere Versuche starten. Bei der letzten Aktion hatte er sich nicht mehr halten können und war zurückgefallen. Dino lag in seinem Boot, stützte sich mit den Ellbogen ab und stellte fest, daß der Tote quer über seinen Beinen lag. Intervallweise durchfuhr ihn der Schreck. Er schaute hin, er sah die nasse Kleidung. Wasser machte vieles gleich, aber nicht alles, und so erkannte Dino diesen Mann. Es war der Engländer. Er mußte es sein. Und jetzt war er tot! Zingara brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Er wußte nicht, was er in diesen Sekunden tun sollte. Ihm war nur klar, daß dieser Mann beim oder nach dem Besuch des Palazzo gestorben war. Warum? Wie? Durch wen? Mühsam wälzte Zingara den Toten von seinen Beinen, und dann schaute er ihm ins Gesicht, das heißt, in die Überreste. Alles, was er sah, war eine blutige Masse. Und dann begann Zingara zu schreien! ***
Paretti tobte. Er hatte bereits seit dem Mittag getobt, jetzt war der Nachmittag beinahe vorbei, und er hatte sich immer noch nicht beruhigen können. Er wußte selbst, daß er seine Phase hatte, das wußten auch die anderen, die sein Toben als ungerecht empfanden, aber er war der Chef im Studio, und wenn ihm die letzte Aufnahme nicht gefiel, dann mußte er es auch sagen. Eben auf seine Art und Weise. Nie dachte er daran, daß sein Gesang schlecht gewesen wäre, nein, er schob es immer auf die anderen, besonders auf den Gitarristen, der Parettis Meinung nach nur Bockmist gespielt hatte. Am frühen Abend hatte er dann das Studio verlassen und war in die Kantine gegangen. Nur allmählich ebbte seine Wut ab, und er stieg hinein in die andere Phase. Er brauchte einen Schluck. Whisky zuerst, dazu Kaffee, dann wieder Whisky, bis er sich beruhigt hatte. Anschließend würde er sich zu einer Bar bringen lassen, wo zwei Mädchen auf ihn warteten, mit denen er seit einiger Zeit liiert war. Sie akzeptierten sich gegenseitig und nahmen es auch hin, daß sie nicht die einzigen waren, mit denen er schlief. Um Paretti kümmerte sich niemand. Er hatte sich in eine Ecke gesetzt, trank, murmelte manchmal etwas vor sich hin und strich immer wieder die langen Haare zurück, die er offen trug. Er dachte nach. Seine Gedanken wirbelten. Er grübelte über einen neuen Text. Dann erinnerte er sich an den Palazzo, der in Venedig auf ihn wartete, und Paretti war gleichzeitig sauer auf seinen Sekretär Sid Arnos, weil dieser ihn noch nicht angerufen und einen ersten Bericht gegeben hatte. Er traute Sid Arnos nicht. Er traute niemandem mehr, seit er die mit Blut geschriebene Warnung erhalten hatte. Sie schwebte wie eine Drohung über seiner gedanklichen und auch seiner beruflichen Welt. Sie war da, sie hatte etwas zu bedeuten, das wußte er sehr genau, und er glaubte auch daran, daß da noch etwas auf ihn zukam. Er schaute hoch, als ein Schatten über den kleinen Tisch fiel und sich nicht bewegte. »Ja…?« Neben ihm stand der Mann von der Theke. Er war noch jung, sein Gesicht zeigte unzählige Sommersprossen, und er hatte einen roten Kopf bekommen, als er sein großes Idol ansprach. »Telefon für Sie, Sir.« »Wer denn?« »Es ist ein Ferngespräch, glaube ich.« »Gib her.« Rock Paretti nahm dem jungen Mann das Handy weg und meldete sich mit einem knurrig klingenden »Ja«, weil er damit rechnete, daß ihn Sid Arnos anrief.
Der war es nicht. Statt dessen wurde italienisch mit ihm gesprochen, was Paretti auch verstand. Der andere stellte sich als Polizeibeamter vor, und in den nächsten beiden Minuten erfuhr der Rockstar, daß er sich einen neuen Sekretär suchen mußte. »Was ist?« »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Sid Arnos ist tot. Wir haben seine Leiche aus dem Kanal gefischt. Die Papiere hatte er bei sich.« »Scheiße!« »Bitte?« »Wie konnte das denn passieren?« »Das wissen wir noch nicht. Ein Bootsfahrer hat den Toten aus dem Wasser gefischt.« »Wie ist Sid gestorben? Wurde er ermordet?« »Nein, das wohl nicht.« Rock Paretti hatte den zögerlichen Klang in der Stimme des Kommissars nicht überhört. »Warum reden Sie so komisch? Ist da was nicht richtig gelaufen und…?« »So kann man es sagen.« »Verdammt, so reden Sie endlich! Wie ist Sid gestorben?« »Nun ja, Signor Paretti. Dieser… dieser Tote – er… er hatte kein Gesicht mehr.« Rock hielt die Luft an. Er dachte, aber er wußte nicht, was er dachte. In seinem Gehirn lauerte das Chaos. Er bewegte die Augen, ohne es zu merken, und der italienische Kommissar fragte ihn, ob er noch dran wäre. »Bin ich. Ich frage mich allerdings, ob ich mich verhört habe.« »Haben Sie nicht.« Paretti fuhr durch sein Haar. Er saß gebückt da und starrte auf die hölzerne Tischplatte, als wollte er die dünnen Fäden der Maserung zählen. »Dann… dann fehlte ihm tatsächlich das Gesicht, so wie Sie es mir gesagt haben?« »Si, Signor Paretti. Wo einmal sein Gesicht gewesen war, haben wir nur mehr eine blutige Masse entdeckt. Es sah aus, als wäre alles abgerissen worden. Tut mir leid, aber ich muß es so brutal sagen.« Rock atmete schnell ein. Dann hatte er sich wieder gefangen. Er dachte auch an die mit Blut geschriebene Warnung, schaffte es allerdings auch, diesen Gedanken von sich zu weisen. »Was haben Sie denn getan? Sie als Polizist?« »Wir arbeiten daran. Natürlich ist es noch zu früh, irgend etwas sagen zu können, aber…« »Si, Sie arbeiten daran, ich weiß. Das kenne ich, Signore. Ich bin informiert, sehe hier genug Nachrichten und kenne die Sprüche der Polizei.« »Hören Sie, erst vor zwei Stunden erfuhren wir von dem Tod Ihres Angestellten…«
»Sie informieren mich weiter?« »Natürlich.« »Okay. Falls Sie mich in Venedig brauchen, zur Identifizierung oder so, lassen Sie es mich wissen.« »Natürlich, Signore.« Die Verbindung war weg, und der Rockstar legte das Handy wieder zurück auf den Tisch. Dann stieß er laut und deutlich den Atem aus, sah die Flasche und das Glas vor sich stehen und kippte einen doppelten Drink in das schmale Gefäß. Er hob das Glas an, schaute gegen den Whisky, der goldgelb schimmerte. Die Lippen des Mannes verzogen sich. »Okay, Sid, auf dich. Einen letzten Drink auf dich! Du warst mutig, zumindest mutiger als ich.« Er lachte, leerte das Glas und schüttelte sich. Danach schloß er die Augen. Plötzlich dachte er wieder an die mit Blut geschriebene Warnung, und es lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Nicht nur Sid Arnos hatte das Grauen erreicht, auch ihn. Er spürte es wie eine unsichtbare Fessel. Zwei Minuten saß er bewegungslos auf dem Fleck. Dann hatte er sich zu einem Entschluß durchgerungen. Der Tod seines Sekretärs mußte aufgeklärt werden. Ihn hatte es als ersten erwischt, und einen zweiten sollte es nicht geben. Rock Paretti wollte leben, nur leben… *** Es gibt Kanäle, Wasserstraßen, die führen durch eine Stadt. Diese Kanäle sind bekannt und bedeuten auch genau das, was sie sind. Aber es gibt auch andere Kanäle, die nicht so leicht beschrieben werden können, das sind die unsichtbaren, die zwischen gewissen Institutionen, man kann sie zu dem Begriff Beziehungen zusammenfassen. So ähnlich war es bei Suko und mir gelaufen, als uns Sir James an diesem frühen Abend kurz vor dem Verlassen des Büros zu sich gebeten hatte. Daß er mit uns keinen Kaffee trinken wollte, war klar. Es ging um einen neuen Fall, wie wir sehr bald erfuhren, und wir bekamen auch einen Namen präsentiert. Rock Paretti! Suko runzelte die Stirn. Ein Zeichen, daß er damit nichts anfangen konnte. Ich allerdings, auch wenn ich nicht genau wußte, wo ich ihn hinstecken sollte. »Gehört habe ich ihn schon«, sagte ich und schaute meinen Chef an, der die Stirn gefurcht hatte.
»Er ist ein Star. Ein Rockmusiker. Eine bekannte Größe in der Szene, habe ich mir sagen lassen.« Ich hob beide Arme und ließ die wieder fallen. »Klar, Sir, Rock Paretti, die Rock-Größe, der Rock-Tiger, wie manche Zeitungen über ihn geschrieben haben. Zur einen Hälfte Brite, zur anderen Italiener. Er ist mir bekannt.« Suko schaute mich überrascht an. »Kennst du ihn persönlich? Warst du mal in seinen Konzerten?« »Nein, nie, aber ich lese hin und wieder Zeitungen.« »Aha.« »Solltest du auch.« Bevor Suko etwas erwidern konnte, unterbrach das Räuspern unseres Chefs den Dialog. Er schaute uns ernst an, und da wußten wir, daß dieser Besuch in seinem Büro auch ernst gemeint war. Wir erfuhren, daß sich Paretti nicht direkt an Sir James gewandt hatte, das war eben über die berühmten Kanäle gelaufen, und jemand, der einiges zu sagen hatte und auch Paretti kannte, hatte sich an Sir James um Hilfe gewandt, denn es lag ein ziemlich mysteriöser Fall vor. Es ging um Parettis Sekretär Sid Arnos, der tot in einem Kanal treibend in Venedig gefunden worden war. Das alles wäre für uns noch kein Grund gewesen, einzugreifen, wenn dieser Tote nicht eine Leiche ohne Gesicht gewesen wäre. Er hatte es verloren, als wäre es abgeätzt worden. Zudem hatte Paretti einige Tage zuvor noch eine schriftliche Drohung erhalten, und über die wollte er mit uns reden. »Hier?« fragte Suko. »Oder in Venedig.« »Zuerst hier.« Suko hob die Augenbrauen. »Dann schließen Sie es nicht aus, Sir, daß wir nach Venedig müssen.« »Das kann sein.« »Keine gute Jahreszeit«, murmelte ich. »Sie sollen dort auch keinen Urlaub machen, John, sondern einen Killer jagen, falls es dazu kommt, schränke ich mal ein.« »Das ja.« »Und wo treffen wir Paretti?« Sir James reichte Suko einen Zettel. »Ich habe es Ihnen aufgeschrieben. Er wartet in einer Bar auf Sie. Dort ist er jeden Abend, wie ich erfahren habe.« Suko schaute auf das Geschriebene. »Die Insel. – Kenne ich nicht.« Diesmal stimmte ich ihm zu. Sie schien jedoch von der nobleren Sorte zu sein, denn sie lag in Kensington, nicht eben einem billigen Wohnviertel. »Dann auf zur Insel«, sagte ich und erhob mich. »Hören Sie mal, ob das ein Fall für uns ist«, sagte Sir James. »Bis jetzt hängt ja noch alles in der Schwebe.«
Das stimmte. Nur wußten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß wir den Blutspuk von Venedig am Hals hatten… *** Die Bar Insel war auch eine Insel. Zumindest führte sie ein inselartiges Dasein. Sie lag zwar nicht gerade einsam, stand aber doch allein und war von einem kleinen Park umgeben. Es war kein neues Gebäude. Eine kleine, feine, aber ältere Villa, die im Innern umgebaut worden war. Und es hing auch keine rote Laterne über dem Eingang. Der Parkplatz war gut gefüllt, und die dort stehenden Autos gehörten nicht zur Kleinwagenklasse. Wir stiegen aus und ließen uns vom Schein einiger Lampen begleiten, als wir in Richtung Eingang gingen. Eine dunkle Holztür verwehrte uns den Eintritt. Ich klingelte. Zunächst einmal geschah nichts, bis dann in Augenhöhe ein viereckiges Loch in der Tür entstand und wir von einem – das war zu erkennen – weiblichen Augenpaar gemustert wurden. Ich grinste höflich und bat um Einlaß. »Sie sind keine Stammgäste?« »Könnten es aber werden.« »Pardon, aber wir lassen nur Stammgäste herein. Es sei denn, Sie haben eine Empfehlung.« Beide verdrehten wir die Augen. Wenn mir irgend etwas nicht schmeckte, dann waren es arrogante Türsteher, die mir den Zugang zu ihren heiligen Hallen verwehrten. »Wir sind mit Rock Paretti verabredet«, sagte ich in einem ruhigen Ton. »Und jetzt öffnen Sie, Madam, oder wollen Sie Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen?« »Wieso Polizei?« Die Dame zeigte sich störrisch. Ich zeigte ihr meinen Ausweis. Entsetzte Blicke trafen mich, doch mein Ausweis reichte als > Eintrittskarte<. Wir hörten das leise Summen und konnten die Tür aufdrücken. Suko folgte mir, und wir wurden von den Klängen der Musik umfangen. Kaltes Design umfing uns. Es stand im krassen Gegensatz zur äußeren Fassade des Hauses. Wäre man diesem Stil gefolgt, hätten wir hier viel Plüsch oder Samt sehen müssen. Das war nicht der Fall. Dafür gab es spiegelnde Stahlleisten an den Wänden, auch Spiegel, die den Raum optisch vergrößerten, und eine Garderobe, die wie ein Würfel mitten im Raum stand und ebenfalls von einem Gerüst aus Metallstäben umgeben war. Die Garderobiere trug eine weiße Bluse mit hohem Kragen und tiefem Ausschnitt. Sie nahm unsere Jacken entgegen, während uns die
Türöffnerin aus blitzenden Augen und mit rot geschminkten Lippen anlächelte, wobei sie sich entschuldigen wollte, doch wir winkten ab und erklärten, daß die Sache vergessen war. Die Frau atmete auf und führte uns ins Allerheiligste. Sie hatte toll gewachsene Beine, die durch das schwarze kurze Kleid noch mehr zur Geltung kamen, und auch die Netzstrümpfe paßten dazu. »Reiß dich zusammen!« zischelte Suko, als er merkte, wohin mein Blick geglitten war. »Du bist nicht privat hier.« »Leider«, seufzte ich. Das moderne Design setzte sich in der Bar fort. Auch hier war nicht mit Chrom gespart worden. Hinzu kamen die eckigen Sessel, bezogen mit schwarzen Stoffen. So schwarz wie die Vorhänge, die an halbrunden Stangen hingen – und, wenn sie geschlossen waren, die Blicke in die Separees verwehrten. In einer dieser Nischen saß auch Rock Paretti. Wir hörten nicht ihn, sondern das Kichern der Mädchen. Unsere Führerin wußte nicht, wie sie sich bemerkbar machen sollte, denn sie traute sich nicht, den Vorhang zur Seite zu ziehen. »Wenn jemand etwas bestellen will, klingelt er von innen«, erklärte sie uns. Ich machte nicht viel Aufhebens davon. Mit einem Ruck zerrte ich den Vorhang zur Seite. Seine Metallringe klirrten über die halbrunde Stange hinweg, und wie vom Blitz getroffen, sprang eine dralle Rothaarige in die Höhe, wobei sie versuchte, ihr Oberteil zu richten. Das andere Mädchen, eine Asiatin, blieb neben Paretti sitzen, an ihn gepreßt und kichernd. Paretti glotzte uns an. Sein Mund stand offen. Es war relativ dunkel, so daß wir sein Gesicht nicht genau erkennen konnten. Das Tischlicht, in Form einer übergroßen Glühlampe, gab nur wenig Helligkeit ab. »Hören Sie, Paretti, Sie können wählen. Entweder schicken Sie die beiden Süßen weg und unterhalten sich mit uns, oder wir verschwinden, und die Sache ist erledigt.« Paretti nickte. »Ihr seid die beiden Bullen, wie?« »Nein, Polizisten«, sagte Suko. »Okay, schon gut, keine Feindschaft.« Er knuffte beide Girls in die Seiten. »Los, verdrückt euch!« Sie gehorchten, verschwanden, und ich zog die schwarze Gardine wieder zu. Suko wollte wissen, ob das Licht höher gedreht werden konnte. Ihm war es zu schattig. »Ja, da gibt es einen Dimmer.« Paretti fummelte unter dem Tisch herum, und die Lampe gab mehr Licht ab. Die Musik störte uns nicht. Sie war leise genug, um eine Unterhaltung zuzulassen. Es war nicht nur eine halbrunde gepolsterte Bank vorhanden, sondern auch zwei Stühle, die
wir heranzogen. Wir setzten uns so hin, daß sich Rock Paretti in der Mitte befand. Er wußte nicht, wen er zuerst anschauen sollte, deshalb bewegte er den Kopf hin und her. Wir betrachteten ihn genauer. Er trug eine enge rote Hose aus Leder. Dazu ein weißes Hemd, das er weit aufgeknöpft hatte. Um seinen Hals hingen einige Ketten, die Gelenke waren von Armbändern umwickelt, und am rechten Ohr funkelte ein mit kleinen Diamanten besetzter Ring. Ich kannte Parettis Bild aus den Zeitungen. Auch jetzt sah er nicht anders aus. Die wilde dunkle Mähne hatte er durch den Pferdeschwanz gebändigt. Seine Augen waren schmal. Schmal war auch die Nase, aber lang und etwas gebogen. Eine hohe Stirn, ein eckiger Mund, ein breiter Mund und die dunklen Bartschatten auf den Wangen. Er konnte den italienischen Einfluß seines Vaters nicht verleugnen. Ich schätzte ihn auf ungefähr dreißig Jahre oder knapp darüber. »Ihr seid ja pünktlich«, sagte er und deutete auf eine Champagnerflasche, die im Eiskübel stand. »Einen Schluck?« »Nein.« »Im Dienst, wie?« »So ähnlich.« »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Wir nannten unsere Namen, wobei auf seinem Gesicht ein Grinsen erschien. »Ja, von euch habe ich schon mal gehört.« »Wie schön.« »Und um was geht es?« fragte Suko. Er kam schnell zum Thema. Sicherlich fühlte er sich ebensowenig wohl wie ich. Es war nicht unsere Welt, mochte sie auch noch so in oder gestylt sein. Paretti fing an zu sprechen. »Wenn du den Palazzo beziehst, wirst du ein Opfer des Blutspuks werden. Jeder Fremde wird ihm nicht entkommen können, also hüte dich…« Seine Stimme verklang. »Was soll das?« fragte Suko. »So lautete die Drohung, die man mir geschickt hat. Ich habe den Text auswendig gelernt. Er ist mit Blut auf ein Blatt Papier geschrieben worden.« »Mit Blut?« fragte ich. »Ja.« »Das wissen Sie genau?« Er nickte. »Haben Sie es untersuchen lassen?« »Nein, aber ich weiß es.« Er griff in die Brusttasche außen an seinem Hemd. »Und ich nehme auch an, daß man die Worte mit dem Blut eines Menschen schrieb.« Er holte aus der Tasche einen Zettel hervor, faltete ihn auseinander und legte ihn so auf den runden Tisch zwischen uns, daß wir den Text lesen konnten. Es entstand eine Schweigepause. Suko und ich überlegten jeder für sich, was es mit dieser Drohung auf sich hatte. Der Rockstar war nicht
erwischt worden, dafür hatte man seinen Mitarbeiter ohne Gesicht tot aus dem Canale Grande gefischt. Paretti trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, was mich wiederum nervös machte. »Es ist ernst«, sagte er. »Das glaube ich auch«, murmelte Suko. »Einen Toten hat es gegeben. Ich wußte nicht, daß es Sid Arnos erwischen würde, aber ich bekam einen Anruf von der venezianischen Polizei, und da wußte ich, daß dieser Schrieb keine leere Drohung gewesen war, mit der man mir Angst machen wollte.« »Stimmt«, gab ich zu. Dann sprach Suko. »Welches Motiv kommt für die Tat in Frage, Mr. Paretti? Können Sie sich eins vorstellen? Gibt es jemand, der Sie so sehr haßt, daß er Sie umbringen will?« Paretti lachte, und es klang wenig echt. »Feinde hat man immer, besonders unter den ach so netten Kollegen, die dich umarmen und dir trotzdem die Pest an den Hals wünschen. Das ist bekannt in der Branche, das ist auch akzeptiert, aber bis zum Mord?« Er schüttelte den Kopf »So weit geht es nun doch nicht. Außerdem habe ich nicht das Gefühl, daß diese abscheuliche Tat mit Neid oder Mißgunst eines Kollegen zusammenhängt. Das hat andere, tiefere Gründe.« »Und welche, Ihrer Meinung nach?« wollte ich wissen. Paretti lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Das ist schwer zu sagen. Ich gehe mal davon aus, daß sie nicht hier in London liegen, sondern in Venedig.« »Wo da genau?« Er puhlte in seinem Ohr. »Wenn ich das wüßte…« »Doch, Sie wissen es.« »Wie kommen Sie darauf?« »Reden Sie!« »Ich habe da einen alten Palazzo gekauft. Stand ja auch in dem Text. Damit muß die Tat zusammenhängen.« Ich war skeptisch. »Nur weil Sie diesen Palazzo gekauft haben? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Er regte sich auf. »Verdammt noch mal, lesen Sie den Text! Der Palazzo und der Blutspuk. Okay, es hat Sid Arnos erwischt. Es steht nicht fest oder ist nicht bewiesen worden, aber meiner Meinung nach muß er den Palazzo betreten haben. Danach hat man ihn umgebracht und in den Kanal geworfen. Das ist es, was ich Ihnen sagen will.« »Und Sie wissen auch nicht, ob die italienischen Kollegen von uns Ihren Palazzo durchsucht haben?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Wir werden sie fragen.« Er staunte zuerst mich, dann Suko an. Schließlich zog er den Mund in die Breite. Dabei streckte er uns den Arm
entgegen, und seine Goldbänder klingelten. »Das heißt also, Sie haben angebissen und werden nach Venedig fliegen.« »So ist es.« Sein Whisky-Champagner-Atem wehte uns entgegen. »Das ist wirklich besser, als ich es erwarten konnte. Wenn Sie so leicht einschlagen, werden Sie auch daran glauben, daß es einen Blutspuk gibt.« »In der Tat.« »Wunderbar. Und was jetzt?« »Werden wir uns noch über einige Einzelheiten unterhalten müssen«, sagte Suko. »Bitte.« Er schlürfte sein halb mit Champagner gefülltes Glas leer. »Das tue ich sogar gern…« *** Viel hatten wir von dem Rockstar nicht erfahren. Wir wußten nur, daß dieser Palazzo früher einmal einer Familie Ferrini gehört hatte, die sehr reich gewesen war. Und diese Familie hatte sich nicht eben wohlfeil verhalten, das hatten wir auch herausgehört. Mehr nicht. Alles Weitere wollten wir in Venedig am Ort des Verbrechens erfahren. Der Flug verlief ohne Zwischenfälle. Wir hatten zudem das Glück gehabt, in der ersten Klasse sitzen zu dürfen, denn alle anderen Plätze waren ausgebucht gewesen. Natürlich waren wir noch über Sir James den offiziellen Weg gegangen und hatten die italienischen Kollegen von unserem Kommen informiert, aber diejenigen Personen, die wir von früheren Einsätzen her kannten, saßen nicht mehr in den entsprechenden Positionen. Einige waren befördert worden, andere sicherlich in Pension gegangen, und es gab auch welche, die versetzt worden waren. Italien war eben ein etwas unruhiges Land, da macht auch die Verwaltung keine Ausnahme. Jedenfalls waren wir so verblieben, daß wir uns melden würden. Zudem würden wir auch nicht wegen unserer Waffen am Zoll aufgehalten werden. Die Kommunikation innerhalb der EU klappte inzwischen wesentlich besser als früher. Ich zumindest hätte noch länger fliegen können. Wann flog jemand wie ich schon in der ersten Klasse, wo er wirklich erstklassig bedient wurde? Leider mußte ich den angebotenen alkoholischen Köstlichkeiten entsagen, denn Champagner am Morgen brachte die Mattheit am Nachmittag, und die konnte keiner von uns gebrauchen. Auch nach der Landung in Mestre, wo Venedigs Flughafen hegt, hatte alles geklappt. Mit dem Zug waren wir über den Damm in die Stadt hineingefahren, und beide dachten wir daran, daß es nicht unbedingt nötig war, schon jetzt die Kollegen zu besuchen und uns dort vorzustellen. Das hatte Zeit.
»Wichtiger ist wohl der Palazzo«, meinte Suko. »Richtig.« Er lächelte, ich grinste ebenfalls, also waren wir uns wieder einig. Der Zug war nicht gut besetzt. Suko und ich saßen uns schräg gegenüber. Jeder konnte die Beine ausstrecken, was ich auch tat. Ich wollte mich noch etwas entspannen. Mein Blick glitt durch den Wagen, und ich sah mir gegenüber eine Frau sitzen, deren schwarze Haarmähne mir sofort auffiel. Sie umgab als lockige Pracht ihren Kopf und ließ das Gesicht bleich aussehen, obwohl es ein sanftes Makeup zeigte. Die Frau schaute aus dem Fenster. Sie mußte mich allerdings trotzdem sehen, da sich das Innere des Wagens auch in der Scheibe abzeichnete. Die Person war elegant gekleidet. Sie trug eine feine grüne Lederjacke, dazu eine moderne rehbraune Cordhose, geschnürte Schuhe und einen weichen, beigefarbenen Pullover unter der offenen Jacke. An ihren Fingern schimmerten zwei Ringe. Ich schätzte sie auf Anfang Dreißig. Sie war der Typ der selbstbewußten Norditalienerin. Eine Frau wie sie konnte in einem Juristenjob ebenso arbeiten wie in der Modebranche oder der Industrie. Auch wenn sich ihr Gesicht kaum bewegte und sie deshalb kühl wie ein Eisblock wirkte, konnte ich mir vorstellen, daß in ihrem Innern eine regelrechte Höllenglut loderte. Jedenfalls bot sie einen sehr erfreulichen Anblick, der mich die Trostlosigkeit des Zugs vergessen ließ. »Die Signora gefällt dir, wie?« »Bitte?« Suko grinste. »Heißes Weib, was?« »Ach, hör auf.« Ich winkte ab. »Du schaust doch immer hin.« »Es lohnt sich.« »Stimmt.« »Was meckerst du dann?« »Tu ich doch gar nicht. Ich habe nur etwas festgestellt.« »Ja, ja.« Ich nickte. »Das Feststellen kenn ich. Aber du hast recht. Sie ist toll. Ich könnte sie mir als persönliche Fremdenführerin für diese Stadt schon vorstellen.« »Frag sie doch.« »Später vielleicht.« Es dauerte nicht mehr lange, bis wir in den Bahnhof einliefen, der in Venedig Stazione Ferroviaria San Lucca heißt, und auch der Kai direkt vor dem Bahnhof trägt den Namen Ferrovia. Die unbekannte Schöne hatte sich schon vor uns von ihrem Platz erhoben. An der Tür trafen wir sie wieder. Da bauten wir uns hinter der Signora auf, nahmen ihr Parfüm wahr, das uns einen Hauch von Frühling entgegenschickte. Suko stieß mich an, grinste und schnüffelte. Ich tat es ebenfalls, dann lachten wir beide. Wahrscheinlich fiel uns zugleich ein, daß wir uns wie die kleinen Kinder benahmen.
Alles drehte sich um die schöne Frau, die ausstieg und nicht mal einen Blick zurück geworfen hatte. »Nun«, meinte Suko, als er mich anschaute. »Blonde Männer sind wohl nicht ihr Typ.« »Das vermute ich auch. Schade.« »Mach dir nichts draus. Auch andere Mütter haben schöne Töchter. Mütter, die Perkins oder Collins heißen und…« »Hör auf, bevor du alle aufzählst!« »Hast du es so schlimm getrieben?« »Wieso getrieben? Ich treibe es noch immer.« »Klar, wir treiben.« Das verstand ich nicht. »Was meinst du damit?« »Gleich auf dem Wasser.« Da hatte er recht, denn es waren nur mehr ein paar Schritte, bis wir die Bahnhofshalle durchquert hatten. Eine ziemlich leere Halle. Der Betrieb im Sommer mußte zehnmal so stark sein wie zu dieser kalten Jahreszeit. Wir verließen sie, und Venedig lag vor uns. Es war wie eine Bilderbuchkulisse oder hätte wie eine solche wirken können, wenn die Sonne geschienen hätte. So aber war das Meer der Häuser und Palazzi Teil einer grauen Landschaft, die sich von der Farbe des Wassers in den zahlreichen Kanälen kaum unterschied. Wir standen praktisch am Canale Grande, und Boote waren ebenfalls zu mieten. Nur eben keine Gondeln. Die meisten waren über die Wintermonate eingemottet. Es fuhren recht wenige. Die echten Liebhaber der Stadt ließen sich auch von einem derartig kühlen und feuchten Wetter nicht abhalten. In warme Kleidung gehüllt, ließen sich einige von ihnen tatsächlich mit einer Gondel durch die Kanäle fahren, wobei der Gondoliere ebenfalls winterlich gekleidet war, damit er sich nicht erkältete und im Frühling wieder singen konnte. Wir entschieden uns gegen eine Gondel und nahmen eines der Motorboote. Zufällig hatte sich auch die schöne und elegant gekleidete Frau dafür entschieden. Nur befand sie sich bereits auf dem Kanal, stand am Heck, drehte sich um, und ich hatte das Gefühl, als würde sie uns anschauen. Konnte aber auch eine Täuschung sein. »Steigen Sie ein, meine Herren. Venedig im Winter ist wunderbar. Da werden Sie überall gut bedient, und selbst die Tauben auf der Piazza San Marco zeigen Respekt.« »Stimmt das auch?« fragte ich. »Versuchen Sie es.« Ich stieg zuerst ein. »Leider wollen wir dort nicht hin.« »Schade.«
»Es gibt noch andere Ziele.« Der Fahrer lachte und taute sein Boot los. »Stimmt. Wo soll es denn hingehen?« Die Antwort überließ ich Suko. »Palazzo Ferrini.« Unser Mann am Ruder hatte den Motor bereits gestartet, entsprechend laut war es. Ob er etwas sagte, konnten wir nicht hören, aber beide sahen wir, daß er zusammenzuckte und rasch den Kopf drehte. Ich saß am Heck. Suko kam zu mir, blieb aber stehen. »Hast du das gesehen?« fragte er mich. Ich nickte. »Der scheint Bescheid zu wissen.« Ich hob die Schultern. »Was willst du? Wird ein Toter aus dem Kanal gefischt, spricht sich das herum. Schließlich kommt das in Venedig nicht alle Tage vor.« »Das glaube ich auch.« »Wir werden mit ihm reden.« »Das wollte ich gerade vorschlagen.« Sicherlich gehörte es auch zu den Aufgaben des Fahrers, seinen Gästen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu erklären, denn auf der Fahrt durch den berühmten Kanal passierten wir zahlreiche historische Bauten, aber unser Mann schwieg. Er drehte nur hin und wieder den Kopf, um uns anzuschauen, ansonsten hielt er sich vornehm zurück. Wir sahen uns gezwungen, den Anfang zu machen, und ich war es schließlich, der sich erhob. Als ich neben dem Mann auftauchte, schrak er zusammen, weil er so überrascht worden war. »Alles okay?« »Si.« »Sie sprechen Englisch?« »Kaum.« »Ich versuche es in Ihrer Sprache. Sie ist aber nicht perfekt.« Er lachte und ließ seine Zähne blitzen. »Wer ist schon perfekt, Signore?« »Eben. Wie heißen Sie?« »Luigi.« »Wunderbar, Luigi.« Er war kleiner als ich, trug eine rotschwarz karierte Tweedjacke und eine schwarze Wollmütze auf dem Kopf. »Ich hatte das Gefühl, daß Sie sich vorhin erschreckt haben, als mein Freund das Ziel nannte.« »Ach ja?« »So kam es uns zumindest vor.« Er hob die Schultern. »Was ist denn der Grund?« »Nichts Besonderes, Signore.« »Ich dachte schon, es hängt mit unserem Ziel zusammen. Daß Sie den Palazzo nicht gern anfahren.« »Ich fahre dorthin, wo es meine Kunden wollen.«
Für eine Weile stellte sich das Schweigen wie eine Mauer zwischen uns auf. Ich blickte auf das graue Wasser, das träge zwischen den Hauswänden schwappte. Es war alles andere als sauber, und in den Kanälen schwamm viel Müll. Aber wo war die Welt schon sauber? Auch in Venedig nicht. Außerdem hätte es uns schlimmer treffen können, wenn aus den dicken, tiefliegenden Bleiwolken noch der Regen geströmt wäre. Er hielt sich zurück. Dafür blies von der Lagune kommend ein ziemlich scharfer Nordostwind über die Stadt hinweg und schonte unsere Gesichter nicht. Manchmal konnte ich den Verfall riechen. Da drangen die Gerüche von Staub und altem Mauerwerk an meine Nase, vermischt mit irgendwelchen Kochdünsten und anderen Aromen. »Was hat dieser Palazzo denn an sich?« »Prego?« Ich wiederholte meine Frage. »Nichts, Signore. Sie müßten das doch wissen, denn Sie und Ihr Freund wollen dorthin.« »Das stimmt schon. Man hat ihn uns empfohlen. Man hat gesagt, daß er nicht bewohnt, aber zu schade ist, um leer zustehen.« »Das ist wahr.« »Da sich in Venedig anscheinend kein Käufer gefunden hat, versuchte man es im Ausland.« »Sie wollen ihn kaufen?« Ich lachte. »Sehe ich so aus? Wir sollen ihn uns anschauen. Wir kennen jemanden, der ihn kaufen möchte. Dieser Mensch will zuvor unser Urteil abwarten. Er hat uns geschickt, um alles zu erkunden. Wirklich alles, Signore. Deshalb haben wir ja auch Sie gefragt. Und uns ist aufgefallen, daß Sie sich erschreckt haben, als wir den Namen erwähnten…« Er schwieg. Ich hatte damit gerechnet, daß er auf diesen Köder anbeißen würde, aber er hielt sich zurück. Aus diesem Grunde stellte ich ihm die direkte Frage. »Warum haben Sie sich erschreckt?« Luigi hob die Schultern. »Geirrt haben wir uns nicht.« »Das mag sein…« »Aber?« »Der Palazzo steht leer. Man mag ihn nicht. Deshalb hat man auch keinen Käufer hier in der Stadt gefunden.« Ich nickte vor mich hin. »Einen Grund wird das natürlich auch gehabt haben, denke ich.« »Möglich…« »Sie können ihn mir ruhig nennen.« Luigi wand sich. Er schaute überall hin, nur nicht zu mir. Als hätte er ein schlechtes Gewissen. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Luigi, wir sind beide hart im Nehmen.«
»Da… da… hat ein Kollege von mir einen Toten aus dem Kanal gefischt«, sagte er schließlich. Ich hatte schon sehr genau hinhören müssen, um ihn überhaupt zu verstehen. »Oh…« Luigi nickte und fügte noch hinzu: »Der Mann hatte kein Gesicht mehr.« »Kein Gesicht?« »So ist es. Er hatte kein Gesicht mehr. Sie möchten doch auch Ihre Gesichter behalten, Sie und Ihr Freund.« »Und ob. Auch wenn wir keine Schönheiten sind. Ohne Gesichter umherzulaufen, ist wirklich nicht das Wahre.« Luigi konnte über den Scherz nicht einmal lächeln. »Der Kollege hat das gleiche getan wie ich. Er hat diesen Engländer zu dem Palazzo gefahren, dort abgesetzt und ihn später im Wasser treibend ohne Gesicht gefunden. So ist es gewesen.« Ich staunte erst einmal, obwohl ich alles wußte. Suko stand mittlerweile hinter mir und hörte dem Gespräch zu. »Was sagt denn die Polizei dazu?« Luigi winkte ab und lachte. »Warum tun Sie das?« »Die Polizei – Himmel, die steht vor einen Rätsel. Die schaut dumm aus der Wäsche.« »Sie kommt also nicht damit zurecht?« »So ist es. Und es ist auch schwer, kann ich Ihnen sagen. Ich bin kein großer Freund der Uniformierten. Sie stören oft genug mit ihren Kontrollen, aber da muß ich sie in Schutz nehmen. Um diesen Mord aufzuklären, muß man weiter zurück in die Vergangenheit gehen. Ich denke, daß der Mord etwas mit dem Palazzo zu tun hat. Und zwar mit dem, was man sich darüber erzählt.« »Jetzt wird es spannend.« »Nein, das liegt ja weit zurück.« »In der Vergangenheit also?« »Ja, die Familie Fenini. Sehr groß, sehr mächtig, sehr unmenschlich, wie man sagt.« »Wieso unmenschlich?« »Kann ich auch nicht genau sagen. Jedenfalls hat sich diese Familie nicht eben proper benommen. Es sind da einige Dinge vorgefallen, über die man besser schweigt.« »Gut, Luigi, gut. Aber ich sehe noch immer keinen Grund dafür, daß sich kein Einheimischer traut, den Palazzo zu kaufen.« Er überlegte einen Moment und winkte einem vorbeifahrenden Kollegen zu. »Es hängt wohl mit der Tragödie zusammen, denn in einer Nacht, sie liegt einige hundert Jahre zurück, ist es dann passiert. Jemand aus der Familie drehte durch. Bei einem Fest hat er alle Mitglieder umgebracht. Es war im Karneval, wo sich die Maskenträger auf den Plätzen und auch
auf den Kanälen breitmachten. Da passierte im Palazzo der Ferrinis das Schreckliche.« »Wie konnte es zu dieser Bluttat kommen?« fragte ich weiter. »Das wissen die Götter oder die Bewohner der Hölle…« fügte er düster hinzu. »Sie kennen den Grund nicht?« »Nein.« »Was munkelt man denn?« Er hob die Schultern. »Das meiste ist natürlich in Vergessenheit geraten, aber die Leute reden hier davon, daß dieser Palazzo ein verfluchter Ort ist. Hinter den Mauern soll sich das Böse noch gehalten haben, erzählt man. Es gab Leute, die haben den Palazzo betreten, und sie sind anschließend, wahnsinnig vor Angst, aus ihm geflohen. Es war einfach grauenhaft. Sie haben auch nicht viel darüber gesprochen. Die Erinnerung an das Erlebte muß sie stumm gemacht haben.« »Kamen sie auch ohne Gesicht?« fragte Suko. »Das weiß ich nicht.« »Was könnten sie denn gesehen haben?« Luigi hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen.« »Und nun ist es wieder passiert, nicht wahr?« Er schaute mich an. Seine Augen waren groß geworden, in ihnen schimmerte die Furcht. »Si, es ist abermals passiert. Der Mann, der den Palazzo betrat, wurde im Kanal gefunden, ohne Gesicht, das will ich noch mal betonen.« »Man hat es ihm also gestohlen«, murmelte ich. »So sieht es aus.« »Und wie ist das möglich?« »Fragen Sie die Götter oder den Teufel, aber nicht mich, Signore.« Er deutete schräg über das Wasser zum rechten Ufer hin. »Wir sind übrigens gleich am Ziel.« Während ich meine Blicke über die grauen und manchmal grünlich oder leicht gelblich schimmernden Fassaden gleiten ließ, erkundigte ich mich nach dem genauen Standort. »Sehen Sie dort hinten die Anlegestelle? Hinter den beiden Laternen…« »Die sehe ich.« »Etwas weiter links davon, tief im Schatten, steht ein graues Gebäude. Es wirkt vernachlässigt, ein wenig verfallen, zumindest nach außen hin, aber im Innern hat sich etwas getan, wie ich hörte. Und genau dort müssen Sie hin. Das ist der Palazzo Ferrini.« »Danke.« »Keine Ursache.« »Kann man dort anlegen?« fragte Suko. »Si, das werden wir.« Luigi schaute sich um, ob kein anderes Boot seinen Weg kreuzte. Dann fuhr er schräg auf das andere Ufer zu, wobei wir die Laternen passierten
und für wenige Augenblicke von ihrem tiefgelben Licht erfaßt wurden. Wir erlebten einen Tag, der nicht richtig hell werden wollte. Querwellen zielten gegen unser Boot, erwischten es, sorgten für Spritzfontänen, die auch über Bord wirbelten und auf den Planken kleine Schaumstreifen hinterließen. Der steife Wind hatte das Wasser unruhig gemacht, besonders hier in dem breitesten Kanal. Die Rialto-Brücke hatten wir noch nicht erreicht, und wir würden auch bis dorthin nicht fahren. Luigi war ein Fachmann. Trotz des relativ hohen Wellengangs lenkte er das Boot sicher auf die Anlegestelle zu, stellte es quer, und so schaukelten wir der Mauer entgegen, wobei unser Fahrer die Leine packte und sie zielsicher um den Pfosten schleuderte, dessen Farben zu dieser Zeit blaß aussahen. Aus beinahe traurigen Augen und so, als wollte er Abschied nehmen, schaute uns Luigi an. »Jetzt wünsche ich Ihnen viel Glück«, flüsterte er. »Das meine ich ehrlich. Ich möchte Sie nicht ohne Gesicht und im Wasser treibend wiedersehen.« »Davor werden wir uns schon hüten«, sagte ich und holte englische Geldscheine aus der Tasche. »Damit ist mein Kollege auch bezahlt worden.« »Ein schlechtes Omen?« fragte ich und drückte ihm die Scheine in die Hand. Er schaute sie eine Weile an. »Hoffentlich nicht.« »Wir werden sehen.« Ich bedankte mich noch einmal für die wertvollen Informationen und stieg aus. Neben Suko, der das Boot bereits verlassen hatte, stellte ich mich hin, praktisch in Greifweite zur grauen Fassade des Palazzo. Luigi taute sein Boot los. Er winkte uns noch einmal zu, dann legte er ab und fuhr der Mitte des Kanals entgegen. »Der Mann hat Angst«, stellte Suko fest. »Und was hast du?« »Hunger, aber ich verspüre auch eine gewisse Spannung und Neugierde.« »Und du hast keine Sorge, daß du dein Gesicht verlieren könntest. Das wäre doch für dich als Mensch aus Asien wirklich schlimm, denke ich mal.« »Hör auf mit den alten Sprüchen. Mir ist etwas anderes aufgefallen. Wenn ich mich hier so umschaue, komme ich mir isoliert vor. Wir sind die einzigen, die sich in der Nähe des Palazzo aufhalten. Er wird von anderen gemieden. Hier laufen keine Menschen her, und hier legt auch kein Boot an. Niemand will etwas mit den Ferrinis zu tun haben.« »Aus gutem Grund«, sagte Suko grinsend. »Die Familie scheint nicht sehr beliebt gewesen zu sein.« . »Das stimmt.« »Fragt sich nur, was davon noch übrig ist.« Suko deutete gegen die Mauern. Auch ich drehte mich um und ließ meinen Blick an den
Außenseiten der Fenster entlangschweifen. Das Glas war zu blind, um hindurchschauen zu können, aber nicht schmutzig genug, als daß sich nicht ein Teil der Umgebung hinter uns darin widergespiegelt hätte. Ich sah den Kanal, ich sah auch schattenhaft die Bauten an der anderen Uferseite, und mir viel auf, daß ein Boot sehr langsam an diesem Palazzo entlangtuckerte, wobei die Person, die das Boot gemietet hatte, aufrecht in der Nähe des Hecks stand. Ich erkannte, daß es eine Frau war, drehte mich von den Fenstern weg und um und war nicht mal überrascht, die Schöne aus dem Zug entlangfahren zu sehen. Hatte sie uns ihr Gesicht zugedreht gehabt oder nicht? Es war die Frage, auf die ich keine Antwort bekam, denn sie schaute nach vorn, als wäre das Wasser des Kanals etwas Besonderes und auch völlig Neues für sie. Suko grinste mir zu. »Du hast sie auch erkannt?« »Und ob.« »Zufall?« »Keine Ahnung. Zumindest hat sie sich zurückfallen lassen. Sie ist vor uns von der Anlegestelle am Bahnhof abgefahren. Wie dem auch sei, ich glaube nicht, daß es ein Zufall gewesen ist. Bei der dritten Begegnung werde ich sie ansprechen.« »Tu das.« Suko hatte bereits in die Tasche gegriffen und den Portalschlüssel hervorgeholt. Er winkte mir damit zu. »Sollen wir hineingehen oder nicht?« »Wozu sind wir hier?« »Meine ich auch…« *** Als die Tür hinter uns zugefallen war, hatten wir beide den Eindruck, in einer großen, kalten, frisch renovierten Gruft zu stehen. Es roch nach Farbe, Lack, Kleister und Feuchtigkeit, die wegen der geschlossenen Fenster nicht abziehen konnte. Kein unnatürlicher Geruch, denn von Rock Paretti wußten wir, daß er seinen Bau von innen bereits hatte renovieren lassen. Wir waren nur kurz hinter der Tür stehengeblieben. Es gab nicht viel zu sehen, und die große Halle wirkte schon gespenstisch leer, weil wir kein einziges Möbelstück dort entdeckten. Jeder normale Schritt wurde von einem Echo begleitet, denn der Boden bestand aus teurem Marmor, wie es sich für Venedig gehörte. Zwei mächtige Säulen stützten die Decke ab, an der alte Fresken kunstvoll und in den alten Farben nachgemalt worden waren, so daß sie aussahen wie von einem mittelalterlichen Künstler soeben vollendet.
Sie zeigten die Grundmotive der Welt oder des Menschen. Eben das immerwährende Wechselspiel zwischen Gut und Böse. So sahen wir Engel, die auf Dämonen niederschauten, und mir fiel auf, daß das Gute stets über dem Bösen schwebte. Suko hatte mich allein gelassen und war vorgegangen bis zur Treppe. Er stand dort, schaute den geschwungenen Bogen hoch und meldete, daß er nichts sah. »Sie ist leer, John, und ich kann mir vorstellen, daß ich weiter oben auch nichts finde.« »Wir könnten trotzdem nachschauen.« »Das hatte ich auch vor.« »Dann geh.« »Und du?« »Ich schaue mich hier unten um.« Die untere Etage bestand nicht nur aus einem Raum. Längst hatte ich den offenen Durchgang entdeckt, der in einen zweiten führte. Auch er war leer. Auch hier umfing mich derselbe Geruch. Die Fenster lagen links von mir. Ich trat näher heran und schaute hinaus. Durch den Schmutz auf der Außenseite war der Kanal nur schemenhaft zu erkennen. Die darauf fahrenden Boote bewegten sich lautlos wie Gespenster an der Fassade des Hauses entlang. Nichts war in meiner Umgebung zu hören. Nichts Fremdes zumindest, nur meine eigenen Tritte. Suko bewegte sich in der oberen Etage. Von ihm nahm ich auch nichts wahr. Meine Gedanken kreisten um Parettis Sekretär Sid Arnos. Auch er hatte an dem Ort gestanden, an dem ich mich aufhielt. Später hatte man ihn ohne Gesicht im Canale Grande treibend gefunden. Das war eine Tatsache, von den Kollegen bestätigt. Aber wie es dazu gekommen war, daß er sein Gesicht verloren hatte, wußte keiner. Eine Antwort auf diese Frage war die Lösung des Rätsels. Ich ging ihr in kleinen Schritten entgegen und ging zugleich davon aus, daß es hier zwischen diesen Mauern passiert sein mußte. In der Leere dieser Zimmer oder Hallen hatte das Schicksal so brutal, grauenhaft und endgültig zugeschlagen. Um aber zuschlagen zu können, mußte etwas passiert sein. Irgendein Ereignis, ein Vorgang, den ich unbedingt finden wollte. Es mußte in diesem Palazzo einen Feind gegeben haben. Ihn zu finden, war meine vordringlichste Aufgabe. Wer war in der Lage, einem Menschen das Gesicht zu rauben? Ich befand mich inzwischen lange genug in diesem alten Haus, um mich an die Atmosphäre gewöhnt zu haben. Ich konnte sie schnuppern, riechen, schmecken. Aber ich konnte dabei nichts feststellen, was mich auf eine dämonische Bahn gelenkt hätte. Es war und blieb normal.
Da veränderte sich nicht der Geruch, da strömte nichts aus irgendwelchen Löchern hervor, auch die Malereien an den Wänden und Decken lebten nicht, obwohl es mir manchmal so vorkam, wenn ich sie zu lange anschaute. Dieser Palazzo war normal und trotzdem anders. Er mußte einfach anders sein. Es gab für mich keine andere Alternative. Ein Haus, in dem etwas in der Vergangenheit geschehen war, konnte nicht so sein, daß einfach alles in Vergessenheit geriet. Hier war etwas geschehen, und ein Mann namens Sid Arnos hatte dafür mit dem Leben bezahlen müssen. Sukos Stimme riß mich aus meinen Gedanken. Sie drang aus der Höhe an meine Ohren und schallte hinein in die Halle. »Hier habe ich nichts entdeckt, John – du?« »Nein.« »Dann gehe ich noch eine Etage höher. Es wird die letzte sein, schätze ich mal.« »Okay, tu das.« Ich hörte nicht, wie er sich in Bewegung setzte, sondern drehte mich um und schritt denselben Weg wieder zurück. Die untere Etage des Palazzo bestand eben nur aus zwei Räumen, die die gesamte Breite des Bauwerks einnahmen. Sie war so verdammt leer, und ich suchte vergebens nach irgendwelchen Spuren. Der Boden kam mir vor, als wäre er frisch gewischt worden. Dabei hätte Sid Arnos Fußspuren hinterlassen müssen. Es waren keine zu finden gewesen. Dafür sah ich meine Abdrücke. In dem Durchgang blieb ich stehen. Leicht frustriert, weil sich nichts getan hatte. Bisher hatte ich mein Kreuz noch nicht hervorgeholt. Ich tat es jetzt, allerdings ohne große Hoffnung darauf, einen weitreichenden Erfolg zu erzielen. Wenn eine schlechte, eine böse Aura in der Nähe gelauert hätte, dann hätte ich sie wahrscheinlich auch so gespürt, das traute ich mir nach all den Jahren zu. Die feinen Glieder der Kette streiften meine Nackenhaare hoch, als sie darüber hinweg fuhren. Dann lag das Kreuz auf meiner Hand. Nichts passierte. Ich hob die Schultern. Es war wie bei einem Wünschelrutengänger, der darauf wartet, daß sein Gerät anschlägt. Ich betrat die erste Halle und schritt auf eine der beiden Säulen zu. Es war nur ein Hauch, ich spürte ihn trotzdem. Das Kreuz hatte sich leicht erwärmt. Augenblicklich blieb ich stehen. Ein Irrtum? Ich senkte den Blick. Es gibt und es gab genügend Gelegenheiten, bei denen mich mein Kreuz auf seine Art und Weise gewarnt hatte. Manchmal huschte silbrig flimmerndes Licht in Reflexen über das Metall hinweg. Bei anderen Vorgängen strahlte es auch regelrecht auf, das passierte hier nicht. Es
war nur die geringe Abgabe der Wärme, die mich mißtrauisch gemacht hatte. Zugleich fragte ich mich, ob ich nicht einer Täuschung erlegen war und die Wärme von meiner Hand stammte. Hier war es nicht der Fall, wie ich erfuhr, als ich die rechte Zeigefingerspitze gegen das Metall drückte. Es war wärmer als meine Haut. Also doch! Ich holte tief Luft und war auch jetzt beruhigter, daß mein Kreuz reagiert hatte. Für mich der Beweis, daß ich diesen Weg nicht umsonst gegangen war. Es gab hier etwas, das meinem Kreuz widersprach. Es hielt sich nur versteckt. Demnach lag es einzig und allein an mir, dieses Etwas hervorzulocken. Ich wollte und mußte es sehen und schaute auch weiterhin nach vorn, wobei ich nicht umhin konnte, mich genauer mit der Säule zu beschäftigen, die die Verbindung zwischen Fußboden und Decke herstellte. Mein Kreuz hatte reagiert, als ich in ihre Nähe geraten war, und ich konnte mir vorstellen, daß sie etwas mit dem Geheimnis dieses Palazzo zu tun hatte. Die folgenden Schritte setzte ich langsamer und auch vorsichtiger. Ich behielt dabei die Säule unter Kontrolle, aber auch mein Kreuz. Kein Flimmern, kein Blitzen, doch es wurde wärmer. Und das, je näher ich der Säule kam. Dort verbarg sich das Rätsel… *** Längst war die Spannung in mir gestiegen. Die Luft war die gleiche geblieben, ebenso der Geruch, trotzdem hatte sie sich verändert. Sie kam mir schärfer und dichter vor. Es war schlecht zu beschreiben, was ich wahrnahm, aber ich fühlte mich von etwas umgeben, mit dem ich nicht zurechtkam. Ich war der Suchende, während die andere Seite Bescheid wußte. Dann hatte ich die Säule erreicht. Noch berührte ich sie nicht. Zwischen ihr und mir bestand eine Distanz von etwa einer Armlänge. Erst jetzt fiel mir auf, daß sie schwach bemalt war. Eigentlich zu schwach im Vergleich zu den Fresken an der Decke und den Wänden. Ich schaute zu ihnen hin. Bewegten sie sich? Bildete ich es mir ein? Ein Luftzug erwischte mein Gesicht. Er war warm und kalt zugleich und schien aus der Säule gekommen zu sein. Das mußte ich genauer wissen. Welches Geheimnis in ihr steckte, war mir noch unbekannt. Mein Kreuz sollte es herausfinden. Ich wollte die Säule berühren – und, wenn möglich, auch die Formel sprechen, um sie regelrecht zu knacken.
Mit der oberen Spitze des Kreuzes schuf ich den Kontakt. Die erste Silbe des Aktivierungsspruchs lag mir bereits auf der Zunge, als es passierte. Plötzlich hörte ich das Zischen der Säule. Als hätte jemand einen Gashahn aufgedreht. Aber nicht Gas strömte hervor, sondern etwas anderes, das ebenso schlimm war. Die Säule flog förmlich auseinander, und einen Augenblick später fauchten die heißen Flammen hervor… *** Ich hatte unwahrscheinliches Glück gehabt, denn es war mir gelungen, mich mit einem blitzschnellen Sprung nach hinten zu retten, so daß mich die Flammen nicht direkt erwischten, sondern an mir vorbei und hochstrichen wie Glutfinger. Ob meine Haare dabei angesengt wurden, war mir egal. Ich lag am Boden und rollte mich herum, wollte dem Feuer entkommen, das sich von seinem Mittelpunkt, der Säule, wie ein gewaltiger Flammenkelch ausbreitete. Mit seinen langen Zungen schlug es bis gegen die Decke, wo es dafür sorgte, daß die frische Farbe der Fresken verkohlte und aus den Gesichtern schreckliche Fratzen wurden. Mir war klar, daß sich das Feuer nicht allein auf die Säule beschränken würde. Ich konnte es auch nicht als normalen Brand ansehen. Ich selbst hatte da etwas in Bewegung gesetzt, mit dem ich zurechtkommen mußte. Ich hatte mir selbst eine Falle gestellt, und ich mußte verdammt aufpassen, daß mich die Flammen nicht erwischten. Aber nicht nur ich war betroffen. Suko würde auch nach unten eilen müssen, wenn er das Haus verlassen mußte, und er wußte bereits, daß bei mir nicht alles normal ablief, denn ich hörte seine laute Stimme, die aus der oberen Etage herabklang. »John, was ist…?« »Komm, es brennt!« Ich hatte mich längst wieder auf die Beine gestellt und war zurückgewichen. Nicht weit von der breiten Tür entfernt blieb ich stehen, schaute auf den breiten lodernden Teppich vor mir, der sogar ein dichteres Zentrum besaß, die noch immer brennende Säule. Sie ragte dort wie ein gleißender Arm in die Höhe, grell, beinahe schon weiß. Sie zitterte, zischte und sprühte. Wenn ich seitlich an ihr vorbeischaute, konnte ich schwach durch den Flammenvorhang hindurch den Beginn der Treppe sehen. Und eine Gestalt kam die Stufen herab. Suko hatte es nicht mehr ausgehalten. Er nahm zwei, drei Stufen auf einmal. Er hatte das Feuer gesehen und war von seinem Anblick so fasziniert, daß er nicht mehr weiterging. Wie gebannt blieb er stehen.
Es gab weder Rauch noch fetten Qualm, der uns den Atem raubte. Es war nur der Teppich aus Feuer vorhanden und das gleißende Zentrum in seiner Mitte. Warum bewegte sich Suko nicht? Ich wollte ihn noch einmal ansprechen, aber er kam mir zuvor und streckte dabei den Arm aus. Die Hand wies dorthin, wo sich die Flammensäule abzeichnete. Ich sah nichts. »Was ist denn?« schrie ich Suko zu. »Die Maske!« Ich mußte den Platz wechseln, lief zuerst nach links, dann hinüber nach rechts. Und da sah ich, was mein Freund gemeint hatte. Inmitten des Feuers schwebte etwas, das ich im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte, weil eben der Teppich aus Flammen die Luft flirren ließ. Ich schaute dann direkter hin und sah, daß sich Suko nicht geirrt hatte. Inmitten des Feuers und sogar dicht beim Zentrum schwebte die Maske… *** Sie war ein kaltes, ein schreckliches Gebilde, mit einer Nase, einer hohen Stirn, zwei dunkle Augenhöhlen, sie hatte auch einen Mund, verzogen und krumm, dessen Winkel nach unten wiesen, als wollten sie dem Gegenstand bewußt einen verächtlichen Ausdruck verleihen. Und ich sah, daß zwischen den Lippen der querliegende Stiel einer Rose steckte. Aus der dunkelroten Blüte tropfte etwas auf den Boden und verdampfte. Blut… Blut aus der Rose! Die Maske bewegte sich nicht. Sie stand im Feuer, verbrannte jedoch nicht. Die Maske starrte ins Leere und zugleich uns an, und es kam mir so vor, als wäre sie bewußt auf uns fixiert, als wollte sie uns etwas mitteilen. Die Maske sah auf irgendeine Art und Weise auch aus wie das Gesicht eines traurigen Clowns, der trotzdem böse war und voll teuflischer Ideen steckte. Vor allen Dingen die Dunkelheit innerhalb der leeren Augen hob sich scharf gegen die Außenhaut der Maske ab und natürlich auch gegen die Flammen im Hintergrund. Sie war teuflisch… Und das Blut tropfte weiter. Ich hatte Mühe, meinen Blick von ihr zu lösen. Die Augen wanderten nach unten. In dem Feuer malte sich etwas ab, als hätte jemand einen
Schatten hineingezeichnet, der schmal begann und sich dann zu einer Glocke ausbreitete. Ein Geist, ein Plasma aus dem Reich der Toten? Das konnte alles und auch nichts sein, jedenfalls glaubte ich nicht an eine Täuschung. Neben mir bewegte sich Suko. Da er höher stand als ich, mußte ich hochschauen und bekam mit, wie der seine Dämonenpeitsche hervorholte. Ich wußte, was er vorhatte. Aber die Maske wußte es auch. Urplötzlich bewegte sie sich. Mit einer rasenden Geschwindigkeit huschte sie auf uns zu, erreichte uns aber nicht, weil sie dicht vor uns in die Höhe stieg, als wollte sie die Decke küssen. Sie wurde von einem Feuerstreifen begleitet und erinnerte mich in diesem Moment an einen Kornet. Dicht unterhalb der Decke – sie mochte auch dort abgeprallt sein – drehte sie sich und raste auf eines der Fenster zu. Diesmal stoppte sie nicht. Die Wucht war so stark, daß sie schon beim ersten Anprall die Scheibe zerschlug und nach draußen jagte. Das Glas war aus dem Rahmen hervorgerissen. Plötzlich hatte der Wind freie Bahn, um in den Raum zu stoßen, und er ließ es sich nicht nehmen, die Flammen anzufachen. »Verdammt, wir müssen weg!« schrie Suko. Vor ihm hatte sich eine Flammenwand aufgebaut. Er bewegte sich nicht allein. Während mein Freund die Arme vor das Gesicht riß, um es vor der sengenden Hitze zu schützen, hatte ich mich bereits gedreht und eilte mit langen Schritten auf die Tür zu, die wir hinter uns nicht abgeschlossen hatten. Der große Griff bestand aus Metall. Er war ziemlich schwer. Ich mußte Kraft einsetzen, um ihn nach unten zu drücken, nahm beide Hände zu Hilfe und zerrte die Tür auf. Hinter mir hörte ich Sukos Tritte. Bevor ich nach draußen lief, drehte ich mich noch um. Der Inspektor stürmte wie ein lebendiger Schatten durch das Feuer. Er rannte auch an mir vorbei ins Freie und hatte Mühe, zu stoppen. Beinahe wäre er noch in die schmutzigen Fluten des Kanals gefallen. Auch ich hatte den inneren Bereich des Hauses verlassen und die Tür zugezerrt. Beide standen wir zusammen, dem Wasser die Rücken zugedreht. Wir standen auf den im Innern brennende Palazzo. Für einen Moment dachte ich daran, daß Rock Paretti seinen Traum, hier in Venedig zu wohnen, nun abschreiben mußte, und es tat mir nicht mal leid. Ich hatte diesen aroganten Pinsel sowieso nicht gemocht. Er würde in London
bleiben oder sich woanders ein Haus suchen. Meinetwegen dort, wo der Pfeffer wuchs, im fernen Indien. Das Innere des Hauses stand in hellen Flammen. Es gab keine Nahrung. Das Feuer loderte und fauchte trotzdem weiter. Es schickte seine heißen Grüße durch das offene Fenster. Sicherlich würde es nicht lange dauern, bis auch die unteren Scheiben barsten. Wir würden uns vorsehen müssen, wollten wir von den Splittern nicht verletzt werden. Nicht uns allein war das Feuer im Palazzo aufgefallen, auch andere Menschen hatten die Farben der Flammen gesehen, die meisten von ihren Booten aus. Wir hörten Schreie und Hupsignale, aber eine Stimme war besonders laut, die einer Frau. »Kommen Sie!« Wir drehten uns um. Ein Boot wurde gegen die Ufermauer gelenkt. Der Fahrer sah aus wie ein Häufchen Elend, im Gegensatz zu der Person, die noch immer hochgewachsen in der Nähe des Hecks stand und uns jetzt mit hastigen Bewegungen zuwinkte. »Steigen Sie ein, das Feuer wird alles vernichten. Sie haben keine Chance. Sie werden begraben.« »Okay.« Blitzschnell enterten wir das Boot, und die Frau nickte uns zu, ohne daß sich ihr schöner Mund auch nur zu einem Lächeln verzogen hätte. »Fahren Sie weiter!« herrschte sie den Mann am Ruder an. »Si, Signora Ferrini.« Es war schon die zweite Überraschung für uns innerhalb kurzer Zeit. Die erste hatten wir bereits weggesteckt. Die Frau auf dem Boot war keine andere als die Person, die wir bereits im Zug gesehen hatten… Die Bar war wunderschön und der berühmten Harry’s Bar in New York und Paris nachempfunden. Altes Holz, weiche Beleuchtung, ein langer Tresen, auch Tische, kaum Gäste, man kriegte also noch einen Platz. Die Ober waren in Schwarz und Weiß gekleidet. Wir hatten einen Tisch an der Wand gefunden, umgeben von Holzpaneelen und alten Stichen in Metallrahmen. Vor uns dampfte der Kaffee in den Tassen, und einen Grappa hatte ich ebenfalls neben mir stehen. Er schimmerte in einem tulpenförmigen kleinen Glas. Das gleiche wurde auch von Claudia Ferrini angehoben, als sie mir zuprostete. »Salute, Signor Sinclair.« Sie nickte auch Suko zu, der seinen Kaffee pur trank und das starke Gebräu etwas mißtrauisch anstarrte. »Worauf trinken wir denn? Darauf, daß Sie uns gerettet haben?« Sie winkte ab. »Das hätten Sie auch ohne meine Hilfe geschafft.« »Meinen Sie?« »Bestimmt.« »Und weiter?«
In ihren dunklen Augen schob sich so etwas wie Spott hinein. »Darauf, daß Sie beide es geschafft haben.« Das verstanden wir nicht und demonstrierten dies auch. Sie trank, ich trank, wir stellten beide unsere Gläser ab, und der Nachgeschmack des Grappa wehte noch durch meinen Mund, als sie zu einer Erklärung ansetzte. »Sie haben das geschafft, was keiner zuvor fertigbrachte.« »So?« »Si.« Sie lächelte, nur war das weder warm noch herzlich. »Sie haben die Maske befreit und damit dem Blutspuk freie Bahn gegeben. Ist das ein Grund, um einen Drink zu nehmen?« Sie gab sich selbst die Antwort. »Zumindest kein fröhlicher, aber immerhin ist es einer, denn das ist seit sehr langer Zeit nicht passiert.« Wieder trank sie und setzte das leere Glas ab. Ich nickte ihr über den Tisch hinweg zu. »Sie scheinen mehr zu wissen, Signora.« »Klar, wer Ferrini heißt«, sagte Suko noch. »Claudia Ferrini, um genau zu sein. Die letzte aus dem Geschlecht, aus der Familie oder dem Clan, wie man so schön sagt. Die Erbin des Palazzo, die es gewagt hat, ihn zu verkaufen.« »An Rock Paretti.« »So ist es, Signor Sinclair.« »Und warum taten Sie das?« »Er wollte es so. Paretti wollte unbedingt ein Haus am Canale Grande haben. Er liebte Venedig heiß und innig. Sein Vater stammte aus dieser Stadt. Nun, er hat es gekauft, er war der Besitzer, und jetzt ist er es nicht mehr, denn das Haus wird bis auf die Grundmauern niedergebrannt sein.« »Was Ihnen nicht mal leid tut.« Claudia runzelte die Stirn. Sie hob den Blick an, als sie mich anschaute. »Nein, es tut mir nicht leid, denn ich habe sehr viel Geld dafür bekommen. Es ist nur schlimm, daß die Maske frei ist. Der Blutspuk hat freie Bahn, aber dafür tragen Sie die Verantwortung, nicht der Käufer Rock Paretti.« »Haben Sie ihm davon erzählt? Warnten Sie ihn?« »Nicht direkt. Er wußte Bescheid, aber er hat nur gelacht. Er ging sogar noch weiter. Er war froh, ein Haus mit einer gewissen Atmosphäre gekauft zu haben…« »Bis er die Warnung bekam«, sagte Suko. »Sogar mit Blut geschrieben. Da hörte dann der Scherz auf.« Die Ferrini hob die Schultern. »Wissen Sie, wer die Warnung geschrieben haben könnte?« fragte ich die Frau.
Sie lächelte. Dabei schaute sie uns an. »Ha, ha, typisch Polizist. So fragen sie immer.« »Sie wissen über uns Bescheid?« Claudia nickte Suko zu. »Ja, Paretti sagte es mir. Wir standen immer in Verbindung. Ich habe erfahren, was passiert ist. Daß sein Sekretär im Haus umkam, und es war für mich nicht mal eine Überraschung, das sagte ich ihm auch.« »Wo?« »Am Telefon.« »Und was sagte er noch?« »Er klärte mich über Sie beide auf.« »Wie nett.« Ich grinste bissig. »Was wollen Sie? Rock hatte Vertrauen zu mir.« »Und Sie haben uns dann erwartet?« »In Mestre.« Sie lächelte kühl. »Ich werde Ihnen im Zug wohl nicht entgangen sein.« »Das kann man so sagen!« bestätigte ich. »Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, eine Frau wie Sie fällt auf.« »O danke. Ich weiß Komplimente zu schätzen. Es war doch sicherlich eines, oder?« »Si, Signora, das war es. Nur sollten wir uns jetzt auf andere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel auf die Maske und den damit in einem Zusammenhang stehenden Blutspuk. Ich denke mir, daß Sie als eine Ferrini, sogar als die letzte Ferrini, mehr wissen.« »Das kann sein.« »Würden Sie uns denn an Ihrem Wissen teilhaben lassen?« Sie wühlte in der Tasche herum, fand ein schmales Zigarettenetui, das sogar mit einem Streifen aus kleinen Brillanten besetzt war, klappte es auf und holte ein schmales Stäbchen hervor, eine Damenzigarette, deren Filter sie zwischen ihre Lippen steckte. Ich gab ihr Feuer mit meinem billigen Einwegfeuerzeug und kam mir dabei schon popelig vor, wenn ich daran dachte, aus welch einem kostbaren Etui die Frau ihren Glimmstengel geklaubt hatte. Wir waren gespannt. Claudia aber ließ uns zittern. Sie rauchte einige Züge und blies den Qualm gegen die Decke. Zwischendurch trank sie ihre Tasse leer, bestellte noch zwei Grappa, die der Ober lächelnd servierte. »Was möchten Sie wissen?« »Alles«, sagte Suko. »Das wird nicht viel sein.« Ich lachte. »Sie als eine Ferrini…« »Natürlich, ich bin eine Ferrini, aber ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich die letzte bin. Ich bin gewissermaßen übriggeblieben.«
»Nun ja«, murmelte ich. »Wenn Sie tatsächlich die letzte Ferrini sind, werden Sie sich doch bestimmt mit Ihrer Familiengeschichte beschäftigt haben, und auf die können Sie ja nicht stolz sein, sage ich mal.« »Woher wissen Sie das?« Ihre Stimme klang jetzt schärfer. »Man kriegt Antworten, wenn man fragt.« »Wen denn?« »Glauben Sie uns, Signora. Der Name Ferrini ist hier in Venedig nicht unbekannt, und man hat schließlich eine gesichtslose Leiche im Canale Grande gefunden.« »Ich weiß.« »Sie kennen den Toten natürlich.« »Sid Arnos. Ich lernte ihn bei Rock Paretti kennen. Arnos war sein Vertrauter.« »Und Sie haben ihn nicht gewarnt?« »Er wollte mir nicht glauben, ebensowenig wie sein Chef.« »Kommen wir doch mal auf das Motiv zurück«, sagte Suko. »Es liegt in der Vergangenheit begraben. Ihre Familie oder Ihre Ahnen sind daran beteiligt, und keiner von uns beiden kann sich vorstellen, was die Ferrinis getrieben haben.« »Handel und Wandel«, war die Antwort. »Ach so. Mit Masken?« »Nein, Suko, mehr mit Stoffen, aber Masken waren auch dabei, obwohl ich zugeben muß, daß die Maske, von der wir sprechen, nicht aus einem fernen Land stammt. Wir haben es hier mit einer venezianischen Maske zu tun, einer aus der Stadt, einer Maske, die zum Karneval getragen wurde, hinter der man sich versteckte.« »Normal war sie trotzdem nicht, denke ich.« »Richtig.« »Was war an ihr so Besonderes?« »Die Herkunft.« »Die hatten wir schon…« »Das meine ich nicht, Suko.« Claudia sprach leise. »Es war die besondere Totenmaske des Horatio Ferrini, des Stammvaters unseres Geschlechts. Als er starb, war seine Totenmaske bereits fertig, und als er schließlich die Augen schloß, geschah etwas Unbegreifliches und Unheimliches.« »Und was?« »Er verlor sein Gesicht!« Wir schwiegen, denn mit einer derartigen Antwort hatten wir nicht gerechnet. Ich runzelte die Stirn und wiederholte: »Er verlor also sein Gesicht?« »So war es.« »Wie auch Sid Arnos?« »Richtig.«
»Und wo war sein Gesicht?« Claudia Ferrini lachte leise. »Auf diese Frage habe ich gewartet. Niemand weiß es genau. Vielleicht in der Maske. Sie wird sich sein Gesicht geholt haben. Sie wird sich, als er schon tot war, auf ihn gepreßt haben, um so zu einem Erfolg zu gelangen. Sein Gesicht oder die Reste sind also in die Maske integriert, die dann auch verschwand, wie ich aus alten Überlieferungen weiß. Aber sie tauchte immer wieder auf. Wie aus dem Nichts«, flüsterte sie uns zu, »erschien sie plötzlich. Immer dann, wenn jemand aus dem Clan starb, damit meine ich den jeweiligen Anführer. Und wieder raubte sie Gesichter und ließ die Leichen zurück. Nach jeder Aktion verschwand sie, und niemand traute sich, nach ihr zu suchen.« Ich trank einen Schluck Grappa und sagte: »Aber wir haben sie letztendlich gefunden. In einer Säule des Palazzo versteckt.« »Das hatten Sie schon auf der Fahrt hierher gesagt. Wobei ich noch immer nicht weiß, wie es geschehen konnte. Niemand kannte ihr Versteck, sie erschien, sie verschwand wieder. Viele haben nach ihr gesucht, vergeblich. Wie konnten Sie es schaffen?« »Ich habe andere Methoden.« »Aha…« Claudia lächelte kantig vor sich hin. »Aber Sie haben nicht das Feuer gelegt, schätze ich mal.« »Das stimmt.« »War es die Maske?« »Im Prinzip schon. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Resultat gelangt, daß sie zerstören wollte, weil ihr Versteck entdeckt worden war. Der Zauber oder die böse Magie war gebrochen, zudem gibt es ja keinen weiteren Clanführer mehr. Sie sind die letzte der Ferrinis, und Sie sind eine Frau. Wahrscheinlich wäre die Maske für alle Zeiten in ihrem Versteck geblieben, hätte nicht jemand versucht, den Palazzo zu kaufen. Das konnte sie nicht hinnehmen. Das Haus in die Hände einer anderen Familie zu geben? Um Himmels willen, so etwas war einfach unmöglich! Sie mußte also handeln, hat gemordet und ist nun frei. So sehe ich die Dinge, Signora Ferrini.« »Gratuliere.« »Ich komme also der Lösung nahe?« »Ziemlich.« »Sehr schön. Und was geschieht jetzt?« Claudia Ferrini schaute uns wieder einmal aus ihren großen, dunklen Augen an. Es wurde still am Tisch. Wir konnten die anderen Stimmen der Gäste hören und kriegten auch mit, daß man sich über den Brand im Palazzo Ferrini unterhielt. »Eigentlich müßten Sie sich das doch denken können«, sagte sie leise. Suko nickte. »Ich hoffe, daß meine Gedanken nicht den Folgerungen entsprechen.«
»Was weiß man schon«, erwiderte Claudia orakelhaft. »Ich gehe davon aus, daß sie es jetzt, wo sie freie Bahn hat, auch ausnutzen wird. Sie wird unterwegs sein und sich die Gesichter holen. Der Blutspuk von Venedig wird neuen und grauenvollen Auftrieb bekommen. Rechnen Sie damit, daß wir in den nächsten Stunden und Tagen zahlreiche gesichtslose Leichen in den Kanälen finden werden…« *** Ja, ja, ja – wir hatten damit gerechnet. Aber wir hatten es nicht ausgesprochen. Es war zwar eine logische Folge des Erlebten, aber es war auch zu grauenhaft, um darüber nachdenken zu können oder zu wollen. Wir hatten schon des öfteren gegen heimtückische Killer gekämpft, gegen Phantome, gegen dämonische Bestien, aber eine mordende Maske, die menschliche Gesichter sammelte, war uns fremd und auch nicht gerade angenehm. Ich schwieg und beobachtete die schmale Hand der Claudia Ferrini, deren Finger das Grappaglas umschlossen, es anhoben und zum Mund führten. Sie schüttete sich das scharfe Zeug in den Rachen, schüttelte sich und holte durch die Nase Luft. »Ich kann uns auch nicht helfen, aber es wird so laufen. Und wer soll sie stoppen? Sagen Sie nicht, die Polizei. Sie wird umherirren wie in einem Labyrinth, ohne zu wissen, wo vorn und hinten ist.« »Das denke ich auch.« »Und was wollen Sie dagegen unternehmen?« fragte Claudia. »Schließlich sind Sie nicht grundlos hierhergekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie aufgeben möchten.« »Das sicherlich nicht.« »Wir werden die Maske jagen«, sagte Suko. Beinahe mitleidig schaute Claudia ihn an. »Kennen Sie sich in Venedig aus?« fragte sie leise und auch etwas spöttisch. »Wissen Sie eigentlich, wie es hier aussieht? Wie viele Gassen, Plätze, Orte und Verstecke es hier gibt? Kennen Sie die Ecken und Winkel in dieser Stadt, die schon seit Jahrhunderten besteht? Ich will die Antwort nicht vorwegnehmen. Wahrscheinlich kennen Sie die Stadt nicht. Dazu müßten Sie schon hier geboren sein, und auch dann ist es fast unmöglich. Ich will Ihnen damit nur sagen, welch einen Vorsprung die Maske hat. Sie wird den Blutspuk durchziehen, ohne daß Sie ihr dazwischenfunken. Sie werden immer wieder ins Leere stoßen, das kann ich Ihnen versichern, und die Maske wird Sie an der Nase herumführen.« Claudia Ferrini senkte den Blick und schaute auf die Uhr. »Ich könnte mir vorstellen, daß es mittlerweile schon den nächsten Toten gegeben hat.« »Das will ich nicht hoffen«, sagte ich.
»Für sie spielt es keine Rolle. Sie ist stark, unwahrscheinlich stark.« Claudia lächelte. »Aber ich möchte Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten.« Sie faßte nach ihrer Tasche und zog auch die Lederjacke, die auf einer kleinen Bank lag, zu sich heran. »Wir werden Tage und Nächte des Schreckens erleben. Die Stadt wird sich ducken wie unter mächtigen, blutigen Peitschenhieben, und es ist auch möglich, daß die Maske gerade Sie beide nicht vergessen hat und sich auf den Weg macht, um Sie zu holen.« »Das wäre uns sogar recht«, erklärte Suko. In Claudias Augen flimmerte es. »Wie sehr überschätzen Sie sich eigentlich? Habe ich Ihnen nicht deutlich genug erklärt, wie gefährlich die Maske ist?« »Das haben Sie«, erwiderte Suko nickend. »Aber Sie dürfen uns glauben, auch wir sind nicht ohne.« »Stimmt, sonst hätte man Sie nicht geschickt.« Sie wollte den Arm heben, um dem Ober zu winken, aber etwas anderes geschah. Jemand stürmte mit Brachialgewalt durch die Tür, als hätte es ein Regisseur so bestimmt. Es gab keinen der Gäste, der nicht aus seinem Gespräch oder aus seinen Gedanken gerissen worden war. Wie die Marionetten drehten sich die Leute an der Theke und auch an den Tischen um, wobei wir ebenfalls keine Ausnahme machten. Der Mann war klein, trug einen Mantel und einen Schal um den Hals. In seinen Augen lag der Schrecken, den er erlebt hatte. Er holte einige Male Luft, was in der Stille gut zu hören war. Dann brach es aus ihm hervor. »Man hat einen Toten gefunden, einen… einen zweiten. Im Wasser. Auch er war ohne Gesicht…« Claudia Ferrini schaute uns an. Sie nickte und flüsterte: »Sehen Sie, es geht schon los…« *** Dino Zingara hatte den Anblick des Toten nicht vergessen können. Er war verhört worden und hatte den Beamten alles gesagt. Er war dann nach Hause gefahren, hatte mit seiner frommen Gattin darüber gesprochen, die daraufhin ihren kleinen Hausaltar geschmückt hatte, um davor kniend zu beten. Das tat Dino nicht. Er hockte sich vor die Glotze, stellte den Ton ab, holte die Grappa-Flasche hervor und begann sich zu betrinken. Es half ihm sogar, denn irgendwann, als seine Frau aus dem Nebenzimmer zurückkehrte, fand sie ihren Mann auf dem Sofa liegend, die fast leere Flasche neben sich stehend. Sie schüttelte nur den Kopf, schaltete die Glotze aus, löschte das Licht und verließ das Zimmer. Ihr Mann blieb auf der Couch liegen. Am
anderen Morgen würde es ihm wieder schlechtgehen, sie kannte sich da aus. So war es dann auch. Als Dino aus seinem Rausch erwachte, verfluchte er sich, danach die ganze Welt und zuletzt auch den verdammten Alkohol. Er schwor sich, so schnell keinen Grappa mehr anzufassen, aber die schrecklichen Bilder hatte auch der Vollrausch nicht aus seinem Gedächtnis bannen können. Sie waren geblieben, und sie wurden stärker, je mehr Zeit verging. Fahren wollte er an diesem Tag nicht. Er ließ seine Frau anrufen, damit sie es dem Besitzer und Vermieter der Boote mitteilte. Er selbst blieb in der Wohnung hocken. Erst am Nachmittag ging es ihm besser. Da stellte er sich vor das Fenster, schaute nach draußen und beobachtete den schmalen Kanal vor dem Haus und die ihn in der Nähe überspannende Brücke. Seine Frau wollte ihn trösten. Sie wußte Bescheid. Sie hatte auch gebetet und fühlte sich gut. Hinter ihrem Mann blieb sie stehen, den Kopf gegen seine Schulter gelehnt. Was draußen passierte, konnte sie nicht sehen, und mit leiser Stimme sagte sie, während sie dabei seinen Rücken rieb. »Du mußt es vergessen, Dino. Du mußt all die schrecklichen Dinge vergessen.« »Kann ich das?« »Es geht schon!« Sie spürte, wie ihr Mann tief Luft holte. »Nein, Donatella, es geht nicht. Du hast sie nicht gesehen, diese… diese Leiche ohne Gesicht.« Wieder erschienen die Bilder vor seinen Augen. So klar, grausam und scharf, als würde er sie durch eine große Lupe betrachten. »Das Blut, das einmal ein Gesicht gewesen war. Dazwischen die Hautfetzen wie kleine Lappen. All das habe ich zu Gesicht bekommen. Ich habe den Mann doch aus dem Kanal gezogen, und ich hatte zuvor noch mit ihm gesprochen. Es war so schrecklich für mich wie nichts zuvor in meinem Leben. So wahnsinnig schrecklich, Donatella.« »Ich weiß es, Dino, aber versuche mal, es positiv zu sehen.« »Wie sollte ich das können?« »Es hört sich zwar schrecklich an, aber ich sage es dir trotzdem. Daß es den anderen und nicht dich erwischt hat. Es hätte ebensogut sein können, oder?« »Möglich ist es.« »Eben.« »Aber du mußt weiterdenken, Donatella. Daß es mich gestern nicht erwischt hat, besagt nicht, daß es mich nicht noch erwischen könnte. Alles ist möglich.« »Warum?« »Ich kann dir die Gründe nicht nennen. Ich fühle es einfach. Etwas Furchtbares kommt auf uns zu, Donatella. Etwas, das bisher tief im
Schoß der Vergangenheit verborgen lag. Aber jetzt ist es frei, und es schwebt über der Stadt wie ein mörderisches Schwert. Ich weiß und fühle es, aber ich kann nichts dagegen tun.« »Dagegen vielleicht nicht.« Dino kannte seine Frau, er wußte, daß noch etwas nachkam, und er hatte sich nicht getäuscht. »Du kannst etwas für dich tun. Du legst dich ins Bett und schläfst. Nicht nur tagsüber, du wirst auch die ganze Nacht schlafen und am anderen Morgen erwachen, wo die Welt schon wieder ganz anders für dich und mich aussehen wird.« Er lachte seine Frau aus, drehte sich um und faßte nach ihren Händen. Da es im Zimmer dunkel war, sahen beide so aus, als wären zwei Schatten miteinander verschmolzen. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich bei meiner inneren Unruhe auch nur eine Minute schlafen kann.« »Ich werde dafür sorgen.« »Wie denn?« »Durch Schlaftabletten, Dino. Ich werde dir zwei Tabletten oder auch drei geben. Dann vergißt du alles, und der nächste Tag kann zu dir kommen.« Dino Zingara wehrte sich zwar noch, aber seine Frau ließ nicht locker. Zehn Minuten später lag er im Bett und schaute auf das alte Holzkreuz, das dem Bett gegenüber an der Wand hing. Donatella kam zu ihm. Sie hielt das Glas mit Wasser in der rechten Hand. Die Flüssigkeit war etwas trübe, denn die Tabletten hatten sich bereits aufgelöst. »Es sind drei, und sie werden dir nichts tun«, sagte sie, als sie den skeptischen Blick ihres Mannes bemerkte. »Meinst du wirklich?« »Trink.« Dino nahm gehorsam das Glas entgegen und trank es aus. Donatella lächelte, nahm ihm das Gefäß wieder ab und sah sein Kopfschütteln. »Du machst etwas mit mir«, flüsterte er… »Ich will nur dein Bestes.« »Das weiß ich doch.« Er lächelte und faßte nach ihrer Hand. Es dauerte einige Minuten, bis Dino schläfrig wurde und sich auch der Druck um Donatellas Finger lockerte. Dann fielen dem Liegenden die Augen zu. Wenig später schlief er tief und fest. Seine Frau stand auf. Sie löschte das Licht der kleinen Nachttischlampe, verließ das Zimmer, ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Sie konnte aus dem kleinen Fenster schauen, das gekippt stand. Durch den Spalt drang das Klatschen der Wellen, wenn sie gegen das brüchige Mauerwerk geschleudert wurden. Sie hoffte nur, daß alles gutging und faltete wieder die Hände. Es war gut, daß sie ihrem Mann drei Schlaftabletten gegeben hatte, denn er wachte tatsächlich erst am anderen Morgen auf, als die
Dämmerung bereits fahl über die Dächer der Häuser kroch und den Himmel ungewöhnlich blaß anmalte. Donatella merkte, wie ihr Mann aus dem Bett kroch, und sie war ebenfalls hellwach. »Wie geht es dir, Dino?« »Besser.« »Und sonst…?« Er lachte leise. »Ich werde heute wieder fahren. Wahrscheinlich muß ich noch mal kurz zur Polizei, aber das ist kein Problem. Ich komme dann gegen Abend zurück.« »Gut.« Dino Zingara verschwand in der kleinen Dusche. Seine Frau kochte Kaffee, goß auch die Thermoskanne für ihren Mann voll und legte ihm frische Kleidung zurecht. Er aß zum Frühstück Weißbrot mit Konfitüre, trank seinen Kaffee und verabschiedete sich von seiner Frau, die ihn lange und fest an sich drückte, als würde es kein Wiedersehen für sie beide geben. »Was ist denn los mit dir?« »Nichts, Dino, nichts. Ich möchte nur, daß du heute besonders vorsichtig bist.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Er küßte Donatella auf beide Wangen und ging aus dem Haus. Seine Frau hatte recht behalten. Der Schlaf war tatsächlich erquickend gewesen, und die Erinnerung an das Schreckliche war etwas verblaßt. Sie kehrte zurück, als er sich mit seinen Kollegen am Sammelplatz traf. Da prasselten die Fragen auf ihn ein, er mußte berichten, aber er empfand es als nicht mehr so schlimm. Zudem lief der Betrieb allmählich an. Da nicht alle Boote unterwegs waren, die auch im Sommer fuhren, brauchten sie sich um Arbeit keine Sorgen zu machen. Das galt auch für Dino Zingara. Der Morgen ging vorbei, ohne daß er großartig Zeit hatte, über gewisse Dinge nachzudenken. Er war nur froh, daß es nicht regnete. Zudem hatten die Japaner Venedig entdeckt. Sie besetzten sein Boot, ließen sich kreuz und quer durch die Kanäle fahren, und Dino hörte nur immer wieder das Klicken der Auslöser an ihren Fotoapparaten. Sie knipsten wie die Weltmeister. Ihre Sprache klang für einen Europäer einfach sehr fremd, und Dino hatte manchmal den Eindruck, von zwitschernden Vögeln umgeben zu sein. Einer der Gäste sprach ein paar Brocken Italienisch. Gerade soviel, um Dino hin und wieder an einem besonders schönen Punkt zum Anhalten zu bewegen. Gegen vierzehn Uhr endlich hatte die Gruppe alles gesehen. Man verabschiedete sich freundlich voneinander, das Trinkgeld konnte sich auch sehen lassen, und Dino dachte daran, eine Pause einzulegen. Etwas essen und trinken.
Er fuhr dazu in einen kleinen Stichkanal. Man kannte ihn hier. Er begrüßte ein paar Kinder, winkte auch Erwachsenen zu und trank den Kaffee, der tatsächlich seine Wärme noch nicht verloren hatte. Seine Frau hatte ihm noch etwas von dem Kuchen eingepackt, den sie selbst gebacken hatte. Er war mit Rosinen und Pistazienkernen gefüllt, schmeckte hervorragend und brachte ihm Weihnachten so ein paar Bissen näher. Dino stand günstig. Er konnte direkt auf den Canale Grande schauen, ohne selbst groß gesehen zu werden. Aber er sah den Palazzo, zu dem er den Mann aus England gebracht hatte, und plötzlich wollte ihm der Kuchen nicht mehr schmecken. Auch der Kaffee kam ihm bitter vor. Es mußte an der Erinnerung liegen. Erst der Palazzo, dann die Leiche. Ein Toter ohne Gesicht! Für einen Moment hielt Dino den Atem an. Wieder stieg die Erinnerung in ihm hoch, diesmal allerdings drängte er sie zurück. Auch das Schreien der Möwen riß ihn aus seinen Gedanken. Er runzelte die Stirn, denn das Schreien hatte ziemlich aggressiv geklungen. Er sah den Tieren zu, die über dem Wasser schwebten. Dort drehten sie dann ihre Kreise, waren aber standorttreu, als wollten sie einen Beobachter auf etwas Bestimmtes aufmerksam machen. Zingara sah das Licht! Für einen Moment war er irritiert. Vielleicht deshalb, weil es hinter den Fenstern des Palazzo Ferrini aufgeflackert war. Das hatte er noch nie gesehen. Sollte der Palazzo plötzlich bewohnt sein? Nein, kein normales Licht! Unruhig war es. Es flackerte. »Feuer!« Er hatte das Wort ausgestoßen und war zugleich totenblaß geworden. Plötzlich richtete er sich auf, um besser sehen zu können. Seine Augen glichen Kugeln. Er nahm zwar wahr, daß er Zeuge des Brands wurde, aber er richtete sich nicht danach. Er schrie nicht nach der Polizei, er warnte auch keine anderen Menschen, er stand da in starrer Faszination. Plötzlich zerbarst eine Scheibe. Das Glas sah er nicht fliegen, aber wenig später leckten die Flammenzungen durch das Fenster. Ein Boot fuhr auf die Anlegestelle dicht am Palazzo zu. Dann wurde die breite Tür aufgestoßen. Zwei Männer taumelten ins Freie. Sie schauten sich kurz um und wurden von der Person im Boot in Sicherheit geholt. Sie stiegen ein und fuhren weg. Der Palazzo aber brannte. Er loderte in seinem Innern. Die Flammen waren wie böse Tiere, die sich blitzartig vermehrten. Sie erhielten immer wieder neue Nahrung, huschten auch hoch in die erste Etage, wo sehr
bald die Fenster barsten. Dino hörte das Heulen der Sirenen gedämpft wie durch Ohrenschützer. Löschboote waren unterwegs. Andere Boote schufen auf der Wasserfläche einen freien Raum, bildeten einen großen Halbkreis. Ihre Fahrer warteten, sie schauten gebannt zu, was dort vorn ablief, und sie erlebten auch, wie die ersten Wasserfontänen in die Flammen zischten. Dino sagte nichts. Er hätte Hunderte von Worten auf der Zunge gehabt, aber er sprach sie nicht aus. Sie blieben erstickt in seiner Kehle zurück. Er war völlig von der Rolle. Nicht wegen des Feuers, das bald gelöscht werden würde, er dachte an die beiden Männer, die Brandstifter, die er aus dem Haus hatte fliehen sehen. Sie trugen die Verantwortung. Er hatte sie gesehen. In seiner unmittelbaren Umgebung war es leer geworden. Der schmale Stichkanal interessierte niemanden mehr. Die Leute wollten schauen, hatten ihn verlassen oder waren in die oberen Etagen der Häuser gestiegen, weil ihr Blick von dort aus wesentlich besser war. Keiner interessierte sich für Dino Zingara. Tatsächlich keiner? Doch, es gab jemand, der das tat. Ein Etwas, ein Neutrum, ein… Es war die Maske. Urplötzlich hatte sie ihr Ziel gefunden. Sie war gekommen wie ein Schatten, wie ein schnell fliegender Vogel, und sie war ebenfalls in die Schattenwelt des engen Kanals eingetaucht. Ein huschendes Etwas, das plötzlich vor dem Boot und über dem Wasser schwebte. Die Maske glotzte Dino an. Und Dino glotzte die Maske an! Er wußte nicht, was er denken sollte. Alles war plötzlich anders geworden. Er mußte sich mit Dingen abgeben, die er nicht wollte. Er sah das gräßliche Utensil. Die leeren Augen, den leeren Mund und die quer darin steckende Rose. Auch das Blut sah er. Es tropfte aus den Blütenblättern nach unten. Prallte auf die Wellen, verschwand, wurde in die Tiefe gerissen oder schwamm auf dem Wasser, so genau konnte er es nicht erkennen. Grinste die Maske? Zuckte ihr Mund? Wollte sie vielleicht etwas von ihm? Er wußte es nicht. Dino spürte nur, wie sich sein Magen zusammenzog. Das passierte ihm eigentlich nur bei bestimmten Vorgängen, die stark in sein Gefühlsleben hineinstachen, die auch an eine gewisse Gefahr erinnerten. Die Maske brachte Gefahr! Sie glotzte, sie war böse. Sie schimmerte hell und dunkel zugleich. Grünlich und leicht silbrig, dabei von Schatten bedeckt, die sich blitzartig bewegten. Nein, nicht die Schatten, es war die Maske.
Urplötzlich war sie da und drehte sich vor seinem Gesicht. Er spürte den Aufprall und hatte den Eindruck, als hätte ihm jemand weichen Schlamm oder weiches Gummi gegen das Gesicht gepreßt. Es war nur die Maske, die sich festsaugte. Sie holte sich sein Gesicht, sie wollte, sie brauchte es… Dino schrie. Trotz der gekrümmten Mundöffnung drangen die Schreie nicht normal hervor. Es war nicht mehr als ein Gurgeln, das aus seinem Rachen kam. Der Schmerz war unbeschreiblich. Jemand zersägte ihm das Gesicht, schnitt tief in die Haut hinein, um anschließend an diesen Lappen zu zerren, um alles von seinem Gesicht zu reißen, was einmal den Menschen ausgemacht hatte. Er keuchte noch, er bewegte sich heftig, das Boot schaukelte deshalb ebenfalls stärker, und noch immer drückte die Maske weich, aber dennoch unnachgiebig gegen sein Gesicht. Sie saugte es auf. Sie holte sich alles. Er konnte nicht mehr atmen. Der Schmerz war schrecklich. Seine Gedanken irrten weg. Er sah plötzlich Bilder vor seinen Augen tanzen. Szenen aus irgendwelchen Filmen, bunt und… Dann klatschte er ins Wasser. Kalt war es. Kalt wie der Tod, kalt wie das Jenseits, in das ihn die Maske hineinzog. Die letzten Gedanken galten Donatella, seiner Frau. Dann starb Dino Zingara und wurde zu einem Toten ohne Gesicht… *** Sie hatten den Toten über eine Treppe an Land gezogen und dort auf eine Plane gelegt. Über seinem Kopf lag ein dunkles Tuch. Die Umgebung war nicht abgesperrt worden, aber die Carabinieri hielten die Neugierigen doch zurück. Trotzdem hatten sie nicht verhindern können, daß zahlreiche Gerüchte aufgekommen waren, aber etwas Konkretes wußte niemand. Man hatte die Leiche aus dem Wasser gefischt, und es war der Kommissar alarmiert worden, der auch den ersten Fall der gesichtslosen Leiche bearbeitete. Er hieß Dario Fungi, wie die Pizza, nur ohne H. Fungi war im mittleren Alter. Sein Haar wuchs schwarz, blond und grau auf seinem Kopf, und keiner seiner Mitarbeiter wußte, welche der Farben nun echt oder welche gefärbt waren. Er war sehr dünn, wurde hin und wieder Hering genannt, aber nur, wenn er es nicht hörte. In seinem Gesicht fiel die spitze Nase auf und die meist traurig blickenden Augen, wobei das rechte Lid etwas nach unten hing. Insgesamt machte er nicht eben den Eindruck eines properen TV-Kommissars, aber Fungi mußte Qualitäten haben, sonst wäre er nicht Chef der Mordkommission
geworden. Sein Vorgänger war verschwunden. Er hatte den Job ein Jahr lang innegehabt und sich zu sehr in die Politik und das Geld verstrickt. Jetzt arbeitete er für die größte Partei in der Region. Und wir standen neben diesem engagierten Dario Fungi. Endlich, wie er uns gesagt hatte. Er hatte uns schon vermißt, doch wir hatten ihn davon überzeugen können, daß uns die Stadt total in ihren Bann geschlagen hatte. Das konnte er als Venezianer natürlich verstehen. Es wurde uns verziehen. Fungi hätte uns allerdings nicht verziehen, wenn wir ihm von unseren Erlebnissen berichtet hätten, und auch eine gewisse Claudia Ferrini ließ sich bei ihm nicht blicken. Sie hatte es vorgezogen, uns an einer bestimmten Stelle abzusetzen und dann zu verschwinden. Im Hotel würde sie uns anrufen. Der Tote war identifiziert worden. Er hieß Dino Zingara, war einer der Bootsfahrer und hatte den ersten gesichtslosen Toten aus dem Kanal gezogen. Aus diesem Grunde war er für Fungi kein Unbekannter mehr, der sich jetzt den Kopf zerbrach, weshalb Zingara ermordet worden war. »Zufall?« fragte er uns. Ich hob die Schultern. »Sie wissen auch nichts.« »Im Moment leider nicht.« »Das ist schlecht.« »Ich weiß.« »Waren Sie schon im Hotel?« »Nein.« »Wo wohnen Sie?« »Danieli.« »Aha. Und Ihre Koffer?« »Haben wir hinschaffen lassen.« »Sehr gut.« Ob es ein Verhör sein sollte, wußte ich nicht. Ich hatte den Eindruck, als wollte der Kollege einfach nur etwas sagen. Deshalb möglicherweise schaute er uns auch fragend an. »Können Sie das Tuch vielleicht abheben?« bat Suko. Fungi nickte. »Si, natürlich.« Fungi tat es nicht selbst. Er nickte einem seiner Männer zu, der das Tuch hochlupfte. Suko und ich beugten uns vor, und wir sahen das Gesicht, das keines mehr war. Eine blutige Fläche lag vor uns. In ihr wirkten die Augen wie Fremdkörper, als hätte man vergessen, sie aus den Höhlen zu zerren. »Er muß schrecklich gelitten haben«, sagte der Kommissar. Wir nickten. »Und Sie haben keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?« »Nein, Signor Sinclair.« »Gibt es Gerüchte?«
»Wie meinen Sie?« »Ist so etwas schon einmal vorgekommen?« »Nur bei diesem Engländer. Seinetwegen sind Sie ja gekommen.« »Stimmt. Und auch wegen des Palazzo Ferrini, den der Chef des Toten gekauft hat. Niemand wollte ihn haben, kein Venezianer zumindest. Auch das muß einen Grund gehabt haben.« »Sicher.« Fungi nickte. »Lag es am Geld?« »Nein, bestimmt nicht. Es gibt genügend reiche Menschen in dieser Stadt. Außerdem ist man nicht eben erfreut, wenn sich Ausländer bei uns einkaufen. Das hat wohl keine Rolle gespielt.« »Und jetzt ist er abgebrannt.« »Sie sagen es, Signore. Man hat ihn abgefackelt. Es hat zwei Tote gegeben, und ich frage mich, wo da der Zusammenhang besteht. Es gibt einen, davon bin ich überzeugt. Kennen Sie ihn?« »Leider nein.« »Sie?« Er wandte sich an Suko. »Auch ich muß passen.« »Dann stehen wir wieder am Beginn.« Ich drehte mein Gesicht dem Wind zu, der kalt in die Lagunenstadt hineinwehte. Kalt wie ein Totenwind. Mich fröstelte, wenn ich daran dachte, daß die Maske jetzt freigekommen war und so viele Gesichter sammeln konnte, wie sie wollte. Wir mußten uns darauf gefaßt machen, weitere Morde zu erleben. Aber konnte ich das dem Kommissar sagen? Wahrscheinlich nicht. Er würde mich auslachen, denn wer glaubte schon an einen alten Fluch? Er war nicht unser Helfer. Wenn wir weiterkommen wollten, mußten wir uns an Claudia Ferrini halten, denn ihrer Familie hatte der Palazzo einmal gehört. »Sie sehen aus, als wüßten Sie nicht weiter, Kollege.« »Da haben Sie recht.« »Bene. Meinen Sie denn, daß es eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Toten gibt?« »Zumindest war es ein Mörder.« »Si, einer, der Gesichter stiehlt, sie abreißt, wie auch immer. Die Kollegen haben den ersten Toten untersucht. Sie hatten geglaubt, Spuren einer Säure zu finden, aber auch das ist nicht der Fall gewesen. Hier muß etwas völlig anderes passiert sein, das uns vor ein Rätsel stellt. Wir haben den ersten Toten zur Untersuchung in ein Fachinstitut gegeben. Es wird allerdings noch dauern, bis das Ergebnis feststeht. Und auch den zweiten werden wir abgeben.« »Das war eine gute Idee.« Fungi fühlte sich geschmeichelt und hob die Schultern. »Was hätte ich anderes machen sollen.« Dann fing er an zu schimpfen. Er hatte sich auf
einen ruhigen Winter eingerichtet, weil der Sommer schon schlimm genug gewesen war. Und nun mußte er dieses Rätsel erleben, das wollte ihm nicht in den Kopf. »Ich werde wohl als nächstes mit der Frau des Toten sprechen müssen. Kann sein, daß sie mehr weiß.« »Weiß sie schon Bescheid?« »Ja. Sie ist zusammengebrochen. Ein Arzt hat sie in ein Hospital eingewiesen.« »Und erlebt haben Sie so etwas noch nicht?« »Nein.« »Gibt es Fälle in der Vergangenheit, die Parallelen aufweisen?« »Nicht, daß ich wüßte. Warum fragen Sie, Signor Sinclair? Haben Sie einen bestimmten Verdacht?« »Nicht einmal eine Vermutung.« Er schaute mich scharf an. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das glauben soll, Signor Sinclair.« »Warum nicht?« Fungi schloß in seine Antwort auch Suko mit ein. »Sie und Ihr Partner sind etwas Besonderes. Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie sind zwar Polizisten, aber Sie kümmern sich zumeist um Fälle, die etwas außerhalb gewisser Grenzen liegen. Man kannte Sie hier in Venedig. Sagt man zu Ihnen nicht Geisterjäger?« »Hin und wieder«, gab ich zu. »Eben, und das macht mich mißtrauisch. Ich könnte mir auch vorstellen, daß Sie hinter diesen beiden Taten auch etwas Okkultes oder Geisterhaftes vermuten.« »Normal ist es nicht.« »Richtig.« »Und normal ist auch nicht, daß sich kein Käufer für den Palazzo Ferrini fand.« »Aha«, sagte er und nickte. »Da sind wir ja schon einem gewissen Punkt näher gekommen.« »Welchem?« »Sie sagten es doch. Dem Palazzo Ferrini. Ich kann ihn nicht mehr untersuchen, ein Feuer hat ihn zerstört. Ein normales Feuer. Gelegt von Brandstiftern oder…« »Oder wem?« Fungi wußte nicht, ob er die Schultern heben oder ob er nicken sollte. »Tja, das ist ein Problem. Es wird auch Ihr Problem bleiben, denke ich, vorausgesetzt, Sie fliegen nicht zurück nach London.« »Nicht heute.« Fungi schaute mich lauernd an. Auch Suko wurde von seinem Blick gestreift. Dessen Gesicht blieb allerdings ausdruckslos. Er ließ sich nicht
hinter die Fassade schauen. »Ich habe das Gefühl, Signor Sinclair, daß Sie mehr wissen, als Sie zugeben wollen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Nur so.« »Haben wir uns nicht korrekt verhalten, indem wir uns bei Ihnen meldeten?« »Das ist richtig.« »Weshalb Ihr Mißtrauen?« »Sie waren schon länger hier in der Stadt. Ich glaube, nein, ich weiß, daß Sie sich schon umgeschaut haben. Sie kennen das Terrain bereits. Ich weiß auch nicht, mit welchen Informationen man Sie beide gefüttert hat, aber es wäre nicht gut, wenn Sie diese vor mir verheimlichen würden. Das sage ich Ihnen ehrlich.« »Wir wissen so viel wie Sie.« »Dann ist es gut.« Ich warf noch einen letzten Blick auf den gesichtslosen Toten. Er sah wirklich schaurig aus. Das Blut war gestockt. An manchen Stellen hatte es Klumpen gebildet und sah aus wie roter Pudding. Ein Opfer der Maske, die jetzt frei war. Die wir im Prinzip befreit hatten. Also mußten wir alles tun, um sie zu stellen. Und der einzige Trumpf, den wir in den Händen hielten, war eine Frau namens Claudia Ferrini. Suko und ich gingen davon aus, daß sie mehr wußte, als sie uns gegenüber zugegeben hatte. Als ich auf die Uhr schaute, verstand Fungi das Zeichen. »Sie wollen gehen?« »So ist es.« »Darf ich Ihr Ziel erfahren?« »Unser Hotel.« »Ah ja, stimmt. Das Danieli. Gate Absteige, muß ich schon sagen. Nicht billig.« »Die Kosten übernimmt der Staat. Zu lange werden wir wohl nicht in Ihrer Stadt bleiben.« »Das hört sich an, als hätten Sie eine Spur…« »Wir suchen danach.« Er lächelte breit. »Und werden uns selbstverständlich, wenn Sie eine gefunden haben, Bescheid geben.« »Das versteht sich.« Er wedelte mit einer Visitenkarte vor meiner Nase herum. »Hier steht alles, was Sie an Telefonnummern wissen müssen.« Auch Suko erhielt eine. »Ich nehme an, daß wir uns bald sehen.« »Aber nur, um den Killer zu stellen, wer immer es auch ist. Nicht bei einem neuen Mord.« »Das hoffe ich ebenfalls…«
*** Die Maske war unterwegs! Sie war gut, sie war kraftvoll, sie war mächtiger geworden, denn sie spürte Leben in sich. Neues Leben, das sie sich geholt hatte. Sie würde noch stärker werden, sie würde ihre alte Kraft und Magie zurückerhalten, nur das allein zählte. Venedig gehörte ihr… Wie schon einmal, wie damals, vor langer, sehr langer Zeit, an die sich die Maske nicht mehr erinnerte. Aber sie war endlich frei, und sie konnte die Gassen durchstreifen, über den Kanälen schweben, und sie würde in die Häuser hineinschauen, wo noch immer Menschen lebten. Vieles kam ihr bekannt vor. Nein, sie war keine Fremde. In dieser Stadt hatte sich das Alte gehalten. Aber es gab auch Feinde! Sie hatte sie zuerst nur gespürt, dann gesehen, als sie in den Palazzo eindrangen. Sie waren anders als die normalen Feinde, sie waren stärker, sie würden ihr Schwierigkeiten bereiten, sie waren nicht so einfach zu überlisten, und sie wußten Bescheid. Sie waren wahrscheinlich ihretwegen gekommen. Die Maske beschloß, vorsichtig zu sein. Trotz der neuen Verhältnisse wollte sie den Blutspuk nicht beenden. Sie mußte ihn weiterführen, das war einzig und allein ihre Aufgabe. Dafür existierte sie. Dieser Keim war in der Vergangenheit gelegt worden. Sie irrte durch die Stadt. Es gab genügend Deckung für sie, selbst auf dem stets belebten Marcus-Platz, wo zwar niemand mehr im Freien saß, aber noch genügend Touristen alles fotografierten, was sie vor die Objektive bekamen. Die Maske schwebte weiter. Sie hielt sich eng im Schatten der Häuser, sie fand ihren Weg bis hin zur Rialto-Brücke, und sie spürte die innere Unruhe. Sie brauchte Menschen, aber sie wußte auch, daß sie gejagt wurde. Deshalb wollte sie ihre Feinde finden, bevor man sie fand. Und die Maske suchte. Sie war sicher, daß es ihr gelingen würde. Und ihre Chancen würden steigen, wenn sich die Dämmerung über Venedig legte und der Himmel noch trostloser wurde. Das war ihre Zeit… *** Wir hatten uns von einem Wassertaxi zum Hotel bringen lassen, dessen mächtiger verzierter Bau uns an eine Kirche erinnerte. Wir legten an der großzügigen Anlegestelle des Hotels an. Als ich zahlte, standen bereits die Pagen bereit, die uns die Türen öffneten. Der
Eingangsbereich erstrahlte in einem warmen Licht, durch den wir in eine prächtige Lobby gerieten, die mich an die Barockzeiten erinnerte. Marmor, Teppiche, Lampen und Lüster, deren Lichter ihren Schein in der Halle verteilten und oft wie Spiegel wirkten. Wir wurden freundlich begrüßt, die Zimmer waren bereits gerichtet, unsere Koffer bereits oben, und über eine prächtige Treppe erreichten wir die erste Etage. Wir verzichteten gern auf den Lift. Die Pracht in der Halle setzte sich auch in den anderen Etagen fort. Die Zimmer glichen Ausschnitten aus einem Museum. Ich schaute aus dem Fenster, sah unter mir das Wasser eines Kanals, über das geisterhaft anmutende Boote glitten. Dieses Zimmer war eine andere Welt, an die ich mich gewöhnen mußte. Ebenso wie an das mit Marmor ausgekleidete Bad, und es fiel mir schwer zu glauben, daß wir außerhalb des Hotels eine ganz andere Welt, die Wirklichkeit, finden würden. Die war brutal genug. Zwei Morde, zwei Leichen ohne Gesicht. Eine killende Maske und ein Palazzo, der bis auf seine Grundmauern abgebrannt sein mußte. So und nicht anders sah es aus. Ich blies die Luft aus, verließ das Zimmer und ging zu Suko, der schräg gegenüber wohnte. Auch er war von seiner Bleibe beeindruckt. »Da traut man sich kaum, etwas anzufassen, geschweige denn, sich in das Bett zu legen.« »Wir können ja draußen übernachten.« Er grinste mich an. »Vielleicht wird es sogar dazu kommen. Die Maske wird kaum Rücksicht auf Zeiten nehmen.« Ich blickte nachdenklich auf meine Schuhspitzen. »Falls wir sie überhaupt finden.« »Das immer vorausgesetzt.« »Wohin?« »In die Bar.« Ich stimmte Suko zu. Wenn Claudia Ferrini eintraf, würde sie uns dort zuerst suchen, und ein Anruf würde uns da auch erreichen. Wir schlossen ab und schritten die imposante Treppe hinab, ebenfalls ein Museumsstück aus vergangener Zeit. Die Bar empfing uns mit gedämpfter Musik. Sie war moderner eingerichtet, doch es gab keinen Stilbruch, denn auch hier umgab uns eine sehr warme Atmosphäre. An der Theke fanden wir genügend freie Plätze. Unsere Blicke fielen auf das Regal mit den zahlreichen Flaschen, die dicht an dicht standen, aber ihren Inhalt durchzuprobieren, wäre fatal gewesen, so entschieden wir uns beide für ein Wasser. Wir bekamen es serviert, der Keeper stellte frisch geröstete Mandeln in unsere Nähe, und wir lauschten den Klängen des Pianospielers, einem
älteren Mann, der so selbstvergessen spielte, als wäre er ein großer Virtuose, der den Kompositionen eines Frederic Chopin neuen Drive verleihen wollte. Suko schlug leicht mit der Handfläche auf das Holz. »Was wird die Maske tun?« »Versuchen an neue Opfer heranzukommen.« »Ist das alles?« »Worauf willst du hinaus?« Suko runzelte die Stirn. »Auch wenn du es nicht glaubst, aber ich habe nachgedacht.« »Ist etwas dabei herausgekommen?« »Mehr als uns lieb sein könnte. Die Maske scheint mir nicht dumm zu sein, sage ich mal. Sie wird etwas unternehmen müssen, sich zwar auf die Suche nach neuen Opfern begeben, was möglicherweise ihrer eigenen Stärke zugute kommt, aber sie wird wissen, wer sie befreit hat und wie dies alles geschah.« »Du denkst an uns?« »So ist es.« »Negativ, nehme ich an.« »Wie man’s sieht. Es könnte doch sein, daß sie versuchen wird, uns zu finden. Sie wird in uns nicht eben ihre besten Freunde sehen, kann ich mir denken.« Ich nippte an meinem Wasser. »Das ist möglich«, gab ich zu. »Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Und es wäre nicht das Schlechteste, wenn sie es auf diesem Weg versuchte. Wir wissen zumindest, wie wir uns wehren können. Menschen wie Sid Arnos und dieser Wassertaxifahrer wußten es leider nicht. Es besteht natürlich nach wie vor die Gefahr für andere, denn ich glaube auch daran, daß sich die Maske nicht stark genug fühlt. Sie wird Kräfte sammeln wollen, sie wird, sagen wir mal, sich so stärken, damit sie gegen uns eine Chance hat. Und du darfst nicht vergessen, daß sie heimtückisch ist.« »Ja, der Angriff aus dem Hinterhalt.« »Damit müssen wir rechnen.« Suko trank einen Schluck. »Das war Theorie. In der Praxis sieht es anders aus, und ich frage mich, welchen Anhaltspunkt wir haben. Eigentlich nur Claudia Ferrini.« »Die noch nicht hier ist.« Suko lächelte. »Ich frage dich noch einmal. Traust du ihr?« Ich wiegte den Kopf zuerst zur rechten, dann zur linken Seite. »Ja und nein. Auf der einen Seite hat sie sich uns offenbart, auf der anderen kann ich mir auch vorstellen, daß sie sich mit ihrem Wissen zurückhält. Ich gehe davon aus, daß sie mehr weiß, als sie uns gegenüber zugegeben hat. Oder denkst du anders darüber?« »Nein.«
»Eben.« »Mal eine pragmatische Frage, John. Wie lange sollen wir hier sitzen und auf sie warten? Es war keine Zeit ausgemacht, aber den ganzen Abend will ich hier auch nicht verbringen, so nett es auch sein mag.« »Wir schauen uns um.« »Draußen?« »Genau.« »Willst du für die Maske so etwas wie einen Lockvogel spielen?« »Nicht nur ich, auch du wirst dabeisein. Wenn es stimmt, daß wir für die Maske eine Gefahr darstellen, dann muß sie versuchen, diese Gefahr aus dem Weg zu räumen. Sie wird kommen, sie muß kommen, und so lange werden wir auf Claudia nicht warten.« Ich winkte dem Keeper, der eine blütenweiße Jacke trug, und bat um die Rechnung, die ich bekam und unterschrieb. Ein Trinkgeld legte ich auf das kleine Tablett, dann rutschten wir von den weichen Hockern und verließen die Bar. Auch in der Halle war für uns keine Nachricht hinterlassen worden, wie mir ein freundlicher Herr an der Rezeption bedauernd erklärte. Suko war bereits nach draußen gegangen. Er stand im weichen Licht des Eingangs. Durch die Helligkeit schwirrten Falter, deren Körper große Schatten warfen. Die Dämmerung war bereits dabei, sich über Venedig zu senken. Ich schaute zum Himmel, der wie ein grauer Vorhang wirkte, und tippte Suko auf die Schulter. Er drehte den Kopf und lächelte. »Es ist schön hier«, sagte er. »Und die Maske?« »Möchte ich am liebsten vergessen.« Das konnte ich ihm nachfühlen, denn die Umgebung entbehrte tatsächlich nicht eines gewissen Zaubers. Wir hatten das Wasser der Kanäle dunkel erlebt, es war auch noch dunkel, aber die Reflexe der zahlreichen Lichter wanderten wie helle Perlen auf den Wellenkämmen entlang. Der Wind hatte sich etwas gelegt. Vielleicht war er auch nur von den alten Häusern zurückgehalten worden. Ich wollte Suko zu einem kleinen Rundgang überreden, als ich plötzlich zusammenzuckte. Ich hatte etwas gespürt! Suko war meine Bewegung aufgefallen. Er wollte wissen, was der Grund dafür war. »Die Maske ist in der Nähe!« »Bitte?« »Ich spüre es!« »Wo?« Ich deutete auf meine Brust. »Das Kreuz, Suko, es hat sich ein wenig erwärmt.« Mein Freund blieb ruhig, was auch nicht anders von ihm zu erwarten war. Er drehte sich auch nicht voller Hektik um, schaute nicht nach links und rechts, sondern schlug vor, den Bereich des Hoteleingangs
umgehend zu verlassen, damit keine Unschuldigen in Gefahr gerieten, falls die Maske noch einmal erschien. »Okay, gehen wir…« Diesmal würden wir kein Wassertaxi nehmen. Man konnte sich in Venedig auch trockenen Fußes bewegen, und so tauchten wir ein in das Labyrinth der Gassen, Brücken und Kanäle… *** Die Maske war glücklich! Sie hatte ihre Feinde gefunden, und ihre Feinde hatten sie nicht bemerkt. Dabei wäre es so leicht für sie gewesen. Sie hätten nur die Köpfe heben und in die Höhe schauen müssen, dann hätten sie ihren Feind entdeckt, der über ihnen schwebte und mit dem Schatten der Hotelfassade verschmolz. Sie taten es nicht. Sie gingen auch nicht wieder zurück und bewegten sich so, wie sie es sich besser nicht hätte vorstellen können. Beide Männer verließen den Bereich des Hotels. Venedig war dunkel, es würde immer dunkler werden, je mehr Zeit verstrich, und das genau war ihre Chance. Sie nahm die Verfolgung auf… *** Der Mann an der Rezeption hob ab, als er das Summen des Telefons vernahm. Er meldete sich, lauschte der weiblichen Stimme, die nach zwei bestimmten Gästen fragte, und hatte kaum die Namen der Männer gehört, als er auch schon bedauern mußte. »Es tut mir leid, Signora Ferrini, aber die beiden Herren haben das Hotel verlassen.« »Wann?« »Es ist noch nicht lange her, ein paar Minuten vielleicht.« »Sind sie noch zu erreichen?« »Ich werde nachsehen lassen.« »Danke.« Der Mensch winkte einen Pagen herbei, erklärte ihm in einem Satz das Problem, und der junge Mann wischte davon. Er kehrte wenig später etwas atemlos allein zurück. »Nicht gefunden.« »Gut.« Der Mann drückte den Hörer an sein anderes Ohr und teilte der Anruferin die negative Nachricht mit. »Das ist schade.« »Soll ich eine Nachricht hinterlassen, daß Sie angerufen haben, Signora?«
»Nein, nicht nötig. Wahrscheinlich werde ich selbst kommen. Aber sagen können Sie es ihnen, wenn Sie die beiden zufällig bei ihrer Rückkehr sehen sollten.« »Selbstverständlich, Signora.« Der Mann kritzelte eine Notiz auf den Block und wollte sich verabschieden, doch Claudia Ferrini hatte bereits aufgelegt. Das tat er dann auch. *** Ein Abend in Venedig! Schattig, grau, leicht unheimlich. Eine kühle Luft, die mit Gefühlen angereichert war, wie ich zumindest meinte. Aber Gefühle rochen nicht, und es schwebte ein seltsamer Geruch über dem Wasser und zwischen den Häusern. Ich hatte mal gelesen, daß Venedig rund hundertsechzig Kanäle besitzt. Seit Jahrhunderten dienten sie als Kanalisation, und das hatte sich auch bis heute nicht geändert. Die Kanäle müssen all das aufnehmen, was durch die Abflüsse hineingeleitet wird. Mangels regelmäßiger Ausbaggerungen drohen die Kanäle zu verstopfen, und das im Rhythmus der Gezeiten auf- und ablaufende Wasser schaffte es nicht mehr, all den Abfall zurück in die Adria hinauszuspülen. Folge davon: der Gestank. Das aber schien hier niemanden zu stören. Deshalb zog kein Einheimischer weg, deshalb kam kein Tourist weniger. Es gab wohl keine Stadt der Welt, die über Jahrhunderte hinweg ihren Charme und ihr Flair so hatte festigen können. Und Venedig im Sommer war natürlich ein Traum, den sich noch immer Hunderttausende erfüllten, auch wenn die Goldene Zeit der Stadt längst vorbei war und nur mehr aus Geschichte bestand. Das 14. Jahrhundert war für Venedig die Zeit der Hochblüte gewesen. Da hatte es sich gegen Genua durchgesetzt und war zur führenden Macht des Mittelmeers geworden. Eine Metropole der Weltwirtschaft. Umschlagplatz für Gewürze, Seide, Drogen, Wein und Öle. Wir hatten uns vom Hotel entfernt und auch von den großen Palazzi, die die Ufer des Canale Grande säumten. Wir tauchten ein in das Venedig seiner Bewohner, in die stille Stadt, die zu dieser Jahreszeit den Namen tatsächlich verdiente. Dafür bekamen wir etwas von dem modernen Venedig mit, denn hinter den zahlreichen erleuchteten Fenstern schimmerten oft die wechselnden Bilder der Mattscheiben. Hin und wieder wehten uns die Stimmen oder Musikfetzen aus offenstehenden Fenstern entgegen. Auf den zahlreichen schmalen Baikonen hielten sich dagegen nur wenige
Menschen auf. Selbst die Wäscheleinen waren leer, denn bei dieser feuchten Witterung trocknete die Wäsche nicht. Brücken und Stege führten tiefer in diese Welt hinein. Hin und wieder sahen wir größere Lichtfelder, die gegen die tiefen Schatten ankämpften. Ihr Schein drang zumeist aus den kleinen Kneipen und Restaurantfenstern nach draußen, als wollte er sagen: Kommt, hier ist es warm und gemütlich. Hier gibt es zu essen und zu trinken. Das alles kriegte ich nur am Rande mit. Suko erging es wohl ebenso. Wir waren einfach zu gespannt, schauten uns immer wieder um, denn wir waren auf der Suche nach der Maske. Wir hatten sie nicht gesehen, doch wir gingen einfach davon aus, daß sie uns verfolgte. Unsichtbar blieb sie uns auf den Fersen. Sie nutzte den Schutz der Dunkelheit aus. Sie brauchte sich nicht auf zwei Beinen über die schmalen Gehwege oder die Brücken zu bewegen, sie konnte schweben, und es spielte für sie keine Rolle, wie hoch oder tief sie über den Boden hinwegglitt. Wir hatten festgestellt, daß wir in einer Sackgasse gelandet waren. Eine Hausfront – die Rückseite – beendete unseren Weg. Die Fenster sahen aus wie hineingestanzte Löcher. Auf dem Wasser dicht unterhalb der ersten Fensterreihe dümpelten Boote wie träge, übergroße Nußschalen und ließen sich von den Wellen schaukeln. Dennoch gab es für uns eine Chance. Wir brauchten den Weg nicht zurück, weil eine schmale Brücke über den Kanal führte. Und auch dort ging es weiter. »Da können wir durch«, sagte Suko, als er vor mir die Brücke betrat. Wenig später spürte auch ich die feuchten Steine unter meinen Sohlen, sah vor mir das Steingeländer, ging einige Schritte und blieb ungefähr auf der Mitte der Brücke stehen, weil auch Suko dort angehalten hatte. Er blickte sich interessiert um. Mal schaute er auf das dunkle Wasser, dann auf die Häuser. Er war es, der die Maske ebenfalls suchte. »Ich sehe sie nicht.« »Aber sie ist da.« »Du spürst sie?« »Ja und nein.« Ich zog meine rechte Hand aus der Tasche. Dort hatte ich sie zur Faust geballt gehabt, weil sie mein Kreuz umschloß. Suko schaute zu, wie ich die Finger streckte. Er sah das schimmernde Kreuz, aber keine Reflexe, die darüber hinwegglitten. »Nur Wärme?« Ich nickte bedächtig. Das überzeugte ihn nicht. »Kannst du dich nicht geirrt haben? Die Wärme muß nicht unbedingt durch das Metall abgegeben worden sein, sie kann auch von deiner Haut stammen.«
»Dann wäre sie anders. Das Kreuz hat sich erwärmt, und ich spüre ja, wie es sich auf einen bestimmten Punkt konzentriert. Sie ist in der Nähe, das weiß ich. Nur traut sie sich nicht, uns direkt anzugreifen. Nach dem Grund frag mich bitte nicht.« »Angst…?« »Eher Vorsicht.« Ich schaute über das Geländer hinweg. Unter uns >lebte< der Kanal. Das Wasser war nicht ruhig. Es schmatzte und gurgelte. Nur wenige Lichtreflexe verirrten sich auf seine Oberfläche. Wir hörten Tritte und schauten nach rechts. Zwei dunkel gekleidete Frauen hatten die Brücke betreten. Aus dieser Entfernung sahen sie aus wie Nonnen. Später sahen wir, daß es schon sehr alte Frauen waren, die sich in ihre dunkle Winterkleidung gehüllt hatten. Wir nickten ihnen zu, als sie uns passierten, und hörten ihre leisen Stimmen. Danach waren wir wieder allein, und es paßte uns beiden nicht, daß einfach nichts passiert war. Das wollten wir nicht hinnehmen, aber wir waren auch realistisch genug, um einzusehen, daß es nicht viel brachte, wenn wir durch die Stadt stromerten und darauf lauerten, daß sich die Maske endlich zeigte. Suko sprach seine Gedanken aus. »Dann können wir auch im Hotel warten und hoffen, daß uns Claudia Ferrini etwas erzählt.« »Ist eine Möglichkeit«, gab ich zu. »Auch akzeptabel?« »Ja.« Ich wies auf das andere Ende der Brücke. »Laß uns dort durch die kleine Gasse gehen und dann irgendwann nach rechts. So müßten wir das Hotel wieder erreichen.« »Versuchen wir es.« Suko ging wieder vor. Ich blieb dicht hinter ihm. Natürlich drehte ich mich des öfteren um, aber zu sehen bekam ich nichts. Zumindest keine Maske. Zudem hatte ich den Eindruck, daß der Kontakt schwächer geworden war. Das Kreuz kühlte sich wieder etwas ab. Wir liefen auf die schmale Gasse zu, an deren Ecke noch ein einsames Moped parkte. Es war durch eine Kette mit einem Metallhaken in der Wand verbunden. Wir betraten die Gasse. Schon zuvor war uns der schwache Lichtschein aufgefallen. Er konzentrierte sich ungefähr in der Mitte dieses schmalen Durchgangs. Aber es war kein helles Licht, mehr eines, das Schatten produzierte. Von der rechten Seite her fiel es durch ein Fenster oder Schaufenster. Es war ein Schaufenster. Wir sahen es, als wir davor stehenblieben und zunächst zurückzuckten, denn was hinter der Scheibe ausgestellt war, glotzte uns aus verschieden großen Augen und auch Mäulern an. Hier wurden Masken verkauft!
Masken und Kostüme. Manche schillernd, andere düster, viele farbig, auch gefleckt, hängend, liegend oder einfach nur so wirkend, als wären sie dahingeworfen. Dicht hinter der Scheibe sahen wir die grellgeschminkte Maske eines Clowns, von dessen Augenrändern sich dunkle Tränen lösten und an den Wangen entlangrannen. »Masken«, murmelte Suko, »wie sinnig.« Dann fiel ihm auf, daß ich nichts sagte, und er wollte den Grund wissen. »Den kann ich dir sagen. Es liegt an meinem Kreuz.« »Hat es sich erwärmt?« »Stärker als zuvor.« In Sukos Augen blitzte es. »Das bedeutet, daß wir die Maske hier irgendwo finden können.« »Möglich.« »Im Laden?« Ich verzog den Mund. Es wäre wirklich sehr überzeugend und auch seltsam sowie motivierend gewesen, wenn es tatsächlich zuträfe. Jedenfalls war ich bereit, das Geschäft zu betreten, auch wenn ich von draußen keinen Kunden oder Verkäufer sah, der sich dort bewegte. Es war zudem ziemlich schwer, durch die Lücken und an den ausgestellten Gegenständen vorbei in das Innere zu schauen. »Laß uns hineingehen«, schlug Suko vor. Er hatte die Überlegung wohl an meinem Gesicht abgelesen. »Falls es geöffnet ist.« »Werden wir gleich haben«, sagte er, war mit drei Schritten an der Tür und drückte die Klinke nach unten. Er hatte den Kopf nach rechts gedreht. Ich sah das Lächeln auf seinem Gesicht, dann stieß er die Tür nach innen, wobei für einen Moment ein helles Glockenspiel erklang und ein Lied aus der Operette >Eine Nacht in Venedig< intonierte. Ich betrat hinter Suko den Laden, und wir beide gerieten hinein in die Welt der Kostüme und Masken. Hier war der Karneval von Venedig irgendwo lebendig, auch wenn sich keine Maske und kein Kostüm bewegte und alles in einer schon tragischen Ruhe dalag. Der Besitzer konnte die Kunden höchstens paarweise oder zu viert hereinlassen, mehr Platz war nicht vorhanden. Die besonderen Kostüme hatten auch besondere Plätze bekommen. Sie waren den Schaufensterpuppen übergestreift worden, wobei diese noch ihre Gesichter geschminkt hatten oder sie durch die unterschiedlichsten Masken verdeckten. Die Damen durch kleine, leichte und elegant wirkende. Die Herren waren zumeist mit kämpferisch anmutenden versehen oder mit Masken bestückt, die ein abstoßendes, dämonisches Flair verbreiteten. Wir entdeckten einen Verkaufstresen, wo noch eine altmodische Klingelkasse aus Metall stand.
Nur den Besitzer oder einen Verkäufer sahen wir nicht. Nicht alle Lampen brannten. Viel Schatten verteilte sich in diesem Geschäft, und wenn Licht abstrahlte, dann gezielt auf verschiedene und auch besondere Kostüme. Neben einem prächtigen Dogengewand blieb ich stehen und holte das Kreuz aus der Tasche. Als Suko es auf meiner offenen Handfläche liegen sah, kam er näher und tippte es in der Mitte mit dem Finger an. »Und?« fragte ich. Er nickte mir zu. »Du hast recht, denke ich. Es… es hat sich wohl erwärmt.« »Genau. Irrtum ausgeschlossen. Also muß sich die Maske hier in der Nähe befinden. Vielleicht hier im Laden. Es ist zudem ein Ort, der ihr vom Ambiente entgegenkommt.« »Kein Widerspruch.« »Ich frage mich nur, warum die Tür nicht verschlossen wurde.« »Ganz einfach, John. Man wollte, daß wir kommen.« »Dann soll man sich auch zeigen.« Wir durchsuchten den Laden. Hinter der Tür war er noch relativ breit, aber in der Tiefe lief er schmaler zu und wurde durch deckenhohe Regale, in denen allerlei Karnevalskrempel lag, noch schmaler gemacht, kaum schulterbreit. Hier schimmerte auch kein Licht, und deshalb sahen wir wahrscheinlich den hellen Streifen, der sich flach am Boden abzeichnete, kaum breiter als ein Streichholz, dafür aber länger. Wir näherten uns dem Lichtstreifen auf leisen Sohlen, sahen die schmale Tür in der Wand, gegen die Suko als erster sein Ohr legte und dabei in die Knie ging. Ich wartete dicht hinter ihm. Einige Sekunden später richtete er sich auf. »Es ist was zu hören, John.« »Und was?« »Tritte, glaube ich.« »Normale?« »Denke schon.« Suko sah, daß ich mein Kreuz anschaute und es auch befühlte. »Was ist damit?« »Es hat sich nicht verstärkt.« »Laß uns nachschauen.« Da die Eingangstür nicht verschlossen gewesen war, gingen wir davon aus, auch vor einer offenen Rücktür zu stehen. Die schmale Klinke verschwand unter Sukos Hand, und einen Augenblick später drückte er die Tür auf. Das Licht war nicht besonders hell, es kam uns nur so vor, weil wir aus dem Dunkel traten. Und wir waren von der Größe des Raumes überrascht, ebenfalls von dem Erkerfenster, so daß wir den Eindruck
bekamen, einen Anbau betreten zu haben, der über einem Kanal schwebte, was in dieser Stadt oft zu sehen war. Ein Büro, eine kleine Wohnung? Beides stimmte. Wir entdeckten einen Schreibtisch aus dunklem Holz und mit Säulenverzierungen, ebenso wie ein Bett, das seinen Standort hintereinem Vorhang gefunden hatte, der jetzt allerdings über die Hälfte hinweg zurückgezogen war. Das Bett sah zerwühlt aus, als hätte jemand bis vor kurzem noch darin geschlafen. Viel wichtiger war für uns das drei flügelige Fenster. Das Teil an der rechten Seite stand offen, so daß der kühle Wind in den Raum hineinwehen konnte. Er streichelte unsere Gesichter, als wir tiefer in den Raum hineingingen. Unter der Decke schimmerte eine Lampe. Sie bestand aus grünlichem Glas und hatte die Form einer Maske, deren Maul weit geöffnet war. Diese Maske suchten wir nicht, sondern zunächst einmal die Person, deren Tritte Suko gehört hatte. »Wo steckt sie?« Ich schob Suko zur Seite und ging nach links. Dort stand ein Schrank. Daneben sah ich eine weitere Tür, die ich blitzschnell aufriß. Wir sahen den Mann. Er drehte uns den Rücken zu und traf auch keine Anstalten, sich umzuwenden. Wahrscheinlich hatte er uns nicht gehört. Was auffiel, waren seine Bewegungen. Er stand gebückt und hatte den Kopf noch nach vorn gedrückt, um auf ein altes Sofa zu schauen, das quer vor ihm einen Platz gefunden hatte. Er bewegte seinen Oberkörper hin und her, und diesen Rhythmus hatten auch seine Beine angenommen. Er hob die Beine an, stapfte auf den alten Holzbohlen herum, als wäre er in einen tranceartigen Ritualtanz vertieft. Mein Kreuz erwärmte sich rasch. Die Maske war nah! Ich lief auf die Gestalt zu, deren graue Haare ebenfalls schwangen, ich wollte sie an der Schulter fassen und herumdrehen, dazu kam es nicht mehr. Wir hörten beide den dumpf klingenden Schrei, dann stoppte die Bewegung des Mannes abrupt, er drehte sich um – und wir starrten fassungslos in sein Gesicht. Nein, nicht in sein Gesicht. Es war die Maske, gegen die wir schauten! *** Sie sah noch böser und abstoßender aus, als wir sie in Erinnerung hatten. Vielleicht lag es auch am einfallenden Licht, daß sie so schimmerte, als wäre sie poliert worden. Das Maul verzogen, die Rose klebte darin, tiefe Schwärze lauerte in den Augenhöhlen, und der irgendwie traurige Ausdruck war von einem anderen übertüncht worden. Bösartig und wild sah sie aus.
Sie wollte das Grauen, sie wollte den Tod, sie wollte uns damit überschwemmen, und sie hatte wieder ein Opfer gefunden, dessen Bewegungen schwächer und schwächer wurden. Vielleicht waren wir zu sehr überrascht worden. Vielleicht hatten wir auch die berühmte Sekunde zu lange gezögert, denn der Maske gelang es, die Initiative zu ergreifen. Blitzschnell löste sie sich vom Gesicht ihres Opfers. Der Schrei war nicht mehr zu hören, statt dessen wirbelten kleine Blutstropfen durch die Luft und verschonten auch uns nicht. Wir wischten sie nicht weg, sondern wandten uns den neuen Zielen zu. Ich wollte die Maske haben, Suko mußte sich um den Ladenbesitzer kümmern, und mir gelang noch ein Blick auf dessen Gesicht, das in einem wahren Blutgerinnsel schwamm. Dann sprang ich der Maske entgegen. Sie hatte sich durch eine Bewegung zur Decke hin in Sicherheit gebracht, so daß ich mit der linken Hand ins Leere griff. Ich mußte erneut ausholen, tat es mit der rechten, in der ich mein Kreuz hielt, und schleuderte es auf die Maske zu, wobei ich selbst die Kette losließ, um sie zu treffen. Wieder war sie schneller. Wie ein Strich war sie nach unten getaucht, huschte an meinen Beinen entlang und aus dem Raum. Ich ahnte, was sie vorhatte. Meine Drehung war zackig und schnell, der nächste Schwung katapultierte mich schon über die Schwelle hinweg, wobei ich noch mit der Schrankecke kollidierte, um dann feststellen zu müssen, daß mir die Maske entwischt war. Sie hatte bereits das Fenster erreicht, sich dort gedreht und durch den Spalt gedrückt. Sie war draußen. Ich riß die Beretta hervor, nahm das Kreuz in die linke Hand und feuerte hinter der Maske her. Die Scheibe zersplitterte und verwandelte sich in einen Regen aus Scherben, aber die Maske war durch das rasche Fallen dem geweihten Silbergeschoß entkommen. Wieder einmal. Ich gab trotzdem nicht auf und lief zum Fenster hin. Noch auf dem Weg hörte ich das hier in Venedig allseits bekannte Tuckern, das immer dann entsteht, wenn ein Bootsmotor angelassen wird. Verdammt noch mal, ich würde wieder zu spät kommen, gab trotzdem nicht auf, sondern schaute durch die Lücke des zerstörten Fensters in die Tiefe. Es war, wie ich geahnt hatte. Die Maske hatte einen Helfer bekommen, obwohl der sichtlich nicht nötig gewesen war, aber ich sah, daß ein Boot mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr und auf dem Wasser einen hellen Streifen hinterließ. Ob sich die Maske auf dem Boot aufhielt oder
irgendwo durch die Dunkelheit schwebte, war nicht zu erkennen, jedenfalls sah ich sie nicht mehr und konnte auch den Fahrer des Boots nicht identifizieren. Ich trat vom Fenster zurück und sah Suko, der den Mann auf seinen Armen hielt, ihn zu seinem Bett brachte und dort niederlegte. »Was ist mit ihm?« »Tot.« Ich schloß für einen Moment die Augen. »Das dritte Opfer also.« »Ja.« Plötzlich überkam mich die Wut. Nein, nicht die Wut, es waren der Haß und der Zorn zugleich, die mich wie eine Woge überschwemmten. Suko sah es mir an und fragte: »Was hast du?« Ich erwachte wie aus einem bösen Traum. »Schon gut, Suko, es war nur der Moment.« »Aha.« »Und wenn du jetzt nach der Maske fragst«, flüsterte ich, »muß ich dich leider enttäuschen. Sie ist abermals entkommen, aber sie hat einen Helfer gehabt.« »Wen?« Ich mußte leider passen. »Keine Ahnung. Ich konnte ihn nicht erkennen. Er huschte mit dem Boot davon. Zumindest habe ich den Eindruck gehabt. Aber ich frage mich, weshalb uns die Maske hergelockt hat. Warum tötete sie den Mann? Warum hier?« »Sie wird dir kaum eine Antwort geben.« »Das fürchte ich auch.« »Dabei kennen wir nicht mal seinen Namen.« »Was sich ändern wird.« Ich ging auf den Schreibtisch zu. »Vielleicht finden wir dort etwas.« Die Lade in der Mitte öffnete ich noch nicht, weil Suko sagte: »Ich habe einen Schuß gehört. Kann das stimmen?« »Das ist richtig, aber die Kugel hat nicht getroffen. Unsere Maske war einfach zu schnell.« Er hob die Schultern, und ich zog die Lade auf. Sie war sehr breit, auch tief, aber ziemlich flach. Ich holte die Bögen hervor, die mit Entwürfen bemalt waren, als hätte hier ein Modeschöpfer seine ersten Skizzen entworfen. Suko schaute mir von der Seite her zu. Er war wie ich der Meinung, daß dieser Mann, dessen Namen wir noch immer nicht kannten, die Kostüme selbst entworfen hatte. »Wie auch die Masken«, sagte ich, als ich andere Bögen mit ihren Entwürfen hervorholte. Beide staunten wir. Es waren kleinere Bögen. Wir schauten uns die Zeichnungen an, aber unsere Maske entdeckten wir nicht darunter. Ansonsten fanden wir nichts, was auf eine Identifizierung der Person hingedeutet hätte. »Vielleicht trug er einen Ausweis bei sich«, sagte Suko. Er wandte sich dem Bett zu. Mit flinken Fingern tastete er über die Kleidung des Toten
und fand tatsächlich eine Brieftasche in der Jacke. Sie war schmal, bestand aus schwarzem Leder. Als Suko sie aufklappte, war er unter die Deckenleuchte getreten. »Da ist der Ausweis.« »Wie heißt der Mann?« »Canio Lentini.« Ich hob die Schultern. Der Name war mir ebenso unbekannt wie meinem Freund. Er gab nicht auf und kramte weiter in der Brieftasche, fand Geld, das er wieder zurücksteckte, und klemmte schließlich zwei Finger in einen Spalt. »Ist dort was?« Er nickte mir zu. »Ja, es fühlt sich nach einem Versteck an. Da klemmt etwas dazwischen.« Suko hatte den Spalt wenig später so erweitert, daß er hineinfassen konnte und den Gegenstand hervorholte. Er drehte ihn herum. Schon von der Rückseite her hatte ich gesehen, daß es sich um eine Aufnahme handelte. »Ein Fo…« Mein Freund sagte nichts mehr, sondern drehte das Bild herum, damit auch ich es sehen konnte. Ich schwieg, wurde blaß, war gleichzeitig durcheinander. Die Person auf dem Foto war keine geringere als Claudia Ferrini… *** »Also doch«, flüsterte ich. »Was meinst du damit?« »Claudia.« »Das ist ihr Foto, John, stimmt. Aber was beweist das? Es beweist doch nicht, daß sie direkt mit der Maske zu tun hat, sondern einzig und allein, daß Lentini und sie sich kannten. Nicht mehr und nicht weniger.« »Kann schon sein, mein Freund. Ich aber frage mich, wie gut sich beide kannten. Auf der einen Seite steht sie, auf der anderen Lentini. Und zwischen ihnen befindet sich die Maske. Ich habe das Gefühl, daß es von beiden Personen aus eine Verbindung zu dieser Maske gibt. Welche das ist, werden wir herausfinden müssen.« »Durch Claudia.« »Wen willst du sonst fragen?« »Keinen. Aber was ist mit dem Toten? Wir müßten Kommissar Fungi melden, daß er hier liegt und…« »Das kann auch später geschehen. Zuerst ist Claudia an der Reihe. Sie wollte doch zu uns ins Hotel kommen – oder?« »So habe ich es in Erinnerung.« »Dann wird sie bestimmt schon auf uns warten.« Suko nickte, lächelte und steckte das Foto ein. »Ich bin gespannt darauf, was sie dazu sagen wird…«
*** Claudia Ferrini wartete tatsächlich auf uns. Kaum hatten wir das Hotel betreten, wurde uns bereits vom Empfang her zugewinkt, und es wurde uns mitgeteilt, daß die Signora in der Bar auf uns wartete. Wir bedankten uns, betraten den Raum und sahen sie nicht am Tresen. Claudia hatte sich für einen der runden Tische entschieden, wo sie lockerund mit übereinandergeschlagenen Beinen ihren Platz gefunden hatte. Mit einer Hand hielt sie das Longdrinkglas, indem sich ein gelbliches Mixgetränk befand. Aus dem Glas schaute noch ein oben geknickter bunter Trinkhalm hervor. Sie lächelte uns an, wartete, bis wir die Plätze an ihrem Tisch eingenommen hatten, und sagte nett lächelnd: »Schön, daß Sie doch noch gekommen sind.« Suko rückte seinen Stuhl etwas zum Tisch hin. »Ja, wir waren unterwegs. Haben einen kleinen Spaziergang gemacht.« »Bei dem Wetter?« »Venedig ist doch immer schön. Vor allen Dingen auf den Wegen, die nicht so überlaufen sind.« »Da haben Sie recht. Ich hatte zwischendurch mal angerufen, und mir wurde gesagt, daß sie soeben das Hotel verlassen hätten. Ich bin dann sofort losgefahren, warte aber noch nicht lange.« Der Ober erkundigte sich nach unseren Wünschen. Ich entschied mich für Bitter Lemon, Suko nahm Wasser. Claudia Ferrini war neugierig, was sie auch nicht verbarg. »Sind Sie mit den Polizisten zurechtgekommen?« »Kann man sagen«, antwortete ich. »Und weiter?« »Der Kommissar hat natürlich keine Spur…« Ich ließ meine Worte ausklingen. Claudia fing sich darin. »Aber Sie haben inzwischen eine, nehme ich an.« »Nein!« »Oh, Sie enttäuschen mich.« Die Frau schaute uns so unschuldig an, daß wir ihr die Worte beinahe abnahmen. »Das heißt, eine winzige Spur haben wir schon«, sagte Suko. »Nämlich?« »Sie!« Die Ferrini mußte lachen. So laut, daß es beinahe störte und sie eine Hand auf ihre Lippen preßte. »Ich soll die Spur sein, das kann ich nicht glauben.« »Sie sind eine Ferrini.« »In der Tat. Nur habe ich mir meinen Namen nicht aussuchen können. Das schafft keiner von uns.« »Und mit den Ferrinis begann es«, sagte ich. »Mit ihrem Wohnsitz, in dem wir auch die Maske trafen. Der Palazzo brannte ab, Sie haben es
selbst gesehen. Sie haben uns geholt, Sie waren so etwas wie ein Engel, möchte ich mal behaupten.« »Danke sehr.« Ich wiegte den Kopf. »Bedanken Sie sich bitte nicht zu früh. Es gibt auch bei den Engeln Unterschiede.« »Die wären?« »Es gibt gute Engel und weniger gute. Es sind einige sogar in die Tiefen der Verdammnis gestürzt worden.« »Si, die Genesis kenne ich.« Sie nahm einen Schluck durch den Trinkhalm. »Und wozu zählen Sie mich, bitte sehr? In welche Schublade der Engel passe ich?« »Darüber denken wir nach.« »Bestimmt haben Sie schon ein Ergebnis oder zumindest ein Teilergebnis.« Sie und auch wir redeten um den heißen Brei herum, und es war Suko, der mit einer ersten Information herausrückte. »Auf unserem Gang durch den Abend stellten wir fest, daß uns die Maske verfolgte.« »Nein.« Sie riß die Augen auf. »Das… das… haben Sie tatsächlich gesehen?« »Mehr gespürt.« »Wie das?« »Fragen Sie John!« »Bitte.« Sie legte sogar die Handflächen gegeneinander. »Klären Sie mich auf.« »Da gibt es nicht viel aufzuklären.« Ich legte eine Pause ein, weil die bestellten Getränke serviert wurden. »Es ist so, wie mein Freund sagte. Wir haben die Anwesenheit der Maske gespürt und sie später auch selbst erlebt und gesehen.« »Was haben Sie…?« »Ja, aber sie hatte sich nicht auf uns konzentriert, sondern auf eine andere Person, auf einen Mann, der Kostüme und Masken herstellt. Er heißt Lentini. Kennen Sie ihn?« Claudia überlegte oder tat zumindest so, als würde sie scharf nachdenken. »Tja… ich… ich weiß nicht so recht. Der Name Lentini ist nicht gerade selten. Es gibt sogar einen Fußballer, der so heißt…« »Lentini ist tot«, sagte Suko. »Gott – nein! Wie starb er denn?« »Denken Sie mal nach.« »Durch die Maske?« »Ja«, erwiderte Suko. »Durch die verdammte Maske! Durch den Blutspuk. – Wir konnten ihn leider nicht retten.«
Claudia Ferrini schluckte ein paarmal und rang nach Worten. Meiner Ansicht nach spielte sie gut Theater. »Das ist wirklich schlimm. Da haben Sie endlich die Chance gehabt, um die Maske zu stellen… aber«, sie schüttelte den Kopf, »vielleicht ist es besser so, daß Sie in keinen direkten Kontakt zu ihr getreten sind. Sonst wäre es Ihnen so ergangen wie dem armen Lentini.« »Wir hätten uns wehren können«, sagte ich. Claudia wirkte nachdenklich. »Das kann ich natürlich nicht beurteilen«, gab sie zu und hob die Schultern. »Aber man kann ja nicht nur Pech haben. Überlegen Sie mal, wie kurz Sie erst in der Stadt sind. In dieser relativ knappen Zeit haben Sie schon einiges erlebt. Sie sind dem Blutspuk näher gekommen und hätten ihn…« »Da wäre noch etwas«, sagte ich. Sie führte den Satz auch nach meiner Bemerkung nicht mehr zu Ende, sondern schaute mich gespannt an. »Was denn?« »So ganz chancenlos sind wir nicht, Claudia. Wir haben uns bei Signor Lentini im Büro umgeschaut und auch in seiner Brieftasche nachgesehen. Dort haben wir etwas gefunden.« Ich nickte Suko zu. »Zeig es ihr, bitte.« »Gern.« Auf diesen Zeitpunkt hatten wir natürlich beide gewartet. Suko griff in die rechte Innentasche und holte das Foto hervor. Er hielt es zunächst so, daß die Frau nur die Rückseite sah. Dann drehte er es langsam um. »Schauen Sie genau hin, Signora Ferrini.« Das tat sie auch, und wir ließen sie dabei nicht aus den Augen. Einige Male rang sie nach Luft, bevor sie endlich die Worte hervorstoßen konnte. »Dio, das bin ja ich.« Suko nickte. »Si, zwar etwas jünger, aber nicht zu übersehen. Sie haben sich gut gehalten, Kompliment.« Ihre Augen wanderten. Sie war nervös geworden und fragte mit leiser Stimme. »Woher haben Sie das Foto?« Suko lächelte vor seiner Antwort. »Wie schon erwähnt, wir schauten uns bei Lentini um und…« Für einen Moment sprang sie auf und setzte sich sofort wieder hin. »Sie brauchen nichts mehr zu sagen. Sie haben mein Foto bei Lentini gefunden. Stimmt’s?« »Richtig.« Schnaufend atmete sie aus und strich mit der Handfläche über die Stirn. »Jetzt wollen Sie natürlich eine Erklärung von mir haben, denke ich.« »Korrekt.« Claudia Ferrini dachte nach, und ihre Miene verschloß sich dabei. »Es ist nicht leicht, das zu erklären, aber es hört sich einfach an.« »Warum ist es dann nicht leicht?« fragte ich. »Weil ich mich überwinden muß.« »Dann kannten Sie Lentini?«
»Natürlich.« »Woher?« »Er hat mich großgezogen. Er war so etwas wie mein Ziehonkel. Ich habe auch einige Jahre bei ihm gewohnt, bevor ich in ein Internat kam. Meine Familie gab es nicht mehr. Lentini hat sich meiner angenommen. Er hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Nun, es blieb ein Traum. Außerdem hat er sich nichts aus Frauen gemacht, er war homosexuell, aber mich nahm er an.« »Warum gerade Sie?« wollte ich wissen. »Weil ihn meine Mutter darum gebeten hat. Beide kannten sich. Auf dem Sterbebett ist der Vertrag praktisch besiegelt worden, und Lentini hat ihn so gut wie möglich eingehalten.« Wir ließen ihr keine Zeit, um nachzudenken. Ich schlug schnell in die Bresche. »Dann hat er auch über Ihre Familie und deren Vergangenheit Bescheid gewußt.« »Er war informiert.« »Auch über die Maske?« »Ja, über alles.« »Und die Maske hat ihn getötet. Wir waren dabei, wir haben es gesehen. Warum tat sie es? Kennen Sie den Grund, Claudia?« Sie überlegte, trank. Ihre Blicke wanderten dabei durch die Bar. »Nein – oder doch? Vielleicht wollte er Spuren verwischen…« »Das bringt mich auf einen Gedanken. Von Verwischen ist es nicht weit bis Entwischen. Die Maske ist meinem Freund und mir leider entwischt.« »Das sagten Sie bereits.« »Sie muß einen Helfer gehabt haben.« »Möglich, kann sein, wieso?« Klar, unsere >Freundin< spielte hier die Unschuldige, das nahmen wir ihr längst nicht mehr ab. Sie wußte einiges, und sie wußte vor allen Dingen mehr, als sie uns gegenüber zugeben wollte. Interessiert lauschte sie meinen Worten, als ich ihr von dem geheimnisvollen Boot berichtete, das dann verschwunden war. »Und weshalb haben Sie mir das so deutlich erklärt, Signor Sinclair?« »Können Sie sich das nicht denken?« »Ah.« Sie öffnete den Mund und lachte. »Wahrscheinlich denken Sie, daß ich diejenige gewesen bin, die in dem Boot gesessen hat.« »Nicht nur John, auch ich denke das«, mischte sich Suko ein. »Es wäre schließlich nicht ungewöhnlich, Claudia. Schon einmal haben Sie zwei Personen mit Ihrem Boot in Sicherheit gebracht. Und die beiden sitzen vor Ihnen.« Ihr Mund zeigte Spott. Und dieser Spott schwang auch in der Antwort mit. »Ich werde daran denken, sollten Sie sich wieder einmal in Schwierigkeiten befinden, wenn ich in der Nähe bin.« Sie änderte ihre Sitzhaltung und strich über den Stoff der Hosenbeine. »Wenn ich mir
unser Gespräch durch den Kopf gehen lasse, so habe ich den Eindruck, als würden Sie mir nicht trauen, mir aber alles zutrauen. Stimmt es?« »Kann sein«, erwiderte Suko. »Uns würde wirklich interessieren, welches Spiel Sie treiben.« »Wie kommen Sie auf Spiel?« »Sie waren oder sind überall dabeigewesen. Sogar der ermordete Lentini steht in einer Verbindung zu Ihnen. Er war Ihr Ziehonkel. Sie sind eine Ferrini und…« »Genau, Suko, genau. Ich bin eine Ferrini.« Sie sprach jetzt schnell und leicht zischend. »Und weil ich eine Ferrini bin, interessiert mich das. Ich kann auch nicht außen vor sein, wenn Sie das meinen. Schließlich hat sich der Käufer des Palazzo mit mir in Verbindung gesetzt. Er hat mich gesucht und gefunden. Anwälte haben vieles geregelt, und die Verträge sind zu meiner Zufriedenheit abgeschlossen worden. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe die drei Männer nicht getötet.« »Das steht fest«, sagte ich. »Eben!« »Aber ich möchte noch einmal auf den Verkauf des Hauses zurückkommen. Haben Sie Rock Paretti nicht gesagt, daß dieser Palazzo von keinem Venezianer gekauft werden wollte?« »Ich habe davon gesprochen, aber er ging darüber hinweg. Sie glauben ja gar nicht, wie geil er darauf war, das Haus zu kaufen. Er wollte einen zweiten Wohnsitz in Venedig haben. Er hat ihn bekommen. Darüber war er besonders glücklich. Alles andere nahm er gern in Kauf. Für ihn war es wichtig, hier leben zu können. Nicht immer, aber zeitweise. Er hat einen sehr hohen Preis für das Haus bezahlt, das nun leider abgebrannt ist.« »Von der Maske haben Sie nichts erzählt?« »Nein. Warum hätte ich es tun sollen?« »Kannten Sie denn die Geschichte nicht? Wußten Sie nicht, daß sich der Käufer in Lebensgefahr begibt, wenn er einziehen wird?« Böse schaute sie mich an. »Was wollen Sie beide mir eigentlich hier anhängen?« »Gar nichts«, wehrte ich ab. »Wir sammeln nur Fakten«, erklärte Suko. »Zu meinem Nachteil.« »Das sagen Sie.« »Es ist so. Dabei hatte ich Ihnen helfen wollen.« Suko lächelte sie hinterlistig an. »Dann tun Sie es jetzt. Helfen Sie uns dabei, die Maske zu fangen. Wir sind überzeugt davon, daß Sie es können. Sie sind die letzte Ferrini. Sie haben uns über die Totenmaske erzählt und uns deshalb neugierig auf eine Gestalt namens Horatio Ferrini gemacht…« »Der seit Jahrhunderten tot ist«, fiel sie Suko spöttisch ins Wort.
»Das mag ja sein, aber unserer Ansicht nach lebt er noch etwas weiter. Seine Totenmaske. Sie ist nicht tot. Sie steckt sogar voller mörderischer Kraft, wie wir haben erkennen können. Sie ist das Grauen pur, sie lebt und wird geleitet. Wahrscheinlich durch die Macht eines dämonischen Geschöpfes, aber das werden wir noch herausfinden müssen. Wir sind zudem sicher, daß die mordende Maske uns auf ihre Liste gesetzt hat. Daran können auch Sie nichts ändern.« Claudia Ferrini hob die Arme und schlug ihre Hände zusammen. »Gütiger Himmel, was Sie alles wissen.« »Wir glauben es zu wissen.« »Und was glauben Sie noch?« Diesmal sprach ich. »Wir glauben, daß Sie und die Maske in einem Zusammenhang stehen. Daß Sie ziemlich genau wissen, wo sie sich aufhält. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Es könnte durchaus sein, daß Sie und die Maske zusammenarbeiten. Sie zusammen haben den Blutspuk in Szene gesetzt.« Sie hatte mich angeschaut, ohne etwas zu sagen. Auch mit einer Antwort ließ sich Claudia Ferrini Zeit, und ihre Worte enttäuschten mich eigentlich. »Das ist ein verdammt starkes Stück, das Sie mir da vorgeworfen haben. Dann wäre ich indirekt eine Mörderin.« Sie beugte sich vor. »Können Sie mir auch sagen, welchen Vorteil ich daraus hätte ziehen sollen?« »Macht, Signora Claudia Ferrini. Vielleicht auch altes Wissen? Ein Erbe übernehmen, wo Sie doch die letzte in der Runde sind. Alles ist möglich.« »Quatsch.« Ich ließ mich nicht beirren. »Schon immer haben sich Menschen mit den Mächten der Finsternis verbündet, mochten sie auch noch so unterschiedlich sein. Der Mensch hat der Faszination des Bösen stets Tribut zollen müssen. Er ist ihm unterlegen, er weiß es nicht, obwohl er es hätte wissen müssen, denn es gibt genug warnende Beispiele. Aber nein, der moderne Mensch will ja alles ausprobieren. Gerade in der heutigen Zeit haben die Kontaktversuche zugenommen. Die Menschen suchen nach den Dingen hinter den offiziellen Werten, aber das sollten Sie selbst wissen. Ich habe hier nur etwas angerissen. Für uns zählt einzig und allein, einen dreifachen Mörder zu fassen.« »Wollen Sie mit mir zur Polizei gehen und den Leuten erklären, daß hier jemand ist, der Bescheid weiß?« »Nein.« »Ihnen fehlen die Beweise.« »Das stimmt.« »Schön.« Sie lächelte. »War das alles, was Sie mir hatten sagen wollen?«
»Nein«, sprach Suko leise. »Ich hätte da noch eine ganz bestimmte Frage.« »Auch die werde ich Ihnen beantworten, wenn ich kann«, erklärte sie großzügig. »Okay, Claudia. Wo wohnen Sie eigentlich? Sagen Sie bitte nicht, auf dem Boot.« Die Frau schickte Suko einen vernichtenden Blick zu. »So schlimm ist es noch nicht.« »Das dachte ich mir. Wo dann?« »Hier in Venedig. Wollen Sie meine Wohnung sehen?« Sie lachte etwas schrill. »Wollen Sie die Räume untersuchen, um festzustellen, ob ich die Maske versteckt halte?« »Das haben Sie gesagt.« »Aber Ihre Frage zielt darauf ab.« »Schon möglich.« Die Ferrini schüttelte den Kopf. »Dabei habe ich Ihnen nur helfen wollen. Man hat mich aus London angerufen, damit Sie jemanden haben, der Ihnen hier in dieser Stadt zur Seite steht. Und ich habe es Rock Paretti versprochen.« »Dafür sind wir Ihnen auch sehr dankbar. Außerdem würde mich interessieren, weshalb Sie uns heute abend haben treffen wollen? Es muß einen Grund geben.« »Den hatte ich Ihnen genannt.« Suko schüttelte den Kopf. »Pardon, aber den nehme ich Ihnen nicht ab. Ich denke eher, daß Sie bei uns sein wollten, um uns unter Ihrer Kontrolle zu haben.« »Meinen Sie?« »Ja.« »Und weiter?« »Ich will Ihnen sagen, was zumindest ich denke. Wenn wir unter Ihrer Kontrolle stehen, können Sie uns auch an die Maske heranführen. Vielleicht arbeiten Sie beide zusammen. Es wäre nicht das erste Mal, daß jemand Kontakt zu einem längst Verstorbenen aufgenommen hat. Und Horatio Ferrini war sicherlich kein Kind von Traurigkeit.« »Das war er nicht.« »Eben.« »Was hat er getan?« fragte ich. »Er war mächtig. Er hatte hier in der Stadt eine starke Position. Sein Wort hatte Gewicht. Er war ein sehr belesener Mensch. Er war Wissenschaftler und Künstler. Man suchte seinen Rat, und man liebte ihn auf eine gewisse Art und Weise.« »Hat er experimentiert?« »Wie meinen Sie das, John?« »Ähnlich wie Doktor Faustus oder der gute alte Frankenstein. Auch sie haben es versucht…«
»Der eine i st ein Geschöpf der Literatur, mehr nicht.« »Trotzdem. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen ihm oder ihnen nachgeeifert haben. Mehr oder minder erfolgreich. Ich könnte mir das auch bei Horatio Ferrini vorstellen…« Claudia senkte den Kopf. Zum erstenmal zeigte sie eine gewisse Unsicherheit. Sie schaute auf ihre Finger und bewegte sie langsam hin und her. »Ich kann dazu nichts sagen. Es geht nicht um ihn, sondern um die Totenmaske, die von ihm hergestellt wurde.« »Wir entdeckten sie in einer Säule.« Claudia hob die Schultern. »Wie ist sie dort hineingekommen?« »Weiß ich nicht.« »Wann wurde der Palazzo gebaut?« »Nach dem Tod Horatio Ferrinis.« »Und was war mit seiner Maske?« »Sie verschwand.« »Wahrscheinlich im Haus, in der Säule, in einer Wand oder wo auch immer, damit der böse Geist Horados für immer zwischen den Wänden blieb. So ähnlich kann es gelaufen sein.« »Es gibt ein Grab von ihm.« »Und wo?« »Auf der Friedhofsinsel San Michele.« »Dann sollten wir hinfahren und uns das Grab anschauen«, schlug der Inspektor vor. Claudia war überrascht. Sie sah aus wie jemand, der plötzlich in die Höhe springen wollte. »Sie… Sie wollen auf diese Friedhofsinsel fahren?« »Sicher.« »Und wann?« »So rasch wie möglich.« Erst sah sie aus, als wollte sie lachen. Dann aber blieb es ihr im Hals stecken. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie nach einem Räuspern. »Warum nicht?« fragte ich. »Noch haben wir Zeit, denke ich mal. Oder sehen sie das anders?« »Es ist dunkel und wird bald Nacht.« »Stimmt. Wenn Sie nicht wollen, werden wir uns allein auf die Insel fahren lassen.« Claudia Ferrini überlegte. Sie schaute uns an und lächelte dabei, doch es sah nicht echt aus. Schließlich flüsterte sie: »Si, ich sehe schon, Ihnen kann man nichts vormachen. Sie gehören zu den Menschen, die alles durchführen, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben. Sie würden auch allein auf die Insel fahren und das Grab suchen.«
»Das stimmt«, gab ich zu. »Auch wenn es länger dauern würde, bis wir es gefunden haben. So aber könnten Sie uns eine große Hilfe sein. Vorausgesetzt, Sie stimmen zu.« Claudia zögerte noch. Sie nahm ihr Glas hoch und saugte es durch den Trinkhalm leer. Dabei verengten sich ihre Augen; sie schien nachzudenken. Als sie das Glas abstellte, hatte sie sich entschlossen. »Ja, Signori, ich fahre mit Ihnen. Auch in der Nacht…« *** Die Friedhofsinsel San Michele liegt nördlich der Stadt. Ihre Nachbarinsel, die Isola Murano, ist weltbekannt durch die Kunst des Glasblasens. Wer nach Murano wollte, der kam automatisch an San Michele vorbei. Viele Touristen besichtigten die Friedhofsinsel, von der der österreichische Schriftsteller Ludwig Fels gesagt hatte, daß sie ein Treffpunkt der Generationen wäre. Hier ging man mit dem Tod anders um. Man pflegte ihn ebenso, wie man die Gräber pflegte. Familien besuchten die Insel, standen vor den Gräbern ihrer Verstorbenen, hielten stumme Zwiesprache mit ihnen, aber vergaßen auch nicht das Leben, denn es gab noch genügend Plätze, wo sie picknicken konnten, tranken, sich trafen und unterhielten. So gehörte der Tod und sein Platz eben auch zum Leben. Wir würden es anders sehen. Zum einen besuchten wir die Insel nicht im Frühjahr oder Sommer und auch nicht bei Tageslicht, sondern mitten in der Nacht. Zum Glück hatten wir eine gute Führerin, die ihr Boot zielsicher durch die Kanäle gelenkt hatte. Bald erreichten wir die offene Lagune. Leer, kaum Lichter, wie tot. Das Wasser wallte wie ein dunkler Teppich, auf dem wir uns bewegten. Claudia Ferrini deutete mit dem Arm nach Norden. »Wir werden in etwas mehr als einer Viertelstunde den kleinen Hafen erreicht haben. Sie werden auch bald den Turm der Kirche San Michele sehen können.« »Okay.« Die Fahrt verbrachten wir schweigend. Wir hatten den Eindruck, als würde uns die Frau belauern. Die Aufgabe schweißte uns zwar zusammen, doch die Motive waren unterschiedlich. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Claudia die Vernichtung der Maske wollte. Für mich trieb sie ein besonderes Spiel, und dahinter wollte ich erst noch kommen. Ich hätte mir einen sternenklaren Himmel gewünscht. Der Gefallen wurde mir nicht getan. Über uns funkelten keine Sterne, auch den Mond sahen wir nicht.
Die Wolkendecke war einfach zu dick. Hinzu kam ein unangenehmer Wind, der gegen unsere Gesichter blies und auch das Wasser unruhig machte, so daß die Wellen immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen und oftmals quer gegen das Boot klatschten. Dann hörte es sich an, als würden die Klauen aus der Tiefe steigender Ungeheuer gegen die Bordwand außen schlagen. Es war still in unserer Umgebung, abgesehen vom tuckernden Geräusch des Motors. Auch dieser Laut störte mich auf dem Weg zum Ziel. Für mich war es eine andere Welt, die schon jetzt ihr Tor geöffnet hatte und uns einen Gruß entgegenschickte. Roch ich die Verwesung, die verwelkten Blumen, die verwitterten Grabsteine? Ich wußte es nicht. Ich konnte es mir vorstellen und ausmalen, denn in der Tiefe der Nacht bekamen derartige Friedhöfe noch einen besonderen Reiz. Claudia Ferrini hatte recht behalten. Wir sahen zuerst den Kirchturm. Er ragte in die Höhe wie das Mahnmal der Toten an die Lebenden und hatte eine große Kuppel. Der Umriß war wie mit einem Messer aus der Dunkelheit herausgeschnitten worden. »Wenn Sie den Friedhof sehen, werden Sie denken, in Manhattan zu sein. Statt der Häuser gibt es entlang der Wege eben Grabstätten.« Ich hatte nach dem Grund des Vergleichs gefragt und auch eine entsprechende Antwort erhalten. »Das ist ganz einfach. Die Gräberfelder gleichen einem Schachbrett. Es gibt keine verschlungenen Pfade, man kann sich gut orientieren.« »Löblich.« »Und ihn umgibt eine Mauer.« »Aber er ist kein Friedhof der Prominenz?« »Ja und nein. Wenn wir die lokalen Größen als Prominente bezeichnen, dann schon. Sie finden aber auch das Grab eines gewissen Igor Strawinski dort.« Weitere Informationen hatte sie uns nicht gegeben, und sie hatte auch nicht mehr über die Maske oder ihren Ahnherrn gesprochen. Wir fuhren den Hafen an. Er war klein, fast leer, wir konnten uns die Anlegestelle aussuchen. Die Kirche war jetzt gut zu sehen, auch wenn dort kein Licht schimmerte. »Der Friedhof liegt natürlich auch im Dunkeln«, sagte die Frau, als das Boot mit der Steuerbordseite gegen die Reifen prallte. Suko war sofort an Land gesprungen und wartete darauf, daß ihm die Frau die Leine zuwarf. Geschickt fing er sie auf und wickelte sie um einen kleinen Poller. Nun verließen auch wir das Boot, dessen Motor mit einem letzten Blubbern erstarb.
Wir standen auf dem Stein, und ich sah das Lächeln auf Claudia Ferrinis Gesicht. »Jetzt haben Sie Ihren Wunsch erfüllt bekommen.« »Nicht ganz. Uns fehlt noch das Grab Ihres Ahnherrn.« »Keine Sorge, das werden wir finden.« Sie lächelte weiter und erkundigte sich, ob wir mit Taschenlampen ausgerüstet waren. »Die hätten wir nämlich mitnehmen sollen.« »Sind wir«, antwortete ich. »Gut. Dann kommen Sie mit.« Der Kirchturm war stets präsent. Dieses Gebäude visierten wir nicht an. Sehr bald schon sahen wir die hohe Mauer, die die Gräberfelder umschloß. Sie wirkte düster und abwehrend, als wollte sie den Menschen damit andeuten, auf keinen Fall die Ruhe der Toten zu stören. Das kümmerte die Frau nicht. Sie ging einige Schritte vor uns. Ihre dreiviertellange Jacke schwang bei jedem Schritt, und sie öffnete ein Tor, das nur kulissenhaft den Zugang zum Zentrum versperrte. Das Tor quietschte gequält, als steckten in seinen Angeln die gemarterten Seelen, die noch in der Umgebung umherirrten, weil sie nicht die ewige Ruhe gefunden hatten. Schon bald knirschte unter unseren Füßen ein Brei aus Lehm und Kies, der sich auch auf den Gräbern fortsetzte. Die kleinen Steine schimmerten heller. Man konnte nicht von einer absoluten Stille sprechen, aber sehr ruhig war es schon. Die Mauern hielten auch die Geräusche der Lagune ab. Das Klatschen der Wellen erreichte uns nur gedämpft. Die Monster aus dem Wasser schienen sich Handschuhe übergestreift zu haben. Es gab kein normales Licht, und in der Dunkelheit zwischen den Gräbern fühlte ich mich den Toten so nahe wie den Lebenden. Die Luft über den Gräbern bewegte sich, als wollte sie uns die verdunstenden Körpersäfte der Leichen und die der Tränen der Besucher entgegen wehen. Diese Atmosphäre hatte ich eigentlich noch nie auf einem Friedhof erlebt. An manchen Stellen roch es auch nach Kompost. Suko hatte seine Lampe eingeschaltet. Der Lichtstrahl war nicht sehr breit. Er tanzte über Gräber und Grabplatten hinweg, er erhellte starres Gestrüpp, erließ den Kies schimmern und zeigte uns auch, wie schnell Blumen verwelken konnten. Kreuze, Steine, aber auch Engel oder andere mächtige Figuren, die wie Wächter auf die Gräber niederschauten und die Ruhe der Toten hüteten. Grüne Zypressen bildeten Dächer, und in der Luft lag auch der Geruch von Salz und Moder. Die Mauer sah zwar kompakt aus. Hin und wieder aber war sie durch Gittertore unterbrochen. Uns gelang also hin und wieder ein Blick auf die Lagune. Das Wasser dort wirkte sehr schwer. Als hätte es Mühe, sich zu bewegen und zu Wellen zu formen.
Unsere Schritte hinterließen die einzigen Geräusche. Wie eine Musik, die im Prinzip zwar gleich blieb, aber dennoch ihre Unterschiede der Melodie besaß. Es gab auch Wegweiser, auf denen Namen standen. Ich konnte sie nicht lesen, weil Sukos Lampenstrahl zu schnell darüber hinwegglitt. Ein hoher, auf einem Sockel stehender Steinmönch warf einen langen Schatten gegen mich. Mich fröstelte. Wir erlebten hier tatsächlich eine abgeschlossene Welt für sich, und auch unsere Führerin war still geworden. Sie schritt vor uns her, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Ihre Beine bewegten sich dabei wie die eines Roboters. Nicht nur die Luft brachte die Kälte mit. Sie stieg auch aus den Gräbern, so dachte ich zumindest, aber die Erde blieb normal liegen. Es war niemand da, der sie von unten her aufgewühlt hätte, um als schauriges Zombiegespenst aus der letzten Ruhestätte zu klettern. Das würde uns hier wohl erspart bleiben… Als Claudia stehenblieb, stoppten auch wir unsere Schritte. »Wir werden an der nächsten Kreuzung nach links gehen. Von dort ist es nicht mehr weit.« »Liegt er in einem großen Grab oder in einer Gruft. Vielleicht auch in einem dieser Grabhäuser…?« Sie schüttelte den Kopf. »Wo dann?« »Lassen Sie sich überraschen.« Es blieb uns nichts anderes übrig, und wieder folgten wir der Person auf dem Fuß. Ich blieb etwas zurück, holte mein Kreuz hervor, steckte es griffbereit in die Tasche, und auch die kleine Leuchte hielt ich griffbereit. Es war komisch, aber dieser Gang über den Friedhof hatte mich den eigentlichen Grund vergessen lassen. Ich war der Faszination dieser Stätte erlegen, auch wenn kein Lichtschimmer die Dunkelheit zerstörte. Es ging uns um die Maske, um den Blutspuk von Venedig. Sie aber hielt sich verborgen, als fürchtete sie sich selbst vor dieser unheimlichen und dunklen Stätte. Am Ende des schmalen Wegs blieb Claudia Ferrini stehen. Für mich stand fest, daß sie schon das Ziel erreicht hatte. »Hier ist es?« fragte ich verwundert. Claudia nickte. »Wieso?« »Ich zeige Ihnen das Grab.« Sie drehte sich und wies über das Gitter hinweg. Diesmal leuchtete ich ebenfalls. Der Strahl meiner Lampe traf sich mit dem meines Freundes Suko, und beide zusammen huschten über den Boden auf ein bestimmtes Ziel zu, das uns Claudia zeigte.
Es war ein Grab, das stimmte. Aber es war anders als die Gräber, die wir bisher gesehen hatten. Es lag auch abseits, und es war nicht so gut gepflegt. Das Grab des Horatio Ferrini war eingebettet von einem großen Komposthaufen, so daß es im ersten Augenblick kaum auffiel. Ohne Hilfe hätten wir es sicherlich übersehen, doch als wir das leise »Stopp« hörten, wußten wir, daß dieser ungepflegte und aufgewühlte Hügel tatsächlich das eigentliche Ziel war. Blätter, alte Blumen und Lehm vermischten sich zu einem feuchten Brei. Es war kein Kreuz zu sehen, nicht mal ein Grabstein. Am Kopfende des Grabs allerdings ragte etwas aus der Höhe, das uns zunächst nicht aufgefallen war. Bei einem nochmaligen und genauerem Hinleuchten sahen wir schon, daß es sich um eine Vase handelte, die wie ein Zylinder in die Höhe stach. Aus ihr ragten die Stiele mehrerer Rosen hervor! Und eine Rose hatte die Maske auch zwischen ihren Lippen getragen. Für mich gab es keinen Zweifel mehr, daß wir tatsächlich vor dem richtigen Grab standen. Ich hielt mich mit einem Kommentar zurück und schaute einzig und allein auf die Rosen. »Einen Grabstein werden Sie nicht finden«, murmelte Claudia. »Warum nicht?« »Man wollte ihn vergessen, Signor Sinclair.« »Das muß einen Grund gehabt haben.« »Sicher.« »Sie kennen ihn bestimmt.« »Ich werde Ihnen den Grund nennen. Er war nicht sehr gelitten. Man fürchtete ihn, man hatte vor ihm Angst, und als er starb, da verbannte man seinen Körper in dieses Grab.« Sie nickte sich selbst zu. »Ja, es glich schon einer Verbannung.« »Was hat er getan?« »Er hat gelebt.« »Das wissen wir. Wie hat er gelebt?« »Nicht den offiziellen Regeln entsprechend. Er betete seinen Gott an, nicht den, den die Kirche vorschrieb, obwohl viele Kirchgänger und auch geistliche Würdenträger damals ein ähnliches Leben geführt haben wie er. Nur machten sie das nicht publik.« »Wer war sein Gott?« fragte Suko. »Ich weiß es nicht.« »Der Teufel?« Claudia Ferrini schwieg. »War es der Teufel?« Suko ließ nicht locker. Sie hob die Schultern. Es wirkte verkrampft. »Ob man ihn Teufel nennt, Satan, großer Meister oder Herr der Finsternis, was spielt das schon für eine Rolle? Ich weiß nur von gewissen Ritualen, die Horatio Ferrini
pflegte. Aber da war er allein. Er hat nie jemand zu sich geholt. Man munkelte und flüsterte, man war sich nicht sicher, aber man ging davon aus, daß er Böses im Schilde führte. Sein Trumpf schließlich war die Totenmaske, das hat er noch zu verstehen gegeben und es dabei auch schriftlich niedergelegt. Er hat diese Maske bereits vor seinem Tod anfertigen lassen, und er hat sie, so spricht man, immer wieder getragen. Er wollte sie weihen, sie sollte von dem Geist durchdrungen werden, den er für seinen Meister gehalten hat. Er wußte, daß sein Körper verging, die Maske aber würde bestehen bleiben, denn sein Geist würde überleben, das hatte man ihm versprochen. Und so ist es wohl auch gekommen.« »Man hat sie aber nicht hier begraben«, sagte ich. »Richtig. Er wollte es nicht. Was sollte eine Maske unter all den Toten? Sie gelangte in den Palazzo, der schon stand, doch die Säule wurde direkt nach seinem Tod errichtet, damit die Maske einen Platz hatte, an dem sie sich wohl fühlte. Und sie hat sich wohl gefühlt, das behaupte ich.« »Sie kam sogar frei.« »Durch Sie, Signor Sinclair.« Ich lachte leise. »Wenn Sie glauben, daß ich mich deswegen schuldig fühle, befinden Sie sich auf dem Holzweg. Sie ist schon vorher freigekommen, sie hatte ihr geheimnisvolles Säulengrab verlassen können, denn Sid Arnos starb, bevor wir in Venedig eintrafen. Jemand muß sie befreit haben, und jemand muß auch den mit Blut geschriebenen Brief aufgesetzt haben.« »Kann sein.« »Sie waren es, Claudia!« Ich hatte ihr die Worte geradewegs ins Gesicht geschleudert und war gespannt auf ihre Reaktion. Sie schwieg zunächst, hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Ihr Kopf war leicht gesenkt, als wäre sie dabei, etwas auf dem Grab zu suchen. Die Frau stand neben mir wie ein Schatten und hielt die Lippen zunächst zusammengepreßt. »Warum stimmen Sie mir nicht zu? Es kann keine andere Person gewesen sein als Sie.« »Stimmt.« »Aha.« Claudia betrachtete den dunklen, auch bedrohlich wirkenden Himmel über dem Friedhof. »Ja, ich habe die Maske befreit. Ich habe auch die Rosen auf das Grab gestellt, denn ich wollte meine Liebe zu Horatio Ferrini dokumentieren. Ich habe ein altes Buch entdeckt, sehr klein, vielleicht von der Größe eines Taschenkalenders. Dort habe ich Formeln und Zaubersprüche gefunden, die zu den verbotenen Schriften des Altertums gehörten. Jemand hatte sie ausgegraben, wieder neu aufgeschrieben und ihren alten Zauber somit erweckt. Ich lernte es, die
Worte korrekt auszusprechen, und es machte mir plötzlich Spaß, mit anderen Kräften zu experimentieren, auch wenn mich jemand davor gewarnt hatte, den ich ins Vertrauen zog.« »Wer war es?« »Lentini, mein Ziehonkel.« »Dann war er wesentlich weitsichtiger als Sie.« Sie lachte in die kühle Luft über den Gräbern hinein. »Das wird sich erst noch herausstellen, Signor Sinclair.« »Glauben Sie denn an einen Sieg des Bösen?« »Das weiß ich nicht, ob man es so nennen kann. Ich hoffe auf einen Sieg der anderen Macht.« »Das ist gleich.« »Für Sie schon.« »Und die Warnung haben Sie auch geschrieben?« wollte Suko von ihr wissen. »Ja, denn alle, die gegen mich waren, sollten wissen, worauf sie sich einließen. Ich habe auch meinen Ziehonkel gewarnt, doch er wollte nicht hören und sich auf meine Seite stellen. Es war sein Pech, die Maske hat ihn besucht.« »Und Sie haben ihn so einfach sterben lassen!« flüsterte ich. »Den Mann, der Ihnen stets geholfen hat. Sie sind ebenso schlimm wie ein Mörder.« »Hören Sie doch mit Ihrer Moralpredigt auf, Sinclair! Ich lebe mein Leben, und ich lebe in zwei verschiedenen Hälften. Ja, ich habe den Palazzo verkauft. Ich brauchte Geld, ich habe es bekommen, die Summe wurde mir überwiesen, aber ich wußte schon vor dem Verkauf, daß dieser Paretti nie in das Haus einziehen würde. Als die beiden Warnungen nichts fruchteten, mußte die Maske zum Radikalmittel greifen. Sie hat dafür gesorgt, daß der Palazzo abbrannte.« »Was in Ihrem Sinne war.« »Genau, Sinclair. Ich fühle wegen der Ereignisse und Vorgänge eine innere Verbundenheit zu meinem Ahnherrn Horatio. Ich habe längst festgestellt, daß die Maske ein Teil von ihm ist. Er und ich, wir beide sind in gewisser Hinsicht eine Symbiose eingegangen. Wir verstehen uns prächtig, ohne daß wir miteinander reden müßten, aber es gibt den Kontakt zwischen der lebenden und der toten Person. Wo ich bin, ist auch die Maske.« Da mochte sie recht haben. Noch leuchteten wir die Grabstätte an, aber ich drehte mich, und der helle Lichtfinger wanderte mit. Auf dem Boden hinterließ er einen Kreis. »Wenn es stimmt, was Sie gesagt haben, müßte die Maske jetzt auch in unserer Nähe sein.« Claudia drehte den Kopf. Dabei sah sie aus, als wollte sie staunen und lachen zugleich. »Haben Sie denn etwas anderes gedacht? Natürlich ist
sie in meiner Nähe, und sie wird immer mächtiger und kraftvoller. Sie holt sich das Leben der Menschen…« »Ihre Gesichter.« »Ja, denn für sie steckt das Leben darin. An die Seelen kommt sie nicht heran, aber die Gesichter sind wichtig. Sie zieht ihnen die Haut ab, sie saugt ihr Blut auf, sie verarbeitet es, denn ihr Blut durchdringt sie und sorgt dafür, daß die Stärke zunimmt. Der in der Maske steckende Geist meines Ahnherrn lebt von den Opfern der Menschen. Horatio Ferrini hatte seine Mitmenschen schon immer gehaßt. Er war nie ein Freund von ihnen, aber das wissen Sie ja.« »Stimmt.« Suko hatte in der letzten Zeit geschwiegen. Er war auch nicht mehr direkt bei uns geblieben und hatte die unmittelbare Umgebung der Grabstätte abgesucht. Jetzt kehrte er zurück und hob die Schultern. »Ich habe nichts gefunden.« Claudia Ferrini lächelte nur. »Glauben Sie denn, daß die Maske es Ihnen so leicht macht?« »Was hat sie denn vor?« »Sie wird zuschlagen, aber Sie werden den Zeitpunkt bestimmt nicht bestimmen.« »Schade«, sagte ich. »Denn ich hätte sie gern gesehen.« »Ihr Problem.« Ich schaute sie an, sagte nichts und handelte. Das Gitter vor mir war nicht sehr hoch. »He, was tun Sie da?« rief die Frau mir nach, als sie sah, wie ich darüber kletterte. »Ich möchte mir das Grab aus der Nähe anschauen.« »Nein, es hat keinen Sinn.« Sie wollte mich zurückhalten, aber Suko stellte sich neben sie und hielt ihren Arm fest. »Lassen Sie meinen Freund das tun, was er für richtig hält.« »Ich glaube nicht, daß es richtig ist.« »Ihre Meinung wird ihn nicht stören.« Das tat sie tatsächlich nicht. Ich hatte das Gitter überwunden und brauchte nur wenige Schritte nach vorn zu gehen, um schon auf dem Grab zu stehen. Der Boden war weich. Er kam mir beinahe vor, als hätte jemand versucht, ihn aufzuwühlen. Niemand hatte das Grab äußerlich gepflegt, bis auf eine Ausnahme. Die frischen Rosen in der Vase, die Claudia dem Toten ständig gebracht hatte. Sie waren es auch, die mich interessierten. Ob sie nun ein Sinnbild waren oder mehr, das mußte ich noch herausfinden, jedenfalls bückte ich mich und sah meine Hand bleich im Strahl der Lampe, die Suko über das Gitter hinweg auf mich gerichtet hielt. Ich zählte die Rosen nach.
Es waren fünf. Ich warf einen Blick auf Claudia Ferrini. Sie stand hinter dem Gitter und glich einer der Figuren, die sich überall auf dem Friedhof verteilten. Aus ihrem Mund drang kein Wort des Protestes. Sie wartete einfach ab. Vielleicht hoffte sie auch auf das Eingreifen der Maske. Zunächst griff ich zu. Die fünf Rosen hob ich zusammen aus der Vase. Ich hatte sie vorsichtig umfaßt, denn ich wollte mich an ihren Domen nicht stechen. »He, was machen Sie da…?« »Das werden Sie gleich sehen, Claudia. Ich bin der Meinung, daß nur Tote mit Blumen geehrt werden, die es auch verdient haben. Ein Horatio Ferrini hat es nicht verdient.« Sie ballte die Hand zur Faust. Plötzlich war sie wütend und zornig. Hielt sich aber zurück, denn Suko stand in ihrer Nähe, und der ließ sie nicht aus den Augen. Mit beiden Händen hielt ich die Stiele der Rosen umfaßt. Aus großen Augen schaute Claudia Ferrini zu, wie ich ihrem Gruß die Stiele knickte. In das Geräusch hinein erreichte mich ein Wehlaut, als wäre ein Tier gequält worden, aber es war Claudia Ferrini, die auf diese Art und Weise jammerte. Auf dem Grab stehend sprach ich die Frau an. »Die Rosen verwelken, sie werden gebrochen, und so wird es auch der Maske ergehen. Sie wird es nicht schaffen, ihren teuflischen Willen durchzusetzen, das kann ich Ihnen versprechen.« Claudia streckte mir die Hand entgegen, als wollte sie mich aufhalten, das aber schaffte sie nicht. Ich zerbrach ihren letzten Gruß und schleuderte die Reste weg. Dann ging ich auf das Gitter zu. Ich stellte mich Claudia direkt gegenüber. Wir schauten uns an. Nur Sukos Lampe leuchtete. Der Strahl fiel an uns vorbei, so daß er uns nur indirekt erreichte. Deshalb lag ihr Gesicht mehr im Schatten. Dennoch sah ich die Wut und den Haß in ihren Zügen. Die Augen zeigten einen verkniffenen Ausdruck, als sie mir zuzischte: »Das haben Sie nicht umsonst getan, verdammt! Nein, das haben Sie nicht umsonst getan. Es wird auf Sie zurückfallen, und es wird Sie und Ihren Freund vernichten. Du Hund, du!« Wütend spie sie aus. Ich hatte gesehen, wie sich ihre Wangen zusammenzogen und mit dieser Aktion gerechnet. Im letzten Moment duckte ich mich, zuckte auch zur Seite, so daß mich die Ladung verfehlte. Für die Frau war es erst der Anfang. Sie handelte sofort und drehte sich mit einer blitzschnellen Bewegung weg. Aus dieser Bewegung hervor startete sie in die Dunkelheit des Friedhofs hinein und war verschwunden, bevor Suko oder ich noch zugreifen konnten.
Sekunden später hörten wir ihre schrille Stimme. Das Echo wurde von den Mauern und den Grabsteinen reflektiert und erreichte uns als schaurige Warnung. »Das ist der Ort, wo Ihr sterben werdet! Hier auf dem Friedhof werdet Ihr Eure Gräber finden. Ja, hier, zwischen den Toten… den Toten… den Toten…«, echote es nach. Suko schaute mich an. »Was tun wir?« »Ich bleibe hier am Grab!« »Okay, dann hole ich die Frau.« »Ja, tu das.« Auch er verschwand, und ich blieb allein zurück… *** Ein paar Sekunden waren verstrichen, und ich stand noch immer an derselben Stelle. Ich dachte darüber nach, was ich tun sollte. Den Platz wechseln und über den Zaun klettern oder einfach auf der Fläche stehenbleiben und warten. Ich wartete, und das hatte seinen Grund. Es konnte Einbildung sein oder auch nicht, aber ich hatte einfach den Eindruck, nicht mehr allein zu sein. Es waren keine anderen Personen in der Umgebung zu sehen, auch Suko und Claudia waren verschwunden. Von beiden hörte ich nichts mehr, aber etwas anderes näherte sich mir. Etwas Fremdes, Unheimliches, etwas nicht Greifbares, das auf leisen Sohlen schlich oder sogar schwebte. Ich merkte, wie der Schauer über meinen Rücken kroch, was nicht am Wind lag. Die Geräusche des Friedhofs nahm ich überdeutlich wahr. Hin und wieder ein leises Knacken, Schaben oder Rascheln. Sicherlich keine halbverwesten Toten, die ihre Gräber verließen, sondern Mäuse und Ratten, die auf diesem Gelände sicherlich eine gute Heimstattgefunden hatten. Warten und lauern… *** Irgendwann würde etwas kommen und über mich herfallen. Etwas, das mich belauerte, und ich dachte natürlich an die Maske, die ja unterwegs sein sollte. Weiter entfernt meldete sich die Lagune. Sie trieb ihr Wasser gegen die Insel, als wollte sie alles hier überschwemmen. Ich stellte mir vor, wie das Wasser auf die Insel drang und hinein in die Gräber sickerte, wo es die Toten oder deren bleiche Gebeine einfach fortriß und hinein in die Adria trieb, wo diese Gestalten plötzlich an die Oberfläche trieben und die Badenden erschreckten.
Unsinn… das würde es nicht geben. Es war kalt. Kein Licht schimmerte auf dem Gelände, denn auch Suko hatte es nicht für nötig gehalten, seine kleine Leuchte einzuschalten. Er suchte im Dunkeln weiter. Ich wollte mich nicht um die Frau kümmern, sondern am Grab bleiben. Unter mir lag der längst vermoderte Leib eines menschlichen Dämonendieners, der es trotzdem geschafft hatte, auf eine gewisse Art und Weise unsterblich zu bleiben. Mit der rechten Hand fuhr ich in die Außentasche der Jacke und holte das Kreuz hervor. Die Berührung mit dem Metall sorgte für eine gewisse Beruhigung, ohne allerdings meine Nervosität gänzlich vertreiben zu können. Sie war da, ich wußte es! Aber wo steckte sie? Es gab zahlreiche Stellen und Orte, wo sie sich in dieser Dunkelheit verbergen konnte. Da waren die dichten Zypressen, da gaben Grabsteine genügend Deckung, aber auch die hohen Kreuze oder Figuren boten einem derartigen Gegenstand Schutz. Einmal schrak ich zusammen, weil ich einen fremden Laut gehört hatte. Eine Stimme. Nicht genau zu unterscheiden, ob Suko oder Claudia etwas gerufen hatte. Der Klang wiederholte sich auch nicht, mich umgab abermals die bedrückende Friedhofsruhe. Bis ich den Luftzug spürte. Genau hinter mir. Ich reagierte, wie jeder es getan hätte. Und das genau war mein großer Fehler. Durch die Drehung hatte ich mein Gesicht freigegeben, in das einen Moment später etwas Weiches klatschte und sich direkt an mir festsaugte. Es war die Maske. Sie hatte mich! *** Und Suko hatte die flüchtende Claudia Ferrini noch nicht gefunden. Sie war verdammt flink gewesen, was allerdings für Suko kein großes Manko bedeutete. Ewas anderes kam hinzu. Claudia kannte sich auf diesem makabren Gelände aus, er nicht. Sie wußte, wo sie sich verbergen konnte. Die Schlupfwinkel waren ihr bekannt, ebenso wie die zahlreichen Orte, wo sie die beste Deckung bekam. Sie war vom Grab fortgelaufen, allerdings nicht in Richtung Ein- oder Ausgang. Als Suko die Umgebung des Grabs verlassen hatte, sah er bald die aus dem Boden hochwachsenden Schatten, die nicht nur aus Engeln oder anderen Heiligenfiguren bestanden. Er geriet in das Gebiet,
wo sich Besserverdienende die entsprechenden Gräber und Grüften angelegt hatten. Nun fand er sich in einer regelrechten Gräberstadt wieder, in einem Dorf der Toten, wo auch die Wege besser gepflegt und mit Kies bestreut waren. Suko blieb stehen. Der Kies hatte ihn auf eine Idee gebracht. Man konnte nicht lautlos über ihn hinwegschreiten, die kleinen Körner knirschten immer, doch in diesem Fall hatte es keinen Sinn. Claudia war ebenfalls schlau genug gewesen, um einen solchen Weg nicht zu begehen. Zumindest hörte er nichts. Wahrscheinlich hielt sie sich in einem dieser Totenhäuser verborgen. Suko ging davon aus, daß die Gittertüren nicht alle abgeschlossen oder verriegelt waren. Er blickte nach links. Der Schatten stand dort wie gemauert. Es war die Seite eines großen Grabes, das beinahe schon einem kleinen Privatmausoleum glich. Er umrundete es so leise wie möglich und gelangte an die Vorderseite. Suko konnte in das Grab hineinschauen, das heißt, er sah durch die Gitter eines schmalen Tores auf zwei große Blumenkübel, die eine Betonplatte schmückten. Sie besaß einen Ring, an der sie in die Höhe gewuchtet werden konnte. Die Toten seilte man dann in ihren Särgen liegend in die Tiefe ab. Claudia war nicht zu sehen. Suko drehte sich um. Er griff nach der Lampe, er wollte Licht haben bei seiner Suche. Vielleicht irritierte sie der Strahl. Einige Schritte entfernte er sich vom Eingang der Grabstätte. Wind streichelte sein Gesicht und brachte einen fauligen Geruch mit, der aus Richtung Venedig kam und mehr nach Kloake roch. Suko leuchtete nach vorn. Ein schmaler Weg führte zu der nächsten hohen Grabstätte. Auch sie wollte Suko untersuchen, blieb auf dem Weg und sah nicht, wie sich hinter ihm eine Gestalt bewegte. Sie hatte im Dunkeln der Grabwand gelauert, hielt einen länglichen Gegenstand in der rechten Hand, den sie jetzt anhob. Sie wartete noch eine Sekunde. Dann schlug sie zu! *** Claudia Ferrini wußte, daß die beiden Männer so leicht nicht aufgeben würden. Zwar war ihr zunächst einmal die Flucht gelungen, aber diese Hyänen würden wie Leim auf ihren Fersen bleiben, und sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Es war gut, daß sie das Areal kannte. So wußte sie auch, wo bestimmte Gegenstände lagen, die sie als Waffe benutzen konnte. Nicht alle Besucher nahmen ihre Werkzeuge mit, die sie zur Grabpflege benutzten.
Es lagen kleine Schaufeln und Hacken oft genug verborgen hinter den Grabsteinen. Sie stolperte, als sie ein bestimmtes Grab erreichte. Zwar fiel sie nicht lang hin, aber ihre Hände drückten schon in die weiche Erde hinein, als wollten sie den darin liegenden Toten wieder an die Oberfläche zurückholen. Sie zog die Hände wieder hervor, atmete für einen Moment tief ein und kroch auf den Grabstein zu. Sie wußte, daß dort die Werkzeuge lagen. Ohne ihr Feuerzeug einzuschalten, faßte sie hin und hatte schon beim ersten Versuch Glück, als sie den Griff einer dreizinkigen kleinen Hacke umfaßte, deren Metall nur an den Spitzen blank schimmerte, ansonsten aber verrostet war. »So«, flüsterte sie keuchend, »so…« Sie kroch vom Grab und richtete sich wieder auf. Kam er? Claudia Ferrini hielt den Atem an. Nichts sollte sie bei ihrem Lauschversuch ablenken. Zuerst hörte sie nichts, dann aber die typischen Geräusche, die von vorsichtig gesetzten Schritten verursacht wurden. Da versuchte jemand, so leise wie möglich zu gehen. Claudia konnte auch feststellen, in welche Richtung er sich bewegte. Wenn er weiterging, würde er das kleine Gräberdorf erreichen. Sie lächelte. Glanz trat in ihre Augen, denn sie wußte sehr genau, daß sie sich dort gut auskannte. Oft genug war sie schon dort gewesen. Noch einmal atmete sie durch, dann lief sie über einige andere Gräber hinweg und näherte sich den starren Schatten und Mauern des Totendorfes, um das sich die Finsternis schmiegte. Er würde kommen, und sie würde hier auf ihn warten. Claudia mußte sich noch gedulden, um herauszufinden, wo er ungefähr hergehen würde. Es dauerte nicht mal eine halbe Minute, da nickte sie, und ihre Augen verengten sich dabei. »Du wirst dich wundern«, hauchte sie, »du wirst dich wundern, du verfluchter Schnüffler.« Sie wußte nicht, wer die Verfolgung aufgenommen hatte, rechnete aber vom Gefühl her mit dem Chinesen. An eine Grabwand gelehnt wartete sie. Sekunde für Sekunde verstrich. Ihr wurde kalt, aber innerlich tobte sie. Die kleine Gartenhacke hielt sie in der rechten Hand. Die Tritte wurden lauter. Dann verstummten sie in ihrer Nähe. Noch mußte sie warten. Was tat er? Zunächst nichts. Er würde durch das schmale Gittertor in das Grab schauen, das war alles. Nein, er ging weiter. Und er hatte dabei seine kleine Leuchte eingeschaltet. Sie lächelte, hob den rechten Arm, sah, wie der Strahl über den Weg, aber auch an ihr vorbeiglitt. Ihm folgte der Mann, und es war tatsächlich
der Chinese, hinter dessen Rücken sich die Frau aufrichtete, den Arm hob, einen leisen Schrei der Erlösung ausstieß und dann zuschlug. Die kleine Hacke raste wie eine Kralle auf den Nacken des Mannes zu… Die Maske hatte mich unter Kontrolle! Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte. Sie war außen hart, aber innen weich, und diese weiche Masse traf mein Gesicht und biß sich fest wie Schlamm. Durch den plötzlichen und harten Anprall war ich zurückgestoßen worden, taumelte und stolperte über einen aus dem Boden ragenden Gegenstand. Ich landete auf dem Hinterteil und wenig später auf dem Rücken. Zum Glück war der Untergrund weich, sicherlich lag ich auf dem Grab des Horatio Ferrini, und seine Totenmaske hielt mein Gesicht umfangen. Wenn es nicht so ernst und lebensgefährlich gewesen wäre, ich hätte sicherlich gelacht. Nun mußte ich erleben, daß dieses Ding auf meinem Gesicht mehr als nur eine simple Maske war, denn es barg eine Botschaft, die es auch verteilte und die so stark war, daß sie zunächst meine Widerstandskräfte erlahmen ließ. Etwas drang in mein Gehirn ein. Gedanken – Gedanken eines Toten. Einer Gestalt, die längst zu Staub zerfallen war und unter der Erde lag. Ein böser Geist hatte die Maske für sich eingenommen, er leitete und führte sie, denn sie steckte unter seiner Kontrolle. Ich kämpfte gegen ihn. Ich sah ihn nicht, und ich sah ihn trotzdem. Es war sicherlich keine Einbildung, die Bilder vor meinen Augen zu sehen. Gesichter reihten sich zusammen, als würde in der Maske ein Film ablaufen. Ich sah das Gesicht des toten Sid Arnos, die der beiden Wassertaxifahrer und auch andere, die aber weiter entfernt und weniger deutlich. Wahrscheinlich waren es frühere Opfer der Maske. Flüsterten Stimmen durch mein Gehirn? Erreichten sie meine Ohren? Ich wußte es nicht. Aber ich sah noch ein Gesicht. Eine glatte Fratze, deren hohe Stirn mir sofort auffiel. Die Haare dahinter waren zurückgekämmt, sie schimmerten wie altes Silber. Ich sah auch zwei grausame Augen in diesem Gesicht, eine scharfe Nase und einen böse verzogenen Mund. Das mußte das Gesicht des Horatio Ferrini sein, hinter dem sich plötzlich ein weiteres aufbaute. Eine dreieckige Fratze mit zwei Hörnern auf der Stirn. Feueraugen rotierten in den Höhlen, und ich wußte, wer sich dahinter abzeichnete. Es war der Teufel, Asmodis, mein Todfeind. Er, der in zahlreichen Gestalten auftreten konnte und auch auftrat, zeigte sich gerne so, wie
ihn die Menschen des Mittelalters und auch später gern sahen. Es machte ihm einfach Spaß, wobei mich der Anblick nicht so sehr erschreckte. Ich erschrak eher, wenn ich darüber nachdachte, was hinter ihm steckte, welche Boshaftigkeit, welcher Terror und welche Menschenverachtung. Asmodis grinste, Ferrini ebenfalls. Beide waren eins. Sie hörten aufeinander, sie hatten einen Pakt über den Tod hinaus geschlossen, und Mittler dieses Pakts war die verfluchte Totenmaske. Ich wußte nicht, ob sie noch eine Rose zwischen den Lippen trug und wunderte mich selbst über diesen Gedanken, der allerdings abgehakt wurde, als die Maske damit begann, ihre furchtbare Kraft auszuspielen. Zuerst roch ich das alte Blut, das in ihrem Innern steckte. Es stank, von einer modrigen Süße begleitet. Einfach widerlich und ekelhaft. Zugleich aber begann das Zerren und Reißen an meiner Gesichtshaut, denn deshalb war sie erschienen. Sie wollte mein Gesicht! *** Manchmal geht es wirklich um Bruchteile von Sekunden. Da entscheidet es sich, ob sich das Blatt zur einen oder zur anderen Seite wendet. So war es auch bei Suko. Er war ein Mann mit blendenden Reflexen. Er roch eine Gefahr, er nahm sie auf, und er schaffte es oft genug, daraufhin genau richtig zu reagieren. Auch hier war er gewarnt worden. Nicht durch einen fremden Helfer, sondern durch Claudia Ferrini selbst, die sich so stark innerlich und äußerlich darauf eingestellt hatte, Suko zu vernichten, daß sie während des Schlags ihre angestaute Spannung als Atemzug freie Bahn ließ. Dieser warme Luftzug hatte Suko getroffen. Aus der Bewegung hervor wuchtete er sich nach vorn. Die drei Zinken der kleinen Hacke rasten nach unten, sie erwischten Suko auch, aber nicht seinen Nacken, wo sie sich tief in Fleisch, Sehnen und Muskeln gepflügt hätten, sondern den hochgestellten und auch sehr dicken Kragen der Lederjacke. Die Zinken griffen zu, und der Schwung schleuderte Suko nach vorn, dem Boden entgegen. Er riß aber zugleich der Frau den Griff aus der Hand, so daß sie plötzlich waffenlos dastand. Für einen Moment war sie irritiert. Sie schaute vor sich zu Boden, wo sich Suko bewegte. Er hatte genau richtig gehandelt und den Aufprall in eine Rolle vorwärts verwandelt. Noch einmal rollte er sich um die eigene Schulter und kam mit einem Sprung wieder auf die Beine, jetzt so gedreht, daß er Claudia anschauen konnte.
Die kleine Leuchte hatte er verloren. Sie lag flach auf dem Boden und strahlte in eine andere Richtung. Suko hob seinen rechten Arm. Die Hand glitt über die Schulter hinweg, dorthin, wo noch die drei Zinken der kleinen Hacke im Leder steckten. Er zog das Werkzeug hervor und hielt es Claudia hin. »Damit wollten Sie mich töten?« Sie sagte nichts. Suko schleuderte das Ding weg. Irgendwo in der Dunkelheit klirrte es gegen einen Grabstein. Dann bückte er sich, hob die Lampe auf und leuchtete Claudia an. Sie zwinkerte, weil der Strahl sie getroffen hatte, aber sie hielt die Lippen zusammengepreßt, und die Blässe in ihrem Gesicht lag nicht allein am Schein der Leuchte. Claudia Ferrini war intelligent genug, um zu wissen, daß sie verloren hatte. Aber sie wollte es nicht zugeben, denn sie sprach Suko mit tonlos klingender Stimme an. »Es war bestimmt nicht schwer, mich außer Gefecht zu setzen, trotzdem hast du nicht gewonnen. Du nicht und auch dein Freund nicht, denn die Maske ist unbesiegbar. Sie ist stärker als der Mensch, viel stärker. In ihr stecken die Kräfte der Hölle, und welcher Mensch kann ihnen schon etwas entgegensetzen?« »Vielleicht wir?« Ihr schrilles Lachen klang unecht und bewies Unsicherheit. »Nein, so gut seid ihr nicht.« »Wir werden uns gleich davon überzeugen können. Dreh dich um und geh!« »Wohin?« »Zum Grab deines geliebten Ahnherrn. Du wolltest doch sehen, was die Maske getan hat. Ich will es auch sehen. Jetzt dreh dich um und denke immer daran, wer hinter dir ist.« »Ja, ich weiß es. Hinter mir ist jemand, dem ich die Pest und die Hölle an den Hals wünsche.« »Gibt es da einen Unterschied?« Sie schwieg und folgte Sukos Befehl… *** Es hatte niemand ein Gefäß mit Säure über meinem Gesicht ausgekippt, es kam mir aber trotzdem so vor, denn das Brennen von der Stirn bis zum Halsansatz war einfach furchtbar. Zum erstenmal erlebte auch ich, welche Qualen die anderen Menschen durchgemacht hatten, bevor sie starben. Ja, die anderen, die war ich nicht. Sie hatten vor allen Dingen keine Waffen besessen, mit denen sie sich wehren konnten. Ich aber war mit dem Kreuz ausgerüstet, das in meiner rechten Außentasche steckte. Ich drehte mich auf dem Boden nach links, schob die Hand in
die Tasche, was alles sehr schnell ging und auch schnell gehen mußte, weil das Brennen in meinem Gesicht an Stärke zunahm und ich zugleich den Eindruck hatte, sogar blind zu werden. Ich zerrte das Kreuz hervor. Die Hände konnte ich beide bewegen. Während ich mich auf der weichen Graberde wieder zurück auf den Rücken rollte, hob ich den rechten Arm an und schlug damit einen Bogen, um das Kreuz auf die Außenhaut der Maske zu pressen. Es hatte noch nie einen direkten Kontakt zwischen den beiden Gegenständen gegeben, aber ich vertraute auf die Stärke meines Kreuzes auch deshalb, weil Asmodis davor eine immense Todesfurcht hatte. Ich hörte den hellen Klang, als das Metall gegen die Maske kratzte. Die äußere Reaktion bekam ich nicht mit, aber ich sah, was innen geschah. Die Fratze des Teufels verzog sich. Sie lief plötzlich auseinander, als bestünde sie aus dickem Schleim. Horatio Ferrinis Gesicht strahlte ein unbeschreibliches Grauen ab, wie man es nur von einer Person kannte, die die nackte Todesfurcht erlebte. Augen zuckten und waberten in den Höhlen, bevor sie zerliefen wie zähflüssige Tränen. Später erwischte mich noch einmal der Schmerz, meine Gesichtshaut zog sich zusammen, dann hörte ich ein schmatzendes Geräusch, als sich die Maske von meinem Gesicht löste wie ein Saugnapf. Ich lag auf dem Rücken stierte in die Dunkelheit und entdeckte dicht vor mir die Umrisse des Kreuzes. Ich kriegte auch wieder Luft, und sie strömte herrlich kühl in meine Lungen. Noch lag ich auf dem Rücken, was sich sehr bald änderte, denn schwungvoll geriet ich in eine sitzende Haltung und suchte sofort nach der Maske. Oder war sie zerstört? Nein, sie war es nicht. Sie lag auch nicht am Boden, sie flog oder taumelte durch die Luft, denn die Bewegungen, die sie bei ihrer Flucht beschrieb, waren nicht normal. Sie glichen denen eines torkelnden und angeschossenen Vogels, der es nicht mehr schaffte, sich in die Luft zu schwingen. Einem alten Lappen gleich taumelte sie in meiner Nähe umher, mal nach vorn, dann wieder zur Seite, auch wieder zurück, und schließlich klatschte sie jenseits des Gitters gegen einen breiten Grabstein, wo sie klebenblieb. Ich nutzte das Gitter als Hilfe, umklammerte die Stäbe und stemmte mich so in die Höhe. Die Maske war sehr gut zu sehen, denn Suko und Claudia waren erschienen. Mein Freund hielt die Frau mit der rechten Hand fest. Die linke hatte er so gedreht, daß der Strahl der Lampe gegen den Grabstein fiel und die Maske aus ihrem dunklen Hintergrund hervorriß. Ein altes Stück Leder, ein brüchiger Handschuh, wie auch immer man sie bezeichnen sollte, von ihrer äußeren Festigkeit war nicht mehr viel
zurückgeblieben. Es gab keine Rose mehr in dem Maul, auch kein starres Gesicht mehr mit schwarzen Augenhöhlen, es war nur mehr eine zuckende und allmählich breiig werdende Masse vorhanden, die wie dunkler Sirup am Gestein nach unten rann und auf der Erde eine Lache hinterließ. Die Maske war tot, vernichtet, erledigt, die Kraft des Kreuzes war letztendlich wieder mal stärker gewesen als die Macht des Teufels. Und darüber freute ich mich. Nicht aber Claudia Ferrini! Sie hatte hinschauen müssen. Es war für sie wie ein Zwang gewesen, und sie brüllte schrecklich auf, daß selbst Suko und ich eine Gänsehaut bekamen. Dann knickten ihr die Beine weg, sie rutschte aus Sukos Griff hervor und brach zusammen. *** Claudia Ferrini war ohnmächtig geworden. Während Suko den schlaffen Körper auf seine Arme hievte, schaute ich mir die Reste der Maske an, die auf einem Grab lagen, wo sie eigentlich auch hingehörten. Das, was von ihr übriggeblieben war, sah aus wie verbrannte Blumen. Es sonderte noch einen ekligen Geruch ab. Es stank nach Blut und verkohlter Haut. Ich hoffte nur, daß die Opfer der Maske Ruhe hatten und ihre Geister, Seelen oder wie auch immer sich nicht in den Klauen einer teuflischen Macht befanden. Mochte der Friedhof hier auf der Insel auch für viele Touristen interessant sein, für uns war er es nicht mehr. Wir sahen zu, daß wir ihn so rasch wie möglich verließen. Das Boot dümpelte auf dem Wasser. Ich schaute nach Süden. Dort schimmerten die Lichter der Lagunenstadt wie eine Sternenwolke inmitten der Dunkelheit des Alls. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich daran dachte, daß ich die Schönheiten Venedigs mal als Tourist erleben wollte. Bisher war ich nur in die Stadt gekommen, um zu arbeiten. Ich hatte das Boot losgetaucht. Die Ferrini war aus ihrer Ohnmacht noch nicht erwacht. Später, als wir Venedig ansteuerten, fragte Suko: »Was machen wir mit Claudia?« Ich hob die Schultern. »Was schon? Nichts. Wir werden mit Fungi sprechen, dem Pizza-Kommissar, und ihm wohl einiges erklären müssen. Ob er uns glaubt, ist seine Sache. Er kann sich mit der Signora hier beschäftigen. Jedenfalls hat sie zu hoch gepokert.« »Und verloren«, sagte Suko. Dem brauchte ich nichts mehr hinzuzufügen… ENDE