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Max Kruse
Lisa und Jenny Abenteuer in Venedig
Illustriert von Bärbel Skarabela
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einhe...
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Max Kruse
Lisa und Jenny Abenteuer in Venedig
Illustriert von Bärbel Skarabela
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Kruse, Max: Lisa und Jenny / Max Kruse. - München : F. Schneider. Bd. 3. Abenteuer in Venedig. - 1996 ISBN 3-505-10275-X
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Dieses Buch wurde auf chlorfreies, umweltfreundlich hergestelltes Papier gedruckt.
© 1996 by Franz Schneider Verlag GmbH Schleißheimer Str. 267, 80809 München Erstmals erschienen 1980 unter dem Titel: Die Schloßkinder und ihre Abenteuer in Venedig Alle Rechte vorbehalten Titelbild und Illustrationen: Bärbel Skarabela Umschlaggestaltung: Claudia Wolfrath Herstellung: Gabi Lamprecht Satz: Ludwig Auer GmbH, Donauwörth, 12' Optima roman Druck: Presse-Druck, Augsburg Bindung: Conzella Urban Meister, München-Dornach ISBN: 3-505-10275-X
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Inhalt 5 8 12 18 24 27 32 40 44 48 53 56 60 65
Die Einladung Die Ankunft Bilder und Besucher Viele Verdächtige Ärger, Pläne und Probleme Ein Fotograf und eine Begegnung Eine wilde Verfolgungsjagd Zweifel und neue Ziele Der Herr mit dem grauen Bart Folco, der Gondoliere LaSorella Mario Frans van der Gracht Tante Eulalia
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Die Einladung „Geh weg - du störst!" plärrte Kröte, der Papagei. Und damit traf er den Nagel fast genau auf den Kopf. Ja, besser konnte es gar nicht passen!" rief Jenny. Sie wirbelte durch die Halle von Schloß Rumpelseck. Ihre strohblonden Haare leuchteten, denn die Sonne schickte schräge, helle Strahlen durch die Fenster. „Tja, irgendwie...", murmelte der Vater, Hans von Stolz, meist Papshänschen oder auch Hans Ohnestolz genannt. Lisa, die mit ihren zwölf Jahren schon recht vernünftig war, sah ihre um zwei Jahre jüngere Schwester nachdenklich an. „Ich wundere mich immer wieder, wie verrückt sich manche Leute aufführen! Was paßt denn so fabelhaft?" Sie wickelte sich ihr kastanienbraunes Haar um den Zeigefinger. „Na, daß diese herrliche Einladung von Tante Eulalia gerade jetzt kommt, ich meine jetzt, Anfang September, wo wir in Bayern noch zehn Tage Ferien haben, ich meine jetzt, wo all unsere Gäste schon abgereist sind; ich meine jetzt, wo wir auch keinen geheimnisvollen Jungen mehr in unserer Rumpelkammer beherbergen..." „Weiß man's?" fragte Lisa. „Ich meine jetzt", fuhr Jenny unbeirrt fort, „wo die Ernte eingebracht ist und Papshänschen gerade mal wieder ein bißchen flüssiger ist..." 5
„In dieser Beziehung wäre ich nicht so optimistisch...", meinte Hans von Stolz, denn Geld sorgen hatte er eigentlich immer. Das alte Schloß verschluckte einfach viel zuviel, es glich einem Faß ohne Boden. Er betrachtete den abgetretenen Teppich wie ein Buch, in dem er die Antwort auf alle Fragen lesen konnte. Und dann sagte er die wunderbaren Worte: „Aber gerade deshalb! Wir fahren nach Venedig. Es geht nämlich wirklich. Wir wohnen im Palazzo von Tante Eulalia. Da brauchen wir nicht viel Geld. Eben die Fahrkosten, vor allem. Marco Polo und Knörzchen werden bestimmt einige Tage mit dem Hof und dem Haus allein fertig..." Als ob sie gelauscht hätte, rief Konstanze, genannt Knörzchen, die treue Seele, laut aus der Küche: „Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich freue, wenn hier mal Ruhe herrscht und ich gründlich saubermachen kann!" „Sind Sie so sicher, daß hier Ruhe herrschen wird?" fragte Hans von Stolz. „In letzter Zeit hat dieses alte Schloß Unruhe und Aufregungen doch geradezu magisch angezogen." „Es fragt sich, ob es nicht eher die Mädchen sind, von denen die Aufregungen magisch angezogen werden", antwortete Konstanze. Seit Lisas und Jennys Mutter gestorben war, betreute sie die Schwestern, als wären es ihre eigenen Töchter. Und so kannte sie die beiden auch wie eigene Kinder. „Sie meinen, es wird uns in Venedig bestimmt nicht langweilig werden?" fragte Hans von Stolz. Konstanze antwortete lachend: „Bestimmt nicht!" „Das kann ja heiter werden!" brummte der Vater. „Aber bange machen gilt nicht. Also, ich gehe jetzt in den Hof. Ich habe mit Marco Polo noch einiges zu besprechen. Hoffentlich ist der ,Unver wüstliche' in Ordnung, dann können wir morgen früh losdonnern." Marco Polo war Vaters rechte Hand, seine zuverlässige Hilfe bei der Landwirtschaft. Er sorgte auch für das alte Auto, den „Unverwüstlichen". Eigentlich hieß er Norbert Schulz, aber niemand nannte ihn so, denn seine Leidenschaft waren Entdeckungsreisen, waren Bücher über fremde ferne Länder. Als der Vater die Halle verlassen hatte, stürmten die Mädchen die breite Treppe hinauf in ihre Zimmer. „Sag mir bloß, was du mitnimmst", japste Jenny. 6
„Jede Menge Jeans, Pullis und T-Shirts. Und die Knipskiste natürlich." „Mensch! Willst etwa auch du in Venedig rumfotografieren? Das tut doch jeder. Da gibt's doch schon Millionen Fotos von ..." „Aber nicht von mir!" „Na, meinetwegen. Du, sag mal, kannst du mir was von Tante Eulalia erzählen?" Jenny kniete vor der aufgezogenen Kommodenschublade und unterzog ihre hineingeknüllten Socken, Hemde n und Höschen einer kritischen Prüfung. „Viel weiß ich auch nicht", antwortete Lisa nachdenklich. „Es wurde ja nie von ihr geredet. Irgend wie ist sie weit entfernt mit Mama verwandt gewesen - also auch noch viel weiter entfernt mit uns, oder wir mit ihr, und eigentlich gar nicht mit Paps. Sie ist keine richtige Tante. Deshalb haben wir uns wohl auch aus den Augen verloren. Nur manchmal kam eine Postkarte. Jedenfalls gehört ihr ein Palazzo, aber in Venedig nennt man alle größeren Häuser so, es ist ein kleiner, am Canal Grande. Er heißt Palazzo Leone. Sie hat jede Menge Bilder gesammelt, ihr ganzes Leben lang. Sie war mit vielen Malern befreundet und hat da nun so eine Galerie moderner Gemälde. Also, sie stellt die Bilder aus, und jeder kann sie ansehen, wenn er Eintritt bezahlt..." „Puh, Bilder? Klingt nicht sehr aufregend. Für gemalte Bilder interessiere ich mich womöglich noch weniger als für deine Fotos." „Beides kann ja noch kommen! Übrigens ist Tante Eulalia wohl schon ziemlich alt, richte dich danach, alte Leute lieben Lärm und Trubel nun einmal nicht. Du wirst dich also anständig benehmen müssen." „Auch das noch!" Jenny stöhnte erschrocken. „Na, aber Venedig ist groß, und Tante Eulalia kann ja nicht überall sein. Wir machen aus ihr einfach eine entfernte Verwandte: eine, die weit weg ist! Wetten, daß ich mich nicht langweilen werde!"
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Die Ankunft Von Bergedorf m Bayern über die Brennerautobahn braucht selbst ein so ehrwürdiges Auto wie der „Unverwüstliche" nicht viel mehr als einen halben Tag. Als der Vater mit seinen Töchtern über den Damm, der die Lagunenstadt mit dem Festland verbindet, nach Venedig hinüberfuhr, stand die Sonne in ihrem Rücken. Leuchtend reckte sich der Campanile, der weltberühmte Glockenturm, über das Dächergewirr in den seidenb lauen Himmel. Das hätte Lisa am liebsten gleich fotografiert. Aber der Vater konnte unmöglich anhalten, in diesem wilden Verkehr. Er war heilfroh, daß er den klapprigen Wagen sicher in das Parkhaus brachte und dort noch einen Abstellplatz bekam. Dann rief er gleich Tante Eulalia an, um ihr die Ankunft zu melden. „Ich schicke euch Cesare entgegen, Pontile Accademia - ,Pontile', so heißen die Anlegestellen hier, nach den kleinen Brückchen davor. Dort müßt ihr aussteigen", erklärte Tante Eulalia. „Cesare? Wer ist Cesare, wie erkennen wir ihn?" Aber die Tante hatte schon aufgelegt. Da war Papshänschen dann wieder froh, als sie endlich mit all ihrem Gepäck auf das richtige Motorboot gestiegen waren. Denn in Venedig fährt man in Motorbooten - genannt Vaporetti -statt in Straßenbahnen. Autostraßen gibt es hier nicht, dafür Kanäle. Und der schönste ist der Canal Grande - diese unvergleichliche Wasserstraße. 8
Die tuckerten sie nun hinunter. Rechts und links glitten die prächtigen Paläste vorbei: die Paläste mit den gotischen Spitzbogenfenstern, mit den Säulen, mit den breiten Treppenstufen, auf denen das Wasser schmatzte. Die Paläste mit den bunten Holzstangen zum Festmachen der Boote mit den großen Leuchtern aus Muranoglas und so vielen Kaminen auf den Dächern. Boote fuhren hin und her. Lastkähne mit Gemüse und anderen Waren, Linienboote - die großen Vaporetti, die an jeder Haltestelle anlegen, und die schlanken Diretti, die Schnellboote. Schwarze Gondeln mit Gondolieri schaukelten auf den Wellen. In den Po lstern lehnten meistens zwei Menschen - ein Hochzeitspaar vielleicht, Brautleute oder Verliebte - ganz selten auch mal ein einzelner Herr. Aber auch größere Gondeln mit Gruppen von Touristen fuhren vorbei. Der Vater stand vor den Mädchen am Geländer und schaute hinüber auf die Paläste, auf den Canal, auf das bunte Bild der Boote. Jenny stieß Lisa verstohlen mit dem Ellenbogen an. „Guck mal, Papshänschen hat seinen traurigen Blick!" „Klar", die Antwort kam ebenso leise. „Er denkt sicher an seine Hochzeitsreise mit Mama. Damals waren sie auch in Venedig. Und nun ist er wieder hier - allein, ohne sie. Da wäre ich auch traurig." Jenny nickte. Sie spürte einen Kloß im Hals. Aber die Traurigkeit hielt nicht lange an, es gab zu viel zu sehen. Ihr Vaporetto war überfüllt, an jeder Haltestelle, an jedem Pontile drängten andere Fahrgäste hinein. Einheimische und zahl lose Touristen mit Fotoapparaten und Videokameras. Und ab und zu war ein Carabiniere zu sehen, ein Polizist in dunkler, schmucker Uniform. „Die lächeln nie", sagte Jenny und strahlte einen Carabiniere auffällig an. Aber er schien sie nicht zu bemerken. Das war wohl unter seiner Würde. „Für den bist du noch zu klein", meinte Lisa lachend. Sie fuhren unter der Rialtobrücke, der berühmten Brücke der Lagunenstadt, hindurch. Und bald darauf zeigte ihnen der Vater das Haus der Tante, den Palazzo Leone, auch Villa Leone genannt. Das war ein langgestreckter Bau, der nur ein Stock werk hatte, aber auch einen Hof hinter reich verzierten Gittern, durch die sie grüne Büsc he und blühende Blumen entdeckten. Davor führte eine Marmortreppe zum Canal Grande 9
hinab - aber der Vaporetto legte hier nicht an, er fuhr am Palazzo vorbei bis unter die große Holzbrücke, bis zum Pontile „Accademia". Diese Haltestelle heißt so nach der Städtischen Gemäldegalerie, in der Hunderte von Bildern der größten venezianischen Maler aus vergangenen Jahrhunderten hängen. Auf dem Pontile schaute ein etwa dreizehn jähriger Junge nach ihnen aus. Er trug schwarze Jeans, ein buntes Hemd und hatte kohlschwa rzes gelocktes Haar. Er sprang auf sie zu und griff nach ihren Koffern. „Willkommen!" rief er. „Ich bin Cesare!" „Nanu, wieso sprichst du denn Deutsch?" wunderte sich Jenny. „Das erkläre ich dir später. Kommt! Die Signora wartet!" „Die Signora? Wer ist denn das?" Dio mio! Mein Gott! So nennen wir sie, die Signora Huggenstein... „Tante Eulalia?" Es war wirklich gut, daß die Tante ihnen Cesare entgegengeschickt hatte. Sie hätten sich sonst kaum zurechtgefunden. Es ging über schmale Gassen am Wasser entlang, über eine Fußgängerbrücke, unter der sich Himmel und Häuser in einem braunen Nebenkanal spiegelten. Durch eine enge Gasse, um Winkel und Ecken. Endlich standen sie mit ihren Koffern vor der Eingangspforte des Palazzo. Auf dem schweren Eisentor hing eine Tafel: Galleria dell'Arte Moderna Eulalia Huggenstein Ore 8-12, 16-18 Chiuso Domenica Ingresso Lire 5000 „Und das heißt", erklärte Cesare, „Galerie Moderner Kunst, geöffnet von 8 bis 12 und von 16 bis 18 Uhr. Sonntags geschlossen. Eintritt fünftausend Lire." „Fünftausend Lire?" Jenny riß erstaunt die Augen auf. „Ja, kommt denn da überhaupt jemand?" „Gar so viel ist das nicht", sagte Papshänschen. „Ungefähr fünf Mark. Wer sich für moderne Bilder interessiert, der zahlt das auch. Tante Eulalias Kunstsammlung ist in ihrer Art einzigartig. Es ist eine der berühmtesten 10
Privatsammlungen der Welt." „Und mein Großvater ist hier Custode, Wärter, Pförtner und Kassierer, alles in einem. Und schon sehr, sehr lange. Er heißt Borgo, Borgo Castone. Und ich Cesare Castone", erklärte der Junge stolz. Er öffnete die Tür. Von den nahen Kirchen schlug es drei Uhr. Jetzt kamen noch keine Besucher. Sie traten in den Hof mit den grünen Rasenflächen und Büschen. Nun sahen sie durch das schmiedeeiserne Gitter dahinter die Boote auf dem Canal Grande. Das Wasser flimmerte. Nach rechts führten Steinplatten zu einem niedrigen grauen Bau, das war die Kunstgalerie mit der einliegenden Pförtnerwohnung. Nach links ging es zu einem ähnlichen Gebäude mit schwerer Eichentür und gewölbten Fenstern - Eulalia Hug gensteins Wohnhaus. In der Mitte des Hofes saß ein dicker, bronzener Reiter mit einem käferkleinen Kopf auf einem dicken Pferd aus Bronze mit einem käferkleinen Kopf. Der Reiter breitete seine Arme so weit aus, als ob er alle Leute umarmen wollte. „Es geht schon los mit der modernen Kunst", rief Jenny, „au warte..." Lisa zückte ihren Fotoapparat. Aber sie kam nicht zum Knipsen. Die Eichentür ging knarrend auf. Auf der Schwelle erschien eine aufrechte, weißhaarige Dame in einem schwarzen Kleid, auf dem eine dicke Perlenkette baumelte. „Da seid ihr also", sagte sie mit einer scharfen, vogelähnlichen Stimme. „Kommt herein!" Das war die Begrüßung.
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Bilder und Besucher In Tante Eulalias Wohnung fanden die Mädchen alles super, die schweren, braunen Möbel, die Teppiche, die Leuchter und die alten Bilder. Ja, hier hingen nur alte Gemälde, deren Firnis nachgedunkelt war. Die modernen Bilder zeigte Tante Eulalia drüben in der Galerie - „für Geld", wie sie erklärte. „Denn der Mensch muß auch leben." Rasch hatten sich die Mädchen in ihrem Zimmerchen eingerichtet, die Koffer ausgepackt. Das Fenster ging zu einem winzigen Seitenkanal, es kam nicht viel Licht herein. Die Wände der gegenüberliegenden Häuser waren abgeblättert, wie verschimmelt, und vom Wasser stieg ein fauliger Geruch auf. Daran mußte man sich wohl erst gewöhnen. Der Vater wohnte in dem Zimmer nebenan. Bald traf man sich im Salon. Tante Eulalia hatte Gebäck besorgen lassen, eine Italienerin führte ihr den Haushalt, eine rundliche, freundliche Frau. Sie hieß Felicia und verstand ein wenig Deutsch. „Sollen sich wohl fühlen", rief sie und lachte. Die Mädchen waren zunächst etwas scheu, schließlich waren sie zum erstenmal bei der alten Dame. Tante Eulalia schien eine strenge Frau zu sein - sie hatte e in ausdrucksvolles Gesicht mit vielen Falten. Trotzdem - sie mußte früher sehr schön gewesen sein, noch jetzt wirkte sie beeindruckend 12
mit ihren grauen, scharfen Augen unter den weißen, sorgfältig gekämmten Haaren. Papshänschen unterhielt sich höflich mit ihr, während er Kaffee trank. Er erzählte von ihrem Leben auf Schloß Rumpelseck - Tante Eulalia kannte das Schloß von früher. Als Mama noch lebte, war sie manchmal dort gewesen. Sie hörte schweigend zu. Nur einmal sagte sie: „Nun, es war wohl höchste Zeit für unser Wiedersehen. Jeder lebt so allein vor sich hin, das ist nicht gut." Der Vater nickte. Cesare war übrigens gleich verschwunden, zu seinem Großvater. Die Galerie öffnete nun wieder. Es schlug vier Uhr. Und durch die Fenster konnte man die Besu cher durch den Hof gehen und drüben im flachen Bau verschwinden sehen. Dort verkaufte der alte Borgo Castone die Eintrittskarten - ein kleiner, behender Mann - sie sollten ihn bald kennenlernen. Eben trat er mit einem schlanken Besucher aus der Galerie an die Eingangstür, beide redeten heftig aufeinander ein - aber Borgo Castone gestikulierte am lebhaftesten. Er sah fast aus wie eine Marionettenfigur, die an Drähten hängt und deren ganzer Körper von den Füßen bis in die Fingerspitzen, ja, bis zum Kopf in zappeln de Bewegung gerät. Er hinkte ein wenig. Der junge Mann wirkte ruhiger - aber auch sehr energisch, vielleicht sogar wütend. Er hatte strohblonde Haare, die ihm bis auf den Kragen des hellblauen Hemdes herab hingen, er trug eine ausgebeulte Leinenhose und offene Sandalen. Er war sicher kein Italiener, vielleicht Skandina vier oder Engländer. Anscheinend hatte ihn ein venezianischer Junge hierhergeführt, ein besonders zierlicher kleiner Kerl, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, mit dunklen Locken und schwarzen Augen. Der Junge stand zuerst draußen - aber dann nutzte er die lebhafte Unterhaltung und schlüpfte unbemerkt von den redenden Männern in die Galerie. Jenny beobachtete alles gespannt. Sie zwinkerte Lisa vergnügt zu. Die rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Nun fragte sie: „Ich wollte vorhin schon ein paar Fotos machen. Darf ich raus, solange das Licht noch so gut ist?" 13
Tante Eulalia nickte abwesend. Ihre Aufmerksamkeit war draußen, bei der Gruppe. „Sicher einer, der nicht bezahlen wollte", murmelte sie. „Das kommt schon mal vor." Lisa sauste davon. Tante Eulalia schickte Felicia hinaus. „Schau mal, was da los ist, ich mag keinen Krach, das macht einen schlechten Eindruck..." Felicia sprach mit Borgo, Borgo nickte, er rief: „Cesare!" Der kam aus der Pförtnerwohnung und übernahm für den Großvater die Kasse. Da die Tür offenstand, war der Tisch mit den zum Verkauf ausgelegten Postkarten gut zu sehen. Eben lief auch Lisa hinein, sie hatte ihren Fotoapparat in der Hand. Sie brauchte nicht zu zahlen. Und dann kamen andere Besucher: ein älterer Herr, eine junge, sehr hübsche Frau in einem goldgelben Rock, einem roten Blazer und einer großen Strohtasche, ein Mann mit einer runden Nickelbrille - Cesare hatte zu tun. Der gelockte Junge war nicht zu sehen. Und doch lag etwas Knisterndes in der Luft, Jenny hätte nicht ausdrücken können, was es war - sie spürte es nur. Der alte Pförtner näherte sich jetzt dem Wohngebäude. Der junge Mann mit den blonden Haaren war hartnäckig, wie besessen von einer Idee. Die Tante schüttelte verwundert den Kopf, sie wollte nicht, daß die beiden in ihr Wohnzimmer kamen, sie erhob sich, rauschte im schwarzen Seidenkleid zur Tür. Borgo redete italienisch auf sie ein, die Tante antwortete ebenso. Der junge Mann fragte in etwas fremdartigem, aber gut verständlichem Deutsch: „Aber warum nicht? Erlauben Sie es mir doch, es ist doch allgemein üblich..." „Aber nicht bei mir!" „Es passiert dem Bild doch nichts!" „Nein! Das ist mein letztes Wort! Bitte, verlassen Sie meine Galerie!" Das war nun wohl sehr hart, vielleicht sogar ungerecht, der junge Mann zog die Augenbrauen zusammen. Er tat Jenny leid, er war ihr sympathisch, und sie war gleich auf seiner Seite. Nun mußte er aber gehen, er sah ein, daß er nichts erreichen konnte, er schüttelte traurig den Kopf und ließ die Schultern hängen. Er drehte sich um und schlenderte mißmutig über die Steinplatten, seine Sandalen klapperten. Der dicke Reiter auf dem dicken Pferd breitete auch ihm die Arme 14
entgegen, aber er war ja nur aus Bronze, und so hatte es nichts zu bedeuten. Borgo hinkte in die Galerie zurück. Sofort erschallte von drinnen ein neuer Wortwechsel, und ganz komisch war es nun, daß Lisa herausrannte, gerade so, als ob Borgo sie fortgejagt hätte. Aber das konnte wohl nicht sein, sie versteckte sich im Hof hinter einem Oleanderbusch, hinter einem großen, runden, und hob den Apparat schußbereit vors Auge. Da erschien schon der schwarzlockige Junge in der Tür, er lachte, sicher galt das temperament volle Donnerwetter ihm. Klick machte Lisas Verschluß, der Junge drehte den Kopf zurück in den Raum und deutete mit gespreizten Fingern eine lange Nase an. „Bäh!" Cesare, noch immer an der Kasse, lachte. Als die Tante wieder am Kaffeetisch saß, wirkte sie verärgert. Felicia schloß die Tür. „Was wollte der Junge denn?" fragte Jenny. Ob das vorlaut war? Papshänschen warf ihr einen tadelnden Blick zu. „Ach", sagte Tante Eulalia wegwerfend, „er wollte ein Bild kopieren, nur ein kleines Gemälde, aber ein sehr berühmtes, von Max Schnee, es ist wirklich ganz einzigartig..." „Und warum hast du es ihm nicht erlaubt? Das habe ich schon mal in einer Ausstellung gesehen. Man tut das doch, um zu lernen." „Ach, denk mal an! Das wußte ich wirklich nicht!" Tante Eulalia sagte es spöttisch. „Ja, aber dies hier ist keine staatliche Galerie mit Bildern alter Meister. Ihre Gemälde genießen keinen Urheberschutz mehr, sie sind frei sozusagen. Drüben, in der Venezianischen Galerie, in der Accademia, da kann jeder kopieren! Übrigens braucht man auch dazu eine Erlaubnis. Aber meine Galerie ist mein Eigentum. Ich habe nur Bilder moderner Maler. Sie sind noch geschützt. Außerdem ist meine Galerie ja auch sehr klein. Eine Staffelei würde die anderen Besucher behin dern. Schließlich will ich auch nicht, daß das Bild von Max Sch nee nachgemalt wird, man erlebt da die schlimmsten Dinge - wenn die Kopie gut ist, versucht man vielleicht, sie als Original zu verkaufen. Das würde mir sehr schaden." „Aber eine Kopie ist doch wohl immer als Kopie zu erkennen?" fragte der Vater nun interessiert. „Von einem Fachmann wohl. Du hast recht. Aber es gibt nicht nur Kenner 15
- und da ist noch etwas: Ich habe gerade dieses Bild eben erst an die Londoner Tate-Galerie verkauft. Für sehr viel Geld. Der Betrag kann schon heute oder morgen auf meiner Bank eintreffen. Dann muß ich das Bild weggeben. Es weiß noch niemand. Ihr seid die ersten. Es ist mir sehr schwergefallen, mich davon zu trennen, es ist ein Liebling von mir. Aber die Unkosten... die Steuern... die Versicherun gen... die Einnahmen aus dem Verkauf der Eintrittskarten reichen eben nicht aus..." „Ich verstehe", murmelte Papshänschen. Er hatte ja ähnliche Sorgen mit Schloß Rumpelseck. „Das Bild gehört also gar nicht mehr mir", beendete Tante Eulalia die Unterhaltung. „Ich habe schon deshalb keine Berechtigung mehr, es noch einmal kopieren zu lassen, mag die Kopie nun gut oder schlecht ausfallen, man könnte das falsch verstehen." „Aber gerade deshalb hättest du doch vielleicht eine Ausnahme machen können", rief Jenny. „Es kommt doch auch auf die ande ren Menschen an, ich meine, diesem netten jungen Maler hättest du bestimmt geholfen. Und wenn das Bild sowieso nicht mehr dir gehört, kann es dir doch egal sein!" „Du bist recht vorlaut", antwortete Tante Eulalia. Dann schaute sie Papshänschen scharf an: „ Hast du nie daran gedacht, noch einmal zu heiraten! Es scheint doch nicht gut zu sein, daß deine Töchter ohne mütterliche Führung aufwachsen. Väter sind nun mal allzu nachgiebig. Und für dich, mein Freund, wäre es auch besser." Papshänschen lief rot an. Er mochte solche Ratschläge nicht. Glücklicherweise hob Tante Eulalia die Tafel auf. Das Bild und der junge Maler waren bald vergessen. Und nur eine halbe Stunde später war der Vater mit seinen Töchtern auf dem Markusplatz. Cesare brachte sie hin. Da flatter ten die Taubenschwärme um den Campanile und um den Dogenpalast. Da klang die Orchestermusik aus den offenen Cafes. Als sie an einem Tisch Platz genommen hatten, erzählte Lisa, wie sie den Jungen fotografieren wollte, vor den modernen Gemälden. „Aber der wollte nicht. No, no, schrie er und hätte mir beinahe die Kamera weggerissen. Na, da wurde Cesares Großvater auf ihn aufmerksam und fragte nach seiner Eintrittskarte, glaube ich. Ist ja auch komisch, so ein Junge in so einer Galerie - na, und ich sauste raus, weil ich ihn wenigstens 16
draußen erwischen wollte..." „Seit wann fotografierst du fremde Jungen?" fragte Jenny schnippisch. „Ph!" machte Lisa. Cesare schlug vor, ihnen in den nächsten Tagen Murano zu zeigen, die Insel der Glasbläser. Paps-hänschen hielt das für eine prima Idee. Dann erzählte Cesare, daß er lange bei seinem Vater in Deutschland gelebt hatte, der dort arbeitete. „Aber ich habe Heimweh nach Italien gehabt, und nun bin ich eben beim Großvater." „Aha, daher sprichst du so gut Deutsch!" „Wollt ihr vielleicht Italienisch lernen?" „In zehn Tagen?" „Irgendwann muß man anfangen." Als die Mädchen nachts in ihren Betten lagen, hörten sie das Rufen der Gondolieri und die Serenaden für die Touristen auf dem Canal Grande; das Geräusch der Motorboote und das Glucksen des Wassers durch das offene Fenster. Sie hörten so viele fremde, aufregende Geräusche. „Ich freue mich auf den Ausflug nach Murano. Da gibt es bestimmt tolle Motive", flüsterte Lisa, bevor sie einschlief. Aber am nächsten Morgen war die Welt ganz verändert. Am nächsten Morgen fehlte das Bild von Max Schnee. An seinem Platz in der Galerie war ein deutliches, ausgeblichenes Viereck zu sehen.
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Viele Verdächtige Dabei hatte der Tag so fröhlich begonnen. Gut ausgeschlafen traf man sich am Frühstückstisch. Auch Tante Eulalia schien den Ärger vom Vortag vergessen zu haben. Sie lächelte den Mädchen sogar zu und sagte „Meine lieben Kleinen" zu ihnen. Dann platzte die Bombe. Gerade, als Jenny in das frische Weißbrot mit der knusprigen Kruste biß, klopfte der Custode, der alte Borgo Castone und hinkte aufgeregt herein. Hinter ihm, in der offenen Tür, erschien Cesare. Auch er hatte einen hochroten Kopf. Der alte Mann war so verstört, daß er kaum ein Wort herausbrachte. Er zitterte am ganzen Körper. „II quadro! II quadro!" stotterte er, seine Augen waren hilfesuchend aufgerissen. Cesare - wesentlich beherzter - half ihm auf deutsch. „Das Bild ist weg, das Bild von Max Schnee - Signora, haben Sie es vielleicht abgehängt?" Tante Eulalias Kaffeelöffel fiel klirrend herab, sie schoß empor und flog fast hinaus - wie davon-geweht. Alle liefen ihr nach. Lange standen sie sprachlos vor dem weißen Fleck. Danach wurde die Tante energisch. Sie ließ die Galerie auf der Stelle schließen. 18
Dann rief sie die Polizei an. Nach quälend langer Zeit erschien ein Polizeiinspektor. Umständlich ließ er sich alles erklären. Wer hatte das Fehlen des Bildes zuerst bemerkt? „Ich." Borgo Castone holte zu einer längeren Rede mit vielen Gebärden aus. Aber sie wurde ihm kurzerhand abgeschnitten. „Wann?" „Heute morgen. Ich wollte gerade..." „Basta! Genug. Heute morgen. Und sind Sie sicher, daß das Bild gestern abend noch an seinem Platz hing?" Borgo Castone holte verblüfft Luft. Ja... nein ..." Ja oder nein?" „Ich glaube, ja! Es hat ja auch kein Besucher irgendeine Bemerkung gemacht. Ich meine, es müßte doch aufgefallen sein!" „Wieso? Es hängen doch viele Bilder hier. In jedem Museum wird mal das eine oder das andere abgehängt, zur Wiederherstellung oder als Leihgabe für eine andere Galerie. Da denken sich die Leute doch nicht gleich etwas dabei!" Tante Eulalia funkelte den Inspektor zornig an. „Sie vergessen, daß dieses Gemälde in seiner Art einzigartig ist. Viele Leute kommen deswegen her. Es hat eine ganz neue Mischtechnik, wie sie es vorher nie gegeben hat..." „Haben Sie irgendeine Abbildung oder Fotografie?" „Eine Postkarte. Wir verkaufen sehr viele davon. Cesare, bitte..." Cesare holte eine Postkarte von der Kasse. Der Polizist betrachtete sie schweigend. Tante Eulalia sagte: „Auf dem Druck kann man es natürlich kaum sehen. Das Besondere ist die Leuchtkraft der verschiedenen Farbtöne." „Si si, das sehe ich!" sagte der Inspektor unge duldig. „Ich nehme die Postkarte zu den Akten. Am besten geben Sie mir noch mehr, das erleichtert die Arbeit. Aber sagen Sie, wurden die Bilder denn gestern abend nicht kontrolliert?" Borgo Castone lief rot an. „Ich habe die Kasse abgerechnet und das Tor geschlossen", stotterte er. „Ich habe - wie jeden Abend - noch einen Blick in die Räume geworfen und nachgesehen, ob niemand mehr drin ist..." „Aber Sie wissen nicht ganz genau, ob das Bild noch an seinem Platz hing?" „Ich meine, es hätte mir auffallen müssen, wenn es da schon gefehlt 19
hätte..." „Ich meine, ich meine... Wissen Sie denn wenigstens, wann das Bild bestimmt noch da war?" „Ja klar! Als der junge Maler es kopieren wollte. Gestern nachmittag gegen halb fünf." „Also", rief der Inspektor. „So war das Bild gestern nachmittag jedenfalls noch da. Von da an ist alles unklar. Sie haben die Galerie um 18 Uh r geschlossen. Also könnten es - theoretisch - alle Besucher gestohlen haben, die zwischen 16 Uhr 30 und 18 Uhr noch hier waren." „Ich dachte, es wäre heute nacht gestohlen worden", murmelte der unglückliche Castone. Er fühlte sich in die Enge getrieben. „Und wieso dachten Sie das?" „Ich... ich weiß nicht. Ich bin auf gar keinen anderen Gedanken gekommen..." „Überlassen Sie es ruhig mir, auf Gedanken zu kommen. Wenn das Bild heute nacht gestohlen worden wäre, müßte der Dieb irgendwie von außen in die Galerie gelangt sein. Stand die Tür vielleicht offen?" „Nein, nein, natürlich nicht." Der Inspektor begann eine genaue Untersu chung aller Räume. Alle Fenster zur Straße und zum Canal Grande waren vergittert. Das Tor, das vom Hof zur Gasse führte, war mit eine m Sicherheitsschloß und einer Kette verriegelt gewesen. Beide waren unbeschädigt. Die Hofmauer selbst war oben mit Stacheldraht gesichert, der zusätz lich mit einer Alarmanlage verbunden war. Wer den Draht durchschneiden wollte, der löste auch den Alarm aus. Die Tür vom Hof in die Galerieräume war aus Stahl und ebenfalls mit einem Sicherheitsschloß versehen. Auch hier waren keine Spuren von Gewalt zu erkennen. Die Tür kam also auch nicht in Frage, falls sie abgeschlossen worden war. Und das war schwer zu beweisen. Dann befand sich unterhalb der Ausstellungsräume ein winziger Keller mit einer Abstellkammer. Die hatte praktisch keinen Zugang nach außen, keine Fenster, keine Tür, nur einen engen Luftkanal oben an der Außenwand. Hier standen ein paar Kisten, auch Rahmen und Bilder. Der Inspektor versuchte, den Oberkörper durch den Luftschacht zu stecken. Aber er blieb schon mit den Schultern stecken. Danach schritt er in den Hof 20
und betrachtete das reich verzierte, schmiedeeiserne Gitter, hinter dem die flimmernden Spiegelungen des Canal Grande blitzten. Das Wasser spielte um die mit Algen bewachsenen Treppenstufen. „Solange ich hier lebe", sagte Tante Eulalia, „wurde das alte Gittertor zum Canal nie geöffnet." „Es bleibt nur eine Möglichkeit", meinte der Inspektor. „Ein Besucher ist gestern abend in den Kellerraum geschlüpft, hat dort die Nacht verbracht und ist heute morgen unbemerkt mit dem Bild verschwunden. Vielleicht hat er sich hinter der Tür versteckt, als Signor Castone sie aufschloß. Allerdings frage ich m ich, wozu er dann erst die ganze Nacht hier verbringen mußte, denn das konnte er vielleicht genausogut gestern abend tun!" Danach ließ er sich die Besucher des gestrigen Nachmittags beschreiben. Das war recht schwierig, denn Borgo pflegte sich die vielen Leute ja nicht zu merken, täglich kamen andere, Dio mio! Also, da war ein Mann mit einer silbernen Brille gewesen, jawohl, der hatte Postkarten gekauft, dann erinnerte er sich an einen älteren, gutangezogenen Herrn mit einem Spitzbart. Ja, an den Spitzbart konnte sich Borgo ganz genau erinnern. Na ja, und der freche, kleine Junge, und dann der blonde Maler, wahrscheinlich hatte der das Bild mitgenommen... „Ich denke, das Bild war noch da, nachdem er weggegangen war?" fragte der Inspektor scharf und blickte Borgo durchdringend an. Der alte Mann rang gleich wieder nach Luft. Ja, da war das Bild allerdings noch dagewesen, aber immerhin - der junge Maler hatte doch ein Motiv! Von diesem Motiv hielt der Inspektor nicht viel. Bei einem wertvollen Bild hatte jeder ein Motiv, etwa um es für sehr viel Geld unter der Hand zu verkaufen, was allerdings nicht einfach war. Immerhin, ganze Banden lebten davon, und sogar im Palast von Urbino war ein Tizian gestohlen worden, der eigentlich unverkäuflich war - so berühmt und bekannt war dieses Bild. Also - es konnte auch sein, jemand nahm es nur mit, um es heimlich in seinem Keller betrachten zu können, solche verrückten Kunstliebhaber gab es auch. Er schrieb sich immer wieder auf, was er über die Besucher des gestrigen Tages erfuhr, und Jenny half ihm eifrig mit ihrer Beobachtung von der hübschen jungen Frau mit dem gelben Rock und 21
der großen Strohtasche. „Die war ja hervorragend dazu geeignet, so ein Bild zu verbergen! So was hätte doch wohl am Eingang abgegeben werden müssen?" meinte der Inspektor, und Borgo trat der Schweiß auf die Stirn. Danach wurde der Reihe nach jeder befragt, was er am Abend zuvor so gemacht hätte, auch Lisa, Jenny und Papshänschen. Der Inspektor wollte auch wissen, wie lange Felicia schon bei der Tante angestellt sei..., und ob das Bild versichert wäre, und ob die Tante Geldschwierigkeiten habe... „Aber erlauben Sie", rief Tante Eulalia scharf, „Sie wollen doch wohl nicht mich selbst... und meine Gäste... und Felicia verdächtigen!" „Ich meine nur, daß der Dieb am ehesten aus dem Hof in die Galerie kommen konnte. Die Eingangspforte von der Gasse könnte er nur zu einer Zeit passiert haben, als sie noch nicht verschlos sen und gesichert war. Es war also jemand, der aus dem Hof kam, also auch aus den gegenüberliegenden Wohnräumen." „Wie sollte der aber in die Galerie gelangen?" „Das weiß ich nicht. Entweder war die Tür zur Galerie über Nacht doch nicht abgeschlossen, oder er ist zu einer Zeit hineingekommen, als sie noch offen war." „Ja, und wie brachte er dann das Gemälde weg, ich meine, aus dem Palazzo in die Stadt?" fragte Lisa. „Auch das weiß ich nicht. Noch nicht. Vielleicht befindet sich das Bild ja noch irgendwo hier in den Gebäuden?" Da blickten sich alle an und fühlten sich unbehaglich. „Herr Inspektor", fragte Tante Eulalia spitz, „gibt es irgendeinen unter uns, den Sie nicht verdächtigen?" „Signora", antwortete er mit Würde, „von Verdacht ist gar keine Rede. Es ist nur meine Pflicht, alle Möglichkeiten zu bedenken. Gerade das Unwahrscheinlichste ist manchmal des Rätsels Lösung." „Nun, wenn wir alle verdächtig sind, weshalb durchsuchen Sie dann nicht unser Haus?" „Ihr Haus ist sehr groß, und das Bild ist klein. Ich würde nur meine Zeit verlieren. Und außerdem von heute morgen bis jetzt hatte jeder Gelegenheit, das Bild fortzuschaffen." „Ich denke, Sie vermuten das Bild noch im Haus?" „Ich vermute gar nichts, ich überlege nur alles und jedes." 22
„Überlegen? Aber was wollen Sie denn tun?" fragte Tante Eulalia. „Weiter nachdenken", sagte der Beamte. Er klappte sein Notizbuch zu und verabschiedete sich. „Übrigens sollten Sie die Galerie wieder öffnen. Und beobachten Sie jeden Besucher. Das könnte vielleicht weiterhelfen. Buon giorno!" Erging. „Das ist aber eine sehr unangenehme Situation!" murmelte Papshänschen. „Du sagst es." Tante Eulalias Stimme klang belegt, sie mußte sich räuspern. „Am unangenehmsten sicherlich für mich." „Na, ich weiß nicht", brummte der Vater. „Seit gestern sind wir erst hier, und schon fehlt so ein kostbares Bild..." „Du solltest nicht sol chen Unsinn reden", antwortete sie. „Ich denke nichts dergleichen. Ihr müßtet ja Idioten sein - oder wolltet ihr euch vielleicht nur einen Scherz mit mir machen, weil ich euch erzählt habe, ich hätte das Bild verkauft?" Sie sah Lisa und Jenny an, als wollt e sie sie durchleuchten. „Dann aber mal gleich heraus mit der Sprache..." „Kinder...", flüsterte der Vater. Er wurde richtig rot, weil er sich schämte wegen so eines Gedan kens. „Ihr habt euch vielleicht nichts Schlimmes dabei gedacht!" Da verschlug es Lisa und Jenny die Sprache. Das meinte Papshänschen doch nicht im Ernst! Sie schüttelten nur stumm die Köpfe. Die Tante blickte sie immer noch an. „Gut! Dann wollen wir auch nicht mehr davon sprechen. Es könnte ja sein, daß der Max Schnee plötzlich wieder hier hängt! Deshalb werde ich die Galerie jetzt wieder öffnen. Cesare, schließ auf! Und laß nicht den Kopf hängen, Borgo. Irgendwann taucht das Bild mit Sicherheit wieder auf. Hoffentlich erlebe ich das noch!"
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Ärger, Pläne und Probleme Papshänschen verließ an diesem Vormittag alle, die Tante, die Villa Leone, die Galerie, seine Kinder. Er wollte allein sein. All der Ärger hatte sich ihm auf den Magen geschlagen. Er stieg auf einen Vaporetto und fuhr hinaus in die Lagune, aufs Meer, in die Sonne, ins Licht. Cesare hatte das Eingangstor wieder geöffnet. Die ersten Besucher waren bereits in der Galerie. Borgo Castone saß hinter dem Kassentisch. Mit zitternden Händen ordnete er die Kunstpostkarten, seine Augenlider zuckten nervös, und von Zeit zu Zeit quälte ihn ein Schluckauf. Immer wieder warf er den Mädchen verstohlene Blicke zu ... Die Tante ging schweigend ins Wohngebäude, der Briefträger war gekommen. Er händigte Felicia vor der geschnitzten Tür die Post aus. Es war nun sehr still in der Galerie. Die Mädchen wußten nicht recht, was sie anfangen sollten. Sie waren verwirrt. Unsicher gingen sie durch die Räume und schauten sich die Bilder an. Einige dieser Gemälde waren sehr sonderbar. Hier, sah man nur Linien und geometrische Formen, dort nichts als Farbflecke, dann wieder stilisierte Pflanzen oder Wälder aus kahlen Baumstämmen, hinter denen ein fahler Mond stand. Plötzlich erschien Cesares Wuschelkopf vor dem Fenster. Er winkte 24
ihnen, verstohlen legte er den Finger auf die Lippen. „Kommt in den Hof!" Die Mädchen gingen auf Zehenspitzen. Glück licherweise kam gerade eine rundliche Engländerin, Borgo mußte kassieren ... Cesare zog Lisa und Jenny hinter den Oleanderbusch. Das war ein gutes Versteck. Er sprach leise und schnell auf die Mädchen ein. Er war aufgeregt und mischte viele italienische Worte in seine Rede. Er war richtig wütend und fest entschlossen, auch nicht den kleinsten Verdacht auf dem Großvater sitzen zu lassen, Dio mio! Auf sich selbst natürlich auch nicht und nicht auf den Schwestern, no, no, niema ls! Dieser blöde Inspektor sollte ihn kennenlernen, ja, wirklich ... „Und was willst du tun?" fragte Lisa. Jenny rieb sich die Nase. Ihre Haarwurzeln kribbelten. „Nachdenken!" erklärte Cesare. „Aber besser als der Inspektor. Und dann selbst etwas unternehmen. Rauskriegen, wer das Bild mitgenommen hat." „Schön war's ja", seufzte Lisa. Und Jenny meinte: „Leichter gesagt als getan!" „Also, wer kommt denn in Frage", fuhr Cesare eifrig fort. „Klar, daß es keiner von uns gewesen ist, für mich ist das klar. Es wa r ein Besucher! Nachts kam da keiner rein, impossibile, unmöglich! Also, an wen erinnert ihr euch?" „Na, an alle, die wir dem Polizei Inspektor genannt haben ..." „Richtig! Also, da wäre der Mann mit der runden Nickelbrille..." „Hm..." „Dann der alte Herr mit dem grauen Bart. Ich habe zufällig gesehen, daß er sich mit einer Gondel herrudern ließ. Und das ist selten hier, irgendwie auffällig. Die junge Frau mit der großen Tasche. Auch auffällig, diese Tasche. So geeignet, um etwas zu verstecken. Da war der blasse Maler, und da war der Junge ..." „Das sind ja schon eine ganze Menge", stellte Lisa fest. „Wir müssen sie suchen", rief Cesare. „Alle! Vielleicht sind sie noch in Venedig. Man trifft sich hier oft - auf dem Markusplatz, auf der Piazzetta, auf der Rialtobrücke oder in der Merceria - so heißt die Promenade von der Rialtobrücke zum Markusplatz. Wir sind einfach überall!" „Du liebe Güte!" entfuhr es Lisa. „Mächtig spannend!" Jennys Augen leuchteten. „Da lernen wir Venedig 25
bestimmt besser kennen als jeder Tourist. Aber was machen wir denn dann, wenn wir einen von diesen Leuten gefunden haben? Wir können doch nicht einfach hingehen und sagen: Guten Tag, haben Sie vielleicht das Bild gestohlen?" „Völlig klar!" Lisa nickte. „Erst wollen wir sie finden und dann rauskriegen, wo sie wohnen. Alles andere kommt später." „Wir können sie ja dann der Polizei melden." „Ach, den Polizei Inspektor kann ich nicht leiden", meinte Cesare. „Übrigens, da fällt mir etwas ein! Dieser Junge! Du hast ihn doch fotografiert, Lisa?" „Ja, aber der Film ist noch nicht abgeknipst!" „Das macht nichts. Wir brauchen das Foto, und zwar schnell! Hoffentlich finden wir einen Laden, wo sie den Film rasch entwickeln und vergrößern." Lisa rannte in ihr Zimmer. Die Tante blickte nicht auf, sie saß in einem Lehnstuhl und starrte auf einen Bankauszug. Ihre Hand zitterte. Auch ihre schmalen Lippen bebten und beweg ten sich, als ob sie zu jemandem spräche. Aber es waren lautlose Worte. Tante Eulalia kämpfte mit sich, sie hatte große Probleme. Eben hatte ihr die Bank eine stattliche Summe gutgeschrieben. Sie hatte nun keine Schulden mehr. Sie hätte für lange Zeit sorglos leben können. Und das Geld war aus London gekommen, für das Bild von Max Schnee. Es war ein schwerer Entschluß für Tante Eulalia gewesen , sich von diesem Meisterstück zu trennen, zumal es auch eine Erinnerung an den Maler war, den sie einmal geliebt hatte. Aber sie hatte sich dazu durchgerungen, es zu verkaufen. In London hätte es einen würdigen Platz gefunden. Sie hatte es aus Vernunft verkauft - und nun hatte sie nichts mehr - nicht das Bild, und nicht das Geld. Denn das Geld mußte sie in diesem Fall wieder zurückschicken.
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Ein Fotograf und eine Begegnung Sie liefen von einem Fotogeschäft zum anderen. In den großen Geschäften der Merceria und in der Umgebung des Markusplatzes hätte das Entwickeln des Films immer ein paar Tage gedauert, weil die Filme erst abends in ein Labor gebracht wurden. „No, no, grazie!" rief Cesare jedesmal, und dann sausten sie wieder davon. Die Sonne brannte auf die engen Gassen, die voller Menschen waren. Es war heiß, und die Mädchen hätten gern ein Eis gegessen. Aber Cesare drängte weiter! Er führte sie von dem Touristenstrom weg. Bald wurden die Gassen enger, verwinkelter und st iller. Sie sausten über Katzenbuckel -Brücken, treppauf und treppab, über Kanäle und Kanälchen. Wäsche flatterte über den Wasserstraßen, Kater saßen in den Hauseingängen. Aus kleinen Geschäften roch es nach Käse, Wurst und Gemüse. Endlich fand Cesare einen dunklen, kleinen Laden, eingeklemmt zwischen einem Metzger und einem Bäcker, direkt an einer kleinen Brücke, an einem schmalen Kanal. Der Fotograf, Signor Amoroso, trug ein Käppchen auf dem kahlen Schädel. Er war alt und schlurfte ihnen gebeugt 27
entgegen, aber er entwickelte alle Filme noch selbst, verächtlich sprach er von den neuen Labors und ihrer Massenfertigung. „Si, si, ja, bis morgen um neun!" „Und je eine Vergrößerung, bitte!" „Von allen Aufnahmen?" „Nein", erklärte Lisa, „es sind ja erst sieben Bilder belichtet." Das war Verschwendung, Signor Amoroso war entsetzt. Aber es mußte nun einmal sein, bitte im Format Weltpostkarte. Nur - hatten sie soviel Taschengeld? Cesare versprach, für die Entwicklungskosten aufzukommen. Als sie wieder draußen standen, sagte er lachend: „Und jetzt habt ihr euch auch das Eis verdient!" „Toll!" riefen die Schwestern. Es war Nachmittag geworden. Der Schatten des Campanile fiel schräg auf den Dogenpalast. Die Sonne hing glutrot über den rotbraunen Dächern, und die beiden Mohren auf dem Glockenturm schlugen mit ihren Eisenhämmern fünfmal gegen die große Glocke. Als die Kinder aus dem Dämmer des Durchgangs traten, pfiff Cesare plötzlich leise durch die Zähne. „Ist was?" fragte Jenny. „Da steht euer Vater! Direkt an der Fahnenstange vor dem Markusdom!" „Wo der wohl den ganzen Tag gesteckt hat?" „Ist jetzt unwichtig. Viel wichtiger ist, was er nun machen wird - ich meine, ob er mitspielt..." „Mitspielt?" „Na, guckt mal da rüber, rechts, direkt bei den Stühlen am Cafe - nein da, außen, neben den beiden Japanern mit den Kameras..." „Mensch, ich glaube..." „Klar..." „Ja, das ist sie! Das ist das hübsche Mädchen, das gestern in der Galerie war. Mit genau derselben großen Strohtasche, mit dem gleichen goldgelben Rock, mit dem roten Blazer..." „Du hast sie dir ja genau angesehen!" „Die würde ich auch erkennen, wenn sie anders angezogen wäre. Aber das ist jetzt leider egal, peccato! Ja, leider..." Cesare atmete tief ein und 28
schlug die Augen zum Himmel empor. Da flatterten Hunder te von Tauben. „Hört gut zu!" Er redete temperamentvoll auf die Schwestern ein ... Ein bißchen später sprachen sie mit ihrem Vater, unter der hohen, roten Fahnenstange. Der Vater schüttelte energisch den Kopf. Aber immer wieder blickte er zu der hübschen Frau hinüber. Lange hatte diese die Mosaiken der Markuskir che betrachtet, mit leicht zurückgelegtem Kopf, wobei ihr die blonden Haare voll über die Schul tern fielen. Langsam begann sie weiterzugehen. „Rasch! Sag ja! Sie läuft uns davon!" drängte Jenny. „Du sollst sie ja nur kennenlernen, Paps!" meinte Lisa begütigend. „Aber ich kann sie doch unmöglich ansprechen!" „Das mache ich schon für dich!" rief Jenny eifrig. „Ich kann sie noch viel weniger nach dem Bild fragen..." „Aber irgendwie, so nebenbei... vielleicht... und wo sie wohnt!" rief Lisa. „Ach, Kinderei! Nein, nein, ich weiß nicht..." „So übel ist sie doch wirklich nicht!" Der Vater mußte lachen. „Das nicht gerade. Na, meinetwegen versucht mal euer Glück! Aber ich verspreche nichts. Niemand eignet sich weniger zum Detektiv als ich!" Jenny sauste geradewegs zu der jungen Frau. Schüchtern war sie ja noch nie gewesen. „Tag!" sagte sie einfach. Sie wunderte sich selbst, wie glatt es ihr über die Lippen ging. „Tag! Na, gucken Sie sich Venedig an?" Die junge Frau stutzte - was für große graue Augen sie hatte! Sie war noch hübscher, als Jenny sie in Erinnerung hatte. „Nanu", sagte sie freundlich, mit einer dunklen Stimme. „Kennst du mich denn?" Sie antwortete deutsch, aber es klang so, wie Dänen, Norweger oder Schweden sprechen. Und sie lächelte. Das machte es Jenny leichter. „Klar!" Sie wollte sagen: Sie waren doch gestern in der Galerie meiner Tante! Aber das verschluckte sie lieber. Sie geriet ins Stottern. „Ja... ich... ich... ich hab Sie schon mal irgendwo gesehen." Sie strahlte die hübsche Blondine an. „Sie... Sie sehen wirklich Klasse aus!" „Danke! Du bist ja auch nett. Und was machst du hier?" „Oooch, ich bin mit meiner Schwester und mei nem Vater für ein paar 29
Tage hier...", antwortete Jenny. „Wissen Sie, wir wohnen alle in Schloß Rumpelseck in Großflitzenbach, na, das werden Sie nicht kennen, das liegt in Bayern ..." Und während sie so lossprudelte und ganz glücklich war, daß ihr etwas einfiel, mochte es nun passen oder nicht, fiel ihr noch etwas Besseres ein. Sie faßte einfach die linke Hand der jun gen Frau und zog sie mit sich fort, bis sie vor dem Vater und Lisa standen. Jetzt wurde die Situation aber schwierig, denn Papshänschen schaute die junge Dame hilflos an -so ähnlich wie ein Hund, der gleich davonlaufen will. Jenny dachte, jetzt nur nicht aufgeben und rief schnell: „Paps, das ist Frau... Frau... Fräulein... Sie ist auch in Venedig..., so wie wir!" Etwas Blöderes, dachte sie, konnte ich auch nicht quatschen. „In der Tat!" sagte der Vater. „Mein Name ist Hans von Stolz. Und das sind meine Töchter, Lisa und Jenny..." Die junge Frau lachte. Sie reichte Papshänschen die Hand. „Ich heiße Alma Thorensen, aus Kopenhagen!" „Was für ein Glück, daß Sie Deutsch sprechen, ich spreche nämlich kein Dänisch", rief Papshänschen. „Darf ich Sie zu einem Tee oder zu einem Kaffee einladen?" „Ich wollte eigentlich in die Markuskirche." „Das wollte ich auch! Dann gehen wir zusammen, ja? Hier..." Er kramte einen Zehntausend-Lire-Schein aus der Tasche und reichte ihn seinen Töchtern. „In die Kirche geht ihr ja doch nicht gern - kauft euch ein Eis!" Er nickte und ging mit Alma Thorensen auf das Portal zu. Ganz selbstverständlich, er guckte sich nicht einmal mehr um, als ob seine Töchter Luft wären. Verblüfft blieben die Mädchen zurück. „Was sagst du dazu?" fragte Jenny. „Unser Herr Vater!" „Man lernt nie aus!" antwortete Lisa. Cesare tippte ihr von hinten auf die Schulter: „Na das scheint ja zu klappen!" meinte er trocken. „Es fragt sich nur - was? Hoffentlich haben wir da kein en Fehler gemacht!" „Abwarten und Eis essen!" rief Jenny. „Komm mit, Cesare, Papa hat sich von uns losgekauft. Wir können dich jetzt einladen." 30
„Da vorn ist eine prima Eisdiele." Cesare führte die Schwestern zum Molo, wo die schwarzen Gondeln auf den Welle n schaukelten. Eben fuhr eines der schlanken Boote an den Steg. Ein älterer Herr mit einem grauen Spitzbart kletterte an Land, indem er sich auf die kräftige Hand des Gondoliere stützte. „Grazie, Folco", bedankte er sich mit einem freundlichen Lächeln. Die drei Kinder sahen ihn nicht. Sie beugten ihre Köpfe tief über die Waffeln mit so köstlichen Eissorten wie Pistazie, Krokant, Ananas und Tuttifrutti. Am Abend saßen die Mädchen dann mit Tante Eulalia allein beim Essen. An der Decke spiegelte sich das Licht im Glas des Leuchters aus Murano. Auf der Tischdecke glänzten die Gläser - und manchmal funkelte Tante Eulalias Brille. Aber sonst glänzte oder strahlte nichts, gar nichts. Papshänschens Stuhl blieb leer. Er hatte vor einiger Zeit angerufen. Man sollte nicht auf ihn warten. Er wollte in der Stadt essen, in einem kleinen Ristorante. Und es könnte spät werden. „Hast du Töne?" Jenny bekam runde Augen und Lisa steile Falten auf der Stirn. Die Tante hatte nichts gesagt und nichts gefragt. Nur jetzt beim Abendbrot beugte sie sich etwas vor und meinte: „Euer Vater kann schließlich nicht immer nur mit euch Zusammensein, versteht ihr?" „Aber es ist doch nur wegen des Bildes...", wollte Jenny erklären. Da fing sie einen warnenden Blick von Lisa auf. „Schwesterherz, was du da auf der Gabel hast, sind Spaghetti und keine Bindfäden!" „Uff!" seufzte Jenny. Sie versuchte, die Nudeln kunstgerecht um die Gabel zu wickeln und das runde, von roter Tomatensauce tropfende Knäuel in den Mund zu schieben. Im übrigen wirkte die Tante recht geistesabwe send. Sie schickte die Schwestern gleich nach dem Essen ins Bett. Lisa und Jenny gingen widerspruchslos. Sie hatten viel miteinander zu besprechen.
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Eine wilde Verfolgungsjagd Am nächsten Morgen erschien Papshänschen auch nicht zum Frühstück. Dabei waren die Mädchen extra früh aufgestanden. Aber er schlief noch. Er schlief lange... Und Tante Eulalia ließ sich den Tee in ihr Zimmer bringen, ans Bett. Sie habe Migräne, ließ sie ausrichten. Zum Glück war Cesare schon auf den Beinen. „Zum Fotografen, kommt mit!" rief er Lisa und Jenny ungeduldig zu. Unterwegs wollte er sie dann über ihren Vater ausquetschen, aber da war nichts zu erfahren. Ver mutlich hatte er zusammen mit der hübsc hen Schwedin zu Abend gegessen, und danach viel leicht noch irgendwo ein Glas Wein getrunken, am Wasser oder auf einer Piazza. Aber das waren alles nur Vermutungen. Cesare schnaubte durch die Nase. „Euer Vater ist entweder ein ganz gerissener Detektiv oder gar keiner." „Ich fürchte, gar keiner", seufzte Lisa. Gottlob waren die Fotos schon entwickelt, und Lisa stürzte sich auf die Vergrößerungen. „Da, die Rialtobrücke, Tante Eulalias Palazzo, ein bißchen unscharf, schau mal, der Gondoliere..." Aber Cesare hatte nur Augen für die Aufnahme des schwarzlockigen Jungen vor der Tür zur Galerie. „Eccolo, da ist er!" 32
„Schade, seine Hände, mit denen er gerade eine lange Nase machen will, sind ziemlich verwackelt!" „Ein Glück, daß du zu früh geknipst hast", meinte Lisa. „Jetzt hat er wenigstens die Finger nur vor dem Hals und nicht vor dem Gesicht. Und das ist scharf." „Ja", sagte Jenny. „Aber eigentlich sehen doch viele kleine Jungen hier so aus..." „No, no, ma no! Das denkst du nur, weil du sie nicht kennst... ich mein e, die Venezianer." „Du hast recht", meinte Lisa. „Wir geben das Bild gleich der Polizei." „Der Polizei?" Cesare rümpfte die Nase. Aber Lisa war entschlossen. „Ich will mir nicht den Vorwurf machen lassen, daß wir etwas verschleiern." „Allora, come vuoi, wie du willst! Es ist vielleicht besser. Aber dann fehlt uns wieder ein Bild - nein, halt! Ich brauche mindestens zehn Vergrößerungen!" „Wozu denn?" „Ich hab eine klasse Idee!" Cesare strahlte. „Viele Kinder sehen mehr als ein Polizeiinspektor! Bitte, zehn Vergrößerungen, dieci, subito, ganz schnell, von dieser Aufnahme! Bis wann können Sie die machen?" „Vierzehn Uhr", versprach der Fotograf. „Va bene! Gut!" Cesare überlegte. „Ich gehe nicht zur Polizei", entschied er. „Dann schicken wir das Bild mit der Post?" „Meinetwegen - Signore, haben Sie ein Kuvert für mich?" Si " „ji... Draußen waren sie. Im Tabakladen besorgten sie die Briefmarke. Sie sausten durch die Gassen -endlich fanden sie einen Briefkasten. „Verdammt!" schrie Cesare und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Per bacco!" Er stampfte mit dem Fuß auf. „Hast du Flöhe?" fragte Jenny. „Nein, aber kein Bild mehr!" „Mann, bis heute nachmittag kannst du doch warten!" „Da geht viel Zeit verloren. Oder doch nicht! Ich bin ja nicht blöd. Scha rf nachdenken hilft immer. Wir suchen ein Bild, und wir suchen einen 33
Jungen. Also suchen wir zuerst das richtige Bild! Ja, und dabei werden mir meine Freunde helfen!" Sie rannten um die Ecken, über sonnige Plätze, durch Häuserschluchten, von Gasse zu Gasse , mal rechts hinein, mal links hinein. Die breite Holzbrücke - endlich - die Treppe hinauf, tief unten die Boote, der Canal Grande - die Treppe hinab - und in die Galerie. Dort rafften sie rasch eine Handvoll Postkarten von dem Bild. Die Glocken läuteten, Wolken segelten über Dächer und Kamine, und dann gellte es schrill in den schmalen Gassen. Cesare pfiff durch die Finger, und die Pfiffe wurden gehört, aufgenommen, weitergegeben. Wer von den Kindern daheim war und Zeit hatte, schoß aus der Haustür. Der Tr effpunkt war ein Hinterhof zwischen abblätternden Fassaden und schiefhängenden Fenstern. Da rankte sich ein Efeu im Schatten die Mauer empor. Und in der Mitte des Hofes lagen die Reste eines zerfallenen Ziehbrunnens und umgestürzte Steine. Fünf Mädchen und sechs Jungen fegten nach einander durch einen Torweg und riefen: „Was ist los, Cesare, cosa vuoi? Was willst du?" Sie hießen Antonella und Giuseppe, Carlo und Paola, Francesco und Mirella, Sergio, Laura und Maurizio. Jenny und Lisa verstanden nichts von dem, was sie sagten. Unglaublich, wie schnell diese Kinder durcheinanderredeten, alle gleichzeitig, und wie sie gestikulierten. Endlich verschaffte sich Cesare Gehör. Er legte seine Arme auf Lisas und Jennys Schultern und erklärte stolz: „Dies sind meine Fre undinnen aus Deutschland." Die Kinder schauten die beiden neugierig an. Cesare hockte sich auf den Steinhaufen und erzählte von dem verschwundenen Bild! Wer hatte etwas gesehen, beobachtet? Er verteilte die Kunstpostkarten. Und die Jungen und Mädchen guckten... „Ma, l'ho visto, l'ho visto, das habe ich gese hen!" schrie Maurizio vor Aufregung in voller Lautstärke. Dabei machte er einen Menschen nach, der irgendwo saß und ein Bild anstarrte. „Davvero? Wirklich?" „Si, si! Davvero!" Also, Maurizio hatte kurz zu vor einen Mann mit einer runden 34
Nickelbrille gesehen, der war in die Galerie gegangen, mit einer großen Aktentasche, und er war sehr schnell wieder aus der Galerie herausgekommen! Warum war er nur so kurz in der Ausstellung geblieben? Das war doch merkwürdig! Und dann hatte er sich auf die Bank gesetzt, am Rio Vio, direkt unter der Brücke, und Maurizio hatte mal so geguckt, was er da wohl aus seiner Aktentasche herausholte und so lange anstarrte. Der Herr hatte sich auch gar nicht stören lassen, Maurizio konnte von der Brücke bequem herunterschauen auf ihn und auch auf das Bild. O ja, es war dieses Bild gewesen, das von der Postkarte... „Wo ist er jetzt?" ja, das wußte Maurizio natürlich auch nicht. Der Mann hat das Bild bald wieder in die Tasche gesteckt, ist aufgestanden und langsam zu den Booten gegangen ..." „Hast du gesehen, in welches Boot er eingestiegen ist?" „Nein, aber gekommen ist er mit dem Vaporetto der Linie eins." „Woher?" „Vom Bahnhof!" „Dann will er wahrscheinlich wieder dorthin zurück! Los! Los!" Schon stürmte Cesare durch das Tor. Alle rannten ihm nach. „Was willst du?" schrie Lisa atemlos. „Ihn einholen!" „Aber das ist doch unmöglich!" „Nein. Wenn wir Glück haben, erwischen wir die Linie vier, den Diretto, der fährt schneller und überholt den Vaporetto, verstehst du. Der Vapo retto hält neunmal bis zum Bahnhof, der Diretto nur zweimal, das ist unsere Chance. Es kommt darauf an, wo der Mann aussteigt. Sie stürmten durch die Gassen, zum Pontile. Da kam auch schon das Boot mit der Nummer vier. Schnell lösten sie Fahrkarten und sprangen auf das Boot. Endlich, endlich kam die nächste Haltestelle, San Toma. Jetzt ging es zur Rialtobrücke, hinüber auf das rechte Ufer - endlich legte der Diretto an, und die Menschen schoben sich hinaus. Bald wurde da s Tau zur Abfahrt wieder gelöst, da schrie Renzo plötzlich: „Da oben! Da oben steht er, auf der Rialtobrücke, dort..." Ja, da lehnte der Mann mit der blitzenden Brille am steinernen 35
Geländer und schaute auf den Canal. „Raus!" kommandierte Cesare. Schon war der Abstand vom Kai fast körperbreit, er wurde schnell breiter. Aber die Kinder setzten blitz schnell hinüber. Der Fremde wandte sich um und ging auf der anderen Seite der Brücke hinunter, als ob er sich verfolgt fühlte. Die Kinder rannten das Ufer entlang, stießen Menschen an, hatten keine Zeit für Entschuldigungen. Sie sprangen über die Stufen der Brücke, auch hier waren viele Leute, die ihnen entgegenkamen, die sie aufhielten, an denen sie vorbei mußten. Endlich waren sie oben angelangt. Aber der Mann war verschwunden. Da tauchte er wieder auf, da unten war er, schon auf der Riva del Vin. Er ging nach links, die Kinder liefen atemlos hinter ihm her, er durfte nicht entwischen! Wie leicht konnten sie ihn verlieren, wenn er sich in einem Haus oder einer dun klen Gasse versteckte! Der Mann blickte zurück. Was wollte die Horde schreiender Kinder von ihm? Jetzt war er unter den Sonnenschirmen, ging an gedeckten Tischen vorbei, an denen Leute saßen und Kaffee tranken. Ganz plötzlich bog er nach rechts ein und verschwand in einem Eingang... Hotel Marconi. „Stop! Stop! Haltet ihn! Haltet ihn!" Im Nu war die Halle vom Lärm und Geschrei erfüllt. Die Kinder rannten um die Zierpalmen und um die braunen Säulen. Der Mann war umringt, er fühlte sich bedrängt, er spürte, wie ein Junge an der Tasche riß, dann hingen zwei, drei an ihm, waren diese Kinder Diebe? Was wollten sie? „Hilfe! Hilfe!" schrie er und riß die Tasche empor, dabei verlor er seine Brille, Jenny fing sie auf. Die rundliche Wirtin kam. „Was ist los, was fällt euch ein?" Sie verstand Deutsch und Italienisch, und sie verstand alles, als die Kinder begannen, auf sie einzureden. „Ein Bild hat er aus der Galerie für Moderne Kunst gestohlen! Ein Bild von Max Schnee...", erklärte ihr Lisa. Der Herr begriff anscheinend nicht ganz so gut, er angelte nach seiner Brille, schnappte sie aus Jennys Hand und klemmte sich die Bügel hinter die Ohren. Nur den Namen Max Schnee hörte er aus dem Tumult heraus. „O 36
yes ...", sagte er. Die Kinder erwischten die Tasche, machten schnell das Schloß auf, sie zogen eine Tafel heraus, eine Hartfaserplatte, und Lisa und Jenny riefen: „Da ist es!" Cesare schrie: „Er hat es aus dem Rahmen genommen!" Der Herr verstand wohl noch immer nicht ganz, oder er wollte nicht verstehen, er rief: „My picture..." und „l did it myself..." Die Wirtin meinte, sie könne sich das alles nicht erklären und fragte den Herrn auf englisch, ob er bereit wäre, das Bild Frau Huggenstein selbst zu zeigen? Da lief er rot an und wand sich hin und her, aber Cesare war schon beim Empfang, am Telefon, und rief die Tante an: „Signora, wir kommen, wir haben das Bild! Wenn er nicht mitginge, sagte Lisa entschlossen zu dem Fremden, dann würden sie die Polizei benachrichtigen. Die Wirtin übersetzte es ihm, da meinte er seufzend: „Ok ay!" Die Frau winkte ein Motorboot heran, ein Taxi, das bis vor das Hotel kam. Der Mann und die Kinder stiegen ein. Nur die Wirtin blieb zurück und murmelte: „Wie peinlich, ein Gast meines Hauses!" Tante Eulalia hatte gleich den Inspektor gerufen. Er traf fast zur gleichen Zeit ein, im Polizeiboot am Pontile Accademia. Da mußte der Herr mit der Brille in amtlicher Begleitung den Weg zur Galerie zurücklegen. Der Inspektor nahm die Tasche mit dem Bild in Gewahrsam, er trug sie selbst, und die Kinder liefen ge stikulierend und plappernd teils voraus, teils hinterher. Der Dieb hatte sich wohl inzwischen einen Plan zurechtgelegt, er ließ alles ganz ruhig mit sich geschehen, nur manchmal blickte er erschrocken und verwundert auf die Kinder herab und schüttelte den Kopf. Danach gab es ziemlich viel Ärger. Der Inspek tor war wütend, Tante Eulalia ärgerte sich, Cesare ließ die Schultern hängen, und die beiden Mädchen wären vor Verlegenheit am liebsten durch den Marmorfußboden der Villa Leone gesunken. Tante Eulalia sprach sehr gut Englisch, sie entschuldigte sich vielmals, und der Herr meinte, er hoffe doch, er habe nichts Unrechtes getan. Gewiß, er habe das schöne Bild nach der Postkarte abgemalt, mit Acrylfarben, die trocknen ja schnell, das sei nun mal sein Hobby, er mache 37
das oft mit Bildern aus vielen Ausstellungen, immer in den Hotelzimmern, in den Galerien genierte er sich. Und hinterher vergliche er dann gern noch einmal sein Bild mit dem Original. So habe er schon eine hübsche Sammlung von Meisterwerken beisammen. Natürlich handelte es sich meistens um Werke von Malern, die schon lange tot waren. In diesem Fall war er nicht sicher gewesen, ob er das Bild von Max Schnee überhaupt kopieren durfte. Daher war er noch einmal in die Galerie gekommen, um sein Bild neben das Original zu halten, das zu seiner Verblüffung aber nicht mehr an seinem Platz hing. Draußen, unter der Brücke, habe er sein Werk noch einmal angesehen ... „Das kommt davon, wenn Kinder Detektiv spielen", rief der Inspektor ärgerlich und verabschiedete sich. Die Kinder waren enttäuscht, sie trollten sich langsam, und der Herr mit der Nickelbrille fuhr wieder in sein Hotel, das Bild in der Aktentasche. Endlich waren die Mädchen, Cesare und Borgo Castone mit der Tante allein. „Es ist beschämend", meinte sie böse, „daß ihr so wenig von Malerei versteht! Daß dies eine stümperhafte Arbeit ist, das hättet ihr doch erkennen können - vor allem du, Cesare! Wie lange hast du dieses Meisterwerk schon bei mir hängen sehen? Hast du keine Augen im Kopf? Ein Ölgemälde auf Leinwand, ganz zu schweigen von dem wundervollen Pinselstrich -und du bringst mir eine schlechte Acrylmalerei auf Hartfaser..." „Ein bißchen komisch kam es mir schon vor", stammelte der Junge. „Aber ich habe das Bild ja nie ohne Rahmen gesehen ..., und ich war so aufgeregt!" „Ja, ja." Tante Eulalia funkelte sie alle an. „Man muß einen klaren Kopf behalten, immer! Und deshalb werde ich jetzt nach London telefonieren. Oh, ich habe Migräne. Ich verzichte auf das Mittagessen!" Lisa traten die Tränen in die Augen, sie war furchtbar enttäuscht. Jenny putzte sich laut die Nase. Dann verzogen sich die drei in den Garten, hinter die Büsche. Hier fühlten sie sich sicher. „Kopf hoch", flüsterte Cesare. „Wir dürfen nicht aufgeben. Kommt, wir holen jetzt die anderen Fotos ab. Die Mädchen schüttelten die Köpfe. „Dio mio!" rief Cesare. „Wir haben doch etwas erreicht! Versteht ihr denn 38
nicht? Mindestens ein Verdächtiger ist es weniger! Nun können wir uns um so besser um die anderen kümmern!" „Geh du allein", meinte Lisa. „Ich bin müde. Diese langen Wege, und die Rennerei! Und außerdem hat Felicia für uns gekocht - wir essen hier. Du kannst uns ja später abholen ..." Cesare seufzte. „Na, meinetwegen!"
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Zweifel und neue Ziele Tante Eulalia ließ sich wirklich nicht beim Essen sehen. Sie war böse. Sie führte ein langes Gespräch mit der Tate-Galerie in London, dabei regte sie sich furchtbar auf. „Wozu, wozu?" rief sie mehrmals in den Appa rat. „Mister Simson kann doch hier auch nichts tun!" Aber schließlich hatte sie genickt. „Nun ja, wenn Sie meinen..." Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, war sie rasch in ihrem Zimmer verschwunden und hatte sich hingelegt. Felicia brachte ihr Tee und Zwieback und ließ die Rolläden herunter. „Ob jemand von Scotland Yard kommt?" hatte Jenny flüsternd gefragt. Lisa zuckte nur mit den Schultern. Die Mädchen löffelten eine Minestrone, eine dicke Gemüsesuppe. Was für eine gräßliche Stimmung, dachte Felicia. Sie stand am Tisch und fragte die Schwestern: „Suppe nicht gut? Suppe nicht schmecken?" „Suppe sogar sehr gut!" Lisa gab sich einen Ruck. „Wirklich, Felicia, Sie müssen uns das Rezept mitgeben, für unsere Konstanze zu Hause. Die kocht immer nur Kartoffelsuppe mit Zwiebeln ..." „Volentieri! Gern. Dann ist es gut. Dachte nur, meine Küche nicht in 40
Ordnung, weil Papa auch nicht zum Essen mehr kommen." „Oh, das!" rief Jenny lachend. „Also, das hat wirklich nichts mit Ihnen zu tun, Felicia. Das hat wirklich ganz andere Gründe! Er schaut sich Venedig an." „Si, si! Venezia molto bella, sehr schön", antwor tete Felicia glücklich und verschwand in der Küche. „Venezia molto bella", seufzte Lisa. Sie wechselte einen Blick tiefen Einverständnisses mit ihrer Schwester. „Aber nicht nur Venedig . . ." Die beiden Mädchen hatten sich zwar vorge nommen, über das Thema „Alma" möglichst wenig zu reden, aber Jenny konnte es sich doch nicht verkneifen zu murmeln: „Es ist schon komisch, wie das Leben so spielt, ich meine, was es so alles für Zusammenhänge gibt, also Ursache und Wirkung . . ." „Sprich deutlich!" „Na, sieh mal: Vor vielen Jahren malte da ein gewisser Max Schnee so ein wunderschönes Bild. Und Tante Eulalia kaufte es. Und dann wird es geklaut. Und es wäre doch sehr ulkig, finde ich, wenn wir deswegen, ich meine, also, wenn wir wegen dem allen etwa eine Art neue Mutter bekämen!" „Du liest nicht nur zu viele Krimis", meinte Lisa, „du liest auch zu viele Liebesromane! Von wegen: neue Mutter. Eine größere Schwester, das würde schon eher passen. Aber so weit sind wir doch noch lange nicht!" Cesare ließ eine Ewigkeit auf sich warten. Die Stunden verstrichen. Die Mädchen langweilten sich. Sie saßen im Salon auf dem Teppich und blätterten in italienischen Zeitschriften, deren Text sie nicht verstanden. Die Schatten im Hof wurden länger. Als Cesare endlich angerannt kam, war er ver schwitzt und ganz außer Atem. Er winkte die Mädchen hinaus. Der dicke Bronze -Reiter auf dem dicken Pferd sah aus, als könnte er sich vor Lachen nicht halten. Cesare war bitter enttäuscht. Er war sogar wütend. „Die kennen den Kerl nicht", schimpfte er. „Wer die?" fragte Jenny. „Alle! Meine Freunde. Ihr kennt sie ja. Die Jungen und Mädchen." „Die von vorhin?" „Klar. Und noch ein paar mehr. Ich hab die Fotos an sie verteilt, aber sie 41
haben alle nur den Kopf geschüttelt." „Die werden jetzt ganz bestimmt auch die Nase voll haben." „Die wollen sich eben nicht noch mal blamieren und den Falschen jagen!" „Kann sein", meinte Cesare. „Kann aber auch sein, daß sie den Jungen wirklich noch nie gesehen haben, weil er nämlich nicht von hier ist..." „Kein Venezianer?" „Könnte doch sein, oder? Er könnte aus Rom oder aus Mailand kommen. Oder er ist einfach aus einem anderen Stadtteil. Vielleicht auch aus Mestre. Oder..." „Oder was?" „Oder sie haben untereinander abge macht, daß sie keinen Venezianer reinreißen, verpfeifen wollen ..." „Du meinst, aus Solidarität! Aus so einer Art Gemeinschaftsgefühl?" „Möglich war's!" Cesare nagte an seiner Unterlippe. „Für sie - ich meine, für meine Freunde -war ich auch immer ein weni g ein Ausländer, ein Tedesco, ein Deutscher. Eigentlich hat mir das nie was ausgemacht. Aber in so einem Fall halten sie vielleicht zusammen, zu ihrem Landsmann ..." „Vor allem, weil wir auch beide aus Deutschland sind", meinte Lisa. „Aber es ist egal. Tatsache ist, daß wir in der Sache nicht weiterkommen. Also können wir den Jungen wohl auch aus unserer Liste streichen. Da bleibt eigentlich kaum noch jemand übrig!" „Übrig bleiben schon noch ein paar." Cesare stampfte auf den Boden. „Übrig bleibt immer noch die Blondine mit der großen Strohtasche, aber über die hält euer Papa seine schützende Hand!" „Ja, da können wir nichts machen." Die Schwestern nickten verlegen. „Bleibt noch der blonde Maler, um den wir uns noch gar nicht gekümmert haben ...", meinte Cesare. „Ein zweites Mal will ich mich nicht blamieren", rief Lisa. „Wir brauchen ihn ja nicht gleich zu verfolgen und die Polizei zu rufen", brummte Cesare. „Und es bleibt auch noch der alte Herr mit dem grauen Bart. Es bleiben also noch genug Verdächtige. Also los!" Ja, aber wohin?" „Wo man in Venedig immer hingeht, wenn man jemanden sucht. Dort braucht man eigentlich nichts anderes zu tun, als lange genug zu warten auf der Piazza San Marco. Auf dem Markusplatz. Der ist wie ein 42
Magnet..." „Besser, als hier rumzusitzen ist es allemal", meinte Jenny. „Hast du noch Geld für ein Eis, Cesare?" „Unser Geld brauchen wir nötiger für andere Dinge. Ich bin nun auch ziemlich pleite!" „Na schön, dann gehen wir eben betteln!" meinte Jenny. Cesare überlegte. „Erinnert ihr euch noch, wie der Herr ausgesehen hat?" „Glaube schon, ja ..." „Okay. Dann trennen wir uns. Ich fahre zur Rialtobrücke, von dort aus laufe ich durch die Merceria zum Markusplatz. Das ist der Bummel, den jeder Fremde hier macht. Ihr fahrt mit dem Vaporetto direkt dorthin. So kommen wir von zwei Seiten, und unsere Chancen sind größer. Wir treffen uns vor dem Campanile, klar?" „Klar, nur. . ." „Nur?" „Na, wir müssen wohl unsere letzten Moneten für die Fahrt zusammenkratzen - hin und zurück!" „Also Kassensturz!" Sie leerten ihre Taschen. „Es reicht!" erklärte Cesare. Dann liefen sie zur Anlegestelle. Am Pontile trennten sie sich. In ver schiedenen Richtungen fuhren sie auf dem Canal Grande davon.
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Der Herr mit dem grauen Bart Der alte Herr stand vor dem Eingang zum Dogenpalast. Aufmerksam betrachtete er vier rote Steinfiguren, die an der Ecke der Markuskirche eingemauert waren. Die Mädchen erkannten ihn sofort. „Auf jeden Fall interessierter sich schon mal für Kunst", flüsterte Lisa, obwoh l es eigentlich keinen Grund gab, leise zu sprechen, denn die ganze Piazzetta hallte von den Gesprächen der vielen Menschen wider, von den Schritten, vom Taubengeflatter, von den Rufen der Verkäufer. „Wir müssen ihn anquatschen!" „Puh! Aber wie? Papshänsch en ist auch nicht da, an den wir ihn weiterreichen könnten." „Das mache ich sowieso nicht wieder. Womöglich bekommen wir sonst auch noch einen neuen Großvater! Diesmal übernehmen wir den Fall allein!" Der alte Herr wandte seine Augen von der Figurengruppe ab. Wo wollte er hin? Jenny zog ihre Schwester energisch mit sich, bis sie vor ihm standen. „Können Sie uns vielleicht sagen, was das für Männer sind?" fragte sie 44
und deutete auf die steinerne Gruppe. Der Herr drehte sich zu ihnen um. Er war weder erstaunt noch erschrocken. „Im Volksmund werden sie ,Die vier Mohren' genannt", antwortete er. „Vermutlich handelt es sich dabei um vier römische Kaiser. Und der rote Stein ist Porphyr. Interessiert ihr euch für Kunst und Geschichte? Das ist ziemlich selten in eurem Alter!" „Irgendwann muß man ja mal damit anfangen", meinte Lisa, und dann wußte sie nicht mehr weiter. „Sehr richtig", sagte der Herr. „Ihr seid bestimmt aus Deutschland?" „Aus Bayern!" „Ich bin aus Berlin." „Und wo wohnen Sie hier?" fragte Jenny schnel l. Es sollte wie selbstverständlich klingen, aber sie hing geradezu an seinen Lippen. Der alte Herr zuckte auch jetzt nicht zusammen. „In einer kleinen Pension, sehr nett, nicht so teuer. Ihr wohnt doch sicher auch in einem Hotel, wo sollte man sonst in Venedig wohnen?" „Nein", sagte Jenny, und sie dachte, nun wird es ihn sicher gleich umhauen. „Wir wohnen privat. Wir haben nämlich hier eine Tante. Sie ist etwas entfernt verwandt, allerdings." „Aber immerhin hat sie uns eingeladen, in ihren Palazzo!" Jenny ärgerte sich. Wieso nahm ihr Lisa diesen Knüller aus dem Mund, ihr war die raffinierte Wendung des Gesprächs doch nicht eingefallen! „Na, da habt ihr mir allerdings etwas voraus! Wißt ihr was? Ich wollte gerade Tee trinken. Wenn ihr nichts anderes zu tun habt, dann begleitet mich auf ein Eis, ja? Ihr würdet mir eine Freude machen. Ich war schon lange nicht mehr mit zwei so netten Mädchen zusammen. Eure Eltern werden sicher nichts dagegen haben - oder wollt ihr sie erst fragen?" „l wo!" sagte Jenny. „Wir sind sowieso nur mit unserem Vater hier, und der hat sich auch schon abgeseilt. Paps hat bestimmt nichts dagegen ..." Und dann saßen sie gemeinsam vor dem Cafe Florian. Die vielen Tische waren weit in den Markusplatz hineingerückt, da hatten sie Glück gehabt, daß sie noch drei Plätze gefunden hatten. Die Melodien der Kaffeehaus-Orchester, die unter den Kolonnaden spielten, klangen zu ihnen herüber. Der alte Herr bestellte das Eis und für sich selbst ein Kännchen Tee. Jetzt, dachte Jenny, jetzt kann er nicht gleich wieder davonrennen. Aber 45
sie fand es doch furcht bar schwierig, das Gespräch nach dieser Unterbrechung wieder auf das ursprüngliche Thema zu bringen. Glücklicherweise fragte der Herr selbst. „Ihr seid also aus Bayern, und eure Tante hat hier einen Palast. Am Canal Grande?" „Ja!" rief Jenny. „Und ich wette, Sie kennen ihn!" „Was du nicht sagst. Na, möglich wäre es schon. Man fährt ja immer wieder an ihnen vorbei. Und wie kommst du darauf?" „Ja, ich weiß auch nicht so recht. Aber je länger ich Sie ansehe, desto mehr glaube ich, daß ich Sie schon mal gesehen habe ..." „Doch nicht in eurem Palazzo? Viel leicht hierauf dem Platz? Da sieht man ja die meisten Leute immer wieder. Oder vielleicht in einer Gondel? Ich fahre oft mit der Gondel, denn nur so lernt ma n Venedig richtig kennen, finde ich." „Nein, nein, nicht in der Gondel! Bestimmt bei uns..." „Das kann ich mir wirklich nicht denken! Du mußt dich irren! Ich bin noch nie in einem venezianischen Palast gewesen, in einem privaten, meine ich. Aber ich wäre es wirklich sehr gern." „Ha! Jetzt schwindeln Sie aber!" „Na, na?" „Weil Sie bestimmt schon da waren - das ist nämlich gleichzeitig eine Kunstgalerie..." „Ach so, die Villa Leone? Ja, ist denn das möglich? Dann wäre eure Tante Eulalia Huggenstein?" „Klar!" „Aber so klar ist das doch nun wirklich nicht! Da freue ich mich wirklich, euch kennengelernt zu haben. Na, so ein Zufall. Ich bin nämlich Kunsthistoriker, sollte mich jetzt wohl vorstellen. Ich heiße Bresgen, Professor Bresgen, habe auch ein paar Bücher geschrieben über moderne und alte Kunst." „Stimmt das wirklich?" „Ja! Glaubst du mir nicht?" Der Herr lachte. „Aber ich kann es dir sogar beweisen. Hier, schau", er zog ein Bändchen aus seiner Jacke, ein Taschenbuch. Ferdinand Bresgen stand darauf, Venedig im 17. 46
Jahrhundert. „Seht ihr, und hier sind auch mein Paß und meine Visitenkarte. Die Karte gebt ihr bitte eurer Tante mit der herzlichsten Empfehlung. Ich wollte sie schon längst mal kennenlernen." „Schade", sagte Jenny. Sie stieß einen langgezogenen Seufzer aus. Lisa zog die Stirn kraus und fing wieder an, die Haare um ihren Finger zu wickeln. „Wieso schade?" Nun war Professor Bresgen doch erstaunt. Jenny schwieg. Sie schämte sich. „Ach, eigentlich bin ich auch wieder irgendwie froh", rief Lisa. Sie faßt e sich ein Herz. Sie lächelte ihn besonders lieb an. „Schade ist, daß Sie es ja wohl nicht gewesen sein können, ich meine, dann hätten Sie uns wohl nicht gesagt, wer Sie sind und so..." „Ihr werdet mir immer rätselhafter!" „Ich will es Ihnen erklären! Aber bitte, bitte nicht böse sein", sagte Lisa. Professor Bresgen hörte mit wachsendem Interesse zu. „Da habt ihr also gedacht, ich hätte das Bild geklaut?" Er lachte schallend. „Na, ihr braucht euch nicht zu entschuldigen! Ich hab als Junge auch gern Räuber und Gendarm gespielt. Aber was machen wir jetzt? Seid ihr denn ganz sicher, daß ich es nicht war?" Lisa und Jenny liefen rot an. „Verdammt schade um dieses Bild", murmelte Professor Bresgen. „Ich würde wirklich gern hel fen, es wiederzufinden. Nur wie? Bin i ch der einzige, an dessen Spuren ihr euch geheftet habt?" Statt einer Antwort sprang Jenny auf. „Da kommt Cesare!" Sie winkte heftig. Der Junge trat inmitten einer dichten Traube von Spaziergängern aus dem Torbogen des Glockenturmes. Jenny pfiff durch zwei Finger. Er stutzte und blickte zu ihnen herüber. Langsam kam er auf sie zu. „Ach", meinte der Professor. „Der Junge ist dann wohl euer Sherlock Holmes? Herr Ober, noch ein Eis bitte - oder möchtest du etwa lieber einen Cocktail, Kommissar'?" „Eis wäre nicht schlecht!" Cesare setzte sich und tat ganz gleichgültig. „Hast du noch ein Foto von dem unbekannten Jungen?" fragte Jenny. Cesare zog ein Foto aus seiner Hosentasche. Es sah schon etwas mitgenommen aus. „Den haben wir auch auf dem Kieker", sagte Jenny. „Hm", machte der Professor. „Er sieht nett aus, ein netter Junge. Nur was macht ein kleiner Venezianer in einer Galerie für moderne Kunst?" 47
„Ja, das fragen wir uns eben auch!" „Ihr solltet lieber ihn fragen!" „Aber wir finden ihn nicht!" Jenny erzählte, was Cesare mit dem Foto bei seinen Freunden erlebt hatte. „Vielleicht kann euch ein Gondoliere helfen", meinte der Professor. „Wenn jemand alle Winkel Venedigs und viele seiner Bewohner kennt, dann sind das die Gondolieri. Wir wollen Folco das Bild zeigen. Folco ist der Gondoliere, mit dem ich am meisten fahre. Da kann ich doch etwas für euch tun, ich bin nämlich gleich wieder mit ihm verabredet..." „Klasse!" riefen die Schwestern. Cesare schlug sich vor die Stirn. „Daß ich nicht selber darauf gekommen bin!" Plötzlich zuckte er zusammen: „Dio mio!" „Was denn?" „Bleibt ruhig sitzen! Guckt euch nicht auffällig um!" „So rede doch!" „Euer Papa nimmt gerade unsere erste Verdächtige fest!" „Wie? Wo?" „Himmelherrgott!" Cesare konnte schön auf deutsch fluchen. „Ihr sollt still sitzen bleiben! Direkt mir gegenüber. Wenn er nicht so beschäftigt wäre, hätte er euch längst bemerkt!" So langsam wie möglich wandten die Mädchen ihre Köpfe. Nur drei Tische weiter saß Papshäns-chen. Er beugte sich vor, und seine rechte Hand lag auf einem hübschen, gebräunten Unterarm. Der Unterarm gehörte Alma Thorensen. Sie hörte ihm ruhig zu, während er ihr etwas Wichtiges zu erklären schien. Dabei schaute sie auf seine Hand... „Ich weiß nicht", seufzte Lisa. „Es ist furchtbar heiß hier. Bei den Gondeln ist es vielleicht ein bißchen kühler..“ „Soll ich mal winke machen und huhu rufen?" fragte Jenny. „Wehe dir!" „Saust mal lieber ab, zum Molo", meinte der Professor, halb belustigt, halb voller Mitgefühl. „Du auch, Kommissar! Ich zahle nur noch und komme gleich nach."
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Folco, der Gondoliere Folco war groß und kräftig, ein Schrank von einem Mann, aber er hatte die Augen eines gutmütigen Kindes. So lange er denken konnte, lebte er auf den Kanälen, er hatte von jeher als Gondol iere gearbeitet. Ein blauweiß gestreifter Pulli umspannte seinen muskulösen Oberkörper, der maisgelbe Strohhut mit dem roten Band saß schief auf seinem mächtigen Schädel, und in seinen kräftigen Händen hielt er die Fotografie des frechen kleinen Jungen. Er hielt sie auf Armlänge von sich, denn er war ein wenig weitsichtig. Ungeduldig warteten Cesare, Lisa und Jenny. Sie standen auf dem Molo vor Folco, dahinter gluckste das Wasser. Ein Dutzend schwarzer Gondeln mit goldenen Metallstandarten tanzte zwischen den eingerammten Pfählen auf und ab. Endlich fragte Professor Bresgen auf italienisch: „Conosce questo ragazzo, kennen Sie diesen Jungen?" „No", antwortete Folco. Tiefe Enttäuschung malte sich auf den Gesichtern der Kinder. Folco fragte auch die anderen Gondolieri, das Foto ging von Hand zu Hand. Alle schüttelten den Kopf - einige jedoch erst nach einigem Zögern. Vielleicht wollte keiner den Jungen erkennen? „Ich habe aber doch eine Idee", meinte Folco schließlich. Cesare 49
übersetzte. „Ich habe eine Schwester, die als Fürsorgerin arbeitet. Sie kennt viele kinderreiche Familien auf der Giudecca, auf der anderen Insel, gegenüber, wo die armen Leute wohnen und gewöhnlich nur wenig Fremde hinkommen ..." „Bitte, fahren Sie uns gleich zu ihr", bat der Professor. „Jetzt nicht", erwiderte Folco. „Es ist noch zu früh. La Sorella - ich nenne sie nur so, niemals anders, weil alle Leute sie nur so nennen, es paßt so gut zu ihrem Wesen und zu ihrer Arbeit - La Sorella ist noch nicht zu Hause. Sie ist immer unterwegs bei vie len Menschen, in den verschiedensten Häusern, bei Alten, bei Armen und Kran ken, bei Trinkern und bei Sterbenden. Allen hilft sie. Oft kommt sie erst sehr spät heim. Aber um acht oder halb neun Uhr können wir es versuchen/' „Könnte... könnte Folco uns dann abholen, vom Palazzo Leone?" fragte Lisa. „Dann würden wir jetzt heimfahren zum Abendessen ..." „Aber was würde das kosten?" Jenny war vorsichtig. „Darüber macht euch keine Sorgen", sagte der Professor, „ich regele das. Folco wird euch zunächst zu seiner Schwester fahren. Ich würde sie auch gern kennenlernen, nur dauert es in meiner Pension immer etwas länger mit dem Abendessen. Wir essen alle an einer Tafel, versteht ihr, gemeinsam. Ich komme mit dem Vaporetto nach. Vielleicht kann Folco mich am Pontile Sa nta Eufemia auf der Giudecca abholen. Denn ich weiß ja nicht, wo seine Schwester wohnt. Es wird so gegen halb neun sein." „Va bene, das geht", erklärte Folco. Der Professor überlegte weiter. „Wir haben noch etwas Zeit, Folco. Sie wollten mich zum Arsenale und zum Canale di San Pietro rudern wir können doch rechtzeitig zurück sein?" „Va bene!" erklärte Folco. Die Kinder winkten hinter der Gondel her, der Professor winkte zurück, und Folco schwenkte seinen gelben Strohhut mit dem roten Band. „Ein netter Mann, der Professor", stellte Jenny fest. „Ja, gut, daß wir ihn angesprochen haben", antwortete Lisa. Auch Cesare nickte. „Vielleicht kommen wir hier weiter. Zu blöd, daß wir noch keine Spur von dem Maler haben." „Aber vielleicht kennt ihn der Junge?" „Das glaube ich nicht. Auch wenn ich einen Fremden irgendwohin führe, 50
zu einer Kirche oder zum Reiterstandbild des Colleoni, dann weiß ich noch lange nicht, wer er ist und wo er wohnt." Als sie den Vaporetto bestiegen und zur Acca -demia zurückfuhren, dämmerte es schon. Die Kuppel der Kirche Santa Maria della Salute stand wuchtig vor einem grauen Abendhimmel. Die Mädchen kamen gerade noch rechtzeitig zum Abendessen. Tante Eulalia wandelte wieder unter den Lebenden. Sie war zwar aufgestanden, war aber immer noch gei stesabwesend und sehr nervös. „Ihr müßt mich beim Essen entschuldigen", murmelte sie, „Mister Simson von der Tate Galerie trifft heute noch mit der Maschine aus London ein. Ich muß ihn vom Flughafen in Tessera abholen - oh, ich wünschte, ich hätte das alles schon hinter mir." „Soll ich dich begleiten?" fragte Papshänschen höflich. Doch sie winkte ab. „Nun, ich denke, du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen", sagte er weiter. „Wer weiß? Ich hätte das Bild eben nicht mehr ausstellen dürfen, nachdem ich es verkauft hatte. Ich hätte es sicher verwahren müssen, es war ja nicht mehr mein Eigentum. Diesen Vorwurf muß ich mir wohl gefallen lassen." „Nein, das glaube ich nicht", sagte der Vater. Dann ging Tante Eulalia. Ja, Papshänschen saß wieder am Abendbrot tisch. Aber auch seine Gedanken waren woan ders, sehr weit weg. Und seine Augen sahen bestimmt weder die Piccata, die kleinen Schnitzel, noch den in Öl gedünsteten Blattspinat, auch nicht den Reis. Wer weiß, was sie sahen ... Lisa und Jenny wechselten stumm Blick e. Dann gab sich die Jüngere einen Ruck. „Triffst du Fräulein Thorensen morgen wieder, Paps?" fragte sie leise, zögernd, fast fürsorglich. „Die ist heute abgereist", sagte Paps und schien nicht böse zu sein, im Gegenteil, er schaute die beiden liebevoll an. Vielleicht war er froh, daß er vor ihnen kein Geheimnis zu haben brauchte? „Aber ihr seht euch doch wieder?" fragte Lisa schnell. „Vielleicht. Ich hoffe es..." Der Vater stocherte nachdenklich im Spinat. „Es war eine nette Begeg nung...", sagte er noch. D as war alles. Den 51
Mädchen fiel auch nichts mehr ein. Leise öffnete Cesare die Tür. Lisa und Jenny sprangen auf. „Was ist?" fragte Papshänschen. „Wir... wir wollten gern noch ein bißchen raus, dürfen wir?" „Aber kommt nicht zu spät heim!" In den Gassen nistete schon die Dunkelheit. Folco wartete mit seiner Gondel in einem Seiten kanal an der Ecke des Canal Grande. Lichter spiegelten sich im bewegten Wasser, beleuchtete Boote und Vaporetti fuhren durch die Kanäle. Die schlanke schwarze Gondel wippte auf und ab. „Avant!! Beeilt euch!" Sie stiegen ein. Mitgeschickten, gleichmäßigen Ruderschlägen setzte Folco die Gondel in Bewegung. Aufrecht stand er hinten auf der Plattform. Die drei Kinder saßen eng nebeneinander auf der Sitzbank. Lisa flüsterte: „Wenn ich nicht so aufge regt wäre, könnte ich das alles sehr schön finden..." Folco fuhr die Abkürzung durch den Rio di San Vio. Es wurde enger und dunkler zwischen den aufragenden Häusern. Sie glitten unter vier Brücken hindurch, dann öffnete sich der breite Canale dell a Giudecca, der fast schon zum Meer gehörte. Hier kreuzten auch beleuchtete Frachtdampfer und Kriegsschiffe. Gegenüber lag die andere große, zu Venedig gehörende Insel, die Giudecca, mit ihren einfacheren Häusern. Hier war man weit weg von den großen Palästen. Das Meer war bewegt, Lisa spürte eine leichte Übelkeit; aber bald erreichten sie das Ufer, Folco legte in der Nähe der Eufemia-Kirche an. Aussteigen! Die Kinder kletterten auf die Straße. Lampen leuchteten, am Himmel blinkten einige Sterne, doch ringsum war es fast schwarz. „Hoffentlich", seufzte Lisa, „können wir heute abend das Rätsel lösen hoffentlich erleben wir nicht wieder eine Pleite." „Das werden wir gleich wissen", meinte Cesare. „Aspettiamo, warten wir ab."
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La Sorella Folco führte sie in ein winziges Haus. Er ging voran, eine enge Stiege empor - rechts und links waren Wohnungstüren, geisterhaftes Licht von matten Lampen, Gerüche nach Essen, nach gebra tenem Fisch, nach Öl, nach Wäsche. Drei Treppen. Folco drückte die Klinke, ohne anzukl opfen. La Sorella rührte in einem Topf am Herd, es war eine einfach eingerichtete, saubere Wohnküche, ein nackter Holztisch in der Mitte, eine baumelnde Glühbirne, kein Lampenschirm. „Buona sera, Sorella", sagte Folco. „Guten Abend!" Er lachte. „Ich bringe Besuch!" Manches, was er sagte, errieten die Schwestern, manches verstanden sie nun auch schon, wenigstens ein bißchen, das Wichtigste übersetzte ihnen Cesare. La Sorelia zog den Topf vom Herd, schaltete die Platte aus, wischte sich die Hände ab und begrüßte sie. Sie war eine große, mütterlich wirkende Frau, dunkel gekleidet, die schwarzen Haare glatt gescheitelt und zu einem Knoten zusammengefaßt. Zu ihrem offenen, klaren Gesicht, zu ihren 53
klugen, warmen Augen konnte man gleich Vertrauen haben. Folco erklärte. Er legte die Fotografie auf den Tisch. La Sorelia setzte sich und hielt sie unter die Glühbirne. Folco ließ sich schwer auf einem Stuhl nieder. Atemlos wartend umstanden die Kinder die beiden. „Kennst du den Jungen?" Folco drängte. Sie antwortete nicht gleich. Sie legte die Fotografie auf den Tisch. „Was wollt ihr von ihm?" „Er hat vielleicht ein wertvolles Bild gestohlen." La Sorelia blickte auf. Es trat etwas Abweisen des, Verschlossenes in ihren Blick. Sie überlegte. Endlich antwortete sie : „Kommt morgen wieder." „Aber...", rief Cesare. Er wollte nicht fort, nicht unverrichteter Dinge heimkehren. La Sorelia ver heimlichte doch etwas, vielleicht nicht in böser Absicht, aber anscheinend wollte sie den Jungen nicht verraten, anscheinend wollte sie ihn erst selbst befragen ... „Es gibt kein ,aber'", sagte La Sorella bestimmt. „Kommt morgen abend." Sie schob Folco die Fotografie wieder zu. „Brauchen Sie das Bild denn nicht?" fragte Cesare. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe es gesehen." „Also wissen Sie, wer der Junge ist!" rief Cesare. Ihr Gesicht wurde noch verschlossener. Folco stand auf, er kannte seine Schwester. „Kommt, ich bring euch heim, wartet bis morgen." Hilflos, verwirrt und auch sehr enttäuscht schauten Lisa und Jenny Cesare an. Und dieser sagte schnell und das war ein glücklicher Einfall: „Hoffentlich ist es morgen nicht schon zu spät!" „Perche? Warum?" La Sorella schien überrascht. „Weil die Polizei das Foto auch hat", sagte Cesare. „Schon seit drei Tagen. Sie wird ihn sicher auch finden, denke ich. Aber wenn wir vorher bei ihm sind, können wir vielleicht verhindern, daß ihm Schwierigkeiten entstehen - verstehen Sie?" La Sorella sah ihn prüfend an. „Weiß niemand, daß ihr hier seid?" „Nur der Professor", erklärte Folco. „Aber der mag uns!" „Va bene, also gut! Vielleicht ist es wirklich besser so, vielleicht können wir die Sache noch unter uns abmachen. Ich kenne den Jungen, ja! Sehr schlimme Familienverhältnisse. Ein Waisenkind. Senza madre, senza padre, ohne Mutter und Vate r. Er heißt Mario, wohnt jetzt bei seinem Onkel in einer furchtbaren Bude, aber der Onkel sitzt im Gefängnis, 54
wegen Diebstahl. Mario schlägt sich irgendwie allein durch. Manchmal sehe ich nach ihm, in letzter Zeit zu wenig, zu wenig, ja, wir Erwachsenen haben schuld, sind verantwortlich, ich will nicht, daß der Kleine noch Schlimmeres erlebt, wenn ich es verhindern kann, denn ich mag ihn. Er ist nicht schlecht, vielleicht eher zu gutherzig, aber ohne Erziehung..." „Ja, so bist du", sagte Folco. „Aber ich de nke auch so. Auf mich, auf uns kannst du dich verlassen, oder, Kinder?" Lisa und Jenny nickten. Ihnen war beklommen zumute. „Also gehen wir", sagte La Sorella. Sie warf sich ein schwarzes Tuch über die Schultern. Die Stufen dröhnten von den vielen Füßen, als sie die Treppe hinunterstiegen. „Ciao", sagte Folco draußen. Er blieb stehen und wandte sich in die andere Richtung. „Wo gehst du hin?" „Ich hole den Professor, wir kommen später. Ich weiß nun, wer der Junge ist - und wo Mario wohnt." „Ciao, Folco!" La Sorella ging mit Cesare, Lisa und Jenny in die entgegengesetzte Richtung.
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Mario Enge Stege grenzten an modrige Kanäle. Eine Brücke, drei Ecken, Winkel, düstere Haustüren, Radiomusik aus erleuchteten Stuben, Blumentöpfe und Kanarienvögel hinter schm utzigen Scheiben, dumpfe Luft, Dunkelheit. Die Schritte hallten. Sie bogen in eine noch schmalere Gasse. In ihrem Rücken erklangen Geräusche, klappende Fensterflügel, Menschen, die hinter ihnen herblickten - ihnen vielleicht sogar folgten. Waren da nicht leise, heimliche Schritte? Gestalten, die sich an den Wänden entlangdrückten? Den Mädchen war es unheimlich, wäre Folco nur da! Sie kamen an eine winzige Tür, eine Kammer zu ebener Erde. Armut. Hier herrschte ein wüstes Durcheinander von Pappschachteln, von schiefen, wackligen Holzmöbeln - abblätternde Farbe an den Wänden, schillernd von Feuchtigkeit, abblätternder Putz an der Decke. Eine sehr trübe Lampe, aber in der Ecke auch eine blauschimmernde Lichtquelle, ein Höllenlärm: Fernsehen in voller Lautstärke. Davor saß ein Junge, auf schmutzigen Kissen kauernd. Er hörte die Eintretenden nicht. La Sorella ging durch das Durcheinander. Sie umkurvte den Tisch und die Stühle, schob Kartons beiseite, schaltete den Fernseher ab. Jetzt war Stille. Der Junge sprang auf. „Buona sera, Mario!" 56
Der Junge schaute, er blinzelte zum Eingang, wo Cesare, Lisa und Jenny standen, dann begriff er, senkte den Kopf, schoß davon, sprang über einen Höcker und wollte durch die Tür hinaus. Aber Cesare war schneller, er warf sich ihm entgegen wie der Torwart dem Elfmeter, hatte den Jungen in der Klammer. „Komm her", sagte La Sorella bestimmt. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Er bockte, hämmerte auf Cesare ein, stieß mit den Füßen. Aber er trug keine Schuhe. Seine Füße waren nackt, klein, schmutzig, fast rührend. La Sorella faßte seinen Arm. Ihr Griff war sicher, erfahren. Sie kannte sich aus mit seelischen Schmerzen, mit Erschütterungen. Sie zog Mario an sich. Sie nahm ihn ganz einfach in den Arm, ganz fest, zog mit dem Fuß einen Stuhl herbei, setzte sich darauf und ließ Mario nicht los. Er war gleichzeitig geborgen und gefangen. „Warum?" fragte La Sorella. Sie wiegte ihn leicht hin und her. Sie streichelte seinen Lockenkopf und drückte ihn fest gegen ihre Brust. „Warum, Mario?" Cesare schaute zu Boden. Den Mädchen war beklommen ums Herz. Diese Kammer, die Armut, und der Junge so allein: fast wünschten sie, daß sie nicht hergekommen wären. Lange Zeit verging so. Zeit, in der nichts geschah und doch so viel geschah, in der sich Verkrampfungen lösten, mütterliche Wärme Vertrauen schuf. Und langsam begann La Sorella wieder zu reden, mit leiser, eindringlicher Stimme. „Ich frage dich nicht, ob du es warst, Mario, mein Lieber, natürlich bist du es gewesen, denn sonst wärst du ja nicht weggelaufen beim Anblick der Kinder. Da hast du den Kopf verloren, aber es macht nichts. Ich bin ja hier. Und ich frage dich nicht. Aber ob du uns helfen kannst, möchte ich wissen, verstehst du? Denn das Bild muß zurück, und zwar schnell, ganz schnell, ehe die Pol izei kommt. Dann muß es schon wieder an seinem Platz hängen - du weißt doch, wo es ist. Du wirst es mir sagen ..." Mario schwieg. Man sah nur seinen Hinterkopf - aber plötzlich wurde er von Schluchzen geschüttelt. Ganz fest warf er sich gegen La Sorella. Jenny traten die Tränen in die Augen. Lisa suchte nach ihrem 57
Taschentuch. Da gab es an der Tür ein lautes Geräusch. Ein Bursche drückte Cesare beiseite, er war groß, kräf tig, er hatte ein rotes Gesicht und weit auseinanderstehende Augen über einer plattgeschlagenen Nase. „Du miese Kröte!" rief er. Haß und Verachtung klangen aus seiner Stimme. „Daß ich dir's mal heimzahlen kann, darauf hab ich schon lange gewartet." Marios Schluchzen erstarb. Er drehte sich blitz schnell um, aber um so fester preßte La Sorella seinen Oberkörper an sich, er konnte nicht weg. Mit schmutzverschmiertem Gesicht, in das die Tränen breite Spuren gezogen hatten, wütend, mit blitzenden Augen, starrte er den großen Jungen an. „Sag's nicht, Camillo!" schrie er. „Du Scheißkerl! Dein Vater hat schon meinen Onkel verpfiffen, du Schwein! Sag's nicht..." „Du hättest das Ding ja mit mir drehen können, Dummkopf!" brüllte der Junge zurück. Mario wand sich wie eine Schlange, er wollte frei sein, sich auf den Burschen stürzen. Der beugte sich vor, und ein scharfes Klicken ertönte, ein Messer blitzte in seiner Faust. „Na, komm doch!" zischte er höhnisch. „Camillo, du bist ein Teufel", sagte La Sorella. Sie stieß es verächtlich hervor. „Pfui Teufel!" Und was man von ihr nicht erwartet hatte: sie spuckt e auf den Fußboden. „Pfui Teufel!" „Oh, ich weiß, daß Sie ein Engel sind, Sorella", spottete der Bursche. „Ein Engel der Armen. Breiten Sie doch Ihre Flügel über ihm aus, wenn Sie das können, über Ihrem Schützling. Geklaut hat er! Und ich hab gesehen, wie er so einen flachen, viereckigen Gegenstand weggebracht hat, eingewickelt in eine Decke. Was kann das wohl gewe sen sein? Dreimal dürfen Sie raten! Zu einem Maler hat er ihn gebracht, zu einem straniero, einem Ausländer, der sollte ihn wohl aufheben, bis di e Luft wieder rein war. Mit dem wollte er teilen, anstatt mit mir. Ich hätte sie schon noch drangekriegt, die beiden, aber jetzt ist es mir auch egal, Hauptsache, er kriegt sein Fett, der Niedliche, der Süße, der Kleine! Van der Gracht heißt er, der Maler, Frans van der Gracht, aus Holland. Er wohnt drüben, Calle dell' Olio, das Haus an der Ecke, es kennt ihn ja jeder. Ich bringe Sie aber auch gern hin ..." 58
„So, tätest du das?" Folco stand plötzlich hinter dem Burschen, breit und wuchtig, seine Stimme war dunkel, sie dröhnte, erfüllte den Raum, er atmete ein, sein Brustkasten dehnte sich aus... Da wurde Camillo lebendig. Er machte drei Sprünge zum Fenster, blitzschnell und oft geübt, rieß die Flügel auf, hechtete über die Bank und war draußen. Aus dem Dunkel schaute er zurück, schrie noch: „Ich zeig's euch! La polizia!" und war verschwunden. „Danke, Folco!" sagte La Sorella. Nun ließ sie Mario los. Sein Widerstand schien gebrochen, er sagte nichts mehr, stand mit gesenkten Schultern und hängenden Armen da. „Povero ragazzo! Der arme Junge", sagte da ein Herr im dunklen Anzug auf italienisch, aber mit deutschem Akzent. „So ein armer, kleiner Junge!" Folcos breite Gestalt hatte ihn bisher verdeckt. Jetzt stellte er ihn seiner Schwester vor: „II profes-sore di Berlino!" Der Professor aus Berlin. Professor Bresgen nickte. La Sorella reichte ihm ihre Hand. Und der Professor sagte: „Bringen wir's hinter uns. Wir wollen zu diesem Maler gehen. Wir wollen hören, was er uns zu sagen hat. Ich bin doch neugierig, wie er das erklären kann, wie er sich verantworten will. Es ist ein Verbrechen, ein Kind anzustiften, ein Kind zu benutzen ..." Doch Mario brüllte: „No! No!" Folco hielt ihm einfach den Mund zu. „Nun halt mal die Luft an", sagte er. „Von dir will ich jetzt nichts mehr hören. Du redest doch nur Unsinn ..." Des Jungen Gesicht verschwand fast unter Fol cos großer Hand. Aber seine dunklen Augen blickten alle über die Finger hinweg an.
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Frans van der Gracht Der junge Maler richtete sich halb auf. Er zog die Bettdecke bis unter das Kinn. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen glänzten fiebrig. La Sorella legte ihm ihre Hand auf die Stirn. „Haben Sie keinen Arzt?" fragte sie. Er schüttelte den Kopf, versuchte ein Lächeln. „Brauche ich nicht." „Es sollte aber einer kommen", sagte sie. Sie drückte den jungen Mann sacht zurück. Im Zimmer roch es nach Farbe, nach Firnis und Terpentin. Überall lagen Skizzen, angefangene Bilder, auf Rahmen gezogene Leinwand lehnten an den Wänden. Am Fenster stand eine Staffelei. „Unser Bild!" jubelte Jenny. Der Maler schüttelte matt den Kopf. „Nein, meine Kopie!" Auch er sprach deutsch - mit holländischem Akzent. „Das Bild steht drüben, in der Kammer, eingepackt. Die Kammer ist abge schlossen. Den Schlüssel habe ich hier, unter dem Kopfkissen. Habe wahnsinnige Angst gehabt, man könnte mir's stehlen, bevor ich es ..." „Nun mal langsam", Professor Bresgen kam an sein Bett. „Alles der Reihe nach, junger Freund. Van der Gracht heißen Sie, mit Vornamen Frans, wenn ich nicht irre. Also, das Bild ist hier?" Van der Gracht nickte. Fast ein wenig belustigt. „Sie wollten es kopieren und haben es getan, wie ich sehe." Der Maler nickte wieder. Der Professor trat an die Staffelei. „Nicht übel", 60
sagte er. „Wirklich nicht übel. Aber trotzdem ... mußten Sie dazu das Bild stehlen? Oder noch schlimmer: diesen Jungen dazu anleiten, es für Sie zu klauen?" Mario, eingeklemmt zwischen La Sorella und Folco, verstand zwar kein Wort der deutschen Unterhaltung, aber er ahnte, was gesprochen wurde. Und wieder schrie er: „No, no! No ...!" Frans van der Gracht lächelte ihm zu. „Va bene, Mario, schon gut!" Er wandte sich dem Professor zu. „Ich will es Ihnen erklären. Ich nehme an, Sie sind Kommissar, Detektiv oder jemand von der Versicherung..." „Kunsthistoriker!" „Ach ja? Na, um so besser. Keine Polizei. Sehr gut. Also hören Sie. Dieses Bild von Max Schnee, ich mag es. Dachte, ich könnte etwas davon lernen, die Leuchtkraft der Farben, wie er das gemacht hat, das Blau aus dem Schwarz, dann das Orange... Na, ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, es ist wie eine Sucht, das ist... vielleicht, wie ein Spieler, der unbedingt den Treffer erzielen will... Aber, setzen Sie sich doch. Das ist schon so eine Geschichte." Und zu Folco und La Sorella sagte er, nun auf italienisch: „Den Mario können Sie loslassen, der läuft nicht davon. Von dem will ich Ihnen auch etwas erzählen. Übrigens, soll ich nun Deutsch oder Italienisch sprechen?" „Sprechen Sie Italienisch", sagte der Professor. „So viel, wie Sie können, verstehe ich auch, und Folco und seine Schwester sollen es ebenfalls wissen..." „Ich übersetze es euch", sagte Cesare. Alle setzten sich. Mario war hier weniger scheu. In der Ecke der Kammer befand sich ein Ausguß, gefüllt mit schmutzigem Geschirr. Dorthin trollte sich Mario, ließ Wasser laufen, begann abzuwaschen, klapperte, spritzte. „Er kümmert sich um mich", sagte van der Gracht. „Aber nur, weil ich krank bin. Eigentlich war es anders. Ich nahm ihn oft zu mir, weil sein Onkel... Sie wissen wohl schon. Der Junge war hier glücklich. Bei mir fand er eine Art Zuhause. Er nannte mich Fratello, seinen Bruder. Aber ich glaube, ich war noch mehr für ihn, Ersatz für seinen Vater..." La Sorella nickte. Sie begann zu begreifen. „Und da wollte der Junge Ihnen helfen, wollte Ihnen beweisen, wie gern er Sie hat, wollte etwas ganz Besonderes, etwas ganz Tolles für Sie tun!" 61
„Genauso war es! Ich kam aus der Galerie. Er hatte mich begleitet, und ich war wütend. Ich kann sehr aufbrausend sein, ich schimpfte und tobte, weil ich das Bild nicht kopieren d urfte, dort, weil es angeblich die Galeriebesucher gestört hätte... und was weiß ich noch alles. Ich fand die alte Dame verbohrt... na, und so weiter! Zu Hause trank ich Rotwein, da ärgerte ich mich noch mehr, ich weiß kaum noch, wie ich ins Bett kam. Und am Morgen danach lehnte das Bild hier - dort, auf dem Stuhl, so wie ein Mensch sich gegen die Lehne stützt, so stand das Bild da und sah mich an..., und ich dachte, ich werde verrückt!" „Aber...", rief Professor Bresgen. „Dann hätten Sie doch sofort..." „Ich weiß, ich weiß!" sagte van der Gracht matt. „Natürlich! Wollte ich ja auch: das Bild gleich unter den Arm nehmen und wieder in die Galerie zurückbringen. Aber nun bedenken Sie, der Junge! Seine Enttäuschung! Und auch mich ritt der Teufel! Ich dachte, ich tue ja nichts Verbotenes, und der alten Dame zahle ich es heim. Die kann schon mal drei Tage auf das Gemälde verzichten, sie hat es lange genug gehabt. Wenn ich schon das unverschämte Glück habe, und das Bild ist jetzt hier... Ich hab es allein, ganz für mich allein, dann will ich's auch malen, das nutze ich nun aus, dachte ich, das bin ich mir schuldig, und auch dem Jungen, dem Mario, der nachts für mich losgezogen ist. Können Sie sich vorstellen, was er gewagt hat, klein, wie er ist? Ein Boot hat er genommen, ist über die Giudecca gerudert, bei Nacht und Nebel, hat einfach gedacht: ich pro bier's! Er ist zum Palazzo Leone gerudert, ganz frech auf dem Canal Grande, ganz selbstverständlich, hat dort angelegt, ist über das Gitter geklettert - ich weiß selber nicht wie, ein Erwachsener könnte das gar nicht. Er hat Glück gehabt, fand einen Durchschlupf, einen Schacht, gerade groß genug für einen Hund oder eine Katze - na, also gerade eben groß genug für den Zwerg da. Dann hat er das Bild geschnappt, ist damit wieder aus dem Schacht gestiegen, über Kisten und Kasten, hat dann das Bild unter dem Gitter durchgeschoben und ist selber hinübergeklettert. Dabei hat er sich die Hose zerrissen und eine blutige Schramme am Bein bekommen. Dann ruderte er zurück - und da sollte ich nun das Bild zurückbringen und sagen: „Entschuldigung, der Kleine hat nur Spaß gemacht!'" „Aber das wollten Sie doch tun", fragte der Professor. „Klar. Ich bin doch nicht verrückt und binde mir so ein Meisterwerk ans 62
Bein, das die ganze Welt kennt . Nein! Aber drei Tage Zeit waren drin, dachte ich. Und ich habe gemalt und gemalt wie verrückt, fünfmal ist es mir gelungen, eben so leidlich. Ich habe nicht geschlafen und kaum gegessen, ich bin krank geworden, es ist aber nichts Schlimmes, ein Drüsenfie ber, das kriege ich oft, ich bekam es schon als Kind, wenn ich mich aufregte und überanstrengte. Jetzt, da ich die Sorge los bin um das Bild - Sie nehmen's doch mit? -, wird alles wieder gut werden. Wenn all das von mir abfällt, diese Angst, es könnte der Bursche kommen, dieser Camillo, und es mir wegnehmen. Morgen hätte ich es zurückgebracht, bestimmt!" „Das alles können Sie dem Richter erzählen. Eine wirklich rührende Geschichte - eine blühende Phantasie haben Sie, das muß man Ihnen lassen!" Der Inspektor stand in der Tür. „Camillo, du Bestie", zischte Mario. Der Inspektor blickte ihn an. „Dich nehme ich auch mit!" Aber La Sorella stellte sich ihm in den Weg. „Er ist noch ein Kind, Herr Polizeiinspektor!" Professor Bresgen schaute unglücklich von dem Maler zum Inspektor. Ja", sagte er. „Ich hätte Ihnen ja gern geglaubt, junger Mann. Ich hätte Ihnen auch gern geholfen. Wäre der Herr Inspektor nur nicht gekommen, vielleicht hätte ich Ihnen dann geglaubt. Aber n u n . . . Ihre Geschichte ist wirklich sehr unwahrscheinlich..." „Aber wir glauben sie", riefen Jenny und Lisa wie aus einem Mund. Professor Bresgen lächelte. „Aber nun", fuhr er fort, „nun kann man wohl n u r noch einen guten Rechtsanwalt für Sie suchen." „Aber es stimmt", rief van der Gracht. „Und ich kann es sogar beweisen! Sehen Sie, es liegt alles nur daran, daß die Post hier so unzuverlässig ist." „Wie das?" „Nun, ich habe gleich einen Brief geschrieben, an Signora Huggenstein. Am gleichen Tag noch. Eingesteckt habe ich ihn freilich erst einen Tag später, das war ein kleiner Zeitgewinn für mich! Aber drei Tage ist der Brief nun schon unterwegs, und eigentlich hätte er heute ankommen müssen -das heißt, wenn der Briefkasten überhaupt geleert worden ist. Das weiß man in Italien schließlich nicht so genau!" Professor Bresgen lachte. Und zum Inspektor gewandt, fragte er: „Können Sie unter diesen Umständen von einer Verhaftung absehen, bis 63
der Brief eintrifft? Wenn Sie wollen, stelle ich eine Kaution, ich übernehme die Bürgschaft..." „Es genügt, wenn Sie mir Ihre Pässe aushändigen, der Maler und Sie!" sagte der Inspektor. „Ich warte bis morgen mittag, Punkt zwölf Uhr. Dann, Signori, meine Herren - sehen wir uns im Palazzo Leone. In der Galerie!" „Nun beten Sie, daß die Briefträger morgen nicht streiken", meinte der Professor zu Frans van der Gracht.
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Tante Eulalia Die Sonne strahlte auf den Canal Grande. Das Licht flimmerte auf der Zimmerdecke, spiegelnd wurde es vom Wasser zurückgeworfen. Von allen Kirchen Venedigs läuteten die Glocken. Es war genau zwölf Uhr. Tante Eulalia hielt das Bild von Max Schnee in den Händen. Sie bewegte es, betrachtete es von oben, beäugte es schräg von der Seite und sogar von unten. „Es ist gut!" sagte sie endlich. „Es ist das Original von Max Schnee. Es ist unbeschädigt. Soweit ist alles gut!" In dem Salon mit den braunen, alten Möbeln, mit dem weichen Teppich und dem geschwungenen Leuchter aus Muranoglas waren viele Menschen versammelt. Frans van der Gracht stand bleich und entschlossen Tante Eulalia gegenüber. Noch lag ein fiebriger Glanz in seinen Augen. Aber die ungesunde Röte seiner Wangen war gewichen. Jetzt wirkte er blaß und eingefallen. Er hielt den klei nen Mario an der linken Hand und hielt ihn ganz fest, so als ob er ausdrücken wollte: Was auch pas siert, ich stehe zu dir. „Dann wäre ja wohl eigentlich alles erledigt und in bester Ordnung?" sagte Professor Bresgen. Er räusperte sich. „Liebe Frau Huggenstein, ich 65
meine, wir könnten die Sache nun unter uns ausmachen ..." „Uno momento!" rief der Inspektor jetzt. „Es liegt immerhin eine Anzeige vor, da ist eine Akte angelegt worden, wegen Diebstahls. Wir haben ermittelt, wir wurden tätig, jetzt kann man schließlich nicht einfach sagen: Es war nichts!" „Aber es war doch kein Diebstahl!" rief der Pro fessor. „Denn es lag ja niemals die Absicht vor, das Bild zu behalten, es sollte doch zurückgegeben werden!" „Das ist nicht bewiesen! Wie Signora Huggenstein sagt, ist der betreffende Brief noch immer nicht eingegangen. Also, zugegeben, unsere Post ist etwas unzuverlässig - aber vier Tage von der Giudecca bis hierher? Das ist doch allzu unwahrscheinlich!" meinte der Polizeibeamte. „Verzeihung, Herr Inspektor!" Nun lachte Tante Eulalia. „Diesmal habe ich ein wenig geschwindelt. Ja, ich wollte erst sehen, ob mit dem Bild alles seine Richtigkeit hatte. Ich wollte den jungen Mann und Mario noch etwas im Ungewissen lassen - eine winzige Rache, wenn Sie so wollen, für die Tage der Aufregung, die ich erlebt habe. Aber hier ist der Brief. Er ist heute morgen gekommen. Übrigens ist auch für dich ein Brief dabei, lieber Hans, per Luftpost, aus Kopenhagen. Manchmal gibt es auch Wunder bei unserer Post." Tante Eulalia gab dem Inspektor ein aufgerissenes Kuvert und ein aufgeschlagenes Blatt. Papshänschen reichte sie ein verschlossenes Kuvert. Er nahm es und errötete. Dann trat er beiseite, ans Fenster, löste sich von der Gruppe, riß den Brief auf und las. „Ich weiß nicht, über welchen Brief ich mich mehr freue", flüsterte Jenny ihrer Schwester zu. Die zarte Haut auf ihrer kleinen Nase kräuselte sich. „Ich schon", antwortete Lisa und pustete sich eine kastanienrote Locke aus der Stirn. „Über welchen?" „Das - meine kleine, vorlaute Schwester, soll für immer mein Geheimnis bleiben!" „Du Biest!" „Signora", der Inspektor gab der Tante die Papiere zurück. „Ich kan n die deutsche Sprache nicht lesen. Aber wenn Sie mir sagen ..." „Es ist so! Sie sehen am Poststempel, daß der Brief vor vier Tagen 66
eingeworfen wurde. Herr van der Gracht schreibt, daß sich das Bild bei ihm befindet, er erklärt, wie er es bekommen hat und daß er es zurückgeben wird, daß er selbst zu mir kommen will, um sich zu verantworten - ganz so, wie er es gestern erklärte." „Ich möchte hier keine Zeit mehr verlieren", rief der Inspektor. Er sah ärgerlich aus. „Ich habe mehr als genug zu tun! Alles ruft nach mir: gestohlene Koffer, Handtaschen, Perlenketten. Entscheiden Sie sich, Signora. Es liegt allein an Ihnen, die Anzeige zurückzuziehen!" „Das werde ich nicht tun!" sagte Tante Eulalia. „Du bist gemein!" rief Jenny und wurde über und über rot. Tante Eulalia blickte sie strafend an. „Du mußt mich ausreden lassen. Das werde ich nicht tun, ohne die Meinung jedes einzelnen hier gehört zu haben. Du, liebe Jenny, wirst nicht mehr gefragt. Deine Meinung kenne ich ja schon. Und was sagt Lisa?" „Ich bin froh, daß alles vorbei ist. Und daß es gut ausging. Ich bin auch froh, daß ich vielleicht ein wenig helfen konnte, durch meine Fotografie..." „Nun, wie ich die Sache sehe", Tante Eulalia deutete auf den Brief, „so wäre alles auch ohne dich aufgeklärt worden; trotzdem aber, herzlichen Dank!" „Dazu möchte ich auch etwas sagen", rief La Sorella. Sie stand mit ihrem Bruder Folco in der zweiten Reihe, hinter Frans van der Gracht und Mario. Nun legte sie beide Hände auf Marios Schultern. „Ohne die Mädchen hätte ich nichts von der Sache erfahren, ich nicht und Folco auch nicht. Wir haben gestern nacht viele Stunden miteinander gesprochen. Aber eigentlich waren wir uns von Anfang an einig. Wenn Mario ein richti ges Zuhause gehabt hätte, wäre dies alles wohl kaum passiert. Und so denken wir uns, von jetzt an soll er ein richtiges Zuhause haben, bei Folco und vor allem - bei mir! Mario hat sich nach dem Gesetz falsch verhalten. Aber er ist noch ein Kind. Und er tat es aus gutem Herzen, aus Liebe! Das zählt für mich besonders. Wenn Mario also will, werde ich mit den Behörden das Nötige regeln. Er soll wie mein Sohn sein ... Willst du, Mario?" „Volentieri, Sorella!" rief Mario. „Grazie! Danke!" Lehnte er sich nun fest an seine neue Mutter, oder zog sie ihn an sich mit ihren guten, zuverlässigen Händen? Lisa und Jenny konnten es nicht genau erkennen. Auch Folco versuchte, seine schwere Hand daneben auf der Bubenschulter 67
unterzubringen - aber dann mußte er sich plötzlich in sein Taschentuch schneuzen. „Eine gute Entscheidung!" meinte Tante Eulalia. Sie stand sehr aufrecht da, ihre Perlenkette hing lang und schimmernd herab, und nun wandte sie sich dem Professor zu: „Ich glaube zwar, Ihre Ansicht zu kennen, Professor Bresgen, immerhin aber hätte ich sie gern deutlich gehört." „Sie vermuten richtig", sagte der Professor. „In meinen Augen liegt kein Grund vor, den jungen Maler vor Gericht zu bringen. Ich habe mich heute morgen ein wenig in seinem Atelier umge sehen. Er ist äußerst begabt. Wenn er Fehler gemacht hat, dann ist er in meine n Augen entschuldigt durch seine Leidenschaft für die Malerei, für die Kunst. Ganz ohne Strafe aber sollte er nicht ausgehen ..." „Nanu?" Erstaunen bei den Kindern, Verblüffung bei Lisa und Jenny. Auch Tante Eulalia blickte den Professor verwundert an - auch ein wenig mißtrauisch. „Ja", fuhr Professor Bresgen fort. „Eine Strafe habe ich mir ausgedacht. In Ihrer Galerie, Frau Huggenstein, ist jetzt ein Platz freigeworden Max Schnees Bild geht nach London ..." Der Professor strahlte über das ganze Gesicht. „Frans van der Gracht könnte eines seiner Werke opfern ..." „Das soll ein Opfer sein?" rief der junge Maler. „Sachte, sachte!" Tante Eulalia hob ihre Hände. „Bisher habe ich alle Bilder für meine Galerie gekauft. Doch davon später. Mister Simson, nun noch Ihr Urteil!" Ein vornehm gekleideter Herr, den man bisher kaum bemerkt hatte, löste sich nun aus dem Hintergrund und sagte in reinstem Oxford-Englisch: „Die Tate-Galerie ist nicht geschädigt worden, denn das Bild, das wir gekauft haben, ist hier und wohlbehalten. Anders sieht es mit den Kosten für meinen Flug aus, der war - gewissermaßen - nicht nötig, und den müßte Herr van der Gracht über nehmen. Aber eigentlich könnte ich ihn auch privat übernehmen, denn ich freue mich, in Venedig zu sein und wäre sonst wohl kaum gekommen. Wenn Herr Professor Bresgen, den wir in London kennen und schätzen - wenn er eine so gute Meinung von Herrn van der Grachts Malerei hat nun, dann lohnt es sich vielleicht, ihn kennenzulernen. Kurz und gut, ich sehe meinerseits keinen Grund für eine gerichtliche Verfolgung der Affäre." 68
„Cesare? Und Borgo vor allem? Sie, alter Freund, hatten wohl am meisten Aufregung!" Der Custode begann lebhaft zu gestikulieren. Er ruckte mit dem Kopf, und sein Adamsapfel hüpfte vor Aufregung auf und ab. Er brachte aber nicht viel mehr heraus als: „Bene! Bene! Basta! Gut, gut, genug, genug!" Cesare lachte: „Ich habe nie etwas anderes gewollt, als daß Großvater wieder gut schlafen kann!" „Dann wäre das wohl klar", sagte Tante Eulalia. „Also, ich ziehe die Anzeige hiermit vor Zeugen zurück - oh, warten Sie, Inspektor, ich habe ja Herrn von Stolz noch nicht gefragt! Was sagst du, Hans. . ." Keine Antwort. Hans von Stolz stand am Fenster, den Rücken zum Zimmer gewandt und blickte auf einen Brief, den er jetzt wohl nicht mehr las, weil er ihn schon viele Male gelesen hatte und sicher schon auswendig kannte. „Paps!" rief Lisa. „Hänschen Ohnestolz - antworte!" rief Jenny. „Was? Wie?" Er schreckte auf. Er fuhr sich über die Augen und kehrte zurück in die Gegenwart, in dieses Zimmer. „Wie könnte ich denn jemand ins Gefängnis bringen wollen - an so einem herrlichen Tag!" Felicia zog leise die Küchentür zu. „Mich niemand gefragt", schimpfte sie vor sich hin. Aber sie lachte. „Was Himmel nun kochen für so viele Leute?" Es war ihre Gewohnheit: wenn sie sich freute, dann sprach sie Deutsch, aus reinem Vergnügen. Ja, das war auch ein herrlicher Tag", sagte Jenny am gleichen Abend. Die beiden Schwestern standen hoch oben auf dem Campanile, dem Glockenturm. Ihre Finger waren in d ie Maschen des Schutzgitters verflochten, und sie blickten hinab auf das Gewirr rotbrauner Dächer, auf die Piazza San Marco, auf der die Menschen aus sahen wie Ameisen. Sie blickten hinunter auf die Kuppeln der Markuskirche, auf den Dogenpalast, auf den Canal Grande - und hinüber zur Giudecca. „Weißt du", meinte Lisa versonnen. „Vielleicht wird's jetzt erst richtig schön hier, die Tage, die uns noch bleiben. Ich habe noch so viele Filme zu ver-knipsen. Zum Beispiel bei den Glasbläsern in Murano ..." „Das beste Objekt hast du doch schon versäumt!" „Na, was denn?" 69
„Eine junge Frau mit goldgelbem Rock und rotem Blazer. Die ist schon wieder in Dänemark. Über so ein Foto hätte sich Papshänschen vielleicht gefreut! Statt dessen knipst du kleine Jungen!" „Ja, komisch! Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen", gab Lisa zu. „Schade! Aber an alles kann der Mensch ja wirklich nicht denken." „Besonders nicht, wenn er etwas schwach von Verstand ist", rief Jenny. „Na, laß mal, Schwesterherz. Ich bin heute nicht zum Streit en aufgelegt. Wie war's denn, wenn wir hier wieder herunter stiegen, um uns unter das wimmelnde Volk zu mischen? Ich kenne da eine Eisdiele ... Und wer weiß schon, wen wir da alles treffen, und was uns da wieder erwartet." „Aber was meinst du denn?" fragte Lisa. „Wir erleben doch nichts!" Ihre Augen blitzten und straften sie Lügen. Plötzlich stoben Hunderte von Tauben auf, von den Simsen, von den Fenstern, vom Platz. Sie sammelten sich zu einer langgestreckten, wirbelnden Wolke, die den Himmel verdunkelte. Es war ein Prasseln von Flügelschlägen.
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