Piotr Bednarski
Blauer Schnee
Roman Aus dem Polnischen von Joanna Manc
Ullstein
Titel der polnischen Originalausg...
16 downloads
604 Views
497KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Piotr Bednarski
Blauer Schnee
Roman Aus dem Polnischen von Joanna Manc
Ullstein
Titel der polnischen Originalausgabe:
BLEKITNE SNIEGI
Copyright © 1996 by Piotr Bednarski
Polnische Originalausgabe 1996 by
Oficyna Wydawnicza Volumen, Warszawa
ISBN-13: 978-3-550-08627-X
ISBN-10: 3-550-08627-X
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
Ein etwa 8-jähriger Junge erzählt vom Leben in der Verbannung in Sibirien in den 1940er-Jahren: Von den Wünschen, den Spielen, den Freundschaften und Glücksmomenten, aber auch vom Hunger, der Kälte, der Trauer und der Faszination des allgegenwärtigen Todes. Die Bevölkerung in diesem Ort in der Taiga ist bunt gemischt: Die Familien politischer Gefangener aus vielen Nationen, Kriegsversehrte sowie die Bewacher und ihre Angehörigen. Es herrscht die Willkür des Stalinismus, doch der Mutter des Ich-Erzählers gelingt es, durch ihre Schönheit und ihre Lebensfreude das Unglück aufzuhalten und dem Sohn Wärme zu geben. Der Autor, Jahrgang 1934, verarbeitet hier eigene Erfahrungen. Nach der Besetzung Polens durch die Sowjetunion wurde sein Vater in ein Arbeitslager und die übrige Familie in die Verbannung geschickt und kam dort um. Am Ende des Krieges kehrte P. Bednarski allein nach Polen zurück und hat dort bisher Erzählungen, Kurzgeschichten und Gedichte veröffentlicht. Trotz des ernsten Sujets sind die wie Kurzgeschichten lesbaren Kapitel nicht düster, sondern poetisch und manchmal fast heiter.
DAS MATROSENHEMD
Wir waren immer hungrig, zerlumpt und verlaust. Man scherte uns fast kahl, nicht mit einem Rasierapparat, sondern mit der Schere, stufenartig, so dass unsere Köpfe wie schlecht gebaute Pyramiden aussahen. Wir trugen Soldatenreithosen, die immer zu groß waren und uns fast bis zu den Schultern reichten. Jeder von uns änderte sie sich, so gut er konnte, für seine eigenen Bedürfnisse, weder Mutter noch Schwester oder – Gott bewahre – eine Schneiderin durften dran. Das Wichtigste war, dass die Beine Bewegungsfreiheit hatten und jeden Moment ihren Dienst tun konnten. Oben herum trugen wir eine wattierte Steppjacke, die Kufajka, jenen sowjetischen Smoking der Vertriebenen und Verbannten. Gewöhnlich nahmen wir unsere Armut und den Tod um uns herum nicht wahr. Das war unsere Welt, unsere Wirklichkeit, unser Alltag. Wir kannten nichts anderes oder hatten es vergessen. Wir waren zu sehr damit beschäftigt, den eigenen Hunger zu stillen und die Kälte zu vertreiben – zwei Gesichter des Schicksals, die uns auf Schritt und Tritt verfolgten. Wir sehnten uns danach, erwachsen zu werden. Durch eine Kugel zu sterben und nicht am Hunger oder an der Kälte – vor allem diese Vorstellung hielt uns am Leben und zwang uns zu übermenschlichen Leistungen. Die Wirklichkeit war grausam, schlimmer als die von Höhlenbewohnern, doch es ging uns gut, weil wir das Gute nicht kannten. Kaum jemand sprach über die Vergangenheit. Und wenn doch einmal einer der europäischen Alten sentimental wurde und von einem zivilisierten Land zu erzählen begann, lauschten wir ihm, als hörten wir ein
Märchen. Wenn er uns mit seinen Schilderungen fesseln konnte, bekam er von uns den ehrenvollen Titel des Schamanen, und dann besuchten wir ihn von Zeit zu Zeit, um uns menschlich zu bilden. Doch die alten Leute verschwanden zunehmend, vor allem die europäischen, und mit ihnen verschwand Europa. Uns quälten keinerlei großartige Versuchungen. Wir besaßen nur das Leben, diese kleine Himmelsflamme auf Erden, die zart und fein glomm, den eisigen Winden der Zeit ausgesetzt. Gegen das Leben hatte sich alles verschworen, und besonders gegen unser Leben. Die meisten von uns waren zwangsumgesiedelt worden, ich selbst war ein Verbannter. Aber der Unterschied zwischen den Verbannten und den Freien war nur den Organen des NKWD* bekannt. Niemand wusste, welche Rechte er besaß. Und niemand fragte danach, aus Angst, in einem Arbeitslager zu enden. Das gab mir keine Ruhe. Ich konnte zwischen den Lagerhäftlingen, Verbannten oder Verfolgern keinen Unterschied ausmachen und deshalb fragte ich einmal auf der Straße – ohne mir der Gefahr bewusst zu sein – den Oberbevollmächtigten des NKWD, warum die Lagerhäftlinge von Soldaten bewacht würden und wir Schüler nicht. Schließlich waren achtzig Prozent unserer Gruppe, mich eingeschlossen, Söhne von Feinden des arbeitenden Volkes. Offenbar war er gut gelaunt, vielleicht hatte er auch schon ein Gläschen Wodka intus, jedenfalls zauste er mir die Haare, beugte sich zu mir vor und antwortete: »Die sind wichtiger. Sie versuchen immer zu fliehen.« »Aber wohin denn? Von hier kann man doch nicht fliehen.« *
NKWD: Narodny Komissariat Wuntrennich Del; dt.: Volkskommissariat des Innern (1934-1946). 1946 wurde der NKWD in das MWD (Ministerium für Innere Angelegenheiten) umgewandelt.
»Das wissen sie auch, aber sie wollen in Freiheit sterben. Sie denken, dass hinter der Tür die Freiheit beginnt. Was für Schwachköpfe!« Er knirschte mit den Zähnen und ging davon. Seit diesem Gespräch war für mich jeder Lagerhäftling der Priester irgendeiner Gottheit. Er war für mich ein Priester, weil er noch weniger Möglichkeiten besaß als ich, dafür aber ein größeres Herz. Ich erzählte den anderen Jungen davon. Meine Worte machten sie betreten. »Sie sind besser als wir«, murmelte Isaak Goldman aus Odessa. »In Ordnung. Aber wer ist dann schlechter als wir?« »Darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren«, sagte der schweigsame Koreaner Kim, der sich nur mit Mühe ausdrücken konnte. »Wir sind dessen unwürdig. Schließlich hat keiner von uns ein Matrosenhemd. Schlechtere als uns findest du nicht einmal mit einer Laterne.« Er hatte Recht. Was er sagte, war so klar und durchscheinend wie chinesisches Porzellan. Wir waren Parias und Janitscharen zugleich; Lehm in den Händen von Stalin, der ihn mit seinem primitiven, ordinären Kunstverständnis formte. Das erschreckte mich. Ich schwor mir insgeheim, dass ich um jeden Preis ein Matrosenhemd für mich auftreiben würde. Schon deshalb, weil Stalin Matrosen nicht mochte. Das hatte mir Schönheit gesagt. Schönheit war meine Mutter und sie stellte für uns Bengel eine Autorität dar; was aus ihrem Herzen kam, war für uns heilig. In einem alkoholseligen Moment hatte sie mir ins Ohr geflüstert, dass die Matrosen nicht Stalins Leute seien, trotz ihrer Ausdauer und ihrer Verdienste um die Revolution; dass er überhaupt die Menschen hasse und nur Flugzeuge liebe. Sie würden ihn an Engel erinnern und seien seine privaten Seraphim, die am Himmel jenes Gottes flögen, den er verraten habe, von dem er sich abgewandt habe, schon damals, als er das Priesterseminar besuchte. Die Flugzeuge
betäubten seine Gewissensbisse. Flugzeuge und Wodka. Doch so oder so würden ihn am Ende seine Albträume einholen und ihm all das heimzahlen, was wir tagtäglich aushalten mussten. Weder Flugzeuge noch Wodka würden ihm dann helfen. Trotz dieser Auskunft wollte ich immer noch Flieger werden, vielleicht wünschte ich es mir seitdem sogar noch mehr. Ich hatte vor, ein Engel Gottes zu werden. In der Zukunft ein Flieger sein und jetzt ein Matrosenhemd besitzen – diese Wünsche nagten unaufhörlich an mir. Doch erst Kims Bemerkung, dass wir ohne ein Matrosenhemd kein Recht hätten, über so etwas Erhabenes wie einen würdigen Tod zu diskutieren, machte das Erlangen dieses gestreiften Kleidungsstückes zu meinem »Sein oder nicht Sein«. Ich wusste damals noch nicht, was passiert, wenn man sich etwas innigst und von ganzem Herzen wünscht und glaubt, dass man unvermeidlich sterben wird, wenn sich dieser Wunsch nicht erfüllt – dass dann nämlich ein Wunder geschieht. Mir nichts; dir nichts stößt man auf etwas, was einem die Realisierung des Traums ermöglicht. Denn soll man es etwa kein Wunder nennen, dass ich, der nie etwas fand – ganz im Gegenteil, ich verlor immer alles –, plötzlich in den Besitz einer goldenen Zehnrubelmünze kam? War es nicht ein Wunder, dass ich gerade allein unterwegs war, ich, der fast nie alleine herumlief, dass ich quer über eine Wiese marschierte, auf einem selten benutzten Pfad? Auf diesem matschigen Weg lag jene Münze, fast unbeschmutzt, als ob sie jemand gerade erst dort verloren oder heimlich hingelegt hätte, damit ich sie finden konnte. Ich hob das goldene Wunderding auf. Noch nicht recht an mein Glück glaubend, warf ich es ein paar Mal in die Luft. Dann rannte ich ohne lange nachzudenken zum Bahnhof. In Momenten des Glücks oder Unglücks lief ich immer zum Bahnhof. Das war mein Tempel. Hier gab es zu jeder Zeit
Menschen, die irgendwohin eilten. Hier traf man all jene an, die Stalin mit seiner dämonischen Hand gestreichelt hatte. Der Bahnhof hatte mich gelehrt, dass der Satan kein Aberglaube, sondern ein reales Wesen war. Am Bahnhof konnte man den Teufel ebenso wie Engel treffen. Und auch diesmal hatte ich das Vergnügen. »Ah, Pjetja, ich habe dich lange nicht gesehen«, sprach mich Kosych, der Inquisitor unseres Städtchens und Oberbevollmächtigte des NKWD, überschwänglich an. »Wie geht es Schönheit?« »Sie liebt die Menschen«, antwortete ich herausfordernd. »Denn das ist Schönheit!« »Und ich bin kein Mensch?«, fragte er schon leiser und drückte meine Schulter, bis sie schmerzte. »Na, sag schon.« »Weiß nicht«, antwortete ich und riss mich los. Kosych hatte sich unsterblich in meine Mutter verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick – allerdings nur einseitig. Er besaß die Macht, uns in ein Lager deportieren zu lassen, doch sein Herz ließ es nicht zu. Nur wenn er betrunken war, schwor er, dass er uns dahin schicken würde, wo der Pfeffer wächst. »Schon gut«, sagte er jetzt versöhnlich. »Warum hast du es denn so eilig?« »Ich will mir ein Matrosenhemd kaufen.« »Was ist das nur für ein Volk!«, schnaubte er, während er mir in die Augen blickte. »Immer wollen sie das, was es nicht gibt. Andauernd seht ihr etwas, was andere nicht sehen können. Du bist genau wie deine Mutter.« Er winkte ab, ging weiter und rief mir noch über die Schulter zu: »Wegen des Hemdes frag mal den Maschinisten oder den Schaffner vom WladiwostokExpress. Der Zug ist gerade eingefahren.« Das war eine Idee! Es war geradezu beschämend, dass ich nicht selbst darauf gekommen war, dass ausgerechnet der Teufel sie mir einflüstern musste. Die waren eben immer
schlauer und findiger als gewöhnliche Menschen. Ich eilte zum Bahnsteig und lief den ganzen Zug ab. Umsonst. Keine Spur vom Schaffner. Ich näherte mich also dem Maschinisten, der irgendetwas am Kessel nachschaute und ihn putzte. Ich wartete, bis er fertig war. Als ob er meinen aufdringlichen Blick gespürt hätte, richtete er sich auf und kam zu mir herunter. »Na, du Held, was hast du zu sagen? Raus mit der Sprache!« »Würdest du mir in Wladiwostok ein Matrosenhemd kaufen?«, fragte ich schüchtern. »Es geht um Leben und Tod«, fügte ich hinzu, um die Dringlichkeit meiner Bitte zu unterstreichen. »Hast du eine Ahnung, wie viel zurzeit ein Matrosenhemd kostet? Heutzutage wird alles in Gold aufgewogen, von einem Matrosenhemd ganz zu schweigen. Weißt du überhaupt, worum du da bittest?« »Ja«, antwortete ich, »ich bin ein Pole…« »Oho! Also bist du ein Adler. Schaut, schaut. Ich kenne die Polen, ich war neunzehnzwanzig im Krieg. So ist das Leben«, seufzte er. »Na gut, was gibst du für das Hemd?« »Vielleicht reicht das hier.« Ich hielt ihm die goldene Zehnrubelmünze hin. Er betrachtete sie und steckte sie in seine Brusttasche. »Etwas wenig«, stellte er fest und rümpfte die Nase. »Das ist viel zu wenig.« »Ich habe nicht mehr.« Flehend breitete ich meine Arme aus. »Und selbst das habe ich nur gefunden.« »Was soll ich mit dir machen? Na gut, ich versuche es. Ich verspreche nichts, aber ich versuche es.« Er zog einen Stift hervor und notierte auf einem Zeitungsfetzen, der sonst zum Zigarettendrehen diente, Datum und Uhrzeit seiner Rückkehr. »Komm nächsten Dienstag um zwölf Uhr fünfundvierzig wieder. Vergiss es nicht.«
»Und du bemühst dich, ja?« Der Maschinist war groß, schlank und sein von Falten übersätes Gesicht strahlte Güte aus. Seine Augen waren dunkelblau wie der hohe Sommerhimmel. Eben diese Augen brachten mich auf einen Gedanken. »Wenn du mir das Hemd besorgst, dann zeige ich dir etwas…«, fügte ich geheimnisvoll hinzu. »Was wirst du mir zeigen?« »Schönheit, Onkel. Wenn du es mir kaufst, wirst du es nicht bereuen.« »Schönheit?«, wunderte er sich. »Schönheit… Du willst mir die Schönheit zeigen«, sagte er mit jener überschwänglichen russischen Sehnsuchtsmelodie in der Stimme. »Schönheit habe ich im Tanz gefunden, Schönheit habe ich im Gesang gefunden… Schönheit…« Schließlich kam er wieder zu sich. »Na gut, verschwinde nun, ich muss noch meine Suppe essen. Vergiss das Datum nicht und denk auch an dein Versprechen.« Seit dieser Zeit weiß ich, was es heißt, sehnlichst auf etwas zu warten. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Die merkwürdigsten Dinge kamen mir in den Sinn. Ich wurde so fleißig und hilfsbereit, dass sogar meine Freunde vermuteten, ich hätte etwas ausgefressen. Auch Schönheit bemerkte meine Veränderung und stellte mich schließlich zur Rede: »Na, was hast du auf dem Gewissen? Sag schon!« »Ich werde es dir sagen, aber erst zieh dir etwas Schönes an und komm mit mir. Ich bitte dich sehr darum.« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Das Problem war gelöst. Ich hatte mir die ganze Zeit unnötig Sorgen darüber gemacht, wie ich Schönheit dazu überreden könnte, zum Bahnhof mitzukommen, und hatte die Bitte bis zum letzten Moment hinausgezögert. Doch nun war wieder einmal ein Wunder passiert. Erschöpft vom Warten, aber glücklich fiel ich Mutter
um den Hals. Sie brauchte nicht lange, um ausgehfertig zu sein. Wie wunderbar war doch meine Schönheit! Als wir den Bahnhof betraten, stand der WladiwostokExpress schon da. Und wenn ein Zug da ist, lebt der Bahnsteig auf. Wir zwängten uns langsam durch die pulsierende und lärmende Menge in Richtung Lokomotive. Als ich den Maschinisten entdeckte, bat ich Mutter zu warten und rannte voraus. Der Maschinist lächelte bei meinem Anblick. »Ich grüße dich«, sagte er heiter. »Und wo ist die Schönheit?« »Hast du denn das Hemd?« »Na klar.« Er verschwand für einen Moment, um mit einem Päckchen in der Hand zurückzukommen. »Schau!« Mir lief ein Schauder über den Rücken. »Komm von der Lokomotive herunter!«, rief ich und rannte zurück, um Mutter zu holen. »Das hier ist Schönheit«, sagte ich und zeigte auf Mutter, als wir vor ihm stehen blieben. »Worum geht es denn?«, fragte Mutter. »Militärgeheimnis«, antwortete ich, ohne mein Lächeln zu verbergen. Der Maschinist stand wie verzaubert da. Er starrte nur, und seine angehobenen Augenbrauen wollten gar nicht wieder an ihren Platz. »Mein Gott«, flüsterte er, ohne es zu merken, dann nahm er Mutters Hand und drückte sein Gesicht in sie. Einen Moment später kam er zu sich und verneigte sich charmant. Schließlich küsste er Schönheits Hände. »Ich habe gegen Pilsudski* gekämpft und weiß, wie man Polinnen behandelt. – Ich danke *
Józef Klemens Pilsudski, Marschall von Polen. Als Oberbefehlshaber der Armee schlug er 1920 die Bolschewisten, die bis Warschau vorgedrungen waren, zurück.
dir, mein Junge«, sagte er, wandte sich zu mir und gab mir das Päckchen. »Und dir danke ich auch.« Er sah erneut Mutter an. »So, ich muss gehen, gleich ist Abfahrt. Auf Wiedersehen. Nochmals danke, Junge.« Er hob mich hoch und drückte mich fest an seine Brust. Als der Express in die dunkle Wand der Taiga glitt, öffnete ich das Päckchen. Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen! Jetzt war ich es, der verzaubert dastand. Vor Rührung bekam ich feuchte Augen. »Ist ja schon gut«, sagte Mutter und streichelte beruhigend meinen Kopf. »Wisch dir die Tränen weg, wir gehen nach Hause. Aber bleibe ruhig immer salzig, denn Salz gibt allem Geschmack.« »Ist gut, ich bleibe salzig«, antwortete ich auf ihre merkwürdigen Worte. In der Schule gab es natürlich eine Sensation. Als ich meine Steppjacke auf den Haken gehängt hatte und in Richtung Klassenzimmer marschierte, begann sich im Korridor alles wie in einem Bienenstock zu regen. Es brodelte auch in jeder Unterrichtsstunde und während der Pausen. Meine Freunde folgten mir auf Schritt und Tritt. Kim berührte das Hemd vorsichtig mit dem Finger und sagte: »Jetzt können wir über alles diskutieren. Jetzt haben wir sogar das Recht, Philosophen zu werden.« Nach dem Unterricht gingen wir auf unsere Wiese Schlagball spielen. Als wir uns nach dem Spiel ausruhten, bemerkte ich, dass auch Kolja Dowschenko, ein Junge aus dem Waisenhaus, da war. Er war vor ein paar Monaten in unserer Siedlung aufgetaucht. Seine Eltern waren in einem Arbeitslager, und er selbst wurde wegen seiner Widerspenstigkeit von einem Ort zum anderen geschickt. Er wollte seine Eltern nicht als Volksfeinde brandmarken. Es halfen weder Bitten noch Drohungen. Er musste schon gar nichts mehr schreiben, es
hätte gereicht, wenn er einen vorgefertigten Text unterzeichnet hätte. Doch er lehnte immer wieder ab und behauptete jedes Mal, dass er keine Buchstaben schreiben könne. Ich bemerkte Kolja, weil er sich so hingesetzt hatte, dass ich auf ihn aufmerksam werden musste. Ich zwinkerte ihm freundlich zu. Einen Moment später setzte er sich zu mir. Ich spürte, dass er auf irgendetwas wartete. Wenn ein Kind aus dem Waisenhaus bei uns, den Freien, auftauchte, dann wollte es immer irgendetwas. »Sag schon, Kolja. Genier dich nicht.« »Ich weiß nicht so recht…«, antwortete er unsicher. »Nur Mut.« »Du wirst mich auslachen…«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Ich möchte, dass du mir für zehn Minuten das Matrosenhemd leihst. Ich werde es anziehen, ein wenig bei dir sitzen und es dir dann gleich zurückgeben.« In Koljas Stimme lag so viel Schmerz und seine Bitte ging mir so nah, dass ich Tränen in den Augen spürte. Ich senkte den Kopf, damit er dieses menschliche Salz nicht bemerkte. Wir schwiegen. »Gut, Kolja«, sagte ich nach einer Weile und zog das Hemd aus. Und als er es sich übergezogen hatte, klopfte ich ihm auf die Schulter und fügte etwas schroff hinzu: »Ich gebe es dir für immer.« »Was? Hast du etwa ein zweites?« »Nein«, antwortete ich, »hab ich nicht. Aber es soll dir Glück bringen.« Ich streifte meine Steppjacke über und ging davon. Auf dem Nachhauseweg fühlte ich mich, wie sich ein Hund fühlen muss, der nach langem Herumtreiben endlich sein Herrchen wiederfindet.
DIE BERGPREDIGT
An diesem Tag kam Mutter später als sonst nach Hause. Ich dachte, dass vielleicht wieder ein Invalide aus dem Krieg zurückgekehrt war und man Schönheit zur Empfangsfeier mit Schnaps eingeladen hatte. Der Krieg war in vollem Gange, die Arbeitslager waren überfüllt, und auch die Feiern hörten nicht auf. Die Schönheit meiner Mutter, ihr Taktgefühl, ihr Optimismus und ihre humorvolle Art hatten eine solche Legende um sie entstehen lassen, dass ihre Anwesenheit bei jeder Feier unerlässlich war. Bekannte wie Fremde kamen direkt ins Krankenhaus, wo Mutter arbeitete, um sie in ihr Haus zu holen. Schönheit lehnte nicht ab. Sie liebte es, wenn gefeiert wurde, wenn die Menschen vor Freude lachten oder weinten. Doch ich hatte mich geirrt. Mutter war nicht auf einer Feier gewesen. Ihr Gesichtsausdruck sagte es. Schönheit strahlte, aber auf eine andere Weise als sonst, auf eine unaussprechliche Art. »Wir haben jetzt das Wort Gottes im Haus«, flüsterte sie glücklich und zog ein Scheit aus Lärchenholz aus ihrer Tasche, so eines von denen, wie ich sie jeden Tag in unseren Ofen warf. »Denk nicht, dass ich verrückt geworden bin«, fügte sie hinzu, weil sie meine verwunderte Miene sah. Sie zog an beiden Seiten Holzstifte heraus und das Scheit öffnete sich. Im Inneren, in einer Aushöhlung, lag ein in Leder gebundenes Buch. Sie nahm es heraus und küsste es, ich tat es ihr nach, dann faltete sie die Hände zum Gebet und bat mich, den Segen zu sprechen. Als sie begriff, dass ich nicht wusste, was ein Segen ist und wie er lautet, schrieb sie den Text auf
einen Zettel, und während sie ihn mir reichte, fügte sie hinzu: »Frauen ist es nicht erlaubt zu segnen. Das ist ein Vorrecht der Männer.« Ich nickte und sprach leise und andächtig die Formel: »Gelobt seiest Du, Ewiger, Herr der Welt, der Du die Menschen und die Bibel erschaffen hast.« »Ich bin so glücklich«, sagte Mutter und drückte mich an die Brust. »Jetzt sind wir Menschen Gottes. Ein Haus ohne die Bibel ist wie eine Küche ohne Herd. Hüte sie wie deinen Augapfel, mein Sohn. Schau, wie sie der vorige Besitzer vor schlechten Menschen verborgen hielt.« In Mutters Adern floss jüdisches Blut. Ihre Großmutter, meine Urgroßmutter, war eine kurdische Jüdin gewesen, von der sie nicht nur die Schönheit, sondern – was sie stets mit Stolz betonte – auch das Herz geerbt hatte und damit einher eine pietistische Beziehung zum Wort Gottes. Am Tag unserer Deportation hatte Mutter ihre Geistesgegenwart behalten: Die Verbannung war für sie nichts Fremdes, und so hatte sie auch die Bibel nicht vergessen. Sie wickelte sie in ein schwarzes Abendkleid und versteckte sie tief im Koffer. So kam die Bibel mit uns im Land der Verbannung an. Doch am Bestimmungsort, beim Aussteigen aus dem Zug, stolperte Mutter. Der Koffer schlug auf der Erde auf, öffnete sich, und sein ganzer Inhalt quoll einem vorbeigehenden NKWD-Mann vor die Füße. Und so passierte es. Ein Soldat der stalinistischen Inquisition mochte vielleicht über Gold oder sogar Brot hinwegsehen, aber die Bibel und anderes Geschriebenes konnte er nicht übersehen; das wäre eine Fahrlässigkeit gewesen, die er teuer hätte bezahlen müssen. Er übersah sie also nicht. Er wickelte die Bibel aus dem Kleid heraus, blätterte sie durch, und nachdem er nichts weiter in ihr gefunden hatte, warf er sie ins Feuer, das unter der Aufsicht eines Wachtpostens brannte.
Dann kam er zurück, sah Mutter an, sagte jedoch nichts, obwohl er es vorgehabt hatte – deswegen war er ja noch einmal umgekehrt. Mutters Schönheit machte ihn sprachlos. »Du hast sie den Flammen ausgeliefert«, zischte sie ihn voller Verzweiflung an. »Sie wird es dir eines Tages vergelten.« Er antwortete nichts, biss sich auf die Lippen und ging davon. Der Verlust ihrer Bibel hatte Mutter sehr mitgenommen. In den ersten langen Wochen der Verbannung wiederholte sie bei jeder Gelegenheit, dass sie sich ohne Bibel so fühle, als ob ihr jemand das Geheimnis ihres Herzens gestohlen hätte. Sie küsste mich öfter als sonst und drückte mich an ihre Brust, weil sie um mich bangte. Sie sah mir in die Augen und flüsterte: »Wie soll ich dich ohne Bibel aufziehen? Dein Vater ist Gott weiß wo und die Bibel – verbrannt. Was mache ich bloß? Wenn ein Junge nicht von Kindheit an die Heilige Schrift liest, verwandelt er sich doch in einen Teufel.« Es war mir sehr unangenehm, dass Mutter meinetwegen so verzweifelt war, und ich versprach ihr feierlich, dass ich ein guter Junge sein würde, so gut wie Ofenwärme an eiskalten Tagen. Doch – auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird – die Zeit ist die größte Verbündete des Menschen. Und die treueste. Ob wir es wollen oder nicht, sie führt uns immer zum Ziel; sie beschert uns Qualen, nimmt sie aber auch wieder, ständig fügt sie uns Wunden zu, heilt sie aber dann. Sie heilte auch meine Mutter. Schönheit hörte auf, über die verbrannte Bibel zu klagen, immer seltener verfiel sie in ihre düsteren Grübeleien. Sie begann sogar wieder zu lächeln und die Melodie von Rebecca zu summen. Und als sie die Stelle im Krankenhaus bekam, um die sie sich so sehr bemüht hatte, schien der Verlust der Bibel in Vergessenheit zu geraten.
Nun zeigte sich, dass dem nicht so war. Zwar war Mutter stiller geworden, aber sie hatte nicht vergessen, ständig nagte der Wurm der Erinnerung an ihr. Ich war derjenige, der vergessen hatte. Jetzt verspürte ich Gewissensbisse: Wie unbeeindruckt hatte mich Mutters Kummer gelassen, keine Spur, keine Narbe war bei mir zurückgeblieben. Mir wurde zum ersten Mal deutlich klar, dass man den Schmerz eines Herzens nicht so leicht lindern kann, dass die Zeit nicht immer imstande ist, solche Wunden zu heilen, und dass man die Herzensbedürfnisse seines Nächsten nicht einmal für einen Moment vergessen darf. »Verzeih mir, dass ich nicht mit dir gesucht habe«, murmelte ich, »und danke, dass du die Bibel gefunden hast.« Sie schaute mich liebevoll an, ihre Augen wurden noch dunkler, so dunkel wie ein unbewölkter und mondloser Winterhimmel, an dem die Sterne funkeln. Auch in ihren Augen funkelten ganze Galaxien, geheimnisvolle Lichtpunkte, die ich noch nicht begreifen konnte, obwohl sie mir galten. »Schon gut, mein Junge«, flüsterte sie, »du wirst noch öfter straucheln. Der Mensch fällt sein ganzes Leben lang immer wieder hin. Das Wichtigste ist, dass dein Herz dir hilft, wieder aufzustehen. Und jetzt lies mir das Höre, Israel vor. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich nach diesen Worten gesehnt habe.« Sie suchte das Kapitel heraus und zeigte mir, ab dem wievielten Vers ich lesen sollte. »Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.« Die russischen Worte, die ich gelesen hatte, erschütterten mich, sie berührten mich an einer Stelle in meinem Innern, wo noch niemand hingedrungen war. Ich schwieg, Mutter schwieg ebenfalls. Zum ersten Mal seit unserer Verbannung hatte Gott zu uns gesprochen, wir gehörten wieder zu den Auserwählten. In diesem Moment hätte eigentlich in mir die Frage nach dem
Grund unserer Verbannung auftauchen können, aber sie tauchte nicht auf. Ich weiß nicht, warum, aber ich fragte Gott nie, was für eine Schuld ich – ein Kind – auf mich geladen hatte, dass er mich mit der sibirischen Kälte und dem Hunger strafte, und weshalb er so viele Mächte des Bösen so stark werden ließ. Ich fragte wohl deshalb nicht danach, weil man in diesen jungen Jahren nicht fähig ist, Gott Fragen zu stellen, sondern Ihm zuhören will. Ihm zuhören und sich an Ihm freuen; sich darüber freuen, dass Er einen nicht verlassen hat. Es war für uns ein feierlicher Moment. Vor allem für mich. Ich fühlte meine Außergewöhnlichkeit, begriff mit meinem ganzen Wesen, dass ich einmalig war; dass es so einen Menschen wie mich nur einmal auf der Welt gab und dass es ihn nie wieder geben würde. Diese Erleuchtung war wunderbar und erschreckend zugleich. Ja, jeder Mensch ist ein Juwel. Doch zu so einer Überzeugung in der Verbannung zu kommen, wo der Mensch nur Abfall war, wo ein Tier einen größeren Wert besaß, weil man es verkaufen oder essen konnte, sich so etwas in diesen Zeiten des Krieges bewusst zu machen, es mit dem Herzen zu erleben, das bedeutete auch, durch die Hölle zu gehen. Unwillkürlich griff ich nach Mutters Hand, als ob ich ihr zeigen wollte, dass ich lebte, dass ich zu ihr gehörte. Sie erwiderte meine Geste. »Ich hätte nie geglaubt«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen, »dass Gott seinen Bund mit dir in russischer Sprache schließen würde. Du musst also diese Menschen hier mit all ihrem Guten und Schlechten lieben. Bestimmt wird dieses Volk noch zur Prüfung deines Herzens.« Damals wusste ich noch nicht, dass in der Welt der Erwachsenen ein Volk über ein anderes gestellt werden konnte, dass ein Weißer besser war als ein Schwarzer und ein Deutscher besser als ein Jude. Ich wusste nur, dass es gute und
schlechte Menschen gab und dass es normalerweise Psychopathen und Größenwahnsinnige waren, die an die Macht kamen. Seit ich mich bewusst erinnern konnte, lebte ich in einer Vielvölkergemeinschaft, weshalb mir der geringste Hang zum Nationalismus völlig fremd und geradezu unbegreiflich war. Mutters Bitte war für mich daher nur eine Ausschmückung oder die bloße Feststellung einer bekannten Tatsache. Doch Schönheit hatte nicht die Gewohnheit, etwas einfach dahinzusagen; sie wusste mehr, sie erlebte den grauen Alltag intensiver und begriff besser als ich, wie schwer es war, die Russen zu lieben, jene Russen, über die Stalin herrschte. So begann meine Entdeckungsreise in die Welt der Bibel. Ich fing mit dem Neuen Testament an, wie mir Mutter geraten hatte. Das Matthäusevangelium las ich an einem Nachmittag durch. Der Inhalt wühlte mich auf. Ich ging nach draußen, setzte mich auf die Bank vor dem Haus und starrte bis zu Mutters Rückkehr in die Grenzenlosigkeit des Himmels mit all den glitzernden Sternen. Das Evangelium, das ich gelesen hatte, machte mir bewusst, dass wir, die Verbannten, gesegnet waren; dass die meisten Menschen zu Gott gehörten, weil sie Hunger, Kälte und Verfolgung ertrugen. Diejenigen jedoch, die uns schlecht behandelten, hatten schon dafür bezahlt. Die Verstoßenen leiden nicht, und wenn doch, dann vor allem aus eigener Schuld. Ich lernte die Bergpredigt auswendig und versuchte gemäß den Segenssprüchen zu leben. Die Evangelien öffneten mich für die Welt, und ihr Geist, mit dem sie mich so reich beschenkten, begann seine Rechte einzufordern: Es galt, ihn mit anderen zu teilen. Dieser Geist rief mich, doch ich schwieg und wartete auf den richtigen Moment, in dem ich die empfangenen Lehren anwenden konnte. Und ich sollte nicht lange warten.
Im Unterricht fragte man uns wieder einmal, was wir später werden wollten. Unsere Jungenbande war die Sturmgruppe; jeder von uns wollte entweder Seemann oder Flieger werden. Toleriert wurde auch noch der Beruf des Geologen – als Schatzsucher, gemäß der bekannten Liedzeile »Auf der Erde, am Himmel und auf der See«*. Diesmal wurde Sascha Swjerdlow aufgerufen. Er antwortete nicht wie gewohnt und überraschte uns, brachte uns auf den Boden zurück. Er erklärte ganz einfach, dass er später am liebsten ein Laib Brot wäre, weil ein Brot nie hungrig sei und jeder sich nach Brot sehnen würde. Durch unsere Gruppe ging ein Raunen. Alle schauten zu Sascha wie zu einem Verräter hinüber und warfen ihm insgeheim vor, dass er aussprach, was wir zu verbergen suchten. Jeder von uns dachte doch ständig an Brot und sehnte sich danach, genug davon zu haben. Unsere Träume bestanden aus Brot. Um an Brot zu kommen, stahlen wir sogar. Gerade in diesem Metier war Sascha ein wahrer Künstler, ein Dieb ohnegleichen; seine Art zu stibitzen zeugte von angeborenem Talent. Das war kein Diebstahl, sondern Magie – seine Hände waren schneller, als er denken konnte. Auf Sascha konnten wir uns immer verlassen, er war unser letzter Rettungsanker. Nach dem Unterricht versammelten wir uns auf der Wiese, wo das Geschrei losging. Fast die ganze Gruppe war dafür, den Abtrünnigen aus unserem Kreis auszuschließen. Sascha saß neben dem schweigenden Kim und malte mit einem Stock Schnörkel auf den Boden. Dieser Anblick erinnerte mich an Jesus, der das Gleiche getan hatte, als man die Ehebrecherin zu Ihm brachte, damit Er über sie urteilte. Mir lief ein Schauder über den Rücken. »Sascha hat die Wahrheit gesagt«, sagte ich in die Stille hinein. »Und deshalb tut es so weh. Auch mich quält der *
Refrain eines beliebten sowjetischen Lieds jener Zeit
Hunger. Auch ich schäme mich, dass ich ständig nur an Brot denke. Die Wahrheit tut immer weh.« »Aber er war doch nicht hungrig, als er diesen Unsinn gefaselt hat. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er ein Stück Brot mit Zwiebeln weggeputzt hat«, widersprach der Kommandant unserer Bande, kurz der Korn genannt. »Und ich habe gestern überhaupt nichts gegessen«, sagte der Jüngste von uns, der Weißrusse Kotlas, mit stolzer Stimme und sah mich mit seinen fiebrigen Augen forschend an. »Wir sind alle hungrig wie die Hunde!«, rief der Este Erik. »Also gut«, sagte ich, »hören wir auf herumzujammern und Unsinn zu reden. Handeln wir so, wie es in einer ähnlichen Situation Jesus Christus getan hat. Er hat erklärt: ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.‹« Sie verstanden die Anspielung und schwiegen plötzlich. Jeder senkte den Kopf. Vielleicht kämpften sie mit sich selbst, vielleicht dachten sie wieder an Brot. Das Schweigen zog sich immer mehr hin und je länger es dauerte, desto unerträglicher wurde es. »Sascha wartet«, sagte ich schließlich. »Fällt euer Urteil.« »Er bleibt«, beschloss der Korn. »Aber sag mal, wer ist dieser Jesus Christus, den du erwähnt hast?« Vergiss nicht, dass du ein Apostel bist, sagte ich zu mir selbst in Gedanken und begann vor Aufregung zu schwitzen. Irgendetwas schnürte mir den Hals zu. Ich räusperte mich und begann zu sprechen. So gut ich konnte, beschrieb ich die Gestalt des Menschensohns; sein wunderbares, aber schwieriges Leben und den steinigen Weg, der bis nach Golgatha geführt hatte. Ich erzählte sehr unzusammenhängend und bruchstückhaft, weil ich die vielen Gedanken nicht ordnen konnte, doch es kam aus tiefster Seele. Ich sprudelte zu schnell drauflos, und plötzlich fehlten mir die Worte, also erklärte ich, dass ich im Moment nur so viel wüsste. Aber sie sollten noch
hören, was Jesus gelehrt hatte. Und ohne auch nur einmal zu stottern, schon ganz ruhig, sagte ich mit viel Gefühl Jesus’ Bergpredigt auf. Als ich fertig war, blickte ich zu den Jungen hinüber. Unverwandt starrten sie mich an. Ihre konzentrierten, unbewegten Mienen zeigten, dass sie fasziniert waren, dass die Worte sie tief berührt hatten. »Selig sind, die verfolgt werden«, flüsterte der Korn und stand auf. »Wir gehen nach Hause. Morgen wirst du diese Rede noch einmal halten.« Fünf Tage hintereinander verkündete ich nach dem Unterricht die Bergpredigt. Die Segenssprüche spendeten Zuversicht, gaben Kraft. Es fiel uns leichter, den Hunger auszuhalten und andere anzulächeln. Es ging so weit, dass der Korn allen auftrug, die ganze Predigt aufzuschreiben und sie auswendig zu lernen. Er selbst tat es auch und fragte dann jeden ab. Bei jeder Gelegenheit wiederholten wir ganze Sentenzen der Segnungen, was unseren Erziehern in der Schule nicht verborgen blieb. Offenbar hatte auch jemand weitergegeben, dass ich es war, der die Predigt verbreitete, denn ich landete als Erster beim Schulleiter. Er war nicht allein. Am Tisch saß noch ein Mann mittleren Alters mit markanten Gesichtszügen und buschigen, zerzausten Augenbrauen. »Wir haben gehört, Pjetja«, begann der Direktor, »dass du Reden hältst. Vielleicht erzählst du uns, was du so von dir gibst.« »Kann ich machen«, antwortete ich, und ohne auf Erlaubnis zu warten, sagte ich den ganzen Inhalt der Predigt auf. Sie unterbrachen mich nicht und lauschten mit Neugierde. »Und wer hat dir das beigebracht?«, fragte der Fremde, als ich fertig war.
»Meine Großmutter«, antwortete ich. »Sie ist auf dem Weg in die Verbannung verloren gegangen. Wir suchen sie, vielleicht lebt sie noch.« »Bestimmt ist sie tot«, sagte der Fremde kalt. »Leute wie deine Großmutter nehmen ein schnelles Ende, wenn sie solche Dinge herumerzählen. Weißt du denn, wer Jesus von Nazareth war?« »Ja, er war ein Jude. Ein sehr kluger Jude«, fügte ich hinzu. »Was hat er denn so Besonderes gesagt?«, mischte sich der Schulleiter ein. »Na, zum Beispiel: ›Tue deinem Nächsten nicht an, was auch dir schadet.‹« »Und weißt du auch, dass Christus gar nicht existiert hat, dass das alles nur ein Märchen ist?« »Das wusste ich nicht«, antwortete ich. »Aber jetzt weiß ich es. Und ich weiß auch, warum mir meine Großmutter von Jesus Christus erzählt hat.« »Vielleicht hat sie von ihm erzählt, aber wir verbieten dir, ihn zu erwähnen.« »Darf man denn keine Märchen erzählen?«, fragte ich. »Doch. Aber nicht über Jesus«, fügte der Fremde trocken hinzu. »Das sind böse Märchen. Das sind keine kommunistischen Märchen. Wenn du so gerne liest und erzählst, dann lies Das Kapital.« »Ist das auch ein Märchen?« »Nicht ganz«, erwiderte er, »das ist Philosophie. Darüber kannst du reden, aber halte keine Predigten und erzähl keine Märchen, die dir deine Großmutter beigebracht hat, sonst nimmt es ein böses Ende. Mach deine Mutter nicht unglücklich. – Na, geh schon, und denk daran, was wir dir gesagt haben.« Der Schulleiter hatte mich nach dem Unterricht zu sich gerufen, und so hätte ich danach die Jungen auf der Wiese
treffen können, wo sie Schlagball spielten. Doch ich ging nicht dorthin. Irgendetwas zog mich nach Hause. Und meine Vorahnung täuschte mich nicht. Unsere Wohnungstür stand offen, und alles war durchwühlt. »Sie sind da gewesen«, sagte die alte Frosia bedeutungsvoll. Sie war unsere Flurnachbarin und die Besitzerin unseres Zweizimmerhäuschens. »Bei mir haben sie auch alles durchsucht. Sogar in den Ofen haben sie geschaut. Und wenn sie etwas suchen, dann heißt das, dass mein Mann noch lebt. Auch die Kolyma* kann man überleben. Denn was haben sie sonst gesucht, Gold gibt es doch bei uns nicht.« »Gold haben die schon, das brauchen sie nicht zu suchen; sie haben nach Gott gesucht.« Ich brachte die Wohnung in Ordnung und ging dann mit klopfendem Herzen in den Holzschuppen. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir. Das Holzscheit, in dem wir die Bibel versteckt hatten, befand sich noch an seinem Platz. Freudentränen brannten in meinen Augenwinkeln. »Gesegnet seiest Du, Herr, Gott der Welt, dass Du dem Menschen erlaubt hast, in diesen grässlichen Zeiten listig wie eine Schlange zu sein«, flüsterte ich und rannte los zu den Jungen auf der Wiese.
*
In der Kolyma-Tiefebene befanden sich die härtesten Zwangsarbeitslager der Sowjetunion. An der oberen Kolyma (Gebiet Magadan) liegen die Kolyma-Goldfelder.
NOFRETE
Gott hatte bei meiner Mutter nicht mit Schönheit gegeizt. Sie war so schön wie Nofretete, vielleicht noch schöner. Auch ihre Schicksale ähnelten sich ein wenig. Beide hatten kein Glück. Doch Mutter, die sich dessen bewusst war, ertrug jeden Schicksalsschlag mit jüdischer Demut. Die Entscheidung über unsere Verbannung war für einen Moment in der Schwebe gewesen, doch wie immer war Mutters feines mystisches Licht vom grellen Glanz des roten Sterns überstrahlt worden, der Hammer und Sichel in sich trug. Der NKWD-Offizier, der unsere Verschickung organisierte, war so beeindruckt gewesen, als er meine Mutter sah, dass es ihm die Sprache verschlug. Wahrscheinlich hatte er noch nie eine so schöne Frau gesehen. Schönheit berührte ihn so sehr, dass er für einen Moment zum Menschen wurde. »Es wäre schade, so etwas verkommen zu lassen«, sagte er zu seinem Gehilfen und zeigte auf Mutter. »Vielleicht streichen wir sie von der Liste?« »Der Feind ist nicht schön«, antwortete der andere, ein Mitarbeiter des Ortskomitees. Er dachte sicher, man wolle ihm eine Falle stellen und ihn – falls er die Streichung gutheißen würde – denunzieren und dorthin schicken, wohin er gerade andere schickte. »Außerdem wird Schönheit überall gebraucht, selbst dort, wo die weißen Bären leben. Wir werden auch überall gebraucht.« Und so mussten wir aufbrechen. Man stieß uns in einen kalten, dunklen Viehwaggon, verdrahtete alles und fuhr uns den Zobelwäldern entgegen. Denn auch dort brauchte man eine Schönheit, wie Mutter sie besaß. Schönheit ist gerade dort
vonnöten, wo der Mensch zum Tier wird, wo man ihn in einen Teufel zu verwandeln versucht. Mutter hatte zwar kein Glück, aber sie war bei den Menschen beliebt. Sie war beliebt, reagierte jedoch allergisch auf das Böse. Herzensgüte ging ihr über alles. Instinktiv erkannte sie schlechte Menschen und mied sie, so gut sie konnte. Doch in diesen Zeiten übte das Böse die Macht aus. Es prosperierte, wie das Gute auf dieser Welt noch nie prosperiert hatte. Stalins Imperium drückte den vierziger Jahren mit teuflischer Leidenschaft seinen Stempel auf. Der böse Geist dieser Zeit verfolgte auch meine Mutter auf Schritt und Tritt. Denn welcher Mann konnte an einer schönen Frau schon gleichgültig vorübergehen? Solche Männer gibt es nicht. Angesichts einer so erfreulichen Erscheinung lebt jeder auf, beginnt buchstäblich zu wachsen. Man kann sich ja vorstellen, wie kräftig die Männer dort waren, wohin man uns verbannt hatte. Sie verschlangen Mutter mit ihren Blicken und wandten allerlei teuflische Tricks auf, um sie herumzukriegen. Doch weder Bitten noch Drohungen halfen, Mutter hatte einfach keine Angst. »Es geht uns schlecht – und wir leben; es wird uns noch schlechter gehen – und wir werden trotzdem leben«, pflegte sie zu sagen. Aufdringliche Verehrer stieß sie einfach vor den Kopf, indem sie ihnen sagte, dass sie ihr Herz nur einem echten Mann schenken könnte, und echte Männer seien entweder an der Front oder in einem Lager. Und außerdem, so sagte sie, wenn du mich willst, dann heirate mich. Doch der größte Teil der Charmeure war bereits in eheliche Beziehungen verstrickt, ihre Frauen arbeiteten im selben Ressort wie sie selbst, und so eine schändliche Affäre wäre nicht folgenlos geblieben. Außerdem, wer von den Menschen dieses Schlags hätte sich getraut, die Frau eines Pilsudski-Anhängers zu heiraten? Das bedeutete die sichere Verschickung an die Kolyma.
Dennoch gab keiner dieser roten Bonzen die Hoffnung auf. Und wenn sich der eine oder andere unter ihnen beleidigt fühlte, setzte er sich hin und verfasste einen Bericht, dessen denunzierender Inhalt meine Mutter 15 Jahre Arbeitslager kosten konnte. Diese Anzeigen liefen jedoch nicht über den üblichen Dienstweg, denn derjenige, bei dem sie landeten, wusste, was Sache war, und warf die verzweifelten Schreiben in den Papierkorb. »Sie«, wie die alte Frosia immer sagte, das heißt Stalins Leute, kannten keine freundschaftlichen Gefühle und trauten niemandem über den Weg: Sie verdächtigten jeden, selbst die eigenen Frauen, und die verdächtigten wiederum ihre Ehemänner. Irgendwo tief in ihrem Herzen waren sie jedoch Menschen und zur Großmut fähig, auch wenn diese ihrem Egoismus entsprang. Und nun hatten sie also Schönheit – denn so nannten sie meine Mutter –, eine Schönheit, die ihrem so grausamen Leben Würze verlieh. Sie war gleichsam ihr Regenbogen, der sie noch schwach mit der Menschlichkeit verband. Wie hätten sie es da zulassen können, dass Schönheit aus der Stadt entfernt wurde? Liebe kann Menschen zu guten und schlechten Taten bewegen. Gute Menschen vollbringen dann erstaunliche Dinge, die schlechten tun einfach nur Böses. Es fällt schwer, jenes Gefühl, das Stalins Handlanger für meine Mutter empfanden, Liebe zu nennen, doch habe ich nicht das Recht, ihnen eine von Herzen kommende Leidenschaft abzusprechen. Die denunziatorischen Anzeigen gegen Schönheit wurden von Männern eingereicht, die sie liebten, und von anderen vernichtet, die sich ebenfalls die Augen nach ihr ausschauten. Anschließend erzählten sie von ihrer edlen Tat. Mutter wusste nicht sicher, wer die Denunziationen geschrieben hatte und wer sie verschwinden ließ. Am Ende tat jeder von ihnen sowohl das eine als auch das andere, und so schloss sich der Kreis.
»Ihr könnt wieder von vorne anfangen«, sagte sie eines Tages in meiner Anwesenheit zu Kosych, dem Inquisitor unseres Städtchens. »Alle haben mich niedergemacht. Jeder von euch hat schon seine Schuld gegenüber dem Vaterland auf meinem Rücken abgetragen. Ihr habt sie abgetragen, und ich bin trotzdem noch da. Wenn du wüsstest«, sagte sie und ging zum Du über, »wie satt ich euch habe. Bis hier oben hin«, sagte sie und zog mit ihrer Hand eine Linie über ihrem Kopf. »Schick mich doch an die Kolyma, vielleicht werde ich dort den Geschmack von Freiheit finden. Denn hier geht es schlimmer zu als bei Gogol.« »Aber Katja«, antwortete Kosych und wurde rot, »bitte sprich nicht so, ich bete dich doch an. Du bringst mich noch ins Grab. Ich hatte davon geträumt, Schauspieler zu werden, und ich träume immer noch davon. Aber es hat nicht geklappt. Meine Tanja hat mich in ihre Windelgeschichten und in den Dienst hineingeritten, in all diesen ganzen Mist.« Seine Augen glühten. Er stand vor uns wie das schlechte Gewissen selbst. Er erinnerte ein wenig an einen Tscherkessen oder auch an Savonarola. Zweifellos hatte die Natur ihm Talent mitgegeben, und er wusste, dass er es vergeudete. Mutter ahnte das. Ein schwach mitfühlendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie tätschelte Kosych die Wange. »Ach Borja, Borja, wie bist du nur so auf den falschen Weg geraten? Vielleicht kommst du noch zur Vernunft. Verschwinde von hier, bevor du völlig verkommst. Hier wirst du weder mich noch dich finden. Und auch ich werde dich nicht finden. Versteh meine Worte richtig.« »Katja, ich werde noch verrückt!«, flüsterte er und griff nach Mutters Hand. »Das wird dich vielleicht retten. Werde verrückt, aber verlier nicht den Verstand. Na, geh schon.«
Er nickte, biss sich auf die Lippen und entfernte sich. Er ging langsam, eigentlich schleppte er sich dahin wie ein Tag voller Hunger. Sein Gang hatte nichts von einem Don Quijote oder Hamlet; eher von dem Elend eines Dämons, der weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat und dass er bereits verloren ist. Nach diesem Gespräch schien die Aufdringlichkeit der Verehrer etwas abzunehmen. Vielleicht hatte Kosych da seine Hände im Spiel, vielleicht gab es andere Gründe dafür, jedenfalls sprach Mutter immer seltener von der Unverschämtheit dieses oder jenes »Soldatenrocks«. Es war eine erfreuliche Veränderung. Mutters Gesichtszüge verloren an Strenge und wurden weicher. Sie lächelte mich auch öfter an. Der Frühling kam und verwandelte sich innerhalb eines Monats in den Sommer. Alles Lebendige saugte an der Erde und trank Sonnenlicht. Man konnte zusehen, wie alles aufblühte und wuchs. Auch die Menschen blühten auf, wurden schöner, wandten sich einander zu, als gäbe es den Krieg nicht, als hätte man die Lager aufgelöst. Der Wandel der Natur ließ auch meine Mutter nicht unberührt. Der Frühling öffnete ihr Herz, und Schönheit verliebte sich. Der glückliche Auserwählte war Sascha Kolzow, ein Flieger, der vor kurzem als Invalide aus dem Kriegsdienst entlassen worden war. Sein Flugzeug war getroffen worden, er selbst gerade noch mit dem Leben davongekommen. Er war bei der Landung schwer verletzt worden, aber nicht verbrannt, weil er noch rechtzeitig aus der Kabine kriechen konnte. Im Krankenhaus hatte man ihm das rechte Bein oberhalb des Knies amputiert sowie drei Finger der linken Hand. Vermutlich hatte Schönheit Sascha auf dem Empfangsfest kennen gelernt, das zu Ehren der Kriegsrückkehrer gegeben wurde. Immer öfter tauchte er in unserem Haus auf, und auch
Schönheit besuchte ihn häufig. Saschas Mutter schwebte im siebten Himmel: Eine polnische Dame hatte ihren Sohn erwählt! Auch ich hatte Grund zur Freude. Schließlich war Sascha Flieger. Mit angehaltenem Atem lauschte ich seinen Erzählungen über Tiefflüge und Trudelflüge, über deutsche, sowjetische, englische und amerikanische Flugzeugtypen, über ihre Nachteile und Vorzüge. Zwei Wochen später wusste ich, wer die Brüder Wright und Taski waren, wie die Silhouette der SKZ und der Junkers aussah und worin sich eine Jak 9 von einer Spitfire unterschied. Die anderen Jungen beneideten mich. Der Korn erwähnte beiläufig, dass man sein Glück teilen solle, dass es Frühling sei und jeder ein Stück vom Himmel haben wolle. Ich verstand den Wink und bat Sascha, irgendwann auf unsere Wiese zu kommen, um meine Freunde zu treffen. Er war einverstanden. Schönheit begleitete ihn. Die beiden warteten schon auf uns, als wir aus der Schule kamen. Ich war verlegen und glücklich zugleich. Sie saßen dort nebeneinander, ins Gespräch vertieft wie die ersten Menschen, denen man das Leben und das Paradies geschenkt hatte. Um sie herum herrschte die Hölle – die Hölle des Krieges und der Lager, das Elend des Hungers und der Denunziationen –, doch sie befanden sich im Paradies, in einem fragilen und irdischen zwar, aber zweifellos in einem Arkadien, wo man zum Innersten des Herzens vordringt und den Sinn des Daseins erkennt. Sascha begeisterte die Jungen genauso wie mich. Und auch Schönheit bezauberte alle mit ihrem Charme. Sie war europäisch gekleidet und hatte ihr kornblumenblaues Kostüm an. Das rabenschwarze Haar floss auf ihre Schultern herunter wie die Wellen eines verzauberten Meeres. Schönheit und Sascha verkörperten ein Stück Welt, von dem jeder von uns träumte. Nach diesem Treffen fühlten wir uns größer, selbstsicherer und so klug wie Mendelejew. Selbst Kim, der
verschlossene Koreaner, schlug sich kräftig aufs Knie und sagte überraschend: »Ich werde ein buddhistischer Mönch. Ihr werdet fliegen, und ich werde beten.« Allerdings achtete niemand auf Kims Worte. Wir waren zu aufgeregt, weil Sascha versprochen hatte, dass er sich den ganzen Sommer lang jede Woche mit uns treffen würde. Doch zu einem nächsten Treffen kam es nicht. Das Leben eines Menschen ist zerbrechlich: Heute ist er noch da und morgen nicht mehr. Ein schlechter Mensch hatte es auf Saschas Leben abgesehen. Der glühende Verehrer von Schönheit wurde durch mehrere heftige Schläge auf den Hinterkopf nicht weit von seinem Haus ermordet. Die Nachricht von Saschas Tod raubte Schönheit die Besinnung. Mutter wurde ohnmächtig, und man konnte sie lange nicht zu Bewusstsein bringen. Als sie wieder zu sich kam, begann sie, bitter zu weinen. Die Tränen flossen in Strömen. Die anderen schoben ihr ein Glas Schnaps zu. »Trink«, flüsterten sie, »das wird dir gut tun.« Sie stieß das Glas weg und sagte: »Das ist meine Schuld! Meinetwegen haben sie den Adler ermordet! Wenn ich ihn nicht geliebt hätte, würde er noch leben, sich an der Sonne freuen und das Kriegsende miterleben. Ich habe das Ungeziefer verschmäht, also hat ihn das Ungeziefer gefressen. Aber einmal wird auch die Zeit dieser Schurken kommen, schließlich haben auch die Dinosaurier ihr Ende gefunden. Doch das ist kein Trost… Wie viele Menschen werden diese Kannibalen noch fressen?!« Dann, als ob sie in die Zukunft blicken könnte, griff sie nach dem eben noch verschmähten Schnapsglas und leerte es in einem Zug. Just in diesem Moment betrat Kosych das Krankenzimmer. Sofort verließen alle den Raum. Nur ich rührte mich nicht vom Fleck.
»Katja, das war nicht ich«, flüsterte Kosych mit trockenen Lippen, »glaube mir, dass ich es nicht war.« »Ich glaube dir«, antwortete Schönheit. »In dir glimmt noch ein Rest Don Quijote. Doch denk dran, dass er bald erlischt, wenn du diese Uniform nicht ausziehst. Und jetzt geh, ich werfe dir nichts vor.« Ich hatte Angst um Mutter, deshalb folgte ich ihr auf Schritt und Tritt. Wir gingen zum Haus der Kolzows. Sascha lag schon im Sarg. Sein Gesicht war mit einem weißen Laken zugedeckt, um allen den Schrecken zu ersparen. Mutter hob den Stoff an und biss sich auf die Lippen; Blut trat in ihre Mundwinkel. Sie wischte es ab, sang auf Polnisch Ewige Ruhe und dann noch ein mir unbekanntes, herzzerreißendes Lied in einer fremden Sprache, das sie sicher von ihrer jüdischen Großmutter aus Kurdistan gelernt hatte. Als die Wehklage beendet war, gingen wir in die zweite Stube, um Saschas Mutter zu sehen. Schönheit drückte sich an ihre Brust. »Verzeih mir!«, schluchzte sie wieder los. »Und vergib mir!« »Verzweifle nicht«, sagte die Kolzowa traurig, aber ohne Tränen. Die russischen Frauen weinten immer nur kurz, sie hatten schon keine Tränen mehr, zu viel Unglück hatte sie getroffen; sie hatten gelernt, mit der Seele zu weinen. »Überlass das mir. Sie haben meinen Mann zu Tode gequält und jetzt haben sie meinen Sohn umgebracht. Das ist nicht deine Schuld. Du kanntest seine Gedanken so gut wie ich. Er wäre sowieso ins Lager gekommen.« »Aber er war doch Kriegsinvalide!« »Das war mein Mann auch. Sogar ein Brigadekommandant. Und du, weshalb hat man dich nach Sibirien verbannt?« »Wegen Pilsudski.« »Das ist nur ein Vorwand. In diesem Land hängt alles von der Laune eines kranken Mannes ab. Von lauter Psychopathen. Ich bin Ärztin und weiß, was ich sage. Ich habe keine Angst
mehr. Jetzt habe ich niemanden mehr auf der Welt außer dir. Ich bin dir dankbar, dass du ihn glücklich gemacht hast, dass du ihm gezeigt hast, wie ein Mensch leben sollte, dass du ihn aufgerichtet hast. Weißt du, was es bedeutet, Flieger zu sein und invalide, wenn man siebenundzwanzig Jahre alt ist?« Ich hatte Sascha sehr gemocht, doch ich ging nicht mit zur Beerdigung. Ich befürchtete ohnmächtig zu werden, wenn man den Sarg zuschüttete, wie es mir schon passiert war. Ich trottete zu unserer Wiese, wo die Jungen wie immer Schlagball spielten. Wir setzten uns. Kim kam ebenfalls dazu. Er knackte mit den Fingern, ein Zeichen, dass er etwas sagen wollte. »Es ist so traurig…«, sagte ich. »Buddha hat das Gleiche wie Christus verkündet«, sagte Kim, »und ganz ähnlich wie er zu leben gelehrt.« Ich war immer noch mit Saschas Tod beschäftigt, und so fragte ich ihn, wie Buddha gestorben war. »Er aß eine giftige Speise. Als er etwa achtzig Jahre alt war.« »Und Christus haben sie gekreuzigt. Für uns. Er war jung, weise und schön. Er liebte und wurde geliebt, er hat die Liebe verkündet – und trotzdem oder vielleicht deswegen haben sie ihn getötet. Wie Sascha. Ist Liebe denn… etwas Schlechtes?« An meine Ohren drang mein eigenes, verwundertes Flüstern. Es war, als ob erst in diesem Moment etwas in mir zersprang. Ich drückte mich auf die Erde und weinte die ganze Bitterkeit aus mir heraus. Und als keine Tränen mehr da waren, als meine Augen so trocken waren wie Wüstensand, öffnete sich mein Herz. Und ich begann wieder zu weinen, doch diesmal innerlich, und vergoss Tränen, die nur für Den sichtbar waren, Der uns erschaffen hatte.
DER CLOWN
Der Albtraum meiner Kindheit war die Dunkelheit. Die Dunkelheit und Stalin. Die Dunkelheit ertrug ich besser, weil sie mit der Abenddämmerung begann und mit dem Morgengrauen endete, und sie war auch nicht immer so tief wie die ägyptische Finsternis. Doch Stalin, dieser geniale Spitzel, war überall. An jeder Straßenecke, auf jedem Plakat, sogar in meinen Träumen. Der Führer, Steuermann, Vater. Oft sah ich ihn mir bei Tageslicht genau an, um meine Phobie zu überwinden, doch das nützte nichts. Die Angst saß in meiner Seele fest. Er war kein schöner Mensch, und man konnte weder in seinen Augen noch in seinen Gesichtszügen Wärme entdecken. Er wirkte zwar nicht ganz so abstoßend auf mich wie Hitler, ich hatte jedoch das instinktive Gefühl, er würde Lepra verbreiten. Und sicher war das der Grund meiner Furcht. ‘ Stalin verbreitete den Tod um sich, verseuchte alles Dasein. Er zerstörte das Leben, und dabei wollte ich doch so sehr leben! Selbst in diesem Elend, mit dem ewigen Hunger – ich wollte den blauen Himmel sehen, die sorglosen Vögel, das unsterbliche Gras. Und sobald in einem Haus ein Kind geboren wurde, rannte ich hin, um es mir anzusehen. Der Anblick eines Säuglings war für mich ein großes Erlebnis, fast eine Offenbarung. Man ließ mich überall hinein, erlaubte mir, das neue Menschenkind anzufassen, und sagte, dass meine Berührung und mein Blick etwas Gutes hätten. Ich lief zu den Säuglingen aus Furcht vor Stalin. Ich rannte dorthin, um mir Zuversicht und Trost zu holen, denn der Anblick der wehrlosen, zarten Geschöpfe gab mir ein so tiefes Gefühl der
Geborgenheit, dass ich manchmal aufhörte, an den Tod zu glauben. Meine Angst vor der Dunkelheit war der Grund, warum ich oft bei Mutter oder der alten Frosia im Bett schlief. Ein wenig schämte ich mich, denn eigentlich fühlte ich mich schon erwachsen. Ich trug ein neues Matrosenhemd, das mir diesmal Mutter gekauft hatte, jenes Kleidungsstück, das mir einen würdigen Tod garantierte und eine Zukunft, wie ich sie mir wünschte: als Matrose oder Flieger. Außerdem las ich Bücher von Ziolkowskij* und sah mich schon selbst im kosmischen Raum schweben, irgendwo zwischen Mars und Venus. Dies alles wartete auf mich, das waren Träume, Versprechen, die ich mir selbst gegeben hatte, und auch die leeren Versprechungen der Propaganda. Einstweilen beherrschten Läuse, Dreck, Hunger, das Schandmal, ein Pilsudski-Anhänger zu sein, und Angst mein Leben. Niemand sprach jemals offen von seiner Angst, und so dachte ich, dass sie nur mich verfolgte, dass nur ich so ein Angsthase wäre. Es war mir peinlich, darüber zu sprechen. Und doch musste ich irgendwann diesen gordischen Knoten durchhauen und mich Mutter anvertrauen, denn die Angst wurde immer größer und quälte mich wie ein Geschwür. Sobald es abends dämmerte, wurde mein Gehör absolut. Mein Magen verwandelte sich in einen Klumpen, der mir bis zum Hals stieg. Die einzige Medizin war dann der Sternenhimmel. Ich setzte mich aufs Fensterbrett und verschwand in den galaktischen Weiten; ich war dort, wo ich vielleicht gelebt hatte, bevor ich geboren wurde. Doch das half nicht immer. Eines Tages kehrte Mutter lange nicht nach Hause zurück, und auch Frosia war nicht da. Als Schönheit *
Der russ. Autor Konstantin Ziolkowskij (1857-1935) erwies sich in seinen theoretischen und fiktiven Werken als Vordenker der modernen Raumfahrt und Raketentechnik.
endlich in der Tür erschien, war meine Freude so groß, dass ich fast ohnmächtig wurde. »Mutter, nimm mir die Angst weg«, bat ich sie flüsternd, »ich fürchte mich so sehr vor der Dunkelheit. Du hast keine Ahnung, wie groß meine Angst ist. Vor der Dunkelheit und vor Stalin.« Mutter sah mir tief in die Augen. Ich fühlte, dass auch sie die Angst kannte. Vielleicht erlebte sie sie anders, aber ich war sicher, dass die gleichen Albträume unseren Alltag heimsuchten. Doch der Unterschied zwischen Mutter und mir war, dass sie von allen geliebt wurde und ich nur von ihr. Ich will es nicht leugnen, ich war stolz darauf, dass alle meine Mutter liebten und sich um sie bemühten wie um etwas Heiliges. Doch gleichzeitig war ich neidisch, ich wollte, dass wenigstens ein klein wenig von ihrer Aura auch auf mich abstrahlte. »Die Dunkelheit macht fast allen Angst«, sagte sie schließlich, »von der Geburt bis zum Tod. Doch es gibt die gute und die böse Dunkelheit. Die gute Dunkelheit ist Gott. Er ist so anders als wir, dass Er dunkel für uns sein muss. Damit wir nicht sofort sterben bei Seinem Anblick. Und ein wenig verdunkeln Ihn auch unsere Sünden. Die böse Dunkelheit ist der böse Geist, dessen Werk es ist, was auf dieser Welt passiert. Die böse Dunkelheit ist an sich machtlos. Sie muss sich des Menschen bedienen. Sie beginnt erst dann zu wirken, wenn der Mensch ihr sein Herz überlässt. Fürchte immer die gute Dunkelheit, mein Sohn; immer, bis zum Tod. Und wünsche dir diese Ehrfurcht. Und die böse Dunkelheit ignoriere einfach, schütze dich vor ihr, wie du dich vor dem Hunger, einem Schneesturm oder einem Wolf schützt. Es ist die Dunkelheit des Herzens, mein Junge, die menschliche Dunkelheit. Gerade sie sollte man nie vergessen. Doch vor dem Dunkel, das nach Sonnenuntergang hereinbricht und sich
ausbreitet, braucht man keine Angst zu haben. Man muss es lieben, so wie man das Morgengrauen liebt. Denn würdest du die Sterne sehen können, wenn es keine Nacht gäbe? Zieh dich an, wir gehen die Schönheit der nächtlichen Dunkelheit bewundern.« Wir gingen aus dem Haus, setzten uns auf einen Holzstoß und lehnten uns an die Schuppenwand. »Schau dir die Lärchen an, die sind jetzt am dunkelsten«, flüsterte Mutter. »Schau genau hin, und du wirst sie so sehen, wie du sie noch nie gesehen hast. Flieger und Matrosen können in der Dunkelheit sehen, und du willst doch ein Flieger sein.« Ich blickte angestrengt in die Dunkelheit. Nach einer Weile begann ich immer mehr Details zu erkennen, immer deutlicher und tiefer zu sehen. Das Dunkel der Nacht wurde schön und lebendig. Ich verstand jetzt, dass die Dunkelheit ursprünglich vor dem Licht existierte und dass das Licht nur wegen der Menschen gekommen war, für die Menschen. Und plötzlich, wie durch die Berührung eines Zauberstabs, verschwand meine Angst vor dem Dunkel, auf einmal wurde die Nacht erhabener als der Tag. Als mir Mutters Worte gerade aufgegangen waren, bemerkte ich einen Mann, der den Hof betrat und dabei wie ein Dieb um sich schaute. Zuerst schielte er verstohlen zu Frosias erleuchtetem Fenster und danach näherte er sich unserem. Es war Kosych, einer von Mutters Verehrern. Als er feststellte, dass niemand zu Hause war, entfernte er sich wieder. Doch gleich darauf kam er zurück und setzte sich unter einen dunklen Haselstrauch neben der Gartenpforte. Offensichtlich hatte er irgendetwas vor. Und tatsächlich. Kurz darauf erschien, leicht mit dem linken Fuß hinkend, ein anderer Anbeter von Schönheit. Sein schleppender Gang ließ keinen Zweifel. Es war der erste »Kardinal« der neuen Ordnung, ein Held und Freund des
legendären Lazo, den die Japaner in der Feuerbüchse, einer Lokomotive verbrannt hatten. Seine Frau Nadjeschda hatte in den Jahren der Kollektivierung viele Widerständler ohne gerichtliche Verhandlung erschossen, und als man ihr deswegen einen Verweis erteilte und sie mit der Leitung eines Waisenhauses betraute, war sie entrüstet. Der Ankömmling verhielt sich wie zuvor Kosych und wie dieser zeigte er sich enttäuscht. Er stand einen Moment da, kratzte sich am Kopf, schließlich winkte er ab und lief zum Gartentor zurück. Dort stellte sich ihm Kosych in den Weg. Das passierte so plötzlich, dass der andere vor Schreck aufschrie. »Was hast du hier zu suchen?«, fragte Kosych mit seiner ruhigen, melodischen Stimme. »Ach, du bist es…«, brummte der Kardinal, als er sich beruhigt hatte. »Du hast mir vielleicht Angst eingejagt. Fast wäre mir das Herz stehen geblieben. Ich habe mich noch nie so erschreckt.« »Weil du noch nie allein warst. Du bist immer in einem Rudel umhergelaufen wie ein Wolf. Und jetzt bist du plötzlich allein. Du bist ein Held und hast Angst? Schäm dich.« »Beleidige meine Orden nicht. Du weißt, wer sie verleiht.« »Das weiß ich, aber sag mir, was du hier machst? Was suchst du in diesem Haus?« »Ich wollte nur ein paar Worte mit…« »Frosias Mann ist an der Kolyma, und Schönheit steht auf meiner Liste, also halte dich fern von diesem Haus, sonst könnte dich Nadjeschda in eurem Ehebett erschießen, oder du musst an die Front…« »Du willst mir wohl drohen!« »Ich drohe dir nicht, ich weiß nur so einiges über dich. Auch darüber, wie du vor dem Schwarzen Baron ausgerissen bist… Also hau ab und zeig dich hier nicht mehr. Schlag dir
Schönheit aus dem Kopf! Vergiss, dass sie in dieser Stadt lebt. Na los, gehen wir.« Sie verließen zusammen den Hof. Auf der anderen Seite der Pforte trennten sie sich – wie in einem Märchen ging der eine nach links und der andere nach rechts. Doch beide gingen dorthin, wohin sie nicht gehen wollten: zu ihren Ehefrauen, deren Hände hundert Mal besudelter waren als die von Lady Macbeth. Als die Männer endlich unseren Hof verlassen hatten, lächelte Mutter. Ich spürte ihre Lippen auf meiner Wange. »Und, mein Junge, hast du jetzt die Dunkelheit verstanden?« »Ich habe keine Angst mehr.« »Das freut mich. Es tut mir leid, dass ich dich ein bisschen vernachlässigt habe.« »Ich vernachlässige dich auch«, bemerkte ich selbstkritisch. »Du hast die Angst vor der Dunkelheit überwunden, hab also auch keine Angst vor denen, die nachts herumlaufen. Das sind böse Menschen, aber sie werden dir nichts tun, solange sie hinter mir her sind. Hier leben wir in der Hölle, mein Sohn. Und in der Hölle geht es sogar den Teufeln schlecht, sehr schlecht. Obwohl wir in größerem Elend leben, geht es uns trotz allem besser, weil wir die Hölle irgendwann verlassen werden.« Wir kehrten ins Haus zurück. Einen Augenblick lang war die Welt so, wie sie sein sollte: Auf eine erhabene Weise weckte sie Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach etwas, was für uns unsichtbar war. Trotzdem fühlte ich mich nicht völlig geheilt, mein Problem hatte sich nur zur Hälfte gelöst, denn Stalin, dieser allgegenwärtige Götze, war immer noch da. »Mutter, und was ist mit Stalin?« Schönheit zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Zieh die Vorhänge gut zu und gib mir mal sein Porträt. Und deine Buntstifte.«
Als alles auf dem Tisch lag, streckte Mutter die Hände aus wie eine Wahrsagerin vor einer Glaskugel und murmelte: »Hokuspokus. Siehst du ihn? Sieh ihn dir gut an, dann dreh dich weg. Du kannst wieder herschauen, wenn ich es dir sage.« »Jetzt«, sagte sie nach einer Weile. Ich brach in lautes Lachen aus. Ich warf mich aufs Bett und konnte das Kichern nicht unterdrücken. Als ich mich endlich einigermaßen beruhigt hatte, stürzte ich zu Mutter und begann ihre Hände zu küssen, mit denen sie meine Angst weggezaubert hatte. Aus Stalin war ein Clown geworden. Und auch noch einer aus einem zweitrangigen Zirkus, denn er ähnelte weder Popow noch Tarapunka. »Siehst du, was er ist? Ein gewöhnlicher Clown.« In der Nacht jedoch hatte ich einen furchtbaren Albtraum. Stalin rächte sich für unseren Spott. In einer schrecklichen Vision erblickte ich eine riesige Würgeschlange mit dem Schnurrbartgesicht und den zerzausten Haaren des Clowns von vorhin. Sie umschlang mich so fest, dass ich mich nicht mehr rühren konnte, und begann mit ihren Zähnen an meiner Brust zu reißen, wobei sie unheilvoll zischte: »Wenn ich erst dein Herz gefressen habe, wirst du den Führer nicht mehr verspotten. Und vielleicht werde ich in es hineinkriechen, dann wirst du mein sein. Ich werde dein Herz besudeln und du wirst mir dein Leben lang nicht entkommen.« Ich versuchte mich zu befreien, wand mich wie ein Aal. Doch Stalin war stärker. Er lachte krächzend wie ein alter Haudegen, als er mein verzweifeltes Ringen sah. Als er jedoch flüsterte: »Oh, da sehe ich ja schon das kleine Herzchen«, nahm ich all meine Kräfte zusammen und erinnerte mich an Kims Rat, dass man zum Gegenangriff mit lautem Geschrei antreten sollte. Ich riss mich also los, schrie aus vollem Halse und… wachte auf. Es war
früher Morgen. Schönheit machte sich gerade zum Gehen fertig. »Schlaf noch ein bisschen«, sagte sie. »Notfalls weckt dich Frosia. Sie arbeitet heute erst am Nachmittag.« Ich nickte, schlief aber nicht wieder ein. Ich erzählte ihr auch nichts von den nächtlichen Schreckensbildern. Die Angst vor Stalin war immer noch da. Und so beschloss ich, mich im Namen aller zu rächen, damit niemand mehr von Albträumen gequält wurde. Bevor ich zur Schule ging, hatte ich einen Plan entworfen. Am nächsten Tag stahl ich mich im Schutz der Nacht zum Schulhaus und kletterte durch ein Fenster, das ich vorher entriegelt hatte. Ich holte die Gipsbüste des Volksführers heraus. Zu Hause konnte mich nichts mehr zurückhalten. Ich ließ meinen ganzen Groll, die zugefügten Verletzungen und Demütigungen an ihm aus, um etwas später das Ergebnis meiner Schminkkünste wieder zu seinem alten Platz zu schleppen. Mir war bewusst, dass mein Tun in den Augen der Inquisition ein Verbrechen war, dass es ein Attentat auf die Revolutionshoheit darstellte, worauf sogar die Todesstrafe stand. Aber ich hatte ja vor Stalin Angst und nicht vor dem Tod. Und als ich meine Tat beging, war ich so voller Freude gewesen, als ob ich mir eine neue Welt erschaffen hätte. Der nächste Tag trug die Merkmale einer Tragikomödie. Noch bevor der Polarstern, wie wir unsere Geografielehrerin nannten, ins Klassenzimmer kam, streckte Kosychs Tochter Swjeta – ein Äpfelchen, das direkt neben die Füße seiner Komsomol-Mutter gefallen war* –, beim Anblick des zum Clown geschminkten Stalin die Arme aus und wurde ohnmächtig. Viele Mädchen begannen zu weinen, doch der größte Teil der Klasse konnte das Lachen kaum zurückhalten. * Der Komsomol war die kommunistische Jugendorganisation in der UdSSR.
Irgendjemand musste die Nachricht von der frevlerischen Beleidigung der Führerbüste prompt weitergegeben haben, denn im Klassenzimmer erschien der Direktor mit seiner ganzen Gefolgschaft. Sie erstarrten, und das Blut wich aus ihren Gesichtern. Sie erinnerten an Wachsfiguren. Schließlich gab der Polarstern mit schriller Stimme das Kommando: »Die Köpfe senken und das Klassenzimmer verlassen!« Die Ermittlungen dauerten lange. Jeder von uns wurde einzeln mehrfach sowohl zum Direktor als auch zu Kosych und vor das Komitee gerufen. Nichts kam dabei heraus. Doch die Kommunisten hatten das Nachsehen, die Fanatiker bekamen eins aufs Dach. Der Polarstern fand sich als Putzfrau auf dem Bahnhof wieder, und der Direktor wurde zum einzigen Mitarbeiter der Leichenhalle des Krankenhauses ernannt. Eine Woche später, als wir nach dem Schlagballspielen nebeneinander lagen und uns ausruhten, stützte sich der Korn auf seinen Ellbogen und flüsterte in mein Ohr: »Du wirst bestimmt ein Dichter.« »Wovon redest du?«, fragte ich. »Von diesem Clown. Niemand außer dir hätte auf so eine Idee kommen können. Ich gratuliere dir. Leugne es nicht. Ich hab einen Riecher für so etwas. Und ich habe ihn mir genau angesehen. Er war wunderschön. Und eine fabelhafte Knollennase hatte er.« Ich grinste von einem Ohr zum anderen, ohne seine Vermutung zu bestätigen oder abzustreiten. Trotzdem konnte ich nicht all meine Ängste vor Stalin und der Dunkelheit loswerden. Ich werde mich wohl bis zum Ende meiner Tage vor ihnen fürchten.
SCHWÄNE
Schließlich klopfte die Liebe auch an mein Herz. Es war eine merkwürdige Liebe. Nicht, weil die Frau, in die ich mich verliebte, zwanzig Jahre älter war als ich. Auch nicht, weil ihre psychische Gesundheit zu wünschen übrig ließ. Das Rätselhafte lag darin, dass ich mich zu einem Zeitpunkt verliebte, als die Krankheit meiner Auserwählten besonders heftig zum Ausdruck kam. Und meine Gefühle für sie verstärkten sich noch während ihrer schizophrenen Anfälle. Auch ich verfiel dann in eine Art Wahnsinn – in eine Qual, die aus der Sehnsucht nach etwas anderem und dem Bedürfnis nach Wärme entstand. Die Frau, die ich liebte, Tamara Bereschnjew, war aus Verzweiflung ohnmächtig geworden, als ihr Mann verhaftet wurde. Der Schock erwies sich als so groß, dass der Wahnsinn bereits in ihrem Blick lag, als sie wieder zu sich kam. Als man ihren Mann, einen Kompanieführer von Panzertruppen, später wieder freiließ und an die Front schickte, wollte sie es nicht glauben. Selbst seine Briefe mit den Stempeln der Militärzensur überzeugten sie nicht. Sie behauptete, das sei Teufelswerk und ihr Mann liege längst unter der goldhaltigen Erde der Kolyma. Sie wiederholte auch ständig, dass sie ihm sofort nachfolgen würde, es nur noch nicht könne, weil sie ihn erst rächen müsse. In einem Traum hatte sie nämlich erfahren, dass derjenige, der die falschen Beschuldigungen gegen ihren geliebten Mann aufgestellt hatte, demnächst in unserer Siedlung auftauchen würde. Und dann würde sie den Denunzianten mit eigenen Händen erwürgen, so wie die Häscher des Zaren die Bojaren erwürgt hatten.
Wenn sie einen ihrer Anfälle hatte, streifte Tamara sich ein langes Spitzenkleid über die nackte Haut, das sie aus einer Gardine genäht hatte, und ging dann zu dem Obelisken der Revolutionäre, um dort zu singen. Wir Jungen marschierten mit angehaltenem Atem hinter ihr her. Meine Freunde wussten schon, dass Tamara meine Herzensdame war, und ließen mich vor. Ich lief also an der Spitze dieser hungrigen Internationalen und war glücklich. Tamara führte uns in eine unbekannte und wundersame Welt; eine, nach der ich mich sehnte, die schön war wie eine Tropeninsel im Pazifik. Vor dem Obelisken stellten wir uns in einem Halbkreis auf. Meine Liebste kletterte auf den hölzernen Sockel und begann zu singen. Nie zuvor hatte ich dieses Lied gehört. Tamara war Armenierin. Vermutlich war es ein Lied dieses gepeinigten Volkes, denn die Melodie drückte sowohl Wut als auch Demut aus. Und vor allem steigerte es noch meine Wehmut. Wir verstanden die Worte nicht, lernten sie jedoch unwillkürlich auswendig. Aber niemand wagte es, dieses Lied zu singen, selbst ich nicht. Tamara trug es jedes Mal in einer anderen Tonart vor. Und von Mal zu Mal weckte dieses Lied eine tiefere Leidenschaft in mir. Hinter dem Spalier unserer unförmigen, kahl geschorenen Köpfe hielten oft Passanten an. Abgesehen von der Melodie nahm sie wohl Tamaras dunkles Gesicht mit seiner kränklichen Ausstrahlung gefangen. Alle sahen die Singende an wie eine Erscheinung. Und es kann gut sein, dass sie so wie ich darüber ihren Hunger, ihre Angst und die Läuse vergaßen, all das, was wir in unseren Herzen und auf unserem Leib trugen. Als das Lied zu Ende war, verschwanden die Schaulustigen, und auch die Jungen zerstreuten sich allmählich. Nur ich pilgerte hinter meiner Auserwählten her, nur ich hatte nicht die Kraft, sie zu verlassen, und durchlebte immer neue Gefühlsqualen. Ich war verzweifelt, wenn Tamara mich an der
Hand nahm, wenn sie sich hinkniete, um mir die Haare oder meine Kleidung in Ordnung zu bringen, und mich dabei flüchtig auf die Stirn küsste. »Bist du mein Bruder oder mein Sohn?«, fragte sie immer wieder. Meine Antwort hatte keine Bedeutung, weil ich am Ende doch nur zu ihrem Sprössling ernannt wurde. »Ich habe es nicht geschafft, Kinder zu haben, also bist du mein Sohn.« Und das schmerzte mich am meisten. Ich wollte sie richtig küssen, ihre Hände an mein Gesicht drücken, ihr von meinen Empfindungen und meinen Träumen erzählen, aber ich konnte es nicht. Oder besser gesagt: Ich hatte nicht die Kraft. Weil ich mich wegen meiner zweideutigen Rolle schämte. Jeder von uns sah den anderen ganz unterschiedlich. Mich beschlichen dunkle Gedanken. Wer mich aus dieser Sackgasse herausführte, war Jegorow, jener Mensch, auf den Tamara gewartet hatte, um ihren Mann zu rächen. An diesem Tag sang meine Angebetete ein anderes Lied als sonst, für mich ein besonders ergreifendes Lied, das mich von meiner Scham befreite. Und so kniete ich vor ihr nieder wie vor einer Heiligen. Gerade als ich die Erde mit den Knien berührte, verstummte Tamara plötzlich. Zunächst freute ich mich, denn ich dachte, dass sie endlich aufgehört hatte, einen Sohn in mir zu sehen. Doch ich wurde enttäuscht. Sie wandte sich mir nicht zu, sie bemerkte mich nicht einmal. Sie stieß die anderen Jungen zur Seite, überquerte die Straße und richtete sich wie eine Mauer vor einem unbekannten Mann auf, der eine Soldatenuniform ohne Abzeichen trug. An dem leeren Ärmel, den er in seinen Gürtel geschoben hatte, sah man, dass es sich um einen weiteren Invaliden handelte, der aus dem Krieg zurückgekehrt war. »Endlich bist du da«, flüsterte Tamara unheilvoll. »Meine Träume haben mich also nicht getäuscht.« »Tamara!«, rief der Unbekannte freudig.
»Ich werde dich mit meinen eigenen Händen erwürgen, Jegorow«, sagte sie. »Erwürgen…«, flüsterte sie noch einmal, bevor sie zu Boden sank. Wir waren völlig verblüfft. Nur Jegorow behielt einen kühlen Kopf. Er betröpfelte das Gesicht der Ohnmächtigen mit Wasser aus seiner Feldflasche und legte den Daumen an ihren Hals. »Der Puls ist in Ordnung«, sagte er schließlich. »Das ist nur der Schock.« Und tatsächlich, kurz darauf kam Tamara zu Bewusstsein. Langsam öffnete sie die Augen, aber sie schaute uns nicht an, sondern blickte in den Himmel; sie schaute lange mit zusammengezogenen Augenbrauen dorthin, als ob sie sich an etwas zu erinnern versuchte. Dann stand sie plötzlich auf und entfernte sich ohne ein Wort. Wie immer ging ich hinter ihr her. Jegorow ebenfalls. »Bist du derjenige, der ihren Mann zu Unrecht denunziert hat?«, fragte ich ihn geradeheraus. »Ja, ich gebe es zu«, antwortete er mit seltener Offenheit. »Ich habe ihn an der Front wiedergetroffen. Das Schicksal hat uns derselben Kompanie zugeführt. Ich dachte, er würde mich während des ersten Gefechts erschießen. Doch es kam anders. Vor dem Angriff nahm er mich zur Seite und erzählte mir seine Geschichte. Aber vor allem erzählte er mir von Tamara. Er bat mich, mich um sie zu kümmern, falls er umkommen sollte. Bei irgendeinem Kampf traf ihn dann die tödliche Kugel. Auch ich habe etwas abbekommen. Zum Glück hat man mir nur den Arm amputiert. Und so bin ich hier…« »Und? Wirst du Tamara heiraten?« »Wenn sie mir verzeiht. Ich liebe sie seit meiner Kindheit. Als ich in deinem Alter war…« »Ich liebe sie auch«, warf ich leise ein.
»… wohnten wir in derselben Straße und gingen auf dieselbe Schule«, erzählte Jegorow weiter, als ob er mich nicht gehört hätte. »Aber sie hat sich für Nikolaj entschieden, auch ein Freund von der Schulbank.« Wir betraten Tamaras Haus. Sie saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt; ihr Blick haftete am Fenster oder eher auf der Taiga, die sich vor dem Fenster erstreckte. Nach einer Weile schaute sie zu uns her, dann verdeckte sie ihre Augen mit der Hand. »Pjetja, was soll ich jetzt tun?«, flüsterte sie. Sie schien keine Antwort zu erwarten und schaute mich nur erneut an. Ihr Blick wanderte weiter zu Jegorow. Sie sah ihn lange mit einer fiebrigen Hartnäckigkeit an. Schließlich biss sie sich auf die Lippen und schaute wieder zum Fenster. Als Jegorow im Ofen einzuheizen begann, ging ich. Ich fühlte mich elend, und so wanderte ich zum Fluss hinunter, um zu baden und so viel wie möglich von mir abzuwaschen. Dort traf ich Tanja Bjelowa. Und zum ersten Mal bemerkte ich, dass in Tanjas Gesicht auch etwas Besonderes lag; etwas, was man nicht in Worte fassen konnte. Ich setzte mich neben sie. Nein, ich setzte mich nicht, ich legte mich auf den Rücken und lehnte den Kopf an ihre Schenkel. »Du Dummkopf«, flüsterte sie und begann an meinen Haaren zu ziehen, erst stärker, dann schwächer. Als sie sich beruhigt hatte, schaute ich ihr tief in die Augen. Und ich war völlig überrascht. Ich entdeckte mich selbst in ihnen. Ich sah, was ich so sehr in Tamaras Augen hatte sehen wollen. »Was siehst du in meinen Augen, Tanja?« »Schwäne«, antwortete sie sogleich. »Zwei wunderbare weiße Schwäne.« Sie begann erneut an meinen Haaren zu ziehen. »Hier, das ist für die Verrückte«, flüsterte sie. »Für deine Liebe zu ihr und für meine Qualen…«
ROTER CHAMPAGNER
Wenn Schönheit in sentimentaler Stimmung war und gesprächig wurde, sagte sie immer, dass mein wahrer Vater ein roter Champagner sei. Ein wunderbarer, schäumender Champagner, der sie in eine mystische Ekstase versetzt hatte. In dieser Champagnerseligkeit hatte sie mich empfangen und dann nach der üblichen Zeit zur Welt gebracht. Jedermann, die ganze Schule kannte die Geschichte von meiner Geburt, und niemand stellte sie in Frage. Deshalb benutzten die Jungen als Vatersnamen für mich sehr oft Roterschampanjowitsch. Die Lehrer machten es ihnen nach. Und da in der Klasse noch vier andere Jungen Pjetja hießen, nahm der Vatersname bald die Stelle meines Vornamens ein. Mit der Zeit verschwand das erste Wortglied, und so hieß ich schlicht Schampanjowitsch. An meinen leiblichen Vater erinnerte ich mich nicht. In schwierigen Momenten suchte ich in meiner Erinnerung nach ihm, aber umsonst. Gott hatte seine Stelle eingenommen. Als jedoch eines Tages völlig überraschend mein irdischer Vater in unserem Haus erschien, packte mich große Verlegenheit. Ich war wohl noch nicht offen für ihn. Der Boden war nicht bereitet, in dem das Samenkorn der Vaterschaft hätte aufgehen können. Bald jedoch verdrängte wirkliche Freude meine Verwirrung, und ich nahm meinen Erzeuger an wie das Meer das Blau des Himmels. Die anderen Jungen beneideten mich. In Zeiten wie diesen einen Vater zu Hause zu haben, und sei es nur für ein paar Tage, war ein großes und glückliches Ereignis. Auf die Väter, überhaupt auf jeden Mann, lauerten zwei Vampire: Stalin und
Berija. Der eine schickte sie an die Front, der andere in die Lager. Wir waren auf unsere Mütter angewiesen, diese größten Sklavinnen der Geschichte, dank derer das stalinistische System überhaupt existieren konnte. Doch nicht jede dieser Sklavinnen war zugleich ein Mensch, nicht jede hörte auf ihr Herz, zu viele Mütter glaubten Stalin. Es war Frosia, die mir Vaters Ankunft verkündete. Diese wunderbare und unbeugsame Frau mit ihren funkensprühenden mongolischen Augen kam ohne anzuklopfen in unser Klassenzimmer hereingestürzt. Mit tränenerstickter Stimme rief sie: »Schampanjowitsch, renn schnell nach Hause, sie haben deinen Vater aus dem Lager entlassen!« Dann setzte sie sich auf den Lehrerstuhl, lehnte ihren Kopf an das Pult und flüsterte schluchzend: »Und meinen werden sie nicht von der Kolyma weglassen… Sie haben noch nicht genug Gold. Dieses verdammte Gold, diese verdammten Henker…« Wie der Blitz schoss ich aus dem Klassenzimmer. Die Sonne öffnete wie eine Orchidee einen Spalt weit ihre Blütenblätter aus Wolken und begann ihre lebenspendenden Lichtsamen freigebig zu verstreuen. Zu Hause wurde gefeiert. Der Protopope Awwakum*, wie der achtzigjährige Grischa genannt wurde, hatte sein Akkordeon aus der Zarenzeit wieder zum Leben erweckt. Awwakum sprudelte über vor Tonkaskaden. Das Lied Katjuscha schwebte bereits über den Köpfen der Gäste wie der Baldachin über einer jüdischen Braut. Mein Vater, an den ich mich nicht hatte erinnern können, saß neben Schönheit. Er war dürr und hatte ein von Falten durchzogenes Gesicht, doch ohne den Ausdruck der Niederlage im Blick. Das Lager hatte ihm nicht das Rückgrat gebrochen – er saß aufrecht da wie ein junger General. Das war nicht verwunderlich, denn in seinen Adern *
Russ. Geistlicher und Schriftsteller im 17. Jh. Führer der Altgläubigen.
floss auch ein wenig Blut des polnischen Heerführers Zólkiewski. Eine Unmenge Leute waren da. Schließlich bemerkte mich jemand und hob mich über den Tisch hinweg Vater entgegen. Einen Moment lang hing ich in der Luft, und Vater sah mich an, wie Russen eine Ikone ansehen – mit andächtiger Ehrfurcht, voller Hoffnung und Verzweiflung. Dann gab er mir zwei Küsse und setzte mich neben sich. Die Begrüßungsfeier zog sich bis in die späte Nacht. Unser Haus platzte aus allen Nähten, wie eine zu kleine Jacke, die man vom jüngeren Bruder geerbt hat. Selbst Frosia wurde von der Stimmung mitgerissen. Sie kippte zwei halbe Schnapsgläser hinunter und ihr Gesicht glühte wie eine Eberesche im Herbst. Der Alkohol löste ihre Zurückhaltung, und sie setzte sich neben Vater. Nach einer Weile nahm sie seine Hand und betrachtete sie längere Zeit, um sie dann schließlich immer wieder zu küssen. Vater schaute fragend zu Mutter. »Lass ihr die Freude«, flüsterte Schönheit, »soll sie ihren Schmerz stillen. Sie wartet auch. Ihr Mann ist an der Kolyma.« Ich weiß nicht mehr, wann ich einschlief und wer mich in Frosias Stube hinübertrug. Ich schlief wie ein Toter und wachte auch nicht zur üblichen Zeit auf, sicher weil mich die vielen Eindrücke und Emotionen überwältigt hatten. Erst die Sonne brachte mich wieder zu Bewusstsein. Doch ich öffnete die Augen nicht und überließ mich ganz meinem Glück. Vater war dank einer Amnestie aus dem Arbeitslager entlassen worden. Jetzt war er auf dem Weg zur Armee des Generals Anders* und wollte uns nach Europa mitnehmen. Hätte unserer *
Die Armee des Generals Anders rekrutierte sich vor allem aus polnischen Offizieren und Soldaten, die den Gulag überlebt hatten. Sie zog über den Iran und Palästina an die italienische Front, um an der Seite der Alliierten zu kämpfen.
Familie etwas Schöneres passieren können? Jeder hier hätte alles Gold der Welt gegeben, um an unserer Stelle zu sein. Denn dort, westlich vom Ural, begann der Garten Eden. Ich hatte wahrhaftig guten Grund, Gott zu danken. Als ich in der Schule ankam, war gerade große Pause. Die Jungen umringten mich in einem dichten Kreis. Eine Mischung aus Neid und freudiger Erregung lag in ihren Blicken. Viele sehnten sich danach, wenigstens für einen Moment in meiner Haut zu stecken, denn keiner von ihnen hatte einen Vater zu Hause, und jeder wünschte sich einen herbei, und sei es nur in einem Traum. Wir vermissten chronisch die väterliche harte Hand, den männlichen Beistand in unserem Leben. Ungeduldig warteten sie darauf, dass ich die Schatzkammer der guten Neuigkeiten öffnete – etwa so, wie wir immer die monatliche Zuteilung von vierhundert Gramm Zucker ersehnten. Doch ich hatte Angst, etwas zu sagen, das das Glück gefährden könnte. Immerhin gehörte ich zu »den Entrechteten«, jener Gruppe von Menschen, die ihrer bürgerlichen Rechte beraubt war – das heißt, ich war ein Paria wie die meisten meiner Freunde. »Ich weiß nichts«, sagte ich, »sie haben die ganze Nacht getrunken und jetzt schlafen sie. Morgen werde ich es euch erzählen«, versprach ich. Sie sahen enttäuscht aus, fragten aber nicht weiter. Sie ahnten wohl schon, worauf alles hinauslaufen würde, und wollten lediglich meine Bestätigung. Nach dem Unterricht erklärte der Korn, dass er schon alles von Awwakum, also dem alten Grischa, erfahren habe. Und darauf sei ihm eine Idee gekommen. »Frag deinen Vater«, bat er mich, »ob er mich nicht adoptieren möchte. Vielleicht ist er einverstanden. Dann würden wir zusammen fahren. Sag, wirst du ihn fragen?«
Ich versprach zu tun, was in meiner Macht stünde. Doch ich versprach es ohne Überzeugung, so als ob ich die herannahende Katastrophe bereits ahnte. Einen kurzen Augenblick lang fragte ich mich, warum nur ich das Glück haben sollte, diese Hölle zu verlassen, ich war doch auch nicht besser als die anderen. Solche Fragen sollte man jedoch nicht stellen, wenn einem eine große Hoffnung das Herz erwärmt. Man sollte das Glück nicht analysieren, das führt nur geradewegs zu Scherereien. Meine Vorahnung hatte mich nicht getäuscht. Als ich unseren Hof betrat, hörte ich die Worte eines polnischen Desperadoliedes, die Hymne der Legionäre. Mein Vater sang es, ein ehemaliger Legionär der Ersten Brigade. In der Stube saßen beim Selbstgebrannten zusammen: Awwakum, der Parteisekretär Rajkomu, den alle den Schläger nannten, Schönheit und Vater. »Auf den Scheiterhaufen warfen wir unser Schicksal, auf den Scheiterhaufen, den Scheiterhaufen…« Vaters rotes Gesicht glühte, und seine Augen brannten wie die Malven am Dorfzaun. Seine kurzen, strohgelben Haare standen zerzaust in alle Richtungen, und sein Adamsapfel sprang an dem langen Hals hoch und runter. Vaters Erscheinung und sein Benehmen waren von so grotesker Virtuosität, durch die die stolze Vergangenheit unserer Familie hindurchschien, dass er mich an Don Quijote erinnerte, der sich für sein nächstes Abenteuer rüstete. »Bist du bereit?«, fragte er den Sekretär Rajkomu. »Seit meiner Geburt«, antwortete der. »Deswegen bin ich gekommen. Und deswegen hat Awwakum die Säbel mitgebracht.« »Täubchen«, flehte Mutter Vater leise an, »tu das nicht. Vertragt euch. In ein paar Tagen fahren wir doch schon in die Heimat, zu Menschen…«
»Ich lasse es nicht zu, dass dich jeder dahergelaufene Flegel anfasst«, erwiderte Vater streitlustig. »Ich erlaube nicht, dass sich ein Bolschewik in dich verliebt. Er behauptet, dass es für ihn nur noch dich auf dieser Welt gibt.« »Und ich nehme es nicht zurück«, rief genauso angriffslustig der Sekretär Rajkomu. »Ins Lager würde ich für sie gehen!« »Na siehst du, du hörst doch selbst, was er sagt. Wie soll man so einem nicht den Kopf abhacken?« »Aber er ist mir doch gleichgültig«, flüsterte Mutter. »Das ist unwichtig!«, schrie Vater. »Steh auf, du Lump!« Wir gingen auf den Hof hinaus. Awwakum wickelte zwei Säbel aus einem roten Tuch, lehnte sie an die Mauer und setzte sich dann auf das Bänkchen. »Wähle!«, sagte Vater. »Du zuerst, das sind meine Säbel. Du bist der Dahergelaufene, nicht ich.« Vater griff nach dem erstbesten Säbel und zog ihn aus der Scheide. Der Stahl, der in diesem Moment die Luft durchschnitt, gab ein pfeifendes Geräusch von sich, wie eine vorbeischwirrende Kugel. Wir stellten uns neben Awwakum. Als das Duell begann, blitzten die Augen des alten Grischa frech auf, und seine Finger drückten wie von alleine die Akkordeontasten hinunter. Es erklang die wunderschöne, herzzerreißende Melodie der Abendglocke. Sie passte sich auf erstaunliche Weise dem an, was hier um uns herum und anderswo geschah. Beide Männer waren angetrunken, und beide waren aus der Übung, was den Umgang mit Blankwaffen betraf, und so zog sich das Duell in die Länge. Sie machten viele Fehler, aber Awwakum, ein echter Kosak aus dem Baikalgebiet, der sich in diesen Dingen auskannte, schaute uns an und murmelte: »Das waren einmal Teufelskerle.«
Mutter hielt es nicht mehr aus und fing an zu weinen. Gerade in diesem Moment verlor Vater das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Sein Gegner zögerte nicht lange und richtete seine Säbelklinge auf die Brust des Liegenden. Doch er verfehlte ihn, oder Vater schaffte es auszuweichen – ich konnte es nicht sehen, weil mir der Rücken des Angreifers die Sicht versperrte. Vater entkam dem Tod, doch Rajkomus rechter Arm erhielt einen Stich von Vaters Säbel. Der Sekretär schrie vor Schmerz auf und ließ die Waffe fallen. Blut erschien über dem Ellbogen auf seinem Hemd. »Die Kommune hat verloren«, murmelte der alte Grischa befriedigt und hob seine buschigen Augenbrauen. »Herr, hab Dank für diese Freude.« Vater stand auf, ging mit gesenktem Kopf zu Mutter und drückte sie beruhigend an sich. »So töte mich schon!«, schrie der Sekretär mit verzweifelter Stimme. »Bitte ihn, dass er mit mir Schluss macht«, sagte er an Schönheit gewandt. »Wie soll ich sonst weiterleben?« »Geh«, sagte Awwakum zu ihm, »und sauf dich zu Tode! Du hast nur noch zwei Möglichkeiten«, flüsterte er zufrieden, »den Schnaps oder den Strick.« »Es ist alles verloren«, sagte Mutter traurig. »Das werden sie uns nicht durchgehen lassen. Diesmal wird für uns im Westen die Sonne nicht aufgehen.« Und sie hatte Recht. Am Abend kamen die zuständigen Männer des Inquisitors Berija, um Vater abzuholen. Wir verabschiedeten uns ohne ein Wort. Es gab nicht einmal Tränen. Vater lächelte traurig, breitete entschuldigend die Arme aus, küsste erst Mutter und dann mich. Plötzlich drückte mir der Kummer die Kehle zu; ich fühlte mich betrogen. Ich überwand meine momentane Apathie und stürzte zu Vater hin. »Ich gebe ihn nicht her!«, schrie ich. »Ich will nicht!«
Sie stießen mich brutal in eine Ecke. Als sich der Nebel des Schmerzes endlich vor mir zerstreute, führten sie Vater bereits mit aufgepflanzten Bajonetten hinaus. Wir durften ihnen nicht nach draußen folgen. Ich setzte mich neben Mutter. »Der Rote Champagner wird nicht zugrunde gehen«, flüsterte sie kaum hörbar, »er ist ein Glückskind. Ehe wir’s uns versehen, wird er schon wieder auf einem Begrüßungsfest sprudeln. Und das wird noch prächtiger sein als das von gestern und heute.« Ich hatte Mutter immer geglaubt, und ich war sicher, dass Vater wiederkommen würde. Trotzdem ergriff mich eine Verzweiflung, die mir die Augen verschleierte. Man hatte Vater in ein Arbeitslager mitgenommen, in jene eisige Hölle, wo sich die Menschen in Nummern verwandelten, die man sich nur schwer merken konnte und die so leicht zu streichen waren. Es war, als hätte Mutter meine Gedanken gelesen. Sie drückte mich an ihre Brust und seufzte: »Das Reden ist anstrengend; der Mensch schafft es nicht, alles mit Worten auszudrücken. Am besten, wir gehen schlafen.« In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von einem Schwarm davonfliegender Kraniche.
DER HEILIGE NARR
Pachomjusch, der Hausmeister unserer Schule, war ein Jurodiwyj – ein heiliger Narr. Seine Augen waren blau wie der Frühlingshimmel, und seine Haare leuchteten weiß wie vom Nebel gedämpftes Licht. Zum ersten Mal begegneten wir ihm auf unserer Wiese, an der Stelle, wo wir immer saßen, bevor wir Schlagball spielten. Außer uns kam nie jemand dorthin, vor allem kein Erwachsener. Deshalb sahen wir ihn erstaunt an, wie eine Erscheinung. Er lächelte und lud uns mit einer Geste ein, uns zu ihm zu setzen. Seine Miene drückte einen durch nichts getrübten Seelenfrieden aus. Er nickte zur Sonne hinüber. »Folgt ihrem Beispiel«, sagte er, »sie scheint für alle.« Er trug Militärkleidung, sah aber nicht wie ein Soldat aus, denn die Uniform wirkte an ihm nicht soldatisch, sondern irgendwie unbekümmert und nachlässig. Er war nicht aus dem Krieg gekommen, also musste er aus einem Lager zurückgekehrt sein. »Magst du etwas essen?«, fragte ich ihn, obwohl wir nichts hatten, was wir ihm hätten anbieten können. Es war einfach die erste Frage, die man in jenen Jahren stellte, wenn man mit jemandem ein Gespräch anknüpfen wollte. »Nein«, antwortete er, »aber ihr habt bestimmt Hunger.« Darauf zog er aus seinem Beutel einen Brotlaib und ein Säckchen Salz. Er schnitt das Brot auf und salzte jede Scheibe. »Esst, Jungs«, sagte er einladend, »wohl bekommt. Und was mich betrifft – ich werde Hausmeister an eurer Schule.« »Und was ist mit dem Wächter?« So nannten wir unseren Hausmeister. »Er wird morgen sterben.«
»Woher weißt du das?« »Ich habe einen Brief von Gott bekommen«, antwortete er und zog aus seiner Jackentasche ein zum Dreieck gefaltetes Blatt, auf dem nichts geschrieben stand. Wir schauten uns viel sagend an. Vor uns saß jemand, der anders war; ein Phantom, ein Mensch, der zu unserer Welt gehörte und doch wieder nicht. Er war kein gefährlicher Irrer, denn er strahlte Güte aus, sondern ein Kind Gottes, ein heiliger Narr. Bis dahin hatten wir noch keinen Menschen dieser Art getroffen. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatten die Erwachsenen wiederholt, dass man die göttlichen Narren ehren solle, doch wie wir diesen Respekt bezeigen sollten, das wussten wir nicht. Wir wurden verlegen. »Es wird Zeit für mich, Jungs.« Er stand auf, warf den Beutel über seine Schulter und bedachte uns wieder mit seinem ungewöhnlichen Lächeln, bevor er in Richtung unserer Siedlung davonzog. Seine Prophezeiung bewahrheitete sich. Am nächsten Tag nahm sich der Wächter das Leben. Sein revolutionärer Eifer der vergangenen Jahre hatte schließlich Früchte gezeitigt. Das Gewissen vergisst nichts, keine einzige Tat, und niemand kann sich vor ihm verstecken. Seit längerer Zeit schon hatte der Wächter wiederholt: »Was du den anderen angetan hast, das tue dir selbst an. Natürlich nur, wenn du keine Macht hast, denn Macht ermöglicht es einem, ohne Ende zu töten und die eigenen Sünden zu vergessen.« Die eine Voraussage war also eingetreten, und wir erwarteten den weiteren Lauf der Dinge. Und der Narr Gottes enttäuschte uns nicht. Am dritten Tag stand er bereits in der Schule und begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln. Ich fühlte mich unbehaglich, eine vage Furcht beschlich mich. Ich zog meine Mütze fester in die Stirn und näherte mich ihm.
»Zeig mir noch mal diesen Brief von Gott«, bat ich. »Das kann ich einfach nicht glauben.« Er gab mir das zum Dreieck gefaltete Stück Papier. Ich faltete es auseinander und schaute es mir genau an. Es war auf beiden Seiten leer. »Hier steht doch nichts geschrieben.« »Gott hat eine besondere Tinte«, erwiderte er, »für jeden Menschen eine andere. Diesen Brief kann nur ich lesen. Wenn Er an dich schreibt, kann es auch niemand außer dir lesen.« Zuerst hatte ich panische Angst vor Pachomjusch. Doch dann, ganz plötzlich, schloss ich ihn fest in mein Herz. Die anderen Jungen hatten weiterhin Respekt vor ihm. Der einarmige Schulleiter Konkin aber, der ehemalige Kommissar der Tschapajew-Division, hatte eine Heidenangst vor dem Narren. Er stellte sich auf den Kopf, um ihn zu loszuwerden, doch all seine Bemühungen misslangen. Pachomjusch erwies sich als eine Mauer, die nicht zu durchbrechen war. Wie Kosych machte auch Konkin meiner Mutter den Hof, weshalb er bei meinen Streichen ein Auge zudrückte. Doch als ich mich mit Pachomjusch befreundete, kam seine Engherzigkeit zum Vorschein. Eines Tages sagte er mir geradeheraus, ich solle mich von dem Hausmeister fernhalten, weil der nicht bei vollem Verstand sei und einen sehr schlechten Einfluss auf mich habe. »Er zieht sich seine Mütze nicht mit dem Fuß vom Kopf, also ist er normal«, erwiderte ich frech. »Mein Vater ist im Lager, deshalb bringt mir Pachomjusch die guten Dinge bei.« »Ich bin derjenige, der dir die guten Dinge beibringt«, erwiderte Konkin auf seine kommissarische Art. »Was kann er dir denn beibringen?« »Die Liebe zu den Menschen«, antwortete ich. »Er weiß, warum man alle Menschen lieben soll, warum jeder Mensch mein Bruder ist.«
Ich erzählte Pachomjusch von meinem Gespräch mit Konkin. Ein nachsichtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Wir lassen uns nicht unterkriegen«, sagte er sanft. »Mit mir hat er auch geredet, er hat mir in aller Freundschaft geraten, ich soll mir eine andere Arbeit suchen. Mehr noch, er war bereit, mir eine zu beschaffen, wenn ich nur weggehen wollte.« »Und was hast du ihm geantwortet?« »Ich erwiderte, dass ich hier Kinder, Arbeit und ein Dach über dem Kopf hätte, also den Kommunismus. Und den Kommunismus könne man nicht verlassen.« »Und was hat er darauf gesagt?« »Was konnte er schon sagen. Er hat auf die Erde gespuckt und ist weggegangen.« Ich lud Pachomjusch auf einen Tee zu uns nach Hause ein. Ich war sehr neugierig auf die Reaktion von Mutter, die bisher weder von der Einladung noch von meiner Freundschaft zu Pachomjusch wusste. Schönheit akzeptierte den Gottesnarren sofort. Sie blühte neben ihm auf und bald verliebte sie sich sogar ein wenig in ihn. Schönheit und der Narr. Klingt das nicht wunderbar? Nun, Mutter verliebte sich schnell. Doch sie liebte nur gute Menschen. Und ein guter Mensch ist auf dieser Welt ein missglücktes Geschöpf, ein weißer Rabe. Pachomjusch kam immer öfter zu uns. Das Haus wurde durch ihn heiterer und verwandelte sich in ein Heim, in das wir gerne zurückkehrten. Mutter kochte die wunderbarsten Speisen, Pachomjusch brachte mir das Schnitzen bei und erzählte mir von seinem bunten Wanderleben. Ich versuchte nicht, zu ergründen, was Schönheit eigentlich für ihn bedeutete, ob es nur ein platonisches Gefühl war oder doch etwas anderes, was er für sie empfand. Ich denke, das sibirische Elend und die Kälte hatten sie zusammengebracht. Auf jeden Fall lag mir viel daran, dass Pachomjusch bei uns blieb und mir wenigstens für eine gewisse Zeit den Vater ersetzte. Mein wirklicher Vater
war ja von Beruf Soldat, und so hatte er immer irgendwo gegen jemanden gekämpft, war aufgetaucht wie der Wind und wieder verschwunden. Pachomjusch gewann schnell und ganz mein Herz. Ich hing an ihm wie die Morgenröte am Sonnenaufgang. Nur Konkin, der das beobachtete, suchte ständig ein Haar in der Suppe und ließ seinen Ärger an mir aus. Im Gegenzug hörte ich auf, ihn mit seinem Vatersnamen anzusprechen und nannte ihn Genosse Kommissar. Es bewirkte das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte – statt Wut zeigte er ein sanftes Lächeln. Zumindest dem Anschein nach schlossen wir Frieden. Eines Tages fragte ich Mutter, ob Pachomjusch nicht zu uns ziehen könnte. Ich saß am Fenster, in der Stube wurde es bereits dunkler, und draußen kroch von der schwarzen Wand der Taiga die Abenddämmerung heran. Irgendwo dort draußen lebte mein Vater. Wahrscheinlich kam er gerade nach zwölfstündiger Schinderei vom Holzfällen zurück und dachte an nichts anderes als an etwas Brot und seine Pritsche, vielleicht noch an den Tod. Dort im Lager war Vater, und hier am Fenster saß ich, der sich nach väterlicher Wärme sehnte, der einen geistigen Vater für sich gefunden hatte. Ängstlich wartete ich auf Mutters Antwort. Als Schönheit meine Worte hörte, erstarrte sie für einen Moment. Dann setzte sie sich an den Tisch und stützte das Gesicht in die Hände. »Das wäre zu viel für mein Gewissen, Junge.« Ihr schmerzliches Flüstern drang an mein Ohr. »Es gäbe eine Tragödie. Wenn dein Vater zurückkommt, wird er Pachomjusch töten. Vielleicht auch mich. Und er wird zurückkommen. Er ist ein Glückskind. Die Iwans werden ihn nicht kleinkriegen.« Ich hatte eine ähnliche Antwort erwartet, trotzdem wurde ich sehr traurig. Mutter litt ebenfalls, vielleicht noch mehr als ich. Sie liebte Pachomjusch, jeder Trottel hätte das gemerkt. Ihre
Gesten verrieten es, ihr Gesichtsausdruck und ihre Augen, wenn sie ihn ansah. Sie liebte ihn für seine Güte, für seine Außergewöhnlichkeit und dafür, dass er sich auf seinem Dornenweg durch die sowjetischen Arbeitslager nicht hatte verbiegen lassen. Doch sein Lebensweg lief nicht mit dem unsrigen zusammen. Gott sprach zu ihm auf eine andere Weise als zu uns, und sein Leben besaß einen völlig anderen Sinn. Seine Taten und Bemerkungen versetzten uns immer wieder in Erstaunen. Im Grunde hatte Mutter nicht so sehr Angst vor Vater, sondern vor Gott. In ihren Adern floss jüdisches Blut, und sie fürchtete, es sei eine Sünde wider den Heiligen Geist, einen Gottesnarren an sich zu binden. Ich drehte mich vom Fenster weg und bemerkte Tränen in Schönheits Augen. Wieder war ich verwirrt. Ich empfand Mitleid mit mir selbst, mit Mutter, mit Vater und mit Pachomjusch. Mich befiel eine so große Traurigkeit, dass ich kein Wort herausbekam. Ich ging zu Mutter und küsste ihre Augen. »Wenn ich dich verletzt habe«, flüsterte ich, »dann verzeih mir.« »Du hast mich nicht verletzt«, sagte Schönheit. »Sag nichts. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Aber lass uns nichts überstürzen, mein Liebling.« Ich begleitete Mutter zur Nachtschicht ins Krankenhaus und ging dann auf die Suche nach Pachomjusch. Frosia war nicht zu Hause, und der Gedanke, dass ich die Nacht alleine verbringen müsste, erschien mir unerträglich. Zu viele widersprüchliche Gefühle hatten mich aufgewühlt. Pachomjusch war damit einverstanden, die Nacht bei uns zu verbringen. Wir legten uns zusammen in Mutters Bett, meines war zu eng. Vor dem Einschlafen erzählte er mir das Märchen vom Hexer Kostej, aber er erzählte es so, dass ich mir denken konnte, dass sich hinter Kostej Stalin verbarg und dass ihn das
gleiche Schicksal erwartete. Ich war einigermaßen gesättigt, die Läuse quälten mich weniger als sonst, vor allem aber lag neben mir ein mir naher Mensch, der mich mit seinen Worten und seinem Körper wärmte. Ich schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Ein zweifacher Knall weckte mich. Pachomjusch versicherte mir, dass ich einen Albtraum gehabt hätte, und so fiel ich recht schnell wieder in den Schlaf. Doch am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass es den Lärm wahrhaftig gegeben hatte. Jemand hatte vom Fenster aus zwei Schüsse auf das Bett abgegeben, in dem ich normalerweise schlief. Wir schoben es zur Seite und pulten zwei Bleikugeln heraus, die einen Dinosaurier auseinander gerissen hätten. Die Scheiben waren bereits ersetzt, weil sich Pachomjusch, der Schönheit den Schrecken ersparen wollte, schon vor dem Morgengrauen um die Reparatur gekümmert hatte. Und die Löcher in der Schlafdecke und im Bärenfell ließen sich leicht verbergen. »Wer hat es auf dich abgesehen?«, fragte ich. »Es kommen wohl mehrere in Frage, aber welcher von ihnen war es?« »Man hat nicht auf mich, sondern auf dich gezielt«, erwiderte der gutmütige Narr. »Weil du mich in euer Haus gebracht hast. Mich und keinen von ihnen, obwohl sie sich so sehr darum bemühen. Du hast Schönheit mir geschenkt, nicht ihnen.« Pachomjusch setzte sich plötzlich, wurde ganz starr und totenbleich. Nur seine Augen, die ungewöhnlich glänzten, zeugten davon, dass er noch lebte. So saß er eine ganze Weile da. Schließlich überlief ihn ein Schauder, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Jetzt weiß ich es – Kosych! Er… er wird gleich hier sein…« Und tatsächlich, einen Moment später erschien Kosych mit der schluchzenden Schönheit in der Wohnung. Als er mich mit dem Narren erblickte, erstarrte er zur Salzsäule. Mutter stieß
einen schmerzerfüllten Schrei aus. Pachomjusch sah den Attentäter mit unsäglicher Traurigkeit an. Mutter begriff sofort die Bedeutung dieses Blickes, und plötzlich bekamen ihre Augen einen wilden Ausdruck. Eine Grimasse des Abscheus verzerrte ihr Gesicht. »Du Dreckschwein!«, zischte sie Kosych mit zusammengebissenen Zähnen ins Gesicht. »Du verfluchte Schlange! Geh mir aus den Augen!« Als schließlich wieder die Freude in ihren Augen blitzte, befreite ich mich aus der mütterlichen Umarmung und ging mit Pachomjusch in die Schule. Dort überbrachte Awwakum während des Mittagessens die Neuigkeit, dass Kosych Selbstmord begangen habe. »Er hat sich in die Schläfe geschossen. Von seinem Kopf sind nur noch Fetzen übrig. Ich hab ihm immer gesagt, er würde sich eines Tages erschießen, weil er nicht genug trinkt. Er dachte, er könnte noch Schauspieler werden. Der Hamlet der Taiga… So ein Hundesohn! Auch der Sekretär Rajkomu wird sich aufhängen, und zwar schon bald«, beendete der Alte seine Rede, während er auf seiner Ziehharmonika klimperte, dann ging er die Hiobsbotschaft weiterverbreiten. Ich stahl mich aus der Schule weg und rannte nach Hause, um dort die Sensation zu verkünden. Schönheit saß mit Pachomjusch auf meinem Bett. Sie hielten sich an den Händen. Mutters Augen waren trocken und hell, und ihr Gesicht war noch schöner als sonst. Und sanfter. »Pachomjusch verlässt uns«, sagte Mutter, als ob sie meine Worte über Kosych nicht gehört hätte. »Das glaube ich nicht«, sagte ich entrüstet. »Ist das… wahr?« »Ich habe einen neuen Brief von Gott bekommen«, antwortete der heilige Narr und holte aus seiner Brusttasche ein weißes Stück Papier, das wie üblich die Dreiecksform der Feldpost hatte.
Wir begleiteten Pachomjusch nicht zu den ersten Büschen der Taiga, wie man das normalerweise in der Siedlung tat, wenn jemand Richtung Norden zog. Er hatte uns gebeten, es zu lassen. Wie es der Brauch war, saßen wir jedoch eine Weile schweigend zusammen, bevor wir uns verabschiedeten. Nachdem sich Pachomjusch seinen Militärrucksack über die Schulter geworfen hatte, kam er noch einmal von der Tür zurück, drückte Mutter erneut an seine Brust und legte seine Hand auf meinen Kopf. Dann rannte er wie der Wind aus dem Haus.
DIE WIEGE
Wie alles Übel kam der Frost ganz plötzlich. In einer einzigen Nacht hatte er sein Silberportal geöffnet und fleißig seine todbringenden Samen verstreut. Wer ein feines Gehör hatte, vernahm ein Geräusch, das so klang wie in einen Mühltrichter fließendes Getreide. Das bedeutete, dass die Temperatur unter vierzig Grad gesunken war. Der Schnee glänzte bläulich, und die Grenzlinie zwischen Himmel und Erde verschwand. Die Sonne, ihrer Pracht und ihres Glanzes beraubt, kümmerte in einem proletarischen Elend dahin. Die schneidende Kälte saugte den lebenspendenden, warmen Trank aus ihr, und so mussten uns nun das Holzfeuer, die Liebe und die täglichen dreihundert Gramm Brot mit Zellulose- und Fischgrätenzusatz vor dem Tod bewahren. Und wenn der Tod erst vor der Tür steht, wenn er sich schon in uns einzunisten beginnt, dann wächst der Lebenswille und mit ihm schließlich die Kraft, Berge zu versetzen und vom Tod aufzuerstehen. Just an diesem silbernen Tag tauchte wie aus dem Nichts meine Großmutter wieder auf. Als sie zu uns kam, war sie ganz sowjetisch, mit einer wattierten Steppjacke und Filzstiefeln, bekleidet, auch trug sie kein Kopftuch, sondern eine Mütze mit Ohrenklappen. Es hätte nur noch ein roter Stern auf der Mütze und ein Gewehr an der Schulter gefehlt, um das Bild perfekt zu machen. Großmutter wurde von Durow begleitet, dem neuen Inquisitor des Städtchens, der Kosychs Stelle übernommen hatte. Großmutter hätte zwar auch alleine zu uns gefunden, aber natürlich hatte sich Durow, ganz wie Kosych, in meine Mutter verguckt. Die Eskorte meiner
Großmutter verschaffte ihm die Möglichkeit, ein bisschen Menschlichkeit zu atmen, das heißt mit Schönheit zu sprechen. Großmutter Anastasia hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen die Bolschewiki. Sie verhehlte dies nicht, nannte sie feige Bande und hielt sie sich auf größtmögliche Distanz. Kein Bolschewik durfte jemals Schulter an Schulter mit ihr gehen. Auch Durow lief drei Schritte vor Großmutter, als sei er ihr Offiziersbursche. Mit Großmüttern gibt es normalerweise keine Probleme. In unserer Familie war das anders. Sowohl die eine als auch die andere Großmutter waren sehr eigene Charaktere und ließen sich nichts gefallen. Das imponierte mir. Über die erste wusste ich nicht viel. Die zweite hingegen, Großmutter Anastasia, war eines Tages plötzlich verschwunden, nachdem sie auf dem Tisch einen Zettel hinterlassen hatte, auf dem stand, dass sie sich auf die Suche nach dem Grab ihres Mannes begeben habe, um es in Ordnung zu bringen. Großvater Teodor war auf unserer Reise in die Verbannung erschossen worden. Der Deportationszug hatte damals ausnahmsweise nicht an einer Bahnstation, sondern mitten im Feld, neben einem Bahnwärterhäuschen, gehalten. Die verriegelten Waggontüren wurden geöffnet, und man erlaubte uns, in dem Wärterhäuschen heißes Wasser zu holen. Es war noch am Morgen. Die nahe gelegenen Hügel mit den Lärchenwäldern glänzten silbern wie die Locken eines Patriarchenbartes. Gleich über dem Wald flammte die Sonne auf wie eine Tatarenklinge. Mit grenzenlosem Staunen betrachtete ich die schneebedeckte Weite. Ich konnte es nicht fassen. Hinter mir die Hölle des Verbanntenwaggons mit seinem Latrinenloch und den harten Holzpritschen, und vor mir… ein Winterzauber aus Gottes Schöpfung. Ich sprang aus dem Waggon, und alles hinter mir vergessend, ging ich los – frei, leicht und glücklich. Ich vernahm nichts mehr, weder die
Schreie, die mich zurückriefen, noch die Schüsse. Erst mein Sturz auf dem verkrusteten Schnee brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Jemand hatte mir ein Bein gestellt. Ich überschlug mich, landete auf dem Rücken und mein Blick blieb an einem roten Stern haften. Jemand zielte mit dem Bajonett auf meine Brust. Ich nahm weder das Gesicht noch die Gestalt wahr, nichts, nur den roten Stern und das Bajonett. Der Anblick war so erschreckend, dass ich das Bewusstsein verlor. Ich kam erst im Waggon wieder zu mir, doch das Schlimmste stand mir noch bevor. Ich erfuhr von Großvaters Tod, dessen Ursache ich selbst gewesen war. Nach dem warnenden Schrei des Wächters, dass ich sofort zurückkommen solle, war Großvater Teodor aus dem Zug gesprungen, um mich zurückzuholen. Es wurde als Fluchtversuch verstanden. »Du hast hier nichts zu suchen«, sagte Großmutter zu Durow, der vor ihr die Stube betreten hatte. »Verschwinde, du feiger Hund«, fügte sie auf Polnisch hinzu. Durow wurde erst rot und dann blass. Seine Kiefermuskeln bewegten sich wie wühlende Maulwürfe. Wortlos schob er Mutter einen Zettel zur Unterschrift zu: Sie sollte den Empfang von Großmutter Anastasia bestätigen. Diese Quittung war ein völliger Unsinn. Hoffnungsvoll sah Durow meine Mutter an, doch da sie seinem Blick auswich, lächelte er nur traurig und verließ schließlich schweigend das Haus. »Wie war es heute in der Schule?«, fragte Großmutter, als wäre sie gerade erst gestern weggegangen. Dann küsste sie mich auf die Stirn. Ihr Kuss war lang und zitternd. Großmutter Anastasia weinte oft mit den Lippen. Nachdem sie sich seit langem mal wieder richtig aufgewärmt hatte, offenbarte sie uns, dass sie Großvaters Grab gefunden habe. Grasüberwachsen und mit einem Kreuz aus Eichenholz geheiligt, sei es nun in der Obhut
einer gewissen Tatjana Semjonowa und ihrer Tochter, die in einer nahe gelegenen Siedlung lebten. In dem halben Jahr von Großmutters Abwesenheit hatte sich vieles ereignet. Mutter hatte einiges zu erzählen. Wenn man den Einzelheiten ihres lebhaften Berichts zuhörte, gewann man den Eindruck, dass Vater nicht einen Tag, sondern mindestens einen Monat mit uns verbracht hatte. Und dass es eine romantische Idylle und nicht eine sarmatische Tragikomödie gewesen war. Am nächsten Tag, als Großmutter gerade zu Frosia hinübergegangen war, beichtete mir Mutter, dass sie schwanger sei und dass das Kind, das sie in sich trug, die Frucht ihrer Liebe zu Pachomjusch sei. »Ich erzähle es dir nicht nur, um dich um Verschwiegenheit zu bitten, sondern auch, weil du Pachomjusch ebenfalls geliebt hast. Aber es wird für uns besser sein, wenn Großmutter es nicht erfährt.« Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein sollte. Im ersten Moment kämpften beide Gefühle miteinander. Ich fiel Mutter um den Hals und wischte an ihrem Haar die Tränen ab, die mir gegen meinen Willen in die Augen schossen. Es stimmte, ich hatte den heiligen Narren wie noch niemanden zuvor geliebt und nach seinem Fortgehen eine so große Leere empfunden, dass ich den Mond hätte anheulen können. Die Sehnsucht hatte mir die Lebensfreude genommen und mein Lächeln gefangen gehalten. Im Grunde hatte ich zwei Väter besessen – und nun hatte ich keinen einzigen mehr. Mutter sah mich immer noch fragend an. »Ich freue mich«, flüsterte ich schließlich. »Ich freue mich auch, trotz der Sünde«, antwortete sie. Die Freude kehrte in mein Herz zurück. Das bemerkten sogar die Jungen. Ich war wieder ausgelassen, frech und draufgängerisch. Es gab kein Gestern und kein Morgen mehr,
nur das traurige und lausige sowjetische Heute, das man mit einem Lächeln überstehen musste, um das zu bleiben, was man war: ein Mensch. Der Sohn des Narren wuchs in Schönheits Schoß und sammelte Kräfte, Vater konnte jeden Moment aus dem Lager zurückkommen, und mein Traum vom fernen Polen hatte sich immer noch nicht verflüchtigt. Schönheit bemerkte unsere kleinen Aufmerksamkeiten. Großmutter Anastasia überschlug sich geradezu vor Fürsorge, was sowohl mich als auch Mutter verwunderte. Denn Schönheit war nicht die Schwiegertochter, die sich Großmutter erträumt hatte. In Mutters Adern floss nicht das blaue Blut der bewunderten Familien Czetwertynski oder Sapieha, sondern das verachtete jüdische, und sei es auch das Blut eines von Gott auserwählten Volkes. Großmutter hätte sich für ihren Sohn eine Verbindung mit den Baworowskis oder zumindest mit den Kobylanskis oder den Cieleckis gewünscht, doch die Grafen hatten sie behandelt wie einen gut frisierten Zigeuner. Jetzt veränderte sich Großmutter Anastasia deutlich, dem Kokon entschlüpfte ein Schmetterling, und sie begann sogar ihren französischen Akzent zu vergessen. »Schönheit darf sich jetzt über nichts aufregen«, ermahnte sie mich ohne Unterlass. Wahrscheinlich aus diesem Grund nahm sie ohne Protest die ihr zugewiesene Arbeit als Putzfrau im Waisenhaus an. Offenbar hatte sie endlich verstanden, dass man unsere Familie zu der Gruppe der »Entrechteten« zählte, dass wir ein überflüssiges und unbrauchbares Relikt der Vergangenheit waren, dass unser Leben keinen Pfifferling wert war und von der Willkür des sowjetischen Inquisitors abhing. Oder vielleicht hatte die Suche nach dem Grab ihres Mannes Großmutters Herz verwandelt? Wie auch immer, jedenfalls wartete sie auf ihr Enkelkind, wie junge Mädchen auf das Ende des Krieges warten und fromme Juden auf das Kommen des
Messias. Wir warteten mit der gleichen Ungeduld – sie auf ihren Enkel, ich auf meinen Bruder. Der Name Pawel Marek stand schon fest. Wir kamen nicht einmal auf den Gedanken, dass es ein Mädchen sein könnte. Der heilige Narr konnte uns doch keine Tochter hinterlassen, das war für mich so selbstverständlich wie der Sonnenaufgang. Ich begann zu überlegen, wo ich eine Wiege auftreiben könnte, wie sie die einheimischen sibirischen Künstler so wunderschön schnitzten. Und mit Awwakums Hilfe wurde ich fündig. Die Eigentümer, ein altes und allein lebendes Paar, verlangten nichts als Gegenleistung. Ganz im Gegenteil, sie freuten sich darüber, dass ihre Gabe ein neues Geschöpf auf Erden in den Schlaf schaukeln würde. Heimlich trug ich die Wiege in den Holzschuppen und richtete sie her, so gut es ging. Sie sah gar nicht schlecht aus. Ich war so froh, dass mir zum vollkommenen Glück nur noch ein Stück Weißbrot gefehlt hätte. Ich hatte jedoch vergessen, dass fast jedes Glück in Bitterkeit umschlägt. Das Unglück fuhr auf uns herab wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eines Tages kam Mutter nicht zur gewohnten Zeit von ihrer Schicht nach Hause. Anfangs dachten wir, dass sie im Krankenhaus aus irgendeinem Grund für die Nachtschicht dabehalten worden wäre, was öfter vorkam. Doch am nächsten Morgen erfuhren wir, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Es war Frosia, die uns die furchtbare Nachricht überbrachte. Ich fühlte mich, als ob sich eine Zecke in mein Herz verbissen hätte. »Gott, warum hast Du nicht mich genommen?«, flüsterte Großmutter nach längerem Schweigen. »Ich bete doch um den Tod. Meinen ungeborenen Enkel hast Du zu Dir genommen und mich hier gelassen. Ist das recht, o Gott? Überall Tod und die Sowjetjs, die Sowjets und der Tod. Wer soll das aushalten, Gott? Und dieses Sibirien, dieser Schnee, und diese Kälte…«
»Wir müssen es aushalten, Großmutter«, erwiderte ich. »Du sagst doch selbst, dass wir Menschen sind. Wir halten das aus. Und jetzt lass uns lieber weinen.« Als Großmutter schließlich zu schluchzen anfing, schlich ich unbemerkt in den Holzschuppen. Die Wiege, die ich aus dem Versteck herausholte, zog mich wie ein Magnet an. Ohne viel nachzudenken, legte ich mich hinein und kauerte mich zusammen. Und ein Wunder geschah. Für einen Moment war ich der neugeborene Sohn von Pachomjusch und blickte mit seinen Augen auf mich, während ich dicht neben ihm stand. Irgendetwas, was ich nicht benennen könnte, löste mich auf einmal aus dem Schmerz heraus und machte mich wieder ganz. In einer Kraftanstrengung riss ich die Zecke aus meinem Herzen und sprang aus der Wiege. »Moskau glaubt keinen Tränen«, flüsterte ich vor mich hin, »und die Toten kommen nicht wieder.« Ich schoss aus dem Holzschuppen und rannte zum Krankenhaus.
DIE MISSION
Nach der Fehlgeburt war Mutter zwei Wochen lang sehr verstört. Sie lief herum wie das Unglück selbst und konnte keinen ruhigen Schlaf finden. Sie wurde von Albträumen gequält, aus denen sie schreiend und schweißgebadet aufwachte. Gott allein weiß, was in ihrem Inneren vorging. Die Tatsache, dass ich ihr nichts von ihrer Verzweiflung abnehmen konnte, machte mir zu schaffen. Ich war so machtlos wie die Medizin. Mit der Zeit jedoch besserte sich ihr Zustand. Eines Tages, als sie von der Arbeit kam, setzte sie sich noch im Mantel neben mich an den Tisch. Sie lehnte den Kopf an die Holzwand und blieb regungslos sitzen. Ich machte meine Hausaufgaben, bemerkte also erst nach einer Weile, dass sie eingeschlafen war. Ich legte die Schreibfeder zur Seite und verhielt mich möglichst leise. Doch Mutters Schlaf dauerte nicht lange. Als sie aufwachte, leuchteten ihre Augen in ihrem alten Glanz, und ihre Züge waren weicher geworden. »Mein Junge«, flüsterte sie und drückte mich fest an sich, »ich habe von Pachomjusch geträumt. Ich träumte, er wäre zu uns zurückgekehrt. Er strahlte auf eine so überirdische Weise. Er hat uns gegrüßt und dann, ich weiß selbst nicht wie, hat er meine Verzweiflung von mir genommen. Er sagte, er sei sehr müde und befinde sich in einem Lager, aus dem er herauskommen müsse, weil er sich so nach mir sehne. Er müsse wieder zu Kräften kommen, weil er mich noch einmal sehen wolle. Als ich ihm dann zunickte, trat er in mein Herz ein, legte sich dort in einen Winkel, und während er einschlief, verschwand er langsam in einem leuchtenden Weiß…«
Ja, zweifellos, der Traum von Pachomjusch hatte Mutter endgültig geheilt. Doch es gab niemanden, der Großmutter hätte heilen können. Von Tag zu Tag wurde sie sonderbarer. Sie ging noch zur Arbeit, aber nun benahm sie sich wieder wie eine Gräfin, die die Pferde vor die Kutsche zu spannen befiehlt und sich dann schlafen legt. Großmutters Extravaganzen brachten die Leiterin des Waisenhauses zur Verzweiflung. Deshalb bat sie mich, als sie mich eines Tages auf der Straße traf (Schönheit wollte sie damit nicht behelligen), irgendwie auf Großmutter Anastasias Verhalten Einfluss zu nehmen. Aber was konnte ich schon tun, da diese mich neuerdings nicht mehr beachtete; ich war Luft für sie. Ständig gab sie zu verstehen, dass Gott sie für ihre Jugendsünden strafe, dass er ihr beide Enkel genommen habe – den geborenen und den ungeborenen – und dass Er sie in die Rolle der Antigone zwinge, obwohl sie die nicht sein wolle – und wenn es schon sein müsse, dann nur eine polnische Antigone. Sobald ich mich Großmutter näherte, sah ich, wie sich ihre Augen mit Angst füllten, und hörte ihr furchtsames Flüstern: »Ich werde dich nicht begraben, soll Gott dich beerdigen.« Diese Worte verletzten mich, rissen mich in Fetzen wie ein Stück Papier. Ich konnte nicht verstehen, was ich falsch gemacht hatte. Von Großmutters unbegreiflichem Verhalten eingeschüchtert, begann ich ihr aus dem Weg zu gehen und verbrachte immer mehr Zeit am Bahnhof. Ich lernte schnell, mich dort zurechtzufinden, und wuchs in die Bahnhofsatmosphäre hinein. Und schon bald betrachtete man mich dort als dazugehörig, bot mir Tee an und manchmal die unvermeidliche Kohlsuppe oder Buchweizengrütze. Die Eisenbahner – die meisten von ihnen waren Frauen – teilten mir sogar in der Verwaltungsstube eine Ecke zu, wo ich meine Hausaufgaben machen konnte. Ich kehrte immer erst spät nach Hause zurück, wenn Großmutter schon schlief oder gerade ins
Bett ging. Meine Mutter hatte zwar veranlasst, dass ich nach dem Unterricht in den Hort des Waisenhauses gehen konnte, doch das wollte ich nicht. Die Erzieher waren mir lästig, die ewig misstrauischen Blicke der ehemaligen Politfunktionäre und fanatischen Komsomolzinnen brachten mich auf. Eines Tages kam Grunia, die die Gleisaufsicht hatte, mit roten Wangen angerannt. »Komm schnell mit, dann kannst du einen Spion sehen!« Wir eilten zur Rampe – und ich bekam weiche Knie. Ein junger Soldat führte mit aufgepflanztem Bajonett meine Großmutter vor sich her. Sie trug dieselbe Militäruniform, in der sie von ihrer Suche nach Großvaters Grab zurückgekehrt war. Was jedoch wirklich Staunen erregte, war der irrwitzig große Stern aus weißer Pappe, der an ihrer Mütze befestigt war, sowie der Birkenbesen, der einem Gewehr gleich auf ihrer Schulter ruhte. Der Anblick war so traurig wie komisch, und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Da aber alle so ernste Mienen wie der NKWD-Soldat machten, begann ich zu lachen. »Das ist doch meine Großmutter!«, rief ich. »Kein Spion!« Die Blicke der Anwesenden richteten sich auf mich, dann auf Großmutter und dann wieder auf mich. Augenblicklich verflog die allgemeine Strenge, die Gesichter hellten sich auf, und die Schaulustigen brachen in Lachen aus. Grunia musste sich sogar hinsetzen. »Was für eine Komödie!«, quiekte sie. »Ich sterbe noch vor Lachen, Pjetja…« Unsicher marschierte ich hinter Großmutter her. Für mich war der Spaß vorbei. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was mit Großmutter los war. Was hatte sie nun wieder Merkwürdiges angestellt? Ich überholte den Soldaten, um zu sehen, ob sie mich erkennen würde, wenn ich an ihr vorbeiging.
»Enkelchen, Lieber, da bist du ja!«, rief sie freudig. »Und ich dachte, du wärst zusammen mit dem Ungeborenen gestorben. Aber du bist wiedergekommen! Und mir sind in der Zwischenzeit Flügel gewachsen, siehst du? Ich bin jetzt ein Engel. Ich habe eine Mission erhalten, die ich erfüllen muss. Ich muss die Bolschewiken weiß machen. Ich muss Stalin den Leuten zeigen. Diesen Kostej muss man ans Tageslicht holen. Nur ich kann das tun, niemand sonst.« Plötzlich begriff ich, dass sie sehr krank war, und innerhalb einer Sekunde hatte ich ihr alles verziehen. Ich wurde furchtbar traurig. Ohne auf die Rufe und Warnungen des Soldaten zu achten, ging ich auf Großmutter zu und nahm sie bei der Hand, und so gingen wir gemeinsam zum Inquisitionsgebäude des NKWD. Dort verjagte man mich nicht. Ich saß zusammen mit Großmutter im Wartesaal. Ich hielt es fast nicht aus vor Spannung: Würden sie Großmutter verhören und dann verurteilen, oder würde es ohne Verhandlung ausgehen? Ein paar Minuten später schaute mich Großmutter viel sagend an und streichelte mir über den Kopf, dann näherte sie sich dem diensthabenden Wächter. »Hol den Kommandanten. Und zwar schnell!«, sagte sie gebieterisch. »Er hat es vielleicht nicht eilig, aber ich schon. Ich erfülle eine Mission. Und so lange, bis er auftaucht, werde ich dich exorzieren, du Hundesohn.« Sie machte über ihm das Kreuzzeichen und begann zu rezitieren: Seit zwanzig Jahren breitet sich ein roter Nebel aus. Er sinkt auf alles nieder und wird zu einem Gitter. Doch ich entreiße euch den roten Sternen und von dem roten Magma spreche ich euch frei. Als der Wächter diese Worte hörte, wurde er bleich und blickte voller Angst um sich. Ich war starr vor Verwunderung. Wo
hatte Großmutter das her? Das Gedicht klang nach Lermontow – wunderschön wie ein Schimmel mit schwarzer Mähne. Außerdem hatte sie es in einem literarischen Russisch rezitiert, was ebenfalls rätselhaft war, denn Großmutter Anastasia kannte die hiesige Sprache nur schlecht. »Schau, mein Kleiner, wie blass er geworden ist«, stellte sie fest und zeigte auf den Wächter. »Das heißt, er ist noch ein Mensch, er ist noch nicht völlig verfault. Morgen wird sein Herz so weiß sein wie ein Lämmchen.« »Schweig!«, schrie der Soldat mit einer merkwürdigen Stimme, und er wurde noch bleicher, so als sei er über sein eigenes Geschrei erschrocken. In diesem Moment erschien Schönheit im Wartesaal. Im gleichen Augenblick tauchte auf der anderen Seite Durow hinter einer Panzertür auf. »Wie gut, dass ich hier der Bevollmächtigte bin«, sagte er freundlich zu Mutter, während er sich über seine bläulichen Bartstoppeln rieb. »Ein junger Schreiberling würde so eine Gelegenheit, sich zu beweisen, sofort ergreifen. Wenn ich nicht wäre…«, betonte er noch einmal lächelnd, wobei seine dunklen, leicht schräg stehenden Augen warm aufleuchteten, »dann müsste deine Mutter schon übermorgen den Lagerfraß löffeln. Schließlich hätte sie es zweifach verdient. Ich habe sie bereits vor dem Urteil ›gesellschaftlich gefährliches Element‹ bewahrt, und heute auch noch vor der ›antisowjetischen Agitation‹ und dem ›Verdacht auf Spionage‹. Ich kenne das Leben, aber auch du solltest seinen Geschmack kennen lernen.« »Danke, Semjon Semjonowitsch«, sagte Mutter demütig und begann, uns diskret aus dem Inquisitionsgebäude zu schubsen. »Und auch dich werde ich noch weiß machen!«, rief Großmutter, schon an der Tür, Durow zu. »Du wirst weiß sein
wie ein Müller, du wirst weißer sein als der tote Nikolaus II. oder das Silberkleid seiner Frau!« Während des ganzen Weges und auch später zu Hause sprach Großmutter ständig von ihrer außergewöhnlichen Mission. Die geröteten Wangen ließen ihr Gesicht jünger erscheinen, und in ihren Zügen lag eine sonderbare, wilde Schönheit. In ihren romantisch blauen Augen waren aber immer deutlicher die weißen Signale des Wahnsinns zu erkennen. Schönheit sagte mir, dass Großmutter an Schizophrenie leide, einer schlimmen psychischen Krankheit. Diese Diagnose machte mir jedoch keine Angst, im Gegenteil, mein Herz öffnete sich Großmutter gegenüber nur noch mehr, und ich hörte ihren Tiraden andächtig zu. Sie war anders, so viel war sicher. Und wahrscheinlich stachelte diese Andersartigkeit meine enorme Neugierde an. Schließlich sah sie Dinge, die ich nicht sehen konnte, und durchstreifte unbekannte Dimensionen. In ihrem neuen Zustand erinnerte sie ein wenig an Pachomjusch und auch an den Protopopen Awwakum mit seinen Prophezeiungen. Großmutters Krankheit bedeutete zugleich eine größere Armut für uns. Zwei kärgliche Lebensmittelrationen mussten jetzt drei Personen am Leben erhalten. Schönheit sorgte sich vor allem um mich und setzte alle Hebel in Bewegung, damit Großmutter wieder ihre eigene Ration zuerkannt wurde. Da ich an Elend und Hunger gewöhnt war, spürte ich nichts von der Veränderung; ich war sogar stolz, dass ich wenigstens auf diese Weise helfen konnte. Doch bald darauf verließ uns Großmutter und tat sich mit dem achtzigjährigen Awwakum zusammen, dem alten Grischa mit seiner Ziehharmonika. Er war jetzt ihr Vertrauter und Mitverbreiter der weißen Idee. Großmutter nahm Grischas Seele völlig in Beschlag und band sein Herz mit unsichtbaren Fäden an sich. Von morgens bis abends liefen die beiden durch
die Gegend und verkündeten, dass alles aus dem Weiß entstanden sei. Das Weiß bedeute Güte, Wahrheit, Freiheit und sei ein Gegenmittel gegen jede Krankheit. Im ganzen Kosmos und in jedem Menschen müssten mindestens sechzig Prozent Weiß und zwanzig Prozent Blau enthalten sein, andernfalls werde das Leben zur Hölle. Der Bolschewismus sei die Hölle, weil er aus purem Rot bestehe. Er sei nicht das Feuer, da er Kälte und Hunger verbreite, sondern ein Krebs, der die Menschen unaufhaltsam auffresse, ein Tod in rotem Gewand. Der Bolschewismus sei die Hölle, weil er das Weiß erstickt und das Blau zertreten habe. Doch das Weiß sei unsterblich, ein lebenspendender Atemhauch, der schon in jedem von uns keimen würde. Es habe das bolschewistische Rot bereits besiegt und müsse es nur noch entfärben. Der Bolschewismus sei schon am Tag seiner Geburt gestorben und Stalin nicht mehr lebendig. Noch laufe er auf dieser Erde herum, noch sitze er im Kreml, weil er das unschuldige Blut trinken müsse, das er vergossen habe, er müsse noch all das Rot verschlingen, das er gesät habe. Und das Gleiche würden seine Diener tun, diese ganze Friedhofsinquisition… Nicht einmal eine psychische Krankheit konnte solche Worte rechtfertigen. Dass sie ungestraft blieben, lag vor allem an der Sprache, denn Großmutter verkündete ihre Ideen entweder auf Polnisch oder auf Französisch, also in zwei Sprachen, die fast niemand sprach. Und wenn doch jemand etwas verstand, dann war er froh, solche Reden zu hören – die übrigens mit den Begräbnismelodien aus Grischas alter Ziehharmonika verziert wurden. Mit der Zeit gewöhnte sich Mutter an Großmutters Ausschreitungen und hörte auf, sich Sorgen zu machen. Doch ich hatte Angst. Ob im Wachzustand oder im Schlaf- ständig nagte an mir die unterschwellige Sorge um Großmutter. Eine solche Idylle konnte einfach nicht ewig dauern, auch wenn sie
schon ziemlich lang währte. Irgendwann würde im Getriebe etwas knirschen und das Ganze zum Halten bringen. Das war der Lauf der Dinge. Leider täuschte mich meine Ahnung nicht. Großmutter und Grischa wurden in einem Arbeitslager erschossen, das fünf Kilometer von unserer Siedlung entfernt war und keinen Namen, sondern nur eine Nummer trug. Irgendwie hatten sie es geschafft, das streng bewachte Terrain zu betreten. Sie waren dort eingedrungen, um die weiße Idee zu verkünden, als sie von den Kugeln der Wächter erwischt wurden. Wir begruben Großmutter und Awwakum noch am selben Tag – über dem Friedhof der erschreckend violette sibirische Himmel. Trotz allem war ich sonderbar ruhig. Erst als die gefrorenen Erdklumpen auf die Sargdeckel schlugen, zog sich mein Herz zusammen. Ich schaute zu Schönheit hinüber und dachte an den heiligen Narren und an Abalard, dessen Geschichte mir Mutter in glücklichen Tagen erzählt hatte. Würde ich so zu lieben fähig sein wie der Narr? Als ich mir gerade diese Frage stellte, bemerkte ich den Bevollmächtigten Durow. Er sah Mutter nicht an wie ein Hungriger ein Stück Brot, nein, er sah sie an, wie ein satter Kater eine Maus betrachtet, die keine Chance hat zu fliehen. Ich drückte Schönheits Hand und brach verzweifelt in Tränen aus.
DIE BEGEGNUNG
Unser Klassenlehrer Wadim Kirilowitsch hatte eine kalte Ausstrahlung. Wir konnten keine gemeinsame Sprache mit ihm finden. Er wirkte auf uns wie ein Fremdkörper, weshalb ihn die Jungen aus dem Waisenhaus Kum nannten. Der Begriff entstammte der Welt der Arbeitslager und bezeichnete jemanden, der für die Sicherheitsorgane arbeitete. Er war Invalide. Ein Schrapnell hatte ihm den rechten Arm abgerissen, als er gerade seine Kompanie zum Angriff führte. Ständig betonte er, dass die Armee der größte Schatz eines Landes sei und er selbst sich ihr bereits seit frühester Jugend verbunden fühle. Sicher hatte er am Bürgerkrieg und am Feldzug gegen Polen teilgenommen. Er sprach zwar nie darüber, doch ich ahnte es, denn wir beide gerieten ständig aneinander. Er erinnerte mich ein wenig an Nikolaj Ostrowskij, den Autor des berüchtigten Buchs Wie der Stahl gehärtet wurde. Einmal sagte ich es ihm und fügte noch hinzu, dass der Apfel nicht weit vom Stamm falle – Letzteres allerdings auf Polnisch. »Wiederhole den letzten Satz«, bat er. »Ein Priester predigt nie zwei Mal dasselbe«, erwiderte ich wieder in meiner Muttersprache. An seinen Augen erkannte ich, dass er den Sinn meiner Worte verstanden hatte. Das bestätigten auch die nervösen Zuckungen seines kantigen Unterkiefers. Ich nahm an, dass er mir nach dem Unterricht eine Standpauke halten oder mich zum Nachsitzen verdonnern würde. Doch nichts davon passierte.
»Du bist stolz wie jeder Pole«, sagte er nur. »Aber musst du dir immer wieder Ärger einhandeln? Ich rate dir, das Schweigen zu lernen.« Er hatte mich nicht bestraft. Das war etwas Besonderes. Es entsprang jedoch keinem Edelmut, das wusste ich nur zu gut. Es war die Kälte, die sein Temperament besänftigte und seine Rachsucht dämpfte. Er konnte den Frost nur schlecht vertragen. Selbst im relativ warmen Klassenzimmer hatte er seinen prächtigen Armeepelz an. Und draußen war die Temperatur auf minus fünfunddreißig Grad gesunken. Wenn es die Waisenhauskinder nicht gegeben hätte, hätte man den Unterricht vermutlich abgebrochen. Oder auch nicht, denn damals wurde ein Tag ohne Arbeit schnell als Sabotage betrachtet, und für Sabotage bekam man mindestens fünf Jahre. Jeder wusste das und jeder war sich bewusst, was fünf Jahre Arbeitslager bedeuteten. Wahrscheinlich fand aus diesem Grund der Unterricht in unserer Schule immer statt. Ich persönlich hatte nichts dagegen. So vergaß man leichter die Läuse und den Hunger. Na, und von Zeit zu Zeit gab es etwas zu lachen. Wenn Kirilowitsch ins Klassenzimmer kam, rief ich ihm immer gerne entgegen: »Was für eine herrliche Kälte! Da lacht das Herz, und es lebt sich leichter, wenn so eine Kälte herrscht!« Kirilowitsch schaute dann mit einer Grimasse zu den mit Eisblumen bedeckten Fensterscheiben. Er sank noch mehr in sich zusammen und lehnte sich mit dem Rücken an den Ofen. Er presste seine einzige Hand an die holländischen Kacheln, und nach ein paar Minuten verlor sie ihre leichenblaue Farbe. Dann kam Kirilowitsch um das Lehrerpult herum und begann mit dem Unterricht. Es war die Geschichtsstunde, langweilig wie ein Propagandaplakat. Ich konnte Kirilowitsch nicht zuhören. Außerdem wurde mir von dem Klang seiner Stimme schlecht – wie von der Berührung eines Reptils.
Unser Klassenlehrer hatte für mich auch nicht viel übrig; er drückte oft meine Noten, und wenn er sich mal vergaß, beschimpfte er mich als Pilsudski-Anhänger. Vielleicht wusste er nicht, dass mir das Freude machte. Ich war der einzige Pole in der Schule, und niemand hatte dort etwas von Pilsudski gehört. Auf die Frage, wer das denn sei, antwortete ich mit dem, was ich von zu Hause wusste: dass es um den polnischen Spartakus gehe, der niemals eine Niederlage davongetragen habe und bis zu seinem Tod polnisches Staatsoberhaupt gewesen sei. Beim Thema Pilsudski gerieten Kirilowitsch und ich öfter aneinander. »Wenn du älter wärst, würdest du ein anderes Lied singen«, stellte er eines Tages fest, nachdem ich ihm auf eine unbedachte Stichelei eine schlagfertige Antwort gegeben hatte. »Wenn du älter wärst, würde auch ich anders singen…« Nachdem im Radio die Nachricht durchgegeben worden war, dass General Anders Stalin verraten habe und mit der ganzen Armee zu den Feinden des Volkes übergelaufen sei, las uns Wadim Kirilowitsch die Meldung laut im Unterricht vor und wandte sich dann direkt an mich: »Was sagst du jetzt, Pilsudskist?« »Das ist Unsinn«, erwiderte ich. »Meinst du etwa, Moskau lügt?« »Ich sage nicht, dass Moskau lügt. Ich weiß nur eines: Ohne Stalins Einverständnis kann niemand die Sowjetunion verlassen, nicht einmal eine Fliege. Stimmt’s oder nicht?«, sagte ich in dem Versuch, ihn in die Enge zu treiben. »Ja, das stimmt«, gab er zu. »Also ist Anders nicht geflohen.« »Warten wir’s ab, wir werden sehen«, antwortete er verärgert. Und wir warteten ab. Und wir sahen.
Bald darauf fand ich, als ich von der Schule kam, einen fremden Mann zu Hause vor. Er trank Tee. Die in Tränen aufgelöste Schönheit saß neben ihm. Der Ankömmling erwies sich als Vaters Bekannter, der einen Brief von ihm mitgebracht hatte. Er konnte selbst noch nicht glauben, dass er frei war. Aus einem Kolyma-Lager herauszukommen, das grenzte an ein Wunder. Nur Gott allein wusste, warum man ihm nicht noch weitere fünf Jahre gegeben hatte. Es war ihm gelungen, das letzte Schiff zu erwischen, das in dieser Saison die Nagajewo-Bucht verließ, und auf dieser verfluchten Dschurma bis nach Wladiwostok zu kommen. Jetzt wollte er weiter nach Europa, an die Front. Sein schmales Gesicht war von Erfrierungen gezeichnet. Auch seine Ohren und Hände waren erfroren. Ein Netz aus tiefen Falten umgab das trübe Grün seiner Augen. Er begrüßte mich wie einen alten Bekannten. »Ich weiß alles über dich«, erklärte er und setzte mich auf seinen Schoß. »Bleib ruhig ein bisschen sitzen und schäme dich nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich nach so etwas gesehnt habe.« »Und wie ist es dort, an der Kolyma?«, sprach ich ihn etwas verlegen an. »Gibt es dort viel Gold?« »Frag nicht«, antwortete er. »Nur Menschen können die Lager von Kolyma überleben. Kein Tier kann unter solchen Bedingungen existieren. Die Kolyma ist das echte Herz des Kommunismus.« Er schwieg eine Weile. »Auf das, was ich gesagt habe, steht die Todesstrafe. Aber ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Und außerdem, wenn ich nicht im Krieg umkomme, dann werden sie mich früher oder später wieder dorthin schicken. Der NKWD lässt keinen Menschen ungestraft frei, er ist ein ständig saugender Blutegel. Schau«, er lehnte sich ein wenig zurück, damit ich ihn besser betrachten konnte, »ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt. Und wie alt sehe ich aus? Mindestens wie fünfzig, ich weiß das. Wer wird
mich da noch lieben? Wer wird sein Leben mit einem Zwangsarbeiter teilen wollen? Und vor mir liegt noch der Krieg… Aber da ist man wenigstens unter Menschen«, ergänzte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Na, lasst uns auf die Vorfahren und die Soldaten trinken.« Er hob das Glas, das Mutter mit Schnaps gefüllt hatte, den sie von Frosia geliehen hatte. Ich rutschte von den Knien unseres Gastes und setzte mich neben ihn. Düstere Gedanken keimten in mir wie Viren. Die Hölle, in der sich Vater befand, war etwas, was ich nicht begreifen konnte. Vielleicht, ging es mir durch den Kopf, hatte Gott die Erde mitsamt uns Menschen dem Teufel verpachtet? Oder unsere Gebete gelangten nicht dorthin, wohin sie sollten? Denn nichts sprach dafür, dass Gott mit uns war. Und auch wenn ich mich täuschte – wo waren Beweise für das Gegenteil? Innerlich zerrissen und rebellierend griff ich unwillkürlich nach Mutters vollem Schnapsglas und goss den Inhalt in mich hinein. Erst nach ein paar Minuten konnte ich wieder frei atmen. Noch nie zuvor hatte ich Alkohol getrunken, obwohl meine Kumpel schon länger tranken und rauchten. Es war nicht viel gewesen, aber ich spürte das Feuer im Magen. Ich trank Wasser nach, und es wurde ein bisschen besser. Auf einmal verlor die Welt ihre hoffnungslose Härte, und meine Zweifel begannen dahinzuschmelzen. »Teufelskerl!« Der Besucher zauste mir die Haare. »Du hast keine Ahnung, wie ich mich dort manchmal nach einem Glas Wodka gesehnt habe, vor allem dann, wenn jede Hoffnung erlosch. Denn nicht jeder kann wie ein Stein oder ein Baum leben. Ach, aber am schlimmsten ist es, von Brot zu träumen. Ständig träumt man von Brot…«
»Ich auch«, sagte ich an ihn gewandt. »Aber nicht von Schwarzbrot, sondern von Weißbrot. Das weich ist wie Schäfchenwolken.« »Na, Kirilowitsch, trink noch einen.« Schönheit füllte das Glas mit der trüben Flüssigkeit. »Unser Geschichtslehrer heißt auch Kirilowitsch«, warf ich beiläufig ein. »Richtig«, sagte Mutter. »Das ist doch auch dein Familienname.« Unser Gast wollte schon das Glas ansetzen, doch unerwartet hielt er inne. Das heißt, er war wie versteinert. »Ist sein Vorname vielleicht… Wadim?« »Ja«, antwortete ich. »Er hat nur einen Arm. Er ist bei Kiew verwundet worden.« »Unglaublich«, flüsterte er und leerte sein Glas in einem Zug. »Obwohl… alles ist möglich. Wie an der Kolyma.« »Er erinnert an Ostrowskij, den Autor von Gehärtetem Stahl«, ergänzte ich. »Das ist er, ganz bestimmt«, sagte unser Gast mit veränderter Stimme. Er starrte den Tisch an und schüttelte den Kopf. »Mein Bruder – ein Schweinehund, wie es ihn selten gibt. Er hat mich denunziert. Und seine eigene Frau. Er hat uns verleugnet.« Mutter füllte schnell das Glas auf, doch Kirilowitsch sah es nicht einmal an. »Gehen wir zu ihm!« »Lieber nicht«, widersprach Mutter leise, »in drei Stunden geht dein Zug. Es hat doch keinen Sinn, dein Herz noch zu quälen.« »Mein Herz blutet sowieso«, antwortete er entschieden. »Deins auch und genauso seins«, er zeigte auf mich. »Ich habe große Lust, diesen Judas zu sehen. Schließlich ist er mein
Bruder; dieselbe Mutter hat uns geboren, derselbe Vater gezeugt.« Und so gingen wir alle drei zusammen. Der Lehrer erkannte seinen Bruder nicht. Doch er lud uns zuvorkommend ein, uns an den Tisch zu setzen, wobei er deutlich interessiert zu Schönheit hinüberschielte. »Ich mache gleich Tee. Setzt euch.« »Wir sind nicht zum Teetrinken gekommen, du Judas«, erwiderte sein Bruder. »Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass mich die Kolyma nicht aufgefressen hat. Sie haben es nicht geschafft, mich zu vernichten, obwohl sie sich solche Mühe gegeben haben.« Wadim erstarrte und wurde bleich, oder eher aschfahl, wie ein Mensch, der einen heftigen Schmerz verspürt. Die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer zu werden. »Und deine Frau, lebt sie?«, fragte ihn der Bruder. »Verzeih mir«, schluchzte Wadim plötzlich, ohne sich zu rühren. Seine Lippen bewegten sich kaum. »Eine selten schöne Frau«, sagte sein Bruder und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Maria Stanislawowna war eine Polin aus Grodno. Wir nannten sie Laura. Aber gehen wir, hier haben wir nichts mehr verloren.« Und wir brachen zu dritt zum Bahnhof auf. Am nächsten Tag erschien unser Klassenlehrer nicht in der Schule. Vom Hausmeister erfuhren wir, dass er sich erhängt hatte. Das überraschte mich. Großmutter Anastasia hatte immer behauptet, dass die Henker und ihre Helfer niemals Selbstmord begingen. Sie würden sich für unschuldig halten. Schuldig seien für sie immer nur die, die ihnen in die Hände fielen. Dass sich Wadim das Leben genommen hatte, bedeutete also, dass er noch ein Mensch war. Ich ging dennoch nicht zu seiner Beerdigung, ich konnte mich nicht dazu überwinden –
irgendetwas flüsterte mir hartnäckig ins Ohr, dass ich zu Hause bleiben sollte. Niemand von unserer Klasse ging hin. Am nächsten Tag nahm die Kälte zu. Die Temperaturen sanken unter fünfundvierzig Grad, und ich dachte mit boshafter Genugtuung, dass Wadim Kirilowitsch nun doch noch den Geschmack der Arbeitslager kennen lernte; dass er das Schicksal meines Vaters und all derer teilen musste, die er dorthin geschickt hatte. Aber das war nur mein kindliches Wunschdenken. Ein Grab wird niemals zu einem Lager werden, einen Toten wird niemand zum Goldschürfen zwingen. Ein Grab befreit von dieser Welt. Selbst die Henker.
SASCHA
Als ich Sascha kennen lernte, befand ich mich in einer schwierigen Lage. Die Wege unseres Karmas führten uns zusammen, wie mein koreanischer Freund Kim sagen würde. Und das kam so: Ein Junge aus dem Waisenhaus – einer wahren Brutstätte kleiner Gauner –, ein gewisser Aljoscha Sinizyn, Sohn eines hingerichteten Brigadekommandanten, schnipste mir während der großen Pause ohne Grund mit den Fingern an die Nase und nannte mich einen verlausten Pilsudskisten. Es kam zu einer Prügelei. Sinizyn war größer und stärker als ich. Sicher wäre er ohne Weiteres mit mir fertig geworden, wäre es nicht um eine Ehrensache gegangen. Nicht die Stichelei mit den Läusen hatte mich gekränkt, sondern die Verachtung, mit der er das Wort Pilsudskist ausgesprochen hatte. Außerdem gehörte Sinizyn zu denen, die ihre Eltern verleugnet hatten. In mir kochte es. Nach ein paar Schlägen machte mir der Schmerz nichts mehr aus. Wir schlugen uns blutige Nasen, rissen uns die Lippen auf, und als es mir schließlich gelang, ihn zu Boden zu werfen, begann sich die Waagschale des Sieges zu meinen Gunsten zu neigen. Denn wenn ein Gegner erst einmal am Boden lag, besiegte ich ihn immer, selbst wenn er zwei Mal so stark war wie ich. Schließlich hatte er genug, und ich behielt die Oberhand. Das hatte ich von den Hunden gelernt. Ich hatte häufig ihre Kämpfe beobachtet und griff einfach so an wie sie. Das war das ganze Geheimnis. Auch diesmal enttäuschte mich die Hundetechnik nicht. Doch damit war die Sache nicht zu Ende.
Die älteren Waisenjungen unterhielten sich untereinander in der Sprache der Gauner, ahmten auch demonstrativ deren Stil und Verhalten nach. Vielleicht spürten sie unbewusst, dass sie dem Gulag früher oder später nicht entgehen würden, dass das Waisenhaus nur die erste Etappe der Lagererziehung war. Sicher war auch Sinizyn schon Mitglied dieser jugendlichen Bande, oder er strebte danach und versuchte sich zu beweisen. Jedenfalls wollten er und noch ein paar andere Jungen mich um einen Kopf kürzer machen. Das verriet mir Kolja Dowschenko, dem ich seinerzeit das Matrosenhemd geschenkt hatte. Ich nahm mir die Drohung nicht allzu sehr zu Herzen, war aber doch auf der Hut. Schließlich war im sowjetischen Russland ein Mensch weniger wert als eine Mücke, zumal ein Mensch, der den Ural von West nach Ost überquert hatte. Er konnte von der Bildfläche verschwinden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, und häufig geschah es auch so. Ich freundete mich deshalb mit dem Hund unseres Nachbarn, des Bahnhofsvorstehers, an. Ich hielt Bajans Kopf in den Händen, sah ihm in die Augen und wiederholte ein paar Mal laut, dass man es auf mich abgesehen habe. Und Bajan schien mich zu verstehen, denn er folgte mir von nun an auf Schritt und Tritt. Als ich die Drohung schon fast vergessen hatte, wurde sie auf einmal konkret. Sinizyn und seine drei Kumpel umzingelten mich auf dem Feldweg, auf dem ich nach der Schule immer nach Hause ging. Sie wussten, dass ich den Hund dabeihaben würde, und hatten sich deshalb mit Steinen und Stöcken ausgerüstet. Und dann ging es los. Ich versuchte, so gut wie möglich auszuweichen, aber schließlich kam der unvermeidliche Moment, wo ich nach einem heftigen Schmerz nur noch Stille und ein sonderbares Wohlbehagen wahrnahm. Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, erblickte ich über mir Saschas Gesicht und an meiner Seite den blutenden Bajan.
»Du lebst«, flüsterte Sascha lächelnd und entblößte dabei sein vom Skorbut zerfressenes Zahnfleisch. »Vier gegen einen, diese Tiere! Und auch noch mit Messern und Stöcken. Auf die sowjetische Art. Die Mistkerle. Aber das Wichtigste ist, du lebst. Steh auf! Den Hund bringen wir auch wieder auf die Beine.« Sascha war seit einem halben Jahr das Faktotum des Waisenhauses. Ihm fehlten der linke Fuß und der rechte Arm bis zum Ellenbogen. Nach fünf Jahren Zwangsarbeit an der Kolyma war er als Invalide entlassen worden. Er hatte in einer Goldmine an vorderster Front gearbeitet, im »Totschlag«, wo man hundert Gramm Gold mit einem Menschenleben bezahlte. Doch das Regime schaffte es nicht, alle dem ewigen Eis zu übergeben, wie es der Plan war. Der Mensch ist manchmal ein erstaunlich zähes Wesen. Andererseits ließ man auch keine menschlichen Abfälle von der Kolyma weg, also diejenigen, die nicht in der vorgeschriebenen Zeit umgekommen waren. So etwas konnte man schließlich der Welt nicht zeigen. Dass Sascha entlassen worden war, hielt er selbst für ein Versehen. Er war einer Gruppe von Freiwilligen zugeordnet worden, denen man die Ausreise an die Front erlaubte. Erst in Irkutsk, wo die Zuweisung zu den einzelnen Einheiten erfolgte, flog die Sache auf. Hier bemerkte jemand, dass er verkrüppelt war. Seine Papiere wurden überprüft und an den NKWD weitergeleitet. Der Oberbevollmächtigte, sicher ein alter Hase, pfiff vor Erstaunen, als er Saschas Akte durchblätterte. Aus Gründen, die nur er kannte, schien ihn die Situation zu belustigen. »Versehen können Wunder vollbringen«, sagte er zu Sascha. »Aber da es dir gelungen ist, bis zu mir zu gelangen, wirst du hier bleiben. Oder nein. Du fährst weiter zu meinem Geburtsort.«
Und so tauchte Sascha in unserer Siedlung auf, wo fünfzig Jahre zuvor der NKWD-Oberbevollmächtigte von Irkutsk zur Welt gekommen war – angeblich als Enkel eines polnischen Verbannten. Während der ersten Tage, die Sascha bei uns verbrachte, war er äußerst unruhig. Er fühlte sich ständig verfolgt, lebte wie auf glühenden Kohlen. Doch natürlich kann man so auf Dauer nicht existieren. Das begriff auch Sascha, und nach ein oder zwei Wochen ließ er alles Vergangene vergangen sein, noch mehr alles Zukünftige zukünftig, und war er selbst. Er dachte nicht mehr darüber nach, dass man ihn jederzeit abholen und in ein Invalidenlager bringen konnte, wo der Blinde mit dem Beinlosen und der Taube mit dem Armlosen arbeiten mussten, wo man sich zu fünft zusammentat, um zwei Beine und drei Arme aufzubringen, und wo jeder dennoch das gleiche Arbeitspensum erfüllen musste – und sei es mit den Füßen oder den Zähnen. Die Köchinnen im Waisenhaus nahmen Sascha unter ihre Fittiche. Und wenn der Mensch erst einmal seinen schlimmsten Hunger gestillt hat, dann erwacht wieder die Lebensfreude in ihm. Bald fand Sascha sein Lächeln wieder und begann die Frauen und Kinder so zu lieben, wie man sie lieben sollte. Kolja Dowschenko hatte mitgekriegt, dass Sinizyn die Aktion gegen mich vorbereitete, und daraufhin Sascha informiert, dass mein Leben bedroht sei. Wie Kolja mir später erzählte, war Sascha ganz blass geworden, als er meinen Namen hörte, hatte sich aber schnell wieder gefangen und war mir zu Hilfe geeilt. »Und dein Vatersname ist Schampanjowitsch?«, fragte mich mein Retter, als er mich nach Hause begleitete. Der Hund schleppte sich hinter uns her und winselte. Sascha schüttelte mitleidig den Kopf. Mutter stand schon in der Tür. Sascha erklärte ihr, was passiert war. Er lobte mich bei der Gelegenheit für meine Tapferkeit und machte fast einen Helden aus mir. Schönheit
hatte gute Laune und regte sich deshalb nicht allzu sehr auf. Als wir in die Stube gingen, herrschte dort Halbdunkel, und Mutter machte das Licht an, um mich und den Hund zu verarzten. Sascha verschlug es die Sprache. Er verharrte in völliger Reglosigkeit. Ich dachte, er sei vielleicht krank und bekomme gerade einen Anfall. Ich machte Mutter darauf aufmerksam. Sie schielte über ihre Schulter, schüttelte nur den Kopf und lächelte: »Noch so ein Quälgeist… Was soll ich Arme denn nur mit all eurer Liebe machen? – Na komm, setz dich an den Tisch«, fügte sie hinzu, nachdem sie Bajan verbunden hatte. Mein Retter konnte den Blick nicht von Schönheit abwenden. Mutter wusch sich die Hände, streichelte Sascha übers Gesicht, ging zu Frosia hinüber und kam mit einem Glas Schnaps zurück. »Hier, trink, tu mir den Gefallen.« »Von heute an bin ich dein Hund«, erwiderte Sascha und leerte das Glas. »Dein guter Hund. Ich kannte deinen Mann. Er hatte eine Narbe auf der Stirn. Wir waren zusammen im Lager. Wer hätte gedacht, dass ich einmal die Frau vom Dolch kennen lernen würde? So nannten wir ihn«, erklärte er. »Er ist wieder weg«, sagte Mutter traurig, »und bald ist es ein Jahr, dass sie ihn mitgenommen haben. Er hat sich mit dem Sekretär Rajkomu geschlagen. Und du, wofür hast du gesessen? Doch nicht für Mord, hoffe ich.« »Für die falsche Gesinnung haben sie mich eingebuchtet.« »Also bist du einer von uns. Komm aber nicht zu oft hierher. Wegen Pachomjusch haben sie mir fast meinen Jungen umgebracht.« »Aber erlaube mir, dich anzuschauen«, flüsterte Sascha flehend. »Nun, ob du es erlaubst oder nicht – ich werde mir die Augen nach dir ausschauen.«
»Schau, so viel du willst«, erwiderte Schönheit. »Freu dich dran, bis du satt wirst. Du warst schließlich im Lager. Aber pass bitte auf Durow auf. Das ist ein Schurke, wie es nicht viele gibt. Wenn der was merkt, macht er dich fertig. Er ist auch ein Verehrer…« »Hab Dank für die Warnung«, antwortete Sascha lächelnd, schon ein paar Zentimeter gewachsen und mindestens fünf Jahre jünger. »Ich werde versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Jetzt will ich so lange wie möglich leben. Jetzt schreibt das Leben ein neues Kapitel. Ich danke dir nochmals.« Doch Sascha war nicht vorsichtig genug. Wahre Liebe lässt sich nicht verheimlichen. Ein echtes Gefühl kann nicht schweigen. Immer mehr Menschen kannten Sascha und immer mehr sahen ihn in der Nähe des Krankenhauses. Und wenn sich jemand dort herumtrieb, dann war jedem klar, worum es ging. Es war auch abzusehen, dass Durow sehr schnell davon erfahren würde. Und dass er auf die sowjetische Art reagieren würde. Und so kam es. Zufällig wurde ich Zeuge von Saschas Festnahme. Ich rannte zu Mutter ins Krankenhaus. Sie streifte schnell ihren Kittel ab, und wir eilten zu Durow. »Es ist meinetwegen, dass du einen Menschen zerstörst. Lass ihn frei«, bat Mutter. »Was hat er dir getan?« »Das kann ich nicht«, erwiderte er. »Aber ich verspreche dir, dass ich ihn nicht ins Lager schicken werde. Er wird nur den Aufenthaltsort wechseln.« »Erlaube mir wenigstens, mich zu verabschieden.« »Nein, ich erlaube es nicht«, antwortete er. »Aber ich habe etwas für dich. Du hast mich gebeten, Erkundigungen einzuholen, was mit deinem Mann ist. Hier ist die Nachricht.« Er gab ihr einen offiziellen Brief. Mutter las ihn und wurde bleich. Zitternd griff sie nach meiner Hand und umklammerte sie fest. Sie schaffte es, sich zu
beherrschen, und brach nicht in Tränen aus. Nach einer Weile lockerte sie ihren Griff. »Sie haben deinen Vater umgebracht«, sagte sie tonlos. »Sie behaupten, er wäre an einer Lungenentzündung gestorben. Als Nächstes werden sie mich töten und dann dich. Alle werden sie vernichten.« Die Trauer, die tief aus ihrem jüdischen Herzen kam, ließ die außergewöhnliche Schönheit ihres Gesichts noch stärker hervortreten. Mutter wurde so schmerzhaft schön, dass es sogar mich, der ich an ihren Anblick gewöhnt war, erschütterte. Auch Durow hielt es nicht aus. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und blieb vor Mutter stehen. »Hab Erbarmen mit mir«, flüsterte er. »Richte mich nicht zugrunde. Ich liebe dich, ich werde wahnsinnig.« Wir gingen ohne ein Wort hinaus. Auf der Straße trennten wir uns. Mutter kehrte ins Krankenhaus zurück. Ich ging mit schleppenden Schritten zur Schule. Vaters Tod tat mir weh, aber nicht so sehr, dass ich darüber Schönheit vergessen konnte. Unterwegs träumte ich davon, eines Tages einer so herrlichen Frau wie meiner Mutter zu begegnen und mich in sie zu verlieben – sie so zu lieben, wie es Sascha und Pachomjusch konnten. »Und was dann?«, fragte ich mich. »Und dann werde ich Flieger oder Matrose«, antwortete ich mir selbst und versank weiter in meine Träumereien.
DER SARG
Das Haus des alten Jewtuschenko war niemals leer. Die Leute schauten gern bei ihm vorbei, um mit ihm zu reden oder zu schweigen. Jewtuschenko wirkte besänftigend auf sie. Er schenkte ihnen, was ihnen fehlte: eine nachdenkliche, verträumte Stimmung. Kinder besuchten ihn nicht, er ließ sie nicht ins Haus. Doch eines Tages wagte ich es; ich überwand meine Scheu, ging hinein und setzte mich ohne ein Wort neben ihn. Sascha der Beinlose, der gerade zu Gast war, erzählte ihm, dass ich der Sohn von Schönheit sei und Gedichte schreiben würde. »Du kannst mich besuchen kommen«, sagte der Alte daraufhin augenzwinkernd. »Du bist schon erwachsen. Du hast zwar noch nicht mit einer Frau geschlafen, aber du hast Umgang mit dem Wort.« Ein zusätzlicher Magnet und eine Attraktion des Hauses war der Sarg, den Jewtuschenko für sich schnitzte. In dem er auch von Zeit zu Zeit schlief, um, wie er behauptete, mit Gott zu reden und nicht völlig zu verrohen. Der Sarg wurde mit jedem Tag schöner. Es war ein Meisterwerk, das ausdrückte, was der Alte nicht mit Worten oder Gesten ausdrücken konnte. Auf dem Sargdeckel prangte ein beeindruckendes Relief: Darauf war Kostej zu sehen, der mit flehend ausgestreckten Armen vor dem geflügelten Tod kniete, welcher aufgerichtet vor ihm stand. Jedes Mal, wenn ich Jewtuschenkos Werk betrachtete, überlief mich ein Schauder. Die strenge Majestät der dargestellten Szene weckte eine größere Lebenslust in mir, eine Art Trotz gegen die allgegenwärtige Sterblichkeit, und
gegen das Böse, mit dem wir uns einfach nicht abfinden konnten. Dieser mit so großer Ehrfurcht geschnitzte Sarg sagte mir auch, dass niemand das Recht hatte, dem Tod die Arbeit abzunehmen, für ihn den Söldner zu machen. Das Leben galt es zu schützen, den Tod sollte man hingegen dem Tod überlassen. »Das beeindruckt dich, was?«, sagte Sascha der Beinlose, als er meinen Blick bemerkte. »Du bist ja ganz bleich geworden. So ein Schmuckstück sollte im Kreml stehen, in den Gemächern eines jeden Machthabers. Dann würde die Welt anders aussehen, dann hätte mir nicht eine Mine die Beine abgerissen.« Ja, ich war beeindruckt, und zwar zutiefst. Es hatte mit mir selbst zu tun und mit der ganzen Welt. Mir wurde deutlich bewusst, dass man mich nach Sibirien geschickt hatte, damit auch ich schneller starb als vorgesehen; dass ich aufgrund einer Laune böser Dämonen hier war. In der Siedlung konnte man die Einheimischen an den Fingern abzählen. Sterbliche verurteilten die Sterblichen! Ich konnte das einfach nicht begreifen. Was fühlten diejenigen, die uns hierher geschickt hatten, und die, die uns hier bewachten? Wie sollte man das alles verstehen? Ich hätte gerne Jewtuschenko oder den Beinlosen danach gefragt, doch wahrscheinlich kannten sie die Antwort so wenig wie ich. Über die endgültigen Dinge weiß man nicht viel. Auf jeden Fall brachte mich der Sarg des Alten dem Tod irgendwie näher, er machte uns miteinander bekannt und zugleich verstärkte er meinen Lebenswillen. Doch wie brachte man es fertig, zu leben und nicht zu verwelken? »Du hast alles schon bei dir im Haus«, flüsterte ich dem Alten unwillkürlich zu. »Du musst nach nichts mehr suchen.« »Und du, woran fehlt es dir?«
»Ich würde gerne fliegen. Ganz hoch, um zu sehen wie die Welt von oben aussieht.« »Du versuchst doch, Gedichte zu schreiben«, sagte Sascha der Beinlose, »also fliegst du. Und zwar höher als die Flugzeuge. Wie ein Engel.« »Das ist nicht dasselbe.« »Da irrst du dich. Irgendwann wirst du es merken.« Und so wurde ich zu einem Stammgast in Jewtuschenkos Haus und verlor für eine Weile das Interesse am Bahnhof. Jetzt war das Haus des Alten mein Tempel und meine Universität. Die Schule langweilte mich, obwohl mir das Lernen nicht schwer fiel – den Stoff des Jahres hatte ich aus Neugierde innerhalb eines Monats bewältigt. Diese Neugierde war es auch, die mich mit elf Jahren den ganzen Stoff der Oberschule durcharbeiten ließ. Zu jener Zeit begann ich die Einsamkeit zu schätzen, wenn auch nicht auf Dauer. Ich wollte allein sein, wenn ich die Bibel las oder ein Gedicht schrieb. Ich las viel, doch nachdem ich die Meisterwerke verschlungen hatte, die in der Bibliothek unserer Siedlung zugänglich waren, fand ich kaum ein Buch, das mir gefiel. Das meiste war einfach nur Schund. Ich vertiefte mich probeweise in Dostojewski und war von Raskolnikows Leiden fasziniert; Lermontow hatte ich immer zur Hand, und in der Bibel las ich jeden Tag, allerdings bemühte ich mich mit eher mäßigem Erfolg ihren Anfang zu verstehen. Der Baum des Lebens, der Baum der Erkenntnis, die Schlange und die Vertreibung aus dem Paradies – all das war für mich wie ein gläserner Berg, den ich nicht erklimmen konnte, eine Nuss, die nicht zu knacken war. Auch Schönheit konnte es mir nicht erklären und wiederholte nur, dass man dies alles mit dem Herzen begreifen müsse, dass die Worte der Bibel sich eher ans Herz als an den Verstand richteten. Doch das befriedigte mich nicht, im Gegenteil, es quälte mich noch mehr. Deshalb ging ich gern zu Jewtuschenko, um seine
runzeligen Augen und sein Gesicht mit dem dichten weißen Bart zu beobachten, während er schweigend seinen Sarg schnitzte, dieses trotzige Symbol gegen die Vergänglichkeit dieser Welt. Ich versuchte Gedichte zu schreiben, er dagegen schuf mit seinen sensiblen Fingern ein Gedicht aus Holz und beschwor das Geheimnis der Poesie in der beunruhigenden Begegnung zwischen Kostej und dem Tod. Ich war allerdings nicht oft allein mit dem alten Jewtuschenko, da sein Haus selten leer war. Täglich kam Sascha der Beinlose vorbei, außerdem die alte Raja, die dann am Sarg den fünfzigsten Psalm Davids sang; ferner der Chinese Li, der immer schwieg, obwohl er nicht stumm war, der burjatische Schamane und viele andere. Eines Tages erschien Durow, dessen Atem nach schlecht verdautem Schnaps stank, in Jewtuschenkos Haus. Die rötliche Farbe seines rasierten Gesichts wetteiferte mit dem Rot des Sterns auf seiner Mütze. »Trinken wir einen, Väterchen«, sang er und zog eine Flasche aus seiner Aktentasche. »Trinken kann man immer«, antwortete Jewtuschenko. »Doch mir schmeckt der Wodka nicht mehr. Es ist, als ob ich Blei trinken würde. Alles hat seine Zeit. Aber trink du nur, und wohl bekomm’s.« »Ich kann doch nicht alleine trinken. Und der da ist zu klein«, er neigte den Kopf in meine Richtung. »Wenigstens einen kleinen Tropfen. Was ist, hast du Angst vor mir?« »Ich habe vor niemandem mehr Angst.« Jewtuschenko stieß mit Durow an und schluckte die Flüssigkeit hinunter. »Und was bedrückt dich, dass du hierher gekommen bist? Du bist doch nicht da, um mich zu verhaften?« »Schlecht geht’s mir«, beklagte sich Durow und schnüffelte an einer Brotrinde. Dann schnitt er Brot und Zwiebeln auf.
»Nimm dir, Pjetja«, sagte er zu mir gewandt. »Es ist wegen deiner Mutter, dass ich mich so schlecht fühle.« Wortlos folgte ich seiner Aufforderung. Die Tatsache, dass meine Mutter Menschen wie ihn abwies, erfüllte mich mit Stolz. Durow, das musste man zugeben, sah außerordentlich gut aus, und viele Frauen blickten ihm fasziniert nach. Bei Mutter jedoch hatte er nicht die geringste Chance, davon war ich immer mehr überzeugt. »Vielleicht ist es nicht aus diesem Grund, dass du eine Leere fühlst?«, fragte Jewtuschenko vorsichtig und begann, wie es seine Gewohnheit war, die langen Barthaare auf seinen Finger zu wickeln. »Vielleicht ist es das Gewissen, das dich quält?« »Was für ein Gewissen?«, wehrte Durow ab. »Wie viele Menschen hast du ermordet? Wie viele zu Tode gequält?« »Schweig!«, schrie Durow. »Pass auf, was du sagst!« »Du brauchst nicht zu schreien. Nicht ich bin zu dir gekommen. Und was kannst du mir schon tun? Ich bin zu alt fürs Lager. Und außerdem will ich ja sowieso sterben.« »Nun, entschuldige«, murmelte Durow nach einer Weile, als hätte er sich zu etwas durchgerungen. »Aber es ist nicht das Gewissen. Es ist die Liebe.« »Du hast eine besudelte Seele, deshalb ist deine Liebe nicht rein. Die Liebe und das Gewissen sind Geschwister.« »Was soll ich denn tun? Ich liebe seine Mutter doch…« »Hast du jemals darüber nachgedacht, was du für Schönheit bedeutest? Ob sie sich nicht vor dir fürchtet? Vor dir hat doch jeder Angst.« »Und du, magst du mich?« Durow wandte sich zu mir. »Sag die Wahrheit.« »Nein«, antwortete ich nach längerem Schweigen, während ich auf den Sarg starrte und Jewtuschenkos Finger fest umklammerte. »Ich mag dich nicht.«
»Warum nicht?« »Ich weiß nicht«, erwiderte ich, was nur zum Teil der Wahrheit entsprach, und griff schon mutiger nach dem nächsten Stück Brot. »Was soll ich tun?«, wiederholte Durow verzweifelt und kippte sein randvolles Glas in sich hinein. »Sei ein Mensch«, riet ihm der Alte. »Geh an die Front. Geh dorthin, wo ganz Russland ist, werde ein echter Soldat anstelle eines Spitzels.« »Schweig!«, schrie der andere erneut und trank wieder. »Und jetzt, was bin ich jetzt?« »Das Dunkel«, antwortete Jewtuschenko. »Die Finsternis.« »Ich soll also hell werden«, sagte Durow nachdenklich. Der Alkohol schien allmählich die Oberhand zu gewinnen. »Gut, gehen wir den Schulleiter Konkin verhaften.« »Muss das wirklich sein?« »Ja, jetzt muss es sein. Und ihr kommt mit mir.« Umsonst versuchte der alte Jewtuschenko zu protestieren. Und so gingen wir los. Als Konkin uns erblickte, hob er verwundert die Augenbrauen. Vor allem mich sah er fragend an. »Du bist verhaftet«, verkündete Durow ohne Umschweife. »Mach dich fertig.« »Weswegen?« Der Schulleiter wurde bleich und lächelte gezwungen. »Mach keine Witze.« »Du weißt, weswegen. Du hast doch Kolzow ermordet. Und auf ihn hast du geschossen«, Durow zeigte auf mich, »weil du Pachomjusch damit treffen wolltest.« »Das wird sich alles aufklären«, flüsterte Konkin und fügte kurz darauf hinzu: »Aber tu mir einen Gefallen. Lass uns warten, bis meine Frau kommt. Ich werde inzwischen packen.«
»In Ordnung. Das können wir machen«, antwortete Durow. »Stell uns eine Flasche auf den Tisch. Und vergiss nicht, dich zu rasieren. Ich kann ungepflegte Kerle nicht ausstehen.« Dann schenkte er Jewtuschenko ein winziges bisschen und sich selbst ein halbes Glas ein. Obwohl er schon eine ganze Flasche geleert hatte, sah er jetzt nüchterner aus als in Jewtuschenkos Haus. Nur seine Augen blickten traurig drein, wenngleich tief in ihnen etwas aufblitzte, was dem Funkeln in den Augen eines eingesperrten Ussuri-Tigers täuschend ähnelte. »So ist das«, krächzte er leise. »Sag mir, Väterchen, warum der Mensch gerne tötet? Ich muss es von Amts wegen, aber er? Irgendetwas muss es doch sein…« »Das ist eine Krankheit«, stellte Jewtuschenko fest. »Eine Epidemie. Der Teufel hat euch angesteckt. Die ganze Welt ist krank. Der Krieg.« »Und wie kann man davon geheilt werden?« »Du wirst nicht mehr gesund«, lautete die unerwartet harte Antwort. »Es ist zu spät. Du bist ein unheilbarer Syphilitiker.« »Und er?«, fragte Durow schon ganz versöhnlich und ohne Wut und zeigte auf die Stube, in der Konkin zugange war. »Ist er auch ein unheilbarer Syphilitiker?« »Er ist ein Wrack«, bestätigte der Alte. »Genau wie du.« »He, du da!«, rief der Oberbevollmächtigte des NKWD lächelnd. »Komm mal her, du Syphilitiker.« Konkin antwortete nicht. Durow rief ihn noch einmal. Wieder blieb es still. Durow nickte mir zu. Ich ging hinüber in die Stube und blieb starr vor Schreck stehen. Kein Laut kam über meine Lippen. Der Kopf des Verhafteten hing vom Bett herunter. Die mit einem Rasiermesser durchschnittene Kehle klaffte auseinander. Eine Blutpfütze verdunkelte den Boden, wo das geöffnete Rasiermesser lag.
»Warum hat er das getan?«, fragte ich später Jewtuschenko, als ich die Sprache wiederfand. »Aus Angst«, antwortete er. »Aus Angst vor den Lagern. Dieser Dreckskerl. Bedauere ihn nicht. Vielleicht ist es besser so. Auch dort wäre er kein besserer Mensch geworden. Auch dort hätte er denunziert und gemordet. Alles Syphilitiker, mein Sohn. Sie haben schon immer die Welt regiert.« »Und was ist mit mir?«, fragte ich den Alten noch etwas später, als wir wieder in seinem Haus waren. Ich sah unverwandt seinen Sarg an, wie ein Astronom, der mit dem Fernrohr den Sternenhimmel beobachtet, in der Hoffnung und der vagen Vorahnung, dass er gerade in dieser Nacht einen unbekannten Planeten entdecken würde. Ich bekam keine Antwort.
DIE ZOBELMÜTZE
Wanja Sorokin war siebenundzwanzig Jahre alt. Da ein großer Buckel seinen Rücken verunstaltete, hatte man ihn bei der Armee nicht gewollt. Außerdem kränkelte er ständig, und so konnte er weder beim Holzfällen noch beim Flößen der Baumstämme helfen. Er hätte zwar Briefträger werden können, doch da er sich seines Aussehens schämte, besonders vor den Frauen, war er schließlich Jäger geworden. Den ganzen Winter verbrachte er in der Taiga, wo er Zobel und andere Pelztiere jagte, und nur im Sommer kehrte er in die Siedlung zurück, um sich auf die neue Saison vorzubereiten. Irgendwie kam er gerade so zurecht. Niemand denunzierte ihn, auch er denunzierte niemanden, und so brauchte er die Lager nicht zu fürchten. Er konnte weiterhin vor sich hin schweigen und seine wattierte Kleidung flicken. Und vielleicht wäre sein Leben ganz anders verlaufen, wenn nicht Tanja und ich dazwischengekommen wären. Wir dachten nämlich, er sei noch nicht aus der Taiga zurückgekehrt, und begannen, uns in seinem Garten zu treffen. Durch die Sträucher vom Rest der Welt getrennt, fühlten wir uns dort wie Adam und Eva im Paradies. Es gab nur noch uns und darüber den Himmel. Wir taten nichts Anstößiges, wir schauten einander nur zärtlich an und tauschten manchmal einen unbeholfenen Kuss miteinander aus, der uns übrigens sofort in große Verlegenheit stürzte. Eines Tages kam ich früher dorthin, um ein Gedicht auswendig zu lernen, das Lermontow einer A. N. ins Stammbuch geschrieben hatte. Ich wollte Tanja damit imponieren. Nach einer Viertelstunde hatte ich den Text im
Kopf, und so begann ich an meinen schauspielerischen Fähigkeiten zu feilen. Aber leider hatte Gott mich nicht gerade mit einem großen Vortragstalent ausgestattet, und die Sache fiel mir sehr schwer. Doch ich gab nicht auf. Als ich zum hundertsten Mal wiederholte, »das Herz von Emilie« sei »so hart wie die Bastille«, hörte ich plötzlich ein Gepolter aus Sorokins Haus kommen. Ich erstarrte. Diebe oder der NKWD, schoss es mir durch den Kopf. Oder vielleicht ein Bär? Meine Neugierde siegte über die Angst. Mit zitternden Beinen näherte ich mich der Haustür; sie stand offen. Vorsichtig schlüpfte ich hinein – und mir blieb die Luft weg. Ich war wohl weniger erschrocken als überrascht. In ein schneeweißes Hemd gekleidet, baumelte der bucklige Wanja an einem Strick vom Deckenbalken. Er zappelte noch und versuchte nach der Schlinge zu greifen. Mit einem Küchenmesser durchschnitt ich den Strick. Sorokin fiel nicht auf die Erde, da seine Zehenspitzen den Boden berührt hatten. Er wankte nur ein wenig, setzte sich dann schwer auf eine Bank und massierte sich Hals und Nacken. Als er sich wieder gesammelt hatte, schaute er mich ebenso vorwurfsvoll wie dankbar an. »Es ist deinetwegen«, sagte er schnaufend. »Was hab ich dir denn Böses getan?« »Deinetwegen und wegen Tanja. Ich habe gesehen, wie sehr ihr euch liebt. Dann habe ich mein eigenes Leben betrachtet und bin völlig verzweifelt.« »Warum hältst du dich dann von den Menschen fern?« »Wer braucht schon einen Buckligen? Ich habe einmal Natascha Kulikowa geliebt, aber sie hat mir ins Gesicht gelacht und einen anderen geheiratet. Na, und dann dein Gedicht heute, das du ständig wiederholt hast. Irgendetwas ist in mir zersprungen. Aber du erzählst es niemandem, ja? Es ist eine Schande, sich in Zeiten des Krieges aufzuhängen.«
»Nein, ich erzähle es niemandem«, antwortete ich. »Du musst mir aber versprechen, dass du das nicht ein zweites Mal tust. Schwöre bei Gott.« »Aber ich bete doch nicht mehr.« »Und eine Ikone, hast du die da?« »Mutter hatte eine. Wozu brauchst du sie?« »Wenn du nicht auf die Ikone schwörst, dann garantiere ich nicht für mein Schweigen.« Wanja schien über etwas nachzudenken. Langsam kehrte seine natürliche Gesichtsfarbe wieder. Schließlich stand er auf, brummte etwas in seinen Bart und stieg auf den Dachboden. Nach einer Weile kam er mit dem Heiligenbild zurück. Er entstaubte es, wischte es mit einem feuchten Tuch ab und hängte es an die Wand, in eine Ecke, in der es vermutlich schon einmal gehangen hatte. »Schwöre!«, drängte ich ihn. Mit einem Seitenblick auf die Ikone versprach er, dass er niemals mehr Hand an sich legen werde. »Es ist so lange her, dass ich dieses Bild zuletzt gesehen habe«, murmelte er dann. »Ich habe den Eindruck, dass etwas Freude in das Haus eingekehrt ist. Und du glaubst an Gott?« »Ja, das tue ich«, antwortete ich. »Früher habe ich auch gebetet. Aber dann…«, er winkte ab. »Es gibt zu viel Böses. Zu viel.« »Schönheit hat mir gesagt, dass nur die Menschen Böses tun. Wer aufhört zu beten, hört auch auf zu lieben.« Während ich sprach, bemerkte ich Tanja vor dem Fenster. »Ich muss gehen. Wenn du willst, komme ich dich besuchen.« »Unbedingt! Komm wieder. Du bist eingeladen. Ich werde dir eine Mütze aus Zobelpelz nähen.« Am Abend erzählte ich Mutter, dass Wanja Sorokin aus der Taiga zurückgekommen sei. Doch sie kannte den Buckligen nicht. Ich fragte also nach Natascha Kulikowa. Und als
Schönheit bestätigte sie zu kennen, berichtete ich, dass Wanja einmal in Natascha verliebt gewesen sei. »Das arme Mädchen«, sagte Schönheit kopfschüttelnd. »Zwei Tage nach ihrer Hochzeit haben sie ihren Mann abgeholt, und seit sieben Jahren weiß sie nicht, was aus ihm geworden ist. Er hat damals fünf Jahre ohne Schreiberlaubnis bekommen. Nun ist schon das achte Jahr angebrochen, und man sieht und hört nichts von ihm.« »Wanja liebt sie noch immer.« »Woher weißt du das, kannst du in sein Herz blicken?« »Ich weiß es, Mama«, sagte ich und nickte entschieden. »Aber er ist sehr schüchtern.« »Ich werde es ihr sagen. Sie wird sich bestimmt freuen. Sie sieht aus wie das Unglück selbst. Und die Liebe kann sogar einen Stein aufwecken, nicht wahr?« Schönheit zwinkerte mir bedeutungsvoll zu, was mich mit Hoffnung erfüllte. So schlug Sorokins Schicksal einen neuen Weg ein, und sein Name wurde den Leuten geläufig und begann ihre Gedanken zu beschäftigen. Natascha Kulikowa freute sich über die Nachricht, die ihr Schönheit übermittelt hatte, und nach ein paar Tagen nahm die Erinnerung an Wanja, entstaubt und akzeptiert, wieder einen Platz in ihrem Kopf ein. Dennoch blieb Natascha innerlich zerrissen. Von ihren Zweifeln zermürbt, wandte sie sich an Mutter. »Hilf mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wanja tut mir leid, aber was ist mit meinem Mann? Ist er noch am Leben oder nicht?« Und sie begann zu weinen. »Geh zum NKWD. Nur sie können dir sagen, wo dein Mann ist. Sonst niemand.« Schließlich überwand Natascha ihre Angst und ging dorthin. »Bist du des Wartens überdrüssig geworden?«, fragte der NKWD-Mann ironisch. »Du willst wohl wieder heiraten, was?«
Natascha senkte ihren Kopf und errötete. Der Mann schob ihr irgendein Papier zur Unterschrift zu. »Du kannst gehen. Wenn wir etwas erfahren, werden wir dir Bescheid geben.« Einen Monat später eröffnete man ihr, dass sich ihr Mann nicht mehr in den Häftlingsregistern befinde. Und als Natascha erneut den Kopf senkte, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, fertigte man sie wieder ab mit den Worten: »Du kannst gehen.« Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Eine ganze Woche lang flossen sie aus ihren Augen wie die Wasser der Sintflut. Sie erinnerte an eine Nymphe, die sich entschieden hat, auf dem Festland zu leben. Schließlich beruhigte sie sich. Sie begann Blumen zu gießen, zu sticken, zu träumen. Und zu lächeln. Wieder suchte sie meine Mutter auf. Die beiden flüsterten lange miteinander, und anschließend wurde ich beauftragt Wanja mitzuteilen, dass seine durch mich übermittelte Liebeserklärung angenommen wurde. Ich zögerte also nicht, zog mich an und ging los. Wanja lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Garten und schaute in den violetten und erschreckend leeren Himmel. »Endlich kommst du.« Sorokins Stimme klang vorwurfsvoll. »Ich konnte es gar nicht erwarten. Ich habe nach dem Gedicht gesucht, das du aufgesagt hast, kannst du dich erinnern?« Er reichte mir ein stark verschlissenes Buch mit Puschkins Werken. »Da kannst du es nicht finden«, erwiderte ich etwas feierlich. »Es war ein Gedicht von Lermontow. Und jetzt hör zu, Wanja, ich werde dir ein anderes Gedicht aufsagen: Natascha Kulikowa will deine Frau werden.« Ich setzte mich neben ihn, ohne sein Gesicht aus den Augen zu lassen. Er sah mich an wie eine Erscheinung aus einer
fremden Welt. Gleich darauf wurde er nervös; er knackte mit seinen Fingern und biss sich auf die Lippen. »Ich werde dir eine Zobelmütze nähen«, würgte er schließlich heraus. »Mein Wort darauf. Aber jetzt… weiß ich nicht, was tun. Rette mich, Pjetja.« »Du musst heute Abend zu Natascha gehen. Das ist alles.« »Allein gehe ich nicht«, widersprach er schnell. »So einfach ist das nicht… Es sei denn, du kämst mit mir.« »Könnte es nicht jemand anders sein?« »Nein, nur du. Vor dir schäme ich mich nicht.« Und so gingen wir zusammen. Der Matsch unter unseren Füßen schmatzte, als wir in die Seitengasse einbogen. Die abendlichen Sterne hingen tief über dem Horizont wie chinesische Lampions. Ich spürte deutlich die Feierlichkeit des kommenden Moments. Ein weißes Tuch bedeckte die unebene Tischplatte bei Natascha. Ein Laib Brot lag darauf, und daneben stand ein dreiarmiger Kerzenleuchter aus Messing, der sicher einmal das Haus eines Kaufmanns oder Generals geschmückt hatte. Neben diesen Leuchter stellte Sorokin seine Flasche Wodka, die er mit einem Pfropfen aus Zeitungspapier verschlossen hatte. Mutter lächelte Natascha zu und stellte Gläser auf. Mir wurde Tee eingeschenkt. Als sich endlich die Zungen gelöst hatten, gingen Schönheit und ich nach Hause. Leider dauerte Wanjas Glück nur kurz. Kaum hatte er die Sprache der Herzen tiefer begriffen, da kehrte Nataschas Mann zurück. Man hatte ihn als invalide eingestuft und aus dem Kolyma-Gebiet entlassen, daher hatte er auch im Register der Sträflinge gefehlt. Seine erfrorenen Glieder waren vom Brand befallen worden, weshalb man ihm den linken Fuß und das rechte Bein am Knie amputiert hatte. Auch die rechte Hand hatte er verloren.
Mischa – Nataschas Mann – wurde nicht böse, als er mit der neuen Situation konfrontiert wurde. Er reagierte mit stoischer Ruhe, als ob er über alles erhaben sei. Er freute sich über die neu gewonnene Freiheit, das bisschen Brot und die Wärme. Am meisten machten die Ereignisse Natascha zu schaffen. Es lag an ihr, zu wählen. Schließlich hatte sie – wenn auch unwissend – das Papier unterschrieben, das ihr der NKWDMann zugeschoben hatte, und damit ihre Ehe mit Mischa für ungültig erklärt. Sie liebte Mischa, hatte aber auch Wanja lieben gelernt. Auf keinen von beiden konnte sie verzichten. Doch ihr Herz erlaubte es ihr nicht, zwei Ehemänner zu haben. Wanja, der Nataschas Qualen sah, litt ebenfalls. Das Glück war für ihn zum Greifen nah gewesen, als plötzlich all seine Hoffnungen zerschlagen wurden. Er beschloss also zu gehen. Als ich von der Schule kam, traf ich ihn vor unserem Haus an. Er saß dort in seiner alten, wattierten Jacke mit seinem Gewehr über der Schulter. Sein Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet. »Wohin willst du?«, fragte ich und begriff sofort, was los war. »Etwa…« »Sag nichts, Pjetja«, unterbrach er mich. »So ist es besser.« Ich setzte mich neben ihn. Er schwieg und ich schwieg ebenfalls, während ich vergeblich versuchte meine wirren Gedanken zu ordnen. Nach einer Weile stand er auf, zog aus seiner Leinentasche eine Zobelmütze und setzte sie mir auf den Kopf. »Ein Dichter sollte einen Zobel tragen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Pass auf dich auf. Ich versichere dir, dass ich die Ikone nicht vergessen habe. Falls mich jemand suchen sollte«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, »so bin ich in der Nähe der Bärenschlucht.«
Als ich aus meiner Erstarrung erwachte, war Wanja Sorokin schon hinter der nächsten Biegung verschwunden. Die Taiga hatte ihn verschlungen.
SCHULE SCHWÄNZEN
Vor der Schulpforte trat mir Kolja Dowschenko in den Weg. Derselbe, dem ich das Matrosenhemd geschenkt hatte und der seine Eltern nicht als Volksfeinde hatte verleugnen wollen – schon gar nicht nach ihrem Tod: Standhaft wiederholte er, dass sein Vater Kardiologe gewesen sei und seine Mutter Hebamme, weshalb sie keine Volksfeinde gewesen sein könnten, ganz im Gegenteil – sie seien Freunde der Menschen gewesen. Sein Widerstand brachte die Erzieher zur Weißglut. Sie ließen ihn nicht in Ruhe und drohten ständig damit, dass er ebenfalls dort landen werde, wo seine Eltern geendet seien. Darauf antwortete er dann, dass man nicht wegen irgendwelcher Straftaten ins Lager geschickt werde, sondern schon allein deshalb, weil man ein Bürger der Sowjetunion sei. Ich hatte großen Respekt vor Koljas Haltung. Einmal hatte ich Mutter gebeten, ihn zu adoptieren, aber das Waisenhaus hatte es kategorisch abgelehnt und betont, dass Kolja ein sehr schwieriger Junge sei, der unter fachlicher pädagogischer Aufsicht bleiben müsse. »In der unteren Taiga sind die Häftlinge vom namenlosen Lager am Holzfällen«, sagte er nun leise, obwohl niemand in der Nähe war. »Gehen wir hin? Wir könnten sie nach unseren Vätern fragen.« »Bist du sicher, dass die Information stimmt?« »Ich sag das nicht so dahin. Sie sind schon den dritten Tag auf dieser Seite des Flusses.« »Könnten wir Tanja mitnehmen? Ihr Vater ist an der Front gefallen.« »Wenn du willst.«
Wir warteten auf Tanja an der Wegbiegung. Ich erzählte ihr, was wir vorhatten. Sie wurde richtig rot vor Aufregung. Unsere Schulbücher versteckten wir im Garten des buckligen Wanja, dann brachen wir zum unteren Lauf des Flusses auf. »Und wenn wir auf einen Bären treffen, was dann?«, fragte Tanja etwas ängstlich. »Dann essen wir ihn«, antwortete Kolja. Wir liefen einer hinter dem anderen. Kolja ging voran – wir konnten kaum mit ihm Schritt halten –, und Tanja war direkt hinter mir. Nach einer Stunde hörten wir das Klopfen der Äxte. Dowschenko blieb stehen. »Wartet hier auf mich. Ich gehe mal die Lage erkunden.« Er kam schneller zurück, als wir erwartet hatten, und winkte mit der Hand. »Die Luft ist rein.« Eine Zeit lang schlichen wir gebückt, dann krochen wir auf allen vieren bis zum Stamm einer gefällten Zeder. Kolja wies mit einer leichten Kopfbewegung auf den Wachtposten. Der saß mit seinem Gewehr auf den Knien an einem Feuer und schielte nach rechts und links. Wir krochen ein wenig zurück, um unser Versteck nicht zu verraten. Doch auch von unserem neuen Beobachtungsposten aus hatten wir freie Sicht. Es waren viele Sträflinge zu sehen, ungefähr zwanzig Männer verschiedenen Alters. Ihre mageren, müden Gesichter waren so sehr mit der grauen Kleidung verschmolzen, dass man sie kaum auseinander halten konnte. »So sehen alle unsere Väter aus«, flüsterte Kolja. »Und die Mütter ebenfalls. Auch deine«, sagte sie zu Tanja. »Sie trägt nur farbigere Kleider. Aber auch sie wird bewacht. Wir alle. Nur vielleicht nicht ganz so streng. Wir sind alle Lagerhäftlinge.« »Ich bin frei«, erwiderte Tanja wütend. »Und meine Mutter auch.«
»In Russland sind nur noch die Vögel frei«, meinte Kolja und starrte vor sich hin. »Du bist ungerecht, weil deine Eltern ins Lager gekommen sind«, flüsterte Tanja mit Tränen in den Augen und kniff Kolja mit aller Kraft. »Meinen Großvater haben sie auch erschossen. Er war Pope. Mich werden sie ebenfalls fertig machen, wenn es so weit ist. Und dich auch«, erwiderte Dowschenko kalt. »Es sei denn, du denunzierst jemanden. Entweder Lager oder Denunzieren. Einen anderen Weg gibt es nicht.« »Du lügst!« Tanja verbarg ihr verweintes Gesicht in einem Taschentuch. Kolja war in meiner Achtung noch gestiegen. Ich hätte nicht gedacht, dass er auf die Wirklichkeit so wie ich reagieren würde und keine Angst hätte, freiheraus seine Meinung zu sagen – trotz der ständigen Schikanen durch Stalins Handlanger, die aus sadistischem Übereifer imstande waren, alles Heilige und Wahre in den Dreck zu ziehen, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Mutter hatte ihr immer zugestimmt und noch hinzugefügt, dass die größte Wahrheit neben Gott ein freier Mensch sei. Und eben so eine Wahrheit mit einer auf die Hose genähten Nummer näherte sich gerade der gefällten Zeder, um sie von den Ästen zu säubern. Wir erstarrten. Tanjas Augen waren plötzlich zwei glühende Flammen. Sie sah den Häftling an wie eine Jenseitsvision. Ein Skelett in Lumpen stand neben unserem Versteck. Im Vergleich zu dem, was dieser Mensch wissen musste, war unser Wissen ein Staubkorn. »He, du«, flüsterte Kolja, und da der andere es nicht gehört hatte, wiederholte er es lauter. Als der Häftling aufhorchte, beugte sich Kolja ein wenig aus unserem Versteck hervor. Der Mann entdeckte uns und nickte,
dann lief er um den Baumstamm herum, während er den Wachtposten im Auge behielt. »Es gibt nicht zufällig einen Dowschenko unter euch, einen Michail Pjotrowitsch?« »Dowschenko?«, antwortete der Mann zögernd mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich glaube schon. Aber ob er Michail Pjotrowitsch heißt? Dafür lege ich nicht meine Hand ins Feuer.« »Dann hole ihn her.« »Das geht nicht. Er ist im Lager geblieben.« »Und kommt er morgen hierher?« »Eigentlich schon. Wenn sie ihn nicht gerade in den Karzer stecken.« »Morgen werden wir wieder hier an der gleichen Stelle sein. Merk dir, ich bin Dowschenko aus Nikopol.« »Gibt es auch Polen im Lager?«, fragte nun ich. »Nein. Nur Ukrainer, Russen und Deutsche. Ich muss zurück, der Wärter wird unruhig. Bringt Tabak mit. Und wenn ihr könnt, Brot. Irgendetwas…« Auf dem Rückweg vereinbarten wir, dass wir auf jeden Fall wieder dorthin gehen würden – ob mit Tabak, mit Brot oder mit leeren Händen. Doch am nächsten Tag wurde nichts daraus, obwohl ich extra ein Päckchen Tabak aufgetrieben und Tanja ihrer Mutter zwei Hand voll Grütze gestohlen hatte. Denn Kolja war nicht in der Schule erschienen. Die anderen Waisenjungen erzählten uns, dass der Erzieher ihn nach dem Frühstück zu sich gerufen hatte. Angeblich hatte er ihn schon während der Nacht drei Mal aus dem Bett geholt. »Die ganze Nacht über hat er Dowschenko gequält«, flüsterte Tolja Borysow, der Sohn eines Schauspielers, und blickte nervös um sich. »Er hat ihm ein blaues Auge verpasst. Und Kolja hat ihm dafür ins Gesicht gespuckt. Zumindest hat er das behauptet. Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen.«
»Worum ging es denn überhaupt?«, fragte ich und dachte an unser gestriges Schwänzen. »Wie immer um seine Unterschrift.« Am nächsten Tag jedoch war Kolja wieder da. Er winkte mir schon von weitem zu. Er hatte tatsächlich ein dickes, blutunterlaufenes Auge. Wir wollten nicht länger auf Tanja warten und marschierten deshalb in Richtung ihres Hauses. Sie kam uns entgegen. Es stellte sich heraus, dass sie nicht mit uns kommen würde. Sie wollte nicht erklären warum, gab uns aber die Grütze für die Häftlinge. »Du hast doch nicht geplaudert?«, fragte Kolja misstrauisch. Sie verneinte es entschieden, doch er ließ nicht locker: »Wir müssen dir nicht glauben, du könntest ja lügen.« »Ich lüge nicht«, erwiderte sie hart und streitlustig. »Ich kann nicht mitkommen, weil… weil ich sonst meine Mutter hassen müsste. Sie ist Kommunistin. Stalins Bild hängt über ihrem Bett.« »Gut«, sagte Kolja. »Dann rede dir eben die Welt schön und halte dich gut mit denen vom NKWD. Wir gehen.« Die Stelle in der Taiga sah jetzt anders aus. Um unser Versteck herum waren die Bäume gefällt und lagen zum Aufmessen bereit. Sie fällten nun weiter unten am Fluss, und wir mussten uns unbemerkt am Ufer entlangschleichen, da sich auf der anderen Seite Morast befand. Das kostete uns viel Zeit. Und es dauerte noch länger, bis es uns gelang, einen alleine arbeitenden Häftling ausfindig zu machen. Wir krochen so nah an ihn heran, dass er verblüfft den Mund aufmachte, als er uns sah. »Hol Dowschenko her«, bat Kolja und legte einen Finger an den Mund. »Ich bin sein Sohn. Du kriegst ein Päckchen Tabak.« »Habt ihr auch Brot?« »Nur Grütze.«
»Dann gib her.« »Wenn du sie erst hast, bist du nicht mehr vorsichtig. Ich bin ein Waisenhäusler, mich haust du nicht übers Ohr. Und jetzt geh und hol Dowschenko.« Der andere nickte und entfernte sich, wobei er zum Wachtposten hinüberschielte. Kurz darauf verloren wir ihn aus den Augen, er war jetzt nur noch eine von vielen Gestalten auf der Holzlichtung. Die Zeit verging. Als wir schon überlegten, ob wir nicht einen anderen Häftling ansprechen sollten, tauchte direkt neben uns wie ein Geist unser Bote auf. »Gib den Tabak her«, flüsterte er. »Und wo ist Dowschenko?« »Er kommt gleich. Wenn du mir den Tabak nicht gibst, dann sag ich ihm, dass du wieder verschwunden bist.« Dankbar lächelnd fing er das ihm zugeworfene Päckchen auf. Kurz darauf stand ein etwa dreißigjähriger Mann vor uns. Große blaue Augen zierten sein faltiges Gesicht. Und diese auffallenden Augen blickten uns fragend an. »Bist du Dowschenko?«, fragte Kolja voller Hoffnung. »Ja«, erwiderte der Mann. »Und wer bist du?« »Auch Dowschenko. Ich komme aus Nikopol, und du?« »Ich bin aus Kiew.« »Hast du auch Kinder?« »Ich hatte eine Tochter. Und einen Sohn… Ja, ich hatte Kinder«, wiederholte er schwer und hob die Augen zum Himmel. »Dann werde mein Vater!«, stieß Kolja unvermittelt aus. Der andere zuckte zusammen, streifte uns mit einem traurigen Blick und schien nachzudenken. »Nicht lange überlegen«, flüsterte Kolja. »Wir haben keine Zeit. Der erste Gedanke ist der beste.« »Ich tauge nicht dafür«, antwortete der Mann zögerlich, »das ist das eine; und zweitens: Was fängst du mit so einem Vater
an? Was brauchst du einen Zwangsarbeiter? Alle haben sich von mir losgesagt, außer meiner Mutter.« »Und ich habe nicht einmal eine Mutter. Du könntest doch einen unehelichen Sohn haben…« »Ich bin nicht mehr dazu fähig, ein Vater zu sein.« Er senkte den Kopf, damit wir die Tränen nicht sahen, die ihm plötzlich in den Augen standen. »Verzeih mir, und sei nicht böse«, schloss er fast flüsternd. Und ohne den Kopf zu heben ging er davon. Als er schon ein ganzes Stück von uns entfernt war, blieb er auf einmal stehen, hielt einen Moment inne und drehte sich dann wieder um. »Kolja, mein Sohn«, rief er und begann in unsere Richtung zu rennen. Kolja sprang auf und lief ihm entgegen. Sie fielen sich in die Arme. Und als sie so bewegungslos dastanden, hörte ich einen Schuss. Erst einen, dann gleich darauf einen zweiten. Kolja und sein neuer Vater stürzten zu Boden. Ich vergaß alles um mich herum und lief zu den beiden hin. Kolja lag auf dem Rücken, aus seinem Mund sickerte Blut. Ich kniete mich neben ihn. »Wieder haben sie meinen Vater umgebracht«, flüsterte er kaum hörbar. »Aber lass du dich nicht kriegen.« Er machte eine Bewegung, als ob er sich aufrichten wollte, dann erstarrte er. Ich nahm meine Mütze ab. »Und du, wo kommst du her?« Erst nach einer Weile nahm ich das Rütteln an meiner Schulter wahr. Es war der Wachtposten. Ich antwortete nicht. Ich drehte mich um und ging auf steifen Beinen davon, vorbei an den Häftlingen, über die Holzlichtung hinweg, um in unsere ferne Siedlung zurückzukehren.
EIN EUROPÄISCHES GRAB
Als ich mich unserer Siedlung näherte, wurde mir bewusst, dass man Kolja mitten in der Taiga begraben würde, neben dem namenlosen Lager, ohne einen Grabstein. Man würde ihn in der Erde verscharren wie etwas Peinliches, das nicht in Erinnerung bleiben sollte. So begruben sie doch alle Lagerhäftlinge, so hatten sie sicher auch meinen Vater begraben. Und plötzlich verspürte ich neben dem großen Schmerz auch Scham. Ich hatte schon an einigen Beerdigungen teilgenommen, aber das waren in der Regel stille und hastige Begräbnisse gewesen, die wenig mit den Ritualen von früher gemein hatten, von denen man mir erzählt hatte. Das heißt mit würdigen Zeremonien, wie sie allen Menschen zustanden, besonders denen, die gemäß der Wahrheit gelebt hatten – wie es auf seine Art Kolja Dowschenko getan hatte –, oder eben einfach nur guten Menschen. Mir wurde deutlich bewusst, dass wir uns auch in diesen Dingen von den Bolschewiken unterscheiden sollten, die nur imstande waren zu töten, aber nicht, ihre Opfer auf menschliche Weise zu beerdigen. Wahrscheinlich hatten sie Angst. Und eben diese Scham, vermischt mit Gewissensbissen, führte mich geradewegs zu Mutter ins Krankenhaus. Ohne Umschweife erzählte ich ihr, wie es zu der Tragödie gekommen war. Dann bat ich sie, alles Mögliche zu tun, damit Kolja und sein neuer Vater auf unserem Friedhof beerdigt wurden. Wenigstens das waren wir ihnen schuldig. Mutter brach sofort in Tränen aus. Wir schmiegten uns aneinander und verharrten eine Weile in dieser Umarmung. Ich
fühlte, dass sie mir etwas sagen wollte, sich aber zurückhielt. Stattdessen drückte sie meinen Kopf noch fester an ihre Brust, als ob sie mich unter ihrem Herzen verstecken wollte – dort, wo Blicke nicht hinreichten. Und ebenso plötzlich, wie sie losgeschluchzt hatte, beruhigte sie sich. »Wir haben keine Zeit zum Weinen«, sagte sie mit noch zitternder Stimme. »Geh nach Hause. Ich werde mich darum kümmern.« In Gedanken versunken ging ich davon und machte unterwegs beim alten Jewtuschenko Halt. Er war schon achtzig und hatte seit zehn Jahren einen Sarg für sich vorbereitet, in dem er von Zeit zu Zeit schlief – vor allem nach einem Glas Selbstgebrannten. Ich wusste, dass er außer diesem einen, der so liebevoll gestaltet an seinem Ehrenplatz stand, auch noch andere Särge besaß, an denen er seine Schnitzkunst erprobt hatte. Jewtuschenko tauchte seine Finger in die silbrigen Locken seines Bartes, zog die Augenbrauen zusammen und fragte, warum ich denn nicht zu Fjodorów, dem Sarghändler, gegangen sei, zu dem sonst alle gingen. »Weil sie in Särgen begraben werden sollen, die mit dem Herzen angefertigt wurden.« Ich hatte meine Antwort schon vorbereitet. »Ja, das hast du gut gesagt. In diesen Särgen steckt mein Herz«, erwiderte er mit einer gewissen Feierlichkeit. »Wenn die Welt schon unmenschlich ist, dann muss wenigstens der Sarg menschlich sein. Deshalb habe ich auch mir selbst mein ewiges Ruhelager geschnitzt. Du hast Ehrfurcht vor den Toten, deshalb gebe ich dir die Särge mit Freude.« Doch nur Koljas Leiche wurde uns übergeben. Es halfen keine Bitten, selbst die von Schönheit nicht. »Er hat seine Strafe nicht abgesessen, also bleibt er ein Gefangener«, stellte der autoritäre Lagerleiter über Koljas
geistigen Vater fest. »Der Tod hebt die Strafe nicht auf, deshalb wird er wie ein Sträfling begraben. So sind die Vorschriften.« Vielleicht gab es solche Vorschriften nicht, aber wer kannte schon so genau das sowjetische Recht? Der Eifer der Sowjets erreichte allerorten seinen Höhepunkt. Ich konnte es nicht fassen. Als der Arzt Michail Michailowitsch Herzen meine Empörung bemerkte, flüsterte er mir ins Ohr, dass wir trotz allem Glück gehabt hätten. Schließlich sei es uns gelungen, ein unschuldiges Opfer auf einem öffentlichen Friedhof zu begraben und es damit vor der barbarischen Lagergrube zu bewahren. In dem Moment, als der Sarg ins Grab hinuntergelassen wurde, schwor ich mir noch eins: dass Kolja einen europäischen Grabstein bekommen würde. Allerdings erinnerte ich mich nicht an Europa und hatte keine Ahnung, wie ein menschliches Grab in einem menschlichen Land aussah; ich war mir also der Schwere dieser Verpflichtung nicht bewusst. Wieder fragte ich Mutter um Rat. Schönheit, die wusste, wie sehr mich Koljas Tod getroffen hatte, erzählte mir, dass man nach jüdischem Brauch als Zeichen der Trauer die eigenen Kleider zerriss. Nachdem ich das getan hatte, eröffnete sie mir, dass ich jetzt ein Awel, ein Trauernder, sei. Und sie brachte mir ein Gebet bei, das Kaddisch hieß und das ich dreißig Tage lang sprechen sollte. Und erst als ich das Kaddisch flüssig, ohne zu stottern und feierlich wie ein echter Kohen* aufsagen konnte, erklärte sie mir, wie ein würdiges Begräbnis aussah. Sie zeichnete mir auch ein paar Grabsteine auf, an die sie sich von den jüdischen und christlichen Friedhöfen in Lemberg erinnern konnte. Nach Mutters Worten wurde mir klar, dass es bei weitem meine Möglichkeiten und Kräfte überstieg, einen Grabstein – *
Priester im alten Israel
und sei es einen noch so bescheidenen – selbst anzufertigen. Ein Schwur lässt sich jedoch nicht zurücknehmen, genauso wenig wie eine Schuld. Ich biss also die Zähne zusammen und begann nach geeignetem Material Ausschau zu halten. Es erwies sich als schwierig, zumal ich eigentlich an Marmor oder Sandstein dachte. Vermutlich wäre nichts aus der ganzen Sache geworden und Koljas Grab hätte sich kaum von den anderen Gräbern unterschieden – wenn sich nicht das Schicksal meiner erbarmt hätte. Unerwartet bot mir Schalamajew, ein NKWD-Mitarbeiter aus unserem Ort, seine Hilfe an. Weil ich irgendeine Niederträchtigkeit dahinter vermutete, lehnte ich zunächst ab. Er ahnte wohl warum, denn ohne mich erst um Diskretion zu bitten, erklärte er mir den Grund seines Angebots. Genau wie Kolja Dowschenko war er in einem Waisenhaus aufgewachsen und konnte sich weder an seine Eltern erinnern, noch wusste er, wie sie gestorben waren. Die Umstände von Koljas Tod hatten ihn so erschüttert, dass er sich betrunken hatte. In seinem Rausch hatte er auf die Zeiten geschimpft, in denen er leben müsse. Da seine Frau dabei gewesen war, die als Sekretärin für Durow arbeitete, erwartete er, dass sie ihn früher oder später denunzieren würde. »Das ist doch nur eine Frage der Zeit, sie ist ja Kommunistin. Sie ist imstande, ihr eigenes Kind zu denunzieren, warum also nicht ihren Mann? Ich kenne diese Menschen. Ich bin einer von ihnen.« »Du hast also Angst?«, fragte ich erstaunt. »Du?« »Darum geht es nicht. Es ist nicht die Angst, sondern der Schrecken. Ich bin über mein eigenes Leben erschrocken. Ich habe niemanden getötet, aber ich habe Menschen gequält und verurteilt. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Da ist nur noch Leere. Verstehst du? Und dabei bin ich selbst sterblich.«
»Ein Sterblicher muss etwas erschaffen, weil er selbst erschaffen wurde«, wiederholte ich Mutters Worte, weil ich nicht so recht wusste, was ich sagen sollte, um ihn nicht zu verletzen. »Und ich habe das Gegenteil getan, ich habe zerstört. Ich kann nichts davon wiederherstellen oder zurückgeben, ich kann nicht einmal das aufheben, was ich zertreten habe. Weil es nicht mehr existiert. Jetzt bin ich mein eigener Feind und meine eigene Hölle. Jetzt fürchte ich mich vor mir selbst. Du kannst nicht wissen, was es bedeutet, eine Leiche zu verzehren und dann zu verdauen. Habe ich überhaupt noch das Recht zu leben?« »Nicht du hast dir das Leben geschenkt.« »Das weiß ich. Man kann sich selbst nichts schenken. Schenken können wir nur den anderen. Aber was kann ich schon von den anderen erwarten, wo ich ihnen den Kiefer und die Rippen zerschlagen habe, wo ich ihnen den Schlaf, die Wärme und das Brot genommen habe?« »Ich weiß nicht, warum du mir das erzählst. Aber es gibt einen Gott. Er sieht alles. Und manchmal vergibt er. Wenn…« »Ich glaube nicht an Gott«, unterbrach er mich. »Ich bin nicht fähig zu glauben.« »Wovor hast du dann Angst?«, fragte ich neugierig. »Ich sagte schon: Ich habe keine Angst. Ich ekele mich nur vor mir selber. Ich weiß selbst nicht, seit wann und weshalb das so ist. Ich weiß nur, dass nichts hinter und nichts vor mir liegt. Ich bin innerlich ausgebrannt. Leer. Vielleicht kannst du das begreifen, vielleicht auch nicht. Hier tut es mir weh, Pjetja«, schloss er seine unvermutete Beichte und zeigte auf seine Brust. Und in meinem Innersten verzieh ich ihm, wenn vielleicht auch zu Unrecht. Immer häufiger sah man uns zusammen. Der Korn forderte eine Erklärung von mir, denn in unserer Gruppe
wurde die Zusammenarbeit mit dem NKWD als Verrat angesehen. Ich erzählte den Jungen von den europäischen Friedhöfen und Grabsteinen, von dem Versprechen, das ich Kolja am Tag seiner Beerdigung gegeben hatte, und von Schalamajews Gewissensbissen. Sie ließen sich überzeugen und boten sogar ihre Hilfe an. Der Koreaner Kim rieb sich die Hände vor Freude. »Diese Kommunisten errichten nur für ein paar Auserwählte Denkmäler«, sagte er mit Emphase. »Und wir werden es für jeden tun. Dafür dass er gelebt und gelitten hat, dafür dass er ein Mensch war.« Nach ein paar Tagen gewöhnten sich die Jungen an Schalamajew. Und er selbst tat sein Möglichstes, um Material für den Grabstein zu beschaffen. Das Feuer in seinen Augen zeugte von seinem inneren Zustand. Als ob er unbewusst spürte, dass er mit der Zeit um die Wette lief. Wir sprachen fast nicht miteinander. Endlich kam der ersehnte Tag. Schalamajew brachte zugeschnittene Platten aus Sandstein und rosafarbenem Marmor an. Wir trugen sie in eine Ecke des Friedhofs und bedeckten sie mit trockenem Gras und Ästen. Dann legte sich mein Gefährte auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete die hier und da aufblitzenden Sterne. »Ich habe es geschafft. Was für eine Erleichterung«, seufzte er. »Alles ist fertig. Selbst wenn sie mich abholen sollten, werdet ihr jetzt alleine zurechtkommen.« »Sag, woher hast du diese Schätze?«, fragte ich, immer noch voller Bewunderung. »Aus Tagil. Dort sollte ein Parteihaus gebaut werden. Sie hatten schon das Baumaterial zusammengetragen, doch dann ist der Krieg dazwischengekommen, und der Bau wurde unterbrochen«, antwortete er tonlos. Dann fragte er, ohne seinen Blick vom Himmel abzuwenden: »Soll ich zulassen,
dass sie mich zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilen, oder soll ich selbst Schluss machen? Ich fühle nämlich, dass es bald so weit ist. Weißt du, woran ich das merke? Meine Frau ist so sanft geworden wie ein Lämmchen. Und so ist sie vor und nach jeder Schweinerei. Also hat sie entweder schon etwas unternommen oder sie hat es bald vor.« »Vielleicht kommt es nicht so schlimm«, versuchte ich ihn zu trösten. »Es war keine Frage von mir, Pjetja, ich denke nur laut. Ich habe Angst vor dem Lager. In der Hölle wäscht einen das Leiden nicht rein, im Gegenteil, es macht einen nur wahnsinnig.« »Woher weißt du das alles?« »Dieser Friedhof hier hat mir geholfen. Er heilt nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden. Wenn du wüsstest, wie gerne ich jetzt leben möchte! Ich habe zu deinem Gott gebetet, dass er mir die Erinnerung nimmt. Denn mit einer Vergangenheit wie meiner bleiben alle Wege verschlossen – die der Tränen und die der Freude… Aber genug davon. Geh wieder nach Hause. Du hast jemanden, der auf dich wartet. Ich werde noch ein bisschen in den Himmel schauen.« Offensichtlich entwickelte sich Schalamajew zu einem heiligen Narren. Ich erzählte Mutter davon, und sie freute sich über diese Nachricht. Da ich aber A gesagt hatte, musste ich auch B sagen, und so berichtete ich auch den Rest. Schönheit zögerte nicht lange; sie warf sich sofort ihr Tuch über die Schultern und ging zur Schalamajews Frau. »Ich werde sie auf Knien bitten«, sagte sie im Weggehen. »Schließlich haben sie Kinder. Sie ist doch eine Frau, sie muss ein Herz haben.« Als Mutter zurückkehrte, war ich bereits eingeschlafen, und am nächsten Morgen war keine Zeit zum Reden. Schönheit erwähnte nur, dass die Gefahr gebannt sei.
Innerlich jubelnd eilte ich zur Schule. Nach dem Unterricht ging unsere ganze Gruppe zum Friedhof. Und dort erblickten wir etwas, das wir noch nie gesehen hatten: ein menschenwürdiges Grab, eines wie jene unserer Vorfahren. Nach der ersten Verblüffung sprangen wir Schalamajew, der wie eine Ehrenwache neben dem Grab stand, um den Hals. Er biss sich auf die Lippen, und in seinen Augenwinkeln blitzten Tränen auf. Ich schickte die Jungen den alten Jewtuschenko holen, außerdem Raja, die immer denselben fünfzigsten Psalm Davids sang, und natürlich Frosia. Es kam auch der fast neunzigjährige Georgier Tabidse, um den die Erwachsenen immer einen Bogen machten, weil er lauthals auf Stalin fluchte. Auch Sascha der Beinlose schleppte sich mühsam auf seinen Armstützen herbei. »So kann man ohne Furcht sterben«, flüsterte Jewtuschenko gerührt, nachdem er das Grab ein paar Mal umrundet und sich daran satt gesehen hatte. »Jetzt weiß ich, dass man auf dem Friedhof leben kann, selbst nach dem Tod. Wirst du mir auch so einen Grabstein errichten, Pjetja?« »Das machen wir schon, aber du solltest besser noch etwas leben«, erwiderte ich, während ich aus dem Augenwinkel Schalamajews Frau näher kommen sah. Sie warf mir einen kühlen Blick zu und ging zu ihrem Mann. Plötzlich schauderte mich. Und da ich gelernt hatte, auf diese inneren Signale zu achten, bat ich den Geschicktesten aus unserer Gruppe, den Esten Erik, die Lage zu erkunden. Er kam nach zehn Minuten zurück und berichtete, dass ein »Schwarzer Rabe«, ein NKWD-Wagen aus Tagil, vor dem Haus der Schalamajews stehe. Ich ging auf Schalamajews Frau zu. »Du hast doch versichert, dass du es nicht tun würdest! Du hast es Schönheit versprochen!«
»Nichts habe ich versprochen. Hau ab, du Rotzlöffel!« Sie zuckte mit den Schultern. »Serjoscha, komm mit nach Hause.« »Lass uns Abschied nehmen, Serjoscha«, bat ich. »Dort warten sie schon auf dich.« »Auf Wiedersehen, Pjetja«, flüsterte er leise und küsste mich. Dann presste er seine Lippen zusammen und folgte mit langsamen Schritten seiner Frau.
DAS GEBET
Kims Eltern wurden mitten in der Nacht abgeholt. Uns überraschte nicht, dass jemand verhaftet wurde, sondern dass ausgerechnet sie es waren. Nie wäre uns der Gedanke gekommen, dass seine Eltern auf dem Index standen. Kim selbst war nicht überrascht. Er sagte sogar, dass es irgendwann hatte passieren müssen. Denn die Sowjets vergeben den Kindern die Sünden ihrer Väter nicht, und Kims Großvater hatte in der asiatischen Reiterdivision des Blutigen Barons Unger gedient. »Die Kommunisten können nicht vergeben, weil sie das Gebet aus ihrem Leben gestrichen haben. Und wer das Beten ablehnt, der kann das Leben nur zerstören und entehren. Das hat mein Vater immer wieder gesagt, und ich glaube ihm…« Vielleicht wollte Kim noch etwas hinzufügen, doch er verstummte und blieb so regungslos wie ein rastender Mönch auf einem chinesischen Holzstich. Auch wir schwiegen. In der höllischen Atmosphäre, in der wir lebten, konnten wir Kim nicht wirklich helfen. Immer wieder rissen die Klauen der Sowjets jemanden aus unserer Mitte. Wir besaßen im Grunde nichts außer dieser permanenten Unsicherheit, und vielleicht trösteten wir uns deswegen, trotz aller Widrigkeiten, mit gegenseitigem Zuspruch. Deshalb sagte ich Kim auch, dass er bei uns wohnen könne. Doch das war nur ein frommer Wunsch. Kim wurde ins Waisenhaus gesteckt, und Mutters Bemühungen verliefen im Sande. Kim jedoch, dieser schmächtige Junge, eröffnete dem Leiter des Waisenhauses entschieden, er werde dort wohnen,
wo man ihn haben wolle, und nicht dort, wo man ihn hinbeordert habe, und zog einfach zu uns. Mit einem Wort: Kim ignorierte die mit einem sowjetischen Stempel versehene Anordnung. Als der ihm zugewiesene Erzieher Kostrow das erfuhr, holte er Kim aus der letzten Unterrichtsstunde, schleppte ihn mit Gewalt ins Waisenhaus und riet den Mitarbeitern, den Ausreißer nicht aus den Augen zu lassen. Nach einer Woche gelang es Kim jedoch, seine Aufpasser zu überlisten, und er tauchte erneut bei uns zu Hause auf. Er war so stolz auf seine Tat, dass seine Freude uns ansteckte. Schönheit buk ihm zu Ehren Blinis. Wir wollten uns gerade über die Küchlein hermachen, als Kostrow die Stube betrat. »Nun, Kim, das reicht, wir gehen nach Hause«, sagte er leise mit einer kalten und herrischen Stimme. »Kommt nicht in Frage«, sagte Kim. »Mir geht es hier sehr gut. Ich werde nicht dein Gefangener sein, und wenn du dich auf den Kopf stellst.« Kostrow warf Mutter einen finsteren Blick zu und ging ohne ein Wort davon. Am nächsten Tag landete mein Freund wieder im Waisenhaus. Er wurde fortwährend beaufsichtigt und von Kostrow persönlich zur Schule begleitet. Doch Kim war nicht einzuschüchtern. Im Gegenteil, er erzählte jedem lautstark, dass er früher oder später doch abhauen würde, und wenn man das Waisenhaus mit Stacheldraht umzäunte. »Mir kann man nicht entkommen«, versicherte Kostrow in blinder Wut. »Glaubst du etwa, nur weil du mich irgendwohin schleppst, ich würde selbst dorthin gehen? Niemals. Ich gehe genau in die andere Richtung, ich gehe zu Schönheit, die mich liebt«, erwiderte Kim schlagfertig.
»Dein Vater ist jetzt Stalin.« Der Erzieher blieb stehen und drückte seinen Zeigefinger an Kims Brust. »Und ich bin dein Erzieher. Und du wirst daran nichts ändern. Ist das klar?« »Stalin hat nicht mit meiner Mutter geschlafen.« Kim war nicht zu bremsen. »Vielleicht mit deiner, aber mit meiner nicht! Na, warum schweigst du?« »Jawohl, mein Vater ist Stalin«, ächzte Kostrow. »Und er wird auch deiner sein. Für diese Lästerung wirst du noch bezahlen!« »Ich habe keine Angst.« Kim zuckte respektlos die Schultern. »Du kannst mich höchstens foltern. Aber du wirst mich nie besiegen, weil ich zu beten weiß…« Ihre Wortgefechte wurden immer heftiger. Jeden Tag begleitete unsere ganze Gruppe Kim von der Schule ins Waisenhaus, obwohl der Schulleiter es uns verboten hatte. Er bestrafte uns jedoch nicht, da er Kostrow nicht mochte. Ängstlich, aber auch mit Bewunderung lauschten wir den rebellischen Tiraden des Koreaners. Seine Worte waren auch unsere Worte. Allerdings verloren wir darüber nicht den Sinn für die Wirklichkeit, schon deshalb nicht, weil unser Hunger und die Läuse es nicht zuließen. Wir wussten, dass Kim von einem Tag auf den anderen verschwinden konnte und dann selbst mit einer Laterne nicht wiederzufinden wäre. Nur er selbst teilte diese Angst nicht und wetterte weiterhin wie ein biblischer Prophet, wie Elias gegen Achab. Eines Tages schließlich reagierte Kostrow nicht mehr auf die Schmähungen seines Schützlings. Es kam ganz unerwartet. Sein Schweigen erschreckte uns, es ließ nichts Gutes ahnen. Schönheit erfuhr gleichzeitig auf Umwegen, dass Kostrow Kim loswerden und weiter nach Norden schicken wollte. Ich erzählte es Kim. Seine asiatischen Augen wurden nur noch schmaler und blitzten schwärzer auf. Vermutlich hatte er damit gerechnet. Vielleicht wartete er sogar darauf? Als wir ihn wie
üblich auf dem Nachhauseweg begleiteten, provozierte er Kostrow jedenfalls erneut. »Und, gibst du auf?«, fragte er mit spöttischem Lächeln. »Ich habe dir ja gesagt, dass du mich nicht besiegen kannst, weil ich jeden Tag bete. Und du hast es nicht geglaubt.« »Red keinen Unsinn!«, antwortete der andere. »Warum willst du mich also in ein anderes Waisenhaus bringen lassen? Du hast Angst bekommen, das sag ich dir.« »Hör auf zu schwätzen!«, wiederholte der Erzieher. »Du hast begriffen, dass, selbst wenn du mich töten würdest, ich gewinnen würde«, sagte Kim und ließ nicht locker. »Ein großer Feigling bist du, so wie dein geistiger Vater.« Das war zu viel für Kostrow. Er heulte auf wie ein verwundeter Bär, packte Kim mit seinen riesigen Pranken und hob ihn über seinen Kopf. Doch er warf ihn nicht zu Boden, wie er es beabsichtigt hatte. Im letzten Moment beherrschte er sich. Er hielt ihn noch eine Weile in der Luft und stellte ihn dann ganz langsam auf die Beine. Anschließend streifte er uns mit einem wütenden Blick und entfernte sich. Kim blieb zurück. »Fantastisch!«, rief der Korn. »Um das zu feiern, gehen wir jetzt Schlagball spielen.« Eine Woche lang war alles so, wie es nicht besser hätte sein können. Kostrow steckte seine Nase nicht aus dem Waisenhaus, und wir vermissten ihn nicht. Nach Erledigung der Hausaufgaben sagte Kim mir Buddhas Predigten auf, die ihm sein Vater beigebracht hatte. Mit angehaltenem Atem hörte ich zu und verglich seine Worte unwillkürlich mit denen der Bibel. Überrascht stellte ich fest, dass sich Buddhas Lehre nicht sehr von der christlichen unterschied. Kim und ich waren uns so nahe wie nie zuvor. Acht Tage waren nach dem letzten Streit vergangen, als Kostrow erneut in unserem Haus auftauchte.
»Nun, Kim«, sagte er herrisch, obwohl er sich bemühte, sanft zu klingen. »Die Ferien sind vorbei. Es ist höchste Zeit, dass du nach Hause kommst. Alles hat seine Grenzen.« »Und wo bin ich jetzt?« Trotz seines Muts zitterten Kim die Lippen. »Ich weiß besser, wo dein Zuhause ist. Hier bist du nur zu Gast. Mach dich fertig.« »Ich gehe nirgendwohin mit dir. Schönheit ist jetzt meine Mutter. Sie ist eine echte Mutter, und du willst nur ein Vormund sein.« »Meine Geduld ist am Ende!« Kostrows Ton wurde schärfer. Er griff nach der Schulter des armen Kim, um ihn hinter dem Schrank hervorzuziehen. In diesem Moment kam Schönheit ins Zimmer. Sie begriff die Situation sofort, und ihre Augen blitzten wütend. »Lass ihn los, du Kanaille!«, schrie sie. »Wage es nicht, meine Kinder anzurühren!« »Sein Platz ist im Waisenhaus«, knurrte Kostrow zurück, ließ Kim aber los. »Dort wird er wohnen und nicht hier!« »Weißt du denn überhaupt, was ein Kind ist? Weißt du, was eine Frau durchmacht, wenn sie dieses Wunder neun Monate unter ihrem Herzen trägt? Und was dieses Wunder durchmacht, während es zu einem Menschen wird? Und was machst du mit den Kindern? Du zwingst sie, ihre Eltern zu verleugnen, du bringst ihnen das Denunzieren bei, du reißt ihnen das Herz aus der Brust, du Bestie! Geh mir aus den Augen! Und wenn du noch mal hier auftauchst, werde ich dich mit kochendem Wasser übergießen!« »Sein Platz ist im Waisenhaus«, wiederholte Kostrow mit dem Starrsinn eines Besessenen. »Er gehört nicht zu dir. Hast du etwa Papiere für ihn?« »Beruhige dich, Mutter«, bat Kim, »morgen komme ich wieder.« Dann wandte er sich jäh an Kostrow: »Aber du
vergiss nicht, dass dich die bösen Mächte einholen werden. Denk dran, wenn du schlafen gehst und wenn du aufwachst. Hüte dich jeden Augenblick!« Bei diesen Worten, die voller Ernst und fast feierlich ausgesprochen wurden, bekam selbst ich eine Gänsehaut. Der kreidebleich gewordene Kostrow verließ das Haus. Schönheit fragte: »Kim, wovon redest du?« »Er hat Angst vor Geistern, Mutter. Ich habe gehört, wie er sie in betrunkenem Zustand wegscheuchte. Das ist sein wunder Punkt.« »Das heißt, er fürchtet sich vor den Toten«, stellte Schönheit nachdenklich fest. »Er muss viele auf dem Gewissen haben. Diese Verbrecher werden alle von Angst zerfressen. Aber mach dir keine Sorgen, Kim. Morgen werde ich zum NKWD gehen und Durow anflehen, dass ich dich behalten darf. Ich werde dich nicht dieser Bestie überlassen. Und jetzt lasst uns beten, Jungs.« Und Gott erhörte Schönheit. Sie musste nicht bei Durow vorstellig werden. Am nächsten Tag wurde Kostrow nämlich verhaftet. Weil er sich selbst als Stalins Sohn bezeichnet hatte. Stalin konnte zwar Vater sein, aber nur für Kinder, für Junge Pioniere. Keiner der Erwachsenen durfte behaupten, dass er sein Sohn oder seine Tochter sei. Diese Feinheit hatte nicht nur Kostrow vergessen. Diese Entwicklung freute uns jedoch nicht wirklich. Es war ziemlich sicher, dass der Verhaftete Kim nicht verschonen würde und dass mein Freund irgendwann doch noch in die Hände des NKWD fallen würde. Vielleicht sogar sehr bald. »Keine Sorge«, tröstete Kim unsere Mutter. »Ich werde das alles aushalten. Und wenn ich nicht zu dir zurückkehren kann, werde ich sie bitten mich dorthin zu schicken, wo meine Eltern sind. Ich werde darum beten.«
»Sie haben kein Herz«, flüsterte Mutter. »Aber bete trotzdem. Auch wir werden Gott anflehen, dass du bei uns bleiben darfst.« Doch es kam anders. Am nächsten Tag kehrte Kim nicht nach Hause zurück. Wir begannen ihn zu suchen. Ohne Erfolg. Es fehlte jede Spur von ihm. Eine gewisse Zeit lebten wir noch in der Hoffnung, dass er sich irgendwo in der Nähe versteckt hatte und abwarten wollte. Doch als die Tage verstrichen, wussten wir Bescheid. Schneller als gedacht hatten die riesigen Pranken der sowjetischen Bestie Kim ergriffen.
LIEBE
Meine Eltern waren ein Paar, das nicht gut zusammenpasste – sie waren nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt. Trotzdem fand Mutter nach Vaters Tod lange nicht zu sich. Zwar wusste sie, dass die Traurigkeit der Vorbote des Unglücks ist, und versuchte sich zusammenzureißen, doch es gelang ihr nicht. Das menschliche Herz scheint einer anderen Dimension als der irdischen anzugehören und anderen Gesetzen zu folgen, denn niemand kann es zur Ordnung rufen, wenn es selbst nicht will. Mich persönlich hatte Vaters Tod weniger stark mitgenommen. Natürlich hatte ich eine verzweifelte Ohnmacht empfunden, aber das dauerte nicht lange. Ich bangte vor allem um Mutter. Ich fürchtete, dass der Kummer sie besiegen könnte. Von der Familie waren jetzt nur noch wir beide übrig geblieben. Doch Mutter weinte alle Trauer aus sich heraus und überraschte mich eines Tages mit einem Lächeln. Vielleicht war es ja auch der Frühling, der sich binnen einer Woche in den Sommer verwandelt hatte, der ihr aus dem seelischen Tief heraushalf. »Zu viele Tränen«, sagte sie, raffte sich auf und trat vom Fenster weg. »Der Herr hat uns nicht zum Traurigsein geschaffen. Wir müssen so leben, wie Gott es uns lehrt, alles andere ist der Tod.« Und wir begannen das Leben zu genießen, Mutter ihres und ich meines. Ich fühlte mich doppelt glücklich, weil ich verliebt war. Niemand wusste von meiner Liebe, nicht einmal meine Auserwählte, Tanja Bjelowa. Ich traute mich nicht, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, weil ich Sarkasmus und Hohn befürchtete. Der Hunger meines Herzens wetteiferte mit
meinem Hunger nach Brot. Meinen Magen konnte ich mit wildem Knoblauch, Zwiebeln und essbaren Blumen sättigen – doch auch mein Herz verlangte nach Nahrung. Meine Gefühle drückten mich an die Wand. Es gab keinen Ausweg: Ich musste mich irgendwie offenbaren, die Liebe verlangt das. Und so trieb mich eines Tages ein innerer Zwang dazu, ein rotes Herz auf meinen Pullover zu nähen. Ich schnitt es aus einem roten Tuch heraus, das ich vom Besprechungstisch unseres Schulhorts stibitzt hatte. Die Jungs bemerkten dieses Symbol der Liebe sofort. Da sie aber nicht wussten, wie sie reagieren sollten, schwiegen sie erst einmal. Auch die Lehrer lächelten lediglich diskret. Nur der Schulleiter verstand keinen Spaß. Ich spürte jedoch, dass die Klasse bei diesem Streit auf meiner Seite sein würde. »Warum hast du dir ein Herz und keinen Stern an den Pullover genäht? Was ist das für eine Anarchie? Nur Sterne oder Orden gehören auf die Brust, keine Herzen. Abmachen!« Ich gehorchte ihm nicht, mir wohl bewusst, dass es weitere Folgen haben würde. Ich wollte nämlich Aufsehen erregen und bestraft werden. Der Schulleiter, ein ehemaliger Armeekommissar, vergaß seine Anordnung nicht, und als er in der vorletzten Unterrichtsstunde wieder das Herz bemerkte, bebte sein Unterkiefer. »He, Pilsudskist«, fuhr er mich an, »hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Warum ist das Herz noch dran?« »Ich bin verliebt«, antwortete ich fest entschlossen. »Und ich werde es nicht abmachen. Das ist mein gutes Recht.« »Du hast nur das Recht zu einem Stern, nicht zu einem Herzen«, knurrte er, ging aus dem Klassenzimmer und kam bis zum Ende des Unterrichts nicht wieder. In der Pause wurde ich in sein Büro gerufen, wo schon Durow, der Oberbevollmächtigte des NKWD, saß und sich eine neue Zigarette an einem glimmenden Stummel anzündete.
Im nächsten Moment kam Mutter herein. Sie schaute mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern und wies mit dem Kopf auf das rote Herz an meinem Pullover. Schönheit erriet sofort, was los war. »Es geht darum«, begann der Schulleiter, »dass ich ihm aufgetragen habe, das Herz zu entfernen, und er sich widersetzt hat. Er hat frech behauptet, dass er das nicht tun würde, weil er verliebt sei. An der Front sterben die Menschen, und er erlaubt sich solche Scherze! Man muss ihn zur Vernunft bringen.« »Ich habe es aufgenäht«, erwiderte Schönheit. »Hat man denn nicht mehr das Recht, einen Pullover zu flicken? Muss ein Flicken unbedingt quadratisch sein? Ich kann das Kind als Mutter doch nicht zerlumpt herumlaufen lassen.« »Und wieso ist der Flicken rot?« »Weil ich keinen blauen Stoff hatte.« »Warum hat er das nicht gleich gesagt, sondern ist stur dabei geblieben, dass er das Herz wegen irgendeiner Liebe auf dem Pullover herumträgt?« »Er hat das Recht, verliebt zu sein. Und er hat auch das Recht, darüber zu reden. Liebe darf kein Geheimnis bleiben.« »Ja, sicher«, murmelte der Schulleiter, »aber wir sind hier in einer Schule.« »Auch die Schule sollte den Kindern Liebe beibringen«, sagte Mutter. »Bald ist der Krieg zu Ende, und wir werden wieder wie Menschen leben. – Und du lässt eine solche Farce zu?«, sagte Mutter an Durow gewandt. »Als ob du nicht selbst wüsstest, was ein Herz bedeutet. Schäm dich!« Durow errötete und zündete sich eine neue Zigarette an. Dann befahl er dem Schulleiter mit harter Stimme: »Geh hinaus!« Und als dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging der Herr über Leben und Tod auf Mutter zu. »Verzeih«, flüsterte er. »Ich bin nur hierher gekommen, um dich zu sehen.
Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Heirate mich, du bist doch schon lange Witwe…« »Wolodja«, Schönheit blickte ihm direkt in die Augen, »du weißt genau, dass das unmöglich ist. Du hast eine Frau, die Kommunistin ist. Du bist ein NKWD-Offizier, du gehörst zu Stalin. Ich hingegen gehöre zu Gott, an den du nicht glaubst; ich bin eine Jüdin. Wolodja, versteh doch, ich bitte dich.« Durow setzte sich brav auf den Stuhl. Das Leuchten seiner Augen erlosch langsam, seine Gesichtszüge wurden strenger. »Weise mich nicht ab«, fügte er kaum hörbar hinzu. Mutter überging die letzten Worte des verzweifelten Oberbevollmächtigten mit Schweigen. Sie griff nach meiner Hand und zog mich zur Tür. Ich begleitete sie zum Krankenhaus und ging dann alleine nach Hause. Doch ich kam dort nicht zur Ruhe, alles fiel mir aus den Händen. Durows leidenschaftliche Worte klangen in meinen Ohren. Es fiel mir schwer, ein gewisses Mitgefühl zu unterdrücken. Trotz allem tat mir dieser Mensch irgendwie leid. Aber noch mehr bedauerte ich Mutter. Menschen wie Durow hatten ihren Mann, meinen Vater, zu Tode gequält. Tränen brannten unter meinen Augenlidern. Die Anspannung durch die widersprüchlichen Gefühle war zu groß. Ich schoss aus dem Haus, und meine Beine brachten mich zu Tanja Bjelowa. Erst am Fluss fand ich sie. Sie lernte gerade ein Gedicht auswendig. Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hand in die meine. Und plötzlich fühlte ich mich so glücklich, dass ich kein Wort herausbrachte. Tanja warf mir unter ihren Wimpern einen fragenden Blick zu, doch sie zog ihre Hand nicht weg. Eine ganze Weile konnte ich meine Schüchternheit nicht überwinden. Schließlich kniete ich vor Tanja nieder, schwieg jedoch weiterhin. »Du willst mein Freund sein?«, fragte meine Angebetete. Und als ich mit einem Kopfnicken bejahte, küsste sie mich.
Dann stand sie schnell auf und entfernte sich in Richtung ihres Hauses. »Ab morgen sollst du neben mir in der Schule sitzen!«, sagte sie, und ich vernahm noch von weitem ihr etwas zitterndes Stimmchen. Bis zum Abend streifte ich ziellos am Rande der Taiga umher. Eine freudige Leichtigkeit erfüllte meine Brust. Ich fühlte mich, als ob ich ruhmreich von einem Krieg zurückkehrt sei. Natürlich entging meiner Mutter nicht das Leuchten in meinen Augen. »Du hast eine unbekannte Insel entdeckt, nicht wahr?«, fragte sie ahnungsvoll und küsste mich auf die Stirn. »Stimmt«, gab ich zu und erst da bemerkte ich, dass auch Mutters Augen mit einem stärkeren Glanz als sonst strahlten. Ihr tiefes Grün erinnerte an frisches, taubedecktes Gras. Es war, als hätte ein Engel ihr Gesicht berührt. »Könnte es sein, dass auch du… eine Insel entdeckt hast?«, fragte ich zurück. Als sie nickte, umarmte ich sie voller Freude und begann sie zu küssen. Schönheit drückte mich an sich und sagte in einem scherzhaften Ton: »Wir sind wie Kolumbus: Segler im Zeichen des Herzens.« Mutters Auserwählter war Michail Michailowitsch Herzen, ein Internist. Er litt seit seiner Kindheit an einer Krankheit, die einen so exotischen Namen hatte, dass ich sie mir nicht merken konnte, und sicher verdankte er es ihr, dass er hier unter uns und nicht im Krieg oder in einem Lager war. In unserem Städtchen fiel er durch sein feines Benehmen und seine europäische Kleidung auf. Schönheit erzählte mir, dass er in Paris studiert hatte und dort mit vielen berühmten Leuten in Berührung gekommen war. Michail Michailowitsch interessierte sich für die Kunst und widmete seine ganze freie Zeit dem Malen. Die Malerei war das Salz seines Lebens, alles andere war für ihn nebensächlich. Er lebte in einem
künstlerischen Durcheinander und auf ebenso künstlerische Weise hielt er um Mutters Hand an. Auf der wöchentlichen Versammlung des Krankenhauspersonals bat er um das Wort – was er bis dahin nie getan hatte – und eröffnete allen, dass Schönheit seine Frau werden würde. Er gab auch gleich das Datum der Hochzeit an. Dann ging er auf Mutter zu, küsste ihre Hand und setzte sich neben sie. Mutter, die von dieser Erklärung völlig überrascht war, hatte nicht die Kraft, zu widersprechen oder zu beteuern, dass sie sich noch nicht einverstanden erklärt hatte. Sie mochte Michail Michailowitsch zwar, und seine Art gefiel ihr, aber sie hatte ihn nie so angesehen, wie eine Frau einen Mann ansieht, in dem sie einen Teil ihres Schicksals sucht. Doch dann besuchte sie ihn in seinem Haus, und ihr Herz öffnete sich ganz weit. Es war schwer zu sagen, ob es die Gemälde waren, deren seltene Schönheit ihr den Atem raubten, oder die poetische Aura, die ihr gemeinsames Gespräch umgab. Auf jeden Fall stellte Schönheit fest, dass Michail Michailowitsch genauso ein Märchenprinz war, wie sie ihn sich seit ihrer Kindheit erträumt hatte, und so nahm sie seinen Heiratsantrag schließlich an. Schönheit blühte wieder auf und errötete bei jeder Gelegenheit wie ein Backfisch. Wir waren also beide verliebt und verstanden uns daher ohne Worte. Wir begegneten uns unterwegs, wenn jeder in seine Richtung eilte, Mutter zu ihrem Romeo, ich zu meiner Julia. Schönheit, um sich in die Bilder ihres Genies zu vertiefen, ihm Tee zu machen und sich an ihm zu wärmen; ich, um der sommersprossigen Tanja am Fluss Lermontow zu rezitieren. Die Sonne stand hoch, die Luft zitterte am violettblauen Himmel, die Erde stand dem in nichts nach und präsentierte eine Palette von Blumen in allen Farben. Die im Gras versteckten Insekten summten hingebungsvoll, und die Vögel sangen wie berauscht.
An einem solchen farbenfrohen Tag heiratete Schönheit ihren Märchenprinzen. Die halbe Stadt kam herbei, um dem frisch gebackenen Paar zu applaudieren. Als die beiden aus der Baracke, die Hochzeitspalast genannt wurde, heraustraten, leuchtete Mutters Gesicht wie ein blühender Kirschbaum vor dem dunklen Hintergrund des Lärchendickichts. Michail Michailowitsch, der einen breitkrempigen Hut, einen dunkelgrünen Rock und ein weißes Hemd mit lila Fliege trug, sah aus wie ein Ankömmling von einem fremden Planeten. Tanja und ich standen direkt am Ausgang, und ich war so glücklich und hingerissen, dass ich den Oberbevollmächtigten des NKWD nicht bemerkte. Ich erblickte Durow erst, als die Neuvermählten mitten auf der Treppe stehen blieben, um für das Foto zu posieren. Er zog gerade seine Pistole hervor. Mit einem Aufschrei sprang ich nach vorne, doch ich stolperte und fiel hin. Als ich mich von den Knien aufrappelte, hörte ich die Schüsse: erst einen, dann den zweiten und einen Moment später – den dritten. Durow war ein Fachmann im Morden. Ein Schuss in den Hinterkopf lässt dem Opfer keine Überlebenschance. Sie waren sofort tot. Mutter und Michail Michailowitsch sanken die Treppenstufen herab. Sein selbstmörderischer Schuss in den Mund hatte Durow nach hinten geworfen. Er lag mit weit geöffneten Augen auf dem Rücken. Selbst im Augenblick seines Todes hatte er die Pistole nicht losgelassen.
WIE BEI HIOB
Erst Schönheits Tod konnte mich brechen. Fassungslos irrte ich umher, unfähig zu leben. Alleine zurückgeblieben, war ich jetzt eines der vielen verwaisten Kinder, deren Schicksal kaum jemanden interessierte, höchstens vielleicht die Waisenhäuser, diese Kreuzung aus seelenloser Verwahranstalt und Großbetrieb für die ideologische Dressur Minderjähriger. In meiner Verzweiflung und Einsamkeit drängte es mich noch stärker zur Dichtung. Ich schrieb selbst schon lange, seitdem ich mich für Lermontows Poem Der Dämon begeistert hatte. Doch während ich früher meine ersten Versuche mit den Werken des Meisters verglich und sie gleich darauf zerriss, gab ich mich der Poesie jetzt mit vollem Herzen hin. Diese Beschäftigung schien meine Existenz in gewisser Weise zu rechtfertigen. Jedem, der es hören wollte – oder auch nicht –, las ich die soeben verfassten Verse vor. Den Jungen gefielen sie. Tanja auch. Selbst der Leiter unserer Schule forderte mich einmal auf, ihm eines meiner Werke vorzustellen. Ich trug ein Gedicht vor, das ich Michail Michailowitsch und Mutter gewidmet hatte. Er hörte es sich aufmerksam an, und als ich fertig war, nickte er bewundernd, aber auch ungläubig mit dem Kopf. Der Inhalt des Gedichts hatte ihn sichtlich berührt. »Ach, ihr Polen«, sagte er den Vortrag quittierend, während er zwischen den Schulbänken hindurchspazierte, »ihr seid nicht fähig zu schweigen. Ihr müsst herumrennen und lärmen. Das Gedicht ist gar nicht übel. Tüchtiger Junge! Über den roten Stern könntest du auch mal etwas schreiben.« Die Bemerkungen des Schulleiters waren mir ziemlich egal, aber sein Lob hatte zur Folge, dass die übrigen Lehrer von
ihren Spötteleien abließen. Das war schon viel. Denn das Dichten war inzwischen meine einzige Chance durchzuhalten. Eines Tages besuchte ich die Mutter von Herzen. Ich nahm einen Blumenstrauß mit, den ich auf der Wiese zusammengepflückt hatte. Die alte Frau erkannte mich, obwohl wir uns zuvor nur selten gesehen hatten. Sie verbarg nicht ihre Freude und bewirtete mich mit Preiselbeertee und Marmeladenbrot. Da auch ihr Sohn ein Dichter gewesen war, kamen wir auf die Poesie zu sprechen. Von ihr aufgefordert, las ich ihr zwei Gedichte vor. Sie schwieg lange, als ob sie sich über etwas unschlüssig wäre. Schließlich sagte sie mit veränderter Stimme: »Sie haben den Vater getötet, sie haben den Sohn ermordet. Die Kommunisten haben das Verbrechen im Blut. Auch Künstler bringen sie um. Das haben nicht einmal die Mongolen und Tataren getan. Rubljow ist eines natürlichen Todes gestorben. Barbaren, furchtbare Barbaren. Komm her«, bat sie mich. Und als ich vor ihr stand, nahm sie meinen Kopf in ihre Hände und sah mich eindringlich an. »Sei auf der Hut, mein Sohn«, sagte sie. »Jemand muss überleben, um Zeugnis abzulegen. Sie haben deinen Vater und deine Mutter ermordet. Vergiss nichts… Und wenn du dich bei Frosia nicht wohl fühlst, kannst du bei mir wohnen…« Ich wurde reich von ihr beschenkt. Als mich die alte Frau zum Abschied küsste, erklärte sie, dass ich jetzt ein Dichter sei und mich deshalb auch wie ein Dichter kleiden müsse, genau wie ihr Sohn. Sie gab mir einen wunderbaren Hut, einen Wollschal, ein weißes Hemd, eine Strickjacke mit einem hohen Stehkragen, außerdem noch viele andere Kleinigkeiten. Diese Sachen waren Gold wert. Als ich am nächsten Tag in einem schneeweißen Hemd, einer Cordweste und mit dem Hut auf dem Kopf in der Schule erschien, erregte ich großes Aufsehen. Ich wurde gemustert
wie ein exotisches Wundertier. Die Kleider waren viel zu groß für meine schmächtige Gestalt. Selbst meine Feinde aus dem Waisenhaus standen mit offenem Mund da. Ich wartete auf die Reaktion des Schulleiters. Entgegen meiner Erwartung reagierte er trotz seiner Überraschung mit einem Lächeln. »Ein neuer Jessenin«, sagte er scherzhaft und rieb sich die Hände. »Vielleicht sogar ein Majakowski. Was für eine Ehre für unsere Schule. Eine Ehre! Dass du mir nur gut schreibst. Na, und wachse noch ein bisschen, damit dir das alles einmal passt.« Ich schrieb, ich las, ich betete – nur um nicht auf quälende Gedanken zu kommen. In die mir selbst auferlegten Beschäftigungen vertieft, verspürte ich nicht einmal Hunger. Das Leben schien seinen eigenen Lauf zu nehmen, wie ohne meine Beteiligung. Natürlich war das nur eine Illusion, denn in Wahrheit berührte es mich ganz direkt, und ich nahm auf meine Weise daran teil. Vielleicht nur weniger freudig als früher. Die anderen Jungen verstanden das, besonders gut begriff es der Korn, der Älteste unserer Gruppe. Wir spielten weiterhin von Zeit zu Zeit Schlagball. Nach einem der Spiele setzte sich der Korn überraschend zu mir. Etwas ließ ihm keine Ruhe. Auch die anderen Jungen setzten sich im Kreis dazu. Da fragte er sie, ob sie einverstanden seien, wenn ich sein Stellvertreter würde. »Ist er denn nicht zu klein?«, äußerte Wasja, ein Ukrainer, seine Zweifel. »Die Größe spielt keine Rolle«, widersprach ihm Erik, der Este. »Hier geht es um Mut, um Würde.« »Ganz richtig. Er ist ein Dichter und er besitzt die Bibel. Ihr solltet auf ihn hören«, sagte der Korn und besiegelte die Angelegenheit. Dann ging er ohne jemanden anzusehen davon. Plötzlich hatte ich eine böse Vorahnung. Ich rannte ihm hinterher.
»Zieh zu mir«, bat ich ihn. »Zu zweit ist es schöner.« »Ich kann nicht. Meine Mutter heiratet. Weißt du, wer mein Stiefvater wird? Der Leiter des Lagers hier in der Nähe.« Er sah mich mit seinen traurigen Augen an und blickte dann zum Himmel, als ob er von dort Trost erwarten würde. Fast eine Woche lang sahen wir ihn nicht. Und dann schlug in unserer Gruppe wie eine Bombe die Nachricht ein, dass der Korn in der ersten Nacht nach der Hochzeit seiner Mutter von zu Hause weggelaufen sei. Angeblich hatte er einen Brief hinterlassen, den sein neuer Vater sofort vernichtet hatte. Kurz darauf wurde Frosia verhaftet. Sie hatte es dem neuen Oberbevollmächtigten des NKWD zu verdanken, der in blindwütigem Übereifer die Siedlungen von den letzten feindlichen Elementen säuberte. Niemand wusste, worin die Schuld der alten Frosia bestand. Wahrscheinlich nur darin, dass ihr Mann bereits im Lager gelandet war. Es war für mich ein doppelter Schlag, denn nach Mutters Tod hatte sie sich um mich gekümmert. Doch ich hatte den Kelch der Bitterkeit noch nicht bis zur Neige geleert: Die alte Tamara, Herzens Mutter, bei der ich hätte wohnen können, starb. Dunkle Wolken hingen über mir. Das Waisenhaus drohte, dieses Lager für Jugendliche, das Ende aller Träume. Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Tanjas Mutter wollte mich trotz der Bitten ihrer Tochter nicht aufnehmen. Auch die Nachbarn lehnten ab. Meine ganze Situation, mein Benehmen, selbst meine Kleidung machten ihnen Angst, und sie zeigten es deutlich. Der letzte Rettungsanker war Sascha der Beinlose. Sascha war ein Jahr zuvor aus dem Militärdienst entlassen worden. Man hatte ihm die Beine direkt am Rumpf amputiert; mit seinen Armen stützte er sich auf Bretter, die mit Griffen versehen waren, und bewegte sich so fort. Er lebte alleine und
kam sehr gut zurecht. Er lötete Töpfe und machte Holzschnitzereien. Ich ging zu ihm. »Nimm mich auf, sonst bringen sie mich ins Waisenhaus.« »Kannst du Schach spielen?«, fragte er. Ich nickte. »Dann zieh ein bei mir, Platz ist genug. Ich habe gehört, dass du Gedichte schreibst. Wenn es so ist, dann bekommst du eine eigene Ecke. Ich schätze Talent; ich weiß, was Inspiration ist; ich weiß auch, was es heißt, verliebt zu sein. Fühl dich also ganz frei.« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wusste nicht recht, wie ich Sascha danken sollte. Ich dankte also Gott, indem ich mich an Schönheits Worte erinnerte: »Gesegnet seiest du Gott, Herr der Welt.« »Gut gesagt«, pflichtete Sascha bei. »Durch jedes Werk scheint Gott hindurch.« Beruhigt ging ich davon, um meine Sachen zu holen. Doch ich sollte Sascha niemals Wiedersehen, weder ihn noch Tanja. Ein Bote Gottes erschien mir – anders kann man es wohl schwerlich nennen. Als ich nämlich von Sascha nach Hause kam, sah ich eine fremde Frau auf der Bank neben der Haustür sitzen. Sie hatte ein ausgezehrtes Gesicht, doch ihre Augen besaßen etwas Außergewöhnliches. Ein Ausdruck von Entschlossenheit lag in ihnen. »Du bist Schönheits Sohn, nicht wahr?«, fragte sie. »Dir bleibt niemand mehr von deiner Familie.« »Nein, niemand mehr«, antwortete ich. »Aber ich ziehe zu Sascha.« »Ich kannte deine Mutter. Gestern ist mein Sohn gestorben. Ich habe ihn heute Nacht begraben, damit niemand von seinem Tod erfährt. Und ich bin gekommen, um dich zu holen. Du siehst jünger aus, als du bist, das ist gut. Du fährst mit mir.« »Wohin?«, fragte ich genauso verwundert wie überrascht.
»Richtung Polen«, antwortete sie, »nach Wolynien oder Podolien. Ich habe eine Ausreiseerlaubnis bekommen. Du wirst jetzt mein Sohn sein. Geh schnell packen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Morgen reisen wir ab.« »Sie haben dir eine Erlaubnis gegeben?« »Mein Mann ist in der Armee von Beding«*, erklärte sie. »Nach langen Bemühungen habe ich die Erlaubnis bekommen. Wir werden der Armee nachreisen. Denk daran, ich bin jetzt deine Mutter, und du heißt Bednarski. Mein Sohn hatte denselben Vornamen wie du. Gott hilft denen, die sich selbst helfen.« Und schon im Morgengrauen fuhren wir mit dem Zug nach Westen. In meinem Kopf ging alles durcheinander. Ungläubig betrachtete ich meine Adoptivmutter. Stockend versuchte ich ihr von Schönheit zu erzählen und von allem, was uns zugestoßen war. Ich schämte mich dafür, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, aber sie waren stärker als ich. »Ich weiß alles über dich«, sagte die Frau und drückte beruhigend meine Hand. »Wir werden uns verstehen, du wirst sehen. Ich folge auch der Stimme meines Herzens.« Nach diesen Worten fühlte ich mich wie Hiob, dem der Herr alles wieder zurückgegeben hatte. Damals wusste ich noch nicht, dass die Wiederholung von Hiobs Geschichte zum Leben gehört wie die Sonne zum Tag und der Mond zur Nacht. Mit großer Erleichterung sank ich in den Schlaf und träumte von Dingen, die so schwer zu beschreiben sind wie das Gefühl, das der Klang von Abendglocken in unserem Herzen weckt.
*
Nach dem Abmarsch der Armee von General Anders in Richtung Iran (vgl. Fußnote auf S. 57) gelang es den Sowjets, eine weitere polnische Division unter General Berling zu bilden, die 1944 an der Seite der Roten Armee kämpfte.