Reinhard Fatke · Hans Merkens (Hrsg.) Bildung über die Lebenszeit
Schriftenreihe der DGfE
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Reinhard Fatke · Hans Merkens (Hrsg.) Bildung über die Lebenszeit
Schriftenreihe der DGfE
Reinhard Fatke Hans Merkens (Hrsg.)
Bildung über die Lebenszeit
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage März 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-531-14924-5
Inhalt
Reinhard Fatke / Hans Merkens Vorwort .................................................................................................................... 9
Eröffnungsvortrag Michael Naumann „Bildung“ – eine deutsche Utopie ......................................................................... 15
Parallelvorträge Helmut Fend Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung – Ergebnisse der LifE-Studie ...................................................................................................... 31 Roland Merten Bildung und soziale Ungleichheiten – Sozialpädagogische Perspektiven auf ein unterbelichtetes Verhältnis ........................................................................ 57 Ekkehard Nuissl Orte und Netze lebenslangen Lernens .................................................................. 69 Christiane Spiel Grundkompetenzen für lebenslanges Lernen – eine Herausforderung für Schule und Hochschule? .................................................................................. 85 Nico Stehr Eine Welt aus Wissen ............................................................................................ 97
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Inhalt
Berichte über Symposien Frank Achtenhagen / Klaus Beck / Michael Bendorf / Alison Fuller / Gerhard Minnameier / Wim J. Nijhof / Karsten D. Wolf / Lorna Unwin Berufserziehung als lebenslange Aufgabe – Vocational Education As a Lifelong Learning Task ............................................................................... 111 Johannes Bilstein Lebenszeit – Bildungszeit ................................................................................... 121 Rita Casale / Juliane Jacobi / Jürgen Oelkers / Daniel Tröhler Lebenslanges Lernen – ein alter Hut? ................................................................ 131 Lucien Criblez / Ferdinand Eder Erziehungswissenschaft und Politikberatung ..................................................... 143 Wilfried Datler Entwicklungsprobleme unter der Perspektive lebenslanger Bildungsprozesse – Verbindungslinien zwischen Sonderpädagogik und Psychoanalytischer Pädagogik ............................................................................ 153 Werner Georg Schullaufbahnen, persönliche und soziale Ressourcen im Jugendalter und Berufserfolg im Erwachsenenalter ............................................................... 163 Edith Glaser / Barbara Rendtorff Menschenbilder und Geschlecht – Bildungs- und Erziehungskonzepte in verschiedenen Lebensphasen .......................................................................... 173 Tina Hascher / Odette Haefeli / Ruth Jermann / Angelika Schade Akkreditierung und Zertifizierung von Bildungsleistungen – verlässliche Pfade im Bildungsdschungel? ...................................................... 179 Michael-Sebastian Honig / Ludwig Liegle Erziehung in früher Kindheit und lebenslange Bildungsprozesse – Internationale Perspektiven der frühpädagogischen Forschung ..................... 189 Jochen Kade / Wolfgang Seitter Die Institutionalisierung des Lernens im Erwachsenenalter .............................. 197
Inhalt
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Michael Kerres / Claudia de Witt Perspektiven der „Medienbildung“ ..................................................................... 209 Peter H. Ludwig / Markus Dresel / Monika Finsterwald / Natalie Fischer / Martin C. Holder / Ruth Rustemeyer / Barbara Schober / Albert Ziegler Erwartungen in himmelblau und rosarot: Erklärung für Geschlechterdifferenzen im lebenslangen Lernen ............................................. 221 Sandra Oppikofer / Sonja Perren / Regula Schmid / Albert Wettstein Lebenslanges Lernen mit neuen Zielgruppen – Zusammenfassung der Referate zum Themenschwerpunkt „Alter“ ................................................. 231 Sylva Panyr Differenzierung von Erziehungswerten in Sozialen Milieus ............................. 239 Holger Reinisch / Tade Tramm Entgrenzungen der beruflichen Bildung – „Bildung über die Lebenszeit“ als Herausforderung und Perspektive der Praxis, Politik und Theorie beruflicher Bildung ................................................................................ 255 Werner Thole / Cornelia Schweppe / Ingrid Lohmann / Sabine Andresen / Josef Scheipl / Mark Schrödter Bildung im Zeitalter der normierten Globalisierung – Folgen für die Sozialpädagogik ................................................................................................... 265 Rudolf Tippelt / Christoph Kasten / Rolf Dobischat / Paolo Federighi / Andreas Feller Regionale Netzwerke zur Förderung lebenslangen Lernens – Lernende Regionen ........................................................................................... 279 Christoph Wulf / Jörg Zirfas Bildung als performativer Prozess – ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung ............................................................ 291 Christine Zeuner Erwachsenenbildung zwischen Inklusion und Exklusion .................................. 303 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................... 315
Eröffnungsvortrag
„Bildung“ – eine deutsche Utopie Michael Naumann
Deutschlands Universitäten sind das Spiegelbild des nationalen Unbehagens und manchmal auch sein Blitzableiter. Noch sind sie nicht haftbar gemacht worden für ökonomische Stagnation, staatliche Überregulierung oder die Verspätungen der Bundesbahn. Es bedarf freilich nur geringer Fantasie, um Herkunft und Gründe der deutschen Untergangsstimmung in den akademischen Institutionen des Landes zu verorten. Das wäre zwar nicht sehr gerecht, aber auch nicht ganz abwegig. Schließlich sind sie es, die unsere Verwaltungs- und Wirtschaftseliten ausbilden. Auch Deutschlands Juristen, die den Staatsapparat beherrschen wie eh und je, fallen nicht vom Himmel (wenngleich es zumal in Berlin manchmal so scheint), sondern sie werden so gut ausgebildet, dass sie in der Lage sind, Macht, Zuständigkeit und Verbreitung ihres eigenen Berufsstands ins Unermessliche zu vergrößern: Pro Kopf der Bevölkerung gemessen, gibt es bei uns sechsmal so viele Berufsrichter wie in England. Entsprechend mehr Rechtsanwälte muss es geben, was natürlich allenthalben Kopfschmerzen macht. Also benötigen wir auch mehr Apotheker als jede andere Nation der Welt. Zurzeit wird die Bundesrepublik von einem Rechtsanwalt regiert, ein anderer reguliert die innere Sicherheit. Adenauer und Kiesinger waren ebenfalls Rechtsanwälte, wie auch Roman Herzog und wer weiß wie viele Ministerpräsidenten in unserer demokratischen Geschichte. Die Ordnung im Lande ist eine juristische. Für die Unordnung sind die anderen verantwortlich. Jahrelang reichte es, eine einzige Generation, die so genannten 68er, dafür haftbar zu machen. Inzwischen hat man neue Schuldige gefunden. Es sind die so genannten Strukturen des Wohlfahrtsstaates und seiner Rechtsverordnungen. Aber auch die Strukturanalytiker sind Akademiker. Sie und ihre journalistischen Schüler besitzen die Interpretationshoheit über die Erstarrungsgründe des Landes. In einem Wort: Die deutschen Bildungsanstalten sind zwar an allem schuld, aber ihre Absolventen können diese Schuld auch erklären. Den Erstsemestern unter ihnen rufe ich zu: Herzlich willkommen an dieser schönen Universität! Vor ihnen liegt das deutsche Bildungsabenteuer, und über seinen Ursprung möchte ich heute sprechen. Alles steht schief in dem ehemaligen globalen Bildungszentrum Deutschland, schief wie der Turm von Pisa: Grundschulen, Haupt- und Real-
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schulen, Oberrealschulen, Gesamtschulen, Gymnasien – das ganze Ausmaß der wieder einmal frisch entdeckten Bildungskatastrophen manifestiert sich in der Blüte von Reformkommissionen, in neuen Hochschulrahmengesetzen und dem ewig stillen Eifer der Kultusministerkonferenz, die alles beschließen könnte, außer ihrer eigenen Abschaffung, denn im Grundgesetz gibt es sie nicht, mithin ist sie ja eigentlich auch nicht vorhanden. Verfassungsrechtlich verkörpert sie die philosophische, parmedianische Grundfrage: „Warum ist nicht nichts, sondern etwas?“ Wollte man alle bildungspolitischen Verbesserungsvorschläge der letzten Jahrzehnte auf dem Boden auslegen, reichten sie aus, um die Kultusministerkonferenz unter einem meterhohen Papierberg zu begraben, was vielleicht keine schlechte Idee wäre. Eine jener vielen Kommissionen, nämlich diejenige „zur Strukturreform der Hamburger Hochschulen“, hat vor fast einem Jahr ihre Blaupause für die Verbesserung der akademischen Ausbildung vorgelegt. Sie sieht die Halbierung des geisteswissenschaftlichen Fächerangebots vor, zum Vorteil der Naturwissenschaften und der Ingenieursstudiengänge. Mehr Geld soll fließen für Nanotechnologie, Wirtschafts-, Rechts- und Biowissenschaften. Luftfahrt- und Transportstudiengänge werden gefördert, ginge es nach den Kommissaren und ihrem ökonomisierten Bildungsideal. Doch ihre Vorschläge, die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer zu fördern, sind so neu nicht. Bildungsreformen in Deutschland sind seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts stets mit dem Abbau der Geisteswissenschaften verbunden gewesen. Die bildungsbürgerliche Vorstellung, dass das alte Deutschland eine Nation von Altphilologen, Germanisten oder Kunsthistorikern gewesen sei, die sich eher nebenbei zur pharmazeutischen und physikalischen „lead nation“ entwickelt habe, ist irrig. Es war in Wirklichkeit – wie die USA und nach 1916 die Sowjetunion – spätestens seit 1900 das Land der Ingenieure, der Physiker, Erfinder und Naturwissenschaftler und ist es zumindest im Bereich der Wirtschaft geblieben, wenngleich die Juristen, wie erwähnt, und die Betriebswirte sich alle Mühe geben, die Führung zu übernehmen. Um die Jahrhundertmitte, jedoch spätestens ab 1890, endete in Deutschland der historische Antagonismus zwischen klassischer und moderner, industriell und naturwissenschaftlich geprägter Bildung. Die erfolgreich nachgeholte industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Land von Grund auf verwandelt. Berlin wurde die größte Industriestadt des Kontinents. Eine gewaltige Schwemme populärnaturwissenschaftlicher Bücher führte die „verspätete Nation“ auch mental an die Produktivität der hoch industrialisierten Briten und Franzosen heran. Kaiser Wilhelm II. rühmte sich, das Promotionsrecht für die technischen Hochschulen (1899) erkämpft zu haben. Die weitere Produktion junger Rö-
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mer und Griechen an den Gymnasien empfahl er nicht. Statt Latein wurde Deutschunterricht die Konstante im wilhelminischen Bildungsgang. Die Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen wurde durch kaiserlichen Erlass vom 26. November 1900 amtlich anerkannt. Deutschland, so sollte der Kaiser elf Jahre später Kasselaner Gymnasiasten zurufen, stellten sich neue Aufgaben, „wir müssen nationalökonomische und finanzielle Kenntnisse uns aneignen, denn es gilt Deutschland seine Stellung in der Welt, besonders auf dem Weltmarkte zu wahren.“ Zu jenem Zeitpunkt hatte die deutsche Stahl-, Pharma-, Maschinenbau- und Rüstungsindustrie den Vorsprung der konkurrierenden europäischen Nationen bereits aufgeholt. Im Zeitalter des akademischen Positivismus stiegen die idealistischen Philosophen, Historiker und Philologen alter Schule auf der nationalen PrestigeSkala auf die mittleren Plätze ab. Nicht die Bildungsbürger, sondern Fabrikanten und Bankiers, Offiziere und Erfinder galten als vorbildliche Deutsche und neben ihnen natürlich die Beamten. Hegels gesammelte Schriften, das deutsche Bildungswerk par excellence, waren bereits Mitte des 19. Jahrhunderts verramscht worden. Eine Wissenschaftsgeschichte, die den ideologischen und politischen Einfluss der technischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Elite auf die unheilvolle Geschichte des Wilhelminismus und Nationalsozialismus vorstellt, existiert erst in Anfängen. Die Rolle der Juristen oder Germanisten ist geklärt. Die Gründe ihres politischen Versagens sind wahrscheinlich nicht ausbildungs- oder berufsspezifisch. Womöglich haben sie auch mit dem früheren Abbau der Geisteswissenschaften zu tun – oder mit deren historischen, gesellschaftlichen und politischen Illusionen im 19. Jahrhundert, die sich in dem komplexen Begriff „Bildung“ ihr Programm gemacht hatten. Deutschland, sagte der Hamburger Kommissionsvorsitzende Klaus von Dohnanyi, müsse begreifen, dass es sich erneuern muss. Deutschland kann aber nichts begreifen, weil Deutschland kein Bewusstsein hat, sondern nur ein schönes Sprachsymbol ist für ein staatliches Territorium, auf dem Menschen leben, die Deutschen eben, die sich verabredet haben, gemeinsam unter einer demokratischen Verfassung zu leben. Die Grundrechte jener Verfassung beruhen auf politischen Erfahrungen, die unsere Vorfahren mit sich selbst und die unsere Nachbarn mit Deutschland im letzten Jahrhundert gemacht haben. Zu den interessantesten Erfahrungen zählt aber der Umgang der Deutschen mit ihrem eigenen Erziehungssystem. Wir sind die einzigen Europäer, die für Erziehung noch ein zweites, im Grunde genommen sehr seltsames Wort geprägt haben: „Bildung“. Es taucht im allgemeinen Sprachgebrauch Ende des 18. Jahrhunderts auf, es war, in den Worten von Moses Mendelssohn, neben „Kultur und Aufklärung
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in unserer Sprache noch Neuankömmling.“ Doch in Wirklichkeit war „Bildung“ ein ehrwürdiges Wort spätmittelalterlicher Mystiker, das sich auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen bezog: Sich Gott anzunähern, war ein Bildungsakt in göttlicher Gnade oder, wie es in einem pietistischen Text heißt: „Wir müssen zerstöret und entbildet werden, auf dass Christus in uns möge formieret, gebildet werden und allein in uns sein.“ Die mystische Herkunft des Begriffs „Bildung“ ist heute vergessen, gleichwohl schimmert er immer noch in der Vehemenz unserer Bildungsdebatten durch und vermag, wie seit 1965, durchaus studentische Massen zu mobilisieren. Das alte Wort „Bildung“ hat immer noch die Sprengkraft einer Erlösungsparole. Erst eine durch und durch gebildete Nation, so die heimliche Hoffnung aller Bildungspolitiker, sei eine glückliche. Und unter einem gebildeten Bürger stellen wir uns heute einen Menschen vor, der die ästhetischen Tröstungen und moralischen Lehren der Künste und Musik, der Dichtung, des Tanzes, des Films oder der Architektur zu schätzen weiß, der fremde Sprachen spricht und liest und der an der Universität oder anderswo mit den Fragen der Philosophie und Theologie in Berührung geraten ist: also einen Menschen, der seine Existenz nicht ganz dem gewidmet hat oder widmen muss, was Karl Marx in einem vulgären Moment einmal die „alte Scheiße des Notwendigen“ genannt hat, nämlich dem Erwerb des materiellen Lebensunterhalts. Diese Form der Bildung wird in Deutschland traditionell in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen und Bibliotheken der Universitäten vorgehalten. Wer sie nicht genossen hat, aber dennoch ein guter Mensch ist, der hat, so will es der Volksmund, ,,Herzensbildung“. Er ist ein Sonntagsmensch und ihm schreiben wir Güte und Humor zu, mag er auch nicht wissen, was ein Algorithmus ist. Wer gebildet ist, so glauben wir, hat auch Kultur. Kultur und Bildung sind zwei Seiten derselben Deutschlandmedaille: Einen kulturlosen Menschen gleichzeitig als gebildet zu bezeichnen, fiele uns schwer, wenngleich er vorkommt. Den Sonderfall jenes Zeitgenossen, der alles weiß und sonst nichts, trifft man nur noch selten, vielleicht, weil man einfach nicht mehr alles wissen kann, weil alles Wissenswerte immer mehr wird. Es ist aber diese Zunahme der Wissensbestände in aller Welt, die unsere Pädagogen und Kultusbeamten so nervös macht, da sie beobachten, dass die Fähigkeiten der Schulen und Universitäten mit den gleichzeitig steigenden beruflichen Ansprüchen der modernen Wissensgesellschaft nicht Schritt halten. Andere Nationen sind offenbar besser in der Lage, ihre Schulen und Universitäten den Anforderungen einer modernen, globalisiert ökonomisierten Welt anzupassen. Woran liegt das? Vielleicht verstehen wir unsere akademische Schwerfälligkeit besser, wenn wir einen Blick auf die Geschichte unseres sehr spezifischen
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Begriffs von „Bildung“ werfen. Ich behaupte, dass unsere gesamte Hochschuldiskussion immer noch geprägt ist vom Abschiedsschmerz: Das alte Bildungsideal des frühen 19. Jahrhunderts ist zwar untergegangen, doch es fehlt uns immer noch. Aber was ist es genau, was uns fehlt? Ich behaupte: Es ist das utopische Versprechen von Freiheit, Ordnung und nationaler Wohlfahrt, das im spezifisch deutschen Wort von „Bildung“ verborgen lag. „Erziehung“ im Geist der Aufklärung galt dem pädagogischen, zweckgerichteten Prozess, „Bildung“ hingegen war mehr, war die Summe aller Erziehung zu einem höheren Zweck. Einer dieser Zwecke war die Nationenbildung. In den Worten des Pädagogen Resewitz ist „der gesittete Mittelstand“ der Träger „des Nationalcharakters“. „Von seiner Bildung“, so schreibt er 1773, „hängt der Zustand des Ganzen ab, und seine Sitten und Denkungsart haben wieder den nächsten und wirksamsten Einfluss auf den großen Haufen.“ Patriotismus, so der feste Glaube, sei ein Bildungsprodukt. In der Geschichte des deutschen Bildungsideals – also jenseits der Anforderungen praktischer Erziehung – war von Anfang an ein Wille zur individuellen und nationalen Überlegenheit beschlossen, und eben dieser Wille zum absoluten Wissen, so behaupte ich, hat die Idee von „Bildung“ selbst unterhöhlt und zugleich den mentalen Sonderweg der Deutschen in die Moderne geprägt, mit einem Nebeneinander akademischer Tüchtigkeit in den technischen Hochschulen und gleichzeitigem akademisch-nationalistischem Stolz im Selbstverständnis führender Geisteswissenschaftler und ihrer Klientel, dem Bildungsbürgertum. Zur besseren Unterscheidung von den Nachbarn entwickelte es die Begriffsdifferenz zwischen Kultur und Zivilisation. Letztere war etwas verächtlich Modernes. Jener Stolz war und ist dem seltsamen historischen, kulturellen und politisch-historischen Erlösungsanspruch der deutschen Bildungselite selbst geschuldet. Denn im deutschen Begriff von „Bildung“ war eine geradezu millenarische Hybris angelegt, die sich im Alltag des 19. Jahrhunderts noch als sozialer Professorendünkel manifestieren konnte. Doch unter dem Druck und den Zwängen der industriellen Modernisierung Deutschlands war die Krise des ursprünglichen deutschen Bildungsideals in ihm selbst angelegt. Er hatte einfach zu viel versprochen: Freiheit, mehr noch: Gottwerdung durch Bildung, durch Kunst und Kultur. Noch immer versteht das Bundesverfassungsgericht Deutschland als „Kulturstaat“. Kein anderes europäisches Land pflegt ein ähnlich höchstrichterlich festgelegtes Selbstverständnis. Es verpflichtet den Staat zur Pflege jenes dichten Netzwerks subventionierter Theater, Museen, Opern und anderer kultureller Institutionen, deren historische Herkunft sich im barocken Begriff der „Kulturhoheit“ der Länder noch widerspiegelt.
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Die modernen Phantomschmerzen der Nation über den Verlust einer kulturell gebildeten wirtschaftlichen und politischen Elite, wie sie zum Beispiel der Berliner Industrielle Rathenau verkörperte, haben ihren Ursprung in einer enttäuschten, utopisch-ästhetischen Hoffnung, dass sich Deutschland über die subjektive Erfahrung künstlerischer Schönheit, statt über die revolutionäre Guillotine oder eine republikanische Verfassung am Ende des 18. Jahrhunderts zur Freiheit hin, zum besten aller möglichen Staaten entwickeln möge. Den Ursprung dieser Hoffnung möchte ich in den nächsten Minuten herausarbeiten. „Bildung“ war einst das erstrangige Symbol im historischen Aufbruch des deutschen Bürgertums zur politischen Existenz in Gesellschaft und Geschichte. Unvergessen war den Bürgern des 19. Jahrhunderts Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“, jene Vision eines teleologisch ablaufenden Bildungs- und Erziehungsfortschritts der Menschheit, die – im Bild eines seiner Zeitgenossen – von einer Schulklasse zur anderen aufrückt, von der Orthodoxie zur Aufklärung, vom Kindergarten zur Matura. Nicht anders Herders Umwandlung des Bildungsbegriffes in etwas Umfassendes: „Bildung“ wurde in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ ein Prozess mit einer Konzeption, „der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen“ und der schließlich zur „Humanität selbst“ führen soll. Lessings Idee des göttlichen Erziehungsplans hatte sich in der eschatologischen Grundstimmung des Idealismus, der Klassik und der Romantik zur intellektuellen Obsession verhärtet. In den Worten Friedrich Schlegels: „Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden, sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.“ Schlegels Behauptung hatte einen klassischen Vorläufer – Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Sie erschienen 1795 in den „Horen“ und sind der Gründungstext für die neuhumanistische Bildung in Deutschland, das Manifest des Kulturbegriffs, der für das 19. Jahrhundert maßgeblich werden wird – und fortlebt im Spannungsverhältnis von Geist und Macht, das nur in Deutschland ein ständiger, wenn auch etwas abgenutzter Topos der politischen Diskussion im Feuilleton geblieben ist. In seinen „Ästhetischen Briefen“ verarbeitet Schiller das Erlebnis der französischen Revolution. Wie beinahe alle deutschen Intellektuellen seiner Zeit steht Schiller unter dem Schock des jakobinischen Terrors. Der Blutrausch in Frankreich führt in der deutschen Intelligenz zu einer fast einhelligen Abwendung von der praktischen Revolution als politischem Gewaltakt, nicht jedoch von ihren Idealen. Frankreich war plötzlich kein kulturelles Vorbild mehr. Für die neue Gesellschaft, für den neuen Staat, geboren aus dem Geist der Vernunft und der Freiheit, sucht Schiller neue Voraussetzungen mit dezi-
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diert antirevolutionären Vorschlägen. Er besteht nicht darauf, das Volk zum politischen Handeln zu bewegen, sondern hofft, den einzelnen Bürger – und die Fürsten – an einen seelischen Punkt zu bringen, an dem sie reif werden für den künftigen Vernunftstaat. Sein politisches Konzept ist dasjenige einer kulturellen Veredelung des Menschen, also ein Bildungsgang sondergleichen. Er setzt auf die ästhetische Erziehung, auf die kathartische Wirkung der Kunsterfahrungen auf eine ganze Nation. Bevor der Mensch aus der latenten oder – wie gerade im revolutionären Frankreich zu beobachten – aus der manifesten Gewaltsamkeit seiner natürlich-sinnlichen Situation in den Stand der Sittlichkeit und der Vernunft eintreten kann, muss er gemäß Schiller einen dritten Zustand durchlaufen. Er liegt zwischen der historischen Lücke, die sich öffnet, wenn die Fesseln des absolutistischen Staats abgeschüttelt werden, aber ein neuer, vernünftiger Staat noch nicht geschaffen ist. In dieser historischen Phase bildet der ästhetische Zustand als Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft eine „Stütze“: „Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt; sie findet sich eben so wenig in seinem sittlichen Charakter, der, nach der Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil er nie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt, und nie mit Sicherheit gerechnet werden könnte. Es käme also darauf an, (…) einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit beiden jenen verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte.“
Die „Ästhetischen Briefe“ enthalten eine scharfe Zeitkritik – nicht nur am revolutionären Frankreich, sondern auch an der banalen, bürokratischen Gegenwart des deutschen Reformabsolutismus. Ähnlich wie Rousseau führt Schiller die Miseren seiner Zeit auf eine Art Selbstentfremdung des Menschen innerhalb der vorgefundenen Kultur zurück. Der Mensch sei gezwungen, ein Doppelleben zu führen: als Individuum und als Gattungswesen, als Privatmensch und als Staatsbürger. Als Überwindung dieses unbekömmlichen Zustands schwebt Schiller ein Heilmittel vor: Die Ausbildung „des Empfindungsvermögens ist also das dringende Bedürfnis der Zeit.“ Sein Vorbild für die Veredelung der naturhaften Rauheit der Deutschen ist die griechische Antike, deren reale politische Verhältnisse, Sklaverei inklusive, ihn nicht sonderlich interessierten. Die griechische Antike habe harmonische, mit sich identische Menschen hervorgebracht. ln den Worten Winckelmanns: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“ Ihre Kunstwerke, so Schiller ein halbes Jahrhundert später, böten anschauli-
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che Beispiele für ein ausgewogenes Verhältnis von Sinnlichkeit und Ideal. Diese Harmonie bezeichnet Schiller als „Schönheit“. An ihr, an den schönen Werken der Antike solle sich, Schiller zufolge, die Empfindungsfähigkeit schulen, solle sich der verstandestrockene Mensch der Gegenwart neu sensibilisieren. „Nun spricht aber die Vernunft: Das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit sein; indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin tut sie auch den Ausspruch: Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Im Spiel, so Schiller, realisieren sich Freiheit und Schönheit. Im Spiel lassen wir uns nicht von sinnlichen Impulsen fortreißen, aber wir schwingen uns auch nicht zum vernunftgeleiteten Beherrscher der Natur auf. Wir lassen den Dingen ihren Raum – und gewinnen dadurch selbst Freiheit. Nichts anderes ist der ästhetische Zustand. Kunstwerke symbolisieren ihn. Er ist auch der Grund für die Autonomie der Kunst. Denn schöne Kunst, das gehört ebenfalls zu den Lehren der idealistischen Ästhetik, ist frei von sinnlich-materiellen Interessen. Modern gesprochen: Sie ist nicht marktfähig. Aber sie ist auch frei von den Ansprüchen der vernünftigen Sittlichkeit. Für die Kunst gelten keine moralischen Normen. Sie ist der Inbegriff der Freiheit – im Reich der Kultur, nicht des Politischen oder des praktischen Alltags. Zu Beginn von Schillers Reflexion war die ästhetische Erziehung noch ein Mittel, um in den Vernunftstaat zu gelangen. Nun ist sie selbst zum Ziel gesellschaftlicher, nicht mehr politischer Existenz geworden. Der ästhetische Zustand ist der ideale, erstrebenswerte für die Menschen. Nur in ihm sind Freiheit und Sinnlichkeit in harmonischer Ausprägung möglich. Im 25. Brief gesteht Schiller den Wechsel seiner Perspektive freimütig ein: „Es kann, mit einem Wort, nicht mehr die Frage sein, wie er [der Mensch] von der Schönheit zur Wahrheit übergehe, die dem Vermögen nach schon in der ersten liegt, sondern wie er von einer gemeinen Wirklichkeit zu einer ästhetischen, wie er von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den Weg sich bahne.“ Genau hier liegt der für Deutschlands Kultur- und Bildungsgeschichte bestimmende Übergang von einer politischen Philosophie zu einer idealistisch-privatistischen Kulturphilosophie. Von einer politischen Inpflichtnahme der Künste ist die Rede nicht mehr. Die Kunst selbst, genauer: Bildung bildet nun das Modell der Freiheit.
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Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung stellt eine folgenreiche Lösung des Problems dar, wie das Scheitern der französischen Revolution einzugestehen war, ohne die mit ihr verbundene Utopie zu verraten. Die Kultur – nun verstanden als ästhetische Kultur – enthält noch immer genügend subversive Potenziale. Sie ist das Synonym für eine private Freiheit, die in der praktischen Politik der Zeit nicht mehr zu erringen war. Die Kultur ist fortan der Hort der individuellen Freiheit, der Selbstverwirklichung des Einzelnen, der – mit Thomas Mann gesprochen – „machtgeschützten Innerlichkeit“. In ihr residiert der gebildete Mensch. Die Hoffnung, über ästhetische Bildung frei zu werden, schien das unsterbliche Geschenk Winckelmanns, Goethes und Schillers, Humboldts, Fichtes, Schellings und Hegels an das deutsche Bürgertum zu sein, das die „Perfektibilität der Menschheit“ an sich selbst, als gebildetem, auf den Begriff brachte. Für Wilhelm von Humboldt hieß „den Menschen zu bilden“, „sie nicht zu äußeren Zwecken zu erziehen.“ 1810 fordert er, „die Bildung der Bürger bis dahin zu erhöhen, dass sie alle Triebfedern zur Beförderung des Zwecks des Staats allein in der Idee des Nutzens finden, welche ihnen die Staatseinrichtung zur Erreichung ihrer individuellen Absichten gewährt.“ Anders gesagt: Der Staat ist gefordert als Ermöglicher allgemeiner gesellschaftlicher Bildung, dies ist sein höchster Zweck. Der vielfach postulierte Fortschritt der Geschichte vom Naturstaat über den Polizeistaat zum vernünftigen Staat schien ein unaufhaltsamer „Bildungsgang der Menschheit“ (Friedrich Theodor Vischer) und seine Avantgarde ist der deutsche Bildungsbürger. Ihren radikalsten Ausdruck fand dies in Fichtes „Reden an die deutsche Nation“: „Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden.“ „Die neue Bildung der Nation als solcher“, schwebt Fichte vor, „in welcher in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschiede der Stände (...) vollkommen aufgehoben sei und verschwinde, und dass auf diese Weise unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche Nationalerziehung“ entstehe – an ihr sollte sich jedoch auch „die Verbesserung und Umschaffung des gesamten Menschengeschlechts zuerst in der Welt“ anschließen. Weder Frankreichs Philosophen noch die Revolutionäre Amerikas waren der Ansicht, dass politische Freiheit ein Produkt der ästhetischen Erziehung und von Bildung sei. Man sah das pragmatischer: Herrschaftsteilung, Machtkontrolle, Meinungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz galten als die Eckpfeiler einer freien Gesellschaft. Nur in Deutschland sollte sich der Gedanke durchsetzen, dass wahre Freiheit eine Freiheit des Herzens, des Wissens, der ästhetischen Empfindsamkeit sei. Die Verknüpfung dieses Bil-
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dungsbegriffs mit der eschatologischen Grundstimmung des deutschen Idealismus macht seinen besonderen Charakter aus: Er hat auch seine eigene Säkularisierung im späteren 19. Jahrhundert überstanden. „Bildung“, so hatte ich gesagt, hat nicht nur als idealistischpädagogischer oder geschichtsphilosophischer Begriff, sondern zuerst einmal als religiöses Symbol der Imago-dei-Lehre seinen angestammten Ort in der deutschen Geistesgeschichte. Seit dem 14. Jahrhundert tauchte „bildunge“ im Wortschatz deutscher Mystiker als Symbol der Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf. So, wie Meister Eckhart nach der Versenkung in das Mysterium menschlicher Gottesebenbildlichkeit zur Erklärung seiner mystischen Erfahrung des Heiligen Neologismen formt, wie „ein inbilden“, „in sich bilden“, „überbilden“, „widerbilden“, so gerät ihm die unio mystica zum großgeschriebenen Bildungserlebnis. An der äußersten Grenze der Meditation stößt Eckhart, von menschlicher Gottesebenbildlichkeit bewegt, zur Erfahrung der Selbst-Vergottung vor: „Swenne der Geist haftet an gote mit ganzer einunge des willen, so wirt er vergotet.“ Das heimliche Zentrum späterer deutscher Bildungsideale, die sich allerdings von göttlicher Gnade – conditio sine qua non christlicher Mystik – zu lösen weiß, war damit benannt: Die Vergöttlichung des Menschen, ein noch von Wilhelm von Humboldt offen ausgesprochenes Geheimnis, der in einem Brief schreibt: „Ich fühle nun, dass ich auf eine Einheit getrieben werde (...) Diese Einheit Gott zu nennen, finde ich abgeschmackt, weil man sie so ganz unnützerweise aus sich hinauswirft. Diese Einheit ist die Menschheit, und die Menschheit ist nichts anderes als ich selbst.“ Es ist müßig, derlei unfassbares Selbstbewusstsein aus der Sicht zeitgenössischer philosophischer oder pädagogischer Selbstbescheidung zu beurteilen. Vielmehr gehört es zur akademischen, philosophischen Wirklichkeit jener Jahre, da neue Universitäten aus dem Boden schossen und die Alphabetisierung im ganzen Lande unerhörte Fortschritte machte. Fest steht jedenfalls, dass Jakob Böhme und seine theosophische Bildungslehre als philosophus teutonicus und Vermittler jener mittelalterlichen Bildungsmystik zur Pflichtlektüre der Tübinger Stiftschüler, also auch Hegels zählte. Die religiösen Konnotationen des Bildungsbegriffes waren den Zeitgenossen Humboldts sehr bewusst. Hegels Leistung war es schließlich, „Bildung“ und „Staat“ in eine dialektische Beziehung zu setzen. Das Schillersche Bildungsideal wurde, wie wir heute sagen würden, politisiert. Politische Funktion von Bildung sei es fortan, in den Worten von Hegels „Rechtsphilosophie“, den subjektiven Willen des Einzelnen in jene Objektivität zu verwandeln, die er die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ nennt – also den Staat.
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„Die Bildung ist in ihrer absoluten Bestimmung, die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, der absolute Durchgangspunkt zu der zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substanzialität der Sittlichkeit (...) Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, den subjektiven Willen in jene Objektivität zu verwandeln, die seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“
Anders gesagt: „Bildung“ symbolisiert in dieser dunklen Sprache des deutschen Staatsphilosophen zu Berlin den Prozess der bewussten Selbstbefreiung des in sich selbst gefangenen, dumpfen Individuums zum Staatsbürger. Der philosophierende Staatsbürger Hegel, der die Wissensbestände der Geschichte in sich aufgesogen hat und zum absoluten Wissen vorgedrungen ist, ist der ideale Staatsbürger, der in einer Gesellschaft der Gebildeten – also in der höchsten Utopie der Gleichheit aller Menschen – sich bereit erklärt, dem Staat zu dienen. Entsprechend ernsthaft ist die Ermahnung des Professors an die Lehrer im Lande: „Dem Lehrerstande ist der Schatz der Bildung anvertraut (...) Der Lehrer hat sich als den Bewahrer und Priester dieses heiligen Lichtes zu betrachten.“ „Bildung“ verwandelt sich so zum spekulativen Kern einer idealistischen theologia civilis, die eine freiheitliche Versöhnung von Subjekt und Objekt, von Individuum und Staat feiert. Ihre praktische Ausbildung lautet dementsprechend freiwilliger Gehorsam, Liebe zum Staatsdienst, Hingabe ans Ganze. Die Künste, bei Schiller noch Hinblick glücklicher Existenz, sind überwunden, sind – mitsamt den Griechen – historische Vorstufe in der Emanzipation der Menschheit zum absoluten Wissen, das im preußischen Staat politische Realität wird. Er ist, anders gesagt, das Endprodukt menschlicher Bildung. Die deutsche Revolution des Geistes, deren kantianisches Ziel die Abschaffung von Herrschaft war, entfaltet sich in Hegels Bildungstheorie zur Legitimation von Herrschaft schlechthin. Deren Fortbestand sichert das gebildete Individuum kraft seiner vernünftigen Einsicht in die bürgerliche Pflicht, in die es selbst sich stellt: Mitglied des Staates zu sein. Ohne Rückgriff auf Hegel, aber in voller Übereinstimmung mit seiner Lehre, konnte so der Bildungsbürger par excellence des 19. Jahrhunderts, Friedrich Theodor Vischer, als Reutlinger Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung zurufen: „Der Staat ist religiöser geworden als die Religion, und diesem Staate gehört die Schule. Es kommt darauf an, dass wir vor allem die Lehrer frei machen; wir müssen ihnen Ehre und Würde geben. Die Zeit wird kommen, wo die wahre, menschliche, sittlich-politische Religion eins ist mit dem Staate und mit der Schule.“ Der hegelianische Philosoph empfand die Revolution seiner Zeit als Bildungsereignis: „Die übersatte Bildung der deutschen Nation drängte endlich mit Macht nach außen und
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pochte an das Tor der Wirklichkeit.“ Ein Vierteljahrhundert später, im „Hoch und Hurra!“ der deutschen Sedan-Stimmung summiert der ehedem revolutionäre 1848er Vischer den ziviltheologischen Zusammenhang von Bildung und Gehorsam, der auch nach 1870/71 anerkannt war: „Der straffe Befehl kann nicht alles bestimmen, er lässt notwendig der eigenen Einsicht der Gehorchenden ihren Spielraum. In diese Lücke tritt der geistige Einschlag, mit dem die Masse unserer Bürger durchschossen war, die in der höheren Schulbildung gereifte Intelligenz, die mit der Klarheit der Auffassung den Winken der Führer entgegenkam, und auch dies ist noch nicht alles: In der Kriegszucht und Willigkeit der Massen selbst hat Deutschland die Früchte seiner Volksschule geerntet.“
Die Selbstverständlichkeit, mit der sich das deutsche Bildungsbürgertum dem Macht- und Herrschaftsanspruch Preußens nach 1871 beugte, wäre undenkbar ohne jene „Vorarbeit“ des Idealismus, der zwischen Staat und Subjekt die Legitimationsleistung eines besonderen, in der restlichen Welt einmaligen Bildungstheorems ausbreitet. Es glänzt in der Annahme eines absoluten Geistes, der in der Bildungsgeschichte des Einzelnen zu sich selbst kommt, d. h., sich bildet und – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ – den Staat realisiert. An die Stelle Gottes im Sinne Meister Eckharts ist der neue Gott getreten: der Staat. Anders gesagt: Dem deutschen Idealismus ist der Staat das objektive, göttliche, auf alle Fälle aber sittliche deutsche Bildungsprodukt. Als 1914 Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“ dem expansiven Anspruch nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des deutschen Geistes territoriale Realität verschaffen wollte, konnte der Berliner Universitätsprofessor Adolf Lasson, von „Deutscher Art und Bildung“ redend, die Feinde auffordern: „Macht uns doch erst den deutschen Volksschullehrer nach, den deutschen Oberlehrer, den deutschen Akademieprofessor!“ Ihre Unnachahmlichkeit war es natürlich, die viele dieser Repräsentanten deutscher Bildung ein Jahrhundert lang auf je eigene Weise behauptet hatten. Auf dem Gipfel der Geschichte stand eine deutsche Universität, stand ihr Absolvent, der Bildungsbürger. Selbst das olympische Selbstbewusstsein der deutschen Ordinarien-Universität, das noch in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu bestaunen war, war ein fernes Echo dieser Entwicklung. Doch seine gesellschaftliche Haltlosigkeit kündigte sich mit der verspäteten Industrialisierung Deutschlands an, da die geisteswissenschaftlichen Fakultäten in den Schatten der wilhelminischen Aufbruchs- und positivistischen Fortschrittsstimmung gerieten. Dort ist der klassische Bildungsbegriff, seines idealistischen Inhalts entleert, untergegangen: Nun lebt er als Worthülse fort, die von Jahr zu Jahr mit neuen Kommissionsvorschlägen gefüllt werden soll. Bildungspolitik ist längst Ausdruck eines föderalistischen Wettbewerbs geworden, in dem sozialpolitische Hoffnungen, pädagogische Traditionen
“Bildung” – eine deutsche Utopie
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und Experimente sich mit gewerkschaftlich organisierten Interessen und ökonomischen Sachzwängen verschränkt haben zu einem Krisenknäuel ungeahnten Ausmaßes. Einige kaum noch wieder gutzumachende Niederlagen dieses Wettbewerbs sind bekannt: Die musischen Unterrichtsfächer gehören zu den großen Verlierern der ökonomisierten Erziehungsdebatte. Der Unterricht in den klassischen Fächern Latein und Griechisch ist das Privileg weniger Oberschüler. Im deutschen Sprachgebrauch verbanden sich die Begriffe „Kultur“ und „Bildung“ oft genug mit politischen Hoffnungen, nationalistischem Größenwahn und übersteigertem Selbstwertgefühl. Kein Staat hat sich in seiner Geschichte so nachdrücklich und so oft auf seine Kultur berufen, sie dermaßen überhöht und idealisiert und zugleich malträtiert wie Deutschland. Bereits erwähnt habe ich die historische Verspätung einheitlicher, nationaler Staatlichkeit, seiner verzögert entwickelten modernen Wirtschaft und die geistigen Auswirkungen dieser Verspätung auf die Gesellschaft. Einer ihrer Konsequenzen war der deutsche Wille zu europäischer Besonderheit, aus dem sich schließlich das Gefühl einer nationalen Überlegenheit entwickelte. Der deutsche Sonderweg, jenes eigentümliche, von England, Frankreich oder den USA so sorgsam unterschiedene Identitätsgefühl, das andere Verständnis von Nationalstaatsbildung und davon, wie die technisch-wissenschaftliche Modernisierung zu bewältigen sei, dieser Sonderweg verlief in den Spuren und Sprachen der Kultur. Ich fasse zusammen: Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung war ein Programm zur Sicherung individueller Freiheit. Für ihn symbolisierte Kultur die Rettung spontaner, privater Sinnlichkeit und die Abweisung von politischen Machtansprüchen anderer. Schiller entdeckte in der Kunst ihr anarchisches Potenzial. Hegel hingegen verwandelt seinen idealen Bürger kraft seiner Bildungstheorie zum Subjekt des modernen Staates. Bildung und Kultur erhalten eine klar umrissene soziale Funktion. Sie stehen im Dienst allgemeiner Vernünftigkeit. Er ist damit der Vater eines soziologischen Kulturbegriffs, der dem Kulturellen eine gesellschaftliche Integrationsleistung abverlangt, die Sicherung des Langzeitgedächtnisses der Gesellschaft zum Beispiel, der aber auch ein Podium zur Lösung von kollektiven Konflikten bietet. Seine Idee des Kulturstaates ruhte auf den Säulen des christlichen Glaubens und der klassischen Bildung und des politisch-militärischen Führungsanspruchs Preußens. Im 19. Jahrhundert gelang es lange Zeit, beide Aspekte, Gesellschaftlichkeit und Privatheit des Kulturellen, zu verknüpfen. Die gesellschaftliche Schicht, die diese Synthese zunächst ermöglichte, war das Bildungsbürgertum. Spätestens in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zerbricht die bil-
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Michael Naumann
dungsbürgerliche Harmonie zwischen Individualität und Kulturstaatlichkeit in der entwickelten Moderne geradezu explosionsartig. Kultur wird gänzlich gleichbedeutend mit historischer und ästhetischer Bildung. Sie hat mit Technik und Wirtschaft nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Es überwiegt wieder die Schillersche Vorstellung vom edlen, schöpferischen Individuum als Bildungszweck. Der zeitgenössische Pessimismus der deutschen Kultur- und Bildungskritik entspringt dem monumentalen Anspruch des Idealismus, in Bildung und Kultur den deutschen Weg zur vernünftigen Ordnung des Staates entdeckt zu haben. An seiner eigenen Überheblichkeit ist er schon im 19. Jahrhundert steril geworden, doch seine spezifische, gleichsam revolutionäre und originelle Substanz lebt fort in der deutschen Kultur- und Bildungsdebatte. Dass sie immer noch mit unvergleichlich heftiger Inbrunst geführt wird, lässt sich aus ihrem ursprünglichen Plan erklären, entweder die ganze Welt zu erlösen oder doch dem einzelnen Menschen zumindest in seiner Innerlichkeit das Glück zu verschaffen, das die amerikanische Unabhängigkeitserklärung im Politischen zu verankern suchte. Unsere Bildungsdebatten sind insofern deutsche kulturelle und historisch undurchsichtige Verfassungsdebatten, und da wir uns in Deutschland keine besseren gesellschaftlichen Diskussionsgrundlagen vorstellen können als großvolumige politische, kulturelle oder wirtschaftliche Katastrophen und die Suche nach ihren Schuldigen, werden sie uns weiter begleiten, solange es die Bundesrepublik gibt. Es wird allerdings Zeit, dass wir uns daran erinnern, dass ihr Ursprung in jener Zeit zu suchen ist, da, ausgehend auch von dieser Universität, der Anspruch, mit Bildung gottgleich zu werden, seinen Weg nahm, bis er in der sprichwörtlichen Katastrophe endete.
Parallelvorträge
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung – Ergebnisse der LifE-Studie1 Helmut Fend
1
Von der Biographie zum Generationenschicksal
Wenn im Folgenden von Bildungserfahrungen und Lebensbewältigung die Rede ist, dann stehen nicht individuelle Biographien und inhaltsbezogene kulturelle Prägungen im Vordergrund, sondern die Biographien einer Generation. Die Grundlage dafür bilden die Lebensläufe von 1527 Personen der Jahrgänge 1966 und 1967, die vom 12. bis zum 35. Lebensjahr begleitet werden konnten. Die Biographien dieser Generation werden danach befragt, wie bedeutsam deren schulische Laufbahn und deren Verhältnis zu schulischen Anforderungen für die Lebensbewältigung waren. Konkret wurden ca. 2000 12-Jährige, die 1979 in ländlichen und großstädtischen Kontexten in die 6. Klasse gingen, bis zum 10. Schuljahr jährlich untersucht und zwanzig Jahre später wieder befragt. Die Besonderheit der LifE-Studie („Lebensverläufe ins frühe Erwachsenenalter“) liegt im Vergleich zu anderen Untersuchungen (Grossmann 1985; Helmke/Weinert 1989; Largo 1987; Meulemann 1995; Roeder/Schnabel 1995; Schneewind/Ruppert 1995) in der Breite der Stichprobe und in der umfassenden Berücksichtigung von verschiedenen Entwicklungsbereichen und Entwicklungskontexten. Sie ermöglicht es, die Lebensläufe von Kindern und Jugendlichen aus allen Schulformen in einem städtischen und ländlichen Soziotop zu analysieren. Dabei werden die wichtigsten Lebensbereiche berücksichtigt, in denen sich Menschen bewähren müssen.
1
Diese Studie beruht auf einem gemeinsamen Projekt der Universitäten Zürich und Konstanz. Die Autoren sind Helmut Fend, Werner Georg, Wolfgang Lauterbach, Fred Berger und Urs Grob.
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Helmut Fend Der Zusammenhang von Bildungserfahrungen und Lebensbewältigung
Die Analysen der Adoleszenzstudie (Fend 1990; 1991; 1994; 1997; 1998) hat bei allen Entwicklungslinien jugendlichen Verhaltens die Frage aufgeworfen, welche Langzeitwirkungen mit ihnen verbunden sind. Hier soll diese Frage auf die Analyse der Langzeitfolgen von Bildungserfahrungen zugespitzt werden.
2.1 Bildungserfahrungen Es geht um eine einfache, aber bildungspolitisch intensiv diskutierte Frage: Welche Bedeutung für die weitere Lebensgeschichte bis zum 35./36. Lebensjahr hat der Sachverhalt, vom 6. bis zum 10. Schuljahr im Erfahrungskontext von Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien gewesen zu sein? Sind mit den unterschiedlichen Schulformen Bildungserfahrungen verbunden, die den gesamten Lebenslauf und ein großes Spektrum von Lebenschancen prägen? Was bedeuten diese Platzierungen lebensgeschichtlich? Zugehörigkeiten zu Schulformen sind einmal ein proxy für den Erfolg im Bildungswesen. Wenn der Anspruch eines meritokratischen Bildungswesens eingelöst ist, dann entsprechen diesen Platzierungen unterschiedliche intellektuelle Leistungsniveaus und Kulturen. In Vorwegnahme verschiedener künftiger Anforderungen im Beruf und im sozialen Verkehr müssten den Schulformen auch Differenzen in Wertkulturen entsprechen, die mit den Herkünften und den Zukünften korrespondieren. Baumert spricht mit Blick auf diese Unterschiede von unterschiedlichen Entwicklungsmilieus (Baumert et al. 2002).
2.2 Konzepte der produktiven Lebensbewältigung Lebensbewältigung schließt mehr ein als erfolgreiche schulische und berufliche Lebenswege. Sie umfasst Merkmale der personalen, sozialen, beruflichen und gesundheitlichen Entwicklung. Wenn wir von „produktiver Lebensbewältigung“ sprechen, dann mischen sich unvermeidbar normative Vorstellungen über gelungene Adaptationen im Erwachsenenalter ein. Für „Erfolg“ soll hier eine pragmatische Definition vorgeschlagen werden: „Successful functioning in adulthood is marked by internalization of societal norms, economic independence, formation of viable family units, and acceptance of responsibility for others as well as for oneself.“ (Zahn-Waxler 1996, S. 57) Auf subjektiver Ebene kommt eine erfolgreiche Lebensbewältigung im Bewusstsein (1) von Erfolgen und der Sinnhaftigkeit des Lebens, (2) von sozialer Zuge-
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
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hörigkeit und sozialer Teilhabe sowie (3) von Glück, Zufriedenheit und Identität zum Ausdruck. Diese subjektiven Einschätzungen umfassen gelungene Beziehungen zu sich selbst (Autonomie und Selbstwirksamkeit bzw. Selbstwert), zur sozialen Umwelt (Zugehörigkeit und Verantwortung) und zu beruflichen Anforderungen (Leistung und Können). Für die Frage der Bildungswirkungen interessieren vor allem Effekte in jenen Lebensbereichen, auf die die Schule gezielt vorbereitet und die ihr eigentliches „Kerngeschäft“ berühren (domain-specific effects). Dazu gehören die Vorbereitung auf einen Beruf, die Entwicklung von Arbeitsmotivation und die Schaffung der Grundlagen für eine finanziell selbstständige Lebensführung. Den Indikatoren solcher Bildungswirkungen auf der Handlungsebene entsprechen solche auf der Persönlichkeitsebene, insbesondere jene der Arbeitsmotivation und der Berufszufriedenheit. Außerdem gehört es zum Kerngeschäft der Schule, in die kulturelle Teilhabe am Leben einer Gesellschaft einzuführen. Dem Bildungswesen sind aber viele andere Aufgaben zugewachsen, die über diese Wirkungsfelder hinausgehen und deshalb „cross-domain effects“ genannt werden. Sie beziehen sich auf die sozialen Lebensläufe, auf Indikatoren der sozialen Bindung und auf physische bzw. psychische Gesundheit. An diesen Indikatoren orientiert sich im Folgenden die Untersuchung der Langzeitwirkungen von Bildungserfahrungen.
3
Die Datenlage
Die Grundlage der LifE-Studie bildet die Konstanzer Jugendlängsschnittsuntersuchung „Entwicklung im Jugendalter“, an der von 1979 bis 1983 jährlich etwa 2000 Kinder und Jugendliche aus Frankfurt und aus zwei ländlichen Regionen in Hessen teilnahmen (Kreis Bergstraße und Odenwald)2. Die Jugendlichen wurden von der 6. bis zur 10. Schulstufe in ihren Klassenverbänden getestet. Neben der Hauptuntersuchung fanden zwei große Elternuntersuchungen, drei Erhebungen bei Lehrkräften und mehrere qualitative Studien statt. Insgesamt beteiligten sich gegen 3000 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schultypen (ohne Sonderschulen) an mindestens einer der fünf Erhebungen. 851 Jugendliche nahmen zu allen fünf Messzeitpunkten teil (s. Abb. 1).
2
Durchführung im Sonderforschungsbereich 23 der Universität Konstanz unter der Leitung von Helmut Fend; finanzielle Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft von 1976 bis 1988.
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Helmut Fend
Abbildung 1:
Design der Studie „Entwicklung im Jugendalter“3
Das Lebenslauf-Inventar umfasste 21 Seiten und enthielt eine Reihe sehr persönlicher Fragen. Trotz dieser Anforderungen an die Befragten konnte durch das komplexe Design eine Ausschöpfungsquote von 82,4% erzielt werden. 1527 Personen nahmen nach der langen Unterbrechung erneut an der Untersuchung teil. Tab. 1 enthält die Zusammensetzung der Stichprobe der Wiederbefragung, aufgegliedert nach Schulniveau, Geschlecht und Stadt-Land-Kontext. Die Stichprobe blieb aber, wie zu erwarten war, nicht von einer gewissen Selektion verschont. Daran konnten auch die große Bereitschaft der Eltern zur Weitergabe der Adresse und die hohe Beteiligung der Probanden in der Fragebogenstudie nur bedingt etwas ändern. Die leichte Verzerrung in der Stichprobe ist sowohl durch Verweigerungen (non-response) als auch wesentlich durch die 3
Die Zahlen geben den kompletten Stichprobenumfang pro Jahr an. * Davon 128 Schulabgänger/Berufsanfänger (in der Regel Lehrlinge); 112 Abgänger in Schulen (in der Regel Berufsfachschulen); 1550 Real-, Gymnasial- und Gesamtschüler.
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
35
Schwierigkeit entstanden, die Versuchspersonen nach der langen Zeit wieder aufzufinden (non-coverage)4.
Hauptschule
Realschule
Gymnasium
Integrierte Gesamtschule Spaltentotal:
Frauen Stadt n=26° 11.3%* (20.6%) n=71 30.7% (25.6%) n=58 25.1% (17.1%) n=76 32.9% (36.7%) n=231°; 100%
Frauen Land n=71 14.0% (19.4%) n=141 27.9% (26.2%) n=137 27.1% (24.2%) n=157 31.0% (30.2%) n=506; 100%
Männer Stadt n=46 17.0% (22.4%) n=45 16.7% (18.7%) n=64 23.7% (18.2%) n=115 42.6% (40.6%) n=270; 100%
Männer Land n=105 20.3% (24.8%) n=132 25.5% (24.8%) n=135 26.1% (21.5%) n=145 28.0% (28.8%) n=517; 100%
Tabelle 1: Zusammensetzung der Stichprobe der Wiederbefragung im Vergleich zur Stichprobe des Jugendlängsschnitts bezüglich des Schulniveaus Anmerkungen: ° Anzahl der Fälle aus der LifE-Studie (N=1.527) mit entsprechender Merkmalskombination; * Spaltenprozente bezogen auf die LifE-Studie (N=1527); ( ) Spaltenprozente bezogen auf die Grundgesamtheit aller mindestens einmal an der Jugendstudie beteiligten Personen (N=2892); Anzahl fehlender Werte bezogen auf die dargestellte Merkmalskombination. Wiederbefragung: 3 von 1527 (0,2%) bzw. 6 von 2892 (0,3%) in Jugendlängsschnitt.
4
In der Gruppe der Wiederbefragten befinden sich im Vergleich zur Jugendstudie z. B. weniger Personen, die im Jugendalter in der Stadt aufgewachsen sind (Chi2 = 29.06, df = 1, p 0.001) und eine geringe Schulbildung besitzen (Chi2 = 42.50, df = 3, p 0.001). Frauen und Männer sind in der Stichprobe hingegen gemäß ihrem Anteil in der Jugendstudie vertreten (Chi2 = 0.01, df = 1, n. s.). Demographisch gehört die Kohorte den geburtenstarken Jahrgängen 1966 und 1967 an. Sie verließen die Schule zudem in einer Zeit der abflachenden Bildungsexpansion, die – gemessen am Anteil von 14-Jährigen in Gymnasien – von 1982 bis 2000 nur von ca. 25% auf 28% gestiegen ist (Baumert et al. 2003, S. 72 ff.).
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Helmut Fend Ergebnisse: Prognosen und Lebensschicksale
4.1 Domain-spezifische Effekte: Beruf und Bildung Eine erste Präzisierung von relevanten Lebensgeschichten liegt auf der Hand, wenn wir nach Abschluss der Pflichtschulzeit in der 9. Schulstufe nach den erreichten Bildungsabschlüssen, der erreichten Berufsausbildung und den Stationen der beruflichen Laufbahn (erster Ausbildungsberuf, erster auskömmlicher Beruf, letzter Ausbildungsberuf, Geschichte der Arbeitslosigkeit) fragen.
4.1.1 Bildungsabschlüsse und Berufsausbildungen Wie festgelegt sind die Kinder in verschiedenen Schulformen? Welche Abschlüsse erzielen sie tatsächlich? In der bildungspolitischen Diskussion wird in der Regel von einer starken Determination ausgegangen. Abb. 2 zeigt die Ergebnisse: 30% der Hauptschüler kommen über den Hauptschulabschluss und 30% der Realschüler über die Mittlere Reife hinaus; 25% der Gymnasiasten schließen nicht mit dem Abitur ab.
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
Abbildung 2:
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Schulabschlüsse nach Schulformzugehörigkeit im 9. Schuljahr
Die geschlechtsspezifische Variation ist aufschlussreich: Jungen in Hauptschulen bleiben zu 75% im Sinne der Übereinstimmung von Schulform und Schulabschluss stabil; Mädchen in Realschulen bleiben zu 80% stabil. Aus Realschulen schaffen 10% der Mädchen und 13% der Jungen noch das Abitur. Markant ist der Aufstieg der Jungen aus der Realschule zur Fachhochschulreife (23%). In der Summe zeigt sich von der Schulformzugehörigkeit im 9. Schuljahr bis zum jeweiligen Schulabschluss noch viel Bewegung. Auf einen Nenner gebracht, kommen ca. 25% der Schülerinnen und Schüler zu anderen Abschlüssen als zu jenen, welche die Schulformen, in denen sie sich im 9. Schuljahr befinden, eigentlich vorgeben. Damit lösen sich dank institutioneller Wahlmöglichkeiten (Anschlüsse an Abschlüsse) die Bindungen der Abschlüsse an Schulformen für große Schülergruppen auf.
4.1.1.1
Wege in die Berufsausbildung
Zu welchen Berufsabschlüssen finden in der Folge die Schulabgänger mit verschiedenen Abschlüssen aus allgemeinbildenden Schulen? Abb. 3 zeigt, dass die Bindung der Berufsausbildung an die Abschlüsse mit der Höhe der Schulabschlüsse steigt. Wege in die Fachhochschule sind vergleichsweise offener. Die einzelnen Wege sind sehr aufschlussreich. So ist der Weg vom Abitur zum Hochschulabschluss nicht geschlechtsneutral: Nur 24% der Mädchen, die wir in der 9. Schulstufe in den Gymnasien angetroffen hatten, erwerben einen Hochschulabschluss, mehr (über 31%) eine kaufmännische Lehre. Bei den Jungen sieht dies anders aus: 35% kommen zum Hochschulabschluss, und nur 11% absolvieren eine Lehre im kaufmännischen Bereich. Die Koppelung von Berufsausbildungen an die Schulformzugehörigkeit im 9. Schuljahr hat sich damit noch stärker auf-
38
Helmut Fend
gelöst als jene zwischen Schulformzugehörigkeit und Schulabschluss. Insgesamt kann hier die Feststellung von Baumert et al. (2003) bestätigt werden, dass sich Schulformzugehörigkeiten und weitere Bildungs- bzw. Berufsausbildungen zunehmend entkoppeln, aber nicht auflösen.
Abbildung 3:
Berufsausbildungen nach Schulabschlüssen
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung 4.1.1.2
39
Wege von den Schulformen zu Berufspositionen
Wenngleich sich klare Zusammenhänge zwischen der Schulformzugehörigkeit und den Berufspositionen im Alter von 35 Jahren – gemessen mit dem Schema der Berufsgruppierung nach Goldthorpe (2000) – beobachten lassen, ist ebenso unübersehbar, dass der Geschlechtsunterschied jetzt noch stärker in den Vordergrund tritt. Die Jungen, die wir 1982 untersucht haben, sind im Jahre 2002 deutlich weiter gekommen als die Mädchen. In der obersten Berufsgruppe sind nun dreimal mehr Männer vertreten als Frauen. Besonders auffallend ist der geringe Aufstieg der Gymnasialmädchen in die oberste Dienstklasse, in der sie dreimal weniger vertreten sind als Jungen. Beim Abitur hatten sie die Jungen noch übertroffen.
Abbildung 4:
Wege von der Schulformzugehörigkeit in den Beruf
40 4.1.1.3
Helmut Fend Schul- und Berufskarrieren von Mädchen in Gymnasien: ein Prädiktionsversuch
Ein Hauptergebnis besteht darin, dass Ausbildungswege weniger an Schulformen gekoppelt sind, als in der bildungspolitischen Diskussion häufig unterstellt wird. Damit tritt die Frage in den Vordergrund, wer innerhalb einer Schulform welche Ausbildungswege einschlägt. Welche Prägungen innerhalb einer Schulform führen dazu, dass die einen zielstrebig die höchsten Möglichkeiten anstreben, während andere im Normalverlauf bleiben? Dieser Frage kann für alle Schulformen und für Jungen und Mädchen getrennt nachgegangen werden. Beispielhaft soll dabei auf eine Gruppe eingegangen werden, die in der Bildungsgeschichte der letzten Jahrzehnte eine auffallende Karriere zu verzeichnen hat: die Mädchen in Gymnasien. Wir kennen aus der Sozialstatistik der letzten Jahrzehnte ihren rasanten Aufstieg, ihren historisch einmaligen Zugewinn an Bildungschancen. Nach den Daten der LifE-Studie gelangen von diesen Mädchen aber nur 25% zu einem Abschluss an einer Hochschule. Dies provoziert die Frage, wer diesen langen Weg geht und wer nicht. Es stellt sich also die Frage nach der Binnenvarianz von Lebensläufen innerhalb der gymnasialen Mädchengruppe. Bei der Suche nach einer Antwort wurde von folgenden Überlegungen ausgegangen: Als primär bedeutsam könnten sich kognitive Leistungsfaktoren ergeben. Es wagen diejenigen viel, die eine solide Basis an kognitiven Fähigkeiten haben. Zwei Indikatoren helfen, dies zu indizieren: zum einen die Noten in den Hauptfächern und zum anderen die in einem kurzen Test gemessene verbale Intelligenz (17 Items, Cronbach Alpha = .78). Mädchen sind aber auch, so hat sich in früheren Untersuchungen gezeigt, leistungsbereiter und persistenter als viele Jungen. Wie bedeutsam sind also Faktoren der Motivation für die weitere Schullaufbahn? Waren die Mädchen in der Adoleszenzstudie zwar leistungsbereiter, so waren sie gleichzeitig auch weniger selbstbewusst als die Jungen, selbst bei gleichen Leistungen (Skala Leistungsbereitschaft und Hausaufgaben, Beispiel-Item: „Wie sehr strengst du dich für die Schule an?“, 4 Items, Cronbach Alpha = .80). Ist dies ein Faktor für die weitere Schullaufbahn? Ihn haben wir deshalb in den nächsten Schritt der Analyse einbezogen und als leistungsbezogenes Selbstvertrauen operationalisiert (Globalskala aus dem Selbstkonzept der Begabung, dem Kompetenzbewusstsein bei Lehrern und Schulerfolg, geringer schulischer Leistungsangst und hoher Zukunftskompetenz, Cronbach Alpha: .71). Schließlich muss die bekannteste Determinante berücksichtigt werden, die die Schullaufbahn im Gymnasium nach dem 9. Schuljahr leiten könnte: die soziale Herkunft als Indikator für das außerschulische Coaching. Zwar ist bekannt,
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
41
dass die Schulleistungen innerhalb der Gymnasien von der sozialen Herkunft weitgehend entkoppelt sind. Sie könnte aber bei strategischen Entscheidungen für die weitere Laufbahn wichtig werden. Die Auswertungen wurden auf zweifache Weise aufbereitet. In einer einfachen Auszählung wurden jene Mädchen zusammengefasst, die einen tertiären Abschluss gemacht haben (Fachhochschule oder Hochschule), und jenen Gymnasiasten gegenübergestellt, die dies nicht getan haben. In einem zweiten Schritt sind die obigen Prognosefaktoren eingeführt worden, und zwar, um einfache Auszählungen zu ermöglichen, in einer Dichotomisierung möglichst nahe dem jeweiligen Median.
Abbildung 5:
Determinanten des Hochschulabschlusses von Mädchen, die das Gymnasium besucht haben
42
Helmut Fend
Das Ergebnis in Abb. 5 spricht eine klare Sprache: Noten und Intelligenz beeinflussen die Chance für weiterführende Ausbildungen signifikant; die Arbeitshaltung selber ist ohne Einfluss. Am stärksten differenzieren das Selbstvertrauen der Mädchen und die soziale Herkunft. Die Zweiteilung der Mädchen nach diesen Merkmalen in eine jeweils hohe bzw. niedrige Gruppe im Selbstvertrauen und der sozialen Herkunft verdoppelt die Chance auf eine tertiäre Ausbildung. Diese Abbildung gibt natürlich nur einen groben Einblick in die Einflussstrukturen. Eine simultane Regressionsanalyse (o. Tab.) mit obigen Faktoren bildet sie adäquater ab. In ihr wiederholt sich das Ergebnis: Intelligenz, Selbstvertrauen und soziale Herkunft bestimmen bei Gymnasiastinnen die Höhe der Berufsausbildung. Die berücksichtigten Faktoren können 21% der Varianz des Hochschulabschlusses aufklären. Wir haben es hier in theoretischer Perspektive mit einer historisch je unterschiedlichen Interaktion von institutionellen Gelegenheiten und personalen Orientierungen zu tun. Wenn wenige Möglichkeiten bestehen, weiterführende Ausbildungen aufzunehmen, dann nützen auch gute personale Ressourcen weniger. Diesem Befund wird in weiteren Analysen im Detail nachzugehen sein.
4.1.2 Berufliche Lebensbewältigung und beruflicher Erfolg Bei der folgenden Analyse der Langzeitwirkungen der Schulerfahrungen wird nicht mehr von der Schulformzugehörigkeit als proxy für Bildungserfahrungen ausgegangen, sondern vom erreichten Bildungsabschluss. Dies ermöglicht eine größere Stichprobe, die auch die Gesamtschüler berücksichtigt, da auch sie die traditionellen Abschlüsse erzielt haben. Es stehen aber vier Niveaus im Vordergrund: das Hauptschulabschlussniveau, ein mittleres Abschlussniveau (Mittlere Reife, Fachschulreife) und zwei gehobenen Abschlüsse (Fachhochschulreife und Abitur).
4.1.2.1
Bildungsniveau und berufliche Lebensbewältigung
Je höher das Ausbildungsniveau, umso problemloser verlaufen berufliche Laufbahnen. Dies ist die gängige Erwartung, die mit Schulabschlüssen verbunden wird. Für eine Überprüfung dieser Hypothese stehen in der LifE-Studie mehrere Indikatoren zur Verfügung, etwa Vorkommen und Dauer der Arbeitslosigkeit, Anzahl der Arbeitsstellen, erste ökonomische Selbstständigkeit und vor allem das Einkommen. Wie Abb. 6 zeigt, finden wir Überraschungen: Die Arbeitslo-
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
43
sigkeit variiert nicht nach Abschlüssen, ebenso wenig die Zahl der Arbeitsstellen (o. Tab.).
Abbildung 6:
Berufsrisiken und Einkommen nach Schulabschluss
Unübersehbar ist aber die andere Lebenssequenz, die sich mit Schullaufbahnen ergibt. Sie beeinflusst die erste ökonomische Selbstständigkeit, aber überraschenderweise (o. Tab.) nicht das Auszugsalter, das klar vom Geschlecht beeinflusst wird. Frauen ziehen im Durchschnitt etwa zwei Jahre früher aus. Klare Differenzen nach Schulabschlüssen ergeben sich in Bezug auf das Einkommen. Eine Stufe im Schulabschluss schlägt bis zu diesem Alter mit ca. 500 Euro mehr Haushaltseinkommen im Monat zu Buche. Bei der Berücksichtigung des persönlichen Einkommens treten allerdings die Disparitäten nach Geschlecht in den Vordergrund, die beim Haushaltseinkommen nicht vorhanden sind (s. Abb. 7). Das persönliche Einkommen variiert viermal stärker nach dem Geschlecht als nach den Schulabschlüssen. Frauen haben – verbunden mit ihrer Familientätigkeit – ein bedeutend niedrigeres persönliches Einkommen als Männer. Bei ihnen ist zudem der Schulabschluss sehr bedeutsam.
44
Helmut Fend
Abbildung 7:
4.1.2.2
Einkommen nach Schulabschluss und Geschlecht
Bildungsniveau und Berufsmotivation
Die Schule gilt als Ort der Einübung von Kerntugenden des Arbeitsverhaltens. Lernanforderungen stehen stellvertretend für berufliche Anforderungen im späteren Leben. Damit tritt bei der Suche nach Langzeitwirkungen von Schulerfahrungen die Frage in den Vordergrund, ob in verschiedenen Schulformen auch unterschiedliche Arbeitshaltungen eingeübt werden. Um dies zu testen, sind drei Indikatoren des Berufsengagements entwickelt worden.
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
Abbildung 8:
45
Schulabschlüsse und Arbeitshaltungen
Die Arbeitsmotivation umfasst Ausdauer, Anstrengungsbereitschaft und Ehrgeiz (Beispiel-Item: „Ich setze mich in meinem Beruf immer stark ein“; 3 Items, Cronbach Alpha: .74). Die berufliche Selbstwirksamkeit misst das Gefühl, den jeweiligen Anforderungen gewachsen zu sein, sich ihnen stellen zu können (Beispiel-Item: „Bei meiner Arbeit gelingt mir auch die Lösung sehr schwieriger Aufgaben“; 3 Items, Cronbach Alpha: .77). Die berufliche Weiterbildungsbereitschaft beinhaltet, ob jemand motiviert ist, immer wieder dazuzulernen (BeispielItem: „Mir ist es ein Bedürfnis, in meinem Beruf immer wieder dazuzulernen“; 3 Items, Cronbach Alpha: .69). Abb. 8 zeigt, dass Arbeitsmotivation und Selbstwirksamkeit in keinem Zusammenhang mit dem erreichten Schulabschluss stehen, wohl aber die Weiterbildungsbereitschaft. Mit höherer Schulbildung reduzieren sich die Weiterbildungsbarrieren, Lernen ist stärker habitualisiert. Schließlich sind die jungen Erwachsenen gebeten worden, eine erste Bilanz zu ziehen und ihre Zufriedenheit
46
Helmut Fend
mit dem Beruf, der Arbeitsstelle und dem Einkommen mitzuteilen. Prägt der schulische Abschluss also langfristig die berufliche Lebensqualität? Abb. 8 zeigt wieder, dass dies nicht der Fall ist. Lediglich die Zufriedenheit mit dem Einkommen hängt – es ist faktisch auch höher – mit dem Schulabschluss zusammen (o. Tab.).
4.1.3 Hochkulturelle Orientierung, Lesen, politisches Verständnis und Auslandserfahrung Die inhaltliche Bildungsfunktion gehört traditionell zum Kerngeschäft der Schule. Sie soll bei Heranwachsenden neue kulturelle Horizonte eröffnen und die junge Generation in die wertvollen Traditionen unserer Kultur einführen. Die in Abb. 9 dokumentierte Analyse bestätigt die Erfüllung dieser Aufgaben. Beim hochkulturellen Bildungsverhalten (Lesen, Konzerte und Museen besuchen, Anzahl Bücher, ernste Musik hören, 7 Items, KK.: .75) ergibt sich der stärkste Einfluss des Schulabschlusses insgesamt. Dieser strahlt auch deutlich auf die politische Bildung und auf eine aufgeschlossene Zuwendung zum Geschehen in der Welt aus, bleibt also nicht auf das ästhetisch-literarische Bildungsverhalten begrenzt.
Abbildung 9:
Abb. 9: Schulabschlüsse und kulturelle Orientierungen
Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung
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Bemerkenswert ist ein Indikator für Weltoffenheit, der in der Forschung selten berücksichtigt wird: der Auslandsaufenthalt. Hier ergibt sich hoch signifikant die größere Chance von Abiturientinnen und Abiturienten, einen weiteren Horizont zu erwerben. Weilten nur 7% der Schüler mit Hauptschulabschluss nach ihrem 15. Lebensjahr einen Monat oder länger im Ausland, so waren dies 45% der Abiturientinnen und Abiturienten. Kann man diese größere Weltoffenheit, die mit längerer Verweildauer im Bildungssystem verbunden ist, der Schule gutschreiben? Die Gegenthese unterstellt, dass auch auf diesem Gebiet die Schule nur den Einfluss des Elternhauses verstärkt. Wenn dem so wäre, dann müsste das Bildungsverhalten unserer Erwachsenen durch die kulturelle Grundorientierung der Eltern erklärbar sein und nicht vom Besuch einer Schulform abhängen. Die Jugendstudie ermöglicht es, diese These zu überprüfen, da hier Daten zum kulturellen Verhalten der Eltern, insbesondere zu Bücherbesitz und Leseverhalten vorliegen. Verliert sich der Einfluss der Schule, insbesondere der des Gymnasiums, wenn der kulturelle Hintergrund des Elternhauses als Ausgangspunkt der Kultursozialisation von Heranwachsenden gewählt wird, oder ist für viele Jugendliche die Schule doch der Ort der Initiation in Kultur? Das Ergebnis einer sequenziellen Auswertung des Bildungseinflusses des Elternhauses bzw. der Schule als Weg zum Abitur lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: (1) Überprüft man die Sequenz „Elternbildung–Schulbildung“, dann klärt die Schule noch mindestens das Doppelte an verbleibender Varianz im hochkulturellen Verhalten im Erwachsenenalter auf. (2) Gibt man gar die Reihenfolge „Schulbildung–hochkulturelles Verhalten der Eltern“ in eine Varianzanalyse ein, dann schwindet der Einfluss des Elternhauses fast völlig, d. h. er wird über die Gymnasialzugehörigkeit ihrer Kinder vermittelt. Man kann dies als klaren Hinweis deuten, dass insbesondere das Gymnasium seinem Bildungsauftrag zu einem großen Teil gerecht wird. Die mitklingende Frage, ob das Bildungswesen die wünschenswerte Basisförderung schafft, ist damit noch nicht beantwortet. Die Schule ist aber für eine große Zahl von Jugendlichen auch heute noch der wichtigste Weg zur kulturellen Intensivierung ihres Lebens. Das Durchlaufen verschiedener Schulformen und schließlich der Abschluss, der an diese Schulformen gebunden ist, haben sichtbare Konsequenzen für den weiteren Lebensweg. Reiht man diese nach der Größe von Auswirkungen, ergibt sich eine klare Reihenfolge: Starke Einflüsse finden wir bei hochkulturellen Tätigkeiten, politischem Interesse und Gemeinsinn sowie bei Auslandsaufenthalten. Im moderaten Bereich liegen die Folgen für das Einkommen, die Zufriedenheit mit dem Einkommen und die Weiterbildungsbereitschaft. Keine Konsequenzen finden wir im Vorkommen und in der Dauer der Arbeitslosigkeit, in der
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Anzahl Arbeitsstellen, im Leistungsengagement und der beruflichen Selbstwirksamkeit sowie in der Zufriedenheit mit dem Beruf und dem Arbeitsplatz.
4.2 Cross-Domain-Wirkungen: Soziale Einbettung und Lebensqualität Bildung verändert das ganze Leben. Nimmt man diese Prämisse ernst, dürften ihre Wirkungen nicht auf die berufliche Lebensbewältigung beschränkt sein. Um dies zu prüfen, werden Kernindikatoren der sozialen, psychischen und gesundheitlichen Lebensqualität überprüft.
4.2.1 Soziale Lebensqualität 4.2.1.1
Soziale Lebensläufe
Da Wege der ökonomischen Existenzsicherung und soziale Karrieren im Sinne von Partnerwahl, Heirat und Reproduktion zusammenhängen, müssten auch hier crossover-Effekte beobachtbar sein. Die Genderforschung hat vielfach belegt, dass Familie und Beruf insbesondere für hoch qualifizierte Frauen auch heute noch schwer vereinbar sind. Auf diesem Hintergrund ist zu fragen, ob auch bei der Generation der LifE-Studie die sozialen Lebenswege von Frauen (Heirat, Kinder, Bindungsqualität ) mit dem Qualifikationsniveau variieren. Bei den Abiturientinnen (Abb. 10) zeigen sich folgende soziale Realitäten: (1) Sie haben häufiger keine Kinder (45% im Vergleich zu 13% ehemaliger Hauptschulabsolventinnen) und wollen entsprechend häufiger noch Kinder haben (49% vs. 12% Hauptschülerinnen); (2) sie sind deutlich häufiger ledig (42% Abiturientinnen vs. 19% Hauptschülerinnen), ohne aber signifikant weniger in Partnerschaften eingebunden zu sein, woraus sich schließen lässt, dass sie häufiger in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften leben; (3) sie sind doppelt so selten wie Hauptschulabsolventinnen geschieden (8% vs. 16%). Für Männer ergeben sich in der Tendenz ähnliche Folgen höherer Bildung; sie sind jedoch deutlich weniger ausgeprägt.
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Abbildung 10: Schulabschlüsse und soziale Karrieren von Frauen und Männern
4.2.1.2
Subjektive soziale Einbettung
Näher an die soziale Lebensqualität führen subjektive Glücks- bzw. Belastungseinschätzungen. Fühlt sich jemand sozial integriert? Glaubt er, genügend soziale Unterstützung zu erfahren? Wie schätzt jemand die Qualität der emotionalen Beziehung zu den Eltern und der Partnerbeziehung ein? Wie gut fühlt er sich mit den eigenen Kindern? Ist jemand mit seinem sozialen Lebenskreis zufrieden, etwa mit dem Freundeskreis, dem Partner, den Eltern, den Kindern? Allen diesen Indikatoren für die soziale Lebensqualität konnte in der LifEStudie auf der Grundlage von Selbsteinschätzungen nachgegangen werden. Das Ergebnis ist einheitlich (Abb. 11): Die soziale Einbettung hängt nicht positiv mit einem höheren Bildungsniveau zusammen. Im Gegenteil, wo sich Unterschiede finden, sind sie für Schulabsolventen mit weniger hohen Abschlüssen als dem Abitur positiver. Letzteres trifft in signifikanter Weise, aber in nicht sehr ausgeprägter Form für die Integration in Freundschaften und die Summe der sozialen Zufriedenheit (mit Vater und Mutter, mit Freundschaften, mit dem Partner, mit den Kindern) zu.
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Abbildung 11: Schulabschlüsse und soziale Einbettung (z-Werte)
4.2.2 Psychische Gesundheit und Risikoverhalten Gesundheitsindikatoren gelten seit längerem als Hinweise auf die Lebensqualität und indirekt auch als Hinweise auf den Grad einer langfristig disziplinierten Lebensweise. In der LifE-Studie wurden zwei Gruppen solcher Indikatoren einbezogen: solche der psychischen Stabilität und solche des Risikoverhaltens wie
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Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel (wenig Sport) und Übergewicht. Die psychische Stabilität ist vergleichsweise schwerer zu operationalisieren. Drei Wege sind in der Life-Studie gewählt worden: Erstens wurde danach gefragt, ob sich jemand psychisch leicht oder stark beeinträchtigt fühlt. Zweitens wurde in Fortsetzung der Forschungen in der Adoleszenz nach dem Grad der Depressivität gefragt (Beck 1981; Beck et al. 1961; 1988; Hautzinger 1998). Drittens ist in derselben Tradition die Ich-Stärke (Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Umgang mit Misserfolg) einbezogen worden. Das Ergebnis verweist überraschend darauf, dass sich die berichtete psychische Beeinträchtigung nach dem Abschlussniveau unterscheidet (o. Tab.). Mehr Frauen mit höherem Abschlussniveau fühlen sich beeinträchtigt, wenngleich wegen der kleinen Zahlen die Unterschiede nicht signifikant werden. Bei Männern ist dies gegenläufig der Fall. Ich-Stärke und Depression sind mit Schulabschlüssen nicht klar verbunden (Abb. 12). Interaktionen mit dem Geschlecht deuten sich an: Frauen mit höheren Abschlüssen sind eher depressiv, bei Männern ist dies umgekehrt.
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Abbildung 12: Schulabschlüsse und psychische Gesundheit bzw. Gesundheitsverhalten Klarer sind die Unterschiede im gesundheitsrelevanten Verhalten. Die Intensität des Rauchens, insbesondere die Abhängigkeit, sinkt mit dem Schulabschlussniveau. Gleiches würde man auch beim Alkoholkonsum erwarten. Doch dem ist nicht so. Der Alkoholkonsum ist bei Männern und Frauen mit höheren Schulabschlüssen größer. Bei zwei weiteren Indikatoren lässt sich mit steigendem Bildungsniveau auf einen gesünderen Lebenswandel schließen: bei der Intensität, mit der die Erwachsenen Sport treiben, und beim Gewicht. Ca. 75% der ehemaligen Abiturientinnen bzw. Abiturienten treiben Sport im Vergleich zu ca. 50% ehemaliger Hauptschülerinnen und Hauptschülern. Auch der BodyMass-Index sinkt systematisch mit der Höhe des Abschlussniveaus: Je höher das Bildungsniveau, um so schlanker sind unsere jungen Erwachsenen. In der Summe lassen sich an einigen benennbaren Stellen crossover-Effekte feststellen, wenngleich auch sichtbar wird, dass diese sehr beschränkt sind: Am klarsten kommen die Folgen der Schulausbildung für die sozialen Lebensstatio-
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nen bei Frauen zum Vorschein. Als Zweites treten die Konsequenzen des Bildungsniveaus im Risikoverhalten wie Rauchen, Alkoholkonsum und mangelnde Bewegung hervor. Relativ unbedeutend, ja mit höheren Abschlüssen tendenziell sogar gegenläufig verbunden sind die subjektiven Zufriedenheiten, insbesondere jene im sozialen Bereich.
5
Fazit
War das Leben der Jugendlichen der Konstanzer Adoleszenzstudie durch ihre Platzierung in verschiedenen Schulformen vorherbestimmt? Die Antwort lautete nach der vorgetragenen Analyse: ja und nein. Am deutlichsten tritt hervor, dass insbesondere Abiturientinnen und Abiturienten im Vergleich zu anderen Abschlussgruppen ein reichhaltiges Leben mit größerer Öffnung zum kulturellen und öffentlichen Bereich bevorsteht. Die größten Folgen zeigen sich in dem, was wir im deutschen Sprachraum mit „Bildung“ bezeichnen. Aber auch Konsequenzen in der beruflichen Platzierung und im Einkommen sind unübersehbar, wenngleich nicht so ausgeprägt wie bei den intellektuellen Konsequenzen. Mit dem kulturell reichhaltigeren Leben ist aber nicht unbedingt ein einfacheres Leben verbunden. So hat sich die ökonomische Eingliederung nicht als einfacher herausgestellt. Für Frauen mit höherer Bildung ergeben sich auch andere Verlaufsmuster ihrer familiären Wünsche. Klare Wirkungen zeigen sich beim Gesundheitsverhalten. Abiturientinnen und Abiturienten rauchen weniger und bewegen sich mehr. Ihr Alkoholkonsum ist dagegen etwas höher. In vielfacher Hinsicht ist die Zugehörigkeit der Jugendlichen aus der LifEStudie zu verschiedenen Schulformen im 9. Schuljahr jedoch nicht lebensbestimmend. Eindrucksvoll hat sich gezeigt, dass von den Schulformen zu den Abschlüssen und zur beruflichen Einmündung noch sehr viel „Bewegung“ zu beobachten ist. Schließlich sind viele Bereiche der Lebenszufriedenheit nicht von den Abschlüssen betroffen. Bildungsmäßige Benachteiligung scheint in Ansätzen sogar durch größere und stabilere soziale Einbettung kompensiert zu werden.
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Bildung und soziale Ungleichheiten – Sozialpädagogische Perspektiven auf ein unterbelichtetes Verhältnis Roland Merten
Mit der PISA-Studie wurde der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen zu einem öffentlichen Thema – so als sei hier eine ganz neue Erkenntnis zu Tage gefördert worden. Obgleich dieser Befund längst bekannt war, herrschte große Aufregung und hektische bildungspolitische Betriebsamkeit. Inzwischen haben sich die Wogen wieder geglättet; es besteht die begründete Sorge, dass alles ein Sturm im Wasserglas war. Hier soll eine sozialpädagogische Perspektive auf die sozialen Bedingungen der Bildung entfaltet werden.
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Lorenz von Stein und die Vergesellschaftung des Bildungsbegriffs
Der Begriff der Sozialpädagogik taucht erstmals 1844 bei Karl Mager auf (vgl. Kronen 1980). Wir haben es hier, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit einer Periode zu tun, die den Umbruch von der vormodernen, stratifikatorisch differenzierten zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft vollzieht. Niklas Luhmann (1980, S. 9ff.) hat zeigen können, dass ein interner Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik besteht: Semantische Traditionen spiegeln gesellschaftsstrukturelle Formationen und Veränderungen wider. Neuen Begriffen, hier dem der Sozialpädagogik, kommt insofern „Indikatorqualität“ (Kaufmann 1986, S. 285) zu. Was jedoch für den damals neuen Begriff der Sozialpädagogik einsichtig ist, erschließt sich für den der Bildung nicht gleichermaßen. Er hatte zum damaligen Zeitpunkt eine längere und gehaltvollere Tradition – man denke an die Philanthropen und den Neuhumanismus. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts zentrale Bildungsfrage lautete, ob Erziehung des Menschen zum Bürger oder Bildung des Menschen zum Menschen zu erfolgen habe. In diesem theoretischen Dilemma hatte sich auch die sich entwickelnde Sozialpädagogik zu verorten.
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In den staatstheoretischen Arbeiten Lorenz von Steins zeichnen sich frühzeitig Lösungsperspektiven ab. Von Stein rekurriert auf die Unterscheidung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung. Während die Berufsbildung Unterschiede zwischen den Klassen erzeuge, hebe die Allgemeinbildung diese gerade wieder auf. Dadurch sei sie „die Trägerin der Gleichheit im geistigen und damit im gesellschaftlichen Leben und den von ihm beherrschten Rechtszuständen der Menschheit (...) Sie ist undenkbar ohne das Prinzip der gleichen Bestimmung, sie erzeugt die gleiche Befähigung und fordert daher ein gleiches Recht aller.“ (Stein 1868, S. 1f.) Die Bedingungen der Möglichkeit der allgemeinen Bildung zu schaffen, ist Aufgabe des Staates, der sie in Form von sozialer Verwaltung realisiert. Von Stein bindet den damals dominierenden neuhumanistischen Bildungsgedanken an den Staat, der die Grundlagen für die Möglichkeit von Bildung zu schaffen hat. „In der Phase des ‚staatsbürgerlichen Bildungswesens‘, diesseits von Kirchentum und Ständetum, aber auch von humanistischer Vereinzelung, gebe es ‚keine Bildung und kein Bildungswesen mehr ohne den Staat, und keinen Staat ohne sein Bildungswesen und seine Bildung‘.“ (Vierhaus 1979, S. 541) Von Stein entfaltet in seiner Verwaltungslehre nicht nur einen modernen Bildungsbegriff, er argumentiert zugleich gerechtigkeitstheoretisch: „Wo in einem Volk die niedere Klasse überhaupt nach Bildung strebt, da ist das erste Element der Bewegung der Freiheit vorhanden; wo sich dieses Streben nach Bildung kundtut, da beginnt auf ihrer ersten Stufe der Kampf der abhängigen gesellschaftlichen Klassen mit der herrschenden (...) und (...) wo von seiten des Staates oder der Gesellschaft selber etwas für die Bildung des Volkes getan wird, da kann man mit fester Zuversicht behaupten, dass Staat und Gesellschaft, mögen sie sonst frei sein oder nicht, am Ende dennoch die Freiheit wollen (...) Die gegebene Bildung nun, als Entwickelung der Gleichheit geistiger Güter, führt notwendig zu einem neuen, rein geistigen Prinzip der Gesellschaft (...) Dieses Prinzip der gleichen Bildungsfähigkeit ist das der Gleichheit der Menschen. Jede Bildung des Volkes langt daher unabänderlich bei einem Punkte an, wo sie, auf die Bildungsfähigkeit und mit ihr auf den Begriff der Persönlichkeit zurückscheinend, die begriffliche Gleichheit der Menschen als Prinzip der Bewegung der anderen Klassen ausspricht.“ (Stein 1850, S. 86f.)
Bildung und Gleichheit, ja Bildung als notwendige Bedingung des Abbaus von Ungleichheit, treten hier in aller Hellsichtigkeit hervor. Allerdings war die gesellschaftliche Wirklichkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine andere, als dass sich zugleich dieser Gedanke realisiert hätte. Vielmehr bedarf es hier der Erinnerung an die Verelendung weiter Bevölkerungsschichten im Zuge der sich durchsetzenden Industrialisierung.
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Vor diesem Hintergrund gewinnt Paul Natorps Bestimmung der Sozialpädagogik gesellschaftstheoretisch an Bedeutung: „Die Sozialpädagogik hat als Theorie die sozialen Bedingungen der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens zu erforschen.“ (Natorp 1894, S. 62f.) Praktisch indes solle die Sozialpädagogik sich nicht mit der Analyse begnügen, sondern die Bedingungen im Sinne einer vorgestellten Entwicklung günstig beeinflussen. Natorp beansprucht damit, so Niemeyer (1998, S. 82f.), der „entschiedenste Vertreter eines Programms zu sein, das Bildungsgegensätze nicht nur aus Begabungsdifferenzen erklärt, sondern aus vorenthaltenen Bildungschancen.“ Mit seiner Frage nach den sozialen Bedingungen der Bildung bindet Natorp das idealistische von Stein’sche Programm – die Verbindung von Bildung und Staat – empirisch gehaltvoll zurück. Gleichwohl bleiben beide Ansätze unbefriedigend: Während bei von Stein der idealistische Überschuss einer empirischen Analyse nicht standhalten kann, verliert der empirische Anspruch Natorps dann an Überzeugungskraft, wenn man seine positive Option – den Bezug auf Gemeinschaft – in Erinnerung ruft; der Staat taucht nur noch schemenhaft auf. Die Zusammenführung der beiden Perspektiven lässt sich in der historischen Rekonstruktion finden, die den Zusammenhang zwischen Staat einerseits und den sozialen Bedingungen von Bildung andererseits herausarbeitet. Die Bestimmung der Sozialpädagogik als einer „wohlfahrtsstaatlich mitkonstituierten Profession“ (Olk 1986, S. 91) macht dies deutlich. Die sozialen Bedingungen der Bildung werden hier an den Staat – namentlich an die „soziale Verwaltung“ im Sinne von Steins – rückgebunden. Genau diese wohlfahrtsstaatliche Rückbindung eröffnet den Blick auf moderne Formen sozialer Ungleichheit. Mit ihr werden auch die Steuerungsinstrumente, die auf die Bedingungen der Möglichkeit von Bildung Einfluss haben, zum Thema. Analyse und Kritik werden insofern systematisch zusammengeführt.
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Kinderarmut im Sozialstaat
Armut in der Bundesrepublik, die die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt, ist aufgrund der sozialstaatlichen Absicherung sozialpolitisch integriert. Nimmt man den soeben entfalteten Spannungsbogen zwischen Analyse und Kritik wieder auf, so zeigt sich, dass Ausmaß und Umfang juveniler Armutsphänomene auch in diesem Kontext reguliert werden. So hat sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen in den vierzig Jahren seit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes drastisch erhöht. Im Jahr 2002 beziehen 6,7% aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren Hilfe zum Lebensunter-
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halt, während die Quote in der Gesamtpopulation lediglich bei 3,3% liegt (Statistisches Bundesamt 2003, S. 10). Abbildung 1 zeigt, wie sich seit 1980 die Kinderarmut in Deutschland – gemessen am Sozialhilfebezug (außerhalb von Einrichtungen) – entwickelt hat.
Abbildung 1:
Empfänger und Empfängerinnen von Hilfe zum Lebensunterhalt 1980–2002 (Stichtagerhebung am 31. Dezember des jeweiligen Jahres)
Obgleich diese Daten schon massive Verarmungsprozesse in der Bundesrepublik deutlich machen, bedarf es eines Blicks auf die künftige Entwicklung. Durch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in den so genannten Hartz-IV-Gesetzen wird sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die auf dem Niveau der Sozialhilfe leben müssen, noch einmal drastisch erhöhen. So lässt sich eine Zunahme der Armutspopulation unter dem 18. Lebensjahr von derzeit 1 039 000 Kindern und Jugendlichen auf dann 1 849 000 prognostizieren (vgl. dazu detailliert Martens 2004, S. 292). Wenn aber diejenigen Kinder und Jugendlichen, die unter benachteiligenden Lebensbedingungen aufwachsen, zu den PISA-Verlierern gehören, zeichnet sich ein dringender sozial-, und das heißt bildungspolitischer Handlungsbedarf ab.
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PISA/PISA-E – sozialpädagogisch betrachtet
Wenngleich die PISA-Studie primär auf die Schule fokussiert, geht sie darin nicht auf. Dies wird deutlich, wenn man das zentrale Problem des deutschen Bildungssystems auf eine prägnante Formel bringt: „Deutschlands größtes Problem in der Bildung ist die soziale Spaltung der Gesellschaft.“ (Harmsen 2002, S. 14) Im Hinblick darauf wird in der PISA-Studie darauf hingewiesen, dass einseitigen und vorschnellen Ursachenanalysen des schlechten Abschneidens vorgebeugt werden muss: „Die Leistungsfähigkeit von Schulen hängt nicht nur von der Professionalität, dem Verantwortungsbewusstsein und dem Engagement der Lehrenden ab, sondern auch von gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Wer nicht Gefahr laufen möchte, Schulen bzw. Schulsystemen gute oder schlechte Leistungen zuzuschreiben, die sie überhaupt nicht zu verantworten haben, kann die genannten Kontextbedingungen ihrer Arbeit nicht ignorieren.“ (Deutsches PISA-Konsortium 2002a, S. 39)
Um der Forderung nach Berücksichtigung der sozialen und gesellschaftlichen Kontextvariablen von Bildung nachzukommen, sei auf zwei ausgewählte Faktoren verwiesen: Arbeitslosigkeit und Armut. Ausgewählte OECD-Staaten Finnland Australien Großbritannien Japan Schweden Österreich USA OECD-Durchschnitt Schweiz Italien DeutschlandDurchschnitt
Mittelwert Bundesländer der Bundesrepublik 546 528 523 522 516 510 Bayern 507 504 500 Baden-Württemberg 494 487 485 Rheinland-Pfalz 484 Saarland 482 478 476
NordrheinWestphalen Schleswig-Holstein Hessen
Arbeitslosenquote*
Sozialhilfequote**
5,5
3,1
5,4
3,8
7,3 9,8
4,8 8,6
9,2
6,9
8,5 7,3
8,7 7,5
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Portugal
474 470 448
Niedersachsen
9,3
7,9
Bremen
13,0
20,4
Tabelle 1: Leseleistungen deutscher Schüler und Schülerinnen im nationalen und internationalen Vergleich und unter Berücksichtigung sozialer Kontextvariablen1 * = Arbeitslosenquote im Jahr 2000 (Feldphase von PISA); ** = Sozialhilfequote der Bevölkerung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr (Bezugsjahr: 2000). Es wäre allerdings einseitig, sich ausschließlich auf die Kontextbedingungen zu beziehen. Vielmehr muss der Blick auch ins Innere der Schule gelenkt werden. Dabei wird deutlich, dass die Strategie versagt hat, homogene Lerngruppen durch Aussonderung (vermeintlich) lernschwächerer Schülerinnen und Schüler herzustellen, um damit das Leistungsniveau zu heben. Es besteht Lern- und Handlungsbedarf beim Umgang mit Heterogenität: „Ich meine, wir haben bei uns im Sekundarbereich, international gesehen, die homogensten Lerngruppen und gleichzeitig die größten Klagen über zu große Heterogenität. Das hat doch etwas Seltsames. In den Hauptschulen sind die Lerngruppen in den letzten Jahrzehnten homogener geworden; die Leistungsstreuung in den Gymnasien mag zugenommen haben – dennoch ist das Gymnasium auch in Deutschland noch die Schulform mit den homogensten Lerngruppen. Im internationalen Vergleich gilt das allemal. Gerade in der starken Besetzung der unteren und untersten Leistungsgruppen zeigt sich, dass unser Schulsystem trotz Leistungsdifferenzierung nicht gut mit Heterogenität und Differenz umgehen kann.“ (Baumert 2002)
Insbesondere die nordischen Länder, die den umgekehrten Weg zu integrierten Schulen mit heterogenen Lerngruppen gehen, die sich ihrer „schwierigen“ und „schwachen“ Schüler und Schülerinnen nicht durch Wiederholung oder Verweis auf Sonderschulen entledigen können, liegen in der PISA-Rangliste ganz vorne. Es scheint, dass sie die Schülerinnen und Schüler in ihren jeweiligen Kompetenzen besser fördern und sie gleichzeitig auf die soziale Heterogenität bzw. auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit angemessener vorbereiten können, die mit den Begriffen der „Individualisierung von Lebensläufen“ und der „Pluralisierung von Lebenslagen“ charakterisiert wird. Eine innere und eine äußere Schulreform
1
Hier wurde auf den Einbezug der neuen Bundesländer verzichtet, weil diese auf Grund ihrer besonderen wirtschaftlichen Situation (extreme Arbeitslosenquoten) nicht mit den alten Bundesländern vergleichbar sind.
Bildung und soziale Ungleichheiten
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tut Not! Auf diesen Umstand hat auch die Bertelsmann Stiftung mit ihrem Memorandum „Wir brauchen eine andere Schule!“ aufmerksam gemacht: „Das in Deutschland dominierende Dogma von homogenen Klassenverbänden als zwingender Voraussetzung für gute Lernleistungen muss fallen gelassen werden. PISA zeigt eindrücklich, dass weder die frühe Aufteilung der Schüler auf die verschiedenen Schulformen noch die vermeintliche Homogenität Voraussetzung für gute Schulleistungen und eine hohe Bildungsbeteiligung sind. Vielmehr muss es Ziel sein, durch eine Kultur der Förderung jedes einzelnen Schülers möglichst viele Schüler möglichst weit mitzunehmen auf dem Weg zu einer umfassenden Bildung und Erziehung (...) [Das] schließt eine Reform der starren Strukturen der drei- bzw. mehrgliedrigen Schulsysteme ein. Sie alle legen die Bildungsbiografien und damit die späteren beruflichen Chancen von Kindern und Jugendlichen sehr frühzeitig und in aller Regel nachhaltig fest (...) Die Schulsysteme in Deutschland müssen fördern statt selektiv ausgerichtet werden!“ (Bertelsmann Stiftung 2002, S. 12)
Eine sozialpädagogische Interpretation der PISA-E-Ergebnisse macht schnell deutlich, wo mehr oder weniger viel zu tun ist. Aber eines steht fest: Handlungsbedarf besteht in allen Bundesländern. Denn die mit der PISA-Studie identifizierten Risikopersonen, so Jürgen Baumert (2002), „stammen ganz überwiegend aus sozial benachteiligten Elternhäusern. Bedrückend hoch ist der Anteil dieser gefährdeten Jugendlichen in Familien un- und angelernter Arbeiterinnen und Arbeiter. Das im Vergleich mit anderen OECD-Staaten relativ schwache Abschneiden von 15-Jährigen in Deutschland ist sowohl auf den hohen Anteil schwacher und schwächster Leser insgesamt als auch auf das Fehlen einer ausgeprägten Leistungsspitze zurückzuführen. Der Gesamtbefund ist nicht auf Zuwanderungstatbestände zurückzuführen.“
In dieser Situation kommt es darauf an, dass sich auch die Kinder- und Jugendhilfe ihres Bildungsauftrags (wieder) erinnert (vgl. § 11 SGB VIII). Dieser verhält sich zu demjenigen der Schule nicht kompensatorisch, sondern komplementär. Sie kann eigene Kompetenzen einbringen, die auf eine nachhaltige Verbesserung der Schule zielen; dies „betrifft etwa Fragen einer anderen Schul- und Lernkultur, Fragen der Partizipation und Selbststeuerung, den Erwerb von Schlüsselkompetenzen oder Fragen der interkulturellen Bildung“ (BMFSFJ 2002, S. 12). Die Debatte um die Ganztagsschule fordert zudem professionelle pädagogische Kompetenzen, die diese Schule als Lernfeld ausgestalten. Es kann also weder darum gehen, allein die Zahl der Unterrichtsstunden zu erhöhen, noch ist dieser Schultyp lediglich zur längeren Aufbewahrung von Kindern konzipiert. Gerade für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche kann die Ganztags-
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schule ein Lern- und Erfahrungsfeld sein, das die deprivierten familialen Bedingungen nicht bieten. Das stellt allerdings hohe Anforderungen an die dortige (sozial-)pädagogische Arbeit: „Wesentlich sind u. a. eine sichere, der Entwicklung von Kindern angemessene Umgebung mit einem breiten Aktivitätsangebot und vielfältigen Lernmöglichkeiten, ein positives emotionales Klima, eine gute Organisation des Tagesablaufs und die Bereitschaft des Personals, individuell und sensibel auf die Bedürfnisse von Kindern einzugehen.“ (Mair 2000, S. 152) Das macht deutlich, dass die schulbezogenen Interventionen selbst hohen Anforderungen genügen müssen. Wenn das individuelle Kind mit seinem besonderen Unterstützungsbedarf ins Zentrum der schulischen Bemühungen gerät, können die pädagogischen Herausforderungen, die in den schlechten PISA-Ergebnissen liegen, wahrgenommen werden. Sie bedeuten eine Verabschiedung der „illusionären Vorstellung, ein besserer künftiger Schulerfolg des deutschen Bildungssystems könne allein oder hauptsächlich durch ‚Mehr vom Gleichen‘ (i. S. v. Unterrichtsschule) sowie durch ‚Das Gleiche früher als bislang‘ (i. S. v. unterrichtlichen Bildungsprozessen in vorschulischen Einrichtungen) herbeigeführt werden“ (Beirat 2002, S. 13). Durch den Einbezug der sozialen Bedingungen der Bildung wird die Blickverengung auf die Schule aufgebrochen, d. h., sie kommt nicht ohne die vorbereitenden und begleitenden Aktivitäten der Familie sowie der Kinder- und Jugendhilfe aus. „Bildung fängt in der Familie an. Das gilt auch in dem Sinne, dass Bildungsdefizite der Kinder ihren Ausgang in den unzureichenden Anregungen in Familien nehmen.“ (Beirat 2002, S. 24) Ähnlich wie die PISA-Studie den Anstoß dazu gegeben hat, über Schule und ihre Qualitätsverbesserung nachzudenken, gehen von ihr Impulse für familienpolitische Maßnahmen aus, die geeignet sind, die erzieherischen Kompetenzen und Bildungsressourcen insbesonders sozial benachteiligter Familien zu stärken. Hier hat die Kinder- und Jugendhilfe eine exponierte Rolle, die ihr auch der Gesetzgeber ausdrücklich zuschreibt (vgl. § 16 SGB VIII). „Gezielte Förderung muss solchen Familien zuteil werden, die auf Grund ‚struktureller Besonderheiten‘ einem höheren Risiko unterliegen, dass sich für Kinder nachteilige Faktoren kumulieren, ohne dass diese Familien grundsätzlich im Hinblick auf ihre Sozialisationsleistungen als defizitär anzusehen wären.“ (Beirat 2002, S. 37) Durch eine stärkere Kooperation von Schule und Jugendhilfe kann zugleich gemeinsam auf eine, vielleicht sogar die zentrale Anforderung pädagogisch reagiert werden, die sich aus der PISA-Studie ergibt. „Die im internationalen Vergleich auffallend große Leistungsstreuung in den Ländern der Bundesrepublik kann auch als Hinweis auf eine geringe Breitenförderung und schlechte Förderung von Schülern im unteren Leistungsbereich gesehen werden.“ (Deutsches PISA-Konsortium 2002b, S. 19) Gerade in diesem Bereich hat die Sozialpäda-
Bildung und soziale Ungleichheiten
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gogik einschlägige Erfahrungen, hier bringt sie besondere Kompetenzen mit, die sich in spezifischer Weise im Bereich der Schule anwenden lassen.
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Abschließende Bemerkungen
„Eine autonome Lebensführung und verantwortungsbewusste Teilhabe an der Gesellschaft sind ohne Bildung nicht denkbar. Bildung ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ (BMFSFJ 2002, S. 6) Diese Einschätzung seitens des Bundesministeriums ist sachlich zutreffend. Indes bleibt die Frage, ob aus ihr auch die notwendigen politischen Konsequenzen gezogen werden. Betrachtet man die prognostizierbaren Entwicklungen, die sich aus den so genannten HartzIV-Gesetzen gerade für Kinder und Jugendliche ergeben werden, die Population, die ohnehin mit dem höchsten Armutsrisiko belastet ist, dann deuten alle Zeichen in die falsche Richtung. Gerade die PISA-Studie hat erneut den engen Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft ins allgemeine Bewusstsein gerufen. Von einer erziehungswissenschaftlichen Meinungsführerschaft des öffentlichen Diskurses zu diesem Themenkomplex kann bisher ernsthaft keine Rede sein. Auch die Sozialpädagogik bildet hier keine Ausnahme. Dabei sind mit der PISA-Studie Fragen angesprochen, zu deren Beantwortung sie in besonderem Maße Kompetenzen bereitstellen kann. Denn damit ist das Thema der sozialen Gerechtigkeit – diesmal in seiner bildungspolitischen Gestalt – wieder auf die politische Agenda gerückt worden. Vieles von dem, was heute – nach und wegen der PISA-Studie – zur Diskussion steht, wurde indes bereits anfangs der 1970er-Jahre in der Erziehungswissenschaft diskutiert: Gleichheit der Bildungschancen, Integration, Differenzierung und Anerkennung (vgl. Klafki 1984, S. 200f.). „Bildung und soziale Ungleichheiten“, dieses Thema hat also bis heute nichts von seiner Aktualität und seiner Brisanz verloren. Lorenz von Stein, mit dem eingangs auf den Zusammenhang von Bildung und Gerechtigkeit hingewiesen wurde, hat also insofern in ihrer Gründungsphase eines der herausragenden Themen der Sozialpädagogik bestimmt. Dieses Thema ist – gerade das macht die PISA-Studie deutlich – bisher noch viel zu wenig bearbeitet. Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen ist nach wie vor ein zentrales Gerechtigkeitsproblem unserer Gesellschaft, denn: „Die natürliche Verteilung ist weder gerecht noch ungerecht; es ist auch nicht ungerecht, dass die Menschen in eine bestimmte Position der Gesellschaft hineingeboren werden. Das sind einfach natürliche Tatsachen. Gerecht oder ungerecht ist die Art, wie sich die Institutionen angesichts dieser Tatsache verhalten.“ (Rawls 1988, S. 123) Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe sind in dieser Aufgabe gemeinsam
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Roland Merten
gefordert. Hier liegt die pädagogische Herausforderung, die es zu erkennen, anzunehmen und konstruktiv zu bewältigen gilt – insbesondere mit Blick auf diejenigen Kinder und Jugendlichen, die unter schwierigsten Bedingungen aufwachsen. Bildung ist für viele von ihnen die einzige Chance, und Pädagogen und Pädagoginnen haben es in der Hand, ihnen diese zu eröffnen.
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Bildung und soziale Ungleichheiten
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Orte und Netze lebenslangen Lernens Ekkehard Nuissl
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Einleitung
Ein wenig modernistisch klingen sie schon, die Begriffe „Ort“ und „Netz“ in Verbindung mit dem „lebenslangen Lernen“. Auf den ersten Eindruck schon so modernistisch, dass es nahezu banal klingt: lebenslang, lebensbegleitend, lebensbreit wird eigentlich immer und überall gelernt; Lernorte sind daher alle Orte, an denen man sich befindet. Und vernetzt werden diese Orte dadurch, dass man sich konsekutiv, zielorientiert und „selbstgesteuert“ (ein weiteres Modewort) zwischen ihnen bewegt. Natürlich ist dies mit dem Konzept der Lernorte nicht gemeint. Und dennoch: Betrachtet man all diejenigen Orte, die heute als „Lernorte“ apostrophiert werden, so könnte dieser Eindruck durchaus entstehen. Als Lernorte bezeichnet werden gleichermaßen Bildungseinrichtungen, Science-Center, Kaufhäuser, Lernwerkstätten, Museen und Theater, Erlebnis-Zoos, Betriebe und Arbeitsplätze, soziales Umfeld, Internet, Laboratorien und vieles mehr. Im Kontext der Diskussion um „lebenslanges Lernen“ erscheint der Begriff des Lernortes wie ein Omnibus, der alles aufnimmt und überall hält. Der Begriff ist nicht nur pluralisiert, sondern – wie man dies auch von der Weiterbildung insgesamt sagt – entgrenzt. Nun sind Begriffe des Raumes in der Pädagogik gerade dann beliebt, wenn es darum geht, etwas einerseits sinnlich, bildhaft und konkret, andererseits ungenau und offen für Deutungen zu formulieren. Solche Begriffe sind etwa „Feld“ („Lernfeld“) oder „Insel“ („Lerninsel“) oder in der modernen Version der Begriff „Raum“ selbst („open space“). Vielfach ist diese räumliche Assoziation in der Pädagogik heute auch verbunden mit dem Begriff der Region; dann heißt es nicht mehr „Lernort“, sondern „Lernende Region“. Dazu haben wir derzeit ein Entwicklungsprogramm in der Bundesrepublik laufen, das, soweit ich weiß, das bisher größte entsprechende Programm im (Weiter-)Bildungsbereich Deutschland ist. Deutet die Tatsache, dass solche raumorientierten Begriffe derzeit eine Blüte in der Pädagogik haben, auf einen „spacial turn“ der Pädagogik hin? Eini-
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ge der Diskussionslinien scheinen dies zu bestätigen. So etwa die Diskussionen der DGfE-Sektion „Historische Bildungsforschung“ zum Thema „Pädagogische Gestaltung des Raums“ im Jahre 2001. Nun hat die deutsche Sprache nicht wie die englische eine so feinsinnige Unterscheidung zwischen „room“ und „space“ (vgl. Jelich 2003). Genaueres lässt sich im Deutschen aus diesen räumlichen Begriffen daher nicht erkennen. In der Regel ist es aber auch gar nicht die Aufgabe dieser Begriffe, einen bestimmten Sachverhalt möglichst präzise zu benennen; sie dienen eher als Orientierungspunkte, Wegmarken, heuristische Schlüssel zum Verstehen eines bestimmten Zugangs zu pädagogischen Fragen. Dies wiederum kann erklären, warum sie heute einen höheren Stellenwert einnehmen als noch in den 1980erJahren: Bildung ist zu einem übergreifenden gesellschaftlichen Gesamtkonzept geworden, dessen Funktionalität im systemischen Kontext ebenso verwischt zu sein scheint wie die Rolle im biographischen Prozess (Diesner 2004). Am Beispiel des Begriffs des Lernortes wird dies noch verstärkt durch die Tatsache, dass „Lernort“ immer häufiger im Zusammenhang mit „Netzwerk“ formuliert wird – zwei dehnbare, unpräzise und flexible Begriffe, die einen breiten Interpretationsund Aktionsspielraum zulassen. Im Folgenden frage ich danach, inwieweit Begriffe wie „Ort“ und „Netz“ in der Diskussion um das lebenslange Lernen Orientierung bieten und Anhaltspunkte dafür, in welcher Weise lebenslanges Lernen gestaltet werden kann und soll.
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Lernort – der Begriff in den 1970er- und 1980er-Jahren
Der Begriff des Lernortes ist nicht neu. Er wurde insbesondere in den 1970erJahren heftig im Kontext der beruflichen Bildung diskutiert, dann wurde es etwa zwei Dekaden ruhiger um ihn. Übrigens eine interessante Analogie zum Begriff des lebenslangen Lernens, der in seiner französischen („education permanente“) und englischen („lifelong learning“) Variante in den 1970er-Jahren boomte (Münch 1977). Und wie „lebenslanges Lernen“ hat auch „Lernort“ begrifflich einen Wandel durchgemacht: Vor dreißig Jahren waren beides Begriffe zur Organisation des Unterrichts, heute sollen beide dazu dienen, Lehre und Lernen aus der Sicht der Lernenden zu erschließen. Dies gilt zumindest im Konzept des lebenslangen Lernens, wo „Lernort“ auf die pädagogische Gestaltung des Raums hinweist, zugleich aber auch auf die Wechselwirkung, die zwischen dem räumlichen und dem Lernprozess der Menschen besteht. Wie so vieles lässt sich auch der Begriff „Lernort“ auf die Arbeiten des Bildungsrats (insbesondere 1970) und der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (1974) zurückführen. Der Bildungsrat definierte den Begriff institutio-
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nenbezogen: „Unter Lernort ist eine im Rahmen des öffentlichen Bildungswesens anerkannte Einrichtung zu verstehen, die Lernangebote organisiert. Der Ausdruck Ort besagt zunächst, dass das Lernen nicht nur zeitlich ..., sondern auch lokal gegliedert ist“ (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 69). Ohne den Begriff des Netzes zu gebrauchen, spricht bereits der Bildungsrat in ähnlichem Sinn von einer „Lernortpluralität“, in der unterschiedliche Lernorte mit jeweils spezifischen Eigenschaften und Funktionen für einen Bildungsgang, einen Bildungsabschnitt oder einen Lernprozess miteinander zu verknüpfen seien. In der Empfehlung für die Sekundarstufe 2, aus welcher die Definition stammt, wird von vier Lernorten ausgegangen: „Schule, Lehrwerkstatt, Betrieb und Studio“ (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 71). In dem engen Kontext der Sekundarstufe 2 stehen auch die Gründe für das Postulat unterschiedlicher Lernorte und einer „Lernortpluralität“: Mehrere Lernorte sollen dazu führen, „die pädagogisch wie politisch fragwürdig gewordenen Seiten des dualen Systems“ aufzuheben. Sieht man einmal von dem „Studio“ ab, wird hier mit Schule, Lehrwerkstatt und Betrieb die konzeptionelle Grundlage für eine „triale Berufsausbildung“ gelegt. Die Lernortdefinition des Deutschen Bildungsrates basierte auf der Grundidee eines umfassenden Qualifikationserwerbs, der gleichermaßen zu Fach-, Sozial- und Humankompetenzen führen sollte. Es ist insofern ein „moderner“ Ansatz, der auch heute noch gilt. Die Umsetzung dieses Ansatzes auf die Lernorte jedoch wird heute anders gesehen; der Bildungsrat dachte Lernorte letztlich als Orte der Lehre, als Orte des Angebots, des Unterrichts, der Erziehung. Der institutionelle Bias des Lernortkonzepts begründete in der Berufsbildung und Berufsbildungsforschung eine längere Tradition. Schon früh wurde der Betrieb als Lernort in ersten Ansätzen einer theoretischen Betrachtung abgelöst durch den Arbeitsplatz, der nach dem Grad der „Pädagogisierung“ typologisiert wurde (Münch/Kath 1973, S. 19). Die Lernorte innerhalb des Betriebes wurden von Münch u. a. (1981) weiter ausdifferenziert; dem „Arbeitsplatz“ und der „Lehrwerkstatt“ wurde der „innerbetriebliche Unterricht“ beigesellt. Und die dem Begriff „Lernort“ attribuierte Reduktion auf eine verengte räumliche oder organisatorische Sichtweise wurden andere Begriffe entgegengehalten (etwa „Lernfeld“), mit denen das Lernortkonzept verstärkt auf didaktisch-methodische Ansätze und unterschiedliche Lehr-Lern-Arrangements fokussiert werden sollte (Kell/Kutscha 1983, S. 197 ff.). Hier endet mein Verweis auf die frühe LernortDiskussion in der beruflichen Bildung – das ist nach wie vor derjenige Bildungsbereich, in dem die Lernortdebatte die höchsten Wellen schlägt. Aber auch im Bereich der kulturellen und der politischen Bildung spielen Lernortkonzepte eine bedeutende Rolle. So entspann sich in den 1970er-Jahren eine heftige Diskussion über Museen unter dem Stichwort „Lernort oder Mu-
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sentempel?“. Hier wurde der organisationsbezogene Fokus der Lernortdefinition als Frage von Leitbild und Funktion eines ganzen Einrichtungstyps verstanden. Der Begriff des Lernortes mit Bezug auf die Museen war hierbei Kritik und Postulat zugleich. Kritik daran, dass der Bildungsauftrag der Museen gegenüber den anderen drei Aufgaben (Sammeln, Forschen, Bewahren) in den Hintergrund trat, und Postulat insofern, als eine verstärkte Hinwendung der Museen zu ihren Aufgaben im Bildungsbereich gefordert war. Auch in der politischen Bildung hat der Ort des Lernens immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. So waren die Konzepte der 1970er-Jahre, die Geschichtsbewältigung vor Ort, ein völlig neuer Ansatz, biographische Existenz und Interessen mit gesellschaftsbezogenen Lernprozessen zu verbinden. Der Slogan „Grabe, wo du stehst“ verweist auch heute noch auf diesen Ansatz. Stadtführungen mit politisch-historischem Fokus (z. B. „Hannover im Nationalsozialismus“) waren ebenso Ansätze des ortsbezogenen Lernens wie Konzepte des politisch-kulturellen Programms „Reisen bildet“. Mehr noch: Gerade in der politischen Bildung war die räumliche Gestaltung, die Umgebung des Lernens, schon wesentlich früher ein wichtiges pädagogisches Element; dafür sprechen zuvorderst die Diskussionen um die Gestaltung von Heimvolkshochschulen wie etwa Prerow und Klappholttal. Kennzeichnend für die Vergangenheit war, dass die Lernortdiskussionen – die der beruflichen, der politischen und der kulturellen Bildung – zwar einen gemeinsamen Bezugspunkt hatten, die jeweiligen Diskussionen aber getrennt und ohne Berührungspunkte verliefen. Auch hier haben wir einen Unterschied zur Gegenwart: die Vernetzung differenter Organisationstypen und der Diskurse, die sich um ihre Kooperation im Bildungsgeschehen drehen, steht heute weit mehr im Vordergrund. Wichtig ist auch festzuhalten, dass bereits in der ersten Phase dieser Lernortdiskussionen eine heftige Kritik an dem organisationsbezogenen und instrumentellen Charakter des Lernortkonzepts geäußert wurde. So schreibt Beck (1984) unter dem Titel „Kritik des Lernortkonzepts – ein Plädoyer für die Verabschiedung einer untertauglichen pädagogischen Idee“, dass dieses erziehungswissenschaftlich irrelevant sei und seine Entfernung aus pädagogischen Denkfiguren sicherlich einen Gewinn bedeuten würde. Seine Argumente waren: Die Autonomieansprüche der Lernorte würden ein didaktisch-curriculares Konzept geradezu verhindern, die pädagogische Funktionalität einzelner Lernorte werde hypostasiert und die Adressaten spielten kaum eine Rolle.
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Organisation – Lernort – Lernprozess
In der Tat hatte das Lernortkonzept ein doppeltes Gesicht: Zum einen bezog es sich auf Institutionen und Organisationen (Bildungsrat, Schule, Lehrwerkstatt, Betrieb und Studio), andererseits sollten in diesen Institutionen bestimmte Lernprozesse für bestimmte Menschen möglich sein. Daher wurde im Verlauf der Diskussion der Begriff des Lernortes differenziert. Im Bereich der beruflichen Bildungsprozesse (Senatskommission für Berufsbildungsforschung 1990, S. 74 ff.) werden Lernorte anders definiert als noch zu Zeiten des Bildungsrates: „Lernort“ bedeutet nicht mehr die Organisation (wie Betrieb oder Lehrwerkstatt), sondern eine organisatorische Einheit, an der oder in der Lernprozesse stattfinden. Zwischen Organisation und Lernprozess wird somit eine mittlere Ebene definiert, die als Lernort zu verstehen ist. Im Betrieb (der Organisation) sind dies demnach etwa der Arbeitsplatz oder innerbetriebliche Fortbildungsmaßnahmen, an denen Lernprozesse stattfinden. Diese Präzisierung macht es möglich, die spezifische didaktische Qualität des Lernortes präziser zu beschreiben, wie z. B. für den Betrieb: Es geht dann um „lernrelevante Arbeitsplätze“ oder – bildungspolitisch betrachtet – um die Erhöhung der Lernrelevanz von Arbeitsplätzen. Hier ergibt sich bereits ein erster Grund dafür, dass der Begriff des Lernortes in der beruflichen Bildung eine Art Renaissance erfährt: Er signalisiert den Versuch, die betriebliche Bildung an die Arbeitsplätze zurückzubringen, die Abspaltung von Bildungsprozessen und Arbeitstätigkeit zurückzunehmen. Dahinter stehen andere Vorstellungen von Arbeitsprozessen und benötigten oder profitablen Kompetenzen als noch vor zwanzig Jahren. Die Nutzung menschlicher Kreativität und Produktivität wird hier im betrieblichen Kontext regelrecht „verortet“ (Severing 2003). Die Definition des Lernortes als einer mittleren Ebene zwischen Lernprozess und Organisation lässt sich natürlich nicht ungebrochen auf andere Organisationen so wie im Betrieb übertragen. So stellt sich etwa im Museum die Frage, ob das einzelne Exponat oder ein kontextuell konzipierter Raum oder Museumsteile oder das ganze Museum der Lernort sei. Das gleiche gilt etwa bei Gedenkstätten wie Dachau und Auschwitz, bei Laboratorien, bei Erlebnisparks und Science-Centern. Einfacher scheint dies im Theater, das dann zum Lernort wird, wenn ein Stück gespielt wird – etwa eines der „Lehrstücke“ von Bertold Brecht. Aber auch bei Bildungseinrichtungen stellt sich die Frage der „mittleren Ebene“ des Lernortes: Ist es die einzelne Maßnahme, das Gebäude, der Raum, in dem man lernt? Die heutige Lernortdiskussion impliziert noch genereller als in den 1970erJahren nicht nur eine Reflexion über die Organisation, welche Lernort ist oder über Lernorte verfügt, sondern auch über das didaktische Konzept, in welches
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der Lernort eingebunden ist. Dazu will ich mich äußern, bevor ich auf die Frage des Lernens in Netzen (von Lernorten) eingehe.
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Lernort und didaktisches Konzept
Gehen wir noch einmal zurück zum Begrifflichen: Ein Lernort ist dort, wo Menschen lernen, und er ist das, was sie beim Lernen umgibt. Er ist dort, wo sich der Mensch beim Lernen physisch aufhält. Die Kategorie des Lernortes ist an die Leiblichkeit der Menschen gebunden, auch dann, wenn sich seine Gedanken von diesem physischen Ort entfernen. Der Lernort „Internet“ ist daher der Platz vor dem Computer. Dem widerspricht nicht, dass in der Nutzung des Internets eine neue Sozietät entsteht, soziale Interaktionen und Existenzen, die mit den realen physischen Gegebenheiten verknüpft sind; dabei handelt es sich aber um die Transformation des „Lernortes“ in das, was im Englischen „space“ genannt wird. Aber wir stellen fest, dass in der erziehungswissenschaftlichen Definition des Lernortes diese „lernerseitige“ Sicht auch heute nur eine geringe Rolle spielt. Der Begriff des Lernortes ist verbunden mit Lern- bzw. besser „Lehrzielen“; Lernorte werden letztlich danach beurteilt und gestaltet, wie sie zu der in ihr enthaltenen Intentionalität passen, inwieweit sie für Zielgruppen und Lernziel geeignet sind. Damit ist nicht jeder Ort, an dem Menschen lernen, ein Lernort, sondern nur jeder Ort, an dem intentionale Lehrprozesse wirksam sind oder sein können. Genau genommen also ein „Lehrort“. In der beruflichen Bildung etwa zeigt sich dies darin, dass nicht jeder Arbeitsplatz ein Lernort ist, obwohl mit Sicherheit jeder Mensch am Arbeitsplatz lernt. Aber das Erlernen von Apathie, Resignation und habitualisierten Bewegungen bei bestimmten Arbeitsplätzen ist nicht das intendierte Lehrziel, ein solcher Arbeitsplatz von daher auch kein Lernort. Erst dann, wenn Arbeitsplätze bestimmte Lernpotentiale und Lernmöglichkeiten haben, wenn sie „lernförderlich“ sind, gelten sie als Lernort: „Eine zentrale Voraussetzung zur Einrichtung solcher Lernorte ist das Vorhandensein ganzheitlicher Arbeitsaufgaben mit planenden, ausführenden und bewertenden Anteilen. Die Ganzheitlichkeit von Arbeitsaufgaben zeigt sich in der Ablauforganisation darin, dass in einer vollständigen Handlung verschiedene Tätigkeiten von der Auftragsentgegennahme und Arbeitsvorbereitung über die eigentliche Produktion und Qualitätskontrolle bis zum Abschluss des Auftrages wahrgenommen werden. Dies korrespondiert mit lernrelevanten Dimensionen von Arbeitssituationen, die in einigen empirischen Studien festgestellt worden sind und die in unterschiedlichen Facetten als Gestaltungsgesichtspunkte für die Erschließung und Gestaltung des Lernorts Arbeitsplatz empfohlen werden.“ (Dehnbostel 2002, S. 368f.)
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Der Lernort ist in diesem Sinne ein Ensemble von Eigenschaften, das in ein didaktisches Konzept passt. Es stellt sich die Frage, warum hier nicht der Begriff „Lehrort“ verwendet wird; aber dies mag daran liegen, dass Lehre bislang in einem engeren Sinne verstanden und das Herstellen von „Lernarrangements“ nicht als Lehrtätigkeit gesehen wird – obwohl ein immer größerer Teil der Lehrtätigkeit (auch im medialen Bereich) genau darin besteht. Dem Verhältnis von Lernort (aus Lernersicht) und Lernort aus Sicht der Didaktiker nähert man sich in der Freizeitpädagogik mit den Begriffen „implizit“ und „explizit“ an; danach ist ein expliziter Lernort ein solcher, der nach didaktischen Erwägungen gestaltet ist, ein impliziter Lernort ein solcher, an dem Lernen stattfinden kann. Allerdings: Nicht jeder Ort ist ein impliziter Lernort in diesem Verständnis, denn auch hier wird noch eine Voraussetzung formuliert: Implizite Lernorte müssen Anregungspotentiale, Erlebnischarakter, Reize (auch im Konsumbereich) haben, um zum Lernen anzuregen. Folgt man diesem didaktisierten Lernortbegriff, ergibt sich notwendig die Frage, welche Qualität ein Lernort haben muss, um innerhalb eines bestimmten didaktischen Konzepts einen Sinn zu machen. Betrachtet man die Lernorte im beruflichen, politischen und kulturellen Bereich, soweit sie in der Diskussion sind, so ergeben sich folgende Dimensionen: •
• • •
Lernorte sind handlungsbezogen, ermöglichen Praxis und eigene Erfahrungen damit, ermöglichen die Reflexion von Praxis, eigene Wissenskonstruktionen und Interpretationen; Lernorte ermöglichen einen eigenen Interessenszugang, eigene Freiheitsgrade und persönliche Entwicklungsperspektiven; Lernorte ermöglichen einen emotionalen Zugang zum Gegenstand; Lernorte ermöglichen eine ganzheitliche Verbindung von sozialen, inhaltlichen und persönlichen Bezügen.
Interessanterweise zeigt sich, dass diese Dimensionen all diejenigen Lernorte betreffen, die nicht per se einer intentionalen Lehre verpflichtet sind wie etwa Schule und Hochschule. Diese werden heute seltener Lernorte genannt – vielleicht, weil sie zu eindeutig als „Lehreinrichtungen“ wahrgenommen werden. Und damit besteht eine deutliche Änderung zur Definition des Bildungsrates von 1974. In den Ergebnissen des Forum Bildung heißt es etwa: „Durch die Öffnung von Bildungseinrichtungen werden andere Lernorte und Sachverstand von außen einbezogen. Das fördert das Lernen in Zusammenhängen, hilft die Aufsplitterung der Unterrichtsinhalte durch übergreifendes und projektorientiertes Lernen zu
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überwinden und unterstützt den gemeinsamen Erwerb von fachlichen und fachübergreifenden Kompetenzen. Die Öffnung von Bildungseinrichtungen fördert so auch das Lernen des Lernens und bereitet auf lebensbegleitendes Lernen vor.“ (Forum Bildung 2002, 46f.) In diesem Sinne substituieren Lernorte außerhalb der Bildungseinrichtungen deren Mängel an Ganzheitlichkeit und übergreifender Verknüpfung. Es stellt sich hier gleich die Frage, ob die heutige Kombination von Lernorten in einem übergeordneten didaktischen Modell nicht eher die Organisationen der Bildung auch in ihren Mängeln verstetigt als diese in einen perspektivischen Reform- und Transformationsprozess zu bringen – so wie schon von Hentig in den 1970er-Jahren sagte, „es geht nicht um die Ergänzung der Schule, sondern um die Entschulung der Schule.“ Wichtig ist hier festzuhalten, dass Lernorte als didaktisch strukturierte verstanden werden, die – jeweils lernzielspezifisch – nachweisbare lernförderliche Bedingungen haben. Nun ist ein Ort nicht an sich lernförderlich oder lernfeindlich. Selbst dann nicht, wenn er wie bei Virginia Woolf „A Room of One’s Own“ ist, und nur das, auch dann ist es wichtig, den Kontext des Ortes zu kennen und das, was in ihm und an ihm geschehen soll. Der genius loci entfaltet sich über den Kontext, das Wahrnehmbare, über die Atmosphäre. Der analoge Begriff zum Ort ist der Gegenstand. Lernorte sind gegenständlich beschaffen, der Umgang mit ihnen und ihre Nutzung sind lernrelevant. An einem Ort, der mit Schreibtischen für einen Frontalunterricht bestückt ist, lassen sich nicht ohne weiteres gruppendynamische Übungen realisieren. An einem Ort, an dem es weder Werkzeug noch zu bearbeitende Gegenstände gibt, lässt sich nicht aus eigenen handwerklichen Erfahrungen lernen. Und an einem Ort, dem es an sinnlichen Eindrücken mangelt, lässt sich schwerlich ein Erlebnislernen initiieren. Dennoch fehlt der Kategorie des Ortes oft eine Dimension, die (insbesondere für soziale) Lernprozesse unabdingbar ist: das Gegenüber, die lehrende Person. Vielfach wird über Lernorte so gesprochen, als gäbe es dort – außer den Lernenden – gar keine Menschen. Und schon gar keine Lehrkräfte, die in soziale Interaktion umsetzen, was der Lernort ihnen an didaktischen Möglichkeiten bietet. Der Meister in der Lehrwerkstatt, die Führerin im Museum, der Vorarbeiter am Arbeitsplatz, die Moderation im Science-Center, sogar die besprochene Kassette im Erlebnis-Zoo oder das erklärende Begleitheft im Theater – all dies verdeutlicht die humane Seite des Lernortes, die diesen überhaupt erst als didaktisch beschreibbaren Raum entfaltet. Hier liegt eine seltsame Leerstelle, wenn es um Lernorte und ihre Verknüpfung im Bildungssystem geht. Diese Leerstelle wird ein Problem, wenn es praktisch fast immer um Lernorte außerhalb genuiner Bildungseinrichtungen geht und damit um Lernorte, die sich in Organisationen mit anderen als Bildungsfunktionen befinden oder selbst diese Organisationen
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sind. Die Frage der didaktischen Gestaltung der Lernorte und ihrer professionellen Erschließung als pädagogischer Kontexte ist auch eine Frage an die Qualifikation derjenigen Menschen, die diese Lernorte gestalten. Und erst recht eine Frage, wenn es um die Vernetzung von Lernorten zu ausdifferenzierten Lernsystemen geht.
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Lernort-Netzwerke
Von Anfang an war die Einführung des Begriffs des Lernortes mit dem Gedanken an eine systematische Vernetzung verbunden. Die Bildungskommission sprach von einer „Pluralität der Lernorte“, weil „Schule als einziger Lernort (...) auch für die Bildungsgänge fragwürdig geworden [ist], die bisher rein schulisch durchgeführt worden sind (...) Situationen im Betrieb und die Nähe zur Produktion sind dafür ebenso bedeutsam wie besondere Angebote für motorisches und emotionales Lernen“ (Bildungsrat 1974, S. 69f.). Der Bildungsrat hatte hierfür den Sammelbegriff „Studio“ gebraucht, um so verschiedenartige Lernorte wie Jugendzentren, Theater, Museen, Videotheken, Bibliotheken, Ateliers neben Betrieben und Lehrwerkstätten als Lernorte zu platzieren. Tatsächlich hatte es solche pluralen Lernorte auch schon vor der Zeit des Bildungsrates gegeben. So sind in manchen Städten die naturkundlichen Museen allen Schülergenerationen vertraut, die sich zu entsprechenden Themen im schulischen Unterricht einen sinnlichen Eindruck verschaffen sollten (z. B. Museum Alexander Koenig in Bonn, Museum Senckenberg in Frankfurt). Ähnliches gilt für den naturwissenschaftlichen Unterricht bei einer Vielzahl von Schulen im Münchner Raum, für die das Deutsche Museum ein Glücksfall ist. „Museumspädagogik“ wurde aus dieser Tradition heraus viele Jahre auch nur als Betreuung von Schulklassen im Museum verstanden. Das duale System selbst mit der Verbindung von Lehre und Berufsschule ist eine solche Kombination oder das Funkkolleg, das schon sehr früh in einer beispielhaften Verbindung von Bildungsadministration, Rundfunk (Radio) und Weiterbildung (Volkshochschulen) medial und sozial organisierte Lernorte verband. Schon in diesen frühen „Netzwerken“ pluraler Lernorte folgte die Verknüpfung den realen oder zugeschriebenen Eigenschaften einzelner Lernorte mit Blick auf die Funktionalität in einem didaktisch geplanten Lernprozess: •
Betrieb und Berufsschule mit dem Ziel, einen praxisorientierten Qualifikationserwerb mit einem betriebsübergreifenden berufsqualifizierenden Abschluss zu verbinden.
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•
Ekkehard Nuissl Mediale Bildungsangebote im Radio und sozial organisierte Begleitkurse in der Volkshochschule mit dem Ziel, individuelles Lernen zu ermöglichen und zu unterstützen, es aber zugleich in gemeinsame Lernprozesse einzubinden und Beratung und Unterweisung zu ermöglichen. Museen und Schulen mit dem Ziel, übergreifendes theoretisches Wissen mit konkret anschaulichen Erfahrungen zu verbinden (vgl. Euler 1996).
Immer wird auf die Grundüberlegung zurückgegangen, dass menschliches Lernen nur dann gelingt oder zumindest gut gelingt, wenn es diese unterschiedlichen Seiten erfasst. Schon in diesen frühen Beispielen von Netzwerken, die in der Regel nur bilaterale Kooperationen sind, zeigen sich aber auch bereits die Schwierigkeiten, didaktische Konzepte lernortübergreifend zu definieren und die Lernorte an den „richtigen“ Stellen zu platzieren. Mit anderen Worten: Den bekannten didaktischen Fragen „Was?“, „Wie?“ und „Mit wem?“ gesellt sich in diesen lernortpluralen didaktischen Konzepten die vierte Frage „Wo?“ hinzu. Abgesehen von den Fragen nach der mikro- und mesodidaktischen „Passung“ der Lernangebote an den einzelnen Lernorten untereinander stellt sich die Frage nach der Entwicklung, dem Management und der Evaluation des gesamten makrodidaktisch organisierten Systems von Lernort-Netzwerken. Diese Frage stellt sich umso intensiver, als (ich komme darauf zurück) die Organisationen, die identisch sind mit Lernorten oder in denen Lernorte angesiedelt sind, sich ihrerseits ganz offenbar in einem rapiden Tempo entwickeln. In den Betrieben, in der Regel als zuerst genannter Lernort in übergreifenden Konzepten, sind in modernen und auch technologisch anspruchsvollen Arbeitsprozessen unterschiedliche Formen der Verbindung mit Lernenden entstanden – etwa Qualifizierungsstützpunkte, Lernstationen, Lerninseln, Qualitätszirkel (Dehnbostel 2002, S. 370). Innerhalb größerer Betriebe bilden diese schon in sich ein System der „Lernortpluralität“, die – wenn man so will – parallel zu einer „Arbeitsplatzpluralität“ besteht. In der Terminologie der beruflichen Bildung sind diese organisationsinternen Verbindungen „Lernortkombinationen“. Ein solches betriebsbezogenes „geschlossenes“ System der Lernortkombination kann natürlich nicht in allen Betrieben realisiert werden. Eine Art „Lernortkombination“ sind auch Ansätze, an einem leiblich gebundenen Ort mit Hilfe der Möglichkeiten der neuen Medien Lernorte zu erschließen. Solche Beispiele sind etwa die Tele-Akademie der Fachhochschule Furtwangen, ein Internetcafé in einer Weiterbildungseinrichtung oder medienbezogene Projekte in einer kommunalen Bibliothek. Am Beispiel der Tele-Akademie der Fachhochschule Furtwangen zeigen sich organisationsinterne Kombinationen, die auf die technischen Möglichkeiten
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des Internet und von ISDN-gestützten Videokonferenzen basieren. Hier entstehen verknüpfte Lernorte wie etwa Tele-Seminare, Tele-Studium, Mediothek und Tele-Vorlesung, verbunden mit Präsenzveranstaltungen und Studienmaterialien. Lernorte sind hier insofern ausdifferenziert, als sie die Möglichkeiten der Medien nutzen, über den Ort des Geschehens hinauszugehen. An diesem Beispiel zeigt sich auch bereits die weitergehende Frage, die besonders dann virulent ist, wenn die Grenzen der Organisation (und damit auch die Lernortkombination) überschritten werden: „Resultierend aus den neuen Vermittlungsformen, z. B. bei internetbasierten Tele-Lernangeboten, verlagert der Einsatz von Tele-Medien die Steuerung des Lernprozesses auf die Lernenden. Das bedeutet, der oder die Lernende entscheidet z. B. über das Lerntempo, die Auswahl der Lerninhalte, die Intensität und Art der Betreuung.“ (Gorhan et al. 1998, S. 107) Diese organisationsübergreifende Verküpfung von Lernorten, die Lernortkooperation, ist im klassischen Sinne diejenige von Berufsschule und Betrieb oder Schule und Museum. Eine Lernortkooperation ist in der Regel bilateral zwischen zwei Organisationen oder Organisationstypen und ermöglicht eine genauere Absprache der jeweiligen Funktion und Struktur der didaktischen Organisation an den Lernorten. Dies gilt auch dann, wenn die Lernorte nicht identisch sind mit den Organisationen, sondern nur Teile derselben betreffen, und wenn mehr als zwei Organisationen verknüpft sind, sofern es sich nur um zwei Organisationstypen handelt. Ein Beispiel dafür ist etwa die Zusammenarbeit des Forschungszentrums Borstel in der Nähe von Hamburg, das sich mit biologischen und chemischen Prozessen bei Lungenerkrankungen beschäftigt, und mehreren Schulen der Region, die für ihren Biologie- und Chemieunterricht die Labors des Forschungszentrums nutzen. (Die Kooperation des Forschungszentrums mit den drei Universitäten Kiel, Lübeck und Hamburg will ich hier einmal nicht erwähnen, da die Verbindung von Lernorten im Studium noch einmal eine spezifische Dynamik hat.) In dieser Lernortkooperation stellt das Forschungszentrum das Labor mit seiner auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand befindlichen Einrichtung, einschlägige Materialien, technisch-apparativen Support und Anregungen durch Inputs der Fachwissenschaftler. Die Schulen stellen die Lehrkraft, Aufgaben im Kontext des schulischen Curriculums sowie vor- und nachbearbeitende Reflexion der Laborarbeit. Es handelt sich um eine mittlerweile bewährte Lernortkooperation, die einen eigenen Namen hat („Fusch“) und sich sowohl im Forschungszentrum als auch in den Schulen verstetigt; in den Schulen wurden – als Schulverbund – Lehrerkapazitäten explizit für die Kooperation zur Verfügung gestellt, im Forschungszentrum Laborzeiten und Personalressourcen dafür freigestellt. Hier geht es weniger um Selbststeuerung als vielmehr um Defizitausgleich und wissenschaftliche Anregung sowie um Impulse für die Wissenschaft.
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Heutzutage wird ein Typ der Lernorte besonders diskutiert: der Lernortverbund; auch er kann in speziellen Fällen ähnlich strukturiert sein wie die erwähnte Lernortkooperation, umfasst aber in der Regel mehrere Organisationen unterschiedlichen Typs. Zahlreiche Beispiele zeigen sich aus Projekten und Modellversuchen, in denen der Übergang aus der Schule in den Beruf oder in die berufliche Bildung entwickelt werden soll. Viele solcher Ansätze sind im derzeit laufenden Programm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ zu finden, das mit Unterstützung des Europäischen Sozialfonds vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Beispiel für einen Lernortverbund ist auch das Projekt „Förderung der betrieblichen und akademischen Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern“. Hier haben sich in einem regionalen Verbund Hochschulen, Schulen, Unternehmen, Arbeitsämter und Verbände zusammengeschlossen (in Bielefeld), um hauptsächlich Konzepte für Schülerbetriebspraktika zu entwickeln und zu erproben. Diese werden vor- und nachbereitet sowie durch Fortbildungen und Seminare für Lehrer, Familienangehörige und Unternehmensvertreter flankiert. Auch dieses Projekt ist ein Modellprojekt, es wird im Rahmen des Programms „Schule – Wirtschaft/Arbeitsleben“ des BMBF gefördert. Die Beispiele von Lernortkombination, Lernortkooperation und Lernortverbund zeigen, dass wir heute in einer neuen Stufe der Lernortdiskussion sind; das herkömmliche Lernortkonzept wird durch die in Netzwerkstrukturen eingebundenen Lernorte erweitert (Münch 1995; Dehnbostel 2002). Netzwerke sind Organisationsformen der Moderne und gelten als diejenige Organisationsform, die der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft analog ist. Dabei hat die Netzwerkdiskussion eine eigene und neue Qualität in der Definition der (Lernort-)Kooperation erreicht. Heute werden allgemeine Anforderungen an die Netzwerkarbeit formuliert, die über die bisherige, insbesondere auf berufliche Bildung bezogene Kooperationsdefinition hinausgehen (vgl. Jütte 2002). Solche allgemeinen Anforderungen und auch Bedingungen für Netzwerkarbeit sind etwa • • • • • •
Vereinbarungen zwischen den Netzwerkpartnern, Verbindlichkeiten der vereinbarten Aktivitäten, Vertrauen und Selbstvertrauen der Partner, Gemeinsamkeiten, insbesondere gemeinsame Interessen, definierte Handlungsspielräume sowie nachgewiesene Kooperations- und Kommunikationskompetenz (Euler 2004).
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Zum Schluss: Offene Fragen zu Lernorten und Netzwerken
Netzwerke sind flexible, wenig hierarchische und durchsichtige Gebilde, die versprechen, den heutigen Anforderungen an Lehre und Lernen gerecht zu werden. Dabei zeigen sich aber doch mehrere Probleme und offene Fragen, die in der zukünftigen Entwicklung von Lernortkonzepten auf Netzwerkbasis zu berücksichtigen sind. 1.
2.
3.
Eine erste Frage betrifft die Konzeptualisierung der Lernorte selbst. Lernorte mögen eine eigene Atmosphäre, eine eigene Aura haben. Bibliotheken atmen den gedanklichen Staub, den in hunderten von Jahren Menschen dort in Schichten hinterlassen haben; Geräte und Räume in Werkstätten haben Eigenschaften, die überpersönlich sind und Interesse ermöglichen und Unsicherheit verringern. Orte haben immer mit Sinnlichkeit, Emotion und Wahrnehmung zu tun, aber sie sind nicht per se didaktisiert, sie haben nicht per se ein didaktisches Konzept. Wenn Orte zu Lernorten im hier diskutierten Sinne werden sollen, gewissermaßen genuine Teile von Lehrangeboten, dann müssen ihre Eigenschaften und Merkmale einem didaktischen Konzept folgen. Eine solche Didaktisierung des Ortes ist vielfach sperrig, er selbst widersetzt sich in seiner Ganzheitlichkeit eindimensionalen Lehrzielkonzepten. Museen wissen aus der Mehrdeutigkeit ihrer präsentierten Objekte davon viel zu berichten. Mit anderen Worten heißt das: Wenn Lernorte nicht explizit als solche geschaffen werden, bedürfen sie einer grundlegenden didaktischen Reflexion und Gestaltung. Der Zusammenschluss von Lernorten zu Lernortkooperationen, kombinationen und -verbünden setzt ein übergeordnetes didaktisches Konzept voraus, das jedem Lernort seine Funktion und seinen Platz zuweist. Abgesehen davon, dass die Lernorte in diesen übergeordneten Konzepten nur schwierig einzupassen sind, bedarf dieses selbst nicht nur einer Entwicklung, sondern auch einer steten lebendigen Gestaltung, Erneuerung und Überprüfung. Lernortverbünde müssen „leben“, um die Vorteile der Netzwerkstruktur wirksam werden zu lassen. Ein solches „Leben“ erfordert nicht nur entsprechende didaktische Kompetenzen, sondern Arbeit, administrativen Aufwand und hohe Verbindlichkeit. Dies sind Ressourcen, welche der unmittelbaren Lehre an den Lernorten abgehen. Lernortverbünde erfordern für die Ausarbeitung komplizierter didaktischer Modelle sowie für die Einbindung und das Management der Lernorte Qualifikationen von den Akteuren, die diese nicht unbedingt haben. Verbunden mit dem Qualifikationsbedarf derjenigen Lehrenden, die an den Lernorten aktiv sind oder diese medial oder in Form eines Arrangements steuern, ent-
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5.
Ekkehard Nuissl steht hier ein spezifischer Kompetenzbedarf, zu dem uns noch wenige Informationen vorliegen, ganz zu schweigen von den entsprechend umgesetzten Aktivitäten der Kompetenzentwicklung. Das Lernortkonzept im hier vorgestellten Sinne ist ein angebotsorientiertes Konzept, das ist eigentlich sehr traditionell. Wenn das Postulat, dass die Steuerung des Lernprozesses auf die Lernenden übergeht, Realität werden soll, stellen sich für Lernorte und ihre Verbünde gänzlich neue Fragen. Der Zugang zu den Lernorten muss offen und begehbar sein, die Lernenden müssen über die Eigenschaften und spezifischen Leistungen der Lernorte informiert sein, Beratung und Unterstützung der Lernenden bei ihren Wegen durch Lernortverbünde und Netzwerke des Lernens sind nötig. Der Verbindlichkeit, die einerseits im Lernortnetzwerk erreicht werden muss, steht eine große Offenheit seiner Nutzung gegenüber. Verfahren der Bildungswerbung sind ebenso weiterzuentwickeln wie solche der Beratung und Evaluation. Schließlich ist die Frage der Lernorte innerhalb ihrer Organisationen sowohl unter dem Aspekt der Netzwerkbildung als auch unter dem Aspekt der Nachfrageorientierung ein noch völlig offener Bereich. Letztlich können Organisationen nur dann an Lernortnetzwerken teilnehmen, wenn sie selbst „lernende Organisationen“ sind, wenn sie ihre Arbeit innerhalb der Netzwerke und im Kontext der Lernortkombinationen zum Anlass einer eigenen Organisationsentwicklung machen. Gerade dann, wenn Lernorte sich nicht nur dadurch definieren, dass sie didaktisch beschreibbare und auf Lehrziele fokussierte Merkmale haben, sondern weitergehende, die mit diesen nur in einem bedingten Zusammenhang oder sogar im Widerspruch dazu stehen (z. B. Arbeitsplätze), ist die Entwicklung der Lernorte und damit auch der Organisationen, zu denen sie gehören oder die sie sind, von vorrangiger Bedeutung.
Wir stehen also, wenn wir das moderne und zukunftsorientierte Konzept miteinander vernetzter Lernorte ernst nehmen, vor einer Reihe weiterer Forschungs- und Entwicklungsaufgaben. Ich glaube aber schon, dass es sich lohnt, diese ernst zu nehmen und auch anzunehmen.
Literatur Beck, K. (1984): Zur Kritik des Lernortkonzeptes – Ein Plädoyer für die Verabschiedung einer untauglichen pädagogischen Idee. In: Georg W. (Hrsg.): Schule und Berufsausbildung. Bielefeld: Bertelsmann, S. 247–262.
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Dehnbostel, P. (2002): Bilanz und Perspektiven der Lernortforschungen der Beruflichen Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 48. Jg., S. 356–377. Deutscher Bildungsrat (Hrsg.) (1974): Gutachten und Studien der Bildungskommission. Band 38: Die Bedeutung verschiedener Lernorte in der Beruflichen Bildung. Stuttgart: Klett Verlag. Diesner, I. (2004): Politisch-strukturelle Rahmenbedingungen zur Förderung von Lernortkooperation. In: Euler, D. (Hrsg.): Handbuch der Lernortkooperation. Band 1. Bielefeld: Bertelsmann, S. 258–270. Euler, D. (1996): Lernortkooperation als Mittel zur Förderung von Transferkompetenz. In: Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Lernortkooperation und Abgrenzung der Funktionen von Betrieb und Berufsschule. Bielefeld: Bertelsmann, S. 183–205. Euler, D. (Hrsg.) (2004): Handbuch der Lernortkooperation. Bielefeld: Bertelsmann. Forum Bildung (Hrsg.) (2002): Empfehlungen des Forum Bildung. Berlin: Forum Bildung. Gorhan, E./Kerres, M./Mahringer, M.-L.(1998): Lernstatt der Zukunft. Tele-Akademie der Fachhochschule Furtwangen. In: Nispel, A. et al. (Hrsg.): Pädagogische Innovation mit Multimedia, Analysen und Lernorte. Frankfurt am Main: DIE, S. 107–119. Jelich, F.-J. (Hrsg.) (2003): Die pädagogische Gestaltung des Raums. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Jütte, W. (2002): Soziales Netzwerk Weiterbildung, Bielefeld: Bertelsmann. Kell, A./Kutscha, G. (1983): Integration durch Differenzierung der „Lernorte“? – Theoretische und praktische Aspekte der Lernortproblematik im Modellversuch Kollegschule Nordrhein-Westfalen. In: Ruhland, H.-J. et al. (Hrsg.): Berufliche Sozialisation in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Lernorten. Düsseldorf: VLBsVerlag, S. 192–231. Münch, J./Kath, F. M. (1973): Zum Phänomenologie und Theorie des Arbeitsplatzes als Lernort. In: Zeitschrift für Berufsbildungsforschung, 2. Jg., S. 19–30. Münch, J. (1977): Pluralität der Lernorte – Vorüberlegungen zu einer Theorie. In: Münch, J. (Hrsg.): Lernen – aber wo? Der Lernort als pädagogisches und lernorganisatorisches Problem. Trier: Spee-Verlag, S. 177–187. Münch, J. (1981): Organisationsformen betrieblichen Lernens und ihr Einfluss auf Ausbildungsergebnisse. Berlin: Schmidt-Verlag. Münch, J. (1995): Die Pluralität der Lernorte als Optimierungsparadigma. In: Pätzold, G./Walden, G. (Hrsg.): Lernorte im dualen System der Berufsbildung. Bielefeld: Bertelsmann, S. 95–106. Senatskommission für Berufsbildungsforschung (Hrsg.) (1990): Berufsbildungsforschung an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland. Situation, Hauptaufgaben, Förderungsbedarf. Weinheim: Senatskommission für Berufsbildungsforschung. Severing, E. (2003): Lernen im Arbeitsprozess: eine pädagogische Herausforderung. In: GdWZ, 14. Jg., S. 1–4.
Grundkompetenzen für lebenslanges Lernen – eine Herausforderung für Schule und Hochschule? Christiane Spiel
Zwei Zitate spannen den Bogen des Beitrags auf und belegen gleichzeitig Relevanz und Dringlichkeit des Themas. Senecas Worte „non scholae, sed vitae discimus“ haben seit Jahrhunderten ihre Aktualität nicht verloren. Zweifellos soll nicht für die Schule gelernt werden, aber sehr wohl in der Schule. Der Ausspruch von Travers (1978, S. 125), „the school is more likely to be a killer of interest than the developer“, lässt jedoch daran zweifeln, dass dies in ausreichender Weise geschieht und die Schule den Grundstein für Bildungsinteresse und Bildungsmotivation legt (s. Prenzel 1994). Der erste Teil des Beitrags geht der Frage nach, ob Bildungsmotivation und lebenslanges Lernen (LLL) ein neues Konzept darstellen. Daran schließt sich eine Bestandsaufnahme zu Bildungsmotivation und LLL an, die anhand von drei prototypischen empirischen Studien erfolgt. Den Abschluss des Beitrags bilden Forderungen für Schule und Hochschule, die aus den vorliegenden Befunden abgeleitet werden.
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Lebenslanges Lernen – ein neues Konzept?
Zweifellos stellen Motivationsprobleme kein neues Thema im Kontext von Schule und Hochschule dar. Die Frage, wie Schüler und Schülerinnen darin gefördert werden können, sich für etwas einzusetzen, es ausdauernd und zielstrebig zu verfolgen, auch wenn dies mit Anstrengung verbunden ist, erhält jedoch besondere Brisanz im Kontext der Entwicklung Europas hin zu einer „Wissensgesellschaft“, die vor zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen steht. Der Bereitschaft, dem Interesse und der Kompetenz zum kontinuierlichen und lebenslangen Lernen wird damit europaweit zentrale Bedeutung als Ziel von Bildungspolitik zugemessen (vgl. OECD 2000). Betrachtet man die internationale Fachliteratur dazu, so finden sich übereinstimmend zwei zentrale Voraussetzungen für erfolgreiches LLL: (1) Motivation
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und Interesse bzw. Wertschätzung für Bildung und Lernen sowie (2) die Kompetenzen, um diese Bildungsmotivation auch erfolgreich umsetzen zu können (Achtenhagen/Lempert 2000). In dieser Hinsicht besteht auch hohe Kongruenz mit der Bildungspolitik, die im Diskurs der Schlüsselkompetenzen Lernbereitschaft und Lernfähigkeit als zentrale Parameter nennt. Übereinstimmung herrscht in der Literatur auch darin, dass Lernkompetenzen langfristig notwendig und erforderlich sind, um das Interesse am Lernen aufrecht zu erhalten. Nur wenn man sich und sein Lernen reflektieren und steuern kann, ist man auf lange Sicht erfolgreich dabei. Sich als erfolgreich und selbstbestimmt bei einer Sache zu erleben ist die Voraussetzung dafür, intrinsische Motivation bzw. Interesse langfristig zu erhalten (s. auch Spiel/Schober 2002; Spiel et al. 2004). Die Forschungsbefunde dazu sind ernüchternd. So werden bei Schüler und Schülerinnen mit zunehmender „Verweildauer“ im Schulsystem wachsende motivationale Probleme und Defizite diagnostiziert (s. z. B. Pintrich/Schunk 1996; Gottfried et al. 2001). Ihr zum Teil trotzdem hohes zeitliches Investment für die Schule ist nicht zuletzt durch Prüfungsangst und niedriges Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten mitbedingt (Spiel et al. 2002). Nicht wenige Schüler und insbesondere Schülerinnen unterschätzen sich systematisch (Ziegler/Heller 1998), und ein nicht unerheblicher Anteil erachtet schon nach wenigen Schuljahren die eigenen Fähigkeiten als weitgehend stabil und nicht beeinflussbar (Schober/Ziegler 1998). Interesse an Schule und an schulischem Lernen nehmen mit zunehmendem Alter ab (Todt/Schreiber 1998). Wie können nun Schule und Hochschule Interesse, Bereitschaft und Kompetenz zum lebenslangen Lernen beeinflussen? Wo und wie genau tun sie es, bzw. wie entwickeln sich diese Merkmale im Laufe der Bildungskarriere?
2
Bestandsaufnahme zu Bildungsmotivation und LLL anhand von drei empirischen Studien
Die im Folgenden präsentierten Studien wurden in Österreich durchgeführt. Sie liefern gemeinsam eine prototypische Bestandsaufnahme zu Bildungsmotivation und Kompetenzen zum LLL in Schule und Hochschule. Konkret wird (1) eine IST-Stand-Analyse bei Schüler und Schülerinnen vorgestellt, (2) die Evaluation der Effekte einer österreichweiten schulischen Maßnahme dargestellt, die – wie viele ähnliche Aktivitäten – ohne klare Ziele und Verbindlichkeiten hinsichtlich des Procedere durchgeführt wurde und (3) ein Konzept systematischer Förderung der Grundkompetenzen für LLL präsentiert, das an der Hochschule entwickelt und realisiert wurde.
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Gemeinsam ist den drei Studien die theoretische Herangehensweise. Sie haben einen konstruktivistischen und sozial-kognitiven Hintergrund (s. Dweck 1999; Pintrich/Schunck 1996) und fußen auf dem Rubikon- bzw. Handlungsphasenmodell (Heckhausen 1989). Damit liegt der Fokus auf selbstbezogenen kognitiven Kognitionen (Zielorientierungen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Attributionen, etc.) und auf dem Prozess der Lernhandlung. Motivation wird in Übereinstimmung mit der neueren Forschung nicht als Eigenschaft einer Person gesehen, sondern als Prozess, der die Einleitung und Aufrechterhaltung von (Lern-)Handlungen steuert. Entsprechend dem Handlungsphasenmodell (s. Abb. 1), sind alle vier Phasen, die Abwägephase (Entscheidung zu lernen), die Planung des Lernens, die Lernhandlung im engeren Sinn und die Phase der funktionalen Handlungsbewertung, systematisch zu fördern, damit Lernen attraktiv wird und bleibt (ausführlichere Darstellungen in Schober 2002; Spiel/Schober 2002).
Abbildung 1 2.1
IST-Stand-Analyse der Grundkompetenzen und Werthaltungen für LLL bei Schüler und Schülerinnen
Basierend auf dem dargestellten theoretischen Zugang, wurde im Auftrag des österreichischen Bildungsministeriums eine Erhebung der motivationalen Situation von Schüler und Schülerinnen und deren Grundkompetenzen zum LLL durchgeführt. Insgesamt nahmen 490 Schüler und Schülerinnen (57% Mädchen, 43% Knaben) aus drei Schultypen (Grundschule, Hauptschule, Gymnasium) und
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drei Schulstufen (4.,8. und 11. Schulstufe) sowie 108 Lehrpersonen (11% Grundschule, 39% Hauptschule, 50% Gymnasium; 2/3 Frauen) teil. Die Datenerhebung erfolgte sowohl quantitativ (Fragebögen gemäß den Determinanten im Handlungsphasenmodell) als auch qualitativ (Details s. Spiel/Schober 2002). Im Folgenden werden exemplarische Ergebnisse der Studie präsentiert, die im Speziellen für die Schule und ihren Beitrag zur Förderung von Bildungsmotivation und Kompetenzen zum LLL relevant sind. Die Analysen zu den Variablen des Handlungsphasenmodells zeigten in der Phase des Abwägens deutliche Schulstufenunterschiede. Schüler und Schülerinnen der 4. Schulstufe haben höheres Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und schätzen ihre Selbstwirksamkeit höher ein als die älteren Schüler und Schülerinnen. Auch im Streben nach Kompetenzerweiterung und im Interesse haben sie höhere Werte als die Schüler und Schülerinnen der 8. bzw. 11. Schulstufe (s. Abb. 2).
Abbildung 2 Die beobachteten Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Erfolgserwartung und Wertschätzung gehen konform mit bereits vorliegenden Befunden (z. B.
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Rost/Lamsfuß 1992). Mädchen haben weniger Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten als Knaben und schätzen ihre Selbstwirksamkeit niedriger ein. Sie haben dahingehend eine eindeutig ungünstigere Ausgangsposition für Lernhandlungen, verbunden mit mehr Interesse am schulischen Lernen (höhere Wertschätzung). Die qualitativen Daten wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. Hier belegen u. a. die Befunde zu den Lernorten ebenfalls Schulstufenunterschiede. Während in der 4. Schulstufe noch mehr als 60% der Schüler und Schülerinnen gerne in der Schule lernen, gilt dies für kaum noch 30% in der 8. Schulstufe und für nur mehr knapp 20% in der 11. Schulstufe. Schule wird offensichtlich im Verlauf der Schulzeit immer weniger ein Ort, an dem man gerne lernt (s. Abb. 3).
Abbildung 3 Die Lehrpersonen wurden in der Studie u. a. gebeten, Gründe für Erfolge und Misserfolge von Schüler und Schülerinnen zu nennen. Beispielhaft werden in Abb. 4 die Angaben hinsichtlich Misserfolgen dargestellt (die Angaben zu den Erfolgsgründen waren sehr ähnlich).
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Abbildung 4 Die Analysen zeigen, dass Lehrpersonen offenbar annehmen, dass Misserfolge von Schüler und Schülerinnen weder mit dem Unterricht noch mit ihnen selbst etwas zu tun haben. Sie sehen die Gründe für schulische Misserfolge fast ausschließlich in den Schüler und Schülerinnen selbst begründet, konkret in deren Motivation, Interesse und Anstrengungsbereitschaft. Zusammenfassend hat diese Bestandsaufnahme der aktuellen Situation zum LLL in österreichischen Schulen Befunde erbracht, die sich in das Bild anderer internationaler Studien gut einfügen (s. Gottfried et al. 2001; Todt/Schreiber 1998): • • • •
Schule fördert Basiskompetenzen und Werthaltungen für LLL nur begrenzt (es bestehen die „klassischen“ Geschlechtsunterschiede). Interesse und Freude am Lernen nimmt mit der Verweildauer in der Schule ab. Schulische Lerninhalte und die Schule als Ort des Lernens verbinden die Schüler und Schülerinnen mit wenig Freude am Lernen. Lehrkräfte sehen für sich und die Schule nur wenig Handlungsspielraum für Förderung.
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2.2 Notebook-Einsatz an österreichischen Schulen – „Road to Success“ zur Förderung von Kompetenzen zum LLL? Im Schulbereich wird eine Vielzahl an Maßnahmen eingesetzt, die auf sehr unterschiedliche Weise der Qualitätssteigerung des Unterrichts dienen sollen. Höchst selten gehen diese Aktivitäten jedoch von klar formulierten Zielen aus, werden systematisch durchgeführt und in ihrer Wirksamkeit evaluiert. Der Modellversuch „Notebook-Klassen“ ist eine solche in Österreich seit 2000 bundesweit durchgeführte Maßnahme, die fachübergreifende Kompetenzen fördern soll. Die teilnehmenden Schüler und Schülerinnen haben alle ein Notebook als universelles Unterrichtsmittel in allen Unterrichtsgegenständen zur Verfügung. Im Schuljahr 2002/2003 nahmen bereits 170 Klassen an 101 Schulstandorten mit ca. 4000 Schüler und Schülerinnen an dem Modellversuch teil. Da das Notebook-Projekt „organisch gewachsen“ war, sind die Initiativen an den einzelnen Standorten sehr heterogen, was u. a. die Freiwilligkeit der Teilnahme der Lehrpersonen, die technische Ausstattung, die Unterrichtsformen und die Unterstützung durch die Schulleitung betrifft. Anfang 2002 gab das Bildungsministerium eine Evaluation in Auftrag (Spiel/Popper 2003), die folgende Fragen beantworten sollte: Welche fachübergreifenden Kompetenzen sollen durch den Notebook-Einsatz gefördert werden? Was können Notebook-Schüler und -Schülerinnen im Vergleich zu NichtNotebook-Schüler und -Schülerinnen? Was tun die erfolgreichen Schulen, um die Leistungen zu erzielen? Da im Notebook-Projekt keine klaren Ziel- und Erfolgskriterien formuliert worden waren, wurde im ersten Schritt in einem Workshop mit systematisch ausgewählten Beteiligten (Stakeholdern) fachübergreifende Erfolgsziele und mögliche negative Neben- und Folgewirkungen des Notebook-Einsatzes erarbeitet. Als fachübergreifende Ziele wurden dabei Informationsmanagement, Teamarbeit, Selbstorganisation, Kompetenzüberzeugung und Motivation genannt, die zentrale Grundkompetenzen zum LLL darstellen. Im nächsten Schritt wurde geprüft, ob Schüler und Schülerinnen, die am Notebook-Unterricht teilnehmen, sich in den genannten Kompetenzen von Nicht-Notebook-Schüler und -Schülerinnen unterscheiden. Zur Erfassung verschiedener Facetten des Informationsmanagements und der Teamarbeit wurde ein neues, möglichst ökologisch valides Testinventar entwickelt. Zur Erhebung der Komponenten des Handlungsphasenmodells wurde ein bereits bewährtes Fragebogeninventar eingesetzt (Spiel/Popper 2003). Die Datenerhebung wurde in stratifiziert ausgewählten Notebook- und entsprechenden Vergleichsklassen durchgeführt. Insgesamt nahmen 490 Schüler und Schülerinnen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren an der Evaluation teil.
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Die Ergebnisse zeigen trotz unklarer Zielsetzung der Maßnahme, dass die Notebook-Schüler und -Schülerinnen im Informationsmanagement (u. a. Lösungswege selbständig konzipieren, Lösen einer Organisationsaufgabe) bessere Leistungen erzielten als Schüler und Schülerinnen, die den regulären Unterricht besuchen; sie kannten mehr relevante Kriterien von Teamarbeit als diese und wiesen auch eine höhere Kompetenzüberzeugung auf. Hinsichtlich der meisten motivationalen Determinanten gab es keine Unterschiede zu den Vergleichsklassen. Das Faktum, dass die 20 Schüler und Schülerinnen mit den besten Testergebnissen zu 50% aus denselben Klassen kamen (per Zufall wären 3.2% zu erwarten gewesen), ist ein klarer Beleg dafür, dass die Leistungen der NotebookSchüler und Schülerinnen mit dem spezifischen Einsatz des Notebook bzw. dem konkreten Unterricht in diesen Klassen systematisch zusammenhängen. Im dritten Schritt wurde daher eine Prozessanalyse durchgeführt, um der „Road to Success“ nachzuspüren. Mittels Telefoninterviews wurden Lehrpersonen aus Extremklassen (in denen die Schüler und Schülerinnen besonders gute respektive besonders schlechte Leistungen gezeigt hatten) über die Vorbereitungs- und Implementierungsphase des Notebook-Einsatzes, zur Unterrichtsvorbereitung und -durchführung sowie zur Leistungsbeurteilung befragt. Ergänzend wurde bei den Schüler und Schülerinnen derselben Klassen der Notebook-Einsatz (Notebook-Aktivitäten in den diversen Unterrichtsfächern sowie zu Hause) und wahrgenommene Veränderungen im Unterricht und im eigenen Lernen erhoben. Die Datenanalyse erbrachte auf der einen Seite eine Reihe von konkreten Hinweisen für die Organisation und die Didaktik des Notebook-Unterrichts, die in einem Maßnahmenkatalog zusammengefasst wurden (Spiel/Popper 2003). Des Weiteren zeigte die Datenanalyse auch systematische Unterschiede zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Klassen auf, die nicht primär auf die Art des Notebook-Einsatzes zurückzuführen sind. So bewerteten beide Personengruppen (Lehrpersonen und Schüler und Schülerinnen) in Klassen mit guten Leistungen den Notebook-Einsatz wesentlich differenzierter als in Klassen mit geringerem Erfolg. Die Lehrpersonen erfolgreicher Klassen sehen durchaus auch Probleme bei sich selbst und argumentieren u. a. für Weiterbildungsmaßnahmen; Lehrpersonen aus den weniger erfolgreichen Klassen attribuieren Probleme dagegen eher extern. In erfolgreichen Klassen besteht auch eine hohe Bereitschaft zum Perspektivenwechsel, d. h. Schüler und Schülerinnen nehmen die Probleme und Schwierigkeiten auf Seiten der Lehrpersonen im Umgang mit dem neuen Medium wahr; dasselbe gilt umgekehrt für die Lehrpersonen. In weniger erfolgreichen Notebook-Klassen wurde dagegen kaum Bereitschaft zum Perspektivenwechsel beobachtet. Die Unterschiede zwischen erfolgreichen und
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weniger erfolgreichen Klassen scheinen somit durchaus auch mit der generellen Lehr- und Lernkultur zusammenzuhängen.
2.3 Vienna E-Lecturing (VEL) – Self-regulated Learning in Higher Education Das Vienna E-Lecturing (VEL) stellt ein Beispiel für ein systematisches, theoretisch fundiertes Trainingskonzept zur Förderung von Grundkompetenzen zum selbstgesteuerten und selbstverantwortlichen Lernen und Arbeiten dar. Es ist in einem universitären Ausbildungscurriculum verankert und wird summativ und formativ evaluiert. Das Projekt wurde durch Geldmittel des Bildungsministeriums sowie durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gefördert. Ziel von VEL war die Entwicklung eines didaktischen E-LearningKonzepts, das im Rahmen von Vorlesungen realisiert werden kann. An österreichischen Universitäten sind die Studierenden in einer Reihe von Studienfächern mit überfüllten Hörsälen konfrontiert und werden als Folge daraus zu einem wenig lernförderlichen, passiven „Konsumverhalten“ erzogen. In einer Pilotphase wurde ein Blended-Learning-Konzept entwickelt, erprobt und evaluiert. Es wurde im Rahmen des Studienfachs Psychologie in der Vorlesung „Forschungsmethoden und Evaluation“, an der verpflichtend etwa 460 Studierende teilnehmen, umgesetzt. Das Konzept sah neben Face-to-faceEinheiten und Selbststudium regelmäßiges Arbeiten in (virtuellen und realen) Gruppen vor. Die Evaluation belegte den grundsätzlichen Erfolg des Konzepts, zeigte jedoch gleichzeitig auf, dass die Studierenden auf E-Learning als neue Lernform nur sehr unzureichend vorbereitet sind. Die Studierenden wiesen Defizite in ihren Fertigkeiten zur Selbstregulation auf (speziell hinsichtlich der Arbeit in virtuellen Gruppen, Zeitmanagement, Informationsmanagement), die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits die Lerneffizienz in ihrer bisherigen Bildungskarriere beeinträchtigten, jedoch erst in der direkten Konfrontation mit den Anforderungen einer auf Selbstregulation basierenden E-Learning-Lehrveranstaltung evident wurden (Spiel et al. 2004). Die Evaluationsbefunde belegten auch, dass (universitäres) Lernen deutlich performanz- und nicht kompetenzorientiert ist. Die Basisparameter des selbstregulierten Lernens sowie zentrale Schlüsselqualifikationen – wie z. B. Fähigkeit zur Gruppenarbeit – werden nicht oder nur selten als integraler Bestandteil des schulischen und universitären Unterrichts gefördert. Basierend auf der Literatur zum selbstgesteuerten Lernen und zur Bildungsmotivation sowie den Ergebnissen der Evaluation der Pilotphase, wurde das didaktische Konzept adaptiert und durch eine vorgeschaltete bzw. parallel laufende Förderung des selbstregulierten Lernens erweitert. Das VEL-Konzept
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verfolgt nun drei Lehrziele: (1) Vermittlung von Fachinhalten (Forschungsmethoden und Evaluation), (2) Erwerb von E-Kompetenzen und (3) Anleitung zur Selbststeuerung (Vermittlung von Self-Regulated-Learning-Kompetenzen). Die theoretische Grundlage des VEL-Konzepts bildet das Prozessmodell der Selbstregulation von Schmitz (2001). Dieses Modell wurde gewählt, weil es eine Integration aus den bisher wichtigsten Modellen zum selbstregulierten Lernen darstellt und weil Schmitz bereits belegen konnte, dass ein auf diesem Modell beruhender Förderansatz bei Studierenden realisierbar ist. Der Förderansatz, den Schmitz anhand eines reinen Face-to-Face-Trainings realisierte, wurde im Rahmen des VEL-Konzepts erweitert und systematisch sowohl in Face-to-Face- als auch Online-Einheiten umgesetzt. Das didaktische Konzept von VEL, das die erste systematische Vernetzung des Prozessmodells der Selbstregulation mit einem E-Learning-Konzept darstellt, besteht aus einer systematischen Kombination von Online-Einheiten (Modulen) und Face-to-Face-Einheiten. Die Lehrveranstaltung besteht aus insgesamt 10 inhaltlichen Modulen, die alle nach den gleichen instruktionspsychologischen Prinzipien aufgebaut sind (Gagné 1985; Klauer 1985). So werden die Studierenden u. a. über die Lernziele explizit informiert, ihre Lernprozesse angeleitet (z. B. durch Gruppenaufgaben und Selbsttests) und ihnen Rückmeldung gegeben (gezielte Feedbacks). Die Face-to-Face-Einheiten bestehen aus (1) Tutorien, in denen den Studierenden grundlegende E-Kompetenzen (Arbeiten mit der Plattform) sowie das Arbeiten in virtuellen Gruppen vermittelt werden. Des Weiteren (2) umfassen sie Meet-the-Expert-Einheiten, in denen Anwendungsbeispiele und inhaltliche Probleme diskutiert werden. Schließlich werden (3) Trainingseinheiten zum selbstregulierten Lernen in Face-to-Face-Form durchgeführt (aus Ressourcengründen allerdings nur für eine kleinere Gruppe von Studierenden). Diese dienen dazu, die in der Pilotphase identifizierten Defizite der Studierenden in diesem Bereich zu kompensieren. Die Inhalte der vier Trainingseinheiten umfassen Selbstregulation und -motivation, Emotionsregulation und Feedback, Zielsetzungen und ressourcenorientierte Lernstrategien, sowie kognitive Lernstrategien (Schmitz 2001). Sie stehen in enger Verbindung zu den Online-Einheiten, in denen die Studierenden ebenfalls Übungen zum selbstregulierten Lernen durchführen. Da es sich bei der neuen Version von VEL um ein work in progress handelt, können derzeit noch keine Evaluationsergebnisse berichtet werden.
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Forderungen für Schule und Hochschule
Abschließend werden, basierend auf den Befunden der einschlägigen internationalen Literatur, den Forderungen der Bildungspolitik und nicht zuletzt auf den Ergebnissen der präsentierten Studien1 Forderungen für Schule und Hochschule abgeleitet, deren Realisierung die systematische Förderung von Bildungsmotivation und Kompetenzen zum LLL voranbringen sollte: • • •
• • • • •
frühe Förderung und gezielte Stützung der positiven motivationalen Ausgangslage in den ersten Schuljahren bzw. in der Vorschule, verstärkte Berücksichtung der Interessen der Lernenden und damit auch verstärkte Individualisierung, selbstgesteuertes Lernen, bei dem gelernt wird, Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen, sollte zu einem eigenem Lehrziel gemacht werden (in Schule und Hochschule), Forcierung von Lernen in Gruppen und an Projekten, stärkere Betonung der Kompetenzerweiterung als Ziel des Lernens – damit weg von einer reinen Perfomanzorientierung („Sammeln von Scheinen“), motivationsförderliches Leistungsfeedback geben und auch annehmen lernen, Akzeptanz und Übernahme der Ergebnisverantwortlichkeit bei allen Beteiligten (Lehrpersonen, Lernende, Eltern, Schulaufsicht, etc.), die Kompetenz zur Motivationsförderung sollte einen größeren Raum in der Aus- und Weiterbildung sowie in der Kommunikation zwischen Lehrpersonen einnehmen.
Literatur Achtenhagen, F./Lempert, W. (2000): Lebenslanges Lernen im Beruf – seine Grundlegung im Kindes- und Jugendalter. Opladen: Leske + Budrich. Dweck, C. S. (1999): Self-Theories. Their Role in Motivation, Personality, and Development. Philadelphia/PA: Psychology Press. Gagné, R. M. (1985): The Conditions of Learning and Theory of Instruction. New York: Holt, Rinehart & Winston. Gottfried, A./Fleming, J./Gottfried, A. (2001): Continuity of academic intrinsic motivation from childhood through late adolescence: a longitudinal study. In: J. of Educ. Psy., 93 Jg., S. 3–13.
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Dieser Beitrag beinhaltet nur exemplarische Ergebnisse der Studien, in die Forderungen fließen jedoch alle Resultate ein.
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Eine Welt aus Wissen Nico Stehr
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Einführung
Die Grundlagen der sich am Horizont abzeichnenden Gesellschaftsordnung basieren auf Wissen. Nicht die Tatsache, dass wir uns einem rapiden sozialen Wandel gegenübersehen, ist ein Novum. Es hat auch in der Vergangenheit immer wieder Zeiten rasanter gesellschaftlicher Transformationen gegeben. Neu sind allerdings Stellenwert und Motor der sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen. Wenn Wissen in steigendem Maß nicht nur als konstitutives Merkmal für die moderne Ökonomie und deren Produktionsprozesse und beziehungen, sondern insgesamt zum Organisations- und Integrationsprinzip und zur Problemquelle der modernen Gesellschaft wird, ist es angebracht, diese Lebensform als Wissensgesellschaft zu bezeichnen. Und dies heißt nichts anderes, als dass wir uns unsere Wirklichkeit durchweg aufgrund unseres Wissens einrichten.
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Übersicht
Ich werde meine Beobachtung in einer Reihe von Gedankenschritten voranbringen: Erstens gehe ich unmittelbar auf zwei Einwände ein, mit denen die These von der modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft in der Regel konfrontiert wird; zweitens mache ich auf einige typische Thesen über die ungemein gesellschaftliche Macht wissenschaftlicher Erkenntnisse aufmerksam; drittens stelle ich mein Konzept des Wissens als Handlungsvermögen vor; viertens verweise ich darauf, dass Fachwissen nicht vor Machtverlust schützt; fünftens gehe ich nochmals auf die These von der Wissensgesellschaft ein; sechstens schließlich diskutiere ich unter den folgenden Überschriften „Opfer des Wissens“, „Zerbrechlichkeit der Gesellschaft“ und „Wissen und Demokratie“ ausgewählte Aspekte der Struktur und Kultur von Wissensgesellschaften.
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Nico Stehr Einwände
Abgesehen von der Behauptung, die moderne Gesellschaft könne mit weitaus besseren Begriffen beschrieben werden, gibt es zwei nicht unbedingt präzise voneinander zu trennende, aber angeblich durchschlagende Einwände gegen die Idee der Wissensgesellschaft. Der häufigste Einwand ist wohl der der historischen Redundanz. Die Skeptiker betonen schnell und mit großer Überzeugung, dass wir schon immer in Wissensgesellschaften gelebt haben. Infolgedessen ist dieser Begriff weder neu noch erlaubt die Idee irgendwelche frischen Einsichten in die Architektur und die Lebensweisen unseres gegenwärtigen Sozial- und Wirtschaftssystems. Schließlich ist doch der Aufstieg ganzer vergangener Zivilisationen, wie zum Beispiel die der Azteken, der Römer oder Chinesen, eine Frage der Überlegenheit ihres Wissens oder sogar ihrer Informationstechnologien gewesen. Macht und Herrschaft waren auch in vergangenen Gesellschaften niemals nur eine Angelegenheit der physischen Dominanz. Oder noch elementarer ausgedrückt: Wissen ist eine universelle, anthropologische Eigenschaft des Menschen. Der erste Einwand ist sicher durchaus nachvollziehbar, aber meiner Ansicht nach keineswegs entscheidend. Wissen hat in der Tat immer eine Rolle im menschlichen Zusammenleben gespielt. Es geht deshalb eher darum, dass sich der Stellenwert des Wissens in modernen Gesellschaften, also in jüngster Zeit, grundlegend ändert und zunehmend die Faktoren ablöst oder modifiziert, die bisher konstitutiv für gesellschaftliches Handeln waren, und dass das Selbstverständnis einer wachsenden Anzahl von Akteuren in der modernen Gesellschaft in einem umfassenden Maß durch Wissen gefiltert und bestimmt wird. Der zweite Einwand bezieht sich in der Regel auf den für viele Kritiker ambivalenten, widersprüchlichen und unzureichend definierten Begriff des Wissens und damit auf die Frage, ob es in Wirklichkeit überhaupt sinnvoll und praktisch ist, eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Attribute unter diesem theoretischen Dach zusammenzuführen, um somit den Wissensbegriff zum Grundpfeiler einer Theorie der modernen Gesellschaft zu machen. Dennoch gilt: Was in vielen Diskursen zu einer weitgehend selbstverständlichen Kategorie deklariert wird, ist in der Mehrzahl der Wissenschaftsdiskurse zugleich fast unsichtbar. In der Tat, unser Wissen über Wissen ist mangelhaft. Um den Wissensbegriff zur Grundlage einer Theorie der modernen Gesellschaft machen zu können, muss man sich deshalb primär aus wissenssoziologischer und sekundär aus wissenschaftstheoretischer Sicht intensiv um das Konzept Wissen bemühen und es zum Beispiel von solchen anderen, scheinbar identischen Begriffen wie Information oder Humankapital abgrenzen.
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Kurzum, ich möchte zeigen, warum die Idee der modernen Gesellschaft als einer „Wissensgesellschaft“ sinnvoll ist und praktische Bedeutung hat, obwohl es auch in der Vergangenheit Gesellschaften gab, die durch wissensbasierte Handlungsformen gekennzeichnet waren, genauso wie es sinnvoll war, von der Industriegesellschaft zu sprechen, obwohl es schon vorher Sozialsysteme gegeben hat, die sich auf „Maschinen“ stützten.
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Die gesellschaftliche Macht wissenschaftlicher Erkenntnisse
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte Helmut Schelsky einen Albtraum: Die Verwendung elektronischer Rechenmaschinen werfe das Problem des totalitären Staates auf. Denn: „Diese Regierungsmaschine verlangt unbedingten Gehorsam, weil sie die perfekte und voraussagesichere Planung produziert“, prophezeite der deutsche Soziologe. „Gegen die technisch garantierte Wahrheit ist jede Opposition unvernünftig.“ Ein halbes Jahrhundert später warnt der amerikanische Unternehmer und Zukunftsforscher Billy Joy vor einer Entwicklung, die ähnlich albtraumhafte Züge annimmt: Er befürchtet eine Verselbständigung der Nanotechnologie. Sie und andere zukünftige Techniken könnten den Menschen zu einem vom Aussterben bedrohten Wesen machen. Schelsky repräsentierte mit seiner Einschätzung trefflich den Zeitgeist der Mitte des vorigen Jahrhunderts – und dieser hat sich, wie die Mahnungen Joys zeigen, bis heute tapfer gehalten. Der Schlüssel zu diesem Phänomen liegt in einer symptomatischen Überschätzung der Macht moderner Wissenschaft und Technik. Gerade Soziologen zeigen sich bis heute außerstande, die sozialen Folgen technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse anders als aus der Perspektive ihrer vermeintlich bedrohlichen und repressiven Konsequenzen zu reflektieren. Paradoxerweise sind jedoch gerade Wissenschaft und Technik die vielleicht wichtigsten Quellen der wachsenden Offenheit und Unbestimmtheit moderner gesellschaftlicher Verhältnisse. Allen Voraussagen zum Trotz befinden wir uns heute eher am Ende des Zeitalters der Herrschaft der großen Institutionen wie Staat, Kirche oder Militär. An den Verhaltensweisen ihrer Vertreter lassen sich wachsende Zweifel an der Machbarkeit der Verhältnisse ablesen. Deren Steuerung, Planung oder Prognose wird zunehmend schwieriger. Die Gesellschaft ist demnach zerbrechlicher geworden. Verantwortlich dafür ist jedoch nicht die vielbeschworene Globalisierung oder Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ein Herrschaftsverlust durch Wissen. Das Zeitalter der Industriegesellschaft geht dem Ende entgegen; die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nötig waren, um deren soziale Ordnung zu sichern,
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verlieren an Bedeutung. Die sich am Horizont abzeichnende Gesellschaftsordnung basiert auf Wissen.
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Das Wissen vom Wissen
Wissen kann man als Fähigkeit zum Handeln definieren, als Möglichkeit, etwas „in Gang zu setzen“. Wissenschaftliches oder technologisches Wissen ist zunächst nichts anderes als Handlungsvermögen. Der besondere Stellenwert des wissenschaftlichen und technischen Wissens in der modernen Gesellschaft ergibt sich nicht aus der Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnis weitgehend als wahrhaftig, objektiv, realitätskonform, gar als unstrittige Instanz anzusehen wäre, sondern daraus, dass diese Wissensform mehr als jede andere permanent neue Handlungsmöglichkeiten schafft. Diese Handlungsmöglichkeiten können, wenn auch häufig nur vorübergehend, monopolisiert werden, von Individuen ebenso wie von Unternehmen und vom Staat. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind meist schlechter als ihr Ruf: Sie sind sehr oft strittiger Natur. Trotz seines hohen Ansehens ist wissenschaftliches Wissen fast immer anfechtbar. Diese Eigenschaft gilt zwar aus der Sicht bestimmter wissenschaftstheoretischer Positionen als Besonderheit und Tugend der wissenschaftlichen Erkenntnisweise. In alltäglichen Kontexten wird die prinzipielle Anfechtbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis allerdings gern verdrängt. Da Wissen fast immer strittig ist, verliert es, zumindest zeitweise, seine Praxisrelevanz. Interpretationsleistungen müssen zu einem „Schluss“ kommen; erst dann werden sie als Handlungsfähigkeit praktisch wirksam. Diese Aufgabe, Reflexionen abzuschließen und wissenschaftliche Erkenntnisse „nützlich“ zu machen, damit in praktischen Kontexten gehandelt werden kann, üben in der modernen Gesellschaft die Wissensarbeiter oder Experten, die vielen Berater und Ratgeber aus. Neu an dieser Entwicklung ist nicht das Entstehen von wissensfundierter Arbeit; „Experten“ hat es schon immer gegeben. Neu ist die große Zahl der Berufspositionen, die wissensfundierte Arbeit erfordern, während die Zahl der Arbeitsplätze, die geringe kognitive Fertigkeiten verlangen, rapide zurückgeht. Immer weniger Menschen sind damit beschäftigt, Dinge materiell herzustellen oder zu bewegen.
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Fachwissen schützt nicht vor Machtverlust
Die Entwicklung hin zu zerbrechlichen sozialen Systemen ist offenbar das Ergebnis einer (ungleichgewichtigen) Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten der
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Akteure in modernen Gesellschaften. Die Macht der großen Institutionen – wie Staat, Kirche und Militär – wird zunehmend unterminiert und abgelöst von den wachsenden Handlungskapazitäten vergleichsweise kleiner Gruppen. So führen technische Entwicklungen beispielsweise dazu, dass die Finanz- oder Wirtschaftsmärkte fragiler werden: Der Zwang der agierenden Organisationen und Personen zu Flexibilität wächst, um sich schnell verändernden Nachfrage- und Angebotskonstellationen anzupassen. Generell können scheinbar so heterogene Phänomene wie die Zunahme der politischen Partizipationschancen, das Anwachsen der „informellen“ Wirtschaft, das häufigere Auftreten abweichenden Verhaltens, das Um-sich-Greifen von Korruption, der Zuwachs der beruflichen Qualifikationen, aber auch das dramatische Wachstum von Geldvermögen als konkrete Belege der erheblich erweiterten Handlungskapazität einzelner Gesellschaftsmitglieder und kleiner Gruppen von Akteuren angesehen werden. Der Begriff der Zerbrechlichkeit als Kennzeichnung dieses Zustands soll signalisieren, dass nicht nur die „Steuerung“ der Gesellschaft durch vermeintlich mächtige Institutionen, sondern auch die Vorhersage gesellschaftlicher Entwicklungen ungleich schwieriger geworden ist. Die Veränderung der Handlungsmöglichkeiten, der Chancen unterschiedlicher gesellschaftlicher Subjekte, etwas in Gang zu setzen bzw. zu be- oder verhindern, ist freilich kein Nullsummenspiel. Es lässt sich beobachten, dass die Ausweitung der Handlungskapazitäten von Individuen und kleinen Gruppen nicht bedeutet, dass etwa der Staat seine traditionellen Handlungsmöglichkeiten einschränken müsste. Dennoch wird seine Interventionsfähigkeit geringer, weil sich die Verbesserung und Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten weitgehend auf Einzelne und auf kleine soziale Gruppen beschränkt. Diese werden zu formidablen Widersachern einstmals mächtiger Institutionen. Einerseits haben der Einfluss des Staates und dessen Kontrollmöglichkeiten nicht zugenommen, andererseits aber ist der Handlungsspielraum vieler erheblich angewachsen.
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Wissensgesellschaften
Doch welche Ursachen hat diese Verschiebung der sozialen und politischen Gewichte? Worin manifestiert sich diese Entwicklung und welche Folgen wird sie haben? Diese sozialen Veränderungen – so meine These – sind darauf zurückzuführen, dass die Wissenschaft nicht mehr nur Zugangsmöglichkeit und Schlüssel zum Geheimnis der Welt ist, sondern das Werden einer Welt repräsentiert, in der Wissen in allen Bereichen zunehmend Grundlage und Richtschnur menschlichen Handelns wird.
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Wenn Wissen in steigendem Maße nicht nur als konstitutives Merkmal für die moderne Ökonomie und deren Produktionsprozesse und -beziehungen, sondern insgesamt zum Organisationsprinzip und zur Problemquelle der modernen Gesellschaft wird, ist es angebracht, diese Lebensform als Wissensgesellschaft zu bezeichnen. Das heißt nichts anderes, als dass wir uns unsere Wirklichkeit durchweg aufgrund unseres Wissens einrichten. Wissensgesellschaften repräsentieren eine soziale und ökonomische Welt, in der Ereignisse oder Entwicklungen zunehmend „gemacht“ werden, die vorher einfach „stattfanden“. So sind etwa demographische Veränderungen keine schicksalhaften Ereignisse mehr – aber sie werden ebensowenig von übermächtigen Institutionen gesteuert oder beherrscht. Natürlich hat Wissen, wie ich schon betont habe, seit jeher eine Rolle für das menschliche Zusammenleben gespielt; man kann geradezu von einer anthropologischen Konstante sprechen: Alle Beziehungen zwischen Individuen gründen grundsätzlich darauf, dass Menschen etwas voneinander wissen. Aber Herrschaft hat sich niemals nur auf physische Gewalt gestützt, sondern auch auf einen Wissensvorsprung. Schließlich ist die gesellschaftliche Reproduktion nicht nur eine physische, sondern beim Menschen immer auch kulturelle Reproduktion, das heißt: Reproduktion von Wissen. In diesem allgemeinen Sinn kann man daher rückblickend eine Reihe vergangener Gesellschaftsformationen sehr wohl als frühe Formen von „Wissensgesellschaften“ beschreiben: zum Beispiel die altisraelitische Gesellschaft, die durch das religiös-gesetzliche Tora-Wissen strukturiert wurde, oder die altägyptische, für die das religiös-astronomische und das agrarische Wissen Herrschaftsbasis und Organisationsprinzip war. Dass unsere gegenwärtigen, entwickelten Industriegesellschaften als Wissensgesellschaften bezeichnet werden können, liegt dagegen am unbestreitbaren Vordringen der modernen Wissenschaft und Technik in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und Institutionen. Wissensgesellschaften sind nicht Ergebnis eines einfachen, eindimensionalen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Sie entstehen nicht aufgrund eindeutiger Entwicklungsmuster. Obschon neuere Entwicklungen in der Kommunikations- und Transporttechnik dazu beitragen, dass die einstige Distanz zwischen den Menschen schrumpft, bleibt die Isolation zwischen Regionen, Städten und Dörfern immer noch in erheblichem Maße bestehen. Die Welt öffnet sich zwar; Stile, Waren und Personen zirkulieren sehr viel intensiver, aber die Mauern zwischen den Überzeugungen von dem, was heilig ist, bleiben bestehen. Die Bedeutung von Zeit und Ort ändert sich, aber Grenzen werden weiter mit Intensität gefeiert und geachtet. Fasziniert vom Zeitalter der Globalisierung leben wir mit der Obsession von Identität und Ethnizität. Die Tendenz zur globalen „Gleich-
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zeitigkeit“ von Ereignissen geht einher mit der Territorialisierung von Sensibilitäten und der Regionalisierung von Konflikten.
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Herrschaft kraft Wissens
Allerdings hat das Bemühen, die sozialen Funktionen der modernen Wissenschaft und Technik zu verstehen, immer wieder in Sackgassen geführt. Sowohl konservativ als auch liberal geprägte Gesellschaftsanalysen münden in der Regel in düstere kulturkritische Prophezeiungen einer Übermacht wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Herrschaft technischer Artefakte. Zerstört werde – so ist häufig zu hören – nicht nur die Naturhaftigkeit der Menschen, ihr Gefühlsleben, sondern auch ihre intellektuellen Vermögen und ihre Fähigkeit zu freien Willensentscheidungen. Das moderne Geschichtsverständnis betont eher die Verengung und nicht die Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft. Die Metaphern und Klischees, die sich mit Technik und Wissenschaft verbinden, sind oft genug Gleichförmigkeit, Uniformierung, Anpassung, Nivellierung oder gar Unterdrückung. Will man aber das politische, soziale und ökonomische Geschehen der Gegenwart verstehen, muss man sich von solchen Klischees lösen. Denn es sind die rasant wachsenden Handlungsfähigkeiten und nicht etwa deren Verschwinden, die die Institutionen der Moderne entscheidend verändern, gerade aber auch das Gefühl der Unbeweglichkeit der Gesellschaft fördern. Kollektives Unbehagen und Handlungshemmnisse sind die Kehrseite der individuellen Rastlosigkeit in Wissensgesellschaften. Die Ausweitung der Handlungschancen des Individuums ist nicht unbedingt Schlüssel zu Glück und Zufriedenheit, wie der moderne Tourismus, die Ausweitung der Informationsmöglichkeiten oder des Konsums bestätigen.
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Opfer des Wissens
Dennoch wird heute, wie schon in der Vergangenheit, in philosophischen, theologischen, politischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen der Einzelne meist als schutzloses „Opfer“ umfassender mächtiger Institutionen und Kollektive – der eigentlichen Nutznießer des wissenschaftlich-technischen „Fortschritts“ – dargestellt. Die Menschen würden, so heißt es, weitgehend handlungsunfähig, eben weil Wissenschaft und Technik so erfolgreich seien. Soziale, ökonomische und technische Handlungsmittel führen, wie nicht nur Schelsky warnt, zu einer
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hochorganisierten, rational regulierten, stratifizierten, zum monolithischen System zusammengeschlossenen Gesellschaft. An dieser These von der „Machbarkeit“ gesellschaftlicher Zusammenhänge fällt vor allem die überaus optimistische Annahme auf, dass soziales Handeln durch administrative Maßnahmen staatlicher Organe oder durch Großunternehmen geplant, kontrolliert, in bestimmte Bahnen gelenkt, unterdrückt und realisiert werden könne. Häufig wird so argumentiert, dass diese Entwicklungen die Partizipationsfähigkeiten des Einzelnen erheblich vermindern, seine Isolation steigern, die Privatsphäre bloßlegen, das Gefühl der Hilflosigkeit verstärken und die Differenzierung zwischen privatem und öffentlichem Leben aufheben.
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Die Zerbrechlichkeit der Gesellschaft
Demgegenüber kann aber gezeigt werden, dass die mit der Expansion von Wissenschaft und Technik angeblich verbundenen und im Endeffekt reglementierenden Bewegungen in Wirklichkeit das genaue Gegenteil einer Einschränkung, Konzentration und Reduktion des sozialen Handelns bewirken. Was vielmehr auffallend zunimmt, ist die erwähnte Zerbrechlichkeit sozialer Strukturen. Moderne Gesellschaften sind Gebilde, die sich vor allem durch „selbstproduzierte“ Strukturen und eine selbstbestimmte Zukunft auszeichnen – und damit durch die Möglichkeit, sich selbst zu zerstören. Vermehrte Handlungschancen der Gesellschaftsmitglieder führen nicht notwendig zu einer größeren Fähigkeit, soziales Verhalten effizient zu kontrollieren oder zu manipulieren. Die wachsende Handlungskapazität hat eher entgegengesetzte Folgen: Sie reduziert zum Beispiel die Möglichkeit, die Pläne administrativer Organe durchzusetzen, da sie aus der Sicht der Betroffenen deren Handlungsmöglichkeiten, fast im Sinn des ökonomischen Multiplikators, wesentlich steigert – unter anderem auch die Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Allerdings sind moderne Gesellschaften nicht etwa deshalb politisch zerbrechlich und gesellschaftlich volatil, weil sie liberale Demokratien sind, wie konservative Beobachter oft behaupten, sondern weil sie wissensbasierte Gesellschaften sind. Erst Wissen erhöht das Demokratiepotential liberaler Gesellschaften. Indem die Voraussetzungen und Chancen einer effektiven politischen Partizipation vieler wachsen, vermindert sich unter anderem die Fähigkeit des Staates, seinen Willen durchzusetzen. Man kann zweifellos einen Verlust an Respekt insbesondere vor der staatlich-administrativen Autorität und der Macht der Experten konstatieren. Und dieser Respektverlust macht keineswegs vor dem Wissen halt. Wie Dorothy Nelkin in einer Studie der konkurrierenden Verwendung von technischem Fach-
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wissen in zwei kontroversen politischen Entscheidungen in den Vereinigten Staaten – es ging darum, einen großen Flughafen auszubauen und ein Atomkraftwerk zu errichten – exemplarisch zeigt, müssen diejenigen, die gegen eine bestimmte Entscheidung opponieren, nicht unbedingt „gleichwertige Beweismittel“ vorlegen. In politischen und juristischen Auseinandersetzungen reicht es häufig aus, kritische Fragen an die Experten zu stellen, um das Monopol des Fachwissens zu relativieren oder sogar zu unterminieren. In beiden Kontroversen um die zur politischen Entscheidung anstehenden Pläne waren die in den öffentlichen Anhörungen manifest gewordenen Unsicherheiten und die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Experten über technische Fragen nicht nur Stimulus und Rechtfertigung für die politischen Aktivitäten der Betroffenen – und auch für die dann getroffenen Entscheidungen –, sondern letztlich auch von größerem Gewicht als der Inhalt, an dem sich der Streit entzündet hatte. Die geplante zusätzliche Landebahn des Flughafens wurde nicht gebaut, das Atomkraftwerk nicht errichtet.
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Wissen und Demokratie
Eine Besonderheit der vielschichtigen und oft sehr engagierten Diskussionen über die Rolle des Wissens, der Information und der handwerklich-technischen Fähigkeiten in der modernen Gesellschaft ist ihre Einseitigkeit. Im Vordergrund steht meist die Problematik der Abkopplung des Individuums von Fachwissen und technischer Kompetenz – und damit seine angebliche Rolle als hilfloses Opfer, ausgebeuteter Konsument, entfremdeter Tourist, willenloser Patient, gelangweilter Schüler oder manipulierter Wähler. Ebenso gern befassen sich die Disputanten mit dem „repressiven“ Potential des wachsenden Wissens und der technischen Artefakte. Insbesondere dann, wenn es um die angeblich umfassende soziale Kontrolle durch mächtige kollektive Akteure wie den Staat, eine soziale Klasse, multinationale Unternehmen, die Intellektuellen, den militärischindustriellen Komplex, die Mafia, die politischen Parteien usw. geht. Die Prognosen, dass diese mächtigen Akteure sich irreversibel in monopolistischen Machtpositionen festsetzen würden, haben sich jedoch als falsch erwiesen. Die sozialwissenschaftliche Diskussion über die soziale Rolle des Wissens war allzu lange in klassen-, staats-, professions- oder wissenschaftszentrierten Sichtweisen befangen, die fast immer eine unmittelbar bevorstehende Konzentration der Macht in den Händen einer dieser gesellschaftlichen Gruppen befürchteten. Eine illusionslose Bewertung der sozialen Rolle des Wissens muss dagegen zu dem Schluss kommen, dass die Ausweitung des Wissens und damit der Handlungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft nicht nur unüber-
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schaubare Risiken und Unsicherheiten mit sich gebracht hat, sondern auch ein befreiendes Handlungspotenzial für viele Individuen und soziale Gruppen. Einer realistischeren Einschätzung der sozialen Rolle des Wissens steht die Selbstverständlichkeit im Wege, mit der dem Wissen die Eigenschaft zugeschrieben wird, bestehende Machtverhältnisse zu zementieren, da Wissensfortschritte ganz natürlich den Mächtigen zuflössen, von ihnen mit Leichtigkeit monopolisiert werden könnten und damit die gesellschaftliche Wirksamkeit traditioneller Wissensformen immer wieder aushöhlten. Dieses Bild des Wissens als Repressionsinstrument unterschätzt den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Wissensproduktion und die Schwierigkeiten bei der Überwindung sozialer und kultureller Grenzen. Genau diese Schwierigkeiten und Interpretationsspielräume sind es, die den Akteuren erhebliche Gestaltungs- und Einflusschancen gegenüber der Expertise, dem Fachwissen und dem Wissen von Autoritäten eröffnen. Da Wissen immer wieder (re)produziert werden muss und da Akteure es sich immer wieder neu aneignen, ergibt sich die Chance, dem Wissen seinen Stempel aufzudrücken. Der Aneignungsprozess hinterlässt Spuren, in dessen Verlauf Akteure neue kognitive Fähigkeiten erwerben und bestehende vertiefen. Sie verbessern insgesamt die Effizienz ihres Umgangs mit Wissen, das es ihnen auch ermöglicht, kritisch mit Wissensangeboten umzugehen und neue Handlungsmöglichkeiten zu realisieren.
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Unsicherheit durch Wissen
Die allgemeine Ausweitung des Wissens bedeutet aber nicht unbedingt, dass jeder Konsument, Patient oder Schüler plötzlich alltägliche Handlungskontexte als transparent, verständlich oder gar beherrschbar verstünde. Die Vermehrung der gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten darf nicht als Ausschaltung von Risiken, Zufall, Willkür und generell von Handlungsumständen, über die der Einzelne nur wenig Kontrollmöglichkeiten ausübt, missverstanden werden. Dennoch ist das Gesellschaftsbild der professionellen Pessimisten, demzufolge nur wenige die sozialen Handlungsbedingungen kontrollieren, weit entfernt von unserer gesellschaftlichen Realität, in der potenziell viele zumindest eine begrenzte Kontrolle über die sie interessierenden Handlungsumstände ausüben. Die Kehrseite der Emanzipation durch Wissen ist das Risiko des emanzipatorischen Potenzials des Wissens. Die zunehmende gesellschaftliche Verbreitung von Wissen und der damit zusammenhängende Zuwachs an Handlungsoptionen produziert soziale Unsicherheit. Wissenschaft kann keine Wahrheiten (im Sinne von beweisenden Kausalketten oder universellen Gesetzen) liefern, son-
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dern nur mehr oder weniger gut begründete Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten. Statt Quelle von gesichertem Wissen und Gewissheit zu sein, ist Wissenschaft damit vor allem Quelle von Ungewissheit und gesellschaftspolitischen Problemen. Die Zukunft von Wissensgesellschaften wird von zahlreichen Unsicherheiten, unerwarteten Rückwärtsentwicklungen und Überraschungseffekten bestimmt sein. Die zunehmende Zerbrechlichkeit von Wissensgesellschaften wird neuartige moralische Fragen sowie die Frage nach der politischen Verantwortung für die häufig konstatierte politische Stagnation aufwerfen. Wenn Wissen zu dem konstitutiven Merkmal der modernen Gesellschaft wird, kann sich die Produktion, Reproduktion, Verteilung und Realisation von Wissen explizit politischen Auseinandersetzungen nicht entziehen. Eines der wichtigsten Themen der nächsten Jahrzehnte wird daher die Frage nach der Überwachung und Kontrolle des Wissens sein. Damit wird die Entwicklung eines neuen Politikfeldes, der Wissenspolitik, einhergehen (müssen). Wissenspolitik wird das rapide wachsende neue Wissen regulieren und dessen Entwicklung beeinflussen.
Berichte über Symposien
Berufserziehung als lebenslange Aufgabe Vocational education as a lifelong learning task Frank Achtenhagen / Klaus Beck / Michael Bendorf / Alison Fuller / Gerhard Minnameier / Wim J. Nijhof / Karsten D. Wolf / Lorna Unwin
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Die Problemlage
Von Berufsinhabern aller Couleur verlangt man heute über die herkömmlichen Qualifikationen hinaus Eigenschaften, die ihre Tüchtigkeit auch unter den veränderten Bedingungen der modernen Arbeitswelt sichern sollen. Flexibilität, Mobilität, Innovationsbereitschaft, Kundenorientierung, Selbstmanagement sind einige der Chiffren, mit denen die „neuen“ Kompetenzen auf den Begriff gebracht (vgl. Hoff/Ewers/Petersen 2004) und in einem angereicherten Professionalitätskonzept aufgehoben werden sollen. Persönlichkeitsmerkmale dieses Typs haben zweifellos enorm an Bedeutung gewonnen, einerseits in den Strategien der personalwirtschaftlichen Beurteilung und Auswahl von Bewerbern bei der Besetzung von freien Arbeitsplätzen, bei Beförderungen und Entlassungen, andererseits aber wohl auch in der erfolgreichen Bewältigung tatsächlicher Arbeitsanforderungen (s. allerdings dazu skeptisch Nijhof in Kap. 2). Es handelt sich bei diesen Merkmalen allerdings nicht um „states“, sondern um „traits“ – eine Feststellung, die berufspädagogisch folgenreich ist. Sie verweist nämlich auf den Umstand, dass solche Kompetenzen nicht ohne weiteres sozusagen „bei Bedarf“ oder „auf Abruf“ erworben werden können, wie das etwa bei neuen Wissensbestandteilen der Fall sein kann. Vielmehr sollte ihre Entwicklung spätestens im frühen Jugendalter angelegt und gefördert werden, damit sie dem Erwachsenen zu eigen sind (vgl. Achtenhagen/Lempert 2000, S. 9). Das Konzept lebenslangen Lernens muss insoweit gerade aus berufspädagogischer Sicht in seinem ursprünglichen engen und strengen Sinne des Wortes verstanden werden. Sein Ansatzpunkt liegt nicht etwa erst im Erwachsenenalter, wie häufig eher unreflektiert unterstellt wird, sondern viel früher (vgl. ebd. 12–13).
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Frank Achtenhagen et al.
Unser Symposium thematisierte ausgewählte Randbedingungen eines solchermaßen umfassenden Ansatzes unter drei großen Perspektiven. Wim Nijhof und sein „discussant“ Karsten D. Wolf untersuchen das wirtschafts- und bildungspolitische europäische Umfeld einer auf lebenslanges Lernen angelegten Berufsbiographie (Makroperspektive; Kap. 2). Lorna Unwin, Alison Fuller und ihr „discussant“ Michael Bendorf entwickeln und erörtern die These, daß das lokale, soziale und institutionelle Umfeld von entscheidender Bedeutung für das Gelingen einer Berufsausbildung sei, die zugleich das Fundament für lebenslanges Lernen lege (Mesoperspektive; Kap. 3). Und Gerhard Minnameier wendet sich schließlich der Frage zu, wie ein Lernen als individuelle Wissenskonstruktion (psycho-)logisch zu modellieren sei, das in beruflichen Kontexten angewendet werden kann (Mikroperspektive; Kap. 4). Die aus der Feder der Autoren stammenden Zusammenfassungen ihrer Beiträge geben in den folgenden Kapiteln einen Einblick in den Gang ihrer Überlegungen. Eine gelungene Besonderheit des Symposiumsarrangements bestand darin, dass es die jungen deutschen Nachwuchswissenschaftler waren, die sich kritisch mit den Papieren der international renommierten Referenten auseinandersetzten. Alle Texte werden in ihrer Langfassung, auf welche die Autoren hin und wieder verweisen, publiziert (unter der Herausgeberschafts von Holger Reinisch, Manfred Eckert und Tade Tramm im VS-Verlag Wiesbaden).
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Perspective from a macro level
2.1 Skill formation as a European Policy of lifelong Learning Europe is not a unity, neither politically nor in an economic, social or cultural sense. It is a continent where even the borders are not quite clear. There are about 380 million people in some 25 countries, striving to become the most competitive economy in the world. The sense of identity – of being a European – however, is different for the British, who speak about “the continent”; the sense of a European culture varies, depending on whether one is having breakfast in Paris, Berlin or Amsterdam or driving a car in the UK. Language has to change every time a border is crossed, even when English seems to have become one of the dominant languages in Europe. Diversity in many aspects of human life, of educational policies and needs is the hallmark of Europe. Why should there be just one coherent vision of lifelong learning within so much diversity? When compared to the seventies with the work of Faure (1972), Husén (1974) and Becker (1980), to name but a few, the focus was on the emancipation of the individual as a world citizen and on reviewing the world economy from an
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ecological point of view. It was about a better society in terms of human endeavour, scientific progress to achieve a better health care system, technological progress to enable everybody to take part in the information explosion, ecological and biological rethinking of the world of production and the economic conditions (Club of Rome). And certainly, illiteracy should be banned and poverty ended; schooling was seen as one of the most powerful tools to emancipate individuals, and for societies to achieve equity, social cohesion and equality in life. The responsibility of the western world for third-world countries was also articulated. The vision disseminated by the European Union, in terms of lifelong learning and the economic targets for 2010, reduces the broad emancipatory goals and approaches of the sixties and seventies to mere economic imperatives. The economic imperative and the discourse on competitive edge through individuals investing in skills, according to Coffield, have to be challenged by a democratic imperative. A learning society worthy of the name should deliver social cohesion, social justice and economic prosperity to all its citizens, rather than wealth to a minority (Coffield, 1996, 9). A learning society cannot be built on competitive individualism. This means that a new social vision of a learning society should be developed, with the risk of a Walden I (Frederick van Eeden), or and Walden II (Skinner, 1960), 20th century designs for a social society based on equality and with joint responsibility and a skill formation system that serves everybody in that society. Stimulating employability, however, is totally at variance with a serious concept of a learning society; while employability is based on competition and not on social cohesion, it is the survival of the fittest: social Darwinism in the language of human capital. Why is it that countries like Sweden, Denmark and the UK are focusing so intently on labour market programmes, employability and mobility? Why is it that the EU commission and the OECD are acting so strongly upon lifelong learning and employability for all? Why is resistance to actions so strong? Is there any connection to the knowledge society and economy? The political targets of the European Commission to be the most competitive player in the world, in combination with thoughts on the learning society and the knowledge economy, lead to the four pillars of: employability, entrepreneurship, adaptability and equal opportunities. As we have seen so far, employability cannot be combined with the idea of a learning society and equal opportunities: this is a paradox. Individualism as a basis for employability is also harmful to a social society. Striving for high skills coming from a low-skills scene, Europe is confronted at the same time with a
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definition problem of a minimum platform of low skills. This problem seems to be even more essential. Is there such a thing as a knowledge society? If high skills are analysed so far in the so-called knowledge society, the top 20 functions are in health care and training and below the bachelor’s level. The question is whether the knowledge society is a cult and whether high skills are built on the classical human capital theory, which is no longer able to solve the problems. A recent Dutch study by Toolsema (2003) showed that most skills are occupation and job-specific and not focused on entrepreneurship and adaptability. It is accommodation that is high on the agenda of the workplace. Generic skills are connected to career and learning to learn, but these seem to be in a minority. The workplace is perceived as one of the most powerful places to learn, especially because of the opportunities for informal learning, the sharing of socalled tacit knowledge, and the pursuit of innovation. Studies are ongoing to prove whether these assumptions are right, with a high risk of failure, because most workplace learning is trial and error and not focused on high skills. Work is the central issue, not learning. If globalisation, high-tech, demographic changes, migration and the expansion of the European Union are the real challenges of the coming years, in order to build a European society based on stability, innovation, diversity and competition, then we will need a comprehensive skill formation policy and strategy that is socially inclusive. Individualism and employability as proposed seem to be counterproductive when it comes to building such a society, as can be seen at the macro level, where countries are competing to become members of the EU, based mainly on economic profits. The real debate in Europe seems to be about social cohesion, unemployment, the growing group of the illiterate and low skilled, the lack of entrepreneurship to build new competitive firms, at a time when the learning society and cultural diversity are being advocated. The need to be socialised in society through work might be solved at the workplace – but at the expense of learning higher skills. When in the future more work will have to be shared by fewer people because of ageing, we will need a skill configuration and qualification system based on: • • • •
a formal system creating the basics for everybody, including competencies for work, career and citizenship; a formal system creating vocational and occupational skills; a formal system at the workplace in combination with valid assessment systems to create qualifications and certifications; an informal system at the workplace to share explicit and tacit knowledge;
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wireless e-learning and information systems for all, especially the elderly, so they are able to take part in society and learn to learn.
2.2 Life long learning besides employability and adaptability – a vocational education perspective – Commentary on Wim J. Nijhof’s chapter Full employment or rather reduction of unemployment has become a dominant albeit elusive goal of policy makers. Skill formation policy is focusing on employability and adaptability, which may not be in the interest of the individual nor of society. As a result of the increasing uncertainty in today’s economy, long-term investments such as vocational apprenticeship get more and more risky. Politicians in Europe seem to push an on-demand approach, where initial vocational education is shortened in favour of flexible modules for training people to become or stay employable based on the momentary demand on the labour market. Wim Nijhof focuses on the question, what competencies and skills are really needed to be employable. According to Nijhof’s study most of the indicators have occupation-specific effects. This commentary presents four reasons, why there still is a need for job specific initial vocational education. Life long learning is essential for keeping people current or ahead. The author discusses four main problems with life long learning as a skill formation policy. Furthermore, because of the growing need for in-service training, modular training, and a growing cost consciousness, there will be no successful implementation of life long learning without e-learning and without innovative, learner centred didactics. Additional problems are how to keep the system of qualifications transparent and current, how to accredit training suppliers, and how do we certify informal training. While Nijhof is choosing a retrospective questionnaire to collect the competencies needed at work, to further validate the instrument one should also use observation in the field and experience sampling. In the wake of entrepreneurship it would also be of interest to survey other groups of people such as selfemployed people, higher skilled people or especially successful persons. To gauge the need for life long learning respondents should also be asked what skills are subject to a short half-life. Another important question would be, what basic, occupation specific knowledge is stable and needed for making sense of new information in life long learning processes. Because of the importance and challenges of career counselling, another next step could be to extract counselling knowledge out of the data.
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Focussing on employability and adaptability only, policy makers are at risk to de-skill people in the long run. To avoid this effect life long learning and vocational learning should concentrate on: 1. 2. 3. 4.
3
skill transfer: the ability to re-use a skill set in another field of occupation; skill innovation: inventing new ways to do things or to do things better to secure or enlarge fields of occupation; ability and volition to learn: by pro-actively enlarging the skill set to secure, enlarge or advance fields of occupation; entrepreneurship: to create new fields of occupation by building new businesses.
Perspective from a meso level
3.1 Can Contemporary Apprenticeships Act As Vehicles For Lifelong Learning: Lessons from the past and the present Throughout the world, apprenticeship is still considered to be an effective model of formation training. This rests, to a large extent, on the shared understanding that apprenticeship involves a journey during which a novice learns to become an expert in a specific field. Studies of apprenticeship have tended to focus on the nature of the novice’s journey and less attention has been paid to the longitudinal effects of this model of formation training. In this paper, we explore the proposition that apprenticeship could be a vehicle for developing a propensity for learning that is lifelong. We set our discussion within the dynamic context of workplace and job change in advanced industrial economies, and ask whether the concept of apprenticeship is itself still applicable to contemporary work settings. In the “heyday“ of apprenticeship in the UK, following the Second World War and prior to the decline of manufacturing industry in the mid-to-late 1970s, there was a strong relationship between apprenticeship and community. Many towns and cities included one or more traditional apprenticeship providers who offered opportunities to young people (albeit largely to young men) for the acquisition of skilled status and long-term job security. Commitment to apprenticeship within the community was bolstered through parental and local support for the apprentice and a paternalistic approach from employers who undertook long-term responsibility for the development of the young person both socially and occupationally. The socio-economic conditions associated with the popularity of apprenticeship in the post-war era have, however, been undermined in the
Berufserziehung – Vocational Education
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past 25 years or so. In short, the communities within which apprenticeship is situated are no longer the same. Our contemporary and historical research suggests that apprenticeships are successful when they are strongly embedded in the social relations and occupational structure of the local community, and when the pedagogical approach develops participants’ ownership of and commitment to the attainment of substantive skills, vocational knowledge and work habits. We have developed an analytical framework to show the four inter-related ways in which the concept of community can be applied to apprenticeship: Pedagogical – the extent to which a social theory of learning underpins traditional and contemporary apprenticeship (the theory conceptualises apprentices as ‘legitimate peripheral participants’ who learn from experienced workers and trainers in a variety of institutional settings); Occupational – the extent to which apprenticeship functions to initiate the individual into an occupational community, defined by the solidarity formed around shared knowledge, skills, values, customs and habits; Locational – the extent to which apprenticeships are made available to young people by local employers and, therefore, the extent to which apprenticeship becomes part of the life of the wider community; Social – the extent to which the perceived success/reputation of the employer influences the community’s perception of apprenticeships as an important element of the community’s economic and social relations. In addition, how the local community sees apprenticeships as an important element in its repertoire of mechanisms for facilitating the transition of young people from economic dependence to independence and from child hood to adulthood. To help understand the uneven quality and availability of learning opportunities across the sectors and organisations delivering apprenticeship in the UK, we have also developed a continuum for categorising approaches to apprenticeship: at one end is what we have termed, the expansive approach, and at the other the restrictive approach. Expansive features include: the chance for learners to engage in multiple communities of practice; to gain broad experience across the organisation; to pursue knowledge-based as well as competence-based qualifications; to learn off-the-job as well as on-the-job; to have a recognised status as a learner; and to have access to career progression and extended job roles. Restrictive features represent the reverse side of these attributes. Organisations, which create a more expansive approach have embedded apprenticeship within a broader workforce development strategy that is also closely aligned with business objectives. Thus the creation of an expansive learning environment arises out of and impacts on the organisational culture. We hypothesise that lifelong learning is more likely to be fostered where apprenticeships are built on a set of
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Frank Achtenhagen et al.
pedagogical and curriculum principles, processes and knowledge from which apprentices can continue to draw throughout life, and which provide a platform for progression.
3.2
Four dimensions as vehicles for lifelong learning - Commentary on Lorna Unwin’s chapter
The potential of communities for effective adaptation to the economic, technological and social changes depends on the learning ability and the change readiness of its members. These capabilities have to be developed already at school and during apprenticeship. Unwin and Fuller discuss whether these conditions are fulfilled within the Modern Apprenticeship in the United Kingdom by formulating the following question: "Can contemporary apprenticeships act as vehicles for lifelong learning?" Starting from the socio-economic changes of the last century, the authors analyse the challenges of communities which were kept alive through major employing industries in the past. In order to face up these challenges, they propose that communities of practice should to be fostered in four interrelated ways: (1) pedagogical, (2) occupational, (3) locational, and (4) social. Concerning the first dimension, the authors pick up the social theory of learning which is preferred by them to explain the process of enculturation of apprentices in a community of practice. Thereby, they discuss that the theory of situated learning is not sufficient enough to explain all learning phenomena and, therefore, stress the necessity of consideration of psychological theories of learning. Against the background of the difficulties in predicting what young people will need to know as adults at the workplace, the contribution stresses that self regulated learning is – in addition to one's prior knowledge – the most important prerequisite for lifelong learning. In the second dimension, the contribution picks up an aspect which is often forgotten in the discussion of situated or socio-cultural learning theories: The expertise of a community of practice is not solely bound to status and workplace experience; there is not a simple linear journey from newcomer to long-time worker. While a community is reproducing itself, there is a continuing change of the community and its competencies and skills with every new novice. Furthermore, the authors analyse workplace conditions which can inhibit the process of enculturation resp. the development of competencies. Concerning the third dimension, the necessity of coordinating the educational objectives and contents of the different learning places is emphasized. Beyond, the article discusses the area of conflict between an apprenticeship with
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focus on performance-oriented qualifications and an apprenticeship which affords opportunities to develop more person-oriented competencies. The fourth and closing dimension focuses on the social dimension and highlights the necessity of rebuilding the relationship between communities, apprentices, and employers. It becomes obvious that a holistic approach is needed to support lifelong learning. This approach has to consider the schooling system, the employers who provide opportunities to engage in further learning, and the culture of a community which values continuing education and learning.
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Perspective from a micro level: The Inferential Construction of Knowledge in Further Vocational Education and Training
It is commonly accepted, today, that knowledge is “actively constructed”. As yet unclear, however, is the precise meaning of active construction and its functioning in the process of knowledge acquisition. The paper contends that the constructive aspect of knowledge acquisition has to be analysed in terms of some epistemic logic, since if knowledge is not just “picked up” from the outside world, then it has to be inferred from the individual’s prior knowledge. Such a notion of inferential reasoning must, of course, go beyond the scope of deductive logic, since the latter only explicates facts that are implicit in our prior knowledge or reveals necessary consequences of hypothetical assumptions. What we wish to get a handle on, however, is the creative production of new ideas, which deduction cannot yield. More than hundred years ago, Charles S. Peirce set forth an inferential trivium consisting of “abduction”, “deduction” and “induction” which he thought covers the overall epistemic process. For a long time this approach has been neglected or rejected, but for a couple of years it has received considerable interest, as philosophers and psychologist have become aware of the fact that creativity is not to be squared with an arbitrary generation of ides, but is obviously guided by principles of rationality. With respect to philosophy of science in particular, it has turned out that a Popperian methodological deductivism fails to account for such a “logic of discovery” (in fact, Popper held that there was no such thing as a logic of discovery), but that it equally fails to provide a sound basis for the acceptance or rejection of theories. This latter aspect is covered by inductive logic, in particular by the so-called “inference to the best explanation” which – in the Peircean framework – is not to be confused with abduction or ampliative reasoning in general. All three inferences together form an overall rationale that governs the entire process of knowledge acquisition and that remains active in each application
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of the acquired knowledge. The paper explicates this interaction of the three inferences and the specific logicity of each inferential type. Having laid this theoretical basis, teaching and learning processes in the business and economics domain are analysed accordingly. In particular, the development of an understanding of the “value” of goods is partly reconstructed in terms of the inferential triad. It is shown how the question of determining the value of goods arises as a consequence of the inductive judgement that prices do not tell us what things are worth. In the next step, a concept of value in terms of production cost plus a reasonable profit margin is suggested as a possible “theory of value”, which is then deductively applied and inductively tested. The paper goes on to discuss extensions and modifications of this initial theory and analyses these thought processes in terms of the inferential theory of knowledge acquisition. Finally, further challenges of the reconstructed notion of value are discussed, so as to point out what kinds of reasoning might follow up and be of particular relevance in the context of further vocational education or adult development in general. It is concluded that, first, there are good grounds for assuming that cognitive learning is basically and essentially a matter of logical inference in terms of abduction, deduction and induction. Second, the three inferences seem to be the necessary and appropriate tools for life-long learning, since they constitute a systematic method for the generation and evaluation of new knowledge which – by its recursive nature – virtually guarantees self-corrective and expansive learning. Third, the inferential triad provides a solution for the problem of “inert knowledge”. Fourth, effective teaching has to convince the student that what is learnt is practicable and worth practising, that it is both functional and expedient. This not only entails that what is learnt has to address problems the learner actually has or might have (abduction), but also that it is shown to work in real practice and to be the best way to tackle those problems (induction). The inferential theory covers all these aspects and thus provides a systematic basis for the respective analysis and planning of teaching and learning processes.
Literatur Achtenhagen, F. /Lempert, W. (2000): Vorwort/Kurzfassung des Berichts und des Programms „Lebenslanges Lernen“ In: dies. (Hrsg.): Lebenslanges Lernen im Beruf. Seine Grundlegung im Kindes- und Jugendalter. Band 1: Das Forschungs- und Reformprogramm. Opladen: Leske + Budrich, S. 7–18. Hoff, E.-H./Ewers, E./Petersen, O. (2003): Konflikte und Kompetenzentwicklung im Arbeitsleben. FU Berlin (Arbeitspapier).
Lebenszeit – Bildungszeit Johannes Bilstein
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Zur Themenstellung des Symposiums
Ziel des Symposiums war es, das Thema „Zeit“ pädagogisch-anthropologisch zu diskutieren – und zwar sowohl im Hinblick auf mögliche anthropologische Konstanten als auch unter dem Blickwinkel historischen Wandels. Der Titel „Lebenszeit – Bildungszeit“ griff dabei ausdrücklich eine Formulierung Klaus Mollenhauers auf. Mollenhauer hatte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1981 unter dem Begriff „Bildungszeit“ ein Klassifikationsmuster für erziehungswissenschaftliche Untersuchungen vorgelegt, das sich an drei Polarisierungen orientiert: Zeitstrukturen sind – erstens – beobachtbar in interpersonellen Situationen oder im Rahmen individuellen Bewusstseins; differenziert werden muss – zweitens – zwischen erlebter und messbarer Zeit; und schließlich lassen sich alle pädagogisch relevanten Zeitmuster in die Polarität von anthropologisch auferlegten – letztlich auf Leib-Relationen zurückgehenden – und historisch auferlegten Zeitschemata zurückführen. „Diese Unterscheidung ist pädagogisch wichtig, weil die anthropologisch auferlegten Zeitschemata daran erinnern, dass es eine humanspezifische Grenze der Manipulierbarkeit (eben auch im Hinblick auf die Zeitordnungen) gibt, und weil die historisch auferlegten Zeitschemata daran erinnern, dass das Sich-hinein-Bilden in Zeitordnungen die Bildung einer immer historisch bestimmten Form von Bildung ist.“ (Mollenhauer 1981, S. 74) Mit „Bildungszeit“ meinte Mollenhauer in diesem Zusammenhang zweierlei: zum einen das Zeitmaß der Ausbildung und des Lernens, die Menge in Bildung investierter Zeit, ein Zeitkontingent, das im Laufe des 18. Jahrhunderts immer stärker rationalen und didaktischen Kontrollen unterworfen wurde. Zum anderen wird „Bildungszeit“ von der Seite der subjektiven Erfahrung her verstanden: Bildungszeit, das ist „die zeitliche Rhythmisierung der für den Bildungsprozeß bedeutungsvollen Erfahrungen, gleichsam die semantische Struktur der Bildungsprozesse auf der Zeitachse“ (Mollenhauer 1981, S. 72). In einem späteren Text versuchte Mollenhauer konkreter aufzuzeigen, wie am Beginn der Neuzeit in Europa ein neuer Umgang mit der Zeit und ein neuer Problemtypus der Zeitbehandlung entstehen. Alltagspraktisch und theoretisch
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Johannes Bilstein
behandeln die Menschen Zeit nun sparsam und unter ökonomischen Gesichtspunkten, führen gerade die zur Bildung und Vervollkommnung des eigenen Könnens aufgewendete Zeit als Argument ein. Dabei werden aber die im engeren Sinne modernen Konzepte von Subjektivität zum Problem, vor allem wegen des unaufhebbaren Bezuges aller Zeit-Rhythmisierungen zum Leib. „Zwar macht es nicht viele Umstände, eine Ordnung zu erlassen, die sich nun die Uhr zum Zeitmaß wählt (...) Schwieriger aber scheint gewesen zu sein, die Körper der Kinder (und auch der Lehrer) auf dieses Gleichmaß einzustellen.“ (Mollenhauer 1986, S. 82) Und an einer anderen Stelle schreibt Mollenhauer: „Zum Zeitprojekt der sich auf den Weg der Moderne begebenden Kulturformationen muss also ein pädagogisches Zeitprojekt hinzukommen, das sichert, dass die kulturelle Formation auch von der Lebendigkeit der kleinen Körper/Leiber angenommen wird.“ (Mollenhauer 1986, S. 84) Es sind also die leiblichen Erfahrungen von eigener, nicht ohne weiteres vermittelbarer Zeit, die „Bildungszeit“ zum Problem werden lassen – und die jede reflektierende Auseinandersetzung mit diesem Thema auf Vorsicht und Behutsamkeit gegenüber den Unwägbarkeiten und den auf den ersten Blick oft irrational erscheinenden Sonderlogiken von Lebensprozessen verweisen. Eine an ausschließlich empirischer Rationalität orientierte Kritik pädagogischer Zeittheorien (vgl. z. B. Lüders 1995, S. 155ff.), die philosophisch bzw. lebensphilosophisch begründet sind, geht insofern an der Problemstellung vorbei. „Bildungszeit“ benennt bei Mollenhauer also einerseits einen historischen Typus von Zeiterfahrung und Zeiterleben, der mit der europäischen Modernisierung seit der Renaissance zum Problem wird. Andererseits aber bezeichnet „Bildungszeit“ die temporale Dimension eines letztlich anthropologisch fundierten Grundproblems der Bildungstheorie: der Spannung zwischen Ich und Welt, zwischen den Rhythmen des Leibes und der Notwendigkeit sozialer Figurationen von Zeit (vgl. Elias 1988, S. 81-92; Nowotny 1990, S. 47-76). Vor diesem theoretischen und terminologischen Hintergrund versuchte das Symposium, Beiträge zu einer Debatte über historisch-anthropologische Grundprobleme zusammenzuführen, die mit dem Generalthema des Züricher Kongresses implizit angesprochen waren. Dabei waren sowohl die als Vortrag wie auch die als Kommentar ausgewiesenen Beiträge immer auf frühere Arbeiten im Kontext der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) bezogen. Die Kommission Pädagogische Anthropologie der DGfE hat sich bereits 1998 auf ihrer Jahrestagung mit dem Thema Zeit auseinandergesetzt; die aus dieser Jahrestagung hervorgegangene Publikation versammelt zeittheoretische, pädagogische und anthropologische Beiträge, die sich allesamt mit der grundsätzlich temporalen Struktur von Erziehungs- und Bildungsprozessen auseinandersetzen (Bilstein et al. 1999).
Lebenszeit – Bildungszeit
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Die Mitwirkenden am Symposium „Lebenszeit – Bildungszeit“ hatten es sich zum Ziel gesetzt, zu einer intensiveren Diskussion darüber zu gelangen, wie sich die Wahrnehmung und die Strukturierung von Zeit im Lebenslauf sowohl unter historischen als auch unter zeitgenössischen Bedingungen entwickelt und welche Wandlungsprozesse die generellen Zeitkonzepte und die wichtigen Leitkategorien (z. B. „Lebenslauf“ oder „Erwachsene“) dabei durchlaufen haben. Auf historischer Ebene ging es dabei insbesondere um die Verschiebungsprozesse, welche den veränderten Zeitkonzeptionen zugrunde liegen: Ein Verständnis von Lebenszeit als Bildungszeit ist bereits in den klassischen bildungstheoretischen Konzeptionen angelegt, doch konkretisiert sich dieses Verständnis unter den gegenwärtigen Bedingungen von Modernisierung, Beschleunigung und verlängerter Lebenszeit neu und anders. Auf systematischer Ebene ging es um klärende Hinweise zum Spannungsverhältnis zwischen dem – eher jungen – Anspruch auf „lebenslanges Lernen“ einerseits und dem in der deutschen bildungstheoretischen Tradition aufgehobenen Anspruch auf Selbstreflexivität und auf die Widersprüchlichkeit der Selbstkonstitution andererseits. In den Vorgesprächen mit den Beitragenden war sowohl dieser Bezug auf vorliegende Arbeiten als auch die genauere Abstimmung von Vorträgen und Kommentaren verabredet worden. Dabei hatte sich als Konsens ergeben, dass die jeweiligen Partner das Verhältnis von Vortrag und Kommentar individuell gestalten sollten. So entstanden durchaus unterschiedliche Koppelungen, die sich teilweise als Zusammenspiel von Thesen und Kommentar verwirklichten, teilweise aber auch zu relativ unabhängigen, einer gemeinsamen Fragestellung verpflichteten Beiträgen wurden.
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Historische Konzeptionen lebenslangen Lernens unter Bedingungen der Muße
Im ersten Vortrag skizzierte Meike Baader (Universität Potsdam) Konzeptionen des Lebenszyklus im Vergleich. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich dabei auf die Frage, ob es sich bei den gegenwärtig propagierten Formen des „lebenslangen Lernens“ tatsächlich um ein historisch neues Phänomen handelt oder ob nicht auch in früheren Konzeptionen von Lebenszyklus und Lebenslauf Vorstellungen über andauernde Notwendigkeiten von lernender Selbstveränderung enthalten waren. Baader untersuchte dazu Senecas Schrift „Von der Kürze des Lebens“ aus dem Jahre 49 n. Chr. und einige der einschlägigen Essays von Michel de Montaigne. Bei einem genaueren Blick auf Senecas Lehre vom gelungenen Leben zeigt sich, dass gerade die wichtigsten Lernaufgaben im Laufe eines Lebens nie zu Ende gehen. Dafür gibt es Bedingungen, nicht zuletzt auf der Ebene der
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Verfügungsfreiheit über Zeit. Als wertvoll erachtete, selbstbestimmte und von den Notwendigkeiten der Daseinsvorsorge befreite Zeit ist bei Seneca die wichtigste Voraussetzung für ein gelungenes Leben. Muße, sozialhistorisch gebunden an die Lebensformen der römischen Oberschicht, ist Bedingung für eine sinnvolle Lebenserfüllung. Aber auch den Essays Montaignes liegen Vorstellungen von der nie endenden Notwendigkeit zugrunde, das eigene Leben ständig zu verändern und den jeweiligen Bedingungen anzupassen. Das ganze Leben hindurch müssen die Tugenden eingeübt, muss das Gewissen gebildet werden. Mit Blick auf die beiden historischen Texte konnte Baader zeigen, dass viele der in gegenwärtigen soziologischen Modernisierungstheorien proklamierten Besonderheiten der „zweiten“ oder „radikalisierten“ Moderne ganz und gar nicht singulär sind, dass vielmehr auch und gerade Konzepte wie das vom „lebenslangen Lernen“ durchaus tradiert sind und dass auch die gegenwärtig aktuell diskutierten Konzeptionen von Lebensstufen oder Lebenslaufetappen traditionelle Diskussionsmuster weiterspielen. Nicht zuletzt ergibt sich bei einem genaueren Blick auf das historische Material, dass ein Antagonismus von „Lernen“ und „Bildung“, wie er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der deutschen Diskussion herausgebildet hat, keine Gültigkeit beanspruchen kann, wenn die Diskurse über „lebenslanges Lernen“ und der Diskurs über das „gelungene Leben“ nicht getrennt, sondern als ein einheitlicher Diskurs geführt werden. Birgit Althans (Freie Universität Berlin) stellte in ihrem Kommentar zu Baaders Vortrag das sowohl bei Seneca als auch bei Montaigne vorausgesetzte Konzept der Muße in den Vordergrund. Althans betonte einerseits noch einmal die Bindung dieses Mußekonzepts an die Lebensbedingungen einer privilegierten Minderheit und versuchte andererseits genauer zu differenzieren, wie in unserer Gegenwart mit zur eigenen Verfügung freigesetzter Zeit umgegangen wird. Dabei konnte sie im Rückgriff auf Thorstein Veblen (1986 [1899]) zeigen, dass sich unter den Lebensbedingungen einer leisure class ganz eigene Distinktionsformen herausbilden, in deren Kontext auch die jeweilige Art und Weise der Zeitverfügung zum sozialen Bedeutungsträger wird. Eine entscheidende Veränderung aller Mußekonzepte in der Gegenwart ergibt sich darüber hinaus durch das Phänomen massenhafter Arbeitslosigkeit – dadurch also, dass große Gruppen in der Bevölkerung der westlichen Industriegesellschaften über mehr als genug Zeit verfügen und insofern durchaus ein „müßiges“ Leben im Sinne der alten Eliten führen könnten, stattdessen aber in der Gleichzeitigkeit von Armut und Konsumdruck landen. Vor diesem Hintergrund zeichnete Althans das Bild einer aufgespaltenen Mußekultur von zwei verschiedenen Klassen der Müßigen: den privilegierten, Muße und Bildung zusammen lebenden, traditionellen Müßigen einerseits und den Zwangsmüßigen andererseits, die durch Arbeitslosigkeit zugleich zum Nichtstun und zur Armut verurteilt sind.
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Katastrophentraining und Ereignischarakter
Einen anderen Akzent setzte Edgar Forster (Universität Salzburg) in seinem Vortrag, der sich mit den Veränderungen befasste, denen pädagogische Zukunftskonzeptionen sowohl in ihren Inhalten als auch in ihren Funktionen unterworfen waren. Forster ging von der klassischen, letztlich auf Schleiermacher zurückgehenden Definition eines genuin pädagogischen Zukunftsverhältnisses aus, das im pädagogischen Handeln immer zugleich auch die Gegenwartsbedürfnisse des Kindes zu berücksichtigen hat (Schleiermacher 1983 [1826]). Dieses Verhältnis hat sich unter gegenwärtigen Bedingungen jedoch dahin gehend verändert, dass – so Forster – der gegenwärtige Augenblick immer öfter für eine Zukunft geopfert wird, die nicht eintritt. Aus einer solchen kritischen Perspektive heraus wird deutlich, dass Zukunft keineswegs eine neutrale, inhaltsleere oder formale Kategorie ist, sondern durch Erziehungs- und Bildungstheorien konstruiert und definiert wird. Es sind die in der Kategorie „Zukunft“ aufgehobenen Imaginationen des Künftigen, die unsere gegenwärtigen Erfahrungen und unser gegenwärtiges Handeln organisieren. Am Beispiel der Studie „Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt“ (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2000) zeigte Forster, dass hier eine neue Konzeption von Zukunft zu erkennen ist, die zugleich als offen und unverfügbar erscheint: Zukunftskonstruktionen werden nicht mehr als Konstruktionen erkannt und dargestellt, scheinen insofern auch nicht mehr pädagogisch gestaltbar zu sein. Wenn jede gesellschaftliche Entwicklung als globaler – und letztlich wirtschaftlich determinierter – Prozess verstanden wird, der nicht menschlichkonstruktiver Absicht, sondern unverfügbaren Marktnotwendigkeiten unterworfen ist, dann bleibt für jede Pädagogik tatsächlich nur noch, die zu erziehenden Menschen auf die bevorstehenden Entwicklungen vorzubereiten: ein nur noch reagierendes, nicht mehr gestaltendes Überlebens- und Katastrophentraining im Sinne Katharina Rutschkys (1977, S. 248). Forster versuchte, aus dieser Situation Konsequenzen für die inhaltliche und formale Gestalt pädagogischer Theoriebildung zu ziehen. Er plädierte – im Anschluss an Donna Haraway (1995) – für eine leidenschaftliche Unvoreingenommenheit der Erziehungswissenschaft, die ihre Objektivität durch Positionierung gewinnt und die gesellschaftlichen Entwicklungen als von Menschen konstruierte Entwicklungen identifiziert und diskutiert. Nur eine so konfigurierte Wissenschaft könne Zukunft offen halten und der gesellschaftlichen Verführungskraft widerstehen. Der daran anschließende Beitrag von Ursula Stenger (Universität Würzburg) war ausdrücklich nicht als direkter Kommentar angelegt, sondern wollte – ausgehend von einem mit Forster geteilten Ausgangspunkt – einen eigenen Beitrag über den Zusammenhang von Bildung und Zeit skizzieren. Sie versuchte,
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Johannes Bilstein
am Fallbeispiel eines zweijährigen Jungen jene Augenblicke zu rekonstruieren, in denen sich für das Kind Zeiterleben und Zeitwahrnehmung qualitativ ändern. Damit legte Stenger den Akzent auf die Diskontinuität, die Plötzlichkeit und den Ereignischarakter von Bildungsvorgängen. Unter Bezugnahme auf Theorievorschläge von Friedrich Copei und Käte Meyer-Drawe zeichnete sie auf diese Weise eine bildungstheoretische Perspektive, die den Blick auf den fruchtbaren Augenblick richtet, in dem sich Weltwahrnehmung und Zeiterleben fundamental ändern. Damit setzte sie der kritischen Perspektive Forsters einen verwandten Akzent an die Seite. Während Forster auf dem genuin pädagogischen Anspruch auf Zukunftsgestaltung bestand, beharrte Stenger auf der Unverfügbarkeit und Unplanbarkeit von Bildungsprozessen. Beide verfolgten insofern historisch reflektiert und mit kritischer Distanz Positionen, die sich auf die klassischgeisteswissenschaftliche Tradition der Erziehungswissenschaft beziehen.
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Fraglichkeit der Leitkategorie „Erwachsener“ und die Paradoxie der condition humaine
Der Vortrag von Johannes Bilstein (Kunstakademie Düsseldorf) befasste sich dagegen mit einer der wichtigsten Leitkategorien für jede Diskussion über Entwicklung und Fortschritt im Lebenslauf: der des Erwachsenen. In der Auseinandersetzung mit den eher kulturkritisch getönten Klagen Martinus Langevelds (1975) zeichnete der Vortrag die lange ideen- und mentalitätsgeschichtliche Tradition nach, in der Erwachsenheit als Gegensatz zu Kindlichkeit eben nicht nur als positive Zielkategorie behandelt, sondern auch mit Verlusten und Rückschlägen in Verbindung gebracht worden ist. Bei einem Blick auf literarisches und imaginationsgeschichtliches Material zeigt sich, dass in dem Begriffspaar „Erwachsenheit-Kindheit“ nicht nur die Position der Kinder, sondern auch diejenige der Erwachsenen als durchaus fragwürdig behandelt wurde, und dass in dem unreflektierten und unkritischen Glauben an das „Zauberwort Entwicklung“ (Sternberger 1974) eine säkularisierte Heilserwartung enthalten ist, welche die alten christlichen Erlösungshoffnungen nun auf den irdischen Fortschritt transponiert. Auch der daran anschließende Vortrag von Helga Peskoller (Universität Innsbruck), der weniger als Kommentar denn als korrespondierender Beitrag gedacht war, bezog sich auf den Text Langevelds. Peskoller machte das bei Langeveld zentrale Begriffspaar „Erwachsenheit-Kindlichkeit“ zum Thema und unterzog die Bedingungen von Erwachsenheit in der gegenwärtigen Welt einer genaueren Reflexion. Dabei bezog sie sich auf Edgar Morins anthropologische Grundbestimmung des Menschen als „ein mit Unvernunft begabtes Tier“ (1974,
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S. 113-176). Geht man von einer solchen Definition aus, dann erscheint der Mensch als in sich konstitutionell paradoxes Geschöpf, das stets zugleich ganz natürlich und voll und ganz kulturell ist. Als Beispielfigur für diese Paradoxie beschrieb Peskoller die körperlichen Aktionen von BASE-Jumpern, die sich mit dem Fallschirm von einem hohen Berg stürzen. Diese Extremsportler wurden als Prototypen für eine Erwachsenheit dargestellt, die sich selbst auf Probe und auf Abbruch versteht. Ähnlich wie Stenger legte auch Peskoller den Akzent auf die Ereignishaftigkeit von Bildungsprozessen, auf den plötzlichen und keiner Kontinuität entwachsenden Sprung, der – auch hier dienen die Extremsportler als Metaphernlieferanten – das Leben dem Risiko des Ereignisses aussetzt.
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Beschleunigung und die Unhintergehbarkeit des Leibes
Der Vortrag von Eva Borst (Universität Mainz) griff das Thema „Zeit“ aus der Perspektive des von Paul Virilio initiierten Beschleunigungsdiskurses auf. Dabei ging es ihr vor allem darum, die Wirkung von gesellschaftlichen und kulturellen Beschleunigungsprozessen auf Lern- und Denkvorgänge zu untersuchen, und zwar vor dem Hintergrund eines sich immer stärker verändernden Konzepts von Körperlichkeit. Auf Thesen Foucaults zurückgreifend, versuchte Borst nachzuzeichnen, wie sich die Körpergrenze insbesondere im Kontext des Umganges mit neuen Medien immer mehr verflüssigt und der Körper selbst als konstitutives Moment des Denkens schließlich überflüssig wird. Diese Entwicklung nahm sie kritisch in den Blick und versuchte die Konsequenzen darzustellen: Letztlich habe die durch Beschleunigung erzeugte Verknappung von Zeit die Verdichtung von Vergangenheit und Zukunft in der fraglosen Gegenwart zur Folge. Jedes historische Bewusstsein von der eigenen Gewordenheit in historischgesellschaftlicher sowie psychisch-biographischer Hinsicht gehe verloren, weshalb es – aus der Sicht Borsts – kaum noch möglich sei, diese Gewordenheit im Vorgriff auf eine mögliche Zukunft zu (re-)konstruieren. Damit wäre aber ein Zustand erreicht, der jeden dynamischen Entwicklungsprozess systematisch stillstellt und Bildung verunmöglicht. In ihrem Kommentar zu diesem Vortrag formulierte Ulrike Mietzner (Humboldt-Universität zu Berlin) zunächst einen eher allgemeinen Vorbehalt gegenüber kulturkritischen Tendenzen, die sich auf eine pauschale und umfassende Diagnose der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungstendenzen berufen. Sie ordnete die auf den Körper bezogenen Argumentationslinien des Vortrages in die Traditionen der theoretischen Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit des Menschen ein, insbesondere in die Renaissance dieses Themas in den letzten beiden Jahrzehnten. Borsts These vom Verlust der Körperlichkleit bzw. von der
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Johannes Bilstein
Möglichkeit einer Überwindung des Körpers im Kontext der neuen Medien stellte sie nicht zuletzt im Rückgriff auf phänomenologische Denktraditionen in Frage, die – vor allem bei Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels – die leibliche Erfahrung als nicht hintergehbare Basis aller Weltbewältigung voraussetzen.
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Ergebnisse
Insgesamt ergab sich sowohl aus den Vorträgen als auch aus der anschließenden Diskussion eine differenzierte Position gegenüber den unreflektierten Fortschrittshoffnungen, die mit Konzeptionen von „lebenslangem Lernen“ häufig verbunden werden. Gezeigt werden konnte: Diese Konzeptionen sind alt und erscheinen aus historischer Perspektive als gebunden an bestimmte gesellschaftliche Lebensformen (Baader/Althans). Die damit verbunden Zukunftskonzeptionen erweisen sich bei genauerem Hinsehen oft als eher passiv-reagierend, jedenfalls sind sie mit einem weitgehenden Verzicht auf die Reflexion von Gestaltungsmöglichkeiten verbunden. Zugleich geht mit der Imagination eines sequenziell planbaren und organisierbaren Verlaufs von Lern- und Bildungsprozessen das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für jene plötzlichen, ereignishaften Sprünge verloren, die jeden Bildungsprozess ausmachen (Forster/Stenger). Ein imaginationsgeschichtlich orientierter Blick auf kulturkritisch motivierte Klagen über den Verlust der Leitkategorie „Erwachsenheit“ zeigt überdies, dass sich diese Klagen in eine lange Tradition von Bildern verkehrter Generationenabfolgen einordnen lassen und dass die seit dem 19. Jahrhundert popularisierte Vorstellung von einem Gewinn bringenden Fortschritt die christliche Tradition der Heilserwartung weiterspielen (Bilstein/Peskoller). Bei einer solchen Diskussion von Zeitkonzepten erweisen sich beschleunigungskritische Diskursbeiträge einerseits als diagnostisch wirksam, andererseits müssen auch diese Argumentationslinien in der Tradition einer wiedererwachten Aufmerksamkeit für den Körper verstanden werden (Borst/Mietzner). Das Kongressthema wurde so zugleich historisch und kritisch reflektiert. Im Zusammenspiel der verschiedenen Beiträge lieferte das Symposium wichtige neue Erkenntnisse über die diskurshistorischen und diskurstheoretischen Hintergründe des Kongressthemas sowie über das anthropologische Bedingungsfeld, in dem man über „Bildung über die Lebenszeit“ nachdenken und reden kann.
Lebenszeit – Bildungszeit
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Literatur Bilstein, J./Miller-Kipp, G./Wulf, Ch. (Hrsg.) (1999): Transformationen der Zeit. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag. Elias, N. (1988): Über die Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Haraway, D. (1995): Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. S. 73–97. Langeveld, M. J. (1975): Die verlorenen Erwachsenen. In: Blaß, J. L./Herkenrath, L. L. /Reimers, E./Stratmann, K. (Hrsg.): Bildungstradition und moderne Gesellschaft. Hans-Hermann Groothoff zum 60. Geburtstag. Hannover: Schrödel-Verlag, S. 12–14. Lüders, M. (1995): Zeit, Subjektivität und Bildung. Die Bedeutung des Zeitbegriffs für die Pädagogik. Weinheim: Beltz. Mollenhauer, K. (1981): Die Zeit in Erziehungs- und Bildungsprozessen. In: Die Deutsche Schule, 73. Jg, S. 68–78. Mollenhauer, K. (1986): Zur Entstehung des modernen Konzepts von Bildungszeit. In: K. Mollenhauer: Umwege. Weinheim: Juventa Verlag, S. 68–92. Morin, E. (1974): Das Rätsel des Humanen. München: Piper. Nowotny, H. (1990): Eigenzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rutschky, K. (Hrsg.) (1977): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt am Main: Ullstein. Schleiermacher, F. E. (1983 [1826]): Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Frankfurt am Main: Ullstein-Verlag. Sternberger, Dolf (1974): Das Zauberwort Entwicklung. In: ders.: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 87–121. Veblen, Thorstein (1986 [1899]): Theorie der feinen Leute. Frankfurt am Main: Fischer. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hrsg.) (2003): Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt. Opladen: Leske + Budrich.
Lebenslanges Lernen – ein alter Hut? Rita Casale / Juliane Jacobi / Jürgen Oelkers / Daniel Tröhler
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Einleitung
Lebenslanges Lernen gilt als „das“ zukunftsfähige Konzept der Didaktik, und dies in jeder Hinsicht, aber er ist zunächst trivial, denn sollte Leben etwas anderes sein als Lernen? Es ist ähnlich wie beim „vernetzten Denken“, einem anderen neuen Slogan der Didaktik: Denken ist immer Vernetzung, es gibt keine Sonderform des Denkens, die exklusiv „vernetzt“ verfahren würde. Analog ist Leben nur als Lernen vorstellbar. Nun ist Subtilität kein Charakteristikum von Schlachtrufen, die vergröbern müssen und mit der Trivialität leben können, solange Aufmerksamkeit gesichert ist. Und die ist gegeben, wenn man das Thema des Kongresses und das hier sichtbare Forschungsaufkommen betrachtet. Doch „Bildung über die Lebenszeit“ bedeutet nicht dasselbe wie „lebenslanges Lernen“. Die didaktische Zentralstellung des lebenslangen Lernens erwächst nicht aus der Didaktik, sondern aus der Theorie der Gesellschaft, in der Verzeitlichung, Risikozuwachs und – sehr paradox – Individualisierung zum Thema geworden sind. Es ist von „reflexiver Moderne“ oder von „Risikogesellschaft“ die Rede, um auf die Abnahme von Entlastung hinzuweisen, was im Gegenzug bedeutet, auf diese Gesellschaft nicht mehr durch geschlossene Perioden der Bildung am Anfang des Lebens vorbereiten zu können. Sicherheit ist nur noch durch Unsicherheit zu haben, nämlich durch eine permanente Selbstausrüstung mit Wissen und Können oder eben ein lebenslanges Lernen, das nicht mehr auf stabile Karrieren und Anstellungen verweist, sondern nur noch mit hypothetischen Chancen verbunden ist, die befristet genutzt werden können. In diesem Sinne ist das lebenslange Lernen nicht auf das Leben, sondern auf Passagen und Projekte des Lebens zugeschnitten. In dem Maße, wie sich diese Zerteilung in längere oder kürzere Abschnitte beruflicher wie biografischer Erfahrung durchsetzt, ist Leben nicht mehr Entwurf, sondern serielles Mosaik, eine fortlaufende Umorganisation oder ein lebenslanger Lernprozess mit mehr oder weniger guten Chancen und selbst zu tragenden Risiken. Die Frage, die wir im Folgenden behandeln werden, ist, ob das je anders war, also ob es sich wirklich um eine neue Erfahrung handelt, und, wenn ja, in welcher Hinsicht. Ist „lebens-
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langes Lernen“ ein Konzept und eine Erfahrung, die erst am Ende des 20. Jahrhunderts nicht nur gelegentlich aufscheint, sondern übermächtig wird? Diese Frage scheint abenteuerlich zu sein, denn jeder weiß, dass traditionale Gesellschaften im Unterschied zu modernen oder gar postmodernen statisch verfasst waren, eine geringe Mobilität aufwiesen, Lernen überwiegend nicht an die Dynamik des Wissens anschließen konnten und große Teile der Gesellschaft vom Lernen ausschließen mussten. Das Leben in traditionalen Gesellschaften verlief zyklisch, die Initiation wurde anschließend nicht revidiert, und was einmal gelernt worden war, behielt seine Gültigkeit. Dieses Bild bevorzugt die Sicht der „modernen“ Gesellschaft, die schon von der Wahl der Adjektive her als Fortschritt erscheinen muss. Die traditionale Gesellschaft geht der modernen voran, sie ist statisch, während die moderne dynamisch ist, die statische Gesellschaft definiert ihre Subjekte auf einen festen Ort hin, die dynamische macht sie beweglich; nur in dynamischen Gesellschaften wird Lernen grundlegend, die statische kann sich mit einer sozialen Ausstattung begnügen, die nicht nachgebessert werden muss, weil sich die Anforderungen des Lebens nicht ändern. In diesem Sinne hätte lebenslanges Lernen mit der allmählichen Beschleunigung der Gesellschaft zu tun und wäre in der Breite erst eine Erfahrung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Aber die Gesellschaften des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, die in aller Regel immer noch „vormodern“ genannt werden, waren riskante soziale Grössen mit hohen Unsicherheiten und ebenso hohen persönlichen Risiken, die nicht sozialstaatlich abgemildert werden konnten. Wer überleben wollte, war gezwungen, lebenslang zu lernen, also sich immer neuen Situationen anzupassen und das Beste für sich daraus zu machen. Die Unterteilung nach sozialen Ständen bedeutete nicht, dass nur die schmale Oberschicht lernen musste. Wer „Lernen“ im Lichte einer historischen Kategorie versteht, wird in allen sozialen Schichten und Gruppierungen eine hoch bewegliche Lebensdynamik erkennen, die in vielen Hinsichten erst durch die Karrieremuster und Ausbildungsformen der Industriegesellschaft statisch wurde. Auch das ist paradox, denn erst die Industriegesellschaft hat ständige Erneuerung und sozialen Austausch zum Prinzip erhoben. Aber mit der Erfindung von festen Arbeitsplätzen in grossen Unternehmen, beruflichen Hierarchien mit geregeltem Aufstieg und Berechtigungen für Berufe, die ausbildungsabhängig waren, wurde der Lebenslauf stabil oder zumindest wesentlich weniger kontingent. Das zeigt sich auch daran, dass parallel zu dieser Rationalisierung der Gesellschaft hochwertige und abstrakte soziale Sicherungssysteme entstanden sind. Wenn uns etwas von früheren Gesellschaften unterscheidet, dann die Absenz von Versicherungen außerhalb der Vorratswirtschaft. Der Aufbau schulischer Allgemeinbildung unter der Voraussetzung staatlicher
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Schulpflicht ist eine Art Versicherung gewesen, die es vorher nicht gab. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind Schulabschlüsse auch im Elementarbereich mit Berechtigungen für den Arbeitsmarkt verbunden worden. Die Berechtigungen öffneten den Zugang zu einzelnen Berufen ohne jede Befristung, sie bescheinigten eine Bevorratung des Wissens für lebenslange Tätigkeiten, wobei die notwendige Kompetenz am Anfang und in einer einzigen geschlossenen Lernperiode erworben wurde. Was den Begriff des Lernens angeht, lässt sich feststellen, dass er wie kaum ein anderes Konzept ausschließlich modern zu sein scheint. Es gewinnt an Bedeutung, so die Standard-Geschichtsschreibung, mit der Entwicklung der empirischen Lernpsychologie, also datiert auf das frühe 20. Jahrhundert und muss so nicht vorher vermutet werden. Aber natürlich ist „Lernen“ kein ausschließlich modernes Konzept und natürlich ist dafür auch nicht erst im 20. Jahrhundert ein Sinn vorhanden gewesen, wie die psychologische Literatur, die spätestens seit Clark Hull (1935) nach einem einheitlichen Lernbegriff sucht, weismachen will. Frühere Konzepte anderen Zuschnitts wurden vergessen oder nie beachtet, ohne dass geprüft worden wäre, welche besser sind. Psychologen wären sehr erstaunt, würde man sie darauf hinweisen, dass die Theorie des Lernens mit Namen wie Agrippa von Nettesheim oder Francis Bacon verknüpft werden kann, ohne dass man sich dabei lächerlich machen muss. Grundrelationen des Lernbegriffs wie das Verschieben von Erfahrungsparametern zwischen „Alt“ und „Neu“ und so die Fixierung von Zeitpunkten der Veränderung durch „Lernen“ sind wesentlich älter als die Lernpsychologie. Die starke psychologische Besetzung von „Lernen“ hat die Geschichte des Konzepts verdunkelt oder als unwichtig erscheinen lassen. Aber was bildungsgeschichtlich gut gezeigt werden kann, ist nicht nur der Tatbestand „lebenslangen Lernens“, sondern auch das Vorhandensein von Theorien des Lernens und des Lebens. Leben ist immer wie eine Stufenfolge verstanden worden, die auf Entwicklung oder „Bildung über die Lebenszeit“ verweist, ohne dass diese Bildung im heutigen Sinne formalisiert gewesen wäre. Metaphern wie die des Lebensbaumes oder der Lebensleiter verweisen auf implizite Theorien, die dem nahe kommen, was später als Entwicklungsgesetze mentaler Prozesse beschrieben wurde. Auch hier wird Leben auf „Stufen“ bezogen, nur feiner differenziert und besser mit Forschung belegt. Aber es wäre falsch, einen grundlegenden Unterschied zu behaupten, wenn die Theorie von einer analogen Semantik ausgeht. Vielmehr haben wir in unserem Symposium versucht, historische Beobachtungen zur Diskussion zu stellen, die darauf hinweisen, dass das Verhältnis von Leben und Lernen anders zu fassen ist, als dies mit groben Periodisierungen der Gesellschaftsgeschichte möglich ist.
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Im Folgenden werden die im Symposium behandelten Themen in vier chronologisch sich folgenden Abschnitten historisch vorgestellt, die zeigen, dass Lernen als pragmatische Anpassung der Erfahrung an je neue Situationen keine Erfindung der „Risikogesellschaft“ ist und sein kann. Die Beispiele stehen für vier verschiedene Lern- und Erfahrungsfelder, das Arrangieren des Lebens mit der eigenen Natur, das Lernen in unsicheren Ständen, die Verknüpfung persönlicher Erfahrungen zu einer Biografie sowie die Bewältigung von Arbeit durch Lernen. Kurz werden auch die Bemerkungen zusammengefasst, die die Kommentatoren und Kommentatorinnen zu jedem Teil des Symposiums gemacht haben.
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Revidierter Lernbegriff
Lernprozesse sind Anpassungs- und Bewältigungsleistungen an reale Anforderungen der Umwelt und der Gesellschaft, aber auch der Lehrpläne bzw. Lehrmittel, und das gilt selbstverständlich auch für die Moderne, ohne aber dass dieser Sachverhalt auf sie begrenzt werden kann. Die Verkürzung, die sich aus der Korrelation von lebenslangem Lernen mit der „späten Moderne“ ergibt, wird unmittelbar evident, wenn man mit der modernen Anthropologie von einer Plastizität des Menschen ausgeht, die im Wort „adaptability“ gefasst wird. Adaptability wird generell als response, d. h. als Reaktion bzw. Antwort auf Zwänge 1 (constraints) des Umfelds verstanden (Moran 2000, S. 4f.) . Das ganze Ökosystem von Umfeld und Anpassung wird in der Forschung in drei Segmente geteilt, nämlich in Energie, Materie und Information. Für die Pädagogik von besonderem Interesse ist, wie Wissen erworben und weitervermittelt wurde, lange bevor es die uns heute bekannten Institutionen gegeben hat, wie neues Wissen mit altem korreliert wird und durch den Transfer sich selber wandelt. Genau in diesem Sinne zielt die anthropologische Forschung weniger auf quantitative Feststellungen von Gelerntem, sondern auf die Rekonstruktion der Entwicklung logischer Relationen, die der Mensch aufgrund neuer Informationen sowie der Neuorganisation des Wissens aufgrund der Kombination von altem und neuem Wissen knüpft bzw. früher geknüpft hat (Moran 2000, S. 20). Ein solcher Blick in die Geschichte lehrt, dass "lebenslanges Lernen" kein normativer Begriff einer bestimmten Zeit sein kann, sondern ein deskriptiver Begriff, der zur conditio humana gerechnet werden muss. Besonders deutlich wird dies bezüglich eher „bildungsferner“ sozialer Schichten – also mit Blick auf 1
Die Übersetzung von "adaptabilty" ins Deutsche als "Anpassung" verlangt Vorsicht, nicht nur weil "adaptability" nicht identisch mit "Adaption" ist, sondern weil in der deutschen Sprache mit "Anpassung" stärker als mit dem amerikanischen Begriff ein passives Vorgehen konnotiert wird.
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die überwiegende Zahl der Menschen –, die kaum je im Zentrum der Forschung standen, nicht zuletzt auch aufgrund der dürftigen Quellenlage (vgl. dazu ausführlich Tröhler 2004). Verfolgt man die (notwendigen) permanenten agrarischen Innovationsleistungen einfacher Bauern vor dem Hintergrund extremer Klimaschwankungen wie etwa am Ende der kleinen Eiszeit um 1700 (vgl. Pfister 1988), zeigen sich erziehungswissenschaftlich relevante „lebenslange“ Lernleistungen, die unabhängig von Lehre sind und bis anhin auch nicht den Stellenwert erhalten haben, den sie verdienen. Wie dramatisch der Zusammenprall solcher – existentiell wichtiger – Lernerfahrungen mit fremder Lehre sein kann, zeigt sich etwa an der Wirtschaftspolitik Englands im besetzten Irland im 19. Jahrhundert, als die Engländer der Wirtschaftslehre von Thomas Malthus (1798 und 1800) folgten, wonach die Iren zur Kartoffel-Monokultur gezwungen und die traditionell wirksamen agrarischen Pufferstrategien verboten wurden – Millionen Iren starben oder wanderten in die USA aus (Newman et al. 1990, S. 228ff.; Sen 1981, S. 160 ff.). Am prägnantesten wird dieser Konflikt am Beispiel eines Müllers aus dem späten 16. Jahrhundert sichtbar, der – wie die übrige Landbevölkerung auch – offensichtlich die nicht getilgten bäuerlich-vorchristlichen Religionsvorstellungen nur schwer mit der offiziellen christlichen Doktrin vereinbaren konnte, dies aber – im Unterschied zu anderen – öffentlich machte und deswegen von der Inquisition verfolgt und schließlich hingerichtet wurde. Zu bemerken bleibt, dass er aufgrund seiner großen finanziellen Schwierigkeiten zwischen den beiden Inquisitionsprozessen nicht weniger als fünf Berufen nachgegangen war, unter anderem auch demjenigen des Schulmeisters (Ginzburg 1990). Der Blick auf lebenslange Lernprozesse außerhalb des traditionalen Duals Lehre-Lernen macht die Sicht auf andere – vor allem: ältere historische – Beispiele möglich, generiert neue Erkenntnisse bzw. dekonstruiert topoi, auf denen die Erziehungswissenschaft aufbaut, wie etwa: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben.“ Hätten sich die Bauern des Mittelalters oder der Frühneuzeit entsprechend verhalten, könnte es heute keine Menschen geben, die so etwas sagen. Wir wären vermutlich durch Verhungern ausgestorben. Das innovative Potenzial eines solchen Ansatzes für die pädagogische Forschung betonte Marc Depaepe in seinem Kommentar zu diesem Teil des Symposiums. Die Betrachtung klimatischer Faktoren und die Fassung des Lernens als adaptability können, so Depaepe, sowohl zur methodologischen Erneuerung der historischen Bildungsforschung als auch zur Erschließung unerforschter thematischer Felder beitragen.
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Rita Casale et al. Leben und Lernen: Das Prinzip der Ruhelosigkeit
Im nächsten Abschnitt wurde an einem herausragenden Beispiel der Biografie von Agrippa von Nettesheim das Prinzip der Ruhelosigkeit von Leben und Lernen erläutert, das dem ungesicherten Erfahrungsraum von Gelehrten oft zugrunde lag. Agrippa von Nettesheim lebte in einer turbulenten Zeit voller Unsicherheit. Schon der Tag seiner Geburt ist nicht genau überliefert, Heinrich Cornelius wurde am 14. oder 16. September 1486 in Köln geboren. Die römische Stadt hieß in der Antike Colonia Agrippinensis, in Anspielung daran nannte sich Cornelius „Agrippa“, und zwar Agrippa von Nettesheim, was auf eine Adelsbezeichnung hinweisen sollte. Tatsächlich stammte Heinrich Cornelius aus einem Kölner Adelsgeschlecht, das in manchen Darstellungen als wohlhabend, in anderen als verarmt bezeichnet wird, wobei „Nettesheim“ auf die Herkunft der Familie verwies, nämlich auf ein Dorf in der Nähe von Köln. So entstand Agrippa von Nettesheim Heinrich Cornelius, schon im Namen eine Figur deutlich zwischen Renaissance und Humanismus, mit Vorgriff auf den Barock, wenn das möglich gewesen wäre. Agrippa von Nettesheim war eine irritierende Figur der späten Renaissance und des europäischen Humanismus. Sein Lebenslauf ist in vielen Hinsichten paradigmatisch für diese Epoche, vorrangig unter Gesichtspunkten der gelehrten Bildung. „Bildung“ lässt sich bei Agrippa von Nettesheim als lebenslange Lernleistung unter immer neuen Umständen und nicht reduzierbaren Risiken verstehen, also als eigentlich sehr moderne Erfahrung (Casale et al. 2004). Die Lebenszeit war Lernzeit in einem Sinne, der heute erst wieder eingeholt werden muss. Sein Leben war geprägt von Gelehrsamkeit einerseits, Originalität und Angriffigkeit andererseits. Der Gang seines Bildungswegs war ein kreativer Hindernislauf (siehe dazu Casale et al. 2004, S. 22ff.). Aber gerade die Schwierigkeiten, mit denen er sich im Lauf seiner wissenschaftlich abenteuerlichen Karriere auseinandergesetzt hat, führten ihn zu beeindruckenden Kompetenzen. Agrippa von Nettesheim beherrschte die Kunst des scholastischen Disputierens, studierte die Kirchenväter und die Humanisten, kannte sich in der antiken Literatur aus, war in der älteren wie in der neueren Theologie bewandert, verfügte über staunenswerte Bibelkenntnisse, verstand sich auf die Naturwissenschaften und war besonders fasziniert von Magie und Okkultismus. Entsprechend präsentieren sich seine Selbstdarstellung und sein Selbstbewusstsein. Das Bild von Agrippa von Nettesheim, das sich aufgrund der verschiedenen Etappen seines Lebenslaufs rekonstruieren lässt, ist das einer öffentlichen Figur, die christliche Motive mit kabbalistischen verband, Wissenschaften mit hermeti-
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scher Philosophie, Okkultismus mit Weltgelehrsamkeit, Arzneikunst mit Wissenschaftskritik. Eine solche Figur wäre im Mittelalter undenkbar gewesen, auch weil das Wissen damals nicht in der Weise öffentlich zugänglich war wie im 16. Jahrhundert. Agrippa konnte an jedem Ort seiner vielfach gebrochenen Karriere gelehrte Bücher lesen, also Studien betreiben, die nicht auf zensierte Bibliotheken angewiesen waren. Der Buchdruck hob die Zensur faktisch auf, auch wenn es immer wieder Versuche gab, sie wirksam werden zu lassen. Aber geheime, verbotene, lasterhafte oder indizierte Bücher waren mit mehr oder weniger großen Mühen frei zugänglich, weil jeder Versuch der Zensur nur den Nachdruck des Verbotenen anregte. Nicht alle Gelehrten waren natürlich vom Schlage Agrippas, wenngleich etwa der Zwang zur Originalität, die hypothetischen Chancen oder die Rastlosigkeit der Stationen sich in vielen vergleichbaren Lebensläufen findet. Niemand kam ohne lebenslanges Lernen aus, wenn das bedeutet, in vielen Stellen und Funktionen unter der Voraussetzung hoher persönlicher Mobilität tätig sein zu müssen. Zu dieser paradigmatischen Betrachtung des lebenslangen Lernens am Beispiel der Biografie von Agrippa von Nettesheim hat Felix Bürchler in seinem Kommentar die kritische Frage gestellt, ob und, wenn ja, inwiefern Agrippa für seine Zeit repräsentativ sei. So finden sich ebenso zeitgenössische Lebensläufe, wie z. B. derjenige von Wolfgang Reichart, genannt Rychardus, die belegen, dass unter Anpassung an die Umwelt nicht lediglich ein turbulenter Lebenslauf eines Agrippa verstanden werden müsse. So hatte Rychardus die Stelle als Stadtarzt bis zu seinem Tode inne, also etwa zwanzig Jahre, und wendete sich in dieser Zeit der Erziehung seines Sohnes zu. Liest man von gegen 30 000 Astrologen, die schon alleine in Paris ihr Leben in einem offenen Markt zu bewältigen hatten, sei Agrippa nicht als Ausnahmeerscheinung zu sehen, doch die Frage nach den zwei unterschiedlichen Formen der Anpassung sollte trotzdem theoretisch noch gefasst werden.
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Das lebenslange Lernen und die Erziehung der Frau in der frühen Neuzeit
Nachdem die Bedeutung des lebenslangen Lernens für die Gelehrten in der frühen Neuzeit behandelt wurde, hat das Symposium sich mit deren Rolle für die Erziehung der Frauen im 17. Jahrhundert beschäftigt. Angesichts sowohl der religiösen als auch der sozialen Geschehnisse stellt das 17. Jahrhundert in Europa ein Zeitalter dar, in dem den Bürgern eine Intensivierung bestimmter Lernprozesse abverlangt wurde. Auf der politischen Ebene war das 17. Jahrhundert
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die Epoche der Verstaatlichung der politischen Souveränität. Für das politische Denken bedeutete das eine Verschiebung seines Gegenstandes. Im Zentrum stand nicht länger der Regierende, der ein Recht auf seine Position hatte, sondern der Regierende, der verpflichtet war, den Staat zu erhalten. Die Prinzen sollten lernen, die Bürger zu regieren, und die Bürger sollten so weit zivilisiert werden, dass sie sich regieren ließen. Eine der Figuren der zivilen Gesellschaft, der nach dem Konzil von Trient (1545) in den Ländern der Gegenreformation im Prozess der Moralisierung und der Restauration der Sitten eine zentrale Rolle zugesprochen wurde, war die Frau. Aber für diese Aufgabe musste sie zuerst erzogen werden. Zahlreich sind die Traktate, die sich damit beschäftigen. Es geht darin niemals um eine allgemeine Mädchen- oder Frauenbildung. Immer handelt es sich um die Erziehung zu einer bestimmten Funktion, wie anhand der Analyse von drei Gattungen von Quellen thematisiert worden ist. Die erste Quelle über die lebenslange weibliche Erziehung, die in diesem Teil betrachtet wurde, ist Lodovico Dolces Schrift „Dialogo della Institution delle donne“ (1563). Instruieren wollte er mit seinem Text die Frau in ihren drei unterschiedlichen sozialen und biografisch aufeinander folgenden Zuständen, als Unverheiratete, als Verheiratete und als Witwe. Mit seinen Instruktionen begleitete er in den drei Büchern seines Werkes den Lebensweg der Frau von der Wiege bis zum Grabe. Circa hundert Jahre später lesen wir bei François de Grenaille (1616–1680) die französische Version der lebenslang konzipierten Erziehung der Frauen. Die Schriften von de Grenaille stehen in derselben Tradition der Institutio-Bücher, der schon Dolces Text zuzuordnen war. Und wie Dolces Gedanken gelangten auch die de Grenailles nur über den Buchmarkt zum Publikum, sie wurden nicht in pädagogischen Institutionen gelehrt. Der größte Unterschied zwischen beiden bestand darin, dass Grenaille in seinem Buch „L’honnête fille“ (1640) zwischen instruire und éduquer, zwischen unterrichten und erziehen, differenzierte: Frauen können auf die gleiche Weise wie Männer unterrichtet werden, aber sie sollen anders erzogen werden. Sie haben zwar die gleichen geistigen Fähigkeiten, aber sie haben eine andere soziale Funktion. Mit der Unterscheidung zwischen der Instruktion und der Erziehung der Frauen distanzierte sich Grenaille von der religiösen Tradition, indem er die substantielle Gleichheit der Geschlechter verteidigte. Zum Schluss der Betrachtung der Bedeutung des lebenslangen Lernens für die Erziehung der Frau in der frühen Neuzeit sind die Schriften von Françoise Maintenon analysiert worden. Maintenons Texte gehören zu einer anderen pädagogischen Gattung als die der Institutio-Bücher. Sie teilen mit letzteren die Absicht, zur Veredlung zu erziehen, aber sie sind Schultexte und haben Vorbereitungscharakter. Sie behandeln die Lebensspanne des Aufenthalts von Mädchen
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im Pensionat von Saint-Cyr, wo Maintenon arbeitete. Obwohl die verschiedenen Lebensphasen durchaus Beachtung finden, begrenzen sich die Erziehungsmaßnahmen auf die Zeit bis zum 20. Lebensjahr. Die Verbreitung der Gedanken Françoise Maintenons über die moralische Erziehung der jungen Damen stützte sich zudem auf eine pädagogische Institution. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Pädagogik zeigt, dass sich heute im Unterschied zu früheren Zeiten die Emphase auf das lebenslange Lernen nicht nur auf die literarische Produktion beschränkt, sondern ihre Rhetorik unmittelbar in die Praxis wirkt, indem sie sich in einer Institutionalisierung des lebenslangen Lernens umzusetzen versucht. In Bezug auf diesen Teil moniert Esther Berner kritisch in ihrem Kommentar, dass ein Vergleich mit anderen „modernen“ Formen lebenslangen Lernens nicht gelitten hätte, wenn die Darstellung des Kontextes vermehrt die Vielgestaltigkeit und Fragmentation der Interessen, die Koalitionen und Klientelverhältnisse zwischen den agierenden Gesellschaftsgruppen gerade jenes Zeitraums ins Zentrum gestellt hätte; damit könnte der Gefahr entgangen werden, den Eindruck einer konsistenten „Epoche der Verstaatlichung der Souveränität“ mit eindeutigen, geschlossenen und polaren Positionen: (active) von Macht auf der einen Seite, passive, zu transformierenden Subjekten auf der anderen Seite.
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„Lebenslanges Lernen“: ein Konzept für Berufsbiografien von Lehrerinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert?
Im letzten Teil wird der Sprung von der frühen Neuzeit zum 19. Jahrhundert, von Bauern und Gelehrten zu den Lehrerinnen versucht. Theorien der Pädagogischen Psychologie zum lebenslangen Lernen sind zunächst im Bereich der Wirtschaftsund Berufspädagogik sowie der Erwachsenenbildung entwickelt bzw. in der Soziologie zur Erklärung von erwerbsbedingten Veränderungen in Lebenslaufmustern in modernen Gesellschaften herangezogen worden. Insofern liegt es nahe, die Vorstellungen vom Lernen über die Erstausbildung hinaus in älteren Berufskonzepten daraufhin zu untersuchen, ob sie den aktuellen Vorstellungen entsprechen oder von ihnen abweichen. Ausgehend von der These, dass dem Berufsverständnis des wissenschaftlich gebildeten Gymnasiallehrers qua definitionem ein Konzept des lebenslangen Lernens zugrunde lag, werden das Berufsverständnis des Gymnasiallehrers, des Volksschullehrers und der Lehrerin im „langen 19. Jahrhundert“ untersucht. Während sich in der Berufsgeschichte des Gymnasiallehrers nachzeichnen lässt, dass das alte Konzept der beruflichen Weiterentwicklung auf der Basis der Erstausbildung zunehmend obsolet wurde und institutionelle Fortbildung an seine
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Stelle trat, war für Volksschullehrer das Konzept lebenslangen Lernens nicht vorgesehen, was nicht heißt, dass es empirisch, autodidaktisch organisiert, nicht vorhanden war. Die spät institutionalisierte Berufsausbildung der Lehrerinnen und ihre prekäre Anstellungssituation hatte zur Folge, dass lebenslanges Lernen zum weiblichen Berufsverständnis dazugehörte. Für die Gymnasiallehrer veränderte sich das lebenslange Lernen in Form wissenschaftlicher Forschung, als die Laufbahnbestimmungen keine Publikationen mehr forderten. Der Einzug der Berufswissenschaft Pädagogik nach 1890 in die Weiterbildung muss als Anpassung der Gymnasiallehrer an veränderte Anforderungen interpretiert werden. Die Standesvertreter der Volksschullehrer forderten früh eine „berufswissenschaftliche Ausbildung“. Ihr ideologischer Einfluss war erwiesenermaßen groß, empirische Spuren in der tatsächlichen Berufsausübung und in institutionalisierten Formen von Fort- und Weiterbildung der Volksschullehrer sind schwieriger nachzuweisen. Die Lehrerinnen entwickelten aufgrund spezifischer Anforderungen an ihre Berufsausübung eine eigene Art der Weiterbildung. Die Entwertung der Erstausbildung, Bedingungsmerkmal heutigen lebenslangen Lernens mit Auswirkungen auf die allgemeine Bildung und die Erstausbildung, gehört in keinem der drei Fälle zu den Spezifika der beruflichen Weiterbildung. Hingegen: Die individuelle Autonomie in den Zielbestimmungen der Weiterbildung, die in allen drei Berufsgruppen zu finden war, gehört in den aktuellen Konzepten nicht unbedingt zu den entscheidenden Merkmalen des Lernkonzepts. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die historischen Formen des Berufsverständnisses des Lehrerberufs. Der running gag der historischen Bildungsforschung – „Alles schon mal da gewesen!“ – lässt sich also für die hier betrachteten Berufe nicht unbedingt nutzen. In ihrem Kommentar zum lebenslangen Lernen als Konzept für Berufsbiografien von Lehrerinnen ließ Sabina Larcher einige kritische Bemerkungen über die theoretischen Voraussetzungen des ganzen Symposiums einfließen. Die Ausführungen in der Thematik „lebenslanges Lernen – ein alter Hut?“ machen deutlich: Um der sehr berechtigten Kritik eines running gag zu entgehen, sei in der historischen Analyse kategorial zwischen Konzept und Deutungsmuster zu unterscheiden. Dies, um sowohl das Entstehen als auch das Funktionieren von Diskursen über das Thema „Lernen“ zu verstehen und zu erklären, aber ebenso um konkrete Erfahrungen des Lernens nachzeichnen zu können. Durch das Fragen nach Bedeutungen – etwa der beruflichen Bildung und Tätigkeit eines Menschen vor dem Hintergrund eines permanent offenen Prozesses oder einer Affirmation bzw. Präsentation permanenten Lernens – können weitere Dimensionen gewonnen werden. Nicht zuletzt gelte es auch herauszuarbeiten, wie psychologische oder anthropologische Deutungsmuster im historischen Denken ihren Platz
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einnehmen und warum bestimmte Konzepte an Glaubwürdigkeit gewinnen oder verlieren, ihre Gestalt verändern oder sich als dominant durchsetzen.
Literatur: Quellen Agrippa von Nettesheim (1600): Opera. T. I/II. Lyon: per Beringos frates. Dolce, L. (1563): Dialogo della Institution delle donne. In Vinegia Appresso Gabriel Giolito de Ferrari e Fratelli. Grenaille, F. de (2003[1640]): L’honnête fille où dans le premier livre il est traité de l’esprit des filles. Édition critique établie, présentée et annotée avec variantes par Alain Vizier. Paris: Honoré Champion. Maintenon, F. (1899): Extraits de ses lettres, avis, entretiens, conversations et proverbes sur l’éducation. Paris: Hachette. Maintenon, F. (1917): Education et morale. Choix des lettres, entretiens et instructions. Par Félix Cadet et Eugène Darin. Paris: Delagrave. Maintenon, F. (1998): Comment la sagesse vient aux filles. Propos d’éducation choisis et préesentés par Pierre E. Leroy et Marcel Loyau. Paris: Bartillat. Malthus, T. R. (1798): An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and other Writers. London: Johnson. Malthus, T. R. (1800): An Investigation of the Cause of the Present High Price of Provisions. By the Author of the Essay on the Principle of Population. London: o. A..
Darstellungen Bölling, R. (1983): Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Göttingen: Vandoeck und Ruprecht. Casale, R./Oelkers, J./Tröhler, D. (2004): Lebenslanges Lernen in historischer Perspektive. Drei Beispiele für ein altes Konzept. In: Zeitschrift für Pädagogik, 50. Jg., S. 21–37. Führ, Ch. (1985): Gelehrter Schulmann – Oberlehrer – Studienrat. In: Conze W./Kocka, J.: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 417-457. Ginzburg, C. (1976/1990): Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Berlin: Wagenbach. Moran, E. F. (2000): Human Adaptability. An Introduction to Ecological Anthropology (Second Edition). Boulder/CO: Westview Press. Newman, L. F./Crossgrove, W./Kates, R. W./Mathews, R./Millman, S. (Hrsg.) (1990): Hunger in History: Food Shortage, Poverty and Deprivation. Cambridge/MA: Blackwell
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Pfister, Ch. (1988): Klimageschichte der Schweiz 1525–1860. Das Klima der Schweiz von 1525–1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft. Bern: Haupt. Sen, A. (1981): Poverty and Famines. An essay on Entitlement and Deprivation. Oxford: Clarendon. Tröhler, D. (2004): „Lebenslanges Lernen“ als conditio humana: Ein Plädoyer für einen revidierten Lernbegriff. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 80. Jg., S.. 323–326.
Erziehungswissenschaft und Politikberatung Lucien Criblez / Ferdinand Eder
Im Zuge der Verwissenschaftlichung von Politik und Verwaltung sind auch Bildungspolitik und Bildungsverwaltung immer stärker auf wissenschaftlich abgesicherte Entscheidungen angewiesen. Die Nachfrage nach wissenschaftlicher Politikberatung und Evaluation ist insbesondere seit den 1990er-Jahren stark gestiegen. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass Politik und Verwaltung im Bildungsbereich die Aufmerksamkeit von den Inputs zu den Outcomes verschoben haben. Fragen nach der Wirksamkeit von Bildung sind außerdem durch die Forderung nach größeren Handlungsspielräumen für die Einzelschulen, nicht zuletzt im inhaltlichen Bereich, virulent geworden. Evaluationen haben dadurch an Bedeutung gewonnen, die großen, outcomes-orientierten internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) haben Öffentlichkeit und Politik zusätzlich für die Resultate von Bildungsprozessen sensibilisiert, insbesondere in Bereichen, in denen die deutschsprachigen Länder sich nicht zu den besten zählen dürfen. Die Hoffnungen von Politik und Verwaltung, durch Auftragsforschung zu gesichertem Wissen für die Steuerung von Schulreformen und -entwicklungen zu gelangen, erschließen zwar der Erziehungswissenschaft neue Finanzquellen für Projekte und erhöhen ihre Akzeptanz in Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. Neben der akademischen Ausbildung von Lehrinnen und Lehrern erhält die Erziehungswissenschaft dadurch eine zweite wichtige, nutzungsorientierte Legitimation. Damit ist zugleich die Hoffnung verbunden, die "praktische Belanglosigkeit pädagogisch bedeutsamer Forschungsergebnisse" (Heid 1989) zu überwinden. Allerdings sind mit verwertungsorientierter Auftragsforschung und Evaluation zugunsten von Verwaltung und Politik auch Gefahren verbunden, die Wissenschaft und Forschung in ihren konzeptionellen Grundannahmen – u. a. der Interessenfreiheit, der Methodenfreiheit oder der ungebundenen Interpretation von Forschungsresultaten – in Frage stellen. Das Symposium stellte deshalb das Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Politikberatung zur Diskussion. Das Symposium sah vier Referate mit entsprechenden Anschlussdiskussionen vor. Lucien Criblez (Pädagogische Hochschule Aarau) zeigte am Beispiel
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Lucien Criblez / Ferdinand Eder
der deutschsprachigen Schweiz Veränderungen im Verhältnis zwischen Erziehungswissenschaft, Lehrerbildung, Politik und Verwaltung seit den 1970erJahren auf. Ilsedore Wieser (Universität Innsbruck) stellte die Frage, ob Wissenschaft und Politik inkompatible Denk- und Handlungssysteme seien. Jürgen Kussau (Konstanz) situierte die Auftragsforschung zwischen Wahrheitssuche und Interessenbindung und Josef Thonhauser (Universität Salzburg) übernahm es, für die (krankheitshalber) abwesenden Ingrid Buschmann und Juliane Schmich (Universität Salzburg) Resultate aus deren Forschungsprojekt „Vorstellungen der Bildungspolitik von Evaluation“ vorzustellen. Lucien Criblez zeichnete die Veränderungen im Verhältnis von Erziehungswissenschaft, Lehrerbildung und Politik seit den 1970er-Jahren in drei Schritten nach. Die Erkenntnisse stammen vorwiegend aus einem größeren, vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt zum „Strukturwandel der Lehrerbildung in der deutschsprachigen Schweiz“ (Laufzeit 1999–2003). Pädagogik an den Universitäten der deutschsprachigen Schweiz war in ihrem Selbstverständnis bis in die 1960er-Jahre Teil der Philosophie und der geisteswissenschaftlichen Tradition verpflichtet. Eingebunden in die akademische Lehrerbildung übernahmen die Lehrstuhlinhaber zwar Ausbildungsverantwortung, waren aber vorwiegend für die normativen Seiten der Ausbildung zuständig, während spezielles Personal die berufliche Vorbereitung von Lehrerinnen und Lehrern übernahm. Die Bildungsverwaltung war klein und legitimierte ihr Handeln weitgehend aus Bildungspolitik und Bildungspraxis. Durch die Expansion des Bildungssystems seit den 1960er-Jahren ergab sich ein großer Planungsbedarf, gleichzeitig wurde im Zuge der „Versozialwissenschaftlichung“ der Gesellschaft von der Bildungspolitik mehr Rationalität gefordert (Widmaier 1966). Die Bildungsverwaltung wuchs stark an, die Erziehungswissenschaft gewann allmählich eine autonome Stellung innerhalb der Universitäten und begann sich zur Sozialwissenschaft zu wandeln. Die Primarlehrerausbildung entzog sich der Einbindung in die Hochschulen erfolgreich, das Projekt einer Bildungshochschule in Aarau scheiterte, nachdem der eklatante Lehrermangel sich um 1975 in einen Lehrerüberfluss verwandelt hatte. Die Lehrerbildung blieb so in eher lockerer Verbindung zur akademischen Disziplin, die Bildungsverwaltung konnte ihren Planungsbedarf in der Disziplin nur teilweise decken und richtete eigene Verwaltungseinheiten ein, die mit Beratung, Dokumentation, Umsetzung von Forschungserkenntnissen und der Begleitforschung von Schulversuchen beauftragt wurden (Bain et al. 2001). Mit der Einführung von neuen Steuerungsmodellen in der Verwaltung (New Public Management, wirkungsorientierte Verwaltungsführung), mit zunehmender Outcomes-Orientierung, der Führung von (Bildungs-)Institutionen auf der Basis von Leistungsaufträgen und Globalbudgets, der Neuakzentuierung des
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Controlling und der Verstärkung von Evaluationsbemühungen – dies alles vor dem Hintergrund zunehmender Finanzierungsprobleme der öffentlichen Hand – wurden die Informationsfunktionen innerhalb der Bildungsverwaltung zurückgebaut, die Lehrerbildung mit weitgehender Autonomie ausgestattet, gleichzeitig vollständig in den Hochschulbereich verlagert und mit einem Forschungs- und Entwicklungsauftrag versehen. Damit sind verschiedene Reformprozesse verbunden, die zur Zeit nicht abgeschlossen sind: die Steigerung des Evaluationsbedarfes bei gleichzeitiger Auslagerung der Evaluationen und der Begleitforschung aus der Bildungsverwaltung, ein Aus- und Aufbau von Forschungsinstitutionen an den Universitäten und den neuen Pädagogischen Hochschulen, damit verbunden eine Differenzierung und Spezialisierung innerhalb der bisher schwach ausdifferenzierten Erziehungswissenschaft (Criblez 2002). In diesem Kontext akzentuieren sich verschiedene (alte) Fragen neu: Wer definiert die Erkenntnisinteressen und Forschungsmethoden, insbesondere in der Auftragsforschung und bei Evaluationen zuhanden der Bildungsverwaltung? Welche Rolle spielen Forschung und Entwicklung in der Lehrerbildung zwischen disziplinärer Forschung und nutzenorientiertem Bedarf in Bildungspolitik und -verwaltung? Über welche Kompetenzen müssen Bildungspolitik und -verwaltung minimal verfügen, um sinnvoll als Auftraggeber von Forschung und Evaluationen funktionieren zu können? Welche Regeln sind innerhalb der Forschung zu beachten, damit Forschung nicht selbst zu Politik wird? Ilsedore Wieser befasste sich in einem zugleich grundsätzlich und sehr praktisch orientierten Beitrag mit der vermeintlichen oder wirklichen Inkompatibilität der beiden Denk- und Handlungssysteme Wissenschaft und Politik. Einerseits wird Inkompatibilität behauptet und mit Verweisen darauf begründet, dass Politiker „nun einmal von der Vereinfachung komplexer Probleme leben“ und sich „die differenzierten/abwägenden Sichtweisen von Wissenschaftern nicht leisten können“ (Wieser) bzw. mit Hinweisen auf die Gegensätzlichkeit zwischen Erkenntnis- und Handlungslogik, die in einem ganz unterschiedlichen Ausmaß unter dem Druck von Zeit, Entscheidungszwängen und (Un-)Sicherheit stehen (Beck 1991). Andererseits werden aber auch zahlreiche Gemeinsamkeiten und Schnittstellen gesehen, die genützt werden können, wenn eine Beschränkung auf das jeweilige Selbstverständnis erfolgt: Wissenschafter agieren als Dialogpartner für Politik und Öffentlichkeit und beteiligen sich auf diese Weise als „Geburtshelfer“ an politischen Gestaltungsprozessen, während Politiker angesichts der zunehmenden Komplexität von Problemen darauf angewiesen sind, sich Unterstützung von Experten zu holen. Eine Annäherung der beiden Systeme erfordert nach Wieser insbesondere
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Lucien Criblez / Ferdinand Eder konkrete Anliegen und Vorhaben mit klaren und beiderseits akzeptierten Zielen und Realisierungsvorstellungen; längerfristige Partnerschaften (Kommissionen, Arbeitsgemeinschaften, Thinktanks, Projekte) mit verbindlichen und transparenten Kooperationsvereinbarungen (z. B. bezüglich der Zusammensetzung und Verantwortung von Beratungs- und Entwicklungsgremien, der Arbeitsweise sowie der Ergebnisverwertung); die Einsicht, dass Personen in Wissenschaft und Politik kontinuierlich mit Unsicherheiten leben müssen und Zukunftsentwürfe mit Sowohl-als-auchCharakter erstrebenswerter sind als Entweder-oder-Fixierungen (bipolare Logiken); permanente, medial gestützte Dialogplattformen und öffentliches Beziehen von Positionen.
Wieser führte zwei Beispiele für solche längerfristigen Kooperationsprojekte an: (1) die seit 25 Jahren bestehenden OECD-Regionalseminare, von denen wichtige bildungspolitische Impulse ausgegangen sind, die vor allem aber zu personalen Netzwerken zwischen den drei deutschsprachigen Ländern geführt haben (Wieser 1985), und (2) die österreichische „Planungs- und Entwicklungskommission“ (PEK), die mit der Erstellung eines Konzepts für die Tertiärisierung der Einrichtungen der Lehrerbildung beauftragt ist und in einem inzwischen mehrjährigen Prozess an der permanenten Vernetzung aller betroffenen Stellen arbeitet und den gesamten Entwicklungsprozess zugleich öffentlich dokumentiert. Jürgen Kussau ging in seinem Beitrag „Auftragsforschung zwischen Wahrheitssuche und Interessenbindung“ davon aus, dass die traditionelle Zuordnung von Wahrheit zur Wissenschaft und von Interessengebundenheit zur Politik in Auflösung begriffen sei. Unter Bedingungen „reflexiver Verwissenschaftlichung“ (Beck 1986) müsse sich auch die Wissenschaft kritisch befragen lassen. Gleichzeitig formuliere die Politik einen Wahrheitsanspruch, den sich eine pluralisierte Wissenschaft nicht mehr leisten könne. Insgesamt stellt Kussau eine Verschiebung des Wahrheitsanspruchs von der Wissenschaft zur Politik fest. Auftragsforschung versteht Kussau als „spezifische Form der Produktion von Wissen“, einschließlich dessen Vermittlung, Verwendung und Distribution. Im Bereich der Auftragsforschung sind die Produktion und die Verwendung von Wissen besonders eng miteinander verbunden. Wissenschaft gerät hier zudem in ein Spannungsverhältnis zwischen den eigenen Objektivitätsforderungen und (politischer) Akzeptanz. Auftragsforschung ist dabei nicht voraussetzungslos, sondern setzt Wissen (zumindest für die Problemdefinition, die Auftragsformu-
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lierung und die Interpretation von Ergebnissen) sowie die Zahlungsfähigkeit des Auftraggebers voraus. Während Wissenschaft einem Prozess der Vergesellschaftung unterworfen ist, wird die Gesellschaft zunehmend verwissenschaftlicht. Wissenschaft ist dadurch nicht mehr einfach Agentur gesellschaftlicher Problemlösung, sondern ist selbst Teil gesellschaftlicher Probleme geworden. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Interessen (Macht) und Wahrheit. Wissenschaft, so argumentierte Kussau mit Beck und Bonss (1989), liefere nicht einfach ein besseres, sondern ein anderes Wissen. Unter Bedingungen der Brauchbarkeit von Forschungsresultaten verwandeln sich Wissenschaftler aber mitunter in politische Akteure, werden von Beobachtenden zu Teilnehmenden. Sich auf praktische Probleme im Rahmen von Auftragsforschung einzulassen bedeutet deshalb auch, das Risiko der Vereinnahmung einzugehen. Wissenschftliche Resultate vereinnahmen können jedoch vor allem die Zahlungsfähigen. Kritisch müsste deshalb moniert werden, dass in einer demokratischen Gesellschaft anwendungsfähiges Wissen allen Gruppen zukommen sollte, nicht nur den zahlungsfähigen. Zentrale Probleme der Auftragsforschung und insbesondere von Evaluationen sieht Kussau nicht etwa in methodischen oder empirischen Schwächen, sondern in der Situations- und Kontextgebundenheit des Forschungsgegenstandes sowie darin, dass nicht Wahrheit, sondern Akzeptanz zum Relevanzkriterium werden könne. Dadurch verlöre die Wissenschaft als Anwendungswissenschaft ihren kritischen Gehalt. Aus sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen ließe sich zudem keine politische Programmatik ableiten (Rolff 2002). Der Prozess der Verwendung von Ergebnissen sei deshalb nicht nur ein Wissenstransferprozess, sondern immer auch ein Wissenstransformationsprozess. Diese Transformationsprozesse können jedoch von der Wissenschaft nur teilweise kontrolliert werden, sie unterliegen im Politik- und Verwaltungsfeld auch Restriktionen, etwa Kapazitätsgrenzen, und auch die Politik kann ihr Regelungsfeld nur teilweise kontrollieren. Insgesamt sollte sich die Wissenschaft deshalb der Spielregeln bewusst sein, auf die sie sich bei Projekten der Auftragsforschung einlässt: Das Verwertungsrecht wird an die Auftraggeber abgetreten, die öffentliche Verfügbarkeit des produzierten Wissens kann eingeschränkt werden, Anwender sind nicht an Beleg- oder Zitierregeln gebunden. „Es handelt sich um eine asymmetrische Beziehung“ (Kussau). Sozialwissenschaftliches Wissen kann, so die Schlussfolgerung, nicht in einem einfachen Sinne dazu dienen, Bildungssysteme zu steuern, sondern allenfalls dazu, die Rahmenbedingungen für Schule und Unterricht zu gestalten. Zudem ist in vielen Reformprojekten der Gegenstand der Reformen und deren Evaluation nicht einheitlich definiert, weil im Feld Schule unterschiedliche Formen von Laien- und Expertenwissen verteilt
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sind. Kussau plädierte angesichts dieser Verhältnisse für eine „empathische Distanz der Anwendungswissenschaft gegenüber ihrem Auftraggeber“. Josef Thonhauser präsentierte stellvertretend für Ingrid Buschmann und Juliane Schmich Resultate aus einem Projekt über „Vorstellungen der Bildungspolitik von Evaluation“. Mit der zunehmenden Deregulierung und Dezentralisierung im österreichischen Bildungswesen hat Evaluation als Steuerungsinstrument an Bedeutung gewonnen. Bildungspolitische Entscheidungen werden zunehmend durch Evaluationen vorbereitet und legitimiert. Damit entwickelt sich zwischen Erziehungswissenschaft und Politik insofern eine Interaktion besonderer Art, als die Einführung bzw. Beauftragung von Evaluationen eher Sache der Politik, ihre Durchführung eher Sache der Erziehungswissenschaft oder anderer Sozialwissenschaften ist. Das Instrumentarium dieser Interaktion muss daher auch von beiden Bereichen gemeinsam entwickelt und anwendbar gemacht werden. Dafür sind die jeweiligen Vorstellungen von Evaluation von besonderer Bedeutung. Buschmann und Schmich untersuchten im Rahmen des Projekts „Evaluation im Bildungsbereich“, was bildungspolitische Entscheidungsträger und Betroffene über Evaluation denken (Thonhauser et al. 2002). Sie führten dazu im Jahr 2001 offene Interviews mit 46 Personen durch, die drei verschiedenen Ebenen des Bildungssystems zuzuordnen waren: (1) Bildungssprecher der Parteien, Sektionschefs im Bildungsministerium (strategische Ebene), (2) Präsidenten und Vizepräsidenten der regionalen Schulbehörden sowie Vertreter und Vertreterinnen der Schulaufsicht (Verwaltungsebene) und (3) Schulleiterinnen und Schulleiter (Schulebene). Auf den drei Ebenen ergaben sich teilweise recht unterschiedliche Verständnisweisen und Auffassungen von Evaluation: Evaluationsverständnis
Verpflichtungsgrad
Strategische Ebene Evaluation ist jede Art von Rückmeldung; eher summativ; teilweise explizit „nicht empirisch“ verpflichtend (Gründe: Aufbrechen von Gewohnheiten; wegen fehlender Eigenmotivation)
Verwaltungsebene jede Art von Rückmeldung; summativ
Schulebene eher formativ; klare sozialwissenschaftliche Methodik
verpflichtend (wegen fehlender Akezptanz und fehlender Motivation bei den Betroffenen)
freiwillig (Akzeptanz durch die Betroffenen als notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit)
Insgesamt zeigte sich auf allen Ebenen eine große Heterogenität im Begriffsverständnis sowie eine meist geringe Differenziertheit; ein großer Teil der Befragten war mit dem Thema wenig vertraut. Teilweise wurde Evaluation als etwas gesehen, das – unter anderer Bezeichnung – ohnehin schon immer gemacht worden
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sei, nämlich das bloße Einholen von Rückmeldungen im weitesten Sinn. Bei etwa einem Drittel der Interviewten fanden sich jedoch auch differenzierte Vorstellungen von einer methodisch fundierten und empirisch ausgerichteten Evaluation. Je näher die Befragten mit der schulischen Praxis konfrontiert sind, desto häufiger vertreten sie die Auffassung, dass eine formative Absicht im Sinne einer konkreten Verbesserung (und nicht eine bloße Bewertung) sowie eine empirische Methodik grundlegende Voraussetzung für eine sinnvolle Evaluation seien. Fast alle Befragten vermuteten, dass Evaluationen für die Betroffenen mit unangenehmen Affekten verbunden seien, während die Planung und Durchführung von Evaluationen bzw. die Verarbeitung von Ergebnissen in einem positiven affektiven Kontext gesehen wurde. Schulleiterinnen und Schulleiter sprechen sich gegen verbindliche Evaluationen aus, weil sie befürchten, solche gegenüber ihren Lehrpersonen nicht durchsetzen zu können; gerade diese Nichtdurchsetzbarkeit wird jedoch auf der strategischen Ebene und teilweise auch auf der Verwaltungsebene als Argument gesehen, Evaluationen gesetzlich verpflichtend einzuführen. Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass ein zentrales strategisches Element der derzeitigen Bildungssteuerung unter Rahmenbedingungen eingesetzt wird, die durch eine geringe Wissensbasis, unterschiedliche Erwartungen und Vorgangsweisen sowie einen teilweise negativen emotionalen Kontext beschreibbar sind. Für die Erziehungswissenschaft ergibt sich daraus die Aufgabe, systematisch an der Vermittlung und Verbreiterung von Wissen über Evaluation zu arbeiten. Dazu gehören insbesondere die Kenntnis von Evaluationsmethoden und Evaluationsstandards, die Fähigkeit zur Bewertung von Ergebnissen, Strategiewissen für Meta-Evaluationen und Ähnliches. Wesentliche Einsichten aus den Referaten und den anschließenden Diskussionen lassen sich wie folgt zusammenfassen: •
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Politikberatung durch die Erziehungswissenschaft ist nicht als jeweils punktuelles Ereignis, sondern als ein kontinuierlicher Dialog und Arbeitsprozess zu gestalten. Nur so ist es möglich, ein Know-how über die Möglichkeiten und Grenzen der anderen Seite zuverlässig aufzubauen. Nur so wird eine beiderseitige Rücksichtnahme auf die spezifischen Bedingungen von politischem bzw. administrativem Handeln einerseits, von Forschungsund Evaluationsbedingungen andererseits überhaupt möglich. Manche Steuerungsinstrumente, wie z. B. Evaluationen, erfordern eine Technologie, die möglicherweise nur von Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft gemeinsam entwickelt werden kann. Die Schnittstelle zwischen Erziehungswissenschaft und Politik ist häufig unklar. Mitzubedenken ist vor allem die Rolle der Bildungsverwaltung, die
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Lucien Criblez / Ferdinand Eder häufig eine unklare Zwischenposition zwischen den beiden Systemen einnimmt und sich zeitweise eher politischen, zeitweise eher wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtet fühlt. Medien und Öffentlichkeit treten zunehmend in den Vordergrund und nehmen eine aktive dritte Rolle im Verhältnis von Politik und Erziehungswissenschaft ein. Dies erfordert verstärkte Bemühungen um die Verständlichkeit von Wissenschaft, aber auch den aktiven Einbezug. Es besteht ein Bedarf nach gekonnter Kommunikation der Wissenschaft, auch zur Herstellung einer bildungspolitisch gebildet(er)en Öffentlichkeit. Kooperationen zwischen Politik und Erziehungswissenschaft können auch als Entwicklungsprojekte konzipiert werden, die eher dem Paradigma der Aktionsforschung und weniger dem kritischen Rationalismus verpflichtet sind. Alle Kooperationsformen erfordern eine klare Rollenklärung, wann Personen wissenschaftlich tätig sind und wann als Privatpersonen. Im Hinblick auf die Förderung professioneller Standards in Evaluation und Politikberatung ist die Erziehungswissenschaft – in Kooperation mit entsprechenden Partnerdisziplinen – dazu aufgerufen, die Aus- und Weiterbildung in diesem Bereich zu verbessern.
Literatur Bain, D./Brun, J./Hexel D./Weiss, J. (2001): L’épopée des centres de recherche en éducation en Suisse 1960–2000. Die Geschichte der Bildungsforschungsstellen in der Schweiz 1960-2000. Neuchâtel: IRDP. Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, U. (1991): Wie streichle ich mein Stachelschwein? Zur Verwendung von Sozialwissenschaften in Praxis und Politik. In: ders.: Politik in der Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 172–179. Beck, U./Bonss, W. (1989): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Criblez, L. (2002): Lehrerbildungsreform, Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft. Entwicklungen in der deutschsprachigen Schweiz seit 1960. Zürich: s. n. (Habilitationsschrift). Heid, H. (1989): Über die praktische Belanglosigkeit pädagogisch bedeutsamer Forschungsergebnisse. In: König, E./Zedler, P. (Hrsg.): Rezeption und Verwendung erziehungswissenschaftlichen Wissens in pädagogischen Handlungs- und Entscheidungsfeldern. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 111–124. Rolff, H.-G. (2002): Rückmeldung und Nutzung der Ergebnisse von großflächigen Leistungsuntersuchungen. In: Rolff, H.-G./Holtappels, H. G./Klemm, K./Pfeifer, H./
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Schulz-Zahner, R. (Hrsg.): Jahrbuch für Schulentwicklung. Daten, Beispiele und Perspektiven. Band 12. Weinheim: Juventa, S. 75–98. Thonhauser, J./Buschman, I./Hofmann-Reiter, W. (2002): Was Entscheidungsträger in Österreich über Evaluation denken. In: Erziehung und Unterricht, 5./6. Jg., S. 705–721. Widmaier, P. (1966): Bildungsplanung. Ansätze zu einer rationalen Bildungspolitik. Stuttgart: Klett. Wieser, I. (1985): Bildungsplanung, Schulpraxis und Erziehungswissenschaft im Dialog. Regionalseminare als Beispiel konstruktiver Verständigung. In: Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Hrsg.): Innovationen im Bildungswesen als übernationale Aufgabe. Bonn: Köllen, S. 55–68.
Berichte über Symposien
Entwicklungsprobleme unter der Perspektive lebenslanger Bildungsprozesse – Verbindungslinien zwischen Sonderpädagogik und Psychoanalytischer Pädagogik Wilfried Datler
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Varianten des Nachdenkens über den Zusammenhang zwischen biographisch ausmachbaren Erfahrungen und der Ausbildung bestimmter Persönlichkeitsstrukturen
Psychoanalytische Pädagogik und Sonderpädagogik teilen einige Berührungspunkte. So ist etwa daran zu erinnern, dass die Entstehung der Psychoanalyse auf das Engste mit dem Bemühen verbunden ist, in differenzierter Weise zu verstehen, welche psychischen Prozesse dazu führen, dass Menschen in ihren Spielräumen des Erlebens, Entscheidens, Handelns und Sich-weiter-Entwickelns erheblich eingeschränkt und – so gesehen – behindert sind. Es ist daher nahe liegend, dass sich die Gegenstandsbereiche der Psychoanalytischen Pädagogik und der Sonderpädagogik nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit folgenden Fragen überschneiden: • • •
Welchen Anteil haben welche psychischen Prozesse am Zustandekommen von verschiedenen Zuständen von Behinderung? Wie ist die Spezifität verschiedener Zustände von Behinderung theoretisch zu fassen? Welche pädagogischen Aktivitäten können gesetzt werden, um der Ausbildung von Zuständen von Behinderung vorzubeugen oder einmal ausgebildete Zustände von Behinderung zu lindern?
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass manche Repräsentanten der Sonderpädagogik, die sich nicht primär, wohl aber unter anderem mit der Rezeption von psychoanalytischen Theorien befassen, einer bestimmten Modellvorstellung folgen, welche die Genese bestimmter Zustände des Behindertseins betreffen.
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Wilfried Datler
Diese Modellvorstellung knüpft an psychoanalytische Theorien über verschiedene, aufeinander aufbauende Entwicklungsphasen an und lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Macht ein Mensch in bestimmten Entwicklungsphasen spezifische Erfahrungen, die im Hinblick auf seine weitere Persönlichkeitsentwicklung als alles andere denn als förderlich einzuschätzen sind, so droht dies in der Persönlichkeitsstruktur dieses Menschen seinen unmittelbaren Niederschlag zu finden: Es kommt zur Ausbildung von problematischen Persönlichkeitsmerkmalen, welche sich in manifesten Formen des Wahrnehmens, Erlebens und Handelns zeigen und auf die dieser Mensch im weiteren Verlauf seines Lebens gleichsam fixiert bleibt. Eine solche Modellvorstellung findet man beispielsweise bei Bundschuh (1992, S. 203f.) oder Myschker (1993, S. 86ff.), aber auch in pädagogischen Schriften referiert, die nicht unmittelbar der Sonderpädagogik zuzurechnen sind – man denke etwa an Gudjons’ Band „Pädagogisches Grundwissen“ (1995, S. 119ff.). Autorinnen und Autoren, die der skizzierten Modellvorstellung folgen, können sich auf so manche Klassiker der psychoanalytischen Fachliteratur stützen. Dessen ungeachtet bewegen sie sich aber in einem Spannungsverhältnis zu jüngeren Entwicklungstheorien der Psychoanalytischen Pädagogik, in denen zum einen nach wie vor der Annahme gefolgt wird, dass bestimmte Entwicklungsphasen im Hinblick auf die Ausbildung spezieller Persönlichkeitsmerkmale „kritische Phasen“ darstellen (vgl. dazu etwa Göppel 1999). Zugleich wird aber auch dem Grundgedanken gefolgt, dass die Erfahrungen, insbesondere die Beziehungserfahrungen, die Menschen zeit ihres Lebens sammeln, beständig auf die Modifikation all ihrer Persönlichkeitsstrukturen Einfluss nehmen – weil es dabei zur Stabilisierung bestehender Persönlichkeitsstrukturen, zu ihrer Überformung oder zum Neuaufbau von Strukturen kommt. Will man verstehen, wie es zur Ausbildung bestimmter Persönlichkeitsstrukturen gekommen ist, so ist aus dieser Perspektive die Fokussierung auf das Geschehen in einzelnen Entwicklungsphasen aufzugeben zu Gunsten der Untersuchung lebenslanger Prozesse des Sammelns und innerpsychischen Verarbeitens von Erfahrungen – Prozesse, die stets in Abhängigkeit von den Persönlichkeitsstrukturen, die ein Mensch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgebildet hat, und den äußeren Lebensbedingungen zu untersuchen sind, mit denen sich ein Mensch in bestimmten Abschnitten seiner Entwicklung bislang konfrontiert gesehen hat.
Entwicklungsprobleme 2
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Eine kommentierte Fallstudie als Plädoyer für die psychoanalytische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Behinderung, Biographie und Persönlichkeitsstruktur
Welche Einblicke in die Genese von Zuständen des Behindertseins sich eröffnen, wenn in der skizzierten Weise der Zusammenhang zwischen Behinderung, Biographie und Persönlichkeitsstruktur aus psychoanalytischer Sicht untersucht wird, zeigte Heike Schnoor in ihrem Symposiumsbeitrag „Bildungskrisen über die Lebenszeit. Traumatische Lebensereignisse und ihre Folgen“. Heike Schnoor, Professorin für Sozial- und Sonderpädagogik an der Universität Marburg und ausgebildete Psychoanalytikerin, berichtete von Herrn X, einem 65-jährigen Mann, der – bemüht man althergebrachte sonderpädagogische Begriffe – an massiven Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen litt: Er hatte umfassende Black-outs, wenn es darum ging, sich mathematische Kenntnisse anzueignen oder mathematische Aufgaben zu lösen, wie sie sich im Alltagsleben immer wieder stellen. Er lebte sozial isoliert und war nicht in der Lage, in seinem familiären oder beruflichen Umfeld auch nur einigermaßen befriedigende soziale Beziehungen einzugehen. Er gab sich Tagträumen hin, in denen er seinen Größenphantasien nachhing, klammerte sich an die Phantasie, die „Frau seines Lebens gefunden zu haben“, die er bedrängte, während diese von Herrn X nichts wissen wollte; und er erwies sich als deutlich suizidgefährdet. Dazu kam eine Körperbehinderung: Seit seiner Kindheit war die linke Hand von Herrn X verkrüppelt. Schnoor blickte auf ihre psychoanalytisch-psychotherapeutische Arbeit mit Herrn X zurück und rekonstruierte eine Fülle von traumatischen Ereignissen, mit denen sich Herr X sein gesamtes Leben hindurch immer wieder konfrontiert sah und die dazu angetan waren, in Herrn X. in nahezu chronifizierter Weise Gefühle ohnmächtiger Wut sowie Minderwertigkeitsgefühle entstehen zu lassen, die mit Versagensängsten, unkontrollierten Aggressionen und dem schmerzlichen Gefühl einhergingen, von anderen abgelehnt zu werden. Diese traumatischen Ereignisse setzten spätestens in den letzten Kriegstagen ein, als er im Alter von sechs Jahren nur knapp dem väterlichen Versuch entkam, alle Familienmitglieder zu töten; fanden ihre Fortsetzung in Schulerlebnissen, die nicht zuletzt wegen der Präsenz eines Lehrers mit nationalsozialistischer Gesinnung und wegen der sozialen Resonanz auf seine verkrüppelte Hand und seine Rechenschwäche äußerst belastend waren; wurden von innerfamiliären Spannungen und einer neurologischen Erkrankung begleitet; und mündeten in erhebliche Schwierigkeiten ein, zu einem höheren Schulabschluss, zu einer erfolgreichen beruflichen Tätigkeit sowie zu zufriedenstellenden Alltagsbeziehungen zu gelangen.
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Schnoor zeigte die Verschränkung von Verhaltensstörung, Lern- und Körperbehinderung auf, indem sie sich um die Subjektperspektive von Herrn X sowie um die Rekonstruktion der Geschichte der Herausbildung seiner Persönlichkeitsstrukturen bemühte. In diesem Sinn zeichnete sie nach, in welcher Weise sich Herr X aufgrund des kontinuierlichen Erlebens von äußerst belastenden Situationen zusehends gedrängt sah, sich vor dem bewussten Gewahrhaben der bedrohlichen Gefühle, die sein Leben in zunehmendem Ausmaß kontinuierlich begleiteten, durch unbewusste Abwehraktivitäten zu schützen, die ihm vorübergehend halfen, Größengefühle zu entwickeln und Situationen des drohenden Versagens zu meiden. Gerade das Verlangen nach dem Setzen solcher Abwehraktivitäten, die als Teil seiner Persönlichkeitsstruktur zu begreifen waren, trug allerdings auch seinerseits dazu bei, dass Herr X immer wieder in emotional belastende Situationen geriet – etwa wenn er in der Begegnung mit anderen Menschen aggressiv wurde, um sich vor dem bewussten Verspüren von Gefühlen der Hilflosigkeit zu schützen, oder wenn er die Entwicklung von mathematischen Fertigkeiten durch das Meiden von Lernsituationen verhinderte. Auf diese Weise trug er unbewusst selbst zur Aufrechterhaltung eines Teufelskreises bei, der seine Zustände des Behindertseins kontinuierlich intensivierte. Ein Blick in Fröhlichs (1994) umfassende Studie über „Psychoanalyse und Behindertenpädagogik“ zeigt, dass nur wenige sonderpädagogische Veröffentlichungen existieren, in denen unter Bezugnahme auf kasuistisches Material von Erwachsenen die Bedeutung von psychodynamischen Prozessen für die Stabilisierung von Lernhemmungen in Verbindung mit der Ausbildung anderer Dimensionen des Behindertseins deutlich gemacht wird und denen überdies entnommen werden kann, welche äußeren und inneren Ereignisse quer durch die Lebensspanne zur Verankerung dieser psychodynamischen Prozesse in der Persönlichkeitsstruktur von Menschen zu Beginn ihres dritten Lebensabschnittes geführt haben. Schnoors Fallstudie lässt erkennen, dass die Untersuchung bestimmter psychodynamischer Bedeutungszusammenhänge an den Einsatz von psychoanalytischen Methoden gebunden ist. Darüber hinaus sind Schnoors Ausführungen zur psychoanalytisch-therapeutischen Arbeit mit Herrn X einmal mehr geeignet, die These zu stützen, dass gelingende psychoanalytisch-therapeutische Prozesse als Spezialfälle von Bildungsprozessen zu begreifen sind und dass die psychoanalytisch-pädagogische Praxis somit einen Spezialfall von (heil-)pädagogischer Praxis abgibt (vgl. Datler 2004).
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Affektregulierung, Weiterbildung und die Entfaltung pädagogischer Kompetenz
Nun könnte ein Beitrag wie jener von Schnoor – entgegen den Intentionen der Autorin – den Gedanken nähren, dass sich manche Menschen zur Ausbildung von Persönlichkeitsstrukturen gedrängt fühlen, die sich in Zuständen des Behindertseins äußern, während andere Menschen von der Entfaltung solcher Persönlichkeitsstrukturen verschont bleiben. Dies verweist auf einen weiteren Berührungspunkt, den die Psychoanalytische Pädagogik mit bestimmten jüngeren Entwicklungstendenzen teilt, die innerhalb der Sonderpädagogik ausgemacht werden können: Da wie dort wird zwar realisiert, dass bestimmte Formen des Behindertseins in gesellschaftlichen Kontexten besonders markant auffallen und mit erheblichem persönlichen Leid bzw. mit erheblichen sozialen Benachteiligungen verbunden sind. Zugleich wird jedoch in beiden Disziplinen die scharfe Dichotomie zwischen „Behinderten“ und „Nicht-Behinderten“ problematisiert und der Blick auch auf jene Prozesse der Ausbildung von Persönlichkeitsstrukturen gelenkt, die zu Formen des Behindertseins führen, welche in Alltagszusammenhängen oft gar nicht bemerkt werden, dessen ungeachtet aber zur Folge haben, dass Menschen in verschiedenen Bereichen ihrer Lebensvollzüge erheblich eingeschränkt sind. Kornelia Steinhardt, Gruppenpsychoanalytikerin und Mitglied der Arbeitsgruppe für Sonder- und Heilpädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Wien, leistete einen Beitrag zu diesem Themen- und Problemfeld. Unter dem Titel „Die Auseinandersetzung mit archaischen Gefühlen und infantilen Modi der Konfliktlösung in Prozessen der pädagogischen Professionalisierung im Erwachsenenalter“ befasste sie sich mit der supervisorischen Arbeit mit professionell Tätigen, die in ihrem Berufsfeld über weite Strecken erfolgreich sind, einzelne Praxisprobleme aber zum Anlass nehmen, um sie unter Zuhilfenahme von Supervision zu reflektieren und dieses Reflektieren in den Dienst der weiteren Entfaltung ihrer professionellen Kompetenzen stellen zu können. Im ersten Teil ihres Beitrags wies Steinhardt darauf hin, dass in beruflichen Kontexten grundsätzlich mit der Wiederbelebung von belasteten Beziehungserfahrungen zu rechnen ist, denen Menschen seit ihrer Kindheit immer wieder ausgesetzt sind. Im Sinne der Ausführungen von Sandler/Joffe (1967) zur Persistenz psychischer Strukturen sowie in Anknüpfung an Ausführungen von Melanie Klein folgte sie dem Gedanken, dass bestimmte emotionale Reaktionen auf solche Beziehungserfahrungen sowie Abwehrtendenzen, die zum Zweck der Regulierung solcher emotionaler Reaktionen ausgebildet wurden, in gewissen Grundstrukturen selbst dann latent bestehen bleiben, wenn es in weiterer Folge zur Ausbildung anderer Persönlichkeitsstrukturen kommt, welche die früher
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Wilfried Datler
ausgebildeten Strukturen häufig überlagern. Unter bestimmten belastenden Bedingungen kann es jederzeit zur besonders intensiven Aktualisierung von solchen „frühen Gefühlen“ sowie damit verbundener Abwehrneigungen kommen – was professionell Tätige dann in manifester Form daran hindern kann, in beruflichen Kontexten kompetent zu entscheiden und zu handeln. Die Tragweite dieses Gedankens demonstrierte Steinhardt am Beispiel der supervisorischen Arbeit mit Frau S., die in einer psychosozialen Beratungs- und Betreuungsstelle für behinderte Menschen mit psychischen Problemen beschäftigt war. Unbeschadet ihrer reichhaltigen beruflichen Erfahrung und ihrer hohen fachlichen Qualifikation war es ihr kaum möglich, in beruflichen Situationen eigenständige Positionen zu beziehen, wenn sie sich mit selbstbewusst auftretenden Kooperationspartnern konfrontiert sah, die es in ihrem Leben ganz allgemein schwer zu haben schienen. Die eingehende Reflexion solcher Arbeitssituationen konnte Frau S. helfen, zusehends besser zu verstehen, wie sehr ihre Unfähigkeit, Position zu beziehen, im Dienst der Abwehr von starken Gefühlen der Aggression und Schuld stand, die in solchen Situationen aufbrachen und Frau S. seit ihren Kindertagen begleiteten. Im zweiten Teil ihrer Ausführungen ging Steinhardt darauf ein, dass solche Prozesse der Weiterentwicklung von professioneller Kompetenz nicht immer gelingen. Am Beispiel der supervisorischen Arbeit mit einem multiprofessionellen Team einer Einrichtung des Gesundheitswesens stellte sie dar, dass die intendierte Konfrontation mit Prozessen der Affektregulation, welche professionelles Arbeiten behindern, mitunter so bedrohlich sein kann, dass Supervisionsprozesse abgebrochen werden müssen und der Wunsch nach der Weiterentwicklung von professionellen Fähigkeiten zurückgestellt wird. Damit machte Steinhardt auf die Bedeutung von Prozessen der Affektregulation für das Gelingen und Misslingen von professionellem Entscheiden und Handeln, aber auch für das Gelingen und Misslingen von Kompetenzerwerb aufmerksam – ein Gedanke, der außerhalb von psychoanalytisch-pädagogischen Diskussionszusammenhängen nach wie vor wenig Beachtung findet (Datler 2003), obgleich die Thematisierung von Emotionen und Emotionalität innerhalb der Pädagogik in letzter Zeit ganz allgemein an Bedeutung gewonnen hat (Dörr/Göppel 2003; Bundschuh 2003). Indem Steinhardt auf die biographisch oft weit zurückreichenden Wurzeln solcher Prozesse der Affektregulation verwies, zugleich aber nicht von „infantilen“, sondern von „archaischen“ Gefühlen und Abwehraktivitäten sprach, beugte sie dem weit verbreiteten Missverständnis vor, die von ihr beschriebenen Gefühle und Abwehraktivitäten sollten bloß bei Kindern vorzufinden sein. Zugleich brachte sie mit der Verwendung des Attributs „archaisch“ zum Ausdruck, in welch massiver Weise solche Gefühle, die Menschen ein Leben lang begleiten, als bedrohlich erlebt werden und wie verständlich es daher ist, dass
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sich Menschen mit großem Kraftaufwand darum bemühen, sich vor dem bewussten Verspüren solcher Gefühle selbst um den Preis des Aufrechtbleibens bestimmter Formen des Behindertseins – etwa in Hinblick auf die Weiterentwicklung von professioneller Kompetenz – zu sichern. 4
Ein Projekt im Schnittfeld von Psychoanalytischer Pädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik
Birgit Herz, Vorsitzende der Sektion Sonderpädagogik und Mitglied der Kommission Psychoanalytische Pädagogik, führte die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Entwicklung von pädagogischer Professionalität in ihrem Symposiumsbeitrag fort, der den Titel trug: „Der Einstieg in den Ausstieg: Zur Relevanz des Mehrpersonensettings in außerschulischen Bildungsangeboten mit Heranwachsenden im subkulturellen Milieu der Straße. Kernprobleme von Bildungs- und Erziehungsprozessen.“ Im Zentrum ihres Beitrags stand die Vorstellung eines Projekts, das sich an Jugendliche wendet, die seit längerer Zeit in keinem Kontakt mit ihrer Schule stehen und deren Lebensmittelpunkt die Szene am Hamburger Hauptbahnhof darstellt. Im Rahmen dieses Projektes geht es einerseits um die Entwicklung von „Bildungsangeboten für Jugendliche mit Straßenkarrieren“ sowie um die Untersuchung der Möglichkeit der Implementierung solcher Bildungsangebote. Andererseits soll dieses Projekt der Professionalisierung von Lehramtsstudierenden im Hamburger Förderschwerpunkt „Beeinträchtigung der emotionalen und sozialen Entwicklung“ dienen. Studierende dieses Schwerpunkts können sich um die Mitwirkung am Projekt bewerben und verpflichten sich im Fall der Aufnahme in das Projekt – den Ausführungen von Herz zufolge – dazu, •
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„während 52 Wochen jeweils einen Nachmittag für fünf Stunden in einem gemischtgeschlechtlichen Vierer- oder Fünfer-Team Lernangebote zu gestalten, an den 14-tägigen Dienstbesprechungen mit den Kooperationspartnern KIDS e. V. und REBUS teilzunehmen, schriftliche Beiträge zur halbjährlichen Evaluation zu verfassen, die Dokumentation der Projektarbeit, z. B. in Publikationen oder auf Tagungen, fortzuschreiben, die Theorietage, die etwa vier- bis achtmal im Jahr zu bestimmten Schwerpunkten stattfinden, vorzubereiten, sich an einem projektbezogenen Seminar im universitären Rahmen (z. B. „Kinder aus Suchtfamilien“ oder „Drogen und Behinderung“) aktiv zu beteiligen,
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Wilfried Datler Exkursionen zu projektrelevanten Einrichtungen (auch außerhalb Hamburgs) vorzubereiten, durchzuführen und auszuwerten, während der Superversionssitzungen präsent zu sein und aktiv mitzuarbeiten“.
Dieses hohe Ausmaß an geforderter Selbstverpflichtung, so führte Herz aus, mag zunächst erstaunen; doch würde dieses Gefüge an Verpflichtungen auch einen festen Rahmen abgeben, der den Studierenden „Regelmäßigkeit, Konstanz und Konsistenz“ biete. Solch einen Rahmen würden Studierende auch benötigen; denn sie müssten ihrerseits den Jugendlichen die Erfahrung von „Regelmäßigkeit, Konstanz und Konsistenz“ eröffnen, würden aber gleichzeitig in komplexe Beziehungsprozesse verstrickt, die zum Teil darauf abzielen, das Zustandekommen solcher Erfahrungen zu verhindern. So gesehen werden die Studierenden in unmittelbarer Weise damit konfrontiert, wie schwierig es für die Jugendlichen ist, vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen und ihrer aktuellen Probleme gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Natur Beziehungen einzugehen, die ihnen tatsächlich helfen, bestehende Fixierungen auf bestimmte Formen der Lebensgestaltung zu überwinden. Die Studierenden lernen dabei aber auch, das maligne Zusammenspiel von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen zu verstehen; und sie lernen zu erfassen, dass sie sich in komplexe, von unbewussten Momenten getragene Beziehungsprozesse immer wieder verstricken lassen müssen, damit sie über das Verstehen der dabei zustande kommenden Verwicklungen in differenzierter Weise Zugang zu den schwer kontrollierbaren Anteilen ihrer eigenen Persönlichkeit finden und auf dem Weg des szenischen Verstehens auch Zugang zu jenen Dimensionen der inneren Welt der Jugendlichen suchen können, die oft genug von Angst, Verzweiflung, ohnmächtiger Wut und Hoffnungslosigkeit geprägt sind. Herz verwies darauf, dass die Konzeption des Projekts sowie erste Untersuchungsergebnisse bereits an verschiedenen Orten publiziert wurden (z. B. bei Warzecha 2000; Herz 2004). Sie wandte sich deshalb verstärkt einer weiteren Frage zu, welche die Psychoanalytische Pädagogik mit der Sonderpädagogik teilt – der Frage nämlich, welche Relevanz die Erkenntnisse, die in der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Behinderung und Behindertsein gewonnen wurden, für die Diskussion pädagogischer Sachverhalte und Problemstellungen auch dann haben kann, wenn die Fokussierung auf die Momente der Behinderung und des Behindertseins unmittelbar gar nicht gegeben ist1. 1
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich die Psychoanalytische Pädagogik mit der Bedeutung unbewusster Prozesse für sämtliche Sachverhalte und Problemstellungen befasst, die von
Entwicklungsprobleme
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In diesem Zusammenhang thematisierte Herz vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die sie im skizzierten Projekt bislang gesammelt hat, sieben Aspekte. Unter anderem unterstrich sie, wie wichtig es für angehende Pädagoginnen und Pädagogen wäre, bereits in ihrer Ausbildung verschiedengestaltige Erfahrungen mit dem Gelingen und Scheitern von pädagogischen Bemühungen zu sammeln und zu bearbeiten. Auf diese Weise könnten angehende Pädagoginnen und Pädagogen davor bewahrt werden, in allzu naiver Weise davon auszugehen, dass Bildungsangebote, die Kindern oder Jugendlichen mit pädagogischem Engagement nahe gebracht werden, von diesen auch bereitwillig angenommen und aufgegriffen werden (können). Würden angehende Pädagoginnen und Pädagogen bereits während ihrer Ausbildung in erfahrungsgestützter Weise mit dem Thema „Grenzen pädagogischer Bemühungen“ vertraut, so würden sie nachhaltig zur Infragestellung ihrer – zumeist mittelschichtstypischen – Erwartungen, Leitbilder, Norm- und Wertvorstellungen angehalten werden und lernten in realitätsnäherer Weise einzuschätzen, wie Heranwachsende mit ihren bislang ausgebildeten Persönlichkeitsstrukturen pädagogische Bemühungen erleben und auf sie reagieren. Freilich, so kann ergänzt werden, würde diese Art der Bedachtnahme auf den Zusammenhang zwischen Biographie, Persönlichkeitsstruktur und Bildungsprozess auch darauf Einfluss nehmen, was in einzelnen Situationen als pädagogisch geboten anzusehen ist. Auch dieser Aspekt kann unter Bezugnahme auf Materialien aus dem von Herz vorgestellten Projekt näher diskutiert und untersucht werden.
Literatur Bundschuh, K. (1992): Heilpädagogische Psychologie. München: Reinhardt. Bundschuh, K. (2003): Emotionalität, Lernen und Verhalten. Ein heilpädagogisches Lehrbuch. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Datler, W. (2003): Erleben, Beschreiben und Verstehen. Vom Nachdenken über Gefühle im Dienst der Entfaltung von pädagogischer Professionalität. In: Dörr, M./Göppel, R. (Hrsg.): Bildung der Gefühle. Innovation? Illusion? Intrusion? Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 241–264. Datler, W. (2004): Bilden und Heilen. Auf dem Weg zu einer Theorie psychoanalytischer Praxis. Zugleich ein Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis zwischen Psychotherapie und Pädagogik (3. Auflage). Wien: Empirie-Verlag. pädagogischer Relevanz sind. Die Untersuchung von Bildungsprozessen, die etwa zur Eröffnung von Spielräumen des Erlebens, Entscheidens, Handelns und Sich-weiter-Entwickelns führen, zählt ebenso zum Gegenstandsbereich der Psychoanalytischen Pädagogik wie die Untersuchung von Entwicklungsprozessen, welche die Einschränkung solcher Spielräume zur Folge haben.
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Wilfried Datler
Dörr, M./Göppel, M. (Hrsg.) (2003): Bildung der Gefühle – Innovation? Illusion? Intrusion? Gießen: Psychosozial-Verlag. Fröhlich, V. (1994): Psychoanalyse und Behindertenpädagogik. Würzburg: Königshausen & Neumann. Göppel, R. (1999): Die Bedeutung der frühen Erfahrungen. Oder: Wie entscheidend ist die frühe Kindheit für das spätere Leben? In: Datler, W. et al. (Hrsg.): Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 10 (Themenschwerpunkt: Die frühe Kindheit). Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 15–36. Gudjons, H. (1995): Pädagogisches Grundwissen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Herz, B. (Hrsg.) (2004): „... um das Lernen nicht zu verlernen“. Niedrigschwellige Lernangebote für Jugendliche in der Straßenszene. Münster: Lit. Myschker, N. (1993): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen, Ursachen, hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart: Kohlhammer. Sandler, J./Joffe, W. (1967): Die Persistenz in der psychischen Funktion und Entwicklung. In: Psyche, 21. Jg., S. 137–151. Warzecha, B. (Hrsg.) (2000): Lehren und Lernen an der Grenze. Ein Projekt am Hamburger Hauptbahnhof. Münster: Lit.
Schullaufbahnen, persönliche und soziale Ressourcen im Jugendalter und Berufserfolg im Erwachsenenalter Werner Georg
Der erste Beitrag des Symposiums, der von Werner Georg (Universität Konstanz) beigesteuert wurde, thematisiert die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Lebenslauf. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass die PISA-Studie einmal mehr die scharfe soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems bestätigte. Seit den 1970er-Jahren zeigen verschiedene Studien zwar eine gewachsene Durchlässigkeit im Hinblick auf mittlere Schulabschlüsse, jedoch erweist sich der Übergang zum Gymnasium und zum Besuch tertiärer Bildungseinrichtungen nach wie vor als eine deutliche Mobilitätshürde. Zur theoretischen Erklärung für diesen Tatbestand werden in der Bildungssoziologie vor allem zwei Ansätze herangezogen: zum einen verschiedene Varianten der Rational Choice-Theorie, die klassenspezifische Opportunitätsstrukturen und Nutzenkalküle für eine Investition in Bildung konzeptualisieren (Boudon 1979; Becker 2000; Goldthorpe 2000); und zum anderen konflikttheoretische Modelle, die eine differenzielle Ressourcenverteilung in verschiedenen Segmenten der Sozialstruktur zum Gegenstand haben (Bourdieu 1982; Bourdieu 1983). Der Beitrag fokussiert aufgrund der Datenlage den konflikttheoretischen Ansatz in Form der bourdieuschen Kapital- und Habitustheorie. Ausgehend von der Differenzierung in inkorporiertes und institutionalisiertes Kulturkapital, kann gezeigt werden, dass kulturelle Kompetenzen in unterschiedlichen Segmenten der Sozialstruktur bereits während der primären Sozialisation ungleich verteilt sind und dass sich diese Ausgangssituation während der Bildungskarriere weiter verfestigt. Während dieser theoretische Ansatz in weiten Teilen der Bildungssoziologie geteilt wird, so ist jedoch an seiner empirischen Untermauerung, die sich bei Bourdieu auf bivariate Zusammenhangsanalysen beschränkt, von einigen Autoren Kritik geübt worden. Diese Kritik bezieht sich primär auf eine mangelhafte Modellierung der unterstellten Kausalkette zwischen sozialer Herkunft, kultu-
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Werner Georg
reller Praxis der Familie und Schulerfolg. In einem Überblick über die bisherige Forschungsliteratur kann gezeigt werden, dass •
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es vom messtheoretischen Standpunkt aus gesehen sinnvoll ist, zwischen hochkulturellen Aktivitäten, die vor allem als Marker für höhere Statuskultur fungieren, und dem Leseverhalten, das als Ressource für linguistische und kognitive Kompetenzen dient, zu unterscheiden; die Kausalkette empirisch möglichst vollständig von der Transmission kulturellen Kapitals in der Familie, über die kindspezifischen Aktivitäten und Einstellungen, bis hin zu „Erfolgsindikatoren“ in verschiedenen Lebensphasen, wie etwa dem erzielten Schulabschluss, oder dem späteren Berufsstatus abgebildet werden sollte; kulturelles Kapital offensichtlich nicht nur und nicht ausschließlich oberen Statusgruppen zur Statusvererbung dient, sondern teilweise auch von unteren Segmenten der Sozialstruktur zum sozialen Aufstieg genutzt werden kann; alle bisherigen Untersuchungen über das Konzept des kulturellen Kapitals versuchten, punktuell spezifische soziale Selektionsprozesse im Lebenslauf, wie etwa den Schulabschluß, zu erklären; was bisher aussteht, ist die Modellierung dieses Einflusses auf sukzessive Laufbahneffekte in längsschnittlicher Perspektive.
Ausgehend von einer Follow Up-Befragung (LifE = Lebensläufe ins frühe Erwachsenenalter), die nach 19 Jahren einen Schüler-Suvey aus den 1980erJahren (zum Design vgl. Fend 1998, S. 54) wieder aufnahm, wurde ein Strukturgleichungsmodell geschätzt, das neben einem direkten Transmissionspfad in Hinblick auf die Bildungsvererbung den Einfluss des Bildungsstatus der Eltern auf deren kulturelles Kapital sowie die diesbezüglichen Transmissionseffekte auf das Kindes im Alter von 16 und 35 Jahren beinhaltete. Schließlich wurden Effekte von diesen drei latenten Variablen auf den erreichten Bildungsstand und den Status des gegenwärtigen Berufes geschätzt. Im Ergebnis konnte ein starker Effekt der gemeinsamen Bildung der Eltern auf deren kulturelles Kapital (.84) und eine fast ebenso starke Transmission auf das kulturelle Kapital des Kindes (.78) festgestellt werden. Zudem war dieses in einem 19-Jahres-Abstand sehr stabil (.66). Allerdings beeinflusste nur das kulturelle Kapital im Alter von 16 Jahren den Bildungsstatus, und weitergehende Effekte auf den heutigen Berufsstatus waren nicht zu verzeichnen. Dieses Ergebnis kann dahingehend interpretiert werden, dass Statusvererbung über kulturelles Kapital sich lediglich auf die Bildungskarriere auswirkt und danach Verschrän-
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kungseffekte zwischen dem Bildungs- und Berufssystem und berufsinterne Selektionsmechanismen wirksam werden. Eine ähnliche Fragestellung greift der Beitrag von Claudia Spiess Huldi (Zürich) auf, indem er der Relevanz individueller Ressourcen Jugendlicher für den späteren Berufserfolg nachgeht. Konkret wird aufgezeigt, inwieweit der Berufsstatus im mittleren Erwachsenenalter aufgrund von Fähigkeiten und Leistungsmotivation aus der Schulzeit vorhergesagt werden kann. Die präsentierten Ergebnisse basieren auf der Zürcher Längsschnittstudie „Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter (ZLSE)“ (Schallberger/Spiess Huldi 2001). Sie bezieht sich auf eine annähernd repräsentative deutschschweizer Stichprobe von 241 Männern und 153 Frauen des Geburtsjahrgangs 1963. Diese sind vom 15. bis zum 36. Lebensjahr mehrmals getestet und befragt worden. Aus ihrer Jugendzeit liegt eine Fülle von Persönlichkeitsmerkmalen vor, die mittels Tests, Fremd- und Selbsteinschätzungen gewonnen worden sind. Als Statusprädiktoren werden kognitive, manuelle und charakterliche Fähigkeiten sowie verschiedene Aspekte der Leistungsmotivation aus dem 15. Lebensjahr der Untersuchungsteilnehmer- und teilnehmerinnen betrachtet. Die kognitiven Fähigkeiten ihrerseits wurden erfasst als Testergebnis (g-Faktor der Allgemeinen Intelligenz), als Fremdurteil (Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten der Untersuchungspersonen durch die Klassenlehrkraft) sowie als Selbsturteil (die Jugendlichen beurteilten ihre kognitiven Fähigkeiten selbst). Die manuellen Fähigkeiten (Handgeschicklichkeit) wurden mit der Drahtbiegeprobe getestet. Als weiterer Fähigkeitsaspekt wurde die Durchsetzungsfähigkeit (Instrumentalität) einbezogen. In Bezug auf die Leistungsmotivation wurden folgende Indikatoren herangezogen: das Berufsaspirationsniveau der Jugendlichen, d. h. der Status des von ihnen angestrebten Berufs; zudem die Anstrengungsbereitschaft (gemessen mittels eines Motivationsfragebogens); die Gewissenhaftigkeit als Persönlichkeitszug (erhoben aufgrund der Adjective Check List): das Verantwortungsbewusstsein (Fragebogen zur Kontrollüberzeugung); der Stellenwert, den die Untersuchungspersonen als Jugendliche den Bereichen Arbeit und Bildung beimaßen. Der berufliche Status der Untersuchungspersonen im 36. Lebensjahr wurde anhand der standardisierten internationalen Berufsprestigeskala SIOPS eingeschätzt. Es zeigt sich, dass sämtliche einbezogenen Fähigkeitskonstrukte aus dem 15. Lebensjahr mit dem Berufsstatus im 36. Lebensjahr in positivem Zusammenhang stehen. Die größte prädiktive Kraft kommt den kognitiven Fähigkeiten zu, wenn diese mit einem standardisierten Intelligenztests erfasst werden (r = .5).
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Bei den übrigen Fähigkeitsindikatoren sind kleine bis mittlere Effekte auszumachen (.1 r .3). Unter den Indikatoren der Leistungsmotivation sticht das Berufsaspirationsniveau durch die größte Prognosekraft hervor (r = .5). Dies gilt für beide Geschlechter. Alle übrigen Aspekte der Leistungsmotivation – Anstrengungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Stellenwert von Bildung und Arbeit – haben nur bei den Frauen einen prognostischen Wert (mittlere Effekte); bei den Männern sagen sie nichts über den späteren Status aus. Die einbezogenen Prädiktoren aus der Jugendzeit erklären annähernd 40% der Varianz des Berufsstatus im mittleren Erwachsenenalter. Dieser beachtenswerte Prognoseanteil untermauert die These psychologischer Laufbahntheorien und macht deutlich, dass individuelle Dispositionen aus der Jugend ein gewichtiges Karrierepotenzial darstellen. Judith Glaesser (Konstanz) fokussiert in ihrem Beitrag Berufseinmündungsprozesse von Jugendlichen in Risikolagen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass der Start ins Berufsleben eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugend- und jungen Erwachsenenalter ist (Fend 2000). Zu dieser Aufgabe gehören die Aufnahme und der Abschluss einer Ausbildung, dann das Aufnehmen einer Erwerbstätigkeit, möglichst ohne Zeiten der Arbeitslosigkeit. Um diese Entwicklungsaufgabe zu bewältigen, müssen Individuen über vielfältige personale und soziale Ressourcen verfügen. Wo diese fehlen, ist zu erwarten, dass Schwierigkeiten beim Prozess der beruflichen Einmündung auftreten werden (Caspi 2002). Es wird vor allem die Frag untersucht, welche Faktoren sich auf die berufliche Einmündung auswirken können. Zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: Zunächst wird der Ausbildungsverlauf hinsichtlich der Unterschiede betrachtet, die sich in Bezug auf unterschiedliche Bildungsabschlüsse ergeben. Gerade in Deutschland sind Zertifikate wie Ausbildungsabschlüsse von hoher Bedeutung bei der Arbeitssuche und im Hinblick auf eine stabile Karriere. Anschließend werden Einflussfaktoren auf das Erleben von Arbeitslosigkeit untersucht. Die Ursachen von Arbeitslosigkeit sind deshalb zu untersuchen, weil diese negative Auswirkungen in verschiedener Hinsicht haben kann. So führt sie zu finanziellen Schwierigkeiten, aber auch Karriereeinbrüchen, Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und des Selbstwertgefühls, der sozialen Beziehungen und anderem mehr (Caspi et al. 1998). Datengrundlage ist die Längsschnittstudie LifE (Lebensverläufe ins frühe Erwachsenenalter). Im Rahmen dieser Studie waren Jugendliche im Alter zwischen 12 und 16 Jahren bis zu fünfmal, jeweils im Jahresabstand, befragt worden. Dabei waren Indikatoren zum schulischen Umfeld und zum Elternhaus erhoben worden, außerdem ausführliche Informationen zu Persönlichkeitsmerkmalen. 19 Jahre nach der letzten Erhebung der Jugendstudie fand die Follow Up-
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Untersuchung in Form einer postalischen Befragung mit einem standardisierten Fragebogen statt. Erhoben wurden unter anderem Merkmale des beruflichen Werdegangs. Zunächst wurden die Reihenfolge und die Häufigkeit der Ereignisse „Aufnahme einer Ausbildung“, „Abschluss der Ausbildung“ und „Aufnahme einer Erwerbstätigkeit“ untersucht. Dabei wurden Berufsausbildung und Studium gemeinsam betrachtet. Hier zeigte sich, dass über 80% der Untersuchten diese Ereignisse in der genannten Reihenfolge erlebten. Wo Ausbildungen abgebrochen wurden, schlossen sich häufig weitere an. Unterschiede zeigten sich hier in Bezug auf den Schulabschluss: Befragte mit Abitur brachen am häufigsten eine Ausbildung ab, nahmen jedoch auch in überwiegender Zahl wieder eine Ausbildung auf. Demgegenüber blieb die Hälfte der Hauptschüler, die eine Ausbildung abgebrochen hatten, dann ganz ohne Ausbildungsabschluss. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die überwiegende Mehrheit der Untersuchten früher oder später eine Ausbildung abschloss und im Arbeitsmarkt anlangte. In einem weiteren Schritt wurden Einflussfaktoren für das Auftreten von Arbeitslosigkeit und dafür, wie bald nach Abschluss der ersten Ausbildung sie auftritt, untersucht. Ca. 30% der Stichprobe haben im Befragungszeitraum, also bis zum Alter von ca. 35 Jahren, mindestens einmal Arbeitslosigkeit erlebt. Die Auswertungen erfolgten getrennt nach personalen Einflussvariablen und nach Kontextvariablen. Bei den personalen Einflussvariablen zeigte sich, dass Leistungsbereitschaft und Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigene Begabung, beides erhoben im Alter von 15 Jahren, die Wahrscheinlichkeit senken, arbeitslos zu werden. Rauchen als Indikator für Problemverhalten hatte keinen Einfluss. Unter den Kontextvariablen hatte der Schulabschluss keinen signifikanten Einfluss. Es zeigte sich, dass Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, arbeitslos zu werden, ebenso wie Kinder geschiedener Eltern sowie Personen, die mindestens eine Ausbildung abgebrochen hatten. Rainer Watermann, Gabriel Nagy (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) und Olaf Köller (Universität Erlangen-Nürnberg) untersuchen die Bedeutung von Schulleistungen für die Berufseinmündung. In dem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass man bei einer Beschäftigung mit Basiskompetenzen der Frage nicht ausweichen kann, welche Bedeutung die Verfügung über diese Kompetenzen über die Schule hinaus besitzt. Macht es wirklich für das berufliche Fortkommen oder generell den Lebenserfolg einen Unterschied, ob man ein kompetenter oder ein weniger kompetenter Leser ist oder ob man besser oder schlechter mit quantitativen Größen umgehen kann? Vor dem Hintergrund, dass Kompetenzen in den Bereichen Muttersprache, Mathematik und Naturwissenschaften, kombiniert mit hinreichenden Kenntnissen in der ersten Fremdsprache (hier vor allem in Englisch als lingua franca) als Kernvorausset-
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zungen für eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen und beruflichen Leben gelten, überrascht es, wie wenig empirische Studien es in Deutschland im Schnittbereich von Soziologie, Entwicklungspsychologie und Erziehungswissenschaft gibt, die sich mit der Bedeutung schulisch erworbenen Wissens für berufliche Karrieren befassen. Rezente Studien beschränken sich in der Regel auf die prädiktive Kraft von Bildungsabschlüssen und Noten, obwohl – wie deutlich geworden ist – hinter identischen Zertifikaten und Noten ganz unterschiedliche Kompetenzniveaus stehen können. Es ist daher eine weitgehend offene Frage, inwieweit schulisch erworbene Kompetenzen – jenseits der erreichten Bildungsabschlüsse und Abschlussnoten – noch zusätzliche individuelle Ressourcen darstellen, welche die erfolgreiche Bewältigung des Übergangs von der Schule in die duale oder universitäre Ausbildung und von der Ausbildung in den Beruf erleichtern und langfristig erfolgreiche Berufskarrieren ermöglichen. Wenn man sich mit der Frage der Bedeutung schulisch erworbenen Wissens jenseits von Zertifikaten für die Berufseinmündung beschäftigt, ist sicherlich die folgende Frage zentral: Inwieweit sind Kompetenzen als solche für den Eintritt in das Beschäftigungssystem und die Karrieremobilität überhaupt wesentlich? In Deutschland verlassen sich Arbeitgeber oft auf die Selektion durch die Schule, sie messen die Qualifikation der Bewerber über den von der Schule oder vom Ausbildungssystem verliehenen Abschluss, eben über das Zertifikat. Sie machen sich nur in wenigen Fällen die Mühe, Bewerberinnen und Bewerber selber Tests zu unterziehen und damit die Signale des Bildungssystems zu hinterfragen. Sie vertrauen oft auch darauf, dass mit dem Zertifikat auch Disziplin, Anpassungsfähigkeit und soziale Kompetenz bescheinigt werden. Mit anderen Worten: Arbeitgeber fragen nicht nach Kompetenzen, sie fragen nach Zertifikaten. In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass Zertifikate die relevanten Schaltgrößen für die Einmündung in das Ausbildungs- und Beschäftigungssystem sind. Geht es um die Folgen von Bildung für die Integration in den Arbeitsmarkt, wären zumindest in Deutschland Zertifikate prädiktiver als Kompetenzmessungen. Dies gilt aber nicht für die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und den individuellen Erfolg. Diese dürften im Wesentlichen von den grundlegenden Kompetenzen der Individuen selbst – und nicht von der Papier-, der Zertifikatform – abhängig sein. Angesichts dieser Überlegungen sollen anhand einer eigenen Längsschnittuntersuchung die folgenden Forschungsfragen beantwortet werden: (1) Fädeln sich Schülerinnen und Schüler am Ende der Pflichtschulzeit in prestigeträchtigere Ausbildungsberufe ein, wenn sie bei gleichen Abschlüssen und Zertifikaten über höhere Basiskompetenzen verfügen? (2) Wie erfolgreich sind Auszubildende in ihrer Ausbildung? Erreichen Auszubildende am Ende ihrer Ausbildung bessere Prüfungsleistungen, wenn sie bei gleichen Abschlüssen und Zertifikaten über höhere Basiskompetenzen verfügen?
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Die Datenbasis der Untersuchung bildet die Studie „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (BIJU)“, die am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin unter der Leitung von Jürgen Baumert durchgeführt wird. Die Stichprobe bilden N = 284 Befragte, die nach der Pflichtschulzeit in das duale System eingemündet sind und für die Längsschnittdaten verfügbar sind. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bezogen auf das Berufsprestige des erreichten Ausbildungsberufs (Frage 1) erweisen sich die Qualität des Schulabschlusses, die Durchschnittsnote im Abschlusszeugnis sowie die Note im Fach Deutsch als besonders prädiktiv. Der Koeffizient für das untersuchte politische Wissen, welches als Proxi für die Lesekompetenz verwendet wurde, wird ebenfalls signifikant. Untersucht man den Erfolg in der theoretischen Abschlussprüfung (Frage 2), so wird deutlich, dass die Leistungen in der Berufsschule kaum von Bedeutung sind. Statt dessen erweisen sich die Qualität des Schulabschlusses, die Deutschnote, vor allem aber die Mathematikleistung am Ende der Pflichtschulzeit als wichtige Ressourcen. Damit bestätigen sich die differenziellen Annahmen, dass für den Übergang in Ausbildung das Zertifikat und für den Erfolg in der Ausbildung das schulisch erworbene Wissen die jeweils relevanten Größen darstellen. Kai Maaz (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) untersucht Schullaufbahnen Jugendlicher vor dem Hintergrund institutioneller Opportunitäten und sozialer Herkunft. Eine Bestandsaufnahme der bisherigen empirischen Analysen zum Thema „Schullaufbahnen“ ergibt folgendes Bild: Einerseits existieren Untersuchungen, die einzelne Sequenzen der Bildungslaufbahn oder die gesamte Bildungsbiographie betrachten. Das Interesse an diesem Thema resultiert im Wesentlichen aus vier zentralen Bezügen: (1) Schullaufbahnen interessieren, wenn das Bildungssystem unterschiedliche Bildungswege nicht nur individuell, sondern in institutionalisierter Form vorsieht. In der Bundesrepublik äußert sich dies in der Stratifizierung. (2) Die Stratifizierung gewinnt im Zusammenhang mit der Analyse von Schullaufbahnen zum einen dann an Bedeutung, wenn der Besuch unterschiedlicher Institutionen (Schulformen) mit dem Erwerb spezifischer Zertifikate verbunden ist und die Zertifikate Ausbildungsoptionen strukturieren. (3) Zum anderen haben sich soziale Disparitäten beim Zugang zu verschiedenen Schulformen, insbesondere des Gymnasiums, als äußerst zäh erwiesen. (4) Schließlich vollziehen sich im Bildungssystem Modernisierungsprozesse, die Einfluss auf die Bildungslaufbahnen nehmen können. Die zentrale Bedeutung des Schulzertifikats für den Allokationsprozess auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erfordert es, getroffene Bildungsentscheidungen korrigieren zu können, um eine bessere Passung zwischen individuellen Voraussetzungen und Ansprüchen eines Bildungsgangs zu ermöglichen. Daher sollte aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit und der optimalen individuellen
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Entwicklung die nach der Grundschule getroffene Entscheidung revidierbar sein. Verschiedene Analysen haben aber gezeigt, dass Schulformwechsel in Form einer Aufwärtsmobilität nur seltene Ereignisse sind. Weitgehend unbeobachtet hat aber ein institutioneller Differenzierungsprozess stattgefunden, der sich darin äußert, dass die Entscheidung nach der Grundschule nicht mehr automatisch mit einem ganz bestimmten Schulabschluss endet. Dies ist möglich, wenn gleiche Zertifikate an unterschiedlichen Schulformen erworben werden können. Die Etablierung beruflicher Gymnasien neben den allgemein bildenden, wie es in der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg vorzufinden ist, ist ein Beispiel für die beschriebene institutionelle Differenzierung. Der Beitrag thematisiert den Modernisierungsprozess und fragt nach Konsequenzen für individuelle Schullaufbahnen. Dazu werden drei Fragen untersucht: (1) Führt institutionelle Differenzierung auch zu einer größeren Variabilität individueller Schullaufbahnen? (2) Kovariieren spezifische Schullaufbahnen mit Merkmalen des sozialen Hintergrunds? (3) Gibt es einen Effekt der Schullaufbahnen auf die Studierneigung? Um diesen Fragen nachzugehen, werden die Schullaufbahnen von Schülern der gymnasialen Oberstufe an allgemein bildenden und beruflichen Gymnasien analysiert. Die Analysen basieren auf Daten der Längsschnittstudie „Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren (TOSCA)“, die in Kooperation zwischen dem Forschungsbereich Erziehungswissenschaft und Bildungssysteme am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wird. Im TOSCA-Projekt wurden 4730 Schüler beruflicher und allgemein bildender Gymnasien in Baden-Württemberg befragt. Die Angaben zu den Schullaufbahnen wurden von den Schülern retrospektiv erfasst. Beim Übergang nach der Grundschule lassen sich erste Unterschiede zwischen den beiden Gymnasialformen feststellen. Schüler von Oberstufen an allgemein bildenden Gymnasien wechselten zu 94% direkt nach der Grundschule auf ein Gymnasium. Schüler beruflicher Gymnasien wechselten nach der Grundschule dagegen nur zu 28% direkt auf ein Gymnasium. Mehr als jeder zweite Schüler des beruflichen Gymnasiums ging nach der Grundschule zunächst auf eine Realschule und immerhin 13 Prozent auf eine Haupt- oder eine verbundene Haupt- und Realschule. Am Ende der 10. Klasse sind 98% der Schüler, die ihr Abitur auf dem allgemein bildenden Gymnasium ablegen, bereits auf diesem Schultyp. 22% der Schüler des beruflichen Gymnasiums haben ihr Versetzungszeugnis für die 11. Klasse (Zeugnis der 10. Klasse) an einem Gymnasium erhalten. Vergewissert man sich, dass nach der Grundschule 28% der Schüler des beruflichen Gymnasiums zunächst auf ein allgemein bildendes Gymnasium gewechselt sind, deutet
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die Verringerung um 6% auf schulische Abstiege innerhalb der Sekundarstufe I hin. Betrachtet man die gesamte Schullaufbahn, werden die Unterschiede zwischen den beiden Gymnasialformen besonders deutlich. Die allgemein bildende gymnasiale Oberstufe rekrutiert die Schüler fast vollständig aus der eigenen Mittelstufe. Unter dieser Gruppe sind nur wenige Aufsteiger aus anderen Schulformen. 94% wechseln nach der Grundschule in ein allgemein bildendes Gymnasium und bleiben dort bis zum Erreichen des Abiturs. Quereinstiege aus der Realschule sind selten (2,5%). Die schulischen Karrieren der Schüler an Oberstufen beruflicher Gymnasien sind deutlich heterogener. Auffällig ist zunächst, dass immerhin rund ein Fünftel der Oberstufenschüler an beruflichen Gymnasien nach der 10. Klassenstufe aus allgemein bildenden Gymnasien in die Oberstufen der beruflichen Gymnasien gewechselt sind. In dieser Gruppe sind nur wenige Aufsteiger, die nach der Grundschule auf eine Real- oder Hauptschule und innerhalb der Sekundarstufe I auf ein Gymnasium wechselten. 19,8% haben einen geradlinigen gymnasialen Bildungsweg durchlaufen. 67,5% der Oberstufenschüler an beruflichen Gymnasien sind Realschulabgänger, darunter 5,6%, die in der Sekundarstufe I aus der Hauptschule aufgestiegen sind. 6,9% sind Realschulabsolventen, die in der Sekundarstufe I vom Gymnasium abgestiegen sind. Fasst man die Ergebnisse zu den Schullaufbahnen zusammen, lassen sich an jeder Gymnasialform zwei Hauptbildungswege identifizieren. Es gibt an beiden Schulformen Schüler, die eine geradlinige Gymnasialkarriere (bis zum Ende der Sekundarstufe I) durchlaufen haben, und Schüler ohne gymnasialen Bildungsweg, d. h. in der Sekundarstufe I andere Schulformen besucht haben. Betrachtet man nun die Schullaufbahnen in Abhängigkeit vom sozialen Hintergrund, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gymnasialformen in der Art, dass Schüler der allgemein bildenden Gymnasien aus Familien kommen, deren Eltern über höhere Bildungsabschlüsse und einen höheren sozioökonomischen Status verfügen als Schüler der beruflichen Gymnasien. Keine Unterschiede im sozialen Hintergrund zwischen Schülern der beiden Gymnasialformen gibt es, wenn sie zuvor einen gymnasialen Bildungsweg durchlaufen haben. Unterschiede an einer Gymnasialform lassen sich aber in Abhängigkeit von der vorangegangenen Bildungslaufbahn feststellen. Schüler ohne gymnasialen Bildungsweg weisen eine geringere generelle Studierneigung auf. Kontrolliert man für den sozialen Hintergrund und leistungsbezogene Merkmale, hat die Schullaufbahn keinen Effekt auf die generelle Studierneigung. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass BadenWürttemberg ein differenziertes tertiäres Bildungssystem aufweist (neben Universitäten und Fachhochschulen gibt es z. B. Pädagogische Hochschulen und
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Berufsakademien). Bei einer detaillierten Analyse lassen sich Unterschiede in Bezug auf die Wahl des Studienfachs und des Hochschultyps feststellen. Die Ergebnisse zu den Schullaufbahnen zeigen, dass eine institutionelle Erweiterung auch zu einer größeren Variabilität der Bildungswege führt. Unterschiedliche Schullaufbahnen kovariieren mit sozialen Hintergrundmerkmalen in der Art, dass gymnasiale Bildungswege vermehrt von Schülern aus sozial begünstigten Familien gewählt werden. Oder: Berufliche Gymnasien bieten Schülern aus weniger sozial privilegierten Familien den Zugang zum Erwerb der Hochschulreife. Bezogen auf die generelle Studierneigung, lassen sich keine Effekte der Schullaufbahn konstatieren. Dies deutet darauf hin, dass man soziale Disparitäten langfristig überwinden kann, wenn man Schüler aus sozial weniger begünstigten Familien den Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen ermöglicht.
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Menschenbilder und Geschlecht – Bildungs- und Erziehungskonzepte in verschiedenen Lebensphasen Edith Glaser / Barbara Rendtorff
Im Symposium „Menschenbilder und Geschlecht“ wurde das Kongressthema auf den Geschlechteraspekt hin konkretisiert. Einerseits wurde die Frage nach der geschlechtstypischen Unterschiedlichkeit von Lebensläufen gestellt, wobei die Referate schwerpunktmäßig den Lebensaltersabschnitten Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter sowie dem Alter als Lebensphase zugeordnet waren. Andererseits wurde diskutiert, welches Menschenbild der Organisation von Bildungsverläufen unterliegt bzw. in ihnen transportiert wird und welche geschlechtstypisierenden Effekte dabei entstehen. Diese Dimension wurde aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven bearbeitet: mit historischem, psychoanalytischem, politologischem und sozialpädagogischem Schwerpunkt. Im ersten Vortrag stand „Kindheit“ im Zentrum, betrachtet aus einer von der Psychoanalyse inspirierten pädagogischen Perspektive. Barbara Rendtorff (Osnabrück/Köln) diskutierte dabei, welche psychischen und emotionalen Herausforderungen das schulische Lernen an ein Individuum stellt und welche Faktoren dazu beitragen, es Kindern zu ermöglichen, diesen Herausforderungen zu begegnen. Dabei beschrieb sie, wie sich das Fragen des Kindes im Kontext von ödipaler Krise und Triangulierung strukturiert. Dieser Prozess münde in die Auseinandersetzung mit Zurückweisung und Aufgehobensein, mit der Anerkennung des Gesetzes (im psychoanalytischen Sinne) und erzeuge so einen Abstand vom Unmittelbaren. Das sei „der Moment, in dem die Schrift erscheint“, das Kind sich „die Positionierung von Buchstaben, Dingen, Menschen“ und so auch das ganze symbolische System von Sprache und Schrift zu erschließen beginne. Die Anerkennung von Differenz und das Verhältnis von Verbindung und Trennung seien daher maßgebliche Voraussetzungen für die Entwicklung des Intellekts. Um die geschlechtstypischen Unterschiede in den Leistungsprofilen von Jungen und Mädchen besser zu verstehen, müsse – so die Forderung der Referentin – auf einer individuellen Ebene die Fähigkeit des Kindes zum Aushalten von Misserfolg und auf der institutionellen Seite der Schule die „natürliche Feindseligkeit“ (Ekstein/Motto 1969) zwischen Lehrern/Lehrerinnen und Schü-
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lern/Schülerinnen (insbesondere die unbemerkte Dimension von mangelnder oder fehlgeleiteter Rivalität) in ihren geschlechtstypischen Aspekten genauer untersucht werden. Barbara Rendtorff plädierte daher für eine „Sexuierung“ der Debatte über Professionalisierung, Lehr-Lern-Probleme und Schulentwicklung, die sich nicht in der Beschreibung vermeintlicher geschlechtlicher Besonderheiten erschöpfen solle (vgl. auch Rendtorff 2003). Mit der Lebensphase Jugend in historisch-systematischer Perspektive beschäftigte sich Brita Rang (Frankfurt). Ihr Ausgangspunkt war eine Kritik an der von vielen Forschern vertretenen Auffassung, dass – trotz aller Differenzierungen – Jugend eine moderne Erscheinung sei. Unter Bezugnahme auf neuere englische und US-amerikanische Untersuchungen (Krausman Ben-Amos 1994; Hanawalt 1995; Davis 1971) über junge Menschen, deren Ausbildungsverhältnisse und Formen von Jugendkultur im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen England sowie Frankreich entstanden, konnte die Referentin zeigen, dass es in der Vormoderne Jugend als Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter sehr wohl gegeben hat. Diese sei aber nicht nur auf eine kurze Zeitspanne beschränkt gewesen, es sei eine längere Phase des Übergangs gewesen, die sich in vielfältiger Weise von der vorhergehenden und der nachfolgenden unterschied. Hierbei hätte es zwar Differenzen zwischen jungen Frauen und jungen Männern bezüglich der schulischen Bildung und der Ausbildungsmöglichkeiten gegeben, diese seien aber bei weitem nicht so groß gewesen, wie bisher immer angenommen. Des Weiteren seien weder Geschlechtsreife noch rechtliche Bestimmungen klare Übergänge zwischen den einzelnen Lebensphasen gewesen. Daher stellte sich für Rang zunächst die Frage, ob dieser Mangel an klaren Übergängen zwischen den Lebensphasen wie auch ein fehlendes generelles Muster von Jugend aus der Differenz zwischen Jugend in unterschiedlichen historischen Epochen, zwischen Vormoderne und Moderne resultiere. Vielmehr interpretierte Rang diese Befunde als „deutliche Zweifel an einem ‚linearen’ Konzept der Geschichte der Jugend“. Diese Zweifel weitete sie aus auf die Geschlechterdifferenz, denn der Annahme, dass diese uns „in der Vergangenheit sehr viel eindeutiger begegne als in der Gegenwart“, wollte sie nicht mehr beipflichten. Statt einer linearen Konzeption der Lebensphase Jugend plädierte sie mit Levi und Schmitt (1997), für die Beschreibung von Jugend sowie der möglichen Unterschiede von weiblichen und männlichen Jugendlichen auf das Konzept der Liminalität des Kulturanthropologen Victor Turner (1995) zurückzugreifen, um diese Schwelle, die Zeiten der Gegensätzlichkeiten, der extremen Reaktionen, der Ungleichzeitigkeit zu analysieren. Abschließend verwies die Referentin noch auf die offene Frage nach der kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung der Institutionen Schule und Ausbildung für die „Vereindeutigung“ und für die Un-
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eindeutigkeit der Geschlechterdifferenz in der Lebensphase Jugend (vgl. auch Rang 2004). Im anschließenden Vortrag von Helga Ostendorf (Hildesheim) stand der Lebensabschnitt der Berufswahl im Zentrum. Sie analysierte die geschlechtstypischen Aspekte im Berufsberatungsprozess der Bundesagentur für Arbeit. Dazu untersuchte sie zunächst geschlechtstypische Formulierungen in den Berufsbeschreibungen. Die „geschäftspolitische Leitlinie“ der jetzigen Bundesagentur für Arbeit enthält eine Selbstverpflichtung, die berufliche Perspektive von Mädchen zu erweitern, etwa durch geschlechtsneutrale Sprache. Differenziert beschrieb Ostendorf, wie sich unter der Oberfläche von gleichwertigen Darstellungen von Berufsangeboten durch subtil unterschiedliche, aber unmissverständliche Wortwahl geschlechtstypische Signale in den Berufsbeschreibungen finden, die sie mit dafür verantwortlich machte, dass weibliche und männliche Jugendliche letztlich doch ganz überwiegend in die traditionellen Berufsfelder einmünden. In einem zweiten Schritt analysierte die Referentin die institutionellen Strukturen der Berufsberatung in der Bundesagentur. Mit Hilfe einer Matrix des Organisationssoziologen W. Richard Scott (1995) unterschied sie drei institutionelle „Säulen“, die regulative, die normative und die kognitive, die sie zur Untersuchung des dort herrschenden Geschlechterleitbildes verwendete. Die Referentin kam zu dem Schluss, dass „Leitideen“ das Fundament politischer Institutionen bilden, die sich nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch in ihren Strukturen und Verfahrensweisen niederschlagen. So seien auch die Geschlechterleitbilder in den Institutionen der Berufsberatung auf fast unbemerkte, gleichwohl nachhaltig wirksame Weise an der geschlechtstypischen Berufsorientierung männlicher und weiblicher Jugendlicher beteiligt (vgl. auch Ostendorf 2001). Mit der Lebensphase „Alter“ – einem in der erziehungswissenschaftlichen Forschung bisher wenig beachteten Lebensabschnitt – befasste sich der Vortrag von Isabella Paoletti (Bologna). Unter dem Titel „When is an older woman?“ stellte sie die Ergebnisse eines vierjährigen, von der Stadt Perugia und aus EUMitteln finanzierten Forschungsprojektes vor. Ziel der Studie war es, zu untersuchen, wie Identitäten älterer Frauen sozial konstruiert und wie diese durch institutionelle Interventionen beeinflusst werden. Es ging hierbei um Fragen wie: „How the membership category ‚old’ is used by the women in identity work?“, „When does talking about ‚older women’ becomes salient?”, „How do institutionals definitions of ‚elderliness’ become relevant to the women?”. Mit den Mitteln der ethnographischen Feldforschung wurden die Diskussionen einer Gruppe von Frauen im Alter von 50 bis 85 Jahren aus der Gegend von Perugia in verschiedener Weise dokumentiert. Die Referentin zeigte in der Analyse verschiedener Gesprächssequenzen die Kontextabhängigkeit der Kategorie „alt“. Die Zusammensetzung der Gruppe und
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die kommunikativen Fähigkeiten der Gesprächspartner hätten entscheidenden Einfluss auf die Verwendung, diese werde selbst noch im Gespräch neu ausgehandelt. Gerade dieser offene Gebrauch ermögliche es der Gruppe, mit der Kategorie „alt“ nicht nur zu marginalisieren, sondern auch zu integrieren. Auffallend an diesem offenen Gebrauch sei, dass die älteren Frauen von sich das Bild eines aktiven Erwachsenen zeichneten, in dem Abhängigkeit, Krankheit und Einsamkeit keinen Platz haben. Für Paoletti hat ihre Studie nicht nur einen theoretischen Erkenntnisgewinn bezüglich der Identität älterer Menschen. Gerade für die praktische Arbeit von Sozialarbeitern in den Betreuungsinstitutionen sowie für die der Politiker und Politikerinnen und Gesetzgeber sei Wissen über die Identität älterer Menschen wichtig, um nicht Abhängigkeit und Schwächen dieser Gruppe zu verstärken, sondern Unabhängigkeit und Aktivitäten zu fördern (vgl. auch Paoletti 2001). Die Kommentare (Edith Glaser, Dortmund/Halle; Doris Lemmermöhle, Göttingen; Bettina Grubenmann, Zürich), die zu den letzten drei Referaten gegeben wurden, befassten sich mit theoretischen, konzeptionellen und methodischen Fragen und leiteten damit auch die Diskussionsrunden ein. Insgesamt zeichnete sich das Symposium durch ein sehr breites Themenspektrum aus. Trotz der Unterschiedlichkeit in den Referenztheorien der Vortragenden, bei gleichzeitiger Konzentration auf das Kongressthema, gab es eine Gemeinsamkeit: Die Eindeutigkeit der einzelnen Lebensabschnitte und ihrer Übergänge nimmt sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung ab.
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Akkreditierung und Zertifizierung von Bildungsleistungen – verlässliche Pfade im Bildungsdschungel? Tina Hascher / Odette Haefeli / Ruth Jermann / Angelika Schade
In so genannten ressourcenarmen Ländern ist Bildung das größte Kapital. Die kontinuierlich wachsende Bedeutung der Bildung in Ländern wie Deutschland und der Schweiz ist mit einer rasanten Zunahme von Bildungsangeboten verbunden – sowohl in der Grund- als auch in der Weiterbildung. Für Personen, die sich für eine Aus- oder Weiterbildung entscheiden und die Herausforderungen des lebenslangen Lernens ernst nehmen wollen, eröffnet sich nicht selten ein nahezu unüberschaubarer „Bildungsdschungel“, der sich nur schwer durchdringen lässt und dementsprechend zu Verunsicherungen führt. Wesentliche Fragen, die sich bei der Wahl einer Aus- oder Weiterbildung stellen und sich im Hinblick auf das Thema der Akkreditierung und Zertifizierung als bedeutsam erweisen, sind folgende: Wie hoch ist die Qualität der jeweiligen Aus- bzw. Weiterbildung? Wie gut wird die jeweilige Aus- bzw. Weiterbildung im Vergleich zu anderen Ausbildungen national und international bewertet? Wie gut und als wie wichtig wird die jeweilige Aus- bzw. Weiterbildung im Hinblick auf künftige Entwicklungen des Arbeitsmarkts bewertet? Welche Aus- bzw. Weiterbildung erhöht meine beruflichen und persönlichen Kompetenzen nachhaltig? Welche neuen Arbeitsund Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet mir die jeweilige Aus- bzw. Weiterbildung? Akkreditierung und Zertifizierung von Bildungsleistungen sollen der Intransparenz Abhilfe schaffen und der Beantwortung solcher Fragen dienen. Unter dem Begriff „Akkreditierung“ wird ein Prozess und ein Verfahren verstanden, in dem die Qualität eines Bildungsangebots oder einer Bildungsinstitution anhand von klar festgelegten, nationalen oder internationalen Standards überprüft wird. „Zertifizierung“ bedeutet die Vergabe eines Labels nach erfolgreich durchlaufenem Akkreditierungsprozess. Akkreditierung und Zertifizierung besitzen noch eine weitere Funktion: Mit der Entstehung vieler neuer Angebote hat die Konkurrenz unter Bildungsangeboten zugenommen. Bildungsinstitutionen und Bildungsprogramme bedürfen
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deshalb einer Auszeichnung, um sich von anderen Anbietern abzuheben, die Qualität ihrer Ausbildung zu sichern und weiter zu entwickeln und um Glaubwürdigkeit vor ihren potenziellen Kunden zu erlangen. Akkreditierung und Zertifizierung bieten einen möglichen Weg, diese Auszeichnung zu erlangen. Dieser Text befasst sich mit unterschiedlichen Phasen des Akkreditierungsprozesses und mit verschiedenen Perspektiven der Akkreditierung von Bildungsleistungen in Deutschland und in der Schweiz. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie die Qualität von Aus- und Weiterbildungsangeboten im Hinblick auf Standards und Kompetenzen für den Arbeitsmarkt analysiert und verbessert werden kann. Diese Frage ist vor dem Hintergrund der aktuellen öffentlichen Kritik am Bildungswesen besonders relevant. Im Konkreten werden aus dem durchgeführten Symposium drei Bereiche angesprochen: (1) die Förderung beruflicher Kompetenzen im Studium am Beispiel des Informatikstudiums an der Universität Basel (Odette Haefeli, Basel), (2) Chancen und Schwierigkeiten der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland (Angelika Schade, Bonn), (3) die Zertifizierung der Weiterbildung in der Schweiz am Beispiel von eduQua (Ruth Jermann, Zürich).
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Förderung beruflicher Kompetenzen im Studium am Beispiel des Informatik-Studiums an der Universität Basel
Bevor eine Akkreditierung oder Zertifizierung vorgenommen werden kann, ist es unabdingbar, (1) die zu akkreditierenden Kompetenzen festzulegen, (2) die Frage der Vermittelbarkeit zu klären und (3) zu überprüfen, ob der Lernerfolg kontrolliert werden kann. Die Auseinandersetzung mit Qualitätskriterien und Kompetenzvermittlung ist in den letzten Jahren auch an den Universitäten ein Thema geworden. Im Zuge der Bologna-Reform und der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge wird das Thema der beruflichen Qualifikation aktuell. Im neu aufgebauten Bachelor- und Masterstudiengang Informatik der Universität Basel werden neben den fachlichen Schwerpunkten auch gezielt Sozial-, Methoden- und Selbstkompetenzen gefördert. Eine begleitende Studie soll Aufschluss darüber geben, ob mit dem gewählten Ansatz die definierten Kompetenzen erfolgreich gefördert werden und inwiefern eine Hochschulausbildung der geeignete Ort ist, um vielseitige berufliche Kompetenzen zu vermitteln. Der hier verwendete Begriff der Kompetenz wird in Anlehnung an die Arbeiten von Max (1999) und Heyse/Erpenbeck (1999) als ein dynamisches, prozessorientiertes Konstrukt verstanden. Kompetenz ist an einen spezifischen Kontext gebunden und beinhaltet immer das planende und aktive Moment einer Handlung. Kompetenz stellt eine Selbstorganisationsdisposition des Individuums
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dar: Um Anforderungen erfüllen zu können, entwickelt das Individuum Kompetenzen. Entsprechend diesem Verständnis von Kompetenz werden die verschiedenen Kompetenzbereiche, angepasst an das Berufsfeld und die Anforderungen an die Informatikerinnen und Informatiker, als Standards definiert (Oser 2001) und integriert im Unterricht vermittelt. Als theoretische Grundlage werden einerseits die arbeits- und sozialwissenschaftliche Diskussion um Schlüsselqualifikationen (z. B. Arnold 1999; Bunk 1986; Laur-Ernst 1990; Mertens 1974; Reetz 1990) und andererseits lernpsychologische Theorien herangezogen. Fachwissen wird als Basis für die Entwicklung von Kompetenz angenommen (Chi et al. 1988; Reusser 1994, 1998; Weinert 1990). Der Transfer soll dadurch gewährleistet werden, dass Kompetenz in konkreten und relevanten Situationen vermittelt wird. Die Förderung von Kompetenzen stellt nicht nur einen Aspekt, sondern ein grundlegendes Studienziel dar, welches in alle didaktischen Überlegungen einbezogen wird. Ziel ist es, innerhalb des Studiums Selbstorganisationsdispositionen zu entwickeln und Eigenverantwortung zu fördern, zur Reflexion der eigenen Denk- und Lernstrukturen anzuregen, Erfahrungen zu sammeln und diese an praktisch relevanten Beispielen einzuüben und ein offenes und motivierendes Verhältnis zwischen den Lehrpersonen (Coaches) und den Studierenden aufzubauen. Neben dem Unterricht wird – in Anlehnung an Lave/Wenger (1991) – der Lernumgebung und dem Lernumfeld viel Aufmerksamkeit gewidmet, denn auch außerhalb des Unterrichts findet Lernen statt. Den Studierenden werden neben physischen Räumen auch Foren zum gegenseitigen Austausch, eine Beratungsstelle und zusätzliche komplementäre Kurse angeboten. Während dreier Jahre wird bei einem Studienjahrgang die Kompetenzentwicklung beobachtet und empirisch erfasst, um festzustellen, ob im Rahmen des Projekts Kompetenz entwickelt wird. In der Untersuchung wird anhand des so genannten Kompetenzchecks (IZK 2002) die Entwicklung der definierten Kompetenz gemessen und zusätzlich die Selbstwirksamkeitserwartung (Jerusalem 1992), die Identifikation mit dem Studienfach und die eigene Einschätzung der definierten Standards (Oser 2001) überprüft. Neben der jährlichen Fragebogenerhebung bei der Studierenden- und der Kontrollgruppe werden jeweils am Ende des Semesters Evaluationen der Veranstaltungen durchgeführt und eventuelle Verbesserungen zur Sicherung der Unterrichtsqualität vorgenommen. Auf die Frage der Akkreditierung zurückkommend, lässt sich aus den vorläufigen Erfahrungen in diesem Projekt schließen, dass Kompetenzen für jeden Ausbildungsgang entsprechend den Bedürfnissen der betreffenden Berufsgattung definiert werden müssen. Auch wenn das additive Vermitteln komplementärer Kompetenzen in Kompetenzzentren die Isolation von Qualitätskriterien vereinfachen würde, deuten lerntheoretische Erkenntnisse darauf hin, dass die Integration der Kompetenzvermittlung in das Studium erfolgversprechender ist und schließ-
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lich auch eine Qualitätsgarantie mit sich bringen kann. Die bisherige Erfahrung in diesem Projekt zeigt zudem, dass der Vermittlung komplementärer Kompetenzen innerhalb eines Universitätsstudiums strukturelle und methodische Grenzen gesetzt sind. Es ist deshalb wichtig, auf diejenigen Kompetenzen zu fokussieren, welche methodisch sinnvoll integrierbar sind, die Studierenden auch während ihrer Studienzeit betreffen und dadurch relevant, interessant und anwendbar erscheinen.
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Die Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland – Chancen und Schwierigkeiten
Qualitätssicherung ist ein zentraler Richtwert des Bologna-Prozesses. Im BerlinKommunikee unterstrichen die europäischen Ministerinnen und Minister, dass die Hauptverantwortung für die Qualitätssicherung in der Hochschulbildung gemäß dem Grundsatz der institutionellen Autonomie bei den Hochschulen selbst liegt. Darüber hinaus vereinbarten sie unter anderem, dass die nationalen Qualitätssicherungssysteme bis 2005 ein System der Akkreditierung, der Zertifizierung oder ähnlicher Verfahren beinhalten sollen. Dementsprechend sind in den letzten Jahren in vielen europäischen Ländern Akkreditierungseinrichtungen etabliert worden, wobei manche Länder Akkreditierungen auf Programmebene vornehmen, während andere institutionelle Akkreditierungen durchführen. Bei der Akkreditierung handelt es sich um ein formales und transparentes Qualitätsprüfungsverfahren, in welchem anhand von definierten, international kompatiblen Standards überprüft wird, ob Hochschulinstitutionen bzw. Studiengänge Mindestanforderungen an die Qualität erfüllen. Gemäß internationalem Standard erfolgt die Akkreditierung in drei Stufen: Die zu beurteilende Einrichtung (oder der Studiengang) hat (1) einen Selbstbericht vorzulegen, der Grundlage für (2) die Begutachtung durch externe, unabhängige Experten anlässlich einer Vor-Ort-Visite ist. Auf der Grundlage der ersten beiden Etappen werden (3) der Akkreditierungsentscheid gefällt und die Ergebnisse publiziert. Die systematische Akkreditierung aller Studiengänge wurde 1998 in Deutschland eingeführt (HRK 1998; KMK 1998, 2002). Der Akkreditierungsrat ist für das Gesamtsystem verantwortlich und akkreditiert Akkreditierungsagenturen, die wiederum Studiengänge akkreditieren. Er hat unter Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses zwischen struktureller Vergleichbarkeit und inhaltlicher Vielfalt einen Katalog vergleichsweise allgemein gehaltener Kriterien entwickelt. Diese stellen einen flexiblen Prüfrahmen für die Begutachtung der Studiengänge dar, der die Qualitätsdimension der Akkreditierung transparent ma-
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chen soll. Im Rahmen der Peer Reviews werden der Begutachtung im Wesentlichen folgende sieben Kriterien zugrunde gelegt: •
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„Anforderungen an die Qualität und Internationalität des Curriculums unter Berücksichtigung von Studieninhalten, Studienverlauf und Studienorganisation sowie Leistungsnachweisen, Prüfungsstruktur und Prüfungsfächern; Modularisierung, Leistungspunktsystem und ECTS; Berufsbefähigung der Absolventinnen und Absolventen aufgrund eines in sich schlüssigen, im Hinblick auf das Ziel des Studiums und die Vorbereitung auf berufliche Tätigkeiten plausiblen Studiengangkonzepts; Abschätzung der absehbaren Entwicklungen in möglichen Berufsfeldern; personelles Potenzial der Hochschule bzw. der beteiligten Hochschulen und ggf. anderer kooperierender Einrichtungen; räumliche, apparative und sachliche Ausstattung; bei Master-Studiengängen: erster berufsqualifizierender Abschluss und ggf. weitere Zulassungsvoraussetzungen; Übergangsmöglichkeiten zwischen herkömmlichen Diplom- oder MagisterStudiengängen und gestuften Studiengängen“ (Akkreditierungsrat 2000).
Akkreditierungsentscheide tragen nicht nur dazu bei, die nationalen Bildungsmärkte zu regulieren, sondern erleichtern die europäische Vergleichbarkeit der Studienangebote und damit die studentische Mobilität in Europa. Fragen stellen sich jedoch hinsichtlich der Festlegung der Qualitätsstandards (Wer legt fest? Wie international sind die Standards?), der Entwicklung von der Input- zur Output-Orientierung (die Prüfung von learning outcomes steht im Vordergrund), der Gefahr der Vernachlässigung der Prozessorientierung (Messbarkeitsprobleme) und der Definition von Kompetenzkatalogen für die Studiengänge (Wer definiert? Welche Rolle haben Fachgesellschaften, Fakultätentage, Fachbereichstage, Berufsorganisationen etc.?). Überdies erweist sich die systematische Akkreditierung aller Studiengänge nach ersten Erfahrungen als organisatorisch und finanziell schwierig. Auf der anderen Seite ist eine institutionelle Akkreditierung von Qualitätsmanagementsystemen noch kein Beweis für die zufrieden stellende Qualität in Lehre und Forschung. In einigen Ländern wird deshalb versucht, eine institutionelle Qualitätsüberprüfung mit punktuellen Akkreditierungen auf Programmebene zu kombinieren.
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Tina Hascher et al. Die Zertifizierung der Weiterbildung in der Schweiz am Beispiel von eduQua
EduQua unterstützt eine Institution der Weiterbildung darin, sich mit den folgenden sechs Minimalkriterien sehr intensiv auseinander zu setzen und diese auch zu erfüllen: (1) Angebote, die einen Bildungsbedarf befriedigen; (2) der nachhaltige Lernerfolg der Teilnehmenden; (3) die transparente Darstellung der Angebote und pädagogischen Leitideen; (4) eine kundenorientierte, ökonomische, effiziente und effektive Leistungserbringung; (5) engagierte Lehrkräfte, die fachlich, methodisch und didaktisch auf dem neuesten Stand sind; (6) ein Bewusstsein für Qualitätssicherung und -entwicklung. Mit eduQua haben das Bundesamt für Wirtschaft und das Bundesamt für Bildung und Technologie einem einzigen Label in der Weiterbildung zum Durchbruch verholfen. Über 530 Weiterbildungsinstitutionen sind bereits von eduQua zertifiziert worden. EduQua steht zu anderen Qualitätsverfahren wie ISO, EFQM, FQS, BfW, 2Q in keiner Konkurrenz. Die gemeinsame Anstrengung, Weiterbildungsinstitutionen vergleichbarer zumachen und Konsumentinnen und Konsumenten ein Instrument in die Hand zu geben, sich in der Vielfalt der Angebote zurechtzufinden, trägt auch strukturell Früchte: In den Kantonen Zürich, Luzern, Zug, Tessin, Waadt, Wallis und Genf wurde die eduQua-Zertifizierung bereits ab 2003 für verbindlich erklärt, wenn sich eine Institution um Subventionen bewerben will. Seit Februar 2003 empfiehlt die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren den Kantonen, die „Qualität der Anbieter im Bildungsbereich in der ganzen Schweiz künftig nach den gleichen Kriterien zu überprüfen und staatliche Subventionen von einem Qualitätsnachweis (eduQua) abhängig zu machen“. Das langfristige Ziel aus bildungspolitischer Sicht besteht darin, eduQua als Qualitätslabel in der ganzen Schweiz einzuführen. Die Zertifizierung steht allen Bildungsinstitutionen offen, die im Bereich allgemeiner oder beruflicher Weiterbildung tätig sind und Weiterbildungsangebote vorbereiten, durchführen und evaluieren. Darunter fallen Berufsschulen, staatlich subventionierte Institutionen der Weiterbildung, Stellen, die arbeitsmarktbezogene Maßnahmen durchführen, Anbieter von Modulen für Bildung im Baukastensystem und alle privaten Anbieter. Die eduQua-Zertifizierung verbessert die Transparenz im Bildungsmarkt und fördert intern die Kommunikation, die Effizienz von Abläufen, das Controlling und die Kundenorientierung. Weiterbildungsmaßnahmen für Kursleitende müssen eingehalten, interne pädagogische Konferenzen durchgeführt werden.
Akkreditierung und Zertifizierung von Bildungsleistungen
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Die Zertifizierung durch eduQua beinhaltet das folgende Verfahren: Eine Institution bewirbt sich bei einer der fünf akkreditierten neutralen Zertifizierungsstellen. Die Zertifizierungsstelle wählt nach Eingang der Anmeldungsunterlagen im Sinn einer Stichprobe einen einzelnen Kurs oder Lehrgang aus und bittet die Institution, sowohl die Einrichtung als auch den Kurs oder Lehrgang zu dokumentieren. Dieses Dossier soll über die folgenden Aspekte informieren: das Leitbild der Institution, das Organigramm, die getroffenen Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung, das Anforderungsprofil der Kursleitenden, die Weiterbildung der Kursleitenden, die Evaluation des Unterrichts, die Teilnehmer- und Erfolgsstatistik, die Kundenorientierung und Kundenzufriedenheit. Zusätzlich wird das ausgewählte Bildungsangebot hinsichtlich folgender Aspekte überprüft: Zielgruppe, Bedarfsüberlegungen, Transfersicherung, Lernziele, Lerninhalte, Methodenwahl, Selbstlernaktivitäten, Übungsaktivitäten und Lernerfolgskontrollen. Die dem Kurs oder dem Lehrgang vorausgehenden Informationsmaterialien sowie die Lebensläufe der eingesetzten Lehrpersonen müssen hierzu eingesendet werden. Seit 2004 erfolgt jeweils ein Audit vor Ort sowie jährliche Zwischenaudits. Der Entscheid wird mit einem Auditorenbericht und eventuell mit Bemerkungen und Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung belegt. Eine Evaluation der Erfahrungen mit dem eduQua-Zertifizierungsverfahren fand ein positives Echo: die Zertifizierung ist (eher) einfach durchführbar, das Verfahren fördert die Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements. Die sechs Minimalstandards wurden als gut und richtig befunden. Das eduQua-Zertifikat ist drei Jahre gültig und kann danach wieder erneuert werden. Diese Erneuerung nötigt die Institutionen zu kontinuierlicher Qualitätsentwicklung und bedingt, dass die interne Kommunikation weiterhin aufrechterhalten wird.
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Aktuelle Fragen und Diskussionspunkte
Aus der Diskussion im Rahmen des Symposiums werden drei Aspekte kurz angesprochen: (1) der Kompetenzbegriff, (2) die Qualitätsentwicklung und (3) die „lernende Organisation“. In jedem Bildungsgang sollten sowohl fachliche als auch komplementäre Kompetenzen gefördert werden. Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz (Roth 1971) sind folglich Begriffe, deren Definition und Operationalisierung gleichermaßen wichtig sind. Für jedes Programm und für jede Institution der Aus- und Weiterbildung ist die Transparenz der zu erreichenden Kompetenzen und der Methoden zur Kompetenzentwicklung unverzichtbar.
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Die Frage nach den Kompetenzen verbindet denn auch die oben dargestellten Perspektiven. Für Bildungsprozesse sollen hier idealtypisch drei Kompetenzbereiche unterschieden werden. Sie beziehen sich auf die Akteure, die am Bildungsprozess beteiligt sind: Dies sind zum einen die Kompetenzen, welche die Personen in der Aus- und Weiterbildung bereits besitzen und welche sie erwerben sollen; zum anderen geht es um die Kompetenzen, die Dozentinnen und Dozenten in der Aus- und Weiterbildung besitzen, und schliesslich um die Kompetenzen, die in der Gesellschaft vorhanden sein müssen. In allen drei Bereichen ist es erforderlich, sowohl Mindeststandards als auch Kriterien für Spitzenleistungen zu definieren. Akkreditierung und Zertifizierung dienen in erster Linie der Qualitätsentwicklung, weniger der Qualitätskontrolle. Qualitätsentwicklung hängt eng mit den sich stetig verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen. Sie ist intentional, integrativ und reflexiv (vgl. auch Thom/Ritz 2002; Strittmatter 2002) und besteht aus einem Prozess, der vier Stufen durchläuft: (1) die Entwicklung von Kriterien für die Qualität eines Vorgangs bzw. eines Systems, (2) die kritische und an Kriterien orientierte Beurteilung eines Vorgangs bzw. eines Systems, (3) die Umsetzung gezielter Maßnahmen im Hinblick auf die Erhaltung bzw. Verbesserung der angestrebten Qualität und (4) die Evaluation des Entwicklungsprozesses. Akkreditierung und Zertifizierung beinhalten auch eine regelmäßige Überprüfung der Relevanz und Validität der zu erreichenden Standards und Anforderungen. Wichtig ist dabei, mögliche Qualitätskriterien und deren kritische Reflexion von der Scientific Community anzufordern. Überdies ist es erforderlich, Mindeststandards zu definieren und zugleich sicherzustellen, dass nicht nur Mindest-, sondern auch Spitzenanforderungen erfüllt werden. Zudem braucht es Leitlinien für die Akkreditierung, die ihrerseits ständig weiterentwickelt werden. Internationale Gleichwertigkeit und Verbindlichkeit sind dabei grundlegende Werte. Das Ziel der Qualitätsentwicklung leitet über zum Begriff der „lernenden Organisation“, der von Senge (2001) erläutert wurde. Dieser Begriff ist auch im Hinblick auf Akkreditierung und Zertifizierung relevant, da Bildungsangebote und Bildungsprogramme in einem Prozess der Bewertung stehen und der Notwendigkeit der kontinuierlichen Entwicklung und des Lernens unterliegen. Senge identifiziert fünf Disziplinen, die im Entwicklungsprozess interagieren müssen: (1) Personal Mastery: Das lernende Individuum stellt die Basis für die lernende Organisation dar. (2) Mentale Modelle: Subjektive Vorstellungen und Theorien werden offen gelegt und kommuniziert. (3) Gemeinsame Visionen: Leitgedanken werden gemeinsam entwickelt. (4) Team-Lernen: Im Dialog werden Abwehrmechanismen gegenüber den Entwicklungszielen aufgedeckt und bearbeitet. (5) Systemdenken: Der Schwerpunkt liegt auf Wechselbeziehungen
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und Aspekten des Entwicklungsprozesses. Wertvoll an Senges Ausführungen ist insbesondere der Hinweis auf und die Beschreibung der Mehrschichtigkeit des Entwicklungsprozesses. Stets müssen mehrere Ebenen berücksichtigt werden. Im Bildungsprozess handelt es sich dabei sowohl um Personen als auch um Strukturen, Inhalte und Teilprozesse. Unklar bleibt dabei aber, wie unterschiedliche Bewertungen durch die Einnahme verschiedener Perspektiven gewichtet werden sollen. Welches Verhältnis besteht z. B. zwischen Fremd- und Selbstevaluation? Wie groß ist die Bedeutung bildungspolitischer Gremien, z. B. bei der Abgabe von Empfehlungen (vgl. die EDK-Empfehlungen zur Erwachsenenbildung 2003) und bei der Subventionierung?
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Erziehung in früher Kindheit und lebenslange Bildungsprozesse – Internationale Perspektiven der frühpädagogischen Forschung Michael-Sebastian Honig / Ludwig Liegle
Jede Gesellschaft spekuliert, wie Jerome Kagan, ein Pionier longitudinal angelegter Untersuchungen zur menschlichen Entwicklung, festgestellt hat, über die Varianz unter ihren Mitgliedern. Und er hat einige dieser Spekulationen benannt: „Manche messen dem Geburtsdatum oder dem Einfluss von Hexen bzw. Zauberern besondere Macht zu. Andere Kulturen sehen materialistischere Faktoren am Werk, wie das Klima, die Ernährungsweise und die individuelle Biologie. Eine sehr viel kleinere Zahl von Gesellschaften, zu der auch unsere gehört, hat sich entschieden, in den Erfahrungen der ersten Lebensjahre (insbesondere in der liebevollen Sorge der leiblichen Mutter für ihr Kind und dem interaktiven Spiel beider) die mächtigste lebensformende Kraft zu sehen.“ (Kagan 2000, S. 119)
Die Überzeugung von der nicht nachlassenden Wirkung der frühen Lebensjahre hat Kagan demnach als ein Beispiel für soziale und kulturelle Konstruktionen menschlicher Existenz und Entwicklung beschrieben. Und er hat in diesem Zusammenhang die Rationalität insbesondere jener Variante des Kindheitsdeterminismus in Frage gestellt, welche sich auf die schicksalhafte Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung konzentriert: „Es ist um ein Beträchtliches teurer, die Qualität des Wohnens, der Bildung und Gesundheit der annähernd eine Million Kinder in den USA zu verbessern, die heute in Armut leben, als ihre Mütter zu motivieren, sie regelmäßig zu küssen, mit ihnen zu sprechen und zu spielen. Obwohl eine diesbezügliche Veränderung im mütterlichen Verhalten vorteilhafte Folgen hätte, wären diese Wirkungen geringfügig im Vergleich zu der Wirkung, die eine Veränderung der gegenwärtigen Sozialpolitik hätte.“ (Kagan 2000, S. 130)
Die Organisatoren des Symposiums, über das hier berichtet wird, haben das Rahmenthema des diesjährigen Kongresses – „Bildung über die Lebenszeit“ –
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zum Anlass genommen, relevante Beiträge der Pädagogik der frühen Kindheit zur Aufklärung des spannungsreichen Zusammenhangs zwischen lebensphasenspezifischen (in diesem Fall: frühkindlichen) und lebenslangen Bildungsprozessen vorzustellen. Es war uns bewusst, dass das Symposium bei der Bearbeitung dieser Frage unvermeidlich auf jene erkenntnistheoretischen und politischen Probleme stoßen würde, auf die Jerome Kagan nachdrücklich hingewiesen hat. Diese Probleme sollten beim Symposium sowohl in den eingeworbenen Referaten als auch in der Diskussion Berücksichtigung finden, und zwar insbesondere unter drei Aspekten: (1) durch die Betonung des Konstruktcharakters der in der frühpädagogischen Forschung verwendeten Konzepte („Kindheit“, „Entwicklung“, „Bildung“, „Qualität“), (2) durch die systematische Einbeziehung jener Kontexte, die in Gestalt von Lebenslagen der Kinder und ihrer Familien sowie in Gestalt von bildungs- und sozialpolitischen Unterstützungssystemen das Erziehungsgeschehen und die Bildungsprozesse in Tageseinrichtungen für Kinder beeinflussen, und (3) durch die genaue Beobachtung und Beschreibung jenes Geschehens, das die Akteure als „pädagogische Praxis“ verstehen. Unter diesen Prämissen gehört es zu den zentralen Aufgaben der Pädagogik der frühen Kindheit, ein zuverlässiges empirisches Wissen über die Wirksamkeit vorschulischer Erziehung sowie über Zusammenhänge zwischen der entwicklungsfördernden Wirkung und der pädagogischen Qualität in den Einrichtungen zu erzeugen, um auf dieser Grundlage Empfehlungen zur Qualitätssicherung aussprechen zu können.
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Zwei Beispiele für longitudinale Studien zur Wirksamkeit vorschulischer Erziehung
Die Beiträge zum Symposium haben dokumentiert, dass die Pädagogik der frühen Kindheit im Hinblick auf längsschnittlich angelegte Untersuchungen zur Wirksamkeit vorschulischer Erziehung mittlerweile auf einen beachtlichen Forschungsstand verweisen kann. Dies gilt auf der Ebene nationaler Untersuchungen ebenso wie auf der Ebene international vergleichender Studien. Für erstere steht das „Effective Provision of Pre-School Education Project“ (EPPE), über das Kathy Sylva (Oxford University), für letztere das auf Deutschland, Österreich und Spanien bezogene Forschungsprojekt der „European Child Care and Education Study“, über die Hans-Günther Rossbach (Universität Bamberg) berichtet hat. Die beiden Studien weisen in ihrer Fragestellung, im Forschungsdesign, in den Befunden und in der Interpretation der Befunde ganz überwiegend Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede auf. Beide Studien fragen nach länger-
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fristigen Auswirkungen vorschulischer Erziehungs- und Bildungsprozesse. Dabei meint Längerfristigkeit die Entwicklung der Kinder im Alter zwischen 3 und 6 (EPPE-Projekt) bzw. 4 und 8 Jahren (Vergleichsstudie). Die Ausgangssituation und die Wirkungen werden in beiden Studien mit Indikatoren der kognitiven, sprachlichen und sozialen Entwicklung erfasst. Beide Studien beziehen sich auf große Untersuchungsgruppen von 3000 bzw. 778 Kindern, wobei das EPPEProjekt auch eine Vergleichsgruppe von ausschließlich oder ganz überwiegend familienbetreuten Kindern einschließt. Beide Studien sind als Mehrebenenanalyse angelegt: Sie erheben Daten nicht nur über die Tageseinrichtungen, sondern auch über die Familien der Kinder sowie über Merkmale des sozio-kulturellen, ökonomischen, ökologischen und politischen Umfeldes. Beide Studien konzentrieren sich auf die Erhebung der „pädagogischen Qualität“ in verschiedenen Typen von Tageseinrichtungen, in den Grundschulen sowie in Familien, und stützen sich in diesem Zusammenhang auf bereits bewährte Erhebungsinstrumente (z. B. auf die Early Childhood Environment Rating Scale, die im Rahmen der Vergleichsstudie auch hinsichtlich ihrer transkulturellen Validität überprüft wird). Beide untersuchen die Korrelationen zwischen den Maßen der pädagogischen Qualität und den – ebenfalls bereits in früheren Untersuchungen erprobten – Indikatoren der kindlichen Entwicklung. Bei den Befunden überwiegt die Übereinstimmung zwischen beiden Studien. Diese betrifft zum Beispiel die positiven, statistisch signifikanten Zusammenhänge zwischen Indikatoren der pädagogischen Qualität und Indikatoren der Entwicklung der Kinder (wobei sich diejenigen Einrichtungen als die effektivsten erweisen, die gleichzeitig die intellektuell-kognitive und die soziale Entwicklung unterstützen und fördern) sowie die insgesamt stärkere und nachhaltigere Wirksamkeit der Qualitätsunterschiede in Familien im Vergleich zu den Qualitätsunterschieden in Tageseinrichtungen. In den Befunden über die spezifischen Merkmale der pädagogischen Qualität, welche für die Wirksamkeit einer Tageseinrichtung geltend gemacht werden können, lassen sich sowohl Übereinstimmung als auch Unterschiede feststellen. Übereinstimmend dokumentieren beide Studien die zentrale Bedeutung eines zugleich einfühlsamen, emotional bestätigenden und auf gezielte Anregungen und Herausforderungen gerichteten Umgangs der Erzieherinnen mit den Kindern, der seinerseits in einem systematischen Zusammenhang mit der „Professionalität“ der Erzieherinnen zu stehen scheint. Unterschiede zeigen sich demgegenüber in der differenzierten Erfassung (Operationalisierung) von Qualitätsmerkmalen des Erziehungsverhaltens bzw. der Erwachsenen-Kind-Interaktion und deren Korrelationen mit der Effektivität von Einrichtungen: Beispielsweise wird im EPPE-Projekt die große Bedeutung der Anregung von „gemeinsam geteilten Denkprozessen“ in dyadischen Erwachsenen-Kind-Interaktionen herausgestellt, ein Faktor, der in der Vergleichsstudie
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nicht erfasst worden ist. Im EPPE-Projekt hat sich außerdem gezeigt, dass in den effektivsten Einrichtungen Spielumwelten dazu genutzt werden, auf angeleitetes Lernen vorzubereiten, und dass die wirkungsvollste pädagogische Arbeit durch die Verbindung der anleitenden Vermittlung von Lerninhalten mit dem ZurVerfügung-Stellen von frei gewählten, aber in sich potenziell lehrreichen spielerischen Aktivitäten hervorgebracht wird; diese Befunde stammen allerdings nicht aus den standardisierten Beobachtungen, sondern aus Fallstudien. Die genannten Unterschiede verweisen auf die eingangs angesprochenen prinzipiellen Probleme der Methodologie: die Abhängigkeit der empirischen Befunde von der Konstruktion der Indikatoren pädagogischer Qualität sowie von den gewählten Untersuchungsmethoden. Der auffälligste Unterschied in den Befunden der beiden Studien betrifft die Frage, ob von einer guten Qualität der Tageseinrichtungen gleichermaßen alle Kinder oder vor allem Kinder aus benachteiligten Familien bzw. Familien mit niedrigem häuslichen Anregungsniveau profitieren. Der Befund der EPPE-Studie lautet: Benachteiligte Kinder können in besonderem Maße von vorschulischen Einrichtungen profitieren. Der Befund der Vergleichsstudie lautet: Es gibt keine (statistisch signifikante) Beziehung derart, dass für die kognitiv-sprachlichen bzw. sozial-emotionalen Kriterien ein besonderer Fördereffekt der Kindergartenqualität für Kinder aus benachteiligten Familien besteht. Eine empirisch gesicherte Interpretation dieser gegensätzlichen Befunde ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht möglich; die dieser Frage gewidmete Diskussion zwischen den Symposiumsteilnehmern hat denn auch kein Ergebnis erbracht. Es scheint uns jedoch erforderlich zu sein, Hypothesen zu dieser Frage nicht nur zu generieren, sondern auch zu überprüfen. Beispielsweise wäre denkbar, dass die englische (Untersuchungs-)Population krassere sozio-kulturelle Unterschiede zwischen Kindern bzw. Familien aufweist als die Populationen in Deutschland, Österreich und Spanien. Ein weiteres Beispiel für eine Hypothese könnte besagen: In den untersuchten Einrichtungen in England lässt sich ein höheres Ausmaß gezielter Fördermaßnahmen beobachten, und zwar sowohl hinsichtlich der gezielten Förderung der Kinder aus benachteiligten Familien in den Einrichtungen als auch hinsichtlich einer gezielten Elternarbeit. Die Prüfung dieser oder weiterer Hypothesen ist nicht nur für ein differenziertes und für soziale Ungleichheit sensibles wissenschaftliches Wissen relevant, sondern auch für eine wissenschaftlich begründete Qualitätssicherung in Tageseinrichtungen für Kinder.
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Pädagogische Qualität – Konstrukt und Geschehen
Im Hinblick auf die eingangs reflektierten Prämissen ist zu den beiden Symposiumsbeiträgen von Kathy Sylva und Hans-Günther Rossbach anzumerken, dass sie bei aller Sorgfalt in der Begründung und Überprüfung der eingesetzten Forschungsinstrumente die erkenntnistheoretischen und normativen Implikationen der herangezogenen Konzepte (Bildung, Entwicklung, Qualität) nur am Rande thematisiert haben. Peter Moss und Sabine Bollig, die beiden anderen Referenten des Symposiums, rückten sie in den Mittelpunkt. Moss, Professor of Early Childhood Provision am erziehungswissenschaftlichen Institut der University of London, war zwischen 1986 und 1996 Koordinator des Childcare Network der EU-Kommission. Von Hause aus Historiker, betrachtet er die Auseinandersetzung um die Wirksamkeit vorschulischer Erziehung als eine ethische und politische Auseinandersetzung. Pädagogische Qualität meint nachprüfbare, messbare, mithin optimierbare Wirksamkeit im Sinne einer Förderung kindlicher Entwicklung. Sind Effektivität und Effizienz pädagogische Kategorien? Eher repräsentieren sie generalisierte Erwartungen an das Bildungssystem bzw. die vorschulische Erziehung und Bildung. „Qualität“, so Moss, ist keine Bezeichnung für eine objektive Beschaffenheit von Produkten und Dienstleistungen, sondern ein kontextueller Wertbegriff, der diese Erwartungen repräsentiert und pädagogische Prozesse normiert. Erziehung ist ohne ein Wirkungsversprechen nicht denkbar, aber seine Verabsolutierung zum Maßstab von Qualität verdankt sich dem historisch-gesellschaftlichen Kontext der Reorganisation des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements. Zu einer vorgeblich pädagogischen Kategorie wird dieser Maßstab, indem er das Wirkungsversprechen mit einer Vorstellung individueller Entwicklung als Fähigkeit zu grundsätzlich grenzenloser Vervollkommnung verknüpft – eine Vorstellung, die zum Kernbestand des Projekts der Moderne gehört. Wie sich der Wirkungszusammenhang herstellt, erscheint vor diesem Hintergrund als eine zu vernachlässigende Frage – was zählt, sind outcomes. Wie also lässt sich pädagogisches Geschehen beschreiben und bewerten? Dem Sog der Entwicklungsmetapher kann man nur mithilfe eines bewussten Wechsels der Perspektive entkommen. In einem befremdenden Blick stellt sich die Selbstverständlichkeit von Entwicklungsfortschritten als Erarbeitung von geteilten Bedeutungen, als Sinnstiftung (meaning making) dar. Moss weist dazu auf die Reggio-Pädagogik und ihre traditionsreiche Praxis der pädagogischen Dokumentation hin. Ihr Gegenbild sind die normalisierenden Technologien einer Institutionalisierung von Kindern, die das Verhältnis von Familie, Markt und Staat im Sinne eines New Public Management neu bestimmen. Moss hat dabei die britische Bildungs- und Sozialpolitik vor Augen.
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Sabine Bollig, die im Kreis der Referentinnen und Referenten den wissenschaftlichen Nachwuchs repräsentierte, griff Moss’ Frage nach einer angemessenen Beschreibung pädagogischen Geschehens auf, beantwortete sie aber anders. Der international vergleichende Blick auf early education and care rückt die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Kontexte der vorschulischen Erziehung in den Vordergrund. Erziehung, Bildung und Qualität verwandeln sich in Praktiken generationaler Ordnung, die im Kindergarten die Organisationsform öffentlicher Kinderbetreuung annehmen. Kinder agieren in dieser Ordnung nicht lediglich als Lernwesen, sondern als kompetente Teilnehmer, deren Selbstbildungsprozesse im Medium der Kinderkultur verlaufen. In diesem Sinne hat William A. Corsaro (2003) die Kinderkultur italienischer und amerikanischer Kindertageseinrichtungen untersucht. „Kinderkultur“ ist ein Analyserahmen, der auf die Relation von Erwachsenen- und Kinderkultur im Kontext öffentlicher Kinderbetreuung fokussiert und Kinder nicht lediglich als Lernwesen, sondern als gesellschaftliche Akteure, als kompetente Teilnehmer einer Organisation ausweist. Damit verschiebt sich das Problem der Wirkungen vorschulischer Erziehung von einem Problem effektiver Instruktion zu Prozessen der Selbstsozialisation und Selbstbildung. Die Pointe dieses Ansatzes besteht darin, dass hier nicht lediglich eine weitere legitime Perspektive auf den Kindergarten und auch nicht lediglich eine andere normative Perspektive auf die Qualität vorschulischer Erziehung eingenommen wird. Wenn Tageseinrichtungen für Kinder nicht nur als zweckentsprechende pädagogische Orte, sondern als Orte von Kinderkultur, der ökonomischen und sozialen Funktionalität, der sozialen Kontrolle, der Ko-Konstruktion von Identitäten aufgefasst werden, dann lassen sich die Erfahrungsmöglichkeiten, die Kinder in frühpädagogischen Organisationen machen, als soziale Erfahrungsmöglichkeiten explizieren. Damit stellt sich die entscheidende Frage, welchen Stellenwert Erziehung und Bildung für diese Erfahrungsmöglichkeiten haben. Das war der Ausgangspunkt der Überlegungen zu einer Methodologie pädagogischer Qualitätsforschung, die Bollig in ihrem Züricher Vortrag vorstellte. Es geht um die Frage, wie sich Erziehung im Medium von Nicht-Pädagogik hervorbringt. Dazu muss Erziehung als Logik eines Geschehens jenseits der Vision gelingender Erziehung gedacht werden können. Im Mittelpunkt steht die Möglichkeit der Wirklichkeit von Erziehung, die operative Hervorbringung pädagogischer Ordnungen im lokalen Geschehen. Dies, so Bollig, ist die Aufgabe pädagogischer Ethnografie. Die Referentin berichtete von ihrer Forschungsarbeit im Kontext der Trierer Kindergartenstudie (Honig et al. 2004). Den Kern ethnografischer Forschung bildet der Mitvollzug einer lokalen Praxis und ihre distanzierende Rekonstruktion. Sie geht über das Teilnehmerwissen hinaus und dehnt
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die Grenzen des Wahrnehmbaren und des Artikulierbaren aus, indem sie einen scheinbar unangemessenen, „außer-ordentlichen“ Standpunkt einnimmt. Nur so kann die Kontingenz der gelebten Ordnung, ihr sozialer Charakter sichtbar werden. Die Forscherin beschreibt Bilderausstellungen von Kindern in der Tageseinrichtung aus der Perspektive der Dinge, also von den nicht-menschlichen Teilnehmern der Situationen her, und akzentuiert ihre Bedeutung verfremdend als Ausstellungen eines völkerkundlichen Museums. So gelingt es ihr, in der Logik der Präsentation eine Qualitätspraktik des Zeigens zu explizieren. Im Kontext der Qualitätsambition der Erzieherinnen, nämlich „gute Praxis“ hervorzubringen, entstehen diese Ausstellungspraxen anhand der wahrgenommenen Erwartungen der Eltern, zu sehen was im Kindergarten geschieht. Die Logik der Präsentation verändert die Wahrnehmung von Kreativität, verstanden als individuelles Merkmal von einzelnen Kindern im Horizont der gelebten Ordnungen des Kindergartengeschehens. Indem die Präsentation Vergleich und damit Abweichung erzeugt, können die Zeigepraktiken nicht nur demonstrieren, was geschieht, sondern darüber hinaus auch die Förderung von Kreativität als Leistung des Kindergartens ausweisen. Was erfahren wir Neues über pädagogische Qualität von solchen Studien? Wir erfahren, dass Qualität ein performatives Konstrukt ist, in dem Beschreibung, Bewertung und Veränderung ineinander übergehen. Anders gesagt: Wir erfahren, dass Pädagogik wenig darüber weiß, wie sie bewirkt, was sie leistet. Pädagogische Ethnografie ist ein Weg, dieses Wissen zu erweitern.
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Die Institutionalisierung des Lernens im Erwachsenenalter Jochen Kade / Wolfgang Seitter
Das Symposium beschäftigte sich mit den Institutionalisierungsformen des Lernens im Erwachsenenalter vor dem Hintergrund pluraler und entgrenzter Formen des lebenslangen Lernens sowie deren zunehmender Pädagogisierung und Integration in das Erziehungssystem. Die Analyse und Ausdeutung dieser modernisierungstheoretisch inspirierten Zeitdiagnose erfolgte unter den erziehungswissenschaftlich zentralen Aspekten Wissen, Vermittlung, Aneignung und Evaluation in vier Beiträgen, die aus – auch disziplinär - unterschiedlichen Projektszusammenhängen stammten. Alle vier Beiträge erzeugten eine rege Beteiligung und Diskussion unter den ca. 70 Anwesenden mit dem Wunsch einer Fortsetzung der Diskussion1. Im Folgenden werden wir den inhaltlichen Verlauf des Symposiums beschreiben. Dazu werden wir zunächst das Thema des Symposiums in einer modernisierungstheoretischen Skizze, die auch als Einleitung zur Veranstaltung diente, kurz entfalten (1). Anschließend werden die vier Beiträge in einer von den Autoren jeweils selbst verfassten Zusammenfassung dargestellt (2) sowie abschließend die Ergebnisse und Einsichten der Diskussion pointiert zusammengefasst (3).
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Volksbildung – Weiterbildung – lebenslanges Lernen: eine modernisierungstheoretische Skizze
Das Lernen Erwachsener beginnt nicht erst mit der Erwachsenenbildung, es wird nicht erst durch sie ermöglicht, gleichsam erfunden, sondern es ist ein universelles Phänomen, das mit der Herausbildung des modernen Erwachsenen, also der Unterscheidung von Kind und Erwachsenen in der Frühen Neuzeit, zu beobach1
Die Beiträge samt einer Diskussion der Autoren untereinander werden in Kürze unter dem Titel „Wissen, Medien, pädagogische Kommunikation und Evaluation. Beiträge zur Theorie und Empirie des Lernens im Erwachsenenalter“ (Bielefeld 2005) publiziert.
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ten ist. Die Erwachsenenbildung ist eine nur historisch spezifische Form der Institutionalisierung des Lernens, deren Entwicklung – grob phasiert – in drei durch unterschiedliche Begrifflichkeiten markierten Perioden verläuft: Ausgehend von der Volksbildung des 19. Jahrhunderts, entwickelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst die Erwachsenenbildung, bevor sich in den 1970er-Jahren das Lernen Erwachsener unter dem Namen „Weiterbildung“ – zunächst programmatisch – als eigener Bildungsbereich ausdifferenziert. Perspektivisch wird das Lernen Erwachsener damit zu einer Teilaufgabe eines gesellschaftlichen Gesamtbildungssystems (erklärt), wobei die Volkshochschule nicht nur im bildungspolitischen und im Wissenschaftsdiskurs als Paradigma, als „Normalfall“ von Erwachsenenbildung und Kern der Weiterbildung verstanden wird. Die in den frühen 1970er-Jahren äußerst engagiert und kontrovers geführte (fachwissenschaftliche) Diskussion über das Verhältnis von Erwachsenenbildung und Weiterbildung macht deutlich, dass es bei diesem Übergang nicht nur um die Auswechslung eines Namens geht, sondern weit mehr um den Beginn eines strukturellen Wandels. Der Begriff „Weiterbildung“ markiert nicht nur einen Höhepunkt in der Erfolgsgeschichte der Erwachsenenbildung, er signalisiert zugleich den Übergang zu einer neuen Institutionalisierungsform, für die – wie man heute klarer sieht – das Paradigma des lebenslangen Lernens steht. Historisch informierte Beobachter haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die im Kontext der These einer Entgrenzung der Erwachsenenbildung als neu etikettierten Formen beiläufigen, impliziten und hybriden Lernens so neu gar nicht sind. Aber auch wenn sie sich bereits in der ersten Institutionalisierungsphase des Lernens Erwachsener finden, ja, für sie geradezu kennzeichnend sind, handelt es sich gleichwohl nicht um eine Wiederkehr desselben. Denn diese entgrenzten Formen des Lernens entwickeln sich unter den Bedingungen der Expansion eines unter dem Namen „Erwachsenenbildung“ professionell und institutionell durchgeführten Lernens Erwachsener. Diese Institutionalisierungsform ist spätestens seit den 1960er-Jahren der feste Bezugspunkt aller Formen nicht-organisierten und nicht-professionell betreuten Lernens; auch wenn natürlich keine Rede davon sein kann, dass das Lernen Erwachsener von daher als Gesamtzusammenhang überblickt und gesteuert werden könnte. Was die gegenwärtige Situation lebenslangen Lernens auch charakterisiert, ist die Konturierung und Universalisierung des Pädagogischen als kulturell ausdifferenziertes eigenes Deutungs- und Handlungsmuster. Zwar ist das Pädagogische empirisch nicht überall zu finden, aber es wird in allen Handlungs- und Erlebenszusammenhängen möglich, ja, wahrscheinlich. Über pädagogisches Wissen verfügen in einer „reflexiven Moderne“ – auch als Resultat der erfolgreichen gesellschaftlichen Durchsetzung der Erwachsenenbildung – nicht nur professionelle, vielleicht sogar wissenschaftlich ausgebildete Pädagogen bzw. Er-
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wachsenenbildner. Es verfügen darüber ebenso die vielfältigen Akteure, die in Handlungszusammenhängen agieren, die sich weit jenseits aller Erreichbarkeit durch eine wie auch immer zu definierende pädagogische Profession befinden, und auch jenseits der Erreichbarkeit durch populärwissenschaftlich, insbesondere über den großen Markt methodisch-didaktischer Bücher, diffundierendes pädagogisches Wissen. Die Verfügung über pädagogisches Wissen hat sich jedoch nicht nur generell in Richtung auf das Lehren, sondern – weitgehender noch – auch in Richtung auf das Lernen hin entgrenzt. Wenn Lernen zur allgemeinen gesellschaftlichen Erwartung, vielleicht auch Zumutung an die Erwachsenen und die Bereitschaft zum Lernen Teil des Habitus wird, gewinnt das Lernen in erheblichem Maße an Reflexivität. Erwartet wird, dass gelernt wird zu lernen. Erwartet wird damit auch, dass das pädagogische Vermittlungs-, Aneignungs- und Überprüfungswissen angeeignet wird, das dafür von der Gesellschaft bereitgestellt, vorrätig gehalten wird – nicht zuletzt entwickelt und verstetigt durch den Ausbau der Erwachsenenbildung als Praxis des Lehrens/Lernens und – eng damit verbunden – als (erziehungs-)wissenschaftliche Disziplin. Die Vielfalt der Aneignungsverhältnisse, die sich unter den Bedingungen der Universalisierung pädagogischen Wissens und pädagogischer Kommunikation entwickeln, kann durch organisatorisch, professionell oder symbolisch eindeutig bezeichnete Abgrenzungen pädagogischer von nicht-pädagogischen Kontexten markiert sein. Sie kann aber auch geprägt sein von durchlässigen, uneindeutigen und fließenden Grenzen zwischen pädagogischen, kulturellen, ökonomischen, politischen, religiösen und lebensweltlichen Kommunikationszusammenhängen. Entsprechend vielfältig sind daher die Formen, in denen das Lernen Erwachsener inzwischen stattfindet. Sie liegen im Spannungsfeld von professionell-organisatorischer Gestaltung und individueller Selbststeuerung, von interaktiven und medialen Formen, von ausdifferenzierten und milieu- bzw. arbeitsintegrierten Formen, von auf Lernen spezifizierten und hybriden Mischformen. Das Modell „Weiterbildung“ setzt wegen der mit ihm verbundenen starken Wirkungserwartungen auf geschlossene Räume, feste Rollenunterscheidungen, starre Zeitstrukturen und geringe Aneignungsoptionen. Das Modell „lebenslanges Lernen“ ist demgegenüber durch abgeschwächte Ursache-Wirkungs-Ketten sowie eine Pluralität von sozialen Zugängen und individuellen Aneignungsspielräumen gekennzeichnet. Es erhöht sich daher die Ungewissheit und Unsicherheit der Wissensvermittlung und der pädagogischen Kommunikation. Kompensiert wird diese Wirkungsschwäche insbesondere durch die enorm gesteigerte Reichweite massenmedialer Vermittlungsformen. Dazu kommt noch, dass mit der Durchsetzung lebenslanges Lernens eine Sicherheit und Gewissheit versprechende Weiterentwicklung von Formen der Überprüfung, Bewertung und Zerti-
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fizierung des (angeeigneten) Wissens einhergeht, und dies auch dort, wo das Wissen dem Lehren bzw. Lernen nicht mehr eindeutig zugerechnet werden kann. Der Plan, demnächst analog zu PISA und ihren Folgestudien die Evaluation des Erwachsenenwissens europaweit durchzuführen, ist dafür ein deutlicher Beleg. Insofern ist das Modell „lebenslanges Lernen“ durch die Ungewissheit über den aneignungsbezogenen Erfolg pädagogisch strukturierter Wissensvermittlung bei gleichzeitiger Steigerung der Reichweite von (massenmedialen) Vermittlungsund (evaluativen) Überprüfungsformen gekennzeichnet.
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(Pädagogisches) Wissen, Vermittlung, Aneignung, Überprüfung, Selbstbeobachtung: Die Vorträge des Symposiums
Die Vorträge des Symposiums greifen unter den erziehungswissenschaftlich zentralen Aspekten Pädagogische Absicht, Wissen, Vermittlung, Aneignung, Überprüfung/Evaluation und Selbstbeobachtung, wie sie im DFG-Projekt „Umgang mit Wissen“ theoretisch entwickelt und empirisch untersucht worden sind (vgl. Kade/Seitter 2003; 2004) unterschiedliche Facetten dieser Entwicklung des Lernens Erwachsener in modernen Gesellschaften auf; einer Entwicklung, die eben nicht nur mit neuen pluralen und entgrenzten Formen des lebenslangen Lernens verbunden ist, sondern die auch mit einer Pädagogisierung bislang nicht pädagogisch-professionell verantworteter institutioneller, (massen-)medialer und alltäglicher Formen der Wissensvermittlung und Wissensaneignung einhergeht. Dirk Rustemeyer von der Universität Trier behandelt die Frage, wie sich das pädagogische Wissen in der Gesellschaft ausbreitet und stabilisiert. Im Mittelpunkt des Vortrags von Sigrid Nolda von der Universität Dortmund steht die massenmediale Wissensvermittlung, deren Kennzeichen und auch Verbindungslinien zur personalen Vermittlung. Harm Kuper von der Freien Universität Berlin analysiert vor dem Hintergrund differenter Wissensmodelle unterschiedliche Komplexitätsniveaus von Evaluation. Jochen Kade von der Universität Frankfurt und Wolfgang Seitter von der Universität Marburg thematisieren schließlich die Institutionalisierung des Lernens Erwachsener als ihre Pädagogisierung im Blick auf die Konzepte Wissensvermittlung und pädagogische Kommunikation sowie Pädagogisches Wissen und Selbstbeobachtung.
2.1 Transformationen pädagogischen Wissens? (Dirk Rustemeyer) Zu den Modernisierungsmerkmalen der westlichen Gesellschaften gehört die Ausdifferenzierung eines Erziehungsdispositivs, das maßgeblich an der Vertei-
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lung sozialer Lebenschancen beteiligt ist. Für die Komplexitätslagen moderner Gesellschaften wird es erforderlich, Menschen sozial zu formieren und an unwahrscheinliche Muster des Erwartens und Handelns anzuschließen. Ihnen werden Kompetenzmerkmale attribuiert, die auf individueller Leistung statt auf Herkunft gründen. Dazu dient die Installierung von Wissensdifferenzen, die in einer als „pädagogisch“ markierten Form der Kommunikation kultiviert werden. Pädagogik beschreibt die Form einer Kopplung von Menschen und Gesellschaft in der Form der Person. Personen sind kommunikativ installierte Adressen der Erwartung, denen eine prinzipielle Änderungsfähigkeit zugeschrieben und eine Änderungsbereitschaft zugemutet wird. Der Beitrag schlägt vor, pädagogische Kommunikation als eine operative Differenz zu betrachten, die kommunikativ benutzt wird, um Veränderungszumutungen an Personen sozial zu etablieren, ohne dass ein Wissen übertragen, vermittelt oder angeeignet werden müsste. Die Zumutung von Veränderung und die Unterstellung bestimmten Nichtwissens oder Nichtkönnens genügt zum Zustandekommen pädagogischer Kommunikation. Eine solche funktionale Auffassung von Wissen als einer Differenzform findet Halt in einer Transformation des Modells der Repräsentation, wie sie im Rahmen einer Philosophie der Erkenntnis und einer Soziologie des Wissens vorgenommen wird. In drei Thesen lässt sich diese Reformulierung zusammenfassen. Erstens: Ein klassisches Konzept des Wissens beruht auf der Idee der Repräsentation als einer Strukturhomologie zwischen Denken, Begriff/Medium und Sache. Dieses Konzept scheitert jedoch an einem Paradox der Ähnlichkeit. Zweitens: Ein nachklassisches Konzept des Wissens akzentuiert hingegen die Eigenlogik semiotischer Ordnungen, an denen Wissen sichtbar wird, gegenüber mentalen Prozessen einerseits und den „gewussten“ Sachen andererseits. Wissen ist demnach eine Form der Differenzierung innerhalb von Bestimmungsfeldern, die ihre Gegenstände konstituiert statt sie zu „finden“. Drittens: Pädagogik orientiert sich traditionell an einem vorklassischen Repräsentations- und Wissensmodell, das mit einer Substanzvorstellung von Wissen rechnet, das vermittelt und angeeignet werden könnte. Mit diesem Modell lässt sich jedoch die Expansion des pädagogischen Dispositivs nicht angemessen beschreiben. Dagegen ermöglicht ein nachklassisches Repräsentations- und Wissensmodell ein Konzept pädagogischer Kommunikation, das auf operative Wissens-NichtwissensDifferenzen in sozialen Feldern und ihre rekursive Stabilisierung setzt. Unter diesen Vorzeichen liegt es nahe, Pädagogik als Formierung des personalen Gegenhalts der modernen Kultur zu verstehen, der für die Reattribuierung von Weltkontingenz an Personenkontingenz sorgt. Die Expansion pädagogischer Kommunikation in der modernen Gesellschaft verläuft demnach nicht über eine Transformation pädagogischen Wissens in außerpädagogische Kontexte, sondern
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über die Erschließung beliebiger Themen und Kontexte als potentiell pädagogisch zu bewirtschaftender Felder.
2.2 Massenmediale Vermittlung von Wissen (Sigrid Nolda) Der Terminus „massenmediale Vermittlung von Wissen“ fokussiert nicht so sehr die medienuntypische explizite curriculare Wissensvermittlung über Massenmedien, sondern bezieht sich vielmehr auf die wesentlich nebenbei oder indirekt stattfindende Vermittlung von Wissen, Normen und Werten, die als Sekundärfunktion hinter primären Funktionen wie Information, Unterhaltung, Beratung, aber auch Werbung zurücktritt. Es geht dabei im wesentlichen um die Vermittlung von Wissen im Hinblick auf das Verstehen von allgemein interessierenden Informationen, um das Angebot einer auf Alltagsprobleme bezogenen Beratung sowie um die Vermittlung von Lebensmodellen in dokumentarischer oder auch fiktionaler Form. Mediale Vermittlung wird in der Regel in einen Gegensatz zur personalen Vermittlung gestellt und dabei häufig (übrigens auch in den Medien selbst) als defizitär bewertet. Demgegenüber wird davon ausgegangen, dass mediale Vermittlung nicht notwendig eine Depravation darstellt, sondern einen Zuwachs an Freiheit, aber natürlich auch an Verantwortungslosigkeit bietet. Die Spezifik der massenmedialen Wissensvermittlung mit seinem Leitmedium Fernsehen kann auf drei Dimensionen beschrieben werden. Es handelt sich um die Dimension der Erreichbarkeit und Fixierbarkeit massenmedial vermittelten Wissen, um das zeitliche Regime, dem diese Wissensvermittlung unterliegt und auf die Kompensation der für mediale Vermittlung konstitutiven Abwesenheit der Vermittelnden. Massenmediale Wissensvermittlung ist somit wesentlich durch extreme Zugänglichkeit bei weitgehender Flüchtigkeit des Präsentierten, durch den Gegensatz zwischen Aktualität und serieller Unendlichkeit sowie durch die Kommunikationsform der Parasozialität, die die Abwesenheit der Beteiligten unterläuft, und die Vorführung stellvertretender Aneignung gekennzeichnet. Massenmedien demonstrieren damit einen Umgang mit Wissen, der einerseits der Fragilität und Relativität von Wissen entspricht, andererseits aber nicht auf Sinngebung verzichtet: Die durch Vermischung und Zersplitterung relativierte, an Aktualität gebundene, für jedermann zugängliche, bestimmte Aneignungen nahelegende, dabei aber flüchtige und unverbindliche Wissensvermittlung ohne absehbares Ende stellt einen Rahmen der Normalität und der Sicherheit unter der Bedingung von Normverlust und Unsicherheit dar. Sie ist somit
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der Alltagskommunikation und der in dieser eingelagerten Wissensvermittlung vergleichbar. Der Übergang von den zentral betreuten Massenmedien zu den massenhaft genutzten, dezentral organisierten neuen Medien, bereits heute in vielen wechselseitigen Verweisen und Inanspruchnahmen sichtbar, wird die genannten Elemente der Zugänglichkeit und Flüchtigkeit, der Aktualität und Unendlichkeit sowie der Parasozialität und der stellvertretenden Aneignung steigern, die wissenslegitimierende Rahmung dagegen zurücknehmen (oder aber diese als Aufgabe den Massenmedien erhalten). Noch sind Massenmedien die Normalform, in der Wissen den Gesellschaftsmitgliedern vermittelt wird – und zwar um so mehr, je älter sie sind. Institutionelle pädagogische Interaktion als Sonderform der Wissensvermittlung an Erwachsene muss eigentlich daran interessiert sein, Genaueres über die Normalform der speziell, wenn auch nicht ausschließlich an diese Gruppe gerichteten Wissensvermittlung zu erfahren: um (inhaltlich und/oder formal) im Sinne einer Übernahme, Vertiefung, Anwendung daran anzuknüpfen, um sich als Kompensation oder als Gegenwelt davon abzuheben, um massenmedial vermitteltes Wissen inhaltlich in Frage zu stellen, um es in seinen Vermittlungsmechanismen zu analysieren oder um institutionelle explizite, also vollständige pädagogische Kommunikation als eher unwahrscheinliche Sonderform in Relation zu anderen Formen in ihrem Status, ihrer Struktur und ihrer Funktion genauer zu bestimmen.
2.3 Evaluation der Aneignung von Wissen in der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung (Harm Kuper) Wissen kommt in pädagogischer Kommunikation mit mehreren Systemreferenzen vor. Erstens besteht die Absicht der pädagogischen Kommunikation u. a. in der Vermittlung von Wissen. Wissen ist in diesem Fall an Lehrinhalte gebunden, die es auf der Seite des Lehrenden zu vermitteln und auf der Seite der Lernenden anzueignen gilt (Wissen I). Zweitens ist für die Vorbereitung, Durchführung und Reflexion pädagogischer Kommunikation Wissen erforderlich, das Handlungen leitet und Grundlage des pädagogischen Könnens ist (Wissen II). Eine dritte Referenzebene des Wissens kommt hinzu, wenn pädagogische Kommunikation evaluiert wird. Evaluation kann sich auf Wissen I und auf Wissen II beziehen. Im ersten Fall prüft Evaluation das angeeignete Wissen, sie setzt somit – ohne eine nähere Spezifikation von Kausalbeziehungen vorzunehmen – auf der Seite der Effekte pädagogischer Kommunikation an. Im zweiten Fall betrachtet die Evaluation die Aneignung von Wissen I als eine von der Gestaltung pädagogischer Kommunikation abhängige Variable. Evaluation zielt dabei auf die Effektivität
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pädagogischer Kommunikation und des pädagogischen Handlungswissens (II). Die dritte Referenzebene des Wissens (Wissen III) bezieht sich auf die Verwendung des durch Evaluation generierten Wissens in der pädagogischen Kommunikation. Für die Evaluation entstehen mit diesen drei Referenzebenen des Wissens unterschiedliche Anforderungen, die für die Erwachsenenpädagogik/Weiterbildung eine spezifische Form annehmen. Sie lassen sich beschreiben als Anforderungen der Operationalisierung auf der Ebene von Wissen I; Anforderungen des Evaluationsdesigns auf der Ebene von Wissen II und Anforderungen der Entscheidung über die Verwendung der Ergebnisse auf der Ebene von Wissen III. Die Operationalisierung von Wissen I und die Wahl von Evaluationsdesigns, die kausale Interpretationen des Verhältnisses von Vermittlungsabsicht und Aneignung in der pädagogischen Kommunikation zulassen, ruhen in stark institutionalisierten Bereichen des Bildungssystems (Schule) auf institutionellen Vorgaben auf. So lassen sich Operationalisierungen des Wissens auf der Grundlage von Curricula und Evaluationsdesigns durch Anlehnung an die zeitlichen Sequenzierungen institutionalisierter Bildungsprogramme begründen. In der vergleichsweise schwach institutionalisierten und teilweise entgrenzten Weiterbildung/Erwachsenenbildung bleiben diese Möglichkeiten weitgehend versperrt. Allgemeine Wissensbereiche, die unabhängig von individualisierenden biographischen Erfahrungskontexten Erwachsener operationalisiert werden können, dürften ebenso schwer definierbar sein, wie Effekte einer äußerst heterogenen und voraussetzungsreichen Weiterbildungspraxis isolierbar sind. Vor diesem Hintergrund kann Evaluation in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung eher einer Förderung der Institutionalisierung dienen, indem sie Weiterbildungsbedarf markiert, als dass sie selbst auf Institutionalisierung beruht. Die Verwendung von Wissen, das über Evaluation gewonnen wurde, kann nicht zur Überwindung der Unsicherheit von Entscheidungen in der pädagogischen Kommunikation führen. Aber das Wissen kann dazu beitragen, Entscheidungsunsicherheiten zu verarbeiten. Dazu ist eine Differenzierung technologischer und demokratischer Prämissen des Entscheidens hilfreich; ihr entspricht eine Unterscheidung der Evaluationsstudien, die Kausalrelationen in der pädagogischen Kommunikation thematisieren, von solchen, die Legitimität und Akzeptanz pädagogischer Praxisformen untersuchen.
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2.4 Wissensvermittlung und pädagogische Kommunikation, pädagogisches Wissen und Selbstbeobachtung. Zur Institutionalisierung des Lernens im Erwachsenenalter (Jochen Kade/Wolfgang Seitter) Untersucht man die Institutionalisierung des Lernens Erwachsener nicht auf der Ebene von Organisation – wie dies üblicherweise geschieht –, sondern auf der Ebene von Kommunikation, so wird die Unterscheidung zwischen Lernprozessen innerhalb und außerhalb von Bildungsorganisationen unterlaufen und der kommunikative Prozess der Herausbildung pädagogischer Kommunikation selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Eine derartige kommunikationsbezogene Thematisierung des Lehrens und Lernens Erwachsener interessiert sich daher nicht (primär) für die organisatorischen Ressourcen und Kontexte des Lernens. Vielmehr fokussiert sie die Frage, wie sich pädagogische (lern- und veränderungsbezogene) Kommunikation als Kommunikation entfaltet und wie sich etwa die Vermittlungsoperationen des Lehrens kommunikativ auf das Problem der Bindung bzw. Freigabe von Aneignung (Lernen) beziehen. Während die unterschiedlichen Formen der personalen und medialen Wissensvermittlung tendenziell auf die Freigabe der Aneignung setzen, ist pädagogische Kommunikation dadurch gekennzeichnet, dass sich die Vermittlungsakteure für Fragen der Aneignung interessieren. Pädagogische Kommunikation operiert aneignungsbezogen, wobei dies mit einschließt, dass die – aus der Perspektive der Wissensvermittlung – „richtige“ Aneignung auch überprüft wird. Anlässe pädagogischer Kommunikation finden sich in der Wissensvermittlung etwa dort, wo einerseits vermitteltes Wissen von den Adressaten nicht selbstverständlich als (für sie verbindliches) Wissen anerkannt wird und wo andererseits die Wissensvermittler die von ihnen implizierte Wissensbehauptung nicht nur argumentativ, sondern unter Inanspruchnahme einer „Überzeugungsmacht“ durchzusetzen versuchen, die auf einer als Wissensgefälle gedeuteten immer mitlaufenden sozialen Asymmetrie gründet. Unter dem Aspekt der Einwirkung, d. h. der Freigabe und Bindung der Aneignung vom Vermitteln her, lässt sich ein breites Spektrum von pädagogischen bzw. pädagogikbenachbarten Kommunikationsformen beschreiben. Dieses Kontinuum zwischen angebotenen Zumutungen und zugemuteten Angeboten, das an die Stelle einer qualitativen Differenz zwischen Erziehung und Bildung tritt, reicht von der aneignungsvergessenen, aneignungsfreigebenden Vermittlung von Wissen und Werten über die aneignungsfokussierte Vermittlung mit einer starken Überprüfungskomponente bis hin zur habitualisierten Selbstpädagogisierung, bei der Vermitteln und Aneignen kaum noch als eigenständige soziale Formen des Umgangs mit Wissen zu erkennen sind.
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Die Institutionalisierung des Lernens im Erwachsenenalter durch eine tendenziell globale Generierung von Wissensvermittlungsformen, von Formen pädagogischer Kommunikation und von habituell abgestützten Selbstpädagogisierungsmodi ist allerdings in hohem Maße voraussetzungsvoll. Sie hängt von sozial-räumlichen, auch organisatorischen Kontexten ab, die sie stützen; und von einem kompetenten, d. h. nicht nur routinierten, sondern immer auch lernenden Bezug auf Wissensvermittlung, pädagogische Kommunikation und Selbstpädagogisierung, d. h. von einem Komplex von Bedingungen, den die Erziehungswissenschaft unter der Überschrift „(Pädagogische) Professionalisierung“ behandelt. Dabei spielt die Verfügung über pädagogisches Wissen eine gewichtige Rolle. Es bildet die symbolisch generalisierte intersubjektiv und längerfristig gültige, insofern gewisse und sichere Grundlage für eine Bindung des Handelns individueller Akteure an pädagogische Rationalitäts- und Effektivitätskriterien. Letztlich basiert diese bindende Kraft auf dem pädagogischen Wissen als bewährtes Wissen. Diese gleichsam externe Bindung des individuellen Handelns durch den Rückgriff auf einen kulturell sedimentierten, zum Teil unmarkiert aufbewahrten Vorrat bewährten pädagogischen Wissens als Gestaltungsressource von Kommunikation stellt indes nur einen Modus dar, über den das individuelle Handeln an Kriterien pädagogischer Rationalität und Effektivität – in diesem Falle eher fest – gebunden ist. Selbstbeobachtung ist der andere Bindungsmodus. Sein Kennzeichen ist eine den Individuen weitgehend freigegebene Aneignung pädagogischer Rationalität und Effektivität. Insofern handelt es sich um einen Modus der Selbstbindung, der eine von den Individuen ausgehende, aber deren Grenzen überschreitende Professionalisierung möglich macht. Dieser Modus orientiert sich eher am Prinzip des Angebots als an dem der Zumutung. Anders als Wissens-Zumutungen, die von der Existenz pädagogischen Wissens in Reichweite von Handlungsakteuren ausgehen, erzeugt Selbstbeobachtung eher Angebote zur Irritation individueller Handlungsroutinen und damit zur Öffnung individueller Kompetenzen für Lernprozesse.
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Diskussion: Personenbezogene Veränderungszumutung als pädagogisches Dispositiv, der Voyeur als kompetenter Zuschauer massenmedialer Angebote, Evaluation als methodisch kontrolliertes Gesprächsangebot, Öffnung und Schließung pädagogischer Kommunikation
Die Diskussion auf dem Symposium war einerseits durch eher analytisch orientierte theoretische Statements bestimmt, andererseits durch Anfragen aus
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einer pädagogisch-didaktischen Perspektive, aber auch durch Beiträge mit ausgeprägtem gesellschaftskritischen Impetus. Bezogen auf den Beitrag von Rustemeyer ging es um das pädagogische Dispositiv als sozial adressierte Zumutung, um das Verhältnis von Wissen und Macht, um Konsequenzen für die Didaktik als Vermittlungswissenschaft, um die Legitimationsproblematik bei der sozialen Konstitution des Wissens. Bezogen auf den Beitrag von Nolda wurden die Standardisierungsleistungen von Massenmedien diskutiert, der durch Formen subversiver, ’wilder’ Aneignung gekennzeichnete kompetente Zuschauers ins Blickfeld gerückt und – als pädagogische Aufgabe – die Notwendigkeit angesprochen, den Umgang mit Massen- und Neuen Medien zu erlernen. Der Beitrag von Kuper stimulierte Betrachtungen, die Evaluation als Modus von Kommunikation und Selbstbeobachtung unter Effizienzkriterien fokussierten, als Generierung einer von der Sicht der Praxis abweichenden Erzählung behandelten und als CoKonstruktion von Wissen thematisierten. Am Beitrag von Kade/Seitter wurden die theorietechnischen Konsequenzen diskutiert, die ein Zugang zur pädagogischen Kommunikation aus der Perspektive von Vermittlung hat; hervorgehoben wurde das Phänomen der Unsichtbarkeit der Aneignung und der damit verbundenen Paradoxien seiner Überprüfung; erörtert wurde auch die Frage des empirischen Gehalts des Universalisierungstheorems und – grundsätzlicher noch – das Verhältnis von Theorieentwicklung und Empirie im Forschungsprozess; und schließlich wurden Fragen des Zusammenhangs von pädagogischer Kommunikation und Organisationen angesprochen.
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Fazit
Insgesamt betrachtet, machte das Symposium deutlich, dass mit dem Thema der Institutionalisierung ein Diskursfokus gewählt war, der es erlaubte, das Thema des lebenslangen Lernens aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive unter den Stichworten „Wissen“, „Kommunikation“, „Medien“ und „Evaluation“ theoretisch anspruchsvoll und empirisch gehaltvoll so zu erörtern, dass zentrale Dimensionen und Entwicklungstendenzen des Lernens Erwachsener in modernen Gesellschaften in den Blick kommen.
Literatur Kade, J./Seitter, W. (2003): Von der Wissensvermittlung zur pädagogischen Kommunikation. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6. Jg., S. 602–617.
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Kade, J./Seitter, W. (2004): Selbstbeobachtung. Professionalität lebenslangen Lernens. In: Zeitschrift für Pädagogik, 50. Jg., S. 326–341. Kuper, H. (2005): Evaluation im Erziehungssystem. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Nolda, S. (2002): Pädagogik und Medien. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Rustemeyer, D. (Hrsg.) (2005): Feld und Form. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Perspektiven der „Medienbildung“ Michael Kerres / Claudia de Witt
Lange Zeit hat sich die pädagogische Diskussion über Medien auf die Frage nach Wirkungen von Medien in der Bildung konzentriert und darauf, ob der Einsatz von Medien in Bildungskontexten überhaupt wünschenswert oder abzulehnen sei. Dabei sind in der Vergangenheit – je nach Perspektive – entweder die Chancen oder aber die Gefahren des Medieneinsatzes akzentuiert worden. Es entwickelte sich immer wieder eine oft wenig ergiebige „Pro und Contra“-Diskussion, und die Kritiker und Befürworter bildeten unterschiedliche „Lager“ mit wenig Anknüpfungspunkten. Diese Fragen stellen sich in dieser Weise kaum mehr. Die zunehmende Durchdringung von Lebenswelt mit digitalen Medien ist offensichtlich und die Relevanz dieser Entwicklung für Kultur und Bildung ist nicht zu übersehen. Wir können in der Medienpädagogik von folgenden Randbedingungen ausgehen: (1) Mit der Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit digitalen Medien entwickelt sich unsere Gesellschaft zu einer mediatisierten Wissensgesellschaft. (2) Medien haben immer schon zur Entstehung und Überlieferung von Wissen und Kultur beigetragen. Die Nutzung digitaler Medien wird zunehmend zu einer zentralen Bedingung, um Zugang zu gesellschaftlicher Kommunikation und Wissen einer Kultur zu erhalten. (3) Medien verweisen heute ganz automatisch auf lebenslanges Lernen, auf „Bildung über die Lebenszeit“, auch jenseits schulisch institutionalisierter Bildungsangebote, die vor allem die frühe Lebensspanne eines Menschen betreffen. Das Lernen mit Medien impliziert grundsätzlich die Forderung nach Selbststeuerung und einem Lernen jenseits institutionalisierter Bildungsangebote, nach informellem Lernen. Damit sind einige Rahmenbedingungen skizziert, die in den verschiedenen Beiträgen des Symposiums aufgegriffen werden. Im ersten Beitrag steht das Konzept des Wissensmanagements im Vordergrund und damit das informelle, technologiebasierte Lernen in Organisationen. Im Anschluss daran wird die aktuelle Diskussionslinie entlang der Begriffe Medienkompetenz und Medienbildung aufgegriffen und aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven betrachtet und diskutiert.
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Michael Kerres / Claudia de Witt Wissensmanagement und (informelle) Medienbildung
Ein neues Spannungsverhältnis entsteht nach Gabi Reinmann zwischen Wissensmanagement und (Medien-)Bildung. Sie zeigt auf, wie ein Bogen von der Diskussion über Wissensmanagement in der Wirtschaft zu bildungstheoretischen Fragen gespannt werden kann und welche Rolle die neuen Medien dabei spielen. Dabei geht sie anhand von vier Feststellungen vor: (1) Einzug eines ursprünglich technisch-ökonomisch bestimmten Begriffs des Wissensmanagements in pädagogisch-psychologische Kontexte, (2) Wissensmanagement als „Vehikel“ und „Übergangskonstrukt“, (3) Problem der Profilierung des Begriffs „Medienbildung“, (4) strukturgenetischer Wissensbegriff als theoretische Brücke zwischen ideologischem Gegensatz von Bildung und Management. Ad 1: Einzug des Wissensmanagements in pädagogisch-psychologische Kontexte: Nachdem sich in den Ingenieurswissenschaften technisches, in der Betriebswirtschaft ökonomisches und in der Soziologie systemisches Wissensmanagement etablierte, werde mittlerweile pädagogisch-psychologisches Wissensmanagement nicht mehr abgelehnt, sondern akzeptiert und nachgefragt. Schule, Hochschule und Weiterbildung seien zu pädagogischen Anwendungsfeldern von Wissensmanagement geworden. Ad 2: Wissensmanagement als „Vehikel“ und „Übergangskonstrukt“: Der Nutzen des Wissensmanagements in pädagogischen Kontexten liegt für Reinmann zum einen in seiner Vehikelfunktion. Denn Wissensmanagement könne (a) deutlich machen, welchen Einfluss Organisationen auf pädagogischpsychologische Prozesse haben, (b) neue Potenziale für Kooperationen mit anderen Disziplinen eröffnen und (c) pädagogisch-psychologisches Gedankengut in ökonomischen Kontexten transferieren. Zum anderen habe Wissensmanagement immer mit dem Image eines „Buzz-word“ zu kämpfen gehabt und ist eher ein hilfreiches „Übergangskonstrukt“. Denn an manchen Stellen würde der inflationäre Begriff „Wissensmanagement“ bereits schon wieder gemieden. Und auch in pädagogischen Kontexten bestünden nach anfänglicher Akzeptanz nun wieder Ängste, dass Wissensmanagement eher zur ökonomischen Effizienz statt zur Humanität tendiert. Dennoch hat er sein Ziel erreicht: Mit dem Begriff sei es gelungen, auf die wachsende Bedeutung des Wissens als Produktionsfaktor und gesellschaftlichen Impuls aufmerksam zu machen, und mit der Zeit wurde er selbstverständlicher Bestandteil des Denkens von Geschäfts- und Mitarbeiterführung. Ad 3: Problem der Profilierung der Medienbildung: „Medienbildung“ ist nach Reinmann ein Begriff, der es einerseits schwer habe, sich zu profilieren, „der es sich aber andererseits leicht macht, weil er sich kaum um Anschlussfähigkeit in ökonomischen Kontexten bemüht“. Ein Ausweg ist für Reinmann eine
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theoretische Herangehensweise an Fragen des Umgangs mit Wissen wie auch mit Medien und medial vermitteltem Wissen, um den alten ideologischen Gegensatz von Bildung und Management zu reduzieren. Sie sieht die Hürden zwischen Management und Bildung als zu groß an, als dass man von dem Konzept „Medienbildung“ eine Lösung erwarten könne. Deshalb diskutiert Reinmann lieber mit den Begriffen „Medien“, „Wissen“, „Management“ und „Bildung“, mit denen sich ein „kontrovers besetzter Raum aufspannen“ lässt. Dabei ist ihr das Begriffspaar „Wissen“ und „Bildung“ am wichtigsten, da sich damit die Lücke zwischen ökonomischen Anforderungen und pädagogischen Zielen und Wertsetzungen schließen lasse. Ad 4: Strukturgenetischer Wissensbegriff als theoretische Brücke zwischen ideologischem Gegensatz von Bildung und Management: Als theoretischer Ansatz dient Reinmann Piagets Vorstellung, dass Systeme von kognitiven Strukturen das Wissen einer Person enthalten und sich durch Interaktion mit der Umwelt bilden. Der zentrale Vorteil eines solchen „strukturgenetischen Wissensverständnisses“ (in Anlehnung an Thomas Bernhard Seiler) bestünde in seinem „hohen Integrationspotenzial“, denn auf der einen Seite beziehe es sich auf öffentliches Wissen und damit auch auf die Forderungen eines wirtschaftlich orientierten Managements und zum anderen auf personales Wissen im Sinne der Entwicklung von Wissen als eines subjektiven Vorgangs. Damit könnte Konfrontation zwischen „Management“ und „Bildung“ gemildert werden. Auch sei der strukturgenetische Wissensbegriff kompatibel mit der Idee der Bildung im Sinne der „Ausbildung von Erkenntnisstrukturen“. Diese theoretischen Überlegungen dienten nach Reinmann letztlich nicht einer akademischen Spielerei, sondern vielmehr als Grundlage für integrative Konzepte mit wissenschaftlicher Akzeptanz und praktischer Relevanz. Nicht nur die Wirtschaft sollte die Notwendigkeit von Bildung anerkennen, sondern auch die Pädagogik sollte einsehen, dass ökonomische Gegebenheiten von Menschen gemacht würden. Der Korreferent Michael Kerres bringt zwei Aspekte ein, die die Spannung von Wissensmanagement und Medienpädagogik immer wieder interessant erscheinen lassen. Dies betrifft zum einen das Verständnis der Begriffe „Wissen“ und „Wissensmanagement“. In der Diskussion über Wissensmanagement ist die Vorstellung verbreitet, dass Wissen etwas sei, das wir speichern, transportieren, übertragen, ablegen, aufrufen, usw. Aus der pädagogischen Perspektive scheint dieser Wissensbegriff technologisch verkürzt, und es wird der in der Erziehungswissenschaft bereits in den 1960er-Jahren diskutierte Ansatz der kybernetischen Pädagogik sichtbar, wonach menschliches Wissen und Denken durch Übertragung auf Technik „objektiviert“ werden könne. In der Forschung zur künstlichen Intelligenz wurde dieser Ansatz in den 1980er-Jahren intensiv, aber ohne großen Erfolg für die Pädagogik, vorangetrieben. In der Geschichte der
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Lerntechnologien zeigt sich immer wieder die – eben auch praktische – Unbrauchbarkeit einer technologischen Verkürzung des Wissensbegriffs. Deshalb favorisiert Kerres einen Begriff von Wissen als etwas, das situativ entsteht und immer in Abhängigkeit von zeitlich-räumlichen und kulturellsozialen Zusammenhängen – auch mithilfe von technischen Artefakten – kokonstruiert wird. Zum anderen sieht er mit dem Begriff des Wissensmanagements die Möglichkeit, die zunehmend wichtiger werdenden Bereiche des informellen Lernens, des selbstgesteuerten und kooperativen Lernens, vor allem in organisationalen Kontexten zu gestalten. Damit wird „Wissensmanagement“ ein Mittel, um die Gestaltung lernförderlicher Umwelten außerhalb didaktisierter Zusammenhänge in Organisationen zu thematisieren. Durch die Auseinandersetzung mit den Konzepten des Wissensmanagements können wir uns einem interessanten Gebiet für pädagogische Gestaltung zuwenden. Erziehungswissenschaft beschäftigt sich mit den Aktivitäten des Unterrichtens und Erziehens, doch in dem hier diskutierten Umfeld geht es um die Gestaltung von Umwelten, die Lernen unterstützen und Bildung ermöglichen. Dazu gehört auch die Frage, was in lernförderlichen Umwelten erreicht werden soll, und hier setzt die Bedeutung des Konzepts „Medienbildung“ ein. Auch wenn Gabi Reinmann zu Recht darauf verweist, dass mit dem Begriff „Medienbildung“ zunächst kein Erkenntnisfortschritt verbunden ist, zeigen ihre Ausführungen andererseits überzeugend, dass damit die Auseinandersetzung über Zielhorizonte möglich wird und sich an die bildungstheoretische Diskussion anschließen lässt. Gerade im Hinblick auf das Ziel der angestrebten Kommunikation in lernförderlichen Umwelten bleibt der Begriff des Wissensmanagements vage. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff von Medienbildung dagegen unterstützt die Überlegungen, was wir mit lernförderlichen Umwelten eigentlich erreichen wollen. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Medienbildung kann auch dazu beitragen, klarer herauszuarbeiten, was das Besondere an mediengestützten Prozessen von Erfahren und Lernen ist, was wir damit ermöglichen wollen und was in diesem Kontext nicht erreicht werden kann. Letztlich kommt es darauf an, dass sich die Begriffe „Wissensmanagement“ oder „Medienbildung“ im professionellen Handeln bewähren müssen, d. h. welchen Beitrag sie zur Gestaltung von lern- und entwicklungsförderlichen Umwelten sie leisten. Den Schwerpunkt auf informelle (Medien-)Bildung legt Manuela Pietraß. Als informelle Lernwelt unterscheiden sich Massenmedien wesentlich von den eher formalen, pädagogisch geleiteten Lernsituationen. Gravierender Unterschied zu einer klassischen Lernsituation sei das Fehlen pädagogischer Kriterien für die Auswahl der Inhalte und die Unterstützung des Lernprozesses. Außerdem seien informelle Lernprozesse dadurch definiert, dass sie außerhalb pädagogischer
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Institutionen stattfinden. Und eben in der Freizeit stehe der Medienkonsum, die Nutzung von medialen Unterhaltungs- und Informationsangeboten der Erwachsenen, auf Rang eins. Sie ging davon aus, dass die Nutzung der Massenmedien überwiegend in der Freizeit stattfindet und Massenmedien Bestandteil einer Lebenswelt sind, die neben dem organisierten Lernen eine Vielzahl an Lernanreizen bietet. Dabei sei der Rezipient zuerst Konsument eines Produkts und nicht ein Bildungssubjekt, sondern vielmehr eine nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisierte Zielgruppe. „Um die marktförmig organisierte Angebotsbildung, wie Medien sie bereit stellen, in einer pädagogisch vertretbaren, für das Subjekt gewinnbringenden und für die Gesellschaft konstruktiven Weise zu nützen, bedarf Erwachsenenbildung einer Orientierung durch wissenschaftliche Theoriebildung.“ Die informelle (Medien-)Bildung bei Erwachsenen wird dabei insbesondere aus einer semiotischen Perspektive analysiert und zielt auf die „Vermittlung von Medienkompetenz als die Lebensspanne übergreifende Aufgabe der Erwachsenenbildung“. Benötigt wird aus ihrer Sicht ein Begriff von Medienkompetenz, der das bildende Potenzial der Medien integrierbar werden lässt und zugleich als Zielbegriff pädagogischen Handelns Orientierungswert für die Erwachsenenbildung besitzt. Dewe und Sander haben eine dreifache Strukturierung der Medienkompetenz Erwachsener vorgenommen: Sachkompetenz im Sinne von Zugriffswissen zur Medienbedienung, Selbstkompetenz als reflexive Medienrezeption und Sozialkompetenz als Fähigkeit zur Reziprozität der Perspektiven (Perspektivenwechsel zwischen Rezipient und Medienfigur). Das Problem besteht für Pietraß aber darin, dass die Medienpädagogik so ihre Kategorien der Bestimmung durch andere Wissenschaften wie Kommunikationswissenschaft und Medienwissenschaft überlässt. Daher wählt sie einen anthropologischen Zugang zur Betrachtung des Verhältnisses von Mensch und Medien. Sie fragt danach, wodurch sich Medienerfahrung auszeichnet, um von diesem Zugang Medienbildung und Medienkompetenz zu bestimmen. Obwohl klar sei, dass keine reine Primärerfahrung existiert, weil jede menschliche Erfahrung vermittelt ist, ist für Pietraß die Unterscheidung unerlässlich. Sie lässt sich daher auf das „kritisierbare, gängige Verständnis“ von Sekundärerfahrung ein. Danach besteht bei der Sekundärerfahrung – im Gegensatz zur Primärerfahrung – kein direkter Zugang zur „Wirklichkeit“, sondern das technische Medium steht zwischen Rezipient und Wirklichkeit und macht lediglich eine „vermittelte Wirklichkeit“ erfahrbar. Demgegenüber nimmt Pietraß eine semiotische Darstellung von Sekundärerfahrung über die folgenden Bestimmungen vor: (1) Der Kommunikator stellt die Relation zwischen dem her, worauf er sich mit seiner Botschaft bezieht, die Wirklichkeit resp. den semiotischen Gegenstand, und dem, wie er diese Relation
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zeichenhaft kommuniziert. Der Medientext enthält Aussagen über den Gegenstand, steht in Referenz zur Wirklichkeit und macht diese über sich zugänglich, so dass er zugleich konstitutiv an der Medienwirklichkeit beteiligt ist. (2) Die Erfahrung von Medienwirklichkeit vollzieht sich über die Interaktion zwischen Rezipient und Medientext. (3) Die Relation zwischen Rezipient und Wirklichkeit ist nur über Zeichen zugänglich. Sie beschreibt das durch Medien veränderte und konstituierte Weltverhältnis. Daraus werden drei Dimensionen von Medienbildung formulierbar: (1) Rezeptionsanalytische Dimension bezieht sich auf die eigene Rolle beim Umgang mit Medien in Zusammenhang mit den medialen Gestaltungsformen (technische Bedienung, Textstruktur, Rezeptionskontext usw.). (2) Medienanalytische Dimension enthält gestalterische und inhaltliche Aspekte des Medientextes (inhaltliche Kriterien wie Verzerrung, Selektion; Realitätsgehalt). (3) Bildungsanalytische Dimension bestimmt, was Medienbildung ausmachen soll (z. B. kognitive, ästhetische, praktische Dimension). Alle drei Dimensionen zusammengenommen, gehen in die Analyse und Bestimmung von Medienbildung ein. Als Vorteil dieser anthropologischmedientheoretischen Sichtweise hält Pietraß fest, dass Medienkompetenz nicht mehr durch die Vorgaben der Medienpraxis funktional verfügbar sei, sondern von der Bildungstheorie her gedacht werden könne. Die Dimensionen der Medienkompetenz würden so nicht von anderen Wissenschaften und ihren Konzeptionen, wie der Kommunikationswissenschaft, bestimmt, sondern von der anthropologischen Maßgabe menschlichen Weltverhältnisses. Auf der bildungsanalytischen Dimension wird Medienbildung in konkrete Problemstellungen und deren Thematisierung in den Medien überführt, denn die kognitive, ästhetische und praktische Dimension lässt sich nur über Inhalte festmachen. Damit wird Medienbildung inhaltlich spezifizierbar, was den Vorteil hat, dass der Begriff Medienbildung seine theoretische Überhöhung verliert und Orientierungswert für die pädagogische Praxis erhält. Den Überlegungen von Manuela Pietraß stellt Thomas Hermann ein aus der Medienpsychologie stammendes Modell der Medienkompetenz von Groeben ergänzend zur Seite. Er schickte dabei die Aussage voraus, dass die Auswahl der massenmedialen Angebote und deren Verarbeitung im Sinne der daraus resultierenden Lernprozesse als selbstgesteuert bezeichnet werden müsse. Damit, so Hermann, seien die von Seiten der Anbieter beabsichtigten Wirkungen nur bedingt durch die Macher selbst steuerbar. Medien als informelle Lernwelt trügen für ihn zur Identitätsbildung bei und hätten damit für die Selbst-Sozialisation eine große Bedeutung. Von Manuela Pietraß wird der Versuch unternommen, Medienkompetenz in einen übergeordneten bildungstheoretischen Rahmen zu stellen und Mediener-
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fahrung als Sekundärerfahrung zur Begründung von Medienbildung zu verstehen. Zu diesem Zweck wird eine medienpädagogische Fragestellung, nämlich die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen primärer (sinnlich direkt erfahrbarer) und sekundärer (durch Medien vermittelte) Wirklichkeit ins Zentrum gerückt, was – so Thomas Hermann – bildungstheoretisch vertretbar scheint, wenn man (sekundäre) Medienwelten als Welt definiere, die eine Erfahrungsbasis für Bildungsprozesse darstellt. Auch wenn ihm die Unbestimmtheit dessen, was mit „primärer Wirklichkeit“ bezeichnet wird, bewusst sei, so ist er doch der Meinung, dass die Abbildungsprozesse, die neue mediale Wirklichkeiten entstehen lassen, beschrieben werden könnten und damit pädagogisch relevant seien, denn die Kenntnis von solchen Prozessen trüge seiner Meinung nach zu einer differenzierten Erfahrung von Welt bei. Er nimmt dabei – wie Pietraß – Bezug auf Christian Doelker, der neben der primären und medialen Wirklichkeit auch eine dritte, nämlich die vom Rezipienten wahrgenommene Wirklichkeit beschreibt und auf die verschiedenen Umbildungen (Reduktionen, Kompensationen, Verzerrungen usw.) hinweist, die von der einen Wirklichkeitsebene zur anderen passieren können: Das was vor der Kamera passiert, sei nicht genau das, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, und das, was ich sehe, sei nicht das gleiche, was mein Nachbar sehe, und die Rückschlüsse, die ich daraus auf die primäre Wirklichkeit ziehe, seien nicht notwendigerweise die, die von den Machern beabsichtigt seien usw. Aus der semiotischen Perspektive ist nach Hermann von einem Interaktionsprozess zwischen Rezipient, Zeichen und Gegenstand auszugehen. Denn der Mensch nimmt die Welt durch die Medien wahr und projiziert aufgrund der Sekundärerfahrung wieder etwas in diese hinein; oder die Gegenstände bzw. die Wirklichkeit wird durch die Medien abgebildet, gleichzeitig gestalten die Medien diese Wirklichkeit auch. Daran anschließen lässt sich Hermanns Vorschlag, nicht von einem interaktiven Dreieck, sondern von einem an Kommunikationsmodellen angelehnten Diagramm auszugehen, was er damit begründet, dass Pietraß bei der bildungsanalytischen Dimension die Beziehung zwischen Rezipient und Wirklichkeit als ein „durch Medien verändertes und konstituiertes Weltverhältnis“ beschreibt und daher die Medien eher als Folie zwischen den beiden Polen Rezipient und Wirklichkeit gedacht werden. Hermann weist eine gewisse Übereinstimmung des Pietraßschen semiotischen Modells mit Norbert Groebens Modell der Medienkompetenz nach. Groeben gehe auch von einem Medienwissen, von einem Medialitätsbewusstsein aus und verstehe Medienkompetenz als ein sozialisationstheoretisches Konstrukt, dem übergeordnet, quasi als oberster anthropologischer Grundwert das „gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt“ sei, wie es Bettina Hurrelmann formuliert. Was Manuela Pietraß für die Dimension der Mensch-Welt-Relation und der
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Sekundärerfahrung herausgearbeitet habe, stimme in gewisser Weise mit Groebens Entwurf einer in Teilkomponenten gegliederten Medienkompetenz überein. Hermann resümiert, dass sich von den rezeptions-, medien- und bildungsanalytischen Dimensionen des Verhältnisses zwischen Mensch und Wirklichkeit und vor dem Raster von Groebens prozessualen Teilkomponenten von Medienkompetenz eine Vielzahl von spannenden Fragestellungen formulieren und entsprechende Angebote für die Erwachsenenbildung entwickeln ließen.
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Medienkompetenz vs. Medienbildung – Lohnt sich die Kontroverse?
Auch Claudia de Witt diskutiert den Begriff der Medienbildung und stellt dabei die Bedeutung von Medienbildung und Mediendidaktik in der Wissensgesellschaft heraus. Sie machte dies zunächst daran deutlich, dass Medien und Bildung in einem zweifachen Verhältnis zueinander stehen, nämlich zum einen: Wie trägt Bildung zur Bewältigung einer Medien- und Wissensgesellschaft bei im Sinne von Bildung für Medien? Und zum anderen: Wie tragen Medien zu Bildung bei im Sinne von Medien für Bildung? Bezogen auf Medienbildung argumentiert sie bildungstheoretisch und verlangt gleichzeitig eine Revision bildungstheoretischen Denkens. Es sei zu reflektieren, was Bildung in der Wissensgesellschaft bedeute und welche Relevanz Medien für die Wissensvermittlung und Wissenskonstruktion hätten. Vorgeschlagen wurde ein methodischer Bildungsbegriff, in dem mit Bezug auf den Pragmatismus nach John Dewey Bildung als Weg, als Prozess verstanden wird. Dies begründet sie damit, dass in der Wissensgesellschaft die Frage relevant sei, wie der Einzelne zu einem für ihn bedeutsamen Wissen komme, das ihm Orientierungen für sein Leben vermittle. Er übernehme die Selektion und Verarbeitung von Informationen und die Transformation in persönlich sinnvolles Wissen. Bildung sei dann, mit Heinz Moser gesprochen, nicht mehr ein Gut, das als Tradition extern vorliege, sondern eine Aufgabe, die jeder Einzelne für sich selbst übernehmen müsse. Im Zentrum der pragmatistischen Bildungstheorie stehe die durch Kontinuitäten und Interaktionen re- und dekonstruierte Erfahrung. Kontinuität bedeute, dass Menschen durch Lernerfahrungen verändert würden und diese Veränderungen ihrerseits die Qualität der folgenden Erfahrungen beeinflussten. Damit wird ein Bildungsprozess als Entwicklungsprozess beschrieben, der nur dann Wachstum bedeute, wenn diese Entwicklung zu weiterem Wachstum führe. Mit Interaktion wird das Wechselspiel von gegenständlichen und zuständlichen Bedingungen bezeichnet, die zusammen die Situation bildeten. Das Innovative und damit der besondere Blick des Methodischen in dieser pragmatistischen Bildungstheorie ließe sich über den Begriff des Rekonstruierens erschließen: „Der
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Bildungsprozess ist eine ständige und kontinuierliche Rekonstruktion von Erfahrung, ein dauernder Neuaufbau, eine ständige Reorganisation.“ (Dewey 1993, S. 75) Der temporale Perspektivenwechsel helfe, das eigene Handeln von verschiedenen zeitlichen Perspektiven wahrzunehmen. Durch das Erkennen, wie Erfahrungen entstanden seien, könnten Implikationen für ein Handeln in der Zukunft eröffnet werden. Gegenwärtiges Handeln könne nur dann beurteilt und sein Sinn abgeschätzt werden, wenn die Vergangenheit und die Zukunft mitgedacht würden. Es gehe um ein situationsbezogenes Einschätzen von zukünftigen Konsequenzen für die eigenen Ziele. Statt Wahrheitsfindung gehe es im Sinne des Pragmatismus durch ein auf die Lebenswelt ausgerichtetes Handeln um experimentelle Erkenntnis. Es gehe um die Auseinandersetzung mit Problemen und die Erarbeitung möglicher Lösungsvorschläge, die immer hypothetischen Charakter besäßen und Teil eines fortlaufenden Prozesses der Weiterentwicklung sein sollten. Bezogen auf die Bildungsmedien argumentiert de Witt didaktisch. Neue Medien seien hinsichtlich ihrer Einbettung in didaktische Strategien (Lernprozessbezug) zu beurteilen und zu gestalten. Sie schlägt die Verbindung von drei didaktischen Konzepten in einem 3-Komponenten-Modell vor: (1) Die InhaltsKomponente stellt Materialien für den Lernenden zur Verfügung und soll die erforderlichen kognitiven und motivationalen bzw. emotionalen Prozesse anregen. (2) Die Konstruktions-Komponente unterstützt sowohl individuelle als auch kooperative Lernaktivitäten. (3) Die Kommunikations-Komponente bezieht sich auf den persönlichen Austausch zwischen Lernenden, Lehrenden oder Tutorinnen und Tutoren (vgl. Kerres/de Witt 2003). Abschließend nimmt sie die Verbindung von Medienbildung und Bildungsmedien wieder auf, und hält, indem Bildung als „Rekonstruktion von Erfahrung“ verstanden wird, fest: Medien strukturieren das Erfahrungsfeld, geben Mittel zur Rekonstruktion von Erfahrung an die Hand und setzen Rahmenbedingungen für die Reflexion von Erfahrung. Werner Sesink fragt in seinem Korreferat, ob die von Claudia de Witt angesprochene Kritik an der Bildungstheorie berechtigt ist, und stellt die Gegenthese auf, dass der klassische Bildungsbegriff immer schon prozessual gedacht sei. Er stimme insoweit zu, wie sich die Kritik auf die bildungstheoretische Didaktik und ihrer systematischen Vernachlässigung und Unterbestimmung von Methodik und Medieneinsatz beziehe (wobei Sesink darauf hinweist, dass das Klafkische Primat der Didaktik i. e .S. zur Abwehr einer Reduktion der Didaktik auf Methodik und damit auf Technik gedacht war). Des Weiteren nimmt Sesink mit Bezug auf Bildung als Rekonstruktion von Erfahrung die Metapher des Weges auf: Die Rekonstruktion von Erfahrung sei dann die Rekonstruktion des gegangenen
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Weges. Es stelle sich dann aber für ihn die Frage, ob Bildung nicht selbst als Weg, als Erfahrungsprozess, als konstitutiv für Erfahrung zu verstehen ist. Sesink fragt weiter, ob Bildung demzufolge als Methode konsequent genug gefasst sei. Denn wenn Methode vom Ursprungssinn des Wortes her als Weg verstanden würde, dann könne es nach Sesink zwei unterschiedliche Vorstellungen von Weg geben: den sichtbaren, „gebauten“ Weg (objektiv) und den unsichtbaren, „gegangenen“ Weg (subjektiv). Beide könnten zusammenfallen, müssten dies aber nicht. Weiterhin lässt sich nach Sesink unterscheiden: (a) ein Schienenmodell: Subjektiv wird dem gebauten Weg gefolgt; (b) ein Schneisenmodell: Subjektiv wird ein neuer, nie gegangener Weg gebahnt. Verbinde er diese Bilder mit dem Erfahrungsbegriff, dann beinhalte für Sesink Erfahren ein subjektiv-konstruktives Moment und zugleich die Begegnung mit etwas, das sich ihm mitteile; Rekonstruktion von Erfahrung, wäre dann nicht zuletzt die Reflexion der Vermittlung dieser beiden Momente. Und so käme man zu einem umfassenden Begriff von Methode als Weg. Die Konsequenz ist für ihn, dass der Erwerb von Methoden im Sinne von Geh-Hilfen oder GehGewohnheiten nur die Hälfte bezeichne; dazutreten müsste das Raum-Geben für ein Gehen des eigenen Weges. Daraus ergäben sich Fragen an Mediengestaltung und Medieneinsatz: Wie kann Bildung als Gehen des eigenen Weges unterstützt werden durch Geh-Hilfen (Angebote), Raum geben (Dialektik von Bedingtheit und Offenheit), Wiederspiegelung (Anlass zur Reflexion) und Beleuchtung (Repräsentation)? Die Frage, ob sich die Kontroverse über Medienkompetenz versus Medienbildung überhaupt lohnt, beantwortet Winfried Marotzki mit einem klaren Nein. Viel wichtiger erscheint ihm die Frage, wie Orientierung angesichts veränderter Weltkonstitutionen möglich sei. Auf dem Hintergrund bildungstheoretischer Überlegungen diskutiert Marotzki die Frage, „ob es in dem, was wir in diesem Sinne ‚Welt‘ nennen, in den letzten Jahren Veränderungen gegeben hat und ob diese Veränderungen als Tendenzen in der Weise zu interpretieren sind, dass es in diesem Konstitutionsverhältnis zu tiefgreifenden Veränderungen kommen wird“ (Marotzki 2004, S. 3). Für seine Ausführungen bevorzugt er ein bildungstheoretisches Strukturformat. Ihn interessiere die orientierende Struktur der Bildung und deshalb nehme er die Objektkonstitution genauer in Augenschein. Entlang der Sozialtheorie von Alfred Schütz weist er nach, dass zu der Vielzahl an sozialen Welten virtuelle hinzugekommen sind. Marotzki macht dies am Beispiel von „Quake“, einem Augmented Reality-Computerspiel, deutlich. Immer mehr verschmölzen reale und virtuelle Welten miteinander, durch die Miniaturisierung der Technologie werde der Übergang für den Menschen immer weniger sichtbar. Mit diesem Outdoor-Spiel sehe der Spieler zwar eine Mischung aus realer und virtueller
Perspektiven der „Medienbildung“
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Wirklichkeit; was aber, mit Alfred Schütz gesprochen, interessiere, sei vielmehr die Frage, in welcher Wirklichkeit der Spieler sich bewege. Marotzki kommt zu der Annahme, dass er sich in der realen Wirklichkeit bewege, dabei videospielspezifische Aufgaben löse. Allerdings sei mit einer zunehmend realistischer werdenden Darstellung von Umgebungen und Gegenständen die Konsequenz anzunehmen, dass die bewusste Trennung von realer und virtueller Welt „in die Krise geraten könnte (…) und ihre Differenz irrelevant wird“ (Marotzki 2004, S. 10). Solange der Sachverhalt bestehe, dass „wir (etwas) als fraglos gegeben annehmen und unsere Handlungen erfolgreich sind“, gelte es im Sinne von Alfred Schütz als real. „Solange unser Navigieren viabel ist, gehen wir nicht auf Distanz zu dieser natürlichen Einstellung. Erst dann, wenn Viabilität nicht mehr sichergestellt ist, wenn unser Handeln und Verhalten nicht mehr erfolgreich sind, klammern wir die Natürlichkeit dieser Welt gleichsam ein und gehen zu ihr auf Distanz: wir reflektieren über sie (…) Also erst, wenn die Alltagswelt hinsichtlich ihrer Konstitution thematisch wird, könnte es sein, dass die Differenz real – virtuell eine Rolle spielen könnte.“ (Marotzki 2004, S. 13) Für den Soziologen Schütz konstituiere nicht eine ontologische Struktur unsere Wirklichkeit, sondern der subjektive Sinn, die individuelle Haltung eines Menschen gegenüber den Ereignissen. Diesem Verständnis folgend, werde „die Veränderung der ontologischen Struktur der gesellschaftlichen Realität auf die Konstitution und Aufrechterhaltung des kulturellen Raums keinen Einfluss haben (…) Wohl aber werden die Reflexionsmuster komplexer“ (Marotzki 2004, S. 15). Und wir lebten „aufgrund der Appräsentationsstruktur von Wirklichkeit immer schon in komplexen Verweis-, Zeichen- und Symbolzusammenhängen (...), die die Wirklichkeit konstituieren. Durch neue Medien ergeben sich allenfalls Steigerungseffekte“ (Marotzki 2004, S. 16).
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Fazit und Ausblick
Die Beiträge repräsentieren ganz verschiedene theoretische Perspektiven im Hinblick auf zentrale Begriffe und Anliegen der Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz und mediatisierte Kommunikation von Wissen. Sie belegen, dass die Bandbreite medienpädagogischen Forschens in den letzten Jahren deutlich gewonnen hat. Die Vorträge und die anschließenden Diskussionen bestätigen darüber hinaus, dass Medienpädagogik einerseits eine Querschnittfunktion hat: Sie ist in der Lage, ganz unterschiedliche theoretische Stränge der erziehungswissenschaftlichen Diskussion aufzunehmen und zu integrieren. Andererseits zeigt sich, dass die Medienpädagogik der erziehungswissenschaftlichen Diskussion Kontexte
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eröffnet, die bisher am Rande des Diskurses stehen. Die Medienpädagogik (sowohl in medienerzieherischer als auch mediendidaktischer Intention) hatte sich in den letzten Jahren vor allem institutionalisierten Bildungsangeboten und damit der formellen Bildung angenommen. Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Medien für gesellschaftliche Kommunikation rücken andere Kontexte in den Mittelpunkt des Interesses: Bildung und Erziehung in informellen und organisationalen Kontexten. Diese Kontexte können als gestaltbare Umwelten aufgefasst werden, die im Hinblick auf ihre bildende und erzieherische Relevanz zu untersuchen sind. Mit einer solchen Erweiterung des Blickfeldes ist auch an weitere und andere theoretische Bezugsmodelle jenseits der Erziehungswissenschaft anzuknüpfen. So erscheint hier etwa der Bezug zu dem Konzept des Wissensmanagements von Interesse: Es handelt sich um ein Konzept, das bislang vor allem außerhalb der Erziehungswissenschaft diskutiert wird, in der es um das Lernen von Individuen, Gruppen und Organisationen mit Unterstützung von Technologien geht. Eine wesentliche Aufgabe, die sich hier für die Medienpädagogik abzeichnet, ist die Gestaltung von lern- und entwicklungsförderlichen Umwelten außerhalb von Bildungseinrichtungen – ohne didaktisierte oder erzieherisch intendierte Angebote. Denn menschliches Lernen und Entwicklung finden überall statt. Die aktuelle Diskussion über die Grenzen organisierter Schul- und Weiterbildung macht deutlich, dass in der Medienpädagogik verstärkt über die Gestaltung solcher Lernmöglichkeiten im ganzen Lebenszyklus jenseits traditioneller Lernorte, -umgebungen oder -anlässe nachzudenken sein wird.
Literatur Dewey, J. (1993): Demokratie und Erziehung. Weinheim: Beltz. Kerres, M./ de Witt, C. (2003): A didactical framework for the design of blended learning arrangements. In: Journal of Educational Media, 28. Jg., S. 101–114. Marotzki, W. (2004): Wie ist Orientierung angesichts veränderter Weltkonstitution möglich? Internet: http://www.uni-magdeburg.de/iew/.
Erwartungen in himmelblau und rosarot: Erklärung für Geschlechterdifferenzen im lebenslangen Lernen Peter H. Ludwig / Markus Dresel / Monika Finsterwald / Natalie Fischer / Martin C. Holder / Ruth Rustemeyer / Barbara Schober / Albert Ziegler
Befunde der pädagogischen Geschlechterforschung der letzten Jahre zeigen, dass Schülerinnen und Schüler teils ausgeprägte Differenzen in selbstbezogenen Kognitionen aufweisen. Auch ihre Eltern und Lehrkräfte unterscheiden in ihren zukunftsbezogenen Überzeugungen deutlich zwischen weiblichen und männlichen Lernenden. Zu solchen Erwartungskonstrukten zählen die Erfolgszuversicht hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, das allgemein-schulische und domänenspezifische Selbstvertrauen bzw. das Fähigkeitsselbstkonzept sowie das Bild von der eigenen Begabung. Mit diesen gleichzustellende erwartungsnahe bzw. -formende mentale Konzepte sind geschlechtsdifferente Stereotypen, Vorurteile und Kausalattribuierungen des Lernerfolgs sowie das Selbstwertgefühl (Ludwig 1991). Solche antizipationsbezogenen Kognitionen erweisen sich als einflussreiche Prädiktoren. Erfolgserwartungen klären Geschlechterunterschiede in der Lernmotivation, dem Fachinteresse, den Fachleistungen und den Entscheidungen hinsichtlich der Schulfach-, Studien- und Berufswahl auf. Sie sind bisweilen über Lebensphasen hinweg erstaunlich änderungsresistent. Die in der Schulzeit übernommenen geschlechtsdifferentiellen Vorstellungen und Überzeugungen signifikanter Anderer werden mit Hilfe von intrapersonalen Erfolgserwartungen biographisch konserviert. Auf diese Weise kann die erlebte Familien- und Schulsozialisation das Lernen und den Bildungserfolg Erwachsener bis in den tertiären und quartären Bildungsbereich hinein prägen. Die Beiträge des Symposiums präsentierten Theorien und neuere empirische Studien, die verdeutlichen, welche Faktoren zur Ausbildung von Erwartungs- und Selbstvertrauensunterschieden zwischen weiblichen und männlichen Lernenden beitragen und welche Auswirkungen diese Unterschiede auf Lernprozesse bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben. Im ersten Vortrag wurde ein übergreifender Theorierahmen für die Forschungslinie „Geschlecht und Erwartung“ entworfen. Die nachfolgenden drei Vorträge stellten einzelne
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Untersuchungen vor, welche spezifische Ausschnitte dieses Forschungsfelds vertiefen. Obwohl in deutschsprachigen und internationalen Arbeiten zur Geschlechterforschung beständig Überlegungen und Befunde erscheinen, schulische Geschlechterunterschiede als Erwartungseffekte zu erklären, wird in diesem Kontext eine Theoriebildung bemerkenswert selten explizit betrieben bzw. nur spärlich auf elaborierte Theorien Bezug genommen, die über Funktionen oder Wirkungen von Erwartungen aufklären. In einzelnen Untersuchungen werden meist lediglich ad hoc gebildete Wirkungsmodelle angeführt oder implizit unterstellt. Auch systematische Zusammen- und Gegenüberstellungen diverser Modelle zu Erwartungseffekten fehlen weitgehend. Der einführende Vortrag von Peter H. Ludwig „Pygmalion zwischen Venus und Mars“ (2004) betrachtete die Geschlechterdifferenzen aus dem Blickwinkel eines theoretischen Rahmens, welcher die Bedeutung der Erwartung genauer beschreibt: die „self-fulfilling prophecy“ (SFP) bzw. der „Pygmalion-Effekt“. Eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ ist eine Erwartung oder Voraussage, die das antizipierte Ereignis (hier die schulischen Leistungen) selbst hervorbringt (Ludwig 1999a, 1999b). Derartige Erwartungseffekte wurden in pädagogischen Zusammenhängen empirisch vielfach nachgewiesen, etwa als „PygmalionEffekt“ oder als Beurteilungsbias bei der Notenvergabe. Die zentrale Hypothese der geschlechterbezogenen SFP besagt, dass Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen durch entsprechende geschlechtsdifferentielle Leistungserwartungen von Lehrpersonen, Eltern und Schülern (mit)verursacht werden. Auch stereotype Annahmen dazu, wie Mädchen und Jungen, Frauen und Männer typischerweise „sind“ und sich verhalten, lösen solche SFPs aus, wenn solche allgemeinen Vorstellungen auf konkrete Individuen bezogen werden. Demnach verhalten sich Schülerinnen und Schüler entsprechend differenziert, weil Lehrpersonen und Eltern entsprechende Verhaltenserwartungen hegen, worauf empirische Befunde verweisen. Palardy zeigte beispielsweise bereits 1969 in einer relationalen Studie, dass sich die höhere Lesekompetenz von Mädchen auf die Selbsterfüllung von stereotypen Lehrer-Vorstellungen zurückführen lässt. In einer quasiexperimentellen Laborstudie von Hechtman und Rosenthal (1991) zu SFPMediatoren wurde das videografierte nonverbale Lehrverhalten von Ratern visuell nach vorgegebenen Kriterien eintaxiert, welche „blind“ gegenüber den Unterrichtsgegenständen und dem Geschlecht der Lernenden waren. Die Lehrpersonen unterstützten diejenigen Lernenden signifikant intensiver, deren Geschlecht nach traditioneller Sicht jeweils zum Unterrichtsgegenstand „passte“. Martin C. Holders kommentierender Beitrag (2004) stellt heraus, dass der Lehrperson im SFP-Ansatz eine herausragende Wirkung zugesprochen wird. Sie
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ist es, die, geleitet von Erwartungen, differenzielle Verhaltensweisen gegenüber Mädchen und Jungen zeigt, mit weitreichenden Folgen. Dem Prozess-ProduktParadigma verpflichtet, wird von unidirektionalen Wirkverhältnissen auf der Ebene der Lehrer-Schüler-Interaktionen ausgegangen. Nicht nur im Hinblick auf die Geschlechterfrage bleibt damit jedoch offen, ob Zusammenhänge zwischen Erwartungen und Leistungen aufgrund schülerbeeinflussender Vorurteile zustande kommen oder ob diagnostisch valide Urteile der Lehrpersonen die Zusammenhänge alternativ erklären können. Wird der SFP-Ansatz in ein allgemeines motivationales Modell des Leistungshandelns integriert, so wird nach Holder deutlich, dass dieses Phänomen der Erwartungseffekte einen Spezialfall darstellt, der sich dadurch auszeichnet, dass z. B. Lehrpersonen zu Erwartungen gelangen, die nicht der Leistungsfähigkeit der Lernenden entsprechen. Während negative Erwartungsauswirkungen (Golem-Effekt) weit verbreitet sind und als spontane und intendierte Effekte keiner besonderen Anstrengung bedürfen, sind hingegen multipel notwendige Bedingungen auf Lehrerseite zu erfüllen, damit intendierte positive Erwartungseffekte möglich werden (vgl. Krug 1985), etwa mangelnde diagnostische Kompetenzen, eine geringe Lageorientierung oder die Überzeugung, dass Begabung einen stabilen Personfaktor darstellt. Verschiedene notwendige Bedingungen garantieren jedoch noch keine positiven Erwartungseffekte, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht auch schülerseitig erfüllt sind, wie beispielsweise die Bedeutsamkeit und die angemessene Wahrnehmung und Interpretation des Lehrerverhaltens. Hohe interpersonale Erwartungen führen auch nicht zu positiven Effekten, wenn ungünstige Lernermerkmale (z. B. Misserfolgsorientierung) vorliegen. Umgekehrt können negative Erwartungskonzepte der Lehrpersonen beispielsweise durch Attribuierungspräferenzen seitens der Lernenden abgefedert werden. Dass geschlechtsbezogene Schulleistungsunterschiede Ludwig zufolge teilweise bis zur statistischen Bedeutungslosigkeit abgenommen haben, sieht Holder noch nicht als Grund zur Entwarnung an. Unverzichtbar erscheint ihm, von einem erweiterteren Leistungsbegriff auszugehen, der künftig auch die Veränderung der Leistungsmotivation, des Interesses und des Selbstbildes als Indikatoren für Erwartungseffekte in den Blick nimmt. Markus Dresel und Barbara Schober (2004) stellten in ihrem Beitrag „Golem und Pygmalion: Scheitert die Chancengleichheit von Mädchen in den Köpfen von Müttern und Vätern?“ Ergebnisse mehrerer eigener Studien zu geschlechtsrollenstereotypem Denken von Eltern und dessen Wirkung auf Motivation und Schulleistung ihrer Kinder im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich vor. Sie gingen von den vielfältigen Hinweisen in der Forschungsliteratur aus, wonach Erwartungen, Einstellungen und Kompetenzeinschätzungen von
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Eltern einen signifikanten Einfluss auf Motivation und Leistungshandeln ihrer Kinder ausüben. Das Modell der Leistungsmotivation von Eccles (1983) diente als theoretischer Rahmen. Zunächst berichteten die Autorinnen und Autoren über einen substanziellen Anteil von Eltern, die im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich einem so genannten „geschlechtskonservativen Denken“ unterliegen. Diese Eltern gaben an, mehr als die Hälfte der begabten Kinder in diesem Domänenbereich seien Jungen bzw. die bekannten geschlechtsspezifischen Leistungsdifferenzen in diesem Kontext seien auf Anlage- oder Begabungsunterschiede zurückzuführen, oder sie antworteten nach der Frage der Eignung von Studienfächern gemäß gängiger Geschlechtsrollenstereotype. Eltern wurden als „geschlechtskonservativ“ klassifiziert, wenn wenigstens zwei dieser drei Indikatoren vorlagen. In zwei unabhängigen Studien traf dies jeweils auf knapp die Hälfte der Eltern zu. In Abhängigkeit von diesem Konservatismus zeigte sich ein Schereneffekt: Im Vergleich zu Kindern von Eltern mit geringem Geschlechtskonservatismus (bei denen die bekannten Geschlechtsunterschiede verschwinden oder nur sehr schwach ausgeprägt sind) werden für Mädchen von Eltern mit starkem Geschlechtskonservatismus ungünstigere Werte und für die entsprechenden Jungen günstigere Werte bei Schulleistung, Persistenz, Hilflosigkeit und Fähigkeitsselbstkonzept berichtet. Während geschlechtskonservatives Denken von Eltern somit für Mädchen zum Risikofaktor für ungünstige schulische Motivationen und Leistungen wird, profitieren Jungen von Geschlechtsrollenstereotypen ihrer Eltern. Dresel und Schober sprechen von einem (negativen) Golem-Effekt bei Mädchen und einem (positiven) Pygmalion-Effekt bei Jungen. Berichtet wurden zudem Ergebnisse zu den psychologischen Übertragungsmechanismen geschlechtsgebundenen Denkens auf selbstbezogene Kognitionen der Kinder. Mit mehreren eigenen Studien der Beitragenden konnte Evidenz dafür erbracht werden, dass das Fähigkeitsselbstkonzept der Lernenden eine Schlüsselrolle spielt und ungünstige Elternkognitionen abfedern kann: Es zeigte sich, dass Attributionsstil, Aspirationen und Fähigkeitsüberzeugungen der Eltern nicht direkt mit den korrespondierenden Kinderkognitionen und weiteren Variablen des Leistungshandelns in Zusammenhang stehen (Leistung, Wahl, Persistenz, Hilflosigkeit), sondern dass dieser Zusammenhang über das Fähigkeitsselbstkonzept der Schülerinnen und Schüler vermittelt wird. Schließlich wurde aufgezeigt, dass sich die Kognitionen der Eltern von koedukativ und monoedukativ unterrichteten Mädchen unterscheiden, wobei Hinweise darauf gefunden wurden, dass – gemessen an den elterlichen Überzeugungen – Mädchen nicht unbedingt von geschlechtshomogenem Unterricht profitieren. So zeigte sich zwar, dass Eltern monoedukativ unterrichteter Mädchen etwas seltener geschlechtskonservativ denken. Andererseits schreiben diese El-
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tern ihren Mädchen aber auch weniger Fähigkeiten zu und legen weniger Wert auf gute Leistungen als Eltern von koedukativ unterrichteten Mädchen. Die von Dresel und Schober vorgestellten Befunde untersteichen nicht nur, dass Geschlechtsrollenstereotype im elterlichen Denken von pädagogischer Relevanz sind und eine kaum zu unterschätzende – für die Mädchen negative – Wirkung auf schulisches Lernen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich haben. Mit der gezeigten Mediatorfunktion des Fähigkeitsselbstkonzepts, das durch Motivationstrainings effektiv gefördert werden kann (z. B. Dresel 2004; Schober 2002), eröffnen sie auch Möglichkeiten, um gegenüber ungünstigen Elternkognitionen zu immunisieren. Ruth Rustemeyer und Natalie Fischer berichteten über eine eigene Studie zu „Erwartung und Wertschätzung im Fach Mathematik – Geschlechterdifferenzen und Zusammenhänge mit schülerperzipiertem Lehrkraftverhalten“ (2004). Diese Studie ist eng an die Theoriebildung von Eccles angelehnt: Zur Erklärung geschlechtsdifferierender Leistungen im Fach Mathematik werden in der Literatur verschiedene Modelle diskutiert, wobei das Erwartungs-Wert-Modell von Eccles et al. (1985) eine zentrale Stellung einnimmt. In dem Modell werden neben Umgebungsvariablen auch kognitive, motivationale und emotionale Variablen zur Erklärung von Kurswahlen, Leistungen und Persistenz im Fach Mathematik berücksichtigt. Die Grundannahme des Modells besagt, dass sowohl die Erwartung als auch der zugeschriebene Wert die Wahl einer bestimmten Leistungsaktivität und damit das Leistungsresultat beeinflussen. Je höher die Erwartung, einen Erfolg zu erzielen, und je höher der Wert des angestrebten Zieles ist, desto wahrscheinlicher wird das Individuum eine leistungsrelevante Aktivität zeigen. Die subjektive Wertschätzung setzt sich zusammen aus dem Interesse für Mathematik sowie der ihr zugeschriebenen Wichtigkeit und Nützlichkeit. Weiter gehen Wigfield und Eccles (2002) aufgrund empirischer Ergebnisse davon aus, dass die subjektive Wertschätzung eng mit der Lernzielorientierung (Lernen mit dem Ziel, eigene Kompetenzen zu erweitern) zusammenhängt. Erwartungen werden nach dem Modell unter anderem durch generelle Selbstschemata einer Person mitbestimmt, zu denen auch das Selbstkonzept eigener Fähigkeiten zählt. Wertschätzung und Erwartung werden aber auch durch das Verhalten der Lehrpersonen beeinflusst. Wird zum Beispiel eine Mathematiklehrperson als aufgabenorientiert wahrgenommen, d. h., versteht sie es, Interesse zu wecken und selbstbestimmtes Lernen zu fördern, sollte sich dies positiv auf die Wertschätzung der Mathematik auswirken. Verbal und nonverbal kommunizierte Einschätzungen und Überzeugungen der Lehrperson beeinflussen speziell die Erwartung der Schülerinnen und Schüler.
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Rustemeyer und Fischer (2004) befragten rund 600 Schülerinnen und Schüler der Orientierungsstufe (Ende sechste Klasse) im Fach Mathematik. Folgende Variablen wurden erfasst: Mathematikleistung (standardisierter Test und Zeugnisnote), Selbstkonzept, Hilflosigkeit, Zielorientierungen sowie der subjektive Anreiz der Mathematik. Außerdem schätzten die Schülerinnen und Schüler das Unterrichtsverhalten ihres Mathematiklehrers bzw. ihrer Mathematiklehrerin ein. Neben den Geschlechtsunterschieden wurden die Zusammenhänge zwischen den motivationsrelevanten Wert- und Erwartungsvariablen und der Mathematikleistung sowie dem schülerperzipierten Lehrkraftverhalten überprüft. Erwartungsgemäß hängen der Anreiz für Mathematik und das mathematische Selbstkonzept mit den Schulleistungen zusammen. Weiter zeigen sich signifikante Geschlechtsunterschiede. Mädchen weisen ein geringeres Selbstkonzept mathematischer Fähigkeiten und eine größere Hilflosigkeit verbunden mit geringeren Leistungen im Fach Mathematik auf als Jungen. Jungen dagegen haben höhere Werte in den Variablen Anreiz und Lernzielorientierung als Mädchen. Betrachtet man das Verhalten der Lehrperson, zeigt sich bei einer wahrgenommenen hohen Aufgabenorientierung der Lehrkraft bei den Mädchen und Jungen ein positiver Zusammenhang zum Anreiz und zur Lernzielorientierung, während sich Voreingenommenheit (eine starre Erwartungshaltung) der Lehrkraft negativ auf das Selbstkonzept der Mädchen und Jungen auswirkt und mit einer höheren Hilflosigkeit und Leistungsvermeidungsorientierung korreliert. Allerdings wirkt sich die Voreingenommenheit der Lehrkraft bei Mädchen stärker auf das mathematische Selbstkonzept und die Hilflosigkeit aus als bei Jungen. Zusammenfassend weisen somit Mädchen in den für die Mathematikleistung relevanten motivationalen und kognitiven Wert- und Erwartungsvariablen geringere Werte auf als Jungen und sie lassen sich durch die Erwartungshaltung der Lehrperson in ihrer Selbsteinschätzung eher verunsichern. Der letzte Vortrag des Symposiums von Monika Finsterwald, Albert Ziegler und Markus Dresel legte neue Befunde zur „alten Frage“ der Geschlechtsrollenstereotypisierung in Schulbüchern vor (2004). Diese seit den 1970er-Jahren diskutierte und untersuchte Problematik erhält pädagogische Relevanz durch die Annahme, dass Geschlechtsrollenerwartungen und damit persönliche Lebensvorstellungen auch durch Lehrmaterialien geprägt werden können. Erklärungsansätze für geschlechtsspezifische Interessen und Partizipationsraten heben zumeist auf Sozialisationseinflüsse ab, wobei neben dem Elternhaus der schulischen Sozialisation eine zentrale Rolle zugeschrieben wird (Ziegler 2002). In der Forschung wird fast ausschließlich auf die Lehrkraft und ihren Unterricht fokussiert. Schulmaterialien werden nur als zusätzliche Einflussgröße erwähnt. Aktuelle Arbeiten zur Geschlechterdarstellung in Schulmaterialien liegen nicht vor, nur Schulbuchanalysen aus den Jahren 1970 bis 1990 (Fischer
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2000; Lindner/Lukesch 1994), die zeigten, dass sehr viele klischeehafte Abbildungen in Schulbüchern enthalten sind. Dadurch können nicht ausreichend moderne Identifikationsmodelle gefunden werden. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurde ein verändertes öffentliches Bewusstsein im Umgang mit Rollenzuschreibung beobachtet. Auswirkungen auf den schulischen Bereich, auch hinsichtlich der Gestaltung der Schulmaterialien, sind deshalb zu erwarten. Anlass der vorgestellten Studie war es zu überprüfen, inwieweit auch heute noch traditionelle Vorstellungen geschlechtsbezogener Rollenverteilungen in Schulbuchabbildungen zum Ausdruck kommen. Den Untersuchungsgegenstand bildeten zugelassene Schulbücher der Jahrgangsstufe 1 bis 6. Finsterwald et al. (2004) wählten diesen Alterszeitraum, da hier die Entwicklung einer flexiblen Geschlechtsrollenidentität abgeschlossen wird (vgl. Trautner 2002), die durch eine starke soziale Betonung von Geschlechterdifferenzen beeinflusst wird. Es wurden ausschließlich bildliche Darstellungen fokussiert, da diesen gerade im Primarschulbereich eine tragende Rolle zukommt. Insgesamt wurden Abbildungen aus 42 Schulbüchern (Deutsch, Sachkunde, Englisch) analysiert, die zwischen 1993 und 2003 erschienen und derzeit in Hessen zugelassen sind. Zunächst wurde die Repräsentanz von weiblichen Personen untersucht. Weitere Analysekategorien waren Berufe, Handlungsfelder (z. B. Familie, Beruf, Freizeit), Handlungsaspekte (z. B. interaktiv, kompetitiv, risikofreudig, instruierend, dominant) sowie die Darstellung mit technischen Geräten (z. B. Verwendungszweck). Die Ergebnisse zeigten, dass – ebenso wie in vorangegangenen Schulbuchanalysen – Mädchen bzw. Frauen unterrepräsentiert sind (Chi-Tests; p < .01). Ein Fortschritt wird dahingehend deutlich, dass Jungen und Mädchen nur selten in Rollenstereotypen abgebildet sind, bei den Erwachsenen ist dies hingegen nicht zu beobachten. So zeigten die Inhaltsanalysen im Einklang mit traditionellen Rollenklischees, dass (1) Frauen hauptsächlich in klassischen Frauenberufen wie z. B. Lehrerin, Hausfrau, Krankenpflegerin dargestellt werden, (2) Männer häufiger in ihren Berufen abgebildet sind, Frauen dagegen häufiger im familialen Umfeld und in der Freizeit, (3) Frauen weniger in individualistischen Situationen zu finden sind, dafür vermehrt in kooperativen, (4) Männer als kompetitiver und risikofreudiger dargestellt werden sowie (5) Männer häufiger mit technischen Geräten umgehen. Zudem verwenden Frauen hauptsächlich technische Geräte des Alltags (z. B. Fernseher, Küchenmaschine), Männer benutzen diese zumeist aus beruflichen Gründen (z. B. Mikroskop, PC). Keine Unterschiede sind in den Kategorien „dominante bzw. submissive Rolle“ sowie „instruierende bzw. lernende Rolle“ zu finden. Werden ältere Schulbücher mit neueren verglichen (1993–1997 vs. 1998–2003), so können nur wenige positive Veränderungen identifiziert werden.
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Resümierend ist festzuhalten, dass in aktuellen Schulbüchern zwar ein positiver Trend bezüglich einer verminderten Darstellung von Personen in ihren Rollenstereotypen erkennbar ist. Allerdings wird dieser hauptsächlich bei Abbildungen von Kindern und Jugendlichen deutlich. Erwachsene, die als Identifikationsmodelle fungieren, werden nach wie vor häufig in geschlechtsstereotypen Situationen dargestellt.
Literatur Baumert, J./Lehmann, R./Lehrke, M./Schmitz, B./Clausen, M./Hosenfeld, I./Köller, O./Neubrand, J. (1997): TIMSS – Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Deskriptive Befunde. Opladen: Leske + Budrich. Dresel, M. (2004): Motivationsförderung im schulischen Kontext. Göttingen: Hogrefe. Dresel, M./Schober, B. (2004): Golem und Pygmalion: Scheitert die Chancengleichheit von Mädchen in den Köpfen von Müttern und Vätern? Vortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 21. – 24. März 2004, Zürich. Eccles, J. S. (1983): Expectancies, values, and academic behaviors. In: Spence, J. T. (Hrsg.): Achievement and achievement motivation. San Francisco/CA: Freeman, S. 75–146. Eccles, J./Adler, T. F./Futterman, R./Goff, S. B./Kaczala, C. M./Meece, J. L./Midgley, C. (1985): Self-perceptions, task perceptions, socializing influences, and the decision to enroll in mathematics. In: Chipman, S. F./Brush, L. R./Wilson, D. M. (Hrsg.): Women and Mathematics: Balancing the Equation. Hillsdale/NJ: Erlbaum, S. 95–121. Finsterwald, M./Ziegler, A./Dresel, M. (2004): Geschlechtsrollenstereotype in Schulbüchern: Neue Befunde zu einer alten Frage. Vortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 21.–24. März 2004, Zürich. Fischer, H. (2000): Rosa Strümpfe und kein Kakao, Geschlechtsspezifische Sozialisation in der Schule heute? Das Frauen- und Mädchenbild in bayerischen Lesebüchern. Libri Books on Demand. Hechtman, S. B./Rosenthal, R. (1991): Teacher gender and nonverbal behavior in the teaching of gender-stereotyped materials. In: Journal of Applied Social Psychology, 21. Jg., S. 446–459. Holder, M. C. (2004): Formen Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler nach ihrem Bilde? Kommentar zu einem Vortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 21. – 24. März 2004, Zürich. Krug, S. (1985): Aspekte der Lehrer-Schüler Interaktion: motivations- und attributionstheoretische Analysen zum Erwartungseffekt. Psychologisches Institut, Universität Bochum: Unveröffentliche Dissertation. Lindner, V./Lukesch, H. (Hrsg.) (1994): Geschlechtsrollenstereotype im deutschen Schulbuch. Regensburg: Roderer.
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Ludwig, P. H. (1991): Sich selbst erfüllende Prophezeiungen im Alltagsleben. Theorie und empirische Basis von Erwartungseffekten und Konsequenzen für die Pädagogik. Stuttgart: Hogrefe. Ludwig, P. H. (1999a): Ermutigung. Optimierung von Lernprozessen durch Zuversichtssteigerung. Opladen: Leske + Budrich. Ludwig, P. H. (1999b): Imagination. Sich selbst erfüllende Vorstellungen zur Förderung von Lernprozessen. Opladen: Leske + Budrich. Ludwig, P. H. (2004): Pygmalion zwischen Venus und Mars: Die Selbsterfüllung von Erwartungen als Grund für Geschlechterunterschiede in schulischen und nachschulischen Lernleistungen. Vortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 21. – 24. März 2004, Zürich. Palardy, J. M. (1969): What teachers believe – what children achieve. In: The Elementary School Journal, 69. Jg., S. 370–374. Rustemeyer, R./Fischer, N. (2004): Geschlechtsunterschiede im Unterrichtsfach Mathematik – Zusammenhänge mit dem schülerperzipierten Lehrkraftverhalten. Vortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 21. – 24. März, Zürich. Schober, B. (2002): Entwicklung und Evaluation des Münchner Motivationstrainings (MMT). Regensburg: Roderer. Trautner, H. M. (2002): Entwicklung der Geschlechtsidentität. In: Oerter, R./Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 648–674. Wigfield, A./Eccles, J. S. (2002): The development of competence beliefs, expectancies for success, and achievement values from childhood through adolescence. In Wigfield, A./Eccles, J. S. (Hrsg.): Development of achievement motivation. San Diego/CA: Academic Press, S. 91–120. Ziegler, A. (2002): Reattributionstrainings: Auf der Suche nach Geschlechtsunterschieden im MNT-Bereich. In: Wagner, H. (Hrsg.): Hoch begabte Mädchen und Frauen: Begabungsentwicklung und Geschlechtsunterschiede. Bad Honnef: Bock, S. 85–98.
Lebenslanges Lernen mit neuen Zielgruppen – Zusammenfassung der Referate zum Themenschwerpunkt „Alter“ Sandra Oppikofer / Sonja Perren / Regula Schmid / Albert Wettstein
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Das Projekt SEBA – Selbständig bleiben im Alter (Sandra Oppikofer)
1.1 Hintergrund und Fragestellung Obwohl es heute längst wissenschaftlich erwiesen ist, dass Prävention in Form von Vermittlung von Kompetenzmodulen auch bei Hochbetagten effektiv und effizient ist, fand bislang eine systematische Anwendung kaum statt. Langzeituntersuchungen bei 75- bis 93-jährigen Personen zeigten nach einem halben Jahr Gedächtnis- und Bewegungstraining während 5 Jahren eine anhaltende Steigerung der Selbständigkeit und eine Reduktion psychisch-geistiger Beschwerden. Das Projekt SEBA der Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich führte Lernmodule als Empowerment in Form regelmäßiger Bewegungs- und Gedächtnistrainings bei Mieterinnen und Mietern der Alterswohnungen durch. Die Hypothese war, dass sich die Trainings durch den multidimensionalen Ansatz nicht nur in psychophysiologischen Bereichen, sondern ebenso indirekt auf die sozialen Kontakte positiv auswirken würden. Wissenschaftlich interessant war an diesem Projekt zudem, dass mit den Mieterinnen und Mietern der Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich mehrheitlich Menschen in bescheidenen finanziellen Verhältnissen angesprochen werden konnten, welche normalerweise wenig an Bildungsangeboten im Erwachsenenbildungsbereich partizipieren. Die wissenschaftliche Evaluation des Projektes durch die Universität Zürich sollte klären, wie sich das Angebot auf die Fitness- und Gedächtnisleistungen dieser Seniorinnen und Senioren auswirkt und ob durch das Empowerment nicht nur spezifische Effekte (Erhaltung bzw. Zuwachs an Fitness- und Gedächtnisleistungen), sondern auch unspezifische in Form von Verbesserungen der All-
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tagskompetenz, der Selbständigkeit und des sozialen Netzwerkes erbringen würde.
1.2 Methode Am Projekt SEBA nahmen Bewohnende von drei Züricher Alterssiedlungen während eines Jahres an einem wöchentlichen Gedächtnis- und Bewegungstraining teil. Es wurde evaluiert, ob das Training positive Auswirkungen auf die kognitiven und physischen Leistungen der Teilnehmenden, auf ihre bereichsspezifische Selbstwirksamkeit sowie auf ihre Selbständigkeit hatte. Dazu wurden die Teilnehmenden vor Beginn und nach sieben Monaten Training anhand eines standardisierten Fragebogens mündlich befragt und getestet. Die Ergebnisse dieser Experimentalgruppe wurden mit jenen einer Kontrollgruppe verglichen (Siedlungsbewohnende ohne Training). Das Durchschnittsalter der Gesamtstichprobe (N = 107) betrug 80 Jahre. Als Basismaterial für das Gedächtnistraining wurde das Manual der Memory Klinik Entlisberg (Zürich) verwendet (vgl. Schmid/Hanhart 2000). Dieses wurde ergänzt um diverse weitere Unterlagen aus anderen kognitiven Trainingsmodulen. Die Bewegungstrainings wurden von professionellen, auf das Alter spezialisierten Fitnesstrainerinnen durchgeführt. Mit den Trainings wurden folgende Hauptziele angestrebt: Die Teilnehmenden sollten ihre körperliche Leistungsfähigkeit erhalten oder verbessern, Selbstwirksamkeit erfahren und zu individuellen Verhaltensänderungen motiviert werden.
1.3 Ergebnisse (a) Positive Trainingseffekte auf die Selbständigkeit der Kursteilnehmenden wurden anhand ihrer basalen Kompetenzen (ADL/IADL-Tätigkeiten) festgestellt. Die Werte der Experimentalgruppe verbesserten sich nach sieben Monaten leicht. Dies im Gegensatz zur Kontrollgruppe, bei der eine signifikante Abnahme stattfand (Z = –2,07, p = 0,039). Keine Veränderungen konnten sowohl in der Experimental- als auch in der Kontrollgruppe bezüglich der erweiterten Kompetenzen festgestellt werden (z. B. „Besuche machen“, „Handarbeiten“, „an Veranstaltungen teilnehmen“ u. a. m.). (b) Die Trainingsteilnehmenden schätzten ihre Selbstwirksamkeit bezüglich ihrer kognitiven Kompetenzen nach den Gedächtnistrainings durchwegs positiver ein, dies im Gegensatz zu einer negativeren Einschätzung der Kontrollgruppe. Im Gegensatz zu den objektiven Testverfahren des kognitiven Status war bei der
Lebenslanges Lernen mit neuen Zielgruppen
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subjektiven Beurteilung der Gedächtnisleistung eine signifikante Wirkung des Trainings festzustellen. (c) Physische Kompetenz: Nach 7 Monaten konnten die Trainingsteilnehmenden ihre Leistungen im Indikator „Beinkraft“ hochsignifikant verbessern. 44% der Experimentalgruppe schätzten ihre „Kraft“ nach den Trainings positiver ein. Dies jedoch im Gegensatz zur „Fitness”, welche von der Experimental- und der Kontrollgruppe zum zweiten Messzeitpunkt als negativer beurteilt wurde. Tendenziell stuften die Befragten ihre Fitness als gleich gut ein wie jene gleichaltriger Personen, während sie bei der ersten Befragung noch zum Urteil „etwas besser” geneigt hatten. Die Trainings schienen eine kritischere Auseinandersetzung und Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenzen zu evozieren. (d) Soziale Netzwerke: Ein Parameter belegte mehr neue Sozialkontakte.
1.4 Schlussfolgerung Bereits nach einer siebenmonatigen Intervention konnten im Vergleich zur Kontrollgruppe in drei Bereichen signifikante und im Alltag relevante Verbesserungen erreicht werden: (1) Körperliche Fitness und basale Kompetenzen konnten verbessert werden und dadurch auch die Selbständigkeit im Alltag. (2) Die Stimmung wurde verbessert, depressive Symptome verminderten sich bezogen auf neun subjektive Messgrößen. (3) Durch die Intervention entstanden häufiger neue Sozialkontakte. SEBA konnte bei einem Fünftel der Bewohnenden der Alterssiedlungen durchgeführt und die erwünschte Wirkung erzielt werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich bei der untersuchten Population um eine Grundgesamtheit handelt, welche nicht aus sozial besser Gestellten, sondern aus notorisch kursfernen, eher unterprivilegierten Personen bestand – also nicht aus der typisch universitären Untersuchungspopulation, wie sie zum Beispiel in der SIMA-Studie (vgl. Oswald et al. 1996, S. 2002) vorlag. Es konnte aufgezeigt werden, dass durch die Kombination von Fitness- und Gedächtnistraining ein beachtlicher Teil unterprivilegierter Bevölkerungsschichten erreicht und relevante Wirkungen bei den Teilnehmenden in Richtung der Erhaltung der Selbständigkeit erzielt wurden. Diese sehr erfolgreiche Intervention sollte deshalb in möglichst großem Umfange zu Gunsten der Altenbevölkerung weiter durchgeführt werden.
234 2
Sandra Oppikofer et al. Schulungseffekte bei Angehörigen von Patienten mit Demenz (Sonja Perren, Regula Schmid, Albert Wettstein)
2.1 Hintergrund und Fragestellung Ein großer Teil der Demenzpatientinnen und -patienten lebt zu Hause und wird von den Angehörigen – meist dem Ehepartner oder der Ehepartnerin – gepflegt. Die Betreuung von an Demenz erkrankten Menschen ist sehr anstrengend und stellt eine große Belastung dar, was bei den pflegenden Angehörigen zu gesundheitlichen Problemen führen kann. Zur Unterstützung dieser Angehörigen werden von verschiedenen Institutionen Angehörigenschulungen angeboten. Der Ansatzpunkt für diese Art von Schulung ist der moderne EmpowermentGedanke: Die betreuenden Angehörigen sollen besser befähigt werden, ihre demenzkranken Angehörigen zu pflegen. Dies soll dazu dienen, dass die Angehörigen einerseits weniger unter dem Pflegeaufwand leiden müssen und andererseits die Aufgabe länger durchführen können sowie schließlich weniger sehr teure, formelle, institutionelle Pflege beanspruchen müssen. Zur Überprüfung der Wirksamkeit solcher Angehörigenschulungen wurde vom stadtärztlichen Dienst der Stadt Zürich und der Universität Zürich ein Forschungsprojekt durchgeführt. In diesem Projekt, der NFP-45-Studie „Prospektive randomisierte kontrollierte Studie des Schulungseffektes bei Angehörigen von Demenzkranken” (Antragsteller: A. Wettstein und R. Schmid), wurde den betreuenden Angehörigen eine Schulung angeboten und die Wirkung dieser Maßnahme zur Entlastung der betreuenden Angehörigen wissenschaftlich untersucht. Ziel der Studie war es zu zeigen, dass die Angehörigenschulung bei Demenz (a) in allen Bevölkerungsschichten möglich ist, (b) auch im Schweizer Kulturkreis wirksam Heimplatzierungen verzögert, (c) Gesundheitskosten spart und (d) die Lebenszufriedenheit der Demenzkranken sowie die Lebensqualität, das Wohlbefinden und die Gesundheit der Angehörigen verbessert.
2.2 Methode Es wurden 128 an Demenz erkrankte Menschen, die zu Hause von ihren Angehörigen betreut werden, für die Studie rekrutiert. Die teilnehmenden Angehörigen waren bei der Erstbefragung durchschnittlich 70 Jahre (37 bis 90 Jahre) alt, davon waren 64% Frauen. Die Patienten waren im Durchschnitt 75-jährig (52bis 92-jährig), 43% waren Frauen. 91% der Angehörigen/Patienten-Dyaden waren Ehe- bzw. Lebenspartner.
Lebenslanges Lernen mit neuen Zielgruppen
235
Durch Losentscheid wurden 63 Paare der Kontrollgruppe zugewiesen und erhielten Instruktionen für ein wöchentliches Gedächtnistraining. Die Schulung der anderen Hälfte erfolgte an acht Abenden während zwei Stunden. Bei beiden Gruppen wurden innerhalb von drei Jahren jährlich einmal der Gesundheitszustand und die Lebensqualität der Angehörigen erhoben.
2.3 Ergebnisse Die Resultate zeigen, dass Angehörigenschulung auch in der Schweiz bei Angehörigen von Demenzkranken möglich ist. Allerdings konnten trotz breiter Kommunikation in den Medien (Zeitungen, TV, Radio), bei Ärzten und Memorykliniken in der Region sowie attraktiven Aktionen (kostenloses anonymes Gedächtnis-Screening) nicht die gewünschte Anzahl von Studienteilnehmenden rekrutiert werden. Der Vergleich der Studienteilnehmenden mit der Gesamtbevölkerung ergab, dass aus allen Bevölkerungsschichten Teilnehmende gewonnen werden konnten, wenn auch aus den unteren sozialen Schichten nur etwa halb so viele wie in der Gesamtbevölkerung aller Betagten. Die Schulung zeigte positive Effekte auf die Angehörigen, insbesondere auf der psycho-sozialen Ebene. Durch die Schulung konnten die Angehörigen ihr emotionales Wohlbefinden und ihre Lebensqualität aufrechterhalten, während sie bei den Befragten aus der Kontrollgruppe deutlich sanken. Das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die Lebenszufriedenheit der Angehörigen ist in dynamischer Weise mit den gesundheitlichen Beeinträchtigungen (kognitive Einschränkung, Abhängigkeit bei Alltagshandlungen und Verhaltensauffälligkeiten) des Patienten verknüpft. Insbesondere die bei Demenzerkrankung auftretenden Persönlichkeitsveränderungen und Verhaltensstörungen (z. B. Aggressionen, Apathie, motorische Unruhe) sind sehr belastend für die Angehörigen. Die Analysen zeigten, dass es nicht nur eine Rolle spielt, wie stark die Beeinträchtigungen aktuell sind, sondern auch wie stark sie sich in letzter Zeit verändert haben. Es hat sich außerdem gezeigt, dass die Angehörigenschulung den negativen Zusammenhang zwischen den Beeinträchtigungen des Patienten und dem Wohlbefinden der Angehörigen abschwächen konnte. Die Schulungsteilnehmenden haben zudem gelernt, sich bei der Betreuung der Patienten häufiger ablösen zu lassen. Es hat sich gezeigt, dass die Teilnehmenden der Kontrollgruppe zwei Jahre nach Studienbeginn mehr Angebote für Angehörige von Demenzpatienten nutzten als diejenigen, die an der Angehörigenschulung teilnehmen durften. Dies weist darauf hin, dass die Unterstützung der Angehörigen zum Beispiel durch Schulungen oder Angehörigengruppen für
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Sandra Oppikofer et al.
einen Teil der Betroffenen ein wirkliches Bedürfnis darstellt (vgl. Perren et al. 2004; Perren/Schmidt 2004; Wettstein et al. 2004). Im Gegensatz zu Studien aus anderen Ländern konnten wir die Wirksamkeit der Angehörigenschulung auf die Verzögerung des Heimeintritts nicht nachweisen. Zahlreiche internationale Studien haben wiederholt gezeigt, dass kulturelle Unterschiede eine große Rolle für die Belastung der Angehörigen und die Heimplatzierung spielen. Durch das gut ausgebaute Sozialversicherungssystem und Gesundheitswesen und die hohe Qualität von Pflegeheimen in der Schweiz hat ein Heimeintritt möglicherweise nicht die gleiche (negative) Bedeutung wie in anderen Ländern.
2.4 Schlussfolgerung Zusammenfassend lässt sich folgern, dass Angehörigenschulung auch in der Schweiz bei Angehörigen von Demenzkranken realisierbar ist und positive Effekte hervorbringt. Angehörigenschulungen sprechen aber nur eine Minderheit von Betroffenen an, besonders bei den sozioökonomisch Benachteiligten. Gleichzeitig erhöht eine geringe Schulbildung das Risiko für einen Heimeintritt. Das könnte darauf hindeuten, dass für diese Bevölkerungsschicht alternative Unterstützungsangebote hilfreich und notwendig sein könnten. Das Ergebnis, dass nicht nur die Belastung der Angehörigen über den Beobachtungszeitraum kontinuierlich ansteigt, sondern auch die Zufriedenheit mit der Unterstützung absinkt, zeigt die Notwendigkeit der langfristigen sozialen und emotionalen Unterstützung von Angehörigen von Patienten mit Demenz.
Literatur Oswald, W. D./Rupprecht, R./Hagen, B./Fleischmann, U. M./Lang, E./Baumann, H./ Steinwachs, K. C./Stosberg, M./Gunzelmann, T. (1996): Bedingungen der Erhaltung und Förderung von Selbständigkeit im höheren Lebens-Alter (SIMA) – Teil IV: Ergebnisse nach der einjährigen Interventionsphase. Zeitschrift für Gerontopsychologie und –psychiatrie, 9. Jg., S. 107–144. Oswald, W. D./Hagen, B./Rupprecht, R./Gunzelmann, T. (2002): Bedingungen der Erhaltung und Förderung von Selbständigkeit im höheren Lebensalter (SIMA) – Teil XVII: Zusammenfassende Darstellung der langfristigen Trainingseffekte. Zeitschrift für Gerontopsychologie und –psychiatrie, 15. Jg., S. 13–31. Perren, S./Schmid, R./Wettstein, A. (2004): Associations between caregivers’ subjective well-being and changes in dementia patients’ impairment: An intervention study. Manuscript submitted for publication.
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Perren, S./König, M. (2004): Wirkung von Angehörigenschulung auf Wohlbefinden und Gesundheit der Betroffenen. In: Wettstein, A./König, M./Schmid, R./Perren, S. (Hrsg.): Belastung und Wohlbefinden bei Angehörigen von Menschen mit Demenz. Eine Interventionsstudie (in Vorbereitung). Schmid, R./Hanhart, U. (2000): Multimodales, themenzentriertes Gedächtnistraining durch das ganze Jahr. Zürich: Memory Klinik Entlisberg. Wettstein, A./Schmid, R./König, M. (2004): Who participates in psychosocial interventions for caregivers of patients with dementia? In: Dementia and Geriatric Cognitive Disorders, 18. Jg., S. 80–86.
Differenzierung von Erziehungswerten in Sozialen Milieus1 Sylva Panyr
Dieser Beitrag befasst sich mit der Fragestellung, wie Erziehungswerte zwischen verschiedenen Sozialen Milieus differieren. Dazu werden erste Ergebnisse des Dissertationsprojekts „Elterliche Erziehungsstile in den Sozialen Milieus“ vorgestellt. Nach der Skizzierung des Milieumodells folgt die exemplarische Darstellung der Ergebnisse. Da zur Erziehung und Sozialisation in den Sozialen Milieus bislang keine Studien vorliegen, erscheint es besonders aufschlussreich, die milieuspezifischen Unterschiede zwischen Milieus der gleichen Schicht zu beleuchten; deshalb werden Milieus der Oberschicht miteinander verglichen.
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Erziehungswissenschaft – „Reformulierung“ des sozialökologischen Ansatzes
Gesellschaftliche Ausdifferenzierungs- und Segregationsprozesse haben in den letzten 20 Jahren einen Paradigmenwechsel in der Sozialforschung, so auch in der Erziehungswissenschaft und Soziologie, bewirkt: Mehrebenenanalytische Ansätze und folglich die Einbeziehung des Makrosystems erfahren wieder einen Bedeutungszuwachs, weshalb eine verstärkte interdisziplinäre Öffnung der Erziehungs- und Sozialisationsforschung erforderlich ist (vgl. Baacke 1995). Neben der Pädagogik und der Psychologie kommt hier der Soziologie eine tragende Rolle zu: Für die Erfassung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen werden geeignete Instrumente der Sozialstrukturanalyse benötigt.
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Anmerkung der Herausgeber: Der Beitrag wird hier anstelle eines Berichts über das Symposium „Wertewandel und Bildung„ abgedruckt.
240 2
Sylvia Panyr Soziale Milieus als Analyseeinheit
Sozialstrukturelle Basis meiner Untersuchung bildet das Modell der Sozialen Milieus nach SINUS. Dass die Erfassung gesellschaftlicher Gruppen immer weniger durch die traditionell orientierte Sozialstrukturanalyse gewährleistet wird, wurde vielfach konstatiert (vgl. Bertram 1976; Lukesch 1976; Engfer 1980; Hradil 1987; Tippelt 1997, 1999; Barz 2000). Aus diesem Grund wird die Forderung erhoben, die traditionelle Ungleichheitsforschung von ihrer Fixierung auf Klassen und Schichten zu lösen und nach Milieus zu differenzieren (vgl. Lüders 1997). Dies ist im Hinblick auf Wertorientierungen, hier Erziehungswerte, ein vielversprechender Ansatz. Es lassen sich mit Tippelt (1990) vier zentrale Erklärungsansätze zum Wertewandel unterscheiden: sozioökonomische Ansätze (Inglehart 1977), politikorientierte Ansätze (Klages 1984), kulturell orientierte Ansätze (Bell 1979) und Ansätze, die eine weitere Differenzierung und Pluralisierung von Werten in modernen Gesellschaften erwarten lassen (Berger et al. 1975). Die Beobachtung, dass ein gesamtgesellschaftlicher und generationsübergreifender Wertewandel stattgefunden hat, der z. B. in statistischen Erhebungen deutlich wird, widerspricht dabei nicht der These, dass aufgrund der sozialen und funktionalen Differenzierung, der geografischen und sozialen Mobilität die „Unterschiede von Wertorientierungen zwischen Subgruppen und zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen“ (Tippelt 1990, S. 233) erheblich und anwachsend sind. Wertewandel beeinflusst somit alle Milieus, wird jedoch milieuspezifisch unterschiedlich aufgenommen. Dass unsere Gesellschaft nicht, wie Beck (1986) argumentiert, „jenseits von Stand und Klasse“ steht, sondern die Schichtvariablen Bildungsabschluss, Berufsstatus und Einkommen die Bildungsbiografie und somit soziale Zukunft weiterhin determinieren, ist beispielsweise angesichts der PISA-Studie (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001) und der jüngsten Shell-Jugendstudie (vgl. Linssen et al. 2002) nicht von der Hand zu weisen. Dies wird in den SINUS-Milieus berücksichtigt. Nicht von einer Auflösung der traditionellen Schichtung wird ausgegangen, sondern von einer horizontalen Ausdifferenzierung innerhalb der Ober-, Mittel- und Unterschicht. So werden Menschen einem Milieu zugerechnet, die sich in Lebenslage, Lebensstil und Lebensführung ähnlich sind und somit Einheiten in der Gesellschaft bilden (vgl. Flaig et al. 1993)2. Die Milieuforschung wird heute selbst von Kritikern als
2
Das Modell der sozialen Milieus nach SINUS wird unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen Entwicklungen regelmäßig auf Grundlage von qualitativen und quantitativen Befragungen aktualisiert. Bereits 1999 beruhte das Modell auf über 55 000 Interviews (vgl. Barz/Tippelt 1999).
Differenzierung von Erziehungswerten in sozialen Milieus
241
Mainstream der deutschen Sozialstrukturanalyse beschrieben (vgl. z. B. Geißler 1996)3.
3
Soziale Milieus und Erziehung: ein noch unentdecktes Forschungsfeld
In zahlreichen Bereichen der Erziehungswissenschaft wurden die Vorteile des Milieumodells bereits aufgegriffen, so z. B. in der politischen Bildung und Weiterbildung (z. B. Flaig et al. 1993; Vester et al. 1997; Bremer 1999; MediaGruppe Digital 1999; Barz 2000; Ueltzhöffer 2000; Tippelt et al. 2003), der Erfassung der Milieustruktur westdeutscher Studierender (Gapski et al. 2000), der Gewaltforschung (Heitmeyer et. al. 1998)4 sowie der Entwicklung des Rechtsradikalismus (Wippermann 2001). Zur Erziehung und Sozialisation in den sozialen Milieus liegen bislang noch keine Studien vor. Somit sind derzeit keine umfassenden Aussagen über den Zusammenhang zwischen sozialer Lage, Lebensstil, Alltagsbewusstsein und Wertorientierung einerseits und Erziehungsstilen andererseits möglich. Ein erheblicher Erkenntnisgewinn kann daher von der Nutzbarmachung des Milieumodells für die Forschung zu Erziehungsstilen erwartet werden. Das Milieumodell kann im Vergleich zu alternativen Differenzierungen der elterlichen Erziehungsstile (z. B. historische Vergleiche; Ost-West und Stadt-Land-Vergleiche; Unterschiede zwischen Unter-, Mittel- und Oberschicht) weiterführende Aussagen ermöglichen, da es angemessene und feine Analysemöglichkeiten bietet.
4
Zur Definition des „Erziehungsstils“
Meiner Untersuchung liegt eine weite Definition des Erziehungsstils zugrunde. Neben Erziehungspraktiken (z. B. liebevolle Zuwendung, körperliche Bestrafung, eingeschränktes Lob), verstehe ich mit Schneewind/Ruppert (1995) Erziehungsziele und Erziehungseinstellungen (z. B. Permissivität, autoritäre Haltung, Ausdruck von Gefühlen) als Elemente des Erziehungsstils (S. 137ff.). Als zentrale Komponenten des Erziehungsstils werden zumeist zwei bis drei Tendenzen definiert. Schaefer (1961) stellt in ihrem Erziehungsstilmodell z. B. Liebe und 3
4
Die Kritik Geißlers bezieht sich auf die Ausklammerung der sozialen Lage (Einkommen, Beruf und Bildung) in den reinen Lebensweltmodellen (im SINUS-Modell wird diese, wie erwähnt, berücksichtigt) und auf die daraus resultierende Vernachlässigung der gesellschaftskritischen Ungleichheitsforschung. Hier allerdings muss angemerkt werden, dass die erfolgte Anwendung des ausdrücklich für Erwachsene konzipierten Milieumodells auf Jugendliche methodisch zumindest fragwürdig ist.
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Sylvia Panyr
Feindseligkeit sowie Autonomie und Kontrolle gegenüber (ähnlich z. B. Baumrind 1971). Zumeist werden vier elterliche Erziehungsstile, nämlich der autoritative, der autoritäre, der permissive und der zurückweisend-vernachlässigende unterschieden (vgl. Baumrind 1971; Steinberg et al. 1994). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die autoritative Erziehung als die Optimalform der Erziehung beschrieben wird. Sie zeichnet sich durch „ein warmes, unterstützendes, aber dennoch forderndes und zugleich Grenzen setzendes Elternverhalten“ (Schneewind 2001, S. 187) aus. Zentrales Element des Erziehungsstils sind die Erziehungsziele: Um erziehen zu können, müssen Erziehende über Erziehungsziele, dahinter liegende Erziehungsnormen und ein ihnen zugrunde liegendes Wertesystem verfügen, das sich in ihrem Erziehungsstil manifestiert.
5
Wandel der Erziehungswerte: Von der Anpassung zur Selbstentfaltung?
Als „stille Revolution der Erziehung“ beschreibt Schneewind (1999, S. 69) den Wandel der Erziehungsziele, der in den vergangenen Jahrzehnten gesamtgesellschaftlich und generationsübergreifend erfolgte. Der Wertewandel, der zeitgleich stattfand, wird als Wandel von einem nomozentrischen (auf gesellschaftlichen Normen basierenden) hin zu einem autozentrischen (an selbstbestimmter Lebensführung orientierten) Selbst- und Weltverständnis beschrieben (Klages/Gensicke 1994). Als solcher fand er seinen Niederschlag in den Erziehungszielen: Pflichtund Akzeptanzwerte, traditionelle Ziele wie Pünktlichkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Ordnung, Gehorsam und Unterordnung haben erheblich an Bedeutung verloren, während Selbstentfaltungswerten wie persönlicher Selbstständigkeit, Mündigkeit, Partizipation und eigener Urteilsfähigkeit heute vornehmlich zugestimmt wird (vgl. Klages 1984; Giesecke 1991; Hofer 1992; Miegel/Wahl 1994; Fritzsche 2000; Tarnai 2001). Der Wandel der Erziehungswerte bewirkt eine Veränderung des Erziehungsverhaltens und der Eltern-Kind-Beziehung. Er geht einher mit „Autoritätsverlust und emotionale[r] Intimisierung“ (Fend 2001, S. 270) der Eltern-Kind-Beziehungen, mit einer Abnahme strenger Erziehungspraktiken und körperlicher Bestrafungen (vgl. Reuband 1997). Die jüngste Allensbach-Untersuchung weist jedoch auf eine Renaissance traditioneller Erziehungsziele wie Höflichkeit und Sparsamkeit hin (vgl. IFD Allensbach 2003)5. 5
Es zeigt sich jedoch eine eingeschränkte Aussagekraft dieses Befundes, da die Zustimmung zu allen vorgelegten Erziehungszielen angewachsen ist: Jedes der 18 vorgelegten Erziehungsziele erfährt heute mehr Zustimmung, als dies noch 1992 der Fall war: Höflichkeit und gutes Benehmen; die Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun; Andersdenkende achten, tolerant sein; sich durchsetzen, sich nicht so leicht unterkriegen lassen; sparsam mit Geld umgehen; Wis-
Differenzierung von Erziehungswerten in sozialen Milieus
243
Ein ähnlicher Trend zeigt sich in öffentlichen Diskussionen oder jüngeren Erziehungsratgebern; ein Beispiel wäre Albert Wunschs „Abschied von der Spaßpädagogik: für einen Kurswechsel in der Erziehung“ (2003). Leistungsorientierung, Umgangsformen, Ehrgeiz und Disziplin scheinen wieder wichtiger zu werden. In der wissenschaftlichen Erziehungsforschung wird dieser „neue“ Wertewandeltrend noch kaum thematisiert.
6
Die Untersuchung „Elterliche Erziehungsstile in den Sozialen Milieus“: Forschungsinteresse und Grundannahmen
Es sollen milieuspezifische Erziehungserfahrungen und Erziehungsstile erfasst und differenziert werden. Dabei werden milieuspezifische Ressourcen und Risikofaktoren im Hinblick auf die Erreichung individueller und gesellschaftlicher Entwicklungsziele aufgezeigt und Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis herausgearbeitet. Die leitenden Fragestellungen der Untersuchung lauten: (1) Welche Erziehungserfahrungen haben Angehörige unterschiedlicher Sozialer Milieus im eigenen Elternhaus gemacht? (2) Welche eigenen milieuspezifischen Erziehungsstile weisen die Eltern auf? (3) Welche milieuspezifischen Ressourcen und Risiken lassen sich erkennen, und wie kann auf diese eingegangen werden? Aus empirischen Forschungsergebnissen werden, wie im Folgenden am Beispiel der Untersuchung „Familien gestern und heute: ein Generationenvergleich über 16 Jahre“ (1976–1992) (vgl. Schneewind/Ruppert 1995, S. 137ff.) aufgezeigt wird, folgende Grundannahmen abgeleitet: 1. 2.
6
Es besteht die Möglichkeit der rückblickenden Erfassung des elterlichen Erziehungsstils. Es besteht die Option der Erfassung des elterlichen Erziehungsstils über die gegenwärtig erlebten Eltern-Kind-Beziehungen junger Erwachsener6. sensdurst, den Wunsch seinen Horizont ständig zu erweitern; Menschenkenntnis, sich die richtigen Freunde und Freundinnen aussuchen; gesunde Lebensweise; technisches Verständnis, mit der modernen Technik umgehen können; Freude an Büchern haben, gern lesen; sich in eine Ordnung einfügen, sich anpassen; Interesse für Politik, Verständnis für politische Zusammenhänge; bescheiden und zurückhaltend sein; festen Glauben, feste religiöse Bindung; an Kunst Gefallen finden (vgl. IFD Allensbach 2003). „Die aktuelle Eltern-Kind-Beziehung läßt sich in einem beachtlichen Ausmaß aufgrund des 16 Jahre zuvor erfassten elterlichen Erziehungsstils vorhersagen (...) besonders eng ist der Zusammenhang zwischen der aktuellen Eltern-Kind-Beziehung und dem seitens der Kinder rückschauend eingeschätzten Erziehungsstil.“ (Schneewind/Ruppert 1995, S. 193; Hervorhebungen im Original)
244 3. 4.
5.
7
Sylvia Panyr Der elterliche (hypothetisch: milieuspezifische) Erziehungsstil ist für eigenen Erziehungsstile der jungen Erwachsenen von Bedeutung7. Dies trifft ebenfalls auf den gesamtgesellschaftlichen, allerdings (hypothetisch: milieuspezifisch) unterschiedlich aufgenommenen und umgesetzten Wertewandel zu8. Intrafamiliäre (bzw., was aufzuzeigen sein wird, milieuspezifische) Unterschiede weisen eine hohe Konstanz auf9.
Zielsetzung der Untersuchung
Die geplante Arbeit soll einen Beitrag zur erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Erziehungsforschung leisten. Da Familien-, Erziehungs- und Sozialisationsforschung Bereiche darstellen, die eine interdisziplinäre Öffnung und Einbeziehung verschiedener Ebenen erforderlich machen, lässt die Untersuchung den Gewinn von relevanten und differenzierten Erkenntnissen über die sich wandelnden Erziehungsstile und deren milieuspezifische Ausprägung erwarten. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der sozialpädagogischen Umsetzung der Erkenntnisse, die eine bessere Erreichbarkeit der einzelnen Milieus (z. B. durch zielgruppenorientierte Erziehungshilfe, Erziehungsberatung und Wissensvermittlung über Erziehung) gewährleisten könnte. Durch die Verbindung von Milieu- und Erziehungsstilforschung ergibt sich die Option, auf milieuspezifische Problemlagen und Ressourcen gezielt, an den Bedürfnissen Angehöriger einzelner Milieus orientiert, eingehen zu können.
8
Methodische Herangehensweise und Forschungsdesign
Die Erhebung fand mittels qualitativer, problemzentrierter Interviews statt. Die Wahl dieser Erhebungsmethode bot sich aufgrund des explorativen, hypothesen7
8
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Es besteht ein Zusammenhang zwischen erfahrenem und eigenem Erziehungsstil. Zusammenfassend kommt der „Generationenvergleich über 16 Jahre“ zu dem Ergebnis, dass sich trotz der markanten Änderung der Erziehungsstile „das elterliche Erziehungsverhalten von einer Generation auf die andere überträgt“ (Schneewind/Ruppert 1995, S. 163; Hervorhebungen im Original). Die jungen Erwachsenen der Kindgeneration verfolgen ein „weniger normorientiertes und zugleich partnerschaftlicheres sowie emotional offeneres Erziehungskonzept“ als ihre Eltern (Schneewind/Ruppert 1995, S. 162). Zwischen den untersuchten Eltern und Familien vorgefundene Unterschiede bleiben aber bestehen, d. h. Eltern, die 1976 einen vergleichsweise strengen Erziehungsstil zeigten, waren auch 1992 vergleichsweise streng, obwohl ihr Erziehungsstil im Zuge des Wertewandels liberaler wurde (vgl. Schneewind/Ruppert 1995).
Differenzierung von Erziehungswerten in sozialen Milieus
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generierenden Charakters der Untersuchung an. Die Einordnung der Befragten in die sozialen Milieus erfolgte, in Anlehnung an die Vorgehensweise in der Freiburger Studie „Weiterbildung und soziale Milieus“ (Barz 2000), aufgrund eines sog. Lebensweltteils im Interview und einer darauf beruhenden, kommunikativ validierten Milieudiagnose10. Es wurden 45 etwa zweistündige Interviews mit Eltern in der frühen Familienphase durchgeführt (im Familienzyklusmodell nach Duvall [1985] Phasen 2/3)11. Des Weiteren werden in Einzelaspekten 160 problemzentrierte Interviews aus der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Untersuchung „Soziale und regionale Differenzierung von Weiterbildungsinteressen und -verhalten“ in die Auswertung einbezogen. Diese wurde von 2001 bis 2003 an der LMU München unter Leitung von R. Tippelt und H. Barz durchgeführt12.
9
Darstellung erster Ergebnisse
Im Folgenden werden exemplarisch Ergebnisse aus drei Milieus der Oberschicht vorgestellt. Dabei wird die Beurteilung von Erziehungszielen und das Persönlichkeitsverständnis13 der Milieuangehörigen aus ihrer heutigen Einstellung heraus in den Blick genommen. Wie beschrieben, basieren alle Ergebnisse auf qualitativen Erhebungen, erheben also keinen Anspruch auf Repräsentativität. Da sich erst nach vergleichender Auswertung elterlicher Erziehungsstile in allen 10
11
12 13
Um zu einer methodisch fundierten Einordnung zu kommen, wurde diese von mindestens zwei mit der Milieuforschung vertrauten Personen unabhängig voneinander vorgenommen; war die Einschätzung unterschiedlich, wurde eine weitere Person herangezogen und die Zuordnung diskutiert. Hierbei werden die Erkenntnisse des Familienzyklus-Modells nach Duvall (1985) berücksichtigt, das von der Entwicklung unterschiedlicher Lebensstile und -einstellungen in den acht Familienphasen ausgeht: (1) Aufbauphase (Paare ohne Kinder); (2) Expansionsphase (1. Kind jünger als 2,5 Jahre); (3) Phase mit Vorschulkindern unter 6 Jahren; (4) Phase mit Schulkindern; (5) Adoleszenzphase (Familie mit Jugendlichen zwischen 13 und 20 Jahren); (6) Schrumpfungsphase (Auszug des 1. Kindes); (7) Familie in mittleren Jahren; (8) Altersphase (ab Rückzug aus dem Erwerbsleben). Die Verfasserin war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an Durchführung, Aufbereitung und Auswertung der Interviews beteiligt. Oberster Wert jeder Erziehung ist die Persönlichkeitsbildung (vgl. z. B. Brezinka 1995; Schröder 1999). Diese beinhaltet wiederum verschiedene Einzelziele, die von Persönlichkeitsidealen der Erziehenden abhängig sind: „Was durch Erziehung bezweckt wird, hängt von den Persönlichkeitsidealen ab, die in einer Gesellschaft und ihren Untergruppen gelten“ (Brezinka 1995, S. 169). Um die milieuspezifischen Persönlichkeitsideale zu erfassen, wurden die Milieuangehörigen neben ihren Erziehungszielen und -praktiken nach ihrem Persönlichkeitsverständnis befragt. Die Ergebnisse zum Persönlichkeitsideal basieren auf der Untersuchung „soziale und regionale Differenzierung von Weiterbildungsinteressen und -verhalten“.
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Sylvia Panyr
Sozialen Milieus ein umfassendes und differenziertes Gesamtbild erwarten lässt, sind die dargestellten Milieuspezifika in den Erziehungswerten als vorläufige Ergebnisse zu verstehen.
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Persönlichkeitsideale und Erziehungsziele im Konservativen Milieu: Selbstdisziplin, Hilfsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, religiöse Bindung und humanistische Bildung
Zur Persönlichkeit gehören nach Ansicht der Konservativen, „dass man urteilsfähig ist, dass man mit Menschen umgehen kann, dass man einen weltanschaulichen Standpunkt14 hat“ (KON m 6915). Dementsprechend erfährt zum einen das Erziehungsziel „fester Glaube, feste religiöse Bindung“ eine hohe Zustimmung; damit verbindet man die feste Bindung an die Institution Kirche, die sich im sonntäglichen Gottesdienstbesuch äußern kann: „Und wir nehmen ihn [den 2jährigen Sohn] mit, zwischen uns, und verlangen von ihm, dass er nicht rumschreit und nicht auf der Kirchenbank rumkrabbelt. Und da sind wir ziemlich streng. Wir versuchen ihn schon mal abzulenken, geben ihm ein Bonbon oder reden mit ihm, was man vorne sieht, man kann ihm das erklären. Aber wir verlangen das von ihm, wir sagen ihm auch vorher, dass wir in die Kirche gehen und was man in der Kirche macht, was man in der Kirche nicht macht (...) Weil, wir wollen nicht immer in den Kindergottesdienst gehen. Und dann denken wir uns oft, hoffentlich geht der Schuss nicht nach hinten los, dass es dann mal heißt, meine Eltern haben mich in die Kirche gezwungen.“ (KON m 37) Bildung gilt als eine weitere zentrale Komponente der Persönlichkeit. Entsprechend dem humanistischen Bildungsideal der Konservativen werden die Erziehungsziele „Freude an Büchern haben, gern lesen“, „Wissensdurst, den Wunsch, seinen Horizont ständig zu erweitern“ und „an Kunst Gefallen finden“ als sehr wichtig erachtet. Die Vorstellung, dass das Kind später kein Gymnasium besuchen werde, liegt fern: „Von unserem eigenen Milieu her und der eigenen Erfahrung kann ich es mir gar nicht so richtig vorstellen, wie dann der Lebensweg aussehen könnte, wenn er an der Realschule ist.“ (KON w 40) Die sozialen Werte einer Persönlichkeit werden in die christlich geprägten Erziehungsziele „Nächstenliebe“ (KON w 31), „Familienorientierung“ (KON m
14 15
Hier: christlichen. In den hier und im Folgenden angegebenen verkürzten systematischen Fallnummern steht KON für „Konservative“, PMA für „Postmaterielle“, ETB für „Etablierte“, PER für „Moderne Performer“ m für männlich, w für weiblich; die Zahl steht für das Lebensalter.
Differenzierung von Erziehungswerten in sozialen Milieus
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26) und „Hilfsbereitschaft“ (KON w 40) zusammengefasst16. Mit diesen Zielen geht die milieutypische Befürwortung eines bescheidenen und zurückhaltenden Verhaltens einher, das z. B. im Milieu der Modernen Performer abgelehnt wird. Es gilt als wichtig, anpassungsbereit zu sein: „Ich habe immer so im Hinterkopf, die Kinder in der Schule, wenn die sich nicht anpassen, dann kannst du es vergessen als Lehrer (...) Das ist ja lange Jahre von den Eltern so hoch gehandelt worden, das Durchsetzungsvermögen, und das sehe ich auch in der Klasse, wenn du dann nur noch Leute hast, die sich durchsetzen wollen, das ist eine Katastrophe. Auch immer Stehvermögen haben, aber auch Regeln anerkennen.“ (KON w 40) Das Erziehungsziel „Andersdenkende achten, tolerant sein“ wird im Sinne der Entwicklung von Empathiefähigkeit befürwortet, dabei wird jedoch betont, das Kind müsse erst „selber einen Standpunkt haben, um dann überhaupt tolerant zu sein. Man muss sich erst mal über die eigenen Gedanken klar werden“ (KON w 40). Eine Persönlichkeit verfügt nach Ansicht der befragten Konservativen über gute Umgangsformen und ein gepflegtes Auftreten. Das Erziehungsziel „Höflichkeit und gutes Benehmen“ wird folglich schon frühzeitig verfolgt: „Ja, so ‚bitte’, ‚danke’, Hand geben, jemanden anschauen, da sind wir schon hinterher“ (KON w 40); auch das Erziehungsziel „die Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun“ erfährt, im Unterschied zur Bewertung im postmateriellen Milieu, bei den Konservativen vorbehaltlose Zustimmung.
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Persönlichkeitsideale und Erziehungsziele im postmateriellen Milieu: Selbstverwirklichung, Spiritualität, prosoziales Verhalten, Kritikfähigkeit und Selbstreflexion
Im Milieu der Postmateriellen kommt der Entwicklung von sozialen Werten und Fähigkeiten („Soft-Skills“, PMA m 32) eine zentrale Bedeutung zu: Besondere Betonung erfahren die Erziehungsziele „Soziale Mitverantwortung“ (PMA w 31a)17 und „Andersdenkende achten, tolerant sein“. Im Sinne des Prinzips „geh gut mit deinen Mitmenschen um, wie du willst, dass auch mit dir umgegangen wird“ (PMA m 23) wird auf die Entwicklung von „Eigenverantwortung“ (PMA w 28), „auf sich zu achten“ (PMA w 28) und Selbständigkeit besonderer Wert gelegt18. Die Rücksicht auf das soziale Umfeld bildet ein wichtiges Persönlich16
17 18
Als „Joker“ benannt: Neben den 18 vorgelegten Erziehungszielen besteht für die Gesprächspartner und -partnerinnen die Möglichkeit, einen „Joker“ zu wählen, um ein Erziehungsziel zu benennen, was ihnen darüber hinaus besonders wichtig erscheint. Als „Joker“ definiert. Als „Joker“ definierte Erziehungsziele.
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keitsideal: Das Erziehungsziel „sich durchsetzen können, sich nicht unterkriegen lassen“ wird folglich mehrfach mit „Ellenbogengesellschaft“ assoziiert (z. B. PMA m 29, PMA w 31b). Gerade aus dieser gesellschaftskritischen Perspektive heraus gilt es jedoch als eines der wichtigsten Erziehungsziele und wird als notwendige Fähigkeit erachtet, um zu reüssieren: „Aber man muss sich auch durchsetzen, gegenüber seinen Mitschülern z. B. dieses typische, was in der Gesellschaft heute auch so wichtig ist, dieses Raffinierte. Auf der einen Seite eben sich anpassen, wo es nötig ist, wo es gut ist, auf der anderen Seite sich durchsetzen, sich nicht unterkriegen lassen, wo es wichtig ist und wo man dann weiterkommt.“ (PMA w 31b) Zurückhaltung beim Vertreten eigener Standpunkte wird abgelehnt, „weil, sonst werden unsere Kinder so kleine Schafe, die überall mitlaufen und die sich nie wehren“ (PMA w 31a). Als wichtiges Bildungsziel gilt somit auch die Entwicklung eigener Kritikund Urteilsfähigkeit, die schon im Elternhaus der Befragten gefördert und der Anpassung als Erziehungsziel entgegengestellt wurde: „Meine Mutter wollte mich zur Kritikfähigkeit erziehen (…) sie hat die Meinung vertreten: ‚Wenn du einen Verweis kriegst, weil du deine Meinung sagst, dann hängen wir ihn auf und rahmen ihn ein.‘“ (PMA w 25a) Bildung und Selbstreflexion gelten als zentrale Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung, denn „Persönlichkeit reift durch Bildung“ (PMA m 34). Der Bildungsbegriff der Postmateriellen basiert auf Reflexion, „dass ich über meine Persönlichkeit Bescheid weiß, dass ich mir explizit Gedanken gemacht habe über meine Persönlichkeit, wie ich das eine oder andere vielleicht auch ändern kann“ (PMA w 28) und Allgemeinwissen: „Musisch, literarisch, auch dass sie einen gewissen Sinn für Kunst kriegen.“ (PMA w 31b) Ähnlich, wie in anderen Oberschichtmilieus berichtet wird, war die eigene gymnasiale Schulkarriere fast selbstverständlich: „Ich denke, es war schon vorherbestimmt, als ich geboren wurde, dass ich auf das Gymnasium komme, das schon.“ (PMA m 23) Das postmaterielle Milieu ist dabei das einzige Oberschichtmilieu, in dem nicht über Leistungs- und Lerndruck berichtet wird. Selbstverwirklichung und Authentizität bilden zentrale Persönlichkeitsideale im Postmateriellen Milieu. Gegenüber der Selbstdarstellung als Erziehungsziel grenzen die Postmateriellen sich, anders als die Modernen Performer, scharf ab: nicht die „Persönlichkeit, die nach außen hin sichtbar ist, (…) eine Vertriebspersönlichkeit“ (PMA m 29), nicht „Angeberkinder“ (PMA w 31a), sondern das „Echte, Authentische“ (PMA m 34) einer Person sei förderungswürdig: Hier wird das Erziehungsideal der „Selbstverwirklichung“ dem der „Selbstdarstellung“ entgegengesetzt. Die Erziehungsziele „sich in eine Ordnung einfügen, sich anpassen“ gelten, anders als im konservativen Milieu, als weniger wichtig: „Dieses typische ‚was denken die Nachbarn’ nicht“ (PMA w 28), anstatt sich anzu-
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passen, „sollte man lieber man selber sein“ (PMA w 28). Dies gilt auch im Familienleben: „Es nervt zwar im Moment, weil die Kinder genau das wollen, was man nicht will, aber ich denke, man darf das auch nicht so unterdrücken.“ (PMA w 31a)
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Persönlichkeitsideale und Erziehungsziele im Milieu der Modernen Performer: Selbstmanagement, Individualität, Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Interessensentwicklung
Individualität und „Einzigartigkeit“ (PER m 30) bilden im Milieu der Modernen Performer wichtige Eigenschaften einer Persönlichkeit. Entsprechend ihrem milieutypischen Streben nach Unkonventionalität, halten es Performer für relevant, dass eine Persönlichkeit sich von anderen abhebt. Dabei wird auf ein „gutes Verhältnis zwischen Ego und sozialem Verhalten“ Wert gelegt: „Eine Persönlichkeit muss stark, aber nicht absolut sein“ (PER m 27). So möchte man zwar nicht, dass das eigene Kind „anderen Kindern eins an die Glocke haut, aber sie sollte sich ihrer Stärken bewusst sein“ (PER w 37). Als wichtigste Erziehungsziele gelten dementsprechend sowohl „Empathiefähigkeit“19 als auch „sich durchsetzen können, sich nicht unterkriegen lassen“ (PER w 37). Ein wichtiges Moment einer Persönlichkeit ist die Fähigkeit, sich darstellen zu können: „Zum Beispiel, wenn man sich bewirbt für eine bestimmte Stelle, dass ich mich rüberbringe, dass ich die richtige Person dafür bin.“ (PER m 27). Ein selbstbewusstes Vertreten des persönlichen Standpunktes, der auch zur Profilierung beiträgt, gilt als selbstverständlich. Das Erziehungsziel „Bescheiden und zurückhaltend sein“ wird dabei abgelehnt und wurde auch in den Erziehungserfahrungen der Befragten nicht wahrgenommen: „War kein Thema in meiner Herkunftsfamilie (…) und ist das für mich auch überhaupt nicht, ja? Also, ich würde eher sagen, sich situationsangemessen zu benehmen, aber das hat nichts damit zu tun, dass man bescheiden oder zurückhaltend ist. Ich kann mir auch vorstellen, dass es Situationen gibt, wo man sich natürlich wünscht, dass das Kind zurückhaltend ist, statt jetzt am Altar einen Festtanz aufzuführen z. B., aber (...) bescheiden sein, ist schon eine demoedierte Vorstellung für mich.“ (PER w 37) Als zentrale Basis für dieses selbstbewusste Auftreten, aber auch für die interessengeleitete Leistungsbereitschaft gilt die „Bildung“ (PER m 29), weshalb alle Befragten das Erziehungsziel „Wissensdurst, den Wunsch seinen Horizont ständig zu erweitern“ unter die drei wichtigsten der vorgelegten Ziele fassen. Hierbei findet allerdings nicht ein fester Bildungskanon, sondern die Individua19
Als „Joker“ gewählt.
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lität der kindlichen Interessen besondere Aufmerksamkeit: „Ich würde Verschiedenes anbieten, und was sie sich dann raussucht, für was sie sich interessiert, ist ihre Sache.“ (PER w 35) Wie das Persönlichkeitsverständnis der Performer am ehesten mit dem Begriff „Selbstmanagement“ erfasst werden kann, wird als frei genanntes Erziehungsziel das „Mit-sich-selbst-Klarkommen“ (PER w 35) benannt, was im Sinne von Eigenverantwortung und Selbständigkeit zu verstehen ist. Von den Kindern wird erwartet, in ihren Lebenswelten möglichst selbstständig zurechtzukommen: „Sie muss sich auch alleine beschäftigen können“ (PER w 37), „dass ich nicht jede Woche in der Schule bin“ (PER w 35). Mit dem Erziehungsziel „Eigenverantwortlichkeit“ geht ein wenig behütendes und eher auf Anfrage unterstützendes Erziehungsverhalten einher. Die Einstellung gegenüber Fremdbetreuung von Kleinkindern (z. B. in Krippen) ist hier sehr befürwortend. Für Individualität und Aufnahmefähigkeit schon des kleinen Kindes ist man sehr sensibel, Gleiches gilt für das Abgrenzungsbedürfnis von Kleinkindern: Hier wird betont, körperliche Grenzen würden erfragt und respektiert, z. B. was Abschiedsküsse und das Hand-Geben betrifft. Das Erziehungsziel der Selbstbestimmung steht hier vor möglichen erwarteten Höflichkeitsansprüchen anderer Erwachsener (PER w 37). „Höflichkeit und gutes Benehmen“ allerdings bilden, ebenso wie die „Umgangsformen“ (PER m 23), wichtige Erziehungsziele, die als grundlegend und „so selbstverständlich“ erachtet werden, „dass wir es gar nicht formulieren“ (PER w 37).
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Zusammenfassung
Wie exemplarisch an drei Milieus der Oberschicht aufgezeigt wurde, bestehen erhebliche milieuspezifische Unterschiede im Erziehungsstil. Da Bildungsabschlüsse der sozialen Lage zuzuordnen sind, also eher schichtspezifisch variieren, ist der Bildungshintergrund in den drei ausgewählten Milieus der Oberschicht als vergleichsweise homogen zu beschreiben. Stärkere, aufgrund der unterschiedlichen Wertorientierungen und Lebensstile bestehende Variationen ergeben sich hinsichtlich der Erziehungsziele und Persönlichkeitsideale und damit auch des Erziehungsverhaltens. Während im konservativen Milieu die Vermittlung von humanistischen Bildungsinhalten, Höflichkeit, Religion, Hilfsbereitschaft, Anpassungsbereitschaft und Bescheidenheit besonders gefördert wird, sind dies im postmateriellen Milieu soziale Werte, Selbstreflexionsbereitschaft, Spiritualität und das „Prinzip Verantwortung“ (Jonas 1980): Eigenverantwortung und soziale Verantwortung, die einen Bildungshintergrund voraussetzen. Im Milieu der Modernen Performer kommt der Förderung einer interes-
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senbasierten Leistungsbereitschaft, von Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit eine besondere Bedeutung zu, Umgangsformen und soziale Kompetenz gelten als selbstverständliche Grundlagen. Diese Unterschiede gehen aufgrund der milieuspezifischen Wertorientierungen mit differenten Persönlichkeitsidealen in den drei exemplarisch vorgestellten Milieus einher, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: „Hat das Persönlichkeitsverständnis der Konservativen im Kern viel mit Tradition (als Bewahren hochkultureller Überlieferung), das der Postmaterialisten viel mit einer Wende zur Innenwelt (das Eigene, das Echte soll freigelegt werden) zu tun, so könnte man es als zentrales Kennzeichen des Persönlichkeitsbildes der Modernen Performer bezeichnen, dass sie die Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen echten, inneren Werten und äußerlicher Vermarktung außer Kraft setzen. Das echte Sein und das äußere Design werden nicht länger als zwei sich feindlich gegenüberstehenden Welten angehörig empfunden. Outfit und Performance werden nicht länger als falsche Hüllen des Ich abgewertet, sondern als notwendige und selbstverständliche Erscheinungsformen des Innenlebens angesehen.“ (Barz/Panyr 2004, S. 17) Versteht man die Modernen Performer als Milieu, das eine gesellschaftliche Avantgarde bildet, also trendsetzend ist, so scheint der in Erziehungsratgebern und öffentlicher Diskussion thematisierte „neue“ Wertewandel, in dem Erziehungszielen wie Leistungsorientierung, Selbstmanagement und Umgangsformen zunehmende Bedeutung beigemessen wird, auch in der Erziehungspraxis zu erfolgen.
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Berichte über Symposien
Entgrenzungen der beruflichen Bildung – „Bildung über die Lebenszeit“ als Herausforderung und Perspektive der Praxis, Politik und Theorie beruflicher Bildung1 Holger Reinisch / Tade Tramm
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Fragestellungen des Symposiums
Das Thema des Züricher Kongresses „Bildung über die Lebenszeit“ kann für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik so gedeutet werden, dass es dazu auffordert, das eigene Verständnis darüber, was denn der Objektbereich dieser erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin sei, zu überdenken. Schließlich verstehen Berufs- und Wirtschaftspädagogen – ablesbar an der Mehrzahl der Forschungsarbeiten – unter Berufsbildung im Kern einen zeitlich befristeten biografischen Abschnitt, der de facto durch die Dominanz der Forschungen zur beruflichen Erstausbildung im dualen System noch weiter eingeengt wird (siehe Klusmeyer 2001). Die Formel „Bildung über die Lebenszeit“ impliziert zunächst eine Entgrenzung des berufs- und wirtschaftspädagogischen Blicks in biografischzeitlicher Hinsicht. Die Akzeptanz dieser programmatischen Formel würde aber auch die Entgrenzung des Blicks in inhaltlicher und räumlicher Hinsicht erzwingen und damit eine erneute, tief greifende Reflexion zentraler Punkte des disziplinären Selbstverständnisses der Berufs- und Wirtschaftspädagogik erforderlich machen. In diesem Sinne erfolgte im Symposium eine thematische Fokussierung auf vier Aspekte, die immer wieder im Mittelpunkt sowohl der von außen an die Disziplin herangetragenen Kritik als auch der von Mitgliedern der eigenen „Zunft“ geäußerten Selbstkritik standen. Dabei handelt es sich erstens um die Idee der Beruflichkeit. Der Vorwurf, dass sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit der Orientierung am Berufskonzept und an der Idee der Bildung im Medium des Berufs an ein Gedankenge1
Kurzbericht über das gleichnamige, vom Geschäftsführenden Vorstand der Sektion Berufsund Wirtschaftspädagogik der DGfE (R. Nickolaus, Stuttgart; H. Reinisch, Jena und T. Tramm, Hamburg) veranstaltete Symposium.
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bäude bindet, das nicht den Realitäten der Arbeitswelt entspricht, ist eine – wenn man etwa an die von Anna Siemsen (1926) formulierte Kritik denkt – 80-jährige Begleiterscheinung der berufs- und wirtschaftspädagogischen Arbeit, aber gleichwohl von hoher Aktualität. Zum Beleg für diese Aussage soll der Hinweis auf die einschlägigen berufs- und wirtschaftspädagogischen Beiträge von Lisop (1998) und Lipsmeier (1998), Kern et al. (1994) sowie Bathge et al. (1998) aus soziologischer Perspektive genügen. Handelt es sich somit beim zentralen Element des berufs- und wirtschaftspädagogischen Selbstverständnisses, nämlich der Idee der Bildung im Medium der Beruflichkeit, um eine Fiktion? Wird es also nicht Zeit, sich an einer anderen Kategorie zu orientieren? Mit der Bindung an das Berufskonzept ist aus der Sicht der Kritiker zweitens eine weitere Verengung des berufs- und wirtschaftspädagogischen Blicks verbunden, und zwar auf den schulischen Teil des dualen Systems der Berufsausbildung. Wenn man sich die Forschungsarbeiten in der Disziplin anschaut oder etwa die Beiträge in der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, dann wird man in der Tat die Kritik von Lisop (1998), dass die Berufs- und Wirtschaftspädagogik eine symbiotische Beziehung zum dualen System eingegangen sei, nicht unbeachtet lassen können. Schließlich lässt sich eine weiterhin bestehende Dominanz von Arbeiten mit didaktischem Zuschnitt, die sich auf den institutionellen Kontext von Schule beziehen, gut belegen (siehe Klusmeyer 2001). Trotz einer durchaus beachtlichen Renaissance von Forschungen zum Lernen im Prozess der Arbeit (siehe Dehnbostel et al. 1992; Fischer et al. 2002) überwiegt weiterhin der Blick auf das organisierte und formelle Lernen im Kontext des beruflichen Schulwesens. Dies steht sicherlich im Zusammenhang mit der Hauptaufgabe, die die meisten Hochschullehrer der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in der universitären Lehre zu bewältigen haben, also zukünftige Lehrkräfte für das berufliche Schulwesen auszubilden. Gleichwohl erwächst aus dieser Verengung des Blicks die Gefahr, dass – überspitzt formuliert – das Forschungsfeld „außerschulische Berufsbildung“ weitgehend anderen Disziplinen überlassen würde. Dies hätte zur Folge, dass etwa die Untersuchung der immer bedeutender werdenden informellen Lernprozesse der Pädagogischen Psychologie, der Arbeitspsychologie und der Erwachsenenbildung (vgl. z. B. Dohmen 2001; Erpenbeck/ v. Rosenstiel 2003; und für den internationalen Kontext Bjørnåvold 2001) überantwortet würde und somit die berufs- und wirtschaftspädagogischen, didaktischen sowie berufsbildungspolitischen Implikationen des Themas unbearbeitet blieben. Der dritte Aspekt bezieht sich auf einen weiteren Kritikpunkt, der sich auf das Grundmuster pädagogischen Denkens richtet. Es handelt sich um die Subjektorientierung oder die Parteinahme für das lernende und sich bildende Individuum. Kritisch gewendet wird daraus der Vorwurf, dass Pädagogen dazu nei-
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gen, kollektives und kollaboratives Lernen zu vernachlässigen oder zumindest in ihrer Bedeutung nur gering einzuschätzen (siehe dazu z. B. Sloane 2001). Seit etlichen Jahren sind zwar Begriffe wie „Lernende Organisation“, „Wissensmanagement“ und „Lernkulturentwicklung“ (vgl. z. B. Arnold et al. 1998) in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Literatur nahezu zum Allgemeingut geworden, aber diese Begriffe und die sich dahinter verbergenden Konzepte (vgl. z. B. Argyris 1992) stammen aus disziplinären Kontexten, in denen – wie in der Betriebswirtschaftslehre und in der Organisationssoziologie – nicht die Perspektive der arbeitenden und lernenden Individuen, sondern einzelwirtschaftliche Zielsetzungen und Organisationsstrukturen im Vordergrund stehen. Wenn sich Berufs- und Wirtschaftspädagogen nun gleichwohl unter Signets wie „Lernende Organisation“, „Lernende Region“ und „Lernnetzwerke“ mit kollektiven und kollaborativen Lernprozessen beschäftigen, welche Folgen hat dies für die eigene Forschung als pädagogische Forschung? Und was können wir gegebenenfalls aus den Vorarbeiten der genannten Disziplinen für die eigene Forschung lernen? Mit dem vierten Aspekt erfolgt ein Wechsel der Betrachtungsebene: von der Mikroebene der Lernprozesse zur Makroebene der Strukturen der Berufsbildung, um zu einer Entgrenzung unseres Blicks in räumlicher Hinsicht zu gelangen. Kurz zusammengefasst tendiert die aktuelle berufsbildungspolitische Diskussion zu der Auffassung, dass das deutsche Berufsbildungssystem zunehmend an Glanz verliert. Während nämlich europaweit die nationalen Berufsbildungssysteme im Zeichen der Förderung des Lernens in informellen Kontexten, der Flexibilisierung der Bildungswege, der Modularisierung und der Transferierbarkeit der erworbenen Qualifikationen reformiert werden, beharre Deutschland und somit auch die deutsche Berufs- und Wirtschaftspädagogik – so der Vorwurf – auf dem starren, verrechtlichten und durch formalisiertes Lernen gekennzeichneten dualen System, mit der Folge, dass beide in den Ruf der Rückständigkeit geraten. Zwar lassen sich Gründe finden, diese Kritik als überzogen und als Ausfluss einer „neoliberalen“ Strategie zu kennzeichnen, der es darum gehe, bewährte korporative Strukturen zu beseitigen, um die Gesetze des Marktes an deren Stelle treten zu lassen, aber gleichwohl dürfe die genannte Kritik am dualen System nicht unbeachtet bleiben. Schließlich gäbe es im Ausland eine ganze Reihe von Beispielen für Modernisierungsstrategien, von denen die deutsche Berufsbildungsforschung und -politik lernen könne. Dies gilt beispielsweise für die Niederlande, weil dort aus unserer Sicht einige der zentralen Schwachpunkte des deutschen Berufsbildungssystems zumindest auf der konzeptionellen Ebene eine überzeugende Lösung (z. B. Flexibilisierung der Ausbildungsdauer, Flexibilisierung der Lernortkombinationen, Verknüpfung von Berufsausbildung und fortbildung) gefunden haben (vgl. als Übersicht Frommberger 2004, S. 92ff.).
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Ablauf des Symposiums und zentrale Aspekte der Vorträge und Diskussionsbeiträge2
Zu den genannten vier Aspekten haben die Planer des Symposiums vier Vortragsthemen entwickelt und Vertreter verwandter sozialwissenschaftlicher Disziplinen gebeten, zu diesen Themen auf dem Symposium zu referieren. Als Diskutanten konnten vier Vertreter des wissenschaftlichen Nachwuchses der Berufsund Wirtschaftspädagogik gewonnen werden, die ein kurzes, vorbereitetes Statement zu je einem der Vorträge abgegeben haben. Ziel war es, den schwierigen, aber gerade für die Berufsbildungsforschung unumgänglichen interdisziplinären Diskurs anzustoßen und auf Konsens- und Dissenslinien aufmerksam zu machen. Martin Baethge (Soziologisches Forschungsinstitut an der Universität Göttingen) referierte zum Thema „Entwicklungstendenzen der Beruflichkeit – neue Befunde aus der industriesoziologischen Forschung“. Dabei stellte er die These in den Mittelpunkt seines Vortrags, dass „die Beruflichkeit sowohl als Kategorie sozialer Integration als auch als Ausbildungsprinzip an Bedeutung verliert“. Ausgehend von einer Definition von Beruf und Beruflichkeit, die diese als sozialstrukturelle Kategorien in der Trias von fachlichen Qualifikationen, Beschäftigtenstatus und sozialer Integration bzw. Orientierung fasst, verwies er zur Begründung seiner These zunächst darauf, dass die Gründe für die lange Stabilität des „Modells beruflicher Gesellschaftsintegration“, nämlich die „positive Verschränkung der Interessenlagen der großen Akteursgruppen des industriellen Kapitalismus vor dem Hintergrund des spezifischen deutschen Entwicklungspfades einer exportorientierten Qualitätsproduktion im Hochpreissegment des Weltmarktes“ bei begrenzten „Innovations- und Mobilitätsanforderungen an die Unternehmen“, bereits seit geraumer Zeit einem verstärkten Erosionsprozess unterliegen. Dies sei auf einen „neuen Typus von Strukturwandel“ (Stichworte: „hohe Volatilität der Märkte, beschleunigte Innovationsdynamik, neue Technologien und Kommunikationsmedien, Dienstleistungsökonomie, Globalisierung der Wertschöpfungskette“) zurückzuführen, der wiederum die schwerfällige und den externen Anforderungen nicht mehr genügende berufsbezogene Arbeitsorganisation in den Betrieben in Frage stelle. Dieser Typus des Strukturwandels erzwinge daher nachgerade eine zunehmende „Flexibilisierung der Betriebs- und Arbeitsorganisation“ mit der Folge erhöhter Anforderungen an die Mitarbeiter, 2
Die für die Veröffentlichung überarbeiteten Beiträge der Referenten und Koreferenten sind 2004 im Heft 3 der „Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik“ erschienen. Für den nachfolgenden Bericht über die Beiträge des Symposiums konnte auf die entsprechenden Manuskripte zurückgegriffen werden. Anführungszeichen im Bericht verweisen auf wörtlich aus den Manuskripten entnommene Passagen.
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die nunmehr in integrierten (und nicht mehr nach Berufsmustern separierten) Prozessen agieren müssen. Dies wiederum führe zu einer doppelten „Entgrenzung“ der „beruflichen Handlungskonstellationen“ sowohl in inhaltlicher als auch räumlich-zeitlicher Hinsicht, so dass sich die „fachliche Eindeutigkeit der Berufsprofile im Arbeitsprozess sukzessive auflöse. Insgesamt bleibe daher von den prägenden Merkmalen der Facharbeiter- und Fachangestelltenqualifikation, „Verbindung von Fachlichkeit und Erfahrungswissen“, „nicht mehr viel übrig“. Damit ließen sich „soziale Orientierung, Statuszuweisung und gesellschaftliche Identität“ nicht mehr über den Beruf schaffen. Abschließend ging Baethge in vier Thesen auf die Konsequenzen dieser Entwicklungen für die Berufsbildung ein. Dabei betonte er einerseits den Wert der dualen Ausbildung als pädagogisches Konzept durch die „Verbindung von Anschauung und Lernen sowie von Theorie und Praxis“, andererseits sah er im Lichte der von ihm geschilderten Entwicklungen die Notwendigkeit der „Stärkung der fachtheoretischen und allgemeinbildenden Anteile der Ausbildung“. Dies würde jedoch zu einer weiteren Unterminierung traditioneller Beruflichkeit führen. In ihrer Replik akzeptierte Rita Meyer (Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg) zwar die von Baethge vorgetragenen empirischen Befunde, die für eine Erosion des Berufskonzepts und der Beruflichkeit sprechen, im Gegenzug hielt sie ihm (und der Berufs- und Wirtschaftspädagogik) aber vor, sich zu eng an einem traditionellen Konzept von Beruf zu orientieren. Daher vertrat sie die These, dass „das Konzept der Beruflichkeit auch als eine ‚nachindustielle’ Kategorie verstanden werden kann“, wenn die „traditionelle historisch konkretisierte Form des Berufs von dem offenkundig abstrakteren Begriff der Beruflichkeit“ unterschieden wird. Am Beispiel des neuen Weiterbildungssystems im Bereich der Informationstechnik und -wirtschaft illustrierte sie erstens die wesentlichen Merkmale einer „modernen Form von Beruflichkeit“ (geringe Formalisierung, inhaltliche, räumliche und zeitliche Entgrenzung beruflichen Lernens, aber gleichwohl Entstehen einer neuen berufsbezogenen Fachlichkeit), um dann zweitens – im Gegensatz zu Baethge – zu konstatieren, dass zwar von einer „Transformation von Beruflichkeit“, aber nicht von deren Erosion gesprochen werden könne. Abschließend plädierte sie für eine Verstärkung der berufsund wirtschaftspädagogischen Forschung zu diesem Transformationsprozess, damit die Disziplin ihr zentrales Motiv, „Arbeit und Bildung miteinander zu verknüpfen“, nicht verliere. Die zweite Runde des Symposiums eröffnete Ernst A. Hartmann (VDI/VDE-Technologiezentrum Teltow) mit Ausführungen zum Thema „Perspektiven und Befunde der Arbeitspsychologie zum lebenslangen Lernen: Implikationen für die Berufsbildung und ihre pädagogische Theorie?“. Zunächst ging er auf konzeptionelle Grundlagen, Interventionsstrategien und ausgewählte Er-
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gebnisse zweier Gestaltungsprojekte zum Lernen in der Arbeit (Einführung CNC-gestützter Fertigung, Neuorganisation der Montage von Traktoren) ein. Auf dieser Basis befasste er sich dann mit den Fragen, wie die Arbeitsbedingungen menschliche Arbeits- und Lernprozesse beeinflussen und wie über eine systematische Gestaltung dieser Arbeitsbedingungen arbeitsimmanente Lernprozesse positiv beeinflusst werden können. Als Ergebnis entwickelte er ein „allgemeines Modell ‚orthogonaler’ Arbeits- und Reflexionsprozesse“, welches aus arbeitspsychologischer Sicht zwei Ansatzpunkte für Interventionen eröffnet, und zwar die Intervention im Technikentstehungsprozess als Form der indirekten Beeinflussung der Arbeitssystembedingungen unter der Perspektive der Lernförderlichkeit sowie die Intervention im Organisationsentwicklungsprozess als direkte Beeinflussung der Arbeitssystembedingungen zum Zwecke der Verbesserung der Lernförderlichkeit. Auf der Basis dieses Modells konstatierte Hartmann, dass das arbeitsimmanente Lernen der „Regelfall“ sei. Demgegenüber würde – so seine abschließende Kritik an der Berufs- und Wirtschaftspädagogik – selbst in pädagogischen Diskursen zum Lernen am Arbeitsplatz das arbeitsimmanente Lernen als „Ausnahmefall“ betrachtet, weil von pädagogischer Seite das didaktisch organisierte Lernen fälschlicherweise präferiert werde. Aus der Sicht einer tätigkeits- und handlungstheoretisch basierten Arbeitspsychologie seien jedoch „alle Versuche, Lernprozesse ohne ihre ‚natürliche’ Einbettung in sinnstiftende Tätigkeiten realisieren zu wollen“, sowohl fragwürdig als auch besonders begründungspflichtig. Gerhard Drees (Universität Dortmund, Lehrstuhl für Berufspädagogik) konzentrierte sein Koreferat auf die von Hartmann geäußerte Kritik. Obwohl er in seinem Diskussionsbeitrag „wichtigen Motiven“ Hartmanns zustimmte, und zwar insbesondere der Auffassung, „dass die Einheit von Handeln und Lernen die Ursprungskonstellation für beider Verhältnis ist“, wies er die Kritik des Referenten zurück. Das Plädoyer der Berufspädagogen auch für Lernprozesse außerhalb von Arbeitszusammenhängen gründe sich nämlich darauf, dass die genannte Ursprungskonstellation von Handeln und Lernen im Zuge der Rationalisierungsprozesse zerstört worden sei. Solange daher „die populäre Kernaussage der Qualifikationsforschung“, nach der mit einer Enttaylorisierung der Arbeit das Lernen in den Arbeitsprozess zurückfinde, für die große Masse traditioneller Arbeitssituationen nicht zutreffe, „wird die Einrichtung und Sicherung von Reflexionsund Lernoptionen abseits – aber ausdrücklich ausgehend vom – Arbeitsprozess aus berufpädagogischer Sicht unabdingbar“ bleiben. Uwe Wilkesmann (Sektion Sozialpsychologie der Ruhr-Universität Bochum) ging in seinem Vortrag „Lernende Organisation, Wissensmanagement und Lernkulturentwicklung – schöne Worte oder mehr?“ von der These aus, dass die genannten Konzepte zwar zentrale Antworten für die Organisationsentwick-
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lung auf die Frage enthielten, wie der umfassende Strukturwandel im Sinne der Organisationen ziel- und sachadäquat bewältigt werden könne, aber mit diesen Konzepten werde noch keineswegs die Realität aktueller Organisationsentwicklungsprozesse beschrieben. Daher konzentrierte er sich im Folgenden auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die förderlichen Effekte dieser Konzepte auch tatsächlich erreicht werden können. Im Hinblick auf das organisationale Lernen stellte er die Bereitschaft der Individuen, unterschiedliche Problemsichten in eine Gruppe einzubringen und an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten, sowie die Überführung „kollektiver Lernprozesse in für alle Beteiligten handlungswirksame Änderungen von Routinen“ als zentrale Bedingungen heraus. In Bezug auf die beiden Funktionen des internen Wissensmanagements, „Generierung von neuem Wissen“ sowie „Speicherung und Nutzung von Daten“, sah er einerseits enge Verbindungen zum organisationalen Lernen, andererseits verwies er darauf, dass die beteiligten Individuen in der Lage sein müssen, aus dem vorhandenen „Rohmaterial“ – Daten und Informationen – bedeutungsvolles Wissen zu erzeugen; diese Individuen werden dazu aber nur dann bereit sein, wenn die Kontextbedingungen des Arbeitsprozesses für die Entwicklung einer entsprechenden Einstellung förderlich seien. Letztlich gelte die herausragende Bedeutung der Kontextbedingungen dann auch für den Aspekt der „Lernkulturentwicklung“, die „sehr viel mit der Ermöglichung von Selbststeuerung und Eigenverantwortung zu tun“ habe. Insgesamt kam Wilkesmann zu folgendem Ergebnis: „Organisationen können lernen, Wissen kann gemanagt werden und Lernkulturen lassen sich entwickeln, wenn entsprechende Freiräume vorhanden sind. Diese Freiräume sind definiert als eine Attribution von self-governance in den fünf Handlungsdimensionen Abwechslungsreichtum, Ganzheitlichkeit, Bedeutung der Aufgabe, Selbstständigkeit und Rückmeldeaspekt.“ Carmela Aprea (Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Universität Mannheim) konzentrierte ihren Diskussionsbeitrag einerseits auf die Frage, „welche Anregungen und Anstöße für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik“ aus dem Vortrag zu gewinnen seien, andererseits ging sie auf Möglichkeiten ein, wie vorhandenes berufs- und wirtschaftspädagogisches Wissen zur „Elaboration“ des Ansatzes von Wilkesmann genutzt werden könne. Dabei hob sie zur ersten Frage hervor, dass das von Wilkesmann herausgearbeitete Bedingungsgefüge „eine fruchtbare Ergänzung zu lehr-lerntheoretischen Ansätzen“ etwa im Bereich der Analyse betrieblicher Ausbildungsbedingungen sein könnte. Im Hinblick auf die zweite Frage forderte sie – vor dem Hintergrund der auch vom Referenten betonten Bedeutung bestimmter individueller Dispositionen für die Umsetzung der genannten Konzepte – eine stärkere Bezugnahme auf die Frage der Förderung kollaborativer Lernprozesse durch entsprechende Gestaltungsmaßnahmen, wobei
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hierzu auf pädagogisches Wissen über handlungsorientierte und situierte Formen des Lehrens und Lernens zurückgegriffen werden könne. Ausgehend von einer knappen Skizze der wesentlichen Strukturmerkmale des niederländischen Berufsbildungssystems nach der Reform von 1995 konzentrierte sich Ben Hövels (Kenniscentrum Beroepsonderwijs Arbeidsmarkt – Wissenschaftliches Zentrum für Berufsbildung und Arbeitsmarkt – der Universität Nijmegen) in seinem Referat „The struggle of innovating VET from a Dutch point of view“ zunächst auf vier Abstimmungsprobleme, die sich aktuell negativ auf die berufliche Bildung in den Niederlanden auswirken. Es handelt sich dabei erstens um die Abstimmung zwischen einer gesamtstaatlich verbindlichen Qualifikationsstruktur und regionalen bzw. lokalen Qualifikationsbedarfen, zweitens um die Folgen einer auf der Basis einer statischen Branchenstruktur angelegten Curriculumentwicklung in Zeiten dynamischer Veränderungen der Branchenstrukturen, drittens um die schwierige Ausbalancierung zwischen nationalen Vorgaben und der lokalen Verantwortung für die Gestaltung der Lernprozesse in beruflichen Schulen und Unternehmen und letztlich um den Ausgleich ökonomischer und pädagogischer Ansprüche auf dem Feld der beruflichen Bildung. Generell handelt es sich dabei um Probleme, die aus der in den Niederlanden verfolgten „top-down“-Strategie resultieren. Als Lösung schlug Hövels abschließend vor, die bisher verfolgte lineare Strategie durch eine interaktive, verstärkt auf Netzwerkbildungen setzende Strategie zu ersetzen, um die bestehenden institutionellen Barrieren zwischen den Akteuren abzubauen. Weiterhin betonte er die Notwendigkeit, den bisherigen, eng auf fachlich-inhaltliche Qualifikationen bezogenen Ansatz der Curriculumentwicklung durch ein „concept of competence“ zu ersetzen. Hierzu sei jedoch der Aufbau einer „VET-directed pedagogic“ in den Niederlanden erforderlich, denn in diesem Bereich gäbe es dort bisher keine entsprechende Forschungstradition. Dietmar Frommberger (Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der FriedrichSchiller-Universität Jena) konzentrierte sich in seinem Diskussionsbeitrag auf einen Aspekt der Ausführungen von Hövels, und zwar auf die Hoffnungen, die dieser mit dem „competence-based-approach“ verbindet, weil dieser Aspekt auch für die aktuelle deutsche wissenschaftliche und politische Diskussion über Berufsbildung von besonderer Bedeutung sei. Hierzu beschrieb er zunächst die wesentlichen Merkmale dieses curricularen Lösungsmusters und dessen disparate Ausprägungsformen in verschiedenen Staaten, um anschließend auf die Motive einzugehen, die zur aktuell nahezu weltweit zu beobachtenden Präferenz für diesen Ansatz geführt haben. Die Gründe dafür seien vor allem in der Absicht zu sehen, „Varianten beruflicher Bildungs-, Qualifizierungs- und Zertifizierungsmöglichkeiten in ein transparentes, standardisiertes und abgestimmtes Angebot zu überführen“, so dass das Motiv ordnungspolitischer Steuerung bei die-
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sem Ansatz dominiere. Daher sei dies – aus der Sicht Frommbergers – kein Ansatz, „der die originären didaktischen und lerntheoretischen Probleme löst.“ Insofern – so sein Fazit – dürfe sich die berufs- und wirtschaftspädagogische Curriculumforschung der Mühe, „Lernziele und -inhalte mit viel Aufwand zu bestimmen und zu differenzieren“, nicht entziehen, wenn sie sich nicht in die Gefahr begeben wolle, dass die „Verbindlichkeit der berufsbezogenen Aus- und Weiterbildungsprozesse im Fahrwasser der Beliebigkeit verloren gehe.“ Die hier skizzierten Referate und Koreferate haben nicht nur zu einer lebhaften Diskussion im Plenum geführt, sondern auch zu den angesprochenen vier Aspekten wesentliche Konsens- und Dissenslinien zwischen Industriesoziologie, Qualifikations- und Arbeitsmarktforschung, Arbeitspsychologie, Organisationssoziologie sowie Berufs- und Wirtschaftspädagogik auf dem Felde der Berufsbildung verdeutlicht, die einerseits zeigen, dass die Verstärkung der interdisziplinären Zusammenarbeit auf dem Felde der Berufsbildungsforschung – trotz weiterhin bestehender Unterschiede in grundlegenden Deutungsmustern – sowohl möglich als auch fruchtbar sein kann. Andererseits wurde der Berufs- und Wirtschaftspädagogik die Notwendigkeit der Intensivierung ihres Selbstreflexionsprozesses über grundlegende Kategorien und Deutungsmuster im Kontext der Erosion bzw. der Transformation von Beruflichkeit in aller Deutlichkeit vor Augen geführt.
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Bildung im Zeitalter der normierten Globalisierung – Folgen für die Sozialpädagogik1 Werner Thole / Cornelia Schweppe / Ingrid Lohmann / Sabine Andresen / Josef Scheipl / Mark Schrödter
Die transnationale Globalisierungspolitik steht an der Schwelle von einer den imperialen, freien Marktgesetzen ausgesetzten Phase zu einer staatlich regulierten, aber doch ebenfalls den Zweckrationalitäten des Marktes folgenden Periode. Die politisch gewollte und von den Vertretern und Vertreterinnen nationaler und internationaler Unternehmen und Konzerne praktizierte Globalisierung erfordert zur allseitigen Durchsetzung verbindliche Rahmenvereinbarungen. Auch die Freiheit zu investieren erfordert verbindliche Normierungen. Diese triviale Markierung betrifft sowohl den klassischen Waren- als auch den noch relativ jungen Dienstleistungsmarkt. Eine Positionierung der „Sozialen Arbeit“ im Rahmen des „General Agreement on Trade in Services“ (GATS) der Welthandelsorganisation (WTO) steht bisher weitgehend aus. Dies überrascht, denn der Regulierungsbedarf, der sich über das Abkommen ergibt, ist beachtlich und in Bezug auf die Dienstleistungssphäre umfassend. Neben dem Post- und Telekommunikationsmarkt, der Energie- und Wasserversorgung, Tourismus und Transport, Handel und Bauwesen wird in dem Abkommen auch der grenzüberschreitende Dienstleistungssektor für die gesellschaftlichen Bereiche Kultur, Bildung sowie medizinische und soziale Dienste umschrieben. Gesellschaftliche Subsysteme, die bisher nur indirekt den marktförmig orientierten Vergesellschaftungszusammenhängen unterlagen – und hierzu zählen partiell das Gesundheitssystem, der Bildungs- und Sozialbereich – sollen im Zuge einer globalisierten Neuausrichtung der Politik „entstaatlicht“ und den freien Marktspielen einer neuen Bildungs- und „Sozialindustrie“ überantwortet werden. In dem Agreement sind deutliche Formulierungen 1
Der Beitrag bündelt die auf dem gleichnamigen Symposium vorgetragenen Beiträge in gekürzter Form. Da es sich um Diskussionsbeiträge handelt, wird auf Belege und weiterführende Literaturhinweise verzichtet. Die Autorinnen und Autoren zeichnen für die einzelnen Abschnitte eigenverantwortlich. Die Rahmung – Einleitung und Ausblick – der Einzelstatements verantwortet Werner Thole.
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gegen die noch existierenden öffentlichen Dienstleistungen, vor allem gegen die staatlich finanzierten Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme zu finden. Empfohlen wird die Privatisierung aller noch öffentlichen Dienstleistungssysteme und damit die Anerkennung und Implementierung der „Bildung“ als international handelbare Ware. Die über GATS intendierte Liberalisierungsdynamik konnte in den Diskussionen zur Zukunft der Angebotsstruktur von Leistungen Sozialer Arbeit vielleicht auch deswegen ignoriert werden, weil innerhalb der Europäischen Union die allgemeinen Wettbewerbsregeln auf staatliche Sozial- und Bildungssysteme nur insoweit transformiert werden können, als sich diese Dienstleistungen selbst schon nach marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten regulieren. In Bezug auf das klassische Bildungssystem wird dies auch wohl zukünftig so bleiben. Die Deregulierung des sozialen Sektors und der immer deutlicher über ökonomische Rationalitäten gesteuerte soziale Dienstleistungsbereich wird jedoch zunehmend offener und damit potenzieller Markt für internationale Anbieter. Ob nationale oder europäische Regulierungen dieser Öffnung möglich und wünschenswert, notwendig und im Interesse der Adressaten Sozialer Arbeit angebracht sind, wird nachfolgend unter verschiedenen Blickwinkeln thematisiert und – soweit aufgrund des zur Verfügung stehenden Raumes möglich – kritisch reflektiert. Cornelia Schweppe weist in ihrem Beitrag nochmals auf die Bedeutung der GATS-Vereinbarungen für die Soziale Arbeit hin (1). Die Folgen für die nationalen Sozial- und Bildungspolitiken diskutieren anschließend Ingrid Lohmann (2) und Sabine Andresen (3). Nach einem „Zwischenruf“ aus österreichischer Perspektive von Josef Scheipl (4) und vor der abschließenden Rahmung dieser Impressionen vom Symposium (6) diskutiert Mark Schrödter kritisch die Chancen eines neoliberal gefärbten Qualitätswettbewerbs im Feld der Sozialen Arbeit (5).
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GATS und Soziale Arbeit (Cornelia Schweppe)
Percy Barnevik, in den 1990er-Jahren CEO von ABB, sagte einmal: „Globalisierung ist die Freiheit zu investieren, wo wir wollen, zu produzieren, was wir wollen und dabei den geringst möglichen Restriktionen unterworfen zu sein, was Arbeits- und Sozialgesetze betrifft“, um – so lässt sich hinzufügen – dabei den größtmöglichen Profit zu erzielen. Eine solche Logik wird in absehbarer Zeit wohl auch für solche Bereiche gelten, die bislang, als öffentliche Daseinsvorsorge und als Grundgüter und Grundrechte des Lebens betrachtet, öffentlich kontrolliert wurden und unter staatlicher Kontrolle standen.
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Mit dem GATS wurde ein Abkommen verabschiedet, das auf die vollständige Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen zielt. Die Intention ist klar: Die Vermarktung sozialer und bildungsbezogener Dienstleistungen – vielleicht noch eine der wenigen nicht dem Kapital unterlegenen Bastionen – ist lukrativ. Allein der weltweite Markt des tertiären Bildungssektors wird auf ein Volumen von drei Trillionen US-Dollar geschätzt. Das Abkommen stützt sich auf dieselben Grundprinzipien, die für den Handel mit Waren festgelegt wurden. Zwischen Dienstleistungen und Waren wird nicht unterschieden. Bildung und soziale Dienstleistungen werden so zu Waren. Man braucht nicht über besonders profunde sozialwissenschaftliche Kenntnisse zu verfügen, um die schlichte Frage zu stellen, ob denn der Verkauf eines Kühlschranks so ohne weiteres mit dem Verkauf von Dienstleistungen und vor allem von Bildung und Sozialem verglichen werden könne. Für die WTO ist der Fall klar: So wie ein besserer Kühlschrank teurer ist als ein einfacher, so sollte doch auch eine bessere Dienstleistung teurer sein. Damit wird auch schon relativ deutlich, welche Folgen es hat, wenn die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen aus dem sozialstaatlichen Aufgabenkatalog weitgehend ausgegliedert wird: „Poor services for poor people“, wie es in Großbritannien schlicht auf den Punkt gebracht wird. Aus Bürgern und Bürgerinnen, denen durch öffentliche Dienstleistungen bestimmte Rechte zugestanden wurden, sollen nun Kunden und Kundinnen werden, die allerdings nur dann in diese Rolle kommen können, wenn sie über das verfügen, was Kunden und Kundinnen ausmacht: Geld. Die Vermarktung von Grundrechten wird die soziale Lage der Unter- und Mittelklassen verschlechtern und wohlhabende Teile der bereits jetzt schon privilegierten Bevölkerungsteile stärken. Sie wird systematisch bestehende soziale Ungleichheiten verschärfen. Solidarsysteme werden zerstört, Qualitätsstandards gesenkt, Preise erhöht, öffentliche Kontrollen unmöglich gemacht, Leistungen werden abgebaut und die Entwicklungsperspektiven der Länder des Südens deutlich begrenzt. Kein Wunder, dass GATS nur auf erheblichen Druck der Industrieländer zustande gekommen ist. Allerdings werden sich nicht nur bislang bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Dynamiken radikal verändern, sondern die Vermarktung von Bildung wird auch bis in das tiefste Innere von Biographien eindringen. Angesichts dieser Radikalität der anstehenden Transformationen, die unmittelbar in den Kern der Erziehungswissenschaft und der Sozialpädagogik treffen, ist deren weitgehendes Schweigen bemerkenswert. Wäre da nicht der Widerstand der Globalisierungsgegner, würde die Durchsetzung fast reibungslos klappen und die öffentliche Thematisierung würde sich weitgehend in Schweigen hüllen. Die Thematisierung der „Verwarenförmigung“ und Vermarktung von Bildung und Sozialer Arbeit innerhalb der Erziehungswissenschaft ist überfällig.
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Tektonische Verschiebungen – Globalisierungspolitik und die Folgen für die Bildungs- und Sozialsysteme (Ingrid Lohmann)2
Seit Januar 1995 ist für alle Sektoren des Bildungssystems das GATSAbkommen in Kraft. Seither können in- und ausländische Wirtschaftsunternehmen Kindergärten, Schulen, Universitäten und Volkshochschulen oder Teile davon als Dienstleistung anbieten. Und sie können mit staatlichen Subventionen aus Steuergeldern rechnen, denn die Nichtgleichbehandlung mit staatlichöffentlichen Dienstleistungen wird als Wettbewerbsbenachteiligung geahndet. Derzeit verhandelt wird bei der WTO die Liberalisierung übriger Bildungsdienstleistungen (Zugangs- und Leistungstests, Bildungsvermittlungsdienste). Auch Arbeitsfelder der Sozialpädagogik sind Verhandlungsgegenstand. Zuständig für Liberalisierungsangebote der EU-Mitgliedsländer sind auf nationaler Ebene die Handels- bzw. Wirtschaftsminister, auf EU-Ebene Handelskommissar Pascal Lamy. Einer der umstrittensten Aspekte ist: Wo Kindergärten, Schulen, Hochschulen oder soziale Dienste nicht allein als hoheitliche Aufgaben wahrgenommen, sondern auch von privaten bzw. kommerziellen Trägern angeboten werden, greifen die GATS-Regelungen. Obwohl einzelne Mitgliedsländer gegenwärtig noch darauf verweisen, dass es auf ihrem Territorium hoheitlich erbrachte Dienstleistungen gibt, besteht starker Druck zu liberalisieren. Alle Ausnahmen unterliegen regelmäßiger Überprüfung und sollen einen Zeitraum von zehn Jahren nicht überschreiten. Die Befürchtung liegt daher nahe, dass bei nächstbester Gelegenheit Tauschgeschäfte vereinbart werden: Wenn du meine pharmazeutischen Produkte hineinlässt, lasse ich deine Bildungsdienstleistungen hinein. Es mag so erscheinen, als könne es so gewaltig mit der Privatisierung öffentlicher Bildung und Erziehung nicht sein, wenn GATS schon seit zehn Jahren gilt und man trotzdem noch kaum etwas davon gehört hat. Dies allerdings ist kalkuliertes Ergebnis einer Politik, die weithin unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Diskussionen setzten erst ein, nachdem das GATS längst in Kraft war. Wenn sich an der Informationslage in jüngerer Zeit etwas ändert, so wegen der Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit GATS-kritischer Personen, Organisationen und Bewegungen wie „Public Citizen“, „Weed“ oder „Attac“ sowie in der Schweiz besonders der „Erklärung von Bern“. Im Gegenzug verstärkt sich neuerdings der Effekt einer – wie es zuweilen scheint, gezielten – Desinformationspolitik der EU und nationaler Instanzen. 2
Die Langfassung dieses Abschnittes mit Materialien und Quellenhinweisen findet sich im Internet unter: http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Lohmann/Publik/zuerich-sy19.htm.
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Das GATS ist jedoch keineswegs Ursache des sich beschleunigenden Abbaus öffentlicher Bildung. Die EU selbst hat entschiedenes Interesse am internationalen Freihandel, ja mehr noch, eine zentrale Zielsetzung der EU-Kommission ist es, mittels des EU-Binnenmarkts die Ökonomisierung öffentlicher Dienstleistungen durch das Wettbewerbsrecht voranzutreiben. Denn nur in dem Maße, wie ihr dies gelingt, kann die öffentliche Daseinsvorsorge als Verhandlungsmasse eingebracht werden, nach dem GATS-üblichen Motto „Stahl gegen Rindfleisch, Bildung gegen Bananen“. Zu den nationalen Maßnahmen, die die Ökonomisierung unterstützen, gehören die finanzielle Austrocknung des öffentlichen Sektors gemäß OECDEmpfehlungen (Morrisson 1996, S. 28); die Politik der Ermächtigung postdemokratischer Akteure, z. B. der Bertelsmann Stiftung; der medienvermittelte Dauereinsatz von Euphemismen, wie z. B. „Reform“ für Sozialabbau; die „Verwaltungsreform“, d. h. Überführung der öffentlichen Verwaltung in den modus operandi der Betriebswirtschaft durch die neuen Steuerungsmodelle. Ergebnis ist nicht „weniger Staat“, dazu ist der Normierungs- und Kontrollbedarf, der durch diese Transformationen entsteht, viel zu hoch. Wohl aber ist von einem veränderten Modus des Regierens auszugehen. Grundzug der neuen Regierungsform ist, dass postdemokratische Lobbyisten-Verbände weltweit die Führungsrolle in dem neuartigen Geflecht von Politik, Territorium, Ökonomie und Bevölkerung einnehmen, das hier vor unseren Augen entsteht. Für das Verstehen der Moderne war es sinnvoll, von gesellschaftlichen Subsystemen auszugehen, die über relative Autonomie verfügten. Ihre relative Autonomie ermöglichte den Teilbereichen, Ziele nach ihrer je eigenen Logik zu definieren und auch die Mittel selbst zu bestimmen, mit denen sie erreicht werden sollten. Im Bildungswesen konnten so Ideale wie Chancengleichheit oder Mündigkeit und Kritikfähigkeit der Person befördert werden. Wenn nun der öffentliche Diskurs über Bildung wie auch über das Soziale von der politischen Ökonomie dominiert wird – von jener „Technik staatlichen Regierens, die auf dem Feld der Ökonomie und der Bevölkerung interveniert“ (Foucault 2000, S. 62) – so geschieht dies auf Kosten jener anderen gewichtigen Regierungskunst, die die Moderne hervorbrachte, nämlich der Pädagogik. Indem die Differenz zwischen dem Pädagogischen und dem Ökonomischen aufhört, als Grundlage und Grenze zu firmieren, und zum Effekt von Regierungspraktiken wird, erscheinen aus der Sicht des dominanten Diskurses pädagogische Kompetenzen überflüssig. Diese bestehen ja – summarisch gesprochen – darin, der Eigenlogik pädagogischer Prozesse zur Geltung zu verhelfen. Historisch betrachtet, verschwindet das Bildungswesen zwar nicht, wenn es aufhört, ein relativ autonomes Teilsystem zu sein, aber es wird definitiv anders „geführt“. Es unterliegt der machtförmigen Ökonomisierung des Sozialen. Und diese wieder-
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um kündigt letztlich den Zusammenbruch des bürgerlich-kapitalistischen Machtsystems bisheriger Art an. Tektonische Verschiebungen haben begonnen.
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GATS und Bildung: Ein erziehungswissenschaftlicher Zusammenhang (Sabine Andresen)
Die Bedeutung des GATS für die Erziehungswissenschaft ist bislang unklar. Die nachfolgenden Anmerkungen verstehen sich als Versuch, eine systematische Perspektive der Erziehungswissenschaft auf Voraussetzungen und Konsequenzen der dynamischen Globalisierung zu entwickeln. Drei Thesen leiteten dabei die Überlegungen: (1) Die Interpretation der „normierten Globalisierung“ verlangt im disziplinären Kontext von Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik nach wie vor eine theoretische Perspektive auf soziale Gerechtigkeit und auf die damit verbundene Suche nach begründeten politischen Strategien. (2) Globalisierungsprozesse, die sich auf Kinder, Jugendliche und ihre Eltern sowie auf Disziplin und Profession auswirken, verlangen nach einer Verknüpfung von Bildungs- und Sozialtheorie sowie von bildungs- und sozialpolitischen Strategien. (3) Mehr als ihr traditionell lieb ist, muss sich insbesondere die Sozialpädagogik angesichts der Konsequenzen aus GATS zukünftig vermutlich enger an das nationale öffentliche Bildungssystem und damit an die Schule anlehnen. Das bedeutet nicht, sich dem Schulsystem unterzuordnen, sondern das Schulsystem als gefährdetes öffentliches Gut in den Blick zu nehmen. In der hier gebotenen Kürze werden die obigen Thesen in zwei Schritten präzisiert und reflektiert. In einem ersten Zugang wird die Frage nach den politischen und theoretischen Herausforderungen von GATS für die Erziehungswissenschaft untersucht. In einem zweiten Schritt wird in Anlehnung an vorliegende Erkenntnisse über die Voraussetzungen und Folgen von GATS ein bildungstheoretischer Zugang für die Sozialpädagogik aufgezeigt. Erstens: Eine Herausforderung liegt in der systematischen Zusammenführung der politischen, intellektuellen Haltung gegenüber der „normierten Globalisierung“ und einer erziehungswissenschaftlichen Analyse der Voraussetzungen, Konsequenzen und Folgen von GATS. Daran schließen die Suche nach und die Begründung von Strategien der konstruktiven Auseinandersetzung oder des Widerstands an. Für diese Problematik könnte eine Analyse der Konflikte zwischen der primär politisch orientierten feministischen Bewegung und der wissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung hilfreich sein. Es ist vermutlich nahe liegend, dass man bei der Kritik an GATS, am Neoliberalismus, an einer ausschließlich marktförmigen Kundenorientierung auch darauf zielt, den Sozialstaat zu retten, dabei auf ein historisch gewachsenes, bürgerliches Verhältnis von
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Öffentlichkeit und Privatheit zurückgreift und sich an den Werten des traditionellen Nationalstaats orientiert. Eine Schwierigkeit liegt folglich in der präzisen Kritik an den bislang noch existierenden nationalstaatlichen Zugriffen auf soziale Probleme, ohne dadurch der derzeit politisch attraktiven neoliberalen Sicht Vorschub zu leisten. Die Erziehungswissenschaft muss herausfinden, welchen Beitrag sie dazu leisten kann, weil nationale Bildungs- und Sozialsysteme zunehmend von GATS betroffen sind und so der Gesamtkontext nach einer kritischen Einmischung der Erziehungswissenschaft verlangt. Zweitens: Was lässt sich für die Sozialpädagogik über die Rahmenbedingungen der aktuellen Restrukturierungen in Deutschland und der damit zusammenhängenden bildungstheoretischen und -politischen Diskurse sagen? Insgesamt hat die Kritik am Bildungssystem und dessen Anteil an der Reproduktion sozialer Ungleichheit, an Selektion und Exklusion seitens der Erziehungswissenschaft in den letzten zwanzig Jahren eher eine geringe Rolle gespielt. Grob kann von zwei Folgekomplexen der „normierten Globalisierung“ gesprochen werden: Zum einen werden soziale Ungleichgewichte erweitert und verschärft, wir beobachten die Beförderung internationaler Konflikte und der damit einhergehenden Migrationsbewegungen ebenso wie neue und alte Formen von Apartheid. Dies wirkt sich im hohen Maße auf die Nationalstaaten und deren sozialstaatliche Organisation aus. Zum anderen entledigen sich zeitgleich die Nationalstaaten ihrer sozialstaatlichen Aufgaben und Standards, mit der Konsequenz, dass soziale Risiken privatisiert werden. Die Folgen von GATS auf den nationalen Bildungssektor werden vermutlich zunehmend den Alltag von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Eltern prägen. Selbst wenn sich GATS nicht sofort und unmittelbar auf den primären und sekundären Bildungssektor auswirken wird – was keineswegs sicher ist –, so zeigt sich doch bereits heute, dass das damit verbundene neoliberale Gedankengut Einfluss auf die deutsche Bildungs-, Sozial- und Familienpolitik ausübt. In der Kindheits-, Jugend- und Familienforschung haben wir uns angewöhnt, von Akteuren zu sprechen. Diese Akteure ebenso wie Lehrkräfte, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter werden zunehmend mit einer Politik konfrontiert, die sich keineswegs an sozialer Gerechtigkeit und Partizipation orientiert, also den Akteursstatus geradezu negiert. Hier liegen Anknüpfungspunkte für eine kritische Bildungstheorie der Sozialpädagogik, deren eine Richtung gegenwärtig auf der Unterscheidung zwischen formaler, nicht-formaler und informeller Bildung basiert. Wenn die Sozialpädagogik die Bildungstheorie als Antwort auf die politischen Herausforderungen begreift, hat sie angesichts von GATS gute Gründe, sich weiterhin kritisch gegenüber der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Schulsystem zu verhalten, ohne dieses als öffentliches Gut jedoch in Frage zu stellen. Nur in einem öffentlichen Bildungssystem und dem
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Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung kann sie ihren eigenen kritischen Platz gegenüber den neoliberalen Vereinnahmungen behaupten.
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GATS und die Soziale Arbeit in Österreich – ein Zwischenruf (Josef Scheipl)
Kann die Soziale Arbeit in Österreich einen Beitrag dazu leisten, einem – wie der Schriftsteller Rolf Hochhuth in seinem Theaterstück „McKinsey kommt“ formuliert – „Europa, das keine andere Utopie hat als jene, die sich aus den Unternehmens-Bilanzen ergibt“ (Hochhuth 2004, S. 78), eine Alternative entgegenzustellen? Unter den derzeitigen Bedingungen halte ich das für die sozialpädagogischen Professionen schlicht für eine Überforderung. Es existiert weder eine Vernetzung der gehobenen Ausbildungsgänge noch gibt es eine gemeinsame Standesvertretung der Praktiker in Österreich. Eine auf einem europaweit vereinheitlichten Niveau platzierte akademische Qualifikation für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter würde eine Qualifikationsanhebung der gegenwärtig auf (post)sekundärem Niveau ausgebildeten Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie eine Einbuße der zur Zeit tertiär (acht Semester) ausgebildeten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bringen. Bildungspolitische Entscheidungen werden für 2006 in Österreich erwartet. Ähnlich schwach ausgeprägt ist der Vernetzungsgrad innerhalb der praktischen Arbeit, also der professionsbezogenen Kontexte. Die Österreichische Armutskonferenz ist die einzig nennenswerte Gruppierung. Forschungen zu nationalen und internationalen Netzwerken der Sozialen Arbeit fehlen sogar gänzlich.
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Ist ein Qualitätswettbewerb in der Sozialen Arbeit möglich? (Mark Schrödter)
Die trügerische Überzeugungskraft der neoliberalen Privatisierungsstrategie basiert im Wesentlichen auf ihrem Versprechen, Bürokratie abzubauen und Innovation systematisch zu fördern. Die neoliberale Ideologie spitzt dies als Entscheidung zwischen zwei Alternativen zu: Entweder wir dulden die technokratische Herrschaft der Bürokraten, die Verteilung, Qualität und Inhalt der Dienstleistungen bestimmen, oder wir geben die Souveränität zurück an die Bürger, welche frei zwischen Anbietern wählen können, die auf dem Bildungs- und Sozialmarkt miteinander konkurrieren. Da die Kritik der Bürokratie in allen politischen Lagern stets positive Resonanz erwirkt, ja sogar konstitutiv für die Profes-
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sionalisierung der Sozialen Arbeit war, erscheint nun der Wettbewerbsmechanismus als Allheilmittel ökonomischen und sozialen Fortschritts. Nach Friedrich von Hayek – dem entscheidenden Gründungsvater des Neoliberalismus – ist sowohl innerhalb als auch jenseits der ökonomischen Sphäre der Wettbewerb immer dann sinnvoll, wenn man etwas herausfinden möchte, was man vorher nicht weiß bzw. nicht wissen kann. Hayek (1978) spricht daher vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. So veranstalte man im Sport einen Wettbewerb, weil man nicht weiß, wer der Bessere der Kontrahenten ist. So bestünde im Dienstleistungsbereich das Problem darin, zwischen den widersprüchlichen Vorstellungen über Form, Inhalt und Ausmaß der benötigten Dienstleistungen nicht rational entscheiden zu können. Die „Kunden“ von Dienstleistungen haben unterschiedliche Bedürfnisse und Präferenzen, die Dienstleistungserbringer verfügen über unterschiedliche Angebote, sind unterschiedlich qualifiziert und fachlich bzw. inhaltlich unterschiedlich ausgerichtet. Die Kunden mit ihren je spezifischen Erfahrungen und die Dienstleistungserbringer divergieren nun in ihrer Meinung darüber, welche Methoden, Projekte und Maßnahmen angemessen und am wirkungsvollsten sind. Hayek begreift all dies als Wissen, das dezentral auf die verschiedenen Akteure verteilt ist und auch dezentral ständig neu erzeugt wird, sodass weder eine expertokratische Instanz noch ein demokratisches Entscheidungsgremium über all dieses Wissen verfügen und entsprechend nicht rational entscheiden könne. Die Strategien von Unternehmern sind als Hypothesen zu verstehen, also etwa darüber, was die aktuellen Präferenzen der Kunden sind, welche Technologien sich zukünftig bewähren werden und welchen Preis man von den Kunden verlangen darf. Ob solche Hypothesen zutreffend oder falsch sind, bekommt der Unternehmer unmittelbar und schmerzhaft zu erfahren. Gescheiterte Hypothesen äußern sich im Verlust – aus dem andere auf der Basis ihrer erfolgreichen Hypothesen Profit schlagen. Dies wird über den Preismechanismus kommuniziert, so daß weitere Unternehmer die Fehler der Verlierer durch Nachahmung der erfolgreichen Strategien der Gewinner vermeiden können. Nun wird verschiedentlich behauptet, auf dem Bildungs- und Sozialmarkt könne der Wettbewerb ebenfalls als Entdeckungsverfahren begriffen werden. Ohne die höchst problematischen ökonomischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen dieses neoliberalen Wettbewerbsmodells an dieser Stelle kritisieren zu können, soll eine immanente Kritik andeuten, dass sich der Wettbewerb in professionellen Handlungsfeldern nicht als Entdeckungsverfahren begreifen lässt. Kontrastieren wir dazu das ökonomische Handeln einerseits mit dem des professionellen Handelns in Wissenschaft und Sozialer Arbeit andererseits:
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Werner Thole et al. In der Wirtschaft werden von Unternehmern Produkte, also standardisierte Lösungen technischer Probleme vermarktet. Die Qualität dieser Produkte kann durch standardisierte Verfahren der Messung getestet und mit anderen in Hinblick auf die bessere Funktionsfähigkeit, die natürlich immer normativ bestimmt ist, verglichen werden. Insofern konkurrieren also Produkte miteinander. In der Wissenschaft geht es um die Lösung von Erkenntnisproblemen. Theorien und Forschungen, die in Form von Publikationen zirkulieren, konkurrieren miteinander – ebenfalls auf einer normativen Wertbasis – in der Logik des besseren Arguments um höhere Erklärungskraft. Antrieb der Wissenschaftler ist der Erkenntnisdrang. Auch in der Sozialen Arbeit konkurrieren Problemlösungen miteinander, nämlich um höhere Wirksamkeit im Lichte normativer Grundannahmen über die ethische Integrität der Intervention. Aufgrund dieser normativen Wertbasis vollzieht sich die Evaluation von Interventionsstrategien ebenfalls im Modus der Argumentation – Produkte, Theorien und Interventionsstrategien vergleichen sich nun einmal nicht von selbst.
Persönlicher Antrieb von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen ist die Anteilnahme am sozialen Leid einerseits und die wissenschaftliche Neugierde an der Erkenntnis sozialer Probleme andererseits. Und es ist genau dieser Motivationskomplex, der den Verfechtern der Einführung von Wettbewerbsmechanismen und Anreizsystemen für die Soziale Arbeit als zu wenig erscheint. Nun sollen auch soziale Einrichtungen die Folgen ihres Handelns zu spüren bekommen, etwa dadurch, dass sie im Falle des Scheiterns keine Aufträge mehr erhalten und somit letztendlich der Bestand der Organisation gefährdet ist. Dazu werden Ausschreibungsverfahren eingeführt, in denen die Einrichtungen in Form eines standardisierten Leistungsvergleichs miteinander konkurrieren. Damit ist eine weitere Ebene des Wettbewerbs thematisch. Das Ausschreibungsverfahren soll ja ein Äquivalent zum Wettbewerb zwischen Unternehmern sein. In der Sphäre der Wissenschaft gibt es einen ähnlichen Wettbewerbsmechanismus, das Reputationssystem. Auf dieser Ebene spricht zunächst einiges dafür, den Wettbewerb nach dem neoliberalen Modell als Entdeckungsverfahren zu begreifen. Der Reputationsgewinn einer Wissenschaftlerin informiert die Kollegen darüber, dass hier eine gute Theorie bzw. Forschung vorliegt. Die Kollegen prüfen deshalb die entsprechende Publikation, um sich über Erkenntnisfortschritte zu informieren bzw. einfach, um durch Nachahmung selbst im wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig zu bleiben. Darüber hinaus scheint die Funktion des Reputationssystems für Personalselektion der Selektion erfolgreicher Unternehmer durch den Markt analog zu
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sein. Aber letztendlich ist der Wettbewerb zwischen Personen in der Wissenschaft immer sekundär – zumindest solange, wie das Reputationssystem nicht in Form des „Social Science Citation Index“ oder „Journal Impact Factors“ verobjektiviert und mit einem System sog. „leistungsbezogener Besoldung“ verknüpft wird. Für Wissenschaft ist also die Orientierung an ihren Produkten konstitutiv, nicht die Orientierung an Personen. In der Wirtschaft scheint dies anders zu sein. Hier bewähren sich nicht überlegene Produkte, sondern überlegene Unternehmensstrategien. Antrieb ist nicht der „Erfindergeist“ der Entwicklerin, sondern die „Profitgier“ des Unternehmers. Und weil er sich dabei auf den Preis als Informationssystem bzw. den Profit als Indikator von Erfolg stützen kann, besteht kein wirkliches Evaluationsproblem. Die Wirklichkeit des Kapitalisten hat sich schon immer selbst in Form von Zahlen beschrieben. Die Wirtschaft reduziert Qualität immer auf Preis, basiert also letztendlich auf dem eindimensionalen Preiswettbewerb, nicht auf dem mehrdimensionalen Qualitätswettbewerb. Das Ausschreibungsverfahren in der Sozialen Arbeit wird nun als Kandidat eines solchen Qualitätswettbewerbs verstanden. Oberflächlich betrachtet gibt es das ja auch in der Wissenschaft, nämlich bei der Verteilung von Forschungsressourcen. Entscheidend ist aber, dass hier nicht über die Qualität von Forschungsanträgen oder Forschungsergebnissen entschieden wird, sondern nur darüber, ob ein Forschungsvorhaben den derzeit gültigen wissenschaftlichen Standards entspricht. Es handelt sich daher überhaupt nicht um einen Wettbewerb, sondern um eine Form von kollegialer Selbstkontrolle. In der Sozialen Arbeit dagegen scheint nun das Ausschreibungsverfahren zum „Ausschreibungswettbewerb“ zu mutieren, wie das im britischen „Value-for-Money“-System bereits seit langem der Fall ist. Aber das einzige, was hier entdeckt wird, sind diejenigen Programme, die den vordefinierten Kriterien der Inspektoren am besten entsprechen. Es werden nicht mehr lediglich die Einhaltung von Standards überprüft bzw. offensichtliche Kunstfehler in der professionellen Praxis aufgespürt. Der sog. „Ausschreibungswettbewerber“ avanciert zum eigentlichen Ort der Qualitätsprüfung und Inspektoren entscheiden darüber, welche „sozialpädagogischen Unternehmer“ erfolgreich sind und welche „Konkurs“ anzumelden haben. Ironischerweise hat der eingangs erwähnte Friedrich von Hayek das, was seine Nachfolger in seinem Namen tun, als „Anmaßung des Wissens“ bezeichnet und gerade deshalb den Markt als Entdeckungsverfahren propagiert. Der Versuch der neoliberalen Modernisierer, bestehende Wettbewerbsmechanismen zu verstärken bzw. quasi-marktförmige Instrumente einzuführen, läuft also genau darauf hinaus, was sie vorgeblich zu bekämpfen angetreten waren: Die bürokratische Herrschaft der Technokraten. Dass die Alternative zur quasimarktförmigen Ausschreibung, also die Einführung marktförmiger Instrumente
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Werner Thole et al.
für die Soziale Arbeit unmöglich ist, ist immer wieder betont worden. Wir sollten uns daher wieder verstärkt darauf besinnen, was wir wirklich sind: Eine Profession als das paradigmatische Dritte jenseits von Markt und Bürokratie, die nicht-warenförmige und nicht-standardisierbare soziale Dienstleistungen unter Bedingungen der Ungewissheit erbringt.
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Ausblick
Die soziale Architektur der westeuropäischen Gesellschaft steht zur Disposition. Die bisher in den einzelnen Ländern entwickelten institutionellen Netzwerke an Sozialleistungen und öffentlich begleiteten Bewältigungsformen sozialer Risiken werden Opfer einer durch den europäischen Vereinigungsprozess und von internationalen Vereinbarungen begleiteten neoliberalen Rationalisierungspolitik. Die Veränderungen, die die hochentwickelten Länder gegenwärtig vollziehen, untergraben die sozial- und wohlfahrtsstaatlichen, über Jahrhunderte entwickelten Grundkonstanten der europäischen Zivilisation. Auch wenn weiterhin undeutlich bleibt, ob von einem Übergang von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft, von der Industrie- zur Freizeitgesellschaft, von der Ungleichheits- zur Erlebnisgesellschaft oder von der Reichtums- zur Risikogesellschaft auszugehen ist, kann die tiefgreifende Transformation der „alten“ bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kaum bestritten werden. Wir erleben eine Modernisierung, die die klassische Erwerbsarbeitsgesellschaft mit ihrer Konzentration auf die Warenproduktion mit Formen der Steuerung durch Wissen konfrontiert. Neue Informationstechnologien lösen bisher dominante Formen des Kapital- und Finanzmanagements ab oder ergänzen diese. Das bisher tragende einfache Vergesellschaftungsmuster der Reichtumsproduktion wird durch eine neue, reflexive Vergesellschaftungsform der Produktion von Risiken und neuen Ungleichheiten jenseits von Klassen und sozialen Lebenslagen unterlaufen. Und: Die politische Einsicht in die elementare Bedeutung des Bildungssystems wächst, ohne zugleich den Blick in den politischen Entscheidungsgremien für die vielfach belegte Erkenntnis zu schärfen, dass auch und insbesondere ein stark hierarchisches und auf Selektion hin ausgerichtetes Bildungssystem an der Reproduktion sozialer Ungleichheiten beteiligt ist. Die dokumentierten fundamentalen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen vollziehen sich jedoch nicht nur als linearer, geplanter Prozess, sondern vielmehr auch als Nebenfolge des Alltagsgeschäfts industriekapitalistischer Vergesellschaftung. Tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse verstecken sich hinter den Fassaden der ökonomischen Veränderungen und der diese dokumentierenden Datenreports. Zu beobachten ist beispielsweise eine
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Dynamisierung der sozialen Beziehungsformen und -regeln und die Herauslösung der Subjekte aus vormals standardisierten kollektiven Orientierungen und Traditionen. Bekannte und vertraute Stützen der Lebensführung verschwinden und halten zur Gestaltung einer Biographie der optionalen Vielfalt an. Die daraus für die Bildungs- und Sozialsysteme resultierenden Konsequenzen sind in den erziehungswissenschaftlichen und genuin sozialpädagogischen, disziplin- wie professionsbezogenen Diskursen erst ansatzweise Gegenstand. Deutlich zeichnet sich in den Diskussionen jedoch schon heute ab, dass, um den Prozessen einer Ökonomisierung im Sinne einer Entmündigung des „Pädagogischen“ entgegenzuwirken, sowohl die Soziale Arbeit als auch die Erziehungswissenschaft allgemein empirischen Wissens über die funktionsverändernden Folgen und fachlichkeitsgenerierenden Wirkungen der ökonomischen Organisationsmodernisierung bedürfen und diese auch zu kommunizieren haben. Und Konsens besteht weitgehend auch darin, dass die Annäherungen von Systemen des Sozial- und Bildungssektors an ökonomische Rationalitäten dann zur Stolperfalle werden, wenn sich die Implementierungen ökonomischer Wissensbestände ohne gesellschaftstheoretisches Gegenlesen und unter Missachtung reflexiver Vergewisserungen vollziehen. Diese Vergewisserungen haben Konsequenzen. So scheint das „Professionalisierungsdefizit“ der Sozialen Arbeit – aber auch das in anderen pädagogischen Handlungsfeldern – ausschließlich über zweckrational gesteuerte Organisationsreformen nicht lösbar zu sein. Die Veränderung der institutionellen Kontexte des Bildungs- und Sozialsystems erfordert eine politisch gewollte Professionalisierung der organisatorischen, strukturellen und personellen Ressourcen. Eine Reform der Verwaltungs- und Organisationsstrukturen sowie der politischen Rahmungen des Sozial- und Bildungsbereiches ohne parallele, fachliche Qualifizierung des Personals bleibt somit auch im GATS-Zeitalter ein zum Scheitern verurteilter Versuch der Professionalisierung und Qualifizierung der Sozial- und Bildungslandschaft. Literatur Foucault, M.: (2000): Die Gouvernementalität. In: Bröckling, U./Krasmann, S./Lemke, T. (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 41–67. Hayek, F. A. von (1978): The pretence of knowledge. In: ders.: New Studies in Philosophy, Politics, Economics and the History of Ideas. London: Routledge & Kegan Paul, S. 23–34. Hochhuth, R. (2004): McKinsey kommt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Morrisson, C. (1996): The Political Feasability of Adjustment. Policy Brief No. 13. Paris: OECD.
Regionale Netzwerke zur Förderung lebenslangen Lernens – Lernende Regionen Rudolf Tippelt / Christoph Kasten / Rolf Dobischat / Paolo Federighi / Andreas Feller
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Regionalpolitische Handlungsfelder in der Bildung
Mit dem Begriff „Lernende Region“, der Mitte der 1990er-Jahre in den bildungspolitischen Diskurs eingeführt wurde, ist eine Perspektive verknüpft, bildungspolitische Problemlagen im Hinblick auf potentielle Lösungspfade stärker als bisher unter regionalen Steuerungs- und Regulierungsgesichtspunkten zu betrachten. Blickt man in die Geschichte der weiterbildungspolitischen Debatte der letzten vierzig Jahre zurück, so haben regionale Aspekte seit langem eine relevante Rolle in dem komplexen Geflecht der Verursachung und Bewältigung weiterbildungsbezogener Problemlagen gespielt. Beispielhaft ist hier auf den Deutschen Bildungsrat (1970) zu verweisen, der eine regionale Dimension von sozialer Benachteiligung im Zugang zu Bildungsprozessen diagnostiziert hatte und auf regional-lokaler Ebene ein entsprechendes Planungsforum zum Abbau entstandener Bildungsdiskriminierungen forderte. Erinnert sei auch an die frühen Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zur regionalen Bedeutung bei den Statuspassagen von Jugendlichen vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem. Diese Beispiele ließen sich um viele weitere ergänzen, die den Aspekt regionaler Disparitäten und damit verkoppelter Ungleichheit bei der Wahrnehmung von Bildungschancen thematisierten, so dass man bereits für die 1970er- und 1980er-Jahre von einer mehr oder minder etablierten regionalisierten (Weiter-)Bildungsforschung sprechen kann, zu der unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie z. B. die Regional- und Raumforschung, die Arbeitsmarkt- und Berufsbildungsforschung und nicht zuletzt die Weiterbildungsforschung selbst Beiträge lieferten (Dobischat 2000; Brödel 2004). Das entstandene Spektrum der identifizierten Handlungsfelder für regionalpolitische Aktivitäten und Initiativen umfasste bereits Themen wie z. B. Information und Transparenz der Angebote, Beratung und Betreuung von Individuen und Betrieben (Eckert et al. 1997), Qualitätssicherung, finanzielle Förderung,
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Rudolf Tippelt et al.
Bedarfsermittlung, Professionalisierung des Weiterbildungspersonals, Kooperation und Abstimmung. Von Bedeutung hierbei ist, dass eine Vielzahl dieser Aktivitäten zumeist über projektgebundene Förderung initiiert wurde, somit regionale Rahmenbedingungen nur zeitlich begrenzt verbessert wurden (vgl. Gnahs 1994; Geldermann 2000; Dobischat et al. 1998).
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Netzwerkkonzept und Lernende Regionen
Grundlegend für die heutige Konzeption Lernender Regionen ist das Netzwerkkonzept: Unter sozialen Netzwerken versteht man eigenständige Formen der Koordination von Interaktion, deren Kern die vertrauensvolle Kooperation autonomer, aber interdependenter Akteure ist, die für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten. In einer „vernetzten pädagogischen Umgebung“ wird jeder einzelne Akteur auf die Interessen des jeweiligen Partners Rücksicht nehmen, weil auf diese Weise die spezifischen partikularen Ziele jedes einzelnen Akteurs besser realisiert werden können als durch nicht koordiniertes Handeln. Die Netzwerkforschung und die pädagogisch relevante Netzwerkarbeit haben eine lange Tradition und sind als interdisziplinär zu kennzeichnen (Straus 2002): soziale Netzwerke (Lewin, Moreno, Simmel und in aktuellen Zusammenhängen des bürgerschaftlichen Engagements H. Keupp), politische Netzwerke (Kommunitarismus-Ansatz), Unternehmensnetzwerke, pädagogische Gemeinwesenarbeit und pädagogische Schulgemeinden, virtuelle Lerngemeinschaften, Verbundsysteme der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit und als insgesamt größte Initiative „Weiterbildung in lernenden Regionen“ (vgl. Durchblick 2004; Schaffer/Thieme 1999). Bereits die Modellversuche des Bundesjugendministeriums in den 1980erJahren hatten zum Ziel, vor Ort in den Regionen oder lokal die Grenzen von Institutionen und die jeweiligen spezifischen Egoismen zu überwinden. Die Einrichtungen der Jugendberufshilfe übten sich darin, die Akteure der Jugendhilfe, Jugendarbeit, Sozialhilfe, Jugendberufshilfe, Jugendgerichtshilfe, der berufsbildenden Schulen, der Sonderschulen, der allgemeinbildenden Schulen, der Kommunen, Kirchen, Gewerkschaften und Verbände und nicht zuletzt auch die Arbeitsämter in vernetzte Systeme zu integrieren. Über die Formen der vernetzten Verbundausbildung gelang es in vielen Regionen, neue zusätzliche Ausbildungsreserven zu mobilisieren, die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben zu erneuern und auch schwierige Jugendliche mit vielfältigen sozialen Problemen in eine berufliche Ausbildung zu bringen. Zentral für den Erfolg dieser sozialpädagogischen Initiativen war es, die sozialpädagogischen Träger mit den beruflichen Ausbildungsbetrieben zu vernetzen (Bonnifer-Dörr 2004, S. 8). Der Netzwerkan-
Regionale Netzwerke zur Förderung lebenslangen Lernens
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satz wurde in den letzten Jahren konsequent auch auf die Weiterbildung übertragen (Jütte 2002). Dabei geht es darum, lebenslanges Lernen zu ermöglichen und die strukturellen Voraussetzungen für einen offenen Zugang zu den regionalen Lernwelten zu schaffen. Insbesondere das Aktionsprogramm „lebensbegleitendes Lernen für alle“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie die Empfehlungen des „Forum(s) Bildung“, in denen Strategievorschläge für die Qualität und Zukunftsfähigkeit der Bildung in Deutschland erarbeitet wurden, haben wesentliche Leitgedanken auch der Lernenden Regionen vorbereitet: • • • • •
Stärkung der Eigenverantwortung und Selbststeuerung der Lernenden, Motivierung benachteiligter bzw. bildungsferner Gruppen, Stärkung der Bezüge zwischen allen Bildungsbereichen, Kooperation der Bildungsanbietenden sowie Nutzer und Nutzerinnen, qualitative und quantitative Verbesserung der Angebote und Angebotsstruktur, vor allem im Sinne einer stärkeren Nutzerorientierung (BMBF 2004).
Die Kooperationen – insbesondere die Vernetzung – sollen dabei den Bildungsanbietern eine Chance bieten, den Strukturwandel für das lebenslange Lernen aktiv zu gestalten. Die sich fortwährend verändernden Erwartungen der Unternehmen und der Lernenden, die Individualisierung von Lernanforderungen und auch die Reformen in der Arbeitsmarktpolitik verlangen Innovationen, die einzelne, häufig auch kleine Anbieter in der Weiterbildung, aus eigener Kraft nicht realisieren können. Ziel des BMBF-Programms „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ ist es daher, wichtige Akteure aus unterschiedlichen Bildungsbereichen zusammenzuführen, damit diese dann gemeinsam innovative Angebote für das lebenslange Lernen im Rahmen von regionalen Strategien entwickeln können. Angesprochen sind dabei •
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allgemeine und berufsbildende Schulen, Hochschulen, Träger und Einrichtungen der außerschulischen und der außer- bzw. überbetrieblichen Bildung, gewerkschaftliche Bildungsorganisationen und Bildungswerke der Wirtschaft, Volkshochschulen, kirchliche Bildungsträger, kommerzielle Anbieter und sonstige Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Kammern, Gewerkschaften, Organisationen zur Wirtschaftsförderung, Bildungsberatungsstellen, Jugendämter, Arbeitsämter und sonstige Verwaltungen, kulturelle und soziokulturelle Einrichtungen, die Lehrenden und Lernenden (BMBF 2004, S. 6).
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Rudolf Tippelt et al. Netzwerkarbeit und Kooperation
Die Lernenden Regionen sind der vorliegende Höhepunkt einer pädagogischen Vernetzungsstrategie, die sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend etablieren konnte. Ziele von pädagogischer Vernetzung sind: Innovationen in der pädagogischen Arbeit auszuarbeiten, d. h. neue Wege bei der Ansprache von Lernenden zu gehen; Synergien zwischen den verschiedenen Weiterbildungsanbietern zu bewirken, damit beispielsweise Doppelangebote, aber auch Lücken in den regionalen Programmangeboten geschlossen werden können; wechselseitig Schwächen zu kompensieren, weil sich in der Addition der Leistungen der verschiedenen Weiterbildungsträger das regionale Leistungspotential besser erschließen lässt; eine nachhaltige Entwicklung zu erzeugen, damit auch mittel- und längerfristig Kooperationen zwischen den verschiedenen Bildungsinstitutionen aufrechterhalten werden können; dabei immer die regionale Identität im Blick zu halten, weil die Region ein relevantes Handlungsfeld der Weiterbildungspolitik darstellt. Bei der kommunikativen Vernetzung verschiedener Bildungsträger soll kein Konkurrenzverständnis der einzelnen Akteure zugrunde gelegt, sondern institutionen- und themenübergreifende Kooperationsstrukturen nach der Logik vernetzter Systeme angestrebt werden. Zu unterscheiden sind hierbei, das zeigen bereits die ersten Projekterfahrungen, „weak and strong ties“: Bei starken Beziehungen (strong ties) kann es sich um dauerhafte Bindungen handeln, die eine starke Beharrungskraft aufweisen. Emotional bindend und auf Gegenseitigkeit beruhend, nehmen die verschiedenen Institutionen wechselseitig eine unterstützende Funktion ein. Bei schwachen Beziehungen (weak ties) dagegen sind weit weniger intensive und reziproke Kooperationen gegeben, die eher dem Informationsgewinn und der Arbeitserleichterung dienen. Entsprechend kann innerhalb von Netzwerken zwischen relativ lockeren Informationsbeziehungen, intensiveren Austauschbeziehungen, verschmelzenden Organisationsbeziehungen und emotional getönten Freundschaftsbeziehungen differenziert werden (vgl. Keupp/Röhrle 1987; Scheff 2001). Netzwerkarbeit hat verschiedene Kooperationsformen als Grundlage und wirbt dabei in jeweils unterschiedlicher Weise gegen die regional sichtbaren Konkurrenzstrukturen. Bei der folgenden typisierenden Betrachtung geht es vor allem um die Kooperation zwischen Weiterbildungsanbietern. Es ist darauf hinzuweisen, dass die vertikale Vernetzung (Tippelt et al. 2003) zwischen den Bildungsbereichen Weiterbildung, Betrieb, Schule, Hochschule für die Lernenden Regionen ebenfalls von zentraler Bedeutung ist. Durch komplementäre Kooperation werden die verschiedenen Profile von Weiterbildungsanbietern geschärft und es werden unterschiedliche Zielgruppen
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von den jeweiligen Trägern in bewusster Koordination angesprochen. Der nachfrageorientierte Markt lässt sich beispielsweise gezielt aufteilen. Bei subsidiärer Kooperation kommt es zu einer Zusammenarbeit bei verschiedenen Gemeinschaftsaufgaben; so lässt sich beispielsweise eine gemeinsame trägerübergreifende Beratung gestalten, das pädagogische Personal kann trägerübergreifend fortgebildet werden, gemeinsame Bildungswerbungsaktionen werden durchgeführt oder die Raumnutzung kann koordiniert werden. Bei ökonomischer Kooperation unterscheiden sich nach wie vor die Aufgaben der verschiedenen Weiterbildungsanbieter grundsätzlich, es kommt aber zu einer engen Kooperation bei der Finanzierung und beim Sponsoring; beispielsweise könnte versucht werden, die Finanzierung für den regionalen Verbund vernetzter Bildungsinstitutionen gemeinsam über Drittmittel zu verbessern. Bei der integrativen Kooperation kommt es idealtypisch zu enger inhaltlicher Zusammenarbeit bei einzelnen Projekten und wechselseitiger Mitwirkung bei den Programmen der Bildungsanbieter. Mit diesen Formen der Kooperation sind Hoffnungen verbunden, den Wissenstransfer in den Netzwerken zu beschleunigen, Kosten für verschiedene Gemeinschaftsaufgaben zu senken und auch Parallelentwicklungen, die möglicherweise hinderlich sind, zu vermeiden. Institutionen in Netzwerken sichern sich einen besseren Zugang zu Kursleitern, zur Finanzierung, zu Räumen, zu den Adressaten durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit und zu politischen Entscheidungsträgern durch koordinierte Interessens- und Willensbeschreibung. Aus den zurückliegenden Erfahrungen vernetzten Handelns lassen sich einige Grundprinzipien ableiten: • • • • •
Bei Netzwerkarbeit muss auf alle zur Verfügung stehenden regionalen und sozialen Ressourcen zurückgegriffen werden. Sinnvoll ist es, aktuell gegebene Probleme im jeweiligen Gemeinwesen und in der jeweiligen Region aufzugreifen. Wenn bereits Netzwerke existieren, gilt es, diese zunächst durch Formen des Coaching zu stärken. Lassen sich die vorhandenen Netzwerkansätze erweitern, können sich auch neue Netzwerke bilden (network construction). Bereits vorhandene professionelle Netzwerke müssen sich häufig Veränderungen unterziehen, was im Sinne des Change-Management bedeutet, klare Veränderungsziele gemeinsam zu entwickeln, den jeweiligen Informationsstand der Akteure zugrunde zu legen, das vorhandene Problembewusstsein und den Leidensdruck der einzelnen Akteure zu berücksichtigen, ChangeManagement immer offen zu gestalten, damit Vertrauen und Glaubwürdig-
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Rudolf Tippelt et al.
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keit entsteht, hinreichend Energie und Engagement für die Problemanalyse und Problemlösung zu sichern. Netzwerkarbeit ist auf das Herstellen von sozialer Kohäsion angewiesen, d. h. beispielsweise, dass gemeinsame Visionen der Entwicklung und konkrete Zielplanung institutionenübergreifend stattfinden müssen. Die Stärken jeder einzelnen Bildungsinstitution werden herausgearbeitet (empowerment). Bei der pädagogischen Netzwerkarbeit werden integrative pädagogische Prozesse gefördert, was bedeutet, dass sehr unterschiedliche Projekte gemeinsam etabliert werden: Bildungsportal, Qualifikation ehrenamtlicher Mitarbeiter, Qualifikation hauptamtlicher Mitarbeiter, Konferenz und Messen, Public Relations und Werbung für lebenslanges Lernen, innovative Unterrichtsprojekte an neuen und z. T. neu verzahnten Lernorten, Fachkräfteentwicklung, Gründung von Beratungsagenturen, Neuqualifizierung von Beratern (vgl. Tippelt et al. 1996).
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Lernende Region: ein Praxisbeispiel
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Am Beispiel der Lernenden Region des Landkreises Emmendingen (Feller) wurden solche Schwerpunkte integrativer Netzwerkarbeit dargestellt. Die Sensibilisierung für lebenslanges Lernen wurde durch Wanderausstellungen im Landkreis, durch eine Lern-Tour, durch Workshops in den Gemeinden, durch ein Lernmobil und durch gezielte Lerntage im Landkreis gestärkt. Die Bedarfs- und Nachfrageorientierung des Netzwerkansatzes konnte durch Mitarbeiterbefragungen in Unternehmen, durch Befragen der Geschäftsführer, durch Bildungsmonitoring und durch Werkstattgespräche mit verschiedenen Zielgruppen verbessert werden. Der IT-Bereich wurde durch eine Lernplattform, durch ein Lernportal, durch kooperative E-Learning-Systeme durch einen gemeinsamen Internetzugang und durch die Entwicklung niedrigschwelliger IT-Angebote ausgebaut. Die Einbeziehung der Unternehmen konnte durch Projekte des Organisationslernens am Arbeitsplatz, durch besondere Qualifizierungsmaßnahmen der Personalentwicklung in Klein- und Mittelunternehmen sowie durch eine Unternehmerakademie vollzogen werden. Die bislang schwach entwickelte Zusammenarbeit von Schulen und Betrieben konnte durch Praktikabörsen der Schulen auf der Basis elektronischer Plattformen, durch Unterrichtsbesuche von Unternehmen, durch lokale Round Tables unter Mitwirkung von Vertretern der Schulen und Betriebe und durch neue Formen der Berufspräsentation für Schüler gestärkt werden. Schließlich wurde der Zielgruppenansatz durch die Etablierung gemeinsamer Assessment-Center für junge Menschen, durch das Multiplikatorentraining für
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Lernberater und Lernbegleiter, durch die Qualifizierung Geringqualifizierter im Betrieb sowie die besondere Ansprache von älteren Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen weiterentwickelt. Aufgrund der Grenzlage wurden deutschfranzösische Kooperationen und Formen mehrsprachigen Lernens verstärkt etabliert. Dieses Beispiel einer Lernenden Region zeigt auf, wie bildungspolitische Problemlagen im Hinblick auf potenzielle Lösungspfade stärker als bisher unter regionalen Steuerungs- und Regulierungsgesichtspunkten betrachtet werden können. Zentrales Ziel der innovativen Aktivitäten in der Lernenden Region ist es, nachhaltig eine leistungsstarke Infrastruktur aufzubauen.
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Regionalisierung als Gestaltungsansatz
Bekanntlich ist die Weiterbildung aufgrund ihrer ordnungspolitischen Verankerung, die sich durch die Prinzipien der „Subsidiarität“, der „Pluralität“ und „Marktorganisation“ charakterisieren lässt, durch eine Vielzahl von Strukturdefiziten überlagert. Das Regionalisierungskonzept, das sich als staatliches Modernisierungskonzept versteht, zielt im Kern darauf ab, die Region als Referenzrahmen für Politikgestaltung zu begreifen. Regionalisierung in diesem Verständnis (Benz et al. 1999; Diller 2002) •
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ist eine Strategie der Entwicklungspolitik, in der es vorrangig um die ökonomische, soziale, ökologische und kulturelle Entwicklung von Räumen geht; ist im Kern eine Politik, die auf Funktionsräume abstellt und in denen Politik jenseits des öffentlichen Sektors stattfindet. Priorität genießen Aktivitäten und Ressourcen, nicht die Definition von abgegrenzten Zuständigkeiten; charakterisiert sich durch die Veränderung der Aufgabenerfüllung und der Handlungsformen; statt einer hierarchischen Steuerung durch den Staat wird der flexiblen Kooperation zwischen staatlichen, kommunalen und gesellschaftlichen Akteuren Vorrang eingeräumt; präferiert die Integration von Akteuren und Aktivitäten innerhalb der Region z. B. im Rahmen einer raumbezogenen Querschnittspolitik (statt sektoraler Fachpolitiken), ist durch die zunehmende Herstellung von Legitimation und Kontrolle durch Formen der Verhandlungsdemokratie gekennzeichnet.
Die handelnden Akteure in diesem Zielsystem definieren sich als ausgewiesene Kenner der Problemlagen und sie sind die Experten bei der Formulierung strukturpolitischer Leitbilder, die in einem dialogorientierten Diskussionsprozess
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erarbeitet werden. Die Beachtung regionsspezifischer Ausgangsbedingungen und Adaptionsmöglichkeiten bei der Entfaltung von milieubedingten Innovationspotenzialen und endogenen Ressourcen stellen die Ausgangspunkte für die Entwicklung regionaler Wachstumsprozesse dar. Kooperation und Koordination sind die zentralen Steuerungs- und Gestaltungsmuster im Aushandlungsfeld zwischen zentralem Staat, dezentralem Staat, Markt und organisierten gesellschaftlichen Interessen. Dialogorientierte Verhandlungssysteme in Form intermediärer Organisationen bilden die neuen Politikinstrumente, die den regionalen „Take off“ einleiten sollen. Im Kontext von beruflicher Aus- und Weiterbildung hat die „Standortdebatte“ zentrale Impulse für die Diskussion insofern geliefert, als der „weiche Faktor“ der „Qualifikation“ und damit die Infrastrukturausstattung und der Leistungsgrad des regionalen Aus- und Weiterbildungssystems eine wichtige Funktion beim Aufbau eines qualifizierten Potenzials an Humankapital und als Anreiz für Investitionen und damit für Arbeitsplätze spielen kann (Dobischat 2000). Netzwerke spielen in der aktuellen Regionalisierungsdiskussion eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur als theoretisches Konzept, sondern auch als Modell für die Strukturierung regionaler Politik. Netzwerke sind dabei Ausdruck verschwimmender Grenzlinien zwischen Staat und Gesellschaft, wachsender Handlungsverflechtungen der Akteure und damit auch steigender Partizipationsansprüche bei der Bewältigung von komplexen Aufgaben und Anforderungen. Sie dienen dem verhandlungsdemokratischen Verfahren der Konsensfindung und Kontextsteuerung. Ungeachtet der jeweiligen Reichweiten und Stabilitäten von bestehenden Netzwerkmodellen zielt die Grundintention darauf ab, bisher voneinander getrennte Aktionsfelder der Weiterbildung und deren Träger in einen Kommunikations- und Kooperationsprozess einzubinden und dabei vorhandene Ressourcen zu optimieren und Synergien zu nutzen. Netzwerke sind als notwendiger Unterbau einer regionalen Weiterbildungspolitik anzusehen. Sie können aber nur dann effektiv und optimal arbeiten, wenn die Akteure eine gegenseitige Akzeptanz entwickeln, einen Interessenausgleich herstellen und Partizipation ermöglichen. Unter dieser Voraussetzung können sie einer Region als ordnungspolitischer bzw. gebietskörperschaftlicher Referenzpunkt ein eigenes Gewicht verleihen, ohne dass damit die ordnungspolitische Funktion von staatlichen Rahmenregelungen gleich in Frage gestellt ist. Zudem wären sie in der Lage, das Marktgeschehen in Schranken zu verweisen, nachdem „Verbindlichkeit“ als Charakteristikum von Netzwerken anerkannt wird.
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Förderung von Netzwerken – Anmerkungen zu einem bildungspolitischen Programm
Das im Jahre 2001 gestartete Bundesprogramm „Lernende Regionen“ kann zweifellos von seiner Zielsetzung her als umfassendes weiterbildungspolitisches Konzept zur Umsetzung des lebenslangen Lernens angesehen werden. Mit den Zielen thematisiert es wesentliche Problemfelder in der Weiterbildung, die bereits in der Vergangenheit, wie z. B. bei der Frage der Bildungsbeteiligung und der Transparenz, eine Rolle spielten. Mit der Akzentuierung von mehr individueller (institutioneller) Eigenverantwortlichkeit, der Perspektivenverschiebung zu Gunsten der Bildungsnachfrage, der Integration unterschiedlicher Lebens- und Bildungsbereiche und nicht zuletzt der Verknüpfung von verschiedenen Teilpolitiken soll eine regionale Lernkultur etabliert werden, die zudem auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Aus implementationspolitischer Sicht können sich dabei folgende Aspekte als schwierig herausstellen; sie bedürfen daher der intensiven wissenschaftlichen Analyse. So hängt der Erfolg regionaler Netzwerke bei der Umsetzung bestimmter Programmziele davon ab, ob es gelingt, die bestehende Segmentierung der Qualifizierungsfunktionen sowie die Separierung der Bildungsakteure und Steuerungsorgane aufzulösen und in einen Prozess neuer institutionellkooperativer Arrangements mit veränderter Machtbalance zu transformieren (Hövels/Kutscha 2001). Von Interesse hierbei ist daher nicht nur, die Barrieren und die förderlichen bzw. hinderlichen Faktoren zu diagnostizieren, sondern in Erfahrung zu bringen, wie z. B. das regionale Netzwerkmanagement in konkreten Situationen agiert, interveniert und steuert, um die Interessen in einem Feld, welches nach wie vor durch Konkurrenz, wie z. B. in der Weiterbildung, oder durch regulierende Vorgaben, wie z. B. in der schulischen und beruflichen Ausbildung, bestimmt ist, auszutarieren. In diesem Zusammenhang ist u. a. der Frage nachzugehen, ob und inwieweit es gelingt, die allgemeinbildenden und vor allem die beruflichen Schulen als „Dienstleistungseinrichtungen“ an exponierter Stelle in die regionale Akteurskonstellation einzubinden. Dies ist deshalb von besonderer Relevanz, weil sich die Übergangsprobleme Jugendlicher vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem deutlich verschlechtert haben, so dass es zu erheblichen Chancenungleichheiten im Zugang zum Lernen schon beim Start einer Erwerbskarriere kommt und den Schulen hier eine besondere Aufgabe zuwächst. Zu fragen ist auch, wie die Einrichtungen der Weiterbildung auf veränderte Anforderungen in einem Prozess regionaler Reformulierung der bildungspolitischen Ziele und Aufgaben und der Restrukturierung der darauf auszurichtenden institutionell-organisatorischen Rahmenbedingungen reagieren. So hat mit der Durchsetzung unternehmerischer Prinzipien am Weiterbildungsmarkt und der
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Rückwirkung auf die institutionelle Weiterbildungsinfrastruktur das Paradigma der Betrieblichkeit in der Aufgabenbearbeitung die normative Hegemonie angetreten. Die klassischen Bildungsträger sind in einen Anpassungs- und Legitimationsdruck gezwungen, der unter den Bedingungen knapper öffentlicher Finanzierung zunehmend von der betrieblichen Handlungslogik der Produktorientierung und Vermarktung definiert wird. Konsequenz dieser Entwicklung bei den Bildungsträgern, und dies vor dem Hintergrund zunehmender Konkurrenz um bestehende und neu zu erschließende Marktsegmente, ist die forcierte Durchsetzung moderner Management- sowie Organisations- und Professionalisierungskonzepte, veränderter Marketingstrategien wie auch die Umsetzung von Verfahren der Qualitätssicherung, der Kunden- und Dienstleistungsorientierung, des Benchmarking und des Controlling (vgl. Enders 2001; Probst et al. 2000; Kappelhoff 1999). Die Notwendigkeit der Anpassung wird zudem durch die veränderten Formen der Lehr- und Lernorganisation erzeugt. Der Einsatz neuer Lerntechnologien im Sinne multimedial unterstützter, selbstorganisierter und selbstgesteuerter Lernprozesse im Kontext des lebenslangen Lernens, der die traditionellen institutionell-organisatorischen Strukturen, Lernorte, Curricula wie auch Zeitdimensionen in der Verteilung von Lern- und Arbeitsphasen in der Erwerbsbiographie nachhaltig beeinflusst, wird nicht ohne Auswirkungen auf die regionalen Bildungslandschaften bleiben. Welches veränderte Selbstverständnis, Aufgabenprofil und Autonomiespektrum infolge auch veränderter Nachfrageanforderungen für das Akteurshandeln daraus entsteht, ist gegenwärtig noch eine offene, aber interessante Frage, deren Beantwortung einer stärkeren praxisunterstützenden Forschung zugeführt werden muss. Durch das Programm „Lernende Regionen“ sind neue Schnittstellen und Gestaltungsarenen für bildungspolitisches Handeln definiert worden. Davon betroffen ist nicht nur das Verhältnis von Aus- und Weiterbildung, zwischen schulisch basierten und betrieblichen Bildungskarrieren sowie zwischen Theorie und Praxis auf allen Ebenen des Beschäftigungs- und Qualifikationssystems, sondern betroffen sind auch die neuen Herausforderungen an die individuelle Lebensgestaltung im Wechsel zwischen beruflichen und außerberuflichen Lebensphasen mit ihrer Komplexität an fachlichen, sozialen und humanen Kompetenzanforderungen, die im regionalen Erfahrungsraum zu Identitäts- und Persönlichkeitsbildung führen. Dieser Erfahrungsraum ist aber allein nicht mit Lernanforderungen gleichzusetzen, die durch das Beschäftigungssystem induziert werden, sondern es geht vielmehr um weitergehende Kontexte des Identitätslernens, der Persönlichkeitsbildung und -entfaltung. Gerade dies in das Zielsystem regionaler Entwicklung und Förderung von Bildungs- und Lernprozessen einzubinden, könnte zum Kristallisationspunkt der Entfaltung einer neuen Lernkultur in der Region werden, die nicht nur die beste-
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henden strukturellen Defizite in der Weiterbildung bearbeitet, sondern der Region als Handlungsareal ein bildungspolitisches Gewicht verleiht.
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Bildung als performativer Prozess – ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung Christoph Wulf / Jörg Zirfas
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Einleitung: Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien
Der in den letzten Jahren zu konstatierende performative turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften hat auch für die Erziehungswissenschaften erhebliche Konsequenzen. Wer heute vom Performativen spricht, ist Teil eines sich in den Sozialwissenschaften zur Zeit etablierenden Diskurses, der die aus der Sprachwissenschaft stammenden Begriffe „performativ“ und „Performanz“, den kunstund theaterwissenschaftlichen Begriff der „performance“ und den zunächst in der Genderforschung verwendeten Begriff der „Performativität“ zusammenführt. Gemeinsam ist diesen Begriffen, dass sie sich weniger um Tiefer- bzw. Dahinterliegendes als um das phänomenale Geschehen, weniger um die Struktur und die Funktionen als um den Prozess, weniger um Text oder Symbol als um die Herstellung von Wirklichkeit bemühen. Die Perspektive des Performativen rückt die Inszenierungs- und Aufführungspraktiken sozialen bzw. pädagogischen Handelns, deren wirklichkeitskonstitutive Prozesse sowie den Zusammenhang von körperlichem und sprachlichem Handeln, Macht und Kreativität in den Mittelpunkt. Mit der Idee, Prozesse der Interaktion und dramaturgische Sprach- und Handlungsvollzüge sowie Körperlichkeit und Materialität der Erziehungs- und Bildungssituationen in den Mittelpunkt zu rücken, fokussiert der Blickwinkel des Performativen auf Rahmungen, Szenerien, mimetische Zirkulationsformen, Präsentationspraktiken und Darstellungssituationen. In diesem Sinne erscheint der performative Fokus als Bereicherung der qualitativen Bildungsforschung bzw. der pädagogischen Ethnografie. Denn performative Bildungs- und Lernprozesse – im Zusammenhang mit den dazugehörigen performativen pädagogischen Handlungspraktiken – sind im Bereich von Erziehung, Bildung und Sozialisation bislang kaum empirisch untersucht worden.
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Christoph Wulf / Jörg Zirfas Zur Geschichte und Bedeutung der Konzeptionen des Performativen
Für die diversen Theorien und Konzepte des Performativen lassen sich fünf zentrale historische Referenzen herausstellen: (1) die Sprechaktphilosophie von John Austin, die Aussagen als Handlungen begreift, (2) die Transformationsgrammatik von Noam Chomsky mit ihrer Differenz von Performanz und Kompetenz, (3) die Kultur- und Theatertheorien der performance art, des Happening und des Fluxus, (4) die Genderdiskussion, in deren Verlauf Judith Butler den Begriff der Performativität als rituelle Zitierung des Geschlechts einführt, und schließlich (5) der seit 1999 in Berlin etablierte Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“, in dessen Verlauf vor allem die Momente Körperlichkeit, Referentialität, Flüchtigkeit, Kreativität, Darstellung, Emergenz und Wiederholung/Ritualisierung herausgearbeitet wurden. (1) John Austin: Mit dem Begriff des Performativen verschiebt Austin die Frage nach der Wahrheit von Aussagen, die die Sprachphilosophie lange Zeit beschäftigte, zur Frage nach der Wirkungsweise von Sprache (Austin 1998). Als „performativ“ bezeichnet er das mit dem Sprechen verbundene Handeln. Eine performative Äußerung liegt etwa dann vor, wenn ein Pfarrer sagt: „Ich taufe Dich auf den Namen ...“. Bei einer solchen Äußerung geht es nicht um wahr oder falsch, sie kann lediglich glücken oder nicht glücken. Um zu glücken, bedarf es bestimmter, oftmals rituell festgelegter Bedingungen. Performative Handlungen funktionieren dann, wenn sie in der Form einer Zeremonie oder eines Rituals auftreten. Doch geht das Performative über das bloße unmittelbare Handeln in rituellen Kontexten hinaus und bezeichnet auch noch die (rituelle) Wirkung dieses Handelns. Während der Begriff „Performance“ vor allem künstlerische Handlungen bezeichnet, kennzeichnet der Begriff des Performativen in der Sprachphilosophie Austins selbstreferentielle, deklarative und vorfabrizierte Äußerungen, die sich oft im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen und im Rahmen rituellen Handelns vollziehen. (2) In Noam Chomskys linguistischen Überlegungen avanciert der Begriff der Performanz zu einem Komplementär- und Gegenbegriff zu „Kompetenz“ (Chomsky 1973). Seine Kritik am Behaviourismus – der, wie Chomsky festhält, das System der Sprache auf Sprechen reduziert – führt ihn dazu, Sprache nicht mehr als bloßes System, sondern als spezifisch menschliches Vermögen zu interpretieren. Den Begriff „Performanz“ übernimmt Chomsky aus der Lernpsychologie und setzt ihn der Sprachfähigkeit und Sprachbeherrschung entgegen; die Linguistik wird so zu einem Zweig der kognitiven Psychologie. Eine andere Verbindung besteht zu Ferdinand de Saussures Differenzierung von „langue“ und „parole“, wobei „Kompetenz“ mit „langue“ und „Performanz“ mit „parole“ zu identifizieren ist. Die sprachliche Performanz wird, in idealer Weise, bei
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Chomsky als Widerspiegelung der sprachlichen Kompetenz verstanden. Dabei lassen sich unter „Performanz“ durchaus verschiedene Dimensionen und Ebenen erfassen, etwa das konkrete aktuelle Sprechen (Tun), die Anwendung von Sprachmechanismen- und formen, dann Performanz als Ausdruck für eine spezielle kommunikative Kompetenz und schließlich auch – noch eingeschränkter – Performanz als Ausdruck der Beherrschung der Grammatik (Elling 1989). So verweist „Performanz“ als begriffliches Komplement von „Kompetenz“ heute auf (Sprach-) Verwendung, Ausführung, Vollzugshandlung oder Verrichtung. (3) Formen des Happening, Fluxus, Body-Art, der Aktions- und der Performance-Kunst stellen den Ausdruck und das Ausleben von Emotionalität und Körperlichkeit, die physische und psychische Dynamik der Aktionsgruppe und die Entdifferenzierung von Kunst und Leben in den Mittelpunkt. Oftmals verbunden mit der (impliziten) Kritik und dem Bruch traditioneller Theaterkonventionen (z. B. geschlossene Raum-Zeit-Systematiken, geschlossene Werkstrukturen), orientieren sie sich an Formen kultischer oder ritueller Theatralik. Diese Formen changieren zwischen Theater und bildender Kunst und erweitern somit den Kunstbegriff auf die Ebenen der Produktion und Rezeption im Hinblick auf ein „Gesamtkunstwerk als multi-mediale Veranstaltung“ (Brauneck 2001, S. 460). Die damit einhergehende Umorientierung theatraler Kunst in Richtung auf die Vermittlung, die Materialität, den Zusammenhang von Akteuren und Zuschauern, die Körperlichkeit und Wahrnehmungsformen, Raum- und Zeitstrukturen bedeutet eine Konzentration auf Körperlichkeit, Sprachlichkeit, Ereignishaftigkeit und Materialität der stattfindenden Prozesse. Die Performance-Kunst als Darstellung und Vorführung von Künstlern, die in der Arbeit den kreativen und experimentellen Prozess der Arbeit mit in die Darbietungen aufnehmen, verweist auf die Übergänge zwischen Leben und Kunst ebenso wie auf die Prozessualität und die Umbrüche im Sozialen und Kulturellen. Performances greifen nicht mehr ausschließlich auf traditionelle Darstellungs- und Aufführungsorte, geschlossene Zeitkonzeptionen und kulturell bekannte Artefakte, sondern auf beliebige Innen- und Außenräume, auf Zeitdehnungen und -intensivierungen sowie auf Gegenstände und Stoffe aller Art zurück; es rücken gelegentliche extreme Körperpraktiken in den Mittelpunkt, die vom „Zur-Schau-Stellen“ über Selbstverletzungen bis hin zu Verstümmelungen reichen. Performances sind künstlerische Ereignisse, deren räumliche, zeitliche, symbolische, körperliche und soziale Rahmen im Akt selbst ausgehandelt werden. In den modernen Performances werden Prozesse des Role-Making und Role-Taking inszeniert und damit spielerisch in der Schwebe gehalten. Und dieses In-der-Schwebe-Halten betrifft neben den Rollen auch traditionelle Raumund Zeitstrukturen, Materialien, Körper- und Geschlechterverständnisse und Wahrnehmungsformen.
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(4) Wenn von „Performativität“ die Rede ist, so handelt es sich um einen abgeleiteten Begriff zur Kennzeichnung eines Theorie- und Diskursfeldes, in dessen Mittelpunkt unterschiedliche Formen und Theorien sozialen Handelns und Wissens stehen. Vor allem Judith Butler macht deutlich, dass die Performativität als normative und normierende Zitatförmigkeit funktioniert, in der sich die Kraft der Autorität durch spezifische Praktiken so akkumuliert, dass die performativen Äußerungen als Bildungsrituale von Subjekten gelten können. Performative Prozesse und Praktiken sind für Butler solche, die in ihren Vollzügen Wirklichkeiten konstituieren. Die Analyse dieser Prozesse benutzt sie als Kritik am Naturalismus oder Essentialismus des Begehrens, des Geschlechts, der geschlechtlichen Identität oder des Körpers, deren Macht sie darin sieht, durch zitatförmige Wiederholungen und der Forderung nach mimetischer Nachahmung spezifische Festschreibungen etwa von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit zu erzeugen. Performativität als Macht des Diskurses zeitigt dabei die Wirkung einer Naturalisierung von Geschlecht – im Sinne von „gender“ wie von „sex“ (Butler 1991, 1997, 1998). Dabei erscheint es – im Sinne von Widerstandsritualen – spannend, dass sie festhält, dass die Unmöglichkeit der vollständigen Kontextuierung die Freiheitsspielräume einer subversiven performativen Resignifikation eröffnet (Butler 1998). (5) Der Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ begreift kulturelle Handlungen vor allem als performative oder als „performances” und rückt damit die Aspekte der Handlungs- und Inszenierungsformen in den Mittelpunkt der Analysen (Fischer-Lichte/Kolesch 1998; Fischer-Lichte/Wulf 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2004). Kulturelle Handlungszusammenhänge werden so nicht mehr als Aufführungen eines psychologischen, sozialen oder religiösen Textes verstanden, sondern als soziale Institutionen mit einem performativen Überschuss, der sich in Dramaturgie und Organisation ritueller Interaktionen und ihrer Effekte, der szenisch-mimetischen Expressivität, dem Aufführungs- und Inszenierungscharakter und dem praktischen Wissen sozialen Handelns zeigt. So lassen sich kulturelle Bedeutungen, Funktionen und Formen vor allem im Zusammenhang mit körperlichen Aufführungen, zeitlichen und räumlichen Rahmungen, ritualisierten Interaktionen nicht nur mit ästhetischen, sondern auch mit der Wahrnehmung aller Sinne verbundenen aisthetischen Prozessen begreifen. Fragen der Perzeption, Verarbeitung und Inkorporierung von Ritualen werden mit dem Blick auf mimetische Prozesse und praktisches rituelles Wissen wichtig. Das Performative fokussiert somit z. B. die Momente des Herstellens von Ritualen, ihre Handlungsvollzüge und ihre Dynamiken, die mit den Ritualen verbundenen Materialien und Rahmungen als auch die Austauschprozesse zwischen Akteuren und Zuschauern (Wulf et al. 2001a, 2004).
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So lässt sich zusammenfassend festhalten: Spricht man von Performativität als „Vollzug einer (sprachlichen) Handlung“ (Austin), als „(ostentativer) Aktivität eines Individuums“ (Goffman), als „materialisiertes Geschlecht“, „zitierende Praxis“, „Macht des Diskurses“ (Butler) oder als „verkörperte Sprache“ (Krämer), so betont man damit zunächst die praktische, soziale und kulturelle Ordnung von Phänomenen, ihren Zusammenhang, ihre Entwicklung, ihre Synthesen und Differenzen, ihre aktiven und passiven Momente, kurz: ihre Prozesse, Modalitäten, Logiken und Funktionen. Die Begriffe „performativ“, „performance“ und der diese Zusammenhänge übergreifend thematisierende Begriff „Performativität“ verdeutlichen die Bedeutung der Form und der ästhetischen Dimension für das Gelingen sozialer Arrangements. Wenn vom Performativen des Handelns die Rede ist, dann wird damit ein einmaliges, zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis bezeichnet. Modell ist dafür einmal die künstlerische Performance, zu der neben den Akteuren auch das Publikum gehört, das für das Geschehen konstitutive Bedeutung hat. Erst im Zusammenwirken von Akteuren und Zuschauern entsteht eine Performance. Auch rituelle Aufführungen, politische Demonstrationen, Zeremonien und Liturgien oder Weihnachtsfeiern, Faschingsfeste und Amtseinsetzungen lassen sich nach diesem Modell begreifen. In diesen Fällen entstehen Aufführungen, in denen Menschen zum Ausdruck bringen, wie sie gesehen werden wollen und wie ihr Verhältnis zueinander ist. Auch hier werden Gemeinsamkeiten erzeugt und Gemeinschaften geschaffen. Das Performative zeichnet sich in diesen Zusammenhängen durch Körperlichkeit, Referentialität, Flüchtigkeit, Kreativität, Darstellung, Ereignishaftigkeit, Emergenz und Wiederholung/Ritualisierung aus (Wulf et al. 2001b; Wirth 2002).
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Zur Performativität von Erziehung und Bildung in Ritualen
Ging es der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik darum, mit Hilfe von hermeneutischen Verfahren die Erziehungswirklichkeit in ihrem historischen und kulturellen Kontext zu verstehen, so steht nun Erziehung und Bildung als Inszenierung und Aufführung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Lesen der Erziehungswirklichkeit als Text zwar wichtige Einsichten in die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen von Erziehung und Bildung ermöglicht, dass aber erzieherisches Handeln noch weitere Fähigkeiten erfordert. Zur Bezeichnung dieser Kompetenzen dient der Begriff des Performativen. Er macht deutlich, dass es darauf ankommt, Erziehungsprozesse als Folge von Inszenierungen und Aufführungen zu begreifen. Wenn dies geschieht, stehen deren Qualität und das „Wie“ ihrer Inszenierung und Aufführung im Mittelpunkt. Bislang wurde die Performativität von Erziehungs- und Bil-
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dungsprozessen vor allem im Zusammenhang mit Ritualen und deren Erforschung in den zentralen Sozialisationsfeldern zum Thema. Dies lag zum Teil daran, dass in der internationalen Ritualforschung hier seit einigen Jahren ein Schwerpunkt liegt. Zunächst stand die Erforschung von Ritualen im Zusammenhang mit Religion, Mythos und Kultur (u. a. Herbert Spencer, James Frazer, Rudolf Otto, Mircea Eliade) im Mittelpunkt. Später dienten Rituale dazu, Strukturen und Werte der Gesellschaft zu analysieren; herausgearbeitet wird hier der Zusammenhang zwischen Ritualen und Gesellschaftsstruktur (u. a. Émile Durkheim Arnold van Gennep, Victor Turner). Sodann wurden Rituale als Text gelesen; Ziel war die Entschlüsselung der kulturellen und sozialen Dynamik der Gesellschaft sowie die Untersuchung der Bedeutung ritueller Praxen für kulturelle Symbolisierungen und soziale Kommunikation (u. a. Clifford Geertz, Marshal Sahlins). Hier setzten viele neuere Forschungen zur Praxis von Ritualen und Ritualisierungen an (u. a. Catharine Bell, Ronald Grimes, Victor Turner, HansGeorg Soeffner), die bereits den nächsten Schwerpunkt vorbereiten. Schließlich wurde vor allem die praktische und inszenatorisch-performative Seite der Rituale betont; im Mittelpunkt dieser Betrachtungsweise stehen die Formen rituellen Handelns, die es Gemeinschaften ermöglichen, sich zu generieren, zu restituieren und ihre Differenzen zu bearbeiten (u. a. Stanley Tambiah, Richard Schechner, Pierre Bourdieu, Christoph Wulf u. a.; vgl. Wulf /Zirfas 2003, 2004b, 2004c). In den erziehungswissenschaftlichen Ritualforschungen kommt es zu einer Neubewertung der Rituale im Bereich von Erziehung und Bildung und damit verbunden zu einer Entdeckung der Performativität als einer zentralen Dimension von Erziehungsprozessen. Dabei gilt es zu zeigen, dass Rituale vor allem aufgrund ihres performativen Charakters das Soziale erzeugen. In den zentralen Sozialisationsfeldern „Familie“, „Schule“, „Medien“, Jugendkultur“ ist dies nachweisbar (Wulf et al. 2001a). Es lässt sich zeigen, wie sich Familien in der täglichen Inszenierung und Aufführung gemeinsamen Essens immer wieder als Gemeinschaft neu konstituieren. Dabei werden die rituellen Arrangements des Essens von der sprachlichen Erörterung familiärer Fragen und Probleme überlagert. Schulprobleme der Kinder, Fragen familialer Aufgabenverteilung werden erörtert, eine Bearbeitung von Differenzen zwischen Eltern und Kindern sowie unter den Kindern und Eltern erfolgt. Durch den Ereignis-, Inszenierungs- und Aufführungscharakter von Familienfesten wie Weihnachtsfeste und Konfirmationsfeiern wird die Zusammengehörigkeit der Familie erfahren, nach außen sichtbar gemacht und dadurch verstärkt. In einer Reihe von Fällen kommt es zur Transferierung sakraler Elemente aus der Sphäre des Religiösen in den Innenraum der Familie. Bei der Gestaltung von Familienfesten greifen die Jugendli-
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chen auf ein in der Familie erworbenes rituelles Handlungswissen zurück (Audehm/Zirfas 2001). Auch im Sozialisationsfeld Schule spielt die Performativität von Ritualen, erzieherischem Handeln und Lernen eine zentrale Rolle. Untersuchungen zur Organisation des Übergangs vom Status eines Kindes, das außerhalb der Schule in verschiedene Zusammenhänge eingebunden ist, zum Status eines im Unterricht lernenden Schülers, verdeutlichen den schulischen Bedarf an Ritualen und Ritualisierungen. Rituale und Ritualisierungen tragen dazu bei, Inklusion und Exklusion, Differenz und Alterität zu bearbeiten. Besonders deutlich wird die Bedeutung der performativen, eng mit der Körperlichkeit der Kinder verbundenen Seite bei den schulischen Feiern und Festen. Qualitative Untersuchungen von Einschulungs- und Abschiedsfeiern, Adventsfeiern und Schulfesten machen dies deutlich. In der rituellen Inszenierung und Aufführung von Feiern und Festen entsteht schulische Gemeinschaft. In ihrem ostentativen Charakter wird diese allen Mitgliedern der Schule sichtbar und erfahrbar (Wulf et al. 2004). In den letzten Jahrzehnten sind die neuen Medien zu einem weiteren wichtigen Bildungs- und Sozialisationsfaktor geworden, der erheblichen Einfluss auf das praktische Wissen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen hat. In entsprechenden qualitativen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass das Fernsehen einen starken Einfluss auf die Vorstellungswelt von Kindern und Jugendlichen hat. Als Jugendliche gebeten wurden, einen eigenen Videofilm zu drehen, griffen sie auf Modelle von Fernsehsendungen zurück und bearbeiteten für sie wichtige Probleme, indem sie sich auf diese Modelle bezogen. Dabei ging es häufig um Probleme der Adoleszenz. In der Tatsache, dass die Jugendlichen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Fernsehsequenzen und Bilder verwendeten, um einen Videofilm zu drehen, lässt sich ein Hinweis auf den performativen Charakter von Bildern sehen. Internalisierte Bilder haben Einfluss auf die Inszenierung und Aufführung sozialen Verhaltens (Bausch/Sting 2001). Auch in den Inszenierungen von LAN-Partys werden die Wirkungen von Medieninszenierungen sichtbar (Bausch/Jörissen 2004). Schließlich liefert die performative Perspektive auf Aktivitäten und Spiele von Jugendlichen ein neues Verständnis der Bedeutung praktischen Wissens in Erziehung und Bildung. Sie bietet eine Möglichkeit, die Art und Weise der Inszenierungen und Aufführung ihrer Handlungen zu untersuchen. Mit der Fokussierung der Performativität findet der Prozesscharakter der jugendlichen Aktivitäten verstärkt Aufmerksamkeit. In dieser Perspektive gerät nicht nur Erziehung und Bildung, sondern auch das Freizeitverhalten in den Blick. Im GenderVerhalten zwischen Mädchen und Jungen und im Verhalten der Jugendlichen aus unterschiedlichen Ethnien zeigen sich erhebliche Unterschiede. Agonale Spiele überwiegen bei Jungen und eher sozial-integrative bei Mädchen, wobei
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allerdings die Übergänge fließend sind. Im Kontext von Schule sind gemeinsame Spiele zwischen Angehörigen mehrerer Ethnien häufig. Wenn jedoch Kinder aus einer Ethnie zusammenspielen, dann zeigt sich häufig eine ausgeprägte Inklusion dieser Gruppe und eine Exklusion von Kindern anderer kultureller Herkunft (Tervooren 2001). Dabei zeigen sich im Gebrauch von Ritualen im Jugendalter erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Ethnien (Althans 2004). Die Fokussierung des performativen Charakters von Erziehung und Bildung hat Konsequenzen für die Forschung. Mit quantitativen Methoden ist die Performativität von Erziehungs- und Bildungsprozessen kaum erfassbar. Bei den qualitativen Methoden sind es vor allem die teilnehmende Beobachtung, die videounterstützte Beobachtung und die Verwendung von Fotografien, mit denen sich das Material zur Erforschung der Performativität herstellen lässt. Hinzu kommen episodische Interviews und Gruppendiskussionen, mit deren Hilfe sich wichtige Informationen über die Selbsteinschätzung der untersuchten Personen gewinnen lassen (Krüger/Wulf 2000; Wulf et al. 2001a, 2004; Flick 2002; Bohnsack 2003). Der performative Charakter von Erziehung und Bildung ist nicht auf Rituale und Ritualisierungen beschränkt; in diesem Bereich haben lediglich umfangreichere, auf die Performativität bezogene Forschungen stattgefunden. Der performative Charakter von Erziehungs- und Bildungsprozessen reicht weiter. Die sich auf dem Symposium in Zürich entwickelten Perspektiven richten sich auf ästhetische Bildung (Günter Kress, Ursula Stenger, Kerstin Westphal), soziale Bildung (Constanze Bausch, Yaso Imai, Benjamin Jörissen, Arnd-Michael Nohl), Identitätsbildung (Andrea Bramberger, Bettina Fritzsche, Anja Tervooren) und institutionelle Bildung (Birgit Althans, Michael Göhlich, Françoise Hatchuel). Hinzu kommt eine Weiterentwicklung der performativen Ethnografie (Ralf Bohnsack, Edgar Forster, Iris Nentwig-Gesemann, Monika Wagner-Willi). Diese Arbeiten sollen einen neuen Fokus erziehungswissenschaftlicher Theorie und Forschung weiterentwickeln.
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Ausblick
Die Forschungen zum Performativen, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ erfolgen, machen deutlich, dass sich die performative Perspektive nicht nur auf Rituale, sondern z. B. auch auf die Wahrnehmung, die Medien und die Gender-Entwicklung beziehen lässt. Diese Sicht führt zu einem performativen Wahrnehmungs- und Raumbegriff in Erziehung und Bildung, in dessen Rahmen die Rhythmen des Zusammenspiels von Ordnung und Bewegung, Erinnerung und Erwartung, Teilhabe und Distanz in Erzie-
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hungs- und Bildungsprozessen neu in den Blick geraten. Die performative Perspektive auf die Medien führt vor allem zur Untersuchung des Mediengebrauchs in Erziehung und Bildung. Es gilt zu erforschen, wie Medien Entferntes in Erscheinung bringen, wie sie etwas wahrnehmbar machen, wie sie interferieren, konkurrieren und miteinander koexistieren und sich durch Transfer und Vernetzung ergänzen. In diesen Prozessen zeigt sich der heteronome Charakter der Medien, die dadurch wirken, dass sie eine „fremde“ Ordnung zur Erscheinung bringen. Im medialen Vollzug hybridisieren sich die Eigen- und Fremdstrukturen des Mediums. „Text“, „Bild“, „Körper“, „Raum“, „Performativität“ werden zu zentralen Begriffen einer erziehungswissenschaftlichen Medienforschung. Im Bereich der Gender-Forschung wird davon ausgegangen, dass Gender eine soziokulturelle Konstruktion und das Ergebnis von Verkörperung ist, deren Prozessualität, Relationalität und Geschichtlichkeit in den verschiedenen Sozialisationsfeldern zum Thema werden. Dabei spielen Praktiken der Machtausübung, der Habitusbildung und der Subversion von Geschlechternormen eine wichtige Rolle (Fischer-Lichte/Wulf 2004). Unter dem Blickwinkel des Performativen erscheinen unter dem Titel „Bildung“ nicht nur spezifische soziale bzw. individuelle habituelle Prägungen, sondern vor allem auch Bildungsprozesse als Lern-, Handlungs- und Veränderungsprozesse, in deren Vollzügen eine Formung und Leistung des Bildenden zur Geltung kommt. In Bildungsprozessen lassen sich Differenzen in zeitlicher, identifikatorischer, institutioneller oder sozialer Hinsicht festmachen; sie sind als Differenzgeschehnisse Übergangsphänomene, deren Dezentrierungsmomente nicht selten durch Erziehung und Sozialisation expliziert, kanalisiert und finalisiert werden. Das Bildungspotential performativer Prozesse liegt in ihren kreativen und wirklichkeitserzeugenden Momenten, die Dispositionen und Disponibilitäten der Beteiligten hervorbringen können. Im performativen Fokus wird der Begriff der Bildung erweitert; denn das reflexive Potential der traditionellen Bestimmung des Begriffs wird beibehalten und um die Bildungsprozesse ergänzt, die nicht nur als kognitive, sondern auch als körperliche, soziale, situative und inszenierte Prozesse verstanden werden.
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Erwachsenenbildung zwischen Inklusion und Exklusion Christine Zeuner
Lebenslanges Lernen gilt als das Thema der Erwachsenenbildung. Dabei wird selten berücksichtigt, dass die Idee des lebenslangen Lernens im Sinne der UNESCO-Definition der 1970er-Jahre Bildungsprozesse von Menschen während ihrer gesamten Lebensspanne im Blick hat und nicht – wie im Anschluss an OECD-Vorschläge diskutiert – primär Qualifikationsprozesse für oder im Rahmen von Erwerbstätigkeit im Erwachsenenalter. Legt man den Begriff des lebenslangen Lernens im Sinne der UNESCO zu Grunde, muss die Erwachsenenbildung ihren bisherigen Diskussionsrahmen erweitern. Ziel des Symposions ist, über die von der Erwachsenenbildung typischerweise betrachteten Zielgruppen hinaus Fragen zur außerschulischen Jugendbildung und zur Altersbildung miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei wird von einer hohen Selektivität der Teilnahme an lebenslangem Lernen hinsichtlich der Vorbildung, beruflichen Stellung, dem Alter und Geschlecht ausgegangen. Gefragt wird nach Strategien, diese neuen Zielgruppen verstärkt anzusprechen. Dabei soll es nicht nur um Überlegungen zu Veränderungen struktureller und organisatorischer Rahmenbedingungen gehen, sondern auch um die Frage, wie die personalen Voraussetzungen für lebenslanges Lernen aussehen müssten und wie darauf in schulischen und außerschulischen Lernprozessen vorbereitet werden kann. In diesem Sinne wurden Vorträge gehalten zur Konvergenz von Jugend- und Erwachsenenbildung (Benno Hafeneger), zu Metamorphosen der Arbeit (Peter Faulstich), zu altersgerechten Bildungsangeboten (Fred Karl) und zu Organisationsformen lebenslangen Lernens in „Learning Communities“ (Silke Schreiber-Barsch).
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Konvergenz von Jugend- und Erwachsenenbildung (Benno Hafeneger)
Es gibt eine Suche nach Begriffen für die „Zeiten des Übergangs“: Dazu gehören die vielfach beschriebene „zweite Moderne“, die „Wissens-“ und „Mediengesell-
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schaft“, der „digitale“, „globale“, „paradoxale Kapitalismus“, die „Zivil-“ und „Bürgergesellschaft“ sowie unterschiedlich akzentuierte Modernisierungsdiagnosen mit den zugehörigen Ambivalenzen, Chancen und Risiken. Die Prozesse und Diagnosen haben Folgen für Sozialisation, Erziehung und Bildung und auch für eine neue Relationierung bzw. Konvergenz von Jugend- und Erwachsenenbildung. Die gegenwärtigen Umbruchprozesse (in Ökonomie, Arbeit, Bildung, Sozialstaat sowie in der alltäglichen Lebensführung) werden in absehbarer Zukunft die Kontexte und Handlungsformen in Erziehung, sozialer Arbeit und auch der Jugend- und Erwachsenenbildung nachhaltig verändern oder haben sie schon verändert.
1.1 Jung sein – erwachsen sein Die vielfältigen Diagnosen und Befunde der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Jugendforschung zur Veränderung der Jugendphase haben vier Erkenntnisse in den Mittelpunkt gerückt: (1) mit der Verfrühung und Verlängerung eine zeitliche Ausdehnung und erweiterte Phasenperspektive von Jugend bzw. jungem Erwachsensein (von der Früh- bis zur Postadoleszenz); (2) das prekäre und spannungsreiche Verhältnis vom frühen sozio-kulturellen Erwachsenwerden und dem langen sozio-ökonomischen Abhängigbleiben; (3) die veränderte und offen gewordene kulturelle Szene und Ritualwelt in den Übergängen ins Erwachsensein bzw. in die Erwachsenenwelt; (4) „jung sein“ heißt Schüler sein, unter sich sein, ist eine lange (und mit enormem Druck verbundene) Bildungs-, Lern- und Qualifikationszeit mit dem zugehörigen Qualifikationsparadox. Die zeitlichen und kulturellen Abgrenzungen und Identifikationen der Generationen werden – jenseits von rechtlichen Fixierungen – unklarer, poröser und vielfältiger. Die Fragen und Antworten, wann man Jugendlicher und wann man erwachsen ist, verflüssigen sich. Nicht mehr eine kurze (mit Verzicht verbundene und dann belohnte) Jugendphase ist die Weichen stellende, „intensive“ (und einzige) Bildungs- und Lernphase. Hier hat sich ein langer Prozess der adoleszenten Selbstveränderungen vom 11./12. bis zum 25./27. Lebensjahr und darüber hinaus herausgebildet; vergleichbare Differenzierungen bieten sich sowohl für das Erwachsenenalter als auch für die sich überschneidenden, gemeinsamen und zu differenzierenden Milieuentwicklungen an.
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1.2 Differenzierung des Bildungsbegriffs In der Diskussion der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Bildungsdiskussion insgesamt ist eine Differenzierung nach „formellem“, „nicht-formellem“ und „informellem“ Lernen wieder aufgenommen worden. Sie hat die Bildungsdebatte neu inspiriert: Vom Kindergarten bis zur Seniorenbildung, von der Schule über die Universitäten bis zur Volkshochschule wird ein neuer Klärungshorizont eröffnet. Es sind die „alten“ pädagogischen Fragen: Wo wird was gelernt bzw. wo wird überhaupt gelernt? Aus welchen Motiven wird gelernt? Was eignen sich die Subjekte an und warum tun sie das? Die Diskussion in der Jugendbildung zeigt, dass für sie mit ihren Orten und Zeiten freiwillige, nicht-formelle und informelle Angebote – eher als Seminare, Gruppenstunden, Projekte, Aktionen, Begegnungen – Bildung sind und dass die komplexen Bildungs-/Lernerfahrungen und Kompetenzgewinne empirisch bisher kaum untersucht worden sind. Allgemein wird angenommen, dass sie in den Bereichen des Selbst- und Weltverstehens, Lernens von demokratischen Spielregeln und sozialem Verhalten, der Verantwortungsübernahme in Ernstfällen, in spezifischen Engagementformen, in Partizipation, Selbstbestimmung und Interessenvertretung liegen.
1.3 Subjektivität und Identität In den klassischen Modellen der Subjekt- und Identitätsentwicklung werden Jugendliche nach aufeinander aufbauenden Reifungs-, Phasen- und Entwicklungsprozessen erwachsen. Sie sind im Kern an die erste Moderne und ein klassisches Jugend- bzw. Erwachsenenbild gebunden. Die mit den Stichworten „Bastelbiographie“, „Patchwork-Identität“, „Risikoidentität“, „lebenslanger Prozess“ (mit pro- und reaktiven Strategien) und „Gestalter von Selbstveränderungen über die Lebensspanne“ verbundenen Modelle der Subjektkonstitution zeigen, dass die Erfahrung der Kohärenz des eigenen Handelns und die Herausbildung einer eigenen Identität nicht mehr so eindeutig sind. Konsens ist, dass die strukturell neu erzwungene Geschwindigkeit der hochgradig ambivalenten Modernisierungsprozesse in den letzten Jahrzehnten Folgen für die Subjektentwicklung (Enttraditionalisierung, Selbstverantwortung, Basteln am Lebensentwurf und am Lebenssinn) hat; neu sind folglich die gelockerten Bindungen, die offenen und ungewissen Biographien. Dies betrifft tendenziell die junge und mittlere Generation. Die Rede von der „reflexiven Biographie“ bis hin zur „Patchwork-Identität“ zeigt den lebenslangen Herstellungsprozess (die alltägliche Passungsarbeit) von Identität. Als soziokulturelle Phänomene zeigen sie, dass sich auch die innere Subjektausstattung in Richtung
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„Offenheit“ verändert (hat). Es wächst die Tendenz, das Ich zu bereichern und zu differenzieren, das psychische Innenleben zu erweitern und die Individualität bzw. reflexive Identitätsbildung zu steigern. Es entstehen neuere, offenere und pluralere Selbstverhältnisse mit einer intrapsychischen Pluralisierung, die wiederum ihren Bezug in den soziokulturellen Veränderungen der Gesellschaft haben: Dazu gehören u. a. freiere Erziehung und soziale Erfahrungen, dialogische Generationsbeziehungen in Familie, Schule und Jugendhilfe, Sexualität (sexuelles Probehandeln), Kontakt mit fremden Lebensformen und Kulturen, Teilnahme an unterschiedlichen Lebensmilieus.
1.4 Lernmotive und Interessen Es ist trivial darauf hinzuweisen, dass Lernmotive immer auch entwickelt und ausgeprägt werden müssen. Wenn bereits in der Jugendbildung nichtformalisierte positive Lernerfahrungen gemacht wurden, Motive und Interessen im Modus der Verantwortungsübernahme in Ernstfällen für die Selbstentwicklung in der langen Adoleszenzphase bedeutsam waren, dann kann die Erwachsenenbildung in einem biographisierten Lebenslauf hier anknüpfen; für sie stellt sich die Frage nach Voraussetzungen und Anschlussfähigkeit. Hier ist die These plausibel und wäre empirisch zu prüfen: Je mehr positive Erfahrungen und Bildungswirkungen gerade auch in der Jugendbildung als „Orte voller Neugierde“ (mit entsprechenden bildungsförderlichen Strukturen, Formen und Gelegenheiten) gemacht werden, umso mehr Bereitschaften gibt es später für die Teilnahme an Angeboten in der – dann wiederum bildungsförderlichen – Erwachsenenbildung. Auch für den außerschulischen Bildungsbereich stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang bzw. der Kontinuität von Bildungsbiographien in den beiden gesellschaftlichen Subsystemen; beide sind Kommunikationsmedien im Lebenslauf – verstanden als „Wendepunkte“, an denen immer wieder etwas aufhört und etwas anderes anfängt.
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Metamorphosen der Arbeit und der „neue Geist“ der Weiterbildung (Peter Faulstich)
Wenn man – arbeitsorientiert – nachdenkt über Kompetenzentwicklung oder – weitreichender und biographiebezogen – über Persönlichkeitsentfaltung in Bezug auf Arbeitskonstellationen, muss man Umbrüche der Formen der Erwerbsstrukturen zur Kenntnis zu nehmen. Diese sind gekennzeichnet mit den Stichwörtern von der fortschreitenden „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ und einem
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neuen Typ von Erwerbstätigkeit: dem „Arbeitskraftunternehmer“. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die betriebliche Weiterbildung, darüber hinaus für die berufliche Weiterbildung und für die Erwachsenenbildung insgesamt.
2.1 Begriffskämpfe um das Selbst-Paradigma Aus ideologiekritischer Perspektive ist auffällig, wie die wissenschaftliche Diskussion gegenwärtig mit Begrifflichkeiten überschwemmt wird, die keineswegs nur deskriptiven Charakter, sondern in erhöhtem Maße auch normative Implikationen haben: Dominant wird das Selbst-Paradigma in den Varianten von „Selbstorganisation“, „Selbststeuerung“, „Selbstverantwortung“, „Selbstbestimmung“ u. ä.; daneben treten „Neue Lernkultur“ und „Arbeitskraftunternehmer“. Ideologiekritisch wurde dies als „Neuer Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2003) seziert. Die Autoren belegen in einer vergleichenden Analyse des gewandelten Management-Diskurses der 1960er- und 1990er-Jahre, dass „moderne“ Rechtfertigungsmuster auf Team, Kompetenz, Flexibilität, Kreativität, Innovation und Netze setzen und damit auf Enthierarchisierung und Selbstregulation. Eine Semantik des Selbst greift um sich, wird technizistisch reduziert und mit instrumentellen Interpretationen gefüllt. Der Appell, zum Unternehmer des eigenen Lebens zu werden, ist eingelassen in vielfältige Programme neoliberaler Gouvernementalität, wie man im Anschluss an eine Vorlesung von Foucault die Hineinverlagerung der Macht in das Selbst kennzeichnen kann (Bröckling et al. 2000). „Der neue Geist des Kapitalismus“ bedient sich des Freiheitsmotivs (Boltanski/Chiapell 2003, S. 80). Die in Unternehmerschaft entlassenen Angestellten aber erleben neue Unterdrückungsformen durch Selbstverwirklichungszwänge (ebd., S. 462f.). Formelhaft zugespitzt: Das Risiko der Exklusion steigt durch prekäre Inklusion.
2.2 Selbst-Instrumentalität – ein Beispiel der Ökonomisierung und Rationalisierung des Selbst in der Weiterbildung Auf verschiedenen Ebenen durchdringt der neue Typ der Gouvernementalität die Arbeitswelt. Erstens gibt es einen instrumentellen Zugriff auf den Menschen durch ihn selbst; zweitens durchdringen Begrifflichkeiten des Managements den Umgang mit sich selbst; drittens geht es um Marketing für den Verkauf der eigenen Arbeitskraft und viertens entwickelt sich ein neuer Regulationstyp durch Qualitätssicherung. In immer neuen Modewellen wird Selbst-Instrumentalität in „innovativen Konzepten“ und „modernen Methoden“ hochgespielt (Faulstich
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1998, S. 134). Einer angeblich unzureichenden, mühseligen, unbefriedigenden, veralteten, ineffektiven Tradition wird eine „neue Lernkultur“ gegenübergestellt, welche unkonventionelle, „revolutionäre“ Erfolge durch neue Methoden erreichen soll: Trickkisten. Ein ebenso umstrittenes wie erfolgreiches Beispiel dafür ist das so genannte „Neurolinguistische Programmieren“ (NLP) als Grundlage angeblich „moderner“ Bildungsarbeit. Im Wesentlichen besteht der Ansatz in einer Reihe von Rezepten: Menschen wahrzunehmen, richtige Fragen zu stellen, Kontakt und Vertrauen aufzubauen, Menschen zu begleiten und zu führen, eigene Erfahrungen zu internieren, klare Ziele zu setzen, Anstöße zum Umdenken zu geben, einen Austausch zwischen verschiedenen Interessen zu organisieren, Wahrnehmungsveränderungen bewusst zu machen, wichtige Erlebnisse und Erfahrungen auf dem eigenen Lebensweg aufzufinden, so zu sprechen, dass beim Gesprächspartner kreative Kräfte entfaltet werden. Diese Artikulations- und Kommunikationsstrukturen werden zu einem Set von psycho-technischen Instrumenten formalisiert, um Potentiale eines Individuums in den Griff zu bekommen und für diese selbst verfügbar zu machen. Es geht also um Vereinnahmungs- und Zurichtungsverhältnisse im Binnenraum des Selbst durch internalisierte Instrumentalität. Erstaunlicherweise funktioniert NLP ein Stück weit: Entsprechende Trainings können Erfolge nachweisen, Impulse gegen festgefahrene Verhaltensweisen geben. Problematisch wird NLP dann, wenn vorgespiegelt wird, reale Probleme könnten mit methodischen Wunderwaffen gelöst werden. Die Nützlichkeit der Techniken kann eine wissenschaftliche Reflexion von Identitäts- und Kommunikationsproblemen nicht ersetzen. Formelhaft: Das Richtige wird vom Falschen überdeckt.
2.3 Instrumentelle Selbstausbeutung oder reflexive Lebensführung Der Gouvernementalitätstyp „Selbst-Regulation“ und das Konzept „Arbeitskraftunternehmer“ greifen reale Tendenzen sich wandelnder Anforderungen im konkreten Arbeitshandeln, der individuellen Lebensführung und generelle Entwicklungstrends auf der Ebene des Arbeitsmarkts und der Gesellschaft insgesamt auf: Gewichtsverschiebung der Wirtschaftssektoren hin zum Dienstleistungssektor; permanente Erneuerung des Wissens; Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und hohe Flexibilität der Organisationsformen und eine zunehmende Projektförmigkeit der Leistungserbringung; Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und neue Formen wie „Selbstständigkeit“ und „Freiberuflichkeit“. Entscheidend für die gesellschaftliche Zukunft wird es sein, ob diese Anforderungen an Arbeitshandeln und Lebensgestaltung nur durch Instrumentalität
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im Sinne des „Arbeitskraftunternehmers“ bewältigt werden oder ob sie Anstoß zu einer neuen Form der „Reflexivität“ von Lebensführung sind.
2.4 Folgen für die Weiterbildung Die Fähigkeit zur Gestaltung der eigenen Lebensführung zu entwickeln, wird demnach zur wichtigsten Kompetenz. Dabei bleibt allerdings die Einsatzfähigkeit des eigenen Arbeitsvermögens unabdingbare Voraussetzung. Man muss selbst für die eigene employability sorgen. Die Unternehmen externalisieren gewissermaßen die Transaktionskosten der Arbeitstätigkeit, die für Qualifikation entstehen, „nach innen“. Gleichzeitig ist die Bewältigung des Wandels gebunden an dauernde Erneuerung. Seine Unbestimmtheit wird in die Arbeitskräfte selbst verlagert. Kompetenzentwicklung wird zur Selbstfunktionalisierung. Wenn dies nicht zur unaufhörlichen Hetze führen soll, werden Beteiligung, gemeinsame Verantwortung und Ordnung unabdingbar. Es stehen sich – kontrastiv pointiert – alternative Weiterbildungsentwicklungskonzepte gegenüber: zum einen das der Selbst-Instrumentalität, mit seinen technizistischen Reduktionen und Machbarkeitsvorstellungen; zum andern kann man dem einen Kompetenzentwicklungspfad der Selbst-Reflexivität gegenüberstellen, der der NichtHerstellbarkeit, der Unsteuerbarkeit von Lernerfolgen, ihrer Offenheit gerecht wird.
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Zwischen Selbstentfaltung und Instrumentalisierung – zum Programm „seniorTrainerin“ (Fred Karl)
Schon seit drei Jahrzehnten hat die Bildungsarbeit mit Älteren dazu beigetragen, das menschliche Altern als eine Ressource der Entfaltung und Entwicklung zu entdecken. Innerhalb der allgemeinen Erwachsenenbildung werden ihre Aktivitäten erst zögerlich rezipiert. Der Beitrag befasst sich mit neuen Impulsen zur Inklusion älterer Erwachsener, hier vor allem den sog. „neuen Alten“ (Karl/Aner 2002), in die Diskurse und Projekte der Zivilgesellschaft. Ein Bundesmodellprogramm versucht Erwachsenenbildung, freiwilliges Engagement und nachberufliche Orientierungsanstöße kreativ miteinander zu verbinden.
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3.1 „Aktivierende“ Bildungspolitik und nachberufliche Rollen Mit dem fünfjährigen, von 2002 bis 2006 laufenden Bundesmodellprogramm „Erfahrungswissen für Initiativen“ (EFI – seniorTrainerin)1 wird eine rot-grüne Koalitionsvereinbarung zur Nutzung des Erfahrungswissens der Älteren für die Gesellschaft und zur öffentlichen Anerkennung des Alters umgesetzt. In diesem sog. „EFI-Programm“ verschränken sich zwei Perspektiven: auf der einen Seite die der Programmmacher, die als Vertreter einer „aktivierenden Sozialpolitik“ mit dem gesellschaftlichen Bedarf und der Potentialnutzung argumentieren; auf der anderen Seite die der Altenbildner, die individuelle Suchprozesse bei den Bildungsteilnehmern hervorheben. Die Politik will das Potenzial von Älteren, die über Ressourcen, Fähigkeiten und Erfahrungswissen verfügen, für das Gemeinwesen erschließen. Tatsächlich, das zeigen Kohortenstudien, besteht in der älteren Generation und bei denjenigen, die in den kommenden Jahren das Ruhestandsalter erreichen, eine steigende Bildungsbereitschaft und -nachfrage.
3.2 Role-Making als Passung individueller und gesellschaftlicher Interessen Durch die Bereitstellung von Kursen werden interessierte Ältere an die methodischen Kenntnisse herangeführt, um ihre beruflichen Erfahrungen beim Aufbau von Gruppen, beim Projektmanagement und bei der Konfliktmoderation einzusetzen. Die Kurse sollen dazu beitragen, ihr Engagement in neue Bereiche wie die Initiierung, Beratung und Begleitung von Projekten und Initiativen auszuweiten. Sie behandeln Fragen, die übergreifend relevant sind: z. B. Gesprächsund Verhandlungsführung, Außenwirkung, Projektplanung, ergänzende Fachkurse werden bundesweit angeboten (spezifische Themen wie „Internet“, „Wohnberatung“, „Besuchsdienste“, „generationsübergreifende Projekte“ etc.). Dieser auf die „neuen Alten“ bezogene Bildungsansatz des Bundesmodellprogramms betritt erwachsenenbildnerisch Neuland. Die Unterstützung von Initiativen in einen Zusammenhang mit Erwachsenenbildung zu bringen, ist Ziel der Entwicklung des Rahmencurriculums. Wie Ältere sich ihres Erfahrungswissens vergewissern können und in Suchbewegungen zur Rollenfindung als seniorTrainerin kommen, ist in den curricularen Empfehlungen beschrieben, die im Programmverlauf eine ständige Weiterentwicklung erfahren (Knopf 2002; Burmeister et al. 2003).
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Weitere Informationen: www.efi-programm.de.
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Explizit wird gesagt, dass es bei diesen Qualifizierungen nicht um ein „Role-Taking“ geht, also die Übernahme fester Rollen verbunden mit festgelegten Erwartungen. Bei der Entwicklung der neuen Rolle seniorTrainerin soll es im Sinne eines „Role-Making“ vielmehr darum gehen, eigentätig eine neue Rolle zu finden, in die das jeweilige Erfahrungswissen eingebracht werden kann. Die Weiterbildung bietet den Ermöglichungsraum, um persönliche Orientierungen und gesellschaftlichen Nutzen zu einer Passung zu bringen. Sie stellt Lernarrangements bereit, mit deren Hilfe die Interessierten die Verknüpfungen zwischen ihrem Erfahrungswissen und den durch die Projekte eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten herstellen. Das Rahmencurriculum enthält Anregungen für die Planung und didaktische Umsetzung in einer Form, die den jeweiligen Bildungsträgern hinreichend Gelegenheit zu flexibler, teilnehmerorientierter und auf die situativen Notwendigkeiten abgestimmte Praxis eröffnet. Die Fortbildung besteht aus einer Serie von drei jeweils dreitägigen Seminarblöcken mit jeweils ca. 20 Teilnehmern, die von in das Modellprogramm einbezogenen Freiwilligenagenturen vermittelt und begleitet werden. Nach vier Kursdurchgängen erwartet man für jede beteiligte Kommune, dass sich dann vor Ort eine Gruppe aktiver Senioren gebildet hat, die an selbst gewählten Themenschwerpunkten arbeitet und zur Vernetzung der Freiwilligenlandschaft in der Region beiträgt.
3.3 Inklusion und Exklusion Bezogen auf die Zielgruppe der kompetenten jungen Alten kann man von Anfängen gelungener Inklusion sprechen. Mit dem großen Aufwand eines bundesweiten Programms und der Kreation einer „neuen Verantwortungsrolle“ scheint es zu gelingen, modellhaft älter werdende Menschen – d. h. eine bestimmte Selektion aus dieser bevölkerungsstarken Gruppe – für ein freiwilliges Engagement zu gewinnen. Diese geförderten Engagementbereitschaften weisen über das bisherige Ehrenamt hinaus. Bildung und Reflexivität sind wesentliche Bestandteile dieser veränderten Sichtweise des Alters. Allerdings ist auch zu hinterfragen, ob Programme wie EFI mit ihrer Orientierung auf die aktiven Älteren und auf positive Altersbilder diejenigen aus dem Blickfeld der sozialen Arbeit und auch der Bildungsarbeit drängen, die nicht dem Bild der dynamischen, kompetenten „neuen Alten“ entsprechen.
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Christine Zeuner Europäische Praxis des Lebenslangen Lernens: Zur Wirksamkeit von Learning Communities als Modelle regionaler Lerninfrastruktur (Silke Schreiber-Barsch)
„Lebenslanges“ bzw. „lebensbegleitendes Lernen“, „Bildung über die Lebenszeit“ – die Diskussion um lebenslanges Lernen ist geprägt von einer Vielfalt an bildungswissenschaftlichen Perspektiven, populären Schlagwörtern und differenten Begrifflichkeiten. Die intra- und interdisziplinäre Auseinandersetzung um lebenslanges Lernen angesichts dessen als hinlänglich geführt anzusehen, erscheint jedoch mit Blick auf Theorie wie Praxis als verfrüht. Inwiefern die europäische Perspektive am Beispiel von „Learning Communities“ hierbei auch hinsichtlich Fragen von Exklusion und Inklusion von Interesse ist, wird im Folgenden skizziert. Als „Learning Communities“ gelten Versuche, die Ideen des lebenslangen Lernens in einem regionalen Kontext durch den Aufbau neuer Lerninfrastrukturen umzusetzen. Den Ideen lebenslangen Lernens ist seit ihrer Renaissance Mitte der 1990er-Jahre in der bildungspolitischen Öffentlichkeit ein zentraler und nahezu kritikfreier Raum zugewiesen worden. Sowohl in der Praxis als auch in der wissenschaftlichen Diskussion ist eine systematische Überschwemmung mit dem Begriff „lebenslanges Lernen“ festzustellen, in dessen definitorischer Konturlosigkeit zugleich seine besondere Attraktivität liegt – sei es als fester Bestandteil öffentlicher Dokumente, als Gütesiegel für Fortschrittlichkeit und Kenntnisreichtum qua Begriffsverwendung oder als bildungspolitisches Machtwort, den Anforderungen von Globalisierung, sozialem Wandel und Erhöhung des Humankapitals nachzukommen. Auf internationaler Ebene muss zudem der dort in jeweiliger Entsprechung vorhandene Terminus als Ausdruck einer spezifischen Lernkultur und Bildungstradition gewertet werden. Um die definitorische Strukturierung des Begriffes voranzutreiben, ist eine Eingrenzung auf den europäischen Kontext vorgenommen worden. Für ein ganzheitliches Konzept lebenslangen Lernens, dass erstens nicht in dem Status eines konturlosen Schlagwortes verbleibt, zweitens eine Basis für den europäischen Kontext schafft und drittens Elemente wie „active citizenship“, „employability“ und „inclusive society“ integriert und nicht auf eines davon reduziert, erscheinen folgende vier Dimensionen als fundamental: • •
Zeit: Lernen ist in all seinen Formen ein grundlegender Prozess des Lebens, der jede Altersstufe umfasst und der systemübergreifend zu fördern ist. Gesellschaft: Es müssen Strategien entwickelt und Lernprozesse initiiert werden, die gesellschaftliche Partizipation im Sinne einer „inclusive socie-
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ty“ unterstützen. Auch eine Informations- oder Wissensgesellschaft kann auf mündige, sozial engagierte Bürger nicht verzichten. Subjekt: Im Mittelpunkt steht das Subjekt selbst mit seinen Lernbedürfnissen, -interessen und -strategien. Lernfähigkeit sowie Freude am Lernen ist zu vermitteln, was von einer flexiblen Lerninfrastruktur jenseits der Fokussierung auf herkömmliche Modelle zu rahmen ist. Arbeit: Qualifikationen und Zertifikate sind wichtige Aspekte. Es geht um die Sicherstellung von Zukunftsfähigkeit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, und dies nicht nur für einige wenige, die bereits über genügend Ressourcen verfügen.
Diese Dimensionen basieren auf individueller und öffentlicher Verantwortungsübernahme. Denn ohne die Bereitschaft zum persönlichen, auch finanziellen Beitrag, ohne öffentliche Absicherung einer transparenten Angebotslandschaft, Öffnung der Bildungsinstitutionen, von Qualität und rechtlich-formalen Rahmenbedingungen ist lebenslanges Lernen nicht möglich. Parallel zur Renaissance des lebenslangen Lernens ist es zu einer Reorientierung an der Region gekommen (Faulstich 1996). Die strategische Verknüpfung des Prinzips des lebenslangen Lernens mit dem der Region als überschaubarem Gestaltungsrahmen sowie dem der „Netzwerke“ als ebenso kostengünstig wie wirkungsvoll erhofften Regelungsmechanismen hatte als ein Ergebnis das Konzept der Learning Communities (Schreiber-Barsch 2002). Diese sind in Abgrenzung zu anderen Verbund- oder Netzwerkkonzepten charakterisiert durch die explizite Einbeziehung aller regionalen Akteure (nicht nur aus dem Bildungsbereich), vorwiegend bottom up-gesteuerte Lernprozesse in Form von Netzwerkarbeit sowie die übergreifende Vision einer lokalen Regeneration auf der Basis eines ganzheitlichen Konzeptes lebenslangen Lernens. International existiert inzwischen eine große Vielfalt an Learning Communities (ebd.). Jenseits von konzeptueller Harmonisierung oder simplifizierender Benennung von Best-Practice-Modellen wird transnationaler Austausch angesichts ähnlicher Herausforderungen und Lösungsstrategien angestrebt. In diesem Rahmen ist auch das Dissertationsprojekt an der Universität Flensburg anzusiedeln, das in einem empirischen Forschungsteil drei internationale Beispiele von Learning Communities untersucht (England, Norwegen, Deutschland). Aspekte von Inklusion und Exklusion spielen hierbei eine zentrale Rolle: „The irony of the region’s success may be that along with increased wealth has come increased inequality with respect to income, access to quality education, and availability of services and amenities.“ (Greenstein/Robertson 2000, S. 131) Zu fragen ist also, inwiefern die Praxismodelle (und weitere Beispiele) Ausdruck ganzheitlicher bzw. reduzierter Konzepte des lebenslangen Lernens sind, d. h.
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lebenslanges Lernen zwar von allen gefordert, aber nur für einige wenige praktisch möglich gemacht wird. Als Allheilmittel für komplexe Problemlagen kann das Modell der Learning Communities nicht dienen, seine Stärke liegt in der Passgenauigkeit für eine spezifisch regionale Situation und in dem Potenzial von Netzwerkarbeit, gemeinsam neue Lerninfrastrukturen zu entwickeln, die „active citizenship“, „employability“ und eine „inclusive society“ fördern und gesellschaftliche Exklusion nicht weiter verschärfen.
Literatur Bieri, P. (2003): Das Handwerk der Freiheit – Über die Entdeckung des eigenen Willens. Frankfurt am Main: Fischer. Boltanski, L./Chiapello, E. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Bröckling, U./Krasmann, S./Lemke, T. (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Burmeister, J./Heller, A./Stehr, I. (2003): Rahmencurriculum 2003. ISAB Info Nr. 14. Internet: www.efi-programm.de (Stand: 20.12.2004). Faulstich, P. (1996): Regionalisierung statt Globalisierung in der Politik für Weiterbildung. In: GdWZ, 7. Jg., S. 306–311. Faulstich, P. (1998): Strategien betrieblicher Weiterbildung. München: Vahlen. Greenstein, R./Robertson, J. (2000): Learning from Disequilibrium – the Case of Boston, Massachusetts. In: Nyhan, B. et al. (Hrgs.): Towards the Learning Region. Luxemburg: CEDEFOP, S. 115–133. Karl, F./Aner, K. (Hrsg.) (2002): Die „neuen Alten“ revisited. In: Kasseler Gerontologische Schriften, 28. Jg. Internet: www.kasseler-gerontologische-schriften.de. Knopf, D. (2002): Rahmencurriculum 2002. Fortbildung zum seniorTrainer: ein Rahmencurriculum im Multiplikatorenprogramm Erfahrungswissen für Initiativen (EFI). Internet: www.efi-programm.de. Schreiber-Barsch, S. (2002): Die Idee der Learning Communities. Regionale Bildungsnetzwerke in internationaler Perspektive. In: HBV, 52. Jg., S. 241–248.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Frank Achtenhagen Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Wirtschaftspädagogik Platz der Göttinger Sieben 5 D-37073 Göttingen Prof. Dr. Sabine Andresen Universität Bielefeld Fakultät für Pädagogik Postfach 10 01 30 D-33615 Bielefeld Prof. Dr. Klaus Beck Johannes Gutenberg-Universität Mainz Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik Jakob-Welder-Weg 9 D-55128 Mainz Dr. Michael Bendorf Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Wirtschaftspädagogik Platz der Göttinger Sieben 5 D-37073 Göttingen Prof. Dr. Johannes Bilstein Folkwang Hochschule Essen Am Botanischen Garten 66 D-50735 Köln
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Rita Casale Universität Zürich Pädagogisches Institut Freiestr. 36 CH-8032 Zürich Prof. Dr. Lucien Criblez Fachhochschule Aargau Institut Wissen und Vermittlung Schulthess-Allee 1 CH-5201 Brugg Prof. Dr. Wilfried Datler Universität Wien Institut für Bildungswissenschaft Universitätsstr. 7 A-1010 Wien Prof. Dr. Claudia de Witt FernUniversität Hagen Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften Institut für Bildungswissenschaft und Medienforschung Universitätsstr. 11 D-58084 Hagen Prof. Dr. Rolf Dobischat Universität Duisburg-Essen Fachbereich Bildungswissenschaften Institut für Berufs- und Weiterbildung Lotharstr. 65 D-47057 Duisburg Dr. Markus Dresel Universität Ulm Seminar für Pädagogik Robert-Koch-Str. 2 D-89069 Ulm
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Ferdinand Eder Universität Salzburg Abteilung Erziehungswissenschaft Akademiestr. 26 A-5020 Salzburg Prof. Dr. Reinhard Fatke Universität Zürich Pädagogisches Institut Freiestr. 36 CH-8032 Zürich Prof. Dr. Paolo Federighi Università degli Studi di Firenze Educazione degli Adulti Via del Parione 11b I-50123 Firenze Dr. Andreas Feller Lernende Region Emmendingen Bahnhofstr. 2–4 D-79312 Emmendingen Prof. Dr. Helmut Fend Universität Zürich Pädagogisches Institut Freiestr. 36 CH-8032 Zürich Dipl.-Psych. Natalie Fischer Universität Koblenz-Landau Institut für Psychologie Universitätsstr. 1 D-56070 Koblenz Monika Finsterwald, M. A. Universität Ulm Seminar für Pädagogik Robert-Koch-Str. 2 89069 Ulm
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Alison Fuller University of Leicester Center for Labour Market Studies 7–9 Salisbury Rd. Leicester LE1 7QR United Kingdom Prof. Dr. Werner Georg Universität Konstanz Arbeitsbereich Empirische Sozialforschung D-78457 Konstanz PD Dr. Edith Glaser Universität Dortmund Fachbereich Erziehungswissenschaft und Soziologie Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik Emil-Figge-Str. 50 D-44227 Dortmund Lic. phil. Odette Haefeli Departement Informatik Bernoullistr. 17 CH-4056 Basel Prof. Dr. Tina Hascher Universität Salzburg Akademiestr. 26 A-5020 Salzburg Prof. Dr. Michael-Sebastian Honig Universität Trier FB I/Pädagogik Universitätsring 15 D-54286 Trier Ruth Jermann Geschäftsstelle eduQua Oerlikonerstr. 38 CH-8057 Zürich
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Juliane Jacobi Universität Potsdam Institut für Pädagogik Postfach 60 15 53 D-14415 Potsdam Prof. Dr. Jochen Kade Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Fachbereich Erziehungswissenschaften Robert-Mayer-Str.1 D-60054 Frankfurt am Main Christoph Kasten Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) PT Bildungsforschung Heinrich-Konen-Str. 1 D-53227 Bonn Prof. Dr. Michael Kerres Universität Duisburg-Essen FB Bildungswissenschaften Lehrstuhl für Mediendidaktik und Wissensmanagement Forsthausweg 2 D-47057 Duisburg Prof. Dr. Ludwig Liegle Universität Tübingen Institut für Erziehungswissenschaft Münzgasse 22–30 D-72070 Tübingen Prof. Dr. Ingrid Lohmann Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft Sedanstr. 19 D-20146 Hamburg
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Peter H. Ludwig Universität Koblenz-Landau Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter August-Croissant-Str. 5 D-76829 Landau Prof. Dr. Hans Merkens Freie Universität Berlin Arbeitsbereich Empirische Erziehungswissenschaft Fabeckstr. 13 D-14195 Berlin Prof. Dr. Roland Merten Friedrich Schiller-Universität Jena Institut für Erziehungswissenschaft Carl-Zeiß-Platz 1 D-07740 Jena PD Dr. Gerhard Minnameier RWTH Aachen Institut für Erziehungswissenschaft Eilfschornsteinstr. 7 D-52056 Aachen Staatsminister a. D. Dr. Michael Naumann DIE ZEIT Speersort 1 D-20095 Hamburg Prof. Dr. Wim J. Nijhof University of Twente Faculty of Behavioural Science P.O.Box 217 NL-7500 AE Enschede Prof. Dr. Dr. Ekkehard Nuissl von Rein Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (DIE) Friedrich-Ebert-Allee 38 D-53113 Bonn
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Jürgen Oelkers Universität Zürich Pädagogisches Institut Freiestr. 36 CH-8032 Zürich Dr. Sandra Oppikofer Universität Zürich Zentrum für Gerontologie Schaffhauserstr. 15 CH-8006 Zürich Sylva Panyr, M. A. Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung Leopoldstr. 13 D-80802 München Prof. Dr. Sonja Perren Universität Zürich Jacobs Center for Productive Youth Development Culmannstr. 1 CH-8006 Zürich Prof. Dr. Holger Reinisch Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik Carl-Zeiß-Str. 3 D-07743 Jena PD Dr. Barbara Rendtorff Universität zu Köln Seminar für Pädagogik Abteilung Schulpädagogik Gronewaldstr.2 D-50931 Köln
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Ruth Rustemeyer Universität Koblenz-Landau Institut für Psychologie Universitätsstr. 1 D-56070 Koblenz Dr. Angelika Schade Geschäftsstelle des Akkreditierungsrates Lennéstr. 6 D-53113 Bonn Prof. Dr. Josef Scheipl Universität Graz Merangasse 70 A-8010 Graz Lic. phil. Regula Schmid Memory Klinik Entlisberg Paradiesstr. 45 CH-8038 Zürich Dipl.-Psych. Dr. Barbara Schober Universität Wien Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation Universitätsstr. 7 A-1010 Wien Dr. Mark Schrödter Universität Bielefeld Fakultät für Pädagogik/AG 8 Postfach 10 01 31 D-33501 Bielefeld Prof. Dr. Cornelia Schweppe Johannes Gutenberg-Universität Mainz Pädagogisches Institut Colonel-Kleinmann-Weg 2 D-55099 Mainz
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Wolfgang Seitter Philipps-Universität Marburg Fachbereich Erziehungswissenschaften Wilhelm-Röpke-Str. 6b D-35032 Marburg Prof. Dr. Christiane Spiel Universität Wien Institut für Psychologie Universitätsstr. 7 A-1010 Wien Prof. Ph.D. Nico Stehr Zeppelin University Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften Am Seemooser Horn 20 D-88045 Friedrichshafen Prof. Dr. Werner Thole Universität Kassel Fachbereich Sozialwesen Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter Arnold-Bode-Str. 10 D-34127 Kassel Prof. Dr. Rudolf Tippelt Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Pädagogik Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung Leopoldstr. 13 D-80802 München Prof. Dr. Tade Tramm Universität Hamburg Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik Sedanstr. 19 D-20146 Hamburg
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Daniel Tröhler Institut für Historische Bildungsforschung Kurvenstr. 17 CH-8090 Zürich Prof. Dr. Lorna Unwin University of Leicester Center for Labour Market Studies 7–9 Salisbury Rd. Leicester LE1 7QR United Kingdom PD Dr. Albert Wettstein Stadtärztlicher Dienst Walchestr. 31/33 CH-8035 Zürich Prof. Dr. Karsten Wolf Universität Bremen Fachbereich 12 Postfach 33040 D-28334 Bremen Prof. Dr. Christoph Wulf Freie Universität Berlin AB Anthropologie der Erziehung Arnimallee 11 D-14195 Berlin Prof. Dr. Christine Zeuner Universität Flensburg Institut für Allgemeine Pädagogik und Erwachsenenbildung/Weiterbildung Auf dem Campus 1 D-24943 Flensburg
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Albert Ziegler Universität Ulm Seminar für Pädagogik Robert-Koch-Str. 2 D-89069 Ulm Prof. Dr. Jörg Zirfas Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Pädagogik Bismarckstr. 1 D-91054 Erlangen
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