Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Manfred G. Abel Bankraub 12:55 Uhr
Kriminalroman
Sozusagen unter den ...
127 downloads
330 Views
889KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Manfred G. Abel Bankraub 12:55 Uhr
Kriminalroman
Sozusagen unter den Augen der Polizei raubt ein Mann am hellichten Tag die Bank für Handel und Gewerbe aus. Ist eine solche dreiste Tat ohne Komplicen überhaupt möglich? Noch während Kommissar Graumann und Assistent Mehler diese Frage zu klären suchen, geschieht ein seltsamer Einbruch in Graumanns Villa. Und Mehler bekommt in diesen Tagen mehrmals Anlaß, über seinen Chef nachzudenken. Der wiederum ist unter Einsatz aller Mittel und Kniffe bemüht, das Knäuel von Hinweisen, Vermutungen und Indizien zu entwirren. Wie ihm das – nicht zuletzt zu seinem eigenen Vorteil – trotz mancher Widrigkeiten gelingt, schildert der Autor spannend, manchmal ein bißchen doppelbödig und mit einer, ob ihrer Alltäglichkeit überraschenden Lösung.
Manfred G. Abel
Bankraub 1255h
Verlag Das Neue Berlin
Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1972 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/62/72 • ES 8 C Lektorin: Liane Lautenbach Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden EBook by *MM*
1 Der Banküberfall fand am hellichten Tage statt. Der Zeitpunkt war überlegt gewählt. Das Westberliner Grüne Eck schien menschenleer und verlassen zu sein. Fernes Autohupen und der Lärm von Sprechchören schallten von den Hauptstraßen herüber. Alle Aufmerksamkeit war auf die Demonstration gerichtet. Und damit hatte der Täter gerechnet. Um zwölf Uhr fünfundfünfzig fuhr ein weißer Volkswagen 1500 S langsam an der Bank für Industrie und Handel vorbei und blieb zwanzig Meter vom Eingang entfernt stehen. Ein Mann, mit Hut und einem grünlichgrauen Trenchcoat bekleidet, stieg aus. Eine große Sonnenbrille verbarg seine Augen. Er beugte sich in den Wagen zurück und ergriff eine graue Aktentasche. Ruhig schritt er auf die Bank zu, betrat den Schalterraum und ging, als ob er es hundertmal geübt hätte, nicht zu hastig, nicht langsam, ohne Zögern, wie jemand, der oft hier war, zur Kasse. Erwartungsvoll sah der Kassierer dem Besucher entgegen, der an den Schalter trat. Aus dem Trenchcoat schob sich die Mündung eines Schnellfeuergewehres. Der Kassierer wich zurück. Der Täter beugte sich vor und sagte leise: „Bitte, geben Sie mir Ihr Geld.“ Gleichzeitig schob er die schwarze Öffnung des Gewehrlaufs noch dichter auf das bleiche Gesicht des Kassierers zu: Dieser nahm hastig die Geldbündel aus dem Rollschrank und steckte sie vorsichtig über das Gewehr hinweg dem Mann in die geöffnete Aktentasche. „Bitte, das lose Geld“, flüsterte der Besucher. Der Kassierer gab die Geldstücke heraus. 6
„Die Scheine hinter Ihnen auch!“ Der Kassierer drehte sich um. Es war kein Geld mehr da. Er wandte sich wieder dem Täter zu, doch der Platz vor dem Schalter war leer. Jetzt erst drückte er den Knopf der Alarmanlage. Die Sirene heulte auf, das Gitter an der Tür rasselte nach unten. Die Beamten schreckten hoch, schrien durcheinander, rannten zu den Fenstern. Ein weißer Volkswagen 1500 S fuhr rasch davon. Kennzeichen: B-SK 404. Wenige Minuten später kam der erste Überfallwagen, im Eilschritt umstellten die Polizisten die Bank. Zu ihrer Überraschung bemerkten sie, daß der hintere Eingang nicht verschlossen war. Sie drangen in die Bank ein, aber der Leiter der Filiale, Herr Schmidt, erklärte ihnen resigniert, daß der Täter entkommen sei.
7
2 Die Untersuchung übernahm Kommissar Graumann. Er hörte sich zunächst Schmidts Bericht an und ließ über Polizeifunk nach dem weißen Volkswagen fahnden. Er schränkte jedoch Schmidt gegenüber gleich ein, daß angesichts der Demonstration wenig Aussicht bestände, den Volkswagen zu finden, da in dieser Situation alle Kräfte darauf konzentriert werden müßten, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Kommissar Graumann wandte sich an die aufgeregten Bankangestellten. „Bitte, halten Sie Ruhe, und stören Sie meine Leute nicht bei ihrer Arbeit.“ Aber niemand hörte auf ihn. Die Schalterbeamten liefen hin und her, redeten durcheinander, bis Graumann die Geduld ausging. „Ruhe!“ schrie er und verwies alle in eine Ecke. In scheinbarer Verärgerung lief er dicht vor ihnen entlang, sie mit seiner massigen Figur zum Ausweichen zwingend. Dieses Spiel wiederholte er, bis die letzten Handgriffe zur Spurensicherung getan waren. „Gebt mir Nachricht, wenn ihr etwas gefunden habt“, bat er seine Kollegen, als sie den Bankraum verließen. „Ich werde hier noch einige Zeit zu tun haben.“ Er strich sich über den runden Schädel, versuchte die wenigen Haare zu ordnen und räusperte sich, was für seinen Assistenten Mehler das Zeichen zum Beginn einer neuen Aktion war. Mehler trat eilfertig zu seinem Chef. „Halt die Hammelherde zusammen“, flüsterte der ihm zu. „Ich muß mit der Zentrale sprechen.“ Mehler nickte. Im Überfallwagen gab Graumann einen ersten Bericht durch. Er bekam die Erlaubnis, mit den Untersuchungen 8
sofort zu beginnen, sollte sich jedoch auf Abruf bereithalten, falls die Demonstration den Einsatz aller Reserven erfordere. Graumann nahm die Nachricht nicht allzu ernst, er wußte, daß drei Polizeireiterstaffeln in Bereitschaft lagen. Bedenklicher stimmte ihn, daß sich Kriminelle auf ihre Weise die Demonstration zunutze machten. Er hatte wieder die Bank betreten. Aufmerksam musterte er den Schalterraum und schätzte die Entfernung zur gläsernen Schwingtür. Mit drei, vier Schritten erreichte er die ausgeraubte Kabine des Kassierers. Knapp zwei Meter weiter rechts befand sich der Schalter des Effektenkassierers. Graumann untersuchte ihn flüchtig. An der Tür zum Waschraum vorbei, ging er zu den folgenden Schaltern, die die gesamte übrige Wand einnahmen. Auch hier kontrollierte er kurz. Im rechten Winkel zu den Schaltern – genau gegenüber der Schwingtür – lag das Zimmer des Filialleiters. Graumann schob den ihm am nächsten stehenden Beamten beiseite, neigte sich zu der gläsernen Trennwand und blickte neugierig in den Raum. Schließlich öffnete er die Tür, ging auf den Schreibtisch zu und setzte sich in den Sessel des Chefs. Er winkte den gespannt abwartenden Angestellten, den Platz vor dem Fenster frei zu machen. Jetzt konnte er die gesamte Schalterhalle überblicken. Graumann entdeckte den Knopf der Alarmanlage und verließ das Zimmer. Er ging an den Beamten vorbei, die seinem prüfenden Blick auswichen. Nur das ältliche Fräulein Hansen starrte ihn wie gebannt an. Graumann blieb dicht vor ihr stehen und fragte, wo sie während des Überfalls gewesen sei. „Warum f-fragen Sie d-das mich?“ stotterte sie aufgeregt und zog ihr Taschentuch hervor. Sie schneuzte sich und schluchzte. 9
Herr Schmidt kam zu Graumann und flüsterte ihm etwas zu. Doch Graumann unterbrach ihn. Schmidts Gesicht färbte sich einen Schein dunkler, er trat zurück und verhielt sich ruhig. „Wissen Sie nun, wo Sie waren?“ wandte sich Graumann wieder an Fräulein Hansen. „Im Waschraum“, flüsterte sie heiser und senkte den Kopf. „Und was haben Sie gesehen?“ fragte er Schmidt. Dieser suchte nach einer Antwort. „Sicher waren Sie auch im Waschraum“, spöttelte Graumann, um Schmidt aus der Reserve zu locken. „Ich befand mich zum Zeitpunkt des Überfalls im Schalter von Fräulein Langner.“ „Und?“ Graumann wurde ungeduldig. Schmidt schaute verstohlen zu Fräulein Langner, das ihm jedoch auswich. „Sie haben natürlich auch nichts gesehen“, sagte Graumann, sich mühsam zur Ruhe zwingend. „Der reinste Schlafwagen ist das hier.“ Er forderte Schmidt auf, ihm in das Nachbarzimmer zu folgen. „Das heißt“, sagte er, als er dessen befremdeten Blick bemerkte, „natürlich nur, wenn es gestattet ist.“ Schmidt nickte und ging voran. Graumann drehte sich zu den Zurückbleibenden um. „Ich bitte mir aus, daß keiner spricht.“ Mehler befahl er: „Ruf jemand, der hier aufpaßt, dann kommst du nach.“ Mehler knallte die Hacken zusammen und rannte zur Tür. Ächzend ließ sich Graumann in den Drehsessel an Schmidts Schreibtisch nieder. Von hier aus hatte er ständig die Bankbeamten im Auge, und das behagte ihm. Beinahe leutselig erklärte er: „Man muß mitunter hart 10
durchgreifen, Sie verstehen. Jeder Beruf bringt eben seinen besonderen Umgangston mit sich. Da kann man nichts machen.“ Kurz entschlossen öffnete er eine Zigarrenkiste, die auf dem Schreibtisch stand und fuhr schnuppernd mit seiner Stummelnase über die Zigarren hin. Genußreich sog er den Duft ein. „Eine wunderbare Brasil.“ „Bitte, wenn es Ihnen Spaß macht.“ Schmidts Gesicht drückte Zurückhaltung aus. „Greifen Sie zu.“ Graumann übersah den Blick Schmidts geflissentlich, nickte Mehler, der gerade hereinkam, aufmunternd zu, sich auf die Liege zu setzen, und fingerte sich vorsichtig eine der schwarzen Brasil aus dem Kasten. Umständlich bereitete er sie zum Rauchen vor. Nach den ersten Wölkchen ließ er sich wohlig zurücksinken, mit weitgeöffneten Augen den Rauch betrachtend, der wie ein Ring den Filialleiter umschloß. „Warum hat Ihr Kassierer nicht sofort die Alarmanlage bedient?“ Die Frage kam unvermittelt. Schmidt zuckte zusammen. „Ich weiß nicht“, sagte er schneller, als es sonst seine Art war zu antworten. „Er brauchte nur mit dem Fuß auf den Auslöseknopf zu treten. Sofort wäre das Gitter an der Tür nach unten gefallen.“ „War jemals eine Differenz in der Kasse?“ fragte Graumann. Wohlgefällig betrachtete er seine Zigarre, als ob ihn dieses Gespräch nur nebenbei beschäftige, das Rauchen hingegen seine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch nähme. „Sie stimmte stets auf den Pfennig. Der Kassierer war zuverlässig.“ In verändertem Ton setzte er hinzu: „Aber was er sich dieses Mal geleistet hat, das wird er …“ Graumann unterbrach ihn ruhig. „Zunächst wollen wir doch wohl den Fall aufklären. Was ist das für ein Mensch, Ihr Kassierer?“ 11
Der Leiter hob abwehrend die Hände. „Das Privatleben meiner Angestellten interessiert mich nicht.“ Graumann spürte, daß er auf diese Weise von Schmidt nicht allzuviel erfahren würde. „Na, gut, lassen wir das“, sagte er. „Und was können Sie vom Überfall berichten?“ „Nicht viel“, entgegnete der Filialleiter sofort. „Genaugenommen nichts. Es war für mich völlig überraschend …“ „Normalerweise kündigen sich Verbrecher auch vorher nicht an“, warf Graumann ein. „Natürlich nicht“, pflichtete Schmidt bei. „Die Verblüffung rührte wohl daher, weil zehn Minuten vorher unser Polizist seine tägliche Runde gemacht hatte. Ja, er hatte sogar zur Bank hereingesehen – und dann passiert so etwas.“ Er wischte sich erregt über das Gesicht. „Nein, also damit konnte niemand rechnen“, beteuerte er. „Mitten am Tage, unter den Augen der Polizei …“ „Was ist das für ein Polizist?“ fragte Graumann. Schmidt wurde unsicher. „Eigentlich kenne ich ihn nicht einmal.“ Er zögerte, überlegte. „Selten, daß wir ein Wort miteinander gewechselt haben. Aber ich mag ihn. Er kommt täglich hier vorbei.“ „Haben Sie sich heute mit ihm unterhalten?“ „Er ist immer sehr zurückhaltend, wenn auch höflich. Er grüßt meist von weitem, ab und zu betritt er die Bank.“ „War er heute im Schalterraum?“ „Nicht direkt.“ „Was heißt das? Drücken Sie sich bitte genauer aus.“ „Er war an der Tür, als eine Kundin die Bank verließ. Sie hatte ein Kind an der Hand und trug eine schwere Tasche. Da öffnete er ihr die Tür.“ Schmidt schwieg einen Moment, als ob er sich an etwas Bestimmtes erinnern 12
wollte, sagte aber nur noch: „Ein höflicher Mensch, unser Polizist.“ „Und was weiter?“ „Nichts weiter. Er winkte mir nur kurz zu, dabei rutschte ihm der Griff aus der Hand. Die Tür wäre dem kleinen Mädchen an den Kopf geschlagen, wenn er sie nicht schnell aufgehalten hätte. Ein geistesgegenwärtiger Mensch, Herr Kommissar, wirklich sehr geistesgegenwärtig, überhaupt ein sehr sympathischer Mensch.“ Schmidt schwieg und sah Graumann abwartend an. „Was wissen Sie noch über den Polizisten?“ „Mehr kann ich nicht sagen.“ Graumann lehnte sich in den Sessel zurück. „Und warum waren Sie nicht hier an Ihrem Platz?“ „Ich sagte es Ihnen ja schon. Ich hatte bei Fräulein Langner zu tun.“ „Was wollten Sie bei ihr?“ „Wir besprachen etwas.“ „Was?“ Schmidt richtete sich auf. „Das dürfte ja wohl zu weit führen, Herr Kommissar“, entgegnete er. „Es waren dienstliche Dinge, die Sie kaum interessieren sollten.“ „Mich interessiert alles“, sagte Graumann, der sofort hellhörig wurde, sobald jemand Ausflüchte suchte. „Die Abrechnung war fällig.“ Graumann nickte. „Sie können gehen.“ Schmidt blieb verwirrt sitzen. Das jähe Ende des Gesprächs überraschte ihn. „Gehen Sie“, sagte Graumann. „Halten Sie sich jedoch bitte weiter zu unserer Verfügung.“ Zögernd stand Schmidt auf und entfernte sich langsam, darauf gefaßt, von Graumann sogleich zurückgerufen zu werden. Der aber war mit seinen Gedanken beschäftigt. 13
„Er erzählt mir zuwenig“, wandte er sich an Mehler, nachdem die Tür ins Schloß gefallen war. Mehler wurde lebhaft, endlich konnte er seine Meinung äußern und beweisen, wie genau er aufgepaßt hatte. „Das mit der Abrechnung war eine Finte. Wir können es nachprüfen. Was mich stutzig macht, ist die Ruhe, mit der er den Verlust hinnimmt. Das muß ihm doch eine Menge Scherereien bei seinen Vorgesetzten einbringen. Er ist der Leiter der Filiale, hat also Rechenschaft abzulegen. Ich habe ihn die ganze Zeit über beobachtet. Ihn interessiert nicht einmal die Höhe des Verlustes. Bei diesen Geldmenschen ist das sonst das Wichtigste.“ Graumann zog kräftig an der Zigarre, stieß den Rauch genußvoll gegen die Glaswand und sagte nachdenklich: „Warum ist Schmidt ausgerechnet zur Zeit des Überfalls bei dieser Langner? Es gibt lediglich zwei Alarmknöpfe, einen beim Kassierer und einen bei Schmidt.“ „Warum haben Sie ihm nicht mehr zugesetzt?“ Graumann lächelte. „Es sollte nach Routine aussehen. Wir knöpfen ihn uns später noch mal vor. Hol die Langner!“ Mehler ging und rief das Mädchen, das erschrocken aus dem Sessel hochfuhr. Doch es faßte sich schnell und trippelte in das Zimmer ihres Chefs. Der Kommissar bot Fräulein Langner einen Platz an und musterte sie ungeniert, so daß sie schwach errötete. Graumann schätzte sie auf knapp zwanzig Jahre. Sie wirkte keß, wenn sie von Zeit zu Zeit die tiefschwarzen Haare nach hinten warf, obwohl es nichts nützte, denn im nächsten Moment fielen sie ihr wieder in die Stirn. Wenn sie den Kopf senkte, verdeckten sie die Augen, deren kräftiges Make-up den Blick des Kommissars anzog. Graumann meinte jede ihrer verlängerten Wimpern zählen zu können. 14
Ihr einziges Interesse galt offenbar der Zigarrenkiste auf dem Tischchen. Sie wippte mit dem übergeschlagenen Bein. Der Rock, scheinbar unbeabsichtigt hochgerutscht, lag eng um ihre Hüften und Schenkel und lenkte den Kommissar ab. Er dachte daran, daß er wieder einmal ausspannen und verreisen müsse. Irgendwohin, nach Italien, Frankreich oder noch besser nach Spanien. Er war Junggeselle, hielt jedoch mitunter etwas von Frauen. „Sie sprachen mit Ihrem Chef, als der Bankräuber den Raum betrat“, begann Graumann. Fräulein Langner nickte, die Haare fielen ihr wieder ins Gesicht. „Worüber sprachen Sie?“ „Er lud mich zum Abendessen ein, anschließend wollte er mit mir in eine Bar.“ „Sie lehnten ab?“ „Ja, natürlich. Ich hatte keinen Grund, mit ihm essen zu gehen.“ „Entschuldigen Sie bitte die Frage“, sagte Graumann, „aber unsere Arbeit bringt es mit sich, daß wir gelegentlich auch indiskrete Fragen stellen müssen.“ Er legte eine Pause ein. „Haben Sie einen – Freund?“ Fräulein Langner sah durch die Glaswand, wie die Beamten in der Schalterhalle sie gespannt beobachteten. Graumann bat sie, zur Seite zu rücken. „Ich habe keinen Freund.“ Als sie Graumanns Zweifel aus dessen Gesichtsausdruck las, schränkte sie ein, zumindest fühle sie sich niemandem fest verbunden; zwei, drei Bekanntschaften, das sei alles. „Und Ihr Chef?“ fragte Graumann. Fräulein Langner winkte ab. „Ich halte ihn hin. Bisher konnte ich mich über ihn nicht beklagen. Er behandelte mich zuvorkommend.“ Sie lachte triumphierend. „Wenn 15
ich daran denke, wie er die anderen anfährt, Fräulein Hansen zum Beispiel oder den Effektenkassierer.“ Sie kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. „Oder heute vormittag den Kassierer.“ „Was war mit dem Kassierer?“ Fräulein Langner beugte sich zu Graumann vor. „Fertiggemacht hat er ihn!“ Sie flüsterte, als ob sie befürchtete, ihr Chef könne sie hören. Dann besann sie sich und sprach deutlich und wieder ruhig weiter: „Das heißt, er hatte die Absicht. Aber unser Kassierer ließ sich nichts gefallen. Er knallte dem Alten die Kabinentür vor der Nase zu. Der Alte riß sie wieder auf, stürzte auf den Kassierer los und schrie ihn an, bis der ihn aus der Kabine verwies. Schmidt hatte nämlich dort nichts zu suchen. Dann kamen Kunden, und sie mußten beide ruhig sein. Anschließend war der Alte bei mir, noch völlig außer Atem. Er hatte sich schon fast beruhigt, als ich ihn fragte, warum sie sich gestritten hätten, da regte er sich erneut auf und schnaufte, der Kassierer sei die längste Zeit bei ihm gewesen. Ich erkundigte mich, ob er ihn etwa fristlos auf die Straße setzen wolle; er lachte nur, aber es war kein freundliches Lachen.“ „Und gleich danach lud er Sie zum Essen ein?“ „Erst lobte er meine Arbeit, und dann …“ Sie überlegte. „Dann kam der Polizist. Von da an änderte sich Schmidts Benehmen. Er kam mir gelöst und erleichtert vor, als ob eine große Spannung von ihm gewichen wäre. Er hatte schon vorher dauernd zur Tür gesehen, als erwarte er jemanden. Er war den ganzen Vormittag über nervös und zerfahren gewesen. Sicher gab es darum auch diesen Krach mit dem Kassierer. So schlimm war es noch nie, wenn er die letzten Wochen auch an jedem etwas herumzunörgeln hatte. Darum redete er wohl auf mich 16
ein, mit ihm wegzugehen. Er müsse ausspannen, und ich könne ihm dabei helfen.“ Das Mädchen kicherte. „Wie das eben so ist“, meinte es dann. „Der eine hat die Ausrede, der andere jene, meistens behaupten sie, ihre Frau verstünde sie nicht. Der Alte hatte sich auf geschäftliche Sorgen verlegt.“ „Kam er näher darauf zu sprechen?“ „Nein; ich hatte ihn zwar danach gefragt, aber er meinte, es genüge, wenn ich wüßte, daß er Ungelegenheiten habe. Ich könne ihm helfen – mit einem freundlichen Gesicht.“ Fräulein Langner wippte vergnügt mit dem Bein. Es bereitete ihr offensichtlich Freude, ihren Chef kompromittieren zu können. „Sagen Sie mal“, fragte sie plötzlich in verändertem Tonfall, „hat denn hier niemand eine Zigarette? Ich habe meine draußen in der Tasche.“ Mehler bot ihr eine HB an und gab ihr Feuer. Nach einigen hastigen Zügen erzählte sie weiter: „Die ganze Zeit hat er auf mich eingeredet. Immer wenn ich dachte, er würde aufhören, fing er von neuem an. Bis der Bankräuber kam.“ Das Mädchen schob sich die Haare aus der Stirn, streifte die Asche von der Zigarette. „Ich habe alles gesehen“, sagte es. „Alles – von dem Moment an, als der Bankräuber auf den Kassierer zutrat und den Gewehrlauf hervorschob. Ich war schrecklich aufgeregt, ich glaube, ich muß blaß geworden sein. Ich trat dem Alten auf den Fuß, aber er begriff nicht meine Absicht, ihn auf den Bankräuber aufmerksam zu machen. Er nahm es wohl als Scherz. Es war unheimlich. Ich machte Zeichen mit den Augen und deutete an, er solle sich umdrehen. Aber er zwinkerte zurück, sah mich so frech an, wie er es vorher nie gewagt hatte, und griff nach meinen Händen. Und da ging die Sirene los.“ 17
„Können Sie den Täter beschreiben?“ „Er trug einen grünlichen Trenchcoat.“ „Welche Haarfarbe hatte er, wie sah sein Gesicht aus?“ „Das Gesicht habe ich nicht gesehen, er wandte mir den Rücken zu. Ich hatte ja mit dem Alten zu tun. Als ich wieder zur Kasse sah, war der Mann mit dem Gewehr verschwunden.“ „Wie groß war er?“ Fräulein Langner überlegte. „Kräftig ist er gewesen, aber seine Größe …?“ Sie schüttelte den Kopf. „Da kann ich nichts Genaues sagen. Alles ging so schrecklich schnell. Und dann das Gewehr. Der Lauf war genau auf den Kassierer gerichtet. Ich traute mich nicht einmal zu schreien. Sicher hätte er sofort auf den Kassierer geschossen, damit er nicht auf den Alarmknopf treten konnte.“ „Es hätte ja auch ein anderer den Alarm auslösen können.“ „Nur der Kassierer kann das – und der Alte. Wir haben bloß zwei Knöpfe. Es sollten schon lange mehr eingebaut werden. Aber der Alte meinte, einem von ihnen beiden gelänge es immer, den Alarm auszulösen.“ „Wann sagte er das?“ „Vor drei, vier Wochen, als die Revision hier war. Vielleicht wollten sie Unkosten sparen.“ Das Mädchen zuckte die Schultern. „Kann ich jetzt gehen?“ Graumann fragte noch, ob Fräulein Langner meine, daß jemand von der Bank mit in diesen Überfall verwickelt sein könne. „Nein“, sagte sie und drückte die Zigarette aus. „Ich glaube nicht. Wer sollte wohl?“ Der Kommissar sagte langsam: „Vielleicht der Kassierer?“ 18
„Bestimmt nicht“, entgegnete das Mädchen schnell und sah den Kommissar erschrocken an. „Wie wollen Sie das so sicher wissen?“ „Noch nie gab es eine Unstimmigkeit in seiner Kasse.“ „Gerade das ist verdächtig! Um jeden Argwohn zu zerstreuen, macht er seine Arbeit sehr sorgfältig, läßt sich nichts zuschulden kommen, und im richtigen Moment greift er zu – natürlich mit einem Komplicen.“ „Es waren fast hunderttausend Mark in der Kasse“, sagte das Mädchen. „Die beiden hatten den richtigen Tag abgepaßt. Die Mittagszeit eignet sich vorzüglich zu einem Überfall, da ist kaum Betrieb in der Bank. Die Täter wußten genau Bescheid. Dazu die Demonstration, sie kam wie gerufen. Das Unternehmen konnte ablaufen.“ Das Mädchen sah entsetzt auf. „Sie meinen …“ „Ich meine gar nichts“, wies Graumann sie zurecht und ließ sofort den nächsten Schreckschuß los. „Sie haben nicht geschrien, Sie sind genauso verdächtig.“ „Ich?“ Das Mädchen schluckte. „Was soll ich mit dem Fall zu tun haben?“ „Sie besitzen sicher sehr viel Geld“, meinte der Kommissar ruhig. Das Mädchen lachte bitter auf. „Bei meinem Gehalt!“ „Also benötigen Sie welches!“ stellte Graumann lakonisch fest. „Nein“, sagte das Mädchen schnell, „nur das nicht. Ich habe es nicht getan! Ich brauche kein Geld zu stehlen.“ Fräulein Langner schlug die Hände vor das Gesicht. Der Kommissar betrachtete sie ungerührt. Er hatte bemerkt, wie sie ihn durch die Finger beobachtete. Sie sieht nicht nur gut aus, dachte er, sie kann auch gut Theater spielen. 19
Sie nahm die Hände herunter und sah den Kommissar mit großen, leeren Augen an. Graumann erschrak fast über den plötzlichen Wandel, über das Ausdruckslose in ihrer Miene. Vielleicht hatte sie die leise Enttäuschung des Kommissars bemerkt. Sie versuchte ein schwaches Lächeln, ihre Mundwinkel zuckten, und in ihren dunklen Augen glomm ein winziger Funke auf. Ein kurzer tiefer Atemzug drückte zwei Spitzen durch ihre Nylonbluse. Vor dem Spiegel unzählige Male geübt, verfehlte die Geste nicht ihre Wirkung. Zwar ließ sich Graumann kaum aus der Ruhe bringen, dazu war er zu lange im Polizeidienst und hatte genügend Frauen kennengelernt, aber irgendwo tief innen spürte er doch eine gewisse Unruhe. Fräulein Langners Jugend, das raffinierte Spiel mit ihren weiblichen Reizen, die sie wohlüberlegt dort einsetzte, wo sie sich Gewinn erhoffte, nötigte ihm im stillen Anerkennung ab. Er mochte Menschen, die alle ihre Mittel gebrauchten, um etwas zu erreichen. „Sie können wieder draußen Platz nehmen“, sagte Graumann. Fräulein Langner entfernte sich eilig. Graumann sah ihr durch das Fenster nach, wie sie, sich kokett in den Hüften wiegend, zu ihrem Platz ging, nicht ohne sich umzublicken, ob man ihr auch mit gebührendem Respekt nachschaute. Mehler, der dieses Zwischenspiel vom Fenster aus mit verfolgt hatte, lachte. Graumann stimmte ein und sagte: „Ein Wässerchen, dessen Grund recht tief liegt.“ Mehler wurde ernst. „Sie haben einen Verdacht?“ Graumann streckte sich ächzend im Sessel aus. „Du nicht?“ „Mir fehlen noch Fakten. Was wissen wir denn bis jetzt? Genaugenommen nicht viel. Der Chef war nervös 20
und unruhig am Vormittag, dann nach dem Überfall wieder recht gefaßt.“ „Die Versicherung!“ warf Graumann ein. „Sie wird bezahlen, und das beruhigt mehr als eine Packung Tabletten.“ „Das heißt, wir könnten den Chef von der Liste streichen.“ Der Kommissar stöhnte. „Etwas Dümmeres ist dir wohl nicht eingefallen“, entgegnete er verärgert. „Reiner Schwachsinn.“ Der Assistent schwieg betroffen. Er wußte – der Ton Graumanns ließ darüber keinen Zweifel zu –, was er zu erwarten hatte. Seinem Vorgesetzten schien es wieder einmal an der Zeit, ihm, seinem Assistenten, beweisen zu müssen, welch einem genialen Denker und Kombinationskünstler er unterstellt war, einem Kriminalisten ohne Fehl und Tadel, nachahmenswert und unerreichbar. Graumann, der gelassen am Tisch saß und keine Antwort von Mehler erwartete, beschäftigte sich eine geraume Weile mit der Zigarrenkiste. Schließlich sagte er: „Was meinst du wohl, warum ich die Langner gefragt habe, ob ein Angestellter der Bank an diesem Überfall beteiligt gewesen sein könnte? Weil ich fest davon überzeugt bin, daß jemand von ihnen seine Hand im Spiele hat!“ Er wandte den Blick vom Fenster und sah zu Mehler, der zusammengekauert auf der Liege saß und nachdachte. Nichts deutete in seiner Miene darauf hin, wie schwer ihn die Bemerkung Graumanns getroffen hatte. „Da ist zunächst die hohe Summe, die erbeutet wurde“, sprach der Kommissar weiter. „Eine solche kleine Bank hat nicht immer fast hunderttausend Mark in der Kasse. Der Täter mußte genaue Informationen haben.“ 21
„Das könnte Zufall sein“, warf Mehler ein. „Ich würde dir beipflichten“, entgegnete Graumann jovial, „wenn nicht noch einiges dazukäme.“ „Und das wäre?“ „Bleiben wir beim Chef der Filiale. Könnte er nicht aus irgendeinem Grund, den wir sicher noch herausfinden werden, eine Menge Geld benötigen? Er läßt lediglich zwei Alarmknöpfe zu. Und damit er die Klingel nicht zu drücken braucht, besorgt er sich das beste Alibi, das es gibt: Er stellt sich mit dem Rücken zum Täter und tut so, als ginge ihn das alles nichts an. Bis er dann, genau wie die anderen, durch die Sirene aufgescheucht wird.“ „Etwas viel Theorie“, entgegnete Mehler schroff. Der Kommissar blickte erstaunt auf, ließ sich aber durch die abfällige Bemerkung nicht stören und lächelte leicht, was Mehler verärgert registrierte. Er mußte auf der Hut sein. Sicher hatte Graumann einen versteckten Trumpf in der Hand, den er rücksichtslos ausspielen würde – gegen ihn, seinen Assistenten. „Als wir vorhin mit dem Überfallwagen ankamen“, nahm Graumann das Gespräch wieder auf, „hatte uns Schmidt empfangen. Er stand am Fenster und rief uns zu …“ „… daß wir zum Hintereingang kommen sollten und von dort in den Schalterraum“, unterbrach Mehler eilfertig, sofort zum Angriff übergehend. Er war entschlossen, zu beweisen, daß er mit wachen Augen die Ereignisse verfolgt hatte. „Weiter?“ fragte Graumann. „Wir gingen durch den Hintereingang und trafen Schmidt, der uns entgegengelaufen war.“ Der Kommissar lachte aufreizend. Mehler biß sich auf die Lippen. Hatte er etwas Falsches gesagt? War er in die 22
verkehrte Richtung vorgestoßen? Graumann saß in seinem Sessel wie ein Klotz, eine Burg, die uneinnehmbar erschien und heimlich Geschütze auffuhr. Und da feuerte Graumann auch schon eine Salve ab. „Kommt es dir nicht seltsam vor“, fragte er, „daß durch eine Alarmanlage nur der Haupteingang geschlossen wird?“ Mehler schlug eine glühendheiße Welle ins Gesicht. Er errötete wie ein Schuljunge. „Noch etwas hast du nicht bemerkt“, sagte Graumann belehrend. „Am Hintereingang befindet sich ebenfalls ein Gitter, das aber nicht nach unten fallen konnte, weil jemand in die linke Gleitschiene einen Eisenkern eingeschlagen hatte, der das Herunterrutschen verhinderte. Sonderbar, was?“ Die Niederlage war endgültig. Mehler unterdrückte ein schwaches Stöhnen, in seinem Innern bäumte sich etwas auf gegen diesen Graumann, der wohlüberlegt alle seine Trümpfe ausgespielt hatte und nun seinen Sieg auskostete, voller Geringschätzung gegenüber Mehler. Das schmerzte. Er fühlte sich Graumann ausgeliefert, wehrlos, und er hoffte, daß sich dies einmal ändern würde. Aufgeregt erhob er sich von der Liege und lief im Zimmer hin und her. Um seine Unruhe zu überspielen, fragte er: „Und die Langner? Was hat die damit zu tun?“ „Vorläufig noch nichts. Zumindest genausoviel oder sowenig wie alle.“ Graumann sprach plötzlich langsamer, schielte unauffällig durch das Fenster. Unvermittelt sprang er mit einer Geschwindigkeit, die niemand seinem massigen Körper zugetraut hätte, zur Tür hinaus. „Her mit dem Zettel“, schrie er im Laufen und stürzte auf den Kassierer zu, der hastig versuchte, ein Formular zu verstecken. 23
Graumann riß es ihm aus der Hand, der Kassierer steckte das ihm verbliebene Stück schnell in den Mund. „Was haben Sie dem Kassierer zugesteckt?“ brüllte der Kommissar Fräulein Langner an. „Reden Sie, oder ich lasse Sie auf der Stelle verhaften.“ „Bitte!“ sagte das Mädchen schnippisch. „Wenn Sie meinen. Ist es verboten, jemandem einen Zettel zu geben? Er wollte sich etwas aufschreiben. Und ich habe ihm ein Formular zugereicht. Ist das ein Verbrechen?“ Graumann spürte, daß er bei ihr nicht weiterkam. Er ging auf den Kassierer zu, beugte sich dicht vor und sah in die unruhig flackernden Augen eines erschreckten Jungen. Unwillkürlich registrierte Graumann für sich, daß er achtzehn bis zwanzig Jahre alt sein müsse. Doch dann erinnerte er sich der Bemerkungen über die langjährige Tätigkeit des Mannes in der Filiale und setzte noch zehn Jahre hinzu. Der Kassierer saß verkrampft, er wagte keine Bewegung, starrte den Kommissar nur an und wartete auf eine Frage, eine Drohung aus dem Munde Graumanns. Dieser hatte sich inzwischen beruhigt. „Der Zettel wird Sie noch teuer zu stehen kommen“, sagte er, und der Kassierer zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Nach diesen Worten war kein Laut im Schalterraum zu hören. Graumann richtete sich auf, ohne den Kassierer aus den Augen zu lassen. „Haben Sie mir etwas zu sagen?“ „Natürlich nicht“, schaltete sich Fräulein Langner ein, „Sie haben ihn ja völlig verwirrt.“ Graumann ließ ihre Frechheit unerwidert. Mit der Einschätzung konnte sie sogar recht haben. Ebenso verschreckt wie jetzt mochte der Kassierer vor wenigen Stunden in die Pistolenmündung gesehen haben, falls er wirklich nicht 24
Komplice des Täters gewesen war. Graumann ging zurück ins Chefzimmer. Mit heftigem Schwung warf er den Rest des Zettels vor Mehler auf den Tisch. „Achtung! Der Kommissar …“, mehr war nicht zu lesen. „Die stecken hier alle unter einer Decke“, sagte Mehler verärgert. „Daß der Überfall mit Hilfe eines der Bankangestellten ausgeführt wurde, dürfte nun wohl endgültig klar sein“, konstatierte Graumann sachlich. „Ob wir uns die Langner noch mal kommen lassen?“ „Ich glaube nicht, daß wir jetzt mehr aus ihr herauskriegen. Interessant ist immerhin ihr Eintreten für den Kassierer. Man müßte wissen, was sie ihm geschrieben hat. Trotzdem gehen wir weiter systematisch vor, einen nach dem anderen. Den Kassierer sparen wir uns bis zuletzt auf. Vielleicht wird er dadurch schon etwas kirre.“ Graumann warf einen prüfenden Blick durch das Fenster auf die Bankangestellten, die rund um den Tisch saßen und betreten vor sich hin starrten. Nur der Effektenkassierer schien nicht von der allgemeinen Bedrückung erfaßt zu sein. Er funkelte Herrn Schmidt feindselig an. „Wir sollten als nächsten den Effektenkassierer verhören“, sagte Graumann. „Er scheint etwas gegen seinen Chef zu haben.“ „Ich würde bei seinem Gesichtsausdruck eher auf Schadenfreude tippen“, bemerkte Mehler. „Vielleicht hängt er auch selbst mit drin und freut sich über den gelungenen Coup.“ „Hol ihn ’rein!“ Mehler rief den Effektenkassierer von der Tür aus. In die Gruppe am Tisch kam Bewegung, bis der Alte sich erhoben hatte und in leicht gebeugter Haltung in das Chefzimmer schlurfte. 25
Aus der Nähe bemerkten die Kriminalisten, daß das Gesicht des Mannes von unzähligen Falten durchzogen war; das Haar, grau und schütter, hatte er glatt nach hinten gekämmt. Er trug einen schwarzen Anzug, der an der Brustseite vom vielen Schaben an der Tischkante glänzte. Die dunkle Fliege schob sich breit über die langen Spitzen des Kragens. Vom jahrzehntelangen Sitzen über Abrechnungen war die Gestalt gebeugt. Ein alter Gaul, dachte Mehler, der sonderbarerweise das Gnadenbrot erhielt und noch nicht auf die Straße gesetzt worden war. Graumann hielt dem Alten einladend die Zigarrenkiste hin. Erstaunt sah dieser den Kommissar an. „Nehmen Sie ruhig eine“, drängte Graumann. „Es spricht sich besser.“ Der Alte holte eine Nickelbrille aus dem Jackett, setzte sie auf und blickte sich im Zimmer um. Als er sich überzeugt hatte, daß außer ihm nur die beiden Kriminalisten anwesend waren, griff er schnell zu und ließ zwei der Brasil in seiner Tasche verschwinden. „Der Chef bietet sie keinem von uns an“, flüsterte er heiser. „Er ist ein Ausputzer, treibt an und arbeitet selbst nicht viel. Geschieht ihm recht, daß er ausgeplündert wurde.“ Das Gesicht des Alten verzog sich zu einem Grinsen. „Sie mögen Ihren Chef nicht“, sagte der Kommissar. „Niemand kann ihn leiden“, stieß der Alte hervor. „Er benutzt uns als Fußabtreter. Früher, als er selbst kleiner Angestellter hier war, hielt er sich abseits, schmierte nach oben und katzbuckelte. Er saß lange neben mir am Schalter, seit zwölf Jahren ist er mein Vorgesetzter.“ Der Alte keuchte. Graumann nutzte die Pause und fragte: „Ihr Platz ist zwei Meter vom Kassierer entfernt. Wie sah der Täter aus?“ 26
Der Alte blickte mißtrauisch hoch und schwieg. Der Kommissar versuchte es in verbindlicherem Ton. „Sie könnten uns einen großen Dienst erweisen, wenn Sie den Täter beschrieben. Wie groß war er, welche Farbe hatte sein Haar, auf welches Alter schätzen Sie ihn.“ „Ich weiß gar nichts“, krächzte der Alte. „Sie wissen eine ganze Menge. Also reden Sie schon.“ Der Alte schüttelte störrisch den Kopf. „Sie müssen gehört haben, wie der Täter den Kassierer bedrohte.“ „Ich hatte eine wichtige Abrechnung, da ist man für nichts anderes aufnahmefähig.“ Der Kommissar sprang auf, beugte sich über den Tisch und sagte bestimmt: „Der Täter hatte eine tiefe, kräftige Stimme. Sie war nicht zu überhören!“ Der Effektenkassierer lachte höhnisch. „Geflüstert hat er wie jemand, der einen Katarrh …“ Mitten im Satz hörte er auf. Die Brillengläser konnten das ärgerliche Funkeln seiner Augen nicht verbergen. Er fingerte aufgeregt in den Taschen, fand eine Brasil, steckte sie wieder ein, griff aus Verlegenheit zur Zigarrenkiste, zog aber die Hand gleich wieder zurück. Wie konnte er bloß auf diesen primitiven Trick hereinfallen? Der Alte ärgerte sich über sich selbst. „Ich könnte Sie jetzt belangen“, sagte der Kommissar streng. „Sie haben sich äußerst verdächtig gemacht, indem Sie den Täter zu decken versuchten!“ Der Alte duckte sich. Der Vorwurf des Kommissars traf ihn. Am besten war, überhaupt nichts mehr zu sagen. Dann konnte sich der Kommissar anstrengen, wie er wollte, er erfuhr nichts. „Beschreiben Sie den Täter“, forderte Graumann. „Das andere ist vergessen.“ Er blickte abschätzend auf 27
das Männlein, das im Sessel hockte, ihn bösartig anstarrte und auch schon den Mund öffnete, um zu antworten. „Der Täter hatte eine Narbe“, krächzte er, und seine Augen leuchteten listig auf. Doch Graumann entging das, da er gerade vielsagend zu Mehler hinsah. Der Assistent nickte seinem Chef zu, der sich wieder dem Effektenkassierer zuwandte. „Wo war die Narbe?“ fragte er. Der Alte überlegte. „Was gibt es da zu zögern?“ brauste Graumann auf. „Ich muß mich genau erinnern. Es hat doch für Sie nur Wert, wenn die Angaben so genau wie möglich sind.“ Er versenkte den Kopf in die Hände und sann nach, wie er den Täter beschreiben und damit den Kommissar weiter auf eine falsche Fährte hetzen könne, um ihm die Überrumpelung und Drohung heimzuzahlen. „Der Täter hatte eine auffällige Narbe, rechts neben dem Kinn“, sagte er schließlich. „Etwa zwei Zentimeter lang, sie war weiß und mußte schon lange verheilt sein.“ „Also ein Studierter!“ „Ich weiß es nicht“, entgegnete der Alte. „Welche Augenfarbe?“ „Er hatte eine Sonnenbrille auf, war glatt rasiert und hatte einen Trenchcoat an“, sagte der Alte gehorsam. „Weiter!“ befahl Graumann. „Weiter gibt es nichts.“ „Wie alt war er? Welche Statur hatte er?“ half Graumann nach. Der Alte zuckte mit den Schultern. „Sie müssen doch sein Alter und seine Größe schätzen können.“ „Ich habe ihn nur ganz kurz gesehen, als er das Geld schon eingepackt hatte.“ 28
„Wie groß war er? Denken Sie doch mal nach!“ stieß Graumann ärgerlich hervor. „Wir können nicht bis morgen früh hier sitzen.“ Dem Effektenkassierer wurde heiß, ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper und verriet seine Erregung. Er blieb steif wie ein Stock sitzen. Einmal hatte er sich aus der Reserve locken lassen, ein zweites Mal passierte ihm das nicht. Er hatte sich gerächt. Der Kommissar war nicht so gefährlich, wie er schien. Und plötzlich überkam ihn eine übermütige Lust, das Spiel noch weiterzutreiben, einen Polizisten gegen den anderen auszuspielen. Er richtete sich im Sessel auf und blickte dem Kommissar offen in die Augen. Er fühlte sich stark wie seit langem nicht. „Wenn er etwas älter gewesen wäre“, sagte er sinnend, „könnte er Mitte Vierzig gewesen sein.“ Er hielt inne. „Aber er war jünger“, verbesserte er sich. „Entschieden jünger. Die Ähnlichkeit wäre sonst zu auffallend.“ Graumann sah ihn mißtrauisch an. Aber der Alte war im Reden, er war nicht mehr aufzuhalten. Er wischte sich eine nicht vorhandene Träne aus einem Augenwinkel und lachte laut auf, wie über einen plötzlichen Scherz. „Wenn er etwas älter gewesen wäre, hätte er sogar Ähnlichkeit mit unserem Polizisten.“ „Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel“, sagte Graumann streng und musterte den Alten abweisend. Blitzschnell kam die Ernüchterung über den Effektenkassierer. Er hatte sich zu weit vorgewagt. Plötzlich wirkten seine Züge wieder grau und eingefallen. Mit zitternder Stimme beteuerte er: „Aber das stimmt nicht, Herr Kommissar. Der Täter hinkte auffällig mit dem rechten Bein. Und unser Polizist läuft ganz normal.“ Vor Aufregung hatte er die Wahrheit gesagt. 29
„Idiot“, brummte Graumann wütend, nachdem er den Kassierer hinausgeschickt hatte. „Immerhin haben wir jetzt Anhaltspunkte über den Täter“, konstatierte Mehler sachlich. „Soll ich den nächsten holen?“ „Lieber einen Kaffee!“ verlangte Graumann. „Treib mal in dem verdammten Bau eine Sekretärin auf, die Kaffee kochen kann.“ Er streckte die Füße weit von sich und rutschte im Sessel nach vorn, bis er den Kopf bequem auf die Lehne legen konnte, und schloß die Augen. Mehler kam mit einer Tasse Kaffee zurück und stellte sie vor dem Kommissar ab. „Was ist bloß mit diesem Polizisten los?“ murmelte Graumann nachdenklich. „Steht draußen, will seine Aufwartung machen“, meldete Mehler, als ob er nur auf dieses Stichwort gewartet hätte. Graumann trank einen Schluck. „Würdest du den Alten verdächtigen?“ fragte er, ohne auf Mehlers Ankündigung einzugehen. „Verdächtig ist jeder“, wich Mehler aus. „Schwachkopf“, quittierte Graumann. „Behalte deine Weisheiten für dich, wenn du nichts Besseres weißt.“ „Welche Motive könnte er haben?“ „Seinen Haß auf den Chef. Er möchte ihn stürzen.“ „Das gilt für die anderen auch“, schränkte Mehler ein. „Er hatte aber einmal mit dem jetzigen Chef auf gleicher Stufe gestanden. Der andere ist hochgestiegen, er blieb unten“, sagte Graumann. „Das vergißt ein Mensch nie. Es gibt niemand, der das vertragen könnte.“ „Wahrscheinlich konnte er nicht genügend mit dem Ellenbogen arbeiten“, entgegnete Mehler. „So etwas soll vorkommen.“ 30
„Red nicht!“ sagte Graumann schroff. „Der Bessere kommt hoch! Jedem bietet unser Staat eine Chance. Natürlich muß man sich den jeweiligen Bedingungen angleichen können und das tun, was gefordert wird. Dann kann Erfolg nicht ausbleiben.“ Mehler ließ diese Belehrung stumm über sich ergehen, sie war nicht neu für ihn. Doch er wird dem Herrn Kommissar schon noch beweisen, daß in einem Mehler mehr steckte, als er glaubte. „Also bring endlich deinen Polizisten herein“, unterbrach der Kommissar die Gedanken seines Assistenten und unterdrückte ein Gähnen; er hoffte auf die belebende Wirkung des Kaffees. Aber da gab es eine Überraschung, die ihn sofort munter werden ließ. Der Wachtmeister war an diesem Tage nicht Streife gegangen, weder er noch ein anderer Polizist des Reviers 133. Die Bank lag an der äußersten Grenze zum Nachbarrevier 132. Man begnügte sich meist damit, aus der Ferne einen Blick zur Bank zu werfen. Genau wie heute. Erst als er den Polizeiwagen vor der Bank habe stehen sehen, sei er näher gekommen. Der Kommissar ließ den Effektenkassierer holen. Nein, bestätigte dieser, jener Polizist sei noch nie in ihrer Bank gewesen. Der Leiter der Bank erklärte dasselbe und fügte noch hinzu, ihr Polizist sei gedrungen, kräftig und mochte über Vierzig sein. Besondere Kennzeichen? Keine! Braungebrannt, kräftige Nase, schmale Lippen, das war alles, was der Leiter sagen konnte.
31
3 Der Polizist war kurz vor dem Überfall schräg gegenüber der Bank für Industrie und Handel stehengeblieben. Er betrachtete unverhohlen das Bankgelände und registrierte die Besucher. Seine Gestalt hatte nichts Auffälliges an sich, wäre nicht die taubengraue Uniform gewesen, die in der Mittagssonne schimmerte. Vorübergehende blickten nur kurz in sein Durchschnittsgesicht, eilten weiter. Wer in der Straße wohnte oder oft dort zu tun hatte, kannte den Polizisten. Man wußte nicht viel über ihn. Nur, daß er in den letzten Wochen fast täglich die gleiche Runde machte, manchmal früh, wenn die Bank geöffnet wurde, einige Male patrouillierte er kurz vor Geschäftsschluß. Er tauchte vormittags auf, nachmittags, in letzter Zeit bevorzugte er die Mittagsstunde. Er gehörte einfach mit zum Grünen Eck. Wie die Rolläden an der Fleischerei oder die Gitter nachts vor den Fenstern und Türen der Bank, gab er den Bewohnern ein Gefühl der Ordnung und des Beschütztwerdens. Vom Leiter der Bank wurde er besonders gern gesehen, aber er achtete auf Distanz. Auch anderen gegenüber übte er steife Förmlichkeit. Er grüßte kaum jemand, und wurde er gegrüßt, erwiderte er nicht den Gruß. Langsam Schritt vor Schritt setzend, ging er seinen Weg. Scheinbar unbeteiligt ließ er den Straßenverkehr an sich vorüberfluten, so daß flüchtige Beobachter glaubten, er sähe sie gar nicht. Wer jedoch einmal Gelegenheit hatte, ihn vom Innern eines Geschäftes aus zu beobachten, wußte, daß er mitunter wie abwesend auf irgendeinen Gegenstand starren konnte. Gerade erzählte die Frau des Fleischers einer 32
Kundin, daß der Polizist jedesmal bei seiner Runde an ihrem Schaufenster stehenbliebe und sich ausgiebig einen Rollschinken ansehe, da bemerkte sie, wie er über die Straße auf die Bank zuging. Er hatte das erste Mal nicht in ihr Schaufenster gesehen! Die Eile des Polizisten hatte tatsächlich besondere Gründe. Eigentlich hätte er bald Dienstschluß, aber da war dieser Befehl gekommen, sich am Steinplatz zu melden, als Polizeireserve, die im Ernstfall gegen die Demonstranten eingesetzt werden sollte. Der Polizist war davon nicht sehr begeistert, nicht nur, daß dadurch sein Feierabend auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, sondern auch, weil er völlig andere Pläne hatte und nun durch diesen unliebsamen Befehl in Bedrängnis kam. Es war zwölf Uhr fünfundvierzig, als er vor der Bank ankam. Die Glastür schwang nach innen. Eine junge Frau verließ mit einem Kind an der Hand den Schalterraum. Der Polizist hielt ihr die Tür auf. Sie dankte mit einem kaum merklichen Nicken des Kopfes. Dem Polizisten glitt die Tür aus den Händen. Zögernd blieb er am Eingang des mit dunklen Edelhölzern getäfelten Schalterraums stehen. Müdigkeit zeichnete die Gesichter der Beamten. Der Vormittagsbetrieb war vorüber. Man konnte mit zwei, drei Stunden Ruhe rechnen, bevor der nachmittägliche Kundenstrom wieder die volle Aufmerksamkeit forderte. Der Polizist wußte das. Auf seinen Kontrollgängen hatte er den Betrieb studiert. Um die Zeit waren nicht alle Schalter besetzt. Die Beamten nutzten die Pause zum Mittagessen. Selbst der Kassierer nahm einen Imbiß. Sein junges, blasses Gesicht wirkte unter den Leuchtstoffröhren wie die Fratze eines Gespenstes. 33
Weiter hinten unterhielt sich der Leiter der Filiale mit einer jungen Angestellten. Der Polizist konnte sich nicht erinnern, die beiden zu dieser Tageszeit jemals arbeiten gesehen zu haben. Der Leiter nickte ihm grüßend zu, der Polizist verbeugte sich steif und verließ die Bank. Mit einer halben Stunde Verspätung kam er an seinem Stellplatz an, abgehetzt, da er die letzten vierhundert Meter im Laufschritt zurückgelegt hatte. Die Demonstration hatte früher begonnen, und die Polizeireserve war schon zum Einsatz bereit. Die erste Abteilung hatte den Stellplatz verlassen, andere Polizisten stiegen gerade auf die Mannschaftswagen. In einer Nebenstraße tänzelten die Pferde der Reiterstaffel und mußten immer wieder beruhigt werden. Einige Wasserwerfer fuhren vor. Der Polizist wurde hastig, ohne daß jemand auf seine Verspätung aufmerksam geworden wäre, einem Mannschaftswagen zugeteilt. Er hätte keine fünf Minuten später kommen dürfen. Der Einsatz begann. Die Wagen näherten sich auf Nebenstraßen der Demonstration. Sprechchöre schallten ihnen entgegen. Man war angelangt. Die Wagen fuhren in die vieltausendköpfige Menge hinein, rissen Menschen um und zerfetzten Spruchbänder, auf denen stand, daß die USA aus Vietnam abziehen sollten, und zersplitterten Plakate mit der Aufschrift ‚Amerikaner ’raus aus Kambodscha‘. Der Polizist fühlte sich auf dem Wagen wie ein Reiter, hoch über einer brodelnden Menge. In unmittelbarer Nähe entdeckte er eine Fernsehkamera, die den Einsatz seiner Abteilung filmte. Da erkannte er blitzartig eine einmalige Chance, die ihn in das Licht der Öffentlichkeit bringen konnte. 34
„Du versuchst in der Nachbarschaft etwas über den Polizisten in Erfahrung zu bringen“, sagte Graumann zu Mehler, nachdem sich der Wachtmeister vom Revier 133 als der falsche erwiesen hatte. „Irgendetwas stimmt mit ihm nicht.“ Mehler schlug die Hacken zusammen, daß Graumann hochfuhr. „Gewöhn dir endlich diese Knallerei ab!“ Aber Mehler war schon verschwunden. Er kehrte sofort wieder zurück. „Draußen schnüffeln Zeitungsleute herum. Sie wollen wissen, was los ist.“ „Keine Auskunft an die Presse!“ befahl Graumann. „Sollen sich um die Ereignisse am Amerika-Haus kümmern.“ Graumann hielt seinen Assistenten zurück. „Am besten ist, du sagst, man habe zur Vorsicht die Bank besetzt, da sie zu nahe am Demonstrationsplatz liege. Um Plünderungen vorzubeugen. Wir werden die Kerle sonst doch nicht los.“ „In Ordnung!“ Mehler rannte davon. Graumann sah ihm befriedigt nach. Ein treuer Diener seines Herrn, dachte er und nahm sich vor, Mehler für eine Gehaltserhöhung vorzuschlagen; falls er sich bewährte, gleich nach der Aufklärung dieses Bankraubes – sofern er selbst Oberkommissar würde. An der Zeit wäre es. Doch zunächst mußte er diesen Fall so schnell wie möglich und mit Bravour zum Abschluß bringen.
35
4 Die Fahndung führte schon nach einer halben Stunde zu einem gewissen Erfolg. Der weiße Volkswagen wurde – wenn auch mit einer anderen Nummer – aufgefunden und sichergestellt. Die Einsatzkommandos und Funkwagen, die das gesamte Stadtviertel wegen der Demonstration abgeriegelt hatten, kontrollierten sofort nach dem Funkspruch sämtliche Volkswagen, die dieses Gebiet verlassen wollten. Zunächst fehlte jegliche Spur. Erst durch die Meldung einer Rentnerin, die beim Überqueren der Straße von einem mit großer Geschwindigkeit vorüberbrausenden weißen Volkswagen beinahe zu Boden gerissen worden wäre, konnte er entdeckt werden. Die Rentnerin drohte dem Auto hinterher. Da dies jedoch zu keinem sichtbaren Ergebnis führte, denn der Wagen raste mit unverminderter Geschwindigkeit weiter und bog in die Beymestraße ein, hastete sie bis zur Kreuzung und sah gerade noch, wie der Fahrer des Wagens eilig davonlief. Sie ging dann selbst zum Volkswagen hin, um sich die Nummer zu merken, wurde jedoch durch vorbeifahrende Polizeiwagen davon abgehalten. Und da die Polizei eine nahe gelegene Kreuzung abriegelte und verschiedene Autos kontrollierte, verschaffte sie sich Gehör, indem sie lautstark auf den Volkswagenfahrer schimpfte und nicht früher ruhig wurde, bevor ein Polizist mit ihr zu dem abgestellten Auto ging. Graumann wurde telefonisch über diesen Vorfall informiert. Er ließ sich sofort in die Beymestraße fahren, um den Wagen selbst zu inspizieren. Das Verhör des Kassierers schob er auf. Vielleicht ergaben sich neue 36
wichtige Gesichtspunkte, die er dann mit verwenden konnte. Als er in der Beymestraße ankam, parkten zwei Funkwagen vor und hinter dem Auto. In dem einen saß die Rentnerin. Sie stürzte auf Graumann zu und forderte mit heiserer Stimme, daß er sofort den Fahrer verhaften müsse. „Leider haben wir ihn noch nicht“, sagte Graumann. Die Rentnerin begann auf die Polizei zu schimpfen und fragte aufgebracht, wozu sie dann diese beiden Funkwagen hier abgestellt hätten und die Straße kontrollierten? Graumann lächelte ihr nachsichtig zu. Offensichtlich glaubte sie, daß dies alles nur arrangiert worden war, weil das Auto sie beinahe überfahren hätte. Graumann befreite sich mit leichtem, nachdrücklichem Zwang von ihrer Unterhaltung – sie hatte ihn fest am Ärmel gepackt –, indem er befahl, sie nach Hause zu fahren. „Natürlich bekommen Sie sofort Nachricht“, versicherte er. „Sobald wir ihn haben.“ Endlich konnte er sich dem Volkswagen zuwenden. Die Farbe stimmte. Aber das Kennzeichen lautete B-SL 501. Graumann bückte sich und untersuchte das hintere Nummernschild, ging danach um das Auto herum und sah sich das vordere Schild an. Er fand frische Kratzer auf beiden Schildern. Er war sicher, daß hier noch kurz vorher die gesuchte Nummer B-SK 404 befestigt gewesen war. Als die Polizisten die Fingerabdrücke von den Türklinken und vom Inneren des Wagens abnahmen, entdeckten sie unter einer auseinandergefalteten Zeitung ein Schnellfeuergewehr, ein Modell, wie es die Polizei benutzte. Kommissar Graumann ließ den Karabiner sofort zum Landeskriminalamt bringen. Ehe der Funkwagen davon37
fuhr, kam bereits der Bescheid, daß der gefundene Volkswagen einem gewissen Dr. Wenzel, einem Veterinärmediziner aus Steglitz, gehöre. Man lasse jetzt feststellen, ob Dr. Wenzel ein Alibi nachweisen könne. „Natürlich wird er das“, rief Graumann ärgerlich über den Sprechfunk zurück. Oder ob sie glaubten, daß ein Verbrecher für einen Raubüberfall seinen eigenen Wagen benutze und ihn nach der Tat einfach stehenließe? Sie sollten gefälligst sofort bei Wenzel anrufen und fragen, ob er seinen Wagen vermisse. Graumann hörte nur noch ein schnelles „Jawohl“, dann war Ruhe. Ächzend schob er sich wieder aus dem Funkwagen, der nun davonraste. Die Wartezeit überbrückte er, indem er die Umgebung absuchte. Aber er fand nichts. Im stillen hatte er damit gerechnet, jene Schilder mit den falschen Kennzeichen zu entdecken. Wenn der Täter den Karabiner liegengelassen hatte, warum sollten die Schilder dann nicht irgendwo in der Nähe sein? Graumann überlegte, was den Täter bewogen haben könnte, den Karabiner im Wagen zu verstecken. Ob ihm der Rückzug mit Waffe durch die zahlreichen Polizeisperren zu gefährlich erschienen war? Oder hatte ihn die Fahndung gehindert? Dies wäre eine Erklärung; eine andere, einfachere war, er brauchte die Waffe nicht mehr, denn der Überfall war geglückt. Oder sollte der Verdacht auf den Besitzer des Wagens gelenkt werden? Graumann wurde über den Sprechfunk seines Fahrzeugs verlangt. Man teilte ihm mit, daß der Veterinärmediziner in der Zeit, in der der Banküberfall verübt worden war, seine Sprechstunde nicht verlassen hatte. Graumann nickte zufrieden. Wie sollte es auch anders sein? Dr. Wenzel habe seinen Volkswagen gestern zur Durchsicht 38
in die Reparaturwerkstatt Meyer am Hohenzollerndamm gebracht. Graumann bedankte sich. „Habt Ihr schon herausgefunden, zu wem das Kennzeichen B-SK 404 gehört?“ fragte er noch. „Wird gerade untersucht.“ „In Ordnung. Und was ist mit den Fingerabdrücken, die in der Bank gefunden wurden? Was sagt die Kartei?“ „Es sind zu viele Abdrücke. Sie werden noch überprüft.“ „Meldet euch, sobald ihr etwas entdeckt habt.“ Graumann wandte sich an seinen Fahrer. „Zum Hohenzollerndamm“, befahl er. Der Autohof Meyer lag nicht weit von der Beymestraße entfernt. Etwas abseits davon ließ Graumann halten und setzte seinen Weg zu Fuß fort. Auf dem Hof waren viele Wagen abgestellt, hin und wieder kam jemand aus der Werkstatt und fuhr ein Auto zum Waschen. Graumann konnte ungehindert zwischen den Wagen umherlaufen. Er zog an verschiedenen Türen, einige waren unverschlossen. Eben wurde ein gewaschener Mercedes auf den Platz gefahren. Unbekümmert ließ der Fahrer den Wagen stehen und ging an seinen Arbeitsplatz zurück. Graumann setzte sich in den Mercedes, der Zündschlüssel steckte. Er ließ den Motor an, fuhr einige Meter in Richtung zur Straße hin. Niemand nahm Notiz davon. Nun wußte Graumann, wie der Bankräuber zu seinem Wagen gekommen war. Bequemer als hier konnte er sich wohl nirgends ein Auto verschaffen. Um eine zufällige Entdeckung auszuschließen – falls man den Diebstahl vorzeitig bemerkte und eine Fahndung einleitete –, hatte er falsche Kennzeichen über die eigentlichen geschoben. Wahrscheinlich wollte er sogar den Volkswagen unbe39
merkt wieder hierherbringen. Die Nähe des Fundortes in der Beymestraße ließ darauf schließen. Doch etwas mußte ihn daran gehindert haben. Möglich, daß die Funkwagen ihn beunruhigten. In der Werkstatt sprach der Kommissar den nächstbesten Schlosser an und verlangte den Chef. „Hinten im Glaskasten wird er sein“, sagte der Arbeiter. Graumann ging auf das Büro zu, in dem ein dicklicher kleiner Mann einer Sekretärin etwas diktierte. „Ich suche draußen meinen Volkswagen“, sagte er, „kann ihn aber nicht finden.“ Der Mann unterbrach sein Diktat und wandte sich dem Besucher zu. „Vielleicht ist er noch in der Reparatur“, entgegnete er höflich. „Wir werden ihn gleich haben. Wie war die Nummer, bitte?“ Graumann nannte das Kennzeichen. Der Chef schickte die Sekretärin in die Werkstatt. „Er kommt sofort“, versicherte er, und Graumann beobachtete vergnügt, wie die Unruhe in der Halle zunahm, als der Wagen nicht gefunden werden konnte. „Er ist weg!“ schrie jemand vom Hof. „O Gott“, stöhnte der Besitzer der Werkstatt. „Der Wagen muß gestohlen sein.“ Er stotterte verlegen, daß er sofort Meldung machen und die Polizei benachrichtigen werde. Aufgeregt rannte er zum Telefonbuch und suchte nach der Nummer. Es dauerte eine geraume Zeit. „Wenn Sie immer so lange suchen müssen“, bemerkte Graumann leichthin, „kann Ihnen eine Bande den ganzen Parkplatz leer machen, bevor Sie das Überfallkommando überhaupt benachrichtigt haben.“ Der Dicke hatte inzwischen die Nummer gefunden und wählte. Der Kommissar trat auf das Telefon zu und drückte die Gabel nieder. „Nicht mehr nötig“, sagte er. 40
Der Mann erbleichte und sah den seltsamen Kunden starr an. „Die Polizei ist schon da!“ Graumann wies sich aus. Der Besitzer der Werkstatt atmete erleichtert auf. Graumanns Hoffnung, von den Leuten in der Werkstatt irgendeinen Fingerzeig zu erhalten, wurde enttäuscht. Keiner hatte am Vormittag einen Mann bemerkt, auf den die Beschreibung des Täters paßte. Jeder war mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, und Graumann verwünschte sich, daß er hier so viel Zeit verschwendet hatte. Wußte er jetzt auch, wie der Täter zu dem Wagen gekommen war, so brachte ihn das doch nicht weiter. „Zurück zur Bank“, sagte er zu dem Fahrer. Die Untersuchungen um den Volkswagen hatten ihn viel Zeit gekostet, das Ergebnis war mager. Lediglich der Karabiner bot eine Spur, die weiterverfolgt werden konnte. Sie war noch nicht kalt geworden. Und Graumann hastete weiter, wie ein guter Spürhund. Zahlreiche Hände halfen inzwischen, die Fingerabdrücke des Täters in der umfangreichen Verbrecherkartei aufzufinden, um die Jagd dadurch abzukürzen und das Wild auszumachen. Bevor sie die Bank erreicht hatten, erhielt er eine Nachricht über den Sprechfunk, die seine Laune schlagartig verbesserte. Die Fingerabdrücke an dem Karabiner stimmten mit einigen von der Tür der Bank abgenommenen überein. Im Volkswagen dagegen waren nur andere Fingerabdrücke gefunden worden. Dies gab Graumann einige Rätsel auf. Immerhin war der Überfall geschickt inszeniert worden. Der Täter mußte ein Menschenkenner sein, der die Reaktionen der Bankangestellten vorausberechnet und ihre Unachtsamkeit zur Mittagszeit in seinen Plan mit einbezogen hatte. 41
Außerdem hatte er sich die Rückzugsmöglichkeit durch die Hintertür gesichert. Ob und wieweit der Kassierer, Fräulein Langner oder der Chef selbst mit dem Täter ein Gespann bildeten, ließ Graumann zunächst unberücksichtigt. Aber – und hier war ein merkwürdiger Widerspruch – der Täter hatte sich wie ein Anfänger benommen und Fingerabdrücke hinterlassen. Selbst wenn er in der Eile nicht alle Abdrücke von der Waffe hatte entfernen können, so blieb der Fakt, daß er den Überfall ohne Handschuhe ausgeführt hatte. Die Stimme aus dem Sprechfunk unterbrach Graumanns Gedanken. „Der Karabiner ist am Abend des neunten Januar von einem unbekannten Täter aus einem Funkwagen entwendet worden.“ „War das die Sache in Lichterfelde?“ fragte der Kommissar zurück, er konnte sich noch gut daran erinnern. „Jawohl, dreißig Schuß Munition und der Karabiner waren damals verschwunden.“ „Vielen Dank“, sagte Graumann. „Dann weiß ich Bescheid.“ „Die Kennzeichen B-SK 404 stammen von einem Wagen mit Totalschaden aus einer Garage in Heiligensee“, schnarrte die Stimme im Funk. „Der Besitzer hatte den Diebstahl bisher nicht bemerkt. Er war erst vor wenigen Tagen von einer längeren Reise aus Italien zurückgekehrt.“ „Gibt es noch was?“ „Vorläufig nicht.“ „Dann Ende.“ Graumann lehnte sich in den Sitz zurück. Der Banküberfall war lange vorher geplant worden. Das bewiesen der Diebstahl der Nummernschilder und des Karabiners. Die Waffe war aus einem Funkwagen 42
genau vor dem Polizeirevier 197 in Lichterfelde geraubt worden. Der Täter hatte unbemerkt entkommen können. Die Fahndung war ohne Erfolg geblieben. Die Spekulationen, wer wohl den Karabiner entwendet haben mochte, erregten damals die Gemüter mehr als der Sexualmord zwei Tage vorher im Grunewald. Der Diebstahl blieb eines der zahlreichen unaufgeklärten Vergehen. Man mußte die Untersuchungen schließlich einstellen und äußerte den Verdacht, wahrscheinlich hätten die Kommunisten jenseits der Mauer ihre Hand im Spiel gehabt. Die Waffe war ein neu eingeführtes Modell, und Spionage sei darum nicht ausgeschlossen. Graumann hatte diesen Gedanken nie ernst genommen, aber er war bald als eine offizielle Version verbreitet worden. Einige mochten sogar daran geglaubt haben, zumindest bis heute. Graumann lächelte. Manches löste sich durch die Zeit allein und meist anders, als man vorausgesehen hätte. Bemerkenswert erschien dem Kommissar die Frechheit des Täters. In beiden Fällen hatte er seine Aktionen gewissermaßen unter den Augen der Polizei ablaufen lassen. Und jedesmal hatte er sie zum Narren gehalten. Graumann stöhnte unwillkürlich auf. Er wird diese Tatsache nach der Klärung des Banküberfalls entsprechend hervorheben. Er, Kommissar Graumann, wird die Ehre der Polizei wiederherstellen. Der Wagen hielt vor der Bank am Grünen Eck. Graumann ging mit schnellen Schritten durch den Hintereingang in das Gebäude. Die Bankangestellten sahen ihm erwartungsvoll entgegen. Der Bewacher meldete, daß nichts Besonderes vorgefallen sei. Allerdings habe er Fräulein Langner erlaubt, unter Aufsicht eine Kanne Kaffee zu kochen. 43
Graumann winkte ab. „Wo ist Mehler?“ fragte er. Doch da entdeckte er ihn schon durch das Fenster im Chefzimmer. Eilig, als könne er die verlorene Zeit wieder aufholen, stürzte er in den kleinen Raum, krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Mehler zuckte zusammen. Dann sagte er ruhig: „Weder in der Fleischerei noch in den anderen Geschäften der Umgebung hat man von dem Überfall etwas bemerkt.“ „Aber die Leute müssen doch durch die Alarmanlage aufgeschreckt worden sein“, wandte Graumann zweifelnd ein. „Dachte ich auch.“ „Und?“ fragte Graumann ungeduldig. „Die Bank probiert ihre Alarmanlage so oft aus, daß kaum noch jemand aufsieht, wenn sie losheult.“ Graumann langte sich eine Brasil aus dem Kasten. Es schien, als habe er zunächst für nichts anderes mehr Interesse. „Eine gute Sorte“, sagte Mehler, als er das Vergnügen seines Chefs über die Zigarren bemerkte. Graumann sah hoch, befeuchtete das eine Ende der Brasil und brummte gutgelaunt: „Was verstehst du schon von Zigarren. Es sei denn, du bekommst eine von mir verpaßt.“ „Was seit über einem Jahr nicht mehr vorgekommen ist“, stellte Mehler fest. Graumann lachte gutmütig. „Da wird es wohl wieder einmal Zeit.“ Mehler zog es vor, darauf nicht zu antworten. Er wollte der guten Laune seines Vorgesetzten kein schnelles Ende bereiten. Wenn er einen passenden Übergang fände, könnte er bei dieser günstigen Gelegenheit auf eine 44
seit langem fällige Gehaltserhöhung aufmerksam machen. Aber ihm kam nichts in den Sinn, sosehr er auch nach einer unaufdringlichen Wendung suchte. Er mußte wohl oder übel warten, bis dieser Fall hier geklärt war. „Was spricht man über den Polizisten?“ fragte Graumann. „Er würde täglich vorbeikommen, sei zurückhaltend und nehme mit niemandem Verbindung auf. Nur die Fleischersfrau sagte, er wäre stets vor dem Schaufenster stehengeblieben und habe die Auslagen wie geistesabwesend angestarrt.“ „Was schließt du aus diesem seltsamen Verhalten?“ „Ich habe mich selbst vor das Schaufenster gestellt.“ „Und?“ drängte Graumann gespannt. „Der Eingang zur Bank spiegelt sich in der Scheibe. Die Fleischerei liegt schräg gegenüber.“ „Folgerungen?“ „Der Polizist hatte besonderes Interesse an der Bank.“ Graumann nickte zustimmend. „Und wir haben besonderes Interesse an ihm“, sagte er. „Deine nächste Aufgabe?“ „Ausfindigmachen des Polizisten.“
45
5 Der Dienstschluß des Polizisten hatte sich um Stunden verzögert. Die Demonstration war zwar durch massiven Polizeieinsatz aufgelöst worden, doch hatte es den halben Nachmittag gedauert, bis auch die letzte Gruppe keinen Widerstand mehr leistete. Auf die Wasserwerfer hatten die Demonstranten erbittert mit einem Steinhagel geantwortet. In unmittelbarer Nähe des Polizisten war sogar geschossen worden. Das war so schnell gegangen, daß nur wenige etwas davon bemerkt hatten. Der Polizist konnte vom Mannschaftswagen aus alles gut beobachten. Ein Polizeibeamter in Zivil hatte sich durch die Menge gearbeitet, um einen Demonstranten festzunehmen, der offenbar mit zu den Anführern gehörte. Mehrere junge Leute hinderten ihn daran und umringten ihn. Plötzlich mußte der Beamte die Nerven verloren haben. Der Polizist sah sein angstverzerrtes Gesicht, dann, wie er die Pistole zog und wild um sich schoß. Mit einem mächtigen Satz sprang der Polizist vom Mannschaftswagen mitten in die Menge. Die allgemeine Verwirrung ausnutzend, die den Schüssen gefolgt war, gelang es ihm, den Demonstranten doch noch festzunehmen. Mit Genugtuung bemerkte er, daß der nahe stehende Kameramann seinen Einsatz gefilmt hatte. Die Reiterstaffeln drängten die Demonstranten rasch ab. Als der Polizist erneut Schüsse hörte, waren es die Gnadenschüsse für ein Pferd, das sich die Fesseln gebrochen hatte. Er führte den festgenommenen Demonstranten zu einem Einsatzwagen, und damit war für ihn die Demonstration zu Ende. Als er nach Hause fuhr, fühlte er 46
sich müde, doch auch froh und glücklich. Es war ein erfolgreicher Tag für ihn. Von der Bushaltestelle zu seinem Grundstück mit dem kleinen gepflegten Gartenhaus mußte er noch einige Minuten laufen. Alte Linden streckten ihre kahlen Äste wie riesige schwarze Finger in die Luft, sie berührten einander fast über der Straßenmitte. Durch Sträucher voneinander getrennt, führten rechts und links der Straße Wege für Radfahrer und für Fußgänger entlang. Sie wurden aber nur am Tage benutzt. Abends gingen die Bewohner der Siedlung auf der von Schlaglöchern durchfurchten, von alten Laternen nur trübe beleuchteten Straße. Der Polizist traf keinen Menschen. Das Häuschen lag versteckt hinter einer dichten Hecke, die am Zaun entlang gepflanzt war. Das kleine Tor war abgeschlossen. Die Frau des Polizisten arbeitete halbtags und kam meist erst gegen Abend zurück, nachdem sie den dreijährigen Sohn von ihrer Mutter abgeholt hatte. Der Polizist öffnete, schloß sorgfältig wieder ab, schritt nun gemächlich auf dem knirschenden Kiesweg bis zum Schuppen und verschwand darin. Er drehte sich um und horchte. Kein Laut war zu hören. Er warf noch über die Hecke hinweg einen prüfenden Blick in den Nachbargarten, dort rührte sich nichts. In der Stube zog er die Schuhe von den Füßen, legte die Dienstpistole vorsichtig auf einen Stuhl und hing den Rock über die Lehne. Er streckte sich aus und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Lautes Türen schlagen weckte ihn. Seine Frau war gekommen. Der Junge plärrte, und Schelten drang durch die dünnen Wände. Der Polizist blinzelte, drehte sich zur Seite und deckte sich ein Kissen über das Ohr. Er fühlte sich elend. Wenn 47
seine Frau so aufgeregt nach Hause kam, gab es gewöhnlich Ärger. Auch sonst war sein Familienleben nicht gerade glücklich. Der Polizist bereute zwar die Ehe, konnte sich jedoch nicht entschließen, sie zu lösen. Er überlegte oft sehr lange, bevor er etwas unternahm – zumindest zu Hause war das so. Im Dienst erhielt er Befehle, da wußte er, was er zu tun hatte. Doch sobald er aus dem Bus stieg und sich seinem Häuschen näherte, schien er ein völlig anderer Mensch zu werden. Er fühlte sich eingeengt, von seiner Frau enttäuscht und mißverstanden. Vielleicht sollte er sich endlich von ihr trennen. Sie konnte mit dem Kind zu ihrer Mutter ziehen. Er würde sie finanziell unterstützen. Der Polizist stöhnte. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Das beste wäre, ihr das Haus zu überlassen und woandershin zu ziehen, ins Ausland, dann hätte er Ruhe und könnte ein neues Leben beginnen. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, da seine Frau die Tür aufriß und in die Stube stürzte. Für einen Moment schien ihr der Anblick des schlafenden Mannes die Sprache zu verschlagen. Doch das dauerte nicht lange. Sie schimpfte, daß der Herr am hellen Tage auf der faulen Haut liege. Andere Männer arbeiteten noch nach Feierabend. Die kämen auch zu etwas, aber er hätte das ja nicht nötig. Er müsse seine Kräfte für das Kasino schonen. Er habe wohl noch nicht genug verspielt. Ihre Wangen waren hochrot, und sie redete sich immer mehr in Hitze. Langsam wandte sich der Polizist seiner Frau zu und betrachtete sie teilnahmslos. Sie hatte vor vier Wochen ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Man schätzte sie älter. Sie war fülliger geworden nach dem Kind. Ein verkniffener Zug um die Mundwinkel ließ ihre Lippen wie zwei schmale Striche erscheinen. 48
„Verdiene ich dir wieder einmal nicht genug?“ unterbrach er sie schließlich. Den Auftritt seiner Frau empfand er als eine schmerzliche Niederlage. „Genug?“ fragte die Frau erbost, und ihre Stimme überschlug sich fast. „Seit fünf Jahren hausen wir in dieser schäbigen Gartenlaube.“ „Du übertreibst“, wehrte der Polizist müde ab. „Es ist ein schönes Häuschen, ohne Schulden. Zugegeben, wir könnten noch ein Zimmer mehr gebrauchen. Vielleicht sollten wir anbauen.“ „Anbauen“, ahmte ihn seine Frau ärgerlich nach. „Im Schuppen oder im Keller?“ Die gute Laune des Polizisten war endgültig vorbei. Es hatte keinen Zweck, sich mit seiner Frau zu streiten. Sie stellte Ansprüche, die er nicht erfüllen konnte. „Was hast du mir alles erzählt, bevor wir verheiratet waren!“ fuhr die Frau erregt fort. „Ein großes Haus sollte angeschafft werden, ein moderner Wagen, ein Dienstmädchen, wir wollten verreisen, jedes Jahr mindestens einmal. Und heute?“ Sie schnaufte aufgeregt. „Nicht mal den Waschautomaten hast du mir bis jetzt gekauft!“ Sie wandte sich ab und sagte abfällig: „Aber woher sollte das Geld schon kommen? Auf der Straße liegt es nicht. Und im Kasino auch nicht.“ Der Polizist beugte sich zu seinem Rock vor, zog einige Geldscheine aus der Brieftasche und warf sie auf den Tisch. „Vielleicht habe ich jetzt Ruhe!“ knurrte er wütend und ließ sich krachend auf die Couch zurückfallen. Die Frau starrte verblüfft auf die Scheine und trat langsam an den Tisch heran. Mit unsicheren Händen sortierte sie das Geld, zählte und rechnete. „Du hast gewonnen!“ sagte sie überrascht. Ihre Stimme klang verändert. Sie ging auf ihren Mann zu, das Gesicht zu ei49
nem freundlichen Lächeln verzogen. Er schob sie jedoch von sich. Stumm verließ sie das Zimmer. Der Polizist schaltete den Fernsehapparat ein und zündete sich eine Zigarette an. Die Auseinandersetzung hatte ihn mehr aufgeregt, als er wahrhaben wollte. Er spürte eine leichte Erschöpfung. Die Werbungen auf dem Schirm flimmerten an ihm vorüber, ohne daß er ihren Sinn erfaßte. Erst zur Abendschau wurde er munter. Der Sprecher berichtete von der Demonstration und verlas einen ersten Zwischenbericht der Westberliner Schutzpolizei. Danach hatten zwei Pferde „die spektakulärste und aufwendigste Polizeiattacke, die in Berlin je gegen Demonstranten geritten wurde“, mit dem Leben bezahlt. Bilder von den Reiterstaffeln erschienen, und der Sprecher kommentierte, daß der Anblick der dichtgeballten Kavalkade von achtundvierzig herantrabenden Pferden die Menge in ‚panikartige Flucht‘ versetzt habe, so daß von den rund achttausend Demonstranten in kürzester Zeit mehrere tausend verschwunden seien. Gebannt schaute der Polizist auf die brodelnde Menschenmenge, die verzweifelt den Pferdehufen zu entkommen suchte. Die Mannschaftswagen fuhren vor, er entdeckte sich selbst auf einem der Wagen. Plötzlich holte ihn die Linse der Kamera als Großaufnahme aus der Menge heraus, und er verfolgte klopfenden Herzens seinen eigenen Sprung vom Wagen, mitten hinein in die Masse, sah, wie er sich über gestürzte Menschen hinweg einen Weg bahnte und den Demonstranten festnahm. Danach gab der Polizeipräsident ein Interview. Ausgangspunkt war die ‚mutige Tat des Polizisten‘, wie sich der Präsident ausdrückte, die es ermöglicht habe, einen der Rädelsführer festzunehmen. Wie es überhaupt eine schwierige Aufgabe gewesen sei, ‚den harten Kern von 50
etwa fünfhundert Straftätern aus den Demonstranten herauszudifferenzieren‘. Dazu hätten Polizeibeamte in Zivil eingesetzt werden müssen, was durch den bedauerlichen Schußwaffengebrauch des Polizeimeisters Dollenwitz bereits bekannt geworden sei. Die Ermittlungen der Mordkommission haben ergeben, daß Dollenwitz ganz im Sinne der Dienstvorschriften gehandelt habe. Durch eine unglückliche Verkettung von Zufällen seien bei diesen Schüssen leider der Polizeimeister Scholze, der ebenfalls in Zivil war, sowie zwei Zivilisten verletzt worden. Nach diesen Worten schilderte der Präsident den Hergang des Zwischenfalls. Zum Abschluß des Gesprächs beteuerte er, man werde selbstverständlich für die Zukunft die nötigen Lehren aus diesen Vorfällen ziehen. Das Bild des Präsidenten wurde abgeblendet, und der Sprecher verlas weitere Nachrichten. Interessiert hörte der Polizist zu, als mitgeteilt wurde, daß ein Überfall auf die Bank für Handel und Industrie am Grünen Eck verübt worden sei. Der Täter habe eine hohe Summe erbeutet. Bisher fehle jedoch jegliche Spur von ihm, und die Kriminalpolizei verweigere jede Auskunft. Trotzdem sei bekannt geworden, daß sich zehn Minuten vor dem Überfall am Tatort ein Polizist aufgehalten habe, der bis jetzt noch nicht ermittelt werden konnte. Die Vermutung liege nahe, daß sich ein Verbrecher auf unrechtmäßige Weise eine Polizeiuniform verschafft habe, um so ungehindert Erkundungen ausführen zu können. Schon seit Wochen habe der sogenannte Polizist täglich seine Runde an der Bank für Handel und Industrie vorbei gemacht. Der Polizist schaltete den Apparat aus, zog sich an und verließ das Haus.
51
6 Der Kassierer hatte sich nach dem Banküberfall nur langsam erholt. Der Schock mußte ihn stark verwirrt haben. Bleich und wie geistesabwesend saß er am Tisch und wartete darauf, daß auch er verhört würde. Als sich aber der Kommissar mit allen anderen beschäftigte, nur nicht mit ihm, wurde er nervös. Da schob Fräulein Langner ihm diesen Zettel zu. Kaum daß er den Sinn der Worte zu erfassen vermochte. Er las die Zeile mehrmals, sie beunruhigte ihn, und die Affekthandlung, dem Kommissar die Nachforschung zu erschweren, indem er den Rest des Zettels in den Mund steckte, überraschte ihn fast selbst. Als Graumann aus der Bank ging, ohne sich um ihn zu kümmern – nicht mal das Verschlucken des Zettels hatte den Kommissar dazu bewogen –, wurde dem Kassierer so schlecht, daß er um ein Glas Wasser bitten mußte. Danach fühlte er sich etwas wohler, aber noch immer recht schwach, so daß Fräulein Langner den Bewacher fragte, ob sie Kaffee kochen dürfe. Das war für die anderen das Zeichen, sich ebenfalls zu Wort zu melden. Waren sie denn Verbrecher, die keine Rechte mehr besaßen? Wie Angeklagte hatte man sie bisher behandelt. Dabei: Hatten sie jemand ausgeraubt, oder waren nicht vielmehr sie selbst überfallen worden? Als der Kommissar und sein Assistent zurückkamen, herrschte wieder Ruhe im Bankraum. Auch der Kassierer war nicht mehr so aufgeregt. Mehlers Aufforderung, zum Verhör zu kommen, erschien ihm wie eine Erlösung. Die Wartezeit war vorüber. Er nahm Platz und fühlte die forschenden Augen des Kommissars auf sich gerichtet. 52
Graumann begann ohne Umschweife zu fragen. Als erstes wollte er wissen, warum der Kassierer nicht sofort den Alarm ausgelöst habe, als er bedroht worden war. Der Kassierer hatte die Frage erwartet, ruhig antwortete er, daß der Kommissar genausogut wie et wisse, daß der Täter ein Gewehr hatte. Graumann nickte dem Kassierer beistimmend zu, schränkte aber ein, daß das Gewehr nur ein Bluff hätte sein können. Der Blick des Kassierers irrte von Graumann zu Mehler, dann wieder zum Kommissar zurück, der gelockert und bequem im Sessel lag. Ihre Mienen waren kühl, von ihnen war nichts abzulesen. Sachlich sagte er: „Ein Gewehr ist kein Bluff.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, es schien, als denke er nochmals an den bedrohlichen Augenblick zurück, da die Gewehrmündung dicht vor seinen Augen tanzte. „Ich war erschrocken“, ergänzte er. „Das Gewehr war genau auf mich gerichtet!“ Er sprach schneller, aufgeregter, stotterte. „Ich sehe es noch immer vor mir, jeden Moment konnte ein Schuß losgehen. Eine schnelle Bewegung, und ich wäre tot gewesen. Zuerst glaubte ich, er wollte mich umlegen. Ich war starr, konnte kein Glied rühren, wartete auf den Knall. Doch dann kam diese flüsternde Stimme, die höfliche Aufforderung: ‚Geben Sie mir bitte Ihr Geld!‘ Ich glaubte, er wollte mich verspotten. Diese Kaltblütigkeit, die Höflichkeit verwirrten mich. Ich konnte nichts mehr denken. Ich sah nur noch die schwarze Öffnung, ein Paar graue Lederhandschuhe, die Aktentasche. Und da reichte ich das Geld über den Tisch …“ „Weil es vorher so ausgemacht war“, entgegnete Graumann scharf. 53
„Nein!“ schrie der Kassierer auf. „Ich kenne ihn nicht, habe ihn nie vorher gesehen, weiß kaum, wie er aussieht.“ Der Kommissar lachte spöttisch. „Nicht einmal das Gesicht können Sie beschreiben. Gut eingefädelt. Aber zu plump, um die Kripo hereinzulegen.“ „Es ist die Wahrheit“, sagte der Kassierer ängstlich, seine Ruhe war dahin, er blickte dem Kommissar gehetzt in die kalten, abschätzenden Augen. „Die Wahrheit ist, daß Sie nicht auf den Knopf gedrückt haben, um Ihren Komplicen zu schonen.“ Auf der Stirn des Kassierers bildeten sich große Schweißtropfen. So hatte er sich das Gespräch nicht vorgestellt. Er mußte den Kommissar beruhigen, ihm seinen guten Willen beweisen. „Ich kann den Täter beschreiben“, sagte er. „Alter?“ „Etwa Mitte Vierzig.“ „Größe?“ Der Kassierer zögerte. „Ein Meter siebzig, kann aber auch größer gewesen sein.“ „Kann“, sagte der Kommissar abfällig. „Erinnern Sie sich genau. Es geht um Ihren Kopf. Wenn Sie nicht wollen, daß der Verdacht auf Sie fällt, beschreiben Sie, je besser, desto günstiger für Sie. Nur durch eine detaillierte Beschreibung des Täters wälzen Sie den Verdacht von sich ab.“ „Ich kann mich schlecht darauf besinnen, die Schnelligkeit, die Angst …“ „Ich weiß“, unterbrach ihn Graumann. „Der Schock, die schwarze Öffnung, der Schuß, der Sie treffen konnte.“ Graumann zog die Schultern bedauernd in die Höhe. „Wie Sie wollen. Wir bekommen den Täter, ob mit oder 54
ohne Ihre Beschreibung. Der am meisten Verdächtige sind Sie. Das wissen Sie genausogut wie ich. Mir ist es gleich, wen ich verhafte.“ „Verhaften?“ wiederholte erschrocken der Kassierer. „Mich können Sie nicht verhaften. Sie haben keine Beweise.“ „Wenn Sie nicht bald Ihre Beschreibung fortsetzen …“ „Einen grünen Trenchcoat trug er.“ „Das wissen wir. Weiter!“ „Eine Sonnenbrille.“ „Weiter.“ „Einen Bart.“ „Einen Bart?“ fragte zweifelnd der Kommissar. „Ja“, sagte der Kassierer schnell. „Einen kleinen unterhalb der Nase und einen größeren am Kinn.“ Der Kommissar drehte sich zu Mehler um, der verneinend den Kopf schüttelte. Mehler hatte aufgepaßt, weder der Effektenkassierer hatte einen Bart erwähnt noch das Fräulein. Von den anderen Angestellten lagen keine Angaben vor, da sie den Überfall erst spät bemerkt hatten. „Wir werden es nachprüfen“, sagte Graumann mit unbewegtem Gesicht. „Fahren Sie fort.“ „Er hinkte, Herr Kommissar.“ „Sind Sie sicher?“ „Ganz sicher. Er zog das eine Bein nach.“ Graumann lehnte sich in den Sessel zurück. „Schildern Sie genau, wie der Überfall stattfand.“ Der Kassierer sah unsicher auf die beiden Kriminalisten. „Soll ich zur Tür gehen“, fragte er verwirrt, „Ihnen vorspielen, wie alles ablief?“ „Kein schlechter Gedanke“, sagte der Kommissar. „Aber vielleicht schildern Sie erst einmal, wie alles vor sich gegangen ist. Theater spielen können wir immer 55
noch.“ Und mit scharfer Stimme setzte er hinzu: „Mir scheint überhaupt, daß hier eine ganze Menge Theater gespielt wird.“ Der Kassierer überhörte den Einwurf des Kommissars und begann mit seinem Bericht. Er erzählte, daß der Täter sofort auf ihn zugekommen sei, wobei er das eine Bein etwas nachgezogen habe. „Das rechte oder das linke?“ fragte Graumann. „Das rechte!“ „Wo hatte er seine Hände?“ „In der linken Hand hielt er die Aktentasche, und die rechte …“ Der Kassierer zögerte, schwieg. „Vielleicht öffnete er mit der rechten Hand die Tür?“ half der Kommissar nach. Der Kassierer stutzte, sagte aber schließlich voller Bestimmtheit, daß die rechte Hand in der Manteltasche gesteckt habe. Der Kommissar sah den Kassierer prüfend an und überlegte eine Weile. Natürlich, dachte er dann, sonst wäre ja der Karabiner nach unten gerutscht. Und der Bankräuber hätte noch mehr hinken müssen. Er konnte das Hinken bei der Täterbeschreibung außer acht lassen, da es nur durch den Karabiner hervorgerufen worden war. Laut sagte er: „Sprechen Sie weiter.“ „Er schob plötzlich das Gewehr aus dem Trenchcoat, machte die Aktentasche auf und verlangte das Geld.“ „Können Sie die Tasche beschreiben?“ „Sie sah schon recht abgegriffen aus. Die Farbe paßte genau zu den Handschuhen.“ Graumann beugte sich über den Tisch, seine Fleischmassen kamen bedrohlich auf den Kassierer zu. „Handschuhe hatte der Täter beim Überfall an?“ fragte er lauernd wie jemand, der glaubt, nicht recht gehört zu haben. 56
„Ja, gewiß“, stotterte der Kassierer, der die Reaktion des Kommissars nicht verstand. „Graue Handschuhe. Ich kann mich genau erinnern.“ Der Kommissar schnaufte. „Und wie erklären Sie sich dann, daß Fingerabdrücke an dem Karabiner, den wir inzwischen sicherstellen konnten, mit einem Abdruck an der Glastür zur Bank übereinstimmen?“ „Ich weiß es genau“, wiederholte der Kassierer tonlos. „Er trug graue Handschuhe.“ Der Kommissar erhob sich. Erregt lief er hin und her, ging schließlich hinaus und fragte den Effektenkassierer. Aber der konnte sich nicht an Handschuhe erinnern. Er habe dem Täter schließlich nur kurz in das Gesicht gesehen. „Und er war gut rasiert?“ fragte Graumann. Der Effektenkassierer nickte. Graumann zog sich wieder in das Zimmer zurück. Es gab zwei widersprüchliche Aussagen. Wer sagte hier die Wahrheit? Wem konnte er mehr vertrauen, dem Kassierer oder dem Effektenkassierer? Warum sagte der eine, der Täter habe einen Bart und graue Handschuhe gehabt, und der andere, daß der Bankräuber glatt rasiert gewesen sei, eine Narbe im Gesicht habe? Der Effektenkassierer war weniger belastet, vielleicht kam seine Aussage der Wahrheit am nächsten, und der Kassierer wollte ihm einen Bären aufbinden, ihn ablenken. Er war im höchsten Grade verdächtig. Wollte er seinen Komplicen decken? „Wie groß war der Verlust?“ fragte Graumann unvermittelt. „Etwa sechzigtausend Mark“, sagte der Kassierer. „Warum wissen Sie das nicht genau?“ „Ich habe überschlagen“, entgegnete der Kassierer. „Es können vielleicht tausend Mark mehr oder weniger sein.“ 57
„Oder auch zwanzigtausend bis dreißigtausend!“ sagte Graumann sarkastisch. „Nein“, widersprach der Kassierer. „Ich habe die Päckchen mitgezählt, die ich dem Verbrecher in die Tasche stecken mußte.“ Graumann gab seinem Assistenten einen Wink. „Hol die Langner ’rein.“ Mehler rief Fräulein Langner, die sofort in der Tür erschien, als habe sie nur auf diesen Ruf gewartet. „Wieviel Geld hat der Täter erbeutet?“ fragte Graumann kurz. Das Mädchen zögerte. „Knapp hunderttausend“, sagte es schließlich stockend und sah dabei den Kassierer an, der erschrak. „Und woher wissen Sie das?“ „Vom Chef.“ „Danke, das genügt. Schicken Sie mir bitte Herrn Schmidt.“ „Wir können es nachprüfen“, bot der Kassierer an. „Es dauert keine fünf Minuten.“ Graumann entgegnete nichts, ja, man konnte glauben, er habe die Bemerkung nicht einmal gehört. Natürlich wußte er, daß es ein leichtes war, die Verlustsumme zu errechnen. Aber das interessierte ihn nur am Rande. Wichtig war für ihn der Widerspruch in der Aussage zweier Personen. Und wieder wich die Auskunft des Kassierers von der anderen Aussage ab. „Sie wünschen?“ fragte Schmidt, der sein Zimmer betreten hatte, ohne daß Graumann darauf geachtet hätte. Graumann stellte ihm die gleiche Frage wie Fräulein Langner. „Knapp hunderttausend“, antwortete Schmidt ohne Zögern. „Ich habe es nachgeprüft. Noch bevor Sie kamen. Schließlich muß ich als Chef …“ 58
„Schon gut.“ Graumann winkte ab. „Mir genügt es. Sie können gehen.“ Der Kassierer blickte verwirrt seinem Vorgesetzten nach. „Stellen Sie den Verlust fest“, sagte Graumann zum Kassierer. „Mein Assistent wird Ihnen dabei helfen.“ Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das der Kassierer nicht deuten konnte. Der Kommissar bat den Chef nochmals zu sich herein. Mit vertraulicher Freundlichkeit fragte er Schmidt, ob er nicht einen Hammer haben könne. Da der Filialleiter ein verdutztes Gesicht machte, erklärte Graumann – und seine Stimme schmolz bald vor Liebenswürdigkeit –, Schmidt könne ihm damit einen großen Gefallen tun. Der Chef ging verblüfft einige Schritte in den Schalterraum hinein, kehrte dann aber um und sagte: „Wir haben keinen Hammer in der Bank.“ Graumann lächelte freundlich. „Überlegen Sie ruhig“, erwiderte er. „Vielleicht im Waschraum.“ „Ja, natürlich“, sagte Schmidt. „Oben auf dem Fenster liegt einer.“ „Ganz recht“, stimmte Graumann bei. „Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, daß im Waschraum Ihrer Bankfiliale ein Hammer liegt? Wozu, frage ich mich?“ „Vielleicht hat ein Handwerker ihn vergessen.“ Graumann lächelte noch immer. „Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, warum der Hintereingang durch die Alarmanlage nicht verschlossen wurde?“ „Jemand hatte die Gleitschiene verkeilt.“ „Womit?“ „Mit irgend so einem Eisen.“ Graumann nickte. „Und wie bekommt man irgend so ein Eisen in die Schiene?“ 59
Schmidt sah mißtrauisch auf Graumann. „Mit einem Hammer“, sagte er dann. „Gut beobachtet“, lobte Graumann. „Wirklich, ausgezeichnet! Ich frage mich bloß, woher Sie das alles so genau wissen.“ „Man macht sich schließlich seine Gedanken“, sagte Schmidt. „Sie haben uns ja genügend Zeit dazu gelassen.“ „Würden Sie mir dann wohl jetzt den Hammer holen?“ Schmidt zögerte. Er wußte nicht, wozu der Kommissar dies alles anstellte, verließ aber das Zimmer und ging langsam durch den Schalterraum nach hinten. Graumann wartete geduldig, bis der Leiter wiederkam. „Er ist verschwunden“, sagte Schmidt unsicher. „Natürlich“, entgegnete Graumann. „Wir haben ihn zur daktyloskopischen Abteilung mitgegeben. Dort wird untersucht, ob sich Ihre Fingerabdrücke auf dem Stiel befinden.“ „Glauben Sie, ich würde den Hammer ohne Handschuhe anfassen?“ fragte Schmidt beleidigt. „Das weiß ja schließlich jedes Kind, daß man Fingerabdrücke hinterläßt.“ „Und wenn man von Ihnen schon welche gefunden hätte?“ „Das glaube ich nicht“, sagte Schmidt ruhig. „Ich hatte diesen Hammer nicht in der Hand.“ „Womit haben Sie dann das Eisen in die Schiene gekeilt?“ Schmidt lachte auf. „Mit dem Handschuh“, sagte er spöttisch. Graumann lachte mit und entließ ihn. Er hatte nur auf den Busch klopfen wollen. In der Tat waren keine Finge60
rabdrücke von einem der Bankangestellten auf dem Hammer gefunden worden. Auch fehlten Anhaltspunkte, daß mit ihm der Eisenkern in die Schiene geschlagen worden war. Sicher hatte der Täter Stoff oder ein anderes schallschluckendes Material zwischen Hammer und Eisenkern gelegt, um die Schläge zu dämpfen. Bemerkenswert war immerhin, wie genau Schmidt Bescheid wußte. Was sollte er von Schmidts Sicherheit halten? War es Tarnung oder tatsächliche Überlegenheit? Freute sich der Filialleiter, daß die Polizei im dunkeln tappte, oder war es ein ruhiges Gewissen? Der Hammer brachte ihn nicht weiter. Da kehrte Schmidt erneut zurück. „Geben Sie Ihren Verdacht auf“, riet er Graumann. „Von der Bank war es bestimmt niemand.“ „Und woher wollen Sie das wissen?“ fragte Graumann überrascht. Der Chef lachte vielsagend. „Das müssen Sie schon herauskriegen. Dafür werden Sie schließlich bezahlt.“ Er hatte die Tür hinter sich geschlossen, ging nun auf seinen Schreibtisch zu und sagte mit gespielter Freundlichkeit: „Übrigens, Herr Kommissar, ich sehe, daß Ihre Zigarre aufgeraucht ist. Darf ich Ihnen eine neue anbieten?“ Er griff die Kiste und hielt sie dem Kommissar hin, der sich leicht verärgert abwandte. „Es wäre nett von Ihnen“, nahm Schmidt das Gespräch wieder auf, „wenn Sie mir sagen könnten, wann ich mein Zimmer wieder benutzen darf. Ich unterstütze, wie Sie sicher bemerkt haben werden, die Polizei nach besten Kräften, aber es wäre mir lieb, in meinem Zimmer wieder arbeiten zu können.“ „Zum Beispiel, um den Bericht an Ihre Vorgesetzten zu schreiben, wenn ich Sie recht verstanden habe“, sagte 61
Graumann. „Trotzdem, mein lieber Herr Schmidt, muß ich Sie enttäuschen. Solange hier noch Untersuchungen laufen, werden Sie mit den anderen im Schalterraum bleiben müssen.“ Er geleitete Schmidt zur Tür, und freundlich sagte er: „Es sei denn, Sie kürzten die Untersuchung ab, indem Sie mir etwas über den Hammer berichteten.“ „Da, mein lieber Kommissar, muß ich Sie enttäuschen“, entgegnete Schmidt, verbeugte sich höflich und begab sich wieder an seinen Platz. Graumann verbiß sich den Ärger. Er verließ das Zimmer und ging, von den listig blinzelnden Augen des Chefs verfolgt, zum Waschraum, um erneut das Fensterbrett zu untersuchen. Der Hammer konnte nicht lange dort gelegen haben, die Staubschicht war überall gleichmäßig verteilt. Das Fenster stand halb offen. Graumann stieg auf einen Schemel und warf einen Blick auf die Straße. Überrascht verharrte er. Dann sprang er vom Schemel, schob ihn ein Stück weiter, um auch das zweite Fenster zu untersuchen. Während das erste völlig frei war, wurde das zweite durch ein solides Gitter gesichert. Graumann ging in das Chefzimmer zurück, Schmidt heimlich beobachtend. Warum hatte dieser ihm den Tip gegeben, der Hammer führe ihn nicht weiter? Wollte er ihn auf eine andere Fährte locken, sich selbst entlasten? Schmidts Bemerkung zeugte von nüchterner Überlegung und Kombinationsgabe. Er war nicht so harmlos, wie er sich den Anschein gab. Ohne ein Wort zur Sache zu sagen, hatte Schmidt einen Verdacht entkräftet, den Graumann gegen ihn hegte. Der Hammer konnte von der Straße her durch das geöffnete Fenster gesteckt worden sein, um den Verdacht auf einen Bankangestellten zu lenken. Zum anderen: Wer die Bank genau kannte, wuß62
te, daß der Fluchtweg durch den Waschraum möglich war, ohne daß er die Gleitschiene der Tür zu verkeilen brauchte. Die erste Runde hatte Schmidt gewonnen. Selbstkritisch gestand sich Graumann die Niederlage ein. Da er ein gründlicher Mensch war, rief er sofort in seiner Dienststelle an, ob an dem Hammer über Fingerabdrücke hinaus andere Spuren festgestellt werden konnten. Er brauchte nicht lange auf Antwort zu warten. Der Täter hatte offensichtlich doch keine schalldämpfende Unterlage benutzt, wie er zuerst angenommen hatte; deutlich waren am Hammer Rostspuren des Eisenkerns festgestellt worden. Da kam Mehler mit dem Kassierer zurück. „Die Beute beträgt genau neunundachtzigtausendfünfhundertundzwei Mark“, sagte Mehler. Graumann sah den Kassierer an. „Also sechzigtausend“, sagte er. Der Kassierer antwortete nicht. Er war blaß und schien um Jahre gealtert zu sein. „Sind Ihre Angaben immer so genau?“ fragte Graumann. „Dann dürften wir mit der Täterbeschreibung noch mal von vorn anfangen.“ „Es können aber nur sechzigtausend gewesen sein“, wiederholte der Kassierer. „Ich habe die Päckchen gezählt. Automatisch. Ich kann kein gebündeltes Geld sehen, ohne daß ich sofort den Betrag ausrechne. Das lose Geld konnte keine dreißigtausend betragen.“ „Und wo ist der Rest geblieben?“ fragte Graumann grob. „Er hat sich in Luft aufgelöst. Das neueste Wunder!“ Der Kassierer setzte sich und starrte Graumann entgeistert an, so daß dieser zu zweifeln begann, ob der Kassierer überhaupt zugehört hatte. „Worüber haben Sie sich kurz vor dem Überfall mit Ihrem Chef gestritten?“ fragte Graumann. 63
„Es war nichts Besonderes“, sagte der Kassierer. „Eine kleine Kontroverse. Das war alles. Nicht wert, überhaupt darüber zu reden.“ „Sprechen wir trotzdem darüber.“ Der Kassierer zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Er sucht in letzter Zeit des öfteren Gelegenheit, mit mir Streit anzufangen.“ „Und warum?“ „Ich weiß nicht.“ „Soll ich Ihnen nachhelfen?“ „Wenn Sie es können.“ „Eifersucht würde ich sagen.“ Der Kassierer schien einen Schimmer dunkler zu werden. „Wie kommen Sie darauf?“ „Annahme, reine Annahme“, wich Graumann aus, der während der Stunden in der Bank ein gewisses Einvernehmen zwischen dem Kassierer und Fräulein Langner festgestellt zu haben glaubte. „Übrigens“, sagte Graumann, als ob er sich auf etwas besänne, „was ich Sie noch fragen wollte: Wie fühlen Sie sich so gesundheitlich?“ Der Kassierer, der nicht sofort durchschaute, worauf der Kommissar anspielte, blickte unsicher auf Graumann. „Ich meine nur“, sagte dieser. „Weil man mitunter nach dem Genuß von Papier Verdauungsbeschwerden bekommt.“ „Ich kann nicht klagen“, entgegnete der Kassierer zweideutig. „Bis jetzt“, schränkte Graumann ein. „Das wird sich allerdings sofort ändern, da ich Sie leider festnehmen lassen muß.“ Der Kassierer schrak hoch. „Sie haben keine Beweise!“ stieß er hastig hervor. Graumann lachte. „Und der Zettel?“ 64
„Das reicht nicht!“ „Oh“, sagte Graumann. „Es besteht bei Ihnen Verdunklungsgefahr, dazu kommt die Möglichkeit der Flucht, und schließlich haben Sie den Alarmknopf erst betätigt, als der Verbrecher in Sicherheit war. Dies alles zusammengenommen dürfte wohl für eine Festnahme reichen.“ Der Kassierer öffnete den Mund zur Erwiderung. Aber Graumann sprach schnell weiter. „Sie sind im höchsten Grade der Mithilfe schuldig“, sagte er scharf. „Weiter kommt hinzu, daß Sie die Verlustsumme wissentlich falsch angegeben haben. Man könnte also von Unterschlagung reden. Irgendwo müssen ja die dreißigtausend geblieben sein!“ „Aber nicht bei mir“, warf jetzt aufgeregt der Kassierer ein. „Sonst hätte ich ja mehr Geld angeben müssen. Aber so …“ Er schwieg unvermittelt. „Sprechen Sie ruhig weiter“, sagte Graumann. Aber es kam keine Antwort. Der Kommissar fuhr fort: „Nehmen wir an, Sie teilen die erbeutete Summe brüderlich mit Ihrem Komplicen.“ Er legte eine Pause ein, tat so, als ob er überschlagen müßte, wieviel jeder bei der Teilung bekäme. Stockend und abwägend sagte er langsam: „Jeder bekommt also …“ „Nichts bekomme ich“, schrie plötzlich der Kassierer los. „Ich war es nicht. Ich bin ausgeraubt worden und niemand anders. Sie wollen mir irgendeine Schuld in die Schuhe schieben. Aber ich war es nicht, und ich werde immer wiederholen: Ich war es nicht. Ich war es nicht. Ich …“ Die Stimme versagte dem Kassierer. Seine Stirn glänzte schweißnaß. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich war es nicht“, wiederholte er, „ich war es 65
nicht!“ Die Schreie drangen durch die dünne Wand in den Kassenraum, so daß sich die Angestellten entsetzt anblickten und sich nicht zu rühren wagten. „Gestehen Sie“, forderte Graumann. „Wir bekommen es heraus, früher oder später. Ein solcher Banküberfall bleibt nicht unaufgeklärt. Ein Geständnis mildert Ihre Strafe. – Sie brauchten Geld. Herrgott“, stöhnte Graumann gespielt leutselig, „wer braucht heutzutage kein Geld? Sie sind jung. Verdienen zwar, haben aber diesen und jenen Wunsch, den Sie sich nicht erfüllen können. Dabei gehen täglich Tausende und aber Tausende Mark durch Ihre Hände. Eine Unterschlagung fiele auf. Sie finden einen Komplicen …“ „Ich habe keinen Komplicen“, beteuerte der Kassierer heiser. „Ich war es nicht. Ich …“ Seine Stimme wurde leiser. Er ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und verstummte. Graumann wußte nicht, ob der Mann wirklich so ergriffen war oder nur gut Theater spielen konnte. Er ging im Zimmer auf und ab, bis der Kassierer sich beruhigt hatte. „Und nun gestehen Sie“, sagte er unbeirrt. „Die Beweise sind gegen Sie.“ Der Kassierer schwieg und blieb teilnahmslos am Tisch sitzen. Er beachtete weder Graumann noch Mehler, der sich während des Verhörs still verhalten hatte und interessiert zum Fenster hinausschaute. Ein Beamter, der den Hintereingang bewachte, betrat den Schalterraum und sah sich suchend um. Als er Mehler durch die Scheibe hindurch entdeckte, gab er eifrig Zeichen, zu ihm an den Eingang zu kommen. Mehler stand auf und ließ Graumann mit dem Kassierer allein.
66
7 Zu Mehlers Überraschung eröffnete ihm der Posten, daß sich ein zweiter Polizist gemeldet habe, der behauptete, kurz vor der Tat an der Bank die tägliche Streife gegangen zu sein. Als Mehler dem Wachtmeister gegenüberstand, musterte er ihn gründlich. Der vagen Beschreibung der Bankangestellten nach konnte dies der richtige Mann sein. Er bat ihn in den Schalterraum und beobachtete die Reaktion der Angestellten auf das Erscheinen dieses Polizisten. Der Chef verneigte sich schwach, und die Augen des Effektenkassierers blinkten kurz auf. Der Polizist blieb steif und ohne Gruß an der Hintertür des Schalterraumes stehen, ließ seinen Blick unbeteiligt über die Gruppe wandern, für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich seine Augen mit denen des Kassierers, der inzwischen von Graumann entlassen worden war, dann sah er zu Mehler. Er wollte fragen, wann er nun endlich vorgelassen werde, da es sicher nicht unwichtig sei, ob sich der Polizist, der kurz vor dem Überfall am Tatort seine Runde gemacht hatte, eingefunden habe oder nicht. Aber Mehler meldete den Wachtmeister schon an. Graumann, der nur mit Mühe seine Müdigkeit verbergen konnte – die Befragungen hatten ihn sichtlich erschöpft –, wurde plötzlich wieder hellwach. Er winkte ungeduldig, den Polizisten vorzulassen. Und da geschah etwas, was Mehlers Gedanken noch oft beschäftigen sollte. Wachtmeister Goller, der sich in strammer Haltung vorstellte, brach mitten im Satz ab, sein Gesicht wurde weiß. Graumanns Miene ließ für den Bruchteil einer Sekunde Überraschung sichtbar werden. Der krumme Rücken des Kommissars streckte und spannte 67
sich. Aufgerichtet im Sessel, hörte er den Namen des Wachtmeisters, der nach der Meldung schwieg und auf eine Entgegnung wartete. Um seine Mundwinkel spielte ein unbeholfenes, unsicheres Lächeln. „Welches Revier?“ fragte Graumann ruhig, seine Stimme klang unbeteiligt, sachlich. Und Mehler glaubte fast, sich vorhin getäuscht zu haben. Der Polizist lächelte stärker, starrte überrascht auf den Kommissar, streifte Mehler kurz mit einem Blick … „Revier?“ wiederholte Graumann und sah verärgert auf den Polizisten, der sofort die Hacken zusammenknallte. „Hundertzweiunddreißigstes“, antwortete er. „Wann waren Sie das letzte Mal an der Bank für Handel und Industrie?“ Der Polizist stotterte. Graumann half nach: „Zwölf Uhr fünfundvierzig. Seit Stunden warten wir auf Sie. Warum kommen Sie erst jetzt?“ „Ich hatte bis sechzehn Uhr Einsatz gegen die Demonstranten. Anschließend fuhr ich nach Hause. Es war schon spät. Durch die Abendschau erfuhr ich, daß hier ein Überfall verübt worden war, und sofort bin ich losgefahren, um Meldung zu erstatten.“ „Was haben Sie auszusagen, Wachtmeister?“ Graumann blickte Goller lauernd an, und Mehler vermeinte für einen Moment, eine gespannte Gegnerschaft zwischen beiden entdeckt zu haben. Er hätte nicht beweisen können, warum er zu dieser seltsamen Auffassung kam. Die Ruhe Graumanns schien ihm zu gezwungen, wenn er daran dachte, wie abgespannt der Kommissar kurz zuvor noch in seinem Sessel gelegen hatte. Und nun plötzlich diese Aufmerksamkeit, diese Konzentration … 68
Graumann wandte sich an Mehler. „Du kannst die Leute nach Hause schicken“, sagte er. „Nimm dir Zeit und kontrolliere, daß jeder die Bank verläßt, ohne noch irgendetwas verändern zu können. Auch Schmidt soll gehen.“ Mehler zögerte, beobachtete aufmerksam den Wachtmeister, dann Graumann, der ungeduldig mit der Hand winkte. „Geh schon“, sagte er. „Wir wollen bald Schluß machen.“ Mehler verließ schnell das Zimmer. Er wäre gern geblieben. Aber der Befehl war eindeutig, und so teilte er den Angestellten die Anordnung des Kommissars mit. ‚Morgen könnten sie die Bank genau wie sonst betreten, wenn Herr Schmidt nicht andere Auffassungen habe.‘ Er hatte sie nicht, wollte aber noch bleiben, solange der Kommissar in der Bank war. Mehler scheuchte ihn mit Nachdruck aus dem Raum. Als die Beamten das Haus verließen, hefteten sich unauffällige Schatten an den Chef, der in seinem Wagen davonsurrte, an den Kassierer und Fräulein Langner. Sie hatten schon längere Zeit auf die Angestellten gewartet, die jetzt wortlos auseinanderstrebten. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken über den Bankraub. Mehler war an die Tür zum Chefzimmer geschlichen und versuchte einiges vom Gespräch dort drinnen zu erlauschen. Es war schwer. Die beiden Männer sprachen leise. Als er sein Ohr dicht an die Tür legte, hörte er etwas von der 7. Großen Strafkammer. Es war jedoch für ihn ohne Belang, da er nicht wußte, in welchem Zusammenhang das erwähnt worden war. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. „Bring mir noch einen Kaffee“, sagte Graumann ruhig und sah spöttisch auf seinen Assistenten. 69
Mehler ging fluchend nach hinten. Graumann war nicht zu übertreffen. Er hatte seine Nase überall. Mehler beeilte sich. Als er mit einer dampfenden Tasse Kaffee das Zimmer betrat, erschien das Gesicht des Polizisten ruhig. Graumann saß wie üblich im Sessel. Trotzdem hatte Mehler den Eindruck, daß sein Vorgesetzter verändert aussah. Die beiden schwiegen, bis Mehler sich gesetzt hatte. „Wichtig ist“, sagte Graumann zum Polizisten, „alle Kraft auf die Spur zu konzentrieren. Sie waren zehn Minuten vor dem Überfall an der Bank. Was haben Sie Auffälliges entdeckt?“ Der Polizist zuckte die Schultern. „Eigentlich war alles wie üblich“, bemerkte er gleichgültig. „Sonst wäre ich ja nicht weggegangen. Wenig Betrieb zur Mittagszeit. Die Straße leer. Ich war an der Bank stehengeblieben und hatte durch die Scheibe nach innen gesehen. Nichts Besonderes.“ „Und kaum haben Sie den Rücken gewendet, überfällt jemand die Bank.“ Graumann sprang hoch. „Sie müssen doch den Täter bemerkt haben“, schrie er plötzlich unbeherrscht los. Mehler schreckte auf. Daß sich sein Chef durch solche Kleinigkeiten aus der Ruhe bringen ließ! Graumann dämpfte seine Stimme. „Der Täter muß Sie beobachtet haben“, sagte er scharf und blieb unvermittelt vor dem Polizisten stehen. „Schon möglich“, antwortete Goller. „Nur leider habe ich ihn nicht gesehen.“ Graumann beherrschte sich und gab dem Wachtmeister eine Personenbeschreibung des Täters, genaugenommen waren es zwei. Denn die beiden widersprüchlichen Aussagen ließen zwei Möglichkeiten zu. „Das heißt“, sagte Graumann, „wenn mich beide angeschwindelt ha70
ben mit der Täterbeschreibung, dann gibt es noch eine dritte – die richtige.“ Der Polizist legte angestrengt die Stirn in Falten und dachte nach. Dies dauerte so lange, daß Graumann ungeduldig wurde und bemerkte, Leute, die sich stundenlang besinnen müßten, sollten aus der Polizei entlassen werden. Goller nahm diese Spitze mit Gelassenheit hin und warf ein: „Es ist nur gut, daß es im Gegensatz zu den Bedächtigen noch andere gibt, die sehr eilfertig und geschickt sind, wenn auch nicht immer clever genug.“ Graumann unterbrach die Rede des Polizisten und winkte ab. „Ich wünsche nicht mit Sachen behelligt zu werden, die mit dem heutigen Fall nichts zu tun haben, Wachtmeister Goller!“ sagte er scharf und bestimmt. „Zu Befehl!“ schnarrte Goller und schlug die Hacken zusammen. Graumann unterdrückte seinen Ärger. Er mußte Ruhe bewahren. „Sie können sich rühren“, sagte er, und der Polizist gab seine stramme Haltung auf. „Was ist nun?“ erinnerte Graumann an seine Frage. „Können Sie mir wenigstens auf Grund meiner Personenbeschreibung etwas mehr berichten?“ Der Polizist schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe nichts mehr darüber zu sagen“, entgegnete er. „Es tut mir wirklich leid.“ „Damit kann ich nichts anfangen“, erwiderte Graumann unwirsch. „Übrigens“, fragte er dann, Goller fest in die Augen sehend, „warum haben Sie überhaupt die Bank kontrolliert? Gehört sie nicht zu einem anderen Revier?“ „Das Grüne Eck liegt an der Grenze, genaugenommen ist es auf zwei Reviere verteilt. Die Bank befindet sich im hundertdreiunddreißiger, die Straße gehört zu uns.“ 71
„Dann hätten Sie gefälligst besser aufpassen können“, sagte Graumann. „Das nächste Mal“, versprach der Polizist. „Ich werde von jetzt ab ganz besonders Obacht geben.“ Graumann entließ ihn mit einer Handbewegung. „Nicht viel dabei herausgekommen“, kommentierte Mehler, nachdem der Polizist den Raum verlassen hatte. „Nicht viel?“ wiederholte der Kommissar ärgerlich. „Nichts!“ Mehler nickte. „Vertane Zeit.“ „Wir gehen“, sagte Graumann. „Ich habe keine Lust mehr. Außerdem gibt es heute wohl auch kaum noch was zu erfahren.“ Mehler zögerte und sagte dann: „Ein seltsamer Polizist.“ „Seltsam?“ polterte Graumann. „Ein Trottel! Mehler, merk dir das. Wenn du einen Trottel zum Vergleich brauchst, dann denk an den Polizisten. Hat er etwas gesehen?“ fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, gab er sie selbst: „Nichts hat er gesehen!“ „Kennen Sie den Wachtmeister?“ fragte Mehler. Graumann streckte sich, daß die Gelenke knackten, dann gähnte er herzhaft. „Eine lange Geschichte“, sagte er. „Gehen wir.“ „Wollen wir uns nicht schnell über die nächsten Aufgaben verständigen?“ Graumann lachte. „Du gefällst mir“, sagte er und setzte selbstzufrieden hinzu: „Meine Schule.“ „Bis aufs Schießen!“ schränkte Mehler ein. Graumann, der gute Laune vortäuschte, beschwichtigte ihn. „Wird noch, Mehler. Wenn du erst mal so viel Übung und Praxis hinter dir hast wie ich, triffst du auch immer.“ Er schob den Assistenten vor sich aus dem 72
Zimmer, löschte das Licht und schloß sorgfältig ab. Im Schalterraum wandte er sich an Mehler. „Man sollte die Kassen nicht so dicht an die Türen legen. Das bringt nur auf dumme Gedanken.“ Er blieb stehen, fuhr sich mit der rechten Hand über das fettgepolsterte Doppelkinn und murmelte nachdenklich: „Vielleicht hat der Täter den Überfall doch ohne Mithilfe eines Bankangestellten ausgeführt.“ „Dann werden die Nachforschungen für uns schwieriger“, sagte Mehler. „Wir haben die Fingerabdrücke“, erwiderte Graumann. „Sie helfen uns weiter.“
73
8 Die Kriminalbeamten verfolgten gleich Schatten die Angestellten der Bank. Während es keiner besonderen Mühe bedurfte, Schmidt im regen Stadtverkehr nicht zu verlieren – er fuhr langsam und vorsichtig –, war es mit Fräulein Langner schwieriger. Sie drehte sich prüfend nach dem Kassierer um, der in einen Bus einstieg, und bemerkte einen Mann, den sie schon am hinteren Ausgang der Bank gesehen hatte. Sie blieb unschlüssig stehen, als ob sie etwas vergessen hätte, und versuchte, unter den Passanten ihren Verfolger herauszufinden, was ihr aber nicht gelang. Durch den Schatten des Kassierers gewarnt, vermutete sie, daß man auch ihr jemand nachgeschickt hatte. Aber wer war es? Wie sollte sie ihn erkennen? Sie fühlte sich unangenehm davon berührt, daß sie heimlich beobachtet wurde, und beschleunigte den Schritt. Sie betrat eine Nebenstraße, lief eine weitere, wenig belebte Straße entlang und verschwand in einem Kosmetiksalon an der Ecke, um dort zu warten. Sie brauchte keine Geduld aufzubringen. In der Befürchtung, das Mädchen aus den Augen zu verlieren, war der Schatten die letzten fünfzig Meter gerannt, kam nun eilig um die Ecke und blickte suchend die Straße hinunter. Er sah Fräulein Langner keine zehn Meter von sich entfernt im Laden und ging langsamer – auch sie hatte ihn entdeckt. Kurz entschlossen verließ sie das Geschäft und lief in die Nebenstraße zurück, blieb jedoch gleich am ersten Haus stehen, da sie bemerkte, daß sie noch von einem Wagen verfolgt wurde. Als sie Schritte von der anderen Straße her vernahm, schmunzelte sie verschmitzt, trat um die Ecke und wäre fast mit ihrem Schatten zu74
sammengestoßen. „Verzeihung!“ sagte sie, charmant lächelnd. „Ich habe mich wohl verlaufen, wo ist denn die nächste U-Bahn-Station?“ „Ich weiß es nicht“, sagte der Kriminalbeamte verblüfft. „Ich bin hier auch fremd.“ „Ach, da drüben ist sie ja“, sagte Fräulein Langner. „Wie konnte ich sie nur übersehen.“ Vergnügt rannte sie über die Straße. Kurz bevor sie in der Station verschwand, drehte sie sich noch einmal um und sah den Mann langsam den gleichen Weg gehen. Als sie durch die Sperre hastete, stemmte sich ihr eine Menschenmenge entgegen. Ein Zug war gerade eingelaufen. Mühsam schlängelte sie sich zwischen den Passanten hindurch. Kurz bevor die Bahn anfuhr, erreichte sie den letzten Wagen. Aufatmend sprang sie hinein. Der Schatten des Kassierers hatte es mit der Verfolgung leichter. Wie gewöhnlich nach Feierabend fuhr Herr Korf mit dem Bus bis zum Innsbrucker Platz und ging von dort aus nach Hause in die Rubensstraße. Er bewohnte ein kleines Zimmer zur Untermiete bei einer Frau Böhnke, die die gesamte Liebe einer älteren Witwe auf ihren Kanarienvogel und auf den Kassierer übertrug. Sie gab sich dabei viel Mühe. Als der Kassierer den Flur betrat, kam sie, wie jeden Tag, aus ihrer Stube und begrüßte ihn mit den besorgten Worten, ob sie ihm noch vor dem Abendessen einen starken Kaffee bereiten solle, denn er sähe schlecht aus. Der Kassierer bedankte sich, er wolle sich etwas hinlegen und entspannen. Sie könne ja in einer halben Stunde eine Kanne Tee zum Abendessen brühen. Frau Böhnke nickte, schlurfte in die Küche und setzte den Teekessel auf das Gas; sie hatte zwar noch Zeit, aber 75
was machte das schon. Sie wartete täglich auf die Ankunft von Herrn Korf, der ihr seit zwei Jahren ein bescheidener, ruhiger und unauffälliger Mieter war, den sie nach Herzenslust betreuen konnte. Sie hielt die Männer für unselbständig, die kaum einen Kaffee filtern konnten, viel weniger ein schmackhaftes, abwechslungsreiches Abendessen zubereiten. Und Herr Korf war wirklich unbeholfen. Das Läuten des Telefons drang vom Korridor in die Küche. Ungehalten über die Störung – sie schrak trotz ihrer Schwerhörigkeit jedesmal beim Klingeln zusammen –, lief sie zum Telefon. Eine Frauenstimme verlangte Herrn Korf. „Der ist zur Zeit nicht im Hause“, sagte Frau Böhnke. „Wer spricht denn da überhaupt?“ Sie war fest entschlossen, die Ruhe ihres Untermieters zu beschützen, und horchte angespannt in die Muschel. „Die Schwester von Herrn Korf?“ wiederholte sie ungläubig. „Herr Korf hat mir nie erzählt, daß er eine Schwester hat. Wie ist Ihr Name?“ fragte Frau Böhnke, und dann wiederholte sie laut: „Frau Christine Langner, habe ich richtig gehört? Einen Gruß bestellen. Sie rufen noch mal an. Aber ich möchte Ihnen gleich sagen, daß ich es nicht wünsche, öfter telefonisch gestört zu werden.“ „Es ist wichtig“, sagte Fräulein Langner. „Sehr wichtig!“ wiederholte sie. Frau Böhnke preßte ihr Ohr fester an die Muschel, um besser verstehen zu können. Neben dem anfänglichen Mißtrauen, womöglich eine Freundin von Herrn Korf am Telefon zu haben, von der sie nichts wußte, kam jetzt eine leichte Besorgnis um ihren Untermieter auf. Vielleicht war es doch eine sehr wichtige Sache. „Ich werde einmal sehen, ob er inzwischen angekommen ist“, sagte sie und schlurfte zu Herrn Korfs Zimmer. Aber ehe sie 76
anklopfen konnte, öffnete er die Tür. „Meine Schwester ruft an?“ fragte er, und Frau Böhnke war nun überzeugt, daß es seine Richtigkeit hatte. Auf den Gedanken, er könne in seinem Zimmer einen Teil des Gespräches mitgehört haben, kam sie nicht. „Hallo, Christine, bist du es?“ sagte der Kassierer. „Du solltest aber doch nur anrufen, wenn es äußerst dringend ist. Ich habe es nicht gern, wenn Frau Böhnke gestört wird.“ Frau Böhnke, die neben ihm stand und zuhörte, lächelte geschmeichelt. „Du wirst beschattet“, sprach Fräulein Langner eilig. „Ich wollte es dir nur sagen, damit du Bescheid weißt.“ Der Kassierer spürte, wie seine Knie wankten. „Woher willst du das wissen?“ fragte er unruhig. „Es ist so!“ entgegnete Fräulein Langner. „Auch auf mich hat man jemand gehetzt. Ich konnte ihn jedoch abschütteln.“ Sie lachte hell auf, wurde aber schnell wieder ernst. „Ich möchte, daß du vorsichtig bist, mich nicht besuchst“, sagte sie. „Du weißt, wenn sie erst einen Verdacht haben, ist es schwer, ihn wieder loszukriegen.“ Der Kassierer überlegte, sah Frau Böhnke an, die noch immer neben ihm stand. „Wenn Sie mir das Essen früher machen wollten“, bat er Frau Böhnke, „ich würde mich freuen.“ Frau Böhnke nickte freundlich und ging in die Küche. Er wartete, bis sie verschwunden war und sagte: „Ich werde dich heimlich besuchen.“ „Am besten ist, du verhältst dich ein paar Tage ruhig. Deine Beurlaubung vom Bankdienst wird sicher nicht gleich aufgehoben.“ „In Ordnung“, sagte der Kassierer. „Wann rufst du mich wieder an?“ 77
„Ich weiß nicht, ob das richtig wäre, wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, und man überwacht auch die Leitung. Vielleicht läuft sogar schon ein Band. Aber irgendwie lass’ ich von mir hören. Tschüss.“ „Gute Nacht“, flüsterte der Kassierer heiser und legte auf. Er machte sich Sorgen. Frau Böhnke sah ihm das an, als sie das Essen servierte. Es wurde im Gegensatz zu sonstigen Gepflogenheiten ein schweigsames Mahl. Er verabschiedete sich bald und ging zu Bett. Wenn er auch nicht gleich schlafen konnte, so ließ sich doch die Lage durchdenken. Er mußte den Verdacht der Polizei zerstreuen. Er steckte sich eine Zigarette an, dann stand er nochmals auf. Vorsichtig schob er die Gardine zur Seite und blickte auf die Straße, ob er jemand entdeckte, der ihn womöglich beschattete. Der Bewacher des Filialleiters hatte genau wie der des Kassierers kaum Schwierigkeiten. Schmidt fuhr zunächst zu einem Blumenladen, verstaute den dort gekauften Strauß auf dem Rücksitz des Autos, holte danach in einem Delikateßgeschäft Konfekt und eine Flasche Cherry Brandy. Für eine geraume Weile verschwand er beim Juwelier Monod. Anschließend lenkte er den Wagen zum Restaurant ‚Spreeperlanta‘. Er fuhr selten sofort nach Dienstschluß nach Hause, es sei denn, er war müde und wollte früh zu Bett oder er hatte Besuch zu empfangen. In der ‚Spreeperlanta‘ begrüßte ihn der Ober dezent, aber vertraut. Schmidt wählte voller Sorgfalt die Speisenfolge aus, bestellte einen leichten Mosel und nahm sich die Abendzeitung vor. Artikel mit großen Schlagzeilen brachten erste Einzelheiten über den Bankraub. Mutmaßungen zur Person des Verbrechers waren angestellt, vol78
ler Sensationsgier wurde der Bankraub aufgebauscht, so daß Schmidt Lust verspürte, in der Chefredaktion anzurufen, um sich zu beschweren. Er befürchtete, durch den schreierischen Bericht zusätzliche Komplikationen zu bekommen. Gleich nach dem Überfall hatte er seine Vorgesetzten benachrichtigt, die daraufhin für morgen eine Revision angekündigt hatten. Die Versicherung hatte natürlich auch schon die nötigen Schritte unternommen. Er wird sich verteidigen müssen. Nun, schließlich konnte er nicht den ganzen Tag in seinem Zimmer sitzen und warten, ob vielleicht ein Verbrecher die Bank überfallen wollte. Die Schuld traf zuerst den Kassierer. Der Ober servierte die Vorsuppe, und Schmidt bedankte sich mit leichtem Kopfnicken. Es war üblich, daß die Abendzeitung auf seinem Platz lag. Sie wurde wieder weggenommen, sobald das Essen auf dem Tisch stand. Heute steckte Schmidt die Zeitung in die Tasche. Der Ober lächelte vielsagend und zog sich zurück. Er hatte seinen Gast von weitem beobachtet und bewunderte dessen Ruhe. Nach einem solchen Überfall mit gleicher Selbstverständlichkeit wie immer zu speisen, daran erkannte er den Mann von Welt. Und doch gab es heute einen feinen Unterschied zu den anderen Abenden. Schmidt hatte wie gewohnt, gleich nachdem er Platz genommen hatte, zu den Brasil in seiner Tasche gegriffen, sie aber dann, von einer unangenehmen Erinnerung berührt, wieder weggesteckt. Er mochte die unverfrorene Selbstverständlichkeit des Kommissars nicht, der sich ohne Aufforderung seiner Zigarren bedient hatte. Überhaupt war ihm Graumann unsympathisch, und er freute sich, daß er dem Kriminalisten diese Schlappe mit dem Hammer zugefügt hatte. Wer ihn, Schmidt, überlisten wollte, der mußte früher 79
aufstehen. Er lächelte vor sich hin. Der Ober legte dieses Lächeln zu seinen Gunsten aus, er fragte, ob die Suppe gemundet habe, und servierte ein kräftiges Schweineschnitzel, das Schmidt sofort auf andere Gedanken brachte. Nach einer Stunde verließ Schmidt wie üblich die ‚Spreeperlanta‘. Sein Wagen blieb geparkt, er holte sich nur die Päckchen aus dem Auto. Er liebte es, an den Abenden, an denen ihn der Weg zu einer charmanten jungen Dame führte, nach dem Essen noch einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. So kam er meistens erfrischt und angeregt in dem kleinen Appartement im zweiten Stock an, wo er mit eigenem Schlüssel die Wohnungstür öffnete. Das gab ihm das angenehme Selbstbewußtsein eines Besitzers, der sich neben der eigenen Villa noch dieses bescheidene Luxusquartier leisten konnte. Loreen empfing ihn stets mit gebührender Aufmerksamkeit, und er fühlte sich für einige Stunden wohl und als Mann in den besten Jahren bestätigt. Sie war in der Werbung beschäftigt. Schmidt wußte jedoch, daß sie vor allem als Fotomodell ihr Geld verdiente. Es störte ihn wenig, daß sie sich vor anderen auszog, wenn sie an den Abenden für ihn da war. Trotzdem hatte er sich in den letzten Monaten des öfteren bei dem Gedanken ertappt, sich eine weniger kostspielige Freundin zu halten. Doch er wechselte nicht gern die Geliebte, selbst wenn er dann auch billiger davonkäme. Der Nachteil wäre, daß er sie nicht nach Hause einladen könnte. Die Nachbarn würden aufmerksam werden, brächte er dauernd neue Bekanntschaften mit. Vielleicht würde ihm auch seine Frau Schwierigkeiten machen. An Loreens Existenz hatte sie sich gewöhnt. Nach außen hin galt sie als Freundin des Hauses. 80
Schmidt öffnete die Wohnung. Loreen kam ihm mit einstudiertem, strahlendem Lächeln entgegen. Die Päckchen entlockten ihr einen Ausruf der Überraschung. Nicht so sehr Blumen und Konfekt interessierten sie – dies waren selbstverständliche Aufmerksamkeiten – als vielmehr das handtellergroße samtene Etui, das, nachdem Schmidt eine Spannungssekunde lang gewartet hatte, auf einen leichten Druck seines Daumens hin aufsprang und einen kunstvoll ziselierten Goldreif sehen ließ. Schmidt hatte die Genugtuung, Loreen erneut in ein unvorhergesehenes Glück gestürzt zu haben. Sie bezeigte für solche und ähnliche Geschenke eine ihn angenehm berührende Art der Dankbarkeit, die sich in wohltuende und einfallsreiche Zärtlichkeit ummünzte. Als Schmidt sich verabschiedete, hatte er das Gefühl, einen unvergeßlichen Tag erlebt zu haben, der Überraschungen und Freude beschert hatte. Vor sich hin pfeifend, fuhr er nach Hause. Er öffnete die Gartentür, und mit elegantem Schwung lenkte er den Wagen den schmalen Weg entlang in die Garage. Seine Frau saß vor dem Fernseher. „Nanu“, fragte er, „keine Gäste?“ Gewöhnlich lud sie sich die Frau Amtmann ein, die Frau des Dr. Schneehals – das war günstig, dadurch hatten sie einen Hausarzt bei der Hand – und die Frau des bekannten Schauspielers Halte. Die Damen verbrachten ihre Abende nutzvoll, indem sie über Mode plauderten oder über Vorkommnisse in ihrer Nachbarschaft. Schmidts Frau, behäbig geworden, die Falten ihrer Wangen hingen trotz gelegentlicher Safttage schlaff herab, antwortete leichthin: „Wie du siehst.“ und ließ sich im übrigen nicht von ihrem Vergnügen abbringen, die Starparade anzusehen und dabei genußvoll leichtgesalze81
ne Erdnüsse zu knabbern. Doch dann sagte sie noch: „Frau Doktor Schneehals rief bei mir an. Man hätte deine Bank ausgeraubt. Stimmt das?“ Sie wandte sogar einen Moment den Kopf vom Bildschirm weg. „Ich habe es überstanden“, entgegnete er. Sie fragte sonst auch nicht nach seinen Geschäften. „Interessant“, sagte sie. Schmidt wünschte ihr eine gute Nacht und begab sich auf sein Zimmer. Sie schliefen getrennt. Ansonsten war es für beide bequem, einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Sie galten als ein gutsituiertes Ehepaar. – Diese Auskunft hatte Schmidts Bewacher bekommen, der sich nach längerer Wartezeit vor der Villa des Filialleiters in einer Gaststätte der Nachbarschaft vorsichtig erkundigt hatte – genau zu dem Zeitpunkt, da Schmidt erneut das Haus verließ. Graumann war am nächsten Morgen sehr früh in seiner Dienststelle. Er hatte Erkundigungen über die Bankangestellten einholen lassen. Das Ergebnis war nicht übermäßig aufschlußreich. Am meisten interessierten ihn die materiellen Verhältnisse Schmidts, sie waren undurchsichtig. Eins schien jedoch festzustehen, daß er mehr Geld ausgab, als er verdiente. Aber wer konnte wissen, über welch finanzielles Polster Schmidt verfügte. Die große, prachtvolle Villa, das Absteigequartier und der Einkauf beim Juwelier Monod waren keine ausreichenden Gründe, Schmidt unlauterer Handlungen zu verdächtigen. Doch da unterbrach ein Telefonanruf von der Mordkommission seine Gedanken und brachte unerwartet Neuigkeiten. Kommissar Reinow teilte mit, daß Wacht82
meister Goller gestern abend auf dem Heimweg von einem unbekannten Täter angeschossen worden sei. Alles Weitere stehe im Protokoll, das der Kommissar sicher inzwischen erhalten habe. Falls er darüber hinaus Fragen habe, möchte er sich an die Mordkommission wenden. Graumann bedankte sich und legte auf. Er wetterte, daß ihm die Kurierpost mit dem Bericht der Mordkommission nicht sofort vorgelegt worden war. Goller hatte zu Protokoll gegeben, daß er nach der Berichterstattung bei Kommissar Graumann direkt vom Grünen Eck zur ‚Weißen Rose‘ gegangen sei, um noch ein Bier zu trinken. Er habe Bekannte getroffen, so daß sich sein Heimweg auf eine späte Stunde verschob. Es müsse gegen vierundzwanzig Uhr gewesen sein, als er den Bus, der etwa zweihundertfünfzig Meter von seinem Wohnhäuschen hielt, verlassen habe. Er sei der einzige Fahrgast gewesen, der an dieser Haltestelle ausgestiegen sei, und wie gewöhnlich sei er mitten auf der Straße nach Hause gegangen. Plötzlich habe schräg rechts vor ihm, vom Radfahrweg aus, der nur durch wenige Büsche von der Straße abgetrennt ist, jemand einen Schuß auf ihn abgegeben. Er habe sich sofort an den Straßenrand geworfen und in die Richtung gefeuert, aus der der Schuß gekommen war. Die Antwort seien zwei weitere Schüsse gewesen. Goller habe noch eine Viertelstunde gewartet, während der er seine Wunde untersuchte. Die Kugel hatte ihn nur am linken Arm gestreift. Danach sei er schnell zur anderen Straßenseite in das Gebüsch gesprungen. Von der nächsten Telefonzelle aus habe er schließlich das Überfallkommando angerufen. Es seien aber trotz intensiver Untersuchung außer einigen Einschüssen keine Spuren gefunden worden, der Boden 83
war hart und verkrustet. Augenzeugen gäbe es nicht, da während des Feuergefechts und auch später keiner der Anlieger das Fenster geöffnet oder gar die Polizei benachrichtigt habe, obwohl die Schüsse in der Stille weit zu hören waren. Er, Goller, sei sicher, daß von den Häusern aus alles gut zu beobachten gewesen war. Aber da jeder in dieser abgelegenen Gegend einen Überfall auf das eigene Haus oder auf das Leben eines der Familienangehörigen befürchtete – einen Racheakt der Verbrecher, falls man etwas aussagte –, waren die polizeilichen Ermittlungen am nächsten Morgen erfolglos geblieben. Graumann legte das Protokoll zur Seite. Mit einer solchen Wendung hatte er nicht gerechnet. Eigentlich war er wütend auf den Polizisten gewesen, einesteils, weil er hier aufgetaucht war und unangenehme Erinnerungen heraufbeschworen hatte, zum andern aber, weil dieser Goller gestern nichts ausgesagt hatte, was den Fall der Auflösung hätte näherbringen können. Graumann vermutete, daß Goller tiefer in diesen Banküberfall verwickelt sei. Die Ereignisse der vergangenen Nacht legten diese Vermutung nahe. Warum sonst hätte man ihn angeschossen? Sollte es eine Warnung sein, oder handelte es sich nur um einen schlechten Schützen, der Goller ganz außer Gefecht hatte setzen wollen? Wahrscheinlich hatte Goller einiges gesehen, immerhin war er kurz vor dem Überfall an der Bank gewesen. Und der Verbrecher glaubte, Goller könne etwas aussagen, was die Kriminalpolizei auf die richtige Fährte brachte. Es gab allerdings noch eine zweite Möglichkeit: Goller hatte auf der gestrigen Demonstration einen Mann verhaftet. Und dies konnte die Revanche seiner Kumpane sein. Graumann ließ sich mit dem Revier verbinden. Er hatte Glück. Goller war anwesend. 84
„Was macht die Verwundung?“ fragte der Kommissar. „Nicht der Rede wert“, entgegnete Goller. „Es hätte schlimmer ausgehen können. Ich hatte mich gleich zur Behandlung begeben, aber es war nur ein Kratzer. Ein bißchen Pflaster, eine Spritze, das war alles.“ Graumann wünschte gute Besserung, fragte, ob der Wachtmeister sich alles nochmals gut überlegt habe. Der Verbrecher habe ihn sicher am Grünen Eck bemerkt und seinen Überfall erst ausgeführt, als kein Polizist mehr zu sehen gewesen war. Goller teilte ihm mit, daß er den Volkswagen in einer Nebenstraße entdeckt habe. Es wäre jedoch niemand drin gewesen. Wahrscheinlich sei der Täter um diese Zeit auf einer letzten Inspektion gewesen, vielleicht sogar in der Bank, um zu prüfen, ob sie von vielen Kunden belebt sei. Wie er daraufkomme, fragte Graumann. Obwohl der Volkswagen in einer Nebenstraße geparkt war, hätte man vom Innern des Wagens aus die Eingangstür der Bank beobachten können. Sobald sich der Verbrecher von der Lage im Schalterraum der Bank überzeugt hatte, brauchte er nur in den Wagen zurückzukehren und eine ruhige Minute abzuwarten. Graumann pflichtete Goller bei. So oder ähnlich könne es gewesen sein, aber ob er sich auch noch an einen Mann im Trenchcoat erinnern könne? Doch da verließen Goller alle Erinnerungen. Falls ihm noch etwas einfiele, sagte Graumann, solle er ihn anrufen. Goller versprach es. Ob er eine Bewachung haben wolle, fragte Graumann noch. Aber Goller wehrte ab. Er werde es einrichten, daß er in nächster Zeit nicht mehr so spät nach Hause komme. Graumann beendete das Gespräch und ließ sich mit Kommissar Reinow verbinden, der den Anschlag auf Goller untersuchte. „Es gibt keine Neuigkeiten über das 85
Protokoll hinaus, das wir Ihnen zugeschickt haben“, berichtete dieser. „Überhaupt denken wir, daß der Fall sich kaum aufklären läßt. Als Täter kommt einer von denen in Frage, die demonstriert haben.“ Graumann bezweifelte das, aber Reinows Frage, ob er Beweise habe, mußte er verneinen. „Wir haben auch nichts in den Händen“, sagte Reinow. „Wurde das Geschoß inzwischen gefunden?“ „Nein, trotz erneuter Suche.“ „Und Gollers Wunde?“ fragte Graumann. „Ein Kratzer, der kaum Aufschlüsse gibt.“ „Aus welcher Entfernung wurde der Schuß abgegeben?“ „Wir haben von Gollers Standort bis zum Gebüsch fünfzehn Meter gemessen.“ „Woher wissen Sie, daß der Anschlag nicht aus der Nähe verübt wurde?“ „Goller hätte den Täter sonst sehen müssen. Nach seiner Aussage waren die Schüsse aus dem Busch am Radfahrweg gekommen. Man müßte höchstens noch ein bis zwei Meter hinzurechnen, falls der Täter nicht direkt am Rande der Straße gelauert hatte. Doch diese Differenz ist unbedeutend.“ „Wurde Wachtmeister Gollers Arm außen oder innen gestreift?“ Reinow überlegte eine Weile, er wußte es nicht genau. „Können Sie sich vielleicht erinnern, ob der Ärmel von Gollers Uniformjacke außen oder innen durchschossen war?“ fragte Graumann weiter. Er hörte, wie Reinow sich mit jemandem unterhielt, und wartete geduldig. Dann entgegnete Reinow, sein Assistent könne es auch nicht sagen. Wozu er das wissen möchte? 86
Graumann antwortete, er wollte nur hören, wie gründlich man den Fall untersucht habe. Nach dieser Bemerkung hörte Graumann förmlich, wie Reinow nach Luft schnappte. Mit äußerster Freundlichkeit bedankte sich der Kommissar für die Auskünfte und gab die Zusicherung, daß er Reinow sofort unterrichten würde, wenn er bei seinen Ermittlungen auf etwas stoßen sollte, das mit dem Mordanschlag in Verbindung gebracht werden könnte. Er hoffe allerdings auch, daß Kommissar Reinow ihm sämtliche Neuigkeiten mitteilen werde, die bei der Aufklärung des Bankraubs helfen könnten. Es waren Worte der Höflichkeit. Er glaubte kaum daran, daß Reinow mehr entdecken würde. Spuren waren so gut wie keine vorhanden. Und die wenigen hatte man offenbar nicht sorgfältig genug überprüft. Er ärgerte sich über die Unfähigkeit seiner Kollegen. Vielleicht hätte er mit ihrer Hilfe doch einen Hinweis auf den Täter vom Grünen Eck bekommen können. Denn für Graumann stand fest, daß der Mordanschlag eng mit dem Banküberfall zusammenhing. Graumanns Gedanken wurden durch Mehler unterbrochen, der meldete, die Überwachung der Bank habe einen ersten Erfolg gebracht. Man habe kurz vor acht Uhr die Reinemachefrau festgenommen, die in verdächtiger Weise ein Päckchen aus der Bank schmuggeln wollte, in dem etwa dreißigtausend Mark versteckt waren. Graumann sprang hoch. „Und das sagst du mir erst jetzt“, schrie er Mehler an, der ruhig antwortete, er habe es auch soeben erst erfahren. „Eine Schlamperei“, fluchte Graumann. „Eine Schweinerei. Eine … Sofort den Wagen bestellen.“ „Steht schon vor der Tür“, sagte sein Assistent. 87
Graumann warf den Mantel über, und von Mehler gefolgt, rannte er schwerfällig die Treppe hinunter. Als sie in der Bank ankamen, saß die Reinemachefrau unter Bewachung im Chefzimmer und wischte sich immer wieder nicht vorhandene Tränen aus den Augen. Graumann ließ sich Bericht erstatten. Wie jeden Tag sei Frau Konopke am Morgen gegen sieben Uhr zur Bank gegangen, um dort sauberzumachen. Zur gleichen Zeit komme auch immer Fräulein Hansen, die schon die ersten Vorbereitungen treffe für den Publikumsverkehr. Heute morgen habe sie sich um eine Viertelstunde verspätet. Fräulein Hansen hatte ausgesagt, daß sie sich verspätet habe, weil Herr Schmidt ihr nicht pünktlich die Schlüssel ausgehändigt habe. Sie fahre nämlich morgens immer zu seiner Villa und hole sie dort ab. Heute habe sie mehrmals klingeln müssen, bevor die Frau des Chefs Ersatzschlüssel herausreichte, was bisher noch nie geschehen sei. Während Fräulein Hansen wie an jedem Morgen die Formularkästen auffüllte und ein Kännchen Kaffee kochte – sie esse morgens stets erst in der Bank –, begann Frau Konopke mit dem Saubermachen. Und da habe sie eine Entdeckung gemacht, die ihr den Atem verschlug. „Ick mußte mir erst mal setzen“, sagte Frau Konopke, „weil ick dachte, ick sehe nich richtich.“ Denn unter dem Schränkchen in der Kabine des Kassierers lag eine Unmenge Geld. Als sie aber festgestellt hatte, daß sie doch richtig sah, stopfte sie die gebündelten Geldscheine eilig in ihre Schürzentasche. „Ick konnte jarnich anders“, beteuerte sie. „Det war wie’n Rausch. Ick hatte noch nie so ville Jeldscheine in de Hand jehabt, und denn jingen mir de Nerven durch.“ 88
Frau Konopke war zu ihrer Tasche gerannt, hatte die Geldscheine hineingesteckt, und da ihr das nicht sicher genug erschienen war, hatte sie sich ein Kuvert gesucht, um das Geld darin unterzubringen, damit die Scheine nicht so lose in der Tasche herumlagen. Graumann ließ sich das Kuvert geben. Mit ungelenken Druckbuchstaben stand darauf: ‚Herr Schmidt, Bankdirrekter‘. „Ick wollte det nämlich Herrn Schmidt überjeben“, sagte sie aufgeregt, als sie Graumanns abwägenden Blick bemerkte. „Und warum haben Sie das nicht getan?“ „Det jing nicht“, sagte Frau Konopke. „Der Chef ist bis jetzt noch nicht eingetroffen“, sagte der Bewacher. „Und da wollten Sie ihm das wohl in die Wohnung bringen?“ fragte Graumann. Frau Konopke nickte. Für Graumann blieb die Sache verworren. Eins war klar, die Reinemachefrau wollte das Geld für sich verwenden. Ihr Pech war, daß sie keine Zeitung las und nichts von dem gestrigen Überfall auf die Bank erfahren hatte. Auch Fräulein Hansen hatte ihr nichts davon erzählt. Sonst hätte sie sich vielleicht denken können, daß die Bank beobachtet wurde und man das gefundene Geld nicht so einfach mitnehmen konnte. Frau Konopke sah den Kommissar ängstlich an. „Nun verschwinden Sie schon“, sagte Graumann. „Wir setzen später noch ein Protokoll auf.“ Die Reinemachefrau ging zitternd in den Schalterraum. Sie hatte geglaubt, daß sie sofort verhaftet und eingesperrt würde. Nun schöpfte sie nochmals Hoffnung, es könne doch so schlimm nicht kommen. Verschüchtert 89
setzte sie sich in einen der Sessel. Die Bank war noch nicht wieder geöffnet. Man wartete auf die Revision. Graumann wandte sich an Mehler: „Theoretisch hätten wir damit den gesamten Verlust ermittelt.“ Er warf das Kuvert auf den Tisch. „Dreißigtausend“, sagte er. „Ein schöner Batzen, mit dem sich was anfangen läßt.“ „Genau die fehlende Summe. Der Kassierer hatte also doch recht, als er sagte, daß der Verbrecher knapp sechzigtausend erbeutet hätte. Den Rest haben wir hier. Bloß, wie kommt er dorthin?“ „Versteckt“, sagte Graumann. „Ganz einfach versteckt. Die Scheine lagen weit genug unter dem Schrank, daß niemand sie entdecken konnte. Da Geldscheine bekanntlich keine Beine haben, bleibt nur diese eine Möglichkeit.“ „Man hat den Tatort schlecht untersucht“, bemerkte Mehler. Graumann schnaufte. „Denen werde ich die Leviten lesen. Bei der nächsten Untersuchung sind die gründlicher. Verlaß dich darauf!“ „Wer könnte das Geld versteckt haben?“ „Der Kassierer“, behauptete Graumann. „Wer sonst?“ „Ist mir alles ein bißchen zu einfach“, erwiderte Mehler nachdenklich. „Er hatte bei unserer ersten Befragung angegeben, daß sechzigtausend Mark fehlten, im Gegensatz zu Schmidt, der sagte, es müßten neunzigtausend gewesen sein.“ „Diplomatie“, sagte Graumann abfällig. „Die dreißigtausend waren nach der ersten Untersuchung unter dem Schrank sicher. Sollten sie trotzdem gefunden werden, könnte er sich immer darauf berufen, daß er von Anfang an gesagt habe, der Täter sei mit sechzigtausend Mark entkommen.“ 90
„Und wie sollte er die Differenz von dreißigtausend Mark in den verschiedenen Aussagen erklären?“ fragte Mehler. Graumann zuckte die Schultern. „Auf keinen Fall könnten wir ihm eine Unehrlichkeit nachweisen, weder in seinen Worten noch in der Tat, ganz gleich, welche Summe andere auch angeben mochten.“ „Und hätte er als Verlust neunzigtausend angegeben?“ „Dann wäre er bei Entdeckung der dreißigtausend, also jetzt, in arge Schwierigkeiten geraten. Man kann nicht behaupten, dem Täter neunzigtausend ausgehändigt zu haben, und plötzlich finden sich noch dreißigtausend Mark. Nein, sicherer war der von ihm eingeschlagene Weg. Sicherer – und raffinierter. Wenn die Revision ergab, daß tatsächlich neunzigtausend Mark fehlten, konnte er nach einiger Zeit – wenn er nicht mehr mit der Entdeckung des Geldes unter dem Schrank zu rechnen brauchte – zugeben, daß er sich beim Zählen der Päckchen, die er dem Täter in die Tasche hatte fallen lassen, geirrt habe. Die Aufregung, die außergewöhnliche Situation …“ Graumann winkte ab. „Na, wir kennen das ja, entsprechende Ausreden sind stets vorhanden.“ „Wäre es nicht sicherer für den Kassierer gewesen, das Geld an einem anderen Ort zu verstecken?“ „Wir wissen nicht, wann er die Scheine zur Seite gebracht hat“, entgegnete Graumann. „Wahrscheinlich fehlte ihm die Zeit, sie besser zu verstecken. Und da er vorläufig beurlaubt ist, hatte er noch keine Gelegenheit, das Geld wegzubringen.“ Sie schwiegen. Nach einer Weile sagte Graumann: „Es bleibt dabei, der Kassierer ist äußerst verdächtig. Dann allerdings kommt gleich die Langner.“ 91
„Und der Chef? Seltsamerweise ist er nicht hier. Immer wenn etwas in seiner Bank geschieht, weiß er von nichts, ob es, beim Überfall war – da steht er mit dem Rücken zum Täter –, und jetzt? Es wird in seiner Bank Geld gefunden, und ausgerechnet an dem Morgen kommt er nicht zur Arbeit.“ Schmidts Abwesenheit war jedoch einfach zu erklären. Er hatte in der Nacht das Haus durch die Hintertür verlassen, war die sechzig, siebzig Meter zum nahe gelegenen See gegangen und hatte einen Spaziergang entlang der Promenade unternommen, der ihn beruhigen sollte. Der Tag war doch aufregend für ihn gewesen. Er sorgte sich, ob er die Stelle als Filialleiter behalten würde. Sollte er entlassen werden, wäre dies sein Ruin. Er müßte sich einschränken, womöglich die Villa aufgeben. Loreen … Schmidts Herz klopfte schneller. Was könnte die Revision für ihn Nachteiliges bringen? Er mußte sich vorbereiten. Aufgeregt verließ er die Promenade, ging zur Hauptstraße und winkte einem vorüberfahrenden Taxi. Als sie in die Nähe des Grünen Ecks kamen, hatte er sich etwas beruhigt. Sie hielten etwa fünfzig Meter von der Bank entfernt. Schmidt bemerkte, daß im Schatten des Nachbarhauses eine Gestalt den Hintereingang der Bank beobachtete. Da bat er den Chauffeur zurückzufahren. Man sollte sich nicht verdächtiger machen, als man schon war. Die Revision würde erst gegen Mittag kommen. Für ihn reichte der Vormittag zur Überprüfung. Am nächsten Morgen war Schmidt dann allerdings so müde, daß er spät aufstand und erst in der Bank eintraf, als Kommissar Graumann und sein Assistent schon wieder unterwegs waren. 92
9 Die nächsten Tage verliefen ruhig. Graumann und Mehler sichteten das Material, aber es ergaben sich kaum neue Blickpunkte. Die Bewachung der verdächtigen Personen wurde fortgesetzt. Allerdings hatte Fräulein Langner schon zweimal ihren Schatten durch raffinierte Finten abgeschüttelt. Und Graumann war sich nicht klar, ob sie das tat, um die Kripo lächerlich zu machen, weil ihr die dauernde Begleitung lästig war, oder ob sie tatsächlich etwas zu verbergen hatte. Fräulein Langner hatte ein Zimmer in einem Appartementhaus, in dem nur junge, unverheiratete Mädchen wohnten. Sie war bisher nie sonderlich aufgefallen. Sie hielt keine Verbindung zu ihren Nachbarinnen, und man wußte dort nicht viel über sie, auch nicht, wie sie ihre Freizeit verbrachte. Sie sollte einen Freund haben, aber Genaues konnte niemand sagen. Mehler bekam den Auftrag, sich vor allem mit ihr und mit dem Kassierer zu befassen und zu versuchen, über die beiden mehr in Erfahrung zu bringen, was ziemlich schwer war. So überwachte er sorgfältig ihre Schritte. Und eines Nachmittags, der Banküberfall lag vier Tage zurück, sah Mehler Fräulein Langner ‚Hähnels Weinstuben‘ betreten. Nach einer Weile folgte er ihr. Doch als er die Tür öffnete, entdeckte sie ihn. Sie stand noch an der Garderobe und kämmte sich. Mehler blieb nichts anderes übrig, als auf Fräulein Langner zuzugehen und sie zu begrüßen. Er spielte den Überraschten, doch sie hatte ihn durchschaut. Fräulein Langner ließ sich sofort wieder ihren Mantel reichen. Mehler jedoch war schneller, nahm den Mantel, 93
als ob er ihr hineinhelfen wollte, gab ihn aber der Garderobenfrau zurück. Er wollte Zeit gewinnen, da er vermutete, daß sie hier jemanden treffen wollte. Fräulein Langner überlegte fieberhaft, was sie tun könnte, um dieser ihr höchst ungelegenen Situation zu entkommen, ohne Aufsehen zu erregen. Widerwillig ging sie mit Mehler in das Lokal und nahm in einer der Nischen Platz. Sie konnten das Lokal gut überblicken, auch den Eingang. Mehler ließ ihn nicht aus den Augen. Das Mädchen lachte. „Falls Sie meinen Schatten suchen“, sagte es, „dann warten Sie vergebens. Ich habe ihn abgeschüttelt. Es sind zu große Trottel, die Sie mir auf den Hals hetzen.“ Mehler bemühte sich, seinen Ärger nicht zu zeigen. „Ich werde Sie für die Polizei werben“, sagte er leichthin; „wenn Sie sich weiterhin so entwickeln, könnte aus Ihnen eine gute Kriminalbeamtin werden.“ Er winkte dem Ober. „Ein Bargetränk?“ fragte er das Mädchen, und Fräulein Langner nickte. Das Gespräch plätscherte. Kaum hatte der Ober den Manhattan gebracht, trank sie eilig ihr Glas leer und wollte sich verabschieden. Mehler hielt sie am Handgelenk fest. „Ich mache einen Skandal“, flüsterte sie wütend. „Ich habe nichts dagegen“, sagte Mehler ungerührt. „Ich bin das gewohnt.“ Er blieb ruhig sitzen und tat, als merke er ihre Verstimmung nicht. Sie konnte nicht an ihm vorbei und war gezwungen, ebenfalls sitzen zu bleiben. Nach etwa einer halben Stunde, während der sie kein Wort miteinander gewechselt hatten, beschloß Mehler, das Warten aufzugeben. Offensichtlich hatte sie sich doch mit niemandem verabredet. Er winkte der Bedienung. 94
Eilfertig kam der Ober an ihren Tisch. Er beugte sich vor, so konnte Mehler das Eintreten des Kassierers nicht bemerken. Das Mädchen gab dem Kassierer Zeichen, wieder zu gehen, doch da hatte sich der Ober aufgerichtet. Mehler sah den Kassierer herüberblicken und unschlüssig auf einen anderen Tisch zusteuern. Dann setzte sich der Bankangestellte. „Warum grüßt er nicht?“ fragte Mehler. „Er ist ein ruhiger Mensch, bescheiden, zurückhaltend“, sagte das Mädchen. „Ob im Betrieb oder außerhalb. Sehr scheu“, ergänzte es. „Und jetzt nach dem Überfall …“ Mehler glaubte ihr nicht. Er wußte nun, daß sich die beiden treffen wollten. Das seltsame Verhalten des Kassierers erschien ihm wie eine Bestätigung seiner Annahme. „Ich möchte bloß wissen, was Herr Korf hier will“, spöttelte Mehler. Seine Laune hatte sich seit dem Eintreffen des Kassierers entschieden gebessert. „Fragen Sie ihn doch selbst“, antwortete das Mädchen schnippisch. „Vielleicht verrät er es Ihnen. Ich könnte mir denken, daß es wichtig für Sie sein muß.“ Es betrachtete Mehler wütend von der Seite und setzte hinzu: „Wenn Sie es wünschen, frage ich ihn natürlich auch. Wir arbeiten schließlich zusammen, da wird er mir diese plumpe Annäherung schon verzeihen.“ Mehler, der wußte, daß er kaum neue Gesichtspunkte erfahren würde, stand auf und sagte: „Gehen wir!“ Doch nun hatte plötzlich Fräulein Langner keine Lust mehr, die Weinstube zu verlassen. „Ich möchte noch etwas trinken“, entgegnete sie, „der Manhattan war ausgezeichnet.“ Da Mehler schon auf den Gang getreten war, schlüpfte sie an ihm vorbei. Sie nahm ihre Handtasche und flüsterte: „Bis der Ober die Getränke gebracht hat, 95
bin ich wieder zurück.“ Als Mehler ihr folgen wollte, sagte sie nur: „Wenn Sie eine Dame wären, hätte ich nichts gegen Ihre Begleitung einzuwenden.“ Mehler setzte sich betreten an den Tisch zurück. Diese Runde hatte eindeutig das Mädchen gewonnen. Er sah Fräulein Langner nach, die dicht am Tisch des Kassierers vorbei aus dem Raum tänzelte. Er verwünschte sich und seine Unachtsamkeit. Als sie nach einer Weile zurückkam, hatte er noch immer nichts bestellt. „Wir gehen“, sagte er. Und nun überraschte ihn Fräulein Langner erneut. Sie nickte gehorsam und ging mit ihm hinaus zur Garderobe. Erst jetzt wagte der Kassierer einen winzigen Zettel auseinanderzufalten. Er las: „Morgen in der Ohio-Bar. Obacht, Du wirst noch immer beschattet.“ Vor der Weinstube winkte Fräulein Langner ein Taxi. „Auf Wiedersehen!“ sagte sie freundlich und zog die Tür zu. Mehler blieb zurück. Er wartete auf seinen Dienstwagen, der in der Nähe gehalten hatte und nun heranfuhr. Wütend warf sich der Assistent in das Polster. „Nach Hause“, knurrte er. Sie wird noch von ihm hören, schwor er sich. Sie und der Kassierer.
96
10 Als Graumann von dem verhinderten Treffen zwischen Fräulein Langner und dem Kassierer hörte, glaubte er der Aufklärung des Banküberfalls näherzukommen, sobald er mehr über dieses Pärchen in Erfahrung bringen könnte. Hier wäre sicher ein Ansatzpunkt für weitere Nachforschungen zu finden. Im Grunde war Graumann mit dem bisherigen Verlauf der Ermittlungen zufrieden. Doch zur Zeit drehte er sich bei seinen Vermutungen und Kombinationen im Kreise. Zwar hatte er viele einzelne Fakten vorliegen, aber sie paßten nicht recht zusammen, es ergab sich kein Bild. Was aber schlimmer war als das, der Kommissar hatte keine bestimmte Linie, die er verfolgen konnte, denn vom Täter fehlte nach wie vor jegliche Spur, wenn man von jener absah, die er beim Überfall hinterlassen hatte. Wahrscheinlich war der Täter klug genug, sich die nächste Zeit ruhig zu verhalten und durch nichts aufzufallen. Die Seriennummern einiger Geldscheine waren bekannt, die Banken überprüften jeden Tausendmarkschein, aber bisher hatte man noch keinen Erfolg gehabt. Sicher gab der Bankräuber zunächst nur kleine Beträge aus. Die Frage blieb, wann er gezwungen sein würde, die Geldbündel anzugreifen. Sollte er bis dahin längere Zeit verstreichen lassen, schwand die Hoffnung, ihn durch die Nummernkontrolle zu entdecken. Die drei Bankangestellten waren in dieser Beziehung schlecht zu überwachen. Wer sollte nachprüfen, ob sie nicht ihren Kunden Scheine mit den notierten Seriennummern aushändigten? Überdies saß Fräulein Langner neuerdings an der Kasse. Wer konnte wissen, ob sie nicht 97
auch mit dem Chef zusammenarbeitete? Wahrscheinlicher war jedoch, daß sie mit dem Kassierer gemeinsame Sache machte. Gestern war es den beiden mißglückt, sich zu treffen. Vielleicht sollte sie das geraubte Geld unter die Leute bringen. Graumann grübelte, ob es nicht an der Zeit wäre, die Nachforschungen zu erweitern. Bisher waren sie vor allem auf die Bankangestellten gerichtet und hatten nicht den durchschlagenden Erfolg. Wie konnte er den Täter herausfordern, eine Dummheit zu begehen und sich zu verraten? Graumann wußte keinen Ausweg. Als er bis zum späten Abend noch immer nicht zu bestimmten Schlußfolgerungen gelangt war – Mehler hatte zwar wieder fleißig zugearbeitet, dennoch ergab sich nichts entscheidend Neues –, beschloß er, die Akten mit nach Hause zu nehmen, um sie gründlich zu studieren und nach neuen Aspekten zu suchen. Bei einer Flasche Sekt hatte er die besten Gedanken. Mehler meldete, daß der Wagen vorgefahren sei. Ob der Kommissar noch besondere Wünsche habe? Graumann verneinte, es sei denn, Mehler spüre während seines Spätdienstes den Täter auf, dann solle man ihn sofort aus dem Bett klingeln. Bestimmt wäre das Entdecken des Bankräubers der Beförderung dienlich. Graumann lachte, schränkte aber sofort wieder ein: „Nun, noch ist es nicht soweit; solange meine Stelle besetzt ist, wird es nichts mit Kommissar Mehler.“ Mehler sah blaß und verstört aus. Aber Graumann in seiner guten Feierabendlaune bemerkte es nicht. Er betrachtete Mehler als eine Art Werkzeug, das sich zwar manchmal selbständig machte, oft nützlich war, aber ansonsten sicher von ihm geführt wurde. Wenn er es benötigte, war es da, und das war die Hauptsache für Graumann. Er brauchte 98
zuverlässige Leute, die ihm bedingungslos ergeben waren. Mit ihrer Hilfe konnte er sein Ziel, einen höheren Posten zu erobern und seine Macht weiter auszubauen, am ehesten erreichen. Graumann klopfte seinem Assistenten zum Abschied jovial auf die Schulter und verschwand. „Holt mich morgen erst gegen zwölf Uhr ab“, sagte der Kommissar, bevor er aus dem Wagen stieg und auf die Tür seines Gartens zuging. Von einem der Bäume, die die Allee säumten, löste sich ein Schatten. „Guten Abend, Graumann“, sagte jemand. Der Kommissar drehte sich um, nicht zu schnell. Er hatte die Stimme erkannt. „Du bist es, Goller.“ Er lachte, Selbstsicherheit vortäuschend. „Ich hatte dich erwartet.“ Und da Goller nicht gleich etwas erwiderte, fügte er hinzu: „Aber von der schnellen Truppe warst du ja wohl nie.“ Goller überhörte den Spott. „Ist das deine Villa?“ Graumann unterdrückte seinen Unwillen, daß Goller ihn ebenfalls duzte. „Natürlich, wem sollte sie sonst gehören?“ „Dann können wir ja hineingehen“, meinte Goller. „Es spricht sich dort besser.“ „Ich hätte nicht übel Lust, hier draußen zu bleiben. Was wir uns zu sagen haben, dürfte nicht allzuviel Zeit in Anspruch nehmen.“ „Es könnten unerwünschte Zuhörer in der Nähe sein“, sagte der Wachtmeister ruhig, „und einiges erfahren, was ein Kommissar Graumann lieber nicht der Öffentlichkeit mitteilen möchte.“ Graumann tat belustigt. „Willst du mich erpressen?“ Goller schwieg und lief auf den Eingang zu. Graumann folgte ihm behäbig. An einem der Ziersträucher am 99
Wege blieb der Kommissar stehen und betrachtete aufmerksam einige Zweige im Dämmerlicht. Dabei behielt er den Polizisten im Blickfeld und registrierte befriedigt dessen Ungeduld. Sicher hatte der Wachtmeister seit ihrem unverhofften Zusammentreffen gegrübelt, was er tun könnte. Vielleicht versuchte Goller es tatsächlich mit Erpressung. Nun, sollte er. Am besten war, man hörte sich an, was er vorzubringen hatte. Eher ließ er sowieso keine Ruhe. Graumann bog den Strauch zur Seite und ließ ihn zurückschnippen. Dann ging er auf Goller zu und sagte: „Da hat mir doch jemand direkt am Weg einen Zweig abgeknickt. Zu ärgerlich.“ Und als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe als einen gepflegten Garten, hielt der Kommissar seinem Besucher einen Vortrag über verschiedene Sträucher und Bäume, bis Goller seinen Unmut nicht mehr zurückhalten konnte und erklärte, er sei nicht wegen irgendwelcher biologischer Exkurse zu ihm gekommen. Graumann erwiderte, daß das schon möglich sei, nur er habe jetzt Feierabend, und da beschäftigten ihn solche Fragen besonders. Goller könne gern morgen nachmittag zu ihm in die Dienststelle kommen. Goller wehrte ab. Graumann öffnete und trat in die Diele. Aus der Stube kam eine ältere Haushälterin auf ihn zu. „Der Herr Kommissar haben einen Gast!“ sagte sie höflich und verbeugte sich. „Ich trage schnell noch ein Gedeck auf. Ihr Essen, Herr Kommissar, steht bereit.“ „Danke, Grete. Ich habe schon gegessen“, entgegnete Graumann, obwohl er seit Mittag nichts zu sich genommen hatte. „Und der Gast des Herrn Kommissars?“ 100
„Möchte auch nichts.“ Graumann schob Goller zur Garderobe. Die Haushälterin lief eilfertig hinterher. „Wenn ich dem Herrn …“ „Goller“, stellte sich der Polizist vor. „Wenn ich dem Herrn Goller aus dem Mantel helfen darf?“ „Der kommt schon allein ’raus“, brummte Graumann. „Wie der Herr Kommissar wünschen“, murmelte die Haushälterin und zog sich in die Küche zurück. Graumann stieg die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf. Der Polizist folgte und blieb überrascht in der Tür stehen. Graumann ging auf den dicken Teppichen durch das Zimmer und warf seine Aktentasche auf den riesigen Schreibtisch mit mächtigen Löwentatzen als Füßen. Schwere Sessel standen um einen bronzenen runden Tisch, der mit allerlei Figuren geschmückt war, die Goller nicht gleich erkennen konnte. An den Wänden waren Konsolen mit seltenen Vasen angebracht. Goller trat zögernd ein. Sein Blick fiel auf ein Gemälde in protzigem Rahmen. „Was für eine nackte Frau ist das?“ fragte er. „Ein Renoir“, entgegnete Graumann. „Ein echter!“ „Aus dem Krieg?“ „Gekauft!“ Graumann ließ sich in einen Sessel fallen, ohne dem Polizisten einen Platz anzubieten. Goller merkte, wie ihm langsam das Blut ins Gesicht stieg. Er blieb stehen und sah sich im Zimmer um. Graumann schlug bequem die Beine übereinander und nahm sich eine Zigarre aus dem Ebenholzkasten auf dem Tisch. Er sprach erst weiter, als er sie angezündet hatte. Sein Gast war indessen im Zimmer auf und ab gegangen. Der Kommissar stieß dicke Wolken aus, und Goller bat, 101
das Fenster etwas öffnen zu dürfen. Graumann nickte. „Diese Kunstschätze hat mir ein Antiquitätenhändler besorgt. Wenn du Interesse hast, kann ich dich mit ihm bekannt machen.“ Goller winkte ab und warf sich ebenfalls in einen Sessel. „Man braucht sich bloß umzusehen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Zimmereinrichtung. „Überall tauchen die alten Klamotten wieder auf.“ Nachdenklich betrachtete er die Nippsachen. „Hier müßte einmal gründlich Staub gewischt werden. Man könnte das Zeug allerdings auch einer Schießbude schenken.“ Graumann stieß eine kräftige Rauchwolke aus und sagte: „Was ich niemand raten würde.“ Er beugte sich nach vorn, streifte die Asche von seiner Zigarre und sah seinen Besuch prüfend an. Goller lag lässig im Sessel, kniff das linke Auge zu und zielte über den abgespreizten Zeigefinger der rechten Hand hinweg auf ein Dutzend Porzellanfiguren. Behutsam schwenkte er dann den Arm von Vase zu Vase bis er schließlich vor Graumanns Gesicht verhielt. „Peng!“ sagte er und krümmte den Zeigefinger. Graumann vergaß vorübergehend, an seiner Zigarre zu ziehen. „Ein gelungener Spaß.“ Er lachte, aber Unsicherheit schwang mit. „So kenne ich dich gar nicht.“ „Du kennst mich in manchem noch nicht“, entgegnete Goller. Graumann stand auf und klappte die Tür zu seiner Hausbar zurück. Kunstvoll geschliffene Spiegel warfen das Licht in unzähligen Punkten in das Zimmer. „Einen Whisky?“ fragte er. Goller nickte. Die Ruhe glich einem Waffenstillstand. Jeder war vor dem anderen auf der Hut. Graumann hatte begriffen, daß 102
dies erst das Vorspiel war. Sicher würde Goller noch deutlicher werden. Wahrscheinlich glaubte er, aus dem Zwischenfall damals in Paris Vorteil schlagen zu können. Welcherart Vorteil das sein sollte, konnte sich Graumann allerdings nicht vorstellen. Schließlich war der Prozeß vor der Großen Strafkammer zu seinen Gunsten ausgefallen. Was aber beabsichtigte Goller? „Prost“, sagte Goller und hob das Glas, das Graumann vor ihn hingestellt hatte. Mit einem Schluck trank er den Whisky aus. „Du kannst ruhig noch einen eingießen“, forderte er. „Ich wüßte nicht, daß wir je auf solch vertraulichem Fuß gestanden hätten“, sagte Graumann und füllte nach. „Natürlich. Der ehemalige Putzer des Herrn Oberstleutnants hat zu kuschen.“ Plötzlich war Gollers Tonfall entschieden, ja drohend geworden. „Das ist vorbei, Herr Obersturmbannführer!“ „Wenn du dich nicht sofort mäßigst“, entgegnete Graumann betont leise, „schmeiße ich dich ’raus. Hier bin ich der Herr im Hause!“ Und er fügte hinzu: „Im übrigen hast du recht: Der Obersturmbannführer ist vorbei!“ „Bei mir nicht“, sagte Goller. „Aber ich möchte nichts mehr davon hören.“ Goller lachte. „Das könnte dir so passen!“ Er ging zur Hausbar und goß sich ein. Graumann sah ihm gleichgültig zu. „Weißt du überhaupt, warum ich damals nicht als Zeuge aufgetreten bin?“ Der Wachtmeister stellte das gefüllte Glas und die Flasche auf den Tisch und ließ sich wieder in die Polster sinken. Er schlug die Beine übereinander, wippte mit dem freischwebenden Fuß und tat, als gelte sein ganzes Interesse nur diesem wippenden, staubbedeckten schwarzen Schuh. 103
„Jeder hat wohl Gründe, wenn er nicht als Zeuge auftritt.“ „Natürlich hatte ich Gründe.“ Goller nahm einen Schluck, um die Pause etwas zu verlängern, denn er spürte Graumanns mühsam unterdrückte Neugierde. „Als ich im März zweiundfünfzig hörte, daß du vor der 7. Großen Strafkammer wegen des Pariser Juweliers angeklagt worden warst, dachte ich, seit dem Krieg ist viel Zeit verstrichen, vielleicht will auch er seine Ruhe haben. Schwamm drüber, jeder sieht, wie er durchkommt. Aber heute …“ „Was ‚heute‘?“ „Nachdem ich gesehen habe, wie du lebst, wie du dich gemausert hast“, Gollers Stimme wurde schärfer, haßerfüllt, „hätte ich nicht übel Lust, dir einen ’reinzudrehen.“ Nach einer Weile sagte er, kaum seiner Erregung Herr werdend: „Meinst du etwa, es macht Spaß zuzusehen, wie andere reich werden? Wie sie Geld scheffeln, Villen und Autos besitzen, hohe Posten einnehmen?“ „Ist es meine Schuld, daß du zu nichts gekommen bist? Ich habe gearbeitet, intensiv, ausdauernd – jahraus, jahrein.“ „Glaubst du, ich nicht?“ schrie Goller und sprang auf. „Jeder hatte nach fünfundvierzig die Chance, etwas aus sich zu machen“, sagte Graumann. „Für jeden war etwas drin im Wirtschaftswunder. Du hattest genausoviel Zeit wie ich. Arbeit, mein Lieber, immer wieder Arbeit.“ „Ich habe gearbeitet“, wiederholte Goller verbittert. „Als Kraftfahrer. An manchen Tagen bin ich achtzehn Stunden gefahren. Gelegenheitsarbeiter. Drei Jahre an einer Tankstelle. Jede Arbeit habe ich angenommen, jede! Trotzdem bin ich draußen geblieben. Das Wirt104
schaftswunder ist vorbeigerauscht, ohne daß ich auch nur einen Zipfel zu fassen gekriegt hätte.“ Graumann zuckte mit den Schultern und trank gleichgültig einen Whisky, während Goller erregt im Zimmer auf und ab lief, bis er sich über Graumanns Sessel beugte: „Weißt du, wie das ist, wenn man Jahr für Jahr in diesem Scheißberlin sitzt und nicht ’rauskommt? Die Nachbarn verreisen. Mallorca, Ischia, Kanarische Inseln. Und Goller bleibt zu Hause, bewacht den Besitz der neuen Reichen und der alten. Seit zehn Jahren, Revier hundertzweiunddreißig, inzwischen zum Wachtmeister avanciert.“ „Und als besonders geeignet für Sondereinsätze bei Demonstrationen befunden“, ergänzte Graumann sarkastisch. „Warst du nicht sogar im Fernsehen? Mit dem Polizeipräsidenten zusammen?“ Goller mochte über alles andere sprechen, nur nicht über die Demonstration. Er hatte mit einer Auszeichnung gerechnet. Statt dessen war von seinem Vorgesetzten kein Wort mehr über den Einsatz gefallen. Wütend stürzte er den Whisky in sich hinein und griff nach der Flasche. Graumann schob seinen Arm zurück. „Bist du geizig? Oder willst du nichts mehr mit mir zu tun haben – so wie andere, die große Worte machen und nie wieder etwas von sich hören lassen? Da kann man die tollsten Einsätze wagen, unter Lebensgefahr einen Anführer festnehmen, der Dank – ein Lob im Fernsehen.“ Goller atmete heftig. Einen Augenblick war es still im Zimmer. „Vielleicht hätte ich ihn umlegen sollen“, schrie er plötzlich los. „Was ist schon ein Mensch? Ein Dreck! Jeden Tag werden Tausende umgelegt. Nigger, Araber, Vietnamesen. Und wenn welche dagegen demonstrieren, warum sollte man die nicht auch abknallen?“ 105
Unvermittelt und scheinbar völlig ruhig fragte er Graumann: „So schwer ist es doch gar nicht, auf einen Menschen zu schießen, nicht wahr?“ Der Kommissar betrachtete Goller ungerührt. „Du bist betrunken“, sagte er. „Du solltest nach Hause gehen und deinen Rausch ausschlafen.“ „Das könnte dir so passen!“ schnaufte Goller. „Du hast keine Ruhe mehr vor mir und wirst auch keine kriegen. Das verspreche ich dir. Wir sind aneinandergekettet. Seit damals, seit Paris. Die Kette hing locker, aber nun ist sie gespannt, zum Zerreißen gespannt.“ Erschöpft sank er in einen Sessel und schwieg. Graumann überlegte, ob er ihn an die Luft setzen sollte. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Menschen in solcher Gemütsverfassung plauderten manches aus, was sie später bereuten. Graumann wollte jetzt wissen, wie weit Goller gehen würde. „Laß die Pariser Angelegenheit ruhen“, sagte er scheinbar versöhnlich. „Das war eine andere Zeit damals. Wir haben getan, was wir mußten, keiner mehr, keiner weniger. Ich als Offizier, du als Putzer …“ „Ganz recht, ich als Putzer“, wiederholte Goller abfällig. „Tu bloß nicht so, als ob du dich jemals auf eine Stufe mit mir gestellt hättest. Du hast mich nie beachtet, sooft du bei Oberstleutnant Bongard warst. Wenn ich ins Zimmer kam, hörtest du auf zu sprechen.“ „Kriegsgeheimnisse“, sagte Graumann. „Oberstleutnant Bongard hat nie aufgehört, wenn ich kam.“ Graumann lachte spöttisch. Goller sah ihn wütend an. „Oberstleutnant Bongard war …“ „… ein Mensch“, sagte Graumann großmütig, mühsam seinen Spott unterdrückend. „Lassen wir das, es 106
gibt Wichtigeres in der Gegenwart, Vergangenheit ist vergangen.“ „Es lebe die Gegenwart“, sagte Goller zweideutig und hob sein Glas. „Die Gegenwart und – und – Oberstleutnant Bongard.“ Goller hatte sich aus dem tiefen Sessel hochgearbeitet, stand auf schwankenden Beinen. Er setzte das Glas mit Schwung an die Lippen, und der Whisky lief ihm rechts und links die Mundwinkel hinunter. „Friede seiner Asche!“ sagte er tonlos und fiel in den Sessel. Dann stierte er Graumann eine Weile böse an, beugte sich vor und flüsterte heiser: „Man hat ihn umgebracht! – Sechs Jahre nach dem Krieg.“ Graumann fuhr zurück, der Alkoholdunst widerte ihn an. „Du bist nicht klar im Kopf“, erwiderte er. „Verunglückt ist er, in den Alpen …“ „In der Schweiz!“ lallte Goller. „In einem See!“ „Ein tragischer Unglücksfall“, sagte Graumann gedämpft. „Wie in Paris“, bestätigte Goller bissig. Vor seinen Augen schwankte die Gestalt Graumanns bedenklich, vergrößerte sich, wuchs ins Riesenhafte, grinste ihn hämisch an wie in einem Zerrspiegel auf dem Rummel. Goller hielt sich krampfhaft an den Sessellehnen fest. Aus weiter Ferne hörte er Graumann sagen, daß Bongard mit bei dem Juwelier gewesen sei. Goller richtete sich auf. „Bongard war unschuldig!“ sagte er leise. „Ich habe alles gesehen. Vom Wohnzimmer. Die Pistolenmündung, das Gesicht des Juweliers, seine aufgerissenen Augen. Du hast ihn umgelegt. Und ich war Zeuge!“ Er schwieg, dann fuhr er fort: „Wenn du ihn wenigstens bloß bedroht hättest. Das haben alle gemacht, die etwas aus den Franzosen ’rausholen wollten.“ 107
Graumann lachte spöttisch. „Wie du zum Beispiel.“ „Ich habe nie einen Menschen dabei getötet.“ Mühsam schob er seinen Sessel zur Seite, ging breitbeinig zum Fenster und sog tief die kühle Luft ein. „Zum Kotzen elend ist es bei dir“, stieß er hervor. „Aber ich kann dich nicht mehr aus den Augen lassen.“ Er schwankte und suchte am Fenster nach einem festen Halt. Graumann blieb unbeweglich im Sessel sitzen. Er beobachtete und wartete geduldig. Sollte Goller ruhig seiner Wut freien Lauf lassen. Goller war durch die Luft erfrischt worden. Er fühlte sich stark wie lange nicht und kam langsam vom Fenster zurück. „Alles gestohlen“, keuchte er. „Alles! – Das war deine Arbeit nach dem Krieg. Die Wertsachen, die ihr in die Schweiz geschleppt hattet, wieder abzuholen.“ Er blieb vor dem Renoir stehen. „Ich will verdammt sein, wenn ich dieses Bild nicht bei dem Juwelier gesehen habe.“ Er wandte sich ab, ging durch das Zimmer, musterte die Antiquitäten. „Ihr wußtet, daß man nach dem Krieg viel Geld brauchen würde, um sich eine Villa bauen zu lassen und Reichtümer aufzuhäufen, um gut leben zu können. Ihr habt den Krieg für euch gewonnen!“ „Noch ein Wort, Goller, und ich lasse dich festnehmen.“ Graumann stieß sich mit den Händen von den Sessellehnen ab und blieb dicht vor Goller stehen. Er hatte genug erfahren. Nun war es Zeit, dem Polizisten wieder seinen Platz zuzuweisen. Graumann öffnete die Tür und rief seiner Hausangestellten zu, sie solle eine Kanne Kaffee zubereiten. Schwerfällig kam er zurück, setzte sich und starrte vor sich hin. Als Grete nach einiger Zeit ins Zimmer trat, sah sie die beiden Herren aufrecht in den Sesseln sitzen. Die Gläser 108
waren gefüllt und die Flasche beinahe leer, aber nichts deutete darauf hin, daß die Herren über Gebühr dem Alkohol zugesprochen hätten. Sie stellte die Tassen vor Graumann und Goller und goß ein. Wortlos verließ sie das Arbeitszimmer, das von einer Duftwolke nach Kaffee erfüllt war. Sie wußte, daß heute ein Mokka angebracht war, soweit hatte sich Graumann nicht in der Gewalt, daß sie nicht bei der Bestellung die veränderte Stimme ihres Hausherrn bemerkt hätte. Goller schlürfte laut und wohlgefällig den Kaffee, daß Graumann angewidert die Mundwinkel verzog. „Der Kaffee ist gut“, sagte Goller. Graumann hatte keine Lust, etwas zu antworten, er blickte Goller nicht einmal an, bis Goller – er hatte die dritte Tasse ausgeschlürft – mit elastischem Schwung aufstand und im Zimmer hin und her ging. Schließlich ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen und griff nach der Aktentasche. Graumann sprang hoch, war mit zwei Schritten bei Goller und nahm ihm die Tasche aus der Hand. „Wohl streng vertraulich“, sagte der Wachtmeister höhnisch. „Leider kann ich es mir nicht erlauben, wie manche Polizisten nach Dienstschluß Feierabend zu machen“, erwiderte Graumann. „Der große Meister löst den Banküberfall zu Hause am Schreibtisch“, spöttelte Goller erneut. „Und was hast du vom Überfall auf mich in den Akten?“ Graumann wollte Goller nicht noch weiter reizen, durfte aber auch nicht zu offen werden. „Das Protokoll, das ihr mir zugeschickt habt“, sagte er kurz. 109
„Mehr nicht? Da wird ein Angehöriger der Polizei angeschossen, und was unternimmt die Polizei? Sie macht ein Protokoll!“ „Du weißt, daß dein Fall weiter untersucht wird.“ Goller lachte. „Untersucht“, sagte er, schob unwirsch den Stuhl zurück. „Bis jetzt haben sie jedenfalls nichts herausbekommen. Ich hatte Glück, daß es nur ein Streifschuß war. Aber euch kümmert das nicht. Wenn kein Mord geschieht, drückt ihr die Augen zu. Und wenn einer geschieht, kriegt ihr nichts ’raus.“ „Ich habe bisher jeden Fall gelöst“, entgegnete Graumann. „Und den vom Grünen Eck?“ „Keine Sorge, ich erwische den Täter.“ „Ich erwische den Täter“, äffte Goller den Kommissar nach. „Als ob du ihn schon in der Tasche hättest.“ „Vielleicht“, sagte Graumann und klopfte vielsagend auf die Aktentasche. „Und wer ist es?“ „Was interessiert dich das?“ „Vielleicht will ich zur Kriminalpolizei, und dieser Fall, den ich aus unmittelbarer Nähe miterlebt habe, soll mein Debüt sein.“ „Natürlich“, sagte Graumann, kniff die Augen zusammen und tat überrascht. „Wie konnte ich das vergessen! Schließlich warst du zehn Minuten vor dem Überfall am Tatort!“ „Du kannst ja mich festnehmen“, sagte Goller. „Dann hast du einen Täter.“ Er kicherte. „Macht sich nicht schlecht, Bankräuber Goller, Wachtmeister im Revier hundertzweiunddreißig.“ Plötzlich wurde er ernst. „Und der Mordversuch an mir? Was wird daraus?“ 110
Graumann antwortete nicht. Seine Gedanken kreisten um den Anschlag. Er versuchte einen Zusammenhang mit dem Banküberfall zu finden. Dann wieder fragte er sich, warum Goller dieses Thema nicht schon viel früher vorgebracht hatte. „Soll ich dir eine Bewachung stellen?“ fragte er leutselig. Doch Goller wehrte ab, indem er Graumann den Vorwurf machte, er suche nur einen Grund, ihn unter Kontrolle zu haben. „Vielleicht willst du mir jetzt was anhängen. Als Gegengewicht zu dem, was ich über dich weiß.“ Graumann gähnte behäbig. „Du wirst langweilig, Goller, machen wir Schluß. Ich bin müde. Außerdem haben wir alles gesagt, was wir zu sagen hatten. Wir wissen nunmehr, wie wir uns zu begegnen haben.“ „Mit äußerster Vorsicht“, ergänzte Goller. „Deine salbungsvollen Reden kannst du dir sparen. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wenn du Bericht erstatten mußt, daß du den Fall vom Grünen Eck nicht aufklären kannst.“ Graumann lächelte belustigt. Er verschränkte die Arme. „Bestimmt werden sich der Herr Wachtmeister bei dieser Behauptung etwas gedacht haben“, bemerkte er. „Das heißt, wenn der Herr Goller überhaupt denken. Ich kenne wenige Vorgesetzte“, sagte er belehrend, „die es gern haben, wenn niedere Dienstgrade denken. Vor allem, wenn sie mehr denken wollen als ihre Vorgesetzten.“ „Ich bin privat hier.“ Graumann überhörte diesen Einspruch. „Ich bringe dich zur Garderobe“, sagte er und schob Goller vor sich zur Tür, so daß er unbemerkt das Tonband abstellen konnte, das er eingeschaltet hatte, als er die Aktentasche auf den Schreibtisch gelegt hatte. Graumann hielt sämtliche wichtigen Gespräche fest, die in seinem Zimmer 111
geführt wurden. Er hatte einige Mikrofone angebracht, von denen nur er und seine Hausangestellte etwas wußten. Sie stiegen die Treppe hinunter. Plötzlich klingelte es. Grete wollte öffnen, aber Graumann ging selbst. In der Tür stand Mehler. Befremdet fragte Graumann, was der Assistent zu so später Stunde bei ihm wolle. Mehler, der neugierig über Graumanns Schulter blickte und Goller entdeckte, flüsterte aufgeregt: „Die Langner und der Kassierer sind in der Ohio-Bar.“ „Und deshalb störst du mich um diese Zeit?“ fragte Graumann gereizt. Mehler stotterte: „Ich – dachte nur, weil noch Licht brannte, ich mußte bei Ihnen vorbei. Vielleicht interessiert es Sie, dachte ich.“ „Dachte!“ brummte Graumann. „Richtig denken sollst du!“ „Entschuldigen Sie bitte die Störung.“ Mehler wollte gehen. Graumann besann sich. „Na, nun wart schon. Ich komme mit.“ Goller war dicht an Graumann herangetreten. Er konnte aber nur noch die letzten Worte verstehen. „Wohin?“ fragte er. Graumann übersah ihn, ließ sich von Grete den Mantel reichen und sagte, sie brauche nicht auf ihn zu warten. Eilig stapften die beiden Kriminalisten den Kiesweg entlang, ohne auf Goller zu achten. Der trottete wütend hinter ihnen her, hörte, wie eine Tür zugeschlagen wurde, und starrte dem davonfahrenden Wagen nach.
112
11 Die ‚Ohio-Bar‘ lag außerhalb des Zentrums. Der eigentliche Betrieb begann erst nach Mitternacht. Zu früher Stunde waren die wenigen Gäste leicht zu überblicken, und das war der Grund, warum sich Fräulein Langner und der Kassierer dort trafen. Bei gedämpftem rotem Licht konnte man es sich in einer Ecke bequem machen, ohne sofort entdeckt zu werden. Trotzdem blieb der Kassierer unruhig. „Vielleicht hätten wir uns hier doch nicht sehen sollen“, sagte er. „Wer weiß, ob wir unsere Bewacher abschütteln konnten.“ Sie lachte nur. „Meiner ist bestimmt weg. Ich glaube sogar, daß der Kommissar die Überwachung eingestellt hat. Welchen Nutzen hat er davon? Wir wissen Bescheid, und damit ist sie für ihn sinnlos.“ Sie lächelte, wie um Nachsicht bittend. „Stoßen wir an. Auf unser Treffen.“ Zögernd setzte sie hinzu: „Ich konnte einfach nicht mehr länger warten.“ Widerstrebend hob der Kassierer sein Glas, blickte in der Bar umher und versuchte im roten Dämmerschein irgendeinen Verfolger auszumachen. Das Mädchen beobachtete ihn verärgert. Es klang dumpf, als sie anstießen. Der Kassierer stellte sein Glas zurück, ohne getrunken zu haben. Er wischte sich verwirrt über die Augen und versuchte dann ein schwaches Lächeln, es mißlang. „Der zweite Tisch vorn am Ausgang.“ „Was ist mit ihm?“ fragte das Mädchen leichthin. „Laß ihn stehen.“ Dem Kassierer war nicht nach Scherzen zumute. „Da sitzt mein Verfolger!“ 113
„Du bist nervös“, sagte sie, lehnte sich nach hinten an die Polster und kramte aus ihrer Handtasche einen kleinen Handspiegel hervor. Sie tat, als prüfe sie den Sitz ihrer Frisur, strich eine widerspenstige Haarsträhne zurück. Dabei hielt sie den Spiegel so, daß sie über ihre Schulter hinweg zum Ausgang sehen konnte. „Der mit dem grauen Anzug“, flüsterte der Kassierer. „Irgend etwas stimmt mit dem nicht. Er guckt zu oft herüber, dann tut er wieder, als sähe er mich gar nicht.“ Die Band spielte. „Tanzen wir?“ fragte Fräulein Langner. „Ich sehe ihn mir unauffällig an.“ Ohne die Zustimmung des Kassierers abzuwarten, stand sie auf, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als mit zum Parkett zu gehen. Er tanzte ungern. Fräulein Langner musterte den Mann am Ausgang. „Er beachtet uns gar nicht“, stellte sie fest. Der Kassierer war davon nicht überzeugt. „Ich bin einigemal umgestiegen“, erzählte er. „Habe verschiedene Taxis benutzt, bin mit der U-Bahn gefahren. Er muß mir auf den Fersen geblieben sein.“ Der Mann mit dem grauen Anzug lehnte unbefangen im Sessel. Er hatte einen Shake bestellt, ab und zu nippte er daran. „Sein Getränk hat er sofort bezahlt“, sagte der Kassierer. „Dadurch bin ich auf ihn aufmerksam geworden.“ „Wie lange sitzt er schon dort?“ „Seit einer Viertelstunde schätze ich, es kann aber auch länger sein. Zwischendurch war er am Telefon.“ Sie gingen wieder auf die Plätze zurück. Am besten, sie tranken aus und verschwanden. „Mich macht das Warten noch verrückt“, sagte er. „Diese Ungewißheit.“ Und nach einer Weile: „Wie er herüberglotzt, als ob ich zu blöd wäre, es zu bemerken.“ 114
„Ich gehe zur Garderobe“, schlug sie vor. „Mal sehen, wie er reagiert.“ Entschlossen nahm sie ihre Handtasche, lächelte dem Kassierer ermunternd zu und stand auf. Mit sicheren Schritten ging sie zum Eingang, den Mann starr anblickend. Er aber sah, scheinbar gelangweilt, zur Seite. Sie folgte seinen Blicken und stutzte. „Oh“, sagte sie überrascht, „der Herr Kommissar!“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, spürte aber, wie ihr vor Schreck übel wurde. Graumann verbeugte sich, mit seinem massigen Körper den Zugang zur Garderobe sperrend. Übertrieben freundlich schaute er sie an: „Sie befinden sich da in recht verdächtiger Gesellschaft“, bemerkte er und warf ihr einen väterlich-wohlwollenden Blick zu. „Mit Ihnen wäre das natürlich etwas ganz anderes“, antwortete sie schnippisch. „Würden Sie mich bitte vorbeilassen.“ Graumann lachte nur und zeigte seine Zähne, die sie in ihrer Ebenmäßigkeit anwiderten. Bestimmt hat er eine Prothese, dachte sie flüchtig. Sie sah ihm ruhig in die Augen und versuchte vergebens, an ihm vorbeizukommen. Sie wollte ihn zwingen, aus seiner schützenden Ecke hervorzutreten, damit der Kassierer ihn bemerkte, aber es gelang ihr nicht. Der war längst auf den Wortwechsel aufmerksam geworden. Er sah zwar nicht gleich, mit wem sie sprach, aber für ihn gab es keinen Zweifel, daß es nur der Kommissar sein konnte. Als Fräulein Langner einen Schritt zurücktrat, entdeckte er Graumann. Der Kassierer überlegte, was er tun könnte. Neben der Kapelle war eine Tür. Mit zwei, drei Schritten hatte er sie erreicht und war auf einem Gang. 115
„Der Kassierer ist weg!“ schrie Mehler, und alle Aufmerksamkeit wandte sich dem leeren Tisch zu. Mehler und die beiden Beamten rannten zu der Tür, hinter der der Kassierer verschwunden war, der Mann im grauen Anzug postierte sich am Ausgang. Fräulein Langner gelang es auch jetzt nicht, an Graumann vorbeizuschlüpfen. Graumann beugte sich zu ihr. „Folgen Sie mir, bitte. Mein Assistent wird Ihnen nachher einige Fragen stellen.“ Ohne Widerstand ging sie mit zur Garderobe, wo er wartete, bis sie sich den Mantel übergezogen hatte. Der Dienstwagen, mit dem er sie in die Dienststelle bringen lassen wollte, war jedoch nicht aufzufinden, so ließ er sie im Vorraum der Bar warten. Der Mann im grauen Anzug setzte sich ihr gegenüber. Währenddessen raste der Kassierer im Taxi durch die Nacht. Als er die Tür der kleinen Bühne hinter sich geschlossen hatte, war er durch verschiedene Gänge gelaufen, war auf einen Hinterhof gelangt, hatte einen zweiten Hof überquert, dann stand er in einer Nebenstraße. In der Nähe parkten zwei Taxis. Er stürzte auf sie zu. „Eine Schlägerei“, stieß er hastig hervor. „Sie wollen mich zusammenschlagen.“ Er sprang in das vordere Taxi, nannte dem Fahrer irgendeine Adresse, und sie fuhren davon. Der Kassierer trieb zur Eile. Der Chauffeur fragte nicht viel und gab Gas. Sein Fahrgast hatte ihm ein gutes Trinkgeld in die Hand gedrückt. Als Mehler das zweite Taxi fast erreicht hatte, stieg ein Pärchen in den Wagen. Wütend schaute er nach einem anderen Auto aus. In der Ferne sah er die Rücklichter jenes Wagens, in dem er den Kassierer vermutete. Er lief zum Dienstwagen, und sofort rasten sie hinter dem Taxi her. Doch das war inzwischen in irgendeine Seiten116
straße abgebogen und ihren Augen entschwunden. Auch die weiteren Kreuzfahrten brachten kein Ergebnis. Der Kassierer war entkommen.
117
12 Der Einbrecher hatte die Villa des Kommissars beobachtet und sorgfältig geprüft, wie er am besten eindringen könnte. Das Arbeitszimmer lag im ersten Stock. Es war leichtsinnig von Graumann gewesen, das Fenster nicht zu schließen, bevor er wegging, denn die Jalousie war nicht völlig heruntergelassen. Man konnte sie wahrscheinlich mit einiger Anstrengung hochschieben. Der Einbrecher wartete geduldig. Die Beleuchtung im Arbeitszimmer hatte Grete nach Graumanns plötzlichem Aufbruch ausgemacht, aber aus der Küche drang durch die Fensterläden noch immer ein heller Schein. Nach einer halben Stunde verlosch auch dieses Licht. Der Mann lief quer über den Rasen, um das Knirschen der Steine zu vermeiden. Er prüfte die Regenrinne und kletterte daran hoch. Wenn er sich mit den Beinen festklammerte und zur Seite beugte, konnte er fast das offene Fenster erreichen. Er mußte sich nur kurz abstoßen, dann hing er am Fensterbrett. Ringsum war es still. Die Straßenlaternen warfen ihre Strahlen bis zum Haus, und er klebte wie eine riesige schwarze Spinne auf dem hellen Hintergrund. Er mußte schnell einsteigen. Aber die Jalousie klemmte. Sie raschelte und blieb schräg hängen. Der Einbrecher faßte die Querleisten und stemmte den Ellenbogen auf das Fensterbrett. Sie bogen sich etwas durch, rutschten jedoch nicht. Er suchte mit den Füßen Halt, einige Putzbröckelchen fielen nach unten. Der Einbrecher hielt inne. Nichts rührte sich. Ihn packte der Zorn. Mit aller Wucht schlug er gegen die Jalousie, sie gab nach, ließ sich nach oben schieben 118
und wieder schräg verklemmen. Die Gestalt schob sich in das Innere, lauschte und ging vorsichtig zum Schreibtisch. Der Einbrecher wischte sich die Finger sauber und nahm die Akten aus der Tasche. Hastig lief er zum Fenster, um besser lesen zu können. Aufgeregt blätterte er die einzelnen Seiten um, las hier und dort einige Sätze, bevor er die Akte systematisch durchforschte. Ab und zu warf er einen prüfenden Blick auf die Straße, die ruhig und verlassen war. Ein Fußgänger schreckte ihn für einen Moment auf, aber er bedeutete keine Gefahr. Der Einbrecher ging zum Tisch, goß sich einen Whisky in eines der zwei Gläser und stürzte ihn hinunter. Zufrieden grunzte er vor sich hin und widmete sich wieder dem Studium der Akten. Es mochte keine Viertelstunde vergangen sein, als er die Blätter in die Tasche zurücksteckte und sie vorsichtig an Ort und Stelle legte. Unschlüssig blieb er stehen, sah auf die Whiskyflasche, lief zum Tisch und hielt sie gegen das schwache Licht, das vom Fenster her eindrang. Da nur noch ein Rest in ihr verblieben war, setzte er sie an den Mund und trank sie leer. Danach ging er erneut zum Schreibtisch, zog sein Taschentuch hervor und legte es über den Schlüssel an der rechten Tür. Er schloß auf und musterte die einzelnen Fächer. Im obersten Schub lag eine Pistole. Der Einbrecher rührte sie nicht an, zog das zweite Fach auf und entdeckte das Tonbandgerät. Er ließ die Rücktaste schnappen, die Spule schnurrte. Der Mann stellte die Lautstärke auf schwach und spielte einen Teil des Bandes ab, wobei er das Ohr dicht an den Lautsprecher legte. Schließlich schaltete er das Gerät aus. Das vorhin aufgenommene Gespräch war zu Ende. 119
Der Einbrecher setzte sich schwerfällig in den Schreibtischsessel. Der Alkohol summte in seinem Schädel. Nach geraumer Zeit schob er das Tonbandgerät wieder zurück und zog die anderen Fächer auf, die angefüllt waren mit wohlgeordneten und registrierten Tonbändern. Er beachtete sie kaum. Im untersten Fach lagen die Bänder wüst durcheinander. Weit hinten blinkte matt eine Kassette. Der Mann schlug sie in das Taschentuch und holte sie vorsichtig heraus. Er nahm aus seiner Hosentasche ein Bund Dietriche hervor und fuhr geschickt mit einem der kleinen Sperrhaken in das Schlüsselloch. Es war nur ein einfaches Schloß, die Kassette sprang mit leisem Klicken auf. Der Einbrecher wurde enttäuscht. Drei Tonbänder waren der einzige Inhalt. Kurz entschlossen nahm er sie heraus, füllte die Kassette mit der gleichen Anzahl Bänder und verschloß sie wieder. Nachdem er sie in die Ecke gestellt hatte, legte er einige Bänder über die Kassette, so daß bei flüchtigem Hinsehen kaum ein Unterschied zum früheren Zustand zu bemerken war. Unschlüssig zog der Einbrecher nochmals das Tonbandgerät heraus, überlegte, ob er dieses Band ebenfalls mitnehmen sollte, ließ es dann aber bleiben. Falls Graumann das aufgenommene Gespräch abspielen wollte, hätte er sofort den Einbruch bemerkt. Sorgfältig schloß er die Schreibtischtür wieder ab, steckte die Tonbänder aus der Kassette in die Jackettaschen, schwankte zum Fenster und lauschte. Alles schien ruhig zu sein. Langsam schob er erst ein Bein, dann das andere auf das Fensterbrett. Der Whisky hatte ihn unsicher gemacht; zu spät bemerkte er den heransurrenden Wagen. Erschrocken ließ er sich ins Zimmer zurückfallen. Der Absatz eines seiner Schuhe zeichnete einen schwarzen Streifen auf die Tapete. Der 120
Einbrecher achtete nicht darauf; er horchte, ob der Lärm im Haus bemerkt worden war, und blickte vorsichtig durch die Gardine auf die Straße. Graumanns Wagen hielt vor dem Garten. Als der Kommissar auf das Haus zuging, entdeckte er die schräghängende Jalousie am Fenster seines Arbeitszimmers. Er fluchte über die Nachlässigkeit seiner Haushälterin, die immer dann die Fenster kontrollierte, wenn er es auch tat, und es heute natürlich vergessen hatte. Graumann blieb an der Tür stehen. Er konnte sich nicht entsinnen, ob die Jalousie schon so schräg gehangen hatte, als er am Abend vom Dienst gekommen war. Er schloß auf und lief eilig die Treppe nach oben. Es war mehr das berufsmäßige Mißtrauen, das ihn trieb, als daß er davon überzeugt war, jemanden in seinem Zimmer zu finden. Als der Mann die Schritte vernahm, schwang er sich auf das Fensterbrett, rutschte am Abflußrohr hinunter, ohne auf die Abschürfungen durch den rauhen Putz zu achten, rannte über den Rasen und tauchte im Schatten der Straßenbäume unter. Erst da wagte er sich umzublicken und sah, wie sich Graumanns massige Gestalt nach draußen beugte und das Fensterbrett untersuchte. Graumann war gleich beim Betreten seines Zimmers aufgefallen, daß das Fenster weit offenstand, das Goller bei seinem Besuch nur einen Spalt breit aufgemacht hatte. Ohne Licht anzuknipsen, war Graumann an das Fenster gestürzt, im Laufen seine Dienstpistole entsichernd. Er hatte jedoch nicht einmal mehr Zeit, den davonhastenden Einbrecher anzurufen. Als geübter Kriminalist konzentrierte er sich sofort auf das Nächstliegende: die Untersuchung von Spuren. Das Fensterbrett, auf dem rechts und links noch Staub lag, 121
war in der Mitte blankgewetzt; die schwarze Gummispur des Absatzes auf der Tapete ärgerte ihn. Auf dem Fußboden bemerkte er feine Reste vom Putz des Hauses. Aufmerksam blickte er sich weiter im Zimmer um. Daß der Einbrecher den Whisky ausgetrunken hatte, registrierte er im Vorübergehen. Viel mehr interessierte ihn, was der ungebetene Besucher bei ihm gewollt hatte. Ohne etwas anzurühren, musterte er den Schreibtisch, ihm war, als ob die Aktentasche vorhin anders gelegen hätte. Mit Schrecken gewahrte er, daß am Schreibtisch der Schlüssel steckte. Eilig schloß er auf, zog das obere Fach vor. Die Pistole war am üblichen Platz. Die Tonbänder lagen an Ort und Stelle, und im unteren Fach stand wie gewöhnlich die Kassette. Graumann schob das Fach zu, hob den Telefonhörer ab und wählte. „Schickt mir jemand zum Spurensichern“, forderte er. „Bei mir ist eingebrochen worden.“ Danach setzte er sich müde in den Sessel. Der Tag war anstrengend gewesen. In Gedanken ließ er die Ereignisse der letzten Stunden an sich vorüberziehen. Das Auftreten Gollers war zwar erwartet, aber dennoch überraschend gekommen. Der Kommissar nahm sich vor, am Morgen das Band nochmals abzuhören, um eventuelle Schwächen Gollers herauszufinden. Er hatte mit dieser Methode schon oft Erfolg gehabt. Sicher wird Goller nicht eher ruhen, bis der alte Fall vor dem Landgericht erneut aufgerollt wird. Er mußte auf der Hut sein. Solche Verfahren brachten unweigerlich Verlust an Ansehen bei den Vorgesetzten, selbst – und davon war er fest überzeugt – wenn alles günstig für ihn verliefe. Das beste war, den Bankraub vom Grünen Eck schnellstens zu einem guten Ende zu bringen. Zu einem guten Ende, das hieß für ihn Überführung des Täters. 122
Doch dieser Einbruch heute abend warf zunächst neue Probleme auf, komplizierte die Lösung des Falles. Noch wußte Graumann nicht, was gestohlen worden war. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, in den anderen Zimmern nachzusehen, so sehr war er davon überzeugt, daß der Einbrecher die Akten über den Fall vom Grünen Eck gesucht hatte. Ein unverzeihlicher Leichtsinn von ihm, sie nicht weggeschlossen zu haben. Goller hatte das Fenster geöffnet, und er selbst – sonst die Ordnung in Person – hatte über Mehlers Frohlocken, den Kassierer und die Langner beieinander zu haben, seine gewohnte Vorsicht außer acht gelassen. Plötzlich kam ihm ein böser Verdacht: War Gollers starkes Interesse am Stand der Ermittlungen nicht recht merkwürdig? Er hatte das Fenster geöffnet, um frische Luft in das Zimmer zu lassen. Konnte er das nicht vorsätzlich getan haben? Graumann wischte sich verwirrt über die Stirn. Hirngespinste. So weit ging Goller nicht. Schließlich war Goller, bei allen Vorbehalten, die er gegen ihn hatte, Angehöriger der Polizei und wußte, daß ein solch schlechter Scherz unangenehme Folgen haben würde. Über diesen Grübeleien war Graumann eingenickt. Als die Türglocke läutete, schrak er zusammen. Zwei Polizisten kamen zum Spurensichern. Graumann verfolgte ihre Arbeit, die sie unter Aufsicht des Kommissars besonders gründlich taten. Er sagte ihnen, sie sollten sich vor allem auf den Schreibtisch und die Umgebung des Fensters konzentrieren und die Fingerabdrücke auf der Aktentasche sichern. Nach einer Weile stand Graumann auf und holte sich die Tasche. Er war erleichtert, als er die Akten sah, allerdings stellte er sofort fest, daß sie durchsucht worden waren. Der Einbrecher wußte also Bescheid, wie weit die 123
Recherchen Erfolg gehabt hatten und in welchen Richtungen Nachforschungen unternommen worden waren. Dies erschwerte die Aufklärung. Graumann war nun sicher, daß er einen ganz gerissenen Gegner vor sich hatte. Er rief Mehler in der Dienststelle an, er solle die Langner gründlich ausfragen. Die Überwachung des Filialleiters könne gelockert werden. Mehler wiederum berichtete aufgeregt, daß er gerade noch einen zweiten Bewacher zu Schmidts Villa beordert habe, da dort eine große Party abgehalten werde, mit Feuerwerk und Spektakel. Es wäre gewiß günstig, bis zum nächsten Tag zu warten, bevor man die Beobachtung reduzierte. Graumann war einverstanden, man solle ihm morgen sofort Bericht erstatten, er käme entgegen seiner ursprünglichen Absicht schon früher. Gedankenverloren blieb er am Schreibtisch stehen. Die beiden Beamten, die ihn nicht zu stören wagten, warteten, bis der Kommissar fragte: „Schon fertig?“ „Alles in Ordnung, wir könnten gehen.“ „Nehmt euch noch die Flasche vor“, sagte Graumann. Die Kriminalisten steckten die leere Whiskyflasche in einen Plastbeutel und verabschiedeten sich. Graumann begleitete sie die Treppe hinunter, schloß hinter ihnen sorgfältig die Tür und ging zu Bett. Zur gleichen Zeit etwa spielte sich der Einbrecher die Tonbänder, die einzige Beute seines nächtlichen Besuchs, vor. Er hatte sie nur mitgenommen, weil sie so sorgfältig von den anderen getrennt aufbewahrt wurden. Und nun lag er auf der Couch, rauchte eine Zigarette und hörte sich Gespräche an. Dabei nickte er ab und zu ein. Die Verhandlungen zwischen Graumann und einem Antiquitätenhändler schienen ihm nicht sonderlich aufre124
gend zu sein, wenn es dabei auch um horrende Summen ging, um Versprechungen und Beteuerungen, um Zerknirschung beim Händler, der behauptete, durch Graumanns unerbittliche Forderungen ruiniert zu sein. Nun, diese Art von Geschäftsführung und Bankrotterklärung durfte man nicht so ernst nehmen. Die Aufnahme zeigte eigentlich nur, welch cleverer Manager Graumann war, der es verstand, dem anderen seinen Willen aufzuzwingen. Auch das zweite Band, eine Aufnahme, die wohl vor allem persönlichen Erinnerungswert für Graumann hatte, war nicht geeignet, den Einbrecher munter werden zu lassen. Offensichtlich hatte Graumann einmal eine Frau geliebt, die sich aber von ihm getrennt hatte. Vielleicht konnte man sich großzügig zeigen und ihm diese Aufnahmen bei Gelegenheit zurückschicken. Es machte sich immer gut, einem Kriminalkommissar zu beweisen, daß auch ein Einbrecher menschlicher Regungen fähig war. Doch als das letzte Band zu laufen begann, wurde der Mann hellwach. Es mußte erst während eines Gesprächs eingeschaltet worden sein, denn die Aufnahme begann mitten in einem Satz. Gebannt lauschte der Einbrecher, er wagte kaum zu atmen. Einen solchen Fang hatte er sich nicht erhofft. Er hörte sich bestimmte Passagen mehrmals an und machte eifrig Notizen.
125
13 Nachdem Graumann vor seiner Villa abgesetzt worden war, fuhren Mehler und Fräulein Langner in die Dienststelle. Der Assistent ließ seine Begleiterin in den Waschraum bringen, wo sie zum ersten Mal den Mund öffnete und fragte, mit welchem Gesindel man sie zusammensperren wolle. „Sie sind in bester Gesellschaft“, entgegnete Mehler kurz und ließ sie im unklaren, was er unter dieser besten Gesellschaft verstand. „Wir holen Sie dann zum Verhör.“ Nach dieser Bemerkung schob er sie durch die Tür. Es waren noch zwei Mädchen im gleichen Raum. Fräulein Langner verspürte nicht die geringste Lust, sich mit ihnen in ein Gespräch einzulassen, obwohl beide auf sie zustürzten und nach dem Grund ihrer Festnahme fragten. Mehler ging in das Dienstzimmer. Einer der zur Beobachtung von Schmidts Villa ausgesandten Polizisten war zurückgekommen und drängte, seine Feststellungen berichten zu können. Es sei nur eine normale Party, teilte er mit. Schmidt habe seine Freundin eingeladen. Nach dem Feuerwerk habe man sich wieder in den überdachten Swimmingpool zurückgezogen. Der Krach sei nun nicht mehr so weit zu hören. Mehler fuhr den Mann an: „Ich habe euch nicht wegen dem Krach dorthin geschickt, sondern damit ihr etwas ’rausbekommt.“ „Er nimmt seine Freundin öfter mit nach Hause“, erzählte der Polizist ungerührt weiter. „Offensichtlich verträgt sie sich mit seiner Frau ausgezeichnet.“ Mehler fragte unwillig: „Und warum veranstaltet Schmidt diese Party?“ 126
Der Mann zuckte die Schultern. Mehlers Gesicht lief rot an. „Soll ich vielleicht selbst zu Schmidts Villa fahren?“ „Ich geh’ ja schon.“ Der Polizist wandte sich zur Tür. „Was ich auch stark hoffe“, erwiderte Mehler. „Da überfällt jemand die Bank dieses Schmidt, wenige Tage danach feiert er eine große Party, und ihr wißt nicht mehr zu berichten, als daß sich seine Frau mit der Nutte ihres Mannes verträgt.“ Der Beamte verschwand eilig aus Mehlers Dienstzimmer. Mehler warf sich auf die Couch, die sein ohnehin schmales Zimmer noch enger machte. Aber beim Nachtdienst war sie ihm sehr willkommen, und er wehrte sich dagegen, daß man sie entfernte, was schon des öfteren geschehen sollte. Es tat ihm wohl, sich ein halbes Stündchen entspannen zu können und sich auf die nächste Arbeit vorzubereiten. Heute war sie angenehm. Fräulein Langner gefiel ihm, und ein junges Mädchen zu verhören bereitete ihm von jeher Freude. Man erfuhr so manches. Mehler empfand sogar Befriedigung, wenn er an Punkte gelangte, die seinem Gegenüber unangenehm waren. Er konnte dann mit ausdauernder Boshaftigkeit, die er in strenge Sachlichkeit kleidete, bohren, bis er entweder alles wußte, was er wünschte, oder bis das Mädchen weinend zusammenbrach. Der Kriminalassistent Mehler führte ein ruhiges Familienleben. Seine Frau hielt ihm die Wäsche sauber, kochte gut, verstand es einigermaßen, sich anzuziehen, und war in ihrem Wesen recht unkompliziert. Mehler kannte nach wenigen Monaten der Ehe alle ihre Geheimnisse, soweit man von Geheimnissen reden konnte. Er hatte mit kriminalistischem Spürsinn jene kleinen Liebschaften, 127
die sie vor ihm gehabt hatte, aus ihr herausgeholt. Sie hatte darüber gesprochen, obwohl es ihr nicht viel Spaß machte, von Dingen zu reden, die längst vergangen waren. Er hatte sie geheiratet, weil sie ein Kind von ihm erwartete. Jetzt war sie ihm eine gute Frau, dem Kind eine sorgsame Mutter. Mehler hatte diese Heirat nie bereut, zumal die Frau viel Verständnis für seinen Beruf aufbrachte, der ihn oft auch abends und nachts von zu Hause fernhielt. Mehler war immer auf Suche nach Geheimnissen im Leben anderer. Die Privatsphäre, das Eindringen in die verborgensten Leidenschaften von Menschen, in Klatsch, Tratsch und Familienzerwürfnisse, war für ihn das größte Vergnügen. Wenn er vor einem Haus stand, dessen Fenster geschlossen waren, hatte er mitunter das Bedürfnis zu erfahren, was hinter den Mauern und Fenstern vor sich ging. Lange Zeit hatte er geschwankt, ob er zur Presse gehen und versuchen sollte, Klatschspaltenjournalist zu werden, mit all der Macht des Wissens um das Leben der Prominenten ausgerüstet, beliebt und gefürchtet zugleich, oder zur Kriminalpolizei. Da ihn seine Leidenschaft und sein Spürsinn oftmals die Zeit vergessen ließen, kam er bald in den Ruf, ein arbeitsfreudiger Kriminalist zu sein. Graumann war mit ihm sehr zufrieden. Doch dieses Zufriedensein beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Nach einem Jahr bemerkte Mehler, daß er nicht aufsteigen konnte, solange Graumann die Stelle des Kommissars besetzte. Pension kam nicht in Frage, Graumann war noch nicht alt genug. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, daß Graumann befördert würde, so 128
daß er nachsteigen konnte. Aber ob ihm das zum gleichen Zeitpunkt gelingen würde wie Graumann? Mehler wußte um Graumanns Wunsch, durch diesen Fall endlich höher zu klettern. Es war ein offenes Geheimnis, daß Graumann noch ein oder zwei aufsehenerregende Verbrechen mit Bravour aufzudecken hatte, um sich einen neuen Dienstgrad zu erwerben. Nur, wer wußte von Mehlers ehrgeizigen Plänen? Er war angenehm aufgefallen, gut. Aber er brauchte eine glanzvolle Parade, die ihn vor anderen auszeichnete. Darum investierte er in die Aufklärung dieses Banküberfalls viel Zeit und Energie. Nun hatte er dieses Mädchen in der Hand, um aus ihm etwas herauszuholen, was den Fall der Klärung näherbringen könnte. Das Verschwinden des Kassierers bestärkte seinen und Graumanns Verdacht, daß Korf einer der Täter sein mußte, und das Mädchen wußte mehr von dem Überfall, als es zugeben wollte. Doch da war noch etwas, was Mehler zwar auch schon in den letzten Tagen, aber seit dem heutigen Abend ganz besonders beschäftigte. Was führte Goller und Graumann zusammen? Während Graumann im Dienst die Etikette wahrte, sogar abfällige Bemerkungen über den Wachtmeister fallen ließ, empfing er ihn abends bei sich zu Hause. Morgen wird er, Mehler, zum Landgericht gehen und in die Akten der 7. Großen Strafkammer vom März 1952 einsehen. Vielleicht war von da aus das Geheimnis zu lüften. Mehler sprang von der Couch hoch, er konnte nicht mehr still liegenbleiben. Der Gedanke, Graumann womöglich etwas am Zeuge flicken zu können, ihn aus seiner unerschütterlich scheinenden Sicherheit aufzuschrecken, und wenn es nur bisweilen mit einer lässig hingeworfenen 129
Bemerkung war, die zeigte, daß man Bescheid wußte, bereitete ihm schon im voraus Vergnügen. Graumann sollte zu spüren bekommen, daß er einen Assistenten hatte, mit dem man sich am besten auf vertraulichen Fuß stellte. März 1952 – dieses Datum mußte ihn weiterbringen! Aufgeregt lief Mehler hin und her, spann sich in Vorstellungen ein, die ihm angenehm waren. Bisher hatte er zu sehr in Graumanns Schatten gestanden und hatte zu ihm aufblicken müssen, jetzt wird er sich davon befreien, mehr in den Vordergrund rücken und vielleicht endlich einen größeren Fall zur selbständigen Lösung bekommen. Doch zuvor war das Verhör mit der Langner zu führen, es mußte ihm auf seinem Weg nach oben weiterhelfen. Mehler war in Hochstimmung. Er rief an, man solle die Langner ins Sekretariat bringen. „Bitte, setzen Sie sich“, sagte Mehler jovial, als das Mädchen vorgeführt wurde. Mehler wartete, bis sich der Beamte zurückzog, dann begann er: „Es tut mir ja herzlich leid, Fräulein Langner, aber sicher wird sich manches schnell aufklären lassen, und Sie können wieder gehen.“ Er versuchte ein Lächeln und hoffte, diese verbindliche Einleitung würde Fräulein Langner zugänglicher machen als am Abend vorher in der Weinstube. Aber das Mädchen tat unbeteiligt. Der Assistent glaubte einen Moment, es habe ihm gar nicht zugehört, da erwiderte es: „Ist das Ihre neue Taktik, diese Freundlichkeit? Wenn Polizisten zuvorkommend sind, glauben sie bei ihren Opfern Bereitschaft und Aufgeschlossenheit zu finden. Nur schade, daß Freundlichkeit bei der Polizei nicht die Regel ist, sondern Schnüffeln in den intimsten Familienangelegenheiten.“ Fräulein Langners Stimme wurde scharf: „Was wollen Sie von mir wissen? Wie oft ich mit Herrn Korf geschlafen habe?“ 130
Mehler ließ sich nicht provozieren. „Sie wissen genausogut wie ich, daß Sie in einen unangenehmen Banküberfall verwickelt sind.“ „Und daß Sie unbedingt einen Täter brauchen“, fiel ihm das Mädchen ins Wort. „Und wenn man keinen hat, sucht man sich den ersten besten. Was ist da einfacher, als einen der Überfallenen zu verdächtigen. Sie spionieren uns nach, als ob wir selbst in der Bank eingebrochen hätten. Man hat seitdem kein Privatleben mehr. Jetzt kommen Sie und spielen auch noch den feinen Mann, als ob es Ihnen unangenehm ist, den anderen auszuhorchen.“ Ihre Stimme wurde bitter und vorwurfsvoll: „Sie sind doch ebensowenig wie ich davon überzeugt, daß der Kassierer was mit dem Raub zu tun hat.“ Mehler konnte nur mühsam seine Überraschung verbergen. „Sieh mal an! Das Fräulein verteidigt den Kassierer. Hatte ich Sie eigentlich nach Herrn Korf gefragt?“ „Der Kassierer ist verschwunden“, entgegnete das Mädchen. „Ich war mit ihm zusammen, am Tag zuvor wollte ich mich mit ihm in der Weinstube treffen, was liegt also näher …“ „… als sich mit der anderen Hälfte zu begnügen, die noch nicht verschwunden ist“, sagte Mehler schnell. „Und die komischerweise nicht mal geflüchtet wäre, auch wenn man sie nicht verhaftet hätte.“ Mehler erklärte ihr, daß von einer Verhaftung noch keine Rede sein könne. Es sei lediglich eine vorläufige Festnahme. Und er beabsichtige auch nicht, einen Haftbefehl gegen sie zu erwirken. Es liege also an ihr und ihren Aussagen, wie schnell sie dieses Haus wieder verlassen könne. Fräulein Langner beobachtete den Assistenten mißtrauisch. Sie durchschaute nicht recht, was er mit dieser Vor131
rede bezweckte. „Was wünschen Sie von mir?“ fragte sie. „Ich hasse dieses Versteckspielen.“ „Obwohl Sie selbst es vortrefflich verstehen. Ich erinnere nur an Ihre Bewacher, die Sie dauernd abschütteln.“ Mehler lachte. „Sie könnten zur Polizei“, sagte er aufgeräumt. Für den Bruchteil einer Sekunde stahl sich ein verstecktes Lächeln in die Mundwinkel des Mädchens. Es spürte die Ehrlichkeit in Mehlers Stimme und die Anerkennung. Mehler, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, bemühte sich, diese Bresche zu erweitern. „Sie haben unsere Männer ganz schön an der Nase herumgeführt“, bemerkte er, zog seinen Stuhl näher zu Fräulein Langner und sah ihr in die Augen. „Ich werde Ihnen etwas sagen“, begann er vorsichtig und überlegt langsam. „Ich bitte Sie, mir erst dann zu antworten, wenn Sie Ihre Entgegnung gut bedacht haben.“ Er machte eine Pause, und das Mädchen wartete geduldig, ohne seinem Blick auszuweichen. „Nehmen wir an, ich brauchte in einem verwickelten Fall die Unterstützung einer klugen Frau, um endlich zu einem Ergebnis zu gelangen und ganz bestimmte Verdachtsmomente aus der Welt zu schaffen.“ Mehler beobachtete sie aufmerksam, schlug leger die Beine übereinander und fuhr fort: „Bei einem Überfall, bei einem Banküberfall, um konkret zu bleiben, werden zunächst all die Personen verdächtigt, die nicht klipp und klar nachweisen können, daß sie nicht mit dem Täter unter einer Decke stecken. Es gibt in der Kriminalgeschichte unzählige Beispiele, bei denen der Täter mit einem der Bankangestellten, um wieder beim konkreten Fall zu bleiben, zusammenarbeitete. Denn durch Absprache und einen gemeinsamen Plan steigen die Chancen des Gelingens.“ 132
Das Mädchen wurde unruhig, es rückte von Mehler ab und überlegte, wie es den bevorstehenden Angriff abwehren könne. Aber Mehler ließ sich Zeit, er hatte Fräulein Langners Reaktion bemerkt, er hatte bewußt darauf hingearbeitet. Nun versuchte er behutsam, den Verdacht wieder zurückzunehmen. „Verdächtig ist zunächst einmal jeder“, erläuterte Mehler und lächelte sie an. „Folglich auch Sie und der Kassierer. Ich brauche Ihnen die Verdachtsmomente nicht nochmals aufzuzählen. Sie kennen sie selbst. Es kommt aber der Polizei darauf an, den Kreis der Verdächtigen ständig zu verkleinern, um schließlich den Täter herauszulösen oder aber ihn ganz woanders zu suchen.“ Mehler wartete, bevor er weitersprach. Er sah, wie Fräulein Langners Finger der rechten Hand, die sie auf die Platte des runden Tischchens gelegt hatte, unruhig spielten. Ihr Mund war zusammengepreßt. Und ihr Herz klopfte, daß sie glaubte, Mehler müsse es hören. Sie blickte Mehler starr in die Augen und hielt mit dem nervösen Spielen inne. „Ich bin der Meinung“, sagte der Assistent, „daß jetzt die Zeit gekommen ist, wo Sie sich entscheiden müssen, ob Sie aus diesem Kreis ausbrechen wollen oder nicht.“ Seine Stimme wurde weich und vertraulich. „Wir haben uns bisher kaum gute Worte gesagt, Fräulein Langner. Es liegt sicher daran, daß Sie sich durch uns verfolgt wähnten. Ich habe mich in letzter Zeit viel mit Ihnen und Herrn Korf beschäftigen müssen. Er ist heute nacht geflohen – leider.“ Mehler setzte alles auf eine Karte. „Ich halte ihn dennoch nicht für den Mittäter!“ Dem Mädchen schwindelte. Es sah Mehler verwirrt an. Dieser lächelte und wiederholte: „Er hat mit dem Überfall nichts zu tun. Genausowenig wie Sie.“ 133
Das hatte Fräulein Langner nicht erwartet. Sie konnte zunächst nichts sagen, sondern forschte in Mehlers lächelnder Miene nach Anzeichen für einen plötzlichen Sinneswechsel. Der Assistent war mit der Wirkung seiner Worte zufrieden. Jetzt hing alles davon ab, ob das Mädchen so reagierte, wie er es sich erhoffte. Er wußte, daß er mit jeder anderen Gesprächsführung bei ihr auf Ablehnung gestoßen wäre. Indem er ihr sein Vertrauen aussprach, wollte er sie nur aus der Reserve locken. Überzeugt war er von dem, was er Fräulein Langner eben zugestanden hatte, nicht. War sie raffiniert, nützte sie ihn aus und führte ihn aufs Glatteis. Aber ein Blick in ihr Gesicht ließ ihn aufatmen. Das Eis zwischen ihnen war gebrochen. „Und Sie haben sich alles gut überlegt“, fragte sie, wie um sich zu vergewissern, daß sie richtig gehört hatte. „Wie kommen Sie plötzlich zu dieser Annahme?“ Mehler tat nachsichtig und ganz auf Versöhnung eingestellt. Er beugte sich dicht zu ihr vor. „Was würden Sie sagen, wenn ich Sie lediglich als ein Liebespaar ansähe?“ Glühende Röte übergoß das Gesicht von Fräulein Langner. Sie stotterte: „Woher wissen Sie das?“ Mehler lächelte geschmeichelt. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt. „Kriminalistischer Spürsinn“, sagte er, als sei seine letzte Feststellung die natürlichste Sache der Welt. „Ich habe Sie lange genug beobachtet. Schon als Sie Herrn Korf in der Bank den Zettel zusteckten, hatte ich diesen Verdacht. Auch verteidigten Sie Herrn Korf im Gespräch mit Kommissar Graumann zu sehr, wie mir schien, als daß da keine bestimmte Absicht oder vielmehr ein Interesse zu verspüren war, Herrn Korf schon von vornherein von jedem Verdacht zu befreien. – Doch nun habe ich genug erzählt“, sagte er leutselig. 134
„Jetzt sind Sie an der Reihe. Fangen wir da an, als Sie Ihrem Freund …“ Er hielt inne. „Ich darf ihn doch so nennen?“ „Bleiben wir lieber bei ‚Herr Korf.“ „Gut“, stimmte Mehler zu, der sie bei Stimmung halten und nicht durch zu plumpe Vertraulichkeit seinen Erfolg gefährden wollte. „Beginnen wir mit dem Zettel, den Sie Herrn Korf zusteckten.“ „Ich hatte ihm aufgeschrieben, daß der Kommissar ihn verdächtigte“, sagte Fräulein Langner bereitwillig. „Ich war vor ihm befragt worden. Sie wissen es ja, und mir schienen die Anschuldigungen Kommissar Graumanns so gewaltig, daß ich ihm einen Tip geben und ihm helfen wollte. Außerdem hatte der Kommissar das Verhör mit ihm so lange hinausgezögert, daß Herr Korf unruhig war.“ Mehler wußte zwar nicht, inwiefern das eine Hilfe sein sollte, wenn man jemand darauf aufmerksam macht, daß er verdächtigt wird, aber er ging darüber hinweg. Viel mehr interessierte ihn etwas anderes: „Und warum haben Sie Ihr Verhältnis nicht gleich offen zugegeben?“ „Wir hatten alle Gründe, es zu verheimlichen. Gegenüber der Polizei, weil wir dann beide …“ Sie suchte nach Worten. „Ich meine“, sagte sie, „weil wir als Liebespaar wohl noch verdächtiger gewesen wären.“ „Wieso?“ fragte Mehler erstaunt. „Kommissar Graumann hatte es schließlich darauf angelegt, jedem von uns klarzumachen, daß wir Geld brauchten und darum verdächtig waren, gemeinsame Sache mit dem Verbrecher gemacht zu haben. Beim Wissen um unser Verhältnis hätte er den Faden sicher noch weitergesponnen. Alles, was mit einer Hochzeit zusammenhängt, hätte er uns 135
lang und breit vorgehalten, und seine einzige Schlußfolgerung wäre gewesen: Die beiden brauchen besonders viel Geld. Was also ist das Nächstliegende?“ Sie sah Mehler erwartungsvoll an, der mühsam seinen Spott unterdrückte und ernst sagte: „Wir werden Sie für die Polizei werben, Fräulein Langner.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich, sie versuchte, aus Mehlers Miene zu lesen, wie er diesen Einwurf gemeint habe, aber sie entdeckte nur freundliches undurchdringliches Lächeln. „Warum hielten Sie Ihre Zuneigung vor den anderen geheim?“ fragte Mehler. „Der Alte hätte uns an die Luft gesetzt“, sagte sie kurz, und Mehler glaubte ihr das. „Er war sowieso schon eifersüchtig“, erzählte das Mädchen weiter. „Besonders in letzter Zeit schikanierte er Herrn Korf, sooft er nur konnte. Auch am Tage des Überfalls gab es eine heftige Auseinandersetzung. Sicher ahnte er etwas von unserem Verhältnis. Denn so ganz kann man sich wahrscheinlich doch nicht immer in der Gewalt haben.“ Das Mädchen sprach langsamer, unterdrückte ein Gähnen und fragte unvermittelt. „Darf ich hier rauchen?“ „Natürlich“, sagte Mehler. „Da ich Nichtraucher bin, kann ich Ihnen leider kein Feuer geben. Aber darf ich Ihnen einen Kaffee bestellen?“ Er sah nach der Uhr. „Es ist immerhin weit nach Mitternacht.“ Sie nickte, und während Mehler telefonisch um zwei Tassen Kaffee bat, steckte sie die Zigarette an. Sie erhob sich vom Stuhl und ging durch das Zimmer, ihre Finger zitterten schwach. Nur langsam wurde sie ruhiger. Mehler öffnete das Fenster einen Spalt, und die frische Luft strömte in das Sekretariat, das dumpf nach Akten roch. 136
Mehler beobachtete ihren Spaziergang, taxierte sie mit Blicken und bescheinigte in Gedanken dem Kassierer einen guten Geschmack. Sie hatte wunderbar gerade Beine, und ihre schmale Taille betonte kräftige Hüften. Der Rock war eine Nummer zu eng gekauft. Das Klopfen an der Tür unterbrach seine Betrachtungen. Laufer kam mit dem Kaffee. Nach einer Weile fragte Mehler, warum Herr Korf geflüchtet sei. Fräulein Langner, deren Mißtrauen der Assistent noch nicht völlig überwunden hatte, war plötzlich hellwach. Sie vermutete eine Falle. „Es ist mehr eine Formsache“, tröstete Mehler, der ihr Erschrecken bemerkt hatte. „Wir beide gehen zwar davon aus, daß Sie und Herr Korf unschuldig sind“, beteuerte er, „meinem Vorgesetzten, Kommissar Graumann, muß ich jedoch die Motive nennen können, die Herrn Korf zur Flucht trieben.“ Bedauernd fügte er hinzu: „Eine unnötige Komplizierung der Umstände. Der Kassierer hätte sie sich und uns ersparen können.“ Fräulein Langner stimmte zu; sie berichtete von den nervlichen Anspannungen der letzten Tage und daß ihr Freund diesen ungewöhnlichen Belastungen doch nicht so standgehalten habe. Um seine Unruhe zu verringern, habe sie sich mit ihm aussprechen wollen, aber das erste Mal habe er, Mehler, es ja verhindert. Und am folgenden Abend in der ‚Ohio-Bar‘ hätten sie sich ebenfalls noch nicht austauschen können. Ihr Freund sei jeglicher Aussprache ausgewichen, ja, sobald sie auf das Thema auch nur andeutungsweise zu sprechen gekommen sei, habe er sich erregt und sie grob angefahren, was vorher noch nie passiert sei. Solange sie sich kannten, hätten sie noch nie Streit miteinander gehabt. 137
Mehler ließ sie erzählen, doch als sie seine Frage noch immer nicht beantwortete, wiederholte er sie. Sie sagte nur: „Ihm müssen die Nerven durchgegangen sein. Anders kann ich es mir nicht erklären. Er sah überall Verfolger. Und als er mich im Gespräch mit Kommissar Graumann bemerkte, muß es bei ihm einen Kurzschluß gegeben haben.“ „Graumann wird sich mit einer solchen vagen Erklärung nicht zufriedengeben“, entgegnete Mehler. „Und Sie?“ Das Mädchen sah Mehler erwartungsvoll an. „Ich glaube Ihnen. Aber für die anderen genügt es nicht. Wenn man bloß wüßte, wo er sich aufhält“, sagte er. „Es ist zu ärgerlich.“ Da das Mädchen nichts sagte, fragte er: „Was meinen Sie, wo er Unterschlupf gefunden haben könnte?“ Fräulein Langner zuckte mutlos mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ „Sobald er sich bei Ihnen meldet“, sagte Mehler, „benachrichtigen Sie mich bitte.“ Das Mädchen sah ihn verblüfft an. „Behalten Sie mich nicht hier?“ „Warum? Hatten wir uns nicht verständigt, daß Sie frei sind von jeglichem Verdacht und gehen können, wohin Sie wollen?“ Nach diesen Worten war es ruhig im Zimmer. Fräulein Langner nahm noch einen Schluck Kaffee, um die Aufregung zu verbergen, und fragte erneut ungläubig: „Ich bin frei und darf nach Hause?“ „Bitte“, sagte Mehler, doch dann besann er sich und ergänzte: „Das heißt, Sie könnten mir noch einen Gefallen tun.“ „Ich wußte, daß es nicht so leicht sein würde, von hier wegzukommen“, entgegnete Fräulein Langner enttäuscht. 138
„Sie sind unverbesserlich“, drohte Mehler scherzhaft. Das Mädchen blickte ihn mit müden Augen an. „Wie kommen die dreißigtausend Mark unter das Schränkchen?“ fragte der Assistent. Er wagte nicht, einen Verdacht auszusprechen, um sie nicht wieder scheu zu machen. Aber Fräulein Langner wußte auch so, daß der Kriminalist hier an einen noch recht zweifelhaften Punkt rührte, und sagte ruhig: „Das war das einzige, worüber wir uns unterhalten hatten. Herr Korf meinte, das Geld müsse vor dem Überfall verschwunden sein, und zwar als Schmidt in seiner Kabine mit ihm den Krach hatte.“ „Also Ihr Chef war der Übeltäter!“ Das Mädchen wehrte ab. „Aber nicht doch, die beiden hatten sich in der engen Kabine recht aufgeregt angefahren. Auf dem Tisch sind Kästen, in denen die verschiedenen Formulare aufbewahrt werden. Sie stehen etwas über den Tisch vor. Wahrscheinlich ist einer von ihnen bei der heftigen Auseinandersetzung an die Kästen gestoßen, so daß diese nach hinten geschoben wurden und einige der gebündelten Geldscheine mit, die dann zwischen Wand und Tisch fielen.“ „Klingt das nicht etwas unwahrscheinlich?“ fragte Mehler. „Es ist aber die einzige Erklärung, die wir uns geben können. Mein Freund hatte Schmidt ja regelrecht aus der Kabine geworfen, dabei konnte das schon passieren. Er war gerade beim Geldzählen, einen Teil der Bündel hatte er anschließend in den Safe bringen wollen, damit nicht zuviel Geld in der Kabine war. Darum lag es auch auf dem Tisch ausgebreitet. Er kam nicht mehr dazu, da er nach dem Krach einen Kunden bedienen mußte, und dann geschah gleich der Überfall.“ Sie schwieg und wartete auf Mehlers Antwort. 139
„Sie können gehen.“ Das Mädchen erhob sich schnell, als ob es Angst hätte, Mehler könne seine Entscheidung widerrufen. Dieser sagte jedoch nur noch: „Wenn Herr Korf bei Ihnen anruft oder auftaucht, verständigen Sie mich bitte persönlich. Es ist besser, als wenn es Kommissar Graumann erfährt, der ja gewisse Ressentiments gegenüber Herrn Korf hat.“ Fräulein Langner blickte Mehler dankbar an. „Sie können sich ganz auf mich verlassen“, versprach sie. „Hoffentlich dauert es nicht zu lange.“ Mehler begleitete sie nach unten und wünschte ihr einen guten Heimweg. Er erbot sich, ihr einen Wagen zu besorgen, aber sie winkte schon selbst einem zufällig vorbeifahrenden Taxi. Mehler schloß die Tür. Er meinte richtig gehandelt zu haben, wenn er auch keinerlei Beweise hatte, daß alles so war, wie Fräulein Langner es erzählt hatte. Sie konnte ihn genausogut angelogen oder zumindest nur eine Teilwahrheit zugegeben haben: ihr Verhältnis mit Korf. Wer garantierte ihm, daß der Kassierer nicht tatsächlich das Geld versteckt hatte? Vielleicht sogar ohne Wissen seiner Freundin. Es wäre jedenfalls eine günstige Gelegenheit gewesen, unauffällig zu viel Geld zu kommen. Daraus ließen sich auch die Nervosität und die Flucht des Kassierers erklären. Mehler hoffte jedenfalls, Fräulein Langner so weit auf seine Seite gezogen zu haben, um in ihr eine Verbündete sehen zu können. Sollte der Kassierer die 30 000 Mark beim Bankraub nach hinten geschoben haben, so wäre dies ein anderer Fall. Und Mehler schlußfolgerte daraus, daß Korf nichts mit dem Überfall zu tun hatte, denn sonst hätte er doch auch diese 30 000 noch seinem Komplicen gegeben. Mehler war in den Aufenthaltsraum gegangen. Laufer spielte mit Schnell und einem Polizisten, den er nochmals zu Schmidt geschickt hatte, Skat. 140
Als Mehler eintrat, schmiß der Mann eilig die Karten hin, stotterte, daß er beim Verhör der Langner nicht hatte stören wollen, und berichtete stehend vom Verlauf der Party. Mehler unterbrach ihn ungeduldig, diese Einzelheiten interessierten ihn am allerwenigsten. „Warum hat er die Sauferei veranstaltet?“ fragte er. Sein Gegenüber holte zu einer längeren Rede aus. „Wir waren bei Schmidt selbst“, erklärte er, und Mehler glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Seid ihr wahnsinnig?“ stieß er hervor. „Er war sehr freundlich zu uns. Hat uns sogar ein Gläschen angeboten, was wir jedoch ausgeschlagen haben“, betonte er. „Schmidt rief alle seine Schäfchen zusammen und stellte uns als seine Leibwache vor, was großen Eindruck hinterließ …“ „Ihr müßt doch irre gewesen sein“, stöhnte Mehler. Aber der Polizist ließ sich in seinem Bericht nicht stören. „Immerhin haben wir dadurch unsere Informationen aus erster Hand. Er feierte diese Party, weil er weiterhin Chef der Bank bleiben kann. Seine Vorgesetzten hätten ihn …“ Mehler wandte sich ab, klopfte einem jungen Beamten, der aufmerksam zugehört hatte (er war neu hier), auf die Schulter und sagte: „Wenn Sie genau solchen Blödsinn machen, werden Sie bei uns nicht weit kommen. Wer mit der Brechstange arbeitet, wird zur Schupo abgeschoben, die brauchen solche Leute – vor allem bei Demonstrationen. Bei uns geht alles leiser zu, merken Sie sich das.“ Dann wandte er sich an den Polizisten und sagte: „Vielleicht solltet ihr zwei gleich heute früh bei Kommissar Graumann eure Versetzung zur Schupo beantragen, bevor ich das tue. Die Kriminalpolizei ist eine Elitetruppe.“ 141
Der Berichterstatter stand zerknirscht am Tisch, er hatte nicht gewagt, sich wieder zu setzen. Mehler übersah ihn und ging aus dem Zimmer, nicht ohne ein verschwommenes „Idiot“ zu murmeln. Er hatte vorhin, als er Fräulein Langner zum Ausgang brachte, in der daktyloskopischen Abteilung noch Licht bemerkt und wollte dort etwas herumschnüffeln. Er hatte sein Pensum für heute erledigt. Es war ein erfolgreicher Abend gewesen: drei Verdächtige weniger. Denn daß Schmidt nichts mit dem Überfall zu tun hatte, war für ihn jetzt ebenfalls klar. Jedes weitere Beschatten wäre Zeitverschwendung, er wird es Graumann vortragen, genauso wie die Schlußfolgerungen aus dem abendlichen Verhör. Fräulein Langner war vor ihrem Appartementhaus angekommen. Plötzlich bemerkte sie in einem der Büsche des Vorgartens eine leise Bewegung. Sie erschrak, beruhigte sich jedoch, als sie ihren Freund erkannte. „Was machst du hier?“ flüsterte sie überrascht. „Schließ auf“, drängte er, „laß mich ’rein.“ Sie fingerte umständlich in ihrer Handtasche, um Zeit zu gewinnen. „Und wenn dich jemand sieht?“ „Ich bin schon länger hier. Mir folgt niemand.“ Sie öffnete, und bevor sie selbst eintrat, war bereits der Kassierer, immer im Schatten der Büsche bleibend, an ihr vorbeigehuscht und im Hausflur verschwunden. Sie machte kein Licht an, eilig schlichen sie die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Sie hoffte nur, daß keine ihrer Nachbarinnen herauskäme. Aufatmend drückte sie die Tür ihres Appartements hinter sich ins Schloß. Sie ging sofort zum Fenster und beobachtete die Straße. Erst als sie sich überzeugt hatte, daß alles ruhig war, zog sie die Gardinen vor und wollte das Licht einschalten. 142
Doch ihr Freund wehrte ab. „Es muß nicht jeder wissen, wann du nach Hause gekommen bist.“ Er blieb am Fenster stehen, den Vorhang leicht zurückgezogen. Die Stille des Zimmers wurde nur durch ferne Geräusche der S-Bahn gestört. Fräulein Langner warf sich müde auf die Liege. Als der Kassierer seinen Beobachtungsposten endlich verließ, merkte er an den regelmäßigen Atemzügen, daß sie eingeschlafen war.
143
14 Graumann war am Morgen nach dem Einbruch zeitig in die Dienststelle gekommen. Da der Mokka ihn nicht wieder hatte einschlafen lassen, er aber auch keine Lust verspürte, die Akten durchzusehen, ging er aus dem Haus, um durch einen Spaziergang die letzte Müdigkeit zu vertreiben. Zunächst verließ er den Kiesweg, um eventuelle Fußabdrücke des Einbrechers im Rasen zu finden. Er entdeckte jedoch nichts Auffälliges. Offensichtlich war der Einbrecher vorsichtig am Abflußrohr der Dachrinne heruntergeklettert, bis er den Boden erreicht hatte, um nicht durch einen Sprung Abdrücke zu hinterlassen. Der morgendliche Tau hatte alle Gräser wieder aufgerichtet. Nach der ergebnislosen Prüfung ging der Kommissar die Allee entlang und spielte in Gedanken einige Varianten durch, wobei er den unbekannten Einbrecher an die Stelle der Verdächtigen des Banküberfalls setzte. Danach kamen die anderen, die ihre Unschuld nicht nachweisen konnten. Der Kassierer schien ihm noch immer am meisten belastet. Diese Flucht war eindeutig, und wenn er jetzt den Unbekannten mit dem Kassierer in Verbindung brachte, könnte er schon den Schlüssel zum Erfolg in der Hand haben, sobald sie den Kassierer aufstöberten und verhafteten. Aber er wurde auch den Verdacht nicht los, daß Goller – betrunken wie er war – eingestiegen sein könnte. Er schob den Gedanken beiseite. Er war ihm doch zu gewagt. Vielleicht brachten die Aussagen von Fräulein Langner neue Gesichtspunkte. Sicher war von ihr mehr über den Kassierer zu erfahren, denn wahrscheinlich ver144
kehrten die beiden enger miteinander, als es nach außen den Anschein hatte. Vielleicht sollte er selbst noch mit ihr reden, nachdem er Mehlers Bericht über das Verhör gelesen hatte. Graumann ordnete den Kreis der Verdächtigen weiter. Den Filialleiter konnte er wahrscheinlich fallenlassen. Für die vergangene Nacht hatte Schmidt durch seine Party ein tadelloses Alibi. Graumann war in seiner Dienststelle angelangt. Im Sekretariat wurde er von Laufer empfangen, der vor Aufregung, ihm das Neueste mitzuteilen, nicht einmal Graumanns Gruß erwiderte. Was Laufer seit etwa zehn Minuten beschäftigte, war die – eigentlich kaum überraschende – Tatsache, daß ein Tausendmarkschein aufgetaucht war, der die Seriennummer der gestohlenen Scheine trug. Graumann ließ sich aus dem Mantel helfen, fragte, ob Mehler ein Protokoll über das Verhör von Fräulein Langner geschrieben habe und ob er das Mädchen sprechen könne. Als er erfuhr, daß Fräulein Langner nach Hause geschickt worden war, konnte er nur mit Mühe seinen Unwillen unterdrücken. Da der Assistent ihm auch keine Nachricht über den Ausgang des Verhörs hinterlegt hatte, brummte der Kommissar verärgert vor sich hin, daß er Mehler wohl wieder einmal die Leviten lesen müsse. Erst jetzt wandte er sich an Laufer und bat ihn in sein Zimmer. Laufer konnte jedoch nur mitteilen, daß man von der Sparkasse am Lindenplatz angerufen und mitgeteilt habe, kurz nach Öffnung der Schalter sei einer der gesuchten Tausendmarkscheine eingezahlt worden. „Habt ihr schon einen Mann hingeschickt?“ fragte Graumann. 145
Laufer verneinte, man habe erst warten wollen, bis der Herr Kommissar zum Dienst erscheine, zumal Mehler kurz vorher das Haus verlassen habe, sonst hätte man sich an ihn gewandt. Graumann nickte und beauftragte Laufer, einen Wagen zu bestellen. Der Kommissar ließ sich zufrieden in seinen Schreibtischsessel sinken. Der Fall lief. Er hatte kaum damit gerechnet, so schnell einen der gestohlenen Scheine aufzustöbern. Offensichtlich hatte der Täter das Geld sehr nötig gebraucht. Hoffentlich kannte man auf der Sparkasse den Einzahler und hatte den Schein nicht erst bemerkt, nachdem man nicht mehr feststellen konnte, von wem er stammte. Graumanns Telefon summte. Er nahm ab. „Ja, ich komme“, sagte er, legte auf und verließ das Zimmer. Nach knapp halbstündiger Fahrt hatten sie die Sparkasse erreicht. Graumann wurde vom Leiter empfangen. Er mußte nicht lange warten, bis die Kassiererin, ein blondes junges Mädchen, zur Tür hereinkam, ihn unbefangen grüßte und sich nach der Aufforderung durch ihren Chef in einen Sessel setzte. „Das wichtigste“, erklärte ihr Graumann, „ist für mich, ob Sie die Person des Einzahlers ermitteln konnten.“ Ohne sich besinnen zu müssen, antwortete sie, daß sie seit der Bekanntgabe der Nummern der gestohlenen Scheine jeden Tausendmarkschein überprüfe, sobald einer an ihrer Kasse eingezahlt werde. Ihr Chef nickte ihr beifällig zu und beteuerte dem Kommissar eifrig, sie würden die Polizei unterstützen, so gut es ihnen möglich sei. „Ich habe also auch sofort die Nummer dieses Scheins mit denen auf meiner Liste verglichen“, schilderte das Mädchen weiter und schob Graumann den Tausender über den Tisch. 146
Das Mädchen wartete ab, bis Graumann den Schein kontrolliert hatte und zurückgab, dann fragte es den Chef: „Darf ich den Namen nennen?“ „In diesem Fall haben wir selbstverständlich der Polizei alles zu sagen“, versicherte der Leiter. Und das Mädchen erzählte, daß der Schein von der Lebensmittelhandlung Köller eingezahlt worden sei. Und zwar von Frau Köller persönlich. „Wo finde ich das Lebensmittelgeschäft?“ fragte Graumann. Das Mädchen beschrieb den Weg. Er könne zu Fuß hingehen, es sei noch am Lindenplatz, dicht am Wannsee. Dieses Lebensmittelgeschäft beliefere vor allem die Villenhaushalte. Da die Kunden bei Großaufträgen ziemlich viel Rabatt bekämen, habe die Firma Köller regen Zuspruch. Graumann bedankte sich und ging zur nächsten Querstraße. Hinter den Scheiben einer glänzenden Ladenfront türmten sich Konserven, und in einer weiträumigen Halle waren langgestreckte Regale zum Bersten mit allen möglichen Waren gefüllt. Um diese frühe Tageszeit war wenig Betrieb in der Kaufhalle. Der Kommissar wandte sich an eine der Kassiererinnen und fragte, ob er Frau Köller sprechen könne. Er wurde in ein Vorzimmer geführt, wo ihn eine zuvorkommende und gepflegte Sekretärin empfing. „Wen darf ich melden?“ fragte sie. Graumann lächelte höflich. „Mein Name wird Frau Köller wenig sagen, aber richten Sie ihr aus, es sei sehr dringend.“ Das Mädchen verschwand und kam bereits nach wenigen Sekunden zurück. „Bitte sehr!“ sagte es, und Graumann war im Büro, das sich in nichts von anderen Büroräumen unterschied, die er zu Dutzenden kannte. Frau Köller mochte Anfang der Vierzig sein, etwas rundlich, mit sehr vielen Fältchen um den Augen. Sie 147
erhob sich und bat Graumann freundlich, Platz zu nehmen. Als er sich auswies, zuckte kein Muskel in ihrem Gesicht. Sie drückte lediglich auf den Knopf ihrer Sprechanlage und sagte: „Ich möchte jetzt nicht gestört werden.“ Dann blickte sie Graumann abwartend an. „Es tut mir leid“, begann der, „daß ich Sie belästigen muß, aber mein Dienst läßt mir keine andere Wahl.“ Er räusperte sich. „Ich möchte Sie nicht lange aufhalten und werde es kurz machen. Durch Ihre Hände geht täglich sehr viel Geld …“ Graumann bemerkte, wie sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen von Frau Köller vertiefte, und er spürte, daß er wohl nicht den glücklichsten Anfang gefunden hatte. Er sprach weiter: „Ich könnte mir denken, daß bei Ihrem großen Kundenkreis sehr viele Bestellungen mit Scheck beglichen werden …“ Der Blick von Frau Köller wurde streng und abweisend. „Nun ja“, sagte Graumann, dem diese Wandlung im Gesicht der Frau nicht entgangen war, „mich interessiert nicht so sehr der Scheckverkehr als vielmehr die Tatsache, daß Sie täglich sehr viel Bargeld einnehmen.“ Er schob eine Pause ein und fragte dann: „Haben Sie nicht die Befürchtung, es könnten sich unter den Scheinen Fälschungen befinden?“ Frau Köllers Miene entspannte sich, und Graumann lächelte verschmitzt. Geschäftsleute hatten wahrscheinlich stets ein schlechtes Gewissen, wenn es um Geld ging. „Um zur Sache zu kommen“, sprach Graumann, „wir suchen gefälschte Tausendmarkscheine und würden Sie bitten, falls Sie zur Zeit solche großen Scheine haben, sie mir zur Prüfung vorzulegen.“ Frau Köller atmete erleichtert auf und sagte in ihre Sprechanlage: „Bitte lassen Sie sofort alle Kassen überprüfen, ob sich Tausendmarkscheine bei uns befinden. 148
Wenn ja, dann möchte ich sie sehen.“ Sie drehte sich Kommissar Graumann zu: „In Ordnung?“ „Nicht ganz“, sagte Graumann. „Haben Sie vielleicht welche hier in Ihrer Kasse? Ich könnte mir denken, es wäre für Sie unangenehm, beim Ausgeben womöglich Schwierigkeiten zu bekommen.“ Frau Köller lachte. „Ich würde Ihnen gern zu einem dieser Scheine verhelfen, wenn sich einer bei mir befände. Aber ich besitze zur Zeit keinen.“ „Vielleicht hatten Sie vor kurzem einen und könnten mir sagen, an wen Sie ihn weitergegeben haben?“ entgegnete Graumann. „Aber wo denken Sie hin“, beteuerte Frau Köller. „Diese Scheine fallen auf. Man weiß bestimmt, wann man einen ausgibt.“ „Na, überlegen Sie mal“, sagte Graumann zweideutig. Frau Köller warf verstohlen einen Blick auf den Kommissar. „Natürlich“, rief sie aus. „Bald hätte ich es doch vergessen. Gestern hatte ich ja einen Schein bekommen.“ „Und wo ist er jetzt?“ „Ich habe ihn heute morgen zur Bank gebracht“, sagte Frau Köller bestürzt. „Ist etwas mit ihm?“ Und stockend: „War – er – vielleicht falsch?“ Graumann wurde durch ein Klopfen an der Tür der Antwort enthoben. „Bitte“, rief Frau Köller. Die Sekretärin trat ein und sagte, daß sich in Kasse 4 ein Tausendmarkschein befinde. Fräulein Müller, die dort kassiere, habe ihn gleich mitgebracht. „Zeigen Sie dem Herrn Kommissar den Schein“, sagte Frau Köller. Graumann nahm dem Mädchen den Schein aus den sorgfältig manikürten Fingern, und atemlos starrten alle 149
auf den Kommissar, der den Schein gegen das Licht hielt, um die Komödie mit den Fälschungen weiterzuspielen. Dann trat er ans Fenster, nahm den Zettel mit den gesuchten Nummern aus der Jackettasche und verglich. Er faltete den Zettel wieder zusammen, drehte sich zu den Frauen, die ihn nicht aus den Augen gelassen hatten, und sagte: „Er ist echt!“ Langsam ging er wieder zum Sessel, und die beiden Mädchen verließen das Zimmer. „Ich hatte schon die schlimmsten Befürchtungen“, sagte Frau Köller erleichtert. „Dann war dieser Schein, den ich heute morgen zur Bank brachte, sicher auch keine Fälschung.“ Sie lachte. „Er stammte nämlich von Herrn Bankdirektor Schmidt.“ Graumann ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. „Meinen Sie Herrn Schmidt von der Bank am Grünen Eck?“ „Ganz recht. Es wäre ja zu lustig, wenn ausgerechnet er mir einen gefälschten Schein gebracht hätte.“ „Das wäre wirklich lustig“, sagte Graumann. Frau Köller, die den ernsten Ton in Graumanns Stimme überhörte, plauderte weiter. Sie erzählte, daß Herr Schmidt gestern gemeinsam mit einer charmanten jungen Dame die Waren ausgesucht habe. Und zwar wollte er eine Party geben. Sie habe ihn selbst durch die Halle begleitet und anschließend im Büro empfangen, um seine Extrawünsche entgegenzunehmen. Er habe viele gehabt, so daß der Tausendmarkschein … Sie unterbrach sich und sagte, als ob sie über ihre Redseligkeit erschrocken sei: „Mein Gott, ich komme ja viel zu sehr in die Einzelheiten. Sicher werden der Herr Kommissar wenig Zeit haben.“ Graumann beruhigte sie und fragte, ob sie mehr über diese junge Dame wisse. 150
„So genau kenne ich die Verhältnisse der Familie nun auch wieder nicht“, wich Frau Köller aus. Graumann ahnte, daß er von ihr kaum mehr erfahren würde, als sie ihm bereits gesagt hatte, selbst wenn er noch weitere Fragen stellen würde. Er verabschiedete sich und ging zu seinem Wagen. Inzwischen war es elf Uhr geworden, der Kommissar überlegte, ob er direkt zu Schmidt fahren oder abwarten sollte. Nach den letzten Ermittlungen konnte er Schmidt doch nicht aus dem Kreis der Verdächtigen entlassen und mußte auch die Kontrolle weiterführen. An einer Telefonzelle ließ er halten und rief in der Bank für Handel und Industrie an. Herr Schmidt sei noch nicht da, wurde ihm mitgeteilt, man wisse auch nicht, wann er komme. Graumann fuhr zum Restaurant „Spreeperlanta“. Er hatte vergessen, in welcher Straße Schmidts Freundin wohnte, wußte aber den Weg dorthin von der Gaststätte aus. Nach fünfundzwanzig Minuten Fahrt stapfte der Kommissar die zwei Stockwerke zur Wohnung von Schmidts Freundin hoch und klingelte an der Tür mit dem Schild Loreen Bucky. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Nach etwa drei Minuten, während der Graumann abwechselnd geklingelt und geklopft hatte, glaubte er ein leichtes Scharren zu vernehmen. Er merkte, wie ihn jemand durch das Guckloch beobachtete. Ein Riegel schnappte, und die Tür wurde einen Spalt geöffnet, gerade so weit, wie es die Sperrkette zuließ. Ein dunkles Auge schaute unter einer langen Haarsträhne hervor Graumann prüfend an. „Was wollen Sie?“ fragte eine leise Stimme. „Fräulein Lore Meier?“ „Können Sie nicht lesen?“ „Kriminalpolizei!“ Graumann zeigte seinen Ausweis. 151
„Na, dann wird’s schon stimmen mit Lore Meier. Was wollen Sie von mir?“ „Zunächst möchte ich nicht vor der Tür stehenbleiben“, sagte Graumann. Das Auge verschwand, die Kette klirrte, und die Tür tat sich auf. „Kommen Sie ’rein.“ Fräulein Meier strich mit einer kurzen Bewegung ihre platinglänzenden langen Haare zurück. Um die großen, dunklen Augen herum war leicht verschmiert die Tusche vom vergangenen Abend haftengeblieben, während die sorgfältig und kräftig nachgezogenen und zu den Schläfen hin verlängerten Augenbrauen die Nacht gut überstanden hatten. Die silberglänzende Auflage der Augenlider, die grelle Schminke der Lippen wirkten am Morgen aufdringlich. Trotzdem betrachtete Graumann das Gesicht, das unter dem Make-up seine Jugendlichkeit nicht verloren hatte, mit Wohlgefallen. Das Mädchen ging voran in die Wohnstube. Es hatte ein durchsichtiges kurzes Nylonhemd an. Die schlanken Beine steckten in reichverzierten, mit feinen Goldfäden durchwirkten Pantoffeln. Eilig sammelte es Strümpfe, Büstenhalter und die Unterwäsche auf, die verstreut über den Sesseln ausgebreitet waren, und ließ das Rollo hochschnippen. Bisher hatte keiner ein Wort gesagt. Loreen verschwand im Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Als sie wieder erschien, sagte sie: „Ich hoffe, Sie werden sich nicht lange aufhalten. Da Sie mich geweckt haben, möchte ich mich auch gleich ankleiden; ich mag es nicht, im Bett herumzuliegen, sobald ich wach bin.“ Graumann enthielt sich jeglichen Kommentars. Sie warf sich einen zarten blauen Morgenrock über, der nicht das geringste verbarg, setzte sich unbekümmert, die Beine übergeschlagen, in den Sessel und zündete sich eine Zigarette an. 152
„Sie kennen Herrn Schmidt schon lange?“ „Lange ist übertrieben. Sind Sie nur deshalb gekommen?“ „Vielleicht.“ „Dann muß ich Sie enttäuschen. Sie werden nicht viel Sensationelles erfahren. Ist er in einen Mord verwickelt?“ fragte sie leichthin, um Graumann zu zeigen, daß sie das Gespräch nicht allzu ernst nahm. Sie stand auf, ging ins Bad und prüfte das Wasser. „Ich wünschte, Sie hörten mir etwas aufmerksamer zu“, sagte Graumann tadelnd. Das Mädchen kam aus dem Bad, kramte im Schrank und suchte Wäsche heraus. „Ich bin ganz Ohr“, versicherte Loreen. Graumann fand sie in ihrer burschikosen Art angenehm aufreizend. Vielleicht war das der Grund, warum er noch nicht lospolterte. „Herr Schmidt bezahlt Ihnen diese Wohnung. Wissen Sie, woher er das Geld dazu nimmt? Er hat schließlich noch andere kostspielige Verpflichtungen.“ Loreen lächelte Graumann an. „Ich habe mich noch nie um Herrn Schmidts finanzielle Angelegenheiten gekümmert“, sagte sie und kramte dabei weiter im Schrank. „Ich hätte auch nicht die Zeit dazu. Schließlich arbeite ich gleichfalls – als Fotomodell. Und das ist anstrengend genug.“ „Natürlich.“ Graumann unterdrückte den Spott in der Stimme. „Ich sehe es.“ Loreen quittierte mit einem Lächeln, sie überhörte geflissentlich die Zweideutigkeit. Endlich schien sie die passende Garnitur gefunden zu haben. „Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich mich während des Gesprächs bade?“ fragte sie und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, im Bad. 153
Graumann blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen, und wenn er ehrlich war, hatte er eigentlich nichts dagegen einzuwenden. „Dieses Fest vergangene Nacht war auch nicht gerade billig“, sagte er. „Veranstaltet er öfter solche Partys?“ „Wenn er gut bei Kasse ist, ja.“ Sie hatte die Tür offengelassen. Da die Fliesen ihr Bild widerspiegelten, konnte Graumann undeutlich sehen, wie Loreen in die Wanne stieg und in einem Schaumberg verschwand. Er strich sich unruhig über den blanken Schädel und fragte: „Und gestern war er gut bei Kasse?“ Loreen merkte, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Sie antwortete aus ihrem Schaumberg heraus: „Eigentlich hatte er noch nie irgendwelche Geldschwierigkeiten.“ „Mit Ausnahme der letzten Monate.“ Loreen biß sich auf die Lippen. Das Gespräch schien ernster zu werden, als sie wahrhaben wollte. In der Tat waren gewisse Geldverlegenheiten bei Schmidt nicht abzustreiten. Laut sagte sie: „Ich habe nichts davon bemerkt.“ „Das glaube ich“, sagte Graumann aus der Stube. „Schließlich hat Herr Schmidt in Ihrer Gegenwart erst gestern wieder mit Tausendmarkscheinen um sich geworfen.“ „Sie übertreiben“, rief Loreen lachend zurück. „Ein Tausender macht noch keinen Reichen arm.“ „Wenn er gefälscht ist, gewiß nicht“, entgegnete Graumann. „Was sagen Sie da?“ Graumann sah, wie sie aus ihrem Schaumberg hochfuhr. „Gefälscht?“ fragte sie, als ob sie nicht richtig verstanden hätte. 154
Graumann beobachtete lächelnd, wie das Mädchen eilig aus der Wanne stieg, sich flüchtig in ein Badetuch wickelte und in die Stube gestürzt kam. „Wissen Sie das genau?“ „Sonst wäre ich wohl nicht hier“, sagte Graumann. Das Mädchen rannte zum Schrank, zog ein Bündel Geldscheine aus ihrer Handtasche und streckte es Graumann hin: „Und diese?“ fragte sie atemlos. „Sind das auch Blüten?“ Graumann nahm das Geld und zählte die Scheine. Das Mädchen verfolgte seine Handgriffe, ohne darauf zu achten, daß ihr Kampf mit dem Badetuch, das recht knapp bemessen war und immer wieder von ihren Schultern rutschte, ein ohnmächtiges Unterfangen war. Graumann registrierte die Anstrengungen mit einem Lächeln und beeilte sich nicht im geringsten. „Siebenhundertfünfzig“, sagte er. „Und wenn sie nun falsch wären?“ Loreen erschrak. „Woher haben Sie das Geld?“ fragte Graumann. „Aus dem Kasino, dem Lotos-Kasino. Wir haben vorgestern groß gewonnen. Einen Tausender und diese siebenhundertfünfzig Mark.“ Enttäuschung spiegelte sich in ihrem Gesicht. Und wütend sagte sie: „Als Bankdirektor hätte er das merken müssen.“ „Finden Sie das nicht seltsam?“ fragte Graumann lauernd. Loreen kauerte sich auf einen Sessel. „Muß der Tausender ersetzt werden?“ „Wenn Sie uns helfen, die Spur des Tausendmarkscheins zurückzuverfolgen, so daß wir an denjenigen herankommen, der diese Scheine in Umlauf setzt, dann nicht.“ Und um sich ganz genau zu versichern, fragte Graumann: „Sie irren sich bestimmt nicht? Sie haben den Tausendmarkschein im Kasino bekommen?“ 155
„Natürlich“, sagte Loreen barsch. „Oder glauben Sie, ich lüge?“ Sie bemerkte plötzlich Graumanns Blick auf ihren spitzen Brüsten, von denen das Badetuch geglitten war, und schob es mit einem unwirschen Ruck nach oben. Eilig stand sie auf und ging ins Bad zurück. „Darf ich von hier aus telefonieren?“ fragte Graumann, dem es um dieses rasche Ende der Vorstellung leid tat. „Bitte“, sagte Loreen abweisend. „Sie waren aber vorhin netter.“ „Wenn Sie so unvermittelt siebenhundertfünfzig Mark verlieren, sind Sie bestimmt auch nicht erfreut.“ „Noch ist nichts verloren“, tröstete Graumann, ließ sich Schmidts Telefonnummer sagen und wählte. Loreen verhielt beim Ankleiden. „Ich konnte Sie nicht in der Bank erreichen“, sprach Graumann, als er die Stimme des Filialleiters vernahm. „Ich hätte einige dienstliche Fragen an Sie, eigentlich mehr eine Formsache. – Nein, leider nicht telefonisch. Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie zu mir bitte oder vielmehr zu Fräulein Loreen. – Ja, ich bin schon bei ihr.“ Graumann lauschte angestrengt in den Hörer. Plötzlich wurde er ihm aus der Hand gerissen. „Stell dir vor“, schrie Loreen aufgeregt. „Wir müssen sofort zum Kasino, uns beschweren, Schadenersatz verlangen, wir …“ Graumann nahm ihr sanft den Hörer aus der Hand. „Das besprechen wir nachher, sobald Herr Schmidt hier ist.“ Er legte auf und drohte: „Solche Späße habe ich gar nicht gern.“ „Ich weiß genau, daß er den Schein dort bekommen hat“, beharrte das Mädchen. „Ich war dabei. Meistens gehen wir zusammen ins Kasino. Er hatte vorgestern so viel gewonnen, daß er schon gegen Mitternacht seine 156
Spielmarken einlöste. Wir gingen anschließend noch zu mir, und da dachten wir, eigentlich wäre dieser Gewinn ein Grund, eine Party zu veranstalten. Außerdem hatte er ja allen Grund zum Feiern, da er weiterhin Boß der Bank bleibt.“ Sie zählte verstimmt die Geldscheine, die auf dem Tisch herumlagen. „Und was soll ich mit den Blüten anfangen?“ fragte sie. „Einpacken“, schlug Graumann vor. Ihr Gesicht drückte Zweifel aus. Sie wußte nicht recht, wie sie Graumanns Worte deuten sollte. „Nun stecken Sie sie schon ein“, redete er ihr ungeduldig zu. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe“, sagte sie pfiffig, „sind die Scheine echt.“ „Davon habe ich nichts gesagt“, entgegnete Graumann. Eilig verstaute sie den Packen in ihrer Handtasche. „Wenn Sie sich nicht sofort anziehen“, drohte Graumann scherzhaft, „könnte es eine Eifersuchtsszene geben, wenn Herr Schmidt hier auftaucht. Sicher mag er es nicht, wenn Sie einen Kriminalbeamten mit einem Fotografen verwechseln und im Neglige …“ Sie lachte übermütig, summte einen Schlager vor sich hin und zog sich im Bad an. „Sie sind wirklich der netteste Kommissar, den ich bisher kennengelernt habe“, schmeichelte sie. „Schade, daß Sie im Dienst sind.“ „Dem würde ich zustimmen“, murmelte Graumann, doch so leise, daß sie es nicht hören konnte. Er stand auf und ging zum Fenster. „Darf ich mir eine Zigarre anstecken?“ „Wenn Sie möchten.“ Loreen trat aus dem Bad. „Ich kann Ihnen auch einen Kaffee filtern.“ „Wenn Sie einen mittrinken?“ 157
„Natürlich, ich trinke jeden Morgen einen Mokka, rabenschwarz und bitter.“ „Na, so stark braucht er nicht zu sein.“ Graumann folgte ihr in die Küche. Als Schmidt kam, bat Graumann, sich mit dem Leiter in die Stube zurückziehen zu dürfen. Obwohl es Loreen nicht recht war, wußte sie, daß sie nichts dagegen machen konnte. Graumann begann ohne Umschweife. „Ich wollte von Ihnen wissen, woher der Tausendmarkschein stammt, mit dem Sie gestern bei Köller bezahlt haben.“ „Den hatte ich seit einigen Wochen in meiner Brieftasche, sozusagen eiserner Bestand.“ „Und wie, meinen Sie, kommt Fräulein Loreen zu der Auffassung, er sei aus dem Lotos-Kasino?“ „Ausgeschlossen!“ wehrte Schmidt ab. „Das muß ein Irrtum von Loreen sein.“ „Selbstverständlich glaube ich Ihnen, daß der Leiter einer Bank nicht in einem Spielkasino verkehrt“, lenkte Graumann ein. „Bloß, wie erklären Sie sich dann, daß auf diesem seit Wochen in ihrer Brieftasche befindlichen Geldschein die gleiche Nummer zu finden ist wie auf einem der Scheine, die aus Ihrer Bank geraubt wurden?“ Schmidt zuckte wie unter einer Ohrfeige zusammen. „Leugnen ist zwecklos.“ Schmidt nickte niedergeschlagen. „Es gereicht dem Leiter einer Bank nicht unbedingt zur Ehre, wenn er in einem Spielkasino bekannt ist“, erwiderte Schmidt. „Darum wollte ich es abstreiten. Doch wir können es im Kasino überprüfen.“ „Einverstanden“, sagte Graumann. „Fahren wir los. Ich hoffe nur, Sie können nachweisen, daß Sie den Schein dort tatsächlich erhalten haben.“ 158
Das Lotos-Kasino war geschlossen, aber auf Schmidts Drängen wurden sie eingelassen. Als er Kommissar Graumann vorstellte und auf sein Anliegen zu sprechen kam, wurden die Mienen der Herren plötzlich starr und sachlich. Keiner konnte sich erinnern, ob Herr Schmidt vorgestern überhaupt das Lotos-Kasino besucht hatte oder nicht. Selbstverständlich bestätigte man, daß Herr Schmidt des öfteren hier sei, schließlich kenne man sich gut, aber ob das nun gerade vorgestern abend war? Schmidt sah sich hilflos nach Graumann um, dann machte er einen letzten Versuch, jemanden zum Reden zu bringen. „Sie hatten mir die Talons eingelöst“, sagte er zu einem älteren Herrn. Dieser lächelte bedauernd. „Ich weiß, daß Sie schon des öfteren bei uns waren“, sagte er zurückhaltend, „aber an jenem Abend? Wir haben regen Zuspruch, und Sie wissen ja selbst, daß man dann nicht auf alles und jeden achten …“ Schmidt wandte sich ab. „Gehen wir“, sagte er zu Graumann. Der Kommissar vermutete jedoch eine Fährte. Hier war einer der Schnittpunkte, die dem Fall eine besondere Richtung geben konnten. Er mußte herausfinden, ob Schmidts Schein im Kasino ausgezahlt worden war. Vielleicht waren die anderen Scheine ebenfalls nicht weit. „Ich möchte Sie gern allein sprechen“, sagte Graumann zu dem Herrn mit dem abweisenden Gesicht. „Bitte, wenn Sie mir folgen wollen.“ Bereitwillig ging er durch eine Flügeltür voran, durch den Spielsaal, der nach kaltem Rauch und altem Plüsch roch. Sie liefen einen kurzen Gang entlang, bis er eine Tür aufschloß und Graumann in einen Büroraum bat. 159
„Setzen Sie sich, bitte.“ Er wies auf einen der schweren Sessel. Graumann wollte nicht viel Zeit verlieren. „Ihr Name?“ „Sonnmeier.“ Der Herr ließ sich ebenfalls in einen Sessel gleiten. „Ich brauche Sie wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, Herr Sonnmeier“, sagte Graumann einleitend, „daß es für Sie die unangenehmsten Folgen haben kann, wenn Sie die Polizei nicht unterstützen. Dies kann bis zur Schließung Ihres Kasinos führen.“ „Sie sagen mir nichts Neues“, antwortete Herr Sonnmeier gelangweilt. „Sie wissen, daß der Tausendmarkschein, den das Kasino Herrn Schmidt ausgehändigt hat, gefälscht ist.“ Herr Sonnmeier lächelte. „Sie können mir glauben, daß wir jeden gefälschten Tausendmarkschein herausfinden würden, den uns jemand in Zahlung geben wollte. Schließlich gehört das mit zum Geschäft.“ „Es war eine meisterhafte Fälschung“, entgegnete Graumann. Sonnmeiers Lächeln verstärkte sich, wurde aufreizend. Graumann spürte, daß er gegen diesen gerissenen Fuchs nichts ausrichten konnte, solange er sich mit der Fälschungsgeschichte herumschlagen würde. „Nun gut“, sagte Graumann kurz entschlossen. „Lassen wir die Sache mit den Blüten.“ „So gefallen Sie mir schon besser“, lobte Sonnmeier. „Unter Experten sollte man Unehrlichkeit und Finten vermeiden. Es geht Ihnen um Tausender, die echt sind. Aber ich befürchte, Sie sind hier am verkehrten Platz.“ Sein Ton wurde vertraulicher. „Wir haben sehr ungern mit der Polizei zu tun. Ein Wink, der uns nichts kostet 160
und Ihnen wertvolle Hilfe leisten kann, sollte zwar immer drin sein. Doch in diesem Fall wüßte ich nicht, wie ich Sie unterstützen könnte.“ „Wieviel hat Schmidt insgesamt gewonnen?“ Sonnmeier lächelte freundlich und nachsichtig. „Ich kann mich nicht erinnern, daß er gewonnen haben soll“, entgegnete er sanft. „Sehen Sie, Herr Schmidt ist eine durchaus respektable Persönlichkeit, die jeden Tag mit großen Summen zu tun hat. Es dürfte einem solchen Mann nicht schwerfallen, an Gelder heranzukommen – ich weiß ja nicht, welche Sie suchen – und dann der Polizei zu erzählen, er habe in einem Kasino gewonnen. Ich könnte ihm diese Ausrede nicht einmal übelnehmen, wenn er nicht ausgerechnet unser Kasino angegeben hätte.“ „Danke, dies reicht mir, Herr Sonnmeier“, sagte Graumann kurz und stand auf. „Aber was ist denn?“ fragte Sonnmeier, der Graumanns Stimmungsumschwung nicht sofort verstand. „Wenn ich Ihre Ausführungen richtig interpretiere“, sagte Graumann, „dann war Herr Schmidt vorgestern zwar hier – sozusagen, um ein Alibi vorweisen zu können –, hat aber von Ihnen keineswegs den Tausendmarkschein bekommen, sondern von irgendeinem anderen.“ Sonnmeier nickte bestätigend. „Ganz recht.“ „Dann suchen Sie sich nicht gerade mich aus, der Ihnen das glauben soll“, sagte Graumann. „Oder bemühen Sie sich wenigstens, die Schuld nicht ganz so plump auf einen anderen zu schieben.“ Er ging zurück zum Vestibül. „Wir gehen“, sagte er. Vor dem Haus verabschiedete er sich kurz. Die Fragen des Filialleiters nach dem Ausgang des Gesprächs überhörte er geflissentlich. Er schlug 161
die Tür des Wagens hinter sich zu und ließ Schmidt und Loreen in einiger Verwirrung stehen. „Zum Mittagessen“, befahl er, und der Fahrer gab Gas. Die Lage blieb für Graumann ziemlich unklar. Tatsache war, daß Schmidt zwar das Kasino besucht hatte, aber beide Parteien bestritten, den Schein ursprünglich in Besitz gehabt zu haben. Beide wußten, daß es sich nicht um eine Fälschung handelte. Die logische Schlußfolgerung für Sonnmeier daraus: Wenn sich die Kriminalpolizei damit beschäftigte, mußte er gestohlen sein. Ein guter Grund, andeutungsweise die Schuld auf Schmidt zu lenken. Frage: Tat Sonnmeier das aus Vorsicht, aus Selbsterhaltungstrieb, oder wußte er mehr über den Schein? Zweite Frage: Steckten diese Loreen und Schmidt unter einer Decke? Daß ein Leiter, dessen Bank ausgeraubt worden war, nicht jeden Tausender genau prüfte, den er in der Folgezeit in die Hände bekam, hielt Graumann für unwahrscheinlich. Somit lastete der größere Verdacht auf Schmidt. Er hätte die Polizei sofort benachrichtigen müssen, statt dessen kam die Meldung von einer völlig anderen Stelle.
162
15 Während der Kommissar die Ermittlungen im LotosKasino führte und anschließend zu Hause in Ruhe sein Essen einnahm, erregte eine Neuigkeit die Dienststelle Graumanns. Mehler hatte dafür gesorgt, daß sie die Runde machte. Zunächst ließ er nur Andeutungen fallen, bei diesem und jenem erzählte er mehr, so daß schließlich nur einer dieses bemerkenswerte Untersuchungsergebnis der daktyloskopischen Abteilung nicht kannte: Graumann. Mehler legte Wert darauf, ihm das persönlich mitzuteilen, um sich wieder als gut unterrichtet zu erweisen. Gute Informationen waren seiner Meinung nach wichtige Schritte zu Erfolgen. Darum nahm er nicht nur Verhöre sehr ernst – er entlockte den Leuten noch Aussagen, wenn andere Kriminalbeamte schon längst aufgegeben hatten –, sondern war auch sonst ein aufmerksamer Beobachter. Er schenkte selbst solchen Dingen Aufmerksamkeit, die ein durchschnittlicher Beamter kaum beachtete, weil sie ihm für den jeweiligen Fall nicht sehr nützlich erschienen. Ein Bild ergibt sich erst dann, pflegte Mehler zu sagen, wenn ich so viele Eindrücke und Fakten habe, daß ich auswählen und austauschen kann, um die richtige Variante herauszubekommen. Er haßte nichts mehr, als aus zwei, drei Andeutungen oder Vermutungen eine Linie entwickeln zu müssen. Erst nach ausgiebigen Voruntersuchungen wagte er, sich eine Theorie zurechtzulegen, die dann meist nicht leicht zu entkräften war. Was den Raubüberfall am Grünen Eck betraf, so schien ihm nach dem Verhör von Fräulein Langner ziemlich festzustehen, daß der Kassierer kein Komplice des 163
Täters war. Mehler war überzeugt, daß Fräulein Langner und Herr Korf tatsächlich ein – wenn auch etwas seltsames – Liebespaar waren. Da Mehler noch nichts von den neuesten Recherchen seines Chefs und dessen Verdacht wußte, hielt er Schmidt ebenfalls für unschuldig. So unterschieden sich die Auffassungen des Kommissars und die seines Assistenten grundlegend. Aber auch in anderer Hinsicht gingen beider Forschungen auseinander. Mehler beschäftigte vor allem das Verhältnis Graumann-Goller. Seit dem vergangenem Abend ganz besonders. Welches Geheimnis steckte hinter ihrer Bekanntschaft? Die Sensation, die er heute morgen erfahren hatte, bestärkte ihn, nun auch in dieser Richtung die Untersuchungen voranzutreiben. Graumann hatte ihn mit ein paar nichtssagenden Worten abgewiesen, als er ihn wegen Goller gefragt hatte. Mehler glaubte nicht daran, daß es sich nur um eine ehemalige flüchtige Begegnung handelte. Zunächst wird er die Neuigkeiten aus der daktyloskopischen Abteilung Graumann unterbreiten, dessen Reaktion genau beobachten und die Maßnahmen abwarten, die Graumann ergreifen würde. Er, Mehler, hatte einen ganz bestimmten Verdacht. Aber noch mußte er mehr Fakten und Beweise zusammentragen, die seine Vermutungen bestätigten. Da hörte er Graumann kommen, der sich nach dem Essen wieder in die Dienststelle hatte fahren lassen, um sich den Ergebnissen der Untersuchungen zu widmen, die nach dem Einbruch in sein Haus eingeleitet worden waren. Mehler ging durch das Sekretariat und klopfte. Graumann liebte es nicht, sofort mit tausenderlei Fragen bestürmt zu werden. Was bis zu seinem Eintreffen Zeit hatte, davon war er überzeugt, konnte auch noch 164
eine halbe Stunde länger warten. Und nun wurde er heute bereits zum zweiten Mal behelligt, kaum daß er die Klinke aus der Hand gelassen hatte. „Herein“, rief er mit knurriger Stimme, und als Mehler eintrat, fragte er unbeherrscht, was er schon wieder wolle. Mehler knallte die Hacken zusammen. „Laß endlich dieses elende Knallen, sonst kriegen wir noch Krach miteinander.“ Mehler verbeugte sich lächelnd. „Ich bin heute nacht hier eingeschlafen, nachdem ich mir die Langner vorgenommen hatte. Bin jetzt jedoch wieder frisch wie ein Fisch im Wasser. Wir machen Fortschritte“, rief er, lauter als nötig. „Der Einbrecher gestern bei Ihnen und der Täter in der Bank waren die gleiche Person. Er macht Fehler. Er ist aus seinem Schlupfwinkel aufgetaucht. Vielleicht sind wir ihm schon dicht auf der Spur, wissen es nur noch nicht.“ „Wer hat dir erzählt, daß bei mir eingebrochen wurde?“ fragte Graumann, ohne auf Mehlers Neuigkeiten einzugehen. „Das pfeifen schon die Spatzen von den Dächern.“ „Soso, die Spatzen …“ Der Kommissar sah seinen Assistenten abschätzend an und hob den Hörer. Er wählte die Nummer der daktyloskopischen Abteilung, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Endlich hatte er Verbindung. „Graumann!“ meldete er sich und wetterte sofort los. „Muß denn hier alles gleich die Runde machen! Wer von euch konnte da die Schnauze nicht halten?“ Er wartete auf Antwort. „Natürlich, wie immer! Keiner war es. Ich werde zu disziplinarischen Maßnahmen greifen! Zum Donnerwetter mit eurer Quatscherei. Dann könnt ihr es ja gleich an die große Glocke hängen oder an 165
die Presse weitergeben. Soll ich euch mit der Zeitung verbinden?“ Er knallte den Hörer hin und fuhr Mehler an: „Wer hat dir das gesagt?“ Mehler, der ruhig neben ihm stand, unterdrückte seine Verwunderung über Graumanns Wutausbruch. „Ich muß es heute morgen irgendwo auf dem Gang gehört haben.“ Er tat, als überlege er. „Ich kann allerdings nicht sagen, wer es war.“ „Dann muß ich wohl deinem Gedächtnis etwas nachhelfen?“ fragte Graumann. Mehler kratzte sich hinterm Ohr und sagte; „Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Wer gibt schon so genau Obacht, wenn er ein Gespräch im Vorübergehen aufschnappt. Ich hörte nur, wie jemand sagte, es sei doch recht seltsam, daß bei einem Einbruch nichts gestohlen worden sei und der Täter nur einen Schluck Whisky getrunken habe.“ Mehler wollte damit lediglich auf den Busch klopfen. Sein Freund in der Daktyloskopie hatte nichts von einem Diebstahl erwähnt, sondern nur davon gesprochen, daß Graumann Wert auf Fingerabdrücke von der Aktentasche und der Whiskyflasche gelegt hatte. „Wie kommst du auf diesen Unsinn?“ fragte Graumann. „Jemand sagte …“ „Jemand“, unterbrach Graumann. „Wer, möchte ich wissen!“ „Es könnte einer von der daktyloskopischen Abteilung gewesen sein. Er sagte, sie hätten die Abdrücke an der Whiskyflasche und an der Aktentasche mit denen von der Bank und dem Karabiner verglichen, und sie stimmten überein.“ Graumann sprang auf. Doch da klopfte es, und schon steckte ein Beamter seinen Kopf ins Zimmer. Graumann 166
rief ihn unwirsch herein. Der Beamte berichtete, daß er auf Grund des Anrufs von Kommissar Graumann mit allen in der daktyloskopischen Abteilung gesprochen habe, die vom Einbruch wußten, keiner habe geplaudert. Der Bericht über die Untersuchungen sei in Graumanns Sekretariat abgegeben worden. Er legte die Akte auf den Tisch. „Ich habe sie vom Sekretariat gleich mitgebracht.“ Graumann entließ ihn. Dann fragte er Mehler mißtrauisch: „Warum bist du noch nicht zu Hause?“ „Ich dachte, vielleicht brauchten Sie mich“, sagte Mehler dienstbeflissen. Graumann war nicht sicher, wieweit da tatsächlich Eifer im Spiele war oder ob noch etwas anderes dahintersteckte. Da der Kommissar nichts erwiderte, wagte Mehler noch hinzuzufügen: „Ich meine, weil es immerhin recht seltsam ist, wenn bei Ihnen eingebrochen, aber nichts mitgenommen wird. Oder hat der Einbrecher doch etwas gestohlen?“ fragte er neugierig. „Natürlich hat er nichts mitgenommen. Meinst du, der klaut bei mir Porzellan?“ Graumann war etwas ruhiger geworden. „Aber was wollte er dann bei Ihnen?“ fragte Mehler. „Das bleibt deiner Phantasie überlassen“, antwortete Graumann. „Nun aber ’raus. Ich habe zu arbeiten.“ Damit zog er die Akte vom Grünen Eck aus der Tasche und vertiefte sich scheinbar in ihren Inhalt. Die Unterlagen von der daktyloskopischen Abteilung ließ er unberührt, als ob sie ihn nicht interessierten. Und das war Mehler arg verdächtig. Bemerkenswert für Mehler war weiterhin, daß Graumann die Akten vom Banküberfall mit zu Hause hatte. Da nichts gestohlen worden war, kann der Einbrecher 167
wegen der Akten eingestiegen sein und Einsicht genommen haben. Zumindest war dem Täter bekannt, daß der Kommissar mitunter noch zu Hause arbeitete. Er hatte sich informiert, wieweit der Fall aufgeklärt war, jedenfalls auf dem Papier. Das hieß, der Täter beobachtete sie genau und verfolgte jeden ihrer Schritte. Mehler zögerte, überlegte, doch da drängte Graumann, er solle nun endlich gehen. Mehler wußte, daß er die Geduld seines Vorgesetzten bis an die Grenzen strapaziert hatte, und ließ Graumann allein. Kaum hatte der Assistent die Tür hinter sich geschlossen, griff Graumann hastig nach dem Untersuchungsbericht der daktyloskopischen Abteilung. Mehlers Angaben waren hier bestätigt, vieles näher ausgeführt. Das Ergebnis beunruhigte ihn. Er erhob sich von seinem Schreibtischsessel. Mit kräftigen Schritten ging er im Zimmer hin und her, die Hände auf dem Rücken gefaltet, den Kopf nach vorn gebeugt. Er war an einem Punkt angelangt, wo er sich entscheiden mußte. Er konnte nicht mehr umhin, Goller in seine Überlegungen einzubeziehen. Auch wenn es für ihn selbst höchst unangenehm wurde, denn Goller konnte, falls er aussagte, gefährlich werden. Und er würde aussagen, sobald er in die Enge getrieben wurde, darüber bestand kein Zweifel. Die Hinweise führten in eine Richtung, die nicht vorauszusehen gewesen war. Graumann zögerte, er sträubte sich, die Nachforschungen auf diese neue Bahn zu lenken, obwohl er jetzt, nach dem Untersuchungsbericht, eigentlich einen Schlachtplan entwerfen und den Hauptangriff beginnen müßte. Und wenn es gegen Goller wäre. Die Ergebnisse waren eindeutig: Der Bankräuber und der Einbrecher waren die gleiche Person! 168
Auch Mehler war nach dem Besuch bei seinem Chef voller Unruhe. Er machte sich seine eigenen Gedanken, und die waren recht unkompliziert. Sie entbehrten nicht der Logik: Nach dem Zusammentreffen gestern abend im Hause des Kommissars und den Fingerabdrücken vom Einbruch war jetzt das wichtigste für ihn, die Beziehung des Polizisten Goller zu Graumann zu überprüfen. Er sagte im Sekretariat, er wolle nach Hause gehen, um sich auszuschlafen, schlug jedoch den Weg zum Landgericht ein. Eine ehemalige Freundin wird ihm Einblick in die Akten der 7. Großen Strafkammer verschaffen. Doch vorher – das Revier 132 lag auf dem Weg – stattete er Goller einen Besuch ab. Und dieser Abstecher hatte weitreichende Folgen, die Mehler nicht einkalkuliert hatte. Denn auch Kommissar Graumann setzte sich nach reiflicher Überlegung mit Gollers Revier in Verbindung. Er erfuhr, daß Goller infolge seines Streifschusses ins Westend-Krankenhaus hatte eingeliefert werden müssen. Es seien Komplikationen hinzugekommen. Man zeigte sich verwundert, weil das Kommissar Graumann noch nicht wisse, das habe man doch erst vor kurzem seinem Assistenten Mehler mitgeteilt. Graumann tat, als ob er nur angerufen habe, um Genaueres zu erfahren, bevor Mehler zurück sei. Ob sein Assistent sich länger aufgehalten habe, fragte er, weil er noch nicht wieder im Hause sei. Nicht sonderlich, lautete die Antwort. Er habe nur gefragt, ob Wachtmeister Goller ein Päckchen für den Kommissar habe. Natürlich habe er nichts gefunden, denn wer lasse schon ein Päckchen herumliegen? Graumann bedankte sich und legte den Hörer auf. Diesem Schnüffler wird er einen Denkzettel verpassen 169
müssen, daß ihm ein für allemal die Lust dazu verging. Plötzlich kam ihm ein äußerst unangenehmer Gedanke. Mehler hatte gestern abend Goller bei ihm gesehen, beim ersten Zusammentreffen mit dem Polizisten war er ebenfalls zugegen gewesen, und von der Sache mit der 7. Strafkammer hatte er gewiß auch etwas läuten hören. Mehlers Untersuchungen waren gegen ihn und Goller gerichtet! Graumann rief im Landgericht an, ließ sich das Archiv geben und fragte, ob sein Assistent Mehler schon da sei. Er möchte sich bitte einen Moment gedulden, bat das Mädchen, es werde nachsehen. Es rannte in den Leseraum, berichtete Mehler, der sich in die Prozeßakten vertieft hatte, hastig von Graumanns Anruf. In Mehlers Augen glomm ein triumphierendes Leuchten auf. „Sag, ich sei nicht hier. Frage aber, warum er angerufen habe und ob du mir etwas bestellen sollst, falls ich noch käme.“ Graumann erwartete ungeduldig die Antwort und war erleichtert, als er hörte, Mehler habe nicht vorgesprochen. Er befürchtete zwar nicht, Mehler könne ihm etwas anhaben, dazu war der Prozeß damals zu glatt verlaufen, und die Akte war abgeschlossen, aber es wäre ihm peinlich gewesen, einen Untergebenen zu haben, der über seine Vergangenheit mehr wußte, als er selbst für nötig hielt. „Sollte er noch auftauchen“, trug er dem Mädchen auf, „sagen Sie ihm, es habe sich erledigt, er solle die Akten in Ruhe lassen. Geben Sie ihm also bitte keine Unterlagen heraus.“ Nach diesem Gespräch ging das Mädchen zu Mehler und informierte ihn. „Ich hätte doch lieber dich heiraten sollen“, sagte Mehler. 170
Das Mädchen lachte übermütig. Es kannte ihn zur Genüge, als daß es seine Flachsereien ernst nahm. „Du Schwerenöter“, sagte es nur. „Beeil dich, damit die Akten schnellstens wieder an ihren Platz kommen. Du siehst, sie stehen unter strengster Aufsicht.“ „Das sehe ich“, stimmte Mehler schmunzelnd bei. „Du hast mir einen großen Gefallen getan. Mir helfen die Akten, Graumann etwas unter Druck zu setzen, ihm ein paar Wahrheiten zu sagen.“ Doch das Mädchen war davon nicht sehr überzeugt, „Idealist“, sagte es abfällig. „Was meinst du, wieviel Wahrheiten hier verborgen sind. Keinen interessieren sie.“ „Außer mir“, entgegnete Mehler und versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen. Das Mädchen lächelte mitleidig. Mehler klappte die Akte zu. „Jedenfalls danke ich dir. Ich will Graumann ja nicht gleich vor Gericht bringen“, sagte er, sich gleichsam entschuldigend. „Aber schließlich schadet es nichts, wenn man sich etwas über das sonderbare Vorleben seines allmächtigen Chefs informiert.“ Der Besuch im Archiv hatte ihm Klarheit über die Verbindungen zwischen Graumann und Goller verschafft. Und dies hielt er für einen großen Gewinn. Seit heute morgen hatte er einen schrecklichen Gedanken. Er fühlte sein Herz schneller schlagen, wenn er nur daran dachte. Aber er mußte seinen Vermutungen nachgehen, selbst wenn sie ihm als irre Spekulationen erschienen. Alle Anzeichen wiesen darauf hin – zumindest glaubte Mehler dies –, daß der Polizist Goller an diesem Banküberfall beteiligt gewesen sein konnte. Vielleicht war er sogar der Täter! Sowohl beim Banküberfall als auch 171
beim Einbruch in Graumanns Wohnung hatte sich Goller kurz zuvor am Tatort aufgehalten. Und in beiden Fällen waren die Fingerabdrücke die gleichen. Mehler wußte um die Gefährlichkeit seines Verdachtes. Darum sprach er ihn wohlweislich nicht aus. Erst brauchte er handfeste Beweise. Noch fehlten sie ihm. Eine Möglichkeit schien ihm, sich Gollers Fingerabdrücke zu verschaffen. Darum war er auch im Revier 132 gewesen und hatte heimlich einen Bleistiftanspitzer von Gollers Platz mitgenommen. Sollten die Fingerabdrücke mit den in der Bank und bei Graumann gefundenen übereinstimmen, war der Fall klar. Allerdings wußte er nicht, wie Graumann sich zu dieser Auflösung stellen würde. Mehler war fast sicher, daß der Kommissar den gleichen Verdacht hegte wie er. Wahrscheinlich war sich Graumann noch nicht recht schlüssig, was er machen sollte, seine Nervosität deutete darauf hin. Sicher war jedoch, der Polizist würde einiges über Graumann auspacken. Das Mädchen stupste Mehler mit dem Zeigefinger auf die Nase. „He du, wo bist du mit deinen Gedanken?“ Mehler schrak auf und lächelte verwirrt. „Soll ich dir einen Kaffee machen?“ Er hatte nichts dagegen.
172
16 Graumann ließ nochmals alle Verdachtsmomente an sich vorüberziehen. Die Fingerabdrücke vom Einbruch konnten nur die von Goller sein. Eigentlich brauchte er sich lediglich ein Koppelschloß oder etwas Ähnliches von Goller zu besorgen, und er hätte volle Gewißheit. Aber was war mit diesem Anschlag auf Goller? Falls der Wachtmeister wirklich der Bankräuber wäre, wer sollte dann auf ihn geschossen haben? – Allerdings könnte diese Tatsache erklärt werden, wenn man davon ausging, daß Goller von einem der Demonstranten nachts angeschossen worden war, als Vergeltung für die Verhaftung. Graumann stockte. Es war doch zu unwahrscheinlich. Sollte einer der Demonstranten Goller den ganzen Tag über verfolgt haben, um ihn spät in der Nacht anzuschießen? Der Kommissar ließ diesen Punkt zunächst offen. Graumann suchte nach weiteren Gegenargumenten, und er fand eins, das nicht so leicht zu entkräften war: Wenn der Einbrecher und der Bankräuber ein und dieselbe Person waren, wie es die Fingerabdrücke auszuweisen scheinen, konnte der Täter unmöglich Goller heißen. Dieser hatte für die Zeit des Banküberfalls ein einwandfreies Alibi: seine Anwesenheit bei der Demonstration. Andererseits, vom Motiv her wäre Goller das schon zuzutrauen. Seine Verbitterung darüber, daß – wie er sich ausgedrückt hatte – das Wirtschaftswunder an ihm vorübergerauscht sei, wäre ein recht schwerwiegender Grund, der den Wachtmeister zu einer solchen Tat getrieben haben könnte. Es gab viele in dieser Stadt, die gut lebten, aber doch nicht gut genug, um nicht vom Glanz und Reichtum anderer geblendet zu werden. Goller konn173
te zu ihnen gehören. Er hatte nichts erreicht, und nun suchte er auf andere Art zu Geld und Ansehen zu gelangen. Er war keine Ausnahme. Graumann beschloß, nichts übers Knie zu brechen, wenn auch die Zeit drängte. Er mußte die nächsten Schritte planen, Gollers Alibi und den Mordanschlag nochmals überprüfen. Er war nicht sicher, wieweit Goller aus dem Kreis der Verdächtigen entlassen werden durfte. Schließlich mußten sämtliche Anhaltspunkte in die Nachforschungen einbezogen werden, zumal die Aufklärung kaum Fortschritte machte. Er konnte den Fall nicht im Sande verlaufen lassen, das wäre seiner Beförderung gar nicht dienlich. Außerdem schlug dieser Mehler neuerdings Kapriolen und sagte kein Wort von seinen geheimen Recherchen. Wenn dieser mit seinen Ermittlungen schneller als er selbst vorankam – Graumann hegte keinen Zweifel, daß Mehler in seinem Ehrgeiz alle Kraft einsetzte –, dann mußte er, Graumann, unangenehme Überraschungen befürchten. Offensichtlich kümmerte sich Mehler schon viel zu intensiv um Goller. Daß der Assistent dabei hinter sein wahres Verhältnis zum Polizisten Goller gelangte und natürlich auch die Anschuldigungen kennenlernte, die man ihm wegen Mordes anzuhängen versucht hatte, war dann nur noch eine Frage der Zeit. Also mußte er selbst, Graumann, sich um Goller kümmern, bis alles geklärt war, so oder so. Der Kommissar war kaum zu diesem Entschluß gelangt, da kam eine Nachricht über Polizeifunk, die ihn aufhorchen ließ. Gesucht wurde ein Mann, der vor dreißig Minuten – Graumann sah auf die Uhr, es war fünfzehn Uhr fünfundvierzig – eine Sparkasse in Wilmersdorf ausgeraubt hatte und mit seinem Wagen, einem Opel 174
Record, entkommen konnte. Er war mit einem grünen Trenchcoat bekleidet, hatte eine Sonnenbrille auf und trug graue Handschuhe sowie eine graue Aktentasche. Der Täter war – wie beim Überfall am Grünen Eck – auf den Kassierer zugetreten, hatte ihn mit einer Waffe, dieses Mal mit einer Pistole, bedroht und leise das Geld gefordert. Es waren 20 000 Mark in der Kasse gewesen. Als der Mann aus der Sparkasse rannte, wurden Passanten aufmerksam und wollten sich ihm in den Weg stellen. Er schoß jedoch sofort los und bahnte sich so eine Gasse. Verletzt wurde niemand. Offensichtlich hatte der Räuber nur Schreckschüsse abgegeben. Der Banküberfall ähnelte dem am Grünen Eck so auffällig, daß Graumann keinen Zweifel daran hegte, hier den gleichen Verbrecher am Werk zu wissen. Der ersten kurzen Meldung folgte noch ein genauerer Bericht, wie der Überfall ausgeführt worden war. Der Täter hatte die gleiche Finte gebraucht wie in der Bank für Industrie und Handel. Nachdem er sämtliches Geld vom Kassierer bekommen hatte, verlangte er noch eine Geldrolle, die hinter dem Kassierer liegen sollte. Als dieser sich wieder dem Schalterfenster zuwandte, war der Täter verschwunden. Dies war die Sekunde, die über das Gelingen des Unternehmens entschied, denn niemand würde die Alarmanlage auslösen, solange er in eine Schußwaffe starrte, so konnte der Räuber aus der Bank entkommen. Graumann fühlte sich, als sei ihm durch diese Nachricht eine große Last von den Schultern genommen. Goller befand sich zur Zeit im Westend-Krankenhaus, hatte also mit dem Überfall nicht das geringste zu tun. Die Verdächtigungen waren falsch! Graumanns Laune besserte sich, obwohl er nun wieder genauso weit vom Täter entfernt war wie gestern. Aber er nahm das gern in Kauf. 175
Für den morgigen Vormittag plante er einen Besuch bei Goller im Krankenhaus ein. Graumann fühlte so etwas wie ein schlechtes Gewissen wegen seines allzu schnellen Verdachts. Mehler war inzwischen vom Archiv zurück. Er schlich sich in die daktyloskopische Abteilung, gab den Bleistiftanspitzer ab und wartete auf das Ergebnis. Das war enttäuschend. Man könne nichts Genaues sagen, die Fingerabdrücke des Bankräubers seien nicht mit Sicherheit festgestellt worden. Der Anspitzer war durch zu viele Finger gegangen. Mißmutig verabschiedete er sich. Eilig lief er über den Flur und wollte am Sekretariat vorüberhuschen, doch da ging die Tür auf, und Graumann kam heraus. Er schien keineswegs überrascht über ihr Zusammentreffen, sondern nahm seinen Assistenten sofort mit in sein Zimmer. Mehler forschte in der strengen, undurchsichtigen Miene Graumanns, der ihn fragte, warum er die Langner habe laufenlassen. Mehler erklärte, daß er während des Verhörs zu der Überzeugung gekommen sei, weder die Langner noch der Kassierer hätten mehr mit dem Banküberfall zu tun als er selbst oder Graumann. „Glaubst du?“ fragte Graumann. Mehler meinte trotz des ruhigen Tons einen ärgerlichen Klang in der Stimme des Kommissars zu hören. „Auf bloße Vermutungen hin entläßt du eine Person, die wir wenige Stunden vorher unter höchst verdächtigen Umständen festgenommen haben. – Für wann hattest du eigentlich deinen Urlaub eingeplant?“ Mehler erschrak. „Juli, August“, sagte er. „Mach dich darauf gefaßt, daß du ihn schon in nächster Zeit antreten wirst. Du scheinst mir ziemlich ’runter zu sein. Das Beste gegen schlechte Arbeit eines sonst 176
recht brauchbaren Mitarbeiters ist Urlaub.“ Graumann lächelte Mehler, der wie erstarrt auf seinen Vorgesetzten blickte und kein Wort hervorbrachte, freundlich an. „Wir verstehen uns, Mehler. Noch eine dieser unüberlegten Selbständigkeiten, und du erholst dich erst mal. Inzwischen habe ich den Fall aufgeklärt, du kannst dann eine neue, kleinere Sache übernehmen.“ Mehler war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Der Kassierer ist verschwunden“, sprach Graumann weiter. „Und deine nächste Aufgabe ist, diesen Mann herbeizuschaffen. Wie du das fertigbringst, ist deine Sache. Ich möchte jedenfalls schon recht bald einen positiven Bescheid von dir haben.“ Dann sagte er noch, und Mehler glaubte, eine leichte Drohung in Graumanns Stimme zu bemerken: „Ich wünsche nicht, daß du ohne meine Zustimmung weitere eigenständige Unternehmungen startest. Du hast freie Hand beim Auffinden des Kassierers, alles andere übernehme ich. Verstehen wir uns?“ „In Ordnung“, sagte Mehler, der mühsam seinen Zorn unterdrückte. „Und jetzt geh endlich nach Hause und schlaf dich aus. Morgen brauchst du nicht so pünktlich zu erscheinen.“ Mehler hatte bereits die Klinke in der Hand, als Graumann sich nochmals an ihn wandte: „Hast du dich heute schon hingelegt? Du siehst schlecht aus.“ „Ich bin nach Dienstschluß sofort nach Hause gefahren“, sagte Mehler. Graumann sah ihn forschend an, nichts verriet, daß er Mehler bei einer Lüge ertappt hatte. „Dann erhol dich gut“, sagte er, und Mehler war entlassen. Der Kommissar ließ sich Laufer und den Neuen kommen und eröffnete ihnen, daß sie die Langner, die um 177
siebzehn Uhr Feierabend hatte, auf dem Heimweg nicht aus den Augen lassen sollten. Er wollte sie aufsuchen, um mit ihr zu sprechen. Einer von beiden müsse gegen achtzehn Uhr im Espresso, hundert Meter von der Wohnung der Langner entfernt, auf ihn warten und ihm Bericht erstatten. Der Neue, er hieß Ballmeister, aber der Name war ihnen zu lang, fragte Graumann, ob er nicht allein die Aufgabe übertragen bekommen könne. „Ich möchte auf Sicherheit gehen“, antwortete Graumann, und als er Ballmeisters betroffenes Gesicht sah, klopfte er ihm wohlwollend auf die Schulter und sagte, daß es sich keineswegs gegen ihn richte, weil er erst kurz bei ihnen sei, er könne sich bestimmt noch bewähren. „Die Langner ist jetzt so etwas wie eine Schlüsselfigur“, sagte er. „Mit ihrer Hilfe müssen wir an den Kassierer herankommen. Darum diese doppelte Sicherheit.“ Nachdem die beiden gegangen waren, bestellte er Schnell zu sich. Er empfahl ihm, sich noch einige Stunden aufs Ohr zu legen. Er sollte am Abend das LotosKasino beobachten, später auch selbst hineingehen. „Um ein Spielchen zu wagen“, setzte Schnell gutgelaunt hinzu. „Was die Kripo womöglich noch bezahlen soll“, entgegnete Graumann und lachte. Nach diesem Wortgeplänkel klärte Graumann ihn über die Hintergründe des Unternehmens auf und berichtete von seinem Besuch, so daß Schnell über alle Einzelheiten informiert war, als er Graumann verließ. Pünktlich siebzehn Uhr dreißig stand der Wagen des Kommissars fahrbereit. In der Kantine nahm Graumann noch einen Imbiß zu sich und fuhr um siebzehn Uhr fünfundvierzig aus dem Tor. Auf die Minute genau 178
traf er am Espresso ein, wo Ballmeister schon auf ihn wartete. Der Bericht war kurz. Fräulein Langner hatte keine Umwege gemacht, sicher glaubte sie, nach Mehlers Versprechen nicht mehr kontrolliert zu werden. Sie war in der Kaufhalle gewesen. Bemerkenswert sei allerdings, daß sie recht viel eingekauft habe, vor allem Wurstwaren und einige Flaschen Pilsner. Entweder esse sie selbst so viel, oder aber sie erwarte Besuch. Graumann dachte daran, daß sie in der vergangenen Nacht wahrscheinlich nicht geschlafen hatte und sicher bald zu Bett gehen werde, anstatt sich Gäste einzuladen. Aber er entgegnete nichts. Immerhin war sie jung genug, vielleicht doch ohne große Mühe einige Nächte auf den gewohnten Schlaf verzichten zu können. „Laufer wartet im Hausflur von Nummer fünf, genau gegenüber der Langner“, sagte der Neue. Ein Fenster von Fräulein Langners Wohnung leuchtete blaßgelb. Graumann hatte es schon von weitem entdeckt. „Habt ihr die Büsche vor dem Haus beobachtet?“ fragte er. Der Neue verneinte. Mißbilligend musterte Graumann die lange Buschreihe, konnte aber im Vorübergehen nichts Verdächtiges entdecken. Sie betraten den Flur von Nr. 5, wo sie auf Laufer trafen. Er konnte durch die neben der Tür angebrachte Scheibe das gegenüberliegende Haus gut überblicken. „Nichts Besonderes“, flüsterte Laufer. Graumann nickte. „Ihr werdet euch die Nacht hindurch mit der Bewachung abwechseln müssen“, sagte er. „Ich vermute, daß der Kassierer nach seiner Flucht mit der Langner in Verbindung treten wird. Das heißt, wenn es stimmt, daß sie ein Liebespaar sind, wie sie heute 179
nacht ausgesagt hat.“ Als ob er seinen Zweifel daran überbrücken wollte, sagte er noch: „Wie dem auch sei, auf alle Fälle hängen sie irgendwie zusammen.“ Dann beobachtete er schweigend das Fenster, hinter dem sich undeutlich ein Schatten abzeichnete. Etwas Genaueres war jedoch nicht zu erkennen. Plötzlich ging das Licht im Flur an, und Graumann mußte sich mit seinen beiden Helfern auf die Kellertreppe zurückziehen, um nicht aufzufallen. Ein Mann kam die Treppe herab und verließ das Haus. „Etwas unruhig hier“, brummte Graumann. „Wenn einer allein im Flur bleibt“, sagte Laufer, „fällt es nicht weiter auf.“ „Gut“, sagte Graumann. „Ballmeister kann den Block von weitem bewachen. Günstig wäre es, mehr auf die Hinterseite des Hauses zu achten. Den Wagen möchte ich nicht einsetzen, er steht am Espresso unauffälliger.“ Dann sagte er unvermittelt: „Das Bild des Kassierers habt ihr?“ Sie lächelten wie über einen guten Scherz. „Man kann ja nie wissen“, brummte Graumann. „Womöglich sucht ihr jemand, den ihr gar nicht kennt.“ Dann schickte er Laufer aus dem Haus, nach wenigen Minuten wollte er folgen und Fräulein Langner besuchen. Diese hatte in der Küche, deren Fenster auf der Rückseite des Hauses war, zu tun. Sie wollte ihrem Freund unbedingt ihre Kochkünste beweisen, da er den ganzen Tag nichts Warmes gegessen hatte. Daß sie etwas schummelte und Gulasch kochte, der in der Büchse vorgefertigt war, fiel ihm sicher nicht auf. Sie hatte einige Flaschen Bier mitgebracht, denen er bereits eifrig zugesprochen hatte. Ein Weinbrand war auch im Haus, so daß es an nichts fehlte. Er hatte das Radio angestellt und 180
rauchte. Der Duft des Gulaschs ließ ihn ungeduldig werden, und er fragte, wann es endlich etwas zu essen gäbe. Schließlich sei sie nun schon lange genug zu Hause. „Wie der Herr wünschen“, rief Christine aus der Küche und servierte. Übermütig küßte er das Mädchen. „Das Essen wird kalt“, wehrte es lachend ab. Dann war eine Weile Schweigen, jeder war mit dem Essen beschäftigt. Plötzlich klingelte es. Der Kassierer fuhr hoch, auch das Mädchen war erschrocken. Sie sahen sich unschlüssig an. Es klingelte erneut. Fräulein Langner schlich zur Tür, horchte. Sie zuckte zusammen, als über ihr die Klingel schrillte. Vorsichtig schob sie die Klappe des Gucklochs zur Seite und sah genau in Graumanns Gesicht. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie schwankte und hielt sich mühsam an der Flurgarderobe fest. Der Kassierer führte sie in die Stube. „Die Kripo?“ flüsterte er; aus seiner Stimme klang wenig Hoffnung, eine andere Antwort zu bekommen. Sie nickte nur. Und der Klingelton, der jetzt anhaltend und fordernd durch die Wohnung gellte, Graumanns ungeduldiges Klopfen und die Forderung: „Machen Sie bitte auf, Fräulein Langner.“ ließen sie die Aussichtslosigkeit ihrer Situation erkennen. „Du mußt antworten“, flüsterte der Kassierer. „Sag, daß du im Bad bist, damit wir Zeit gewinnen.“ Das Mädchen nahm alle Kraft zusammen und fragte, mühsam das Zittern in der Stimme unterdrückend, was los sei. Graumann rief, sie solle endlich öffnen. „Vielleicht gedulden Sie sich, bis ich etwas angezogen habe“, erwiderte das Mädchen. „Oder glauben Sie, ich habe nur auf Sie gewartet?“ 181
„Beeilen Sie sich“, forderte Graumann und klopfte wieder. „Sie können ja die Tür einschlagen, wenn es Ihnen zu lange dauert.“ Fräulein Langner hatte ihre Sicherheit wiedergewonnen. Der Kassierer hatte inzwischen den Tisch abgeräumt und die Teller mit dem Gulasch in den Küchenschrank gestellt. „Ich verstecke mich im Bad“, flüsterte er. „Vielleicht kriegst du ihn bald los.“ Sie half mit fieberhafter Eile die letzten Spuren vom Aufenthalt ihres Freundes zu beseitigen und stellte das Gas wieder an. Alles machte den Eindruck, als ob nie jemand bei ihr zu Besuch gewesen sei. Die Bierflaschen waren verschwunden. Schnell leerte sie noch den Aschenbecher, der bis zum Rand mit Kippen und Asche gefüllt war. Dann zog sie die Bluse aus und warf sich den Morgenrock über. Graumann klopfte erneut. „Ich komme ja schon“, sagte sie unwirsch und ging langsam zum Flur. Noch ein prüfender Blick von der Tür zurück, dann öffnete sie. Die massige Gestalt des Kommissars schob sich in die Wohnung, und Fräulein Langner kam sich einen Moment völlig verloren vor. Doch dann dachte sie an ihren Freund, der sich im Bad versteckt hatte, und das gab ihr den Mut der Verzweiflung. Das wichtigste war, Graumann nicht mißtrauisch werden zu lassen, damit er nicht etwa die Wohnung inspizierte. „Ein wunderbarer Duft“, sagte Graumann, sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Kochen Sie immer zu Hause?“ Sie geleitete den Kommissar zum Sessel. „Manchmal“, sagte sie verwirrt. „Was wünschen Sie von mir? 182
Ich dachte, Ihr Assistent hat mich vergangene Nacht lange genug ausgequetscht.“ „Wer wird denn solche harten Ausdrücke gebrauchen“, entgegnete Graumann, der sich aufmerksam im Zimmer umsah. „Es kostet nichts“, sagte Fräulein Langner, „wenn man sich bei mir setzt. Ansonsten können wir ja unser Gespräch auch auf dem Flur führen.“ Graumann, der Fräulein Langners Abwehr spürte und sie nicht verärgern wollte, lenkte ein, setzte sich und sagte: „Mitunter fallen einem noch ein paar Fragen ein, wenn ein Verhör vorüber ist. Man hat alles in Ruhe überschlafen und …“ Er unterbrach sich. Das Mädchen hatte sich gesetzt, der Morgenrock war auseinandergeschlagen und ließ ihren Rock frei. Fräulein Langner spürte den Blick des Kommissars und schloß verwirrt den Morgenrock. „Und?“ fragte sie, als sei nichts geschehen. „Man hat das Bedürfnis, nochmals jenes hübsche und attraktive Mädchen aufzusuchen.“ Der Kommissar hob den Kopf und atmete tief ein. „Ich glaube, Ihr Essen brennt an“, sagte er plötzlich. „Um Gottes willen“, rief Fräulein Langner. „Ich hätte das Gas klein stellen sollen.“ Sie rannte in die Küche, wo sie die Flamme abstellte und das Fenster öffnete. Graumann war ihr langsam gefolgt. „Was sollte es denn Schönes geben?“ fragte er. „Gulasch“, sagte sie und gab sich keine Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken. „Sie sollten Ihren Gulasch in einen anderen Topf umfüllen, damit nicht alles den Geschmack nach Verbranntem annimmt“, riet Graumann unbekümmert, als gäbe es jetzt nichts Wichtigeres, als das Essen zu retten. 183
Fräulein Langner öffnete die Schranktür, um einen neuen Topf herauszunehmen. Graumann, der ihr neugierig über die Schulter blickte, eigentlich mehr aus Gewohnheit als mit besonderer Absicht, entdeckte die beiden Teller mit dem Gulasch. „Oh“, sagte Graumann. „Das Essen ist ja schon fertig, nur der schäbige Rest ist angebrannt. Das ändert die Sache sofort.“ Das Mädchen fuhr aus der Hockstellung hoch. Graumann hatte schnell hinter die Küchentür gesehen, war aus der Küche gerannt und riß den Kleiderschrank auf. „Nein“, schrie das Mädchen voller Angst, „nein!“ Sie warf sich Graumann in die Arme. Er hob sie hoch und setzte sie mit Nachdruck auf die Couch, wo sie sich weinend die Hände vor das Gesicht hielt. Mit zwei, drei Schritten war Graumann im Bad. Das Mädchen nahm die Hände vom Gesicht, sah Graumanns massige Gestalt die Tür versperren, wollte schreien, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Graumann stürzte zum Fenster, das weit geöffnet war, beugte sich hinaus und sah, wie sich der Kassierer eben aufrichtete, unter ihm lag eine zusammengekrümmte Gestalt, Ballmeister. Graumann griff zur Pistole, doch da bewegte sich Ballmeister, schnellte hoch und versetzte dem Kassierer einen Schlag, daß dieser taumelte und sich auf den Boden stützen mußte, wobei er unauffällig einen Stein ergriff. Voller Wucht schlug er auf Ballmeister ein, dann huschte er um die Hausecke. Graumann rannte nach unten, suchte Laufer im Haus Nr. 5, fand ihn aber nicht mehr. So ging er zu Fräulein Langner zurück und sagte, sie solle sich anziehen und mit ihm zur Dienststelle kommen. Wahrscheinlich sei sie doch zu früh freigelassen worden, meinte er. Sie folgte 184
ihm schweigend zum Wagen. Der Fahrer berichtete, daß er gesehen habe, wie der Neue einen jungen Mann verfolgte. Laufer hatte Ballmeister und den Kassierer ebenfalls bemerkt. Da er Graumann bei Fräulein Langner wußte, versuchte er, dem Flüchtenden den Weg abzuriegeln. Aber der Kassierer rannte seitwärts zwischen Neubaublocks hindurch und verschwand auf einer Baustelle. Der Neue und Laufer verständigten sich durch Zurufe und kämmten das Gebiet ab. Aber das war ein schwieriges Unterfangen. Die Baustelle mit ihren Maschinen, Holzverschalungen, gestapelten Steinen, den Baracken und Schuppen bot eine Unzahl von Verstecken, die der Verfolgte geschickt ausnutzte. Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. „Bleib stehen“, rief der Neue Laufer zu, „und gib acht, ob sich etwas bewegt. Ich steige auf die Baracke, dort hat man einen besseren Überblick.“ Und schon kam er auf den Kassierer zugerannt, der vorsichtig um die Ecke schlich und – da er die Bude zwischen sich und dem Verfolger wußte – davonjagte. Aber er war nicht rechtzeitig genug wieder in Deckung gegangen. „Ich hab’ ihn“, schrie der Neue und lief hinter dem Kassierer her, daß dieser seinen Vorsprung nur mit knapper Not und Mühe halten konnte. Er schlug Bogen, hetzte durch einen Rohbau und war erneut verschwunden. „Halt“, schrie Ballmeister. „Ergib dich, oder ich schieße.“ Aber nichts rührte sich. Die Finte war wirkungslos, denn der Kassierer sah, daß sich der Beamte bei seinen Worten in eine völlig andere Richtung wandte. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er so etwas wie Befriedigung. Da hörte er Ballmeister rufen, Laufer solle auf den 185
Kran steigen und auf jede Bewegung achten und sofort schießen. Der Kassierer wußte, daß er bald entdeckt würde, wenn er nicht versuchte, aus dieser Mausefalle zu entweichen. Er beobachtete, wie eine graue Gestalt den Kran hinaufkletterte und in einer Höhe von etwa fünfzehn Metern auf einer Verstrebung stehenblieb. Inzwischen hatte er den anderen aus den Augen verloren, allem Anschein nach hatte dieser seinen Standort gewechselt. Eine beängstigende Ruhe lag über der Baustelle. Er spürte, je länger er in dem großen Zementrohr hockte, wie ihn die Mutlosigkeit packte. Der Kassierer streckte vorsichtig den Kopf aus der Röhre, er glaubte, leise, tastende Schritte zu hören. Sofort kroch er tiefer in das Rohr, kauerte sich zusammen. Die Schritte kamen näher, ein Schatten fiel auf die Öffnung der Röhre. Der Kassierer wagte nicht zu atmen. Der Schatten ging vorüber. Da faßte der Kassierer einen Entschluß. Irgendwo mußte dieses Röhrensystem ein Ende haben. Verzweifelt tastete er sich durch die Dunkelheit, bis er in der Ferne einen Lichtschimmer bemerkte. Er kroch schneller und war am Rande der Baustelle. Das Rohr war noch nicht mit dem Abwasserkanal der anschließenden Siedlung verbunden worden. Der Kassierer krabbelte heraus, da hatte ihn auch schon der Beobachter vom Kran aus entdeckt. Der Kassierer rannte erneut los, er hatte an Vorsprung gewonnen. Während des Laufens sprang er auf einen Doppelstockbus auf und fühlte sich in Sicherheit. Er sah nicht mehr, wie Ballmeister ein Auto anhielt, einstieg, nachdem er sich ausgewiesen hatte, und den Bus verfolgte. Seine Verblüffung war groß, als er an der End186
haltestelle des Busses am Grunewald ausstieg und verhaftet wurde. Der Fahrer des Wagens erbot sich, Ballmeister und dessen Gefangenen zur Dienststelle zu fahren. Der Kassierer saß zerknirscht auf der hinteren Sitzbank. „Sie brauchen keine langen Verhöre anzustellen“, sagte er plötzlich. „Ich habe die Nase voll, bin fix und fertig.“ Er lehnte sich erschöpft in die Ecke und sagte während der gesamten Fahrt kein Wort mehr. Sie waren früher in der Dienststelle als Graumann, der nur Fräulein Langner hatte abholen lassen, er selbst wollte die Spur im Lotos-Kasino verfolgen. Er traf dort ein, als Schnell gerade einen ziemlich hohen Betrag setzte. Graumann trat unbemerkt heran und sah, wie der Polizist verlor. Neben Schnell entdeckte er Sonnmeier. Dieser beugte sich vor, flüsterte mit Schnell, der erneut einsetzte und – wiederum verlor. Sonnmeiers Gesicht verzog sich bedauernd, er beteuerte Schnell irgend etwas, der unverhüllt Ärger zeigte und offenbar eine Grobheit erwiderte. Denn Graumann sah, wie Sonnmeiers vornehme Zurückhaltung schwand und wie er zu einem kräftigen, untersetzten Herrn an der Tür ging. Ein Wink, und der Koloß mit Frack und weißen Handschuhen setzte sich langsam und wie zufällig in Bewegung, schob seinen mächtigen Körper so dicht an Schnell heran, daß dieser zurückweichen mußte. Er wollte protestieren, aber es war aussichtslos. Der Koloß drängte ihn zur Tür, Sonnmeier stand in einiger Entfernung und sah dem Schauspiel lächelnd zu. Graumann ging leise von hinten auf Sonnmeier zu und sagte ruhig: „Ich glaube, wir sollten diesen Auftritt beenden.“ Sonnmeier fuhr herum, sein Lächeln erstarb. 187
„Sagen Sie Ihrem Mann, er soll aufhören“, befahl Graumann streng. Sonnmeier gab dem Koloß ein Zeichen. Im gleichen Augenblick bemerkte Schnell den Kommissar, und sein Gesicht wurde von einer glühenden Röte übergossen. Graumann sagte zu Sonnmeier: „Sie glauben mir sicher, daß ich mich ausgiebig über Ihren Spielbetrieb informiert habe und daß es mir ein leichtes ist, ihn schließen zu lassen.“ Sonnmeiers Miene blieb unbewegt. „Was wünschen Sie von mir?“ fragte er. „Ich möchte wissen, von wem Sie den Tausendmarkschein erhalten haben.“ Sonnmeier zuckte bedauernd die Schultern. „Von wem wir ihn bekommen haben, weiß ich leider nicht.“ Graumann spürte, daß er nach Schnells ungeschicktem Benehmen sicher nichts Wichtiges von Sonnmeier erfahren würde. „Wie sind Sie auf meinen Beamten aufmerksam geworden?“ fragte er noch. „Es war vorauszusehen“, sagte Sonnmeier, „daß Sie uns nach Ihrem Besuch jemand auf den Hals …“, er stockte, „jemand zum Beschatten schicken würden. Es war nicht schwer für uns, Ihren Mann herauszufinden. Er ließ die Sicherheit vermissen, die jemand erwirbt, dem dieser Spielbetrieb zur Lebensgewohnheit wurde.“ „Es könnte ein harmloser Anfänger sein, der das erste Mal ein Spielkasino aufsucht“, warf Graumann ein. Sonnmeier lächelte, mühsam seinen Spott unterdrückend. „Gerade ihnen gilt unsere besondere Aufmerksamkeit“, sagte er. „Bauernfänger“, erwiderte Graumann verächtlich. „Ich würde es nicht so ausdrücken“, entgegnete Sonnmeier, freundlich und zuvorkommend lächelnd. 188
„Einen Polizisten um sein Geld zu erleichtern dürfte sicher nicht mit einem solchen plumpen Ausdruck charakterisiert werden.“ Graumann glaubte einen ironischen Zug um Sonnmeiers Lippen zu bemerken, als dieser sagte: „Ihr Beamter war nicht der erste Polizist, der unser Kasino besuchte.“ „Und sein Geld bei Ihnen gelassen hat“, sagte Graumann sarkastisch. Sonnmeier verbeugte sich höflich. „Dem Glück, Herr Kommissar, sind auch Ihre Polizisten unterworfen.“ „Quatsch“, sagte Graumann grob, und zu Schnell: „Wir gehen.“ Von Sonnmeiers schadenfrohen Blicken gefolgt, verließen sie das Kasino. Graumann befahl dem Fahrer, Schnell an dessen Wohnung abzusetzen. Über Sprechfunk erfuhr er von der Festnahme des Kassierers, aber er war zu müde, so spät noch zur Dienststelle zu fahren. Herr Korf und Fräulein Langner waren dort in bestem Gewahrsam. Um Schnell zu trösten, dessen Niedergeschlagenheit er spürte, sagte er zum Abschied, er solle morgen nicht so spät kommen und den Kassierer vernehmen. Am nächsten Morgen war Schnell als erster in der Dienststelle und ließ sofort den Kassierer vorführen. Mehler kam nicht viel später, er glaubte, daß sich die Aufklärung des Falles ihrem Ende näherte, und hatte keine Ruhe zu Hause. In der Dienststelle erlebte er eine Überraschung. Schnell verhörte den Kassierer! Als Graumann ankam, gab er Mehler den Auftrag, er solle einen Bericht über die Vernehmung schreiben, in die er sich sofort einzuschalten habe. Hauptpunkt, auf den sich Mehler und Schnell konzentrieren sollten, war, herauszufinden, wo sich der Komplice des Kassierers 189
versteckt hielt. Graumann ging davon aus, daß der Kassierer mit dem Täter zusammengearbeitet hatte. Beweise, wie verspätet ausgelöster Alarm, Unterschlagung der 30.000 Mark, Flucht, Untertauchen und erneute Flucht, seien ausreichend vorhanden. „Ich denke, der Fall nähert sich seinem Ende“, sagte Graumann. „Setzt dem Kassierer tüchtig zu, damit er gesteht. In drei Stunden erwarte ich deinen Bericht.“ Mehler ging widerstrebend zu Schnell ins Zimmer, wo der Kassierer schon ziemlich erschöpft auf einem Stuhl saß. Graumann fuhr ins Westend-Krankenhaus. Unterwegs ließ er den Fahrer vor einem Blumenladen halten, doch als er etwas warten mußte, überlegte er es sich anders. So gut stand er sich mit Goller nun auch wieder nicht. Er verließ den Laden, ohne einen Strauß gekauft zu haben. Als er in der Anmeldung nach Goller fragte, suchte die Schwester lange in ihren Büchern, konnte aber nichts finden. „Dann möchte ich zu Doktor Hogan“, forderte Graumann. Es war der Arzt, der Goller nach dem Streifschuß verbunden hatte. Graumann kannte den Namen aus dem Protokoll. „Ich weiß nicht, ob er zu sprechen ist“, sagte die Schwester mit hoher Fistelstimme. „Da müssen Sie sich schon anmelden. Wenn nun jeder …“ Jetzt war Graumanns Geduld am Ende. „Kriminalpolizei“, sagte er und wies sich aus. „Hoffentlich geht es nun etwas schneller.“ Die Schwester wandte sich pikiert ab. „Hätten Sie das nicht gleich sagen können?“ 190
Sie wählte eine Nummer und meldete Graumann an. „Station zwei“, sagte sie. Graumann eilte die Treppen hoch, ganz außer Atem kam er auf der Station an. Das Arbeitszimmer lag am anderen Ende des Korridors. Graumann lief den Gang entlang und klopfte lauter als gewöhnlich an, er war verärgert. Eine Schwester öffnete. Auf Graumanns Frage nach Dr. Hogan teilte sie mit, der Doktor habe gerade einen Patienten im Zimmer, der Herr Kommissar möchte bitte etwas warten. Graumann setzte sich ins Vorzimmer. Nervös klopfte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Als die Schwester ihn strafend anblickte, hörte er damit auf. „Wissen Sie, ob in den letzten Tagen ein Herr Goller hier vorgesprochen hat?“ fragte Graumann. „Der Polizist?“ „Ja, der Polizist“, erwiderte Graumann voller Hoffnung. „Tja“, die Schwester überlegte, „das ist schon eine Weile her.“ „Gestern oder vorgestern?“ fragte Graumann. Die Schwester schüttelte den Kopf. „Ist er vielleicht bei Herrn Doktor Hogan als Patient auf Station?“ „Die Patienten von Herrn Doktor kenne ich. Er ist nicht dabei. Wenn Sie allerdings den Unfall vorige Woche meinen, angeschossen worden war er wohl“, sagte sie nachdenklich, „da hat ihn Doktor Hogan behandelt.“ „Könnte ich vielleicht den Krankenbericht bekommen?“ Die Schwester lächelte ihn an. „Auch für die Kriminalpolizei ist das geheime Verschlußsache“, sagte sie wichtig, sichtlich froh, ihm in seiner Fachsprache antworten zu können. Sie war noch jung und las, wenn sie 191
Nachtdienst hatte, meistens Krimis, wie sie verschämt und beglückt zugleich gestand, da sie nun einem richtigen Kommissar gegenübersaß. Sie drehte sich zu Graumann hin. „Ich hatte damals gerade Nachtdienst, als dieser Herr Goller, übrigens ein guter Freund vom Herrn Doktor, hier erschien und verbunden werden mußte.“ „Sie haben ihn also mit behandelt“, sagte Graumann, der hellhörig geworden war. „Ich hatte gerade einen Schwerkranken auf der Station, zu dem schickte mich Doktor Hogan. Den kleinen Kratzer, meinte er, könne er selbst verbinden.“ „Und dann sind Sie zu diesem Schwerkranken gegangen.“ „Natürlich. Was sollte ich auch bei Herrn Doktor. Es war ja kaum der Rede wert.“ „Was war kaum der Rede wert?“ fragte Graumann. „Nun, diese – Verwundung“, sagte die Schwester. „Es muß nicht mal ein Kratzer gewesen sein. Als ich zurückkam, um die Instrumente zu säubern, hatte Herr Doktor weder eine Pinzette noch einen Tupfer verwendet, nichts!“ „Vielleicht hat er ihn anständig verpflastert, wovon Sie nichts bemerken konnten.“ „Sie wollen wohl unbedingt einen Helden aus Ihrem Polizisten machen? Der hat höchstens eine ganz kleine Schramme abgekriegt, wenn er überhaupt was hatte.“ Sie rückte dichter an Graumann heran. „Na, Sie wissen ja selbst, wie das so ist mit den Privatpatienten oder mit den guten Freunden von den Doktoren. Wenn die ein Wind drückt, dann denken sie gleich, es sei eine Nierenkolik.“ Sie lachte, und Graumann stimmte mit ein, doch dann fragte er ernst: „Sie sind sich absolut sicher, daß er überhaupt nicht verwundet war?“ 192
„In den Pflasterkasten habe ich nicht gesehen, ob er ihm vielleicht ein …“ Sie hörte mitten im Satz auf und sagte: „Jetzt kommt er.“ Graumann horchte, konnte aber nichts bemerken, was darauf schließen ließ, daß der Doktor oder der Patient herauskämen. Da ging die Tür auf, und ein Mann im Bademantel verließ den Raum. „Ich werde Sie anmelden“, sagte die Schwester dienstbeflissen. „Gleich als Kommissar?“ Graumann nickte. Er wurde sofort vorgelassen. Der Arzt war etwa Mitte Vierzig, er trug eine starke Brille, die seine Augäpfel übermäßig vergrößerte. Graumann mußte unwillkürlich an ein Kalb denken, das ihn gutmütig und forschend anstarrte. „Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Kommissar.“ Graumann setzte sich, erklärte Dr. Hogan, daß er eigentlich seinen Freund Goller besuchen wollte, ihn aber im Krankenhaus nicht habe finden können. „Sie hatten ihn doch damals verbunden?“ fragte er. „Ja, das stimmt“, antwortete der Arzt. „Es hat Komplikationen gegeben. Ich mußte ihn erneut behandeln, hatte ihn sogar hierbehalten. Er konnte aber wieder nach Hause, wenn er auch noch keinen Dienst machen darf.“ „Wie lange hatten Sie ihn hier?“ „Eine Nacht“, sagte der Arzt. „Ich wollte ihn zumindest kurze Zeit beobachten. Er kam vorgestern abend zu mir. Ich gab ihm gleich eine Spritze, am anderen Morgen konnte ich ihn entlassen.“ „Mir war so“, sagte Graumann gutmütig lächelnd, „als sei er vorgestern abend bei mir gewesen.“ Dr. Hogan ließ sich nicht beirren. „Ich hatte Nachtdienst. Es kann also nach Mitternacht gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr genau.“ 193
„Es sind aber keine Eintragungen darüber zu finden.“ Der Arzt lächelte. „Jeder, der nach Krankenberichten fragt, wird die gleiche Antwort bekommen. Sie wissen, daß wir zum Schweigen verpflichtet sind.“ Er war aalglatt und freundlich. Graumann hatte noch keinen Widerstand gefunden, an den er sich hätte festklammern können. „Aber zumindest kann ich von Ihnen erfahren, wann Sie ihn entlassen haben.“ „Natürlich. Es war morgens gegen acht Uhr.“ „Und Sie irren sich nicht?“ „Keineswegs. Kurz darauf verließ ich selbst das Krankenhaus. Daher ist mir der Zeitpunkt genau im Gedächtnis geblieben.“ „Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft“, sagte Graumann, verbeugte sich und stand auf. Bevor er das Zimmer verließ, tat er so, als habe er noch eine Kleinigkeit, etwas Nebensächliches, nach dem man nur mal so im Vorübergehen fragt. „Was mir da noch einfällt, war damals diese Verwundung sehr schlimm? Sie hatten ja wohl das Attest und den Bericht geschrieben.“ „Ein Streifschuß“, gab Dr. Hogan bereitwillig Auskunft, „eine stark blutende Fleischwunde, sie konnte recht gefährlich werden. Und wie sich zeigte, war sie nicht zu unterschätzen.“ „Ein Pflaster hätte also nicht genügt?“ Dr. Hogan stutzte. „Nein“, sagte er. „Ich mußte die Wunde behandeln und den Arm verbinden. Goller war eigentlich dienstuntauglich. Daß er sich trotzdem nicht krank meldete, ist wohl seiner stark ausgeprägten Arbeitsmoral zu verdanken.“ „Aber jetzt ist er arbeitsunfähig?“ fragte Graumann lauernd. 194
„Ja, genau wie damals, als auf ihn geschossen worden war.“ Die gutmütigen Kalbsaugen erschienen Graumann plötzlich ungewöhnlich streng und abweisend. Doch dann sagte Dr. Hogan überaus freundlich: „Wenn ich vielleicht bitten darf, Herr Kommissar, ich habe da noch einen sehr ernsten Fall auf der Station …“ „Ich will Sie natürlich nicht aufhalten“, sagte Graumann. „Mich interessiert nur noch eins. Kurz nachdem Wachtmeister Goller von Ihnen behandelt worden war, hatte ich mit ihm ein Gespräch, dabei zeigte er mir seinen Arm.“ Dr. Hogan wurde unruhig. „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr“, drängte er. „Aber ich“, sagte Graumann. „Nun ja, vielleicht habe ich vorhin ein wenig übertrieben“, antwortete Dr. Hogan ausweichend, als er merkte, daß er Graumann nicht so einfach abschütteln konnte. „Ich glaubte, Sie wollten ihn belangen, ihn als Bummelanten oder Simulanten hinstellen, und da habe ich Wachtmeister Goller …“ „Sie meinen, Ihren Freund Goller!“ Dr. Hogan verstummte vor Überraschung. „Sie sehen, Herr Doktor, ich bin bestens informiert“, sagte Graumann sanft. „Es geht hier um nichts Geringeres als um einen Banküberfall, in den Ihr Freund verwickelt ist. Sie machen sich der Mittäterschaft verdächtig, sofern Sie noch weitere Ausflüchte unternehmen oder versuchen, mir die Unwahrheit zu sagen. Sie wissen genausogut wie ich, daß Wachtmeister Goller kaum oder überhaupt nicht verletzt war. Sie haben ein falsches Attest ausgestellt. Auf Grund dessen könnte ich Sie schon belangen.“ Graumanns Stimme war scharf geworden, und Dr. Hogan sah ihn unruhig an. Graumann zog sich den Stuhl 195
heran. „Setzen wir uns wieder. Sicher haben Sie mir doch noch einiges Interessante mitzuteilen.“ Und Dr. Hogan blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zu diesem für ihn unangenehmen Spiel zu machen. So erfuhr Graumann aufschlußreiche Einzelheiten. Goller war an jenem Abend weder in der ‚Weißen Rose‘ gewesen, wie er angegeben hatte, noch hatte jemand einen Mordversuch an ihm verübt. Spät nach Mitternacht hatte er Dr. Hogan auf Station angerufen und um einen Gefallen gebeten, um ein Attest. Der Wachtmeister hatte dem Arzt vor einigen Jahren „aus der Patsche geholfen“, wie sich Dr. Hogan ausdrückte, worauf er aber nicht weiter einging und was Graumann auch wenig interessierte. Seitdem kannten sie sich. Als Goller in das Krankenhaus kam, war er stark angetrunken gewesen und hatte ein Loch im linken Ärmel seiner Uniform und einen leichten Kratzer am Arm. „Und Sie haben ihm daraufhin bescheinigt, daß er eine ernste Schußwunde am linken Oberarm davongetragen hat?“ fragte Graumann. Dr. Hogan nickte. „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß ich mich zuerst sträubte, daß ich …“ Graumann winkte ab. „Geschenkt. Tatsache ist, Sie stellten ihm ein falsches Attest aus. Das genügt.“ Dr. Hogan antwortete, daß er um seine Schuld wisse, er habe aber nicht ahnen können, daß Herr Goller schweren Mißbrauch treiben würde. „Denn“, so betonte er, „eins stand fest, er war tatsächlich angeschossen worden. Es ging lediglich um den Grad der Verletzung, und da kam ich Herrn Goller etwas entgegen. Ich nahm an, er wollte das Attest in der Dienststelle vorweisen, um einige Tage krankzumachen. Das sah ich als kein allzu schweres Vergehen an. Er sagte noch, er hätte im Lotos-Kasino 196
fast zweitausend Mark verspielt. Offensichtlich hatte ihn daraufhin eine starke Depression erfaßt. Ich war fest davon überzeugt, er hatte einen Selbstmordversuch unternommen, der Mut hatte jedoch nicht ausgereicht, so wurde es nur ein Streifschuß.“ „Und wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“ „Der Ärmel mit dem Einschußloch war leicht angesengt, die Waffe mußte dicht an den Stoff gehalten worden sein.“ Graumann hatte soeben eine der wichtigsten Auskünfte der letzten Tage erhalten, nichts in seiner Miene deutete jedoch darauf hin, wie erregt er war. Da die Mordkommission, die den Anschlag auf Goller untersuchte, sich auf die Aussagen des Wachtmeisters gestützt hatte, war ihr dieser wichtige Umstand entgangen. Goller hatte angegeben, er sei aus den Büschen seitlich der Straße beschossen worden. Der Assistent von Kommissar Reinow hatte es danach nicht für notwendig erachtet, Gollers Uniformjacke genauer auf Brandspuren hin untersuchen zu lassen. Der vorgetäuschte Mordanschlag konnte den Schlüssel für die Auflösung des Falles abgeben. Graumann kannte Goller, und er wußte, daß dieser kaum einen Selbstmordversuch unternehmen würde. „Sie glauben als Arzt, daß zweitausend Mark Spielschulden ausreichen, einen Menschen zum Selbstmord zu treiben?“ fragte Graumann. Der Arzt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Natürlich konnte dieser Verlust nur das letzte auslösende Moment sein“, erklärte er. „Goller hatte – wie er mir schon früher erzählte – starke private Sorgen. Die Ehe ist zerrüttet, und seine Stellung in der Gesellschaft …“ Er überlegte einen Moment. „Ich glaube, er wird mit seiner Um197
gebung nicht fertig. Er möchte es anderen nachmachen, den Weg nach oben erklimmen. Doch es gelingt ihm nicht. Als Polizist kommt er mit Verbrechern in Berührung, er sieht, wie viele auf unrechtmäßige Weise zu Geld und Ansehen gelangen, ohne daß sie jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Nur er bleibt ein Stiefkind der Gesellschaft. – Zumindest hatte er sich selbst einmal so oder so ähnlich bezeichnet. Eins kommt zum anderen, bis … nun, das Weitere wissen Sie ja.“ Graumann nickte. „Wäre nicht noch eine andere Reaktion Gollers möglich, außer Selbstmord?“ fragte er. „Selbstverständlich. Es gäbe da eine ganze Reihe.“ „Zum Beispiel die Hinwendung zum Verbrechen?“ „Sie berühren einen sehr interessanten Punkt“, entgegnete Dr. Hogan, „aber dies wäre wohl mehr die Aufgabe eines Soziologen, in dieser Richtung Untersuchungen anzustellen. Selbstmord gehört mit in meinen Bereich, die Hinwendung zum Verbrechen ist jedoch nur in Ausnahmefällen ein pathologisches Phänomen. In der Regel – und das wissen Sie am besten – sind es die Umstände, die Umgebung, die einen Menschen zum Verbrecher werden lassen.“ Graumann wußte genug. Sein Besuch hatte sich gelohnt, und tiefe Befriedigung erfüllte ihn, da die Entscheidung gefallen war! Der gesuchte Bankräuber hieß Goller! Von dem vorgetäuschten Mordversuch aus ließ sich der gesamte Fall aufrollen. Seine Spielschulden hatte Goller mit gestohlenen Tausendmarkscheinen bezahlt, und Schmidt hatte einen dieser Scheine ausgehändigt bekommen. „Wissen Sie, ob Wachtmeister Goller öfter im LotosKasino spielte?“ fragte Graumann. 198
„Wie er mir sagte, sei er ab und zu dort, habe aber bisher nur kleinere Beträge gesetzt.“ Graumann nickte. Und plötzlich mußte er an die Bemerkung Sonnmeiers (lenken, daß Schnell nicht der erste Polizist in seinem Kasino gewesen sei. Sowohl Schnell als auch Goller hatten Geld im Lotos-Kasino lassen müssen. Eigentlich brauchte er nicht einmal mehr Gollers Fingerabdrücke, um sie mit den bisher gefundenen zu vergleichen. Sie waren identisch, daran bestand kein Zweifel. Die Herkunft des Tausendmarkscheins und dieser seltsame Mordanschlag, den Goller inszenierte, um von sich abzulenken, waren handfeste Beweise. Goller war auch der Täter des zweiten Banküberfalls! Er hatte morgens gegen acht Uhr das WestendKrankenhaus verlassen, so daß er in aller Ruhe den Überfall hatte ausführen können. Kein Verdacht fiel auf ihn, da man ihn im Krankenhaus glaubte. Den gleichen Trick hatte er beim ersten Banküberfall angewendet und die Demonstration als Alibi gewählt. Um zwölf Uhr fünfundvierzig war Goller an der Bank gewesen und hatte zehn Minuten später den Überfall ausgeführt. Anschließend war er zum Stellplatz geeilt. Ein Zeitpolster von knapp einer Stunde hatte ausgereicht, das Verbrechen zu begehen und sich ein handfestes Alibi zu verschaffen. Dr. Hogan räusperte sich. Graumann sah hoch, er hatte für einen Moment vergessen, wo er sich befand. „Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen“, sagte er. Der Arzt lächelte unsicher, fragend. „Und was wird mit mir? Werden Sie mich belangen?“ Graumann stand auf. „Wir werden Sie wahrscheinlich als Zeugen brauchen“, sagte er und legte Dr. Hogan jovial die Hand auf die Schulter. „Das wäre alles.“ Er wandte sich zum Gehen. „Doch vergessen Sie nicht, daß Sie das 199
nächste Mal keine Ausflüchte machen, wenn Sie nochmals mit der Polizei zu tun haben.“ Wovor mich Gott behüten möge, setzte Dr. Hogan in Gedanken hinzu, laut sagte er: „Natürlich, Herr Kommissar, das wird mir eine Lehre sein.“ „Hoffentlich“, sagte Graumann; es war nicht sehr ernst gemeint, mehr, um dem Arzt noch eine höfliche Erwiderung zukommen zu lassen. Dr. Hogan brachte ihn durchs Vorzimmer. Als sich die Tür hinter ihm schloß, bewegte Graumann nur noch die eine Frage: Wo war Goller zu finden?
200
17 Noch ehe der Kommissar das Krankenhaus verließ, wußte Mehler bereits den Aufenthaltsort Gollers. Er hatte sich nicht einmal darum bemühen müssen, ihn zu erfahren. Die Nachricht kam unerwartet in die Dienststelle geflattert. Mehler hatte beim Verhör des Kassierers bald erkannt, daß Korf nicht in den Banküberfall verwickelt war. Die zweimalige Flucht war nichts anderes als Angst vor einer Verhaftung, der er zu entgehen glaubte, wenn er sich irgendwo versteckte. Er traute der Polizei nicht über den Weg, solange die nicht den Täter hatte. Da Graumann keinen Zweifel hatte aufkommen lassen, daß er den Kassierer mit verdächtigte, war dessen Furcht nur größer geworden. Er und seine Freundin waren der Meinung, daß die Polizei einen Täter brauchte, ganz gleich, woher sie ihn nahm. Von Fällen, in denen Unschuldige verurteilt worden waren, hatten sie oft genug in der Zeitung gelesen. Auch wenn man dann irgendwann wieder entlassen wurde, nachdem sich die Unschuld herausgestellt hatte, war man unmöglich geworden. Wer nahm schon jemand auf, der – wenn auch unschuldig – in polizeilichem Gewahrsam gewesen war? „Ich wollte mich aus allem heraushalten“, sagte der Kassierer beim Verhör. „Mich und meine Freundin. Es reichte schon, daß überhaupt ein Verdacht auf mich gefallen war, obwohl ich mir nie etwas habe zuschulden kommen lassen. Ich weiß, daß der Alte mich nicht wieder einstellen wird.“ Mehler sagte nichts. Er wußte, daß der Kassierer recht hatte. Die Verdächtigungen gegenüber Fräulein Langner 201
und Herrn Korf beruhten auf einem Irrtum Graumanns – vielleicht auch war es Absicht –, gleich wie, es würde für die beiden schlecht ausgehen. Er ließ den Kassierer wieder nach unten bringen und erklärte Schnell, es sei ihm über, noch weitere Zeit zu vertrödeln. Er sei felsenfest davon überzeugt, daß die beiden unschuldig sind, und er werde es Graumann sagen, sobald dieser zurück sei. Mehler war noch nicht wieder in seinem Zimmer, als ihn, da Graumann nicht im Hause war, eine Anfrage von der Genfer Kantonspolizei erreichte, warum Wachtmeister Goller ohne genügende Legitimation zu ihnen geschickt worden sei. Mehler drehte das Schreiben nachdenklich in der Hand. Was hatte Goller plötzlich in Genf zu suchen? Er sagte im Sekretariat, sie sollten es Graumann auf den Tisch legen. Für ihn selbst gab es nun kein Zögern mehr. Gestern hatte er im Revier 132 die Auskunft bekommen, Goller liege im Westend-Krankenhaus. Mehler handelte. Er nahm ein Auto. In fünfundzwanzig Minuten war er auf dem Flughafen, zehn Minuten später wußte er, daß Goller am vergangenen Abend die Maschine nach Genf genommen hatte. Er fuhr zu Gollers Wohnhäuschen, ließ den Wagen abseits stehen und schlich durch das Gebüsch. Vorsichtig spähte er durch die Zweige hinüber zu Gollers Haus. Unwillkürlich wich er tiefer in das Gebüsch zurück. Graumann kam hinter Gollers Häuschen hervor und ging, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, durch den kleinen Vorgarten, öffnete die Gartentür und lief den holprigen Radfahrweg an der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Mehler war so verblüfft, daß er seinem Vorgesetzten wie einem Geist hinterherstarrte. Irgendwie schien ihm 202
Graumann immer eine Nasenlänge voraus zu sein! Er hatte ihn gründlich unterschätzt. Mehler verspürte einen unbändigen Zorn. Während Graumann ihn glauben machen wollte, der Kassierer sei der Täter, war er selbst längst auf der richtigen Fährte. Wütend entschloß sich Mehler, Graumann nicht mehr aus den Augen zu lassen. Als sein Vorgesetzter davonfuhr, sprang er zu seinem abgestellten Wagen und raste hinterher. Graumann bemerkte den Verfolger nicht. Er fuhr in die Dienststelle zurück und ging sofort in die daktyloskopische Abteilung, um ein Koppelschloß, das er aus Gollers Wohnung mitgebracht hatte, auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen. Nicht, daß er seine Meinung über Goller als Täter geändert hätte und Zweifel an der Berechtigung seines Verdachts hegte, dazu waren die Tatsachen jetzt zu überzeugend. Aber der Kommissar wußte auch, daß er in diesem Fall – es handelte sich schließlich um einen Angehörigen der Polizei – ganz besonders vorsichtig sein mußte. Erst der Vergleich der Fingerabdrücke brachte hier den endgültigen Beweis. Keine noch so gute Kombination würde diesen ersetzen können. Er mußte nicht lange warten, bis er erfuhr, daß die Abdrücke auf dem Koppelschloß mit den in der Bank gefundenen übereinstimmten. Graumann hatte kein anderes Resultat erwartet. Er nickte dem Beamten zu, bedankte sich und ging in sein Dienstzimmer. Er fand die Anfrage aus Genf und nahm unverzüglich Verbindung mit der Kantonspolizei auf. Man teilte ihm Einzelheiten mit, die ihn zunächst beunruhigten, dann aber mit einer gewissen Genugtuung erfüllten. Früh gegen neun Uhr sei Wachtmeister Goller bei der Kantonspolizei erschienen, habe seinen Dienstausweis 203
vorgelegt und gebeten, den Kommandanten sprechen zu dürfen. Diesem habe er mitgeteilt, er käme im Auftrag von Kommissar Graumann, um nochmals den Fall Bongard aus dem Jahre 1951 zu prüfen, da wahrscheinlich kein Unglücksfall vorliege, sondern ein Verbrechen. Es folgte eine längere Passage darüber, daß man es sonderbar fände, einen Wachtmeister zu schicken, ohne den üblichen Dienstweg einzuhalten. Darum habe man Goller gebeten, so lange zu warten, bis auf die Rückfrage in Berlin eine Antwort gekommen wäre. Der Wachtmeister wollte am Nachmittag nochmals vorsprechen. Graumann frohlockte. Man hatte Goller nicht vorgelassen! Sofort antwortete er, sie sollten Wachtmeister Goller zurückschicken, es habe sich erübrigt. Zwar waren die Akten der Genfer Kantonspolizei unverfänglich – Graumann hatte sie damals gelesen –, doch warum sollte Goller Informationen erhalten, die ihn zu weiteren Nachforschungen ermuntern könnten. In den Akten war festgestellt worden, daß Bongard leichtsinnigerweise während eines Urlaubsaufenthaltes am Genfer See mit einem Segelboot ausgefahren war, obwohl Windstärke 9 bis 10 herrschte. Dazu kam – laut Graumanns Aussage –, daß sein Freund Bongard Nichtschwimmer war. Der Fall hatte damals in den Schweizer Zeitungen Schlagzeilen gemacht. Tagelang folgten Kommentare in den Blättern über den Leichtsinn der ausländischen Touristen, die den See und seine Gefährlichkeit unterschätzten. Auch Graumanns Meinung war in verschiedenen Zeitungen wiedergegeben worden, der, wie er sich ausdrückte, ‚bei allem Respekt seinem alten Kameraden gegenüber‘ zugeben müsse, daß Bongard schon von jeher sehr 204
leichtsinnig und unüberlegt gehandelt habe. Dieses Wagnis, bei unruhigem Wetter ganz allein, des Segelns kaum kundig, dazu noch als Nichtschwimmer, auf einen See hinauszufahren, bezeige das sehr nachdrücklich. Aber der Freund werde ihm gewiß verzeihen, wenn er hier über eine Schwäche Bongards spreche, die ihn schließlich das Leben gekostet habe. Danach klang die Flut von Mutmaßungen und Spekulationen bald ab, in denen die Rede davon war, daß Bongard ermordet sein könnte, da er aus der Zeit des Krieges ein beachtliches Bankkonto haben sollte. Die allgemeine Meinung der Genfer Kantonspolizei setzte sich durch, Bongard habe seinen Tod selbst verschuldet. Nun war Goller auf diesen Spuren. Es wurde Zeit, daß er festgenommen wurde. Graumann ließ sich zum Flugplatz fahren. Er wollte erfahren, ob Goller einen Rückflug gebucht hatte. Sicher hatte er einen Teil des geraubten Geldes in einer Schweizer Bank deponiert und wird nun zurückkommen, um ihn unter Druck zu setzen, das hieß, falls er mehr erfahren hatte, als in den Polizeiakten und in den Schweizer Zeitungen stand. Zu Graumanns Überraschung wurde ihm auf dem Flughafen mitgeteilt, daß vor einiger Zeit schon Kommissar Mehler nach dem Flug des Herrn Goller gefragt habe. Graumann ließ sich nichts anmerken. Nachdem er die Zeit des Rückflugs erfahren hatte, bedankte er sich und ging nachdenklich zu seinem Wagen. Er mußte Goller am nächsten Morgen gleich auf dem Flugplatz abfangen. Erst wenn er wußte, wie weit Goller mit seinen Nachforschungen in Genf gekommen war, konnte er handeln. Wie? Das hing von dem Gespräch mit Goller ab. 205
Wahrscheinlich wäre Graumann nicht so selbstsicher in den Wagen gestiegen, hätte er seinen Verfolger bemerkt, der sich seit dem Besuch in Gollers Haus wie eine Klette an ihn geheftet hatte. Mehler war Graumann in die Dienststelle nachgefahren, um dessen Reaktion auf das Kabel aus der Schweiz zu beobachten. Er hatte auch gehört, wie Graumann einen Wagen bestellte, und alles andere war Gewohnheitssache. Unzählige Male hatte er bisher Personen beschatten müssen, nun war zur Abwechslung einmal Graumann an der Reihe. Er folgte seinem Vorgesetzten bis zum Flughafen, wartete dort, bis dieser das Abfertigungsgebäude wieder verließ, und fuhr schleunigst zurück. In der Dienststelle teilte ihm die Sekretärin mit, er solle in die daktyloskopische Abteilung kommen. Er witterte eine Neuigkeit und verschwand eilig. Er hatte sich nicht getäuscht. Unter dem Siegel strengster Vertraulichkeit erzählte ihm sein Freund, daß Graumann am Vormittag ein Polizeikoppelschloß abgegeben habe, das die gleichen Fingerabdrücke aufwies wie die in der Bank am Grünen Eck, am Karabiner und in Graumanns Wohnung gefundenen. „Vielleicht ist ein Polizist der Täter“, sagte Mehler. Sein Freund fuhr zurück. „Bist du wahnsinnig“, flüsterte er und sah sich ängstlich im Labor um, ob etwa jemand ihr Gespräch belauschte. Mehler lachte. „Du kannst beruhigt sein, ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie jetzt. Eigentlich ersparst du mir eine Menge Arbeit. Sonst hätte ich dir nämlich selbst ein Polizeikoppel bringen müssen. Nun hat es Graumann getan, das verkürzt die Sache.“ „Bist du sicher?“ 206
„Ganz sicher.“ „Und wer ist der Mann?“ Mehler lächelte. „Darüber kann ich noch nicht sprechen“, sagte er vorsichtig. „Also doch nicht alles in Ordnung?“ zweifelte sein Freund. „Morgen weiß ich mehr.“ Mehler schlug ihm zum Abschied gutgelaunt auf die Schulter. „Und vielen Dank auch. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich kann.“ Er hatte noch Zeit, mit Schnell zu sprechen, der inzwischen einen kurzen Bericht über das Verhör mit dem Kassierer und Fräulein Langner geschrieben hatte. Mißbilligend schüttelte der Assistent den Kopf. Er legte den Bericht wieder auf den Tisch. „Damit hast du kein Meisterwerk vollbracht.“ Als er Schnells enttäuschtes Gesicht sah, schließlich war der einige Stunden mit dem Verhör und dem Schreiben beschäftigt gewesen, setzte er noch hinzu: „Du gehst von falschen Voraussetzungen an den Fall heran. Die Langner und der Korf haben nicht das geringste mit dem Fall zu tun.“ Schnell wischte sich verwirrt über die Stirn. „Aber der Alte …“ „Glaubt sicher selbst nicht an diesen Verdacht“, unterbrach ihn Mehler. Und als er Graumanns Stimme aus dem Sekretariat hörte, verließ er Schnell, um sich bei seinem Vorgesetzten zu melden. Graumann, soeben vom Flughafen zurückgekommen, fragte sofort nach dem Ergebnis des Verhörs. „Alles klar“, antwortete Mehler. „Dann komm mit ’rein.“ Graumann öffnete die Tür zu seinem Dienstzimmer, um Mehler den Vortritt zu lassen. Als sie allein waren, erklärte sein Assistent ohne Umschweife, daß die beiden aus der Bank lediglich ein Lie207
bespaar seien und außer dieser Tatsache nichts zu verheimlichen hätten. Graumann schnaufte unzufrieden und warf sich in seinen Schreibtischsessel. „Und damit wären deine Nachforschungen erschöpft?“ fragte er. „Nicht ganz“, entgegnete Mehler. „Es gäbe da einen weiteren Verdacht, aber es ist noch zu früh, darüber zu sprechen.“ „Warum fängst du dann erst damit an?“ fragte Graumann. „Du weißt, ich liebe keine Halbheiten.“ Mehler merkte zu spät, daß er einen Fehler gemacht hatte. Nun mußte er mit der Sprache herausrücken, ob er wollte oder nicht. Blitzschnell überlegte er, wie er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen könne. Noch hatte er die geheimen Verbindungen zwischen Graumann und Goller nicht aufgespürt, er war auch nicht sicher, wie weit er gehen durfte, ohne seinen Vorgesetzten zuviel von seinem Wissen ahnen zu lassen. Offensichtlich hatte dieser seine Gründe, warum er – ganz entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten – nicht mehr mit ihm, Mehler, seine Kombinationen und Verdachtsmomente besprach. Äußerste Vorsicht war also geboten. Mehler verwandte zunächst eine ganze Zeit darauf, über seine Verhöre mit Fräulein Langner und dem Kassierer zu sprechen, und begründete, daß sie unschuldig waren. Graumann hörte eine Weile zu. Da aber der Assistent nichts von seinem Verdacht verlauten ließ, wurde er ungeduldig. „Und wer ist deiner Meinung nach der wahre Täter?“ fragte er schließlich, mitten in Mehlers Rede hinein. „Genaues weiß ich natürlich auch noch nicht“, versuchte sein Assistent auszuweichen. „Geh nicht wie die Katze um den heißen Brei“, sagte Graumann. 208
„Ich meine diesen zweiten Banküberfall“, sagte Mehler stockend. „Vielleicht sollten wir darum bitten, daß wir ihn übernehmen können.“ Graumann sah Mehler verärgert an. „Hast du noch nicht genug mit dem einen Fall zu tun?“ „Wir wissen, daß der Täter den gleichen Trick gebrauchte wie am Grünen Eck. Die beiden Bankräuber sind ein und dieselbe Person. Sicher kommen wir so weiter.“ Mehler atmete auf. Er war froh, daß ihm dieser Ausweg eingefallen war. Es wäre jetzt für ihn zu riskant gewesen, Graumann ins Gesicht zu sagen: Goller ist der Täter, und du beschützt ihn, obwohl du genau weißt, daß derjenige, der ein Verbrechen begünstigt oder deckt, sich ebenfalls schuldig macht. „Du hast recht“, sagte Graumann. „Wir sollten auch die Spur in Wilmersdorf verfolgen. Du wirst dich heute noch erkundigen, wer diesen Fall übernommen hat, und dich morgen …“ Er sah auf die Uhr, als ob er wegen einer günstigen Zeit überlegen müßte. „Am besten ist, du triffst dich morgen früh gegen neun Uhr mit dem Kommissar“, sagte er, „dann kannst du mir mittags Bericht erstatten. Wir haben schon zuviel Zeit verloren, es eilt also.“ Graumann erwartete keine Antwort. Er ordnete einige Akten und Schriftstücke auf seinem Schreibtisch und ergänzte: „Im übrigen wirst du in den nächsten Stunden deinen Bericht über die Verhöre mit der Langner und dem Kassierer schreiben. Ich möchte ihn heute abend oder gleich morgen früh lesen.“ Er stand auf, ging geschäftig an den Panzerschrank und sagte, da Mehler sich nicht von der Stelle rührte: „Du kannst jetzt gehen.“ 209
Mehler unterdrückte seinen Ärger und verließ das Zimmer. Graumann hatte ihn bis Mitte des nächsten Tages mit Arbeit eingedeckt, und er konnte nichts dagegen tun. Es ging alles völlig ordnungsgemäß zu, wenn er von diesem langen Bericht absah, den er verfassen sollte. Da hätte eine Aktennotiz genügt. Graumann wollte ihn beschäftigen. Und es hätte keinen Zweck gehabt, sich dagegen aufzulehnen. Eigentlich war er sogar selbst daran schuld, er hätte ja nicht von Wilmersdorf zu reden brauchen. Doch wäre nicht dieser zweite Banküberfall gewesen, hätte sich Graumann bestimmt etwas anderes ausgedacht. Wahrscheinlich spürte er, daß Mehler der Aufklärung des Falles näherkam. Daß die Nachforschungen in Wilmersdorf reine Zeitverschwendung bedeuteten – hier konnten kaum neue Gesichtspunkte auftauchen –, wußte Graumann genauso wie er. Ihm noch vorzuschreiben, wann er sich mit dem Kommissar treffen sollte, war echt Graumanns Art. Wieder einmal hatte Graumann ihn auf ein Nebengleis geschoben. Aber er wird den Anschluß an die Hauptstrecke wieder herstellen. Ein Mehler ließ sich nicht so einfach außer Gefecht setzen! Morgen um neun Uhr wird er am Flughafen sein, koste es, was es wolle. Kaum in seinem Zimmer, nahm Mehler telefonisch Verbindung mit Kommissar Wegefeldt auf, der den Banküberfall in Wilmersdorf übernommen hatte. Sie verabredeten sich noch für den gleichen Abend. Mehler hatte es eilig. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und fertigte den gewünschten Bericht an, widerwillig zwar, aber gehorsam. Noch mußte er ruhig sein, doch die Zeit rückte näher, da er Graumann gegenüber auftrumpfen konnte. Als der Kommissar nach einer Stunde ins Zimmer kam, sah er einen eifrig schreibenden Mehler. Er blickte 210
ihm über die Schulter und las einige Absätze. „Ich weiß“, sagte er jovial, „daß die Schreiberei keine wahre Freude ist, aber es gehört nun mal mit zu unserem Beruf. Eiserne Disziplin ist eine Grundvoraussetzung, damit die Verbrecherjagd reibungslos funktionieren kann.“ Er wandte sich zum Gehen, drehte sich nochmals um und fragte: „Wer bearbeitet den Banküberfall von Wilmersdorf? Klappt es mit dem Treffen morgen früh?“ Mehler gab kurz einige Erläuterungen, verschwieg aber, daß er sich schon am Abend mit Wegefeldt treffen würde. Graumann nickte zufrieden und ging endgültig. Er hatte Zeit gewonnen. Mehler diktierte der Sekretärin die letzten Sätze und bat sie, den Bericht sofort abzuschreiben. Er nahm einen Imbiß und fuhr dann zu Kommissar Wegefeldts Wohnung. Wegefeldts Frau empfing ihn freundlich und führte ihn in die Stube, wo sich ihr Mann ein halbes Stündchen aufs Sofa gelegt hatte. Er war nicht mehr der Jüngste und wartete auf seine baldige Pensionierung. „Leider wird es noch ein paar Jahre damit dauern“, sagte er, stand ächzend auf und entschuldigte sich, weil er Mehler nicht entsprechend empfangen hatte. Dieser winkte ab. „Mir kommt es auf Informationen an“, sagte er, „alles andere ist nicht so wichtig.“ Der Besuch dauerte nicht lange. Bald wußte Mehler, daß sich Wegefeldt und seine Leute im Kreise drehten. „Wir werden die Nachforschungen demnächst aufgeben“, sagte er. „Die Zwanzigtausend lohnen kaum. Die Versicherung wird zahlen. Es ist ein Routinefall wie so viele. Ich glaube nicht, daß wir den Täter fassen werden, er hat keine Spuren hinterlassen.“ Wehmütig setzte er hinzu: „Dabei wäre es für meine Pensionierung nicht schlecht 211
gewesen, wenn ich diesen Fall hätte lösen können. Doch es sind zu viele Überfälle, die wir bekämpfen sollen. Die Verbrecher werden von Jahr zu Jahr frecher.“ Mehler hatte keine Lust, sich lange Episteln anzuhören. Wegefeldt sagte ihm nichts Neues. Er wußte selbst zur Genüge, daß die meisten Verbrechen nicht aufgeklärt werden konnten. Eilig verabschiedete er sich und fuhr nach Hause. Seine Frau sah überrascht auf die Uhr. „Du bist schon da. Welch ein Wunder.“ Mehler lachte. „Sobald dieser Fall gelöst ist, komme ich abends früher. Das verspr …“ Seine Frau legte ihren Finger auf seinen Mund. „Nichts versprechen, was man nicht halten kann.“ Sie deckte den Tisch, entzündete zwei Kerzen und holte eine Flasche Wein. Mehler sah ihr unsicher zu. Sie lächelte und sagte: „Weil du heute so früh gekommen bist.“ Er strich ihr über das Haar. Dann füllte er die Gläser, und sie stießen an. Mehler fühlte sich wohl und geborgen. Für einen kurzen Abend war alle Hast von ihm gewichen. Trotzdem gelang es ihm nicht, sich von den Tagesaufgaben zu lösen. Immer wieder geriet er ins Grübeln. Plötzlich sagte er: „Graumann kennt den Täter und verhaftet ihn nicht.“ Es war das erste Mal seit Tagen, daß er zu Hause von seiner Arbeit sprach. Seine Frau wartete geduldig, bis er weiterredete, Sie spürte, daß ihn etwas bedrückte, und wußte um seinen heimlichen Wunsch, endlich Kommissar zu werden. „Er deckt ihn, und das wird ihn aus der Bahn werfen“, fuhr Mehler fort. „Das heißt, wenn ich entsprechend nachhelfe. Noch ein paar Tage, und alles ist vorüber.“ Er hob das Glas, lachte, wollte anstoßen. Doch da klirrte es, in seinen Händen splitterte der Stiel, der Kelch fiel 212
zu Boden, und der Wein floß auf den Teppich. Betreten blickte Mehler auf die Lache, die langsam versickerte. „Macht nichts“, tröstete seine Frau, „ich hole ein neues Glas.“ Aber seine gute Laune war vorüber. Als er nun mit seiner Frau anstieß, fehlte der Elan. Er war nicht mehr so sicher, daß es ihm gelingen könnte, Goller zu verhaften und Graumann zu stürzen. Ja, wenn er es mit irgendwelchen Verbrechern zu tun gehabt hätte! Aber Goller und Graumann waren Polizeiangehörige, das komplizierte den Fall. Mehler ging beizeiten zu Bett, er schlief schlecht und unruhig. Schon früh am Morgen stand er auf und fuhr zum Flugplatz, um Graumann unter Kontrolle zu haben. Sein Ausweis öffnete ihm sämtliche Türen. Er fand ein Zimmer, von dem aus er den gesamten Flugplatz und die Empfangshalle überblicken konnte. Noch war die Maschine, mit der Goller kommen sollte, nicht angesagt. Auch Graumann war noch nicht da. Mehler hoffte sehr, daß dieser Goller in der Halle abfing und nicht ebenfalls das Dienstzimmer der Flughafenabfertigung benutzen wollte. Das gäbe ein unangenehmes Zusammentreffen. Mehler spielte mit hohem Einsatz, und er wußte es. Die Unsicherheit vom vergangenen Abend war überwunden. Wenn er daran dachte, wie er sich in den letzten Tagen von Graumann gelöst hatte und Forschungen gegen ihn, seinen Vorgesetzten, trieb, schlug sein Herz schneller. Doch Mehler wußte, daß er von dem einmal eingeschlagenen Weg nicht abgehen konnte, bevor dieser Fall gelöst war und er erfahren hatte, warum Graumann den Bankräuber Goller nicht verhaften wollte. Seine Gedanken wurden durch die Ankunft des Kommissars unterbrochen. Er kam zeitig; wahrscheinlich 213
fürchtete er, das Flugzeug könnte früher landen. Mehler stand hinter einem Plakat, das an einem Fenster des Dienstzimmers hing. Er hatte ein Loch hineingebohrt, so daß er die Halle überblicken konnte, selbst aber ungesehen blieb. Graumann war sichtlich nervös, er schaute oft zur Uhr, lief auf und ab, bis er endlich an einem Aushang scheinbar aufmerksam die Flugzeiten studierte. Doch auch da blieb er nicht lange stehen. Er ging seitwärts in einen Gang, von dem aus er ein Stück des Flugplatzes sehen konnte. Da wurde über den Lautsprecher die Maschine aus Genf angekündigt. Graumann wich nicht mehr von der Glasfront des Ganges. Angestrengt sah er auf den Platz hinaus. Mehler wußte, daß er Graumann jetzt unbesorgt aus den Augen lassen und seine ganze Aufmerksamkeit auf den Ankömmling konzentrieren konnte. Die Maschine tauchte aus dem Dunst auf. Sie verlor schnell an Höhe, setzte auf und kam etwa zweihundert Meter vor dem Hauptgebäude zum Stehen. Geduldig wartete Mehler, bis die Propeller zur Ruhe gekommen waren und die Gangway an die Maschine geschoben wurde. Er erkannte Goller sofort, als dieser das Flugzeug verließ. Graumann ging langsam zu einem Zeitungskiosk, wo er interessiert die Titelseiten betrachtete. Nach etwa zehn Minuten kam Goller. Eilig durchquerte er die Halle, Graumann folgte ihm. Auch Mehler gab seinen Beobachtungsposten auf und lief hinter Graumann her, stets darauf bedacht, einige Passanten zwischen sich und seinem Vorgesetzten zu haben. Goller winkte einem Taxi. Als er den Wagenschlag öffnete, war Graumann dicht hinter ihm. Goller setzte sich ins Polster, langte zum Türgriff, da schob Graumann 214
ihn zur Seite. „Rück schon“, sagte er. „Hier ist Platz für zwei.“ Und ohne Gollers Protest zu beachten, zwängte er sich auf den Sitz und schlug die Tür zu. „Wir können abfahren“, sagte er. „Ich steige aus“, entgegnete Goller. Doch Graumann knurrte: „Das läßt du schön bleiben. Ich habe mit dir zu reden.“ Goller nannte seine Adresse, der Fahrer startete. Mehler fuhr in angemessenem Abstand hinter dem Taxi her, in dem Graumann und Goller schweigend das Ende der Fahrt erwarteten. Keiner mochte vor dem Chauffeur etwas sagen. Jeder legte sich insgeheim einen Angriffsplan zurecht, denn – soweit kannten sie sich – das Gefecht würde beginnen, sobald sie allein waren. Goller bezahlte, nahm seinen leichten Reisekoffer und verließ auf der linken Seite das Taxi. Graumann zwängte sich rechts aus dem Wagen und folgte Goller, der die Tür aufschloß. Es war niemand zu Hause. Die Stube machte einen unaufgeräumten Eindruck. Goller schob unwirsch einige Kleidungsstücke auf dem Tisch zur Seite, warf seinen Mantel darüber und setzte sich. Graumann blieb stehen. Wortlos blickten sie sich an, bis Graumann sagte: „Dein Spiel ist aus, Geller. Gib auf!“ Goller schlug lässig die Beine übereinander. „Ich verstehe nichts. Du sprichst in Rätseln.“ „Mehler will dich als Bankräuber verhaften“, sagte Graumann. Eine Hitzewelle überflutete Gollers Gesicht, dann wurde es kalkweiß. Seine Finger klammerten sich an der Tischkante fest. Er starrte Graumann an, der ungerührt sagte: „Es liegen so viele Beweise gegen dich vor, daß ich dich sofort festnehmen könnte.“ 215
Goller lachte auf, krampfhaft. „Wer wird das schon glauben“, prustete er, „ein Polizist als Bankräuber!“ Graumann wartete geduldig, bis Goller sich beruhigt hatte. „Es geht nicht ums Glauben“, sagte er. „Die Fingerabdrücke sprechen gegen dich.“ „Ich habe ein Alibi“, entgegnete Goller. „Du weißt genauso wie ich, daß ich zur Zeit des Überfalls bei dieser Demonstration eingesetzt war.“ „Danach, Goller“, sagte Graumann friedlich. „Danach! Du warst um zwölf Uhr fünfundvierzig an der Bank, um dich zu vergewissern, ob alles ruhig sei. Kurz darauf fuhrst du mit dem gestohlenen Volkswagen, den du in einer Nebenstraße geparkt hattest, zur Bank. Es waren keine zehn Minuten vergangen. Während dieser Zeit hattest du die Bank nicht aus den Augen gelassen. Der Wagen war so günstig abgestellt, daß du, am Steuer sitzend, warten konntest, bis alle Kunden die Bank verlassen hatten. Der Überfall dauerte nur wenige Minuten, die Flucht mit dem Auto ebenfalls. Ich habe mich erkundigt, wann du dich zum Einsatz am Steinplatz melden solltest. Dreizehn Uhr dreißig. Du hattest also eine dreiviertel Stunde Zeit, deinen Überfall auszuführen. Die Demonstration kam genau im rechten Augenblick. Sie verschaffte dir unvorhergesehen ein willkommenes Alibi. Und dein Bemühen, dich in aller Öffentlichkeit dabei hervorzutun, war nichts anderes als der Versuch, dieses Alibi so stark wie nur möglich zu machen.“ Goller schwieg. Er mußte sich eingestehen, daß Graumann gut gearbeitet hatte. Diesen Ausführungen war nicht viel entgegenzusetzen. Dennoch machte er einen letzten Versuch, Graumann eine Lücke in seinen Ausführungen nachzuweisen. „Und der Mordanschlag auf mich?“ 216
„Den hast du vorgetäuscht, um uns irrezuführen.“ Graumann lächelte. „Ich gebe zu, daß du mich damit tatsächlich einige Zeit abgelenkt hattest, doch die Fingerabdrücke …“ Goller unterbrach ihn spöttisch: „Glaubst du wirklich, ich würde ohne Handschuhe arbeiten?“ „Die Fingerabdrücke in meiner Wohnung hattest du vor deinem Einbruch hinterlassen“, sagte Graumann sachlich. „Ich brauchte sie also nur mit denen am Karabiner und den in der Bank gefundenen zu vergleichen.“ Graumann holte sich einen Stuhl heran und setzte sich Goller gegenüber. „Möchtest du noch mehr wissen?“ Goller schwieg. Seine Gedanken arbeiteten. Er suchte eine Masche in diesem Netz, durch die er hindurchschlüpfen konnte. Noch wollte er nicht glauben, daß Graumann wirklich so viel wußte, wie er vorgab. Doch als er in Graumanns Gesicht sah, wurde ihm klar, daß alles Leugnen vergebens war. „Es muß eine nette Überraschung für dich gewesen sein“, sagte er und lachte leichthin, Überlegenheit vortäuschend. „Überraschung?“ wiederholte Graumann. „Ich hatte es gewußt, vom ersten Moment an. Als wir uns trafen und ich erfuhr, daß du kurz vorher am Tatort gewesen warst, gab es für mich keinen Zweifel mehr“, log Graumann, er lächelte sogar. „Es war ein Spiel für mich, Goller. Ein nettes kleines Spielchen. Katz und Maus. Die Katze ist satt, darum darf das Mäuschen noch ein wenig leben, noch ein winziges Fünkchen Hoffnung haben, davonzukommen. Bis die Katze zugreift. Und jetzt ist es soweit.“ Scharf fuhr er fort. „Ich habe keine Lust mehr, Goller. Die Fingerabdrücke an der Eingangstür der Bank, sie allein genügten schon.“ „In den Akten steht, der Täter habe den Überfall mit Handschuhen ausgeführt, gleichzeitig aber seien Finge217
rabdrücke gefunden worden“, sagte Goller und versuchte Graumann einen Widerspruch nachzuweisen. „Findest du das nicht etwas merkwürdig?“ Plötzlich verstummte er. Er sah sich an der Tür zum Bankraum stehen, einen Blick durch die Scheibe werfen. Die Frau mit dem Kind, seine Aufregung, die Tür, wie sie ihm aus der Hand glitt. Er spürte, wie seine Knie schwach wurden. Erregt wischte er sich mit der Hand über die Stirn, sie war schweißnaß. „Deine Höflichkeit, Goller“, sagte Graumann, als ob er dessen Gedanken erraten hätte. „Du öffnest die Tür, deine Finger verschmieren die Scheibe. Zehn Minuten später überfällst du die Bank. Der Schlußpunkt unter deine Karriere.“ Goller lachte bitter. „Karriere, Wachtmeister im Revier hundertzweiunddreißig, der das Geld der Reichen bewacht.“ Voller Wut blickte er Graumann an, der bequem auf dem Stuhl saß, die Beine weit von sich gestreckt, den rechten Arm über die Lehne. Ein riesiger Polyp, der ruhig und gefräßig auf einen günstigen Augenblick wartete, sich auf sein Opfer zu stürzen, um dieses zu verschlingen. So wie er es schon unzählige Male getan hatte. Er hat alles erreicht, was er erreichen konnte. Er hat eine ansehnliche Stellung wie so viele andere, die ihre Vergangenheit geschickt verbergen und sich mit dem neuen Staat verbunden hatten. Kein Mensch wird ihm etwas anhaben. Graumann wird weiterklettern. Das Zeug dazu hat er und Verbindungen auch. Er sitzt fest in seinem Sessel. Auf einmal verspürte Goller eine unbändige Lust, ihm diesen Sessel wegzuziehen. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Sobald Graumann den Haftbefehl gegen ihn vorwies, war es aus. Aber auch mit Graumann. Er, der 218
Wachtmeister, wird dann den Mund aufmachen und das Seinige tun, um ein Protokoll zu füllen, das Kommissar Graumann das Genick brechen wird. „Und warum verhaftest du mich nicht?“ fragte er. „Was nicht ist, kann noch werden. Vielleicht hatte ich das Bedürfnis, mich mit dir vorher noch ein wenig zu unterhalten. Einen Bankräuber in Polizeiuniform bekommt man nicht jeden Tag zu sehen.“ „Es gibt Schlimmere“, entgegnete Goller ruhig. „Auch in Uniform.“ „Wir wollen nicht streiten“, sagte Graumann. „Außerdem solltest du nicht über Dinge urteilen, die du nicht kennst.“ „Immerhin kenne ich eine gewisse Person …“, sagte Goller. „Meine Reise in die Schweiz war nicht vergebens.“ „Bluffen steht dir nicht“, erwiderte Graumann ruhig und unterdrückte mühsam seine Ungeduld. „Ich habe Tonbänder!“ Graumann lachte. „Ich weiß. Aber sie enthalten nichts, was mich belasten könnte.“ „Immerhin geben sie wundervolle Erklärungen, warum zwei ehrbare Bürger im April neunzehnhunderteinundfünfzig eine Reise in die Schweiz unternahmen.“ „Ist es verboten, gemeinsam zu verreisen, wenn man sich gut kennt?“ „Nun“, sagte Goller mit unbewegter Miene. „In den Genfer Polizeiberichten steht, daß ein gewisser Kommissar Graumann erst durch die Zeitung erfahren habe, daß sein ehemaliger Kriegskamerad Bongard auf dem Genfer See verunglückt sei.“ Graumann wandte sich mißtrauisch Goller zu, der langsam in die Stubenecke ging, wo ein Tonbandgerät 219
auf einem Schränkchen stand. „Durch das Gespräch mit Bongard, das du aufgenommen hattest, war es ein leichtes, eure Reiseroute zu verfolgen.“ Ironisch sagte er: „Ich bewundere deine Überredungsgabe, Graumann. Es war nicht einfach, Bongard so weit zu bringen, daß er mit dir nochmals die gleiche Strecke fuhr wie im Krieg, als ihr den Schmuck des französischen Juweliers in Sicherheit gebracht habt. Für dich stand viel auf dem Spiel. Bongard hatte die Hälfte der Wertsachen in seinem Bankschließfach. Um da ’ranzukommen, bedurfte es schon eines großen Einsatzes …“ Graumann sprang auf Goller zu. Der wich geschickt aus, zog blitzschnell die Dienstpistole und drohte. „Keinen Schritt weiter!“ Graumann blieb stehen, versuchte zu lächeln. „So gefällst du mir schon besser“, sagte Goller. „Du siehst, Wachtmeister Goller hat alle Trümpfe in der Hand. Er wird sie ausspielen, verlaß dich drauf, einen nach dem anderen.“ „Vermutungen und Verdächtigungen“, sagte Graumann lässig. Er hatte sich wieder gefaßt. „Steck das Schießeisen weg. Du bist reichlich nervös.“ Goller rührte sich nicht. Seine Pistole blieb auf Graumann gerichtet. Die Lage hatte sich so schnell gewandelt, daß Graumann glaubte, er träume. Er hatte Goller unterschätzt. Dieser Mensch war zu allem fähig. Goller spürte Graumanns Unsicherheit und sprach weiter. Von seinem Besuch bei der Kantonspolizei, die ihm trotz Graumanns Absage Einblick in die Akten gewährt hatte. Er sprach auch von der Pension, in der Graumann 1951 mit Bongard übernachtet hatte. Als letzten Trumpf sparte er sich einige Andeutungen über einen Fischer auf, den er bei seinen Nachforschungen ausfindig 220
gemacht hatte. „Moser heißt er, ein wunderbarer Augenzeuge“, sagte Goller. „Inzwischen ziemlich alt und gebrechlich geworden, trinkt gern, aber in lichten Momenten …“ Er ließ offen, was es in lichten Momenten mit Moser auf sich hatte. Graumann wurde bei den Andeutungen Gollers immer unruhiger. Nun wollte er unbedingt erfahren, wie weit der Polizist bei seinen Nachforschungen gekommen war. „Du hast keine Beweise“, sagte er. „Und Drohungen verfangen bei mir nicht.“ Goller bückte sich wortlos, entnahm seinem Koffer ein Tonband. Langsam, Graumann keine Sekunde aus den Augen lassend und die Pistole in der Rechten, legte er mit der Linken das Band auf. Plötzlich war die heisere Stimme des Fischers Moser im Zimmer zu hören. Graumann wurde blaß. Goller stellte das Gerät ab. „Genügt es?“ fragte er spöttisch, „Ich habe deinen gesamten Aufenthalt neunzehnhunderteinundfünfzig in Genf erkundet. Du hattest Glück, daß vor der Großen Strafkammer nur der Fall aus dem Krieg behandelt wurde und nicht dieses seltsame Unglück auf dem Genfer See. Doch wenn ich jetzt aussage, ich und Moser …“ Vorsichtig steckte er das Tonband in den Koffer zurück. „Es wird mir unbezahlbare Dienste leisten. Auf Grund dieser Aufnahme wird Moser geladen werden müssen. Und er weiß alles.“ Graumann verfolgte aufmerksam jeden Handgriff Gollers. „Du brauchst eine Chance“, sagte er, „wenn ich deine Erpressung richtig verstehe.“ Seine Stimme klang ruhig und überlegen. „Ich werde sie dir geben.“ Er richtete sich steil auf, drückte den Bauch vor und gab sich den Anschein des Großmuts. „Du wirst noch heute deine 221
Kündigung einreichen, und in der kürzestmöglichen Frist bist du mit Frau und Kind im Ausland verschwunden.“ Er wartete eine Weile, um die Wirkung seines Vorschlages abzuschätzen, dann sagte er entschieden: „Damit wären wir quitt! – Du weißt, ich würde trotz Tonband deine Anschuldigungen überstehen.“ Graumann legte die Hände auf den Rücken, ging einige Schritte im Zimmer auf und ab. „Es wäre das Äußerste, was ich für dich tun könnte“, sprach er weiter. „Ich glaube, man könnte im Interesse unserer Polizei ein Auge zudrücken.“ Als Goller nichts antwortete, fügte Graumann nach einer Weile hinzu: „Ich bin sicher, der Polizeipräsident würde nicht anders handeln. Außer mir und dir weiß niemand um die Hintergründe dieser Geschichte. Also ein Übereinkommen nur zwischen uns beiden. Ich hetze Mehler auf Nebenfährten und lasse den Fall schließlich im Sande verlaufen.“ Graumann ging auf Goller zu. Er überwand sich und streckte ihm die Hand hin. „Der Fall wird nie aufgeklärt.“ Goller rührte sich nicht, noch immer hielt er die Pistole auf Graumann gerichtet. „Es ist das einzige, was ich für dich tun kann.“ „Für mich?“ fragte Goller zweifelnd. „Natürlich. Für wen sonst?“ Graumann legte eine Pause ein, dann sagte er noch: „Mein letztes Wort, Goller, ich tue es für dich und nicht zuletzt für das Ansehen unserer Polizei. Du hast wenig Zeit zum Überlegen. Ich traue meinem Assistenten nicht über den Weg. Wenn Mehler dich entdeckt hat, ist es zu spät.“ Goller lachte. „So leicht kommst du mir nicht davon. Jetzt ist es für dich zu spät! Wenn du mir diesen Vorschlag vor meiner Reise in die Schweiz gemacht hättest, wäre noch darüber zu reden gewesen. Doch jetzt?“ Goller kam aus der Ecke heraus und blieb dicht vor Grau222
mann stehen. „Ich könnte dich erpressen und einen Teil deiner Beute verlangen, aber ich will nicht. Ich mag kein Geld, an dem Blut klebt.“ Graumann war wie gelähmt. Goller hingegen schien aufzuleben. „Ich habe andere Einnahmequellen entdeckt“, plauderte er gutgelaunt. „Und solange mich ein Kommissar Graumann deckt …“ „Du bist wahnsinnig“, stieß Graumann hervor. „Berechnend, Kommissärchen. Ganz einfache Überlegungen sind das. Jeder muß sich schließlich auf irgendeine Art schadlos halten. Du kennst das doch!“ „Du hast zwei Banken ausgeraubt. Glaubst du, das kann immer so weitergehen?“ „Nun“, sagte Goller gedehnt. „Nicht immer, aber eine Zeitlang bestimmt. Mir kann niemand etwas beweisen. In Wilmersdorf habe ich mit Handschuhen gearbeitet.“ Er grinste. „Um nicht erneut Fingerspuren zu hinterlassen. Und ich werde die nächste Bank auf die gleiche Weise knacken.“ „Du bist verrückt“, stöhnte Graumann. „Nicht mehr als du. Mit einem solchen Sündenregister im Polizeidienst …“ Graumann überhörte diese Anschuldigung. „Es ist zwecklos“, sagte er. „Selbst wenn ich dich decken wollte, ginge es nicht. Mehler sitzt uns im Nacken. Er ist nicht mehr zu halten. Wie ein Bluthund verfolgt er die Spur.“ „Das ist deine Angelegenheit, ihn zu stoppen. Hat er mich, bist du mit dran.“ Graumann schwieg. „Wir werden sicher viel Aufsehen erregen“, sprach Goller weiter, mühsam seinen Spott unterdrückend. „Die Zeitungen werden mit Riesenschlagzeilen von uns berichten und spekulieren, wieviel jeder aufgebrummt be223
kommt.“ Goller lachte zynisch. „Ich habe nichts zu verlieren, wenn du mich hochgehen läßt. Du aber alles. Geld, Karriere, Macht.“ Graumann sah plötzlich sehr müde aus. „Mein letztes Wort, Goller. Verschwinde. Deine Entdeckung ist nicht mehr aufzuhalten. Morgen schon kann Mehler deine Festnahme beantragen. Dann ist es aus.“ „Ich brauche noch eine Woche“, sagte Goller. „Noch einen Fischzug, einen anständigen.“ „Ich warne dich“, sagte Graumann und ging zur Tür. „Meine Geduld hat eine Grenze. Ich habe dir ein Angebot gemacht. Es liegt an dir, ob du es annimmst.“ Goller spielte lässig mit der Pistole. „Vielleicht komme ich noch darauf zurück.“ Graumann verließ ohne Gruß die Stube. Als er die Straße betrat, glaubte er für den Bruchteil einer Sekunde, der Boden sinke ihm unter den Füßen weg, bald jedoch hatte er sich wieder in der Gewalt. Trotzdem mußte er sich eingestehen, daß ihn der Besuch bei Goller stärker mitgenommen hatte, als er wahrhaben wollte. Auch Mehler wird ihm bald zu schaffen machen. Er war davon überzeugt, daß sein Assistent mehr über die Verbindungen zwischen ihm und Goller wußte, als er sich anmerken ließ. Mehler konnte gefährlich werden, wenn er die Initiative an sich riß. Doch zur Zeit hatte er wohl vor Mehler noch einen genügenden Vorsprung. Einige Tage würden genügen, dann konnten die Formalitäten der Kündigung Gollers und seine Ausreise ins Ausland erledigt sein. Das hieß, wenn Goller wollte. Und davon war Graumann noch nicht überzeugt. Mehler hatte Graumann aus dem Haus kommen sehen. Die Erregung war deutlich vom Gesicht seines Vorge224
setzten abzulesen. Er hatte oft genug die leisesten Regungen in den Zügen des Kommissars deuten müssen, um auf dessen Wünsche und Launen reagieren zu können. Er bedauerte, daß er keine Möglichkeit gefunden hatte, etwas von dem Gespräch der beiden mitzuhören. So konnte er nur konstatieren, daß offensichtlich keine Verhaftung des Polizisten geplant war. Er überlegte, ob er Graumann verfolgen sollte oder ob es günstiger sei, zu beobachten, was Goller in den nächsten Stunden tat. Da wurde er einer Entscheidung enthoben. Goller trat aus dem Haus, rannte zur Gartentür und überzeugte sich, ob Graumann zur Bushaltestelle ging. Dann lief er nach hinten und verschwand im Schuppen. Nach etwa fünf Minuten ging er wieder hinüber ins Haus, verließ es jedoch nach weiteren zehn Minuten in Uniform. Offenbar mußte er zum Dienst. Mehler blieb noch kurze Zeit in seinem Versteck, dann wagte er sich hervor. Ihn interessierte der Schuppen. Mit einem Satz sprang er über den Gartenzaun und rannte nach hinten. Er hatte es eilig, da er nicht wußte, wann Gollers Frau nach Hause kam. Das Schuppentor war mit einem Vorhängeschloß gesichert. Doch an der Giebelwand entdeckte er einen geöffneten Fensterladen. Dicht neben dem Schuppen stand eine Birke. Mehler kletterte hinauf, sicherte einen Moment nach allen Richtungen, sprang dann zur Öffnung hinüber und kroch in den Schuppen. Als sich seine Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, bemerkte er Gerümpel, aufgestapeltes Holz und Briketts. Nichts, was seine Aufmerksamkeit herausforderte. Er kontrollierte genauer. Auf den Kohlen lag eine dicke Staubschicht. In einer Ecke hing ein großes Spinnennetz. Was wollte Goller vorhin im Schuppen? Er hatte weder 225
Holz noch Kohlen geholt. Mehler betrachtete forschend das Gerümpel. Auf einer hochgestellten Holzplatte entdeckte er jetzt Fingerspuren. Sie ließ sich leicht zur Seite schieben. Darunter lag eine graue Aktentasche. Mehler zog sie hervor und öffnete sie. Ein Paar graue Handschuhe und eine Sonnenbrille waren der einzige Inhalt. Mehler stellte die Tasche sorgfältig wieder an den Platz. Er hatte genug gesehen. Vorsichtig verließ er auf dem gleichen Weg den Schuppen und gelangte unbemerkt zu seinem Auto, mit dem er zur Dienststelle fuhr. Er wollte Graumann sprechen. Doch dieser, so sagte man ihm, sei zum Grunewald oder Wannsee gefahren, wünsche nicht gestört zu werden und käme auch morgen erst spät zum Dienst. Mehler legte sich am gleichen Abend vor Graumanns Villa auf die Lauer. Da er Licht im Arbeitszimmer seines Chefs sah, wußte er, daß Graumann anwesend war. Es geschah jedoch nichts, was dem Assistenten einen neuen Fingerzeig gebracht hätte. So ging er noch vor Mitternacht müde und abgekämpft nach Hause.
226
18 Ein neuer Banküberfall erregte einen Tag später die Westberliner Öffentlichkeit. Die Abendzeitung meldete ihn mit riesigen Schlagzeilen auf der ersten Seite. Die Beute des unbekannten Täters: 50.000 Mark. Mutmaßungen und Vergleiche mit den noch immer nicht aufgeklärten Banküberfällen am Grünen Eck und in Wilmersdorf wurden angestellt. Die Methoden ähnelten sich auffallend. Der Täter war mit einem grünen Trenchcoat bekleidet gewesen, hatte eine Sonnenbrille und graue Handschuhe getragen. Den Kassierer bedrohte er mit einer Pistole. Zeit: elf Uhr fünfundvierzig. Um elf Uhr fünfzig schoß eine Verkehrsstreife wenige hundert Meter vom Tatort entfernt ein Radarfoto von einem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Volkswagen. Eine Stunde nach dem Überfall wurde – unter der Treppe versteckt – im Hausflur eines Eckhauses in unmittelbarer Nähe der ausgeraubten Bank der grüne Trenchcoat des Täters gefunden. Das waren die Fakten. Mehler war am gleichen Nachmittag zum Tatort gefahren, um sich genau zu informieren. Graumann hatte er noch nicht gesehen. Gegen dreizehn Uhr kam der Kommissar in seine Dienststelle und tobte über Mehlers erneute Eigenmächtigkeit. Doch es war zu spät, den Assistenten zurückzuholen. Graumann ließ sich das Radarfoto kommen. Der Fahrer war nicht zu erkennen, deutlich hob sich jedoch die Achselklappe einer Polizeiuniform ab. Für Graumann stand fest, daß der Täter Goller hieß. Wenn es ihm auch noch ein Rätsel war, wie dieser die Bank überfallen haben konnte und fünf Minuten später in Polizeiuniform am 227
Steuer eines Volkswagens saß. Er schob das Foto unter einen Packen Papiere und ging zum Fahrdienst. Er wollte zu Kommissar Schmidt, der den Fall übernommen hatte, bevor Mehler etwas durcheinanderbringen konnte. Doch als sie zum Tor hinausfuhren, sah er Mehler die Dienststelle betreten. Graumann ließ halten und kehrte zurück. Mehler ging, als er das Sekretariat leer vorfand, sofort in Graumanns Zimmer, um Bericht zu erstatten. Da er auch dort niemanden antraf, stöberte er, wie es seine Gewohnheit war, schnell auf dem Schreibtisch herum. Er fand das Radarfoto und lächelte triumphierend. Vom Flur her hörte er die schweren Schnitte des Kommissars, Mehler rannte ins Sekretariat und tat, als ob er gerade an Graumanns Zimmertür klopfe. Mehler berichtete, daß für achtzehn Uhr ein Informationsgespräch mit Kommissar Schmidt vereinbart sei. „Ich habe Andeutungen fallen lassen“, sagte er weiter, „daß es sicher das beste sein wird, wenn wir diesen Fall mit übernehmen.“ „Was gibt es noch?“ fragte Graumann. „Wenige hundert Meter vom Tatort entfernt nahm eine Streife ein Radarfoto von einem verkehrswidrig rasenden Volkswagen auf.“ „Und wo hast du es?“ fragte Graumann gespannt. „Das soll schon hier sein.“ „Siehst du es?“ Mehler machte sich nicht die Mühe, sich zu verstellen und nach dem Bild zu suchen. „Ich würde so ein wichtiges Bild auch nicht offen herumliegen lassen“, sagte er. Graumann ließ sich nicht provozieren. „Ich habe keins“, sagte er ruhig. „Ein Wachtmeister soll auf dem Bild zu erkennen sein“, entgegnete Mehler und sah Graumann lauernd an. 228
„Dann hast du ja deinen Täter.“ Graumanns Stimme war voller Spott. Aber Mehler hatte seinen Vorgesetzten durchschaut. Er berichtete weiter, wo der Trenchcoat des Täters gefunden worden war, und schlußfolgerte, daß wahrscheinlich der Täter nach dem Überfall in das Eckhaus gerannt sei, um den Mantel auszuziehen. Dann sei er über den Hof gegangen und habe in der Nebenstraße das Haus als völlig verwandelter Bürger verlassen. „Ist das deine Theorie oder die von Schmidt?“ fragte Graumann, der gespannt zugehört hatte. Er konnte dieser Kombination eine gewisse Glaubwürdigkeit nicht absprechen. „Meine“, sagte Mehler. „Nehmen wir an, daß alle drei Banküberfälle der letzten Zeit von ein und demselben Täter ausgeführt wurden …“ „… dann war der Bankräuber ein Wachtmeister“, ergänzte Graumann seelenruhig, und Mehler verschlug es die Sprache. „Du kannst gehen“, sagte Graumann. Und da Mehler sich nicht sofort rührte, schrie er ihn an: „’raus! Bevor ich mich vergesse.“ Graumann schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß einige Zettel durch die Luft flogen. „Wenn ich noch ein Wort von diesem Verdacht höre, wirst du dich zu verantworten haben.“ Mehler sah unbewegt auf den Schreibtisch, dorthin, wo durch Graumanns Schlag ein Stück vom Radarfoto unter einer Mappe sichtbar geworden war. Graumann folgte Mehlers Blick und schob eilig das Bild wieder weg. Mehler verließ das Zimmer. Graumann sank in den Sessel am Schreibtisch. Müde griff er zum Hörer und rief im Revier 132 an. Wachtmeister Goller komme heute nicht mehr zurück, er habe morgen Frühdienst und sei heute nur verkürzt im Revier gewesen, teilte man ihm mit. Graumann bedankte sich, 229
legte auf. Die Sekretärin brachte ihm den Text einer zentralen Durchsage an alle Dienststellen. Jener Wachtmeister, der den gestohlenen Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren hatte, sollte sich sofort melden. Graumann bestellte sein Dienstauto und fuhr bis in die Nähe von Gollers Wohnhäuschen. Er ging den Radfahrweg entlang, sah sich gründlich die Umgebung an. Dann überquerte er den Damm und studierte den Fahrplan an der Bushaltestelle. Graumann stieg wieder in das Auto und befahl: „Zum Polizeipräsidium!“ Dort führte er ein vertrauliches Gespräch. Er berichtete, daß der Wachtmeister Karl Goller vom Revier 132 der lang gesuchte Bankräuber sei. Das Ansehen der Polizei sei auf das ärgste gefährdet, sobald dieser Fall nach außen dringe. Spekulationen, die das Radarfoto mit den Banküberfällen in Verbindung brächten, machten schnelles Handeln erforderlich. Zumal schon einige Erregung in der Öffentlichkeit herrsche, weil man den Schuldigen noch nicht gefunden und bestraft habe. Graumann redete ausführlich, mitunter stockend, dann wieder gehetzt. Er wußte, daß jetzt alles darauf ankam, von seinem Vorgesetzten die Erlaubnis zu bekommen, Goller so schnell wie nur möglich verhaften zu können. Kein anderer als er selbst, Kommissar Graumann, sollte das Recht dazu haben. Er wies im Gespräch des öfteren darauf hin, und als sich sein Partner, bevor er eine Entscheidung zu fällen wagte, erst noch vergewisserte und ihn eine Zeitlang warten ließ, hegte Graumann die schlimmsten Befürchtungen. „Ich werde gegen Wachtmeister Goller alle rechtlichen Mittel einsetzen“, betonte Graumann, als sie ihr Gespräch fortsetzten. „Ich werde ihn festnehmen. Selbstverständlich unter Wahrung strengster Vertraulichkeit.“ 230
Er sah in ein unbewegtes Gesicht, und dicke Schweißtropfen traten auf seine Stirn. Doch dann fiel die Antwort genauso aus, wie er erhofft hatte. „Sollte Ihnen dies gelingen“, hörte er – und fast befiel ihn ein leichter Schwindel –, „wird der Herr Präsident gewiß nichts gegen eine Beförderung zum Oberkommissar einzuwenden haben.“ Erregt knallte Graumann die Hacken zusammen und versicherte, daß sich der Herr Präsident ganz auf ihn verlassen könne. Als er den Raum verließ, fühlte er eine tiefe Genugtuung. Die Würfel waren gefallen.
231
19 Dichter Nebel hüllte das Häusermeer ein. Kommissar Graumann hatte gleich nach der Unterredung im Polizeipräsidium Mehler und drei weitere Beamte für den nächsten Morgen in sein Dienstzimmer bestellt. Er selbst war noch nicht erschienen, die Beamten standen ungeduldig im Sekretariat herum und unterhielten sich verärgert über Graumanns Unpünktlichkeit. Mit etwa zehn Minuten Verspätung betrat der Kommissar abgehetzt das Zimmer. „Guten Morgen, meine Herren. Ich bitte zunächst um Entschuldigung, aber ich komme bereits von einer Erkundungsfahrt. Ich habe mir nochmals den Schauplatz unserer Aktion angesehen, damit nichts schiefgehen kann.“ Nach diesen Worten trat erwartungsvolle Stille ein. Die Beamten stellten sich im Halbkreis um Graumann, der weitersprach: „Ich habe Sie zu dieser morgendlichen Stunde hergebeten, ohne Ihnen den Grund unserer Zusammenkunft zu nennen. Nach einer Rücksprache im Präsidium am gestrigen späten Nachmittag hat die folgende Aktion unter strengster Geheimhaltung vor sich zu gehen. Ich habe Ihnen die Mitteilung zu machen, daß sich unter unseren vielen tausend ehrlichen und pflichtbewußten Polizisten auch eine bedauerliche Ausnahme befindet. Meine Ermittlungen ergaben, daß Wachtmeister Goller vom Revier hundertzweiunddreißig und der gesuchte Bankräuber vom Grünen Eck, von Wilmersdorf sowie des letzten Banküberfalls ein und dieselbe Person ist. Unsere Aufgabe besteht nun darin, Goller festzunehmen – unter Wahrung strengster Verschwiegenheit.“ 232
Mehler verspürte bei Graumanns Worten eine tiefe Enttäuschung. Diese Entschlossenheit hatte er nicht erwartet. Er verfluchte sein Abwarten. Die Fingerabdrücke, das Verzögern des Falles durch Graumann hätten längst für einen handfesten Skandal gereicht. Aber noch war der Fall nicht abgeschlossen! Einige Andeutungen Mehlers gegenüber Reportern hatten genügt, erste Meldungen über den Zusammenhang zwischen dem gesuchten Wachtmeister und den Banküberfällen in die Zeitung zu lancieren. Der Skandal mußte kommen und Graumann aus dem Amt werfen. „Uhrenvergleich!“ sagte der Kommissar und schreckte Mehler aus seinen Gedanken. „Gollers Dienst beginnt um sieben Uhr. Ab fünf riegeln wir das Gebiet um Gollers Wohnlaube herum ab. Er fährt täglich mit dem Bus zur Arbeit. Ballmeister sperrt die Straße nach Westen hin, Schnell und Laufer gehen von der Haltestelle auf Goller zu, sobald dieser das Haus verläßt, und nehmen ihn fest. Ich selbst postiere mich auf dem Radfahrweg, der von der Straße durch Büsche abgetrennt ist, und gebe Feuerschutz. Ich werde mich stets auf gleicher Höhe wie Goller halten.“ „Bitte Herrn Kommissar, mit zum Feuerschutz eingesetzt zu werden“, sagte Mehler, der befürchtete, Graumann würde ihn an irgendeiner unwichtigen Ecke abstellen. Der Kommissar sah Mehler befremdet an. „Traust du meinen Schießkünsten nicht mehr?“ „Es ist schlechtes Licht morgens“, sagte Mehler. „Goller hat die Dienstpistole bei sich. Und dagegen sind zwei besser.“ Graumann musterte Mehler, bis dieser unsicher wurde. Aber dem Kommissar war es nicht ungelegen, Mehler unter Kontrolle zu haben. „In Ordnung!“ sagte er. „Mehler 233
kommt mit mir. Für alle gilt, äußerste Vorsicht zu wahren. Goller ist gefährlich. Wenn er etwas merkt, wird er zur Pistole greifen. In einer Viertelstunde ist Abfahrt.“ In der Umgebung der Bushaltestelle versteckten sich die Beamten in den Büschen. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, die Nässe schlug durch die Anzüge, es war unangenehm kalt. Vereinzelte Fußgänger waren auf dem Weg zur Arbeit. Ab und zu kam ein Radfahrer. Graumann und Mehler beobachteten das Haus aus der Nähe. Sie wollten Goller an der Tür abfangen und nicht mehr aus den Augen lassen. Graumann hielt die Hände in den Taschen. Die Rechte umspannte die Pistole. Er stand unbeweglich, während Mehler seine Nervosität nicht verbergen konnte. „Vielleicht geht er heute nicht zum Dienst“, flüsterte Mehler. „Immer die Ruhe bewahren. Wenn um diese Zeit Licht in der Stube brennt, ist er wach“, sagte Graumann und bog einige Zweige zur Seite. Mehler sah zur Uhr. „Meinst du, davon vergeht die Zeit schneller?“ fragte Graumann. Sein Gesicht hatte einen fahlen Glanz, Schatten lagen unter seinen Augen. Die Straßenlaternen strahlten matt. Die Sicht hatte sich verbessert. Mehler bewunderte Graumanns Ruhe. Sie war ihm fast unheimlich, wenn er daran dachte, welche Qual es für Graumann sein mußte, diesen Menschen zu verhaften, der ihn schwer belasten und vom Podest stürzen konnte. Graumann war unerbittlich gegen sich selbst Er konnte Schläge austeilen, aber er steckte auch welche ein. Mehler wußte nicht, wie er selbst in dieser Situation gehandelt hätte. „Er kommt!“ flüsterte Graumann. „Es kann nichts schiefgehen.“ 234
„Ob Schnell und Laufer ihn schon gesichtet haben?“ Graumann schwieg. Er ließ keinen Blick von Goller, der auf die Bushaltestelle zuging. Leise liefen Graumann und Mehler neben ihm her. Der Kommissar hatte die Pistole gezogen und auf Goller gerichtet. Er knallt ihn nieder! dachte Mehler erschrocken. Graumann drehte sich um, sah Mehlers Blick auf die Pistole. Ein Lächeln der Befriedigung glomm in seinen Augen auf, als er aus dem blassen Gesicht die Angst ablas. „Er wird verurteilt werden, wie es einem Bankräuber zukommt“, sagte Graumann leise. „Wir können uns keine Verbrecher in Uniform leisten.“ Ein Ast knackte unter seinen Füßen. Sie blieben stehen. Goller hatte nichts gehört. Jetzt kamen Schnell und Laufer ins Blickfeld. Goller stutzte, ging zur anderen Straßenseite, entfernte sich von Graumann, der plötzlich eine leichte Unruhe zeigte und fast aus der Deckung trat. Die beiden Beamten waren noch etwa zwanzig Meter entfernt. Goller lief langsamer, sah mißtrauisch auf die zwei Gestalten, die ebenfalls die Fahrbahnseite gewechselt hatten. Goller kam wieder dichter an Graumann heran. Acht, neun Meter mochten sie voneinander entfernt sein. „Halt! Hände hoch!“ rief Laufer. Goller schrak zusammen, wollte seitwärts in die Büsche flüchten. Mit drei, vier mächtigen Sätzen sprang Graumann nach vorn. Goller erstarrte. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Augen, und Goller erkannte, daß es keine Rettung mehr für ihn gab, wenn er nicht handelte. Er griff zur Pistole. Ein Schuß krachte, und Goller stürzte. Die Beamten kamen herbeigelaufen. 235
„Höchste Zeit“, sagte Graumann. „Sonst hätte er mich umgelegt.“ Mehler wischte sich den Schweiß von der Stirn, beugte sich zum Polizisten nieder. „Tot“, sagte er entsetzt und richtete sich mühsam auf. Betreten starrten die Beamten vor sich hin. Graumann steckte seine Pistole in die Tasche und winkte den beiden Wagen. „Ich mache noch Haussuchung bei Goller“, sagte er, als die Autos hielten. „Laufer kommt mit.“ Er sah auf den leblosen Körper und befahl: „Bringt ihn zur Seite. Mehler bleibt hier, bis die Leiche abgeholt wird.“ Die Beamten trugen den toten Polizisten in das Gebüsch, dann stiegen sie ein. Mit erhobener Hand gab Graumann den Befehl zur Abfahrt. Leise schnurrten die Wagen in verschiedenen Richtungen davon.
236