Jane Elliott Ausgeliefert Wie ich die Hölle meiner Kindheit überlebte
Misshandelt, gequält, missbraucht. Der erschütternde Bericht einer jungen Frau über ihre gestohlene Kindheit. Monatelang auf Platz 1 der englischen Bestsellerliste! »Ich beschreibe, was mir zugestoßen ist, weil ich damit vielleicht diejenigen unterstützen kann, die so leiden, wie ich es tat. Und weil ich ihnen sagen will, dass sie etwas dagegen unternehmen können — auch wenn sie es mit einem Peiniger zu tun haben, der so gefährlich und anscheinend so unbesiegbar ist wie mein Stiefvater.« Jane Elliott
Mit einem Vorwort des Deutschen Kinderschutzbundes und einem Nachwort von TERRE DES FEMMES.
Jane Elliott mit Andrew Crofts
Ausgeliefert Wie ich die Hölle meiner Kindheit überlebte Aus dem Englischen von Christiane Burkhardt Mit einem Vorwort des deutschen KinderschutzBundes und einem Nachwort von TERRE DES FEMMES
blanvalet
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Little Prisoner, How a Childhood Was Stolen and a Trust Betrayed« bei Element, an Inprint of HarperCollinsPublishers UK Ltd., London.
FSC Mix Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen, kontrollierten Herkünften Zert. Nr. SGS-COC - 1940 www.fsc.org Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete Fsc-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten.
1. Auflage Oder Originalausgabe 2005 by Jane Elliott © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Uh l + Massopust, A a len Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-7645-0217-7 ISBN-13: 978-3-7645-0217-1 www.blanvalet-verlag.de
Das Böse ist unspektakulär und stets menschlich, es teilt unser Bett und sitzt mit uns am Tisch. W. H. Auden
Danke, Jane Elliott, für diesen Bericht! Es ist kaum vorstellbar, welche Grausamkeiten in Familien, die Schutz und Geborgenheit bieten sollen, geschehen können. Kaum jemand kann ermessen, dass einem Kind tagtäglich so schlimme Gewalttätigkeiten, so furchtbare Erniedrigungen und so grausame Verletzungen an Seele und Leib zugefügt werden. Und erst recht fällt es schwer, sich vorzustellen, wie aus einem so geschundenen Kind dennoch ein positiv denkender Mensch werden konnte. Deshalb musste dieses Buch geschrieben werden. Jane Elliott ist dafür zu danken, weil sie ihren Lesern die Augen öffnet für das unsägliche Leid, das mehr Kinder in ihren Familien erfahren, als man im Allgemeinen vermutet.
Wie kommt es dazu, dass ein Mann ein Kind derart misshandelt? Hinter Handlungen, die die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte eines Kindes vollkommen missachten, verbirgt sich nicht selten eine schwere Persönlichkeitsstörung, d. h. der Täter ist psychisch krank. Derartige Menschen sind auf Grund ihrer völligen Gefühlskälte meist nicht therapierbar. Das kann und darf aber keine Rechtfertigung sein. Die Erfahrung zeigt, dass gewalttätige Handlungen gegenüber Kindern durchaus auch bei so genannten normalen oder eher unauffälligen Familien vorkommen. Ursachen für die Entgleisungen Kindern gegenüber sind meist ein Bündel von unbewältigten Alltagsproblemen. Dazu zählen hohe Verschuldung und
Arbeitslosigkeit, Ehe- und Alkoholprobleme. Kommen zu viele ungelöste Probleme zusammen und fehlt es an Unterstützung, reicht ein geringfügiger Anlass, um die angestauten Aggressionen an Kindern gefährlich abzureagieren. Bei entsprechender therapeutischer Behandlung bestehen aber bei den zuletzt genannten Gründen reelle Chancen, Veränderungen des Verhaltens herbeizuführen.
Welche Möglichkeiten zu helfen bestehen? Es ist nicht leicht, schwer misshandelnde Eltern auf ihre Verhaltensweisen anzusprechen, da sie sich meist für ihre Art des Umgangs mit den eigenen Kindern schämen. Deshalb lehnen sie jedes Gespräch darüber lieber von vornherein ab. Sie behaupten etwa, die blauen Flecken ihrer Kinder rührten von Unfällen und Stürzen her, und versuchen die Angelegenheit herunterzuspielen. Nachbarn oder Freunde akzeptieren sie selten als Gesprächspartner über ihre familiären Probleme. Die Geschichte von Jane Elliott macht deutlich, dass Kinder sich gerade unter den schlimmsten Umständen kaum äußern. Ihre berechtigte Angst vor neuerlichen Strafen hält sie davon ab, darüber zu reden. Dass sie trotz aller Leiden loyal zu ihren Eltern stehen, hat gewichtige Gründe: Kinder wollen »ihr Nest nicht beschmutzen«, wollen auf ihre Familie stolz sein. Wenn sie sich überhaupt öffnen, dann in der Regel einem Menschen gegenüber, dem sie vertrauen. Lehrer, Kindergärtnerinnen, Erzieher oder andere Personen, die ständig mit dem Kind zu tun haben, können solche Vertrauenspersonen sein. Sind Misshandlungen vermeidbar?
Jedes Mal, wenn das traurige Schicksal eines geschlagenen oder vernachlässigten Kindes mit Todesfolge bekannt wird, geht ein Aufschrei der Empörung durch die Bevölkerung. Diese schlimmen Ereignisse stellen gewiss nur die Spitze des Eisbergs dar. Wie viele Kinder ihre Kindheit tatsächlich wie in einer Hölle verbringen, ist nicht bekannt. Das Ausmaß körperlicher Gewalt gegen Kinder in der Familie belegt eine Studie aus 2002 von Prof. Dr. Kai-D. Bussmann, Universität Halle-Wittenberg. Hier geben 68,9 Prozent der befragten Kinder bis 18 Jahren an, von ihren Eltern Ohrfeigen zu erhalten, hochgerechnet machen sogar 700000 Kinder massive Gewalterfahrungen. (Kinderzahl in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt: 15236657 laut statistischem Bundesamt). Angaben zur Vernachlässigung von Kindern wurden nicht erhoben bzw. nicht gesondert erfasst. Die polizeiliche Kriminalstatistik (2003) weist 116000 Kinder und Jugendliche aus, die Opfer von gewalttätigen Angriffen und schweren Körperverletzungen wurden, wobei diese zu etwa 80 Prozent im Elternhaus und im Umfeld der Verwandtschaft stattgefunden haben. Bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurden 31941 Fälle zur Anzeige gebracht. Von sexuellem Missbrauch und gewalttätigen Angriffen mit Todesfolge waren 295 Kinder betroffen. Es wird nicht in jedem Fall möglich sein, Gewalt gegen Kinder zu verhindern. Diese Erkenntnis darf jedoch nicht zu Gleichgültigkeit und zum Wegsehen verleiten. Elternkurse, Krabbelgruppen, Familienzentren, Gesprächskreise und Beratungsstellen sind Einrichtungen und Initiativen, an die Eltern sich angstfrei und vertrauensvoll wenden können. Wenn
Eltern vermehrt den Mut finden, sich beizeiten solchen Kreisen anzuschließen, werden sie im Gespräch erfahren, dass auch andere Schwierigkeiten haben und wie sie diese meistern. Sie werden auch erkennen, wie entspannend diese Gespräche für sie sein können. Leider suchen wirklich gefährdete Familien derartige Kontakte bisher häufig viel zu spät.
Wer kann helfen? Der in Deutschland bundesweit vertretene Kinderschutzbund sieht seit seiner Gründung vor mehr als 50 Jahren seine wesentliche Aufgabe darin, die bestehenden Tabus bei Misshandlungen von Kindern aufzubrechen. Er bietet Beratungen und Therapien durch hoch qualifizierte Familientherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter und Pädagogen an. Wer in seinem Umfeld einen Fall von Kindesmisshandlung vermutet, kann sich telefonisch an den Kinderschutzbund wenden. Weitere Ansprechpartner sind die KinderschutzZentren, zum Beispiel in München mit der Tel.-Nr. 0 8955 53 56, oder die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren in Köln. Das Elterntelefon mit der bundesweit gebührenfreien Tel.-Nr. 0800-1 11 05 50 bietet ebenfalls Rat und Hilfe an. Allgemeine Fragen zum Thema beantworten die Geschäftsstelle des Münchner KinderschutzBundes unter der Tel. 0 89-55 53 59 oder die vermittelnde Bundesgeschäftsstelle in Hannover. Grundsätzlich kann man bei allen genannten Stellen jede Beobachtung vertrauensvoll schildern.
Erfahrene Mitarbeiter beraten und entscheiden, was zu tun ist, oder ob der KinderschutzBund selbst tätig wird. In besonders schwierigen Fällen von Misshandlungen und Vernachlässigungen können Kinder aus München zur Klärung der familiären Situation in unserem KinderschutzHaus untergebracht werden. Zur Nachbehandlung und weiteren therapeutischen Begleitung, sobald das Kind wieder in die Familie integriert ist, sind das KinderschutzZentrum und auch die Familienhilfe gute Partner. Das KinderTageszentrum (KITZ) spielt als innovative Einrichtung in diesem Zusammenhang eine wichtige, die Arbeit der anderen ergänzende Rolle. Dort verbringen 30 Kinder nicht nur ihren Tag, sondern es wird großer Wert auf guten Kontakt zu den Eltern gelegt. Die Mitarbeiterinnen des KinderTageszentrums erkennen Anzeichen von Vernachlässigung und Misshandlung sofort und suchen rasch das Gespräch mit den Eltern, um helfend zu intervenieren. Heidrun Kaspar Vorsitzende des KinderschutzBundes München e.V. München, im Dezember 2005
KinderschutzBund München e.V. Pettenkoferstr. l0a 80336 München Tel.: 0 89/55 53 59 www.kinderschutzbund-muenchen.de
Wir freuen uns über jede Unterstützung: Spendenkonto Nr.: 7811705 Bank für Sozialwirtschaft, München BLZ 700 205 00
Weitere Informationen zum Thema »Kinderschutz«: Deutscher KinderschutzBund Bundesverband e.V. Tel.: 05 11/3 04 85-0 Hinüberstr. 8 30175 Hannover www.kinderschutzbund.de
Bundesarbeitsgemeinschaft der KinderschutzZentren e.V. Bonner Str. 147 50968 Köln Tel.: 02 21/56 97 53 www.kinderschutz-zentren.org
Die Geschichte einer Überlebenden Wenn vom Bösen die Rede ist, fallen uns als Erstes Massenmörder wie die Romanfigur Hannibal Lecter oder Diktatoren wie Adolf Hitler ein. Doch unsere tatsächlichen Begegnungen mit dem Bösen sind meist wesentlich banaler: Da sind es brutale Klassenkameraden oder sadistische Lehrer, die ihren Opfern das Leben zur Hölle machen, unfreundliche Pfleger in Altenheimen oder skrupellose Diebe, die sich an Alten und Schwachen vergreifen. Wenn wir mit dem Bösen in Berührung kommen, dann eher flüchtig oder indirekt, was es nicht weniger schrecklich macht. Dies ist jedoch die wahre Geschichte eines vierjährigen Mädchens, das einem gnadenlosen Sadisten in die Hände fiel. Siebzehn Jahre befand es sich in dessen Gewalt, bis es ihm schließlich gelang zu fliehen und den Spieß umzudrehen. Es ist eine Geschichte über Angst und unvorstellbare Misshandlungen, aber auch über ungeheuer mutiges Handeln, das zur Verhaftung, Verurteilung und Sicherheitsverwahrung des Peinigers führte. Meist erfahren wir erst von Kindern wie Jane, wenn wir von ihrem Tod in der Zeitung lesen. Dann fragen wir uns, wie es so weit kommen konnte, ohne dass die Allgemeinheit oder zuständige Behörden auch nur das Geringste bemerkt haben. Wir versuchen uns vorzustellen, was da wohl schief gelaufen ist, vergessen jedoch, dass diese Kinder in einer Welt leben, die für jeden normalen Menschen unvorstellbar ist. Dies ist die Geschichte einer Überlebenden, die uns hellhörig machen sollte.
Die Geschichte von Jane Elliott ist streckenweise fast unerträglich. Trotzdem muss sie erzählt werden, weil sich die Täter meist auf das Schweigen ihrer Opfer verlassen. Würde offen über das geredet, was sich hinter verschlossenen Türen so alles abspielt, wären Qualen, wie Jane sie erleiden musste, wesentlich seltener. Die Täter haben nämlich nur dann Erfolg, wenn andere zu verängstigt sind oder sich zu sehr schämen, um über das zu reden, was ihnen angetan wurde. Dadurch, dass Jane ihre Geschichte erzählt hat, macht sie es zukünftigen Peinigern ein wenig schwerer. Um die wahre Identität von Jane und ihren Verbündeten im Kampf um Gerechtigkeit zu schützen, sind die Namen sämtlicher Akteure in diesem Buch geändert.
1. Kapitel Ich wurde von der Opferschutzbeauftragten, einer älteren Dame, zurück in den Gerichtssaal gebracht. Bisher hatte man strikt darauf geachtet, mich durch eine andere Tür rein- und rauszuführen als meinen Stiefvater Richard. Irgendwie war stets dafür gesorgt worden, dass wir uns nicht begegneten, was mir eine gewisse Sicherheit gab. Hinter meinen langen Haaren versteckt, hatte ich ihn bisher noch nicht ansehen und mich an sein Gesicht erinnern müssen. Doch als ich jetzt mit gesenktem Kopf erneut den Saal betrat, stand direkt vor mir ein Paar Schuhe, das mir den Weg versperrte. Ich blickte auf und in ein Gesicht, bei dessen Anblick mir vor Angst ganz schlecht wurde. Die hellen Augen, die mich an eine Schlange erinnerten, und die roten Haare waren genau wie früher, auch wenn er etwas
stämmiger wirkte, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Bringen Sie mich hier raus«, zischte ich, während ich spürte, wie mich sein Bände sprechender Blick durchbohrte. »Bringen Sie mich hier raus, bringen Sie mich hier raus.« »So beruhigen Sie sich doch, um Himmels willen«, sagte die Dame, die mein Gefühlsausbruch sichtlich irritierte. »Hier entlang!« Sie führte mich in einen angrenzenden Raum mit Glastür. Er folgte uns, trat aber nicht ein. Stattdessen blieb er vor der Glastür stehen und starrte mich einfach nur ausdruckslos an. »Rufen Sie die Polizei!«, schrie ich. »Rufen Sie die Polizei!« »Machen Sie sich nicht lächerlich.« So langsam verlor sie die Geduld. »Vor wem haben Sie denn solche Angst? Vor dem da?« Sie zeigte auf die unbewegliche Gestalt hinter der Scheibe mit den toten, starrenden Augen. »Holen Sie Hilfe!«, schrie ich, und sie begriff, dass ich mich nicht beruhigen würde. Sie lief zur Tür. »Gehen Sie nicht weg!«, schrie ich und sah mich schon allein mit ihm in einem Raum. Die Frau geriet in Panik, weil ihr die Situation immer mehr entglitt. In diesem Moment trafen Marie und eine andere Polizeibeamtin ein. Als sie sahen, dass ich mich in eine Ecke geflüchtet hatte und mit dem Gesicht zur Wand stand wie ein kleines Kind, kamen sie mir sofort zu Hilfe. Sie waren außer sich vor Wut und brachten mich in Sicherheit. »Er wird mich umbringen«, stöhnte ich, als Marie ihren Arm um mich legte. »Ich bin so gut wie tot.« »Nein, das wird er nicht, Jane«, beruhigte sie mich. »Er kann Ihnen nichts mehr tun. Sie machen das großartig. Jetzt haben wir es bald geschafft.«
2. Kapitel Frühe Kindheitserinnerungen lassen sich nur schwer in eine chronologische Reihenfolge bringen und auch nicht auf Kommando abrufen. Stattdessen verkriechen sie sich im hintersten Winkel meines Gedächtnisses. Manchmal sehe ich mich wieder als Drei- oder Vierjährige, weiß jedoch nicht, warum ich an jenem Ort war oder was anschließend geschah. Doch ab und zu kommen die verlorenen Erinnerungen überraschend zurück — und wären oft besser verschüttet geblieben. Ich fürchte, dass es immer noch Schubladen gibt, zu denen mein Unterbewusstsein absichtlich den Schlüssel verloren hat: Aus Angst, dass ich ihren Inhalt nicht ertragen könnte. Doch eines Tages werden sich auch diese Schubladen aufzwingen lassen. Noch scheinen sie zu warten, bis ich das, was sie enthalten, verkraften kann. Ich freue mich nicht darauf, einen Blick hineinzuwerfen. Es fällt mir schwer, die genaue Reihenfolge der einzelnen Ereignisse zusammenzubringen. Ich weiß vielleicht noch, wie groß ich bei einer bestimmten Begebenheit ungefähr gewesen bin, kann aber unmöglich sagen, ob ich damals vier oder sechs Jahre alt war. Ich kann mich zum Beispiel noch an Sachen erinnern, die regelmäßig geschahen, aber nicht daran, ob das ein Jahr oder drei Jahre so ging, ob sie wöchentlich oder nur einmal im Monat passierten. Auch wenn das sicherlich keine große Rolle spielt, fällt es mir doch schwer, dieses Chaos zu ordnen und meine ersten Lebensjahre so sachlich und wahrheitsgemäß wie möglich zu schildern. Denn alle anderen, die sich auch noch daran erinnern können, haben gute Gründe, nicht die Wahrheit zu sagen oder sie zumindest so zu verdrehen, dass sich ihr eigenes Verhalten rechtfertigen
lässt. Ich weiß noch, dass ich mit meinem Bruder im Kinderheim gelebt habe. Ich muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein, als man uns von zu Hause wegholte. Er war anderthalb Jahre jünger als ich, also eigentlich noch ein Baby. Ich liebte Jimmy über alles. Wenn unser Vater kam, um uns für ein gemeinsames Mittagessen aus dem Kinderheim zu holen, soll ich mich um Jimmy gekümmert und ihn gefüttert haben wie eine Mutter. Ich selbst kann mich an diese Ausflüge nicht mehr erinnern, weiß aber noch, wie sehr ich Jimmy vergötterte. Was das Kinderheim betrifft, erinnere ich mich hauptsächlich an die braunen Vitamintabletten, die man uns jeden Morgen in kleinen lila Bechern austeilte. Und daran, dass man uns zwang, Rosenkohl zu essen. Ich hasste jeden Bissen davon, während der Kohl auf meinem Teller von Minute zu Minute kälter und immer ungenießbarer wurde. Im Kinderheim arbeitete eine Frau, die mich nach unserem allabendlichen Glas Milch öfter irgendwohin mitnahm, wo wir allein waren. Sie legte dann immer ihren Zeigefinger auf die Lippen, so als wäre das ein großes Geheimnis, ließ mich Platz nehmen und kämmte mein langes Haar. Sie verbrachte Stunden damit, es auf Lockenwickler zu drehen, und gab mir für ein paar Minuten am Tag das Gefühl, wunderschön und etwas Besonderes zu sein. (Meine Haare waren so dunkel und fein, dass ich stets gefragt wurde, ob ich Inderin oder Pakistanerin sei.) Wenn sie fertig war, gab mir die Frau einen Handspiegel, in dem ich mich betrachten und ihr Werk bewundern konnte. Für mich war es so etwas wie ein Zauberspiegel. Das meiste, was ich über meine frühe Kindheit und den Grund für unseren Heimaufenthalt weiß, habe ich von meiner Mutter. Die redete nur zu gern mit
anderen Leuten über mich, so als wäre ich gar nicht da. Während sie mit den Nachbarn plauderte, saß ich brav in einer Ecke und wartete, was sie mir wohl als Nächstes auftragen würde. Mittendrin fiel ihr dann wieder ein, dass es mich auch noch gab, woraufhin sie mich ermahnte: »Erzähl ihm bloß nicht, dass ich dir das gesagt habe.« Mein Stiefvater mochte es gar nicht, wenn über die Vergangenheit geredet wurde. Als ich Mitte zwanzig war, machte ich Dad ausfindig. Er hat mir von sich aus das eine oder andere erzählt, aber ich bedränge ihn nur ungern mit meinen Fragen. Anscheinend hatte Dad damals ein kleines Alkoholproblem, das Mum noch verschlimmerte, indem sie sich mit anderen Kerlen herumtrieb und ihm auch sonst das Leben zur Hölle machte. Er hatte uns bereits verlassen, bevor wir ins Kinderheim gekommen waren. Damals hatte Mum begonnen, sich mit Richard, dem Widerling, wie ich ihn nenne, zu treffen. Vielleicht wohnte er auch schon bei uns, obwohl er damals noch sehr jung gewesen sein muss — gerade mal sechzehn oder siebzehn. Er ist nämlich nur vierzehn Jahre älter als ich. Jimmy und ich kamen von einer Pflegefamilie zur nächsten. Die erste muss wirklich nett gewesen sein, auch wenn ich mich kaum noch an sie erinnern kann. Die zweite war weniger sympathisch. Auf mich wirkte sie irgendwie böse. Doch vielleicht war sie auch nur auf eine Art streng, die wir nicht gewohnt waren. Wir durften niemals miteinander tuscheln und nur sprechen, wenn wir dazu aufgefordert wurden. Als sie mich einmal dabei erwischten, wie ich Jimmy etwas zuflüsterte, klebten sie mir den Mund mit einem Klebeband zu, das vorher ein Paar neue Socken zusammengehalten hatte. Ich musste die ganze Nacht mit zugeklebtem Mund oben auf der Treppe sitzen, während alle anderen zu Bett gingen.
Obwohl es mir in dieser Pflegefamilie nicht gerade gut ging, wollte ich auf keinen Fall zurück nach Hause, ohne dass ich hätte sagen können, warum. »Ich freu mich schon drauf, wieder nach Hause zu kommen«, sagte ich Mum bei jedem Treffen, ohne es jedoch wirklich zu meinen. Wenn wir auf Besuch nach Hause durften, herrschte dort immer so eine beängstigende Atmosphäre, auch wenn in den paar Stunden nie irgendetwas Unangenehmes passierte. Ich verhielt mich so unauffällig wie möglich, um den neuen Mann im Haus nicht zu verärgern. Doch Jimmy kannte keine derartigen Hemmungen. Sobald man uns zu Hause abgesetzt hatte, schrie er wie am Spieß, so verängstigt war er. Ich spürte, dass das Richard wütend machte, was mich nur noch mehr einschüchterte. Aber egal, was ich tat – ich konnte Jimmy nicht beruhigen, bis uns die Sozialarbeiter wieder abholten. Wir saßen während der gesamten Besuchszeit einfach nur auf dem Sofa, während er schrie und ich versuchte, ihn zu trösten. Richards Wut und die Verzweiflung meiner Mutter nahmen immer bedrohlichere Formen an, während alle darauf warteten, dass die qualvolle Besuchszeit endlich vorüber wäre. Jimmy hatte eine große Narbe an der Stirn, die ihm bis ins Erwachsenenalter geblieben ist. Es hieß, er sei gegen den Couchtisch gefallen, bevor wir ins Heim kamen. Damals glaubte ich diese Geschichte noch, aber heute muss ich sagen, dass die Narbe dafür viel zu groß war. Jimmy war damals noch sehr klein, kann also nicht besonders tief gefallen sein. Mittlerweile frage ich mich, ob ihm nicht etwas sehr viel Schlimmeres zugestoßen ist, was auch der eigentliche Grund war, warum wir überhaupt ins Kinderheim kamen und warum er jedes Mal solche Angst da-vor hatte, nach Hause zurückzukehren. Da Jimmy viel zu klein war, um
sich noch daran zu erinnern, werde ich die Wahrheit wohl nie herausfinden. Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass wir wegen Vernachlässigung ins Heim gekommen sind und rote, wunde Ringe am Po gehabt hatten, weil man uns so lange auf unseren Töpfchen hatte sitzen lassen. Aber die Details blieben immer äußerst vage. Bevor wir ins Heim kamen, haben wir in einem kleinen Apartment gelebt, aber ich kann mich nur noch an die Sozialwohnung erinnern, die Mum mit Richard bezogen hat. Vielleicht hat ihnen das geholfen, die Behörden dazu zu bewegen, mich ihnen zurückzugeben. Außerdem hatten sie noch ein gemeinsames Kind, einen kleinen Jungen namens Pete. Sie müssen gewirkt haben wie eine ganz normale Familie, wie Menschen, die sich gefangen haben und nun reif genug sind, Verantwortung zu übernehmen. Richard war zwar immer noch ein Teenager, aber aus irgendeinem Grund hielt man ihn für erwachsen genug, Verantwortung für Kinder zu übernehmen. Ich frage mich manchmal, ob Mum und Richard mich auch zurückgeholt hätten, wenn ich mich genauso benommen hätte wie Jimmy. Ich wünschte, ich hätte es getan, da Jimmy von sehr netten Leuten adoptiert worden ist. Aber damals hatte ich viel zu viel Angst, Richard zu verärgern, und verhielt mich in seiner Gegenwart lieber ganz brav. Jahre später sollte ich erfahren, dass sie den Behörden gesagt hatten: »Wir wollen nur das Mädchen.« Ich konnte es selbst kaum glauben, aber Jimmys Akten bestätigen das. Jimmy hat die Akten selbst gelesen und fühlte sich deshalb extrem zurückgewiesen, obwohl ich ihm erklärt habe, dass er ein Riesenglück gehabt hat. Ich bekam auch mit, wie sich meine Mutter damit brüstete, jemanden bei den Behörden bestochen zu haben, um mich wieder zurückzubekommen. Und dass
zwei ältere Beamte gekündigt hätten, als sie hörten, dass ich in diese »Hölle«, wie es in einem der Dokumente heißt, zurückkehren sollte. Meine verschwundenen Akten wären sicherlich eine hochinteressante Lektüre. Aber im Grunde ist gar nicht wichtig, was in den ersten Jahren passiert ist, denn die wirklichen Qualen sollten erst noch beginnen. Eine Szene, an die ich mich noch ganz deutlich erinnern kann, ist, wie ich mich vor der Haustür der Pflegefamilie von Jimmy verabschiede. Er weinte, was ich am liebsten auch getan hätte, aber ich traute mich nicht, meine Gefühle zu zeigen. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass Jimmy ein paar Wochen später ebenfalls nach Hause kommen würde, aber daran glaubte ich nicht. Wahrscheinlich hatte ich zufällig etwas mitbekommen und wusste, dass sie logen. Ich wusste, dass sie uns trennen würden, und das brach mir das Herz. Ich hatte meine Pflegefamilie gehasst, war dort aber immerhin noch mit Jimmy zusammen gewesen. Jetzt musste ich woandershin und ahnte bereits, dass es mir dort nicht gut gehen würde. Nur dass ich jetzt nicht mal mehr ihn zum Kuscheln und Reden hatte. Mum sagte ich von alledem kein Wort. Stattdessen tat ich so, als könnte ich es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Ich wollte sie einfach nicht verletzen. Kleine Kinder reißen sich regelrecht darum, ihren Eltern eine Freude zu machen. Nachdem Jimmy und ich getrennt worden waren, versuchte ich telepathisch mit ihm zu kommunizieren, sobald ich mich allein und unbeobachtet glaubte. Ich hatte ein Muttermal auf dem Arm und bildete mir ein, es sähe aus wie ein »J«. Ich fixierte es und sprach in Gedanken mit Jimmy. Ich versicherte ihm, dass ich ihn bald besuchen würde, fragte ihn, wie sein Tag gewesen war, und berichtete ihm von meinem. Ich habe ihn nie
mehr gesehen, bis wir beide erwachsen waren und uns längst auseinander gelebt hatten. Aber damals tröstete mich die Vorstellung ein bisschen, nach wie vor mit ihm verbunden zu sein. Nach Pete bekamen Mum und Richard noch drei weitere Söhne, ungefähr jedes Jahr einen. Doch keiner von ihnen konnte Jimmys Platz in meinem Herzen einnehmen. Aber das musste ich für mich behalten, weil man mir verboten hatte, über ihn zu reden. Als ob er nie existiert hätte. Wir hatten viele solche Geheimnisse. Zum Beispiel durfte ich auch niemandem erzählen, dass Richard nur mein Stiefvater und nicht mein richtiger Vater war, obwohl die Nachbarn mit Sicherheit Bescheid gewusst haben. Selbst meine vier Halbbrüder erfuhren erst, dass ich nur ihre Halbschwester bin, als ich bereits Ende zwanzig war und das Gerichtsverfahren alles ans Tageslicht brachte. Mir war jeglicher Kontakt zur Familie meines Vaters untersagt, so als würde sie gar nicht existieren. An meine Großeltern väterlicherseits habe ich nicht die geringste Erinnerung. Am liebsten hätte Richard auch noch bestimmt, was man wissen durfte und was nicht. Mein Vater hat mir erzählt, dass er ein paarmal versucht hat, mich zu besuchen. Darauf reagierte man derart aggressiv, dass er beschloss wegzubleiben, damit sich die Lage wieder beruhigte und mir nichts passierte. Damit schien sich auch noch mein letzter Verbündeter in Luft aufgelöst zu haben, obwohl ich später erfahren habe, dass er anderweitig versucht hat, mich im Auge zu behalten. Eines Tages fiel ein Foto von Jimmy, das hinter einem anderen Bild gesteckt hatte, aus dem Fotoalbum. »Wer ist denn das?«, fragte einer meiner kleinen Brüder. Richard wurde sofort wütend, warf das Foto in den Mülleimer und machte uns unmissverständlich klar, dass
man keine Fragen über den kleinen Jungen auf dem Foto stellen durfte. Jimmy gehörte nicht mehr zur Familie. Jedes Haus, in dem wir lebten, wurde zwangsläufig zu einem auf Hochglanz polierten Vorzeigedomizil. Mit ein Grund, warum es Mum und Richard gelang, die Behörden von ihrer Eignung als Eltern zu überzeugen, muss ihr blitzsauberer, superkindersicherer Haushalt gewesen sein. Mein Stiefvater war regelrecht besessen davon, die Wohnung zu verschönern. Es verging kein Tag, an dem er nicht irgendein Zimmer neu tapezierte, weißelte, vertäfelte oder mit einem falschen Kamin bestückte. Ich band sogar meine Schulbücher mit seinen Tapetenresten ein. Unsere Privatsphäre war ihm heilig. Tagsüber schützten hübsche Gardinen vor neugierigen Blicken, die bei Einbruch der Dunkelheit durch teure, schwere Samtvorhänge verstärkt wurden. Keine Ahnung, woher sie das Geld für solche Anschaffungen nahmen, aber sie bestellten alles aus dem Katalog. Unser Heim durfte keinerlei Grund zur Beanstandung bieten. Gleichzeitig musste jeder Einblick in unsere Privatsphäre verhindert werden. Rund um das Haus gab es Tore, hohe Zäune und noch höhere Koniferen. Schlösser und Riegel sorgten dafür, dass niemand, nicht einmal die eigenen Familienmitglieder, problemlos ein- und ausgehen konnte. Richard besaß die absolute Kontrolle über sein Reich. Unsere Häuser waren stets »die hübschesten« im ganzen Viertel. Jeder von uns war ständig mit Hausarbeit beschäftigt. Richards Adleraugen entging nicht das kleinste Staubkorn. Wenn sich ein Fussel von unseren Socken im Teppich verfing, wurden wir sofort angebrüllt und mussten ihn entfernen. Also schlurften wir in Hausschuhen umher, um auf der sicheren Seite zu sein. Besucher konnten es kaum fassen, wie ein Haushalt, in dem so viele Kinder lebten, derart sauber
und ordentlich sein konnte. Jeder Küchenschrank musste einmal pro Tag leer geräumt und ausgewischt, jedes Möbelstück abgerückt, gereinigt und wieder an Ort und Stelle geschoben werden, sogar Herd und Kühlschrank. Die Leisten über Türen und Fenstern, die normalerweise gar nicht einsehbar sind, wurden täglich abgestaubt. Wir scheuerten und schrubbten wie eine von einem tyrannischen, cholerischen Oberfeldwebel befehligte Putzkolonne. Die Treppenstufen mussten jeden Morgen mit dem Handbesen sauber gefegt werden. Außerdem wurden sie von Mum im Laufe des Tages noch drei- bis viermal gesaugt. Dem Garten wurde genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt, die Rasenkanten waren mit der Schere geschnitten. Aber die Hausarbeit gab uns immerhin die Möglichkeit, beschäftigt zu sein und Richard aus dem Weg zu gehen, wenn er mal wieder schlechte Laune hatte. Richard war ungefähr vier Jahre jünger als Mum und gerade mal achtzehn, als ich wieder nach Hause zurückkam. Aber für mich war er trotzdem ein erwachsener Mann. Ich wusste ganz genau, dass schon ein Widerwort oder der geringste Ungehorsam genügte, um unsere gesamte Sicherheit infrage zu stellen. Kinder spüren so etwas ganz instinktiv, genauso wie sie spüren, welchem Lehrer sie auf der Nase herumtanzen können und welcher keinerlei Fehlverhalten akzeptiert. Auch wenn ich das Tabletteneinnehmen im Kinderheim gehasst hatte, hatte ich mich nie davor gefürchtet, den Erziehern Widerworte zu geben. Aber irgendetwas an diesem Mann sagte mir, dass jeglicher Widerspruch oder Protest schlimme Folgen haben würde. Er sah überhaupt nicht aus wie ein Monster, auch wenn er über 1,83 groß, schlank und muskulös war. Er hatte rote Haare und helle Augen wie eine Schlange. Er kleidete sich stets lässig, aber stilvoll. Er legte
ebenso viel Wert auf sein Aussehen wie auf sein Haus. Über die Jahre habe ich seine Kleider so oft gebügelt, dass ich noch ganz genau weiß, was er besaß: makellos gebügelte Jeans und Polohemden, Pullis mit V-Ausschnitt und braune Stoffhosen. Als ich älter wurde, gestanden mir immer mehr Freundinnen, dass er ihnen gefiele. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir ganz schlecht, denn für mich war er das hässlichste Wesen, das man sich nur vorstellen konnte. Er hatte sich sogar Mums Namen in den Nacken tätowieren lassen, um aller Welt zu zeigen, was für ein Kerl er war. Sobald mich das Haus verschluckte und den Blicken der Außenwelt entzog, ließ er mich seinen unverhüllten Hass spüren. Jedes Mal, wenn er an mir vorbeikam und Mum gerade nicht hinsah, kniff er mich, trat mich oder zog mich so fest an den Haaren, dass ich Angst hatte, er könnte sie mir mit den Wurzeln ausreißen. Dann brachte er seine Lippen ganz nah an mein Ohr und zischte, wie sehr er mich hassen würde, während seine Finger sich um mein Gesicht schlossen wie ein Schraubstock. »Ich hasse dich, du kleiner Pakibastard«, zischte er mich an. »Alles war bestens, bis du kamst, du kleine Schlampe. Du bist so was von hässlich! Warte nur, bis wir allein sind.« Sein Hass auf mich schien derart übermäßig, dass er sich kaum noch beherrschen konnte. Mich als »Paki« zu beschimpfen, war die schlimmste Beleidigung, die er sich vorstellen konnte, da er seine rassistischen Ansichten so stolz vor sich her trug wie andere einen Verdienstorden. Er gewöhnte sich an, in mein Essen zu spucken, sobald er Gelegenheit dazu hatte. Ich musste seine Spucke dann unter den Kartoffelbrei oder die Soße rühren, um sie hinunterschlucken zu können, da er mich stets zwang, den Teller leer zu essen.
»Du stehst nicht vom Tisch auf, bevor der Teller leer ist«, sagte er gern und gebärdete sich wie ein besorgter Vater, der Wert auf gesunde Ernährung legt. Dabei grinste er die ganze Zeit über in sich hinein, weil er ganz genau wusste, was er getan hatte. Als mein Bruder Pete alt genug war, um zu sprechen, beobachtete er Richard einmal dabei. »Hey, Dad«, quietschte er, »warum hast du in Janeys Essen gespuckt?« »Red keinen solchen Blödsinn«, schnauzte er ihn an. »Das habe ich doch gar nicht.« Da ich die Aufmerksamkeit meiner Mutter erregen wollte und glaubte, den kleinen Pete als Zeugen zu haben, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Doch, das hat er. Das macht er immer.« Aber sie konnte einfach nicht glauben, dass jemand etwas so Ekelhaftes tat. Von diesem Moment an machte es sich Richard zur Gewohnheit, extra laut über meinem Teller zu husten und noch mehr Schleim hineinzuspucken, wenn meine Mutter gerade nicht hinsah. Woraufhin sie nur gereizt »Pfui!« sagte und ihn ermahnte, nicht so albern zu sein, so als wäre das bloß ein schlechter Scherz. Trotzdem muss sie gewusst haben, wie sehr er mich hasste, da sie mich als Kleinkind nur ungern mit ihm allein ließ. Wenn sie merkte, dass er wieder schlechte Laune hatte und sie aufs Klo musste, rief sie nach mir und bat mich mitzukommen, genau wie man seinen Hund ruft. In der Toilette musste ich mich mit dem Rücken zu ihr auf den Boden setzen, während sie ihr Geschäft verrichtete. Ich wüsste nicht, warum sie das sonst hätte tun sollen. Wir haben allerdings nie darüber geredet, und ich war immer froh, mitgehen zu können, um so einer Ohrfeige oder einem Fußtritt zu entgehen. Was sie jedoch nicht begriff, war, dass Richard gar nicht erst
schlechte Laune haben musste, um mich zu schlagen oder mir Beleidigungen ins Ohr zu zischen – das tat er nämlich die ganze Zeit über. Das Haus hatte drei Zimmer, sodass ich von Anfang an ein Zimmer für mich allein hatte. Es war wunderschön eingerichtet – ein Kleinmädchenzimmer wie aus dem Bilderbuch. Ich hatte eine Tapete mit Sarah-Jane-Motiven, die ein kleines Mädchen mit einem großen, weichkrempigen Hut zeigten. Sie wurde irgendwann gegen eine mit Pierrot- und später gegen eine mit Pferdemotiven ausgetauscht. Ich besaß auch jede Menge Spielsachen, durfte allerdings nie damit spielen, außer ich tat Richard einen »Gefallen«. Diese »Gefallen« wurden zu einem festen Bestandteil meines Lebens. Wenn mich Mum in Richards Abwesenheit draußen spielen ließ und er mich beim Nachhausekommen dabei erwischte, schuldete ich ihm einen »Gefallen«. Wenn ich eine Süßigkeit essen, auf die Geburtstagsparty einer Freundin gehen oder die Muppetshow sehen wollte, erlaubte er mir das unter Umständen, versäumte es jedoch nie, mich darauf hinzuweisen, dass ich ihm noch einen Gefallen schuldete. Schon bald hörte ich auf, ihn noch um irgendwas zu bitten. Aber die »Gefallen« musste ich ihm trotzdem tun. Manchmal nannte er sie auch »Strafen«, zum Beispiel für so schwer wiegende Vergehen wie Unhöflichsein oder Schmollen. Heute weiß ich, dass er die Gefallen so oder so eingefordert hätte, und wünschte, ich hätte mehr dafür herausgeschlagen. Aber damals konnte ich sein Spiel noch nicht durchschauen. Er schaffte es immer wieder, mich völlig zu verwirren und einzuschüchtern. Mein Lieblingsspielzeug war ein riesiger Stoffhund namens Wolfie, der beinahe so groß war wie ich. Wolfie besaß Gurte, durch die ich meine Arme steckte, damit er mit mir tanzen und durchs Zimmer laufen
konnte. Er war mein bester Freund. Wenn Mum zu Hause war und mich Richard bestrafen wollte, flüsterte er mir immer ins Ohr: »Jetzt pass gut auf!«. Anschließend begann er mich wegen irgendwas zusammenzuschreien und brüllte meine Mutter an, was für eine blöde Kuh ich sei. Wenn sie sah, in welcher Laune er war, pflichtete sie ihm bei und bemerkte betrübt, was für ein anstrengendes Mädchen ich sei. Daraufhin pflegte mich Richard zu treten, zu schlagen und mich an meinem Pferdeschwanz die Treppe hochzuschleifen, und zwar so, dass ich jeden Halt verlor und tatsächlich an den Haaren nach oben gezerrt wurde. Mum gegenüber behauptete er, er würde mich ins Bett bringen und ein ernstes Wort mit mir reden, woraufhin er mich nur noch mehr schlug. »Warte nur, bis Mum ausgeht«, sagte er bevor er mein Gesicht in seine Schraubstockfinger nahm. »Dann blüht dir was.« Anfangs weinte ich immer, wenn er mich mit der bloßen Hand, einem Schuh oder einem Stock schlug. Doch schon bald wollte ich ihm diesen Triumph nicht mehr gönnen. Ich konnte nicht verhindern, dass mir vor lauter Schmerz die Tränen in die Augen traten, fand jedoch heraus, dass ich sie zurückdrängen konnte, wenn ich die Zähne zusammenbiss und ihn anstarrte. Das war die einzige Trotzreaktion, zu der ich den Mut und die Kraft hatte. Leider führte sie häufig dazu, dass er mich nur noch mehr schlug. »Du weinst nicht?«, sagte er dann jedes Mal. »Tut das denn immer noch nicht genügend weh?« Aber wenn ich weinte, wurde er noch wütender und sagte, er würde mir schon noch einen Grund zum Weinen geben. Wahrscheinlich machte er sowieso, was er wollte, egal, was ich sagte oder tat. Mum muss gewusst haben, dass er oft zu weit ging, denn manchmal schlich sie hoch in mein Zimmer,
um nachzusehen, ob ich noch atmete, nachdem er mich ins Bett gebracht hatte. Ich atmete dann extra flach, um sie zu erschrecken und dafür zu bestrafen, dass sie nichts gegen seine Quälereien unternahm. Das war nicht besonders nett von mir, aber ich war wirklich wütend auf sie. »Janey, Janey«, flüsterte sie dann, und ich riss die Augen auf, so als ob ich geschlafen hätte. »Atme ordentlich«, schalt sie mich wütend, weil ich sie so erschreckt hatte. Aber sie wurde nie laut, weil Richard nicht mitbekommen sollte, dass sie nach mir sah. Obwohl ich böse auf sie war, weil sie mir nicht half, war ich gleichzeitig froh, dass er sie nicht auch noch zusammengeschlagen hatte. Bei anderen Gelegenheiten erzählte mir Richard, was er und ich später alles tun würden. Wenn ich nicht begeistert genug reagierte, mich abwandte oder weinte, sagte er: »Na gut, du undankbares Luder, wart nur ab, was ich gleich tun werde.« Dann suchte er Streit mit Mum und schlug sie vor meinen Augen zusammen. »Der einzige Grund, warum deine Mutter und ich überhaupt streiten, bist du«, sagte er mir immer wieder. Und ich glaubte ihm und wurde von dieser Schuld fast erdrückt. Ich lernte, dass ich stets Ja sagen, lächeln und dankbar sein musste, weil ich oder meine Mutter sonst grausam bestraft würden. Wie ein kleiner Junge, der Insekten die Flügel ausreißt oder sie in Einmachgläser steckt, um zuzusehen, wie sie qualvoll verenden, schien es Richard regelrecht zu genießen, mich grundlos zu quälen. In meinem Zimmer stand der Wäscheschrank. Immer wieder befahl mir Richard, mich auszuziehen und zu den Stapeln mit Handtüchern zu hocken. Ich weiß nicht, wie lange er mich dort sitzen ließ, denn wenn man klein und völlig verängstigt ist, verliert man jedes Zeitgefühl. Ich
weiß nicht mal, ob der Schrank ein Schloss hatte, weil ich mich nie traute, herauszukriechen, bevor er es mir erlaubte. Wenn ich mich seinem Befehl widersetzt hätte, hätten mir nur noch schlimmere Strafen gedroht. Die Regel war die, dass ich erdulden musste, was er mir auferlegte, und zwar mit einem dankbaren Lächeln. »Eine blöde Kuh sein« war eines der schlimmsten »Vergehen«, derer ich mich schuldig machen konnte. Manchmal kam er zurück, um nachzuschauen, ob ich vor lauter Hitze nicht in Ohnmacht gefallen war, nur um die Schranktür danach erneut zu schließen und mich wieder auf unbestimmte Zeit allein im Dunkeln sitzen zu lassen. In meinem Zimmer gab es auch eine Fensterbank. Ich weiß noch, dass er mich zwang hinaufzuklettern. Was dann geschah, habe ich verdrängt. Eines Tages werden auch diese Erinnerungen zurückkehren, aber freuen werde ich mich darüber nicht. Diese körperlichen Erniedrigungen und Quälereien waren jedoch längst nicht so verstörend wie die Psychospielchen, mit denen er sofort begonnen hatte, nachdem ich wieder zu Hause war. »Geh und lass mir heißes Wasser einlaufen, Janey«, bat mich beispielsweise meine Mum, woraufhin ich hoch ins Bad lief. »Geh und stell das heiße Wasser ab«, befahl mir Richard, kaum, dass ich es einlaufen ließ. Ich wusste, dass ich widerspruchslos gehorchen musste. »Warum hast du mir kein heißes Wasser einlaufen lassen?«, fragte Mum, wenn sie kurz darauf ins Bad kam. »Hab ich doch«, verteidigte ich mich. »Aber er hat mir befohlen, den Hahn wieder zuzudrehen.« »Du infame kleine Lügnerin«, brüllte er dann. Sobald er erst einmal angefangen hatte zu toben, konnte ich Mum nicht mehr davon überzeugen, dass ich die Wahrheit sagte. Wenn ich mich weiterhin verteidigte,
würde er mich verprügeln. Also verstummte ich und wusste ganz genau, dass es nicht lang dauern würde, bis er sich ein neues Spiel ausdachte. Richard war äußerst fantasievoll, wenn es darum ging, mit welchen Gegenständen ich geschlagen werden sollte. Manchmal war es ein Hausschuh, seine Hand oder ein Bambusstock. Ich musste mir mein Folterwerkzeug selbst aussuchen. Als ich älter wurde, verprügelte er mich nicht mehr so häufig. Vielleicht, weil er längst erreicht hatte, dass ich ihm blind gehorchte. Stattdessen versetzte er mir nur einen Boxhieb oder eine Kopfnuss, die mich durchs ganze Zimmer fliegen ließen. Oder er zwang mich, ihm einen »Gefallen« zu tun. Egal, wie ich mich verhielt — ich hatte keine Chance, seinen Bestrafungen zu entgehen. »Möchtest du Frühstück, Jane?«, rief meine Mutter eines Morgens aus der Küche, während ich im Zimmer nebenan auf dem Sofa saß. »Ja, bitte«, rief ich zurück. »Nein, du bekommst kein Frühstück«, zischte mich mein Stiefvater an, der auf dem Sessel neben mir saß. »Sag ihr, du willst nichts.« »Ich glaube, ich möchte doch nichts frühstücken«, rief ich. »Warum denn nicht?«, fragte Mum und tauchte im Türrahmen auf. »Die hat sie doch nicht mehr alle«, schrie er und sprang aus seinem Sessel auf. »Die weiß nie, was sie will. Willst du jetzt frühstücken oder nicht?« »Ja, bitte«, stammelte ich verwirrt. »Was willst du?«, fragte meine Mutter und schüttelte verwirrt den Kopf. »Toast«, sagte ich, woraufhin sie in die Küche ging, um mir welchen zu machen. Kaum, dass sie draußen war, schlossen sich Richards Finger schmerzhaft um mein Gesicht. Seines war
nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, als er flüsterte: »Ich hab dir doch gesagt, dass du kein Frühstück willst. Jetzt sag ihr gefälligst Bescheid.« »Ich mag keinen Toast, Mum«, rief ich folgsam in Richtung Küche. »Ich habe keinen Hunger.« »Hör auf, mich wahnsinnig zu machen, Jane«, schrie sie. »Hör auf, deine Mutter wahnsinnig zu machen!«, brüllte Richard und verpasste mir eine heftige Kopfnuss. »Die spinnt«, rief er Mum zu. »Die will uns bloß provozieren!« Er liebte diese Psychospielchen, mit denen er Mum gegen mich aufbrachte. Was ihm nur wieder einen neuen Vorwand gab, mich zu schlagen. Ich wusste bald gar nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ich kann mich noch gut an die erste Quälerei mit sexuellem Hintergrund erinnern. Doch wahrscheinlich gibt es noch frühere, die ich verdrängt habe. Das Ganze muss wenige Jahre nach meiner Rückkehr nach Hause passiert sein, weil ich noch weiß, dass ich ein Bett mit meinem Bruder Pete teilte. Mein nächstjüngerer Bruder, Dan, war ebenfalls mit uns im Zimmer, allerdings in seinem eigenen Bett. Ich hatte aus meinem Zimmer ausziehen müssen, weil es mal wieder renoviert wurde. Pete und ich lagen Kopf an Fuß in seinem Bett. Dass schon vorher etwas Derartiges passiert sein muss, vermute ich auch deshalb, weil ich in jener Nacht völlig verängstigt wach lag. Ich hörte, wie meine Mutter das Haus verließ, und wusste, dass mich Richard gleich holen würde. Jedes Geräusch sprach Bände. Erst hörte ich die Wohnzimmertür aufgehen und dann Richards leise Schritte auf der Treppe. Ich schloss die Augen und versuchte nicht zu zittern, damit ich mich schlafend stellen konnte. Ich hoffte, in Sicherheit zu sein, weil
Pete neben mir lag, den Richard bestimmt nicht aufwecken wollte. Ich klammerte mich immer wieder an solche Strohhalme, um wenigstens noch einen Funken Hoffnung zu haben — Hoffnungen, die jedes Mal enttäuscht wurden. Ich spürte, wie die Zimmertür neben meinem Kopf aufging und Richard mich wachrüttelte. Ich öffnete die Augen und sah ihn an. »Steh auf«, flüsterte er, »aber sei leise.« Ich kletterte aus dem warmen Bett und ließ einen friedlich schlafenden Pete zurück, während Richard die Tür hinter mir schloss. Ich wartete auf dem Treppenabsatz, bis er auch alle anderen Türen auf diesem Stockwerk geschlossen hatte und sich vor mich hinkniete. »Wir werden ein kleines Spiel spielen«, sagte er. »Mach die Augen zu und wag es ja nicht, sie aufzumachen.« Ich gehorchte wortlos und hörte, wie er den Reißverschluss seiner Hose öffnete. »Lass die Augen zu«, wiederholte er. »Jetzt spielen wir ein kleines Spielchen.« Ich nickte, weil ich ihn nicht verärgern wollte. »Ich will mit meinem Daumen spielen. Du hältst ihn fest, streichelst ihn und fährst mit deiner Hand auf und ab. Dann gibt es eine Überraschung.« Ich wusste ganz genau, dass er mir nicht seinen Daumen in die Hand gegeben hatte. Auch das spricht dafür, dass schon einmal etwas Ähnliches vorgefallen sein muss. Aber ich spielte mit und tat, was er mir gesagt hatte. Je kooperativer ich mich zeigte, so hoffte ich, desto schneller dürfte ich zurück ins Bett und würde nicht verprügelt werden. »Was hast du da gerade in der Hand?«, fragte er, während ich an ihm herumfummelte. »Deinen Daumen«, entgegnete ich folgsam,
woraufhin es die angekündigte Überraschung gab und er mir befahl, ins Bad zu gehen und mir die Hände zu waschen. Ein wenig Sperma war auf den Teppich gespritzt. Er verrieb es mit dem Fuß und machte dabei dieses knarzende Geräusch, das ich in den folgenden Jahren noch viele Male hören sollte. Als ich wieder aus dem Bad kam, sah ich den zerdrückten Teppichflor und konnte mir nicht vorstellen, dass Mum nicht das Geringste bemerken würde. Mit der Zeit tauchten immer mehr solcher Flecken auf und erinnerten mich bei jedem Vorbeigehen an das, was ich hatte tun müssen. »Möchtest du noch etwas essen?«, fragte mich Richard als Nächstes, und ich nickte. »Dann komm runter, ich mach dir Toast und Tee.« Dieses Mal war er wirklich nett zu mir, so als hätten wir ein Spiel gespielt, das uns beiden Spaß machte. Aber er war nicht jedes Mal so nett, wenn ich getan hatte, was er von mir verlangte. Eines Nachts nahm er mich mit in die Küche, zog das lange Fleischermesser mit dem dicken Holzgriff aus der Schublade, drückte mich gegen die Wand und hielt mir die rasiermesserscharfe Klinge an den Hals. »Wenn du es je wagen solltest zu erzählen, was wir da eben getan haben, bring ich dich um«, zischte er mir ins Gesicht. »Und anschließend bring ich Mum um. Niemand wird je herausfinden, was passiert ist, weil ich einfach sagen werde, dass ihr weggelaufen seid.« Was ich ihm durchaus zutraute, da ich gesehen hatte, wie brutal er Mum schlug, wenn sie ihn wütend machte. Dann stieß er ihren Kopf gegen Boden und Wände oder zertrümmerte Stühle auf ihr, während ich auf dem Sofa saß und meine schreienden, kleinen Brüder tröstete. Und jedes Mal behauptete er, das sei alles nur meine Schuld, und ich glaubte ihm. Ich fühlte mich unglaublich schuldig und hatte furchtbare
Angst, er könnte Mum tatsächlich umbringen. Und dann hätte ich überhaupt niemanden mehr, der mich vor ihm beschützen könnte. Kaum dass ich wieder zu Hause lebte, kam ich in den Kindergarten. Ich liebte es, dorthin zu gehen, doch was mir daran am meisten gefiel, war, aus dem Haus zu kommen und mit Menschen zusammen sein zu dürfen, die mich zu mögen schienen. Während meiner Schulzeit gab es so einige, die auf mich zukamen und mich fragten, wie es mir ginge. Erst viel später sollte ich herausfinden, dass das Freunde meines Vaters waren, die herausfinden sollten, ob mit mir alles in Ordnung war. Die Mutter einer Freundin erstattete ihm von Anfang an Bericht. Doch weil ich in der Schule immer so fröhlich war und keinerlei Spuren von Misshandlungen aufwies, konnten sie alle Entwarnung geben. Hätte ich das doch nur gewusst! Dann hätte ich meinem Vater irgendeine Nachricht zukommen lassen können, und wir hätten vielleicht einen Weg gefunden, mich aus diesem Leben herauszuholen. Trotzdem muss es Leute gegeben haben, die ahnten, was sich bei uns zu Hause abspielte, da immer mal wieder Sozialarbeiter bei uns auftauchten. Aber Richard warf sie jedes Mal in hohem Bogen hinaus. Was dann passierte, weiß ich nicht, denn als die Polizei Jahre später meine Akten einsehen wollte, waren sie spurlos verschwunden. Keiner der Sozialarbeiter hat je mit mir geredet. Dass sie Angst hatten, kann ich ihnen nicht verübeln, denn Richard machte so gut wie jedem Angst. Es gab sicherlich Leute, die genauso stark oder sogar noch stärker waren als er. Aber wenn Richard einen seiner gefürchteten Tobsuchtsanfälle bekam, verlor er jede Beherrschung. Nur sehr wenige konnten es dann mit seiner Aggression und seiner Hinterhältigkeit aufnehmen.
Der Familienalltag bietet Erwachsenen unzählige Gelegenheiten, Kindern Leid zuzufügen, wenn sie es darauf anlegen. Als wir noch klein waren, wurden wir immer von Mum gebadet, aber ein paarmal badete uns auch Richard. Ich nehme an, dass Mum damals entweder krank oder hochschwanger gewesen sein muss. Außerdem schaffte er es, die Sache so hinzudrehen, als täte er ihr damit nur einen Gefallen. Eines Abends sagte er, er würde mir die Haare waschen. Als wir nach oben gingen, zitterte ich schon vor Angst und fragte mich, welche Quälereien er sich diesmal für mich ausgedacht hatte. Ich hatte keine Chance, ihm zu entkommen. Als ich in die Badewanne stieg, fühlte ich mich wie ein Verurteilter auf dem Weg zum Schafott. Ein paar Minuten lang war alles so, wie es sein sollte, und ich verhielt mich so gelassen und fröhlich wie möglich. Richard ließ sich nie anmerken, wohin er mich gleich schlagen würde oder womit. Aber ich ließ mich nicht täuschen, ich wusste, was kommen würde. Als es an der Zeit war, die Haare nass zu machen, spürte ich, wie er zupackte. Er drückte meinen Kopf unter Wasser und hielt ihn dort fest. Dabei genoss er es sichtlich, Macht über Leben und Tod zu haben. Als ich nach Luft rang und das Wasser in meinen Mund strömte, glaubte ich sterben zu müssen, glaubte, dass er mich so sehr hasste, dass er mich umbringen wollte. Mit meiner kindlichen Gegenwehr konnte ich nicht das Geringste gegen seine kräftigen Hände ausrichten, stattdessen machte ich ihn nur noch wütender. Nach einer halben Ewigkeit zog er mich an den Haaren wieder nach oben. Als ich wimmerte, quetschte er mein Gesicht zwischen seinen Fingern und schlug mir mehrfach auf den Kopf. »Halt's Maul und hör sofort auf zu heulen«,
herrschte er mich an. Ich zwang mich, still zu bleiben, während er mir die Haare wusch, als wäre nichts geschehen – wohl wissend, dass er mir als Nächstes das Shampoo aus den Haaren spülen musste und der Versuchung einer zweiten Attacke wohl kaum widerstehen würde. Als es so weit war, hielt ich mich so gut es ging am Badewannenrand fest. Aber er befahl mir loszulassen und drückte mich erneut unter Wasser. Mein lächerlicher Verteidigungsversuch hatte ihn nur noch wütender gemacht, weil ich es gewagt hatte, seine Macht infrage zu stellen. Ein paar Sekunden später kam ich spuckend und schreiend wieder hoch, woraufhin er mir Mund und Nase zuhielt und mir drohte, mich für immer zum Schweigen zu bringen. Danach zerrte er mich grob aus der Badewanne und packte mich so fest an den Armen, dass ich dachte, er würde mir sämtliche Knochen brechen, während meine Beine schmerzhaft gegen den Badewannenrand stießen. »Zieh deinen Schlafanzug an!«, brüllte er und ich gehorchte, heilfroh, dem Wasser entronnen und noch am Leben zu sein. Ich ging auf zittrigen Beinen nach unten, und als ich Mum sah, brach ich in Tränen aus. »Was hast du denn?« fragte sie mich. »Er hat versucht, mich zu ertränken.« Das musste er gehört haben, denn er kam sofort ins Zimmer gerast. Er brüllte, wie ungezogen ich gewesen sei, dass ich mich geweigert hätte, mir die Haare waschen zu lassen und ein Riesentheater gemacht hätte, nur weil ein wenig Shampoo in meine Augen gekommen sei. »Oh, sie mochte es noch nie, die Haare gewaschen zu bekommen«, pflichtete ihm meine Mutter bei. Wenn sie nicht selbst zusammengeschlagen werden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zuzustimmen.
Ich wurde mit einer Kopfnuss ins Bett geschickt, weil ich so widerspenstig gewesen wäre. Wenn ich badete, stellte Richard manchmal eine Leiter an die Hauswand und sah zum Fenster herein, so als wäre das nur ein harmloser Scherz. Mum lachte bloß und sagte, ich müsste meine Scham überwinden. Richard schaffte es immer, alles so hinzudrehen, als sei es nur zu meinem Besten, als sei alles, was mir zustieß, allein meine Schuld. Als wir noch klein waren, durften wir nur am Sonntagabend baden und mussten uns das Badewasser teilen, um Geld zu sparen. Als ich größer wurde, durfte ich zusätzlich noch einmal während der Woche baden. Manchmal hatte Richard kurz vorher selbst gebadet und befahl mir, sein Badewasser zu benutzen. Er hinterließ stets etwas, das wie auf dem Wasser schwimmendes Sperma aussah. Beim ersten Mal versuchte ich mich davor zu drücken und machte mein Haar im Waschbecken nass, damit es so aussah, als ob ich gebadet hätte. Aber er kam hoch, um nachzusehen. Er öffnete die Badezimmertür und zwinkerte mir zu, während ich in das dreckige Badewasser stieg. Natürlich wusste er ganz genau, wie sehr ich mich davor ekelte. Wenn ich danach wieder herunterkam, war ich »verstockt und launisch«, weshalb ich eine gehörige Tracht Prügel bekam und ins Bett geschickt wurde. Als ich sieben Jahre alt war, fand ich es zu Hause so unerträglich, dass ich beschloss auszureißen. Ich träumte ständig davon, wegzulaufen, aber wenn es dann so weit war, erschien mir alles viel zu kompliziert. Ich war damals fest davon überzeugt, dass Richard Gedanken lesen konnte. Die Vorstellung, dass er meine Pläne kannte, machte mich noch viel ängstlicher. Manchmal schien er Sachen zu wissen, die ich ihm garantiert nicht erzählt hatte. Erst Jahre später
begriff ich, dass er sie von meiner Mutter wusste, die mein Vertrauen missbraucht und ihm alles brühwarm weitererzählt hatte. Oder aber er erpresste Geständnisse. »Ich weiß ganz genau, dass du heute in der Schule getrödelt hast«, sagte er dann, wenn ich nach Hause kam. »Die Frau von der Schulbehörde war nämlich da.« Ich zermarterte mir das Hirn nach winzigsten Regelverstößen, die so etwas gerechtfertigt hätten. Auf Grund meiner ständigen Schuldgefühle fiel mir das nicht weiter schwer, sodass ich Richard tatsächlich für allwissend hielt. Weil ich wusste, dass es hoffnungslos war, Richard zu widersprechen, gestand ich ihm, dass ich ungezogen gewesen sei, woraufhin er mich nach Belieben bestrafen konnte. Ich bezweifle sehr, dass ich in der Schule jemals wirklich ungezogen war, vom Schwätzen einmal abgesehen. Ich hatte eine Schulfreundin namens Lucy, der ich erzählt hatte, dass mich mein Stiefvater schlug und drohte, mich umzubringen. Von den anderen Dingen hatte ich nichts erwähnt, das wäre mir viel zu peinlich gewesen. Lucy meinte, sie würde auch gern von zu Hause weglaufen, obwohl ich nicht glaube, dass sie Probleme mit ihren Eltern hatte. Wahrscheinlich reizte sie nur das Abenteuer. Die Schule wollte ich nicht schwänzen, da ich meine Lehrerin wirklich mochte. Trotzdem beschlossen wir, in der Mittagspause zu verschwinden, weil man uns da nicht so schnell vermissen würde wie am Ende des Schultags. »Meine Schwester muss auch mit«, sagte Lucy, als wir unsere Flucht planten. Ihre Schwester ging noch in den Kindergarten, der direkt neben der Grundschule lag, in der wir die erste Klasse besuchten. »Wie sollen wir an sie herankommen?«, fragte ich. »Ich werde der Kindergärtnerin sagen, dass sie einen Zahnarzttermin hat«, erklärte Lucy, die keinerlei
Zweifel an dem Gelingen ihres Plans hatte. Ich wartete im Gebüsch neben dem Spielplatz, während sie im Kindergarten verschwand. Ich konnte es kaum erwarten, endlich wegzukommen, und war so aufgeregt, dass mir das Herz bis zum Halse klopfte. Es waren nur wenige Minuten vergangen, da kam Lucy auch schon über den Spielplatz auf mich zu gerannt. »Die Kindergärtnerin hat mir nicht geglaubt«, jammerte sie. »Sie ging nachfragen, und da bin ich abgehauen.« »Dann müssen wir eben ohne deine Schwester weglaufen«, sagte ich, und sie nickte zustimmend. Wir rannten, so schnell wir konnten, um vom Schulgelände zu kommen, was mit meinen blöden Schuhen gar nicht so leicht war. Der Widerling ging immer Kleider und Schuhe mit mir kaufen, aber aus irgendeinem Grund ging er nie in das Geschäft, das vernünftige Kinderschuhe hatte. Stattdessen kaufte er mir jedes Mal hochhackige, spitze Damenschuhe. Die Absätze ließ er mit Eisen beschlagen, sodass ich beim Laufen einen Höllenlärm machte und sich alle nach mir umdrehten, wenn ich auf meinen dürren Beinchen vorbeistakste. Ich nehme an, dass ihn das irgendwie erregt hat, aber ich knickte darin ständig um, weil ich es nicht gewohnt war, auf hohen Absätzen zu laufen. Doch solche Nebensächlichkeiten waren ihm egal. Lucy war immer ganz wild darauf, sich meine Schuhe auszuleihen, und fand sie todschick. Ich wäre heilfroh gewesen, sie nie mehr sehen zu müssen. Als der Zeitpunkt, an dem unser Unterricht normalerweise endete, gekommen war, hatten wir schon eine ziemliche Strecke zurückgelegt und ein paar Geschäfte in einer neuen Siedlung erreicht. »Ich habe einen Riesenhunger«, jammerte ich. »Hast du Geld dabei?«
»Ich hab bloß noch fünf Pence, die mir meine Mum für Chips gegeben hat«, sagte Lucy bedauernd. »Damit kommen wir nicht weit. Wir werden was klauen müssen.« Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie etwas gestohlen, allein bei dem Gedanken daran wurde mir schon ganz schlecht. Was, wenn man uns erwischte? Dann würde man uns wieder nach Hause bringen, und Richard hätte allen Grund, mich wirklich zu Tode zu prügeln. Aber irgendwann war der Hunger größer als meine Angst, und wir betraten einen kleinen Supermarkt, um es dort zu versuchen. Wir müssen sehr verdächtig gewirkt haben und trieben uns viel zu lange darin herum, sodass uns die Frau hinter der Kasse irgendwann hinauswarf. In der Zwischenzeit war es Lucy gelungen, einen Kuchen zu stehlen. Ich hatte nur eine Plastikzitrone mit Zitronenkonzentrat erbeutet, weil ich in meiner Panik nach dem Nächstbesten gegriffen hatte. »Darf ich deine Schuhe anprobieren?«, fragte Lucy, als wir in einer nahe gelegenen Unterführung saßen und unseren Kuchen mampften. Ich stimmte erfreut zu, da mir die Füße vom vielen Laufen ohnehin wehtaten. Wir tauschten auch unsere Strümpfe, damit ich ihre langen mit dem Familie-Feuerstein-Motiv haben konnte, und setzten unseren Weg fort. Ich musste dringend auf die Toilette, aber es blieb uns nichts anderes übrig, als uns neben den Weg zu hocken. Ich wollte gerade mein Geschäft verrichten, als eine Frau mit ihren Kindern um die Ecke bog. Da ich schlecht weglaufen konnte, musste ich ihre Fragen beantworten. Sie wollte wissen, wo unsere Eltern wären und ob sie wüssten, wo wir wären. Sehr überzeugend habe ich bestimmt nicht geklungen. Irgendwann ging sie, aber ich fürchte, sie hatte fest
vor, die Polizei zu verständigen. Wir liefen weiter, und als wir schließlich die offenen Felder erreichten, begann es zu dämmern. Lucy überlegte laut, wie es wäre, nach Hause zurückzukehren, aber im Gegensatz zu mir hatte sie dort auch nichts zu befürchten. Ich wusste, dass man meine Eltern inzwischen über mein Verschwinden informiert haben würde und ich ernsthaft in der Klemme steckte. Ich hätte ewig so weiterlaufen können. Es war mir egal, wie dunkel oder kalt es noch werden würde — nichts machte mir so viel Angst wie die Vorstellung, wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Größere Kinder kamen aus einer weiterführenden Schule, und wir mussten direkt an ihnen vorbei. Sie starrten uns nach. Man sah uns bestimmt an, dass wir Ausreißer waren. Wir hatten so gut wie keine Chance, unseren Ausflug in die Freiheit fortzusetzen, und die Nächsten, die aus der Dunkelheit vor uns auftauchten, waren Polizeibeamte. Als mir klar wurde, dass sie uns nach Hause bringen würden, bekam ich Todesangst. Ich hätte lieber den Rest meines Lebens in den Wäldern gelebt, als mich noch einmal windelweich prügeln zu lassen. Aber ich sah auch, wie erleichtert Lucy war, dass man uns noch vor Einbruch der Nacht aufgegriffen hatte. Die Polizisten rügten uns wegen der Sorgen, die wir unseren Eltern gemacht hätten, und brachten uns zu ihrem Wagen. »Warum bist du weggelaufen?«, fragte der eine, während wir nach Hause fuhren. »Ihr Vater hat gesagt, er bringt sie um«, entgegnete Lucy. »Und er schlägt sie die ganze Zeit.« Dabei hatte ich gedacht, dass es kaum noch schlimmer kommen konnte. »Stimmt das?«, fragte der Polizist. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab sie
angelogen. Das Ganze ist nie passiert.« Ich sah zu Boden, um seinem Blick auszuweichen und merkte, dass wir immer noch die verkehrten Strümpfe und Schuhe trugen. Wenn ich nicht in meinen Sachen nach Hause käme, würde ich noch mehr Ärger bekommen. »Schnell«, flüsterte ich Lucy zu. »Lass uns tauschen.« Inzwischen hatte ich mehr Angst, deshalb bestraft zu werden als wegen des Ausreißens. Wir standen fast schon vor unserem Haus, sodass ich gerade noch Zeit hatte, die Schuhe zu tauschen. Aber ich musste es wohl oder übel mit ihren Strümpfen versuchen. Kaum dass meine Mutter die Tür aufgemacht hatte, brüllte sie mich auch schon zusammen. Sie wirkte kein bisschen erleichtert, dass ich wohlbehalten zurück war, sondern war einfach nur wütend über das, was ich getan hatte. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt vor Angst. Als ich hörte, wie ihr der Polizist sagte, dass Lucy behauptet hätte, Richard würde mich schlagen und drohen, mich umzubringen, wusste ich, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. »Geh sofort auf dein Zimmer«, kreischte sie, nachdem die Polizei weg war. »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt, der wird dir schon Vernunft beibringen.« Er suchte wahrscheinlich gerade nach mir, und so machte ich mich schweren Herzens bettfertig. Ich wusste ganz genau, was mich bei seiner Rückkehr erwartete. Ich konnte nicht schlafen und lauschte auf Geräusche, die mir seine Anwesenheit ankündigten. Irgendwann war er wieder da, und ich konnte hören, wie er Mum wie ein Irrer anbrüllte. Als Nächstes vernahm ich seine Schritte auf der Treppe. Seine Stimme war so laut und wütend, dass ich die Bedeutung seiner Worte nicht verstand, während er
mir die Decke wegriss und mich dermaßen verprügelte, dass ich dachte, ich müsste sterben. Diesmal waren die Schmerzen so schlimm, dass ich wirklich hoffte, er würde mich umbringen. In meiner Panik machte ich mir in die Hosen und auch seinen Arm nass, was ihn nur noch wütender und brutaler werden ließ. Danach konnte ich eine Woche lang nicht zur Schule gehen und bekam jede Menge neue Kleider und Spielsachen. Die Verletzungen müssen sehr schlimm gewesen sein. Sie ließen mich nämlich nie in die Schule, wenn die Gefahr bestand, dass ein Lehrer hätte merken können, was sie mir angetan hatten.
3. Kapitel Man kann sich unglaublich schnell an Folter und Grausamkeit gewöhnen. So wie Richard »spaßeshalber« vorgab, in mein Essen zu spucken, nur um zu vertuschen, dass er es tatsächlich tat, konnte er mich auch als seine »Paki-Sklavin« bezeichnen. Und ich musste stets so tun, als ob mir das nicht das Geringste ausmachte, denn sonst hätte ich — in seinen Augen — keinen Spaß verstanden und mir sofort eine Tracht Prügel wegen meines fehlenden Humors eingehandelt. Richard machte nie einen Hehl daraus, wie sehr er alle Schwarzen und Asiaten hasste. Dass ich dunkles Haar und olivfarbene Haut hatte, die braun wurde, sobald ich in die Sonne kam, reichte bereits aus, um mich zu einem minderwertigen Familienmitglied zu machen — zu einem, das man misshandeln konnte, wie es einem gefiel. Zum Beispiel befahl er mir, mich im Wohnzimmer auf den Boden zu hocken, weil ich eine Paki-Sklavin sei,
während der Rest der Familie in bequemen Sesseln oder auf dem Sofa saß. Sobald ich mich hingesetzt hatte, schnippte er mit den Fingern. »Paki-Sklavin, mach mir und deiner Mutter einen Tee.« »Paki-Sklavin, putz mir die Schuhe.« »Paki-Sklavin, häng die Wäsche auf.« »Paki-Sklavin, lass mir Badewasser ein.« Auch wenn er stets einen scherzhaften Ton dabei anschlug, wusste ich ganz genau, dass ich diese Befehle lächelnd ausführen musste, wenn ich mich nicht als Spielverderberin verprügeln lassen wollte. Sobald ich dann mit dem Tee ins Wohnzimmer zurückkehrte, alberte Richard mit meinen Brüdern herum und ermunterte sie, ebenfalls mit den Fingern zu schnippen und mir etwas anderes aufzutragen. »Lasst sie tun, was ihr wollt«, befahl er ihnen. Sie lachten natürlich und fassten es als Spiel auf. Aber auch ihren Befehlen musste ich nachkommen, denn sonst wäre ich wieder die Spielverderberin gewesen, die für ihr zickiges Verhalten bestraft werden musste. Diese »Späße« trieben sie jahrelang. Trotzdem kann ich den Jungs keinen Vorwurf machen – sie wussten es nicht besser und waren genauso eifrig bemüht, ihm zu gehorchen wie ich. Wären sie die Opfer gewesen, hätte ich bestimmt genau dasselbe getan, um nicht geschlagen zu werden. Wenn uns Richard durchs ganze Haus prügelte, auf uns einschlug und -trat, schien es ihm völlig egal zu sein, was er damit anrichtete. Als ob in dem Moment, in dem er jede Beherrschung verlor, alle Rollläden bei ihm heruntergingen. Keiner wollte zur Zielscheibe seiner Aggressionen werden. Doch manchmal wusste er auch ganz genau, was er tat, sodass man seinen Sadismus nicht mit einem cholerischen Temperament entschuldigen konnte. Zum Beispiel befahl er mir immer, seine Zigaretten anzünden,
sogar, als ich noch ganz klein war. Auch die Jungs mussten das tun, aber sie hielten sie nur kurz über die Herdflamme, bis sie zu glühen begannen, während er mich daran ziehen ließ, damit sie besser brannten. Richard fand, wir sollten lernen, wie man richtig inhaliert, vor allem die Jungs. Manchmal zwang er sie eine ganze Zigarette zu rauchen. Dann saßen Mum und er lachend daneben und riefen, wie süß sie doch aussähen, während sie ganz grün im Gesicht wurden und husteten, als müssten sie gleich ersticken. Als mein Bruder Dan zwei oder drei Jahre alt war, ließen sie ihn die Zigarette anzünden und den Rauch inhalieren, bis er einen Erstickungsanfall bekam und ganz blau im Gesicht wurde. Nach einer Weile lachten sie nicht mehr und wurden panisch. Sie schrien ihn an, er solle atmen, und schlugen ihm auf den Rücken. Richard hob ihn an den Fesseln hoch und klopfte ihm auf den Rücken wie bei einem Baby, das ein Bäuerchen machen soll. Mich schrie er an, ich solle ihm ein Glas Wasser bringen. Durch das Zigarettenanzünden begann ich bereits mit elf oder zwölf Jahren zu rauchen. Doch hätte Richard herausgefunden, dass ich mir das Rauchen angewöhnt hatte, hätte er das sofort gegen mich verwendet. Also hielt ich es vor ihm geheim, solange ich konnte. Als ich dreizehn war, nahm ich an einer Klassenfahrt nach Belgien teil, die mein Opa bezahlt hatte. Ich muss anschließend furchtbar nach Zigarettenqualm gestunken haben. Am Abend darauf traf sich meine Mutter mit einer Freundin, die gegenüber wohnte, und ließ mich mit Richard allein. »Du rauchst, stimmt's?«, sagte er, sobald wir allein waren. »Nein«, behauptete ich und fragte mich, was wohl als Nächstes käme.
»Oh, doch«, sagte er und überhörte meinen Protest. »Hier hast du eine Fluppe. Die kannst du rauchen oder so lange fressen, bis du mir die Wahrheit sagst.« Ich nahm die Zigarette, zündete sie mir an und rauchte sie in seiner Gegenwart. »Inhalier ordentlich«, befahl er mir. »Ich habe keine Lust, mein Geld für Zigaretten zu verschwenden, die du nicht anständig rauchst.« Als ich ihm gezeigt hatte, dass ich richtig rauchen konnte, schenkte er mir eine Zehnerschachtel, die ich sofort mit auf mein Zimmer nahm. Als meine Mutter nach Hause kam, lehnte ich fröhlich paffend am Fenster. »Alles klar, Mum?«, sagte ich fröhlich. »Was machst du denn da?«, fragte sie entsetzt, weil sie Angst davor hatte, was passieren würde, wenn Richard mich so sah. »Ich hab mit dem Rauchen angefangen. Das ist schon okay, Dad hat's mir erlaubt.« Ich denke, es störte sie deshalb nicht weiter, weil sie nun Zigaretten von mir schnorren konnten, wenn ihre alle waren. Anfangs ließ mir Richard sogar die Wahl: Ich konnte Geld für Süßigkeiten bekommen oder Zigaretten. Ich entschied mich für die Zigaretten. An den folgenden Tagen fand ich morgens jeweils eine Zehnerschachtel in der Messingkutsche auf dem Kaminsims. Bald waren es nur noch zwei oder drei lose, mit denen ich meine Schachtel auffüllte. In unserem Haus gab es jede Menge Messingkitsch – Hufeisen an den Wänden, Messingnippes auf jeder freien Fläche –, der regelmäßig auf Hochglanz poliert werden musste. Mum und Richard besaßen auch noch zwei schwere Messingsoldaten, die mein Stiefvater jedoch irgendwann verschwinden ließ, weil sich Mum
damit gegen ihn zur Wehr setzte, wenn er sie angriff. »Verdammt, du bringst mich ja um!«, protestierte er, wenn sie sich verteidigte. Wir mussten nicht nur das ganze Haus mehrmals täglich vom Keller bis zum Dachboden putzen, sondern auch unsere Stiefel und Schuhe, und zwar richtig. Die Lederpolitur musste vor dem Kaminfeuer schmelzen, bevor wir damit die Schuhe einrieben. Alles musste makellos glänzen bis hin zur Toilettenbrille, die so auf Hochglanz poliert war, dass man aufpassen musste, nicht von ihr abzurutschen. Richard bestand darauf, dass ich mein Bett hochprofessionell bezog. Das Laken musste exakt im 90°-Winkel unter der Matratze eingeschlagen werden. Ich hatte keine Ahnung, was ein 90°-Winkel war, aber er drohte mir trotzdem, dass er das genau kontrollieren würde. Wenn ich mich bei Mum über ihn beschwerte, sagte er, er hätte bloß Spaß gemacht und ich wäre eine blöde Kuh, das ernst zu nehmen. Aber wenn wir allein waren, war er plötzlich todernst. Wenn ich nur den geringsten Fehler machte, schlug er mich oder ließ es mich anderweitig büßen. Ich versuchte alles, was er mir auftrug, so gut wie möglich zu erledigen. Trotzdem konnte ich es ihm nie Recht machen, im Gegenteil: Je mehr ich mich bemühte, desto mehr quälte er mich, nur um mir zu zeigen, dass er mir jederzeit wehtun konnte und ich nur am Leben bleiben durfte, weil er beschlossen hatte, mich nicht umzubringen. Er muss ständig überlegt haben, wie er mich noch quälen könnte. Er genoss es einfach viel zu sehr, Macht über mich zu haben. Eine seiner Lieblingsfoltern, mit der er sofort begann, nachdem ich aus dem Kinderheim zurückgekehrt war, bestand darin, mich im Bett mit meinem Kissen fast zu ersticken. Oder mit einem Kissen, das er extra mitbrachte und so fest auf mein
Gesicht drückte, dass ich glaubte, er hätte sich mit seinem ganzen Gewicht draufgesetzt. Doch höchstwahrscheinlich hat er nur seine Hände benutzt. Wenn er aufgebracht oder wütend war, konnte er Bärenkräfte entwickeln. Die ersten Male konnte ich es mir nicht verkneifen, laut zu schreien, während ich nach Luft rang. Doch schon bald merkte ich, dass das alles nur noch schlimmer machte und mich durch das Kissen sowieso niemand hören konnte. Ich schlug panisch um mich und versuchte mich zu befreien, aber ich hatte keine Chance, außer er beschloss, mich loszulassen. Wenn er dann endlich das Kissen wegnahm, drückte er mir schmerzhaft das Gesicht zusammen. »Wie ich dich hasse, verdammt noch mal«, sagte er dann, während sein Gesicht beinahe meines berührte. »Alle hassen dich.« Dann verpasste er mir ein paar Ohrfeigen und drückte mir wieder das Kissen ins Gesicht. Er ließ mich nur kurz nach Luft schnappen, wenn ich bereits drauf und dran war, ohnmächtig zu werden. Das überprüfte er, indem er meinen Arm hob und ihn fallen ließ. Also lernte ich, ihn früher schlaff zu machen, was er allerdings bald herausfand und was seine Wut noch steigerte. Ich bekam jedes Mal so viel Angst unter dem Kissen, dass ich mir in die Hose machte, was ihn noch mehr erzürnte. Dann drückte er mein Gesicht grob in das nasse Laken wie bei einem Hundewelpen, um mir eine Lektion zu erteilen. Mum sagte er, er sei wütend auf mich, weil ich ins Bett gemacht hätte, woraufhin sie mich ebenfalls anschrie. Wenn sie nicht da gewesen war, erzählte er ihr manchmal, er habe mir etwas zu trinken gegeben, das ich verschüttet hätte. Das sollte erklären, warum ich einen anderen Schlafanzug trug, wenn sie nach Hause kam. Außerdem
gab es ihm noch einen weiteren Vorwand, mich zu schlagen und anzuschreien, woraufhin meine Qualen von vorn begannen. Da diese Erstickungsattacken beinahe jede Nacht vorkamen, versuchte ich mir mit allen möglichen Tricks zu helfen. Zum Beispiel legte ich mich stets auf die Seite, wenn ich ihn die Treppe hochkommen hörte, weil ich so das Gefühl hatte, besser atmen zu können. Irgendwann fand ich heraus, dass ich durch die Matratze mehr Luft bekam als durch das Kissen und legte mich auf den Bauch. Manchmal legte ich mir das Kissen bereits selbst auf den Kopf, wenn ich auf seinen Angriff wartete. Richard merkte sehr schnell, was ich da tat, und schob mir ein anderes Kissen unters Gesicht, sodass es kein Entkommen gab. Alles, was ich tun konnte, war, so still wie möglich liegen zu bleiben und flach zu atmen. Instinktiv fand ich heraus, dass er es weniger aufregend fand, wenn ich ruhig blieb. Dann langweilte er sich schneller. Ich hoffte halbherzig, dass er mich eines Tages wirklich umbringen würde, aber dafür war er dann doch zu feige und zog das Kissen immer in letzter Minute weg. Wenn Mum ausging, war es noch schlimmer, aber manchmal machte er es auch, wenn sie im Erdgeschoss war. Aber es gab andere Foltermethoden oder »Spiele«, wie er sie nannte, mit denen er mich liebend gern quälte, wenn andere dabei waren. Da gab es zum Beispiel die »Daumen-Spiele«, die ihn dazu berechtigten, meinen Daumen so weit wie möglich nach hinten zu drücken, bis ich vor Schmerz laut aufschrie. Das machte er einfach so aus Spaß. Ein anderes Spiel bestand darin, dass ich meine Hand mit gespreizten Fingern auf ein Holzbrett legen musste, während er ein scharfes Küchenmesser in einem immer schnelleren Rhythmus dazwischenrammte, nur um zu beweisen, was für tolle
Reflexe er hatte. Einmal dehnte er dieses Spiel so weit aus, dass er mit einem Schabmesser auf meine Füße zielte, sodass es zwischen meinen Zehen stecken blieb und mich am Boden festnagelte. Wenn Mum zu Hause war und ich Glück hatte, ließ er mich nach dem Erstickungsspiel allein. Aber wenn sie nicht da war, fing sein Abendprogramm erst richtig an. »Raus mit dir«, sagte er, nachdem er von seinem Kissentrick die Nase voll hatte, woraufhin ich gehorsam in den Flur ging und ganz genau wusste, was mich dort erwartete. Das Ritual lief viele Jahre lang mehr oder weniger gleich ab. Er zog sich aus und beugte sich über die obersten Treppenstufen. »Leck mir den Arsch«, befahl er mir, während ich widerwillig auf ihn zuging. Ich begann damit, die Pobacken zu lecken, immer in der Hoffnung, er würde mich damit davonkommen lassen. Das war schon schlimm genug, aber im Grunde wusste ich jedes Mal, dass ihm das noch lange nicht reichte. »Leck das Loch!«, knurrte er mich wütend an. Da wusste ich nur zu gut, dass mir nichts anderes übrig blieb, auch wenn mir davon ganz schlecht wurde und ich die Erniedrigung kaum ertragen konnte. Anschließend wollte er, dass ich ihm meinen Finger so tief wie möglich in den Anus rammte. Ich fürchte, meine Finger waren nicht lang genug, um die von ihm gewünschte Stelle zu erreichen, denn oft tat er es einfach selbst. Diese Nächte endeten regelmäßig damit, dass er sich oral an mir verging und ich ihn masturbieren musste. Wenn Mum über Nacht weg war, konnten sich diese Spiele stundenlang hinziehen. Manchmal wollte er, dass ich ihm den Po versohlte und ihm sagte, was für ein böser Junge er sei.
»Ich kann deine hässliche Visage einfach nicht mehr ertragen!«, sagte er mir, woraufhin ich mich hinknien, mein Gesicht in seinen Po pressen und meinen Arm zwischen seinen Beinen durchstrecken musste, um ihn zu masturbieren. Oder aber er nahm mich auf seinen Schoß und zwang mich, darauf herumzurutschen. Wenn er sich oral an mir verging, versuchte ich mich völlig von meinem Körper abzuspalten, indem ich Tapetenmotive zählte oder zusah, wie auf der Digitalanzeige des Videorekorders die Sekunden verstrichen. Wenn der Fernseher an war, schloss ich die Augen und versuchte das, was die Leute sagten, zu buchstabieren – Hauptsache, ich musste nicht über das nachdenken, was er gerade mit mir anstellte. Manchmal schrie er mich an, ich solle mit dem Po hochoder runterkommen oder an seinen Haaren ziehen, während er sich gleichzeitig selbst befriedigte. Wenn meine Brüder oben in ihren Zimmern waren, wussten sie ganz genau, dass sie diese nicht verlassen durften. Ich habe keine Ahnung, wie sie diese nächtlichen Geräusche vor ihren verschlossenen Zimmertüren interpretierten. Obwohl Richard Streit mit jedem anfing, den er kennen lernte, egal ob Mann oder Frau, ob alt oder jung, glaube ich nicht, dass er noch andere außer mir sexuell erniedrigte. Jeder im Viertel hasste ihn, und auch das Benehmen meiner Mutter stieß auf keine große Begeisterung. Den ganzen Tag über befahl sie mir, an allen möglichen Türen zu klopfen und Zigaretten, Teebeutel, Waschpulver oder was immer sie gerade brauchte, zu schnorren, weil sie zu faul war, selbst einkaufen zu gehen. Die Nachbarn müssen gesehen haben, wie ich von Tür zu Tür ging. Ich wette, dass sie oft extra nicht aufgemacht haben. »Oh, Janey«, sagten sie verzweifelt, wenn ich zum fünften Mal klingelte und irgendetwas
von ihnen wollte. Sie wussten ganz genau, dass sie nie etwas zurückbekommen würden. Obwohl Mum und Richard Unsummen dafür ausgaben, das Haus zu verschönern, hatten sie nie genug Geld für den alltäglichen Bedarf. Mum kaufte immer billiges Klopapier, wenn sie am Montag ihren Scheck bekam, aber bei sieben Familienmitgliedern war es bereits am Dienstag alle, und wir mussten uns den Rest der Woche mit altem, in Streifen gerissenem Zeitungspapier behelfen. Deshalb gewöhnte ich mir an, überall Toilettenpapier in meine Hosentaschen zu stopfen. Einmal stahl ich eine Rolle vom Schulklo, woraufhin mir Mum befahl, mehr mitzubringen. Aber ich schob irgendeinen Grund vor, warum das nicht ginge. Jedes Mal, wenn ich das Haus verließ, sagte Mum: »Sieh zu, dass du Toilettenpapier besorgst.« Ich verstand nicht, wie sie und Richard es sich leisten konnten, zu rauchen und bei McDonald's, beim Chinesen und beim Inder Essen zu holen, ohne Geld für das Allernötigste zu haben. Wenn Mum keine Zigaretten mehr hatte und kein Scheck mehr ausstand, musste ich manchmal mit einem meiner kleinen Brüder auf der Straße nach weggeworfenen Kippen suchen, damit sie den Tabak herausnehmen und sich daraus Zigaretten drehen konnte. Das musste ich allerdings vor Richard geheim halten, denn der hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er davon gewusst hätte. Ich schämte mich derart, dass ich meinen Freundinnen erzählte, wir würden Steine sammeln, dabei wussten sie ganz genau, was wir da taten. Sie waren immer sehr nett zu mir. Ich glaube, ich tat ihnen Leid, weil ich mit Richard zusammenleben musste. Alle sollten glauben, dass Richard nicht arbeitete, was jahrelang auch tatsächlich der Fall war. Dann arbeitete er im Schichtdienst als Kurierfahrer.
Doch weil er seine Schwerbeschädigtenrente wegen seines »schlimmen Beins« nicht aufs Spiel setzen wollte, musste das geheim bleiben. Aus diesem Grund nahm er jedes Mal die Antenne vom Dach, wenn er nach Hause kam, und deckte das Funkgerät ab. Manchmal benutzte er sogar einen Gehstock, vor allem, wenn ihm ein unbekanntes Auto in der Straße auffiel und er Angst hatte, die vom Sozialamt könnten ihm nachspionieren. In diesem Fall hätten sie sehen können, dass er bestens dazu in der Lage war, Gartenhäuschen zu bauen, Fliesen zu verlegen, das Haus zu renovieren – und Leute zusammenzuschlagen, sobald sie seinen Unmut erregten. Wir hatten strikte Anweisung, jeden anzulügen, der sich nach ihm erkundigte. Wir mussten so tun, als ginge es ihm wirklich sehr schlecht. Meine Freundinnen sagten, dass sowieso jeder wisse, dass er ein Drückeberger sei, aber niemand traute sich, ihm das ins Gesicht zu sagen. Er ließ sogar Geländer im Bad anbringen, damit er mehr Sozialhilfe verlangen konnte. »Ich hasse diese hässlichen Dinger in meinem Haus«, beschwerte er sich regelmäßig. Andererseits nahm er alles in Kauf, was ihm Geld brachte, ohne dass er dafür einen Finger krumm machen musste. Ich musste nicht nur mehrmals täglich die Nachbarn anschnorren, sondern wurde aus diversen Launen heraus auch wiederholt zum Einkaufen geschickt. Dabei hatte ich stets zu einer bestimmten Uhrzeit wieder zurück zu sein, damit ich keine Umwege machen, mich mit einer Freundin treffen oder mit den anderen Kindern spielen konnte, die sich auf dem nahe gelegenen Parkplatz herumtrieben. Manchmal ging trotzdem alles schief. Als ich noch sehr klein war, musste ich einmal Zigaretten und ein paar andere Dinge für Richard besorgen.
»Beeil dich«, warnte er mich, und ich konnte sehen, dass er schlechte Laune hatte. Ich rannte die Straße hinunter und erreichte den Laden in Rekordzeit. Aber die Leute hinter dem Ladentisch wollten mir partout keine Zigaretten verkaufen, weshalb ich draußen warten und andere Kunden bitten musste, sie für mich zu kaufen. Das konnte eine Ewigkeit dauern, da sich die meisten Leute weigerten. An jenem Tag dauerte es wirklich endlos lange, und ich wurde immer nervöser. Wenn ich ohne Zigaretten nach Hause kam, gab es Ärger. Aber wenn ich zu lange brauchte, glaubte Richard, ich würde trotz seines Verbots mit einer Freundin spielen. So wie es aussah, sollte ich um eine Tracht Prügel nicht herumkommen. Schließlich kam ein Mann vorbei, der gegenüber von uns wohnte. Ich flehte ihn an, mir zu helfen, und schwor ihm, die Zigaretten für meine Eltern zu brauchen. Er schien mir zu glauben, besorgte mir die Zigaretten und bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Man hatte uns eingebläut, uns niemals von fremden Männern mitnehmen zu lassen. Aber da ich oft mit den Töchtern dieses Mannes spielte und seine Frau kannte, schien mir die Sache völlig ungefährlich. Außerdem wollte ich so schnell wie möglich zurück, um einer Bestrafung zu entgehen. Also nahm ich sein Angebot an und dachte, er würde auf dem Parkplatz um die Ecke halten, sodass mein Stiefvater nicht sehen könnte, wie ich aus dem Wagen stieg. Zu meinem Entsetzen setzte mich der Nachbar, der mir wahrscheinlich einen Gefallen tun wollte, direkt vor der Haustür ab. Als ich reinkam, flippte Richard völlig aus. Er schrie mich an, verpasste mir Ohrfeigen und trat auf mich ein. »Es tut mir Leid, es tut mir Leid«, sagte ich immer wieder, aber er hörte einfach nicht auf.
»Stell dich vor das Fenster zum Hinterhof«, befahl er mir, »und streck die Arme zur Seite.« Es war niemand zu Hause, der hätte einschreiten können. Ich tat, was er von mir verlangte, und hatte furchtbare Angst vor den neuen Qualen, die er sich für mich ausgedacht hatte. Trotzdem wagte ich nicht, mich zu bewegen, aus lauter Angst, ihn noch wütender zu machen. Und so zuckte ich auch nicht zusammen, als er mir einen Fausthieb mitten ins Gesicht versetzte. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, brüllte er, glücklich darüber, mir wieder eine Lektion erteilt zu haben. »Steig nie wieder zu jemandem ins Auto.« Je älter die Jungs wurden, desto mehr Pflichten musste ich übernehmen. Doch das machte mir nicht allzu viel aus, da ich sie liebte, als sie noch klein waren, und auch sie waren sehr liebevoll zu mir. Die Jüngeren nannten mich ganz oft »Mum«, was mich zum Lachen brachte. Ich freute mich, weil sie mir dankbar zu sein schienen. Richard wollte weitere Kinder, weil er gern eine eigene Tochter gehabt hätte. Selbst als Mum krank wurde und eine Niere verlor, bestand er darauf, dass sie es weiter versuchten. Als ich alt genug war, die anderen zu wecken und ihnen Frühstück zu machen, blieben Mum und Richard den ganzen Vormittag im Bett liegen. Weil ich so viele Windeln wechseln musste, kam ich immer mit Kleidern zur Schule, in denen jede Menge Sicherheitsnadeln steckten. Wenn die Jungs von selbst aufwachten, kamen sie zu mir ins Zimmer. Wir hatten alle furchtbare Angst, Lärm zu machen und die Erwachsenen zu wecken. Um sie zu beschäftigen und bis zum Frühstück ruhig zu halten, setzte ich sie der Reihe nach hin, zog ihnen meine Kleider an und kämmte sie, als wären sie meine Puppen. Sie liebten das, aber als Richard Wind davon bekam, flippte er völlig aus und behauptete, ich
würde »Schwule« aus ihnen machen. Wenn Mum aufstand, blieb der Widerling stets noch im Bett liegen, und ich musste ihm eine Tasse Tee raufbringen. Bei diesen Anlässen zwang er mich jedes Mal, ihm einen schrecklichen »kleinen Gefallen« zu tun. Er ließ mich ganz nah an die Bettkante herantreten, hob meinen Rock hoch und zog mir das Höschen herunter, damit er mich anfassen konnte. Anschließend musste ich mit ihm unter der Decke ein paar Minuten lang spielen, bis mich Mum wieder nach unten rief. »Bring mir eine Zigarette hoch«, sagte er, wenn ich das Zimmer verlassen wollte. Wenn ich dann wiederkam, ging das Ganze von vorn los. Er bestand stets auf zwei Tassen Tee, bevor er auf stand, und die musste ihm jedes Mal ich bringen. Im Lauf der Jahre gestanden wir uns gegenseitig, wie sehr wir Richard hassten, aber nie, wenn er in Hörweite war. Mum behauptete immer, sie würde nur warten, bis die Jungs mit der Schule fertig wären, um dann mit uns abzuhauen. Wenn er sie geschlagen hatte, sagte sie mir manchmal, dass die Jungs sie verteidigen würden, wenn sie erst mal groß wären. Ein paarmal traute sich meine Mutter, ihn zu verlassen, während wir im Gänsemarsch hinter ihr her wackelten. Aber er schreckte nie davor zurück, sie mit Gewalt zurückzuholen, egal wer ihm dabei zusah. Einmal kam er mit dem Auto, um sie zur Rückkehr zu bewegen, kurbelte langsam das Fenster runter und fuhr neben uns her, während sie geradeaus starrte und ihn ignorierte. »Steig sofort in den Wagen!«, befahl er. »Verpiss dich!«, entgegnete sie. Da streckte er ohne ein weiteres Wort den Arm aus dem Fenster, packte sie an den Haaren und legte den Rückwärtsgang ein. Er schleifte sie wortwörtlich an den Haaren zurück und kümmerte sich kein bisschen
darum, ob ihn jemand sehen konnte. Manchmal zog er seine Mitleidstour ab und tat so, als wüsste er nicht mehr, ob er seine Tabletten eingenommen hatte oder nicht. Die nahm er gegen die Schmerzen in seinen Beinen, die irgendwas mit eingeklemmten Nerven zu tun hatten, auch wenn der Sache nie jemand richtig auf den Grund ging. Er suchte in regelmäßigen Abständen eine Schmerzklinik auf, und ich musste mitgehen, damit ich lernte, ihm eine Akupunkturbehandlung zu machen und ihm Nadeln in den Rücken zu stechen. Richard wusste, dass ich viel zu viel Angst hatte, um ihm mit den Nadeln wehzutun. Seine ständigen Schmerzen machten ihn äußerst reizbar. »Habe ich meine Tabletten heute schon genommen?«, wimmerte er. »Nein«, log dann einer von uns, »ich glaube nicht.« »Gib du sie ihm«, flüsterte mir meine Mum zu, sobald wir in einem anderen Zimmer waren. »Vielleicht bringen sie ihn um.« »Nein«, zischte ich zurück, »das musst du machen!« Aber er simulierte nur. Sobald einer von uns den Mut hatte, ihm eine potenzielle Überdosis zu geben, wurde er jedes Mal ganz nachdenklich. »Weißt du«, sagte er dann, als fiele ihm das soeben ein, »ich glaube, ich habe sie doch schon genommen.« Richard schien es richtig zu genießen, Streit anzufangen, egal, ob es sich um Verwandte, Nachbarn oder Wildfremde handelte. Man wusste nie, warum er sich ausgerechnet diesen oder jenen herauspickte — er fand immer einen Grund, um seine Aggressionen abzureagieren und seine vermeintliche Überlegenheit zu demonstrieren. Er hatte überall Feinde, aber nur die wenigsten trauten sich, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Eines Sonntagabends, als meine Brüder und ich
gerade baden wollten und nackt oben an der Treppe standen, flogen Ziegelsteine durch die gläserne Haustür. »Rührt euch nicht von der Stelle!«, brüllte Mum, während wir zu heulen begannen, und rannte nach unten. Der Widerling bewaffnete sich mit einer dicken, rostigen Kette. Dann sahen wir, wie er barfuß nach draußen rannte, um den Männern gegenüberzutreten, die auf dem Parkplatz auf ihn warteten. Es waren acht, und einige hatten Macheten und ähnliche Waffen dabei. Mum rannte ihm nach, schrie und fuchtelte mit einem Tranchiermesser. Wie es aussah, stand die Familienehre auf dem Spiel. Wir standen am Fenster und sahen sie kämpfen, bis die Polizei kam und alle mitnahm. Wir hatten das Gefühl, einem Wrestling-Spektakel beizuwohnen. Richard war außer sich vor Wut, und wenn er erst einmal in Rage geriet, war es ihm ganz egal, mit wem er es aufnahm und wie die Chancen für ihn standen. Derartige Szenen überzeugten mich erst recht davon, dass er durchaus in der Lage war, mich und Mum umzubringen, falls wir es wagen sollten, gegen ihn aufzumucken. Er genoss es, uns ebenfalls kämpfen zu sehen, so als trüge es zur Familienehre bei, jemandem die Fresse zu polieren. Sobald sich Mum mit einer anderen Frau aus der Straße angefreundet hatte, behauptete er, sie habe über Mum gelästert. Dann schickte er Mum vorbei, damit sie es ihr heimzahlte. Eigentlich muss Mum gewusst haben, dass alles bloß erfunden war, aber sie tat, als glaubte sie ihm. Um nicht selbst geschlagen zu werden, ging sie lieber zum Haus der anderen und schlug auf sie ein. Obwohl mir Mum anvertraut hatte, dass sie es hasste, mit Richard zusammenzuleben, war sie ähnlich gewaltbereit wie er. Eines Tages traf mich ein Junge von gegenüber mit einem Geschoss aus seiner
Steinschleuder ins Auge. Ich dachte, ich würde blind, und rannte heulend nach Hause. Mum schickte mich sofort zurück und befahl mir, ihn ebenfalls zu beschießen. Da ich wusste, dass es für mich gefährlich würde, wenn ich diesen Zweikampf verlor, tat ich, was sie sagte, und reagierte, zusätzlich angestachelt durch den Schmerz, sämtlichen aufgestauten Ärger an dem Jungen ab. Der Ärmste wusste gar nicht, wie ihm geschah, und obwohl er auch nicht gerade zimperlich war, musste seine Mutter kommen und uns trennen. »Deine Janey ist ja völlig durchgeknallt«, sagte ein anderer Nachbar daraufhin zu meiner Mutter, die das als Kompliment aufzufassen schien. Und ich war stolz auf mich, die Familienehre hochgehalten und meine Pflicht getan zu haben. In den Sommerferien kam einmal meine Cousine Tracey für ein paar Wochen zu uns. Als ich davon erfuhr, war ich völlig aus dem Häuschen, da uns sonst nie jemand besuchen kam und ich endlich ein Mädchen zum Spielen haben würde, nicht immer nur meine Brüder. Außerdem würde sie in meinem Zimmer übernachten, sodass sich der Widerling nicht so leicht an mir vergreifen konnte. Obwohl er trotzdem Mittel und Wege fand, sich an mich heranzumachen, und das sogar vor Tracey, erschwerte sie es ihm doch sehr. Es dauerte nicht lang, bis er ihre Anwesenheit missbilligte. Also fing er an, sie ruppig zu behandeln, und hoffte, sie würde daraufhin nach Hause wollen. Doch sie schien gar keine Notiz davon zu nehmen — sie konnte ja nicht ahnen, wie unangenehm er werden konnte, wenn die Dinge nicht nach seinen Wünschen liefen. Eines Nachmittags spielten wir alle im Garten, während Richard und Mum auf der Terrasse saßen, uns zusahen und Tee tranken. Tracey und ich machten Handstand im Gras, und meine Brüder
rannten um die Wette. Der Widerling muss sich ausgeschlossen gefühlt haben, vielleicht war ihm auch einfach nur langweilig, oder aber er tat es aus purem Sadismus. Er konnte es einfach nicht ertragen, wenn ich mich wie ein ganz normales, kleines Mädchen amüsierte, außer er hätte dadurch wieder etwas gut bei mir. »Jane«, rief er. »Komm mal her.« Tracey kam ahnungslos mitgetrottet. »Hau ab, du neugierige Ziege«, schnauzte er sie an. »Dich hat niemand gerufen!« Kaum, dass sie außer Hörweite war, winkte er mich noch näher heran. »Diese Tracey ärgert deinen Bruder«, behauptete er. Ich wusste ganz genau, dass das nicht stimmte, aber was sollte ich schon sagen? Also schwieg ich und wartete ab, was als Nächstes kam. »Was willst du dagegen unternehmen?« »Tracey und ich haben Handstand gemacht«, sagte ich so wenig provozierend wie möglich, während sich mein Magen bereits zusammenkrampfte. »Die Jungs spielen etwas ganz anderes.« »Widersprich mir nicht«, brüllte er. »Geh hin und hau ihr eine runter. Verteidige deinen Bruder.« »Ich will aber nicht«, protestierte ich, obwohl ich wusste, dass das nichts nützen würde, weil er sowieso schon wütend war. »Wir sind verdammt noch mal eine Familie«, schnauzte er. »Wir müssen zusammenhalten. Sei gefälligst loyal und hau ihr eine runter für das, was sie deinem Bruder angetan hat.« Ich wollte Tracey nicht schlagen. Zum einen, weil sie meine Cousine und meine Freundin war, aber auch, weil sie wesentlich größer war als ich, sodass ich mit Sicherheit den Kürzeren ziehen würde. Das hätte ich ja noch ertragen, aber ich wusste, dass mich Richard erst recht bestrafen würde, wenn ich die Familie
enttäuschte. Wir mussten alle knallhart sein, damit es niemand wagte, sich uns gegenüber irgendwelche Freiheiten herauszunehmen. Das sollte eine Frage der Ehre sein oder so was Ähnliches. Ich versuchte ihn noch einmal vergeblich davon abzubringen. »Jetzt mach schon, verdammt noch mal«, befahl er mir, und da wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte. Schweren Herzens ging ich zu Tracey zurück. »Warum hast du Tom geärgert?«, fragte ich. Sie sah mich nur verständnislos an. »Jetzt mach schon!«, schrie mein Stiefvater von der Terrasse aus, der unseren Kampf kaum erwarten konnte. »Tut mir Leid«, sagte ich und gab ihr einen kleinen Schubs. Verwirrt über all das Geschrei schubste mich Tracey zurück. Wenige Sekunden später wälzten wir uns boxend, kratzend, kneifend auf dem Boden und zogen uns an den Haaren. Mein Stiefvater feuerte mich von außerhalb des »Spielfelds« an wie ein stolzer Elternteil bei einer Schulsportveranstaltung. Es dauerte nicht lange, bis es Tracey gelang, mich brutal zu Boden zu drücken, und zwar mit Recht. Die Haare hingen uns wirr in die Gesichter, die mit Kratzern übersät waren. Wir heulten beide wegen der Schmerzen, die wir uns zugefügt hatten, aber auch darüber, dass die schöne Zeit, die wir noch wenige Minuten zuvor gehabt hatten, unwiederbringlich vorbei war. Mein Stiefvater war wütend auf mich, weil ich verloren und die Familienehre nicht verteidigt hatte. Er schrie mich an, Tracey zusammenzuschlagen, aber sie war zu kräftig für mich, und ich wollte ihr auch nicht mehr wehtun. Wir waren beide völlig erschöpft, aber Richard wollte noch mehr Action. Er zerrte Tracey von mir herunter, packte uns beide am Kragen und schleifte
uns ins Haus. Er war ganz außer sich wegen des Kampfes, den seine Partei zu verlieren drohte, und fest entschlossen, sich an Tracey zu rächen. Er zerrte uns grob die Treppe hoch und in eines der Zimmer. Dann schob er zwei Betten meiner Brüder auseinander, um eine Art Boxring zu schaffen. »Jetzt könnt ihr kämpfen, aber anständig«, befahl er uns. Ich wusste, dass wir aufeinander einboxen und eintreten mussten, und zwar nach Regeln, die er aufstellte – zwei kleine Mädchen ohne Boxhandschuhe. Jetzt war kein mädchentypisches An-den-HaarenZiehen oder Kratzen mehr angesagt. Er wusste, dass ich diesmal gewinnen würde, weil er mir und meinen Brüdern das Boxen beigebracht hatte. Anfangs boxten wir uns noch nicht sehr fest, aber Richard sah, dass wir nicht richtig zuschlugen, und drohte mir eine ordentliche Tracht Prügel an, falls ich es ihr nicht richtig zeigte. Also begann ich richtig zu boxen, weil ich vor ihm wesentlich mehr Angst hatte als vor der armen Tracey. Wir kämpften für ihn wie zwei Pitbull-Terrier, bis es Mum nach einer Weile einfach nicht mehr aushielt und uns trennte. Danach wurde Tracey nach Hause geschickt. Sie bekam eine derartige Standpauke »für den Ärger, den sie gemacht hatte«, dass ich nichts dagegen tun konnte. Ich nehme an, mein Stiefvater war eifersüchtig. Er wollte die Familie lieber für sich alleine und keine Fremden im Haus haben, die nicht begriffen, dass man ihm bedingungslos gehorchen musste. Am Ende zerstritt er sich auch noch mit Traceys Eltern, die uns von da an mieden wie alle anderen auch. Richard liebte es, uns gegeneinander antreten zu lassen, sogar, als die Jungs noch klein waren. Wenn wir wegen irgendetwas stritten, was unter Geschwistern völlig normal ist, befahl er uns, die Sache richtig auszufechten. Weil ich um einiges größer
war, musste ich mich hinknien und durfte sie nicht kratzen. Andere Regeln gab es nicht. Ich wollte die Jungs nicht schlagen, weil ich sie gern hatte und sie noch so klein waren. Aber Richard zwang uns, aufeinander einzuprügeln, so fest wir konnten. Wir rissen uns auch an den Haaren, bissen und würgten einander – nur dass die Jungs stets einen kurz geschorenen Kopf hatten, sodass ich nichts zu fassen bekam. Wir heulten, weil wir das eigentlich nicht wollten. Ganze Haarbüschel wurden ausgerissen, und jeder von uns blutete und hatte blaue Flecken. Obwohl ich mich bemühte, meinen Brüdern nicht wehzutun, waren sie gezwungen, mir wehzutun. Manchmal schlug ich instinktiv doch einmal zu, weil sie mich ins Gesicht geboxt hatten oder ihre Finger um meine Kehle legten. Wenn ich tat, was er mir befahl und wirklich boxte, um dem Kampf schneller ein Ende zu machen, wurde ich weggezerrt und verprügelt, weil ich keine Rücksicht auf meine kleinen Geschwister genommen hatte. Wir konnten alle nur verlieren, weinten und fühlten uns danach jedes Mal hundeelend. In solchen Momenten wusste ich, dass die Jungs ihren Vater genauso hassten wie ich. Obwohl es mir nichts ausmachte, auf meine kleinen Brüder aufzupassen, war ich noch zu jung, um wirklich Verantwortung für sie zu übernehmen. Und so war es unausweichlich, dass irgendwann einmal etwas Schlimmes passierte. Eines Morgens versuchte ich die drei Großen pünktlich für die Schule fertig zu machen und wechselte gleichzeitig Les die Windeln. Ich toastete Brot, band ihnen die Schnürsenkel zu, suchte ihre Kleider zusammen, während sie sich vor dem Kamin anzogen, und bemühte mich gleichzeitig, selbst fertig zu werden. Dabei ließ ich den kleinen Les für einen Sekundenbruchteil aus den Augen. Er war damals gerade erst ein Jahr alt, aber ziemlich groß für sein
Alter. Er hatte schon bei der Geburt über sechs Kilo gewogen und war danach schnell gewachsen. Weil er es nicht erwarten konnte, seinen Morgentrunk zu bekommen, muss er nach oben gegriffen und am Henkel des Wasserkessels gezogen haben, während ich woanders hinsah. Der ganze Kesselinhalt ergoss sich über ihn. Das kochende Wasser verursachte Brandblasen auf seiner Haut, und sein Geschrei war markerschütternd. Er musste drei Monate ins Krankenhaus, und die Narben an seinen Armen sind nie mehr weggegangen, während sein Gesicht irgendwann verheilte. Es wurde nie versäumt, immer wieder darauf hinzuweisen, dass ich ihm das angetan und ihn für sein ganzes Leben entstellt hatte. »Wer hat dich verbrüht, Les?«, fragte ihn der Widerling immer wieder. »Janey war's«, antwortete Les pflichtschuldig. »Janey hat mich verbrüht.« Damals war ich zwölf.
4. Kapitel Am liebsten hatte ich meinen Opa, den Vater meiner Mutter. Er war noch nicht sehr alt und überall beliebt. Er hatte dunkle Haare und einen so dunklen Teint wie ein Italiener. Wahrscheinlich habe ich meine dunkle Hautfarbe von ihm. In jungen Jahren kleidete er sich wie ein Teddy Boy und hatte die typische Entenschwanzfrisur. Er arbeitete als Fahrer für irgendein hohes Tier und besaß zwei riesige amerikanische Autos, ein orangefarbenes und ein weißes, sowie zwei Yorkshire-Terrier. Ich sah in ihnen immer ein kleines Ehepaar, nicht zuletzt, weil der Rüde so etwas wie ein winziges Bärtchen hatte. Ich liebte
es, ihnen Bänder ins Haar zu flechten, Sonnenbrillen aufzusetzen und ihnen alles Mögliche anzuziehen – genau wie ich es mit meinen Brüdern gemacht hatte, als sie noch klein waren. Die Hunde haben nie rebelliert, sie freuten sich über jede Form von Zuwendung. Da Opa wusste, wie sehr ich Hunde liebte, kaufte er uns einen schwarzen Labrador. Der Mann, für den er arbeitete, hatte Beziehungen zur Königsfamilie, und dieser Hund stammte aus derselben Zucht wie die Jagdhunde der Königin. Er war ein liebes Tier, aber als der Widerling eines Abends ein schwarzes Haar auf seinem Teller fand, musste der Hund weg. Er fuhr mit ihm raus aufs Land, wo er ihn an einen Baum band. Jemand, der es gut meinte, brachte ihn zurück, also musste er es noch einmal machen. Das war nicht unser erster Hund gewesen und auch nicht der erste, der verschwinden musste. Als ich noch klein war, hatten wir einen Mischling. Er hatte die Angewohnheit, an der Tür zu kratzen, wenn er hereingelassen werden wollte, und begleitete mich stets zum Einkaufen. Aber als ich eines Tages von der Schule heimkam, sagte man mir, er sei überfahren worden. Keine Ahnung, ob das stimmt, ich habe die Wahrheit nie erfahren. Opa nahm mich in seinen schicken Autos immer mit zum Tesco-Supermarkt, damit wir angeben konnten. Alle blieben stehen und sahen uns nach, wenn wir vorbeifuhren — er mit seiner Sonnenbrille und ich wie eine kleine Prinzessin, die sich eng an ihn schmiegte, weil keine Gangschaltung oder Handbremse im Weg war. Im Supermarkt brachte er mich ständig zum Lachen, indem er sein Gebiss rausnahm und es auf das Band an der Kasse legte. Oder aber er kletterte auf eine der Leitern, die vom Personal benutzt wurden, um die oberen Regale aufzufüllen, und sang für die anderen Kunden ein Lied. Ich schämte mich regelmäßig in Grund
und Boden, genoss es aber gleichzeitig sehr. Wenn ich darum bat, mit Opa zum Einkaufen fahren zu dürfen, wollten Richard und Mum immer, dass ich ihm sagte, ich bräuchte einen neuen Mantel oder neue Turnschuhe. Ich hasste es, ihn anbetteln zu müssen, aber ich glaube, er wusste, dass ich das musste. Wenn er konnte, kaufte er mir so gut wie alles, was ich von ihm verlangte. Eine Zeit lang wohnte er direkt nebenan, zusammen mit seinem jüngsten Sohn, Onkel John. Der war nur vier Jahre älter als ich und insofern mehr wie ein Bruder für mich. Opa sammelte alles Mögliche, darunter auch Vögel wie Wachteln und Tauben, die er in einer Voliere am hinteren Ende seines Gartens hielt. Außerdem hatte er Fische, die in einem riesigen Teich lebten, über den eine kleine Brücke führte. Wenn wir draußen im Garten waren, riefen wir ihm immer durch den Zaun zu: »Opa, Opa! Hast du ein bisschen Schokolade für uns?« Dann erhob er sich aus seiner Hängematte und schob kleine Marsriegel durch den Maschendrahtzaun. An meine Großmutter kann ich mich nicht erinnern, nur an die Holzschatulle mit ihrem Schmuck, die sie hinterlassen hat. Großvater muss irgendwann mal richtig viel Geld gehabt haben, weil eine Rolex darin lag und ein Bettelarmband aus 18 Karat Gold. Jeder Anhänger stand für eine wichtige Begebenheit in Omas Leben. Da gab es eine winzige Kathedrale zum Aufmachen, die er ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, ihren Verlobungs- und ihren Ehering. Das Armband war überaus kostbar und viel zu schwer, um tatsächlich getragen zu werden. Opa schenkte mir die Schatulle, aber erwartungsgemäß verkauften Richard und Mum die Rolex irgendwann, um etwas anderes damit zu bezahlen, und verpfändeten das Armband. Sie versprachen mir, es wieder auszulösen, was sie natürlich nie getan haben. Damit war alles weg, was
noch an das Leben meiner Großmutter erinnerte. Das machte mich tieftraurig. Als ich schon etwas größer war, gab mir mein Großvater Geld dafür, dass ich ihm im Haushalt half. Er schrieb mir Schecks über drei Pfund aus, mit denen ich mir schwerreich vorkam. Eines Tages bat er mich, ihm eine frische Tasse Tee zu machen. »Ach, Opa«, beschwerte ich mich, »ich hab dir doch gerade erst eine gemacht.« »Los, geh schon«, überredete er mich, »und wasch diese Tasse hier vorher sorgfältig aus.« Als ich die Tasse zur Spüle brachte und den Teerest weggoss, fiel ein goldenes Armband heraus, dessen Existenz ich natürlich geheim hielt. Mein Großvater hatte auch einen dicken goldenen Ring im Haus, der über und über mit Rubinen besetzt war. Er wusste, wie sehr ich ihn liebte. »Den kannst du nicht haben, weil ihn deine Mutter sofort verkaufen würde. Aber wenn du möchtest, darfst du ihn hier tragen, während du mir im Haushalt hilfst.« Er hatte noch einen Bruder in Australien, den er die ganze Zeit besuchen wollte, um bei der Gelegenheit eine kleine Weltreise zu machen. Er bot mir an, mich mitzunehmen, doch der Widerling verbot es. Er meinte, das sei den Jungs gegenüber nicht fair. »Ich kann sie nun mal nicht alle mitnehmen«, protestierte mein Großvater. »Das ist die Gelegenheit für sie.« Doch nichts konnte meinen Stiefvater von seinem Entschluss abbringen. In einem Jahr durfte mich Opa tatsächlich mit in den Urlaub nehmen. Wir fuhren nach Hastings und zwar mit seinem Wohnwagen, der sonst immer in seiner Auffahrt stand — nur er und ich und die Hunde. Ich fühlte mich wie im Paradies. Bei ihm befand ich mich in Sicherheit und war überglücklich. Opa besaß auch noch einen festen Wohnwagen-
stellplatz in einem Ferienpark bei Southend. Wir fuhren dort manchmal mit der ganzen Familie übers Wochenende hin, und wenn Opa dabei war, konnte sich Richard nicht so leicht an mich heranmachen. Aber natürlich gelang es ihm trotzdem. Abends sagte er den anderen, sie könnten ruhig Bingo spielen gehen. Er würde mit mir im Wohnwagen bleiben, weil ich ungehorsam gewesen sei und eine Strafe verdiente. »Ach, Janey«, seufzte meine Mutter, »was hast du denn schon wieder angestellt?« »Wir waren den ganzen Tag zusammen im Wohnwagen«, dachte ich jedes Mal. »Du weißt ganz genau, was ich getan habe und was nicht.« Aber ich brachte nie irgendetwas zu meiner Verteidigung vor, weil ich wusste, dass sich Richard bitterlich dafür rächen würde und Mum meine Bestrafung nur allzu bereitwillig akzeptierte. Und so kam es, dass alle ausgingen und mich mehrere Stunden mit Richard allein ließen. In der Regel durfte ich die ganzen Ferien über gerade mal einen Abend ausgehen — aber das auch nur, wenn ich vorher mit ihm einen Spaziergang machte, um ein ruhiges Plätzchen zu finden, wo ich ihm »einen Gefallen« tun konnte. In einem Jahr verkündete er doch tatsächlich, dass er heimfahren würde, um einen Scheck einzulösen, da wir sonst kein Geld mehr hätten. Natürlich musste ich mitfahren. Er benutzte immer denselben Vorwand: »Ich werd Janey mitnehmen, falls mein Bein wieder mal verrückt spielt. Sie kann mir Tee machen und Zigaretten holen.« Das musste immer wieder als Ausrede herhalten, warum ich ihn überallhin begleiten musste. Diesmal konnte ich es kaum fassen, dass ich nicht nur eine ganze Nacht ungestört mit ihm allein sein, sondern auch noch meine Ferien dafür opfern musste. Wir waren kaum zu Hause, da mussten wir auch
schon das Ehebett aufsuchen, wo er Stunden damit verbrachte, mich zu missbrauchen. Es war schrecklich zu wissen, dass niemand nach Hause kommen würde, um dem ein Ende zu machen. Wenn alles vorbei war, schlief er an mich gekuschelt ein, als ob ich seine Frau wäre. Und am Morgen ging alles wieder von vorne los. Wenn Mum über Nacht wegblieb, was ziemlich oft der Fall war, als sie nierenkrank wurde oder wieder ein Kind bekam, musste ich bei Richard im Bett schlafen, so als wären wir ein Paar. Eines Morgens sah mich einer meiner Brüder, als ich das Schlafzimmer verließ, obwohl ich immer versuchte, rechtzeitig in mein Bett zu kommen, bevor sie aufwachten. »Was machst du denn da drin?«, fragte er mich. Ich erfand irgendeine Ausrede, sagte, ich habe etwas holen müssen. Er schien mir meine Erklärung ohne weiteres abzunehmen, aber warum auch nicht? Welches Kind kann sich vorstellen, was da zwischen seinem Vater und seiner Schwester vorgeht? Einer meiner Onkel besaß ebenfalls einen Wohnwagen, der genau gegenüber von dem meines Opas stand. Den benutzten wir ebenfalls. Doch für mich gab es nichts Schöneres, als mit meinem Opa allein zu sein, egal, ob wir in seinem Wohnwagen waren, einkauften oder ich bei ihm auf Besuch war. Aber auch das sollte bald ein Ende haben wie alles, was mir gut tat. Richard verkrachte sich mit Opa und Onkel John, so wie eigentlich mit jedem. Er versuchte mich mit allen Kräften daran zu hindern, sie zu besuchen, weil er ganz genau wusste, wie sehr ich das genoss und wie lieb mein Großvater immer zu mir war. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich könnte irgendwas verraten, wenn ich zu oft dort wäre. Sobald Richard eine Abneigung gegen jemanden entwickelt hatte, konnte sich seine Rachsucht schon an der
kleinsten Kleinigkeit entzünden. Dann griff er meinen Onkel auf der Straße an oder schlich hinters Haus und kappte ihre Fernseh- und Telefonkabel. Weil ich mich bei Großvater auskannte, hob mich Richard immer über den Zaun, wenn er nicht da war. Er zwang mich, bei Opa einzubrechen und Sachen mitzunehmen, auf die er oder Mum scharf waren, wie Tabak oder irgendetwas aus dem Kühlschrank. Manchmal hatten sie es auch auf Geld oder eine Kreditkarte abgesehen, weil sie einkaufen gehen wollten. Ich hasste es, meinen geliebten Großvater hintergehen zu müssen. Als Onkel John irgendwann heiratete, verstritt sich Richard mit dessen armer Frau. Wenn er sie auf der Straße sah, versuchte er sie zu überfahren. Opa hatte ebenfalls eine Freundin, die er heiraten wollte, aber Mum und Richard legten sich auch mit ihr an — einfach, weil sie nicht »zur Familie« gehörte. Wenn wir zufällig zur selben Zeit aus dem Haus gingen wie Opa, musste ich ihn ignorieren. Nie hätte ich es gewagt, mich einem solch eindeutigen Befehl zu widersetzen. Ich habe später erfahren, dass ihm das fast das Herz gebrochen hat. Am Ende schlugen sie ihn zusammen, womit sie ihn und meinen Onkel endgültig vergraulten. Ich glaube, es ging um Geld, das sie sich von ihm geliehen hatten oder so was, aber im Grunde spielte das überhaupt keine Rolle. Sie hatten einfach beschlossen, ihn zu verjagen. Großvater hatte damals gerade erst einen Herzinfarkt hinter sich, und Mum und Richard befürchteten, er könnte sterben, ohne ihnen einen Anteil seines Hauses zu hinterlassen, weil er alles seiner Witwe vermachen würde. Manche Leute gingen zur Polizei, nachdem sie von meinem Stiefvater angegriffen oder eingeschüchtert worden waren, zogen ihre Anzeigen jedoch jedes
Mal zurück, sobald sie Besuch von Richard oder Mum bekamen. Aus ihrer Sicht war es einfacher, sich eine andere Sozialwohnung zuweisen zu lassen, als es mit den Einschüchterungsversuchen und Gewaltausbrüchen aufzunehmen, die jeder Versuch, den Rechtsweg zu beschreiten, nach sich zog. Und so konnte er tun und lassen, was er wollte, ohne dass ihn irgendjemand daran hinderte. Als Kind war er für mich unbesiegbar. Es hatte keinen Sinn, sich gegen ihn zu wehren oder seinem Einflussbereich zu entfliehen, weil er am Ende immer gewann und seine Vergeltungsmaßnahmen schlimmer waren als alles bisher Dagewesene. Was er von mir wollte, konnte noch so lächerlich oder obszön sein — wenn ich mir keine Tracht Prügel oder Schlimmeres einhandeln wollte, musste ich ihm mit einem Lächeln auf den Lippen gehorchen. Als ich älter wurde, zwang er mich, ihm eine ganze Reihe von Gefallen zu tun. Manchmal brach er mit ihm lieb gewordenen Gewohnheiten und probierte etwas Neues aus, um dann zur Abwechslung wieder zu einer seiner alten Praktiken überzugehen. Ich wusste nie, was er sich als Nächstes einfallen lassen würde. An einem schönen Sommertag waren wir alle draußen, wuschen das Auto oder machten Gartenarbeit, als Richard plötzlich ohne jede Erklärung im Haus verschwand. Ich dachte mir noch nichts weiter dabei, bis er sich aus dem offenen Schlafzimmerfenster lehnte und mich bat hochzukommen, er bräuchte meine Hilfe. Mir wurde das Herz schwer, doch dann dachte ich, es könnte nicht allzu schlimm werden, weil ja Mum und die Jungs da waren. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, die Haustür zu schließen, als ich hineinging, da ich annahm, in ein paar Minuten wieder draußen zu sein.
Als ich ins Schlafzimmer kam, wartete er dort schon auf mich. »Mach die Tür zu«, sagte er. Ich gehorchte. »Du warst unfolgsam«, fuhr er fort. Da wusste ich, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. »Du stehst in meinem kleinen schwarzen Buch.« Von diesem kleinen schwarzen Buch hatte ich noch nie etwas gehört. »Du weißt, was du getan hast?« »Ja«, log ich, denn wenn ich mich unschuldig oder unwissend gezeigt hätte, wäre ich sofort der Lüge bezichtigt und geschlagen worden. »Du musst bestraft werden, weil du in meinem schwarzen Buch stehst.« Ich nickte und hatte keine Ahnung, was er mit mir vorhatte, mit Sicherheit nichts Angenehmes. Er befahl mir, vor ihm niederzuknien und öffnete seine Hose. Obwohl ich so etwas noch nie getan hatte, wusste ich sofort, was mich erwartete. »Nimm ihn in den Mund«, sagte er, »und leck ihn ordentlich.« Das Fenster stand immer noch offen, während sich die Gardinen im Wind bauschten. Ich konnte hören, wie Mum den Jungs befahl, weiter das Auto zu waschen und nicht ins Haus zu gehen. Vielleicht, weil sie nass waren und sonst Flecken auf die Teppiche gemacht hätten. Aber vielleicht auch, weil sie nicht sehen sollten, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Ich hatte furchtbare Angst, dass man uns ertappen könnte. Dann würde Richard mit Sicherheit einen Tobsuchtsanfall bekommen und Mum verprügeln – und alles wäre meine Schuld. Ich bekam allein schon bei dem Gedanken daran Bauchschmerzen und musste weinen, was ihn erst recht wütend machte.
»Los, mach's anständig«, befahl er mir und zog meinen Kopf näher zu sich heran. Ich musste würgen, doch er erlaubte es mir nicht, mich zu befreien. Als ich ihn genug geleckt hatte, zog er ihn mir aus dem Mund und befriedigte sich vor meinen Augen. Dann gingen wir zusammen nach unten, leisteten den anderen Gesellschaft und fuhren mit der Autowäsche fort wie eine ganz normale, glückliche Großfamilie. Der sexuelle Missbrauch allein genügte ihm nie, er musste das stets mit irgendeiner Psychofolter verbinden – ein Spiel, das wir angeblich beide genossen. Eines Tages, als alle anderen weg waren, ließ er mich die Treppe hochkommen. »Du schuldest mir noch einen Gefallen«, sagte er. »Wie du ihn einlösen willst, kannst du dir selbst aussuchen.« Ich wurde vor die Entscheidung gestellt, ihn entweder oral an mich heranzulassen, ihn oral zu befriedigen oder ihn auf den Mund zu küssen. Ich hatte ihn noch nie küssen müssen und hielt das für die am wenigsten widerliche Variante. Auf diese Weise würde er sich wenigstens nicht an meinen Genitalien vergreifen. Nachdem ich mich für den Kuss entschieden hatte, befahl er mir, meine Zunge in seinen Mund zu stecken. Ich dachte, ich müsste sterben. Ich tat mein Bestes, um ihn nicht wütend zu machen, aber ich musste einfach würgen. Weil es so eklig war, schlimmer noch als Oralsex, machte ich es nicht zu seiner Zufriedenheit, und er wurde fuchsteufelswild. Am Ende musste ich alle drei Varianten über mich ergehen lassen – als Strafe dafür, dass ich beim Küssen derart versagt hatte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass er das von Anfang an so geplant hatte. Jedes Spiel, das mir eine »Wahlmöglichkeit« vorgaukelte, war eine abgekartete
Sache, bei der ich immer verlor. In Zukunft konnte ich mich genauso gut für die schlimmste Variante entscheiden, um die Sache so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Als kleines Kind hält man das eigene Leben automatisch für normal und denkt, dass alle anderen ähnliche Erfahrungen machen. Den ersten Hinweis darauf, dass dem vielleicht doch nicht so war, bekam ich, als ich mit einer Freundin spielte und diese ankündigte, nach Hause zu gehen. »Aber deine Mum ist doch gar nicht da«, sagte ich aufrichtig überrascht. »Das ist schon in Ordnung, mein Dad ist ja zu Hause«, entgegnete sie, als wäre das die normalste Sache der Welt. Da merkte ich, dass sie überhaupt gar keine Angst davor hatte, allein mit ihrem Vater zu Hause zu sein. Konnte es sein, dass ihr Vater ihr nie wehtat? War ich etwa die Einzige, die solche Sachen tun musste? Aber wie sollte ich das je herausfinden, wo man mir doch eingebläut hatte, dass meine Mutter und ich umgebracht würden, wenn ich auch nur die leiseste Andeutung machte? Irgendwann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und vertraute mich meiner Freundin Hayley an, die mir absolutes Stillschweigen versprechen musste. Zur Sicherheit hatte ich ihr kurz vorher ebenfalls ein Geheimnis entlockt, um mich ihrer Diskretion zu vergewissern. Anfangs verstand sie gar nicht, worauf ich hinauswollte. »Weißt du«, sagte ich, als sie mich völlig verwirrt ansah, »er zwingt mich dazu, Dinge zu tun, die normalerweise nur Verheiratete tun.« Sie war entsetzt und wollte sofort ihrer Mutter Bescheid sagen, damit das aufhörte. Da erinnerte ich sie an ihren Schwur und das Geheimnis, das sie
mir anvertraut hatte. Ich warnte sie und sagte, ich müsse Selbstmord begehen, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten ließe. Sie begriff, dass ich es ernst meinte, und dachte nach. »Da er nicht dein richtiger Vater ist«, schlug sie schließlich vor, »könntest du ja so tun, als ob du eine Affäre hättest.« »Ich will aber keine Affäre mit ihm haben«, jammerte ich. So wie ich sie ansah, erahnte sie vermutlich meine Qualen, auch wenn sie keine wirkliche Vorstellung davon hatte. Aber sie begriff, dass sie kein Wort darüber verlieren durfte, bis ich selbst so weit war. Ich hätte mir keine bessere Freundin wünschen können. Doch obwohl ich wusste, dass ich ihr vertrauen konnte, bekam ich regelmäßig Panikattacken, wenn ich mir vorstellte, was wohl passieren würde, wenn sie sich aus Versehen verplapperte. Als der Widerling das nächste Mal wieder irgendetwas Schreckliches von mir verlangte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und beklagte mich, dass Hayley nie derlei für ihren Vater tun müsse. »Woher willst du das denn wissen?«, fragte er, sofort misstrauisch geworden. »Keine Ahnung«, stammelte ich, weil ich wusste, wie schlimm seine Vergeltung ausfallen würde, wenn er annehmen musste, dass ich irgendjemand etwas von uns erzählt hatte. »Ich weiß es einfach.« »Wenn du ihr auch nur ein Sterbenswörtchen davon verrätst, bring ich dich um«, drohte er mir, und ich hatte keinerlei Grund, ihm nicht zu glauben. Hayley und ich waren wirklich unzertrennlich, vor allem wenn man bedenkt, wie selten ich überhaupt aus dem Haus durfte. Wann immer ich rauskonnte, spielten wir Schlagball, liefen Rollschuh auf dem Parkplatz um die Ecke oder spielten Karten in dem Wohnwagen, den Großvater in seiner Auffahrt
stehen hatte. Doch auch dann war meine Freiheit sehr eingeschränkt. Wenn es den anderen Kindern auf dem Parkplatz zu langweilig wurde und sie eine Runde um den Block machen wollten, blieb Hayley immer bei mir, da sie ganz genau wusste, dass ich mich nicht weiter vom Haus entfernen durfte. Wenn Richard ein paar Stunden lang Kurierfahrten erledigte und Hayleys Mutter mit meiner Mum verabredet war, ergriff die manchmal für mich Partei: »Ach, jetzt lass sie doch mal mit den anderen spielen gehen!« Weil ihr Mum keinen triftigen Grund nennen konnte, der dagegen sprach, durfte ich mitgehen, was allerdings nicht sehr oft vorkam. Da Hayley wusste, dass sie nicht einfach bei uns klingeln und ich die meiste Zeit nicht bei ihr klingeln durfte, setzte sie sich stets auf das Mäuerchen vor unseren Fenstern und wartete, bis ich auf einer meiner zahlreichen Besorgungstouren bei ihr vorbeikam. Sie musste nie sehr lange warten, sodass wir auf dem Hinund Rückweg miteinander quatschen konnten. Vor der letzten Ecke bog sie jedes Mal ab, damit uns Mum und Richard nicht zusammen sahen und dachten, ich hätte einfach bei ihr geklingelt. Auf der Wiese vor unserem Wohnblock wurden wir »Blutsbrüder«, indem wir Krusten von unseren Knien schälten und diese aneinander rieben, damit sich unser Blut vermischte. Am Ende sollte sie sich wirklich als eine so ehrliche und treue Freundin erweisen, wie man das von einem Blutsbruder erwartet, indem sie sich undihre Familie großer Gefahr aussetzte und für mich aussagte. Hayleys Mum verstand sich recht gut mit meiner Mutter. Eines Abends, als mein Stiefvater gerade auf einer seiner Kurierfahrten war, kam sie auf eine Zigarette bei uns vorbei. Ich wurde zu Hayley geschickt, damit wir auf ihren kleinen Bruder und ihre jüngere
Schwester aufpassten. Als die Kleinen im Bett waren, beschlossen wir, die Bar zu plündern und fanden eine Flasche Malibu-Rum sowie weiteren Alkohol. Wir beschlossen, uns einen richtigen Rausch anzutrinken, und nippten reihum an jeder Flasche. Als Hayleys Mum unerwartet früh nach Hause kam und sagte, dass ich heim müsste, da mein Stiefvater überraschenderweise zurückgekommen sei, wurde mir fast schlecht vor lauter Angst, er könnte herausfinden, was ich angestellt hatte. Wie betrunken ich wirklich war, merkte ich erst, als ich an die frische Luft kam, die Straße überqueren wollte und dabei alle möglichen parkenden Autos anrempelte. Ein Teil von mir war nüchtern genug zu wissen, dass ich große Schwierigkeiten bekommen würde, wenn Richard merkte, dass ich betrunken war. Also bemühte ich mich, meine Bewegungen und meine Stimme zu kontrollieren. Bevor ich ins Haus ging, holte ich noch einmal tief Luft und versuchte mich zusammenzureißen. Die Folge war, dass ich einen unglaublichen Lachkrampf bekam, der mir sicherlich eine gehörige Tracht Prügel einbringen würde, weil mein Stiefvater nicht wissen konnte, worüber ich lachte. Ich wartete noch ein paar Sekunden und schloss dann die Haustür auf. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus, um keine Dreckspuren oder Flusen auf dem Teppich zu hinterlassen, und streckte meinen Kopf ins Wohnzimmer, um zu sehen, wie die Stimmung war. Richard und Mum waren beide dort. Richard saß in seinem Sessel und aß Eiersalat-Sandwiches, die Mum ihm immer machte, wenn er nachts arbeiten musste. Sie standen dann schon in einer Dose für ihn bereit. Es war eine sehr große Dose, die ich auch deutlich erkannte, als ich den Raum betrat. Sie stand mitten auf dem Boden, aber darum herum war noch genügend Platz zum Laufen. Doch aus irgendeinem Grund
wollten mir meine Füße nicht gehorchen, so als ob sie von diesen weichen Sandwiches wie magnetisch angezogen würden. Ich erstarrte vor Schreck, als ich spürte, wie sie unter meinen Zehen zerdrückt wurden, und wartete auf den Tobsuchtsanfall. »Hast du getrunken?«, fragten sie beide und lachten. Aus irgendeinem Grund bekam ich keinen Ärger. Ich musste mir nur die Sandwiches von den Fußsohlen klauben und ins Bett gehen. Am nächsten Tag musste ich mich bei Hayleys Mum dafür entschuldigen, dass ich mich an ihren Getränkevorräten vergriffen hatte. Sie fand es einfach nur lustig. Manchmal war es schon komisch, dass Dinge, die mich wirklich in Schwierigkeiten hätten bringen können, überhaupt kein Problem waren. So als wären alle normalen Erziehungsgrundsätze auf den Kopf gestellt. Man konnte nie wissen, ob Mum und Richard etwas einfach nur komisch finden und mir erlauben würden mitzulachen. So als ob ich erst eine Erlaubnis zum Lachen bräuchte. Denn wenn ich ohne ihre Erlaubnis lachte, wurden sie sofort misstrauisch und dachten, ich würde sie auslachen, woraufhin ich regelmäßig Prügel bezog. Das Ganze war schon mehr als verwirrend. Einer von Richards Lieblingsplätzen, an die er mich mitnahm, war der Dachboden. Es gab keine Leiter, was den Zugang erschwerte und es sehr unwahrscheinlich machte, dass uns meine Mutter oder irgendjemand anders störte, ohne sich vorher bemerkbar zu machen. Es gab dort auch kein Licht und keinen Dielenboden, nur ein bisschen Holz an einem Ende. Richard sagte meiner Mutter immer, wir würden nur kurz hochgehen, um das eine oder andere zu suchen. Er kletterte zuerst auf das Geländer und zog mich dann hoch. Oben zündete er eine Kerze oder Streichhölzer an und machte ein paar raschelnde Geräusche, damit
sie dachte, dass wir tatsächlich irgendetwas suchten. Wenn wir das hinterste Ende erreicht hatten, kramte er jedes Mal irgendwelche Pornohefte hervor, die er betrachtete, während er meine Brüste oder meine Genitalien streichelte und mich zwang, ihn zu befriedigen. Wenn Mum störte und rief, was wir da oben so lange machten, wenn ich seine Erwartungen nicht erfüllt hatte oder ihm mein Gesichtsausdruck nicht passte, blies er die Kerze aus und ließ mich allein dort oben sitzen. Mum sagte er, ich sei launisch oder beleidigt, weshalb man mir eine Lektion erteilen müsse. Ich hasste es, dort oben zwischen Spinnen und was weiß ich noch im Dunkeln zu sitzen. Ich rutschte bis an die Kante heran und starrte in den für mich unermesslich tiefen Abgrund hinunter. »Spring doch, wenn du runter willst«, sagte Richard jedes Mal hämisch. »Von mir aus kannst du den lieben langen Tag da oben bleiben.« Irgendwann kam er mich dann doch holen, weil Mum sich sonst beschwert hätte. Wenn Mum gerade zum Bingo gegangen war und erst spät nach Hause kommen würde, brachte er die Pornohefte auch mit nach unten und ließ mich nachmachen, was die Frauen auf den Fotos taten. Außerdem musste ich laut vorlesen, was in den Sprechblasen stand, die aus ihren Mündern quollen. Wenn ich mich verlas, wurde er wütend. Wenn die Jungs da waren, hüteten sie sich davor, aus ihren Zimmern zu kommen, nachdem sie ins Bett geschickt worden waren. Als Richard eines Tages Kurierfahrten erledigte, ging Mum selbst auf den Dachboden, weil sie neue Kleider brauchte. Ich flehte sie an, nicht hochzugehen, konnte ihr aber keinen vernünftigen Grund dafür nennen. Und so stand ich nur hilflos auf dem Treppenabsatz, als sie einen Stuhl heranschob und sich hochzog. Durch
die Luke konnte ich sehen, wie sie dort herumwühlte, wo die Zeitschriften lagen. Als sie sich auf den Stuhl herunterließ, hatte sie sie in der Hand. Sie fragte mich, was die da oben zu suchen hätten, und ich konnte nicht verhindern, dass ich ganz rot wurde vor Scham. »Keine Ahnung«, stotterte ich schuldbewusst. Wie kam sie überhaupt darauf, dass ich davon wusste? Wie kam sie darauf, ein so kleines Mädchen wie ich könnte dort oben Pornohefte horten, ohne irgendeinen Verdacht zu schöpfen? Als Richard nach Hause kam, zeigte sie ihm die Hefte. »Sieh mal einer an, was dieses Dreckschwein da oben liegen gelassen hat, bevor er ausgezogen ist«, sagte er, womit er auf den Vorbesitzer des Hauses anspielte. »Ich hab gleich gewusst, dass mit dem was nicht stimmte.« Ich habe keine Ahnung, ob Mum ihm geglaubt hat oder nicht, aber wenn nicht, war sie gut beraten, sich ihre Zweifel nicht anmerken zu lassen. Das Leben ging weiter, als ob nichts passiert wäre.
5. Kapitel Ich wollte nur zu gern glauben, dass Mum nicht das Geringste ahnte. Kein Kind will wahrhaben, dass seine Mutter weiß, wie es leidet, aber nichts dagegen unternimmt. Da ich wusste, wie sehr sie selbst unter Richard zu leiden hatte, stellte ich sie auf einen Sockel und wollte sie beschützen, so oft ich konnte. Wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte, so glaubte ich, hätte ich unser beider Leben in Gefahr gebracht. Ich habe nie vergessen, wie sich das Tranchiermesser an meinem Hals angefühlt hat, und zweifelte keine Sekunde daran, dass
Richard seine Drohung wahr machen und sie umbringen würde, wenn ich auch nur das Geringste verlauten ließ. Als ich älter wurde, gingen Mum und ich gern gemeinsam einkaufen. Wir kicherten die ganze Zeit, und sie genoss die Vorstellung, dass man uns für Schwestern hielt. Auch wenn sie mich oft enttäuschte, weil sie mich nicht vor Richard beschützte, obwohl sie es gekonnt hätte, hielt ich große Stücke auf sie. Was uns zusammenschweißte, war auch, dass ich ganz genau wusste, was er ihr antat. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, wurde ich einmal mitten in der Nacht von Mums Schreien geweckt. Das bedeutete, dass sie Richard wieder mal schlug, aber diesmal war der Lärm aus dem Schlafzimmer, das direkt nebenan lag, besonders laut. Ich zitterte und redete mir ein, ich müsse nur ruhig bleiben, dann sei es bald wieder vorbei. Denn wenn ich nachsehen ging und störte, würde sich seine ganze Wut bloß gegen mich richten, und das half ihr auch nicht weiter. Jetzt schrie er so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Außerdem hörte ich in regelmäßigen Abständen ein dumpfes Geräusch, als ob er ihren Kopf mehrfach gegen die Wand schlagen würde. Ich bekam furchtbare Angst, dass er sie diesmal wirklich umbringen und ich allein mit ihm zurückbleiben würde. Während ich dalag und betete, sie möge nicht sterben, hörten die Schreie auf, aber die dumpfen Geräusche gingen weiter. Ich konnte hören, wie die Jungs in ihren Betten weinten und vor Angst wie gelähmt waren. Ich hörte Mum stöhnen. Mit dem Mut der Verzweiflung kletterte ich aus dem Bett, rannte hinaus auf den Treppenabsatz und drückte die Schlafzimmertür auf. Das Licht aus dem Flur beleuchtete meine Mutter, die sich nur mit einer Unterhose bekleidet auf allen vieren befand, während
Richard rittlings auf ihr saß. Mit der einen Hand riss er ihren Kopf an den Haaren nach hinten, während seine andere Hand ihr Kinn hielt und ihren Kopf immer wieder gegen die Wand donnerte. Sie erstarrten beide und sahen mich an. »Lass sie in Ruhe!«, schrie ich. »Geh zurück ins Bett«, flüsterte Mum. Richard musterte mich noch eine Sekunde, bevor er den schlaffen Körper meiner Mutter zu Boden fallen ließ und hinter mir her rannte. Ich schaffte es gerade noch bis in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Aber kaum dass ich im Bett lag, kam er schon hereingestürmt, schrie und prügelte auf mich ein. So schlimm war ich bis dahin noch nie verprügelt worden. Dann hörte ich Mums Stimme: »Lass sie!«, und diesmal war es ihr wirklich ernst. Ich sah hoch und merkte, dass sie hinter ihm stand und das Tranchiermesser in der Hand hatte, das sie unter ihrer Matratze versteckt hielt. Sie schien zu hyperventilieren, während sie stöhnte und vor lauter Schmerz, Angst und Wut zitterte. Richard hörte auf, mich zu verprügeln, warf mich aufs Bett, richtete sich auf und verließ fluchend das Zimmer. Mum kam herein und setzte sich zu mir aufs Bett. Sie nahm meinen Kopf in ihren Schoß und strich mir tröstend über den Rücken. Ich muss mich gekrümmt haben, weil ich kaum noch Luft bekam. Ich ließ die Tür nicht aus den Augen, da ich wusste, dass er bald wieder da wäre, weil er ihr diesen Triumph unmöglich gönnen konnte. Ein paar Minuten später stürzte er erneut ins Zimmer, riss eine Schublade aus meiner Kommode und warf sie nach uns. Sie traf mich so hart ins Kreuz, dass ich von Mums Schoß rutschte. Daraufhin sprang sie kreischend auf, das Tranchiermesser noch in
der Hand, und stach ihm seitlich in den Bauch. Ich rollte mich auf dem Bett zusammen und versuchte, mich so klein zu machen wie möglich. Als sie sahen, wie das Blut floss, begannen sie beide zu zittern. Mum entschuldigte sich fortlaufend bei ihm, während er einfach nur dastand, sie ansah, seine Hand gegen die Wunde drückte und das Blut zwischen seinen Fingern hindurchfloss. Plötzlich schienen sie sich niemals gestritten zu haben, so als würde irgendeine geheime Macht sie zusammenschweißen. »Ich fahre ins Krankenhaus und lasse das nähen«, sagte er nüchtern. Er verließ das Haus, während Mum ihr Nachthemd anzog und mit Handtüchern die Blutspur aufwischte, die von meinem Zimmer die Treppe hinunterführte. Sie putzte so mechanisch wie ein Roboter. »Geh und wasch dir das Gesicht. Und sieh zu, dass du dich wieder beruhigst«, befahl sie mir. Als ich aus dem Bad zurückgehumpelt kam, schickte sie mich nach unten in die Küche, wo ich ihr auf den Schreck hin eine Tasse süßen Tee machen sollte. Währenddessen versuchte sie, die Blutflecken mit Waschpulver und Spülmittel aus dem Teppich zu entfernen. Dann kam sie herunter, steckte die blutigen Handtücher in die Waschmaschine und spülte das Messer, so als wollte sie jegliches Beweismaterial vernichten. Sie räumte meine Kommodenschublade auf, faltete meine Wäsche ordentlich zusammen und befahl mir, nachdem ich ihr den Tee gemacht hatte, wieder ins Bett zu gehen. »Du wirst kein Wort über diesen Vorfall verlieren«, warnte sie mich, obwohl die ganze Straße ihre Schreie gehört haben musste. Das war nur ein weiteres von vielen hundert Geheimnissen, die meinen Kopf beinahe zerspringen ließen und schwer auf mir
lasteten. Während ich in mein Bett kletterte, betete ich inbrünstig, Gott möge den Widerling auf dem Weg ins Krankenhaus verbluten lassen oder dafür sorgen, dass er bei einem Autounfall ums Leben kam. Ich war richtig aufgeregt bei der Vorstellung, er könnte nie mehr zurückkommen. Und selbst wenn, dachte ich, würde ihn Mum nach diesem Vorfall bestimmt verlassen. Das Tranchiermesser war nicht die einzige Waffe, die Mum griffbereit hielt, falls er sie angriff. Sie hatte noch weitere Messer im Haus deponiert und hinter der Regenrinne neben der Hintertür hatte sie ein Paar Turnschuhe versteckt. Merkwürdigerweise machte Richard, der ganz genau wusste, wo sich diese Waffen befanden, nie Anstalten, sie zu entfernen, bevor er Streit mit ihr anfing – von den Messingsoldaten einmal abgesehen. Er schien die Gefahr, die davon ausging, beinahe zu genießen. Jedes Mal, wenn sie stritten, schrie Mum, ich solle die Polizei rufen, woraufhin Richard brüllte: »Wehe, du wagst es!« Ein-, zweimal bekam ich es derart mit der Angst, dass ich zu den Nachbarn rannte und sie bat, Hilfe zu holen. Das taten die dann auch, aber anschließend machte er ihnen das Leben dermaßen zur Hölle, dass sie sich danach weigerten, sich nochmal einzumischen. Irgendwann machten sie mir nicht einmal mehr die Tür auf, obwohl sie durch die Wände zweifellos mit anhören konnten, was sich bei uns abspielte. Als Opa noch nebenan wohnte, schrie Mum manchmal, ich solle ihn holen gehen. Dann rannte ich so schnell ich konnte zu seinem Haus. Wenn ich es rechtzeitig schaffte, bewaffnete er sich mit einem Holzprügel und kehrte mit mir zurück, um dem Streit ein Ende zu machen. Doch in der Regel erwischte mich Richard, bevor ich dort ankam,
schleifte mich zurück und verpasste mir eine Tracht Prügel, weil ich es gewagt hatte, andere in unsere Familienangelegenheiten hineinzuziehen. Am Ende hatte er alle vergrault oder eingeschüchtert, bei denen man hätte Hilfe holen können, sodass meine Brüder und ich einfach nur dasaßen, während Mum und Richard um uns herumtobten. Wir warteten, bis sie müde wurden, und konnten nur hoffen, dass er sie nicht umbrachte, bevor er sein Mütchen an ihr gekühlt hatte. Ein paar Stunden nachdem Richard ins Krankenhaus gefahren war, hörte ich schon das gefürchtete Motorengeräusch unseres Ford Cortina, seinen Schlüssel im Schloss und seine Schritte auf der Treppe. Zu meinem Entsetzen kam er zuerst zu mir ins Zimmer. Ich versuchte, keinen Mucks zu machen, und fürchtete mich vor dem, was mich erwartete. »Janey«, flüsterte er, während ich so tat, als schliefe ich. »Es tut mir ehrlich Leid.« Er hatte sich noch nie bei mir entschuldigt. Aber vielleicht tat er es jetzt auch nur, weil er dachte, ich schliefe und könnte ihn nicht hören. Er verließ das Zimmer und machte die Tür leise hinter sich zu. Kurz darauf konnte ich hören, wie er und Mum sich im Schlafzimmer unterhielten. »Ich hab ihnen gesagt, ich bin mit dem Dosenöffner abgerutscht«, erklärte er ihr. »Was Besseres ist dir wohl nicht eingefallen«, meinte sie und lachte. Sie plauderten und lachten, als ob sie gerade ein gemeinsames Abenteuer bestanden hätten. Irgendwann schlief ich enttäuscht ein, weil sie sich wieder vertragen hatten und es nicht danach aussah, dass Mum ihn verlassen würde. Am nächsten Morgen erlaubten sie mir auszuschlafen und sagten auch den Jungs, sie sollten
mich schlafen lassen. Das war eine weitere Premiere. Als mir danach war, stand ich auf, wusch mich und ging nach unten. Ich rechnete fest damit, dass sie böse auf mich waren. Als ich ins Wohnzimmer kam und meine Mutter sah, erschrak ich sehr. Ihr ganzes Gesicht war geschwollen und voller blauer Flecken. Es war durch die Schläge völlig deformiert. Während der schrecklichen Ereignisse der letzten Nacht hatte ich den Grad ihrer Verletzungen gar nicht bemerkt. Mum war kaum wiederzuerkennen. Richard lächelte mich an, als wäre dies ein ganz normaler Morgen in einer ganz normalen Familie. »Möchtest du Frühstück?«, fragte er. Ich nickte unsicher, weil ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Ausschlafen zu dürfen und dann noch von Richard gefragt zu werden, ob ich ein Frühstück wollte, war etwas noch nie Dagewesenes. Ich überlegte fieberhaft, wo wohl der Haken sein mochte. Ich durfte den ganzen Tag herumsitzen und musste nicht die kleinste Besorgung machen. Heute frage ich mich, ob ich vielleicht ebenso grün und blau im Gesicht war wie meine Mutter, denn Richard hatte mich in der Vergangenheit oft genug aus der Schule genommen, wenn er zu weit gegangen war und körperliche Spuren hinterlassen hatte. Ich hatte keine Möglichkeit, das selbst zu kontrollieren. Der einzige Spiegel im Haus befand sich in Mums Zimmer, und in den konnte ich nur einen Blick werfen, wenn ich gerade dort staubsaugte oder Wäsche einräumte. Obwohl ich damals eine ganze Woche lang nicht zur Schule ging, wurde es Mum und Richard schnell langweilig, nett zu mir zu sein. Schon am nächsten Tag blieb wieder der ganze Haushalt an mir hängen. Ich war sehr einsilbig und sagte ein paar Tage lang kaum mehr als »Ja« oder »Nein«, »Bitte« und »Danke«, bis es Richard reichte und er mich anbrüllte, ich solle
aufhören, die Beleidigte zu spielen. Danach war wieder alles beim Alten. Wir alle hofften, dass uns Richard eines Tages verlassen würde. Eine Hoffnung, die sich erfüllte, als er sich eine Freundin suchte. Ich erfuhr erstmals davon, als sich Mum eines Tages weigerte, ihm ein Hemd zu bügeln. »Soll das doch deine schwarze Schlampe für dich bügeln!«, kreischte sie. Er musste nur auf einen Vorwand gewartet haben, denn er zog sofort aus. Die Jungs waren überglücklich und flehten Mum an, ihn nicht zurückzuholen. »Er soll nicht wiederkommen, stimmt's, Mum?«, sagten wir. »So ist es doch viel schöner.« »Macht euch keine Sorgen«, beruhigte sie uns, »der kommt nicht wieder.« Sie muss es selbst geglaubt haben, denn ein paar Tage später nahm sie die Einladung einer Freundin an, mit auf ein Bier in den Pub zu gehen – etwas, das sie ohne Richards Erlaubnis sonst nie getan hätte. Während sie weg war, kam er zurück und hatte eine dicke Goldkette als Versöhnungsgeschenk dabei. Als er merkte, dass sie ausgegangen war und sich amüsierte, verschlechterte sich seine Laune schlagartig. Ich werde die Angst in ihren Augen nie vergessen, als sie nach Hause kam und ihn dort vorfand. Was mit der anderen Frau passiert ist, weiß ich nicht, sie wurde nie mehr erwähnt. Nach allem, was ich heute weiß, frage ich mich schon, wie viel Mum wirklich wusste. Ein Vorfall gibt mir ganz besonders zu denken. Richard war immer sehr stolz auf seine Gartenhäuschen, die er nach jedem Umzug eigenhändig am Ende des Gartens errichtete. In den Jahren unseres Zusammenlebens hat er mindestens drei davon
gebaut. Sie waren perfekt und hatten sogar richtige Fenster, die wir putzen mussten, als gehörten sie mit zum Haus. Darin waren sämtliche Besitztümer Richards penibelst verstaut, so wie er auch sonst immer darauf achtete, dass alles makellos und ordentlich war. Manchmal musste ich mit ihm hineingehen und ihm dabei helfen, »sein Werkzeug zu sortieren«, wobei er jedes Mal hinter uns zuschloss. Die Tür war auf der Innenseite mit fünf Schlössern und einer Kette gesichert, sodass uns niemand stören konnte. Als ich viel später über diese Dinge nachdachte, fragte ich mich, warum sich niemand darüber wunderte, dass er so scharf darauf gewesen war, die Tür von innen zu sichern. Mir erschien das damals ganz normal. Ich weiß noch, wie er mich einmal dorthin mitnahm, während die Jungs draußen im Garten spielten, die Tür von innen verschloss und mir befahl, mich mit dem Gesicht zum Fenster zu stellen, damit ich sehen konnte, wenn jemand kam. »Tu so, als ob du beschäftigt wärst«, wies er mich an, ließ seine Hose fallen und stellte sich hinter die Tür. Er ging in die Hocke, und kurz danach spürte ich seine Hand in meiner Hose, die mit meinen Genitalien spielte, während er sich selbst befriedigte. Nur ein paar Meter entfernt konnte ich sehen, wie Mum in der Küche den Abwasch machte. Ab und an sah sie aus dem Fenster und befahl den Jungs, nicht den Rasen zu betreten, sondern auf der Terrasse zu bleiben. Sie verbot ihnen, zum Gartenhäuschen zu gehen, was komisch war, da Sommer war und die Jungs normalerweise in diesem Teil des Gartens spielen durften. Ich sah meiner Mutter direkt in die Augen, während ich so tat, als räumte ich seine Werkbank auf. An jenem Abend musste ich meine Unterhose zwischen meiner schmutzigen Wäsche verstecken,
da Richards Hände große schwarze Ölflecken darauf hinterlassen hatten und ich Angst hatte, Mum könnte sie entdecken und ahnen, was passiert war. Richards Mutter schien mich beinahe ebenso zu hassen wie ihr Sohn. Wenn wir bei ihr waren, hatte sie ständig etwas an mir auszusetzen. Sie und Mum vertrugen sich recht gut und gingen gemeinsam zum Bingo, aber als ich noch klein war, sorgte Mum stets dafür, dass sie zwischen mir und Oma stand. Oma lebte ungefähr acht Kilometer von uns entfernt, und Richard nahm mich oft mit zu ihr, weil das einen langen Spaziergang durch den Wald bedeutete. Auf dem Hin- oder Rückweg mussten wir jedes Mal anhalten, damit ich ihm »einen Gefallen« tun konnte. Wenn zu viele Leute unterwegs waren und er nicht ungestört mit mir allein sein konnte, wurde er richtig wütend. Dann mussten wir so lange laufen, bis wir einen geschützten Platz fanden. Manchmal dauerte es so lange, dass wir gar keine Zeit mehr hatten, seine Mutter zu besuchen, und gleich danach den Heimweg antreten mussten. Bei einer dieser Gelegenheiten hatten wir Zucker oder etwas Ähnliches ausleihen sollen. Nachdem wir zurück waren, fragte uns Mum danach. Als sie sah, dass wir nichts dabei hatten, wollte sie wissen, ob wir überhaupt bei Oma gewesen wären. »Nein«, sagte Richard, der sichtlich Angst hatte, sie könnte bei Oma nachfragen. »Ja«, sagte ich gleichzeitig, da ich dachte, ich solle für ihn lügen. »Ich meine natürlich Nein«, verbesserte ich mich schnell und ignorierte Mums verständnislosen Gesichtsausdruck. Als Oma erwähnte, sie wünsche sich einen Kamin für ihr Wohnzimmer, versprach Richard, ihr einen zu bauen. Natürlich musste ich jeden Tag mit ihm
dorthin. Oma war nicht da, während gearbeitet wurde, aber eine meiner Cousinen wohnte in der Nähe und wollte, dass ich mit ihr spielte, wenn ich kam. Eines Tages erlaubte mir Richard, ein wenig spielen zu gehen. »Aber lauf nicht zu weit weg«, mahnte er. Nach einer Weile rief er mich zurück ins Haus, und ich wusste genau, warum. »Ich komme kurz mit rein«, sagte meine Cousine. »Nein, bitte nicht«, flehte ich sie an. »Ich bin gleich wieder da.« Aber sie hörte nicht auf mich. Sie war genervt von uns, weil sie nicht begriff, warum ich immer bei Richard bleiben musste. Als er sah, dass sie mitgekommen war, wurde er wütend, genau, wie ich es vorausgesehen hatte. Er befahl ihr zu verschwinden. »Nein«, entgegnete sie. »Ich wohne hier. Und ich kann tun und lassen, was ich will.« Wenn jemand Streit mit meinem Stiefvater anfing, gefror mir jedes Mal das Blut in den Adern, da ich wusste, dass er seine Wut anschließend an mir auslassen würde. Auch jetzt blieb er stur und wurde so wütend, dass meine Cousine schließlich nach oben ging und ihn verfluchte. »Verpiss dich!«, brüllte er ihr nach. »Du fette, hässliche Kuh!« Dann nahm er mich mit ins Wohnzimmer, wo er den Kamin baute, schloss die Tür, lehnte sich dagegen, ließ die Hose herunter und befahl mir, ihn mit der Hand zu befriedigen, während er mein Brüste befummelte. Nach ein paar Minuten hörte ich, wie meine Cousine herunterkam und mich nach draußen rief. Sie versuchte, die Tür aufzumachen, aber Richard lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Er brüllte, sie solle verschwinden, sonst würde er ihr eine Tracht Prügel verpassen. Irgendwann gab sie auf und ging fluchend nach draußen. Er befriedigte sich selbst, ließ
mich aber trotzdem nicht zu ihr. Er zwang mich, bei ihm im Wohnzimmer zu bleiben und ihm bei der Arbeit zuzusehen. Als Oma heimkam, erzählte er ihr, wie sehr sich meine Cousine daneben benommen hätte und dass sie eine gehörige Tracht Prügel verdiene. Er zwang mich dazu, ihm beizupflichten. Sein Ford Cortina gab ihm eine weitere Gelegenheit, mit mir allein sein zu können. Er nahm mich mit auf seine Fahrten zu diversen Baumärkten und zwang mich, mich hinten auf den Boden zu kauern oder mich so hinzusetzen, dass ich die Arme um den Fahrersitz legen und ihn beim Fahren befriedigen konnte. Ich wusste immer, was er vorhatte, weil er jedes Mal, bevor wir losfuhren, aufs Klo ging, um Toilettenpapier zu holen, mit dem er sich anschließend säubern konnte. Manchmal dauerte es eine Ewigkeit, bis er kam, während wir durch die Alleen fuhren. Mein Arm brannte wegen der ungewohnten Haltung, aber ich traute mich nicht aufzuhören, bevor er es mir erlaubte. Wenn es dunkel war und wir eine verlassene Gegend erreicht hatten, hielten wir an. Dann zwang er mich, auf den Beifahrersitz zu klettern und es ihm von dort aus zu machen. Mit der Zeit wurde ich zu groß, um mich hinten reinzuquetschen. Dann musste ich mit einer Zeitung oder einem Pulli über dem Arm auf dem Beifahrersitz sitzen, während ich es ihm besorgte. Waren wir dann endlich im Baumarkt angekommen, zwang er mich, die Preisetiketten gegen billigere auszutauschen. Er versuchte immer, sich irgendwie vor dem Bezahlen zu drücken. Ich lief hinter ihm her und hatte eine Riesenangst, einer der Verkäufer könnte ihn darauf ansprechen oder ihn nicht respektvoll genug behandeln, was zu schrecklichen Szenen geführt hätte. Sein Auto gab ihm noch ganz andere Möglichkeiten, seine Aggressionen abzureagieren.
Sobald ihn irgendein anderer Autofahrer ärgerte, indem er knapp vor ihm die Spur wechselte, zu dicht auffuhr oder ihn zwang, langsamer zu fahren, verfolgte er ihn. Wenn die Fenster heruntergekurbelt waren, verfluchte er ihn und spuckte ihn an. Kaum, dass er ihn eingeholt und zum Halten gezwungen hatte, sprang er aus dem Wagen und ging mit seinem Kreuzschlüssel auf ihn los. Wenn eine Frau am Steuer saß, schickte er meine Mutter vor, und als ich alt genug war, um Streit mit Erwachsenen anzufangen, war ich an der Reihe. Er dachte sich ständig neue Zubettgeh-Rituale für uns aus, vor allem, wenn Mum nicht da war, da er ganz genau wusste, dass es die Jungs nie wagen würden, uns zu stören. »Stell dich aufs Bett«, befahl er mir, als ich noch sehr klein war. »Zieh deine Kleider aus und dreh dich um.« Als ich ihm nackt den Rücken zukehrte, drehte er sich ebenfalls um, sodass wir Rücken an Rücken dastanden. Dann schlang er seine Arme um mich und zog meinen Körper auf seinen Rücken, sodass mir die ganze Wirbelsäule wehtat. Danach war ich jedes Mal minutenlang wie gelähmt und konnte mich vor lauter Schmerzen kaum rühren. Als ich älter und zu schwer dafür wurde, ließ er Bodylotion auf unsere nackten Körper tropfen, verrieb sie und befahl mir dann, mich auf ihn zu legen. Er schob mich hoch und runter und rieb seinen Penis an meiner Vagina. Danach tauschten wir, sodass er oben zu liegen kam. Allerdings hat er mich nie penetriert. Ein anderes Spiel, das er sehr genoss, bestand darin, dass ich mich im Wohnzimmer ausziehen und auf den Boden knien musste. Dann musste ich meine Arme zur Seite strecken, die er mit Bänden der Enyclopedia Britannica beschwerte. Das Lexikon war durch einen Haustürverkäufer ins Haus gekommen, der
eines Nachmittags geklingelt hatte, als wir alle draußen waren und den Wagen wuschen. Normalerweise wurden solche Hausierer stets unsanft verjagt, aber aus irgendeinem Grund erregte dieser Mann Richards Interesse. Vielleicht war er auch einfach nur guter Laune, oder der Hausierer erwähnte das Zauberwort »gratis«. Ich beobachtete staunend, wie Richard mit ihm scherzte, und fragte mich, was das nun wieder für eine Tour war. Der Mann machte ihm eine Art Angebot, das darin bestand, dass man im Falle eines Abonnements einige Bände gratis bekam oder so was Ähnliches. Richard überzeugte ihn davon, die Gratisbände gleich dazulassen, da er vorhätte zu abonnieren. Als der Mann später wiederkam, wurde er natürlich fortgejagt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand bei uns in der Familie je ein Buch in der Hand gehabt hätte. Nun gab es ein paar neue Foltermöglichkeiten. Sobald meine Arme zitterten, legte Richard einen weiteren Band auf, auf dem er dann seinen schweren Britvic-PubAschenbecher balancierte. Wenn meine Arme nachgaben, rutschte der Aschenbecher herunter, woraufhin er mich in den Rücken oder gegen den Hinterkopf trat, mich wie ein Oberfeldwebel anbrüllte und mir befahl, die Arme oben zu lassen. Die Schmerzen waren unerträglich, und wenn meine Arme vor lauter Anstrengung zitterten, wurde er erst recht wütend. Er schien diese Folterspielchen mindestens genauso zu genießen wie die sexuellen Schikanen. Je unerträglicher mein wirkliches Leben wurde, desto häufiger zog ich mich in eine Fantasiewelt zurück. Manchmal stellte ich mir vor, ich sei Aschenputtel, das von einem bösen Stiefvater statt von einer bösen Stiefmutter gequält wird. Und dass eines Tages die gute Fee käme und mich zu meinem Traumprinzen brächte, der mich von zu Hause wegholen und heiraten würde.
Auf diese Weise konnte ich mir für ein paar Minuten einbilden, dass irgendwo ein Happy End auf mich wartete. Nur so schaffte ich es, überhaupt durchzuhalten. Dann dachte ich wieder, ich sei Jesus und wäre auf die Erde zurückgekehrt, um durch mein Leid die Menschheit zu retten, genau wie er in der Bibel. Denn wenn es irgendeinen Grund für mein Leid gab, konnte ich es besser ertragen. Als ich diese Fantasien viele Jahre später einem Psychologen erzählte, meinte er, das habe mir wahrscheinlich geholfen, in all den Jahren nicht verrückt zu werden. Sie waren mein Rettungsanker, der mich hoffen ließ, dass sich eines Tages alles zum Besseren wenden würde und ich nicht umsonst litt. Als ich auf die weiterführende Schule kam, kehrte ein Mädchen namens Tanya dorthin zurück. Man hatte sie zeitweise von der Schule genommen, weil sie gemobbt worden war. Ich wartete gerade vor dem Direktorat, als sie kam. Man hatte mich mal wieder beim Rauchen erwischt. Das kam so oft vor, dass der Direktor irgendwann aufhörte, etwas dagegen zu unternehmen, weil er wusste, dass mich meine Eltern dazu ermutigten. Tanya saß neben mir. »Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Ich muss zurück«, sagte sie. »Ich bin in keiner anderen Schule untergekommen.« In diesem Moment ging eine Gruppe von Mädchen, die sie gehänselt hatten, vorbei und machte drohende Zischgeräusche. Ich konnte sehen, dass sie wirklich Angst vor ihnen hatte. Wir wurden beide zusammen ins Direktorat gerufen. »Gut, Jane«, sagte der Direktor. »Ich werde Tanya zu dir in die Klasse stecken, und du wirst auf sie aufpassen.« Von dem Moment an waren wir unzertrennlich. Ich merkte gleich, dass wir uns der Gang, die Tanya
hänselte, stellen mussten. Sie hatte sogar Angst, auf die Toilette zu gehen, weil sie wusste, dass ihr die Mädchen folgen und sie quälen würden. »Ich warte, bis ich zu Hause bin«, sagte sie. »Nein«, sagte ich. »Du gehst aufs Klo, wann du willst. Ich komme mit.« Natürlich folgten sie uns und begannen Streit. Meine Erfahrungen mit dem Widerling hatten mich sicherlich ganz besonders sensibel für Hänseleien gemacht. Ich konnte so etwas einfach nicht ertragen. Es gab da noch ein anderes Mädchen, eine Klasse unter uns, eine irgendwie bemitleidenswerte Gestalt. Sie stank nach Urin und hatte ständig Läuse. Sie wurde derart viel gehänselt, dass sie epileptische Anfälle bekam. Deshalb setzte ich mich im Bus stets neben sie, um sie zu beschützen. Aber ich musste ein paar Haltestellen vor ihr aussteigen, und sobald der Bus anfuhr, sah ich, wie alle über sie herfielen. Ich hasste es, sie jeden Tag aufs Neue ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Wie dem auch sei: Die Gang ärgerte Tanya nie mehr, nachdem ich den Mädchen klar gemacht hatte, dass sie damit nicht nur sie, sondern auch mich angriffen. Ich kann ohne zu lügen behaupten, dass die Mädchen Angst vor mir hatten, weil sie wussten, aus was für einer gewalttätigen Familie ich stammte. Endlich konnte ich das Aggressionstraining, das mir Richard und Mum verpasst hatten, einmal sinnvoll einsetzen. Dass ich bei allen beliebt war, trug ebenfalls dazu bei, dass niemand einen Grund hatte, mich anzugreifen. Tanya und ich machten alles gemeinsam. Sie holte mich morgens ab, damit wir zusammen zur Schule gehen konnten. Manchmal quälte sie der Widerling, wenn er sie im Haus antraf, indem er so brutal an ihrem Pferdeschwanz zog, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Das machte er bei mir die ganze Zeit –
aber natürlich »nur im Spaß«. Einmal kam sie ganz stolz mit einer neuen Haarspange an, die er ihr einfach abriss, auf den Boden warf und zertrat. »Du musst mich nicht abholen«, sagte ich ihr nach einem dieser Vorfälle. »Warte einfach an der Ecke, bis ich rauskomme.« »Nein«, sagte sie. »Das ist mir egal.« Eines Abends wollten wir auf eine Kirmes gehen. Tanya kam genau zur vereinbarten Zeit, aber Richard ließ mich absichtlich noch anderthalb Stunden Hausarbeit machen, damit sie warten musste. Es war ein ziemlich weiter Weg bis zur Kirmes, und ich musste schon früh wieder zu Hause sein, sodass wir kaum Zeit dort verbringen konnten. Tanya war wirklich sauer deswegen und fragte, warum sich Richard immer so merkwürdig aufführe. Wir standen uns damals so nahe, dass ich beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie war die Erste nach Hayley, der ich mich anvertraute. Tanya war absolut schockiert, machte aber kein Theater deswegen, und ich war froh, sie ins Vertrauen gezogen zu haben. Ein paar Tage später war Mum überraschend ausgegangen, und Richard hatte beschlossen, dass ich ihm nach der Schule im Wohnzimmer einen Gefallen tun solle. Er kam gerade so richtig in Fahrt, als es an der Tür klingelte. »Diese Scheiß-Tanya ist an der Tür«, sagte er, nachdem er durch die Gardinen gelinst hatte. »Der werd ich was erzählen!« Er ging in den Flur, und ich hörte, wie er die Haustür aufmachte. »Sie ist verdammt noch mal nicht da«, brüllte er. »Oh, ich verstehe«, sagte Tanya. »Wo ist sie denn?« »Sie kauft gerade eine Zahnbürste drüben im Supermarkt.« Er knallte die Tür zu und kam zurück ins
Wohnzimmer. »Wenn du gut bist, kannst du nachher raus und sie suchen.« Gleich danach fand ich Tanya auf dem Friedhof neben dem Supermarkt. »Du bist gerade da rausgekommen, stimmt's?«, sagte sie und wies mit dem Kinn auf unser Haus. »Ich wusste ganz genau, dass du nicht im Supermarkt bist, deshalb sitze ich hier. Er hat nicht mal so viel Anstand besessen, seinen Hosenstall zuzumachen.« Ich kann mir gut vorstellen, wie schrecklich sie sich zwischen den Gräbern gefühlt haben muss, wohl wissend, was er da gerade mit ihrer Freundin anstellte.
6. Kapitel Ich war eine ziemliche Spätzünderin, sehr dünn, mit wenig Busen. Auch meine Periode bekam ich erst mit vierzehn. Ich kann mich noch gut an diesen Moment erinnern, weil ich damals gerade bei Opa war und seine Treppe putzte, als ich meine Tage bekam. Ich rannte nach Hause zu Mum und lief als Erstes Richard in die Arme. »Wo willst du hin?«, fragte er. »Ich muss mit Mum sprechen.« Ich versuchte, an ihm vorbeizukommen, da ich so etwas Intimes auf keinen Fall mit ihm bereden wollte. »Wieso, was gibt's denn?«, hakte er nach. Ich durfte nie mit Mum reden, bevor ich ihm nicht gesagt hatte, worum es ging. Wahrscheinlich hatte er immer Angst, ich könnte ihr eines unserer Geheimnisse verraten. »Das ist eine Frauensache«, sagte ich und hoffte, er würde begreifen und sich damit zufrieden geben. »Oh, verstehe«, sagte er. Er schien nicht nur sofort zu wissen, worum es ging, sondern sich auch
ernsthaft Sorgen zu machen. »Na dann mal rein mit Ihnen, junges Fräulein«, sagte er und schob mich ins Wohnzimmer, während er nach Mum rief. Sie betteten mich aufs Sofa und befahlen den Jungs, mir ein paar Kissen zu holen, die man mir unter Kopf und Beine schob. »Geh und hol ihr ein paar Tampons«, sagte Mum, und Richard verschwand in Richtung Supermarkt. »Du bist jetzt eine richtige Frau«, sagten sie immer wieder und achteten darauf, dass ich mich ja nicht überanstrengte. Sie ließen mich ein paar Tage lang zu Hause, während ich »zur Frau« wurde. Ich fand heraus, dass meine Regel ein idealer Vorwand war, um mich zu drücken. Wenn ich gewusst hätte, wie sehr sie sich in den kommenden Monaten noch verschlimmern sollte und manchmal sogar drei Wochen mit nur einer einwöchigen Pause dazwischen dauerte, hätte ich mich nicht so gefreut. Schon bald nahm man keinerlei Rücksicht mehr auf mich. Meine Periode war auch insofern von Nachteil, als sie Mum und Richard einen weiteren Vorwand lieferte, mich von der Schule fern zu halten. Ich ging gern zur Schule, weil das bedeutete, ein paar Stunden pro Tag tun und sagen zu können, was ich wollte, ohne dafür grausam bestraft zu werden. Ich genoss meine Freiheit, gab stets den Klassenclown und war bei Lehrern wie Schülern für mein lautes Lachen und meine fröhliche Art bekannt. Doch das schien meine Lehrer nie zu stören, denn im Gegensatz zu vielen anderen Kindern auf dieser Schule war ich niemals brutal und arbeitete stets bereitwillig mit. Ich sprudelte fast über vor lauter Freude, aus dem Haus zu kommen. Lehrer wie Schüler schienen mich ausnahmslos zu mögen, was mich wunderte. Wenn ich so eine verachtenswerte Gestalt war, wie mein Stief-
vater behauptete, warum merkten dann die anderen das nicht? Das Gefühl, in der Schule gemocht zu werden, hob meine Laune erst recht, machte es mir aber umso schwerer, am Ende eines Schultages wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Anfangs hatte ich gute Noten, manchmal war ich sogar Klassenbeste. Aber als ich älter wurde und Hausaufgaben machen musste, wurden meine Leistungen schlechter. Auf einer anderen Schule hätte man mir meine schlechten Noten sicherlich übel genommen, aber in einem Viertel wie dem unseren war man schon froh, jemand so fröhlichen und begeisterungsfähigen in der Klasse zu haben. Die Lehrer wussten, dass ich mich anstrengte, aber familiäre Probleme hatte. Ich muss anders gewesen sein als die meisten missbrauchten Kinder, was mit ein Grund war, warum keine Behörde je irgendetwas merkte. Die halten normalerweise nach Kindern Ausschau, die sich zurückziehen, Schwierigkeiten mit ihren Klassenkameraden haben und blaue Flecken oder andere Anzeichen von Misshandlung aufweisen. Viele Jahre später erzählte mir Hayley, dass ich immer lange Ärmel tragen musste wegen der blauen Flecken auf meinen Armen, aber das fiel mir damals gar nicht auf. Die meisten Qualen, die mir mein Stiefvater zufügte, hinterließen keine körperlichen Spuren, aber dafür jede Menge Narben auf meiner Seele. Wenn ich wirklich einmal Spuren einer Misshandlung davontrug, durfte ich nicht zur Schule, bis sie verheilt waren. Einen Vorfall gab es jedoch und zwar im ersten Jahr der Mittelstufe. Damals wurde ich wegen eines völlig blutunterlaufenen Auges ins Direktorat gerufen. Als ich dort ankam, warteten dort bereits ein paar Sozialarbeiter auf mich. Sie müssen noch mehr gewusst haben, weil mich der Lehrer fragte: »Stimmt es, dass dir
dein Vater gedroht hat, dich umzubringen?« Ich wollte schon den Mund aufmachen und »Ja« sagen, als der Widerling hereingestürmt kam. Er schwitzte, als wäre er den ganzen langen Weg von zu Hause bis zur Schule gerannt. Ich glaube, sie waren gesetzlich verpflichtet, ihn zu informieren. »Nein«, sagte ich schnell. »Das sagt er bloß im Spaß, wie alle anderen auch.« »Schlägt er dich?«, fragten sie. Ein Nein kam aus meinem Mund, auch wenn alles in mir schrie: »Ja!« Richard beschimpfte sie, zerrte mich von meinem Stuhl und befahl mir, schnurstracks nach Hause zu gehen. Dort würde ich eine gehörige Tracht Prügel bekommen, weil ich die Behörden auf unsere Familie aufmerksam gemacht hatte. Ansonsten hat sich nie wieder jemand um mich gekümmert. Ich glaube, sie waren erleichtert, mich beim Wort nehmen zu können. Obwohl die Behörden keinerlei Veranlassung hatten zu glauben, dass ich derart missbraucht wurde, wussten sie doch, wie schwierig, gewalttätig und ausfallend meine Eltern waren. Die Lehrer wussten, dass ich montags nicht zur Schule kam, weil ich dann immer ihre Stütze abholen musste. Jeder in unserem Viertel, der Geldprobleme hatte, stellte sich zur selben Zeit auf dem Postamt an. Manchmal reichte die Schlange um mehrere Blocks. Selbst wenn man bereits um halb acht Uhr morgens da war, konnte es passieren, dass man erst um zwölf Uhr vor dem Schalter stand, hinter dem zwei Personen versuchten, die nicht enden wollende Flut von Menschen zu bewältigen. Dass Mum oder Richard so lange Schlange stehen würden, kam gar nicht infrage, also wurde ich geschickt. Ich war nicht das einzige Kind aus unserem Viertel, dem man diese Last aufgebürdet hatte.
Sobald es zu Hause Probleme gab, weil Mum nicht daheim war – zum Beispiel als Les wegen seiner Verbrennungen monatelang im Krankenhaus lag oder sie selbst in die Klinik musste, weil man ihr eine Niere entfernte, sie anderweitig operierte oder sie ein weiteres Kind bekam –, ging ich wochenlang nicht zur Schule. Ich wurde zu Hause eingesperrt, um dem Widerling den Haushalt zu machen. Nie durfte ich daheim nachholen, was ich in der Schule versäumt hatte. Die Lehrer wussten, dass ich keine Hausaufgaben machen konnte, weil meine Eltern der Auffassung waren, der Nachmittag gehöre der Familie und nicht der Schule. Sie nahmen wahrscheinlich an, dass ich den ganzen Tag zu Hause rumsaß und fernsah. Stattdessen hatte ich wie eine Sklavin das ganze Haus zu putzen und mich um meine Brüder zu kümmern. Mum hatte ihnen klar und deutlich gesagt, dass ich weder Hausaufgaben machen noch nachsitzen würde. Die Lehrer hatten auch, ohne sich mit ihr und Richard anzulegen, schon genug Probleme. Also beschränkten sie sich darauf, mich so gut es ging zu unterstützen. Als ich ein paar Prüfungen für den Hauptschulabschluss bestand, machten sie ein Riesentrara deswegen und sagten, wie stolz sie doch auf mich seien. Mich überraschte das eher, weil ich ganz genau wusste, dass ich wesentlich besser abgeschnitten hätte, wenn ich nur hätte lernen dürfen. Aber ich war dankbar, dass sie so nett zu mir waren. Etwas zu lernen hieß in unserer Familie, ein Snob zu sein. Wenn man beim Lesen ertappt wurde, bedeutete das, dass man hochnäsig war und sich für was Besseres hielt als die eigenen Eltern. Also hüteten sich meine Geschwister und ich davor. Als die Schule meinte, einer meiner Brüder sei außergewöhnlich begabt, und ihm ein Stipendium für eine nahe gelegene
Privatschule besorgen wollte, sagte Richard einfach nur Nein. Er behauptete, er wolle nicht, dass sein Sohn auf eine Schule für »Schwule« gehe. Dabei befürchtete er sicherlich nur, die Kontrolle über den Jungen zu verlieren und seinem neuen Umfeld nicht gewachsen zu sein. Ich weiß nicht, ob die Lehrer je versucht haben, sich wegen meiner Familienprobleme bei den Behörden für mich stark zu machen. Und da meine Akten verschwunden sind, werde ich das wohl auch nie mehr erfahren. Aber ich weiß genau, dass sie nichts hätten unternehmen können, ohne auf dem Schulweg oder im Klassenzimmer eingeschüchtert oder angegriffen zu werden. Mit jedem Kind, das unseren Nachnamen trug und ihre Schule be-suchte, muss es ihnen schwerer ums Herz geworden sein, weil das bedeutete, dass man sie auf Elternabenden verfluchen und beschimpfen würde. Irgendwann gelang es ihnen, Richard wegen seines aggressiven Verhaltens das Betreten des Schulgeländes zu verbieten, auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, wie sie das durchsetzen wollten. Wenn ich nur gewusst hätte, dass die nette Dame an der Essensausgabe, die sich immer nach mir erkundigte, im Auftrag meines Vaters handelte, hätte ich ihm vielleicht irgendeine Nachricht zukommen lassen und ihm von meinen Problemen berichten können. Dann hätte ich ihn bitten können, mich da rauszuholen. Aber damals hielt ich sie einfach nur für eine besonders nette Frau und glaubte, mein leiblicher Vater habe mich vergessen. Die Dame an der Essensausgabe bekam ein lautes, fröhliches Mädchen zu sehen, das trotz seiner zierlichen Figur ziemlich großen Appetit hatte. Sie hatte keine Veranlassung, Dad etwas anderes auszurichten, als dass es mir gut gehe und er sich keine Sorgen zu machen brauche.
Richard muss es gefallen haben, mich in der Schuluniform zu sehen. Aus demselben Grund zwang er mich sicherlich auch, die Pumps mit den hohen Absätzen zu tragen. Je älter ich wurde, desto deutlicher wurden seine Vorlieben. Als ich ein Teenager war, und Mum war nicht zu Hause, ließ er mich mein kurzes Faltenröckchen, die langen Strümpfe und das Oberteil anziehen. Ich musste mir die Haare hochstecken und mich dezent schminken. Danach legte er sich aufs Bett und masturbierte, während ich herumging, mich bückte und Schubladen aufzog, damit er mein Höschen sehen konnte. Anschließend musste ich zu ihm aufs Bett klettern und ihn mit der Hand befriedigen.
7. Kapitel Schule und Bildung waren für Mum und den Widerling nur ein lästiger Zwang, dem sich ihre Kinder so bald wie möglich entziehen sollten. Ich war noch nicht mal in einem Alter, in dem man die Schule legal verlassen darf, da sagten sie mir, ich solle abgehen und Geld verdienen, um etwas zu meinem Lebensunterhalt beizutragen. Alles fing mit ersten Berufspraktika an, die von der Schule organisiert wurden. Als mich die Lehrer fragten, was ich gern machen wolle, sagte ich, dass ich gern mit kleinen Kindern arbeiten würde. Auch wenn es mir manchmal zu viel wurde, habe ich mich immer gern um meine Brüder gekümmert, ganz besonders jedoch um Les, der im Grunde viel mehr mein Baby gewesen ist als das meiner Mutter. Wenn ich zu Hause war, wich er mir nicht von der Seite. Selbst wenn ich mich mit einer Freundin treffen wollte oder in mein Zimmer ging, musste ich ihn stets mitnehmen. Er
konnte nichts dafür – Mum und Richard hatten einfach keine Lust, sich selbst um ihn zu kümmern –, aber meine Freundinnen waren genervt, weil er immer mit dabei war. Trotzdem wurde aus Les ein völlig verzogenes Kind, denn obwohl sich Mum und Richard nicht um ihn kümmerten, ließen sie ihm alles durchgehen. Wenn er etwas von mir wollte, musste ich es ihm geben, denn sonst heulte er sofort los, woraufhin sie für ihn Partei ergriffen und mir das Betreffende für immer wegnahmen. Er durfte Mum sogar »fette Schlampe« nennen. Der Widerling lachte bloß darüber und ermutigte Les sogar. Als Les noch ein Baby und ich elf Jahre alt war, musste ich nachts aufstehen, wenn ich ihn weinen hörte, und ihn zu mir ins Bett holen. Ich hatte solche Angst, etwas falsch zu machen, dass ich in den Nächten, in denen er durchschlief, völlig verwirrt aufwachte. Ich dachte, er sei mir abhanden gekommen, weil er nicht bei mir im Bett lag. Dann krabbelte ich auf allen vieren im Dunkeln auf dem Boden herum, um ihn zu suchen, bis ich richtig wach wurde und mir wieder einfiel, dass er gar nicht da war. Eines Nachmittags, als Mum und ich meinen Großvater besuchten, wollte ich gerade erzählen, wie ich mitten in der Nacht auf allen vieren auf dem Boden herumgekrochen war, um nach Les zu suchen. »Halt den Mund!«, zischte mich Mum an, und ich merkte, dass ich mich verplappert hatte. »Aber warum denn?«, fragte Opa verwundert. »Ach, du kennst sie ja«, wiegelte Mum ab, »sie ist eben einfach bescheuert.« Da begriff ich, dass ihr Vater nicht wissen durfte, dass ich auf ihr Baby aufpassen musste. Ich hütete mich davor, noch einmal etwas Derartiges zu sagen. Als Les älter wurde, war er derart verzogen, dass man
kaum noch mit ihm fertig wurde. Da wurden Tom und Dan, die mittleren Brüder, zu meinen Lieblingsgeschwistern. Dem Widerling gefiel die Vorstellung nicht, ich könnte mit Kindern arbeiten, da er davon nicht profitieren würde. Er wollte, dass ich in irgendeinem Geschäft arbeitete. Würde ich in einem Supermarkt Regale einräumen, so argumentierte er, bekäme ich Rabatt auf Lebensmittel, die die Familie brauchte. Am Ende besorgten mir Mum und er einen Job in einem Schuhgeschäft und zwangen mich, meinen gesamten Verdienst für Kost und Logis abzugeben. Sie ließen mir gerade so viel Geld, dass ich das Busticket zur Arbeit sowie ein Sandwich zum Mittagessen kaufen konnte. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, dem größere Rowdys das Taschengeld abknöpften. Obwohl ich gern weiter zur Schule gegangen und einen besseren Abschluss gemacht hätte, gefiel mir der Job, und ich hatte auch nichts dagegen, ganztags zu arbeiten. Wie zu Schulzeiten bedeutete das, dass ich nicht zu Hause sein musste und ein paar Stunden vor Richard in Sicherheit war – auch wenn er stets auf mich wartete, wenn ich nach Hause kam. Ich wunderte mich, wie gut ich mit allen in dem Laden auskam. Niemand drangsalierte mich, im Gegenteil. Obwohl die Inhaberin manchmal recht streng zu den anderen Mädchen war, schien sie mich zu mögen. Sie nahm mich jedes Mal mit, wenn sie eine Zigarettenpause machte, während die anderen die Stellung halten mussten. »Jane und ich machen kurz eine Zigarettenpause«, verkündete sie dann, woraufhin wir majestätisch den Laden verließen. Doch keine der anderen schien mir das übel zu nehmen. Der Mann der Inhaberin schien mich auch zu mögen. Er bat mich, mit ihm einkaufen zu gehen, wenn er etwas für seine Frau brauchte und Wert auf weiblichen Rat legte.
Einmal war sogar die Rede davon, dass ich eine eigene Filiale bekommen sollte, mit einem dazugehörigen Apartment im ersten Stock, doch leider wurde daraus nichts. Dass mich bis auf meine Familie alle gut leiden konnten, half mir sicherlich auch, diese Zeit durchzustehen. Obwohl Richard mich so einschüchterte, dass ich alles für ihn tat, fühlte ich mich nicht wie der Wurm, als den er mich behandelte. Wenn ich irgendeinen Weg fände, seinen Klauen zu entrinnen, warteten da draußen sehr nette Menschen auf mich, mit denen man Spaß haben konnte, das wusste ich. Ich wusste bloß nicht, wie ich ihm entkommen sollte, um dorthin zu gelangen. Unabhängig davon, was er in körperlicher Hinsicht alles mit mir anstellte, muss sich Richard auch ständig in Fantasien über mich ergangen haben. Als ich ungefähr sechzehn Jahre alt war und eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, war es noch hell. Mum hatte die Jungs gerade mal wieder zum Boxunterricht gebracht, als Richard hereinkam und mir befahl, sofort zu baden, damit die anderen nachher wieder warmes Wasser hätten. Ich ging schweren Herzens nach oben, weil ich annahm, das sei bloß wieder ein Vorwand, um mir nachzukommen und mich zu missbrauchen. Ich konnte nichts dagegen tun, da er das Schloss abmontiert hatte und behauptete, er dulde keine verschlossenen Türen im Haus. Was angesichts seines Gartenhäuschens und all der abschließbaren Außentüren absolut lächerlich war. Wahrscheinlich hätte ihn die Möglichkeit, sich einschließen zu können, um seine Macht gebracht, jederzeit und überall Zugang zu haben. Hätte man irgendeine Zimmertür verriegeln können, hätten wir ihm entkommen können. Auch wenn es nur ein paar Minuten gewesen wären, konnte
er das auf keinen Fall zulassen. Noch während ich mich auszog, hatte ich das ungute Gefühl, dass etwas ganz Scheußliches passieren würde. Ich stieg schnell in die Badewanne und versuchte mich unsichtbar zu machen, da ich mich beobachtet fühlte. Ich wusste nicht, ob da, wo einst das Schloss gewesen war, ein Loch in der Tür klaffte. Ich beeilte mich, kletterte aus der Wanne, riss die Tür auf und dachte schon, ich hätte mir das alles bloß eingebildet, als ich beinahe über Richard stolperte, der mit heruntergelassener Hose auf dem Boden kniete und seinen Penis in der Hand hielt. Ich konnte einen Schrei nicht unterdrücken, knallte die Tür wieder zu und hörte ihn draußen mit seinen Kleidern rascheln. Als ich mir sicher war, dass er wieder in seinem Zimmer verschwunden war, trocknete ich mich so schnell wie möglich ab und ging in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Der Vorfall wurde nie mehr erwähnt, was merkwürdig war, da es Richard normalerweise nie peinlich war, über seine Wünsche und Bedürfnisse zu reden, und er mir nur zu gern ausführlich schilderte, was er gleich alles mit mir anstellen würde. Normalerweise versuchte er alles, was er tat, als Spaß hinzustellen. Wenn ich in der Küche stand und abspülte, überraschte er mich manchmal von hinten, zog mir eine Plastiktüte über den Kopf oder wickelte mein Gesicht in Frischhaltefolie. Dann lachte er, und ich durfte mich weder wehren noch sagen, dass mir das weh tat oder mich erschreckte, weil ich sonst als zickig galt und noch mehr Ärger bekam. Die ersten Male wehrte ich mich instinktiv, um die Tüte loszuwerden, genau wie damals, als ich versucht hatte, mich von dem Kissen zu befreien, das er mir ins Gesicht drückte. Oder aber ich versuchte ein Loch in die Tüte zu reißen, damit ich etwas Luft bekam. Aber das machte ihn bloß wütend, sodass ich meine Taktik änderte,
genau wie damals mit dem Kissen. Ich stand einfach nur da und fuhr mit dem Abwasch fort, als wäre nichts geschehen, und unterdrückte meine aufwallende Panik. Ich hoffte, dass ihm das Spiel bald langweilig würde, aber auch das ärgerte ihn, weil ich dann in seinen Augen nicht richtig mitspielte. Keine Ahnung, wie ich hätte reagieren müssen, um ihn zufrieden zu stellen. Wahrscheinlich war das sowieso ein Ding der Unmöglichkeit. Inzwischen war seine Mutter weggezogen und lebte sieben Autostunden von uns entfernt. Gelegentlich kündete er aus heiterem Himmel an, dass er mich für ein paar Tage mit zu ihr nähme. Ich müsste ihm helfen, »wegen seines schlimmen Beins«. Ich fürchtete mich davor, mehrere Tage hintereinander mehr oder weniger mit ihm allein sein zu müssen. Ich wusste nur zu gut, dass meine Großeltern nicht den geringsten Verdacht hegten und außerdem gar nicht in der Lage gewesen wären, mich vor ihm zu schützen, selbst wenn sie es gewollt hätten. Oma war umgezogen, um neben ihrer Schwester in einem dieser Seniorenbungalows leben zu können. Das bedeutete, dass sie während unseres Besuchs die meiste Zeit bei ihr war und Tee trank. Opa bekam sowieso nichts mehr mit. Er befand sich in einem Zustand, in dem er seine Schuhe im Kühlschrank lagerte und seine Brote mit Teebeuteln belegte. Er war ein netter Kerl, der sein ganzes Leben als Möbeltischler gearbeitet, sich nie einen einzigen Urlaubstag gegönnt und tagaus, tagein in seiner Werkstatt geschuftet hatte. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal fluchen gehört, was ihn zu einer absoluten Ausnahme in unserer Familie machte. An dem Tag, an dem er in Rente ging, wurde er etwas komisch im Kopf. Wahrscheinlich hatte ihm sein Beruf die ideale Möglichkeit geboten, seiner Ehe zu entfliehen.
Ihr Bungalow befand sich in einer kleinen Ortschaft, die aus zehn Häusern und einem Laden bestand. Ich weiß noch, dass die Nachbarn von gegenüber eine riesige Robbe in ihrem Gartenteich hielten. Sie hatten sie gerettet, nachdem sie als Baby bei einem Sturm an Land gespült worden war, und sich seitdem rührend um sie gekümmert. In einem Jahr schneite es, als mein Stiefvater und ich da waren, und ich saß eine Woche mit ihm im Haus fest. Die ganze Zeit über verhielt er sich, als wären wir ein Liebespaar. Obwohl mich Oma als Kind nie gut behandelt hatte, wurde sie netter, als ich so um die sechzehn war. Sie hatte gerade erst von ihrer Krebserkrankung erfahren und bat mich, zu ihrem Stuhl hinüberzukommen. Dann sagte sie mir, wie Leid ihr das alles täte und dass sie mich wirklich lieben würde. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen, insbesondere als sie kurz darauf starb. Richard hatte noch eine Schwester, die mindestens genauso aggressiv war. Ich weiß noch, wie mir Mum einmal von einem Besuch mit ihr in einen Pub erzählte. Dort soll meine Tante einen ihrer Füße auf den Tresen gestellt und einen Wildfremden gefragt haben, ob ihm ihre geilen Stiefel gefielen. Sie war eine der Wenigen, die sich gegen Richard wehrten, und konnte genauso gut austeilen wie er. Einmal ist sie mit ihren Stilettos auf ihn losgegangen. Am Abend vor einem unserer Besuche bei Oma saßen Richard und ich zusammen in der Küche. Mum war mit Les bei der Nachbarin, um von dort aus zu telefonieren, während die anderen Jungs im Wohnzimmer saßen und fernsahen. Richard fing an, mir ausführlich zu schildern, was er und ich auf der Fahrt und während unseres Aufenthalts alles miteinander anstellen würden. So als ob mich das genauso erregen und begeistern würde wie ihn. Ich wurde immer
wütender, gleichzeitig ging mir die Erkennungsmelodie der TV-Serie Grange Hill im Kopf herum, und zwar die Zeile, wo es heißt: »Sag einfach Nein!« Dieser Text beschäftigte mich schon seit Jahren, weshalb ich auf Richards Frage, ob ich das alles mit ihm machen wolle, einfach nur »Nein!« sagte. Gleich drauf wurde mir klar, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Er drückte seine Stirn gegen meine und durchbohrte mich mit seinem eiskalten Blick, während ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. »Wie bitte?« Ich weiß auch nicht warum, aber ich sagte nochmal: »Nein« Als ob aus einem Fünkchen Hoffnung eine Riesenflamme geworden wäre. Seine Faust schoss wie aus dem Nichts mitten in mein Gesicht, sodass mein Kopf gegen die geflieste Wand hinter mir knallte. Ich begann zu heulen und versuchte mich zu entschuldigen, aber dafür war es jetzt zu spät. Er sah nur noch rot und prügelte unablässig auf mich ein. Dann packte er mich an den Haaren, zerrte mich von der Wand weg und versetzte mir einen derartigen Fußtritt, dass ich quer durch den Flur ins Wohnzimmer flog, wo meine Brüder auf dem Sofa saßen. Als ich zu Boden fiel, stürzte er sich auf mich, trat schreiend auf mich ein und nannte mich eine »undankbare Fotze«. Meine Brüder schrien, er solle aufhören, weil sie Angst hatten, er würde mich umbringen. Aber keiner wagte sich zu rühren, weil er seine Wut sonst an ihnen ausgelassen hätte. Da hörten wir Mums Schlüssel in der Tür. »Steh auf und reiß dich zusammen«, befahl mir Richard. Ich stand auf und versuchte, mich wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, während er die Jungs anschrie, sie sollten den Mund halten. Ganze
Haarbüschel von mir lagen auf dem ansonsten makellosen roten Teppich, und mein Gesicht war von den vielen Schlägen grün und blau. Als Mum hereinkam, riss ich mich zusammen. Die Jungs zitterten und waren ganz bleich und stumm. Mum muss die Schreie von nebenan und im Hausflur gehört haben, aber sie hatte genauso viel Angst wie die Jungs, Richards Zorn auf sich zu ziehen. »Was hast du?«, fragte sie leicht gereizt, als ob ich mich völlig grundlos so aufführte. »Ich hab da was im Auge«, entgegnete ich, eine Ausrede, die ich öfter gebrauchte, wenn mir die Tränen in den Augen standen. Wie immer akzeptierte Mum, was ich sagte, und hakte nicht weiter nach. Wenn man bedenkt, wie sehr Richard es liebte, nach Belieben über mich verfügen zu können, war er merkwürdig scharf darauf, dass ich mir endlich einen Freund zulegte und »richtigen« Sex hatte. Ich war noch nicht mal mit der Schule fertig, da zwang er mich auch schon, die Pille zu nehmen. Meine ungewöhnlich lange und schmerzhafte Periode lieferte ihm einen idealen Vorwand dafür. Er wollte auch, dass ich mit einer Freundin und ein paar Jungs ein paar Tage im Wohnwagen meines Onkels übernachtete. Doch dann bekamen die Jungs keinen Urlaub. Meine Freundin und ich fuhren trotzdem los und lernten ein paar andere Jungs kennen. Es war ein fantastischer Urlaub, bis einer der Jungs mit einem Riesenkiesel herumspielte, den meine Cousins vom Strand mitgebracht und bunt angemalt hatten. Er warf ihn von einer Hand in die andere, während er vor dem Fenster des Wohnwagens stand, und fing ihn immer erst im letzten Augenblick wieder auf. Ich bat ihn, das zu lassen, woraufhin er den richtigen Moment verpasste und der Kiesel durch das Fenster flog. Ich flippte völlig aus,
weil ich wusste, welchen Ärger ich deswegen bekommen würde, und zwang den armen Jungen, das Fenster zum kostspieligen Feiertagstarif ersetzen zu lassen. Es waren tolle Ferien, trotzdem fragte ich mich, warum man mir so etwas »Erwachsenes« erlaubt hatte. Ich schöpfte wieder einen Funken Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde. Als ich wieder zu Hause war, schickte mir einer der Jungs, die wir dort kennen gelernt hatten, einen Liebesbrief. Wie immer fing Richard meine Post ab und las den Brief der ganzen Familie laut vor, während ich dasaß und mir die Augen aus dem Kopf heulte. Das war unglaublich erniedrigend, und ich merkte, dass ich noch lange nicht frei war. In unserer Straße wohnte ein Junge namens Nick, der ein Jahr älter war als ich. Er war schon von der Schule gegangen, um Gerüstbauer zu werden. Ich fand ihn fantastisch. Alle Mädchen standen auf ihn. Hayley und ich versteckten uns immer hinter der Gardine und sahen ihm nach, wenn er an unserem Block vorbeiging. Wir kicherten und seufzten und malten uns aus, wie es wäre, wenn er uns bitten würde, mit ihm auszugehen. Nie im Leben hätte ich ihm meine Gefühle gezeigt – zum einen, weil mir das viel zu peinlich war, zum anderen, weil ich nicht wollte, dass mein Stiefvater etwas davon mitbekam. Dann hätte er es bestimmt gegen mich verwendet und mir das Leben noch schwerer gemacht als ohnehin schon. Eines Nachmittags kam ich wie üblich aus der Schule und sah schon von weitem, dass das Wohnzimmer für eine weitere Renovierungsaktion leer geräumt worden war. Das erkannte ich daran, dass die Wohnzimmerfenster mit Farbe verschmiert waren, damit man trotz der abgenommenen Vorhänge
nicht hineinschauen konnte. Als ich hereinkam, begrüßte mich Richard außergewöhnlich gut gelaunt. Das Renovieren schien ihn immer richtig glücklich zu machen. Die Fenster standen offen, damit die Farbdämpfe entweichen konnten. Vom Wohnzimmer aus sah ich, wie Nick die Straße entlang und schnurstracks auf unser Haus zu lief. Richard sah ihn auch, und irgendetwas an meinem Gesichtsausdruck muss mich verraten haben, denn er begann sofort laut zu singen: »Love is in the air! Janey ist in Nick verliebt.« Ich merkte, dass Nick das auch gehört hatte, und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Dann rief ihm Richard noch wie ein blöder Schuljunge hinterher: »Janey liebt Nick!« Dieselbe Botschaft schrieb er in das mit Farbe beschmierte Fenster, sodass es alle und natürlich auch Nick lesen konnten. Ich musste gute Miene zum bösen Spiel machen, denn sonst wäre ich wieder eine elende Spielverderberin gewesen. Aber in Wahrheit starb ich tausend Tode. Doch damit nicht genug. Jeden Tag, wenn Nick an unserem Haus vorbeikam, rief ihm Richard die Botschaft wieder hinterher, bis dieser schließlich mit einem Grinsen reagierte, sodass ihn Richard auf eine Tasse Tee einladen konnte. Bald kam Nick regelmäßig, und wir gingen miteinander. Obwohl ich anfangs furchtbar wütend auf Richard war, muss ich zugeben, dass er mir damit einen großen Gefallen getan hat. Ich war schon seit einer Ewigkeit in Nick verliebt, hätte jedoch nie den Mut aufgebracht, ihm das zu sagen. Ich begann zu hoffen, dass der Missbrauch endlich vorbei wäre. Wenn mich Richard mit einem anderen verkuppelte, würde er mich vielleicht endlich in Ruhe lassen. Jetzt, wo ich kein Kind mehr war, verlor er möglicherweise das Interesse an mir und würde
mich aus seiner Tyrannei entlassen. Keine Ahnung, woher ich diesen Optimismus nahm. Ich hatte schon so oft gehofft, dass sich Richard ändern würde. Nachdem ich in die Pubertät kam, hoffte ich mit jedem Geburtstag aufs Neue, dass er das Interesse an mir verlieren würde. Leider vergebens. Wenn ich ihn manchmal fragte, ob wir nicht damit aufhören könnten, sagte er: »Ja, das können wir, wenn du mir noch einen letzten Gefallen tust.« Ich tat alles, was er von mir verlangte, aber das nützte mir nichts, da er am nächsten Tag wieder einen neuen Grund fand, warum ich ihm angeblich noch einen Gefallen schuldete. Manchmal versuchte ich meine Periode vorzuschieben, auch wenn ich gar keine hatte. Aber er schaffte es, auch das gegen mich zu verwenden. »Du dreckige kleine Schlampe«, brüllte er, als er eines Morgens aus dem Bad kam. »Du hast deine widerlichen Tampons in der Toilette vergessen, und ich musste sie wegspülen.« Ich wusste ganz genau, dass das frei erfunden war, weil ich gar keine Periode hatte, obwohl ich ihm gegenüber das Gegenteil behauptet hatte. Und ich wusste auch, dass es nicht meine Mutter gewesen sein konnte. Aber ich konnte mich nicht wehren, weil ich mich sonst verraten hätte. Ich glaube, es gab ihm einfach einen Kick, wenn er mich auch noch verbal erniedrigen konnte. Aber jetzt, wo ich wirklich einen Freund hatte, würde sicher alles anders. Er würde mich doch nicht etwa mit einem anderen teilen wollen, oder? Als ich merkte, dass Richard nichts dagegen hatte, verbrachte ich so viel Zeit wie möglich bei Nick. Seine Familie war unglaublich nett. Vor allem seine Mum schien über die Wahl ihres Sohnes hoch erfreut zu sein. Sie schenkte mir Goldschmuck und hängte sogar ein Foto von Nick und mir bei sich zu Hause auf.
»Ich hab mir schon immer gewünscht, dass du mit meinem Nick gehst«, sagte sie oft und gab mir das Gefühl, wirklich gemocht und geliebt zu werden. Eines Tages nahm mich Nick in einem dieser Reisebusse mit nach London. Ich verliebte mich unsterblich und glaubte endlich einen Ausweg aus meinem schrecklichen Leben gefunden zu haben. Obwohl uns der Widerling ermutigte, die ganze Zeit über zusammen zu sein, warnte er Nick gleichzeitig »halb im Scherz«, nichts zu tun, was er anschließend bereuen würde. »Wenn du nur mit ihr spielst«, drohte er ihm wiederholt, »dann hack ich dir deinen verdammten Schwanz ab!« Wie immer wusste man nie, ob er nur Spaß machte oder es ihm bitterernst war. Das Ganze war äußerst verwirrend, trotzdem war ich überglücklich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wirklich geliebt und als Teil einer Familie. Ich wusste, dass mir Nick nie wehtun würde, außerdem drängte er mich nicht dazu, Sex mit ihm zu haben. Das Dumme war nur, dass ich dem Widerling jetzt mehr Gefallen tun musste als je zuvor – sozusagen als Wiedergutmachung für die vielen Male, die er mich zu Nick gehen ließ. Damit erreichte er, dass ich mir schon schmutzig vorkam, bevor überhaupt irgendwas passiert war. Mum sagte er, er würde mich fürs Rasenmähen oder Autowaschen bezahlen, während er mich in Wahrheit zwang, ihm dafür einen Gefallen zu tun. Da begriff ich, dass er mich tatsächlich dafür bezahlte und mir im Gegenzug gewisse Freiheiten zugestand. Auf diese Weise hatte er mich zu einer Art Prostituierten und Sklavin gemacht, und ich hasste ihn dafür. Aber solange ich Nick hatte, bestand immer noch Hoffnung, dass ich irgendwann wirklich frei sein, von zu Hause ausziehen und mein Leben an der Seite eines Mannes verbringen würde, der mich liebte und gut behandelte. Ich war zum ersten
Mal verliebt, und das war ein wunderschönes Gefühl. Dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen. Es dauerte nicht lange, bis der Widerling die Spielregeln erneut änderte und eifersüchtig wurde, weil ich so viel Zeit bei Nick verbrachte. Er erfand Gründe, warum ich ihn nicht besuchen durfte und er auch nicht zu uns kommen konnte. »Dieser Junge verarscht dich doch nur«, sagte er mir eines Tages. »Du musst mit ihm Schluss machen. Geh und sag's ihm, und danach kommst du sofort nach Hause.« Ich hörte schon an seinem Tonfall, dass er es wirklich ernst meinte. Und wenn es schon so weit war, konnte man nichts mehr dagegen unternehmen. Ich musste die beste Beziehung beenden, die ich je gehabt hatte, und zwar ohne das irgendwie erklären zu können. Denn dann würde Nick mit Richard reden wollen, woraufhin dieser einen Tobsuchtsanfall bekommen und ihn verprügeln würde. Da Nick nicht mehr zur Schule ging und wir uns tagsüber nie zufällig begegneten, würde ich keine Chance haben, je länger mit ihm allein zu sein und ihm alles zu erklären. Ich war am Boden zerstört, wusste aber, dass ich nichts dagegen unternehmen konnte. Richard hatte mir nur eine kurze Kostprobe von einem Leben in Freiheit gegeben, um es mir gleich darauf wieder wegzunehmen und mir zu zeigen, dass er die Macht dazu besaß. »Los, jetzt geh schon und sag's ihm«, zischte er mich an. Ich wusste, dass mich Nick genauso liebte wie ich ihn. Nicht nur seine Mutter, sondern auch er hatte mir ein paar Goldkettchen geschenkt. Zu einem davon gehörte ein Medaillon, das ein Foto von uns beiden enthielt. Für mich war es das Kostbarste überhaupt. Doch Richard zwang mich, alles zurückzugeben.
»Lass ihn so richtig leiden«, befahl er mir, als ich das Haus verließ. »Lass ihn dafür büßen, dass er dich so behandelt hat.« Das konnte ich nicht, aber ich konnte es ihm auch nicht leicht machen. Das Ganze musste möglichst schnell über die Bühne gehen, damit mir Richard nicht nachkam, um zu sehen, wo ich so lange blieb. Ich schleppte mich zu Nick und spürte, wie eine ganze Welt für mich zusammenbrach. Ich wusste, dass ich ihm nicht erklären konnte, warum ich eine Beziehung, die so gut funktionierte, einfach so beendete. Nick merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, ahnte jedoch nicht, dass ich ihn verlassen würde. Ich hätte am liebsten laut geschrien und geweint und ihm erzählt, wie sehr ich ihn liebte, aber stattdessen musste ich ihm sagen, dass es zwischen uns aus sei. Außerdem musste ich meine Tränen zurückhalten, denn sonst wären meine Augen bei meiner Rückkehr ganz verquollen gewesen, und ich wäre dafür bestraft worden, eine Heulsuse zu sein. Nick muss mich für ein totales Arschloch gehalten haben, weil ich einfach so mit ihm Schluss machen konnte. Aber wenn ich ihm erzählt hätte, dass mich Richard dazu gezwungen hatte, hätte er ihn zur Rede stellen wollen, was unweigerlich zu Gewalt geführt hätte. Nick hätte keine Chance gehabt, Richard umzustimmen. Er war schließlich nur ein Teenager. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass es aus sei, und die Geschenke zurückgegeben hatte, wusste ich, dass ich gerade meine einzige Chance auf Liebe und Glück zerstört hatte. Ich konnte nicht einmal weinen, als ich nach Hause kam, denn dann hätte mich Richard sofort verprügelt. Ich musste mich zu ihm setzen, obwohl ich mich hundeelend fühlte, und ihm noch dazu beipflichten, dass es so am besten sei. Jede Hoffnung, ihm zu entkommen, war dahin, und ich
musste wieder ganz von vorn anfangen. Als ich sechzehn wurde und ganztags im Schuhgeschäft arbeitete, hoffte ich, etwas mehr Freiheiten zu bekommen. Manchmal durfte ich abends mit Freunden ausgehen, aber im Vergleich zu meinen Altersgenossen lebte ich immer noch wie eine Gefangene. Eines Abends durfte ich auf eine zwölfstündige MTVParty gehen, die im örtlichen Jugendclub für einen guten Zweck veranstaltet wurde. Dort lernte ich einen Jungen namens Joe kennen, der ziemlich cool wirkte, wahrscheinlich wegen der vielen Joints, die er rauchte. Er war ein bisschen unberechenbar und nicht gerade der ideale Freund, aber ich mochte ihn, weil er nicht so laut und angeberisch war. Außerdem schien er nicht so viel Interesse an Sex zu haben wie die anderen Jungs, die damals mit mir gehen wollten. Das war die Sorte Jungs, die es lustig findet, Mädchen hinterherzubrüllen: »Los, zeig uns deine Titten!« Solche Sprüche hörte ich zu Hause schon genug. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war mir der Gedanke an Sex unerträglich. Es tat einfach gut, mit jemand zusammen zu sein, der mich in dieser Hinsicht genauso wenig unter Druck setzte wie Nick. Es dauerte drei Monate, bis Joe und ich miteinander schliefen. Als es dann so weit war, war es eine schöne Erfahrung für mich — falls man das erste Mal für ein Mädchen überhaupt als schön bezeichnen kann. Zu diesem Zeitpunkt war ich bis über beide Ohren in ihn und seine sanftmütige Art verliebt. Andererseits hätte ich mich damals wahrscheinlich an jeden geklammert, der nett zu mir war. Obwohl Joe als Freund denkbar ungeeignet war, wurde Richard wieder liberaler. Er ließ mich fast jeden Abend ausgehen und erlaubte mir sogar, Joe zu besuchen, wann immer ich wollte. Ich schöpfte neue
Hoffnung, wusste aber ganz genau, dass es jederzeit vorbei sein konnte. Einmal lud Richard Joe dazu ein, mit uns meine Oma in der Seniorenanlage zu besuchen. Ich war froh, dass Joe mitkam, weil ich glaubte, dass mich Richard dann in Ruhe lassen würde. Gleichzeitig war ich furchtbar nervös wegen der Erniedrigungen, die er sich sicherlich schon für uns ausgedacht hatte. Er versprach Joe und mir ein eigenes Zimmer, aber als wir da waren, stellte ich fest, dass wir alle im Wohnzimmer übernachten würden: Richard auf dem Sofa und Joe und ich auf dem Boden. Ich achtete darauf, dass Joe neben dem Sofa lag. »Neben dem schlaf ich nicht«, witzelte Richard. »Los, tauschen!« Da ich Joe schlecht sagen konnte, warum ich nicht tauschen wollte, blieb mir nichts anderes übrig als zu gehorchen. Joe war kaum eingeschlafen, als Richards Hand auch schon unter meine Decke wanderte und mich befummelte. Ich wäre beinahe gestorben vor Scham. Trotz seiner gespielten Freundlichkeit hatte Richard großen Spaß daran, Joe zu erniedrigen, und zwar auf eine Art, wie es kindischer kaum ging. Er tat ihm zum Beispiel Abführmittel in sein Getränk oder schickte ihn zum Einkaufen. Dann zwang er mich, in den Ford Cortina zu steigen und mit ihm davonzufahren, bevor Joe wieder zurück war, sodass der Ärmste stundenlang allein bleiben musste, während mich Richard zwang, ihn irgendwo im Auto zu befriedigen. Als wir dann endlich zurückkamen, musste ich lügen, wo wir gewesen waren. Joe ertrug das alles mit viel Sinn für Humor und bewies unglaublich viel Geduld. Wahrscheinlich ging es ihm zu Hause auch nicht gerade rosig, und weil er noch so jung war, konnte er es sich nicht leisten, einen großen Aufstand deswegen zu machen. Er war einfach ein netter Kerl und wollte
mit Richard wohl keinen Streit anfangen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Joe hatte erwähnt, dass er sich gern eine Tätowierung machen lassen wolle. »Höchste Zeit, dass du deine Tätowierung bekommst«, sagte der Widerling eines Tages und nahm uns für einen Tagesausflug mit an die Küste. Als wir im Tattoo-Studio waren, zwang er mich, dafür zu zahlen, dass er ein paar Schwalben auf die Hände tätowiert bekam. Mums Namen trug er bereits im Nacken. So etwas war in unserer Familie völlig normal. Mum hatte ebenfalls einige Tätowierungen auf den Armen. Joe entschied sich für einen Adler auf seinem Rücken. Richard fragte mich ständig, ob Joe und ich Sex hätten. Aus seinem Mund klang das wie eine harmlose Neckerei, aber da ich irgendeine Falle vermutete, gab ich nichts zu. Außerdem wollte ich sowieso nicht mit ihm über solche intimen Dinge reden. Ich wollte nicht, dass er auf die Idee kam, ich würde so was auch genießen. Doch irgendwann drückte er mich auf den Küchenboden, würgte mich und schlug mir ins Gesicht, während er meiner Mum weismachte, das Ganze sei doch nur ein Spaß. Da hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ein Teil von mir griff noch nach jedem Strohhalm und hoffte, dass er mich nicht mehr missbrauchen würde, sobald er wüsste, dass ich mit jemand anderem schlief. Ein anderer Teil von mir hatte einfach keine Kraft mehr, ihn anzulügen. »Ja, okay«, gab ich zu. »Wir haben Sex gehabt.« Er ließ sich nicht anmerken, welche Wirkung dieses Geständnis auf ihn hatte. Würde er mich verprügeln, weil ich eine solche Schlampe war? Würde er eifersüchtig werden oder bloß Witze darüber reißen? Würde das bedeuten, dass er mich endlich in Ruhe ließ? Würde er das zum Vorwand nehmen, um Joe zu verprügeln? Ich machte mich schon auf das
Schlimmste gefasst, aber nichts passierte. Mein Geständnis verursachte keinerlei Tobsuchtsanfall, führte aber dazu, dass er sein Verhalten mir gegenüber dramatisch änderte. Während der ganzen Zeit, die mich mein Stiefvater missbrauchte, hatte er stets darauf geachtet, mich nicht zu penetrieren. Ich hatte das nie hinterfragt oder mir über den Grund dafür Gedanken gemacht. Es war eben einfach so, und ich war ihm dafür dankbar. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass es so viel schwerer gewesen wäre, ihm irgendetwas nachzuweisen. Wenn er mich entjungfert hätte, hätte die Sache schon anders ausgesehen. Wahrscheinlich dachte ich, dass ihm die anderen Spielchen einen besonderen Kick verschafften und er froh war, sich das Penetrieren für Mum aufzuheben. Einmal habe ich die beiden aus Versehen im Schlafzimmer überrascht. Sie kehrte ihm den Rücken zu und sah aus, als schliefe sie. Vielleicht tat sie auch nur so, während er sie durchbumste. Mir war ganz übel davon geworden. Als ich noch klein war, gingen sie jeden Sonntagnachmittag nach oben und befahlen mir, auf meine Brüder aufzupassen, bis sie wieder herunterkämen. Manchmal blieben sie Stunden dort oben, aber da es unmöglich war, die Jungs so lange ruhig zu halten, kam Richard irgendwann die Treppe wieder heruntergestürmt, um mich zu bestrafen, weil ich meine Aufgabe nicht anständig erfüllte. Jetzt, wo er wusste, dass Joe und ich richtigen Sex hatten, verkündete er, dass wir das bei nächster Gelegenheit ebenfalls tun würden. »Jetzt, wo du's sowieso schon getan hast«, sagte er, »wird es mit mir auch nicht anders sein als mit ihm.« Ich nickte bloß, während ich vor Angst wie gelähmt war. Ich konnte es kaum fassen, dass alles noch viel schlimmer werden sollte – ausgerechnet jetzt,
wo ich wieder neue Hoffnung geschöpft hatte. Trotz allem, was er mir über die Jahre hinweg angetan hatte, war das noch etwas wesentlich Intimeres und Abstoßenderes – schlimmer, als ihm einen Zungenkuss geben zu müssen. Nach seinen Berührungen war es mir immer gelungen, seinen Geruch abzuwaschen, aber das würde ich nicht wegwaschen können. Von nun an pflegte er mich in regelmäßigen Abständen zu vergewaltigen. Und ich konnte nicht das Geringste dagegen unternehmen, außer ich war bereit, mich zu einem blutigen Klumpen Fleisch zusammenschlagen zu lassen und mit anzusehen, wie Mum genau dasselbe widerfuhr. Nachdem ich meine Jungfräulichkeit verloren hatte, befahl mir Richard außerdem, Joe zu verlassen, genau wie damals bei Nick. Beim Gedanken daran, meinen süßen Joe verlassen zu müssen, brach mir wieder das Herz. Er holte mich immer von der Arbeit ab, und so würde ich es ihm auf der Busfahrt nach Hause sagen müssen, wo uns jeder zuhören konnte. Der Bus war immer knallvoll, aber ich konnte es einfach nicht riskieren, ihn zu verpassen und zu spät nach Hause zu kommen. Ich sagte ihm, dass ich Schluss machen müsse, und wir saßen Händchen haltend da und weinten die ganze Fahrt über, die immerhin eine Dreiviertelstunde dauerte. Die Leute sahen uns an, als wären wir nicht ganz bei Trost. Als ich nach Hause kam und meinem Stiefvater sagte, dass ich Schluss gemacht hätte, schaffte ich es sogar, vor ihm nicht zu heulen. Aber ich weinte danach noch monatelang, sobald ich allein war. Richard, der es plötzlich kaum erwarten konnte, diese neue Phase unserer Beziehung auszukosten, erzählte Mum, er würde mit mir ein paar Autoersatzteile besorgen. Als wir zusammen das Haus verließen, fühlte sich mein Magen an, als hätte
ihn jemand mit Eiswürfeln gefüllt. In all den Jahren, in denen er mich gequält und missbraucht hatte, hatte ich mich stets damit getröstet, dass er zumindest das mit mir nicht machte. Doch genau das sollte jetzt stattfinden. »Wenn du's anständig machst«, sagte er, als wir ins Auto stiegen, »darfst du heute Abend ausgehen.« Er behauptete auch, das sei der letzte Gefallen, den ich ihm noch tun müsse, aber ich wusste ganz genau, dass er mich anlog, weil er mir das schon viel zu oft versprochen hatte. Er fand immer wieder einen neuen Grund, weshalb ich ihm noch einen letzten Gefallen tun musste. Als Kind habe ich ihm das vielleicht noch abgenommen, aber inzwischen durchschaute ich ihn. Wenn es ihm heute gelang – warum sollte er es dann morgen, übermorgen und an jedem darauf folgenden Tag nicht auch wollen? Doch da er so nett und ganz scharf darauf war, dass ich mitmachte, hatte ich ein ganz klein wenig das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, und zwar mehr als in der Vergangenheit. Deshalb hielt ich es für möglich, wenigstens ein kleines Zugeständnis zu erhalten. »Würdest du bitte ein Kondom benutzen?«, bat ich ihn. Den Gedanken, er könnte in mich eindringen und sein ganzes ekliges Sperma in mir zurücklassen, ertrug ich kaum. »Das brauchen wir nicht«, sagte er, »du nimmst doch die Pille.« »Ach, bitte!«, flehte ich ihn an. »Die Pille ist auch nicht zu hundert Prozent sicher.« »Okay«, stimmte er zu, und wir hielten an, um welche zu kaufen. Ich kam mir vor wie auf dem Weg zu meiner eigenen Hinrichtung.
Es war am helllichten Nachmittag. Wir fuhren die Landstraßen ab und hielten nach einem Ort Ausschau, den Richard für ungefährlich hielt. Schließlich fand er einen relativ abgelegenen Parkplatz. Dort standen bereits ein paar andere Autos, in einem davon saßen Leute. »Wir warten, bis sie weg sind«, sagte er und befahl mir, ihn zu küssen und anzufassen, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Jeder Passant hätte uns für ein ganz normales Pärchen gehalten – ein sechzehnjähriges Mädchen und ein dreißigjähriger Mann, das war schließlich nichts Ungewöhnliches. Ich hasste die Vorstellung, die Leute könnten tatsächlich glauben, dass ich freiwillig mit ihm zusammen wäre. Nach etwa zehn Minuten machte das andere Auto immer noch keine Anstalten wegzufahren. Inzwischen liefen auch Leute mit ihren Hunden vorbei und genossen die schöne Aussicht. Ich hoffte, noch einmal davongekommen zu sein, wenigstens für diesen Tag. Doch da Richard bereits erregt war, standen die Chancen schlecht, dass er wieder heimfahren würde, ohne bekommen zu haben, was er sich schon den ganzen Tag über ausgemalt hatte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er würde es tun, ob uns nun jemand dabei zusah oder nicht. »Klapp deine Lehne zurück«, befahl er mir. »Zieh deinen Rock hoch und das Höschen aus.« Er kletterte zu mir auf die Beifahrerseite, ließ seine Hosen herunter, streifte sich das Kondom über und hatte das erste Mal richtigen Sex mit mir. Nach all den Jahren des Missbrauchs und der Erniedrigungen war das etwas noch viel Schlimmeres. Ich konnte gar nicht aufhören zu weinen, auch nicht, als er mir befahl, den Mund zu halten. Von dem Geruch seines Atems
wurde mir ganz übel, und weil er mich währenddessen auch noch küsste, musste ich würgen. Ich weiß nicht, ob man so etwas wirklich als Vergewaltigung bezeichnen kann, da ich ja gewusst hatte, was mir bevorstand, und nicht versucht hatte, ihn daran zu hindern. Trotzdem empfand ich es wie eine Vergewaltigung. So als hätte er mich in den letzten zwölf Jahren nur auf diesen Moment vorbereiten wollen. Damals bekam Mum einen Job als Aushilfssekretärin in dem Box-Club, in den meine Brüder gingen. Das bedeutete, dass ich an drei Abenden die Woche allein mit Richard zu Hause war. Wenn ich um sieben Uhr abends nach Hause kam, hatte er das Licht bereits ausgemacht, sodass ich nicht sehen konnte, wo er steckte. Aber er war jedes Mal da, wartete im Dunkeln auf mich und befahl mich ins Wohnzimmer, um Sex mit mir zu haben. Ich versuchte ihn abzuschrecken, indem ich mich nicht anständig wusch, aber das war ihm völlig egal. Wenn ich nur eine Minute zu spät nach Hause kam, warf er mein Essen in den Müll, und ich musste hungrig zu Bett gehen. Trotzdem zwang er mich, alles mit ihm anzustellen, was er sich den lieben langen Tag zusammenfantasiert hatte. Je älter ich wurde, desto mehr wurde ich zu seiner Sexsklavin. Ich wusste nicht, wie ich ihm je entkommen sollte.
8. Kapitel Nach Joe kam Paul. Ich lernte ihn auf einer Party kennen, als ich gerade siebzehn wurde, und er brachte mich danach nach Hause. Aber ich ließ mich nicht von ihm küssen, obwohl ich ihn unbedingt wiedersehen wollte. Ihm muss es genauso
gegangen sein, da er sich von meiner anfänglichen Sprödigkeit nicht entmutigen ließ. Er war vier Jahre älter als ich, und wie Joe schlief er erst mit mir, nachdem wir etwa drei Monate zusammen waren. Richard, der die Aussicht auf ein weiteres Katz-undMaus-Spiel zweifellos genoss, förderte die Beziehung und erlaubte Paul sogar, mit mir auf mein Zimmer zu gehen, wenn er zu Besuch kam. Paul war ein netter Junge, einer von der Sorte, die Richard ganz besonders mochte, weil er ihn nach Herzenslust herumkommandieren konnte. Wie immer wusste man nie, woran man bei Richard war. An einem Tag hieß er Paul willkommen und behandelte ihn wie einen Freund, während er mir am nächsten befahl, ich solle ihn loswerden, und wütend wurde, wenn er es wagte, bei uns zu klingeln. Ich bekam Probleme, wenn Paul klingelte und Richard keine Lust hatte, ihn zu sehen. Umgekehrt bekam ich aber auch Probleme mit Paul, der nie wusste, ob ich ihn mit offenen Armen empfangen oder ohne Erklärung wieder wegschicken würde. Dass Richard uns relativ häufig zusammen übernachten ließ, schien ein Fortschritt zu sein. So langsam genoss ich ein paar der Privilegien, die man als Erwachsener eben so hat. Eines Morgens, als Paul und ich noch schliefen, kam der Widerling plötzlich ins Zimmer gestürzt. Er schien nach etwas zu suchen, während wir mühsam versuchten, wach zu werden und zu begreifen, was überhaupt los war. »Wo sind sie?«, fragte er. »Wo ist was?«, fragte ich verschlafen. »Wo sind deine verdammten Pillen?« »Welche Pillen?« »Du weißt schon, die Pille.« »Da drüben«, sagte ich und wies mit dem Kinn in Richtung Kommode. »Warum?«
»Weil ich sie jetzt gleich das verdammte Klo runterspülen werde«, sagte er, nahm sie aus der Schublade und ging damit ins Bad. »Es ist höchste Zeit, dass du mich zum Großvater machst.« Wir hörten, wie er ins Bad ging und die Toilettenspülung betätigte. Meine Gedanken rasten, während ich versuchte herauszufinden, was das nun wieder zu bedeuten hatte. Ob das bloß wieder so ein Trick war oder ein möglicher Ausweg für uns. Richard hatte immer gute Gründe für sein Verhalten. Wenn er wollte, dass wir ein Baby bekamen, dann bestimmt nicht, weil uns das glücklich machen würde, sondern aus rein egoistischen Motiven – auch wenn ich nicht begriff, was er davon haben sollte. Eine Weile tat ich so, als wollte ich kein Baby, da ich wusste, dass Richard seine Taktik stets änderte, sobald ich an irgendetwas Gefallen zeigte. Doch insgeheim war ich ganz begeistert von der Vorstellung, mit Paul ein Kind zu bekommen, dem die Idee ebenfalls zu gefallen schien. Ich liebte ihn wirklich und hatte schon davon geträumt, eines Tages eine Familie mit ihm zu gründen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto eher sah ich das Kind als Chance, ausziehen und mir eine eigene Wohnung nehmen zu können. Endlich, so glaubte ich, hatte mir Richard einen Weg gezeigt, wie ich ihm entkommen konnte. Wie immer schöpfte ich wieder neue Hoffnung. Wenn ich schwanger wäre, würde mich Richard vielleicht endlich in Ruhe lassen. Bestimmt würde er nicht mit einer Frau rummachen wollen, die von einem anderen schwanger war. Ich hoffte, das Ganze hätte dann vielleicht endlich ein Ende. Ich hoffte, dass er mich leid wäre und mir erlauben würde, mein eigenes Leben zu führen. Paul war genauso begeistert von der Aussicht, eine eigene Wohnung zu bekommen und sich Richards
Tyrannei zu entziehen wie ich. Obwohl er nicht wusste, was Richard alles heimlich mit mir anstellte, war ihm durchaus klar, was für ein unangenehmer und unberechenbarer Typ er war. Um mit mir zusammen sein zu können, bemühte er sich, ihn nicht zu verärgern. Während der nächsten drei Monate versuchten Paul und ich, ein Kind zu zeugen, während Richard strikt darauf achtete, ein Kondom zu verwenden. Jeden Monat wurde ich wieder enttäuscht, aber im dritten Monat ließ meine Periode endlich auf sich warten. Ich machte einen Test, der positiv war. Ich war überglücklich und ganz aufgeregt, ein Kind zu bekommen. Richard und Mum schienen sich genauso darüber zu freuen wie ich, was merkwürdig war, aber ich versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, solange sie anhielt. Wenn ich einmal Mutter wäre, würde vielleicht alles anders und sie würden mich endlich wie einen normalen Menschen behandeln. Nur weil ich geschafft hatte, was er angeblich von mir wollte, bedeutete das nicht, dass mich Richard von meinen Pflichten entband. »Jetzt, wo du schwanger bist, brauchen wir keine Kondome mehr zu verwenden«, teilte er mir mit, sobald wir das nächste Mal allein waren. Das Herz rutschte mir in die Hose. Wie hatte ich nur so naiv sein können zu glauben, dass sich irgendetwas ändern würde? Er hatte wieder einen Dreh gefunden, mir das Leben nur noch mehr zur Hölle zu machen. Verwirrt wie ich war, befürchtete ich, das Baby könne zur Hälfte von Richard und zur Hälfte von Paul sein, wenn ich weiterhin Sex mit ihm hätte. Ich wusste, dass das Quatsch war, aber genauso fühlte ich mich. Ich flehte ihn an, ein Kondom zu benutzen oder wenigstens einen coitus interruptus zu machen, aber er hörte nicht auf mich. Da wusste ich, dass
mir die schlimmste Erniedrigung erst noch bevorstand. In dem Moment, in dem ich eigentlich am glücklichsten hätte sein sollen, brachte er mich so nahe an den Rand des Selbstmords wie nie zuvor. Ich hatte schon immer mit dem Gedanken gespielt, mich umzubringen, sogar schon als Kind. Beinahe jeden Tag, wenn ich mit Hayley von der Schule nach Hause lief, blieb ich auf der Brücke stehen, die über einen Park führte, in dem hauptsächlich Junkies abhingen, und sagte, dass ich lieber hier runterspringen wolle als noch so eine schreckliche Nacht zu verbringen. Jetzt wurde die Vorstellung, alles vergessen zu können und nie mehr Schmerzen, Liebeskummer und Erniedrigungen hinnehmen zu müssen, noch attraktiver. Während der ganzen Schwangerschaft hoffte ich mit jedem Kilo, das ich zunahm, endlich so unattraktiv für Richard zu sein, dass er von mir abließ, doch leider vergeblich. Als mein Bauch so dick war, dass er sich nicht mehr auf mich drauflegen konnte, befahl er mir, mich in einen Sessel zu setzen und den Po vorzuschieben, damit er sich vor mich hinknien und alles tun konnte, wozu er Lust hatte. Richard zwang Paul, ganz zu uns zu ziehen, obwohl dieser ihn hasste wie alle anderen auch. Dann versuchte er ihm noch Geld abzuknöpfen, indem er ihm seinen Anteil an Lebensmitteln, Miete, Gas und Strom in Rechnung stellte. Obwohl Paul vorher noch bei seiner Mutter gewohnt hatte, hatte er dort jede Menge Freiheiten gehabt und war stets wie ein Erwachsener behandelt worden. Als ihm Mum und Richard sagten, er dürfe nur einmal am Tag duschen, traute er seinen Ohren kaum. »Ich dusche zweimal am Tag«, entgegnete er, »einmal morgens und einmal abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme.«
»Dann musst du eben dafür zahlen, dass wir den Boiler extra für dich anmachen«, informierte ihn Richard. Ich war Paul unglaublich dankbar, dass er mich so sehr liebte und alles mitmachte, nur um bei mir sein zu können. Er war wirklich ein lieber Kerl, und ich konnte gut verstehen, warum er Richard erlaubte, so mit ihm umzuspringen. Er wusste ganz genau, dass er ihm nur einmal zu widersprechen brauchte, damit mich Richard zur Trennung zwang, und genau das wollte er nicht. Wenn das Baby erst mal da wäre, redeten wir uns ein, würden wir uns eine eigene Wohnung nehmen, und unser Leidensweg hätte ein Ende. Bald hätten wir es geschafft. Wenn wir noch ein paar Monate lang durchhielten, so glaubten wir, hätten wir eine echte Chance auf ein besseres Leben. Paul ging jeden Sonntag zum Fußballspielen. In dieser Zeit musste ich zu Hause bleiben, die Bügelwäsche für acht Personen erledigen und tun, was sich der Widerling sonst noch alles für mich ausdachte. Dabei wollte ich nichts sehnlicher, als mitgehen und ihm beim Fußballspielen zusehen wie jede normale Freundin. Ich flehte Paul an dazubleiben, aber da ich ihm den wahren Grund verheimlichen musste, nahm er meine Bitten nicht so ernst. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er, wenn ich wieder ganz mutlos wurde. »Bald sind wir hier draußen, und dann kannst du tun und lassen, was du willst.« Aber damals dachte er, dass mich nur die schwere Hausarbeit belastete. Und ihm die schreckliche Wahrheit zu erzählen, brachte ich einfach nicht fertig. Als ich im neunten Monat und sowohl von der Schwangerschaft als auch von den psychischen Belastungen durch meine Familie völlig erschöpft war, blieb ich eines Nachmittags mit Richard allein im Haus zurück. Als ich die Treppe mit einem
Handbesen fegte, regte er sich über meinen missmutigen Gesichtsausdruck auf. Zur Strafe befahl er mir, den Küchenboden mit meiner Zahnbürste sauber zu schrubben. Aus lauter Angst, ihn noch mehr zu verärgern, Schläge zu bekommen und das Baby zu gefährden, ging ich verzweifelt auf die Knie und begann zu schrubben. Mittendrin kam meine Mutter nach Hause. »Was machst du denn da?«, fragte sie. »Ich putze den Boden«, sagte ich erschöpft. »Aber womit?« Sie sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. »Mit meiner Zahnbürste.« »Warum?« »Er hat's mir befohlen«, sagte ich, als Richard hinter ihr in die Küche kam. Er tat natürlich völlig erstaunt, dass ich das tatsächlich tat, wo er doch nur Spaß gemacht hätte. Dass ich zu blöd wäre, das zu kapieren. In diesem Moment machte irgendetwas in meinem Kopf »Klick!«. Ich konnte einfach nicht mehr. Keine Ahnung, welche Spielchen er noch für mich und mein Baby in petto hatte — ich hielt das einfach nicht mehr aus. Ich wollte dem ein für alle Mal ein Ende machen. Ich wollte nicht, dass mein Baby in so eine Welt hineingeboren würde. Ich ging in mein Zimmer und suchte nach einem Gegenstand, mit dem ich mir die Pulsadern aufschneiden könnte. Ich fand einen Einweg-Rasierer und versuchte, die Klinge herauszuholen. Mum kam ins Zimmer und hielt mich davon ab. »Spiel nicht verrückt!«, schimpfte sie mich. »Aber er hört einfach nicht auf«, schluchzte ich. »Wenn du dich umbringst, erreicht er doch nur, was er will«, sagte sie. Ich begriff, dass sie Recht hatte, aber ich war so
erschöpft, dass mir alles egal war. Trotzdem gab ich meinen zaghaften Selbstmordversuch auf und kämpfte weiter, hoffte weiter. Als Emma zur Welt kam, war sie wunderschön, und ich war unglaublich stolz auf sie. Jetzt, wo ich ein Baby hatte, das von mir abhängig war und beschützt werden musste, war ich entschlossener denn je auszuziehen, sobald mir das Wohnungsamt eine entsprechende Wohnung zuwies. Es konnte sich nur noch um Wochen handeln, bis wir endlich frei wären. Richard und Mum kamen mich im Krankenhaus besuchen und brachten Blumen und eine Glückwunschkarte mit. Im Grunde nichts Besonderes, wenn die eigene Tochter ein Kind bekommt, aber so etwas hatten sie noch nie getan – weder für mich noch für irgendjemand anderen. Es war das Abartigste, was ich mir nur vorstellen konnte. Aber es ließ mich auch hoffen, dass sich jetzt, wo ich Mutter war, wirklich etwas geändert hatte. Gleichzeitig überlegte ich, was Richard diesmal im Schilde führte. Er schien sich wirklich über sein erstes Enkelkind zu freuen und insbesondere darüber, dass es ein Mädchen war. Doch wie oft hatte ich mich schon in falscher Sicherheit gewiegt, bevor er alle meine Hoffnungen wieder mit einer neuen Perfidie zunichte machte? Mum und Richard mögen nett zu mir gewesen sein, aber irgendetwas war zwischen ihnen vorgefallen, dennals ich zwei Tage später entlassen werden sollte, kam Mum mit einem zu Brei geschlagenen Gesicht ins Krankenhaus. Sie hatte überall blaue Flecken und ein blutverkrustetes Ohr. »Er ist völlig ausgeflippt«, erzählte sie mir, »hat alle Türen eingetreten, einfach alles zertrümmert.« Obwohl sie mir den Grund dafür nicht verriet, nehme ich an, dass er Streit gesucht hat, weil sie ihm so viele Jungs und kein einziges Mädchen geschenkt
hatte. Sie flehte die Schwestern an, mich noch länger dazubehalten, damit Emma und ich in Sicherheit wären. Die wollten mich eigentlich nicht länger dabehalten als nötig, weil sie das Bett brauchten. Trotzdem gestanden sie mir noch einen weiteren Tag zu. Ein paar Stunden, nachdem Mum gegangen war, tauchte Richard auf. Er sprühte nur so vor Charme und Nettigkeit. »Na, kommst du mit nach Hause?«, fragte er, nahm Emma auf den Arm und knuddelte sie. Er war stets unglaublich liebevoll zu ihr und hat nie jemanden so gut behandelt wie Emma. »Ja«, sagte ich und versuchte mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, während ich Emmas Sachen zusammenpackte. Sobald wir zu Hause waren, machte er mir unmissverständlich klar, dass er Paul und mich bei dem Antrag auf eine Sozialwohnung nicht unterstützen würde. Das Einzige, was ihn interessierte, war, wann ich wieder Sex haben durfte. »Du glaubst wohl, du kommst hier raus, was?«, sagte er hämisch. »Aber du gehst nirgendwohin. Ich werde diesen Brief niemals für dich aufsetzen.« Das Amt würde uns nämlich nur dann eine Wohnung geben, wenn wir obdachlos wären. Das bedeutete, dass Richard oder Mum einen Brief schreiben mussten, dass sie uns auf die Straße setzen würden. Richard weigerte sich strikt, das zu tun, und verbot es Mum ebenfalls. Solange sie behaupteten, uns gern bei sich aufzunehmen, würde uns keine Wohnung zugesprochen werden. Paul tat sein Bestes, um mit Richard auszukommen, aber ich ahnte schon, dass er bald vergrault würde, wenn wir nicht rasch etwas Eigenes bekämen. Und dann würden Emma und ich allein mit
Richard zurückbleiben. Ich überlegte schon, ob das Richards eigentlicher Plan gewesen war. Jetzt, wo er Emma hatte, brauchte er keinen Paul mehr. Es gab Momente, in denen er sich einbildete, Emma sei tatsächlich seine Tochter – die Folge einer jener schrecklichen Nächte, in denen ich mit ihm hatte schlafen müssen wie eine Ehefrau. Eine Hebamme kam vorbei, und da sie nicht wusste, dass Richard nur mein Stiefvater war, sagte sie, wie ähnlich Emma ihrem Großvater doch sähe. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Obwohl ich ganz genau wusste, dass das nicht sein konnte, wäre ich schon beim bloßen Gedanken daran am liebsten gestorben. »Ich kann nicht mehr, Mum«, sagte ich ihr einmal, als er weg war. »Ich muss hier raus, und das weißt du ganz genau.« Da tat Mum das Tapferste, was sie je getan hat. Vielleicht, weil es jetzt auch noch ein Baby gab, das in Gefahr war, wagte sie, das Risiko einzugehen. Vielleicht musste sie auch an früher denken, als sie mich mit auf die Toilette nehmen musste, um mich vor meinem Stiefvater zu beschützen. Was auch immer sie dazu bewegt haben mag – sie schrieb mir diesen Brief. »Geh sofort zum Wohnungsamt«, sagte sie und drückte ihn mir in die Hand, »und zwar so schnell wie möglich, bevor er es rausfindet und dir nachkommt. Sieh dich nicht um, steig einfach in den Bus und fahr los.« Den ganzen Weg über klopfte mir das Herz bis zum Hals. Meine Blicke gingen nervös hin und her, aus lauter Angst, Richard könnte hinter mir auftauchen, mir eine Szene machen, mir den Brief entreißen und mich an den Haaren nach Hause schleifen, wie er es so oft mit Mum gemacht hatte, als wir noch klein waren. Ich wusste, dass er keine Hemmungen hatte, in aller Öffentlichkeit solche Szenen zu machen. Ich traute ihm zu, am helllichten Tag mitten auf der Straße einen Mord
zu begehen, ohne dass jemand wagen würde, etwas dagegen zu unternehmen. Das Wohnungsamt reagierte sofort, als ihm Mums Brief vorlag. Vier Wochen später bekamen wir eine Wohnung zugesprochen. Ich wusste nicht, ob uns Richard überhaupt ausziehen lassen würde, aber zu meiner Überraschung ließ er uns gehen, ohne eine Szene zu machen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Zum ersten Mal, seit ich vier Jahre alt war, kam ich da raus. Wieso ging das plötzlich alles so einfach, wo es doch all die Jahre über unmöglich gewesen war, ihm zu entkommen? Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Irgendwo war da bestimmt ein Haken. Gleichzeitig war ich überglücklich, dass meine Qual endlich ein Ende hatte und ich friedlich mit einem Mann zusammenleben konnte, der mich liebte. Jetzt würde ich mich in aller Ruhe um mein wunderschönes Baby kümmern können. Zu unserer Wohnung führten etwa achtzig Treppenstufen. Von dort oben hatte man einen herrlichen Blick über die ganze Stadt. In unserer ersten Nacht schlief Emma zum allerersten Mal durch, so als ob sie instinktiv gewusst hätte, dass sie sich endlich entspannen konnte. Die Nachbarn waren alle sehr nett, obwohl ich nicht wissen wollte, was sie da nebenan so alles trieben. Der Rauch, der von der Nebenwohnung zu uns hereindrang, machte mich den ganzen Tag mehr oder weniger high. Ich war damals noch so naiv, dass ich glaubte, sie wollten Kuchen backen, als sie eines Tages bei mir klingelten und mich um eine Waage baten. Dabei wollten sie damit nur ihren Stoff abwiegen. Irgendwann umstellte die Polizei den Block und befahl uns, in unseren Wohnungen zu bleiben. Es gab jede Menge Geschrei und Türenknallen, bis sie mit meinen Nachbarn davonfuhren. Danach ging das
Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Das klingt vielleicht nicht gerade nach dem idealen Umfeld für ein Baby, aber für mich war es das reinste Paradies. War der Albtraum nun endlich vorbei? Oder hatte Richard noch weitere Grausamkeiten für mich in petto? Nach vierzehn gemeinsamen Jahren hätte ich die Antworten auf diese Fragen eigentlich kennen müssen.
9. Kapitel Ich hätte wissen müssen, dass Richard nicht so schnell aufgeben würde. Wenn er uns in eine eigene Wohnung ziehen ließ, dann nur, weil er irgendeine Möglichkeit gefunden hatte, das für sich auszunutzen. Wie hatte ich nur so naiv sein können, das nicht zu ahnen? Wie hatte ich das übersehen können, obwohl ich ihn doch ganz genau kannte? Die Wohnung, die man uns zugewiesen hatte, lag etwa zwanzig Minuten mit dem Auto von Richards und Mums Haus entfernt, und ich bildete mir ein, das sei weit genug, um vor ihm sicher zu sein. Dabei hatte ich nicht die geringste Chance. Paul ging arbeiten, sodass er die Wohnung jeden Morgen um acht Uhr verließ. Und so stand Richard jeden Tag um Punkt neun, wenn die Jungs in der Schule waren, vor meiner Tür. Besser hätte er es gar nicht haben können. Auf diese Weise hatte er Emma und mich ganz für sich allein, ohne dass ein anderes Familienmitglied auftauchen und stören konnte. Er hatte eine Wohnung mit einem Doppelbett und wusste ganz genau, dass Paul erst am Nachmittag wieder zurückkam. Seine Schreckensherrschaft dauerte übergangslos an. Paul wusste, dass Richard ständig vorbeischaute, auch
wenn er nur die halbe Wahrheit kannte. Wenn Richard nachmittags immer noch da war, legte ich die Kette vor, damit uns Paul nicht überraschen konnte. Wenn ich dann seinen Schlüssel in der Tür hörte, blieb mir immer noch genug Zeit, Richard Einhalt zu gebieten und die Kette zu lösen. Weil ich viel zu viel Angst davor hatte, Paul die ganze Wahrheit zu sagen, und mich auch viel zu sehr schämte, hatte ich Richard ein weiteres Druckmittel in die Hand gegeben, mit dem er mich kontrollieren konnte. Jetzt musste ich nicht nur Angst um mich selbst, Mum und Emma haben, falls ich ihn verriet, sondern auch noch um Paul. Mein Kopf war kurz vor dem Zerspringen. Ich versuchte, Freunde für die Zeit einzuladen, in der Richard normalerweise auftauchte, damit er mich nicht allein antraf. Aber dann bedrohte und beleidigte er sie derart, dass sie sich seine Unverschämtheiten nicht länger anhörten und innerhalb weniger Minuten verschwanden. Ich versuchte auch, Überlebensstrategien zu entwickeln, indem ich Emmas Stillzeiten bis zu Richards Besuch hinauszögerte, damit er warten musste, bis ich sie versorgt hatte. Ich bemühte mich, so lange wie möglich dafür zu brauchen. Das Dumme war nur, dass er stets wartete — er hatte schlichtweg nichts anderes zu tun. Am Ende musste ich ihm dann doch zu Willen sein, sodass ich das Unvermeidliche nur hinauszögerte. Nachdem er bekommen hatte, was er wollte, zwang er mich manchmal, mit ihm zu Mum zu fahren und ihr ihre heiß geliebte Enkeltochter zu bringen. Später brachte er mich dann wieder zurück in unsere Wohnung, wo wieder alles von vorn begann, bis Paul nach Hause kam. Wenn ich versuchte, mich vor ihm zu verstecken, und so tat, als wäre ich nicht zu Hause, wenn er unten klingelte, trat er einfach die Haustür auf und kam trotzdem hoch. Das Schloss war nicht stabil genug, um
ihn daran zu hindern. Manchmal ging ich andere Leute besuchen, aber dann brachte er meine Brüder mit, die mich aufstöbern und auf Emma aufpassen mussten, während er mich in einem anderen Zimmer zwang, ihm zu Willen zu sein. Wenn auf sein Klingeln niemand aufmachte, schickte er sie sogar manchmal die Feuertreppe hoch und ließ sie durch meine Balkontür gucken, während er durch die Wohnungstür hereinkam — wie ein Jäger, der seine Frettchen vorschickt, um das Kaninchen aus dem Bau zu treiben. Wenn die Jungs da waren, mussten wir die reinste Farce aufführen. Dann sagte ich: »Kannst du dir bitte dieses oder jenes mal ansehen?«, woraufhin wir ins Schlafzimmer oder ins Bad verschwanden, wo er irgendein fiktives Problem beheben sollte. Er befahl ihnen, sich nicht vom Fleck zu rühren und bei Emma zu bleiben, bis wir wiederkämen. Obwohl ich Paul liebte und wusste, dass er mich auch liebte, war es unter diesen Umständen unmöglich, eine normale Beziehung zu führen. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war ich in einer so schlimmen Verfassung, dass ich meine Gefühle an irgendjemandem auslassen musste. Und weil Paul so ein liebevoller, geduldiger Mann war, bekam er alles ab, ohne zu begreifen, was er mir eigentlich getan hatte. Am Ende sah ich keinen anderen Ausweg, als unsere Beziehung zu beenden. Ich liebte ihn, aber ich wusste, dass ich sein Leben ruinierte, und konnte mir nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern würde. Er war so ein lieber Kerl, händigte mir sein ganzes Gehalt aus und ertrug all meine Launen. Doch insgeheim warf ich ihm vielleicht doch vor, dass er mich nicht rettete. Aber wie denn auch, wo er doch keine Ahnung von meinen Problemen hatte? Er bekam Richards Launen mit und wusste, wie sehr ich unter
ihm litt. Aber von dem Missbrauch, der sich jeden Tag bei uns zu Hause abspielte, während er bei der Arbeit war, ahnte er nicht das Geringste. Er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen, und ich fühlte mich furchtbar. Aber ich war dem einfach nicht mehr gewachsen. Ich wollte, dass er mich hasste und ausflippte, damit ich mich nicht so schuldig zu fühlen brauchte, aber das funktionierte nicht. Irgendwann konnte ich ihn doch davon überzeugen, dass ich es ernst meinte und unsere Beziehung vorbei wäre. Danach zog ich in eine eigene Wohnung und musste mir endlich keine Sorgen mehr um Paul und seine Psyche machen. Was allerdings bedeutete, dass Richard nun uneingeschränkten Zugriff auf mich hatte. Außerdem lag die neue Wohnung viel näher an seinem Haus als die erste, sie war nur fünf bis zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Ich kam mir vor, als würde er mich zurückholen. Manchmal verschaffte sich auch mein Bruder Pete Zugang zu meiner Wohnung. Wenn ich nach Hause kam, fand ich ihn plötzlich dort vor. Anfangs tat er so, als hätte ich die Tür offen gelassen, aber schließlich musste er zugeben, dass er einen eigenen Schlüssel besaß. Ich beschwerte mich darüber, kein bisschen Privatsphäre zu haben, aber er lachte mich nur aus. Richard machte mir vom ersten Tag an klar, dass er die Wohnung als sein Territorium betrachtete. Wenn er im Sessel saß und eine Zigarette rauchte, ließ er den Aschenbecher oft »aus Versehen« zu Boden fallen und sah zu, wie ich aufsprang, alles wegsaugte und ihm versicherte, dass das kein Problem sei. Wenn ich ihm Tee machte, warf er den Becher auf den Boden und verlangte einen neuen. Nach all den Jahren wusste ich ganz genau, dass ich dabei gute Miene zum bösen Spiel machen musste. Denn wenn ich nicht
mitspielte, hätte das schlimme Konsequenzen gehabt. Früher hatte ich Angst um Mum gehabt, und jetzt war es die zusätzliche Angst um Emma, mit der er mich erpresste. Richard hatte mir sämtliche Freunde abspenstig gemacht, wie es ihm gerade gefiel – warum sollte er mir nicht auch Emma wegnehmen, wenn ich ihn ärgerte? Wer hätte ihn schon daran hindern sollen? Ich saß tiefer in der Falle denn je. Bei dem verzweifelten Versuch, irgendwie abzuschalten, begann ich Emmas Milchgutscheine gegen Wein einzutauschen. Emma nahm seit ihrem ersten Lebensjahr feste Nahrung zu sich, sodass sie nicht mehr darauf angewiesen war. Ich trank eindeutig zu viel, konnte meinem Los dadurch jedoch auch nicht entfliehen. Richard hatte mich völlig unter Kontrolle. Er bestimmte, wann ich morgens aufstehen, abends zu Hause sein und ins Bett gehen musste. Er bestimmte, wie ich die Wohnung einrichten und welche Möbel ich kaufen sollte. Wenn er irgendwelche alten Möbel hatte, zwang er mich, sie ihm abzukaufen. Er bestimmte über mein Leben, als wäre ich ein kleines Kind, und ich hatte zu lächeln und brav danke zu sagen. Zum Glück besaß ich damals wenigstens eine Verbündete. Das war meine Freundin Cheryl, die ganz in der Nähe wohnte. Etwa ein Jahr, nachdem ich in die neue Wohnung gezogen war, erzählte ich ihr alles. Damit gehörte sie zu den wenigen, die wirklich wussten, was bei mir vorging. Cheryl hatte ähnlich schreckliche Erfahrungen hinter sich. Sie verstand nicht nur, dass es Dinge gibt, die viele für unmöglich halten, sondern auch, wie man sich dabei fühlt. Sie wusste, dass sie einen so verängstigen, dass man eher bereit ist, sein ganzes Leben zu zerstören als sich gegen seinen Peiniger zur Wehr zu setzen. Sie war so mutig gewesen, ihr Leid öffentlich zu machen, wusste aber, dass sie mich nicht dazu drängen durfte, bevor ich selbst so
weit war. Stattdessen versuchte sie mir auf jede nur erdenkliche Art zu helfen. Sie kam zum Beispiel einfach vorbei, wenn Richard da war, und ignorierte die Beleidigungen und Erniedrigungen, mit denen er sie loswerden wollte. »Ich bleibe, weil ich gern eine Tasse Tee mit meiner Freundin trinken möchte«, sagte sie fröhlich, während er sie ordinär beschimpfte. Richard und Mum bestanden darauf, Emma zu hüten, wann immer sie Lust dazu hatten – egal, ob mir das recht war oder nicht. Ich wollte Richard nicht mal in die Nähe meines Babys lassen, obwohl ich nicht glaube, dass er ihr irgendwas getan hätte. Er schien sie abgöttisch zu lieben, so als wäre sie die kleine Tochter, die er sich immer gewünscht, aber nie bekommen hatte. Manchmal versuchte ich ihn daran zu hindern, Emma mitzunehmen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich erfolgreich gegen ihn zu wehren. Wenn Richard und Mum nach Southend in Urlaub fuhren, wollten sie Emma stets mitnehmen, »weil sie einen Urlaub verdient hat«. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie so viel Zeit mit Richard verbrachte, aber sie ließen mir keine andere Wahl. »Bitte versprich mir, dass du die ganze Zeit gut auf sie aufpasst«, flehte ich Mum an. »Und dass du sie nie mit ihm allein lässt.« »Natürlich!«, sagte sie, empört, weil ich ihr so etwas auch nur zutraute. Als ob sie nicht blind für das gewesen wäre, was mir Richard seit meiner frühesten Kindheit antat. Als ob sie nicht selbst auch immer wieder völlig grundlos und ohne eine Spur von Reue von ihm zusammengeschlagen wurde. Ich fühlte mich furchtbar, weil ich Emma fahren ließ, und ging fünf Tage lang nicht vor die Tür. In dieser Zeit renovierte ich Emmas Kinderzimmer, um es auf ihre Rückkehr vorzubereiten. Als ob eine neue Tapete und
bunter Lack alles wieder gutmachen könnten. Die Zukunft war ein einziges schwarzes Loch, und ich hatte keine Chance, frei über mein Leben zu bestimmen. Aber dafür konnte ich immerhin entscheiden, wie schön ihr Kinderzimmer aussah. Ich hasste viele Dinge, die ihr Richard beibrachte, zum Beispiel Schwarze »Nigger« zu nennen, was er unheimlich komisch fand. »Dein Vater hat sich einfach verpisst«, sagte er ihr immer wieder, »und deine Mum ist eine fette Schlampe.« Je mehr ich ihn bat, das in ihrer Gegenwart zu lassen, desto häufiger sagte er es. Fast jede seiner Bemerkungen war entweder ein Fluch, rassistisch oder auf irgendeine andere Weise beleidigend. Ich war ganz verzweifelt bei dem Gedanken, dass es Emma schaden könnte, in so einer frühen Phase mit derartigen Äußerungen konfrontiert zu werden. Ich hatte mehr denn je das Bedürfnis zu fliehen und mich irgendwo mit ihr zu verstecken. Aber wo konnte ich schon hin, ohne dass mir mein Stiefvater gefolgt wäre? Ich hatte kein Geld und kannte niemanden außerhalb unseres Viertels, bei dem ich hätte unterkommen können. Wenn ich zur Polizei ginge, würde er das sofort mitbekommen, und Emma, Mum und ich müssten das Schlimmste befürchten. Obwohl ich inzwischen erwachsen und Mutter war, hielt ich Richard immer noch für unbesiegbar und glaubte, es sei ein Ding der Unmöglichkeit, ihm zu entrinnen. Wenn er mir irgendetwas befahl, gehorchte ich ganz automatisch. »Du bist als Mutter völlig unfähig«, schrie er sofort, wenn ich auch nur das Geringste mit ihm diskutieren wollte. »Wir können jederzeit das Jugendamt verständigen und dir das Kind wegnehmen lassen.« Ich besaß damals so wenig Selbstwertgefühl, dass ich ihm glaubte. Es gab Zeiten, in denen ich mit dem Gedanken
spielte, uns beide umzubringen, weil ich keinen anderen Ausweg mehr sah. Ich war kurz davor, verrückt zu werden, doch vor Freunden und Bekannten gelang es mir meist, den Schein zu wahren. Wie damals in der Schule hielten mich die meisten, die mich nur oberflächlich kannten, für die reinste Frohnatur, da ich ständig lachte und Witze machte. Doch wer mich näher kannte oder mich erlebte, wenn ich zu viel getrunken hatte, wusste, dass dem nicht so war, auch wenn fast niemand den Grund dafür kannte. Relativ kurz nachdem ich Paul verlassen hatte, lernte ich auf einer Party Steve kennen und verliebte mich erneut, obwohl ich mir das eigentlich verboten hatte. Sobald ein Mann in mein Leben getreten war, hatte das alles nur noch komplizierter gemacht, ganz zu schweigen von dem schrecklichen Liebeskummer, wenn ich mich wieder hatte trennen müssen. Aber irgendetwas an ihm war anders. Bestimmt hat auch er sich zunächst von dem extrovertierten Mädchen mit der lauten Lachen angezogen gefühlt. Doch als er herausfand, dass ich wesentlich komplizierter war, als es den Anschein hatte, ließ er sich davon nicht abschrecken. Er war anders als die Männer, die ich aus unserem Viertel kannte. Er kam aus einer anderen Welt und hatte keine Ahnung von den bei uns herrschenden Verhältnissen. Er hatte einen Bürojob, war ehrgeizig und trug Anzug und Krawatte. All das gefiel mir, auch wenn es mir sehr fremd war. Ich stand der neuen Beziehung mit gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits war ich froh, so jemanden wie Steve zu haben. Andererseits hatte ich Angst, was ihm alles zustoßen könnte, wenn er erst mal mit uns in Berührung käme. Er stammte aus einer liebevollen und intakten Familie und hätte sich nie im Leben vorstellen können, was sich hinter unseren
geschlossenen Türen und Vorhängen so alles abspielte. Es dauerte etwa drei Monate, bis ich den Mut hatte, ihn in Gegenwart meiner Familie in die Wohnung zu lassen. Ich wusste, dass ihn Richard von Anfang an nicht mögen würde. Er würde sofort spüren, dass sich dieser Mann nicht so leicht einschüchtern ließ wie die anderen. Ich wusste, dass er ihn sofort verächtlich als »Bürohengst« oder »Waschlappen« beschimpfen würde. Ich warnte Steve, dass Richard ihn beleidigen würde. Zu meinem Erstaunen schien ihn das nicht weiter zu beunruhigen. »Ich bin schon so oft aufgezogen worden«,erklärte er, »da macht mir das eine oder andere Schimpfwort nicht mehr viel aus.« »Er ist wirklich kein angenehmer Zeitgenosse«, beharrte ich. Ich traute mich nicht, Steve zu sagen, dass er so etwas wie meine Familie bestimmt noch nie erlebt hätte. Dass es vielleicht mit ein paar Neckereien anfing, die allerdings schon bald in rohe Gewalt ausarten würden, wenn sich der gewünschte Effekt nicht schnell genug einstellte. Ich schaffte es einfach nicht, mehr zu sagen. Anfangs verhielt sich Richard Steve gegenüber noch völlig korrekt und gebärdete sich eher wie ein strenger Vater. »Ich hoffe, Sie haben ernste Absichten, was meine Tochter anbelangt.« »Ja, die habe ich«, sagte Steve ahnungslos. Danach kam Richard zu mir in die Küche, um mir zu sagen, was er wirklich von ihm hielt. Daraufhin kehrte ich unter Tränen ins Wohnzimmer zurück und sagte Steve, dass ihn mein Vater nicht mögen würde. Auch das schien ihm nicht besonders viel auszumachen. Wahrscheinlich fand er, dass ich überreagierte.
Als mein Stiefvater ein paar Wochen später zu mir kam, wurde Steve mit »Verdammte Scheiße, nicht der schon wieder!« begrüßt. Richard benahm sich wie immer, aber Steve ließ sich nicht das Geringste anmerken. Er blieb absolut höflich und war stets hilfsbereit, wenn es darum ging, Terrassenplatten zu verlegen oder die Familie zu einem Boxwettkampf der Jungs zu chauffieren. Paul warnte ihn davor, ihnen nicht allzu viele Gefallen zu tun, weil sie ihn sonst völlig vereinnahmen würden. Als Steve dann das erste Mal sagte, er könne Richard nicht helfen, da er zum Fußballspielen ginge, war es natürlich sofort aus und vorbei mit dem freundlichen Schein. Trotzdem brachte ich es nicht übers Herz, Steve zu sagen, wie weit Richards Macht wirklich reichte. Aber dafür erzählte ich ihm, dass Richard gar nicht mein richtiger Vater sei, was ich sonst kaum jemandem sagte. Was mir an Steve auch besonders gefällt, ist, dass er so ein enges Verhältnis zu seinen Eltern hat. Er erzählt ihnen einfach alles. In diesem Fall führte seine Ehrlichkeit jedoch dazu, dass genau das passierte, wovor ich mich gefürchtet hatte. Richard fing an, Steves Eltern anzurufen und ihnen die Meinung über ihren Sohn und mich zu sagen, um ihnen dann auf jede nur erdenkliche Weise zu drohen. Doch sie gehörten nicht zu den Leuten, die sich solche Unverschämtheiten einfach so gefallen lassen. Bei einem dieser Telefonate verteidigte seine Mutter mich. »Sie ist nicht mal Ihre leibliche Tochter, und Sie reden über sie, als wäre sie die letzte Schlampe!«, schrie sie ihn durchs Telefon an. Richard stürzte sich sofort auf mich und wollte wissen, wem ich dieses Geheimnis noch verraten hätte. Wie immer schaffte er es, mir Schuldgefühle zu machen.
Sehr erleichtert war ich darüber, dass Steve und Paul von Anfang an gut miteinander auskamen, obwohl Richard versuchte, sie gegeneinander auszuspielen. »Ihr zwei macht mich ganz krank«, sagte er einmal, als er beide zusammen bei mir antraf. Paul war gekommen, um Emma abzuholen, während Steve darauf wartete, mich auszuführen. »Der Typ ist ein Arschloch, und du siehst zu, wie er deine Freundin vögelt«, sagte er zu Paul. »Willst du ihm das etwa durchgehen lassen?« »Sie ist nicht mehr meine Freundin«, sagte Paul nüchtern. »Ich habe eine andere Freundin.« Da drehte sich Richard um und drohte Steve mit der Faust. »Wenn ich dich noch einmal hier erwische, schmeiß ich dich eigenhändig raus.« »Das werden Sie nicht tun«, sagte Steve, »weil ich dann nämlich zur Polizei gehen werde.« »Für dich geh ich doch gern in den Knast«, höhnte Richard, woran wir keine Sekunde lang zweifelten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die beiden sofort in eine Schlägerei verwickelt, wie damals meine Cousine und mich oder Mum und ihre Freundinnen. Aber sie gingen ihm nicht auf den Leim. Zwei Männer mit gutem Charakter, die vernünftig blieben, wenn er sie provozierte, waren einfach zu viel für ihn. Wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich bestimmt Paul zurückgewünscht, nur um Steve loszuwerden. Paul stammte aus unserem Viertel, sodass Richard ihn leichter unter Druck setzen konnte. Bei Steve wusste er nie so genau, wie er sich verhalten musste, um die Oberhand zu gewinnen. Mein Kopf drohte in dieser Zeit beinahe zu zerspringen, und manchmal wunderte sich Steve, warum ich so launisch war. Einmal fuhr er mit mir übers Wochenende ans Meer. Wir übernachteten in
einem Hotel, besuchten Clubs, gingen shoppen und verbrachten eine wunderbare Zeit. Alles war ganz romantisch, er hatte Getränke für unterwegs besorgt und mir eine rote Rose geschenkt. Als wir am Sonntagabend zurückfuhren, musste ich daran denken, dass das Wochenende so gut wie vorbei war und der Widerling am Montagmorgen sofort wieder bei mir auf der Matte stehen würde. Beim Gedanken daran wurde ich ganz mutlos, und meine gute Laune war auf einmal wie weggeblasen. Steve war verletzt und wütend, weil ich mich nach all dem, was er für mich getan hatte, so undankbar zeigte. Aber ich konnte ihm nicht erklären, warum sich meine Laune so plötzlich verschlechtert hatte, ohne ihm den wahren Grund zu nennen. Der Keil, den Richard jedes Mal zwischen mich und die Menschen, die ich liebte, trieb, wurde bereits sichtbar. Steve wusste, dass ich vor Richard Angst hatte, auch wenn er nicht wirklich begriff, warum. Um mir einen Gefallen zu tun, willigte er ein, mich am Auto zu treffen. Oder aber er kam erst spät abends vorbei, um ganz frühmorgens wieder zu verschwinden, damit er Richard nicht begegnete. Wir erfanden ein Signal: Wenn mich Steve besuchen wollte, und oben ein bestimmtes Licht im Fenster brannte, war Richard da. Dann wusste er, dass er besser erst wiederkam, wenn das Licht aus war. Steve war bereit, das alles bis zu einem gewissen Grad mitzumachen. Aber da ich ihm den wahren Grund dafür nicht nennen konnte, wurde es ihm irgendwann zu viel, und er trennte sich von mir. Ich erfuhr es von Steves Dad, als ich anrief und Steve sprechen wollte. Er sagte mir, dass Steve nicht mehr mit mir reden wolle. Wieder einmal hatte mein Stiefvater jede Hoffnung auf ein privates Glück mit einem anständigen Mann zerstört und meine Qualen nur noch
verschlimmert. Doch diesmal müssen noch andere Kräfte am Werk gewesen sein, denn nach etwa einem halben Jahr kam Steve wieder bei mir vorbei. Seine Freunde konnten das ewige Gerede über mich schon nicht mehr hören. Er war völlig geschockt, als er mich sah, da ich in der Zwischenzeit eine Essstörung entwickelt hatte und zaundürr geworden war. Ich war aggressiv und hasste die ganze Welt. Es war mir völlig egal, mit wem ich mich anlegte. Ich hatte jegliches Selbstwertgefühl verloren. So wie es aussah, war meine Familie drauf und dran, mich endlich zu einer der ihren zu machen. Ich hatte die Nase voll davon, mich in Männer zu verlieben, die mir anschließend sowieso wieder weggenommen wurden. Und Steve war unsicher, ob er wirklich wieder mit mir zusammen sein wollte. Schließlich beschlossen wir, den Zufall entscheiden zu lassen. Wir rissen Dutzende von Zetteln in kleine Streifen. Auf die Hälfte davon schrieben wir »Ja« und auf die andere Hälfte »Nein«. Dann legten wir alle in Steves Mütze und beschlossen, dass wir uns an den zuerst gezogenen Zettel halten würden. Auf dem ersten Zettel stand »Ja«. »Aller guten Dinge sind drei!«, sagten wir wie aus einem Mund. Auf den ersten drei Zetteln stand ausnahmslos »Ja« und auf den drei nächsten auch. Wir dachten schon, wir hätten einen Fehler gemacht und sahen tränenüberströmt die anderen Zettel durch. Die mit »Nein« waren alle noch da. Irgendetwas oder irgendjemand wollte uns wohl mitteilen, dass wir zusammengehörten. Aus lauter Angst, Richard zu begegnen, gewöhnten wir uns an, gewissermaßen in Steves Auto zu leben. Wir aßen bei McDonald's und benutzten die Bahnhofstoiletten. Ich hatte sogar stets eine
Zeitung dabei, in die ich zwei Gucklöcher geschnitten hatte. Die hielt ich mir vors Gesicht, wenn wir herumfuhren, damit mich niemand sehen konnte. Normal war unsere Beziehung also nicht gerade. Ich weiß auch nicht, was mir schließlich die Kraft gab, mich endlich gegen den Mann zu wehren, der mich mein ganzes Leben lang gequält hatte. Vielleicht weil er es beinahe geschafft hatte, mich genauso gefühlskalt zu machen, wie er selbst war. Vielleicht weil mir Steve und seine Familie zeigten, wie schön das Leben sein kann, wenn man keine Angst haben muss. Egal, was der Auslöser dafür war, aber kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag, siebzehn Jahre, nachdem mich das Jugendamt zurück in diese »Hölle« geschickt hatte, beschloss ich, dass es mir endgültig reichte. Vielleicht war auch Emma der Grund. Sie würde bald ein Alter erreicht haben, in dem Richard begonnen hatte, mich zu missbrauchen. Möglicherweise war ich aber auch an einem Punkt angelangt, an dem ich einfach nicht mehr konnte. Ich hatte Albträume, in denen ich als einsame Alte endete, weil ich niemanden je wirklich an mich herangelassen hatte. Manchmal stellte ich mir auch vor, dass Emma und ich tot wären, weil ich keinen anderen Ausweg wusste. Da wollte ich lieber noch ein letztes Mal versuchen, mich von Richard zu befreien, bevor ich es endgültig aufgab. Ich begann damit, ihm kaum merklich zu widersprechen — so unmerklich, dass es anderen gar nicht aufgefallen wäre. Aber allein das kostete mich bereits eine ungeheure Kraft. Er und Mum vergötterten Emma. Ihr Haus erinnerte an einen Altar, der ganz ihr geweiht war. Richard hatte im Garten sogar eine Schaukel für sie gebaut. Mum und er spielten den ganzen Tag mit ihr, während ich missmutig daneben saß und es ihnen so schwer wie
möglich machte. Bis Richard eines Tages vorbeikam und sagte: »Von nun an nehme ich Emma alleine mit. Ich will deine verdammte Visage nicht mehr bei uns sehen.« Da merkte ich, dass mein Plan nach hinten losgegangen war. Von dem Tag an kam er und nahm Emma einfach mit, während ich zu Hause saß und die schlimmsten Ahnungen hatte, bis er sie wieder nach Hause brachte. Eines Morgens dachte ich mir allerdings: »Das ist meine Tochter, und du bekommst sie nicht!« Ich wartete mit ihr in meiner Wohnung auf ihn, als er auch schon klingelte. Ich sagte mir diesen Satz immer wieder vor, um mir Mut zu machen, während ich zur Tür ging. Ich öffnete sie nur einen Spalt weit und stellte meinen Fuß dahinter, damit er nicht einfach so hereinmarschieren konnte wie sonst. Wenn ich nicht aufgemacht hätte, hätte er die Tür einfach eingetreten. So konnte ich wenigstens an ihm vorbeirennen, wenn er ausflippte. »Ist Emma fertig?«, fragte er. »Nein.« »Was?« Er war von meinem Widerspruch so geschockt, dass er zunächst gar nicht begriff, was ich da eben gesagt hatte. »Dann sieh zu, dass sie fertig wird.« »Nein«, sagte ich, während mir die Angst die Kehle zuschnürte. »Ich werde sie nicht fertig machen.« »Mach sie fertig!«, schrie er, während sein Gesicht krebsrot anlief und er mich bespuckte. »Du hast eine Viertelstunde Zeit. Ich werde im Auto auf sie warten.« Er wusste, dass ich kein Telefon hatte. Solange er mich nicht aus der Wohnung ließ, konnte er Emma holen, wann immer er wollte. Er hatte mir schon tausendmal erzählt, dass meine Haustür »so dünn wie ein Schuhkarton« sei, eigentlich eher eine Zimmertür, die er leicht eintreten konnte.
»Siehst du diesen Plastikschaum um die Fenster?«, sagte er einmal. »Billigster sozialer Wohnungsbau. Ich brauch den nur wegzunehmen, und die ganzen Fensterscheiben fliegen raus.« Tatsächlich gelang es ihm stets, irgendwie ins Haus zu kommen. Einmal hatte ich gedacht, ich wäre allein in der Wohnung, als ich mich umdrehte und ihn hinter dem Vorhang entdeckte. Dort wartete er schon auf mich, weil ich die Terrassentür offen stehen gelassen hatte. Nun marschierte er zurück zum Auto und glaubte, meine lächerliche kleine Revolution bereits im Keim erstickt zu haben. Er glaubte wohl, dass ich Emma nun ganz kleinlaut fertig machen würde. Ich machte die Tür schnell wieder zu und versuchte die Nerven zu behalten. Ich atmete tief durch und widerstand dem Drang, auf Nummer sicher zu gehen und nachzugeben. Ich war fester entschlossen denn je. Er würde mich ohnehin bestrafen, weil ich mich gewehrt hatte. Ich musste also um jeden Preis weitermachen. In Windeseile ging ich alle Möglichkeiten durch. Durch die Hintertür zu entkommen, war keine gute Idee, denn dort würde er sicherlich parken. Am besten, ich wartete gleich an der Haustür auf ihn. Dann konnte ich rausrennen, sobald er reinkam. Draußen auf der Straße war ich sicherer als allein in der Wohnung. Er würde zwar nicht davor zurückschrecken, mir eine Szene zu machen und mich zu schlagen, trotzdem konnte er in der Öffentlichkeit nicht zu weit gehen und schon gar nicht, wenn ich Emma dabeihatte. Er würde versuchen, mich wieder ins Haus zu schleifen, wo er sich aufführen konnte, wie er wollte. Auf die Küchenarbeitsfläche hinter der Tür legte ich ein Tranchiermesser, ein Teppichmesser und einen Hammer. Wenn nötig, war ich bereit, jeden dieser
Gegenstände zu benutzen. Falls ich ihn umbrachte, würde ich maximal ins Gefängnis müssen. Und das konnte auch nicht schlimmer sein als mein jetziges Leben. Ich beeilte mich, Emma anzuziehen, damit ich sofort losrennen konnte, wenn es so weit war. Eine Viertelstunde später war Richard wieder da und hämmerte gegen die Tür. Es wunderte mich, dass er sie nicht sofort eintrat, aber vielleicht hatte er die paar Minuten genutzt, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht spürte er, dass ich es diesmal ernst meinte und er vorsichtig sein musste, wenn er die Wirkung der siebzehn Jahre, in denen er meinen Willen gebrochen hatte, nicht auf einen Schlag zunichte machen wollte. Ich zitterte am ganzen Körper, und mir war ganz schlecht vor lauter Angst. Ich setzte Emma hinter mich und öffnete die Tür, allerdings wieder nur einen Spalt breit. »Gib mir sofort Emma«, befahl er. »Du wirst sie nie wieder sehen«, sagte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. Er tobte und sagte, er würde Mum holen, um mich zur Vernunft zu bringen. Und wenn sie mit mir fertig sei, würde er mich umbringen. Aber er verschaffte sich nicht gewaltsam Zutritt zur Wohnung, was mich überraschte. »Ich kann Emma ganz leicht verschwinden lassen, weißt du«, warnte er mich. »Du kannst sie schließlich nicht jede Minute im Auge behalten. Eines Tages schaust du nur kurz weg, und schon ist sie fort.« Ich machte die Tür wieder zu, während er weiter tobte und drohte, die Fenster einzuwerfen. Ich wartete auf das Geräusch von splitterndem Holz, wenn sein Fuß durch die Tür käme, aber nichts davon geschah. Er schien selbst nicht zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Nachdem er aufgehört hatte zu toben, hörte man nur noch Stille.
Als ich den Eindruck hatte, dass er weg sei, ging ich zu einer Nachbarin und blieb bis zum späten Abend dort. Ich erzählte ihr alles. Einerseits tat es gut, endlich offen über meinen Albtraum reden zu können, andererseits hatte ich nach wie vor Todesangst, Richard könnte von meinem Verrat erfahren. Irgendwann traute ich mich wieder nach Hause. Meine Nachbarn gaben mir ein Walkie-Talkie und versprachen, mich damit anzufunken, sobald sie sein Auto oder irgendein anderes Mitglied meiner Familie sehen würden. Dann könnte ich Emma schnappen und in ihre Wohnung fliehen. Kurz nachdem Steve und ich wieder zusammen waren, erzählte ich ihm, was ich getan hatte. Daraufhin kaufte er mir ein Handy und sagte mir, ich solle die Polizei rufen, wenn Richard es wagte, sich mir zu nähern. Ich war froh über das Handy, wusste aber ganz genau, dass ich niemals die Polizei rufen würde. Denn dann würde er sich brutal an mir rächen. Ich hatte erlebt, was anderen passiert war, die meinen Stiefvater angezeigt hatten. So weit war ich einfach noch nicht. Noch war das eine Sache zwischen mir und ihm. Ein paar Tage lang blieb alles ruhig. Ich kam mir vor wie ein Frontsoldat, der nur darauf wartet, dass der Feind angreift, ohne zu wissen, wann und aus welcher Richtung. Ich versuchte meinen Alltag so normal wie möglich zu gestalten, um Emma nicht zu beunruhigen, verbrachte aber die meiste Zeit bei meinen Nachbarn, die versuchten, mir Mut zu machen. Eines Nachmittags kam eine Freundin mit ihrer Tochter, die gerade im Krabbelalter war, vorbei. Es war ein warmer Tag. »Komm, wir setzen uns ein bisschen raus in die Sonne«, schlug sie vor. Da ich schon eine ganze Weile nichts mehr von Richard gehört hatte und eine Freundin bei mir war,
fühlte ich mich einigermaßen sicher und willigte ein. Wir nahmen ein paar Stühle und setzten uns auf die Terrasse. Ich behielt die Haustür im Blick und plauderte mit meiner Freundin, während die Kinder miteinander spielten. Plötzlich wurde sie kreidebleich. »Was ist?«, fragte ich. »Dein Dad«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er hat gerade Emma hochgehoben und ist in die Wohnung gekommen.« Ich konnte es einfach nicht fassen. Wie hatte das in den paar Sekunden geschehen können, in denen wir draußen saßen? Neben der Angst, die in mir hochstieg, spürte ich auch eine Mordswut, weil er es gewagt hatte, mir mein Baby wegzunehmen. »Geh sofort nach Hause«, sagte ich ihr. Sie hörte, dass ich es ernst meinte, nahm ihr Kind auf den Arm und rannte davon. Beim Reingehen klemmte ich den Vorhang in die Terrassentür, damit sie offen blieb. Richard stand mit Emma auf dem Arm in der Küche und wartete auf mich. »Gib sie mir und verschwinde«, sagte ich. »Ich hab dir doch gesagt, dass du sie nicht aus denAugen lassen darfst«, entgegnete er hämisch. »Siehst du, so einfach kann ich sie mir holen.« Ich griff nach dem Teppichmesser, das noch immer auf der Anrichte lag. »Gib sie mir«, schrie ich. »Ich nehme sie mit«, höhnte er. »Und du wirst mich nicht daran hindern. Wenn du's versuchst, ruf ich sofort das Jugendamt an und sag ihnen, was für eine schlechte Mutter du bist.« »Gib sie her!«, brüllte ich und ließ nicht zu, dass er mich wieder einschüchterte. Er grinste nur. »Gib sie her, oder ich rufe die Polizei!«
Er rührte sich noch immer nicht, also stürmte ich zurück nach draußen — froh, nicht mehr mit ihm unter einem Dach sein zu müssen, aber auch halb wahnsinnig vor Angst, dass er einfach mit Emma verschwinden könnte. Ich hatte mein Handy nicht dabei und wusste auch nicht, ob ich die Nummer überhaupt hätte wählen können, so sehr zitterten meine Hände. »Bitte rufen Sie die Polizei«, schrie ich so laut ich konnte. »Er nimmt mir mein Baby weg! Rufen Sie die Polizei!« Plötzlich stand er neben mir, brüllte mich an und verfluchte mich. Aber wenigstens hatte er Emma vorher abgesetzt. »Ich krieg dich noch«, wiederholte er immer wieder. Ich rechnete damit, dass er mich schlagen würde, aber auch das war mir egal. Was spielte eine Tracht Prügel mehr oder weniger jetzt noch für eine Rolle? Diesmal brüllte ich aus voller Kehle zurück. Zu meiner Überraschung sah ich einen Ausdruck in seinen Augen, den ich vorher noch nie bei ihm bemerkt hatte: eine Spur von Beunruhigung. Siebzehn lange Jahre hatte ich mich nie gegen ihn gewehrt, ihn nie ernsthaft herausgefordert. Jetzt wusste er plötzlich nicht mehr, was er machen sollte. Er hatte bereits seine ganze Munition verschossen. Es gab nichts, was er mir nicht schon angetan hatte, und ich hatte alles überlebt. Wenn er wollte, dass ich jetzt den Mund hielt, musste er mich schon umbringen. Inzwischen kamen auch die Nachbarn aus ihren Wohnungen, um nachzusehen, was da los war. Schon dass ich mich Richard widersetzt hatte, schien ihnen Mut zu machen. Das Blatt schien sich langsam zu wenden. Da er nicht wusste, ob die Polizei bereits verständigt war, drehte er sich nach einem letzten wüsten Fluch um und verschwand.
Ich kochte vor Wut und musste sie an irgendetwas auslassen. »Bitte«, sagte ich zu einer Nachbarin, »bitte nehmen Sie Emma für ein paar Minuten.« Die Frau nickte, denn sie sah, dass ich beinahe platzte. Sie nahm Emma mit, damit sie die folgende Szene nicht mit ansehen musste. Ich stürmte zurück in die Wohnung und begann alles kurz und klein zu schlagen, was ich in die Finger bekam. Ich warf mit Tellern, Tassen, Gläsern und fühlte mich mit jedem zerbrochenen Stück Geschirr etwas besser. Ich wollte alles hinauswerfen, was Richard je in den Fingern gehabt, mir verkauft oder geschenkt hatte. Ich schaffte es sogar, die dreiteilige Couchgarnitur, die ich ihm hatte abkaufen müssen, auf die Straße zu schleifen — der Himmel weiß, woher ich die Kraft dazu nahm, da mehrere Leute nötig gewesen waren, um sie durch die Terrassentür ins Wohnzimmer zu hieven. Aber die Wut, die ich so viele Jahre unterdrückt hatte, brach sich mit einem Mal Bahn wie ein Tornado und verlieh mir schier übermenschliche Kräfte. Ich kannte kein Halten mehr, bis ich erschöpft war. Irgendwann war nichts mehr übrig, das ich hätte zerstören können, und ich ließ mich auf die Treppe fallen, um wieder zu Atem zu kommen. Dann ging ich zu meiner Nachbarin, um Emma zu holen und das, was von unserem Zuhause übrig geblieben war, wieder hineinzutragen. Von jenem Tag an versteckte ich mich nur noch in meinem Schlafzimmer, der Wohnung meiner Nachbarn oder in Steves Auto. Ich zog alle Vorhänge zu, schloss sämtliche Türen ab und hielt Messer bereit, falls Richard sich mit Gewalt Zutritt verschaffen sollte und ich Emma beschützen müsste. Ich begann mit einem Tranchiermesser unter dem Bett zu schlafen, genau wie Mum. Obwohl Steve sämtliche Türschlösser
ausgetauscht hatte, fühlte ich mich nicht wirklich sicher. Ich hatte miterleben müssen, wie Richard einfach bei fremden Leuten eingedrungen war, und konnte mir nicht vorstellen, dass ihn ein paar läppische Schlösser daran hindern würden, wenn er es denn unbedingt wollte. Nach ein paar Tagen beschwerten sich die Nachbarn über meine Möbel, die nach wie vor draußen auf dem Bürgersteig standen. Ich begriff, dass ich sie da auf keinen Fall stehen lassen konnte. Erst als drei Männer versuchten, sie wieder reinzuschaffen, wurde mir bewusst, was für eine wahnsinnige Wut ich gehabt haben musste! Jetzt, wo sie verraucht war, konnte ich das Zeug kaum heben. Ich wollte trotzdem keine Sachen von Richard in der Wohnung haben und begann herumzufragen, ob jemand anders die Möbel haben wollte. Ich akzeptierte jedes Angebot, nur um sie loszuwerden. Manchmal parkte Richard vor dem Haus und hupte ohne Unterlass — nur um mir zu zeigen, dass es ihn immer noch gab und er nicht lockerlassen würde. Der Krach muss die Nachbarn schier in den Wahnsinn getrieben haben, aber keiner traute sich, etwas dagegen zu unternehmen. Jedes Geräusch war eine Bedrohung, und ich konnte kaum schlafen. Wenn ich dann endlich doch eindöste, hatte ich Albträume, in denen ich Richard erstach und erschoss, wonach er immer wieder aufstand und mich erneut angriff – wie ein unbesiegbarer Zombie aus einem Horrorfilm. Ich war so mit den Nerven fertig, dass ich meine Beziehung zu Steve kaum noch aufrechterhalten konnte. Ich schaffte es nicht, auf seine Annäherungsversuche im Bett zu reagieren, obwohl ich ihn liebte. Und er wurde immer frustrierter, weil ich ihm mein Verhalten nicht erklären konnte. Er versuchte zu verstehen, was in
mir vorging, aber ihm fehlte die Information, die alles erklärt hätte. Er wusste, dass Richard ein widerlicher, brutaler Kerl war, begriff aber nicht, warum ich mich so von ihm terrorisieren ließ. Außerdem verstand er nicht, warum sich das derart negativ auf unsere Beziehung auswirken musste. Drei Wochen nach der Konfrontation mit meinem Stiefvater merkte ich, dass ich Steve genau wie Paul verlieren würde, wenn ich nicht etwas dagegen unternahm. Ich war wieder schwanger und fand den Gedanken, Richard könnte eine weitere Schwangerschaft mit seinen perversen Forderungen besudeln, unerträglich. Ich wollte mit Emma und dem neuen Baby leben wie eine ganz normale Familie, wusste aber, dass ich Richard schutzlos ausgeliefert wäre, wenn Steve gehen würde. Die Schwangerschaft würde mich immer verletzlicher machen, und wenn ich dann erst auf zwei kleine Kinder aufpassen müsste, könnte ich ihn mir nicht mehr vom Leibe halten. Ich musste dringend etwas unternehmen.
10. Kapitel Es war zwei Uhr morgens, und Steve war am Ende seiner Kräfte. Ich stand wieder einmal kurz davor, alles, was ich liebte, zu verlieren. Wenn ich jetzt nicht handelte, würde ich den Rest meines Lebens in Einsamkeit und Sklaverei verbringen müssen. Dann würde ich es nie mehr schaffen, den Teufelskreis zu durchbrechen. Ich brauchte Steve nur die Wahrheit zu sagen, aber genau das brachte ich nicht fertig. Es hätte so einfach sein können, aber ich fühlte mich, als wäre ein Teil meines Gehirns wie gelähmt und weigerte sich, die
entscheidenden Worte zu sagen. Ich schaffte nicht auszusprechen, was dem einzigen Menschen, der mir helfen konnte, alles erklärt hätte. Ich hatte so lange so viele Geheimnisse mit mir herumtragen müssen, dass ich nicht mehr in der Lage war, für mich selbst zu sprechen – nicht einmal dann, als mein Glück und das Glück der beiden Menschen, die ich über alles in der Welt liebte, davon abhing. Ich hatte Angst davor und fühlte mich gleichzeitig schuldig und beschmutzt. Ich hätte mich Steve liebend gern anvertraut, fürchtete mich aber vor den möglichen Konsequenzen. Was, wenn er nicht begriff, warum ich solche Angst hatte? Was, wenn er sich weigern würde, mein Geheimnis für sich zu behalten? Was, wenn er zu den Behörden gehen und Rache nehmen wollte? Dann wären wir alle in Gefahr. »Es hat nichts mit dir zu tun«, versicherte ich ihm immer wieder. »Es hat nichts mit dir zu tun.« »Was ist es dann?«, bohrte er nach, während die Müdigkeit seine Wut und seinen Frust über den vorenthaltenen Sex nur noch schlimmer machte. Er war ein so liebevoller, geduldiger Mann. Und trotzdem vergraulte ich ihn und ruinierte sein Leben, wie ich das meiner anderen Freunde ruiniert hatte — und wie ich auch das meines neuen Babys ruinieren würde. Jeder, der mir zu nahe kam, schien sofort in einen schrecklichen Sog aus Geheimnissen, Schmerz und Angst hineingezogen zu werden. Ich musste dringend etwas unternehmen, damit Steve noch eine Zukunft für uns sah. Nur so konnte ich verhindern, dass unsere Beziehung zerbrach und sich in Nichts auflöste. Dann wären Emma und ich wieder völlig auf uns gestellt und Richard schutzlos ausgeliefert. Ich musste Steve irgendwie begreiflich machen, was mir passiert war und warum es so aussah, als verlöre ich gleich den Verstand. Aber ich fand die richtigen Worte nicht
und kam mir vor wie jemand, der ohne Fallschirm aus einem fliegenden Flugzeug springen soll. Trotzdem, so sprach ich mir Mut zu, musste ich diesen Sprung wagen, ich durfte einfach nicht länger warten. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss...«, fing ich an. Doch ich hatte kaum den Mund aufgemacht, als ich auch schon an die schrecklichen Konsequenzen denken musste und mich der Mut erneut verließ. »Ich muss Cheryl holen!« »Was sagst du da?« Er traute seinen Ohren kaum. Er muss mich für völlig verrückt gehalten haben. Ich verzichtete auf eine Erklärung, rannte im Bademantel aus der Wohnung und ließ ihn völlig verwirrt am Fenster stehen, während ich tränenüberströmt zu Cheryl hinüberrannte und an ihre Tür hämmerte, um sie aufzuwecken. »Was ist denn?« Cheryl steckte den Kopf aus dem Fenster im ersten Stock. Ich konnte die verschlafene Stimme ihres Mannes hören, der wissen wollte, was los sei. »Geht es dir gut?«, hörte ich ihn fragen. »Du musst mir unbedingt helfen«, rief ich zu ihr hoch. Meine Kehle war derart zugeschnürt, dass ich an meinen Worten zu ersticken drohte. Gleichzeitig versuchte ich, keinen hysterischen Anfall zu bekommen. »Du musst unbedingt mitkommen.« Cheryl war bestimmt nicht begeistert darüber, geweckt und in die kalte Nacht hinausgezerrt zu werden. Aber sie war die Einzige auf der ganzen weiten Welt, die wirklich wusste, was mit mir los war. Sie rannte mit mir über die Straße und versuchte sich dabei den Bademantel zuzuhalten. Wahrscheinlich wollte sie mich so schnell wie möglich zurück in die Wohnung bringen, bevor ich noch die ganze Nachbarschaft aufweckte. Sie war eine so gute Freundin, dass ich keine Sekunde lang an ihrer Hilfe gezweifelt
hatte. Ich habe immer großes Glück mit meinen Freunden gehabt — mit denen, die ich behalten durfte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich war aus dem fliegenden Flugzeug gesprungen und raste auf die Erde zu. In den nächsten Stunden würde Steve alles erfahren. Und schon bereute ich meinen Sprung. Steve war so ein aufrichtiger, rechtschaffener Kerl. Bevor er mich kannte, hätte er auf ein solches Geständnis sofort mit einer Anzeige bei der Polizei reagiert. Aber in meiner Situation lagen die Dinge wesentlich komplizierter. Ich hatte unglaubliche Angst, ihm nicht vermitteln zu können, dass er mein Geheimnis genauso gut bewahren musste, wie ich es all die Jahre getan hatte. Ich wusste, wie sehr ihn das schmerzen würde, und befürchtete, dass er seine Wut nicht mehr kontrollieren könnte. Ich hatte furchtbare Angst davor, was er anschließend tun und welche Folgen das haben würde. Er wartete im Wohnzimmer auf uns. Jetzt, wo Cheryl da war, war seine Wut verraucht. Er war verwirrt und wartete angespannt darauf, endlich zu erfahren, was eigentlich mit mir los war. Er muss gewusst haben, dass ihn etwas wirklich Schlimmes erwartete. Kein Wunder also, dass er so nervös war. Welches Geheimnis konnte so schrecklich sein, dass es uns beinahe auseinander gebracht hätte, obwohl wir uns doch so sehr liebten? Ich hatte Steve schon einmal angedeutet, was Cheryl als Kind widerfahren war – wahrscheinlich auch, weil ich ihn mit meiner Situation konfrontieren wollte, ohne ihm gleich die ganze Wahrheit erzählen zu müssen. Keine Ahnung, ob er mir damals wirklich geglaubt hat. Menschen, die in ihrer Kindheit Schutz, Geborgenheit und Liebe erfahren haben, wissen nicht, was sich in Familien abspielt, aus denen
Cheryl und ich stammen. Es dauert, bis die entsetzlichen Qualen, die Menschen wie uns angetan wurden, überhaupt zu ihnen durchdringen. Und wenn sie dann wirklich realisieren, was passiert ist, verdrängen sie es oft, so gut es geht. Es gibt schließlich einiges, das jeder von uns lieber verdrängt. Ich setzte den Wasserkessel auf und machte uns Tee – mein Rettungsanker in allen Lebenslagen. Das Nippen an den dicken Bechern würde uns kurzfristig von unserem schrecklichen Gesprächsthema ablenken. Außerdem war es das Mindeste, was ich für die arme Cheryl tun konnte, nachdem ich sie aus dem Bett gezerrt hatte, damit sie für mich die Kastanien aus dem Feuer holte. Emma schlief in ihrem Kinderbett und bekam nicht das Geringste davon mit. Irgendwann setzen sich Cheryl und ich mit unseren Teebechern aufs Sofa und kuschelten uns aneinander wie kleine Kinder, während Steve nervös auf und ab lief. Er konnte einfach nicht mehr stillsitzen und wartete drauf, endlich eine Erklärung für unsere Probleme zu bekommen. »Hör zu, Steve«, fing Cheryl an. »Ich weiß, dass du weißt, was mir als kleines Kind widerfahren ist.« Er sagte nichts. Ich konnte sehen, wie er sich konzentrierte, damit ihm nicht das kleinste Detail entging und es keine Missverständnisse gab. »Nun, dasselbe ist Jane mit ihrem Vater passiert.« »Mit Richard?« Ich konnte regelrecht zusehen, wie die Worte bis zu ihm durchdrangen, langsam Gestalt annahmen und schreckliche Bilder in ihm wachriefen, die kaum zu ertragen waren. »Wann ist das passiert?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Seit sie vier Jahre alt ist«, sagte Cheryl. »Bis wann?« »Bis vor zwei Wochen.«
Steve lief immer schneller auf und ab, während ihm klar wurde, wie mein Leben ausgesehen hatte, wenn er im Büro gewesen war. Cheryl redete und redete, obwohl das meiste vermutlich gar nicht mehr bis zu Steve durchdrang. Genauso gut hätte man versuchen können, einen Rieseneimer Wasser auf einmal in einen engen Flaschenhals zu gießen. Ich kauerte neben ihr und zitterte am ganzen Körper. Mein Teebecher und meine Zigarette zitterten in meinen Händen, während ich mich wie so oft rhythmisch vor und zurück wiegte. »Ich wusste es!«, brach es aus ihm heraus, als er das gesamte Ausmaß begriffen hatte. »Ich hab's verdammt noch mal gewusst.« »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Seit ich dich kenne, gehen mir diese Bilder von dir und ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und dabei habe ich die ganze Zeit gedacht: >Das ist doch krank!< Dass es wirklich so war, hätte ich mir nie vorstellen können.« Cheryl legte den Arm um meine Schultern, um mich zu beruhigen. Nachdem sich Steve vom ersten Schock erholt hatte, wurde er wütend. Er brüllte und tobte durchs Zimmer. »Hör auf!«, schrie ich und hielt mir die Ohren zu. »Wenn du so wütend wirst, gibst du mir bloß das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Und genau deshalb wollte ich es dir erst nicht erzählen!« Steve wollte keine Details wissen, trotzdem musste er immer weiterfragen. Als er sie erfuhr und mit den Dingen in Zusammenhang brachte, die er bereits über meine Familie wusste, sah ich, dass er das gesamte Ausmaß meiner Tragödie erfasst hatte. Er begriff, dass man die Vergangenheit nicht mehr ungeschehen machen konnte, sondern versuchen musste, etwas für die Zukunft zu ändern.
Nachdem er den Schock einigermaßen verdaut hatte, wollte er sofort mit uns zur Polizei gehen. Ich musste ihn mühsam davon abhalten, da ich einfach noch nicht bereit war, irgendetwas zu tun, das die Situation nur verschlimmert hätte. Anschließend überlegte er nur noch, wie er mich aus diesem Viertel herausholen könnte. Wir beschlossen zu fliehen, Emma mitzunehmen und nicht einmal Paul Bescheid zu sagen. Es würde uns schwer fallen, Freunde und Menschen, die uns geholfen hatten, zu verlassen, ohne uns von ihnen zu verabschieden. Aber wir konnten einfach nicht riskieren, dass mein Stiefvater Leute bedrängte, die wussten, wo wir waren. Glaubte er erst einmal, jemand hätte die Adresse, würde er sie gnadenlos aus dem Betreffenden herauszuprügeln versuchen. Jeder wusste, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte, sobald man sich gegen ihn wehrte oder ihn provozierte. Außerdem wollte ich so schnell wie möglich weg, weil meine Familie nichts von der neuen Schwangerschaft mitbekommen sollte. Ich wollte, dass das Leben meines neuen Babys völlig unversehrt blieb. Am Tag nachdem Steve die Wahrheit erfahren hatte, stand er ganz normal auf, weigerte sich aber, sich im Morgengrauen ungesehen davonzustehlen. Der Knoten schien endgültig geplatzt zu sein. Als er in sein Auto stieg und zur Arbeit fuhr, stand er immer noch unter Schock. Ein paar Straßen weiter blieb er im Stau stecken und entdeckte seine Mutter im Wagen vor sich. Er blinkte wie wild, bis sie anhielt. Unter Tränen erzählte er ihr die ganze Geschichte. »Wir werden bald von hier wegziehen müssen«, sagte er. »Egal, was ihr braucht, wir helfen euch«, beruhigte sie ihn.
Ich wusste, dass Steve seinen Eltern alles erzählen würde. Aber auch das war nicht ungefährlich. Steves Vater war zwar ein mutiger Mann, aber seine Eltern waren auch nicht mehr die Jüngsten. Und ich wusste genau, zu was mein Stiefvater mit seinen Drohanrufen und unter der Tür durchgeschobenen Zetteln alles in der Lage war. Ich wusste, was es bedeutete, wenn er stundenlang vor den Häusern anderer Leute in seinem Ford Cortina saß, die Scheinwerfer auf ihre Fenster richtete und ohne Unterlass hupte. Er wusste nur zu gut, wie man Leuten das Gefühl gab, nirgendwo mehr sicher zu sein, nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Er war ein Meister darin, anderen das Leben zur Hölle zu machen. Ich vertraute Steves Eltern, hatte aber Todesangst, andere könnten von unseren Plänen erfahren. Je mehr Leute Bescheid wussten, desto eher würde mein Stiefvater Wind davon bekommen und seine Wut an mir auslassen, wenn er mich denn aufstöberte. Seit er mir damals das Tranchiermesser an den Hals gehalten hatte, hatte er mir immer wieder klar gemacht, dass niemand je erfahren dürfte, was zwischen uns passierte. Ansonsten würde er mich und meine Mum umbringen. Nichts, was er in den darauf folgenden siebzehn Jahren getan hatte, hatte mich an dieser Drohung zweifeln lassen. Wenn er herausfand, dass ich geredet hatte, bevor wir aus der Gegend wegzogen waren, würde das furchtbare Folgen haben. Ich achtete besonders darauf, mich gegenüber Cheryl nicht zu verplappern. Sie hatte das meiste von Richard zu befürchten, weil sie oft versucht hatte, mich vor ihm zu beschützen. Obwohl sie genauso viel Angst vor ihm hatte wie alle anderen auch, hatte sie immer das Gefühl gehabt, eine gewisse Macht über ihn zu haben — ganz einfach, weil sie wusste, was er mit mir
anstellte. Das gab ihr den Mut, es mit ihm aufzunehmen. Paul hatte Steve ohnehin gebeten, Emma und mich für eine Weile fortzubringen. Obwohl er seine Tochter sehr vermissen würde, verstand er, dass es keinen anderen Ausweg für uns gab. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, keinen Kontakt zu ihm halten zu können, wusste aber, dass ich das auf keinen Fall tun durfte. Ansonsten würden ihn Richard und meine Brüder so lange unter Druck setzen, bis er ihnen unseren Aufenthaltsort verriet. Ich konnte nur hoffen, dass er den Grund dafür begriff. Auch von sämtlichen Freunden würde ich mich trennen müssen. Ich konnte einfach nicht riskieren, dass Richard sie so sehr einschüchterte, bis sie uns verrieten. Sobald einer von ihnen meine neue Nummer im Handy abgespeichert hätte und das Telefon in feindliche Hände fiele, wäre ich einem schrecklichen Telefonterror ausgesetzt. Dann würde es auch nicht mehr lange dauern, bis ich erneut Besuch von ihm bekäme. Ich musste jegliche Verbindung zu meinem alten Leben kappen. Nachdem ich mich gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte, nahm Richard ein paar Wochen lang keinen direkten Kontakt mehr zu mir auf. Das gab uns die Möglichkeit, in Ruhe Pläne zu schmieden. Leider hieß das nicht, dass er aus meinem Leben verschwunden war. Stattdessen belauerte er mich aus der Ferne, um mir zu zeigen, dass er jederzeit wieder in mein Leben einbrechen könnte. Der Ford Cortina stand oft vor unserem Haus. Dann hupte und hupte er, bis ich beinahe einen Schreikrampf bekam. Eines Abends ging Steve noch mal raus, um Döner und Pommes für uns zu holen. Weil ich ständig fürchtete, Richard könnte die Tür eintreten, hatte ich viel zu viel Angst, die Küche zu benutzen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Steve wieder kam, und ich
machte mir große Sorgen, während ich mich im Schlafzimmer versteckte. Als er endlich wieder auftauchte, zitterte er wie Espenlaub. Er stieg aus dem Wagen und schleifte unser Abendessen hinter sich her. Dabei zerriss die Tüte, sodass überall Döner und Pommes herumlagen. Er hatte sich angewöhnt, mit einem Hammer unter dem Autositz zu fahren, falls ihn Richard einmal in die Enge treiben sollte. Den hielt er jetzt in der anderen Hand. Während er sich zur Wohnung schleppte, trat er auf das herausgefallene Essen, rutschte aus und knallte auf die Stufen. Als er die Wohnung endlich erreicht hatte, rang er mühsam nach Luft, so tief saß der Schreck. »Er hat mich entdeckt, als ich wieder ins Auto gestiegen bin«, sagte er. »Er hat neben mir gehalten, während ich einparken wollte, sodass ich nicht wegkonnte. Er sagte, er würde seinen Wagen abstellen, damit wir die Sache ausfechten könnten. Als er aus dem Wagen stieg, drückte ich nur noch auf die Hupe. Ich wollte dich warnen und erreichen, dass alle zum Fenster laufen. Ich konnte mein Fenster nicht herunterkurbeln, weil die Kurbel kaputt war, also zeigte ich auf die vielen Gesichter in den Fenstern und rief ihm durch die Scheibe zu: >Siehst du das? Alle wissen Bescheid!< Da sah ich zum ersten Mal so was wie Panik auf seinem Gesicht. Trotzdem kam er immer weiter auf mich zu. Ich wartete nicht länger, weil ich wusste, was er vorhatte. Ich fuhr los und er hinter mir her. Ich wollte ihn aus dem Viertel lotsen, damit er nicht zu dir reingehen würde. Ich fuhr in Richtung Polizeirevier, und da ist er abgebogen. Ich hatte Angst, dass er zurückkommt, und wendete mitten auf der Straße. Da war er plötzlich wieder hinter mir. Ich habe auf Schritttempo runtergebremst, und da er ist einfach weitergefahren.« Eines Morgens wachten wir auf und sahen, dass die
Reifen von Steves Auto aufgestochen waren. Von da an mussten wir es in den Nebenstraßen verstecken. Es konnte unmöglich so weitergehen. Eines Tages klingelt es, und ich entdeckte meinen Bruder Dan vor der Tür. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich mich gegen Richard gewehrt hatte. Er muss damals ungefähr vierzehn Jahre alt gewesen sein. »Was ist, Dan?«, fragte ich. »Dad will seinen Schmuck zurück.« »Na gut, Kumpel«, sagte ich, da ich nichts gegen ihn hatte. »Möchtest du reinkommen?« Er schüttelte nur den Kopf und sah zu Boden. Ich ahnte schon, dass ihn Richard von irgendwo aus dem Auto beobachtete. Da ich ganz begeistert war, alles loszuwerden, was mit ihm zu tun hatte, suchte ich sofort sämtliche Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke von ihm und Mum zusammen. »Sag ihm, er kann den ganzen Scheiß behalten«, meinte ich, während ich ihm die Sachen gab. »Ich will ihn sowieso nicht.« Ich war überrascht, dass ich den Mut hatte, den Mund so voll zu nehmen. »Ich vermisse dich wirklich«, murmelte Dan. »Ich hab dich auch noch lieb, Dan«, sagte ich, gab ihm einen Kuss und knuddelte ihn. »Ich vermiss dich genauso. Tut mir Leid wegen alldem, aber das ist nicht meine Schuld.« Ich konnte sehen, wie er nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Er wollte nicht, dass sein Vater sah, dass er geweint hatte, wenn er zum Auto zurückging. Auch wenn wir aus dem Viertel wegziehen wollten, war Steve immer noch dafür, zur Polizei zu gehen. Seiner Meinung nach kam Richard nur deshalb immer wieder davon, weil sich niemand traute, es mit ihm aufzunehmen. Er bemühte sich sehr, mich davon zu überzeugen, musste aber feststellen, dass ich nicht in der Verfassung dazu war. Wir würden bei
Nacht und Nebel verschwinden müssen, wenn wir uns und unseren Kindern so etwas wie ein normales Leben bieten wollten. Wir mussten wohl oder übel akzeptieren, dass es mein Stiefvater geschafft hatte, uns aus unserem Haus und von unseren Freunden zu vertreiben. Aber wie soll man sich entscheiden, wo man wohnen will, wenn man überall hin kann? Wie sollten wir ein Haus finden, das wir uns auch leisten konnten? Das alles würde viele Wochen dauern. Die einzige Bedingung war, dass Steve mit dem Auto maximal eine Stunde zur Arbeit brauchen durfte. Aber auch dann blieb immer noch ein relativ großes Gebiet übrig. Wo ich auf keinen Fall hin wollte, das waren Ortschaften, in denen ich mal mit meinem Stiefvater gewesen war. Zum Beispiel, weil dort Baumärkte lagen, zu denen er mich mitgenommen hatte. Ich wollte nirgendwo wohnen, wo auch nur die geringste Chance bestand, dass ich ihm beim Einkaufen über den Weg lief. Also suchten wir nach einem Ort, von dem ich noch nie etwas gehört hatte und wo es billige Häuser und Wohnungen gab, denn Steve verdiente nicht besonders viel. Ich bekam inzwischen lange genug Sozialhilfe, um Anspruch auf finanzielle Unterstützung beim Erwerb von Wohneigentum zu haben. Ich hätte 14000 Pfund bekommen können, was Steve sehr geholfen hätte. Aber wir konnten einfach nicht riskieren, dass irgendjemand auf dem Sozialamt wusste, wo wir wohnten. Wir mussten spurlos verschwinden und das mit dem Haus irgendwie selbst hinbekommen. Sich etwas Eigenes zu kaufen, ist für jedes junge Paar ein großer Schritt, auch wenn es nicht unter einem solchen Druck steht wie wir damals. Jede Verzögerung von Seiten des Notars oder des Maklers versetzte uns in Panik. Die müssen uns für völlig
verrückt gehalten haben. Sie versuchten uns zu beruhigen, meinten, dass sie ständig Wohnungen und Häuser kauften und verkauften und ganz genau wüssten, was sie täten. Und wir versuchten ihnen klar zu machen, dass sie keine Ahnung davon hätten, wie wichtig es für uns sei, dass das Ganze so schnell wie möglich über die Bühne ging. Einer der Makler zeigte uns eine Immobilie, die weniger als 50 000 Pfund kostete. Die Vorbesitzer waren gepfändet worden und hatten sich gerächt, indem sie alles kurz und klein geschlagen hatten. Sie waren nicht einmal davor zurückgeschreckt, die Wände mit Exkrementen zu beschmieren. Es war gruselig, aber immerhin ein eigenes Zuhause, wenn wir dort erst einmal ordentlich aufgeräumt hatten. Ans Aufräumen war ich gewohnt — die Wohnung, die mir zugewiesen worden war, als ich das erste Mal von zu Hause wegkam, war in einem fast noch schlimmeren Zustand gewesen. Wir waren dankbar, überhaupt etwas zu bekommen. Außerdem kannte ich mich gut mit Renovierungsarbeiten aus, da ich meinen Stiefvater viele Male dabei beobachtet hatte und stets alles hatte in Schuss halten müssen. Ich war nicht umsonst jahrelang so etwas wie sein Haussklave gewesen. Steves Dad, von Beruf Anstreicher und Dekorateur, versprach uns, dabei zu helfen, die Wohnung wieder bewohnbar zu machen. Als der Kaufvertrag endlich abgeschlossen war und wir die Schlüssel zu unserem neuen Zuhause besaßen, mussten wir mitten in der Nacht umziehen. Nur so konnten wir sicherstellen, dass Richard nicht plötzlich auftauchte und uns eine Szene machte. Auch wenn wir nicht sehr viel besaßen, würde es doch ein bis zwei Stunden dauern, bis wir alles in einen Lieferwagen verladen hätten. Wir durften einfach nicht riskieren, dass uns jemand sah und ihn
benachrichtigte. Ich hatte schon viel an Freunde und Nachbarn verschenkt, denen ich sagte, ich würde mir neue Sachen kaufen. Ich wollte nichts mitnehmen, was mit Richard zu tun hatte, nichts von dem, was er mir verkauft oder was er auch nur berührt hatte — schon gar nicht das Bett, mit dem ich so viele schreckliche Erinnerungen verband. Ich hatte sogar die Auslegware verschenkt, was kein Problem war, da die Wohnungen in dem Haus alle gleich geschnitten waren. In den letzten Tagen vor dem Umzug saßen wir in Gartenstühlen auf nackten Dielenbrettern und beteten, dass Richard nicht auftauchte und merkte, was los war. Um Mitternacht kam uns Steves Dad mit ein paar Freunden zur Hilfe, doch obwohl wir uns bemühten, leise zu sein, weckten wir mit unserem Umzug die Nachbarn. Überall im Haus gingen die Lichter an, und die Leute wollten wissen, warum wir ihnen nichts von unserem Umzug gesagt hätten. Ich konnte ihnen keine Erklärung dafür geben, was mir sehr schwer fiel, da einige wirklich sehr nett zu uns gewesen waren. Ich wollte nur noch weg, bevor Richard auftauchte und uns daran hinderte. Ich stopfte alles in den Lieferwagen und reagierte auf die Fragen neugieriger, beleidigter Nachbarn nur mit einem hilflosen Achselzucken. Emma hatten wir schon zu Steves Mum gebracht. Den Rest der Nacht wollten wir bei ihr verbringen, bevor wir im Morgengrauen zu unserem neuen Zuhause fahren würden. Am nächsten Tag brachen wir in aller Herrgottsfrühe mit dem Lieferwagen auf und nahmen Emma mit. Steves Dad kam ebenfalls mit, um uns beim Einzug zu helfen. Es tat gut, das Viertel endlich verlassen zu können, auch wenn das bedeutete, in ein Haus ziehen zu müssen, in dem es so stank, dass wir die ersten Tage gezwungen waren, draußen im Garten zu essen. Wir verbrachten jede wache Stunde mit Putzen und
Schrubben. Irgendwann war das Haus tatsächlich bewohnbar. Steve bewies unglaublich viel Mut, als er in eine Gegend zog, die er nicht kannte, und jede Menge Freunde und Verwandte im Stich ließ, nur um Emma und mir ein sicheres Zuhause zu bieten — ganz zu schweigen von der finanziellen Belastung, die das für ihn bedeutete. Noch dazu musste er mit meiner labilen Psyche zurechtkommen. Einerseits war ich unglaublich erleichtert, endlich meine Familie los zu sein. Andererseits blickte ich mich ständig um und rechnete jeden Moment damit, Richard zu sehen. Immer wenn das Telefon klingelte, dachte ich, er hätte unsere Nummer herausbekommen. Immer wenn ich einen Ford Cortina sah, gefror mir das Blut in den Adern, und ich wurde ganz panisch. Ich hatte ein kleines Kind, um das ich mich kümmern musste, war schwanger und brauchte dringend psychologische Hilfe. Besonders angenehm war es damals bestimmt nicht, mit mir zusammenzuleben. Obwohl ich unglaublich erleichtert war, Richard los zu sein, vermisste ich doch meine Brüder und Freunde. Ich hatte das Gefühl, die Jungs im Stich zu lassen. Ich wollte ihnen sagen, dass ich sie immer noch liebte und mich nicht vor ihnen versteckte. Ein paar Tage nach unserem Verschwinden rief ich ihre Klassenlehrerin an und erklärte ihr in groben Zügen, was passiert war. »Ich will nur mit ihnen reden«, bat ich sie, »damit sie wissen, dass ich sie nicht vergessen habe. Könnten Sie sie bitten, nach der Schule in Ihr Büro zu kommen? Ich werde dann gegen halb drei Uhr nachmittags noch mal anrufen. Bitte sagen Sie Ihnen aber nicht, warum Sie sie sprechen wollen.« Sie war sehr verständnisvoll und versprach, ihr Bestes zu tun. Ich wartete neben dem Telefon, bis es so
weit war, und wählte mit zitternden Fingern ihre Nummer. »Es tut mir so Leid, Jane«, sagte die Klassenlehrerin. »Weil ich ihnen den Grund nicht sagen durfte, dachten sie, sie stecken Schwierigkeiten, und sind gleich nach Schulschluss verschwunden.« Ich war sehr traurig, dass ich keinen Kontakt mit meinen Brüdern aufnehmen konnte. Ich musste oft an sie denken und fragte mich, wie sie wohl klar kamen. Zu ihren Geburtstagen kaufte ich Glückwunschkarten. Auch wenn ich sie nie abschickte, dachte ich den ganzen Tag an sie. Ich überlegte, wie wir an Tom, den Sensibelsten von allen dreien, herankommen könnten, um ihn zu uns zu holen. Steve hätte nichts dagegen gehabt, aber wir wussten einfach nicht, wie wir das anstellen sollten. Obwohl ich jetzt in physischer Hinsicht von Richard befreit war, litt ich seelisch immer noch sehr unter meiner Vergangenheit. Aber auch unter der ständigen Angst, dass er mich irgendwie ausfindig machen und eines Tages bei mir vor der Tür stehen könnte. Manchmal flüchtete ich mich in den Alkohol, um die Depressionen zu bekämpfen. Dann holte ich mir mehrere Flaschen Wein, nachdem ich Emma morgens in die Schule gebracht hatte. Oder ich ging monatelang nicht aus dem Haus, weil ich mich fürchtete, auch nur einen Schritt vor die Tür zu machen. Wenn man sein Leben lang wie eine Sklavin gehalten und von früh bis spät herumkommandiert und missbraucht worden ist, kann man sich nicht einfach über Nacht an ein ganz normales Leben gewöhnen. Ich hatte vorher nie eigene Entscheidungen treffen dürfen und wusste gar nicht, wie so etwas geht. Ich war wie ein Vogel, der in Gefangenschaft aufgewachsen ist und plötzlich freigelassen wird: Ich kam einfach nicht damit zurecht.
In der Gegenwart anderer schaffte ich es meist, wie eine fröhliche, sorglose junge Frau zu wirken. Aber ich wusste ganz genau, dass ich am Rande eines Abgrunds stand und dringend professionelle Hilfe benötigte. Ich sagte meiner Ärztin immer wieder, dass ich Hilfe bräuchte. Sie nahm das jedoch nicht sonderlich ernst. Aus ihrer Sicht war ich jemand, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und eigentlich ganz gut klar kam. Sie kannte meine Lebensgeschichte nicht, und die Sprechstunde war jedes Mal viel zu kurz, um ihr meine Situation näher auseinanderzusetzen. »Im Moment geht es mir gut«, sagte ich immer wieder, »aber ich weiß ganz genau, dass ich einen klaren Kopf kriegen muss, weil er mir sonst eines Tages explodiert. Ich habe schon genug Leute gesehen, die einen Nervenzusammenbruch hatten, weil sie ihre Probleme nicht rechtzeitig aufgearbeitet haben.« Meine Ärztin sah mich nur verständnislos an und überwies mich an eine psychologisch geschulte Beraterin. Ich machte einen Termin bei der Frau, sagte ihr aber, dass ich Emma mitbringen müsste, da ich niemanden hatte, der auf sie aufpasste. »Oh, das macht nichts«, versicherte sie mir. »Beim ersten Termin erledigen wir sowieso bloß Formalitäten und klären die Familienverhältnisse.« Es handelte sich um eine Krankenschwester, die gerade erst eine entsprechende Fortbildung gemacht hatte. Als ich anfing, ihr zu erzählen, was ich alles durchgemacht hatte, fiel ihr beinahe die Kinnlade herunter. Dann sah sie Emma an und fragte: »Das heißt, Sie glauben, er könnte der Vater sein?« In diesem Moment war die Sitzung für mich beendet. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wusste, was sie da tat. Aber ich wusste, dass mir nichts anderes übrig
blieb, als mich meinen Dämonen eines Tages ein für alle Mal zu stellen.
11. Kapitel Ein paar Monate, nachdem wir untergetaucht waren, hatte ich meine zweite Tochter Sophie zur Welt gebracht. Richard und Mum hatten nie erfahren, dass ich wieder schwanger gewesen war, und ich genoss es, dass sie nicht das Geringste von Sophies Existenz wussten und in keinerlei Verbindung zu ihr standen. Wir bemühten uns sehr um ein harmonisches Familienleben. Trotzdem spukten mir nach wie vor jede Menge Dämonen im Kopf herum, die drohten, mich mithilfe von Erinnerungen, widerstreitenden Gefühlen, Wut, Schuld und was sich sonst noch alles in mir aufgestaut hatte, aus der Bahn zu werfen. Doch solange ich noch ein kleines Baby zu versorgen hatte, war ich zu beschäftigt, um mich wirklich mit ihnen auseinander zu setzen. Auch Steve muss das, was ich ihm erzählt hatte, ständig im Kopf herumgegangen sein. Ich weiß, dass viele seiner Freunde genervt waren, weil er immer wieder davon anfing, wenn sie ausgehen und sich amüsieren wollten. Als ich am ersten Neujahrsmorgen in unserem neuen Haus die Treppe herunterkam, merkte ich, wie mich Steve und ein Freund, mit dem er am Vorabend auf Sauf tour gewesen war, verstohlen musterten. Dass es nicht am Restalkohol lag, wusste ich, denn betrunken waren sie auch vorher schon mal gewesen. »Was ist?«, fragte ich. »Nichts«, versicherte mir Steve, konnte mir dabei aber nicht in die Augen sehen.
Als das Telefon klingelte, wurde er kreidebleich. SeinDad war am Apparat und richtete uns aus, meine Mutter habe angerufen. Ich solle sie dringend zurückrufen, es sei ernst. »Was kann bloß passiert sein?«, wunderte ich mich. »Vielleicht will sie mir erzählen, dass Richard tot ist.« »Es tut mir wirklich Leid, Janey«, sagte Steve, dem nichts anderes übrig blieb, als mir alles zu beichten. »Wir haben gestern Abend ein bisschen zu viel getrunken, und da haben wir deine Mum angerufen und ihr mal gehörig die Meinung gesagt.« »Du hast ihr gesagt, dass du Bescheid weißt?« Ich traute meinen Ohren kaum. Mein schlimmster Albtraum war wahr geworden. Jetzt würde mein Stiefvater wissen, dass ich geredet und mich über sein Verbot hinweggesetzt hatte. »Du Vollidiot!« Der Anruf kam aus heiterem Himmel und muss meinen Stiefvater zu Tode erschreckt haben. Er hat mit Sicherheit nie damit gerechnet, dass ich es wagen würde, mich seinem Befehl zu widersetzen. Andere Freunde von Steve, die immer noch in unserem alten Viertel wohnten, berichteten, dass meine Mum gleich am nächsten Tag überall herumgelaufen war und behauptet hatte, ich würde Lügen über meinen Vater verbreiten (dass er nur mein Stiefvater war, konnten sie immer noch nicht zugeben). Auf diese Weise wollten sie dafür sorgen, dass alle den Mund hielten. »Janey setzt Gerüchte in die Welt«, sagte sie, »und wir wollen nicht, dass die hier die Runde machen.« Ich wusste, dass sich alle, die meine Mutter besucht hatte, hüten würden, meinen Stiefvater zu provozieren. Als meine Wut auf Steve so weit verraucht war, dass ich wieder normal reden konnte, rief ich Mum an. Beim Gedanken an das, was nun kam, schlug mir das Herz bis zum Hals.
»Ist das wahr?«, fragte sie. »Ist was wahr?« »Du weißt ganz genau, was ich meine. Ist das wahr?« »Ja.« »Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?« »Du hättest mir sowieso nicht geglaubt. Und wenn, hätte er uns beide umgebracht. Wo ist er gerade?« »Weg. Er ist völlig ausgeflippt und sucht jetzt den Anrufer.« »Er weiß ganz genau, wer angerufen hat«, sagte ich. »Er braucht bloß einen Vorwand, um irgendjemanden zusammenschlagen zu können. Lass dir bloß nie anmerken, dass du mir glaubst.« Noch Jahre danach hatte ich Albträume, in denen mir die Polizei mitteilte, sie hätte meine Mutter tot in einer Blutlache gefunden – und das nur, weil sie Richard gesagt hatte, dass sie mir glaubte. Kurz darauf zogen Richard und Mum ans andere Ende der Siedlung. Seit Steve die Wahrheit wusste, wollte er, dass ich zur Polizei ging und Richard anzeigte. Seine Eltern waren genau derselben Meinung. Doch ich musste ihnen sagen, dass ich es nie wagen würde, meinem Stiefvater in einem Gerichtssaal öffentlich der Dinge zu beschuldigen, die er mir angetan hatte. Die Konsequenzen wären einfach zu schrecklich. Sie bedrängten mich nicht weiter, weil sie mich nicht unnötig unter Druck setzen wollten. Trotzdem waren sie nach wie vor fest davon überzeugt. Und wenn ich ehrlich bin, wusste ich schon damals, dass sie Recht hatten. Angesichts meiner beiden Töchter fragte ich mich oft, was ich ihnen sagen sollte, wenn sie eines Tages zu mir kämen, weil jemand sie angegriffen hatte. Natürlich würde ich ihnen raten, zur Polizei zu gehen. Aber was, wenn sie dann bloß abwinken und sagen würden:»Aber du bist doch auch nie zur Polizei
gegangen!« – Was dann? Es ist furchtbar, genau zu wissen, dass man etwas tun muss, aber nicht den Mut dazu aufbringt. Man leidet jeden Tag darunter. Und zu leiden hatte ich auch so schon genug. Es fiel mir schwer, neue Freunde zu finden, und ich geriet immer mehr unter Druck. Darüber hinaus hatten wir große Geldprobleme. Steves Gehalt reichte gerade mal, um das Haus abzubezahlen, und dann waren da noch die hohen Benzinkosten für seine Fahrten zur Arbeit. Als Sophie zur Welt kam, mussten wir sie komplett mit Sachen vom Flohmarkt einkleiden bzw. mit dem, was ich von Freunden oder Steves Familie geschenkt bekam. Wir schafften es kaum, uns anständig zu ernähren. Zu Weihnachten konnten wir Emma nur sechs Casper-Videos schenken, die wir irgendwo für ein Pfund das Stück ergattert hatten. Sie freute sich so sehr darüber, dass es eines ihrer schönsten Weihnachten war. Aber wir litten sehr darunter. »Noch ein CasperVideo!«, rief sie begeistert, während sie eines nach dem anderen auspackte. Sobald Sophie die Nacht durchschlief, suchte ich mir eine Putzstelle, um etwas dazuzuverdienen. Ich arbeitete von sieben Uhr abends bis drei Uhr morgens, schrubbte Toiletten und was weiß ich noch alles, aber die zusätzliche Belastung war einfach zu viel für mich. Nach ein paar Wochen musste ich damit wieder aufhören. Was mich auch sehr störte, war, dass wir alle verschiedene Nachnamen hatten. Wenn wir schon eine Familie sein wollten, dann richtig. »Lass uns heiraten«, sagte ich eines Abends zu Steve, der erfreut zustimmte. »Die Mädchen können unsere Brautjungfern sein.« Je beschäftigter ich war und je mehr ich zu organisieren hatte, desto besser kam ich mit meinem
Leben zurecht. Die Hochzeit war eine willkommene Ablenkung von den dunklen Schatten, die auf meiner Seele lasteten, auch wenn wir nicht alle Leute einladen konnten, die uns wichtig waren. Doch danach war alles wieder genau wie vorher, und unsere Probleme waren auch noch dieselben. Als Sophie alt genug war, in eine Krabbelgruppe zu gehen, hatte ich wieder ein paar Stunden Zeit für mich, in denen ich nichts anderes tat, als dumpf vor mich hinzubrüten. Obwohl das Haus, in das wir gezogen waren, eigentlich recht nett war, erinnerte der Schnitt sehr an die Sozialbauten, in denen ich mit Richard hatte leben müssen. Wenn ich zu Hause war, hatte ich nie das Gefühl, ihm wirklich entkommen zu sein. Jede Kleinigkeit, etwa eine Bemerkung der Kinder oder ein Geruch, den ich aus meiner Kindheit kannte, konnte schlimme Erinnerungen oder sogar eine Panikattacke hervorrufen. Und schon kamen die Bilder zurück, die ich so gern verdrängt hätte. In den nächsten Jahren flüchtete ich mich immer häufiger in den Alkohol. Wenn ich Emma zur Schule und Sophie in den Kindergarten gebracht hatte, kaufte ich stets ein paar Flaschen Wein und eine neue Schachtel Paracetamol, und zwar jedes Mal in einem anderen Laden. Dann verbrachte ich den Vormittag damit, zu trinken und die Tabletten anzustarren. Irgendwann, so hoffte ich, würde ich genug Mut haben, die ganze Schachtel auf einmal zu schlucken und meinem Leben ein Ende zu setzen. Jeden Tag drückte ich mich wieder davor und betrank mich stattdessen. Ich stellte fest, dass mir der Alkohol half, zu weinen und Mitleid mit mir zu haben. Wenn ich stocknüchtern war, versuchte ich mir einzureden, dass es viele Leute gab, denen es wesentlich
schlechter ging als mir, und versuchte mich wieder zusammenzureißen. Doch sobald die Wirkung des Weines einsetzte, brach ich zusammen, ließ meinen Tränen freien Lauf und weinte um alles, was man mir je genommen hatte. Dann glaubte ich, allen – Steve und die Mädchen mit eingeschlossen – nur das Leben schwer zu machen und dass sie ohne mich besser dran wären. Ich erwog alle möglichen Selbstmordarten und ging mehr als einmal mit geschlossenen Augen über eine stark befahrene Straße. Doch ich schien einen Schutzengel zu haben, denn ich wurde nie überfahren und schaffte es auch nicht, mir an der richtigen Stelle die Pulsadern aufzuschneiden. Früher oder später würde es mir jedoch gelingen, dann hätten Emma und Sophie keine Mutter mehr. Eines Tages schnitt ich mir radikal die Haare ab. Als Steve morgens aus dem Haus ging, sah ich noch aus wie immer und trug lange Haare. Als er dann abends nach Hause kam, waren sie ab, und ich hatte kürzere Haare als er. »Wow«, sagte er nur und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Nein, das gefällt mir. Ja, das sieht toll aus. Nein, wirklich.« Es dauerte lange, bis er den Mut fand, mir zu sagen, wie sehr ihn diese Veränderung schockiert hatte. Die Sorge um meine seelische Verfassung lastete schwer auf ihm und den Freunden, die ich in unserer neuen Nachbarschaft gefunden hatte. Steves Eltern sind immer sehr nett zu mir gewesen. Trotzdem muss es ein furchtbarer Schock für sie gewesen sein, als ihr ältester Sohn eines Tages mit einem Mädchen aus solchen Verhältnissen ankam. Sie waren sicherlich erleichtert, als wir uns für ein halbes Jahr trennten. Doch nachdem Steve beschlossen hatte, dass er nur mich wollte, unterstützten sie uns, wo sie nur konnten, und behandelten mich wie ihre eigene Tochter.
Jetzt hatten sie unglaublich unter meinen Eltern zu leiden, die sie mitten in der Nacht mit Drohanrufen und anderen Erpressungsversuchen belästigten. Das meiste verheimlichten sie mir, um mich nicht weiter zu beunruhigen. Das waren keine Leute, die sich leicht ins Bockshorn jagen ließen. Trotzdem wurde ihr Leben stark davon beeinträchtigt. Das bestätigte uns nur in unserer Entscheidung, da nicht noch mehr Leute mit hineinzuziehen. Mit Sophies Geburt gab es schon drei Menschen, die darauf angewiesen waren, dass es mir besser ging, und die Anspruch auf ein normales Familienleben hatten. Nachdem ich ein Jahr lang auf der Warteliste gestanden hatte, bekam ich endlich einen Termin bei einer klinischen Psychiaterin in unserem Gesundheitszentrum. Das Gespräch war sehr angenehm. Sie erklärte mir, wo auf der Skala zwischen Depression und Euphorie ich mich gerade befand — und das war ziemlich weit unten. Ich flehte sie ständig an, mich in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Ich brauchte einfach eine Pause und wollte, dass sich jemand um mich kümmerte. »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie keine Familie hätten, dann ja. Aber wenn ich Sie da raushole, besteht die Gefahr, dass Sie sich erst recht aufgeben.« In den nächsten Wochen saß ich viele Male in ihrem Wartezimmer, hörte, wie die Leute weinten und schrien, weil man sie gegen ihren Willen einweisen wollte, und beneidete sie insgeheim darum. Sie verschrieb mir Tranquilizer, Antidepressiva, Vitamine und Schlaftabletten, von denen einige so stark waren, dass sie nur von einem Krankenhaus ausgegeben werden durften. Dann überwies sie mich an einen Psychologen.
»Sie sind ja ein Mann!«, rief ich entsetzt, als ich das erste Mal in seine Praxis kam. Er war nicht nur ein Mann, sondern sah gerade mal so alt aus wie ich, was mir sehr unangenehm war. »Ist das ein Problem für Sie?«, fragte er. »Ich denke schon. Ich will eine Frau. Woher soll ich wissen, ob Sie mit Ihren Kindern nicht genau dasselbe machen?« »Jetzt, wo Sie schon mal da sind — warum probieren Sie mich nicht einfach aus?«, schlug er vor. »Es könnte nämlich einige Zeit dauern, bis man Ihnen einen neuen Psychologen vorschlägt.« Ich folgte seinem Rat und merkte schnell, dass ich beim Richtigen gelandet war. Ich hatte kaum mit ihm geredet, da hatte ich auch schon das Gefühl, als würde eine Riesenlast von mir genommen. Ich erzählte ihm alles, was mir seit meinem vierten Lebensjahr zugestoßen war, und ersparte ihm nicht das kleinste Detail. Er hörte mir zu und verstand ganz genau, wie ich mich fühlte. Endlich schenkte mir jemand Aufmerksamkeit, ohne gleich wütend zu werden, schockiert zu sein oder mir zu sagen, ich solle mich zusammenreißen, zur Polizei gehen oder sonst irgendwas tun. Er hörte mir einfach nur zu. Während ich erzählte, füllten sich seine Augen immer wieder mit Tränen. »Ich bin hier diejenige, die eigentlich weinen sollte«, witzelte ich dann. Als ich ihm ein paar Gedichte zeigte, die ich in meinen schlimmsten Momenten verfasst hatte, fragte er mich, ob er sie zu Hause lesen dürfe. Sie in meiner Anwesenheit zu lesen, überfordere ihn ein wenig. Später erzählte er mir, dass das, was ich geschrieben hatte, typisch für Menschen wie mich sei. In den darauf folgenden Monaten half er mir unglaublich und schaffte es, dass ich mich endlich wieder etwas wohler in meiner Haut fühlte. Zum ersten
Mal begriff ich, dass ich nicht schuld war an dem, was mir zugestoßen war, und mein Selbstwertgefühl wuchs. Ich hatte immer noch nicht die Kraft, zur Polizei zu gehen und den langen, mühseligen Rechtsweg zu beschreiten, damit Richard hinter Gitter käme. Aber ein paar Dinge in meinem Kopf ergaben endlich einen Sinn. So langsam realisierte ich, dass es im Grunde nichts gab, wofür ich mich schuldig fühlen oder schämen musste. Ich war in dieser Geschichte eindeutig das Opfer. Der Psychologe empfahl mir auch eine ganze Reihe von Büchern. Mit ihrer Hilfe begriff ich, dass ich nicht die Einzige war und es noch andere gab, die genau dasselbe durchgemacht hatten. Nachdem man mir jahrelang eingetrichtert hatte, Lesen sei nur etwas für arrogante Schnösel, verschlang ich plötzlich ein Buch nach dem anderen. So als wäre mein Gehirn regelrecht ausgehungert nach Lektüre. Eines dieser Bücher war Sie nannten mich »Es« von Dave Pelzer. Es beeindruckte mich, wie der Autor, der in seiner Kindheit grausam missbraucht worden war, sein Leben wieder in den Griff bekommen hatte. Ich kannte viele, die es gelesen hatten und sagten, sie könnten sich einfach nicht vorstellen, dass seine Mutter das wirklich alles getan hätte. Aber ich glaubte ihm, weil auch ich durch die Hölle gegangen war. Ich konnte mir jede einzelne Szene, die er beschrieb, lebhaft vorstellen. »Sie müssen unbedingt dieses Buch lesen«, sagte ich bei nächster Gelegenheit zu meinem Psychologen. »Es muss eine Art Schule für solche Leute geben, denn sie sind alle gleich.« »Was für Leute?« Er griff nach dem Buch und sah mich verständnislos an. »Wie meinen Sie das?« »Leute, die Kindern solche Sachen antun. Sie müssen in ein- und dieselbe Lehre gegangen sein. Sie verhalten sich alle gleich. Alles, was seine Mutter getan
hat, hätte genauso gut mein Stiefvater tun können.« Ich brauchte ein Jahr Psychotherapie, bis ich ernsthaft erwog, zur Polizei zu gehen. Man kann ein Leben, das nur von Angst geprägt ist, nicht einfach so hinter sich lassen. Daher änderte ich meine Meinung mindestens hundertmal, bis ich die Kraft hatte zu tun, was ich schon längst hätte tun sollen. »Ich glaube, ich bin jetzt stabil genug, um zur Polizei zu gehen und Richard anzuzeigen«, sagte ich eines Tages zu Steve. Auf diesen Moment hatte er schon lange gewartet. Er war fest davon überzeugt, dass kein Mann, der sich so an einem Kind vergeht, ungeschoren davonkommen sollte. Seit Jahren wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass ich mein Schweigen bräche. Seine Eltern und er hatten mir immer wieder ins Gewissen geredet und gesagt: »Was, wenn er einer anderen dasselbe antut und du es hättest verhindern können?« Steve ging in meinem Auftrag direkt zum nächsten Polizeirevier. Dort erfuhr er, dass man die Strafanzeige auf dem Revier stellen muss, in dessen Zuständigkeitsbereich sich das Verbrechen zugetragen hat. Er fuhr umgehend dorthin. Wahrscheinlich wollte er die Dinge ins Rollen bringen, bevor ich es mir wieder anders überlegte. Er hatte die Situation genau richtig eingeschätzt, denn von nun an änderte ich stündlich meine Meinung. Doch die Sache war nicht mehr rückgängig zu machen. Im Grunde wusste ich, dass ich das Richtige tat, auch wenn ich manchmal vor lauter Angst halb wahnsinnig war. Als Erstes besuchte mich eine Polizeibeamtin namens Marie von der Abteilung Kinderschutz. Als wir die Formalitäten erledigten, bekam ich gleich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr so viel Mühe machte. Ich entschuldigte mich ununterbrochen und sagte, sie hätte bestimmt Besseres zu tun, zum Beispiel Kinder zu retten,
die akut in Gefahr waren, anstatt sich die Beschwerden einer Erwachsenen anzuhören, die sich über Dinge beklagte, die bereits Jahre zurücklagen. Ich bekomme immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich in den Nachrichten Kinder sehe, die in Afrika verhungern oder von Landminen zerfetzt werden, weil ich mich im Vergleich mit ihnen ja kaum beschweren darf. Und so sagte ich, dass es so schlimm auch wieder nicht gewesen wäre und viele Kinder bestimmt noch viel Schlimmeres durchmachten. Jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, muss ich für Marie weniger überzeugend geklungen haben. Marie fragte, ob mein Stiefvater jemals verhaftet worden sei. Daraufhin erklärte ich ihr, dass er an die hundertmal verhaftet worden sei, ohne je dafür ins Gefängnis zu müssen, weil er jeden Zeugen und jeden Kläger jedes Mal so lange eingeschüchtert hatte, bis derjenige seine Anzeige wieder zurückzog. Ich sah, dass sie langsam genervt war, und begriff, wie weit hergeholt die ganze Geschichte für sie klingen musste. »Schauen Sie sich seine Akte an«, sagte ich. »Dann können Sie sich selbst ein Bild machen.« Als sie ging, hatte Marie sicherlich vor, die ganze Sache ad acta zu legen und auf sich beruhen zu lassen. Sie hatte mir lang und breit erklärt, wie schwer es für die Staatsanwaltschaft wäre, einen Fall wie meinen tatsächlich vor Gericht zu bringen. Das überraschte mich nicht weiter, da ich annahm, nur eines von Millionen Kindern zu sein, denen in ihrer Kindheit Schlimmes zugestoßen war. Trotzdem war ich froh, mein Schweigen endlich gebrochen zu haben. Hauptsache, meine Beschwerden wären aktenkundig. Dann würde Richard beim nächsten Mal nicht mehr so glimpflich davonkommen. Zu meiner großen Überraschung kam Marie gleich am nächsten Tag wieder, nachdem sie sich Richards Akte ge-
nauer angesehen hatte. »Ich habe Ihnen was mitgebracht«, sagte sie und hielt ein zusammengerolltes Stück Papier hoch, das vollständig entrollt von ihrem Kopf bis zum Boden reichte. Jeder Zentimeter enthielt Informationen über meinen Stiefvater. »Und das sind nur die Verhaftungen der letzten sieben Jahre«, sagte sie. Ich war unglaublich erleichtert, dass man mir von offizieller Seite zu glauben schien. »Ich denke, wir sollten noch mal ganz von vorn anfangen, meinen Sie nicht auch?«, schlug Marie vor. Wir begannen meine Erinnerungen so zu strukturieren, dass sich daraus ein Fall ergab, den ihre Vorgesetzten vor Gericht bringen konnten. »Die Staatsanwaltschaft wird den Fall nur verfolgen, wenn eine realistische Chance besteht, ihn auch zu gewinnen«, warnte sie mich. Es fiel mir nicht weiter schwer, mich an die vielen schrecklichen Dinge zu erinnern, die man mir angetan hatte. Aber ich schaffte es kaum, sie in eine logische Reihenfolge zu bringen, da mir immer wieder etwas anderes einfiel. Je mehr ich Marie erzählte, desto verwirrter wurde sie. »Hat er Ihnen das angetan, als Sie fünf oder zehn Jahre alt waren?«, unterbrach sie mich immer wieder. »Dauerte das einen Monat oder ein ganzes Jahr? Wann ist das passiert? Wie oft? Wie lange?« Es passierte oft, dass ich ihr keine eindeutige Antwort darauf geben konnte. Nach jeder neuen Frage überschüttete ich sie mit weiteren Details. Maries Stift flog nur so über das Papier, während sie versuchte, die Informationen logisch zu ordnen. Als sie merkte, dass die Fülle an Fakten das normale Maß weit überstieg, zog sie noch eine Kollegin hinzu. In den meisten Fällen von Kindesmissbrauch dauert
der Missbrauch nur wenige Jahre. Entweder, weil das Kind gerettet wird oder weil der Täter das Interesse an seinem Opfer verliert, sobald es älter ist. Siebzehn Jahre systematischen Missbrauchs waren eine erstaunlich lange Zeit. Das machte unsere Aufgabe nicht gerade leichter, weil ich eine schreckliche Erinnerung nach der anderen ausgrub. Marie ging zum Jugendamt, um meine Akte einzusehen. Sie wollte wissen, ob man dort je bemerkt hatte, was bei uns zu Hause los war, und eventuell versucht hatte, etwas dagegen zu unternehmen. »Die haben die Akte verloren«, erklärte sie mir am Telefon. »Ich habe ihnen gesagt, dass sie noch eine Woche Zeit haben, sie zu finden, bevor meine Leute dort alles auf den Kopf stellen werden.« Ich hörte an ihrer Stimme, wie wütend sie war, und erfuhr, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal erlebte. Als nach einer Woche immer noch nichts aufgetaucht war, schickte sie ein ganzes Team von Polizisten hin, das jede Akte im ganzen Gebäude umdrehen musste. Es fand nichts. Irgendjemand hatte sämtliches Beweismaterial vernichtet. »Und was bedeutet das jetzt für mich?«, wollte ich wissen. »Das bedeutet, dass seine Verteidigung behaupten wird, dass er Sie gar nicht so misshandelt haben kann, weil das Jugendamt Ihre Familie regelmäßig kontrolliert hat.« »Ich kann mich nicht erinnern, je mit irgendjemandem gesprochen zu haben«, beharrte ich. »Und selbst wenn, hätte ich nie den Mut gehabt, die Wahrheit zu sagen.« Trotzdem fuhren Marie und ihre Kollegin damit fort, so viele Informationen wie möglich aus mir herauszuholen, bis ihre Finger vom vielen Schreiben
ganz wund waren. »Wir müssen jetzt aufhören«, sagte Marie irgendwann. »Wenn wir wirklich alles festhalten, was er Ihnen je angetan hat, werden wir nie fertig.« Sie verschwanden, um meine ganze Leidensgeschichte abtippen zu lassen. Als sie mit dem Manuskript zurückkamen, hatte sich Marie mit Schere und Klebstoff bewaffnet. »Wir müssen das alles noch mal von vorn durchgehen«, erklärte sie, »einzelne Teile ausschneiden und neu zusammenkleben. Nur so können wir da einen roten Faden reinbringen, damit die Anwälte wirklich durchblicken.« Ich tat, was ich konnte, hatte aber nach wie vor große Schwierigkeiten, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen. »Die Frau, die das getippt hat«, sagte Marie, während wir alles durchgingen, »arbeitet bereits seit zwanzig Jahren bei uns. Trotzdem musste sie ständig aus dem Zimmer rennen, weil sie beim Abtippen immer wieder in Tränen ausbrach.« »Und, kommt der Fall vor Gericht, was meinen Sie?«, fragte ich. »Wer weiß?« Marie zuckte die Achseln. »Aber wenn nicht, dann haben wir es wenigstens versucht.« Jetzt, wo ich beschlossen hatte, Richard vor Gericht zu bringen, wollte ich die Sache auch richtig durchziehen. Marie und ihre Kollegen setzten sich derart für mich ein, dass ich ihnen auf jede erdenkliche Weise behilflich sein wollte, damit sie nicht ihre kostbare Zeit verschwendeten. Wir gingen das Dokument wieder und wieder durch, bis wir nichts mehr zu verbessern hatten. Dann nahm Marie es mit und versuchte ihre Vorgesetzten davon zu überzeugen, den Fall vor Gericht zu bringen. Ein paar Tage später kam sie zurück und strahlte
wie ein Honigkuchenpferd. »Mein Chef meint, wir sollten Ihre Mutter ebenfalls anklagen«, verkündete sie triumphierend. »Wirklich?«, sagte ich überrascht. »Aber weswegen denn?« »Seiner Meinung nach wusste sie ganz genau, was los war. Wir könnten sie der Vernachlässigung beschuldigen.« Doch dann entschieden sie, dass es zu kompliziert wäre, Mum ebenfalls vor Gericht zu bringen. Sie wollten sich lieber ganz auf Richard konzentrieren. Ich war euphorisch. Für einen kurzen Moment war eine Riesenlast von mir genommen. Ich hatte das Gefühl, endlich doch noch so etwas wie ein Happy End erleben zu dürfen. Doch schon bald hatte mich die Realität wieder im Griff. Bis Richard vor Gericht käme, würde mehr als ein Jahr vergehen, in dem er ganz genau wüsste, dass wir hinter ihm her waren. Folglich würde er seine Anstrengungen verdoppeln, uns zu finden und zum Schweigen zu bringen. Die Polizei versicherte mir, dass er gleich nach der Verhaftung in Untersuchungshaft käme, sodass wir vor ihm sicher wären. Tatsächlich ließen sie ihn jedoch sofort wieder frei. »Sie haben mir doch versprochen, dass er in Haft bleibt!«, stöhnte ich, als sie mir davon berichteten. »Tut mir Leid, Janey«, sagte Marie. »Wegen der vielen Medikamente, die er einnehmen muss, wollten sie das Risiko nicht eingehen. Wenn in der U-Haft irgendetwas schief geht oder er dort krank wird, kann uns der ganze Fall entgleiten, ja er könnte sogar die Polizei anzeigen. Das wollten wir einfach nicht riskieren.« »Aber er wird nach mir suchen«, jammerte ich verzweifelt. »Wenn Sie mir nicht versprochen hätten,
dass er sofort weggesperrt wird, hätte ich die Sache nie ins Rollen gebracht.« »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Sie zu schützen«, versicherte sie mir, und ich wusste, dass sie es ernst meinte. Aber was sollten sie schon machen, wenn Richard oder einer meiner Brüder auf die Idee kämen, vor der Schule zu warten und Emma für ein paar Stunden zu entführen – nur um mir zu zeigen, dass sie die Macht dazu hatten? Was würden sie tun, wenn der nächtliche Telefonterror wieder anfing oder uns Zettel unter der Tür durchgeschoben würden? Was würden sie tun, wenn unser Haus mitten in der Nacht auf mysteriöse Weise Feuer fangen oder Steve am helllichten Tag mit seinem Wagen von der Straße gedrängt würde? Obwohl ich es nicht bereute, zur Polizei gegangen zu sein, wusste ich nicht, wie ich die kommenden Monate überstehen sollte. Ich sah mich ständig um und zuckte zusammen, sobald auch nur ein Auto vorbeifuhr, das Telefon klingelte oder Emma ein paar Minuten zu spät von der Schule nach Hause kam. Ich wagte mich kaum noch aus dem Haus, außer um die Kinder zur Schule zu bringen oder abzuholen. Und selbst das schaffte ich nicht immer und musste dann Steve oder einen Freund darum bitten. Mein Kopf drohte beinahe zu zerspringen. Jede noch so kleine Bitte, die Emma oder Sophie an mich hatten, fühlte sich an, als müsste ich den Mount Everest bezwingen. Wenn sie etwas zu trinken wollten, hatte ich oft kaum die Kraft, nach einem Becher zu suchen und ihnen etwas einzuschenken. Ich trug mich wieder mit Selbstmordgedanken und schrieb einen langen Brief, in dem ich verfügte, dass die Mädchen im Fall meines Todes bei Steve bleiben sollten. Mein schlimmster
Albtraum war, dass Emma zu meiner Mutter kommen würde. Außerdem wollte ich schwarz auf weiß festhalten, dass ich weder Richard noch Mum noch meine Brüder auf meiner Beerdigung haben wollte. Jeden Abend musste sich Steve nach einem anstrengenden Arbeitstag meine Selbstmordfantasien anhören, die ich ihm in halb angetrunkenem Zustand vorlallte. Irgendwann riss ihm der Geduldsfaden. »Wenn du dich unbedingt umbringen willst, kann ich dich auch nicht daran hindern«, sagte er eines Abends. »Mach's einfach und bring es hinter dich. Ich gehe jetzt ins Bett.« Er ging nach oben und ließ mich schluchzend im Wohnzimmer zurück. »Okay«, dachte ich, »wenn ich es schon tue, will ich vorher wenigstens noch ein paar Dinge in Ordnung bringen.« Bislang hatte ich mich noch nie dazu durchringen können, Emma zu sagen, dass Paul ihr Vater war. Steve vertrat ihn so ausgezeichnet, und sie liebte ihn so sehr, dass ich sie nicht unnötig verwirren wollte. Aber ich mochte nichts unerledigt lassen. Inzwischen war es fünf Jahre her, dass wir geflohen waren. Emma war acht und alt genug, um so etwas zu verstehen. Eines Tages bat ich sie nach der Schule, sich mit mir an den Küchentisch zu setzen, und erklärte ihr alles. Sie hörte mir aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen und reagierte ansonsten völlig ungerührt. Ich fand, ich müsste Kontakt zu Paul aufnehmen und ihn wieder mit seiner Tochter zusammenbringen, bevor ich mich umbrachte. Aber wenn ich mich jetzt bei ihm meldete, würde ich ihm auch erklären müssen, warum wir damals untergetaucht waren, und was sich während unseres Zusammenlebens alles hinter seinem Rücken
abgespielt hatte. Von den paar Leuten aus unserem alten Viertel, zu denen wir noch Kontakt hatten, wusste ich, dass er verlobt war und dass Emma einen Halbbruder hatte. Ich wollte, dass Paul sie wiedersah und seinem anderen Kind vorstellte, wusste aber nicht, wie ich ihn kontaktieren sollte. Eines Tages ging Steve einmal mit Freunden aus und lief dabei einem Typen über den Weg, mit dem er früher zur Schule gegangen war und der mit Paul Fußball gespielt hatte. Als er herausfand, dass die beiden immer noch zusammen spielten, bat er ihn, Paul unsere Nummer zu geben. Der Typ versprach es, und wir warteten auf Pauls Anruf. Als der nicht kam, wunderte ich mich, da ich angenommen hatte, Paul würde sich sofort melden. Irgendwann rief er dann doch an und sagte, der gemeinsame Freund hätte zunächst vergessen, ihm die Nummer zu geben. Wir trafen uns, und ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er war genauso angewidert und schockiert wie Steve damals. Trotzdem konnte ich richtig sehen, wie bei ihm der Groschen fiel, während er meine Worte verdaute. »Das heißt, immer wenn ich vorzeitig nach Hause kam und du die Kette vorgelegt hattest ...«, sagte er. Ich nickte, wobei mir beim Gedanken an das, wozu mich Richard bis zu unserer Flucht täglich gezwungen hatte, wieder ganz schlecht wurde. Paul hätte gar nicht verständnisvoller reagieren können. Er versprach, alles zu tun, um mich bei der Verhandlung zu unterstützen. Inzwischen besaß ich genügend Mut, um auch Kontakt zu meinem leiblichen Vater und meinem jüngeren Bruder Jimmy aufzunehmen. Dad war wieder glücklich verheiratet und besaß einen gut gehenden Malerbetrieb. Wir fingen an, ihn zu besuchen, mussten uns aber immer verstecken, wenn jemand anders aus der Familie auftauchte, damit nicht herauskam,
dass wir uns im Viertel aufhielten. Der Bruder meiner Mutter wohnte genau gegenüber. Dad war immer noch völlig ahnungslos und wusste nicht, in welcher Hölle ich gelebt hatte, nachdem er ausgezogen war. Als ich ihm ansatzweise davon erzählte, merkte ich, dass er es kaum ertrug, woraufhin ich ihm die meisten Details ersparte. Damals berichtete er mir, dass er die Frauen an der Essensausgabe gebeten hatte, ihm regelmäßig Bericht über mich zu erstatten. Selbst nachdem ich ihm alles erzählt hatte, schien er das wahre Ausmaß nicht wirklich zu begreifen. »Warum er dir das als Kind angetan hat, leuchtet mir ja noch ein«, sagte er eines Tages. »Aber wie konnte er dich weiterhin missbrauchen, als du schon längst erwachsen warst und bereits ein eigenes Kind hattest?« Ich fand nicht, dass es meine Aufgabe war, ihm das zu erklären. Vielleicht hätte ich ihm das Ganze lieber ersparen sollen. Als ich ihm sagte, was mir selbst Mum alles angetan hatte, schüttelte er nur ungläubig den Kopf. »Sie muss sich wahnsinnig verändert haben, Janey«, sagte er. »Eine solche Frau hätte ich niemals geheiratet.« Jimmy nach so vielen Jahren wieder zu sehen, war wirklich ein Schock für mich. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht. Unser Leben hätte nach unserer Trennung gar nicht unterschiedlicher verlaufen können. Jimmy war von einem netten Ehepaar adoptiert worden, das genügend Geld besaß, um ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er war ihr einziges Kind gewesen und schien in seinem bisherigen Leben keinerlei Probleme gehabt zu haben. Trotzdem beschwerte er sich und weigerte sich, erwachsen zu werden. Ich merkte, dass ich nicht viel Geduld mit ihm hatte, und auch Steves Verständnis hielt sich ziemlich in Grenzen.
Nachdem ich die Erinnerung an ihn so lange mit mir herumgetragen hatte, war ich einfach nur enttäuscht. Wahrscheinlich hatte ich gehofft, dass wir nach wie vor Seelenverwandte wären, so wie damals, als wir noch klein waren – was wir in meiner Fantasie stets geblieben waren. Vielleicht hatte Jimmy in seinen ersten Lebensjahren einen solchen Schaden genommen, dass weder Liebe noch Geborgenheit das je wieder gutmachen konnten. Oder aber es war einfach Veranlagung, und er konnte nichts dafür. Doch trotz unserer unterschiedlichen Erfahrungen liebe ich ihn noch immer. Den kleinen Jungen, den ich bei der Pflegefamilie hatte zurücklassen müssen und mit dem ich über das Muttermal auf meinem Arm in Gedanken so viel geredet hatte. Obwohl sich meine Lebenssituation in mancher Hinsicht verbessert hatte, ballten sich die dunklen Wolken der Depression, vor denen ich mich stets so gefürchtet hatte, immer dichter zusammen. Ich konnte nur noch daran denken, wie viel besser alle dran wären, wenn es mich nicht mehr gäbe, insbesondere Steve und die Mädchen. Ich war ständig deprimiert und kam mir völlig überflüssig vor. Ich kaufte weiterhin Alkohol und Tabletten, um mich auf etwas vorzubereiten, das ich eigentlich gar nicht wollte. Nachdem ich irgendwann einen ganzen Vormittag allein in der Küche gesessen, geschrien und geweint hatte, trank ich genug, um eine Hand voll starker Tranquilizer und Antidepressiva zu schlucken. Ich hatte bereits organisiert, dass jemand die Kinder von der Schule mitnahm und bei sich behielt, bis ich sie dort abholen käme. Bis dahin, so glaubte ich, würde ich allerdings längst tot sein. Wahrscheinlich habe ich einfach nicht genügend Tabletten genommen, da ich immer noch zur Haustür
gehen und aufmachen konnte, als jemand Sturm klingelte. »Was hast du nur getan?«, fragte mich meine Freundin, als sie sah, in welchem Zustand ich mich befand. Ich ließ mich auf den Küchenboden fallen, verkroch mich in eine Ecke und heulte mir die Augen aus. Ich wollte nur noch, dass endlich alles vorbei war. Ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Immer wenn ich aufstehen wollte, fiel ich wieder hin. Meine Freundin regte sich furchtbar auf. Sie schrie mich an und wusste ganz genau, was ich getan hatte, da ich so oft davon geredet hatte. Sie rief ihre Mutter an, eine Krankenschwester, die direkt gegenüber wohnte. Die beiden bestürmten mich mit Fragen: »Wie viele hast du genommen?« Ich versuchte zu antworten, aber meine Worte ergaben keinen Sinn mehr. Ich lallte nur noch, und mein ganzes Gesicht fühlte sich taub an. Meine Freundin rief ihren Mann an, der von der Arbeit zu mir raste und mich ins Krankenhaus fuhr. Dort kam ich mir vor wie ein Vollidiot. Ich dürfte nicht einmal annähernd genug Tabletten genommen haben, denn sie haben mir nicht mal den Magen ausgepumpt. Trotzdem ließen sie mich nicht nach Hause, bevor sie nicht ein paar Tests mit mir gemacht hatten. Ich wollte nur noch schlafen, so müde war ich, aber sie ließen mich einfach nicht. Bald darauf kam Steve und war alles andere als begeistert. »Mir reicht's«, sagte er. »Ich bring dich nach Hause.« Danach war mir klar, dass ich mein Leben dringend in den Griff bekommen musste, wenn ich meine Dämonen für immer loswerden und meinen Kindern eine anständige Mutter sein wollte. In dem Jahr vor dem Prozess bestand meine Aufgabe hauptsächlich darin, so viele Zeugen wie möglich auf-
zutreiben, die meine Aussagen bekräftigen würden. Ich brauchte Leute, die bestätigen konnten, wie gewalttätig und Furcht einflößend Richard war und wie leicht er ein Kind hatte einschüchtern und quälen können. Wenn ich schon den Mut dazu hatte, dachte ich naiv, würden bestimmt auch die anderen Familienmitglieder den Mund aufmachen. Schließlich hatte er sie über die Jahre derart oft zusammengeschlagen, angegriffen und eingeschüchtert, dass sie mir eigentlich dankbar sein sollten, wenn ich ein für alle Mal enthüllte, was für ein sadistischer, fauler und grausamer Widerling er in Wirklichkeit war. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie oft Mum und die Jungs gesagt hatten, dass wir ohne ihn besser dran wären. Mum hatte stets gehofft, dass ihr die Jungs als Erwachsene beistehen würden. Doch vielleicht musste ich diejenige sein, die das für sie tat. Leider hatte ich Richards Einfluss unterschätzt. Ein, zwei Freundinnen von früher willigten ein, für mich auszusagen. Aber nachdem sie mit ihren Männern oder Partnern geredet hatten, zogen sie diese Angebote gleich wieder zurück. Niemand schien dafür sein Leben, sein Zuhause und seine Familie aufs Spiel setzen zu wollen. So gesehen war es Richard wieder einmal gelungen, alle derart einzuschüchtern, dass sie es nicht wagten, sich gegen ihn zu wehren – nicht einmal, als sie endlich eine reelle Chance dazu hatten. Aber ich konnte sie nur allzu gut verstehen. Hatte er mich nicht auch dazu gebracht, zwanzig Jahre lang zu schweigen? Es gab andere, die ich bewusst nicht ansprach, weil ich wusste, wie verletzlich sie waren. Ich zweifelte nicht an ihrem Willen, mir zu helfen, aber Richard hätte mit Sicherheit versucht, sie umzubringen. Cheryl zum Beispiel, sie hatte mir auch so schon genug geholfen. Ich konnte sie unmöglich
bitten, meinetwegen noch mehr Risiken einzugehen. Da ich Hayley schon lange nicht mehr gesehen hatte, zögerte ich erst, Kontakt zu ihr aufzunehmen und sie um einen so großen Gefallen zu bitten. Aber dann wurde mir klar, dass ich jede Form von Unterstützung bitter nötig hatte. »Natürlich helfe ich dir«, sagte sie, nachdem ich sie darum gebeten hatte. Ich musste wieder daran denken, wie wir vor vielen Jahren »Blutsbrüder« geworden waren. »Du hättest mich schon viel früher fragen sollen«, fuhr sie fort. »Deine Mutter war auch schon da und hat meine gebeten, für sie auszusagen.« »Und wie hat deine Mum reagiert?« »Sie hat Nein gesagt, aber die Anwälte hören nicht auf, ihr die Bude einzurennen.« Es tat gut, zu hören, dass es noch Leute gab, die den Mut hatten, zu ihren Überzeugungen zu stehen. Je mehr ich hörte, desto mehr schwirrte mir der Kopf. Ich war schockiert, als viele ältere Nachbarn sagten, sie hätten schon immer gewusst, was da zwischen Richard und mir vorging. So als wäre das etwas Unvermeidliches gewesen, gegen das sie nicht das Geringste hätten unternehmen können. Vielleicht hätten sie wirklich nichts dagegen unternehmen können, aber sie hätten es wenigstens versuchen müssen. Oder hatten sie etwa angenommen, ich wäre mit dieser Art von Beziehung einverstanden gewesen? Konnte denn so etwas tatsächlich möglich sein? Onkel John, der mein Freund gewesen war, als er noch bei uns nebenan gewohnt hatte, willigte auch ein, für mich und gegen Richard auszusagen. »Wenn ich dir nicht helfe, obwohl ich die Möglichkeit dazu habe, würde mir dein Opa das nie verzeihen«, sagte er. Dafür sollte er noch teuer bezahlen müssen. Man brandmarkte ihn als Verräter, weil er sich auf meine Seite statt auf die des heiß
geliebten Patriarchen gestellt hatte. Ein anderer Onkel, der von Richard nachweislich zusammengeschlagen und erpresst worden war, rief mich an, um mir zu sagen, dass ihn Richard ebenfalls gebeten hätte, für ihn auszusagen, und dass er leider nicht anders könne. Ich fragte Marie dazu, die mir versicherte, er könne ebenso gut Nein sagen. Ich rief ihn zurück, um ihm auszurichten, dass er sich genauso gut weigern konnte. »Ach weißt du, Janey«, wand er sich, »Ich bin früher öfter mal mit ihm ein Bier trinken gegangen. Im Grunde ist er doch ganz in Ordnung.« Soweit ich weiß, ging Richard so gut wie nie ein Bier trinken. Bei dem einen Mal, als er mit seinem Onkel im Pub gewesen war, kam er stockbesoffen zurück, um anschließend auf dem Nachhauseweg Streit zu suchen, zu stürzen und das gesamte Geschirr in den Vorgarten zu werfen. Er muss gewusst haben, dass er keinen Alkohol vertrug, weshalb Mum und er ständig nur Tee tranken. »Wie kannst du nur so etwas über einen Mann sagen, der mich siebzehn Jahre lang so gut wie täglich vergewaltigt und missbraucht hat?«, fragte ich ihn. »Ach, hör schon auf, Janey«, mahnte mich mein Onkel, als wäre er so etwas wie ein Familienältester. »Das steht doch noch gar nicht so genau fest. Jeder gilt so lange als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist.« »Warum sollte ich mir so was ausdenken?«, schrie ich, außer mir vor Wut darüber, so etwas ausgerechnet aus dem Mund eines Mannes zu hören, der selbst unter Richard gelitten hatte. »Warum sollte ich mir siebzehn Jahre voller Angst und Schrecken einfach so ausdenken?« Am Ende knickten beinahe alle ein bis auf Hayley, Onkel John, Paul und Steve. Ich bat meinen leiblichen Vater, zur Gerichtsverhandlung zu
kommen, was er mir auch versprach. Steves Vater und zwei Freunde wollten ebenfalls hingehen, um mich moralisch zu unterstützen. Jetzt, wo ich mit so vielen Leuten offen über meine Vergangenheit gesprochen hatte, wurde mir so manches klarer, und es ging mir deutlich besser. Inzwischen hatte Steve ein wenig Karriere gemacht, so dass wir uns ein anderes Haus kaufen konnten, in einer besseren Gegend und noch weiter entfernt von dem Viertel, in dem meine Familie wohnte. Das Haus war ein Neubau und völlig anders als die Häuser meiner Kindheit. So gesehen hätte ich endlich das Gefühl haben können, meiner Vergangenheit entronnen zu sein. Trotzdem konnte ich mein Glück einfach nicht genießen, da ich bislang stets die Erfahrung gemacht hatte, jedes Glück irgendwann teuer bezahlen zu müssen, indem ich jemandem einen Gefallen tun musste oder eine Tracht Prügel bezog. Es fiel mir schwer zu begreifen, dass sich unser Leben wirklich zum Besseren verändert hatte. Während der erste Prozesstag näher und näher rückte, wurde ich immer nervöser. Was, wenn mir niemand glauben und man Richard freisprechen würde? Was, wenn die männlichen Geschworenen auch solche Sachen mit ihren Kindern anstellten? Was, wenn der Richter so etwas täte? Oder die Anwälte? Was, wenn ich mich für den Rest meines Lebens vor Richards Rache fürchten müsste? Was, wenn niemals anerkannt würde, was er mir alles angetan hatte? Was, wenn er mit seinen Erpressermethoden am Ende Erfolg haben würde? Wie sollte ich dann weiterleben?
12. Kapitel Am Morgen des Prozessbeginns brachten wir die Mädchen wie gewohnt zur Schule, bevor wir uns auf den Weg zum Gericht machten. Wir versuchten, uns ganz normal zu verhalten, aber ich glaube nicht, dass sie uns das abgenommen haben. Sie müssen die angespannte Atmosphäre bemerkt haben. Wir hatten uns mit Marie und ihren Kolleginnen von der Polizei auf dem Parkplatz hinter dem Gerichtsgebäude verabredet, damit man uns durch den Hintereingang hereinließ. »Sie werden am Haupteingang auf Sie warten und versuchen, Sie einzuschüchtern«, erklärte mir Marie. »Wir möchten verhindern, dass Sie ihnen begegnen.« Nachdem man uns schnell ins Gebäude gelassen hatte, nahm man uns mit nach oben in einen Raum, der für Zeugen reserviert war, die darauf warten, ihre Aussage zu machen. Es war uns nicht erlaubt, miteinander zu reden, obwohl Steve und ich noch wenige Minuten zuvor zusammen in einem Auto gesessen hatten. In dem Raum standen Sessel, in denen wir uns niederlassen sollten, bis wir aufgerufen würden. Von meinem Vater keine Spur. Stundenlang geschah gar nichts, während die Jury vereidigt wurde und andere Rituale stattfanden, von denen wir nichts mitbekamen. Wir hatten erwartet, dass Steve zuerst aufgerufen würde. Er freute sich schon darauf, endlich aussagen zu dürfen. Wegen Richard hatte er in den letzten Jahren viel durchmachen müssen, und er gefloss die Vorstellung, dass der doch noch seine gerechte Strafe bekäme. »Jane Elliott«, rief ein Gerichtsdiener. Mir blieb vor lauter Schreck beinahe das Herz stehen. Ich musste als Erste aussagen! Am liebsten hätte ich den Raum mit all
den freundlichen, mir wohlgesonnenen Gesichtern gar nicht verlassen. Ich wusste genau, dass Richard im Gerichtssaal auf mich warten würde und man versuchen würde, mich als Lügnerin hinzustellen. Außerdem würde man mich zwingen, über Dinge zu reden, die ich am liebsten verdrängt hätte. Ich verließ den Raum wie in Trance. Während ich den Gerichtssaal durchquerte, saßen einer meiner Onkel und mein Bruder Pete, den ich mehr oder weniger großgezogen hatte, mit verschränkten Armen an der Tür und warfen mir drohende Blicke zu. Sie versuchten mich einzuschüchtern und hofften, ich würde genauso klein beigeben wie alle anderen auch, die je versucht hatten, Richards Schreckensherrschaft zu beenden. Da sah ich zum ersten Mal, dass mein Bruder auch eine Tätowierung im Nacken hatte, genau wie sein Vater. »Sehen Sie nicht hin«, riet mir der Gerichtsdiener. »Sehen Sie einfach nicht hin. Die versuchen bloß, Sie einzuschüchtern.« Ich zitterte vor Angst. Trotzdem erwiderte ich ihren Blick, als ob mir das nichts das Geringste ausmachte. Ein Jahr lang hatte ich auf diesen Moment gewartet, von den zwanzig Jahren davor gar nicht zu reden. Jetzt würde ich ganz bestimmt nicht klein beigeben. Ich hatte keine Achtung mehr vor den Menschen, die eingeknickt waren und mir ihre Unterstützung verweigerten. Nach allem, was Richard auch ihnen getan hatte! Ich warf meinem Bruder und meinem Onkel einen trotzigen Blick zu und schüttelte nur ungläubig den Kopf, um ihnen zu zeigen, wie sehr ich sie verachtete. Schwer zu sagen, ob sie sich in diesem Moment schämten. Aber vielleicht waren sie es auch dermaßen gewöhnt, Richard zu gehorchen, dass sie ihr Verhalten für völlig korrekt und ganz normal hielten. Seine Masche, wonach »die
Familie immer zusammenhalten muss, egal was passiert«, schien nach wie vor äußerst erfolgreich zu sein. Während ich mich im Gerichtssaal befand, senkte ich den Kopf, sodass meine Haare nach vorn fielen und mich gegen alles, was sich nicht unmittelbar vor mir befand, abschirmten. Wenn es irgendwie ging, wollte ich Richards Gesicht nicht sehen müssen. Es sollte sich nicht wieder in mein Gedächtnis einbrennen. Ich hatte endlich gelernt, mit meinen Erinnerungen zu leben, und wollte in den frühen Morgenstunden nicht von neuen, schrecklichen Bildern heimgesucht werden. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass er sich außerhalb meines Blickfelds befand, solange ich mir meine Haare ins Gesicht fallen ließ. Ich wusste, dass zwei meiner Freundinnen auf der Empore saßen, konnte sie jedoch ebenfalls nicht sehen. Mein erster Tag im Zeugenstand war ziemlich hart, da mein Anwalt meine Kindheit bis ins letzte Detail mit mir durchging. Alles musste genauestens geschildert werden, damit der Richter oder die Jury nichts missverstehen konnten und alles korrekt protokolliert wurde. Da war es wenig hilfreich von »seinem Ding« zu sprechen, wenn ich eigentlich seinen Penis meinte. Jede sexuelle Handlung musste von mir peinlich genau beschrieben werden, und das in aller Öffentlichkeit. Obwohl ich mich dafür schämte, vor völlig Fremden über solche Dinge zu reden, wusste ich, dass mein Anwalt genau das Richtige tat. Der Polizei hatte er gesagt, dass er noch nie einen Fall vertreten hätte, den er so dringend gewinnen wollte, um seiner Mandantin zu Gerechtigkeit zu verhelfen und den Täter so lange wie möglich hinter Gitter zu bringen. Ich bemerkte, dass Richards Verteidigerin eine sehr gut aussehende junge Schwarze war. Sie
erinnerte mich an die Disco-Queen Grace Jones. Das würde Richard ganz und gar nicht gefallen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er ihr seine rassistischen Ansichten bereits kundgetan. Auch während ich aussagte, achtete ich stets darauf, dass mir die Haare ins Gesicht fielen und sein Gesicht ausblendeten. Auf diese Weise konnte ich auch meine Scham leichter überwinden. Ich wollte auf keinen Fall sehen, wie mich die Leute bemitleideten, falls mir die Stimme versagte. Ich hatte fest vor, laut und deutlich zu sprechen und meine Sache so gut wie möglich zu machen. Immer wieder ließ der Widerling ein rasselndes Husten hören, um mir klar zu machen, dass er trotz meines Versuchs, ihn auszublenden, nur wenige Meter von mir entfernt saß. Damit rief er mir die jahrelangen Drohungen wieder ins Gedächtnis, was mir alles zustoßen würde, wenn ich es wagen sollte, unser Geheimnis zu verraten. Er wollte wieder das kleine Mädchen aus mir machen, das er damals gegen die Wand gedrückt und mit einem Tranchiermesser bedroht hatte. Er muss gemerkt haben, welche Qualen ich im Zeugenstand litt. Aber er wusste auch, dass er sie jederzeit beenden konnte, indem er einfach alles gestand. Das war seine letzte Chance, etwas für das kleine Mädchen zu tun, für das er vor vielen Jahren die Verantwortung übernommen hatte. Aber er sagte kein Wort. Alles, was ich trotz meines Haarvorhangs sehen konnte, waren der Richter und ein Mann am Rande der Jury. Der Geschworene war um die vierzig und trug eine Lederjacke. Während ich meine Geschichte erzählte, schlug er mehrmals die Hände vors Gesicht und weinte. Ich achtete darauf, ihn ebenfalls auszublenden, und konzentrierte mich darauf, die Fragen zu beantworten. Es tat mir Leid, dass er meinetwegen derart die Fassung verlor.
Ich fürchtete mich vor dem Moment, in dem mein Anwalt alle Fragen gestellt haben würde und die Gegenseite an die Reihe käme. Irgendwann war es so weit, und Richards Anwältin stand auf, um mich mit meinen Aussagen zu konfrontieren und mir nachzuweisen, dass ich gelogen und alles bloß erfunden hätte. In allen Gerichtsfilmen, die ich je gesehen hatte, war es dem gegnerischen Anwalt stets gelungen, die Dinge völlig zu verdrehen und die Zeugen unglaubwürdig wirken zu lassen. Doch je weiter der Prozess voranschritt, desto leichter fiel es mir, die Fragen dieser Frau zu beantworten. Jede Frage erforderte nichts weiter als eine ehrliche Antwort, der sie anscheinend nichts mehr hinzuzufügen hatte. Ein- oder zweimal schien sie die Lage ihres Mandanten sogar noch zu verschlimmern, indem sie mich zu Vorfällen befragte, die mein Anwalt gar nicht erwähnt hatte, sodass Richard einen noch schlechteren Eindruck hinterließ. Irgendwann befragte sie mich zu seinen rassistischen Ansichten in Zusammenhang mit meiner Rolle als »PakiSklavin«. Da musste ich ihr erzählen, dass er Menschen anderer Rassen hasste und versucht hatte, uns dieses Gedankengut ebenfalls zu vermitteln. Sie fragte mich, ob ich eine Rassistin sei, was ich aufrichtig verneinen konnte. Als ich den Zeugenstand endlich verlassen durfte, merkte ich, dass der Boden von Papierfetzen übersät war, weil ich die ganze Zeit über nervös an einem Papiertaschentuch herumgezupft hatte. Nach dem zweiten Tag im Zeugenstand, als ich schon beinahe nicht mehr konnte, entschuldigte sich der Richter bei mir. »Es tut mir Leid, Jane«, sagte er, »aber ich fürchte, Sie müssen morgen noch mal kommen.« Ich ließ erschöpft
und verzweifelt den Kopf hängen. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er tröstend, »und es tut mir auch wirklich Leid. Aber wir wollen die Sache doch ein für alle Mal klären, nicht wahr?« Ab jenem Punkt war ich nicht mehr bereit aufzugeben. Mein Dad hatte sich immer noch nicht blicken lassen. Wahrscheinlich hätte er nicht verkraftet, bis ins Detail zu erfahren, was man seiner Tochter alles angetan hatte. Am nächsten Tag unterbrach der Richter die Sitzung und besprach sich mit meinem Anwalt. »Ich denke, wir sollten unterbrechen und den Fall anders angehen«, verkündete er. Mir sank der Mut. Was wollte er damit sagen? »Ich glaube nicht, dass es hier um einen Fall von Kindesmissbrauch geht«, fuhr er fort. Kein Kindesmissbrauch? Was hatten wir dann alle hier zu suchen? Hatte er denn kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt hatte? »Ich denke«, fuhr er fort, »hier geht es vielmehr um Kontrolle und Angst.« »Ja!«, dachte ich und schöpfte wieder neue Hoffnung. Zumindest das Gericht schien begriffen zu haben, worum es gegangen war, seit ich aus der Pflegefamilie gekommen war. Richard war nicht nur irgendein Pädophiler. Schließlich hatte er mich auch noch missbraucht, als ich schon längst eine junge Frau war. Er war wesentlich systematischer und kaltblütiger vorgegangen. Er hatte versucht, mein ganzes Leben zu zerstören, was ihm siebzehn Jahre lang bestens gelungen war, bevor ich es geschafft hatte, ihm endlich Einhalt zu gebieten. Doch im Grunde hat er mir die darauf folgenden Jahre auch noch ruiniert, nachdem er mich zu einem derart labilen, unglücklichen Menschen gemacht hat. Ich wurde von der Opferschutzbeauftragten, einer älteren Dame, zurück in den Gerichtssaal gebracht.
Bisher hatte man strikt darauf geachtet, mich durch eine andere Tür rein- und rauszuführen als meinen Stiefvater Richard. Irgendwie war stets dafür gesorgt worden, dass wir uns nicht begegneten, was mir eine gewisse Sicherheit gab. Hinter meinen langen Haaren versteckt hatte ich ihn bisher noch nicht ansehen und mich an sein Gesicht erinnern müssen. Doch als ich jetzt mit gesenktem Kopf erneut den Saal betrat, stand direkt vor mir ein Paar Schuhe, das mir den Weg versperrte. Ich blickte auf und in ein Gesicht, bei dessen Anblick mir vor lauter Angst ganz schlecht wurde. Die hellen Augen, die mich an eine Schlange erinnerten, und die roten Haare waren noch genau wie früher, auch wenn er etwas stämmiger wirkte, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Bringen Sie mich hier raus«, zischte ich, während ich spürte, wie mich sein Bände sprechender Blick durchbohrte. »Bringen Sie mich hier raus, bringen Sie mich hier raus.« »So beruhigen Sie sich doch, um Himmels willen«, sagte die Dame, die mein Gefühlsausbruch sichtlich irritierte. »Hier entlang!« Sie führte mich in einen angrenzenden Raum mit Glastür. Er folgte uns, trat aber nicht ein. Stattdessen blieb er vor der Glastür stehen und starrte mich einfach nur ausdruckslos an. »Rufen Sie die Polizei!«, schrie ich. »Rufen Sie die Polizei!« »Machen Sie sich nicht lächerlich.« So langsam verlor sie die Geduld. »Vor wem haben Sie denn solche Angst? Vor dem da?« Sie zeigte auf die unbewegliche Gestalt hinter der Scheibe mit den toten, starrenden Augen. »Holen Sie Hilfe!«, schrie ich, und sie begriff, dass ich mich nicht beruhigen würde. Sie lief zur Tür. »Gehen Sie nicht weg!«, schrie ich und sah mich schon allein mit ihm in einem Raum. Die Frau geriet in Panik, weil
ihr die Situation immer mehr entglitt. In diesem Moment trafen Marie und eine andere Polizeibeamtin ein. Als sie sahen, dass ich mich in eine Ecke geflüchtet hatte und mit dem Gesicht zur Wand stand wie ein kleines Kind, kamen sie mir sofort zur Hilfe. Sie waren außer sich vor Wut und brachten mich in Sicherheit. »Er wird mich umbringen«, stöhnte ich, als Marie ihren Arm um mich legte. »Ich bin so gut wie tot.« »Nein, das wird er nicht, Jane«, beruhigte sie mich. »Er kann Ihnen nichts mehr tun. Sie machen das großartig. Jetzt haben wir es bald geschafft.« Nachdem alles gesagt war, was ich zu sagen hatte, wollte ich in den Gerichtssaal, um Richards Zeugenaussage zu hören. Er hatte keine Skrupel gehabt, einfach dazusitzen und mir zuzuhören, während ich vor Scham fast verging und jedes noch so erniedrigende Detail preisgeben musste. So gesehen fand ich es nur fair, ebenfalls Zeugin seiner Erniedrigung zu werden. »Wir können Ihnen nicht verbieten zuzuhören«, sagte Marie, »halten das aber für keine sehr gute Idee. Man wird alle möglichen Lügen über Sie verbreiten, um Sie unglaubwürdig zu machen, und das werden Sie kaum ertragen können.« Ich folgte ihrem Rat. Ich hatte bereits einen ersten Vorgeschmack darauf bekommen, als die Anwältin meines Stiefvaters versucht hatte, mir bestimmte Dinge anzuhängen. Sie hatte mich beispielsweise als Drogensüchtige hinstellen wollen und behauptet, in meinen Wohnungen seien die Männer nur so ein- und ausgegangen – beides Anschuldigungen, die ich eindeutig von mir weisen konnte. Ich rauchte vielleicht ab und an mal einen Joint, aber wenn einem auch so schon genügend Dämonen im Kopf herumspuken, hat man kein Bedürfnis, mit härteren Drogen
herumzuexperimentieren. Man hatte außerdem versucht zu behaupten, dass sich das Sozialamt regelmäßig von meinem Wohlergehen überzeugt hätte. Aber meinem Anwalt war es gelungen, diese Behauptung als äußerst unglaubwürdig hinzustellen. Man hatte mir unterstellt, an Verfolgungswahn zu leiden. Außerdem wurde behauptet, ich sei jemand, der zwanghaft ständig im Mittelpunkt stehen müsse, aber das schien weder den Richter noch die Jury groß zu beeindrucken. Das Schlimmste, was sie sagten, war, dass ich, wenn überhaupt, nur von meinen Großvater missbraucht worden wäre und nicht von meinem Stiefvater. Während der nächsten Tage bekam ich in groben Zügen mit, was sich im Gerichtssaal abspielte. Steve, Paul, Onkel John und Hayley machten ihre Aussagen, während alle anderen Familienmitglieder schworen, dass Richard sie nie geschlagen hätte und ein liebevoller, umgänglicher Mann sei, einfach ein ganz normaler Kerl. Im Laufe des Prozesses hatte Pete irgendetwas an der Aussage meines Anwalts auszusetzen und sprang über die Absperrung, um ihm einen Fausthieb zu verpassen. Sein jahrelanges Training im Boxring und die Überzeugung, dass Gewalt auf alles eine Antwort ist, wirkten sich jetzt für meine Familie sehr nachteilig aus. Je mehr sie sich aufspielte, drohte und fluchte, desto mehr offenbarte sie ihr wahres Gesicht. Endlich war alles vorbei, und wir hatten gesagt, was zu sagen war. Jetzt musste die Jury entscheiden, was ihrer Ansicht nach der Wahrheit entsprach. Wenn sie mir glaubten, musste der Richter entscheiden, wie es weiterging. Ich hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde. Inzwischen konnte ich gar nicht mehr beurteilen, ob mein Fall besonders außergewöhnlich war oder nicht. An der Reaktion der
Zuhörer glaubte ich zu erkennen, dass er außergewöhnlich schockierend war. Andererseits behauptete meine Familie, dass so ein Verhalten ganz normal sei und nichts, was mir zugestoßen war, irgendeine Strafe rechtfertigte. Ich wusste selbst nicht mehr, was ich glauben sollte. Besonders traurig machte mich, dass meine Familie jetzt von Sophie erfahren hatte. Bisher hatte ich ihre Existenz vor ihr geheim halten können, aber jetzt wussten sie, dass ich zwei Töchter hatte, obwohl ich nie gewollt hatte, dass sie etwas über mein neues Leben erfuhren. Die Jury beriet sich lange, was Marie und mein Anwalt für ein gutes Zeichen hielten. Aber ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass alles endlich vorbei wäre. Ich wollte einfach wissen, wie es weiterging. Alle sagten, sie hätten ein gutes Gefühl und seien sich ziemlich sicher, dass wir den Fall gewinnen würden. Doch ich dachte nur: Was, wenn nicht? Was, wenn er nicht schuldig gesprochen wird und das Gerichtsgebäude als freier Mann verlassen darf? Wie werde ich mich dann fühlen? Und wenn er erst einmal frei ist — was lässt er sich dann noch alles einfallen, um sich dafür zu rächen, dass ich die Wahrheit gesagt habe? Steve und ich gingen in einen Pub in der Nähe des Gerichtsgebäudes, um das Ergebnis abzuwarten. Wir wollten mit den Menschen zusammen sein, die für mich ausgesagt hatten. Ich wollte, dass sie dabei waren, wenn das Urteil verkündet wurde, weil sie als Einzige zu mir gehalten hatten und sich nicht wie all die anderen zum Schweigen hatten bringen lassen. Am letzten Prozesstag war sogar noch mein Vater aufgetaucht. Es war einer von diesen großen Pubs, wo man den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen, Kaffee, Getränke und Snacks bestellen kann. Wir gingen schon frühmorgens dorthin, da wir das Ergebnis auf keinen
Fall verpassen wollten. Die Wartezeit zog sich hin wie Kaugummi. Immer wieder klingelte mein Handy, wobei mir jedes Mal fast das Herz stehen blieb. Aber es war jedes Mal nur Marie, die sagte, dass es noch keine Neuigkeiten gäbe, wir uns aber keine Sorgen zu machen bräuchten. Oder aber sie teilte uns mit, dass alle in die Mittagspause gegangen wären, bzw. gerade aus der Mittagspause zurückkämen. Stunde um Stunde kauten wir alles noch mal durch, was im Gerichtssaal passiert war, und versuchten rückblickend jeden Gesichtsausdruck der Geschworenen oder des Richters zu interpretieren. »Ich weiß genau, wie mich der Richter angesehen hat«, wiederholte Steves Dad immer wieder. »Als ob er sagen wollte: >Ich weiß Bescheid, Kumpel, ich weiß Bescheid.« Die Sache sah gut für uns aus — aber wie oft liest man von Fällen, bei denen das Urteil ganz anders ausfällt als erwartet? Woher wollte ich wissen, welchen Eindruck Richard auf die Jury gemacht hatte? Konnte er sie genauso eingeschüchtert haben wie alle anderen auch? Ich versuchte jeden negativen Gedanken zu verdrängen. Gegen drei Uhr klingelte das Telefon erneut und ließ mich zusammenzucken. »Ich bin's, Marie. — Das Urteil ist da.« »Ja?« Ich wagte kaum noch zu atmen. »Er wurde in allen Punkten schuldig gesprochen bis auf einen, dem er sich auf Grund eines Verfahrensfehlers entziehen konnte.« »Schuldig? Wie viel bekommt er?« »Das wird erst in den nächsten Wochen entschieden«, sagte sie. »Aber der Richter hat ihm klar gemacht, dass er richtig lange hinter Gitter muss.« »Heißt das, er bleibt bis zur endgültigen Urteilsverkündung auf freiem Fuß?« Ich bekam Magenschmerzen vor lauter Angst.
»Nein«, antwortete Marie lachend. »Er muss in Untersuchungshaft. Und es wird sehr lange dauern, bis er wieder rauskommt.«
13. Kapitel Als mich Marie ein paar Wochen später anrief, um mir zu sagen, dass Richard mit fünfzehn Jahren die Höchststrafe bekommen hatte, war ich für einen kurzen Moment enttäuscht. »Aber das ist doch toll, Jane«, versicherte mir Marie. »Ich weiß«, sagte ich, »es ist nur so, dass er siebzehn Jahre meines Lebens zerstört hat, und, na ja ...« Doch als ich mich schließlich damit abgefunden hatte, war ich sehr zufrieden und meinen Helfern äußerst dankbar. »Überleg doch mal, Mummy«, sagte Emma am Abend nach der endgültigen Urteilsverkündung. »Wir können in unseren eigenen Betten schlafen, während der böse Mann in einer kalten Zelle übernachten muss. Und das geschieht ihm ganz recht, für das, was er dir angetan hat.« Die Mädchen wussten, dass ich einen bösen Stiefvater hatte, der Sachen mit mir gemacht hatte, die man mit Kindern nicht machen darf. Das wahre Ausmaß kannten sie natürlich nicht. Emma weiß noch, wie mich der Widerling einmal gegen die Wand gedrückt und gewürgt hat. Aber ich glaube nicht, dass sie das sonderlich belastet, weil sie weiß, dass meine Geschichte gut ausgegangen ist. Nicht alle waren mit dem Ausgang des Verfahrens zufrieden. Meine Brüder verfolgten die Leute, die für mich ausgesagt hatten. Einer fuhr Hayley sogar mit dem Auto nach und zwang sie anzuhalten. Er rannte zu ihrem
Wagen und trat darauf ein, damit sie ausstieg und er sie angreifen konnte. Er brüllte sie an und schilderte ihr, wie er sie umbringen würde. Sie ging zur Polizei, aber der Rest der Familie gab ihm ein Alibi und behauptete, zum Zeitpunkt des Vorfalls mit ihm zusammen gewesen zu sein. Außerdem bekam ihre Familie nachts ständig Drohanrufe. Auch mein Onkel John bekam Drohanrufe. Er wurde sogar auf der Beerdigung eines Familienmitglieds direkt neben dem Grab angegriffen – als Strafe dafür, dass er »die Familie verraten« hatte. Sein Auto wurde mit Obszönitäten beschmiert. Das geschah auf der Beerdigung seines Bruders, des Onkels, der versucht hatte, mich beim Betreten des Gerichtssaals einzuschüchtern. Er war kurz nach dem Prozess an einem in unserer Familie ziemlich verbreiteten Nierenversagen gestorben. Die Auseinandersetzung am Grab eskalierte, als Johns Frau ihm zu Hilfe eilte und dafür ins Gesicht geschlagen wurde. Paul wurden Fenster seines Hauses sowie die Autofenster eingeschlagen, und Steves Eltern bekamen Morddrohungen. Zettel wurden unter ihrer Tür durchgeschoben, und sie erhielten Anrufe, in denen sie sich anhören mussten, was man ihnen alles noch antun würde. Vor ihrem Haus parkten irgendwelche Leute, die mit ihren Scheinwerfern in die Wohnung leuchteten und ununterbrochen auf die Hupe drückten. Die Polizei versorgte uns, Steves Eltern und Hayleys Familie mit Alarmanlagen und Handys, die wir stets bei uns tragen sollen und für den Rest unseres Lebens behalten dürfen. Paul ist inzwischen Polizist geworden und hat einen zweiten Sohn bekommen. Ich bin sehr stolz darauf, dass er wirklich etwas aus seinem Leben macht. Als Richard in Haft kam, hoffte ich lange, dass die anderen zur Besinnung kommen und merken würden,
dass ich ihnen einen Gefallen getan hatte, sie vor dem Mann zu retten, der sie mehr als zwanzig Jahre lang gequält hatte. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie so lange brauchten, um das zu begreifen. Wahrscheinlich hatten sie immer noch Angst vor ihm, obwohl er im Gefängnis saß. Ein oder zwei Monate vor dem Urteil hatten Steves Eltern einen Anruf von meinem Bruder Tom erhalten. »Bitte nicht auflegen«, hatte er damals gesagt. »Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun und möchte unbedingt mit Janey sprechen. Ich kann einfach nicht glauben, dass das wirklich passiert ist.« »Gib uns deine Nummer«, sagten sie. »Wir werden sie Janey geben, damit sie dich zurückrufen kann, wenn sie will.« Ich hatte schon seit Jahren versucht, Kontakt zu Tom aufzunehmen, weil ich Angst hatte, er könnte Richards nächstes Opfer werden – jetzt, wo er mich nicht mehr herumschubsen konnte. Er und Dan waren immer meine Lieblingsgeschwister gewesen. Als er noch ein Baby war und ich versucht hatte, ihn zum Einschlafen zu bringen, hatte ich immer so fest an seinen Ohrläppchen gesaugt, dass ich sie richtig in die Länge gezogen und ganz labberig gemacht hatte. Ihn hätte ich am liebsten mitgenommen, als wir damals aus dem Viertel geflohen waren. Von Steves Freunden erfuhr ich, dass man ihn übel zusammengeschlagen und aus dem Haus geworfen hatte. Er hatte eine Zeit lang auf der Straße gelebt und war mit Drogen in Berührung gekommen. Ich besaß noch ein altes Wertkartenhandy, das sich nicht zurückverfolgen ließ, also gab ich ihm diese Nummer. »Lebst du denn nicht mehr zu Hause?«, fragte ich, als er mich anrief. »Nein«, sagte er. »Das mit dem Prozess habe ich
gerade erst erfahren, als ich Dan auf dem Markt getroffen habe.« »Und?« »Ich habe mir zwei blaue Augen eingefangen.« »Wieso denn das?« »Na ja, Dan hat gesagt, du wärst gar nicht unsere richtige Schwester, aber das bist du doch, oder?« »Nein, ich bin nur deine Halbschwester.« »Oh.« Er schwieg eine Weile. »Ich hab ihn auf jeden Fall einen Lügner genannt, und dann hat er Sachen über dich erzählt, von denen ich nichts wissen wollte. Ich hab ihm gesagt, dass wir uns sehr gern mögen.« »Hast du immer noch so lange, labbrige Ohrläppchen?« »Ja.« Er lachte bei der Erinnerung daran. Ich war sehr froh, wieder Kontakt zu ihm zu haben. Nach der Urteilsverkündung riefen die Lokalzeitungen bei mir an, weil sie darüber berichten wollten. Ich willigte sofort ein. Ich wusste noch genau, wie sehr es mir geholfen hatte, Sie nannten mich »Es« zu lesen. Wenn nur ein Kind den Artikel über mich lesen und begreifen würde, dass es etwas gegen den Missbrauch unternehmen konnte, hätte es sich schon gelohnt. Eine Journalistin kam vorbei, um mich zu interviewen. Als sie unser Haus betrat, klingelte das Kartenhandy, mit dem ich mit Tom telefoniert hatte. Irgendwie war der Rest der Familie an die Nummer gekommen, und jetzt schrien mich alle durch den Hörer an. Sie beschuldigten mich, die Familie zerstört und ihnen jemanden, den sie liebten, weggenommen zu haben. Sie drohten, mir genau dasselbe anzutun. Und dann sagten sie, dass ich es fertig gebracht hätte, sie nach langer Zeit wieder miteinander zu versöhnen. Familienmitglieder, die schon seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hätten, hätten
sich plötzlich gegen einen gemeinsamen Feind zusammengetan: gegen mich. »Wir wissen, wo Steve arbeitet«, schrie einer. »Wir werden ihn verdammt noch mal umbringen. Wir wissen, wo seine Eltern wohnen. Sie werden bei lebendigem Leib in ihren Betten verbrennen.« Ermutigt durch das Urteil, revanchierte ich mich, so gut ich konnte. Ich schrie, dass sie dankbar dafür sein müssten, dass Richard endlich hinter Schloss und Riegel sei und ihnen nicht mehr wehtun könne, aber davon wollten sie nichts wissen. Eine Familie scheint um jeden Preis zusammenhalten zu müssen, auch wenn nachweislich ein Monster dazugehört. Eine mir völlig unbekannte Frau ergriff das Wort und verfluchte mich, weil ich ihren Kindern den Großvater genommen hätte. Sie war mit einem meiner Brüder verheiratet und muss, als ich von zu Hause fortging, selbst noch ein Kind gewesen sein. »Ich mach dich fertig!«, kreischte sie. »Weißt du eigentlich, wer ich bin? Ich bin ziemlich kräftig. Außerdem wissen wir, wo du wohnst.« »Wenn ihr wisst, wo ich wohne, dann kommt mich doch holen! Und vergesst nicht, dass ich auch weiß, wo ihr wohnt!«, sagte ich und nannte die Straße. Danach schilderte mir ein anderer Typ, der mir ebenfalls nicht bekannt war, wie er mich aufschlitzen würde. »Du kennst mich doch nicht einmal!«, rief ich. »Wir wissen, wo dein Mann arbeitet, also sag ihm, er soll die Bremsen seines Autos immer schön kontrollieren.« Dann kam die Schwester von dem Widerling an den Apparat und versuchte mir weiszumachen, die Jungs seien ganz verzweifelt, weil ich ihnen den Vater genommen habe. »Du findest also, ich hätte ihn ungeschoren
davonkommen lassen sollen?«, fragte ich. »Ich sage nur, dass ich gerade mit deinem Bruder um den Block rennen musste, weil man ihn wegen dir mit einem Messer bedroht hat.« »Genau das ist es«, dachte ich, »genau das will die Bande doch. Die sind doch nur glücklich, wenn es Randale gibt. Ein Tag ohne eine anständige Schlägerei ist für sie ein verlorener Tag.« Im Hintergrund konnte ich hören, wie meine Mutter alle anderen überschrie: »Was ist denn mit der los? Vermisst sie seinen Schwanz?« Ich legte auf. Mehr hatte ich ihnen wirklich nicht zu sagen. Die arme kleine Journalistin konnte gar nicht schnell genug das Weite suchen. Jetzt, wo alles vorbei ist, können Steve und ich uns darauf konzentrieren, unsere Mädchen in einer ganz normalen Familie aufwachsen zu lassen. Ich habe das Gefühl, alles getan zu haben, was in meiner Macht stand. Heute bin ich Mrs. Elliott, eine ganz normale Ehefrau und Mutter, die ihre Kinder zur Schule bringt und wieder abholt, den Haushalt macht und den Hund ausführt. Aber dort, wo eigentlich meine Vergangenheit sein sollte, wird immer ein riesiges Loch klaffen. Einige alte Schulfreundinnen hatten übers Internet Kontakt zu mir aufgenommen und mich zu einem Klassentreffen in einem Pub neben der alten Schule eingeladen. Ich hätte sie gern gesehen, aber es fiel mir schwer, in das Viertel zurückzukehren, in dem meine Familie nach wie vor lebte. Am Ende nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und ging doch hin. Richard saß schließlich hinter Schloss und Riegel, und mit meinen Brüdern würde ich schon fertig werden. Ich habe ihnen schließlich die Windeln gewechselt, verdammt noch mal! »Wahnsinn!«, kreischten die Mädchen, als sie mich
auf dem Klassentreffen sahen. »Die Verrückte ist wieder da!« Ich lachte fröhlich, als ich all die bekannten Gesichter sah. »Du hast immer noch dieselbe röhrende Lache«, riefen sie. Während wir uns unterhielten, neckten sie mich wegen meines Akzents. »Du sprichst sogar die >Ts< in der Wortmitte richtig aus«, lachten sie. »Du bist richtig vornehm geworden.« »Das ist ja komisch«, witzelte ich, »denn da, wo ich jetzt wohne, hält man mich für absoluten Durchschnitt.« Als ich endlich beschloss, dieses Buch zu schreiben, und das auch den Kindern sagte, wollte Emma wissen, warum ich nicht unsere richtigen Namen verwendete. »Na ja«, sagte ich und holte tief Luft. »Es wird Leute in deiner Schule geben, die lesen werden, was man mir als Kind alles angetan hat, und dich dann damit aufziehen. Und genau das will ich vermeiden.« »Denen würde ich einfach sagen, sie sollen die Klappe halten«, sagte sie leicht erstaunt. »Und dann würde ich ihnen noch sagen, dass meine Mum verdammt mutig war und ich sehr stolz auf sie bin.«
14. Kapitel Sobald Richard hinter Gittern war, traute ich mich wieder eher in das Viertel zurück, in dem meine Familie lebte, um eine Freundin zu besuchen oder dort auszugehen. Aber ich fuhr nie allein dorthin und betonte stets, dass meine Familie nicht erfahren dürfe, dass ich käme. Mit der Zeit begann ich, mich sicherer zu fühlen. Trotzdem achtete ich strikt darauf, den Bogen nicht zu überspannen. Obwohl bei dem Klassentreffen alles gut
gegangen war, wollte ich zu einem zweiten nicht mehr gehen. So eine öffentliche Veranstaltung hätte bedeutet, das Schicksal herauszufordern. Doch einige Freunde, die mich über das Internet ausfindig gemacht hatten, bombardierten mich mit EMails und beschworen mich hinzugehen. Die Mädels sagten, dass alle kommen und mich gerne sehen würden. Und die Jungs meinten, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würden schon auf mich aufpassen. Es war schön, zu spüren, wie gern mich alle wiedersehen wollten. Und da Steve sowieso für ein paar Tage auf Geschäftsreise sein sollte, beschloss ich meinen ganzen Mut zusammenzunehmen und hinzugehen. Ich reservierte ein Zugticket und nahm mir ein Taxi bis zu Tanya. Wir wollten uns alle in einem Pub treffen und anschließend noch in einen Club gehen. Es war ein schöner Sommertag, und obwohl es mich nervös machte, wieder in dem alten Viertel zu sein, freute ich mich auf einen lustigen Abend. Als wir vor dem Pub aus dem Wagen stiegen, sah ich bereits eine Gruppe von Freunden an einem der Tische sitzen. Gleichzeitig entdeckte ich mehrere Cousinen, die mit Getränken aus dem Lokal kamen. Eine davon war Tracey, das Mädchen, mit dem ich mich damals auf Richards Befehl hin so hatte prügeln müssen. »Janey!«, brüllte der Tisch mit meinen alten Schulfreunden aus voller Kehle. »Hier sind wir!« Ich brauchte nur einen Blick auf die Gesichter meiner Cousinen zu werfen und wusste, dass ich in Gefahr war. Mir fiel der Anruf wieder ein, bei dem mich alle verflucht und mir gesagt hatten, dass ich es geschafft hätte, die ganze Familie gegen mich aufzubringen. Da wusste ich, dass ich einen folgenschweren Fehler gemacht hatte. Sie griffen schon nach ihren Handys. Ich ging direkt auf den Tisch mit meinen Freunden zu
und sprach mit Al, einem kräftigen Kerl, der als Türsteher in einem Club arbeitet. »Du musst mich hier sofort rausbringen, Al. Und ruf die Polizei.« »Was?«, sagte er verwirrt. Gleich neben dem Pub lag ein Polizeirevier. Es hätte nur wenige Sekunden gedauert, eine Streife kommen zu lassen. »Beruhige dich, Janey«, sagte Al. »Du bist hier ziemlich sicher.« Ich merkte, dass ich ihn nicht überzeugen konnte, und wusste zugleich, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Ich rannte in den Pub und war schon völlig außer Atem vor lauter Angst. Wenn ich es bis in die Küche schaffte, konnte ich vielleicht durch eine Hintertür entkommen. »Tut mir Leid, aber da können Sie nicht rein, das ist die Küche.« Ein Mädchen versperrte mir den Weg. »Sie müssen mir helfen«, schrie ich. »Holen Sie mich hier raus und rufen Sie die Polizei. Die werden mich umbringen!« Sie muss gedacht haben, ich sei nicht ganz bei Sinnen. Ich sah gleich, dass ich keine Chance hatte, durch diese Tür zu kommen. Tanya und Al waren mir nachgeeilt und schienen so langsam den Ernst der Lage zu begreifen. Gleichzeitig versuchten sie mich zu beruhigen. Das Mädchen brachte uns in einen anderen Raum und versprach, mit dem Geschäftsführer zu reden. »Schließen Sie uns ein und holen Sie die Polizei«, schrie ich, aber je hysterischer ich wurde, desto weniger ernst schien sie mich zu nehmen. Ich hätte die Polizei auch selbst gerufen, aber meine Hände zitterten viel zu sehr, um ein Telefon zu halten. Ein paar Minuten später war das Mädchen wieder da. »Der Geschäftsführer sagt, Sie sollen das Lokal verlassen. Sie können durch die Hintertür raus auf die
Gasse und von dort zurück auf die Straße.« »Ich kann nicht auf die Straße, weil sie dort auf mich warten«, brüllte ich, aber sie schob uns bereits nach draußen in die Gasse mit den Mülltonnen. Von dort aus konnte ich das Polizeirevier sehen. In der Kirche daneben fand gerade eine Hochzeit statt. Alles sah völlig harmlos aus und war doch so weit weg. »Lassen Sie mich eine Sekunde hier warten«, flehte ich sie an. »Ich fürchte, der Geschäftsführer will, dass ich die Tür zumache«, sagte das Mädchen, während ich sie schon wie in Zeitlupe zufallen sah. »Neeeiiin!«, schrie ich, als sie ins Schloss fiel und ich das Quietschen von Reifen auf der Straße hörte. »Oh, Gott, sie sind da«, kreischte Tanya, während ein Trupp von sechs Männern auf uns zukam. Der Erste hatte einen Besenstiel in der Hand. Sie kamen mir alle bekannt vor, aber in der Aufregung konnte ich sie nicht auseinander halten. Später sagte man mir, der Mann mit dem Besenstiel sei mein Bruder Tom gewesen — derjenige, der behauptet hatte, dass wir uns so gern hätten. In meinen Augen war er immer noch ein kleiner Junge, genau wie die anderen. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass sich meine Brüder in einen solchen Mob verwandelt hatten. Sie sahen alle genau aus wie Richard, während sie in die winzige Gasse drängten. Al ging voraus und streckte abwehrend die Arme aus, um ihnen den Weg zu versperren. Doch sie stießen ihn einfach zu Boden und kamen immer näher, trampelten achtlos über seinen wehrlosen Körper hinweg. Die Ersten hoben mich an den Armen hoch und warfen mich zu Boden. Tanya, die auf die Straße hinausrannte, um Hilfe zu holen, hörte, wie mein Schädel auf den Asphalt krachte. Danach nahm ich alles nur noch ganz verschwommen wahr, bis ich
schließlich das Bewusstsein verlor. Ein Mann — wie ich später erfuhr, war es Tom gewesen — trat auf meinen Kopf ein und prügelte mit dem Besenstiel so fest auf mich ein, wie er nur konnte. Genau wie damals, als wir noch Kinder waren. Während er mich schlug und trat, brüllte er dieselben Obszönitäten, die ich so oft aus Richards Mund gehört hatte. Ein weiterer Mann trat von der anderen Seite auf mich ein. Ich hörte es in meinem Schädel knacken. Andere drängten nach und traten mit aller Kraft gegen meinen Brustkorb und meine Beine. Durch ihre Beine konnte ich sehen, wie zwei weitere über den am Boden liegenden Al herfielen. »Vorsicht, ihr bringt sie noch um!«, hörte ich einen der Cousins schreien, woraufhin sie wild aufeinander losgingen, da einige versuchten, die Angreifer von mir wegzuzerren. Doch die traten einfach weiter auf mich ein. Ein Mann, mit dem ich zur Schule gegangen war, hatte auf Tanyas Hilferufe reagiert. Doch nachdem er einen Blick in die Gasse geworfen hatte, änderte er seine Meinung wieder. »Mist!«, brüllte er. »Die sind ja völlig durchgeknallt. Mit denen lass ich mich nicht ein.« Ein anderer Junge aus der Schule versuchte sich einzumischen, wurde aber innerhalb von wenigen Sekunden windelweich geprügelt. Bis die Polizei kam, war meine Familie mit mir fertig und bereits auf und davon. Ich lag am Boden und konnte weder etwas sehen noch hören. Ich wusste, dass ich mir in die Hosen gemacht hatte. Irgendjemand hatte die Tür zum Pub geöffnet, und man zog mich nach drinnen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu schreien und zu weinen, weil ich solche Angst hatte, wieder auf die Straße gesetzt zu werden, wo meine Familie mit Sicherheit auf mich wartete. Das Mädchen, das mich hinaus auf die Gasse gesperrt hatte, war beinahe genauso hysterisch wie ich.
Aber es fiel mir schwer, Mitleid mit ihr zu haben, da ich sie vergeblich um Hilfe angefleht hatte. Stattdessen machte ich mir Sorgen, was mich da draußen erwartete. »Janey«, versuchte mir jemand Mut zu machen, »die halbe Polizeiwache ist inzwischen ausgerückt.« Schließlich schafften sie es, mich so weit zu beruhigen, dass sie mich in den bereits wartenden Krankenwagen verladen konnten. Aber das Erste, was ich sah, war eine meiner Cousinen, die mit ihrem Handy zugange war, um den Geflohenen Bericht zu erstatten. Und vor dem Polizeirevier entdeckte ich ein verlassenes Auto, das von mehreren Beamten umringt war. Später konnte ich die einzelnen Puzzleteile zusammenfügen. Meine Angreifer waren so schnell herbeigeeilt, dass sie die Verkehrsinsel vor dem Polizeirevier einfach überfahren hatten. Die Polizei war ausgerückt, um sie über ihr unverantwortliches Fahrverhalten zu belehren, bevor sie überhaupt merkten, was mir da gerade zustieß. Als mich meine Angreifer vermeintlich tot auf der Straße liegen ließen und zurück zum Auto gerannt kamen, schafften sie es nicht, es anzulassen, und mussten ihre Flucht zu Fuß fortsetzen. Sie ließen das Auto mit ihren klingelnden Handys zurück, sodass am Ende die Polizei die Anrufe entgegennahm. Nachdem sie gemerkt hatten, dass sie sich durch ihre Handys verraten hatten, stellten sich zwei meiner Brüder noch in derselben Nacht der Polizei, um ihre Handys und den Wagen wiederzubekommen. Während ich in den Krankenwagen geschoben wurde, sah ich den Bräutigam auf den Kirchenstufen, der trotz allem versuchte, diesen Tag zu genießen, und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. So als wäre ich diejenige gewesen, die dem Brautpaar die Hochzeit verdorben hatte. Außerdem hatte ich Angst, das Klassentreffen ruiniert zu haben. Doch wie ich später
erfuhr, hatte man weitergefeiert und war wie geplant in einen Club weitergezogen, während ich im Krankenhaus geröntgt und wieder zusammengeflickt wurde. Ich fühlte mich schrecklich, weil Al meinetwegen so zusammengeschlagen worden war, aber anscheinend hatte er trotzdem noch mitfeiern können. Ich rief meinen Dad an, weil ich hoffte, er könnte mich im Krankenhaus besuchen und trösten. Aber wie sich herausstellte, hatte er getrunken und konnte nicht mehr Auto fahren. Ich rief Steves Eltern an, die gleichzeitig mit mir im Krankenhaus eintrafen und die ganze Nacht bei mir blieben. Das Krankenhauspersonal wollte mich dabehalten, aber ich wollte das Viertel so schnell wie möglich verlassen und zu meinen Kindern zurückkehren. Ich wollte nicht, dass sie den Samstag ohne Eltern verbringen mussten. Wenn ich mich in den darauf folgenden Tagen im Spiegel betrachtete, musste ich an all die Male denken, an denen ich meine Mutter mit verquollenem Gesicht, zugeschwollenen Augen und Blutergüssen gesehen hatte. Trotz allem weiß ich, dass es richtig war, die Wahrheit zu sagen.
Plötzlich Bestselllerautorin
Als Kind war ich fest davon überzeugt, dass mir sowieso niemand glauben würde. Als mein Buch dann innerhalb kürzester Zeit die Nummer eins auf den Hardcover-Bestsellerlisten war und alle sagten, wie mutig es von mir sei, meine Geschichte zu erzählen, kam mir das völlig irreal vor. Ich war begeistert, fürchtete mich aber auch vor den Konsequenzen – jetzt, wo ich den Geist aus der Flasche gelassen hatte. Ursprünglich wollte ich das Buch schreiben, weil ich noch zu gut wusste, wie sehr es mir geholfen hatte, Sie nannten mich Es von Dave Pelzer zu lesen. Wenn nur ein einziges misshandeltes Kind meine Geschichte lesen und dadurch den Mut finden würde, an die Öffentlichkeit zu gehen und den Missbrauch zu beenden, hätte sich der Aufwand bereits gelohnt. Jedes Mal, wenn mein Verlag anrief, um mir zu sagen, dass er eine weitere Auflage druckte, um die Nachfrage zu befriedigen, stellte ich mir vor, wie viele Leute mein Buch lesen würden. Und wie viele dadurch vielleicht den Mut finden würden, sich gegen ihre Peiniger zur Wehr zu setzen und ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Das eigentliche Schreiben ist mir sehr schwer gefallen, da es Gefühle und Erinnerungen wachrief, die ich nur zu gern verdrängt hätte. Doch jetzt, wo ich meine Geschichte, die ich so lange geheim halten musste, in die ganze Welt hinausposaunt habe, fühle ich mich, als sei eine schwere Last von mir genommen. So sehr ich in all den Jahren auch versucht habe, meine Erinnerungen zu verdrängen, verfolgten sie mich immer wieder aufs Neue. Ich konnte mich zwar mit
Haushaltspflichten, einer Flasche Wein oder einer Packung Zigaretten kurzfristig ablenken, aber das betäubte den Schmerz maximal für ein paar Stunden. Mich meinen Erinnerungen zu stellen und die ganze Geschichte zu erzählen war so, als hätte ich an einem schönen Tag die Vorhänge zur Seite gezogen, die Fenster aufgestoßen und endlich Licht in einen Raum voller abgestandener, vergifteter Luft gelassen. Am meisten Sorgen machte ich mir darüber, wie wohl meine Kinder auf das Buch reagieren würden. Sie sind beide noch recht klein und wissen zwar, dass mir in meiner Kindheit Schlimmes zugestoßen ist, kennen aber keine Details. Ich habe ihnen gesagt, dass mein Buch Passagen enthält, die sie bestimmt verstören werden und sie gebeten, es erst zu lesen, wenn sie etwas älter sind. Soweit ich weiß, haben sie der Versuchung bislang widerstehen können. Miterleben zu dürfen, wie ihre Mutter im Radio interviewt wird und ihre Bücher in jeder Buchhandlung und in jedem Supermarkt zu sehen, scheint sie reichlich dafür entschädigt zu haben. Schlimm für sie ist nur, dass sie ihren Freunden nichts davon erzählen dürfen. Das fiel ihnen besonders schwer, als das Buch zur Nummer eins auf der Bestsellerliste wurde. Damals hätten sie die aufregenden Dinge, die sich in unserer kleinen Familie abspielten, nur zu gern mit anderen geteilt. Aber sie wissen ganz genau, wie gefährlich es wäre, meine wahre Identität zu enthüllen und meine Familie auf meine Spur zu setzen. Sie haben miterlebt, was ihrer Mutter zugestoßen ist, als ihre Brüder sie das letzte Mal auf der Straße abgepasst haben und wollen um jeden Preis verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Sie sagen mir immer wieder, wie stolz sie auf mich sind. Hoffentlich wissen sie auch, wie stolz ich auf sie bin. Auch mein Mann musste sich ganz schön umstellen. Nachdem er jahrelang Alleinverdiener gewesen
war, musste er plötzlich mehrfach zu Hause bleiben und auf unsere Töchter aufpassen, während ich zu Verlagsbesprechungen ging und Interviews gab. Aber dafür wurde er auch reichlich entschädigt. Der Erfolg meines Buches hat mich deutlich zufriedener und umgänglicher gemacht (auch wenn ich ihm das Leben manchmal immer noch schwer machen kann!). Außerdem konnten wir einige unserer Schulden abbezahlen, die wir über die Jahre angehäuft haben und unser Leben auch in materieller Hinsicht verbessern. Genau wie ich hat er nicht an einen großen Erfolg des Buches geglaubt. Trotzdem ist es erstaunlich, wie schnell wir uns beide daran gewöhnt haben, dass es auf Platz eins der Bestsellerlisten stand. Wir reagierten bereits enttäuscht, als es auf Platz zwei oder drei gerutscht ist! Inzwischen wimmelt es in den Bestsellerlisten von Büchern über Kindesmisshandlung. Zahlreiche Artikel sind erschienen, in denen darüber spekuliert wurde, warum so viele Leute Bücher zu einem derart heiklen Thema lesen wollen. Ich denke nicht, dass sie gern über den Missbrauch an sich lesen, sondern darüber, dass es einige Kinder schaffen, ihn zu überleben und letztendlich Gerechtigkeit erfahren. Meiner Meinung nach lassen sich die Leser von Ausgeliefert – Wie ich die Hölle meiner Kindheit überlebte in zwei Kategorien einteilen: Die einen sind Leser aus stabilen Familien, die nicht verstehen können, wie jemand ein Kind derart quälen kann und mehr über eine Welt erfahren wollen, die ihnen unvorstellbar ist. Und dann sind da noch jene, die Ähnliches erlebt haben wie ich. Sie empfinden das Buch als tröstlich, weil es ihnen das Gefühl gibt, nicht mutterseelenallein auf der Welt zu sein. Sie lassen sich davon inspirieren, dass es danach nicht nur möglich ist, ein glückliches, normales Leben zu führen, sondern sich das erlebte
Leid auch in etwas Positives verwandeln lässt. Ich habe den schrecklichen Verdacht, dass es viel mehr Leser aus der zweiten Kategorie gibt, als wir zugeben wollen. Solange nur hinter vorgehaltener Hand über die Themen Misshandlung und Missbrauch gesprochen wird und es Tabus bleiben, werden wir das wahre Ausmaß dieser Probleme nie erfahren. Die Aufmerksamkeit gegenüber Büchern wie dem meinen hat zumindest dazu geführt, dass wir begonnen haben, die Vorhänge aufzuziehen und ein wenig Licht in den dunkelsten und finstersten aller Winkel fallen zu lassen. Wenn wir nicht allesamt begreifen, was in Familien wie der meinen vorgeht, brauchen wir auch nicht zu hoffen, etwas verändern zu können.
Die Gewalt von nebenan Jane Elliott hat das Schweigen gebrochen. »Wenn nur ein einziges Kind meine Geschichte lesen und dadurch Mut finden würde, an die Öffentlichkeit zu gehen und den Missbrauch zu beenden, hätte sich der Aufwand bereits gelohnt«, schreibt sie. Zuvor hatte sie bereits versucht mit ihrer Mutter zu sprechen, mit einer Klassenkameradin und, irgendwann Jahre später, steht sie vor Gericht um ihren Peiniger zu überführen und Ruhe zu finden. Aber nicht nur für alle Betroffenen ist dieses Buch eine Hilfe. Auch für diejenigen von uns, die Nachbarn, Freunde, Lehrende sind oder im medizinischen Bereich arbeiten, kann es Anstoß sein, auch uneindeutige Anzeichen sensibler wahrzunehmen. Die meisten Jungen und Mädchen und die meisten Frauen kennen ihre Peiniger. Diese schlagen sie mit der Faust oder Gegenständen, zerren sie an den Haaren, bedrohen sie oder andere nahestehende Personen, nötigen, beleidigen und setzen sie herab, sperren sie ein, fassen sie ungefragt an ... Deutlich genug wurde dies auf den vorherigen Seiten beschrieben. 95 Prozent der Gewalt gegen Frauen wird von Männern verübt. 80-90 Prozent der sexuellen Gewalt gegen Kinder wird von Männern verübt. 60 Prozent der Misshandlungen gegen Kinder werden von Frauen verübt. Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend Gewalterfahrungen durch Erziehungspersonen erlitten haben, sind in späteren Partnerschaften dreimal so häufig von »Häuslicher Gewalt« betroffen. Frauen, die sexuellen Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr erfahren haben, werden viermal häufiger Opfer sexueller Gewalt im Erwachsenenalter durch Bekannte oder Unbekannte.
Häusliche Gewalt Etwa 40000 Frauen suchen, oft mit ihren Kindern, jährlich in Frauenhäusern Zuflucht vor Gewalt im eigenen Haushalt. Jede fünfte bis siebte Frau kennt körperliche Übergriffe durch ihren Partner. Schulbildung oder soziale Stellung spielen dabei keine signifikante Rolle. Viele Frauen und Kinder erleben Gewalt durch ein männliches Familienmitglied über Jahre hinweg. Schweigen die Eltern aus Scham, lernen die Kinder von Anfang an, dass die Gewalt ein Familiengeheimnis ist, über das nicht gesprochen wird. Die Situation spitzt sich jedoch mit der Zeit immer mehr zu. Gewalttätige Übergriffe passieren in immer geringer werdenden Abständen und sie werden heftiger. Gleichzeitig erhöht sich der psychische Druck auf die Frauen. Die Frauen schließen eine Trennung für sich aus, da sie in diesem Fall eine Eskalation bis hin zur eigenen Tötung oder Tötung der Kinder fürchten. Nicht nur die Angst vor weiterer Gewalt sondern auch die Aussicht ohne materielle Mittel allein auf sich gestellt zu sein oder ohne die scheinbare emotionale Sicherheit einer Beziehung auskommen zu müssen, lassen Frauen vor dem Schritt aus der Gewalt zurückschrecken. Neben den Frauenhäusern gibt es aber heute eine Vielzahl von Beratungsangeboten, auf die Frauen zurückgreifen können. Jedoch besteht weiterer Handlungsbedarf. Deswegen fordert TERRE DES FEMMES mehr Transparenz im Umgang mit »Häuslicher Gewalt« in der gesellschaftlichen Diskussion. Es muss noch stärker informiert und zur Mitarbeit angeregt werden. In einer Umfrage, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben wurde, geben die befragten Frauen an, dass Ärztinnen und das eigene
soziale Umfeld häufig die wichtigsten Anlaufstellen sind. Insbesondere hier ist verstärkter Bedarf an Aufklärung vorhanden.
Kindesmisshandlung Als Kindesmisshandlungen sind in erster Linie Unterlassungen oder Aktionen zu fassen, die nicht mit der gängigen Vorstellung von Erziehung konform laufen. Diese ist im besonderen Maße kulturabhängig. Nicht immer lassen sich Auswirkungen beispielsweise auf die Entwicklung des Kindes zeitnah feststellen. Dieser Umstand macht es schwer, Kindesmisshandlung an den Folgen zu bemessen. Darüber hinaus würde damit Kindern oder Erwachsenen, die das Erlebte gut verarbeiten konnten, unterstellt, sie wären nicht misshandelt worden. Unter Misshandlung von Kindern ist zu fassen: Körperliche Übergriffe, die zu physischen Verletzungen führen können, Demütigungen, Ablehnung, Terrorisierung, die vorsätzliche Anwendung inkonsistenter und widersprüchlicher Erziehungsmethoden und Isolierung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch. Jane Elliott hat nahezu jede dieser Formen von Misshandlung erleiden müssen.
Sexueller Missbrauch an Kindern Mythen über Kinder, die Erwachsene sexuell provozieren würden, existieren leider nach wie vor. Sie werden auch weiterhin als Entschuldigung von sexuell Missbrauchenden vorgebracht. Für viele Menschen ist die Beschäftigung mit dieser Art von Gewalt auf Grund des gesellschaftlichen Tabus extrem schwierig. Die Definition ist jedoch genau und umfassend: »Ein Mädchen oder Junge wird sexuell missbraucht, wenn sie/er zu körperlichen oder nichtkörperlichen sexuellen Handlungen durch Ältere oder Erwachsene veranlasst oder ihnen ausgesetzt wird. Auf Grund des bestehenden Kompetenzgefälles, vor allem in der psychosexuellen Entwicklung, können die Handlungen nicht angemessen verstanden und eingeordnet werden, das Mädchen oder der Junge kann deshalb auch nicht verantwortlich entscheiden. Der Täter befriedigt auf Grund des Macht- und Generationsgefälles und der Abhängigkeit des Kindes sein Machtbedürfnis unter Zuhilfenahme sexueller Handlungen. Sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen ist Machtmissbrauch verbunden mit der psychischen und/oder physischen Verletzung der Integrität (Unversehrtheit)«, schreibt Dr. Angela May 1997. Sexueller Missbrauch ist für viele Jungen und Mädchen etwas Alltägliches. Wie hoch die tatsächlichen Zahlen sind, lässt sich auch in diesem Bereich schwer schätzen. Dunkelfelduntersuchungen gehen davon aus, dass etwa jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Es gilt genau hinzuschauen. Erziehungspersonen müssen die Kinder bestärken
eigene Grenzen wahrzunehmen und ein »Nein« durch die Kinder akzeptieren. Selbstbewusste Kinder eignen sich nicht als Opfer für Täter, die auf das Stillschweigen und Erdulden ihrer Opfer setzen. Nehmen Sie es ernst, wenn ein Kind versucht sich Ihnen anzuvertrauen, auch wenn das Erzählte zunächst unklar erscheint!
Gesetzliche Neuregelungen in der Bundesrepublik Deutschland Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung ist seit November 2000 in Kraft. Dieses Gesetz geht über das bisherige Verbot von Misshandlungen hinaus, indem es jedem Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zuerkennt. Neben einer weiteren Sensibilisierung der Öffentlichkeit bedeutet dies für die Jugendämter weiterreichende Kompetenzen in der Arbeit mit den Familien. Seit dem 1.1.2002 ist das »Gewaltschutzgesetz« (Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung) in Kraft. Es sorgt gemeinsam mit länderspezifischen Richtlinien und Gesetzen dafür, dass gegenüber dem Täter im Falle von "Häuslicher Gewalt" die Wegweisung aus der Wohnung ausgesprochen werden kann, ohne dass das Opfer dies beantragen muss.
Die Arbeit von TERRE DES FEMMES e. V. Gewalt in familiären Beziehungen ist lange Zeit toleriert oder sogar empfohlen worden: »Schlag deine Frau jeden Tag. Wenn Du nicht weißt warum – sie weiß es« (internationale Redewendung), »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es« (aus der Bibliotheca Scholastica). Die Aufhebung des Züchtigungsrechts an Frauen aus dem Jahr 1900 änderte wenig an der häuslichen Praxis. Heute ist »Häusliche Gewalt« gegen Frauen geächtet. Leider führt dies selten zu einem engagierten Einschreiten beispielsweise von Nachbarn, die einen Vorfall miterleben. Oft kommt es zu einer Tabuisierung: Die betroffene Familie wird sozial herabgewürdigt und gemieden, die Gewalt zur Privatsache erklärt. Gleichzeitig versuchen die Opfer wie die Täter nach außen das Bild der heilen und glücklichen Familie aufrechtzuerhalten. Sie schämen sich, in der Partnerbeziehung versagt zu haben. Für den Bereich der Kindesmisshandlung formuliert der Erziehungswissenschaftler und Soziologe Prof. Dr. Reinhard Wolff eine ähnliche Entwicklung, wenn er von der »Privatisierung des Themas« und der »Verhäuslichung von Gewalt« spricht. TERRE DES FEMMES engagiert sich seit 1981 in der Öffentlichkeit für die Rechte von Frauen. Dazu gehört auch, die Öffentlichkeit über die Alltäglichkeit dieser Gewalt zu informieren und damit die Isolation der Opfer zu mildern. Den Frauen wiederum will TERRE DES FEMMES den Rücken stärken, indem Ihnen aufgezeigt wird, dass sie nicht die Einzigen sind, denen so etwas passiert. Die Frauen sollen über Beratungsmöglichkeiten informiert werden, um schließlich auch ihre gesetzlichen Rechte
wahrzunehmen und aus der Gewaltspirale langfristig auszubrechen. Am 25. November 2006, dem internationalen Tag »NEIN zu Gewalt an Frauen« startet TERRES DES FEMMES eine zweijährige Kampagne zum Thema »Häusliche Gewalt«. Mit einer Publikation, einem Musical, einer Ausstellung und verschiedenen Veranstaltungen will TERRE DES FEMMES die Öffentlichkeit für dieses wichtige Thema sensibilisieren. Stefanie Reich und Christa Stolle Tübingen, im November 2005
Nähere Informationen über die Arbeit von TERRE DES FEMMES unter: TERRE DES FEMMES e.V. Menschenrechte für die Frau Postfach 2565 72015 Tübingen Telefon: 0 70 71/79 73 0 Telefax: 0 70 71/79 73 22 E-Mail:
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Zentrale Notruf-Nummer für Berlin: 0 30/611 03 00 (täglich von 9-24 Uhr)
ENDE