Ausgeliefert! Version: v1.0
Eigentlich waren ihre Augen geschaffen für die Nacht. Doch jetzt kamen dunkle Schatten von...
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Ausgeliefert! Version: v1.0
Eigentlich waren ihre Augen geschaffen für die Nacht. Doch jetzt kamen dunkle Schatten von allen Seiten ihres Gesichtsfeldes her und schlugen über ihr zusammen. Lilith Eden wankte. Die Beine versagten ihr den Dienst, während ihr Gehirn in Flammen stand. Schmerz! Alles verschlingend, alles beherrschend. Mit dem letzten Funken Bewußtsein ahnte sie, daß es nicht nur ihre eigenen Schmer zen waren. Es war die Agonie des Symbionten. Feyn hatte ihm tiefe Wunden gerissen; Wunden, die vielleicht nie wieder heilen würden. Das war ihr letzter Gedanke, bevor es vollends dunkel um sie wurde. Die hastigen Schritte und die aufgeregten Stimmen, die sich ihr näherten, bemerkte sie schon nicht mehr …
Was bisher geschah Noch immer spricht Beth nicht auf das Serum an, das Frans Stålheim gegen ihre Persönlichkeitsveränderung entwickelt hat, das aber von Landru manipu liert wurde. Duncan weiß inzwischen zwar, daß er tot war, fühlt sich aber lebendig. Lilith kostet sein Blut; es schmeckt fad, aber nicht wie das eines Toten. Doch nach dem Biß verschwinden – von Lilith unbemerkt – Duncans Schatten und Spie gelbild! Beth wirft die beiden hinaus. Ein weiterer Verlust: Die Sydney-Vampire las sen dort, wo Lilith geboren wurde, von der Firma »Salem Enterprises« ein Hochhaus errichten, dessen Fundament mit Weihwasser angerührt wurde. Li lith zieht mit Duncan in das Haus des inzwischen toten Virgil Codd. Kurz darauf erhalten sie Besuch! Herak, der neue Führer der Sydney-Sippe, schickt einen Killer-Vampir. Dieser wird jedoch von einem zweiten Blutsauger abgefangen und getötet. Liliths Retter stellt sich als Feyn vor, ein »Experiment« der rothaarigen Unbekannten, die auch Liliths Mutter Creanna schuf. Feyn be hauptet, wie Lilith gegen sein Volk zu kämpfen, und nach und nach erlangt er ihr Vertrauen. Gemeinsam erforschen sie das Geheimnis um Salem Enterprises: Offenbar versucht man dort ein menschliches Gen zu isolieren, das es den Vampiren gestattet soll, sich noch freier unter den Menschen zu bewegen: mit Schatten und Spiegelbild, ohne Aversion gegen christliche Symbole! Inzwischen hat Duncan Luther ein seltsames »Hobby« entwickelt: Er interes siert sich für Mesopotamien, den heutigen Irak, weiß aber nicht, warum. Schließlich hat er in einem Spiegel eine Vision. Eine gleißende Lichtgestalt ruft ihn – aber wohin? Als Lilith eines Tages heimkehrt, ist er verschwunden. Und Feyn läßt seine Maske fallen. Er hat sich Liliths Vertrauen erschlichen, um sie zu töten! Sein Körper ist von tätowierten Fratzen überzogen: den Ge sichtern seiner vampirischen Opfer, deren Kraft er in sich aufnahm! Beim fol genden Kampf verletzt er Lilith und den Symbionten schwer, doch dann kann Lilith seine Kraft gegen ihn selbst wenden, und er wird von seinen Tätowierun gen aufgefressen. Lilith taumelt schwerverletzt in die Nacht hinaus …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schla fend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Duncan Luther – ehemaliger Priesteranwärter mit bewegter Vergangenheit. Er lernt Lilith kennen, verliebt sich in sie, wird in Indien von Vampiren getötet und taucht plötzlich und ohne Erinnerung wieder auf. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Beth kennt Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvam pirin verliebt. Dies wurde jedoch durch die Nachwirkungen einer magischen Pest mittlerweile ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
»Doktor Berglundson!« schallte es klirrend aus den Lautsprechern des Ruheraumes. »Bitte in die Notaufnahme! Dr. Berglundson, bitte in die Notaufnahme!« Michael Berglundson, Arzt an der St. Margarete’s Clinic, einem an gesehenen Sydneyer Privathospital, fluchte leise. Es war noch keine zwei Minuten her, daß er sich in den Ruheraum zurückgezogen hat te, um sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten zu ziehen. Heute nacht war wirklich der Teufel los. In den letzten vier Stun den hatte es mehr Notfälle gegeben als in den Nachtschichten der ganzen Woche zuvor. Erst ein Vierjähriger, der einen Abflußreiniger für Limonade gehalten hatte, dann die Opfer eines schweren Ver kehrsunfalls, wenig später ein Siebzigjähriger, der sich beim Sturz die Hüfte gebrochen hatte, und vor einer halben Stunde schließlich ein Jugendlicher, der versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschnei den. Berglundson fragte sich, was es diesmal sein würde. Warum hatte er sich nur überreden lassen, ausgerechnet diese Nachtschicht für einen erkrankten Kollegen zu übernehmen? Er betätigte die Sprechanlage. »Ja, was gibt’s?« »Der Ambulanzwagen hat sich gerade über Funk gemeldet«, erwi derte die Nachtwache am anderen Ende. »Die Sanitäter haben eine Frau aufgegabelt. Wahrscheinlich das Opfer eines Überfalls. Der Wagen muß jeden Augenblick ankommen.« »Schon gut. Ich bin gleich unten.« Berglundson nahm noch einen kurzen Schluck aus dem Becher, verzog angewidert das Gesicht und knallte ihn auf den Tisch zu rück. Der Kaffee aus dem Automaten war wirklich ungenießbar. Warum nur mußte er immer wieder darauf hereinfallen und sich
einen Becher ziehen? Während Berglundson nach unten in die Notaufnahme eilte, gal ten seine wenig freundlichen Gedanken der Tatsache, daß die Menschheit es schon vor zwanzig Jahren fertiggebracht hatte, auf dem Mond zu landen – aber einen Automaten zu konstruieren, der einen genießbaren Kaffee ausspuckte, dazu hatte aller Fortschritt bis heute offensichtlich noch nicht gereicht. Unten wartete bereits Virginia Mayfield, eine Krankenschwester aus dem Nachtdienst, auf ihn. Die resolute Mittvierzigerin hatte ihm bereits bei den letzten Einlieferungen assistiert. Sie quittierte sein Eintreffen mit einem kurzen Blick. Nach den an strengenden letzten Stunden war ihnen beiden nicht nach einer Un terhaltung zumute. Wenig später fuhr der Ambulanzwagen vor und hielt mit dem Heck vor der Tür der Notaufnahme. Die beiden Rettungssanitäter stiegen aus dem Cockpit. Während einer von ihnen nach hinten eilte und die Heckklappe öffnete, nahm der andere Berglundson zur Seite. »Eine junge Frau«, erstattete er dem Arzt Bericht. »Sie wurde be wußtlos in einem Hinterhof am Rande der Stadt gefunden.« »Was ist mir ihr?« »Sieht ziemlich schlimm aus. Zahlreiche Prellungen, Schnittwun den und Verdacht auf innere Verletzungen. Herzschlag und Puls sind äußerst schwach. Und sie hat das Bewußtsein bisher noch nicht wiedererlangt.« »Eine Vergewaltigung?« »Nein.« Der Rettungssanitäter schüttelte den Kopf. »Es sieht eher so aus, als ob sie von einem wilden Tier angefallen worden wäre.« »Sie meinen einen Dingo oder so etwas?«
»Nein, dafür fehlen entsprechende Bißverletzungen. Sie überzeu gen sich selbst davon.« »Ja, das denke ich auch.« Berglundson wollte zum Heck des Rettungswagens eilen, wo die Bahre mittlerweile auf einen fahrbaren Untersatz geladen worden war. »Und da ist noch etwas, was Sie sich ansehen sollten«, hielt ihn der Sanitäter noch einmal zurück. »Und zwar ihr Blut.« »Was ist damit?« »Ich weiß nicht recht. Es sieht irgendwie komisch aus. Viel dunk ler als normales Blut.« Berglundson schluckte die ärgerliche Bemerkung, die er auf der Zunge hatte, herunter und wandte sich endgültig der Patientin zu. Sie war um die 1,70 Meter groß, wurde von zwei Gurten auf der Trage gehalten, und die Decke, die sie bis zu den Schultern einhüll te, vermochte ihre üppigen Formen kaum zu verhüllen. Doch nicht sie waren es, die Berglundson regelrecht elektrisierten. Es war ihr Gesicht. In dem Moment, da Berglundson es erblickte, waren alle medizini schen Gedanken, die ihm eben noch im Kopf herumgegangen wa ren, mit einem Male wie weggewischt. Es war, als würde plötzlich die Zeit stehenbleiben. Das Gesicht war oval, mit hohen Wangenknochen, und es wurde von langem, tiefschwarzem Haar eingerahmt. Die Haut hingegen war von einer außerordentlichen, fast unnatürlichen Blässe. Doch es war nicht die Art ungesunder Blässe, die Berglundson von so vielen Patienten kannte und die eine Folge von Krankheit und Siechtum war. Nein, die Blässe dieser Haut hatte etwas Unnahbares, etwas fast
Aristokratisches an sich. Diese Frau war wunderschön, und daran konnten selbst der Dreck, die zahlreichen Blessuren und die blutige Wunde, die sich quer über ihre rechte Wange zog, nichts ändern. Berglundson fühlte Bedauern, als er an die Narbe dachte, die diese Wunde auf ihrem Gesicht hinterlassen würde. Doch es tat der Schönheit dieser Frau keinen Abbruch. Jedenfalls nicht für ihn. In seinem bisherigen Leben hatte er mit Frauen nicht viel Glück gehabt, und das war der Grund, warum er mit seinen 31 Jahren noch immer Junggeselle war. Natürlich hatte er bereits einige Bezie hungen hinter sich, doch keine davon hatte sehr lange gehalten. Je desmal war er seiner Partnerin spätestens nach einem halben Jahr überdrüssig geworden. Das war sein Fluch: Sobald er eine Frau erst einmal hinlänglich gut kannte, war das geheimnisvolle Etwas, das am Anfang jeder Beziehung stand, plötzlich verschwunden. Und damit blieb nichts mehr zurück, was ihn noch an ihr hätte rei zen können. Bei dieser Frau jedoch, die dort auf der Bahre lag, würde das an ders sein – das fühlte er mit jeder Faser seines Körpers. Sie war voll kommen anders als alle Frauen, denen er bislang begegnet war. »Dr. Berglundson?« Sein Blick blieb auf den geschlossenen Lidern ihrer leicht schräg stehenden Augen liegen, und er hatte das Gefühl, als würde sie sie jeden Moment öffnen und ihn ansehen. Er fragte sich, welche Farbe ihre Augen wohl haben würden. Grün, wisperte ein Gedanke in ihm. Sie würden grün sein. Sie konnten nur grün sein! Er spürte eine Berührung an der Schulter und schreckte zusam men. Als er den Kopf wandte, sah er einen der Rettungssanitäter vor
sich, der ihn fragend ansah. »Ja, was ist?« fragte Berglundson träge. Es war, als erwachte er aus einem tiefen Schlaf. »Am schlimmsten hat es sie an der Schulter erwischt. Ein ziemlich tiefer Einschnitt. Wir haben ihn erst einmal geklammert, damit sie nicht zuviel Blut verliert.« Berglundson nickte gedankenverloren. Es fiel ihm schwer, sich auf die Worte zu konzentrieren. Das Gesicht nahm ihn wie mit hypnoti scher Kraft gefangen. »Was ist mit Ihnen?« erreichte ihn die besorgte Stimme von Schwester Mayfield. »Ist Ihnen nicht gut?« Berglundson riß sich zusammen. Endlich gelang es ihm, seinen Blick von der Frau zu lösen. »Doch, doch. Es war nur …«, er räusperte sich, »… nur eine kurze Unkonzentriertheit.« Er wandte sich an den Sanitäter. »Was sagten Sie gerade?« »Ich sagte, daß es sie am schlimmsten an der Schulter erwischt hat. Ein tiefer Einschnitt. Hier, sehen Sie selbst.« Der Sanitäter schlug die Decke zurück und verzog ungläubig das Gesicht. »Aber … das gibt es doch nicht?« »Was meinen Sie?« »Diese Wunde dort. Ich könnte schwören, daß sie vor zwanzig Mi nuten, als wir die Frau gefunden haben, noch bedeutend größer war.« Berglundson betrachtete die Wunde, die nicht sehr frisch aussah. Sie war bereits vollständig verschorft. »Gut, daß Sie sich getäuscht haben«, sagte er zu dem Sanitäter, und als dieser zu einer empörten Antwort ansetzte, schnitt er ihm das Wort ab. »Nur eine Frage noch. Hatte sie irgendwelche Papiere
bei sich? Oder sonstige persönliche Sachen?« »Nein, nichts – bis auf das Kleid, das sie trägt.« »Gut. Sie beide können sich dann wieder auf den Weg machen. Den Rest übernehmen wir.« Berglundson nickte Virginia Mayfield zu. »Schwester?« Zusammen schoben sie die Trage ins Gebäude. Die beiden Ret tungssanitäter sahen zu, wie die drei im hinter der Tür befindlichen Korridor verschwanden. »Ich bin mir hundertprozentig sicher, daß die Wunde vorhin noch viel größer war«, wandte sich derjenige, der mit Berglundson ge sprochen hatte, kopfschüttelnd an seinen Kollegen. »Und frischer. Ich bin doch nicht verrückt! Ich weiß, was ich gesehen habe.« »Wenn du verrückt bist, bin ich’s auch.« »Wie meinst du das?« »Ich habe genau dasselbe gesehen wie du. Aber das soll uns jetzt nicht mehr kümmern. Wir haben unsere Schuldigkeit getan. Seien wir froh, daß wir sie los sind.« »Mir war von Anfang an nicht geheuer dabei. Schon als wir sie auf gelesen haben.« »Was soll’s? Das ist jetzt nicht mehr unser Problem. Laß uns los fahren. In einer Stunde wird’s hell. Und dann ist endlich Feier abend.«
* Berglundson entschied, die Frau zuerst in die Röntgenabteilung zu bringen. Es gab keine Wunden, die dringend hätten versorgt wer den müssen. Diese Arbeit hatten die Rettungssanitäter ihnen bereits abgenommen.
Ein erstes Abtasten – bei dem Berglundson Mühe gehabt hatte, sich die Erregung, die dabei in ihm aufstieg, nicht anmerken zu las sen – hatte keine Hinweise auf Knochenbrüche ergeben. Doch es be stand noch immer die Möglichkeit, daß sie innere Verletzungen er litten hatte. Womit immer es diese Frau zu tun gehabt hatte, es mußte mit der Urgewalt einer Dampflok über sie hereingebrochen sein! »Eine gute Nachricht«, sagte die Krankenschwester, nachdem die Röntgenfilme entwickelt waren. »Keine inneren Verletzungen.« Berglundson nahm die Filme an sich und klemmte sie vor einen Leuchtschirm. Und erst nachdem er sich selbst davon überzeugt hat te, daß die Krankenschwester recht hatte, atmete er auf. »Gut«, murmelte er erleichtert und begriff erst jetzt, wie todun glücklich es ihn gemacht hätte, wenn sich herausgestellt hätte, daß die Frau größere körperliche Schäden davongetragen hatte – wo möglich so große, daß er nicht mehr viel für sie hätte tun können. »Sehr gut.« Anschließend brachten sie sie in einen Behandlungsraum und bet teten sie gemeinsam auf die dortige Liege um. Während die Schwester eine elektronische Diagnoseeinheit heran rollte und die Patientin mit einem halben Dutzend Kabel verband, nahm Berglundson sich Zeit, das seltsame Kleid genauer in Augen schein zu nehmen, das die junge Frau am Leib trug. Es war so tief schwarz wie das Haar der Frau, schien aus Lack oder Leder zu bestehen und lag so hauteng auf der Haut an, daß er es anfangs fast für ein Body-Painting gehalten hatte. Dort, wo die Krallen die Haut zerrissen hatten, klaffte der Stoff zwar auseinan der, aber er war nicht zerfetzt. Statt dessen sahen seine Ränder eben mäßig und fast wie geschmolzen aus. Es machte einen irgendwie seltsamen Eindruck, ohne daß Berg
lundson hätte sagen können, woher diese Empfindung rührte. Er fragte sich, in was für einen abgefahrenen Laden man gehen mußte, um solch ein Kleid zu bekommen. Und wieviel Geld man auf den Tisch blättern mußte, um es zu erstehen. Und die wichtigste Frage von allen: Was für eine Frau mußte man sein, um so etwas zu tragen und sich damit nachts auf die Straße zu wagen? »Pulsschlag schwach«, riß ihn die Stimme von Schwester Mayfield aus seinen Gedanken. Verdammt! dachte Berglundson. Er mußte sich mehr zusammen reißen. Er durfte sich nicht in seinen Gedanken verlieren. »Blutdruck ebenfalls schwach und kaum meßbar«, fuhr die Schwester fort und las die Ergebnisse der Diagnoseeinheit ab. »Auch der Herzschlag ist äußerst langsam. Zwanzig Schläge in der Minu te.« Der letzte Satz ließ Berglundson aufhorchen. »Wie bitte? Zwanzig Schläge?« Das war ein Wert, den vielleicht gerade einmal indische Gurus erreichten, wenn sie sich aus PublicRelations-Gründen mal wieder für vier Wochen beerdigen oder in einen luftdichten Glaskasten setzen ließen! »Das Gerät muß defekt sein!« »Nein, Sir.« Die Krankenschwester überprüfte die Apparatur. »Das Gerät ist in Ordnung.« Berglundson reagierte, wie er es in der Ausbildung gelernt hatte. »Sauerstoff! Und fünf Milliliter Effortil, um den Kreislauf zu stabi lisieren. Schnell, Schwester!« Beides blieb ohne Erfolg. »Werte unverändert schwach. Herzschlag weiterhin bei zwanzig Schlägen.« »Ja, aber …« Berglundson machte eine hilflose Geste. »Das gibt es
doch nicht. Die Mittel müssen doch irgendeine Wirkung haben!« »Nein. Keine. Die Werte sind weiterhin schwach.« Und mit einem Achselzucken fügte sie hinzu: »Aber wie es scheint, sind sie immer hin stabil.« Berglundson blickte ratlos auf die Patientin herab, deren Gesicht nun von einer Sauerstoffmaske verhüllt wurde. Die junge Frau lag so unschuldig da, als hätte sie selbst mit all dem gar nichts zu tun. »So etwas ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht vorgekom men«, meinte Schwester Mayfield. »Ja, glauben Sie etwa, mir?« fuhr er sie gereizter als beabsichtigt an, um sich sofort zu entschuldigen. »Schon gut, Schwester. Verzei hen Sie. Ich hab’ ein wenig die Nerven verloren.« »Sollten wir nicht besser Dr. Romano hinzuziehen?« schlug die Krankenschwester zögernd vor, als wolle sie Berglundsons Autori tät keinesfalls untergraben. »Vielleicht weiß er, was in einem sol chen Fall zu tun ist.« »Nein!« Berglundson schüttelte den Kopf. Den Chefarzt und Inha ber der St. Margarete’s Clinic hinzuzuziehen wäre ihm nicht nur wie ein Eingeständnis seiner Ratlosigkeit erschienen – mehr noch, es wäre ihm so vorgekommen, als würde er diese Frau hergeben. Nein, es war seine Patientin! Und er würde sich um sie kümmern! »Damit kommen wir auch alleine klar«, sagte er laut. »Es sieht aus, als bliebe uns vorerst sowieso nichts anderes übrig, als die Wunden zu reinigen und zu versorgen. Und ein paar davon müssen wohl ge näht werden. Am besten, Sie entfernen erst einmal die Reste von dem Kleid, bevor wir uns an die Arbeit machen.« Der Gedanke, die junge Frau gleich nackt zu sehen – obgleich das Kleid ihre Körperformen ohnehin kaum verhüllte –, versetzte ihn abermals in Erregung. Um sich nichts anmerken zu lassen, wandte er sich ab und reinigte und desinfizierte seine Hände über einem
kleinen Waschbecken. »Komisch«, hörte er die Krankenschwester sagen. »Das Kleid läßt sich nicht lösen.« »Wie meinen Sie das, Schwester?« Berglundson wandte sich um. »Wie ich es gesagt habe. Es ist, als würde das Kleid an ihrer Haut kleben.« Um zu demonstrieren, was sie meinte, nahm Schwester Mayfield einen Zipfel des schwarzen Stoffes zwischen Daumen und Zeigefin ger und versuchte ihn anzuheben. Doch er ließ sich nicht ablösen. »Lassen Sie mich das machen.« Berglundson nahm den Stoff in die Hand und versuchte es selbst. Vergeblich. Der Stoff saß wie festgeklebt auf der Haut. Berglundson versuchte es an einer anderen Stelle – mit demselben Ergebnis. »Das gibt es doch nicht«, murmelte er. Doch so schnell war er nicht bereit aufzugeben. Er entdeckte einen zentimetergroßen Zipfel des Kleides am Arm der Frau, wo ringsum keine Verletzungen waren, die er durch ein zu grobes Vorgehen hät te aufreißen oder vergrößern können. Mit einer Hand hielt er ihren Arm fest, mit der anderem zog er an dem Stoff. Zuerst ohne Erfolg. Erst als er so stark zog, daß er fürchtete, ihr die Haut zu zerreißen, begann der Stoff sich langsam – Millimeter um Millimeter – abzulö sen. Berglundson hob den Kopf und sandte der Krankenschwester ein kurzes triumphierendes Lächeln zu, als wollte er sagen: Na also, es geht doch! Das Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als sich die Patientin un
ruhig zu bewegen begann. Aus ihrem Mund unter der Sauerstoff maske kam ein gequältes Stöhnen. Im selben Moment begann die Diagnoseeinheit ein häßliches, hek tisches Piepen von sich zu geben. »Blutdruck sinkt«, vermeldete die Krankenschwester. »Herzschlag wird unregelmäßig.« Berglundson gab seinen Versuch auf, und keine Sekunde später erstarben sowohl die Bewegungen der Patientin als auch das Piepen des Gerätes. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Virginia Mayfield ratlos, und es blieb unklar, ob sie das Kleid oder die Werte auf den Anzeigen der Diagnoseeinheit meinte. »Ich weiß es nicht«, sagte Berglundson grimmig. »Aber ich werde es herausfinden. Los, geben Sie mir ein Skalpell! Es wäre doch ge lacht, wenn sich dieses Kleid nicht vom Körper trennen ließe … Und Sie, Schwester, behalten die Anzeigen des Gerätes im Auge.« »Jawohl, Doktor.« Mit dem Skalpell in der Hand machte Berglundson sich abermals daran, das Kleid vom Körper der Frau zu lösen. Er setzte die rasier messerscharfe Klinge so an, daß sie zwischen den Stoff des Kleides und die obersten Hautschichten schnitt … … und dann ging alles so schnell, daß er es selbst nicht genau mit bekam. Zuerst geriet die schwarze Oberfläche des Kleides in wallende Be wegung. Kleine wellenförmige Muster liefen durch den Stoff, doch nur ein, zwei Sekunden lang, dann schnappte unvermittelt ein schwarzer Auswuchs nach der Hand des Arztes. Blitzartig schloß sich der Stoff um seine Hand bis halb den Ober arm hinauf – und im selben Augenblick kam der Schmerz.
Berglundson brüllte auf. Er hatte das Gefühl, als steckten seine Hand und sein halber Unterarm im siedenden Öl einer Friteuse. Voller Panik riß der Arzt seine Hand zurück – das heißt, er wollte es tun, aber der Stoff gab ihn nicht frei. Statt dessen dehnte er sich wie ein Stück Gummi. »Was haben Sie, Doktor?« rief die Krankenschwester erschrocken. Berglundson beachtete sie gar nicht, sondern riß mit aller Gewalt an seiner Hand, so stark, daß er die eingelieferte Patientin halb von der Trage zerrte. Der Schmerz raubte ihm nahezu den Verstand. Und dann – im nächsten Moment – war seine Hand plötzlich frei. Berglundson, nun von keinem Widerstand mehr gehalten, stolper te, vom eigenen Schwung getragen, rückwärts und krachte mit dem Rücken gegen zwei fahrbare Behandlungstische. Vergeblich suchte er Halt und schlug der Länge nach hin, während sich der Inhalt der verschiedenen Tabletts mit Instrumenten, die auf den Tischen ge standen hatten, polternd und klirrend rings um ihn herum auf dem Boden verstreute. Ein Skalpell blieb mit der Spitze zitternd in sei nem Oberschenkel stecken. Berglundson spürte es nicht einmal. Der unerträgliche Schmerz, der durch seine rechte Hand raste, war tausendmal stärker. Die Krankenschwester eilte herbei und ging neben ihm in die Hocke. »Was haben Sie, Doktor?« Berglundson antwortete nicht. Ächzend zog er seinen Oberkörper in die Höhe. »Warten Sie!« rief die Krankenschwester, als sie das Skalpell in sei nem Oberschenkel entdeckte. »Bewegen Sie sich nicht.« Vorsichtig zog sie ihm die Klinge aus dem Fleisch. Berglundson hob seine rechte Hand und starrte darauf. Die Augen
der Krankenschwester folgten seinem Blick und weiteten sich ent setzt. »O mein Gott!« entfuhr es ihr. Von den Fingerspitzen bis hinauf zur Hälfte des Unterarms war keine Haut mehr vorhanden. Alles, was zu sehen war, war blutiges Fleisch. Schwester Virginia Mayfield reagierte mit der Erfahrung ihrer vie len Dienstjahre. »Bewegen Sie sich nicht von der Stelle!« rief sie, während sie auf sprang. »Ich hole Verbandszeug. Und Hilfe. Und ich werde Dr. Ro mano verständigen. Das hier ist langsam eine Sache für den Chef.« »Nein«, krächzte Berglundson stöhnend. »Nicht … nicht den …« Weiter kam er nicht. Bewußtlos kippte er zur Seite.
* »Nein, nicht! Machen Sie das nicht!« Schwester May versuchte die fordernden Hände des Doktors, die ihren Kittel aufknöpften, beisei te zu schieben. »Hören Sie auf, Doktor!« Doch ihr Sträuben war vergeblich. »Nein, ich werde nicht aufhören«, antwortete er mit Bestimmtheit. Seine Hand kroch in ihren Kittel hinein und legte sich um eine ihrer Brüste. Die Schwester zuckte zusammen wie unter einem leichten elektrischen Schlag. »Und außerdem – was soll das Sie? Wir waren längst beim Du. Also nenn mich Walter.« »Trotzdem«, beharrte sie. »Nicht hier im Medikamentenraum, Walter. Es kann jeden Augenblick jemand hereinkommen.«
»Was würde dich daran stören?« Er hatte ihren weißen Kittel mitt lerweile vollständig aufgeknöpft, und während eine seiner Hände ihre Brust knetete, schob er die andere zwischen ihre Beine und tas tete über den hauchdünnen Stoff ihres knappen Höschens. »Macht gerade das es nicht um so interessanter?« »Nein«, flüsterte sie keuchend. Sie wand sich, um seinem Griff zu entkommen, doch ihr Versuch war mehr als halbherzig. »Es wäre falsch, es hier zu tun …« »Warum?« Er drückte sie mit dem Gewicht seines Körpers gegen die Wand und brachte sein Gesicht ganz nah an das ihre heran. »Willst du es etwa nicht? Sag mir, daß du es nicht willst, und ich höre auf der Stelle auf!« Seine Hand war in ihren Slip hineingeschlüpft und brachte sie zum Aufstöhnen. »Ich … ich …«, flüsterte sie. Der Rest ihres Widerstandes verlor sich in einem wohligen Stöhnen. Sie kam ihm dabei entgegen, ihr den Slip von den Beinen zu strei fen, dann knöpfte sie ihrerseits seine Hose auf. Als er wenig später in sie eindrang, löste sich ein kleiner Schrei von ihren Lippen. »Dr. Kazinsky! Dr. Kazinsky, bitte sofort in OP vier!« hallte es aus den Lautsprechern. Schwester May benötigte einige Sekunden, ehe sie den Inhalt der Durchsage erfaßte. Sie stieß ihn an. »Das bist du, Walter! Du wirst gerufen!« Er hielt inne, und als die Durchsage wiederholt wurde, stieß er einen Fluch aus. Es war tatsächlich sein Name, der ausgerufen wur de. Sie spürte, wie er in ihr erschlaffte. »Aufgehoben ist nicht aufgeschoben«, sagte er verheißungsvoll,
während er seine Hose schloß und seine Kleidung ordnete. »Wir bringen später zu Ende, was wir angefangen haben.« »Mein Dienst in der Nachtschicht dauert noch vier Stunden«, ant wortete sie. Es klang wie ein Einverständnis. Er hob ihren Slip vom Boden auf. »Und das hier behalte ich solan ge, um dich daran zu erinnern.« Er steckte das winzige Kleidungs stück in seine Kitteltasche und verließ den Raum. Schwester May schloß langsam ihren Kittel. Ohne ihren Slip kam sie sich seltsam nackt darunter vor. Aber es war kein unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil … Sie fuhr herum, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Hinter dem Vorhang, der einen Teil des Raumes abschloß, war ein großer, hagerer Mann hervorgetreten. Er trug einen schäbigen schwarzen Anzug, in dem er fast wie ein Bestattungsunternehmer wirkte. Mit einem breiten Grinsen näherte er sich ihr. Schwester May errötete bei dem Gedanken, daß er die ganze Zeit zugesehen haben könnte. »Wer sind Sie?« stieß sie hervor. Er deutete eine galante Verbeugung an. Die Schwester spürte den Spott, der darin lag. Und es machte ihr angst. »Mein Name ist Hesekiel«, sagte er. »Sind Sie ein Patient? Und wie kommen Sie hierher?« »Ich bin kein Patient. Ich bin dein Ende!« Er entblößte zwei spitze Fangzähne und sprang auf sie zu. Sie schrie auf und versuchte zur Tür zu entkommen, doch er war schneller. Er packte sie und riß ihr den Kittel mit spielerischer Leichtigkeit vom Leib. Ihr entsetzter Schrei erstickte unter seiner Hand, die sich unerbittlich auf ihren Mund preßte. Seine Zunge leckte über ihren
Hals. Dann kam ein kurzer, intensiver Schmerz. Nachdem er seinen Durst an ihr gestillt hatte, brach er ihr das Ge nick und ließ sie wie eine Puppe zu Boden fallen. Danach machte er sich wieder hinaus in die Nacht, auf demselben Weg, auf dem er hereingekommen war – durch das geöffnete Fens ter hinter dem Vorhang. Zufrieden eilte er durch die Dunkelheit. Er liebte es, in Kranken häusern umherzustreifen. Dort fand er alles, um seine Lüste und sei nen Blutdurst zu befriedigen, wie auf einem reich gedeckten Tisch. Während er seinem Tagesunterschlupf entgegenstrebte, nahm er sich vor, sich morgen der St. Margarete’s Clinic zuzuwenden. Dort war er lange nicht mehr gewesen. Es war an der Zeit, der Privatklinik am Rande der Stadt einmal wieder einen Besuch abzustatten.
* Als Michael Berglundson wieder zu sich kam, fand er sich im Bett eines der Krankenzimmer wieder. Die Jalousien vor dem Fenster waren heruntergelassen, und durch die kleinen Spalten zwischen den einzelnen Lamellen warf die Abendsonne ein Streifenmuster auf die gegenüberliegende Wand. Wie war er hierhergekommen? Im ersten Moment fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern, was geschehen war, doch als er erst einmal einen Zipfel davon zu fassen bekommen hatte, brach die Erinnerung vehement über ihn herein. Seine Hand! Was war mit seiner Hand? Sie war bis zum Ellenbogen in einen dicken Verband eingepackt. Jetzt, da Berglundson sich ihrer bewußt geworden war, meldete sich
auch der Schmerz zurück. Doch jetzt war er erträglich und bei wei tem nicht so stark wie gestern, als – er zögerte, den Gedanken zu Ende zu führen – als dieses Kleid ihn angefallen hatte. War das wirklich passiert? Er verspürte den Drang, den Verband herunterzureißen, um nach zuschauen, wie es um seine Hand stand, doch dann siegte sein ge sunder Menschenverstand. Er sollte sich nicht zu solcher Unver nunft hinreißen lassen. Besonders er als Arzt nicht. Schließlich hatte er sich gestern nacht, nachdem die geheimnisvol le Frau eingeliefert worden war, schon genügend Fehler und Nach lässigkeiten geleistet. Er konnte nur hoffen, daß Chefarzt Romano nichts davon gehört hatte. Glücklicherweise war Schwester May field niemand, der zum Klatschen und Tratschen neigte. Berglundson schwang die Beine aus dem Bett. Er mußte einen Kol legen finden und in Erfahrung bringen, wie es um seine Hand stand. An dem leichten Schwindel, der ihn erfaßte, als er den Oberkörper aufrichtete, konnte er erkennen, daß er unter dem Einfluß von Schmerzmitteln stand. Vermutlich reduzierte sich der Schmerz un ter dem Verband in erster Linie deshalb auf ein erträgliches Maß. Viel mehr als ein dumpfes Pochen war nicht zu spüren. Neben der Sorge um seine Gesundheit trieb ihn auch noch ein an derer Gedanke auf die Beine: Er mußte herausfinden, was mit der Patientin von heute nacht geschehen war! Jedesmal, wenn er die Augenlider schloß, tauchte ihr blasses Ge sicht vor seinem geistigen Auge auf. Eigenartig, ihr Bild schien sich ebenso stark in sein Gedächtnis eingebrannt zu haben wie das, was mit seiner Hand geschehen war. Berglundson kämpfte noch damit, endgültig aufzustehen, als sich die Tür öffnete und ein Arzt im weißen Kittel den Raum betrat. Es handelte sich um Dr. Gerald Rensenbrink, einen in etwa gleich
altrigen Kollegen aus der Chirurgie. Mit ihm hatte Berglundson in den letzten Jahren nach Feierabend schon das eine oder andere Bier getrunken, ohne daß sich daraus eine feste Freundschaft entwickelt hätte. Besonders nachdem Dr. Rensenbrink vor einem Vierteljahr ge heiratet hatte, waren ihre gemeinsamen Unternehmungen spärlicher geworden. Was nichts daran änderte, daß sie sich noch immer recht gut verstanden. Rensenbrink hielt inne, als er Berglundson auf der Bettkante sitzen sah. »Oh, du bist schon wach?« »Seit ein paar Minuten.« Rensenbrink schloß die Tür, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Krankenbett. »Wie geht’s dir?« fragte er. »Wie jemandem, der gerne wissen möchte, was mit ihm los ist.« Berglundson hob die verbundene Hand, um zu unterstreichen, was er meinte. »Also, rück schon raus mit der Sprache. Was habt ihr mit mir angestellt?« »Tut mir leid, das kann ich dir nicht sagen.« »Keine Spielereien, Jerry! Versuch nicht, mich zum Narren zu hal ten. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was mit mir los ist. Weißt du, ich bin kein x-beliebiger Patient, der …« »Langsam, langsam!« unterbrach Rensenbrink den empörten Aus bruch. »Du hast mich nicht richtig verstanden. Ich kann es dir des wegen nicht sagen, weil ich es selbst nicht genau weiß. Ich habe le diglich gehört, daß du dir die Hand verbrüht oder verätzt hast.« Er sah Berglundson forschend an. »Was ist denn nun wirklich gesche hen?« Berglundson ließ die Luft, die er angehalten hatte, hörbar aus den Lungen. Seine Empörung war so schnell wieder verflogen, wie sie in ihm aufgestiegen war.
»Nun, ich … ich habe eine Patientin behandelt und wollte ihr das Kleid vom Körper lösen, und dann … dann …« Er brach ab und runzelte die Stirn. Dann hat das Kleid plötzlich nach meiner Hand geschnappt! hatte er fortfahren wollen. »Was war dann?« »Nichts. Gar nichts!« Berglundson machte eine ungeduldige Geste mit der gesunden Hand. »Das hat Zeit bis später.« Ohne sich um den irritierten Gesichtsausdruck seines Kollegen zu kümmern, fügte er hinzu: »Du hast mich also nicht behandelt?« »Nein, das war Romano höchstpersönlich. Ich bin erst seit zwei Stunden in der Klinik und soll lediglich von Zeit zu Zeit nach dir se hen. Und wenn du wach wirst, soll ich es ihm melden.« »Den Weg kannst du dir sparen. Zu ihm wollte ich ohnehin.« Er wollte sich erheben, doch Rensenbrink drückte ihn mit sanfter Gewalt auf die Bettkante zurück. »Du willst doch wohl nicht aufstehen? Du bleibst hübsch im Bett und ruhst dich weiter aus.« »Hör zu! Ich bin weder an den Beinen verletzt, noch hab’ ich was am Kopf. Ich muß mit Dr. Romano reden. Und du wirst mich nicht daran hindern können.« Dr. Rensenbrink seufzte. »Na schön. Ganz wie du willst. Aber sieh zu, daß du dir unterwegs nirgends den Kopf stößt. Du siehst noch immer reichlich angeschlagen aus. Soll ich dich hinbringen?« »Nein, danke.« Ächzend zog Berglundson sich auf die Beine und kämpfte gegen das Schwindelgefühl in seinem Schädel an. »Es wird schon gehen.« Er tapste zur Tür. »Willst du einen guten Rat hören?« erreichte ihn die Stimme seines
Kollegen. »Und?« »Zieh dir was Vernünftiges an, bevor du auf den Korridor gehst. Oder willst du, daß dich die Schwestern und Patientinnen so sehen?« Berglundson sah an sich herunter und bemerkte, daß er eines der weißen Krankenhemden trug, wie sie vom Krankenhaus gestellt wurden, wenn ein Patient kein eigenes dabeihatte. Vorne waren sie zwar züchtig geschlossen, dafür standen sie auf der Rückseite offen, und ein klaffender Spalt zog sich vom Nacken bis zum Gesäß. Er sah sich um und entdeckte seine eigene Kleidung fein säuber lich zusammengelegt auf einem Stuhl. »Was ist eigentlich mit der Frau geschehen?« fragte er, während er sich mit Rensenbrinks Hilfe ankleidete. Mit seiner bandagierten Hand hätte er alleine zu lange mit den Hemdknöpfen kämpfen müs sen. »Welche Frau?« »Na, die, die ich heute nacht behandelt habe, als … als mir das passiert ist. Eine junge Frau mit schwarzem Haar.« »Ich weiß von keiner neuen Patientin aus der Notaufnahme. Je denfalls haben wir keinen entsprechenden Neuzugang in der Klinik. Nur einen Siebzigjährigen, der sich das Hüftgelenk gebrochen hat. Ach ja, und dann noch diesen Jugendlichen, der sich die Pulsadern aufschneiden wollte. Aber der ist schon wieder zu Hause. Seine El tern haben ihn vorhin abgeholt. Schätze, der hat ihnen einen ganz schönen Schrecken …« »Was sagst du da? Es ist keine junge Frau mehr da?« »Nein, nicht, daß ich wüßte.« Berglundson fühlte so etwas wie einen schmerzhaften Stich in der
Herzgegend. Sie war verschwunden! In seinem Kopf wirbelten die Gedanken umher. Sie war aufge wacht und hatte die Klinik verlassen. Natürlich auf eigene Verant wortung. Bei den Blessuren, die sie davongetragen hatte, hätte kein Arzt einer Entlassung zugestimmt. Oder jemand war gekommen und hatte sie abgeholt. »Weiß man, wohin sie verschwunden ist? Ich meine, haben wir eine Adresse? Oder ihren Namen?« »Ich glaube, du hast mich abermals nicht ganz richtig verstanden«, stellte Rensenbrink fest. »Es ist nicht so, daß diese junge Frau, von der du da redest, entlassen worden ist. Wenn man dem Wachbuch glauben darf, ist niemals eine hiergewesen. Ich habe mir die Auf zeichnungen vorhin bei Dienstbeginn selbst angesehen.« »Aber das … das ist doch nicht möglich.« »Hm, vielleicht verwechselst du jetzt Realität und Traum. Wer weiß, was du …« »Nein!« Berglundson schüttelte den Kopf, als wollte er einen lästi gen Gedanken verscheuchen. »Ich habe diese Frau mit eigenen Au gen gesehen und sie mit meinen eigenen Händen berührt! Sie war hier! Und sie war mindestens ebenso wirklich wie der Verband um meinen Arm!« »Hm«, machte Rensenbrink nachdenklich. Er schloß den letzten Knopf an Berglundsons Hemd. Schwester Mayfield! schoß es Michael Berglundson durch den Kopf. Sie war heute nacht dabeigewesen. Sie würde alles bestätigen können. »Warte!« sagte Rensenbrink, als Berglundson den Mund öffnete. »Halt einen Augenblick die Luft an, bevor du noch mehr Verdächti
gungen ausstößt, und hör mir zu! Mag sein, daß es eine ganz einfa che Erklärung dafür gibt. Wie ich vorhin im Pausenraum gehört habe, soll heute am frühen Morgen jemand in den Prominententrakt aufgenommen worden sein.« »Heute morgen? Wer?« »Keine Ahnung. Du weißt doch selbst, wie sehr Romano daran ge legen ist, daß keiner von uns normalsterblichen Ärzten mitbe kommt, welche Berühmtheit wir gerade zu Gast haben.« Rensen brink machte eine Pause und fuhr dann im Tonfall der Vertrautheit fort: »Wer weiß, vielleicht findet sich deine Kleine von heute mor gen ja dort wieder. Wenn uns diese Patientin abhanden gekommen ist, und zur gleichen Zeit wurde irgendeine Prominente in den Si cherheitstrakt eingeliefert, dann klingt das für mich so, als müßte man nur zwei und zwei zusammenzählen. Mag sein, daß ich un recht habe, aber …« Eine Prominente! Berglundson fühlte neue Zuversicht in sich aufsteigen. Natürlich, das war es! Das war die Erklärung für alles. Er hatte gleich gewußt, daß diese Frau irgend jemand Besonderes war. Er nickte grimmig. Ein Grund mehr, Romano zu sprechen. »Danke«, sagte er zu seinem Kollegen und wandte sich zur Tür. »Sag mal, du kannst mir nicht etwa verraten, wie die Kleine von heute nacht ausgesehen hat?« rief Rensenbrink ihm hinterher. »Viel leicht habe ich ja ein paar CDs von ihr und ihrer Band zu Hause …« Doch Berglundson hatte das Zimmer schon verlassen.
* Dr. Romanos Büro lag am Anfang des Seitenflügels der St. Margare
te’s Clinic, in dem sich auch der sogenannte Prominententrakt be fand. Sein Büro war sozusagen der letzte Ort dieses Gebäudeteils, zu dem auch »normale« Ärzte wie Berglundson Zutritt hatten. Der daran anschließende Teil des Seitenflügels war nahezu herme tisch vom Rest des Hauses abgetrennt. Kurz hinter dem Vorzimmer zum Büro des Chefarztes – nur ein paar Meter weiter den Korridor hinunter – befand sich eine gesicherte Glastür, die von einem eige nen Pförtner bewacht wurde. Dort hindurch kam nur, wer von Dr. Romano persönlich dazu autorisiert worden war und eine entspre chende Karte vorzuweisen hatte. Vor einem Jahr, als in diesem Seitenflügel umfangreiche Renovie rungsarbeiten stattgefunden hatten und infolgedessen niemand in Behandlung gewesen war, hatte Berglundson einmal Gelegenheit gehabt, sich dort umzusehen. Die Räumlichkeiten glichen allesamt mehr denen eines Luxushotels als eines Krankenhauses. Es gab ins gesamt sechs ausgedehnte Suiten mit getrennten Unterkünften für Begleitpersonal oder Besucher, eine eigene Küche, Aufenthaltsräu me und vieles mehr. Ein eigener OP war ebenfalls vorhanden, und natürlich war auch die dortige medizinische Ausrüstung vom Al lerfeinsten. Dr. Romano verfügte über glänzende gesellschaftliche Kontakte, und er verwandte viel Zeit darauf, sie zu pflegen. Und das offen sichtlich mit Erfolg. Kaum eine Woche verging, ohne daß er in ir gendeiner Zeitung oder Zeitschrift zusammen mit einer oder mehre ren Berühmtheiten abgebildet wurde. Nicht wenige davon begaben sich bei ihm in Behandlung, sofern ein größerer medizinischer Eingriff notwendig war. Seine Patienten liste beschränkte sich dabei keineswegs nur auf australische Promi nente. Wenn man den Berichten in den Klatschkolumnen der Regen bogenpresse Glauben schenken durfte, hatten sich auch schon etli che Hollywood-Stars von ihm behandeln lassen. Gerüchten zufolge
sollte einmal sogar ein Ölscheich in Begleitung eines Teils seines Ha rems samt schwertbewaffneten Haremswächtern hier zu Gast gewe sen sein, der selbstverständlich gleich den kompletten Prominenten trakt gebucht hatte. Berglundson wußte nicht, ob diese Episode der Wahrheit ent sprach oder nicht. Die Tatsache, daß Dr. Romano keine Woche spä ter mit einem silberfarbenen, nagelneuen Mercedes zur Klinik gefah ren kam, war jedenfalls nicht gerade dazu angetan gewesen, die Ge rüchteküche zum Verstummen zu bringen. Die Grundlage einer solchen Einnahmequelle war natürlich äu ßerste Diskretion – und mit der nahm es Dr. Romano penibel genau. Das ging so weit, daß er für die anstehenden Behandlungen und Operationen meist nicht einmal auf die Ärzte seines eigenen Hauses zurückgriff, sondern sich Gastdoktoren holte, die jeweils Koryphäen auf ihrem Gebiet waren. In der Ärzteschaft wurde diese Vorgehensweise trotzdem weitge hend akzeptiert. Schließlich war es ein offenes Geheimnis, daß der Prominententrakt nicht unwesentlich zur hervorragenden finanziel len Situation der gesamten Klinik beitrug. In den letzten Jahren wa ren Anschaffungen neuer technischer Gerätschaften nie ein Problem gewesen. Und das Gehalt lag ebenfalls über dem Durchschnitt. Was wollte man also mehr? Trotzdem hegte natürlich jeder der Ärzte die Hoffnung, irgend wann einmal vom Chefarzt zur Behandlung eines Prominenten hin zugezogen zu werden. Doch diese Auszeichnung war bislang nur wenigen zuteil geworden. Diese Gedanken gingen Berglundson durch den Kopf, als er an der Tür zum Vorzimmer zu Dr. Romanos Büro klopfte. Als niemand antwortete, trat er zaghaft ein. Das Vorzimmer war verwaist. Dr. Romanos Sekretärin war offen
bar gerade ausgeflogen. Berglundson überlegte, ob er draußen auf dem Korridor auf ihre Rückkehr warten sollte, als er Romanos Stimme aus dem Neben raum vernahm. Die Tür zu seinem Büro war nur angelehnt, und durch den offe nen Spalt wehten Wortfetzen heraus. Berglundson schlich wie unter einem inneren Zwang näher, und als er neben der Tür angekommen war, konnte er verstehen, was der Chefarzt und Inhaber der St. Margarete’s Clinic gerade sagte: »… nein, ich versuche nicht, dich auf den Arm zu nehmen. Und du kannst mir glauben, ich weiß genau, wovon ich rede – nämlich von nichts weniger als einem Wirkstoff, der imstande wäre, Wun den und Infektionen innerhalb ein paar Stunden zu heilen. Vermut lich sogar jegliche Art von Wunden und Infektionen, wenn sich das bestätigt, was ich bis jetzt an Ergebnissen habe … Wie? Ja, das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich weiß genausogut wie du, daß so etwas die größte medizinische Sensation unseres Jahrhunderts wäre. Gerade deshalb habe ich dich ja angerufen.« Da keine zweite Stimme aus dem Büro zu hören war, mußte Dr. Romano gerade mit jemandem telefonieren. Gut, dachte Berglundson. Das garantierte, daß er nicht urplötzlich aus seinem Büro kam und den heimlichen Mithörer entdeckte. Aber wovon zum Teufel redete der Chefarzt da? »Was das für ein Wirkstoff ist?« fuhr Romano fort. »Glaub mir, ich wüßte nichts lieber als das. Natürlich habe ich schon ein paar Analy sen vorgenommen. Aber den Wirkstoff habe ich bislang nicht isolie ren oder bestimmen können. Du weißt selbst, daß die Möglichkeiten unseres Labors einfach zu beschränkt sind. Außerdem fehlt es mir an den entsprechenden Spezialisten, die mit so etwas vertraut sind. Wie du sicherlich verstehen wirst, möchte ich für eine so heikle Sa
che niemanden aus meinem Haus hinzuziehen. Also, was sagst du?« Berglundson überlegte, ob er sich wieder davonstehlen sollte. Wo von immer hier die Rede war, es ging ihn mit Sicherheit nichts an. Er wollte sich schon abwenden, als der Chefarzt plötzlich sagte: »Wer diese Frau ist? Keine Ahnung. Sie hatte keinerlei Papiere oder sonstige Dinge bei sich. Ich weiß auch nicht mehr, als daß sie heute nacht bei uns in die Notaufnahme eingeliefert worden ist.« Berglundson erstarrte. Es ging um die geheimnisvolle Frau von heute nacht! Aber – jagte sofort darauf eine Frage durch seinen Kopf – was hat te sie mit all dem zu tun, wovon der Chefarzt zuvor geredet hatte? Aus Angst, etwas zu verpassen, wagte er kaum zu atmen, als Dr. Romano weitersprach, und sein Herz schien ihm mit einem Male bis zum Hals zu schlagen. Doch zu seiner großen Enttäuschung sagte der Chefarzt nur: »Nein, mehr kann ich dir im Augenblick nicht sagen. Jedenfalls nicht am Telefon. Wir sollten uns treffen. Irgendwo, wo sich in Ruhe reden läßt. Je früher, desto besser … Wann? Heute abend? … Mei netwegen. Und wo?« Berglundson preßte die Lippen aufeinander. Verdammt! Warum hatte er nicht ein paar Minuten früher kommen können? »Ja, die Bar kenne ich«, beendete der Chefarzt das Telefonat. »Gut, bis dann. Ich zähl’ auf dich. Du wirst es nicht bereuen.« Berglundson hörte, wie drinnen der Hörer auf die Gabel gelegt wurde. Er spürte, wie seine wirbelnden Gedanken ihn mit sich rei ßen wollten, doch er kämpfte dagegen an. Er mußte hier weg, ehe er als unliebsamer Zuhörer entdeckt wurde. Lautlos schlich er zur Eingangstür zurück – und prallte zurück, als plötzlich Dr. Romanos Sekretärin in den Raum zurückkam. Sie hielt eine Blumenvase in der Hand und blieb überrascht stehen, als sie
Berglundson in der Mitte des Raumes entdeckte. Zum Glück schöpfte sie keinen Verdacht. »Ah, Dr. Berglundson«, sagte sie arglos und stellte die Vase auf dem Tisch ab. »Gut, daß Sie hier sind. Dr. Romano wollte Sie schon sprechen. Oh, was haben Sie denn da angestellt?« Sie deutete auf Berglundsons bandagierte Hand. Sie weiß es nicht, dachte er. Sie weiß nicht, was heute nacht geschehen ist. Also hat der Chefarzt ihr nichts gesagt! »Oh, das«, machte er beiläufig. »Das war nur ein … äh … ein klei ner Unfall!« »Na, dann wünsche ich Ihnen, daß Sie bald wieder auf dem Damm sind«, sagte die Sekretärin freundlich. »Ich sage jetzt Dr. Romano, daß Sie da sind.« Das war nicht mehr nötig, denn in diesem Moment streckte der Chefarzt seinen Kopf in den Raum. »Ah, da sind Sie ja«, sagte er, als er Berglundson erblickte. Ein Lä cheln erschien auf seinem Gesicht. »Schön, daß Sie wieder auf den Beinen sind. Ich wollte mich gerade erkundigen, wie es Ihnen geht. Am besten, Sie kommen gleich zu mir herein.« Er machte eine einla dende Geste in Richtung seines Büros und wandte sich gleichzeitig an seine Sekretärin. »Sorgen Sie bitte dafür, daß ich in den nächsten Minuten nicht gestört werde.« Nachdem Berglundson das Büro betreten hatte, schloß der Chef arzt hinter ihnen die Tür. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie sicherlich als erstes wissen wol len, wie es um Ihre Hand steht«, eröffnete er das Gespräch, sobald sie allein waren. »Meine Hand?« Daran hatte Berglundson in den letzten Minuten kaum einen Gedanken verschwendet. Zu sehr ging ihm das im Kopf herum, was er gerade belauscht hatte. Er riß sich zusammen. »Nun,
ich habe gehört, daß Sie mich behandelt haben …« »Das ist richtig. Und ich kann Sie beruhigen. Bis auf ein paar klei ne Narben werden Sie nichts zurückbehalten. In spätestens zwei, drei Wochen werden Sie wieder arbeitsfähig sein.« »Freut mich, das zu hören«, sagte Berglundson steif. In Gegenwart des Chefarztes war ihm nicht sonderlich wohl zumute. Vor allem, weil dieser sich ungewohnt freundlich gab. »Ehrlich gesagt ist mir eine solche Verletzung noch nie zuvor un tergekommen«, fuhr Dr. Romano fort. »Sie wies sowohl Symptome einer Verbrennung als auch einer chemischen Verätzung auf. Die gesamten oberen Hautschichten waren verschwunden. Zuerst stand zu befürchten, daß eine Hauttransplantation unumgänglich wäre, aber das hat sich glücklicherweise als unnötig herausgestellt.« Er sah Berglundson forschend an. »Ich verstehe allerdings noch immer nicht, wie es überhaupt zu dieser Verletzung kommen konnte.« »Ja, aber … hat Schwester Mayfield Ihnen nicht erzählt, was ge schehen ist? Haben Sie denn nicht mit ihr gesprochen?« »Natürlich habe ich das.« Dr. Romano hob leicht ungehalten seine buschigen Augenbrauen. »Aber sie hat mir leider nicht schlüssig schildern können, was heute nacht wirklich in der Notaufnahme passiert ist. Gerade deshalb wollte ich Sie ja sofort sprechen, wenn Sie wieder wach sind.« Berglundson zögerte. Was sollte er sagen? Daß das Kleid der Frau ihn angefallen hatte? Würde ihn Dr. Romano nicht sofort für geistes gestört erklären? Die unausgesprochene Frage des Chefarztes hing weiterhin unbe antwortet im Raum. Zu Berglundsons Verwunderung reagierte die ser keineswegs ärgerlich. Ganz im Gegenteil. »Aber bevor wir das erörtern – nehmen Sie doch Platz.« Er wies auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch, und nachdem Berg
lundson sich gesetzt hatte, fügte er hinzu: »Darf ich Ihnen etwas an bieten? Vielleicht einen Cognac? Wie Sie wissen, billige ich norma lerweise keinen Alkoholgenuß in meinem Haus, aber ich denke, nach dem Schrecken haben Sie sich eine kleine Stärkung verdient.« Berglundson wollte zuerst ablehnen, doch dann entschied er sich anders. Etwas Brennendes in seiner Kehle war jetzt genau das, wo nach ihm zumute war. Dr. Romano holte zwei Gläser und eine Flasche hervor, schenkte ihnen beiden ein Glas ein und wartete, bis Berglundson das seine geleert hatte. »So.« Er setzte sich hinter den Schreibtisch und beugte sich erwar tungsvoll vor. »Und nun erzählen Sie mir haarklein, was heute nacht in der Notaufnahme vorgefallen ist.« Berglundson holte tief Luft, und dann erzählte er, was geschehen war. Dr. Romano hörte ihm schweigend und aufmerksam zu.
* Lilith Eden erwachte so langsam, als stiege sie aus den tiefsten Ab gründen des Hades auf die Erde zurück. Ihr Bewußtsein war ein Kaleidoskop aus umherwirbelnden Puzz lestücken, die sich nur langsam, ganz langsam wieder zu einem vollständigen Bild zusammensetzten. Lilith stöhnte leicht, als sie sich an den Kampf mit Feyn erinnerte. Sie hatte ihn besiegt, so viel wußte sie noch. Aber danach …? Sie konnte sich an nichts weiteres mehr erinnern.
Langsam wurde sie sich wieder ihres Körpers bewußt. Es war kein angenehmes Gefühl. Jede Faser fühlte sich wie durch die Mangel ge dreht an. Lilith spürte Schmerz, Mattheit und unendliche Erschöpfung. Das vorherrschende Gefühl aber war … Durst! Ein Durst, der so stark war, daß er in ihren Eingeweiden brannte. Sie brauchte Blut. So schnell wie möglich! Es kostete sie Mühe, allein die Augenlider zu öffnen, und instink tiv drehte sie den Kopf zur Seite, als Sonnenlicht ihr so schmerzhaft wie mit glühenden Nadeln in die Augen stach. Sie versuchte dem Licht zu entkommen, wollte sich zur Seite be wegen, doch es gelang ihr nicht. Irgend etwas hielt sie an Armen und Beinen fest. Sie schaffte es, den Kopf ein wenig zu heben, und sah, daß man ihre Hand- und Fußgelenke mit Lederfesseln an die Seiten der Liege gebunden hatte, auf der sie lag. Lederfesseln! dachte sie bitter. Normalerweise hätte sie sie ohne große Anstrengung zerrissen, doch jetzt fühlte sie sich so schwach und ausgelaugt, daß es ihr nicht einmal gelang, ihren Kopf länger als ein paar Sekunden erhoben zu halten. Erschöpft ließ sie ihn zurücksinken. Wo war sie hier? Blinzelnd sah sie sich um, bemüht, nicht direkt in die Sonne zu bli cken, die durch ein Fenster in den Raum schien und die Liege halb bedeckte. Die Wände des Raumes, in dem sie sich befand, waren weiß getüncht, und die medizinischen Apparaturen ringsum ließen darauf schließen, daß es sich um ein Krankenhaus oder etwas Ähnli ches handelte. Jemand mußte sie gefunden und hergebracht haben.
Außer ihr befand sich niemand im Raum, und auch der Neben raum, in den man durch eine große Glasscheibe sehen konnte, war menschenleer. Lilith schloß die Augen und versuchte, gegen den Schmerz in ih ren Eingeweiden anzukämpfen. Sie brauchte Blut! Sobald sie sich erst einmal gesättigt hatte, würde es ihr wieder besser gehen. Abermals versuchte sie, die Lederfesseln zu zerreißen. Ohne Er folg. Erschöpft gab sie die nutzlosen Versuche auf. Sie lauschte in sich hinein, ob von dem Symbionten, der ihr schon so oft geholfen hatte, Unterstützung zu erwarten war, doch er blieb stumm. Er schien genauso kraftlos wie sie selbst zu sein. Lilith suchte Zuflucht bei dem Gedanken, daß die rötliche Färbung der Sonnenstrahlen darauf schließen ließ, daß es nicht mehr lange bis zur Abenddämmerung dauern konnte. Wenn erst einmal die Nacht hereingebrochen war, würde es ihr si cherlich gelingen, die Fesseln abzustreifen. Und dann würde sie auch jemanden finden, an dem sie ihren Durst stillen konnte. Mit diesem Gedanken sank sie zurück in einen unruhigen Schlaf.
* »Sie wollen also wirklich allen Ernstes sagen, daß das Kleid der Frau Ihnen diese Verletzung an der Hand zugefügt hat?« fragte Dr. Ro mano, als Berglundson seine Erzählung beendet hatte. »Ja. Selbst wenn Sie mich jetzt für verrückt halten – so und nicht anders ist alles gewesen.« Dr. Romano hatte nichts dergleichen vor. Statt dessen kratzte er sich nachdenklich am Kinn.
»Dieses Kleid«, murmelte er. »Stimmt. Mit dem muß ich mich auch noch beschäftigen.« »Wie bitte?« Dr. Romano winkte ab. »Ach, nichts. Nur so ein Gedanke.« Er stand auf. »Auf jeden Fall danke ich Ihnen, daß Sie mir alles erzählt haben. Und falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, können Sie mich immer noch anrufen. Ich werde meiner Sekretärin sagen, daß sie Sie jederzeit zu mir durchschalten soll. Bis wir beide uns wiedersehen, wird wohl erst einmal etwas Zeit ins Land gehen. Die nächsten zwei, drei Wochen werden Sie ja nun notgedrungen zu Hause ver bringen müssen. Ich hoffe, es geht Ihnen schnell wieder gut.« Berglundson stand zögernd auf. So plötzlich hatte er sich seine Verabschiedung nicht vorgestellt. »Ach ja«, fügte der Chefarzt auf dem Weg zur Tür hinzu. »Noch etwas. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie vorerst niemandem ge genüber ein Wort über das, was heute nacht passiert ist, verlieren würden.« Er klopfte Berglundson jovial auf die Schulter. »Wir klä ren das dann alles später, wenn Sie wieder gesund sind. Und keine Bange, das wird schon wieder.« Berglundson blieb stehen. Nein, so leicht würde er sich nicht ab speisen lassen. Selbst vom Chefarzt nicht. »Wo ist die Frau jetzt?« fragte er. »Ist sie hier?« Dr. Romano sah ihn überrascht an. Ein paar Sekunden lang schien es, als wollte er die Frage verneinen, doch dann sagte er: »Ja, sie ist hier. Ich habe sie im Prominententrakt untergebracht.« »Und?« fragte Berglundson aufgeregt. »Wie geht es ihr? Ist sie schon aufgewacht?« »Nun … äh … ja.« Dr. Romano nickte, als müßte er sich das selbst bestätigen. »Ja, das ist sie. Schon heute morgen. Und es geht ihr gut. Jedenfalls den Umständen entsprechend. Sie wissen ja, in welchem
Zustand sie hier angekommen ist. Aber in ein paar Tagen wird sie wieder wohlauf sein.« Irgend etwas an der Art, wie der Chefarzt jedes seiner Worte ab wog, gefiel Berglundson nicht. Ganz und gar nicht. Er erinnerte sich an das, was er vorhin belauscht hatte, und be mühte sich, seine nächsten Worte so unverfänglich wie möglich zu formulieren. »Bei dieser jungen Frau muß es sich demnach um eine wichtige Person handeln«, sagte er. »Sonst hätten Sie sie wohl kaum in den Prominententrakt aufgenommen. Sie wissen also, wer sie ist?« »Aber natürlich. Natürlich weiß ich das«, erwiderte Dr. Romano. Er lächelte freundlich. »Aber Sie werden verstehen, daß ich Ihnen aus Gründen der Diskretion leider nichts darüber sagen kann.« Dr. Romano spielte gut. Sehr gut sogar. Jemand, der es nicht bes ser gewußt hätte, hätte ihm nie angemerkt, daß er log. Aber Berglundson wußte es besser! »Ich will sie sehen«, platzte es aus ihm heraus. »Sie sehen?« wiederholte Dr. Romano überrascht. »Ja. Ich will sehen, wie es ihr geht. Und kurz mit ihr reden.« »Nein.« Dr. Romano schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das geht nicht.« »Warum nicht? Schließlich habe ich doch bereits heute morgen mit ihr zu tun gehabt. Ihre Diskretion in allen Ehren – aber was würde es ändern, wenn ich sie noch ein zweites Mal sähe? Warum kann ich nicht kurz mit ihr sprechen?« »Nun, weil … weil sie gesagt hat, daß sie niemanden sehen will. Auch Sie nicht. Äh, sie hat mir übrigens ausdrücklich aufgetragen, Ihnen auszurichten, daß sie Ihnen dankbar für alles ist. Aber ebenso ausdrücklich hat sie gesagt, daß sie außer ihren engsten Angehöri
gen niemanden sehen will. Und diesen Wunsch müssen wir respek tieren.« Berglundson hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Der Chefarzt log – das spürte er ganz genau. »Hören Sie«, stimmte Dr. Romano einen versöhnlicheren Tonfall an. »Ich glaube, Sie nehmen sich das alles ein wenig zu sehr zu Her zen. Wie schon gesagt – wir werden über das alles reden, wenn Sie wieder genesen sind. Und dann können wir auch über eine andere Sache reden, die mir im Kopf herumgeht.« »Was meinen Sie?« »Ach, ich dachte, es hätte sich schon herumgesprochen. In ein paar Monaten wird der Posten des stellvertretenden Leiters der Chirurgie frei. Ja, und ich könnte mir durchaus vorstellen, daß Sie der richtige Mann dafür sind.« Berglundson verstand genau, was der Chefarzt damit sagen woll te: Halt die Klappe, und wenn du schön artig bist, bekommst du auch deine Belohnung! Dr. Romano sah demonstrativ auf seine brillantenbesetzte Arm banduhr. »Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Es wartet noch eine Menge Arbeit auf mich.« Berglundson lagen noch unzählige weitere Fragen auf der Zunge, aber er wußte, daß er nicht weiterkommen würde. Im Gegenteil, wenn er versuchen würde, noch mehr zu erfahren, würde er es sich höchstens mit dem Chefarzt verscherzen. Dessen resoluter Gesichts ausdruck machte deutlich klar, daß er nicht gewillt war, die Unter haltung noch länger weiterzuführen. Aber das war im Grunde genommen auch gar nicht nötig, tröstete Berglundson sich. Er hatte genug erfahren. Genug, um zu wissen, daß hier etwas gewaltig faul war. Er verabschiedete sich vom Chefarzt, der ihm noch mit auf den
Weg gab, welcher Arzt sich um die weitere Behandlung der Hand kümmern würde. Als er das Vorzimmer durchquerte, nickte Berglundson der Sekre tärin kurz zu, und seine freundliche Maske hielt genau so lange, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte und draußen auf dem Korri dor stehenblieb. Sehnsüchtig sah er zu der Glastür, die nur wenige Meter weiter den Zugang zum Prominententrakt versperrte. Er mußte dort hindurch! Er mußte die Frau wiedersehen und sich mit eigenen Augen über zeugen, wie es um sie stand! Aber wie sollte er an dem Pförtner vor beikommen? In seinem Kopf überschlugen sich Dutzende schnell zurechtgezim merter Pläne. Vielleicht, wenn er die Sicherungen herausdrehte … Oder wenn er den Pförtner irgendwie ablenken könnte … Vielleicht mit Hilfe irgendeines Kollegen … Da drang hinter ihm Dr. Romanos Stimme durch die geschlossene Tür: »Holen Sie mir bitte den Pförtner zum Prominententrakt her. Ich will, daß die Sicherheitsmaßnahmen in den nächsten Tagen ver stärkt werden.« »Ganz wie Sie wünschen, Doktor.« Die Stimme seiner Sekretärin war so leise, daß ihre Worte eher zu erahnen denn genau zu verste hen waren. Berglundson handelte, ohne darüber nachzudenken. Er wandte sich zur erstbesten Tür auf der gegenüberliegenden Korridorseite und fand sie unabgeschlossen vor. Dahinter lag eine kleine Teekü che. Schnell drückte er sich hinein. Er schloß die Tür nicht ganz, son dern ließ einen kleinen, zentimeterbreiten Spalt offen.
Durch ihn hindurch konnte er sehen, wie Dr. Romanos Sekretärin auf den Korridor trat, in Richtung der Glastür ging und wenig spä ter mit dem wachhabenden Pförtner zurückkam. Zusammen mit ihm verschwand sie wieder im Vorzimmer. Berglundson trat mit klopfendem Herzen auf den Korridor hinaus und warf einen Blick in die Runde. Weit und breit war niemand zu sehen. Er war allein. Er atmete tief durch. Jetzt oder nie. Das war eine Chance, wie sie sich ihm so schnell nicht wieder bieten würde. Vielleicht sogar nie wieder. Er schlich zur Glastür und betrat die verwaiste Pförtnerloge. Eine innere Stimme sagte ihm, daß das, was er vorhatte, falsch war, daß er dabei seinen Job aufs Spiel setzte und daß es noch tausend weite re Gründe gab, sofort umzukehren und das Vorhaben zu vergessen, doch er drängte all diese Überlegungen beiseite. Nein, er konnte diese Frau nicht vergessen. Ein kurzer Knopfdruck – und die panzerglasverstärkte Glastür schwang zur Seite. Berglundson schlüpfte hindurch und eilte den dahinterliegenden Korridor entlang. Erst als er den nächsten Seitengang erreicht hatte und von der Glastür aus nicht mehr zu sehen war, blieb er stehen. Schweratmend lehnte er sich gegen die Wand und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, das erneut in ihm aufstieg. Als er wieder zu Atem gekommen war, blickte er sich erneut um und versuchte sich daran zu erinnern, wie der Prominententrakt aufgebaut war. Wohin jetzt? Eine Krankenschwester, die urplötzlich vor ihm aus einer Tür trat, nahm ihm die Entscheidung ab. Sie hatte langes blondes Haar, ein
makellos schönes Gesicht und eine Figur, die Sharon Stone vor Neid hätte erblassen lassen. Alles in allem sah sie so aus, als sei sie direkt einem Katalog für Supermodels entsprungen. Berglundson begriff, daß sich die Annehmlichkeiten eines Promi nententraktes bei weitem nicht nur auf die Einrichtung beschränk ten. »Guten Abend, Doktor«, grüßte sie ihn im Vorbeigehen freund lich. »Guten Abend«, erwiderte er wie gelähmt – und überrascht, daß sie keinen Alarm schlug. Doch dann wurde ihm bewußt, daß sie von seinem unbefugten Eindringen ja nichts wissen konnte. Natürlich! Sie mußte annehmen, daß er mit der Erlaubnis des Chefarztes hier war. Anderenfalls wäre er kaum am Pförtner vorbeigekommen. »Ach, äh, Schwester«, hielt er sie zurück. »Sagen Sie, in welchem Raum ist die Neueinlieferung von heute morgen? Dr. Romano hat leider vergessen mir zu sagen, in welcher Suite sie untergebracht ist.« Irgendwie entsprach das sogar der Wahrheit. »Aber sie ist in keiner Suite, sondern befindet sich immer noch im Behandlungsraum«, gab die Schwester bereitwillig Auskunft. »Dort am Ende des Korridors. Sie können es gar nicht verfehlen.« Berglundson bedankte sich. Die Schwester aus dem Model-Kata log schenkte ihm noch ein Lächeln, das zwei strahlend weiße Zahn reihen entblößte, und ging weiter. Berglundson wandte sich in die angegebene Richtung. Eine Auf schrift auf einer Tür wies ihm den richtigen Weg. Mit klopfendem Herzen drückte er die Klinke herunter. Seine Sor ge, die Tür könnte abgeschlossen sein, erfüllte sich glücklicherweise nicht. Dahinter lag ein Vorraum mit allerlei medizinischem Gerät, und
durch eine große Scheibe konnte man in den nebenan liegenden Raum sehen. Berglundson trat an sie heran, und als er hindurchschaute, ent deckte er sie. Wieder spürte er diese geheimnisvolle, hypnotische Aura, die von ihr ausging. Eine Aura, die ihn an nichts anderes mehr denken ließ. Kein Zweifel – sie war es. Sie lag auf einer Liege, nur halb von einer Bettdecke verhüllt, und es war zu sehen, daß sie noch immer dieses eigenartige schwarze Kleid am Leib trug. Die Erinnerung daran, was mit seiner Hand geschehen war, ließ Berglundson trocken schlucken. Doch das beklemmende Gefühl ver schwand so schnell, wie es gekommen war, als er sah, daß die Hand- und Fußgelenke der Frau mit Lederriemen an die Liege ge fesselt waren. Er fühlte Empörung in sich aufsteigen. Wer hatte so etwas ange ordnet? Dr. Romano? Verwundert bemerkte Berglundson, daß die Wunden, die heute nacht ihren Körper bedeckt hatten, so gut wie verschwunden waren. Nur dort, wo in ihrer Schulter ein tiefer Riß geklafft hatte, war noch ein dünner roter Striemen zu sehen. Da geschah etwas, das ihn vollkommen aus der Fassung brachte. Die junge Frau begann sich zu bewegen. Sie zog und zerrte an den Leserfesseln, doch vergeblich. Und dann – ganz plötzlich – hob sie den Kopf und sah in Richtung der Scheibe. Der Blick aus ihren Augen traf ihn mit einer solchen Wucht, daß er unwillkürlich einen halben Schritt zurückwich. Aber er war nicht imstande, den Blick von diesen Augen abzuwenden. Grün, wisperte ein Gedanke in ihm. Sie sind grün. Wie er es sich ge
dacht hatte. Eine unbestimmte Zeitspanne starrten sie sich auf diese Weise an. Berglundson hatte das Gefühl, als wolle sie ihm etwas mitteilen, und kaum war er sich dessen bewußt geworden, hallte auch schon eine Stimme durch seinen Kopf – so klar und deutlich, als würde er sie tatsächlich hören. Komm! Komm her zu mir und hilf mir. Ich brauche dich! Es war ihre Stimme, dessen war er sich sicher. Und sie war von ei ner Intensität, die jeden Widerstand verbot. Wie in Trance wandte sich Berglundson von der Scheibe ab und ging zur Zwischentür. Er mußte dieser Frau helfen. Unbedingt! Seine Hand drückte die Klinke herunter.
* Als Lilith abermals erwachte, war die Sonne bereits untergegangen. Und mit ihr war auch das Unbehagen verschwunden, das ihr Licht mit sich gebracht hatte. Was geblieben war, war die unendliche Erschöpfung und Matt heit, die Liliths Körper ausfüllte und gefangen hielt. Und geblieben war auch der Durst – unerträglicher und stärker als je zuvor! Erneut versuchte sie, die Lederfesseln zu zerreißen, doch noch im mer war sie zu schwach dazu. Viel zu schwach. Lilith spürte Verzweiflung. Wenn sie nicht bald etwas zu trinken bekam, würde sie verenden wie ein Verdurstender in der Wüste. Sie bewegte sich unruhig und hielt plötzlich inne.
Da war jemand! Das spürte sie mit allen Sinnen, die ihre nicht menschliche Mutter ihr mitgegeben hatte. Sie hob den Kopf und blickte in Richtung der Scheibe zu dem an deren Raum. Dort stand ein junger Arzt mit kurzem blondem Haar und beob achtete sie. Als ihr Blick ihn traf, prallte er einen halben Schritt zu rück, aber Lilith ließ nicht zu, daß er ihrem geistigen Griff entkam. Sie brauchte ihn. Sie brauchte ihn mehr als alles andere. Denn er konnte ihr das geben, wonach sie sich am meisten sehnte. Blut! Warmes, frisches Blut. Sie mußte ihn nur dazu bewegen, zu ihr zu kommen. Komm! dachte sie mit aller Intensität, zu der sie fähig war. Komm her zu mir und hilf mir. Ich brauche dich! Sie sah, wie er sich gehorsam in Bewegung setzte und zur Zwi schentür ging. Erschöpft ließ Lilith sich auf die Liege zurücksinken. Sie hatte das Gefühl, als hätte der Versuch sämtliche Kräfte bean sprucht, die aufzubringen sie noch imstande gewesen war. Aber nun würde alles gut werden. Wenn sie sich nur erst einmal gestärkt hatte … Sie hörte, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Ein mattes Lächeln flog über ihr bleiches Gesicht. Nur noch ein paar Augenblicke, und dann …
* »Was machen Sie denn da?« Die Stimme erreichte Berglundson wie aus unendlich weiter Ferne.
Erst als ihn irgend jemand an der Schulter packte, schrak er zusam men – so heftig wie noch nie in seinem Leben. Seine Hand löste sich von der Klinke. Die Tür, die er schon einen Spalt weit geöffnet hatte, fiel wieder ins Schloß zurück. Berglundsons Blick wurde wieder klar, und das erste, was er sah, war das wütende Gesicht des Chefarztes direkt vor ihm. »Ich habe Sie gefragt, was Sie da tun!« knurrte Dr. Romano. »Wie kommen Sie überhaupt hierher? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Sie nach Hause gehen sollen?« »Ich … ich …«, versuchte Berglundson sich zu rechtfertigen. Aber es fiel ihm nichts ein, womit er das hätte tun können. Er hatte doch nur die Frau wiedersehen wollen. Diese Frau mit den grünen Augen. Diese Augen, die ihn angefleht hatten, zu ihr zu kommen und ihr zu … »Los, machen Sie, daß Sie hier herauskommen!« rief Dr. Romano ärgerlich. »Und zwar sofort. In Anbetracht der Tatsache, daß Sie aufgrund der verabreichten Schmerzmittel noch nicht ganz zurech nungsfähig sind, werde ich davon absehen, Sie auf der Stelle zu ent lassen.« Er hob drohend den Zeigefinger. »Aber ich kann Ihnen ver sprechen: Wenn Sie sich in den nächsten zwei Wochen noch einmal hier in diesem Trakt blicken lassen, dann dürfen Sie in derselben Stunde anfangen, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. So, und jetzt raus hier. Der Pförtner wird Sie zurückbegleiten und Ihnen ein Taxi bestellen.« Berglundson bemerkte erst jetzt, daß Dr. Romano nicht alleine ge kommen war. In seiner Begleitung befanden sich der Pförtner zum Prominententrakt und die blonde Krankenschwester, der Berglund son auf dem Weg hierher begegnet war. Er begriff, daß er ihre Auffassungsgabe gründlich unterschätzt
hatte. Sie mußte es gewesen sein, die den Chefarzt alarmiert hatte, sonst hätte dieser nie so schnell hier sein können. »Verstehen Sie überhaupt, was ich sage?« erkundigte sich Dr. Ro mano ungehalten und fuchtelte mit seiner Hand vor Berglundsons Gesicht herum. »Ja«, erwiderte Berglundson. »Ja, ich verstehe Sie.« »Worauf warten Sie dann noch? Los, machen Sie, daß Sie endlich verschwinden.« Dr. Romano gab dem breitschultrigen Pförtner einen Wink. Ehe Berglundson es sich versah, hatte der Pförtner ihn an der Schulter gepackt und führte ihn vor sich her hinaus auf den Korri dor. »Los, Freundchen«, knurrte er. »Da geht’s lang.« Berglundson ließ sich wie betäubt wegführen. Er fühlte sich selt sam willenlos und war nicht in der Lage, irgendwelchen Widerstand zu leisten. Dr. Romano warf derweil einen forschenden Blick durch das Fens ter in den Nachbarraum. Zu seiner Beruhigung lag die Patientin of fensichtlich noch immer bewußtlos auf der Liege. Sie schien von dem, was geschehen war, nichts gemerkt zu haben. Gut so. Der Chefarzt wandte sich an die Blondine. »Ich habe eine Sonderaufgabe für Sie, Schwester Gardner. Sie blei ben hier und lassen die Patientin in den nächsten Stunden keinen Augenblick lang aus den Augen. Ich werde Ihnen so schnell wie möglich jemanden schicken, mit dem Sie sich ablösen können. Aber bis dahin sind Sie mir persönlich für sie verantwortlich.« »Ich habe verstanden.« »Und sobald sich irgend etwas Ungewöhnliches tut oder sie das Bewußtsein wiedererlangt, verständigen Sie mich!«
»Sie können sich auf mich verlassen.« Dr. Romano nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Sonst hätte ich Sie nicht eingestellt.«
* Der Pförtner hatte von seiner Kabine aus ein Taxi zum Hauptein gang der Klinik gerufen. Doch damit nicht genug. Er ließ es sich nicht nehmen, Berglundson persönlich dorthin zu begleiten. »Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich vor der Ab fahrt noch meine persönlichen Sachen hole?« fragte Berglundson, als sie am Pausenraum für das Personal vorbeikamen. In den letzten Minuten hatte er mehr und mehr zu sich zurückgefunden. »Beeilen Sie sich. Und keine Tricks. Ich werde hier auf Sie warten.« »Keine Bange, ich bin gleich zurück.« Berglundson betrat den Aufenthaltsraum. Bis auf eine Kranken schwester war niemand anwesend. »Eine Frage«, wandte Berglundson sich an sie. »Wissen Sie, wann Schwester Mayfield in der nächsten Nacht oder morgen früh Dienst hat?« »Weder – noch«, lautete die Antwort. »Sie hat außerplanmäßigen Urlaub erhalten. Vier Wochen lang. Vom Chefarzt persönlich geneh migt.« Die Schwester machte ein verschwörerisches Gesicht. »Also wenn der Chefarzt nicht weitaus bessere Möglichkeiten hätte, könn te man fast annehmen, daß die beiden …« Sie ließ den Rest des Sat zes unausgesprochen. Berglundson reagierte nicht auf die scherzhafte Unterstellung. Ihm gingen andere Gedanken im Kopf herum.
»Vom Chefarzt persönlich«, sagte er. »Das überrascht mich nicht. Sagen Sie, Schwester, Sie sind doch mit Schwester Mayfield etwas näher bekannt.« »Ja, das könnte man sagen. Warum?« »Wissen Sie, wo sie wohnt? Können Sie mir ihre Adresse geben?« »Aber natürlich. Chelsea Street 39. Aber wieso …?« »Ach, ich habe noch ein paar dienstliche Dinge mit ihr zu klären und kann nicht warten, bis sie aus dem Urlaub zurück ist. Haben Sie vielen Dank.« Er verließ den Aufenthaltsraum wieder. Draußen wartete der Pförtner auf ihn. Er führte ihn zum Haupteingang und hinaus zum Taxi, das bereits vorgefahren war. Nachdem Berglundson eingestiegen war, beugte der Pförtner sich zu ihm herunter. »Ich habe keine Ahnung, worum es bei all dem geht«, sagte er. »Aber wenn ich Ihnen einen gutgemeinten Rat geben darf, Doktor, dann tun Sie, was Dr. Romano gesagt hat. Bleiben Sie erst einmal eine Zeitlang zu Hause und lassen Sie Gras über die Sache wachsen. Das ist gesünder für Sie. Ehrlich gesagt, ich habe den Chef noch nie so außer sich erlebt wie heute.« Berglundson bedankte sich mit einem Nicken und schloß die Tür. »Wohin soll’s denn gehen?« fragte der Fahrer. Berglundson schloß die Augen und dachte einen Moment lang nach. Komm! klang es in seinem Kopf. Komm her zu mir und hilf mir. Ich brauche dich! Er verspürte das Verlangen, auf der Stelle wieder auszusteigen und in den Prominententrakt zurückzukehren. Doch dann siegte die Vernunft.
»Bringen Sie mich in die Stadt«, antwortete er. »Chelsea Street 39.«
* Krankenschwester Maxime Gardner hatte es sich gerade diesseits der Beobachtungsscheibe in einem Sessel bequem gemacht, als die Patientin im Nebenraum sich unruhig zu bewegen begann. Die Schwester blickte unschlüssig durch die Scheibe und überleg te, ob diese Bewegungen ein ausreichender Grund waren, den Chef arzt zu informieren. Es war noch keine zehn Minuten her, daß er den Raum verlassen hatte, und sie wußte, wie ungehalten er reagie ren konnte, wenn man ihn unnötigerweise belästigte. Um seine Lau ne schien es heute ohnehin nicht zum besten bestellt zu sein. Maxime wartete noch einen Augenblick, ob die unruhigen Bewe gungen aufhören würden. Sie ließen zwar etwas nach, erstarben aber nicht völlig. Da von hier aus nicht zu erkennen war, ob die Patientin das Be wußtsein wiedererlangt hatte oder nicht, beschloß Maxime, nach ne benan zu gehen und selbst nachzusehen, was mit ihr los war. Schließlich hatte Dr. Romano nicht verboten, den Nebenraum zu be treten. Falls sich herausstellte, daß die Patientin tatsächlich wach ge worden war, war anschließend noch immer Zeit, ihn zu verständi gen. Leise betrat Maxime den Nebenraum und näherte sich der Liege. Die schwarzhaarige Frau bewegte sich weiterhin unruhig, so als hät te sie Schmerzen oder würde unter unruhigen Träumen leiden. Maxime Gardner beugte sich über die Liege, um das Gesicht der jungen Frau zu sehen. Da schlug Lilith die Augen auf.
Maxime zuckte zurück, als der Blick der grünen Augen sie traf. Sie spürte das Verlangen, so schnell wie möglich die Flucht zu ergrei fen, aber irgend etwas hinderte sie daran, sich abzuwenden und wegzulaufen. Es war diese Stimme in ihrem Kopf, die mit dem Blick einherging. Geh nicht! wisperte es in ihren Gedanken. Bleib! Bleib bei mir. Maxime verharrte. Ja! Warum eigentlich nicht? Was sprach dagegen, noch ein wenig länger hierzubleiben? Komm! sagten die grünen Augen. Wie erstarrt beugte sich die Krankenschwester tiefer herab, gefes selt vom Blick der grünen Augen. Komm zu mir! Ganz nah! Mit einem Male fühlte sie sich auf irgendeine Art und Weise zu der Frau hingezogen. Sie streckte die Hand aus und strich über die Wange der Patientin, fuhr ihr durch das nachtschwarze Haar. Sie hätte es nie für möglich gehalten, daß eine Frau in ihr solche Gefühle zu erwecken vermochte – dieser Gedanke war so weit weg gewesen, daß sie bislang nicht einmal darüber nachgedacht hatte –, aber nun ergab sich alles ganz wie von selbst. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, diese Frau zu küssen. Der Blick der grünen Augen lud sie ein, es auszuprobieren, und einen Moment später wurde aus der Vorstellung Realität. Maxime spürte, wie die an die Liege gefesselte Hand der Patientin sie dort berührte, wo sie mit der Hüfte gegen die Liege stieß. Es war das Natürlichste der Welt, die Lederfessel zu lösen, um der Hand mehr Bewegungsfreiheit zu geben. Maxime wurde nicht enttäuscht. Mit zielsicherem Griff fanden die Finger den Weg unter ihren Kit
tel. Maxime stöhnte auf, und während sie sich wieder vorbeugte, hob sie ein Bein auf die Liege, um den Fingern alles zu ermöglichen, was sie mit ihr zu tun beabsichtigten. Sie preßte sich noch enger an die Frau, als wollte sie allein damit ihre Verschmelzung herbeiführen – eine Verschmelzung, die alles übertraf, was sie bislang erlebt hatte. Maximes Hals war jetzt ganz dicht neben dem Mund der Schwarz haarigen, und sie drehte den Kopf wie unter einem inneren Zwang zur Seite. Sie schrie auf, und in ihre Lust mischte sich Schmerz, als Liliths Zähne sich in ihren Hals gruben und zur Schlagader vorstießen. Doch erst dieser Schmerz machte alles wirklich perfekt.
* Lilith mußte sich beherrschen, um die blonde Krankenschwester nicht bis auf den letzten Blutstropfen leerzusaugen. Denn in dem Fall wäre ihr nicht anderes übriggeblieben, als ihr anschließend das Genick zu brechen – wollte sie keine Dienerkreatur aus ihr machen, die künftig dazu verdammt war, ihr Leben im Schutze der Dunkel heit zu fristen und sich ihrerseits von Blut zu ernähren. So nahm sie sich im letzten Augenblick zurück und zog ihre Zäh ne aus dem weichen Fleisch zurück. Ihre Lippen waren bemüht, kei nen Tropfen des Blutes zu verschwenden, das noch ein, zwei Sekun den lang im Takt der Schlagader aus dem Hals trat. Dann hatte die Wunde sich geschlossen. Lilith spürte, wie neue Kräfte sie durchströmten, und stieß einen wohligen Seufzer aus. Die Krankenschwester verharrte währenddessen wie eine Mario
nette neben der Liege. Jetzt, da sie keine Befehle mehr von Lilith empfing, war sämtlicher Willen aus ihr gewichen. Die Schwester hatte nur ihre rechte Hand losgebunden, aber Lilith mußte sie nicht zu Hilfe nehmen, um sich von den übrigen Fesseln zu befreien. Ein kurzer Ruck, und die Lederbänder rissen wie ein überspanntes Gummiband. Achtlos streifte sie die zerrissenen En den ab. Auch wenn die Mahlzeit sie gestärkt und ihr einen Teil ihrer alten Kräfte zurückgegeben hatte, die Mattheit und Erschöpfung in ihren Gliedern war noch immer nicht gewichen und gegenwärtig. Sie brauchte noch mehr Blut! Lilith brachte über die Krankenschwester in Erfahrung, wo sie sich befand und wie sie hier wieder herauskam. Die junge Blondine be antwortete alle ihre Fragen mit regloser Miene. Lilith beschloß, das Krankenhaus noch nicht gleich zu verlassen. Nein, zuvor würde sie sich hier ihre nächste Ration besorgen. Sie stand auf und sah an sich herab. Das schwarze Kleid klebte wie tot auf ihrer Haut, und dort, wo die tätowierten Fratzen des VampirKillers es zerrissen hatten, klafften große Lücken. Lilith versuchte den Symbionten zu veranlassen, eine andere Form anzunehmen, doch er reagierte nicht, gleichgültig, wie sehr sie sich auch bemühte. Da sie in diesem Aufzug kaum weit kommen würde, ohne be merkt zu werden, befahl sie der Krankenschwester, den weißen Kit tel auszuziehen, und streifte ihn selbst über. Die Schuhe paßten ihr leider nicht, also blieb sie barfuß. Anschließend befahl sie der Krankenschwester, die unter dem Kit tel außer einem Slip nichts getragen hatte, auf den Sessel im Neben raum zurückzukehren, einzuschlafen und alles zu vergessen, was geschehen war. Wenn sie wieder aufwachte, sollte sie glauben, wäh
rend der Beobachtung eingenickt zu sein. Da Lilith keine Erklärung einfiel, warum die Schwester bis auf den Slip nichts am Leibe trug, suggerierte sie ihr nichts Diesbezügliches ein. Mochte sie nach dem Aufwachen selbst herausfinden, wo ihr Kittel abgeblieben war! Lilith trat auf den Korridor hinaus. Die Beschreibung der Räumlichkeiten dieses Traktes, die ihr die Schwester gegeben hatte, erwies sich als überaus genau. Es dauerte nicht lange, bis vor ihr die Pförtnerloge auftauchte. Den Dienst versah noch immer der breitschultrige Pförtner, der Berglundson früher am Abend zum Taxi gebracht hatte. Doch da von konnte Lilith nichts wissen. Sie sah nur seinen massigen Körper, in dem genügend Blut enthalten war, ihren Durst endgültig zu stil len. Und wenn sie das erst einmal getan hatte, würde auch diese bleier ne Schwäche in ihren Gliedern verschwunden sein. Langsam und leicht geduckt schlich sie näher, und von Schritt zu Schritt übernahmen ihre Vampirinstinkte mehr und mehr die Kon trolle über ihr Handeln und Denken. Zum Glück war der Pförtner in erster Linie darauf bedacht, den Korridorabschnitt vor dem Prominententrakt im Auge zu behalten. Damit, daß jemand von hinten kommen könnte, schien er nicht zu rechnen. Lilith erreichte die Loge unbemerkt. Sie schaffte es, die Tür lautlos aufzuziehen, und schlüpfte in den Raum hinein. Erst als sie sich dem Pförtner bis auf drei, vier Schritte genähert hatte, zuckte sein Kopf urplötzlich herum. »Sie?« entfuhr es ihm. Dieser Ausruf überraschte Lilith so sehr, daß sie beinahe entschei dende Zehntelsekunden verloren hätte.
Seine Hand zuckte in Richtung eines der Knöpfe auf dem Tisch vor ihm, und als er versuchte, ihn zu drücken, sprang Lilith ge schmeidig wie ein Panther vor. Ihr Schlag wäre normalerweise kräftig genug gewesen, seinen massigen Körper gegen die Wand zu schleudern, doch jetzt reichte er gerade einmal aus, den Pförtner samt dem Sessel auf den Boden zu werfen – ein Anzeichen, wie sehr sie noch geschwächt war. Schnell kam der Pförtner wieder hoch und versuchte die Waffe in seinem Holster zu ziehen. Lilith war erneut schneller, und diesmal warf ihn ihr Schlag tatsächlich gegen die Wand. Ächzend sank er zu Boden und verdrehte die Augen. Lilith näherte sich ihm wie ein wildes Tier. »Nein!« stieß er entsetzt hervor, als sie sich über ihn beugte und ihre langen Eckzähne entblößte. Dieser Anblick schien in ihm noch einmal Kräfte freizusetzen, die sie ihm nicht zugetraut hatte. Er winkelte die Beine an, rammte sie ihr mit aller Kraft in den Leib und warf Lilith quer durch die Loge. Zwar kam sie katzengleich sofort auf die Beine zurück und wirbel te in seine Richtung, doch in der Zwischenzeit war er bereits zum Tisch gehechtet, und seine Hand hieb den Knopf nieder, den er zu vor vergeblich zu erreichen versucht hatte. Im gleichen Augenblick schrillten überall im Haus die Alarmglo cken auf. Lilith, die im Begriff gewesen war, ihn erneut anzuspringen und ihm diesmal keine Chance zu lassen, erstarrte. Irritiert sah sie sich um, und aus ihrer Kehle löste sich ein animalisches Knurren. Es dauerte einen Moment, ehe ihr Verstand wieder die Vorherr schaft übernahm. Sie mußte hier weg!
Ohne den Pförtner weiter zu beachten, wandte sie sich zur Flucht, verließ die Pförtnerloge und jagte in langen Sprüngen den Korridor entlang. Überall wurden Türen aufgerissen. Ärzte und anderes Personal traten auf die Korridore. Hinter Lilith entstand Tumult. Sie hörte, wie der Pförtner um Hilfe rief, und bald war eine andere Stimme zu vernehmen. »Die Frau in dem Kittel! Haltet sie auf!« Lilith kümmerte sich nicht darum, sondern hetzte weiter. Aus einer Tür vor ihr traten zwei Ärzte, die sie aufzuhalten ver suchten. Sie stieß sie beiseite, kam dabei selbst ins Stolpern und stürzte zu Boden, rappelte sich jedoch sofort wieder auf und lief weiter. Verdammt! Irgendwo mußte sich doch der Ausgang befinden. »Die Türen schließen!« brüllte jemand. »Und verständigt die Wa chen!« Lilith hetzte über eine Treppe zum Erdgeschoß hinunter und ver harrte, als vor ihr am Treppenabsatz plötzlich vier kräftige Männer in den Uniformen der Wachmannschaft auftauchten. Mit gezogenen Waffen.
* »Da sind wir«, sagte der Taxifahrer und deutete auf den Hausein gang, vor dem er angehalten hatte. »Chelsea Street 39.« Berglundson zahlte den Fahrpreis – froh darüber, daß er seine Brieftasche, an die er bis jetzt gar nicht gedacht hatte, überhaupt da beihatte – und stieg aus.
Nachdem das Taxi wieder abgefahren war, sah er sich um. Die Chelsea Street war nicht gerade das, was man als allererste Wohnadresse bezeichnen würde. Auch dritte Wahl wäre noch etwas geschmeichelt gewesen. Berglundson blickte an der grauen Backsteinfassade des Mietshau ses vor ihm empor, die sich irgendwo über ihm im Nachthimmel verlor, und hoffte, daß eines der beleuchteten Fenster zu Schwester Mayfields Wohnung gehörte. Ihr Name auf dem Klingelschild war kaum zu entziffern. Auf sein Drücken hin tat sich nichts, dafür war die Eingangstür nur ange lehnt. Berglundson stieg nach oben. Das Treppenhaus war schmutzig und die Wände mit Graffiti übersät. Vor der Tür zu Virginia May fields Wohnung blieb er stehen. Schwacher Lichtschein drang aus dem Spalt unter der Tür. Er klopfte, und kurz darauf war ihre Stimme durch das Holz zu hören. »Wer ist da?« rief sie, ohne zu öffnen. Berglundson verstand, daß man vorsichtig sein mußte, wenn man in dieser Gegend wohnte. Er fragte sich, ob Schwester Mayfields Ge halt wirklich so gering war, daß sie sich nichts Besseres leisten konn te. »Ich bin es«, antwortete er. »Dr. Berglundson.« Die Tür öffnete sich, und Schwester Mayfield streckte den Kopf heraus. »Sie?« fragte sie überrascht. »Ja. Ich hätte noch ein paar Fragen wegen heute morgen. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?« Es schien ihr schwerzufallen, ihn zu sich hereinzulassen, aber
schließlich öffnete sie die Tür ganz und bedeutete ihm einzutreten. Der schäbige Eindruck, den das Haus nach außen hin machte, setzte sich im Innern ihrer Wohnung nicht fort. Die Einrichtung war zwar schlicht, aber geschmackvoll und gemütlich. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, nahm aber weder selbst Platz, noch bot sie ihm einen an. Ein deutliches Zeichen, daß sie keinen längeren Besuch wünschte. Also kam er – nachdem sie sich nach seinem Befinden erkundigt und er mit einer höflichen Floskel geantwortet hatte – unumwunden auf den Kern seines Anliegens zu sprechen. Er wollte wissen, wie sich der Zwischenfall in der letzten Nacht aus ihrer Sicht zugetragen hatte. Insbesondere soweit es seine Hand betraf. Sie konnte ihm jedoch nur sagen, daß sie den Vorfall selbst nicht beobachtet hatte, weil sie sich in jenem Augenblick voll und ganz auf die Anzeigen der Diagnoseeinheit konzentriert hatte. »Genau wie Sie es mir gesagt haben«, fügte sie hinzu. »Es war alles viel zu schnell vorbei.« »Und was ist dann geschehen? Nachdem ich das Bewußtsein ver loren habe?« »Ich habe Dr. Romano gerufen, und von da an hat er sich selbst um alles gekümmert.« Sie sah zu Boden und atmete tief durch. »Und mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Das kann doch nicht alles sein. Er muß doch irgend etwas gesagt haben. Vielleicht etwas über die Patientin.« Sie schwieg eine Zeitlang und seufzte schwer. »Hören Sie, Dr. Berglundson, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich kann Ihnen einfach nicht mehr sagen. Ich habe strikte An weisung, mich mit niemandem darüber zu unterhalten.« Sie hob den Kopf, sah den jungen Arzt an, und in ihren Augen stand die stumme Bitte um Verzeihung. »Auch mit Ihnen nicht.«
»Hat Dr. Romano das angeordnet?« Sie nickte zögernd. »Ich verstehe«, sagte er bitter. »Und um sich erkenntlich zu zeigen, hat er Ihnen gleich einen kleinen Sonderurlaub gewährt. Natürlich auf Kosten der Klinik. Hat er Ihnen außerdem auch eine Gehaltser höhung angeboten?« Sein anklagender Tonfall traf sie sichtlich. Sie wandte sich ab, ging zum Fenster und sah hinaus. Nur ihre zuckenden Hände verrieten, wie es in ihr aussah. »Bitte, Doktor! Sie verstehen das nicht. Sie verdienen so gut, daß Sie meine Sorgen kaum nachvollziehen können. Oder glauben Sie vielleicht, ich würde gerne in einer Gegend wie dieser wohnen?« »Aber … Ihr Gehalt kann doch nicht so gering sein, daß Sie sich nicht …« »Sicherlich«, fiel sie ihm ins Wort. »Die St. Margarete’s Clinic zahlt nicht schlecht. Mehr als jedes vergleichbare Krankenhaus, ich weiß. Aber von dem Geld bleibt mir kaum mehr als die Hälfte. Den Rest überweise ich Monat für Monat an ein Altenpflegeheim in Melbour ne. Meine Mutter lebt dort. Seit ihrem schweren Schlaganfall vor acht Jahren schon. Seitdem ist sie rund um die Uhr pflegebedürftig. Und jedes Wochenende fahre ich zu ihr und kümmere mich selbst um sie.« »Tut mir leid. Das wußte ich nicht.« »Natürlich nicht! Niemand in der Klinik weiß es.« Sie wandte sich abrupt um, und in ihren Augen schimmerte es feucht. »Was ist also unrecht daran, wenn ich diese Chance nicht ungenutzt an mir vor beiziehen lasse? Zumal ich nichts anderes zu tun habe als zu schwei gen. Warum sollte ich ausnahmsweise nicht auch einmal ein bißchen Glück haben? Ich will ja nicht viel. Nur ein wenig mehr für mich. Damit ich mir den einen oder anderen Wunsch erfüllen kann. Von
Zeit zu Zeit ein neues Kleid. Oder einmal im Monat ausgehen. Ein bißchen Spaß haben. Das würde mir schon genügen.« Sie sah ihn eindringlich an. »Sagen Sie mir, Doktor, was ist so unrecht daran?« Er wußte keine Antwort darauf und schwieg. »Also stellen Sie mir bitte keine weiteren Fragen«, bat sie ihn ein dringlich. »Und gehen Sie.« Er nickte und wandte sich zum Gehen. »Bitte, Doktor!« rief sie ihm hinterher. »Seien Sie mir nicht böse. Bitte verstehen Sie mich. Ich kann nicht anders.« Er wandte sich um und zwang sich zu einem versöhnlichen Lä cheln. »Nein, Schwester Mayfield, ich bin Ihnen nicht böse. Ganz im Ge genteil. Ich bin Ihnen sogar dankbar.« »Dankbar?« Sie sah ihn verständnislos an. »Wofür?« »Dafür, daß Sie mir gerade etwas klargemacht haben. Daß ich die se Sache nämlich alleine durchzustehen habe. Ganz alleine.« »Ich weiß zwar nicht, worum es geht, und ich möchte es auch gar nicht wissen. Aber eines wünsche ich Ihnen: Viel Glück!« »Danke. Ich glaube, das kann ich brauchen.« Und zwar mehr als je zuvor, fügte er in Gedanken hinzu. Zumal er selbst nicht genau wußte, was er eigentlich wollte. Er wußte nur, daß es mit der jungen Frau zu tun hatte. Unten vor der Haustür blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Eine dumme Idee hierherzukommen. Was hatte er sich nur davon versprochen? Er wartete eine Zeitlang auf ein vorbeifahrendes Taxi, und als kei nes kam, beschloß er, sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen. Die frische Luft würde ihm guttun. Und vielleicht brachte sie ihn ja auch auf andere Gedanken.
Doch sie tat es nicht. Komm! echote es wieder und wieder in seinem Schädel, während er durch die nächtlichen Straßen lief. Komm her zu mir und hilf mir. Ich brauche dich!
* »Nein!« rief eine aufgeregte Stimme oberhalb von Lilith. Sie gehörte zu einem graumelierten Arzt, der am oberen Treppenabsatz aufge taucht war. Er fuchtelte mit den Armen herum. »Nicht schießen. Auf keinen Fall schießen! Ich brauche sie lebend!« Lilith entfuhr ein flüchtiges Grinsen. Nicht, daß die Kugeln sie lan ge hätten aufhalten können (Hätten Sie nicht? Sie hatte es nie getestet. Vielleicht war ihre menschliche Hälfte durchaus für Projektile »empfäng lich«!). Aber diese Anweisung war so gut wie ein Freibrief für sie. Mit einem weiten Satz sprang sie die vier Wachmänner an. Sie wa ren allesamt Profis in ihrem Geschäft, aber mit den übermenschli chen Kräften der Patientin hatten sie nicht gerechnet. Dem ersten versetzte Lilith einen Schlag ins Gesicht, der ihm das Nasenbein brach, einen zweiten setzte sie mit einem Tritt außer Ge fecht, der ihn meterweit zurückschleuderte. Doch da hatte sie der dritte bereits von hinten gepackt und um schlang sie mit seinen Armen. Keine normale Frau wäre in der Lage gewesen, seinen eisenharten Griff zu lösen. Aber Lilith war keine normale Frau. Sie sprengte den Griff mit Leichtigkeit und schmetterte den Mann mit dem Ellenbogen zu Boden. Sie wollte sich zur Flucht wenden, kam aber nicht dazu, weil der vierte Mann sie von den Beinen riß. Er sprang sie an wie ein Footballspieler seinen Gegner und riß sie
mit sich zu Boden. Lilith konnte ihn abschütteln, sprang hoch und wollte weiterlaufen, als plötzlich ein Arzt neben ihr auftauchte und ihr die Nadel einer Injektionsspritze in den Arm drückte. Lilith schleuderte ihn beiseite, zog die Nadel aus dem Arm und warf die Spritze weg. Dann rannte sie weiter. Einer der Wachmänner hatte sich in der Zwischenzeit wieder auf gerappelt und stürmte in spitzem Winkel auf sie zu, um ihr den Weg abzuscheiden. Lilith versuchte ihm auszuweichen, doch irgend etwas mit ihrer Koordination schien plötzlich nicht mehr ganz zu stimmen, und so ging ihr Ausweichversuch ins Leere. Der Mann erwischte sie frontal und riß sie abermals zu Boden. Sie schlug um sich und konnte sich von ihm befreien, kam aber nicht dazu, sich aufzurichten. Irgend jemand sprang auf sie und drückte sie mit seinem Gewicht zu Boden. Lilith wußte sich nicht anders zu helfen, als sich herumzuwinden und ihm die Zähne in die Schulter zu schlagen. Aufschreiend ließ er von ihr ab. Doch abermals gelang es ihr nicht, auf die Beine zu kommen. Ihre Bewegungen wurden immer unkontrollierter. Das Betäubungsmit tel, das man ihr injiziert hatte, begann seine Wirkung zu entfalten. Ehe Lilith es sich versah, war ein halbes Dutzend Leute herange stürmt und hielt sie mit vereinten Kräften fest. Sie fauchte, ohne daß es ihr etwas nützte. Mehr und mehr began nen ihr die Sinne zu schwinden. Sie versuchte mit einem letzten Aufbäumen, sich zu befreien, doch vergeblich. Und dann verlor sie das Bewußtsein.
* »Los!« wies Dr. Romano die Wachmänner an und deutete auf den reglosen Körper der Frau zu seinen Füßen. »Bringt sie zurück in den Prominententrakt!« Während die Wachmänner – bis auf denjenigen, dem Lilith das Nasenbein gebrochen hatte und der mittlerweile ärztlich versorgt wurde – der Anweisung folgten, wandte der Chefarzt sich an die Umstehenden, die allesamt schweigend dastanden und betreten dreinblickten. Zu unglaublich war das gewesen, was sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte. Glücklicherweise waren keine Patien ten darunter. »Ich möchte, daß über diesen Vorfall absolutes Stillschweigen ge wahrt wird«, rief Dr. Romano. »Wenn auch nur ein Wort davon au ßerhalb der Klinik vordringt, wird der Betreffende seines Lebens nicht mehr froh werden, das kann ich ihm versprechen. Und Sie wissen, daß ich meine Versprechungen einzuhalten pflege. So, und jetzt zurück an die Arbeit!« Während die Leute sich zerstreuten und an ihre Plätze zurück kehrten, wischte er sich mit dem Handgelenk den Schweiß von der Stirn. Wer zum Teufel war diese Frau nur? Er hatte noch nie jemanden gesehen, der sich mit solch einer Kraft und Geschmeidigkeit beweg te. Er folgte den Wachmännern in den Prominententrakt. »Sir, ich …«, sprach ihn der kreidebleiche Pförtner an, als der Chefarzt die Glastür passierte. Dr. Romano hob unwillig die Hand. »Später«, sagte er, ohne im
Schritt innezuhalten. »Was immer Sie mir sagen wollen – es hat Zeit bis später!« Im Behandlungsraum wartete die nächste Überraschung auf ihn: eine Krankenschwester, die bleich und sichtlich verwirrt versuchte, ihre Blößen mit den Händen zu bedecken. Dr. Romano hatte das Gefühl, als würde ihm die Situation mehr und mehr aus den Händen gleiten. »Sir, ich weiß wirklich nicht, was …«, begann Maxime Gardner verstört. »Später«, gab er ihr zu verstehen. »Holen Sie sich was zum Über ziehen, und halten Sie sich zur Verfügung.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß – was immer auch ge schehen war – ihre Tage an der Klinik gezählt waren. Während die Wachmänner die Patientin zurück auf die Liege im Behandlungsraum betteten, betrachtete der Chefarzt nachdenklich die drei zerrissenen Lederfesseln. »Sagen Sie«, wandte er sich an einen der Wachmänner. »Gehören Handschellen auch zu Ihrer Ausrüstung?« »Ja, Sir. Warum?« »Dann bringen Sie mir vier Stück davon.« Er sah auf die Patientin herab. »Mal sehen, ob sie damit auch so schnell fertig wird wie mit den Lederfesseln.« Der Wachmann wollte sich entfernen, um das Gewünschte zu ho len, doch Dr. Romano hielt ihn zurück. »Und ich möchte, daß min destens zwei Wachen in den nächsten Stunden stets hier sind. Solch ein Vorfall darf sich nicht noch einmal wiederholen. Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich. Haben Sie verstanden?« »Ja, Sir.« Dr. Romano sah auf seine brillantenbesetzte Armbanduhr – ein
Geschenk eines zufriedenen Patienten. Er durfte über das alles nicht vergessen, daß er noch eine wichtige Verabredung hatte.
* Dr. Romano traf sich mit seinem Gesprächspartner rund eine Stunde später in einer exklusiven Nachtbar in Sydneys Innenstadt. Ein Se paree bot ihnen die Möglichkeit, sich ungestört zu unterhalten. Bei seinem Gesprächspartner handelte es sich um Major Gene Br adley, den Leiter einer militärischen Forschungsklinik etwas außer halb der Stadt. Dr. Romano hatte ihn vor Jahren auf einem Wohltä tigkeitsball kennengelernt, auf dem sich der Major im Gegensatz zu dem Chefarzt sichtlich unwohl gefühlt hatte. Trotzdem hielten sie seitdem engen Kontakt und hatten einander schon den einen oder anderen Dienst erwiesen. Natürlich stets zum gegenseitigen Nutzen. »Bei jedem anderen als dir, George«, nannte Major Bradley den Chefarzt beim Vornamen, »würde ich vermuten, daß er mir einen Bären aufzubinden versucht, aber du bist nicht der Mann dafür. Du behauptest also wirklich, daß sich die Wunden dieser Patientin im Laufe dieses Tages quasi von selbst geheilt haben?« »Ganz recht. Und das ist erst der Anfang. Ich habe ihr Blut unter sucht. Es scheint von irgendwie anderer Konsistenz als normales menschliches Blut zu sein, selbst wenn ich die Abweichungen nicht habe bestimmen können. Dafür habe ich herausgefunden, daß es ungewöhnlich aggressiv auf jegliche Art von Keimen und Bakterien reagiert, womöglich auch auf Viren.« Dr. Romano zog eine Mappe mit Papieren hervor. »Und wenn du weiteres Material brauchst, hier ist eine Analyse ihrer Körperwerte. Alle liegen weit unter denen ei nes normalen Menschen.« Bradley überflog die Papiere. »Erstaunlich, daß jemand damit
überhaupt noch leben kann.« »Ganz recht. Und was würdest du sagen, wenn dieser Jemand so gar noch aufgestanden ist, seine Lederfesseln zerrissen und zu flie hen versucht hat? Wir haben ein halbes Dutzend Männer gebraucht, um die Frau wieder einzufangen und zu überwältigen. Ich habe an geordnet, sie bis auf weiteres ständig unter Narkose zu halten.« »Und du hast keine Ahnung, wer sie ist?« »Nein, aber, ehrlich gesagt, das kann uns auch egal sein. Ich weiß nur, daß sie nicht länger in meiner Klinik bleiben kann. Es hat be reits mehr als genug Aufsehen gegeben. Sie muß so schnell wie möglich an einen sicheren Ort verlegt werden – und es fiele mir kei ner ein, der dazu geeigneter wäre als deine Klinik.« »Du verlangst da nicht gerade wenig von mir«, gab Major Bradley zu bedenken. »Du willst nichts weniger, als daß ich unseren gesam ten Forschungstrakt zweckentfremde und auf eigene Rechnung ar beite.« »Niemand sonst wäre imstande dazu. Du hast die Befehlsgewalt über den Komplex. Du hast die Experten. Und außerdem wird Ge heimhaltung bei euch doch ganz groß geschrieben. Niemand wird irgendwelche unliebsamen Fragen stellen, wenn du dich darauf be rufst.« Dr. Romano beugte sich vor. »Und außerdem – stell dir vor, was es bedeuten würde, wenn sich die Ergebnisse bestätigen. Es geht hier um nichts weniger als ein Mittel, das die Medizin revolu tionieren könnte!« »Wie gesagt, falls sich die Ergebnisse bestätigen«, schränkte Brad ley ein. »Glaubst du etwa, ich hätte nicht sorgfältig genug gearbeitet? Überleg doch nur einmal, welche militärischen Möglichkeiten sich bieten. Ein Soldat, der diese Wirkstoffe im Blut hätte, wäre vermut lich gegen jegliche Art von B- und C-Waffen immun. Und du hättest
sehen sollen, mit welcher Wildheit diese Frau bei ihrer Flucht ge kämpft hat. Mag sein, daß auch das eine Folge dieses Wirkstoffes ist. Eine Armee, deren Soldaten ihn im Blut hätten, wäre vermutlich die unschlagbarste der Welt.« Dr. Romano machte eine bedeutungs schwangere Pause. »Ich frage mich, wieviel unsere großen Brüder, die Briten, dafür zu bezahlen bereit wären. Oder erst die Amerika ner. Die finanziellen Möglichkeiten scheinen mir schier unbegrenzt zu sein.« Major Bradley schwieg. Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Obgleich er es aus Gründen des Eigennutzes mit den Vorschriften bisweilen nicht ganz genau nahm, war er doch in erster Linie immer noch eines – Patriot. »Und dann ist da noch etwas«, spielte Dr. Romano seine Trumpf karte aus. »Und zwar dieses Kleid, das die Frau trägt.« »Was ist damit?« Der Chefarzt der St. Margarete’s Clinic erzählte, was Berglundson ihm am Abend berichtet hatte. »Wie gesagt, dieser Stoff soll sich nur eine Sekunde lang um seine Hand gelegt haben«, endete er. »Aber es hat ausgereicht, die oberen Hautschichten vollständig aufzulösen. Ich habe den Vorfall zwar nicht selbst beobachtet, aber ich habe die Verletzung behandelt. Glaub mir, etwas Ähnliches habe ich noch nie zuvor gesehen.« Bradley schwieg noch eine Weile, dann hatte er seine Entschei dung getroffen. »Also eine Verlegung noch heute nacht?« fragte er. Dr. Romano nickte. »Je eher, desto besser.«
*
Hesekiel steuerte sein letztes Ziel der heutigen Nacht an, die St. Margarete’s Clinic. Er hatte die Gestalt einer Fledermaus angenommen und umrunde te flatternd den gesamten Klinikkomplex. Seine dunkle Gestalt hob sich kaum vom schwarzen Nachthimmel ab. Von Zeit zu Zeit ließ er sich auf einem Fenstersims nieder und spähte ins Innere des Gebäudes, ob er irgendwo ein leichtes Opfer entdecken konnte. Er war nicht unbedingt darauf angewiesen, ein Opfer zu schlagen. Erst am frühen Abend hatte er seinen Blutdurst an einer Prostituier ten gestillt, die sich ihren Arbeitsplatz in einer allzu einsamen Straße gesucht hatte. Natürlich hatte er sich erst an ihr gelabt, nachdem er sie gezwungen hatte, ihm alle Künste ihres Gewerbes unter Beweis zu stellen. Selbst wenn sein Durst weitestgehend gestillt war, gegen eine deli kate Nachspeise, bevor er sich wieder in seinen Tagesunterschlupf begab, hatte er nichts einzuwenden. Zwar konnte die Sonne einem Angehörigen der Alten Rasse nichts anhaben – nur Dienerkreaturen vergingen in ihrem Schein –, doch die Helligkeit war unangenehm und weckte Ekel, auf den Hesekiel gern verzichtete. Er flatterte von Fenster zu Fenster, ohne ein geeignetes Opfer zu entdecken. Er wollte schon wieder verschwinden, als er etwas beob achtete, was seine Fledermaussinne in äußerste Erregung versetzte. In einem hell erleuchteten Raum standen zwei uniformierte Wach männer neben einer Liege. Und auf dieser, das erkannte er mit sei nen besonderen Sinnen sofort, lag ein anderer Vampir, mit Hand schellen an das Gestell gefesselt. Genauer gesagt: eine Vampirin! Und nicht irgendeine. Nein, es war niemand anders als der Ba stard, der seit Monaten für helle Aufregung in der gesamten Sippe
sorgte. Selbst wenn Hesekiel seit langem seine eigenen Wege ging, so hat te er doch von ihr gehört und wußte, welche Bedeutung ihr Auftau chen für die Gemeinschaft der Nachtgeschöpfe hatte. Und er begann zu begreifen, welche Chance sich ihm durch diese unerwartete Entdeckung bot. Sein Entschluß stand im selben Augenblick fest. Er würde die Scheibe durchstoßen, ins Innere des Raumes flattern und sich dort in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln. Mit den beiden Wach männern fertig zu werden würde ihn vor keine großen Probleme stellen. Auf zwei Tote mehr oder weniger kam es nicht an. Doch gerade als er sich anschickte, es zu tun, geschah etwas, das seine Pläne durchkreuzte.
* Dr. Romano ließ es sich nicht nehmen, den Abtransport der Patien tin persönlich zu überwachen. Zusammen mit einer Kranken schwester betrat er den Beobachtungsraum. »Irgendwelche Vorkommnisse?« fragte er die Wachen. Die beiden Männer verneinten. »Gut, dann lösen Sie die Handschellen, und laden Sie die Frau …« Der Aufschrei der Krankenschwester ließ ihn herumfahren. Er sah, wie sie erschrocken zum Fenster starrte, aber als er dorthin blickte, konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. »Was haben Sie, Schwester?« »Ich … ich …«, begann sie stockend. Sie schlug eine Hand vor den Mund und schluckte. »Verzeihen Sie, Doktor, dort am Fenster war
eben eine große Fledermaus zu sehen. Ein wirklich ganz widerliches Biest. Und einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, als wollte es sich durch die Scheibe stürzen.« »Schwester, bitte!« rief Dr. Romano sie zur Ordnung. »Das ist nun wirklich nicht der Augenblick für irgendwelche Schauergeschich ten.« Er gab den Wachmännern die Anweisung, die Patientin zum ge sonderten Ausgang des Prominententraktes zu bringen. Bevor er ihnen folgte, warf er noch einmal einen Blick zum Fens ter. Noch immer war dort nichts zu sehen. Wer wußte, was die Krankenschwester sich eingebildet hatte? Trotzdem – seitdem diese seltsame Patientin hier eingeliefert wor den war, schienen sich die rätselhaften Ereignisse geradezu zu häu fen. Er würde drei Kreuze schlagen, wenn die Frau erst einmal im Hochsicherheitstrakt der Forschungsklinik untergebracht war. Von dort würde sie nie und nimmer entkommen können.
* Berglundson hatte ein ungutes Gefühl, als er vor sich die Lichter der Klinik sah. Zu deutlich hatte er noch die Worte des Chefarztes im Gedächtnis, der ihm den Rausschmiß angedroht hatte. Aber Berg lundson konnte nicht anders, als zur Klinik zurückzukehren. Er hatte sich zu Hause im Bett stundenlang von einer Seite auf die andere gewälzt, ohne Schlaf oder zumindest gedankliche Ruhe fin den zu können. Immer wieder war das Gesicht der jungen Frau vor seinem geisti gen Auge aufgetaucht.
Und ihre Augen, die ihn anflehten: Komm! Komm her zu mir und hilf mir. Ich brauche dich! Irgendwann – Berglundson hatte selbst nicht gewußt, wieviel Zeit vergangen war – war er aufgestanden und hatte das Haus verlassen. Ein Taxi brachte ihn her, und um nicht sofort entdeckt zu werden, hatte er sich in einiger Entfernung von der Klinik absetzen lassen. Aus einem Gefühl heraus wandte er sich zuerst zu dem separaten Eingang des Prominententraktes, vor dem sich eine kleine parkähn liche Grünfläche mit Bäumen und Büschen befand. Erstaunt ent deckte Berglundson, daß mehrere Fahrzeuge vorgefahren waren: ein Ambulanzwagen und davor und dahinter jeweils eine Limousine. Und sie alle trugen die Farben der australischen Streitkräfte. Er schlich näher an den Eingang heran und verbarg sich zwischen einigen Büschen. Durch das Blattwerk hindurch konnte er die Vor gänge genau beobachten. Zuerst erschienen ein paar Wachmänner. Dann sah Berglundson, wie eine Trage ins Freie gefahren und in den Ambulanzwagen gela den wurde, und er konnte auch erkennen, um wen es sich dabei handelte – um die junge Frau aus der Notaufnahme! Er reckte den Kopf noch ein wenig mehr vor und entdeckte Dr. Romano, der mit einer Reisetasche aus dem Gebäude kam und in ei nes der Begleitfahrzeuge einstieg. Erst als die Türen der Fahrzeuge geschlossen wurden und die Scheinwerfer aufflammten, begriff Berglundson, daß er die Frau wahrscheinlich niemals wiedersehen würde, wenn die Wagen erst einmal losgefahren waren und das Klinikgelände verlassen hatten. Er verließ seine Deckung und sprintete hinüber zum Angestellten parkplatz. Hier stand noch immer sein Kleinwagen koreanischer Fertigung, mit dem er vor der letzten Nachtschicht zur Arbeit ge kommen war. Verzweifelt kramte er mit der gesunden Hand in sei
nen Taschen nach dem Wagenschlüssel, während sich hinter ihm die Fahrzeuge bereits in Bewegung setzten. Dann hatte er endlich den Schlüssel gefunden. Mit zittrigen Hän den öffnete er die Tür, sprang hinters Steuer und startete den Wa gen. Als er den Seiteneingang erreichte, waren die Fahrzeuge bereits verschwunden. Berglundson gab Gas und raste dorthin, wo der Kli nikweg in die Hauptstraße einmündete. Diese verlief zu beiden Sei ten lange Zeit schnurgerade. Der kleine Konvoi hatte sich zwar schon ein ganzes Stück von der Klinik entfernt, aber die Rücklichter der Wagen waren in der Nacht deutlich zu erkennen. Berglundson kurbelte am Lenkrad und machte sich an die Verfol gung. Obwohl ihn die Geschwindigkeitsbeschränkung wenig scher te, gelang es ihm nur mit Mühe und Not, Anschluß an den Konvoi zu halten. Die drei Wagen rasten in geradezu halsbrecherischem Tempo durch die nächtliche City von Sydney. Vor jeder Kreuzung schaltete der Ambulanzwagen kurz das Blaulicht ein, um für freie Fahrt zu sorgen. Berglundson hatte solch ein Hilfsmittel nicht zur Verfügung. Zu dem war er noch nie ein besonders guter oder rasanter Fahrer gewe sen, und der bandagierte Arm machte es ihm doppelt schwer. Mehr als einmal verlor er den Konvoi aus den Augen, als die Wa gen weit vor ihm in eine Seitenstraße einbogen. Doch er kam jedes mal wieder auf Sichtweite heran. Trotzdem hatte er Angst, den Konvoi endgültig zu verlieren. Er mußte unbedingt näher heran. Er trat das Gaspedal noch tiefer durch. Wieder bog der Konvoi um eine Ecke. Als Berglundson ihm wenige Sekunden später folgte, ge riet sein Wagen sekundenlang ins Schleudern, und nur mit Mühe
gelang es dem jungen Arzt, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein paar hundert Meter voraus passierte der Konvoi gerade eine Straßenkreuzung. Fast im selben Augenblick sprang die Ampel auf Gelb um. Sie war längst rot, als Berglundson auf die Kreuzung zu schoß, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Als er den Tanklastzug sah, der von rechts kam, war es bereits zu spät. Berglundson verriß das Lenkrad, ohne damit mehr zu erreichen, als daß der Wagen in vollem Tempo aus der Spur brach und sich halb überschlug, ehe er mit der Wucht eines Geschosses in die Seite des Lastzuges krachte. Die Explosion erschütterte die gesamte Innenstadt, ließ sämtliche Fensterscheiben in weitem Umkreis in Bruch gehen, und ein giganti scher Feuerball stieg in den nächtlichen Himmel auf. Ein paar Gebißfragmente waren das einzige, was man am nächs ten Tag – nachdem die Lösch- und Aufräumungsarbeiten abge schlossen waren – noch von Berglundson fand.
* »Was war das?« entfuhr es Dr. Romano, als die Druckwelle ihren Wagen, der dem Konvoi voranfuhr, erschütterte und irgendwo hin ter ihnen flammender Lichtschein die Nacht erhellte. Er wandte sich um, um Genaueres zu erkennen, doch der hinter ihnen fahrende Ambulanzwagen verdeckte eine direkte Sicht auf den Ort des Geschehens. Und schon bogen sie in die nächste Seitenstraße ein. Der Fahrer des Wagens reagierte mit militärischer Gelassenheit. »Keine Ahnung«, erwiderte er, ohne das Tempo zu verringern.
»Vielleicht ein Unfall, eine Gasexplosion oder so etwas. Auf jeden Fall nichts, worum wir uns zu kümmern hätten. Aber so wie es klang, werden wir heute abend bestimmt in den Hauptnachrichten davon hören.« Der Konvoi verließ die Grenzen der Stadt und fuhr an der Küste entlang hinauf zu einem abgesperrten Areal am Anfang der Höhen züge. Am Tor wurden sie von den Wachleuten ohne Kontrolle durchge wunken. Vor einem abgelegenen Nebengebäude kamen die Wagen zum Stillstand. Dort wartete Major Bradley bereits auf sie. In seiner Begleitung befanden sich mehrere Uniformierte und zwei Ärzte in weißen Kitteln. Major Bradley stellte Dr. Romano die beiden als Dr. Smith und Dr. Freeman vor und nannte auch ihr jeweiliges Spezialgebiet. »Ein dritter Kollege, Dr. Dess, wird noch eintreffen,«, fügte Brad ley hinzu. »Sein Spezialgebiet ist die Mikrobiologie. Er muß aus Adelaide anreisen und konnte leider nicht so schnell hiersein. Aber ich rechne in den nächsten Stunden mit ihm.« Dr. Romano nickte anerkennend. Major Bradley hatte es in der Kürze der Zeit wirklich geschafft, Spezialisten aus allen Fachberei chen zusammenzuziehen. Irgendwie freute er sich auf die Zusam menarbeit mit ihnen. Es hatte nicht nur mit der Aussicht auf Ruhm und Reichtum zu tun; es war vielmehr die Gelegenheit, mit ihnen gemeinsam an einem Fall arbeiten zu können. Er glaubte fast, plötzlich wieder die Art von Fieber zu spüren, die ihn früher – vor fast dreißig Jahren – überhaupt erst veranlaßt hatte, Medizin zu studieren. Ein Fieber, das er seitdem verloren zu haben geglaubt hatte. Derweil wurde die Trage mit der Patientin von den Uniformierten aus dem Ambulanzwagen ins Gebäude gebracht.
»Ich habe dafür gesorgt, daß du zusammen mit den anderen direkt hier untergebracht wirst«, sagte Major Bradley. »Auf diese Weise könnt ihr euch rund um die Uhr der Patientin widmen. Soll ich dir deine Unterkunft zeigen? Vielleicht willst du dich ein wenig frisch machen. Oder dich etwas ausruhen, ehe ihr euch an die Arbeit macht. Du bist doch bestimmt schon mindestens vierundzwanzig Stunden auf den Beinen.« »Nein«, entschied Romano. »Erst möchte ich mir den Forschungs komplex ansehen. Und mit den anderen den Arbeitsplan abstecken.« Bradley nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Sie wandten sich in Richtung des Einganges. Kurz bevor sie ihn durchschritten, verharrte Dr. Romano plötzlich und sah zu einer na hen Baumgruppe hinüber. Er hatte geglaubt, von dort ein Flattern zu hören – wie von einem großen, schweren Vogel –, und einen win zigen Augenblick lang hatte er sogar den Eindruck, als würde sich ein großer Schatten im Geäst niederlassen. Aber so angestrengt er auch dorthin sah, jetzt konnte er nichts mehr entdecken. Unwillkürlich mußte er daran denken, wie die Schwester beim Abtransport der Patientin aus der St. Margarete’s Clinic eine Fleder maus am Fenster des Beobachtungsraumes entdeckt zu haben glaubte. Mach dich nicht verrückt! ermahnte er sich in Gedanken. Langsam beginnst du auch schon Gespenster zu sehen! »Was ist?« hörte er Major Bradleys Stimme. »Warum kommst du nicht?« Dr. Romano gab sich einen Ruck und folgte dem Major ins Innere des Gebäudes. In einem großen Lastenaufzug fuhren sie nach unten. »Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten«,
sagte derjenige, den der Major als Dr. Smith vorgestellt hatte, ein kleines bebrilltes Männlein, das aussah, als könne es kein Wässer chen trüben. Dr. Romano wußte es besser. Schließlich war dieses Männlein bestimmt nicht von ungefähr ein Spezialist für chemische und bakteriologische Kampfstoffe. »Ich habe schon viel von Ihnen und Ihren gesellschaftlichen Kontakten gehört. Und wenn sich nur die Hälfte von dem als richtig erweist, was in den Unterlagen steht, haben wir es hier mit einer außeror dentlich interessanten Abnormalität zu tun.« Dr. Romano nickte. So konnte man es auch ausdrücken. »Da wären wir«, sagte Major Bradley, als sie das zweite Unterge schoß erreicht hatten und die Türen des Fahrstuhls aufschwangen. Er breitete die Arme aus. »Hier findest du alles, was dein Herz be gehrt. Deine beiden Kollegen werden dir alles zeigen. Sie kennen sich hier bestens aus.« Er sagte den Uniformierten, wohin sie die Trage bringen sollten. »Und über einen erneuten Fluchtversuch mußt du dir keine Ge danken mehr machen. Diese Sektion läßt sich hermetisch abriegeln und verfügt sogar über eine eigene Energieversorgung. Nicht ein mal ein Floh würde hier heraus- oder hereinkommen.« Dr. Romano nickte verhalten und fragte sich, warum ihn diese Auskunft trotzdem nicht gänzlich zu beruhigen vermochte.
* Hesekiel hatte den Weg des Konvois verfolgt, weit über den Dä chern der Stadt fliegend. Als die Wagen ihr Ziel erreicht hatten, ließ er sich nicht weit davon entfernt im Geäst einer Baumgruppe nieder.
Von dort aus hatte er beobachtet, wie man die Vampirin ins Innere des Gebäudes brachte. Als Hesekiel seine Position wechselte, hatte einer der Männer kurz in seine Richtung gestarrt, doch Hesekiels Vampirsinne sagten ihm, daß er ihn nicht tatsächlich entdeckt hatte. Und richtig. Wenig spä ter wandte sich der Mann ab und folgte den anderen ins Gebäude. Hesekiels Fledermausaugen blickten sehnsüchtig zu dem Eingang hinüber. Er wußte, daß er heute nichts mehr würde ausrichten kön nen. Im Osten, weit draußen über dem Meer, kündigte sich bereits das erste Licht des neuen Tages an. Nicht mehr als eine halbe Stun de, und die Sonne würde sich über den Horizont erheben und Schwäche und Ekel mit sich bringen. Hesekiel schwang sich hinauf in die Dämmerung und flatterte zu rück in Richtung der Stadt. Es reichte einstweilen aus, daß er gese hen hatte, wohin man die Vampirin brachte. Morgen – gleich nach Einbruch der Dunkelheit – würde er wiederkommen und den Rest erledigen.
* Als Lilith erwachte, blickte sie direkt in das grelle Licht einer Opera tionslampe, die sich über ihr befand und sie an die untergehende Sonne bei einem früheren Erwachen erinnerte. Wie lange war das jetzt her? Sie wußte es nicht. Aber sie spürte, daß ihr Durst erneut zugenom men hatte. »Sie kommt wieder zu sich«, hörte sie jemanden sagen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Blick vollends klärte, und schließlich erkannte sie die allesamt mit einem Mundschutz mas
kierten Gesichter von fünf Männern, die zu ihr herabstarrten. »Können Sie uns verstehen?« fragte einer von ihnen. »Ich …«, begann Lilith. Ihre Zunge fühlte sich schwer an und schi en ihr nicht recht zu gehorchen. »Wo … wo bin ich hier?« »In Sicherheit«, lautete die Antwort. Obwohl der Tonfall Beruhigung vermitteln sollte, empfand Lilith doch genau das Gegenteil davon. Sofort war sie um ein ganzes Stück wacher. »Wo … wo ist das?« »Sie sind in Sicherheit«, wiederholte die Stimme. »Es reicht einst weilen aus, wenn Sie das wissen.« »Was heißt das? Wo genau bin ich?« »Ich fürchte, Sie verkennen Ihre Situation ein wenig. Sie sind nicht in der Lage, Fragen zu stellen. Statt dessen haben wir eine Menge davon an Sie. Und wir hoffen natürlich, daß Sie sie uns alle beant worten werden.« Lilith wollte sich empört aufrichten, doch es gelang ihr nicht. Ihre Fuß- und Handgelenke waren diesmal mit stählernen Handschellen an die Unterlage gefesselt, und eine Kette um ihre Hüfte hielt sie zu sätzlich auf dem Behandlungstisch fest. Lilith bemerkte, daß sie au ßerdem an eine Anzahl von Kabeln angeschlossen war. Wütend versuchte sie sich von ihren Fesseln zu befreien oder zu mindest von den Kabeln, aber es gelang ihr nicht. Die Männer warteten in aller Seelenruhe ab, bis sie ihre nutzlosen Versuche aufgegeben hatte. »Jetzt, da Sie sich selbst davon überzeugt haben, wie es um Ihre Lage bestellt ist«, sagte ein anderer von ihnen, »lassen Sie uns am besten gleich mit der ersten Frage beginnen: Wer sind Sie? Oder sollte ich besser fragen: Was sind Sie?«
Lilith erkannte die Stimme wieder. Sie gehörte dem Arzt, der bei ihrer Flucht den Wachmännern zugerufen hatte, nicht auf sie zu schießen. »Selbst wenn ich es Ihnen sagen würde«, erwiderte sie, »Sie wür den es nicht glauben.« »Warum versuchen Sie es nicht wenigstens und überlassen uns das Urteil?« Lilith gab keine Antwort. Mit allem, was sie sagen konnte, würde sie sich nur in um so größere Schwierigkeiten bringen. »Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht lieber doch mit uns zusam menarbeiten«, ermahnte die Stimme sie. »Ich darf Ihnen versichern, wir haben Mittel und Wege, Sie zum Reden zu bringen.« Lilith zweifelte nicht daran, daß den Ärzten eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung stand. Auf einem ganz anderen Blatt jedoch stand, ob diese Mittel auch bei ihr Erfolg haben würden. Aber was nutzte ihr das? Es würde sie nicht von den Fesseln be freien. »Sie schweigen? Na gut, versuchen wir es mit einer anderen Frage. Vielleicht fällt Ihnen die Antwort darauf leichter. Was ist das für ein seltsames Kleid, das Sie da anhaben? Wie kommt es, daß es sich nicht von Ihrem Körper trennen läßt?« Lilith kniff die Lippen zusammen und schwieg. Dabei begann sie sich auf eines der Augenpaare über ihr zu konzentrieren. »Es hat gestern nacht einen Arzt angefallen, der Sie behandeln wollte«, fuhr der Arzt fort. »Sie können uns nicht sagen, auf welche Weise es das getan hat? Oder warum es ihn angegriffen hat, wo er Ihnen doch nur helfen wollte?« »Dafür … bin ich nicht verantwortlich«, entfuhr es Lilith unwill kürlich.
Sofort war die ganze Konzentration dahin. Der Mann, den sie im Visier gehabt hatte, schüttelte den Kopf, als wolle er Benommenheit abschütteln. »Interessant«, meinte die Stimme. »Sie geben also zu, daß dieses Kleid imstande ist, so etwas zu tun?« Lilith fühlte Scham, auf solch einen simplen Trick hereingefallen zu sein. Sie konzentrierte sich abermals auf denselben Mann, doch aus ir gendeinem Grund – vielleicht, weil sie immer noch unter dem Ein fluß von Medikamenten stand – schaffte sie es nicht, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Schlimmer noch – ihr Versuch blieb nicht unbemerkt. Der Mann wischte sich über die Augen und sah Lilith ungläubig an. »Diese Augen …«, murmelte er. »Verdammt.« »Was sagen Sie da, Dr. Dess?« »Diese Augen. Sie … sie wollten mich unter ihre Gewalt bringen. Glaubt mir, ich war eben nahe daran, mich auf euch zu stürzen und die Frau zu befreien. Ja, es waren ihre Augen. Da bin ich mir sicher. Ihr … ihr müßt doch gesehen haben, wie sie mich angestarrt hat.« »Aber das ist doch Unsinn«, protestierte der Major. »Wie sollte sie so etwas bewerkstelligen?« Dr. Romano war weitaus weniger skeptisch. Er mußte an die Vor fälle in seinem Krankenhaus zurückdenken. War das die Erklärung, warum Schwester Gardner sich an nichts hatte erinnern können – auch nicht daran, wie die Patientin zu ihrem Kittel gekommen war? Hatte die junge Frau es mit ihr auf dieselbe Art und Weise gemacht? »Wir sollten kein Risiko eingehen«, sagte er, holte eine Rolle Leu koplast und riß zwei fingerlange Streifen ab. Damit näherte er sich
dem Kopfende der Liege. Lilith warf den Kopf hin und her und versuchte nach den Händen zu schnappen, doch die anderen Ärzte kamen Dr. Romano zu Hilfe, und wenig später raubten die Klebestreifen ihr die Sicht. Lilith hörte nicht auf, sich zu winden, selbst als die Ärzte sie wie der losließen. Aus ihrer Hilflosigkeit erwuchs Wut. Unbändige Wut. Animalische Wut. Eine Wut, die sie vollkommen auszufüllen und noch einmal sämt liche Kraftreserven in ihrem geschwächten Körper zu aktivieren schien. Lilith bäumte sich auf und riß mit aller Kraft an den Ketten. Unter den Klebestreifen verwandelten sich ihre Augen in geschlitzte Pupil len, und die Ärzte wichen entsetzt vom Behandlungstisch zurück, als sich ein tierisches Fauchen aus ihrer Kehle löste. Eines der Kettenglieder ihrer Handschellen riß mit einem explosi onsartigen Knall. Und auch in der Kette um ihre Hüfte begann zu es knirschen, als stünde der gehärtete Stahl kurz vor dem Bersten. »O Gott!« rief einer der Ärzte. »Sie kommt frei!« »Eine Injektion! Schnell!« Ein erneuter Ruck, und die Stahlglieder der Handschelle um ihre linke Hand rissen endgültig. Doch ehe sie sich weiter befreien konnte, wurde ihr bereits die Na del einer Injektionsspritze in den Arm gedrückt. Sie stieß den schmächtigen kleinen Arzt beiseite, der das getan hatte, und schaffte es, sich von einer weiteren Handschelle zu befrei en. Doch dann begann das Betäubungsmittel seine Wirkung zu tun. Lilith fühlte, wie sich ein zäher Nebel in ihrem Kopf ausbreitete, und
ihre Kräfte begannen zu erlahmen. Ein paar Sekunden später sank sie matt auf den Behandlungstisch zurück. Nur langsam trauten sich die Ärzte wieder in ihre Nähe zurück. Sie hörte ihre Stimmen halb im Unterbewußtsein. Die Dosis hatte ausgereicht, um Lilith der Kontrolle über ihren Körper zu berauben, war aber nicht stark genug gewesen, um sie in den Schlaf zu schi cken. »Erstaunlich. So etwas habe ich noch niemals gesehen. Wie kann ein Mensch imstande sein, Handschellen mit bloßer Muskelkraft zu zerreißen? Und noch dazu eine solch zierliche Frau?« Die Frage hing sekundenlang unbeantwortet im Raum. »Ich schätze, gerade um das herauszufinden, sind wir hier«, sagte Dr. Romano schließlich. »Und was jetzt?« »Als erstes sollten wir die Fesseln erneuern.« »Soll ich uns zur Sicherheit ein paar Soldaten herrufen, die oben Wache halten?« fragte Major Bradley. »Nein. Sie sieht nicht aus, als könne sie uns noch gefährlich wer den.« Sie tauschten die zerrissenen Handschellen gegen neue aus. Lilith spürte, was mit ihr getan wurde, war aber nicht in der Lage, sich da gegen zu wehren. »Wir sollten die Frau bis auf weiteres permanent unter Narkose halten, damit sich so etwas nicht wiederholt«, sagte Dr. Romano. »Das Blut, das wir ihr abgenommen haben, reicht für die weiteren Analysen einstweilen vollkommen aus. Ich würde sagen, daß wir uns daher erst einmal auf das Kleid konzentrieren und versuchen, es vom Körper abzutrennen.«
»Dann sollten wir so vorgehen wie besprochen«, sagte Major Brad ley. Zwar stand er immer noch unter dem Eindruck des Vorfalls, aber seine Stimme fand langsam zu alter Sicherheit zurück. Er nickte zweien der Ärzte, Dr. Dess und Dr. Freeman, zu. Die beiden verließen den Raum und kamen eine Weile später in silbern glänzenden Schutzanzügen und geschlossenen Helmen zu rück. Bradley überprüfte die Funktionstüchtigkeit dieser Ausrüstung, dann ging er mit Dr. Romano und Dr. Smith hinaus auf den Korri dor und zog die schwere Stahltür hinter ihnen zu. Es war ein Sicher heitsschott, das sich ähnlich wie solche auf Schiffen mit einer Hand kurbel verschließen ließ und den Untersuchungsraum hermetisch verriegelte. Durch eine kleine Scheibe in Augenhöhe konnte man be obachten, was drinnen vor sich ging. »Diese Anzüge sind so ziemlich gegen alles resistent, was an che mischen Stoffen existiert«, erklärte Major Bradley. »Und sie sind mit Außenmikrophonen ausgestattet. Über diese Sprechanlage hier kön nen wir uns mit den beiden verständigen.« Er betätigte einen Knopf. »Dr. Dess, Dr. Freeman, können Sie mich hören?« »Klar und deutlich«, lautete die Antwort. »Wir fangen jetzt an.« Die beiden wandten sich der Frau auf der Liege zu. Ihre Methode, das Kleid von der Haut abzulösen, bestand darin, die wenigen nicht auf der Haut aufliegenden Zipfel mit Klammern zu versehen und es mit mechanischer Hilfe langsam von der Haut abzuziehen. Der Schmerz war so stark, daß er Lilith sofort wieder zu Bewußt sein brachte. Jeder Millimeter, den sich der Stoff von ihrer Haut lös te, bereitete ihr höllische Qualen. Sie schrie, wand und krümmte sich in ihren Fesseln, doch die Ärz te zeigten keinerlei Erbarmen mit ihr. Erst viele Ewigkeiten später, als auch der letzte Rest des schwar
zen Kleides von ihrer Haut gelöst war, ließen sie von ihr ab. Stöhnend sank Lilith auf die Liege zurück. In dem Maße, in dem der Schmerz abklang, sank sie in wohltuende schwarze Gefilde der Bewußtlosigkeit. Doch seltsamerweise verspürte sie trotz der Qualen und trotz ihrer aussichtslosen Lage doch auch so etwas wie Erleichterung. Sie hatte das Gefühl, als wäre mit der Trennung von dem Kleid, diesem mys teriösen Vermächtnis ihrer Mutter, zugleich ein belastender Schatten von ihrer Seele gewichen. Mit diesem Gedanken schwanden ihr endgültig die Sinne. Die beiden Ärzte signalisierten in Richtung der Tür, daß die Arbeit abgeschlossen war. Sie hielten das Kleid hoch, um ihren drei Kolle gen draußen auf dem Korridor einen Blick darauf zu ermöglichen. Es lag wie eine seltsam amorphe Masse in ihren Händen. Der schwarze Stoff hatte beinahe etwas Quallenartiges an sich. »Sehr gut«, kommentierte Major Bradley. Er wandte sich an Dr. Romano. »Sieht aus, als hätten wir uns unnütz Sorgen gemacht. Das Ding hat nicht im geringsten reagiert. Nicht einmal ein kleines Zu cken.« »Abwarten«, knurrte der Chefarzt der St. Margarete’s Clinic unbe haglich. »Noch sind wir nicht fertig.« Die beiden Ärzte drinnen brachten den Stoff auf einen anderen Tisch am Rande des Raumes. »Wir beginnen nun damit, ein Probenstück abzutrennen«, sagte ei ner von ihnen. Von der Tür aus waren die genauen Einzelheiten nicht zu sehen. Die beiden Ärzte wandten ihr den Rücken zu. Es war nur zu erken nen, wie einer von ihnen mit einem Skalpell zu hantieren begann, »Seltsam«, drang seine Stimme kurz darauf aus dem Lautsprecher. »Wenn ich den Stoff durchschneide, fließt er jedesmal direkt hinter
der Klinge wieder zusammen. Ich versuche es noch einmal … Nein, auf diese Weise geht es nicht.« »Versuchen Sie es mit dem Laser«, riet Major Bradley über die Sprechanlage. Er warf Dr. Romano einen kurzen Seitenblick zu. »Wie du siehst, sind wir auf alles vorbereitet.« Die beiden Ärzte im Raum fuhren eine monströs anmutende Ap paratur mit einem langen Schwenkarm heran. An dessen Ende be fand sich ein kugelförmiger Kopf, aus dem eine Spitze nach unten ragte. Sie bugsierten diese Spitze über den Untersuchungstisch und jus tierten sie. Nachdem die Apparatur eingeschaltet war, erschien ein millimeterfeiner roter Lichtstrahl, der senkrecht in der Luft stand und einen Fingerbreit neben dem Kleid auf dem Untersuchungstisch endete. »Wir beginnen jetzt«, sagte Dr. Dess. Er war derjenige Arzt, der den Laser bediente. Langsam bewegte er den Schwenkarm, und der Laserstrahl kroch auf das Kleid zu. Einen Augenblick später wichen die beiden Arzte fast panisch vom Tisch zurück. Durch die Sichtscheibe der Tür war nicht zu er kennen, was geschehen war. »Was ist los?« rief Major Bradley. »Das Kleid«, lautete die Antwort. »Es hat … irgendwie zu wallen begonnen. So, als würden Wellen darauf entlanglaufen.« Zögernd trat der Arzt wieder einen Schritt an den Tisch heran. »Sonst ge schieht nichts. Da ist nur dieses Wallen. Es sieht fast so aus, als sei das Kleid irgendwie … lebendig.« Dr. Romano brachte seinen Mund an das Mikrophon der Sprech anlage. »Seien Sie vorsichtig!« warnte er. »Der Arzt, der in meiner Klinik von dem Kleid angefallen wurde, hat gesagt, daß vor dem Angriff
auf ihn genau dasselbe geschehen wäre.« »Wir werden uns Mühe geben.« Behutsam machten die Ärzte weiter, bereit, sich jeden Augenblick mit einem schnellen Schritt aus der Gefahrenzone zu bringen. »Was ist?« fragte Dr. Romano ungeduldig. »Irgendwelche Reaktio nen?« »Keine«, antwortete Dr. Dess, während er den Schwenkarm des Lasers langsam weiterschob. Dabei beugte er den Kopf tief herab, um die Stelle, an der der Lichtstrahl durch den schwarzen Stoff schnitt, genau im Auge zu behalten. »Nur immer noch dieses Wal len …« »Wie weit sind Sie?« »Fast fertig. Nur ein paar Millimeter noch.« Die nächsten Sekunden zogen sich endlos dahin, bis schließlich die erlösende Auskunft kam: »Geschafft! Ich habe ein Stück abgetrennt.« Major Bradley atmete hörbar erleichtert aus. »Gut, dann packen Sie die beiden Teile jetzt in die Sicherheitsbehälter.« Mit einer Pinzette hob Dr. Dess den kleinen abgetrennten Stoffet zen in einen faustgroßen Stahlzylinder und verschloß diesen sorgfäl tig. Ein zweiter Behälter, diesmal von der Größe eines Wasserei mers, stand bereit, um das restliche Kleid aufzunehmen. Dr. Dess zog ihn heran, nahm das wallende Kleid in beide Hände und wollte es gerade in den Behälter packen – als der Symbiont voll kommen unvermittelt zuschlug. Blitzartig floß er die Arme des Arztes hinauf, hoch zu dessen Helm, und einen Lidschlag später war der gesamte Kopf und Ober körper wie von einem öligen Teerfilm bedeckt. Darunter zeichneten sich deutlich die Konturen der Schutzkleidung und des Helmes ab.
Dr. Dess begann zu schreien. Blind stolperte er im Raum umher, mit ziellos umherfuchtelnden Armen. Der Laut, mit dem die Scheibe seines Helmes barst, war durch die schwarze Masse nur dumpf zu hören. Zielstrebig floß der Symbiont durch die Öffnung in den silberglänzenden Anzug hinein. Dr. Dess stürzte zu Boden, wälzte sich, und sein sekundenlang aufklingender gellender Schrei ging in ein ersticktes Gurgeln über, als würde er unter Wasser gedrückt werden. Der Schutzanzug ließ nicht erkennen, was mit ihm geschah, aber es mußte grausam sein. Kurz darauf erstarben die Geräusche aus seiner Kehle und wenig später auch sämtliche seiner Bewegungen. Alles, was jetzt noch durch die Lautsprecher draußen auf dem Korridor zu vernehmen war, war eine widerwärtige Mischung aus Schmatzen und Knir schen. Reglos blieb der Arzt auf dem Boden liegen, mit dem Gesicht nach unten. Falls er überhaupt noch so etwas wie ein Gesicht besaß, schoß es Dr. Romano, der von außen alles hatte mit ansehen müssen, durch den Kopf. »O Gott!« hauchte er atemlos. »Scheiße!« kommentierte Major Bradley militärisch knapp. Er beugte sich zum Mikrophon vor und wandte sich an den zweiten im Raum befindlichen Arzt. »Los, Freeman, kommen Sie da endlich raus! Machen Sie, daß Sie sich in Sicherheit bringen!« Dr. Freeman hatte bislang wie erstarrt dagestanden und entsetzt zugesehen, was mit seinem Kollegen geschah. Erst jetzt, als Major Bradleys Worte ihn über den Lautsprecher erreichten, kam Leben in ihn. Er wandte sich fluchtartig zur Tür.
Bradley kurbelte an dem Stahlring, um die Verriegelung zu lösen. Durch die Scheibe war zu sehen, wie der Stoff wieder aus dem An zug des am Boden liegenden Arztes herausfloß und sich dort wie eine Pfütze aus schwarzem Quecksilber sammelte. Es schien, als würde die schwarze Masse eine Handbreit mal in die eine, mal in die andere Richtung fließen, unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Bradley zog die Tür auf, um den Arzt herauszulassen, doch dieser wandte sich plötzlich noch einmal um und eilte zu dem Tisch zu rück, auf dem sie das Stück des Kleides abgetrennt hatten. »Freeman!« brüllte Major Bradley. »Was zum Teufel machen Sie da?« »Ich bin gleich wieder da.« Freeman schnappte sich den kleinen Stahlzylinder mit der Gewebeprobe. »Verdammt, Sie Idiot! Hören Sie auf, den Helden zu spielen! Kom men Sie zurück!« Major Bradley sah, daß erneut Bewegung in das Kleid gekommen war, und während Freeman mit dem Behälter in der Hand zur Tür zurückeilte, floß es zielstrebig auf den Arzt zu, als wolle es ihm den Weg abschneiden. Als Freeman an ihm vorbeikam, bildete es einen Ausläufer aus, der nach den Füßen des Arztes griff. Der brachte sich mit einem schnellen Sprung in Sicherheit. Doch der schwere Anzug behinderte seine Bewegungen so sehr, daß er bei der Landung ins Stolpern geriet und der Länge nach hin schlug. Klirrend zersplitterte die Scheibe seines Helmes, als er mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufprallte. Der Stahlbehälter löste sich aus seiner Hand und kullerte direkt auf das Sicherheitsschott zu. Dr. Romano bückte sich schnell und hob ihn auf.
»Los!« brüllte Bradley. »Kommen Sie! Schnell!« Freeman wälzte sich herum und starrte auf die schwarze Masse, die amöbengleich über den Boden auf ihn zufloß – ohne recht zu be greifen, daß er alles nur noch durch ein Auge sah, weil in dem Aug apfel des anderen eine fingerlange Scherbe seines Helmvisiers steck te. Er rappelte sich auf und krabbelte auf allen vieren auf die Tür zu. Bradley streckte Dr. Dess seine Hand entgegen und zog ihn die letzten anderthalb Meter auf den Korridor hinaus, doch bevor die Füße des Arztes vollends über der Schwelle waren, hatte das Kleid bereits dessen Stiefel erreicht. Als das Schott wieder zufiel, war der Symbiont zusammen mit ihm draußen auf dem Korridor. Bradley ließ die Hand des Arztes los, als hätte er eine heiße Kartof fel angefaßt. Dr. Freeman wälzte sich herum, hob den Kopf und schrie auf, als er die schwarze Masse sah, die seinen Anzug emporgekrochen kam. Sein gellender Schrei erstarb, als das Kleid in seine Helmöffnung floß. »Los, weg hier!« brüllte Major Bradley. Er packte Dr. Romano bei der Hand und zog ihn den Gang entlang. Der dritte Arzt, der alles zusammen mit ihnen angesehen hatte, Dr. Smith, flüchtete in die andere Richtung. »Nicht da entlang!« rief Major Bradley ihm zu. »Das ist eine Sack gasse. Kommen Sie hierher!« Dr. Smith blieb stehen und starrte furchtsam auf den silbernen Schutzanzug, der zwischen ihnen im Korridor lag. Die Bewegungen des darin befindlichen Mannes waren erstorben, und das Kleid floß langsam wieder aus der Helmöffnung heraus.
Dr. Smith brachte nicht den Mut auf, sich der schwarzen Masse zu nähern, geschweige denn mit einem Sprung über sie hinwegzuset zen. Zu deutlich stand ihm vor Augen, was mit seinen beiden Kolle gen geschehen war. Als der Symbiont ein kleines Stück in seine Richtung floß, wandte er sich panikerfüllt ab und stürmte schreiend davon. Doch der Symbiont machte keinerlei Anstalten, dem schmächtigen Arzt zu folgen. Statt dessen wandte er sich in die andere Richtung und strebte auf Dr. Romano und Major Bradley zu. Der Chefarzt der St. Margarete’s Clinic überlegte einen winzigen Augenblick lang, ob das abgetrennte Stück in dem kleinen Stahlbe hälter, den er noch immer in der Hand hielt, der Grund für diese Entscheidung war. Vielleicht wollte sich dieses Ding nur zurückholen, was ihm ge nommen worden war. Und womöglich war dieser ganze Alptraum vorbei, wenn es das abgetrennte Stück zurückerhielt … Bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, zog der Major ihn weiter. »Komm endlich!« rief er. »Oder willst du hier Wurzeln schlagen?« Zusammen flohen sie durch die Gänge, während der Symbiont amöbengleich hinter ihnen herkroch. Er war kaum langsamer als sie.
* Hesekiel brach das Gitter, das den Lüftungsschacht versperrte, mit einem Stoß aus der Halterung. Polternd landete es auf dem Boden. Einem Schatten gleich flatterte er in den Raum hinein, hinunter zu der Liege, wo er sich wieder in seine menschliche Gestalt zurückver
wandelte. Langsam trat er an die Liege heran und ließ seine Blicke begehrlich über den Körper der nackten Frau wandern, die dort angekettet lag. Lilith bewegte sich leicht. Das Poltern des Lüftungsgitters war durch die Nebel der verabreichten Betäubungsmittel hindurch in ihr Bewußtsein vorgedrungen. Auch das flatternde Geräusch, das da nach zu hören gewesen war, hatte sie vernommen. Ein Geräusch, das ihr nur allzu vertraut war. Doch endgültig wach – und zwar auf einen Schlag – wurde sie erst, als sie mit ihren Vampirsinnen die Anwesenheit eines Artge nossen spürte. »Wer … ist da?« fragte sie mit schwerer Zunge und verfluchte die Tatsache, daß die Ärzte ihr die Augen verklebt hatten. »Ein Freund«, lautete die heisere Antwort. Wenn ihre Lage nicht so verzweifelt gewesen wäre, Lilith hätte laut aufgelacht. Schon wieder ein Vampir, der sich als Freund aus gab. Die Erfahrung, die sie mit Feyn hatte machen müssen, stand ihr noch allzugut im Gedächtnis. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, fuhr die Stimme fort, als würde das dazugehörige Wesen ihre Gedanken erraten. »Ich bin hier, um dir zu helfen.« Lilith spürte eine Berührung an der Wange, und dann wurden ihr die Klebestreifen von den Augen gezogen. Als sie wieder etwas erkennen konnte, sah sie den anderen Vam pir neben dem Kopfteil der Liege stehen. Er war von großer, hagerer Gestalt, mit eingefallenen Wangen und einem unsteten Blick. Ge kleidet war er in einen schäbigen schwarzen Anzug, in dem er bei nahe wie der Conferencier eines heruntergekommenen Varietes aus sah. Sie sah, wie er sich über sie , beugte und seine spitzen Eckzähne entblößte.
Lilith bewegte sich unruhig in ihren Fesseln und spürte Furcht bei dem Gedanken, daß sie ihm ganz und gar hilflos ausgeliefert war. Doch er machte keine Anstalten, sie anzugreifen, sondern gab sich damit zufrieden, auf sie herabzustarren – auf eine Art, die jede an dere Frau hätte erröten lassen. »Sag mir, wer du bist!« forderte Lilith. »Ein Ausgestoßener. Genau wie du.« »Ein Ausgestoßener?« »Ja. Herak hat mich aus der Sippe verbannt, weil ich ihm die Ge folgschaft verweigerte, als er sich nach Horas Tod an die Spitze setz te. Er hat mich gedemütigt und bis aufs Blut …« Er hielt inne, ver zog dann das Gesicht und machte eine unwirsche Bewegung. »Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist allein, daß ich mich an ihm rächen will. Herak muß sterben, aber der Kodex verbietet es. Aus diesem Grund habe ich dich gesucht. Du stehst über dem Kodex. Du allein kannst meine Rache vollziehen!« »Du weißt also, wer ich bin?« »Ja. Du bist der Bastard, den alle anderen liebend gerne umbrin gen würden. Lilith, ist das nicht dein Name?« »Ja. Und wie ist der deine?« »Hesekiel.« Er warf einen Blick in die Runde. »Und nun laß uns nicht noch mehr Zeit mit Reden verschwenden. Dazu ist später noch Zeit genug. Wir sollten erst einmal von hier verschwinden. Gibst du mir dein Wort, Herak zu töten?« Lilith sah ein, daß es keinen anderen Weg gab, sich die Freiheit zu erkaufen. Und außerdem war Herak ohnehin ihr Feind. »Ich schwöre es«, entgegnete sie. Hesekiel zerriß die Stahlkette und die Handschellen, die sie auf der Liege hielten, mit geradezu spielerischer Leichtigkeit.
Lilith fühlte sich unsicher, als sie sich aufrichtete und auf ihren Beinen zu stehen kam. Die Betäubungsmittel hingen wie zentner schwere Gewichte an jedem ihrer Gedanken und beeinträchtigten ihren Gleichgewichtssinn. Doch nicht nur sie allein waren für ihren schwachen Zustand verantwortlich. »Ich … ich brauche Blut.« »Später«, wischte Hesekiel ihren Wunsch beiseite. »Sobald wir hier heraus sind.« Lilith nickte schwach. Sie sah sich um und entdeckte auf dem Bo den einen der beiden Ärzte in den silbernen Anzügen. Er lag reglos da, mit dem Gesicht nach unten. Als sie sich neben ihm niederkniete und ihn auf den Rücken drehte, starrte ihr aus dem Innern des Hel mes ein Totenschädel entgegen, an dem nur noch wenige Fleischfet zen hingen. Lilith begriff, daß der Symbiont das getan haben mußte. »Mein Kleid …«, murmelte sie kaum hörbar. »Wovon redest du da?« Lilith richtete sich wieder auf. Sie sollte froh sein, daß sie den Sym bionten los war. Wie oft hatte sie sich schon nach einer Chance wie dieser gesehnt? »Nichts«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Nur so ein Gedanke.« »Komm, laß uns von hier verschwinden«, erinnerte Hesekiel. »Und wie?« Er deutete hoch zu dem Lüftungsschacht, vor dem das Gitter fehl te. »Auf dieselbe Art, auf die ich hereingekommen bin.« »Nein.« Lilith schüttelte den Kopf. »Ich bin viel zu schwach, um mich in eine Fledermaus zu verwandeln. Das schaffe ich nicht. Nicht, ohne mich vorher gestärkt zu haben.« Hesekiel wandte sich kurz entschlossen dem Schott zum Korridor
zu. »Gut. Dann nehmen wir eben diesen Weg.« Das Schott war nur von außen zu öffnen und bestand aus spezial gehärtetem Stahl. Doch für einen Vampir wie Hesekiel stellte das kein unüberwindliches Hindernis dar. Gerade als er im Begriff war, sich dagegenzustürzen, tauchte hin ter der Scheibe das Gesicht eines Arztes auf. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern weiteten sich entsetzt, als er zu ihnen hereinstarrte. Hektisch machte er sich an irgend et was seitlich neben der Tür zu schaffen, und kurz darauf schallte sei ne aufgeregte Stimme über die Lautsprecher. »Major Bradley! Dr. Romano! Schnell! Kommen Sie zum Untersu chungsraum! Beeilen sie sich!« Hesekiel wartete nicht länger, sondern stürmte vorwärts und warf sich gegen die Tür.
* Major Bradley steuerte auf ein elektronisch verriegeltes Schott zu, das den Zugang zu einem anderen Teil des unterirdischen For schungskomplexes abschloß. Ein Knopfdruck auf eine Codeleiste, und die schwere Tür schwang vor ihnen auf. Als sie auf der anderen Seite waren, glaubte Dr. Romano schon, daß sie es geschafft hätten und endlich in Sicherheit wären. Doch zu seinem Erstaunen schloß Major Bradley das Schott nicht wieder, sondern hetzte weiter den Korridor entlang. »Aber warum …?« rief Dr. Romano, während er dem Major folgte. Das Kleid, das sich dem Schott von der anderen Seite bedrohlich schnell näherte, tat ein übriges, ihn anzutreiben. »Es hätte keinen Sinn, das Schott zu schließen«, antwortete Major
Bradley, ohne sich umzusehen. »Das Ding würde uns dann durch die Lüftungsschächte entkommen und könnte praktisch überall wie der zuschlagen. Nein, ich habe eine bessere Idee!« Keine dreißig Meter weiter auf dem schnurgeraden Korridor ver sperrte ein zweites Schott ihren Weg. Bradley blieb davor stehen, ohne Anstalten zu machen, es zu öff nen. Statt dessen wandte er sich zur Seite und öffnete einen in die Kor ridorwand eingelassenen Schrank. Ihm entnahm er ein Gerät, das Dr. Romano erst auf den zweiten Blick als tragbaren, handlichen Flammenwerfer identifizierte. Der Symbiont war schon auf zehn Meter an sie heran, als Major Bradley sich umwandte und den Lauf herumschwenkte. Fauchend schoß eine Flammenzunge auf die amorphe Masse zu, ohne sie jedoch direkt zu treffen. Der Major hatte den Schuß so be messen, daß das Feuer nur dicht vor ihr über den Boden leckte. Es reichte aus, um den Symbionten zum Stillstand zu bringen. Er verharrte auf der Stelle. Ein paar weitere Flammenzungen ließen ihn umkehren. Mit dem Flammenwerfer trieb Bradley die schwarze Masse den Gang zurück. Als sie wieder vor dem ersten Schott angekommen waren, rief er Dr. Romano zu: »Siehst du die Schalttafel dort an der Wand?« Romanos Kopf ruckte herum. »Ja, sehe ich.« »Drück auf der Codeleiste folgende Kombination: vier, sechs, drei. Los. Schnell! Vier, sechs, drei.« Dr. Romano tat, wie ihm geheißen, und kaum hatte er die Tasten gedrückt, schwang das Schott direkt vor dem Symbionten zu und versperrte ihm den Weg.
Abermals floß die schwarze Masse unruhig umher. Es schien, als wollte sie sich auf die beiden Männer stürzen, doch eine erneute Flammenzunge hielt sie auf Distanz. Dr. Romano hustete. Die Hitze im Korridor wurde nahezu unerträglich. »Jetzt folgende Kombination: vier, vier, vier«, rief Major Bradley. Seitlich neben dem Sicherheitsschott glitt eine kleine rundliche Tür mit einem bullaugenähnlichen Fenster auf, kaum daß Dr. Romano die Tasten gedrückt hatte. Dieses Schott hatte er bislang noch gar nicht bemerkt. Mit dem Flammenwerfer trieb Major Bradley den Symbionten dort hinein. Eine erneute Tastenkombination, und die Tür schwang wieder zu. Bradley ließ erschöpft den Flammenwerfer sinken. »Jetzt haben wir das Biest.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …« »Das da ist unsere Testkammer. Hermetisch verriegelt, sobald das Schott geschlossen ist. Dort kommt dieses Biest niemals heraus. Und womit immer wir es konfrontieren wollen – Unterdruck, Kälte, Strahlung oder sonstiges –, dort drinnen können wir es ihm geben! Es sitzt in der Falle.« Dr. Romano trat an das Bullauge heran und wagte einen vorsichti gen Blick hindurch. Er zuckte zurück, als die schwarze Masse gegen die andere Seite der Scheibe klatschte und sich vollständig darüber ausbreitete. Man konnte ihm beinahe ansehen, wie es sich bemühte, die Scheibe zu sprengen – mit welchen Kräften auch immer. Doch Dr. Romanos Befürchtungen waren unbegründet. Die Scheibe hielt. Aufatmend lehnte er sich an die Wand.
Da klangen plötzlich überall in der Etage die Lautsprecher auf, und die aufgeregte Stimme von Dr. Smith schallte durch die Räume und Gänge: »Major Bradley! Dr. Romano! Schnell! Kommen Sie zum Untersu chungsraum! Beeilen Sie sich!« Major Bradley sah sich nach der nächsten Kommunikationseinheit um und eilte darauf zu. »Ich weiß nicht, ob Sie mich hören können«, fuhr Dr. Smith fort, »aber wenn ja, kommen Sie so schnell wie möglich her!« Der Major hatte die Kommunikationseinheit erreicht und drückte eine Taste nieder. »Bradley hier«, meldete er sich. »Die Situation bei uns ist unter Kontrolle. Was ist bei Ihnen?« »Die Patientin! Sie … sie ist aufgewacht! Und da ist noch jemand. Er … O Gott, nein!« Über die Lautsprecher hallte ein dumpfes Krachen durch die Räu me. »Dr. Smith?« rief Major Bradley. »Hören Sie mich?« »Ja! Ja, ich höre Sie.« »Können Sie sagen, was bei Ihnen geschieht?« »Er … er versucht auszubrechen. Und er …« »Verzeihen Sie, Doktor – wer ist er?« »Er … ist ganz plötzlich aufgetaucht. Ich weiß nicht, woher. Und er …« Ein erneutes dumpfes Krachen – noch lauter als das vorangegan gene – war zu hören, dann endete die Verbindung. Major Bradley und Dr. Romano tauschten einen kurzen Blick, der ihnen bestätigte, daß sie beide dasselbe dachten. Es war noch nicht vorbei! Bradley überprüfte den Füllstand seines Flammenwerfers und
nickte Romano zu. »Dann los! Was immer da passiert – wir sollten uns beeilen!«
* Hesekiels vierter Ansturm brach die Tür endgültig aus dem Rah men. Mit einem Knurren trat er auf den Korridor hinaus und stieg über die reglos am Boden liegende Gestalt eines zweiten Arztes in einem silbernen Anzug hinweg. Dr. Smith hatte sich zurückgezogen, und als Hesekiel sich ihm zu wandte, holte er aus seinem Kittel einen langläufigen .45er hervor. Die Waffe war für seine kleinen Finger fast zu groß. Mit zitternden Händen richtete er den Lauf auf Hesekiel und die nackte Lilith, die hinter dem Vampir auf den Korridor trat. »Ich warne Sie!« rief er mit angstbebender Stimme. »Kommen Sie nicht näher!« Die beiden blieben stehen. »Los!« fügte er – durch diesen kleinen Erfolg offenbar etwas muti ger geworden – hinzu. Er deutete mit dem Lauf in Richtung des zer borstenen Schotts. »Sie beide gehen jetzt hübsch wieder dort hinein. Und dann warten wir gemeinsam, bis meine Kollegen hier sind. Ha ben Sie verstanden?« Er schluckte, als die beiden keine Anstalten machten, seiner An weisung zu folgen. Statt dessen duckte Hesekiel sich leicht und starrte dem schmäch tigen Arzt entgegen. Lilith war der Überzeugung, daß er versuchen würde, sein Gegenüber zu hypnotisieren, doch er hatte nichts der gleichen im Sinn.
Langsam trat er auf den Arzt zu – Schritt für Schritt. »Nein, tun Sie das nicht!« Dr. Smith wich im selben Maße zurück, wie Hesekiel ihm sich näherte. Auf seiner Stirn glänzten Schweiß perlen. »Bleiben Sie stehen! Ich schieße! Bei Gott, ich schwöre, daß ich schießen werde!« »Gott, pah!« Hesekiel hielt inne und verzog verächtlich das Ge sicht. »Ich bin Gott!« Er spannte sich zum Sprung. »Ich schieße!« schrie Dr. Smith panikerfüllt, nicht begreifend, warum die Waffe in seinen Händen sein Gegenüber nicht im ge ringsten abschreckte. »Nein!« rief plötzlich eine Stimme vom anderen Ende des Korri dors. »Tun Sie das nicht!« Die Stimme gehörte Dr. Romano, der dort zusammen mit dem Major aufgetaucht war. Doch da war es bereits zu spät. Hesekiel sprang vor. Dr. Smith prallte erschrocken zurück und zog den Abzug durch. Nicht nur einmal. Sondern wieder und wieder. Aber er traf nicht. Schon der Rückstoß des ersten Schusses riß ihm die großkalibrige Waffe fast aus der Hand, und bei jedem weiteren Schuß hüpfte der Lauf wie wild in der Gegend umher. Querschläger pfiffen durch den Korridor. »In Deckung!« schrie Major Bradley, als er die Gefahr erkannte, und warf sich hinter die Korridorbiegung. Dr. Romano hatte weniger Glück. Noch ehe er reagieren und sich in Sicherheit bringen konnte, erwi schte ihn einer der Querschläger mitten in die Brust. Die Kugel
durchschlug seinen Körper und warf ihn rückwärts gegen die Wand. Langsam sank Dr. Romano zu Boden. Auf der anderen Seite des Korridors hatte Hesekiel derweil Dr. Smith erreicht, und sein Hieb, der ihm die Waffe aus den Händen schlug, war so vehement, daß er dem Arzt sämtliche Unterarmkno chen zertrümmerte. Während er noch schmerzerfüllt aufschrie, hatte Hesekiel ihn be reits mit einer Hand am Kopf, mit der anderen am Nacken gepackt, und mit einem Ruck brach er ihm das Genick. »Komm!« rief er Lilith zu, während er den Arzt achtlos zu Boden fallen ließ. Lilith folgte ihm zögernd. »Das war nicht nötig«, sagte sie, als sie an der Leiche des Arztes vorbeikam. »Es war nicht nötig, ihn umzu bringen.« »Einer mehr oder weniger … Darauf kommt es doch nicht an.« Der Vampir griff ihre Hand und zog sie weiter. »Stehenbleiben!« rief eine energische Stimme hinter ihnen. Doch da waren sie bereits hinter der nächsten Korridorbiegung verschwunden. Zielstrebig hielt Hesekiel auf den Treppenschacht zu, der zur Oberfläche hinaufführte. Bei seinem Weg durch die Lüftungsschäch te des Gebäudes auf der Suche nach Lilith hatte er genug Gelegen heit gehabt, sich die Lage der Räumlichkeiten einzuprägen. »Komm!« spornte er Lilith an, die immer wieder hinter ihm zu rückblieb. »Nicht mehr lange, und wir sind draußen!«
*
Bradley sah, wie Hesekiel und Lilith hinter der Biegung des Korri dors verschwanden, und wandte sich in Dr. Romanos Richtung. »Los! Wir müssen hinterher! Vielleicht können wir verhindern, daß sie …« Er brach ab, als er gewahr wurde, daß Dr. Romano ihm nicht mehr antworten konnte. Der Chefarzt der St. Margarete’s Clinic saß am Bo den, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und seine aufgerisse nen Augen starrten ins Leere. Bradley stieß einen derben Fluch aus und eilte zur nächsten Kom munikationseinheit. Über die Sprechanlage verständigte er die Wachmannschaften oben im Erdgeschoß. »Alarm für alle Wachmannschaften!« rief er. »Sofort den Lift blo ckieren! Und das Treppenhaus sichern. Niemand darf das Gebäude verlassen!« Während der Wachmann am anderen Ende bestätigte, klang von weither ein Laut, als würde abermals eine Tür mit Gewalt durchbro chen. »Dies ist keine Übung!« fügte Bradley hinzu. »Machen Sie sich auf zwei Personen gefaßt, die über gewaltige Kräfte verfügen. Halten Sie sie auf! Von der Schußwaffe darf Gebrauch gemacht werden. Aber sehen Sie zu, daß zumindest einer der beiden am Leben bleibt!« Er warf einen Blick auf Dr. Romanos leblose Gestalt. »Und rufen Sie einen Ambulanzwagen!« Damit unterbrach er die Verbindung und folgte Lilith und Hese kiel zum Treppenschacht.
* Die vier Wachmänner machten ihren Job gut. Sie sicherten das Trep
penhaus so, wie sie es Dutzende Male geübt hatten – sich gegensei tig Deckung gebend und mit den MPs im Anschlag. Jetzt, da der Lift blockiert war, war die Treppe der einzige Weg, auf dem man noch nach oben gelangen konnte. Sie konnten nicht wissen, daß das nur für menschliche Wesen galt. Außerdem erwarteten sie ihre Gegner von vorn. Hesekiel aber tauchte in ihren Rücken auf. Er hatte sich abermals in eine Fledermaus verwandelt und die Stellung der Männer durch einen Lüftungsschacht überwunden. Als sie ihn bemerkten, gab es für sie keine Rettung mehr. Hesekiel kam wie ein Orkan über sie. Und er wütete grausam. »Komm!« rief er Lilith anschließend durch das Treppenhaus zu. »Der Weg ist frei!« Lilith kam die Stufen herauf, und als sie die zerfetzten Leichen der Soldaten sah, fühlte selbst sie ein Schaudern. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, folgte sie dem Vampir, der dieses Massaker angerichtet hatte, zur Eingangspforte des Gebäudes. Auf dem Militärgelände war mittlerweile der Teufel los. Dutzende von Scheinwerfern beleuchteten das Areal. Überall liefen Menschen umher. Trotzdem gelang es den beiden Vampiren, das Gebäude unbe merkt zu verlassen und in der Dunkelheit unterzutauchen. Als Major Bradley die toten Männer der Wachmannschaft ent deckte, waren die beiden Vampire bereits in der Nacht verschwun den.
* Hesekiel hielt erst inne, als sie sich weit vom Militärgelände entfernt
hatte. Sie befanden sich am Rande eines kleinen Wäldchens, und ein paar Schritte weiter spannte sich der Zaun einer Weide über das Gras. Etwas entfernt lagen Drahtrollen und ein Stapel Zaunlatten umher, die offenbar für Ausbesserungsarbeiten bestimmt waren. »Wir haben es geschafft«, sagte Hesekiel, als sie zum Stehen ge kommen waren. »Hier sind wir in Sicherheit.« »Ja. Wir haben es geschafft.« Lilith ließ sich erschöpft am Fuß eines Baumes nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und schloß die Augen. Die Flucht hatte sie ausgelaugt. Aber dennoch fühlte sie sich befreit. Nicht nur aus ihrem Gefängnis, sondern auch von dem Symbionten. Endlich! »Ich bin dir zu Dank verpflichtet«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Ich weiß nicht, wie lange ich ohne deine Hilfe gebraucht hätte, um von dort zu entkommen.« »Du brauchst mir nicht zu danken. Im Gegenteil. Ich bin es, der zu danken hat.« »Wie meinst du das?« »Du bedeutest viel mehr für mich, als du glaubst.« Irgend etwas warnte Lilith. Es war kein Geräusch, nichts derglei chen. Vielleicht war es etwas in seinem Tonfall, vielleicht auch nur ihr Instinkt. Sie öffnete die Augen und sah, daß Hesekiel lautlos an sie heran getreten war. In seinen Händen hielt er eine der Zaunlatten, deren spitzes Ende auf ihr Herz herabzielte. »Aber leider bist du nur tot für mich wertvoll!« rief er und stach auf sie nieder.
*
Das erste, was Dr. Romano bemerkte, als er zu sich kam, war, daß ihm das Atmen schwerfiel, und als er an sich herunterblickte, sah er, daß sein weißer Kittel blutgetränkt war. Und auf seiner Brust klaffte eine handtellergroße, offene Wunde. Man mußte nicht Medizin studiert haben, um zu wissen, daß diese Wunde tödlich war. Dr. Romano spürte mit jedem Atemzug, wie das Ende näherkam. Das Erstaunlichste war, daß er trotz der grausamen Verletzung keinerlei Schmerzen empfand. Seltsam unbeteiligt überlegte er, wie viel Zeit ihm noch verblieb, ehe er sein Leben aushauchte. Ein paar Minuten? Oder gar nur noch Sekunden? Sein Blick traf die Tür zum Untersuchungslabor, die sich nur ein paar Meter entfernt befand, und in seinem Hirn reifte binnen Sekun den ein wahnwitziger Plan. Ein Plan, der nur von jemandem in seinem Zustand erdacht wer den konnte. Vielleicht …, hämmerte ein Gedanke durch seinen Schädel. Viel leicht, wenn ich … Ja, er mußte es versuchen. Es war seine einzige Chance. Und ver mutlich die letzte, die ihm überhaupt noch verblieb. Ächzend drehte er sich herum und kroch auf die Tür zu, eine brei te Blutspur hinter sich herziehend. Er schaffte es, die Tür zu öffnen und in den Raum hineinzukrie chen, hin zu dem Untersuchungstisch, auf dem sich die Blutproben der jungen Frau befanden. Mit allerletzter Kraft zog Dr. Romano sich halb auf den Tisch hin auf und griff nach einer der dort stehenden Phiolen. Falls darin
wirklich ein Wirkstoff enthalten war, der Wunden zu heilen ver mochte … Kaum hatte er die Phiole mit den Fingern umschlossen, verlor er den Halt und stürzte zu Boden. Halb auf der Seite blieb er liegen. Einen Moment befürchtete er, er hätte die Phiole verloren – denn er wußte, daß er nie und nimmer die Kraft aufbringen würde, sich noch ein zweites Mal auf den Tisch hinaufzuziehen –, doch dann spürte er, daß er sie noch immer in der Hand hielt. Er öffnete sie, führte sie zum Mund und schluckte die Flüssigkeit herunter. Nur Augenblicke später brüllte er wie ein Irrsinniger auf und warf die leere Phiole in hohem Bogen von sich. Die Flüssigkeit explodier te geradezu in seinen Eingeweiden. Unbeschreibliche Schmerzen rasten durch seinen Körper. Dr. Romano wand und drehte sich auf dem Boden wie jemand, der unter einem epileptischen Anfall litt. Ein, zwei Minuten – Minu ten, die sich wie Ewigkeiten in die Länge zogen – dauerte sein To deskampf, dann blieb er schließlich reglos liegen.
* Lilith wälzte sich zur Seite und entging dem Stoß, der ihr das spitze Ende der Latte ins Herz getrieben hätte, nur um Haaresbreite. Be hende kam sie auf die Beine. »Was soll das?« schrie sie. »Warum greifst du mich an? Es war also alles Lüge?« Er entblößte seine spitzen Eckzähne. »Nicht alles«, fauchte er. »Ich wurde aus der Sippe ausgestoßen, aber schon vor langer Zeit. Doch wenn ich den anderen deinen toten
Körper zeige, wird man mich in Ehren wieder aufnehmen. Und überall wird man davon sprechen, daß ich es war, der dich zur Stre cke gebracht hat.« Die beiden Vampire umkreisten einander langsam wie Gegner, die sich vor dem Kampf noch einmal in Augenschein nahmen. »Aber warum hast du mich dann nicht schon getötet, als ich wehr los auf der Liege lag?« »Ich habe es in Erwägung gezogen. Aber wie hätte ich deinen Kör per durch die Lüftungsschächte wieder herausbringen sollen? Nein, es war einfacher, mit deiner Mithilfe zu fliehen. Und hier hast du meinen Dank dafür.« Er sprang vorwärts. Lilith hatte ihm nicht viel entgegenzusetzen. Dazu war sie zu ent kräftet. Hesekiel war dafür um so entschlossener. Wütend attackierte er die Vampirin und setzte ihr immer mehr zu. Ein paarmal entging Li lith nur mit äußerster Mühe der hölzernen Spitze, mit der er immer wieder auf ihr Herz stieß. Sie wußte, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, wann er sie endgültig traf und diesem grausamen Spiel ein Ende machte. Wenn doch nur der Symbiont hier wäre, dachte Lilith verzweifelt, während sie einem weiteren Stoß auswich. Mit seiner Hilfe hätte sie es vielleicht geschafft. Er hatte ihr schon mehr als einmal in solchen Situationen das Leben gerettet. Welche Ironie des Schicksals, daß sie sich noch vor Minuten dar über gefreut hatte, ihn los zu sein! Hesekiels Attacken wurden immer wütender. Lilith schaffte es dennoch, ihm die Latte aus den Händen zu schlagen, doch sofort packte er sie und warf sie mit Wucht durch die Luft.
Lilith landete kopfüber neben den Stapel Zaunlatten. Sie sah, wie Hesekiel auf sie zukam und mit einem weiten Satz wie ein Tiger auf sie zusprang, und sie wußte, daß sie ihm nicht entge hen würde. Sie spürte etwas in ihren Händen und riß es hoch, um sich damit gegen den heranfliegenden Körper zu schützen. Da landete der Vampir bereits auf ihr, und der Aufprall war so hart, daß er ihr sämtliche Luft aus den Lungen schlug. Lilith erwartete, daß Hesekiel es nun zu Ende bringen würde. Doch er tat nichts dergleichen. Statt dessen lag er wie erstarrt auf ihr, und als sie sein Gesicht sah, erkannte sie, daß er sie mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens anstarrte. »Ich … ich …«, kam es gurgelnd aus seiner Kehle. Mehr brachte er nicht hervor. Ein schwarzer Blutfaden rann aus seinem Mundwin kel. Schweratmend arbeitete Lilith sich unter seinem Körper hervor, und als Hesekiel auf den Rücken zu liegen kam, sah sie die Zaunlat te, die sie emporgerissen hatte, in seinem Leib stecken. Zuckend und sich auf dem Boden windend griff er mit beiden Händen danach, doch er war nicht imstande, sie wieder herauszu ziehen. Sekunden später war sein Todeskampf zu Ende. Lilith erhob sich langsam. Eine Zeitlang blickte sie wie in Trance auf den toten Körper des Vampirs herab, dann beschloß sie, den Ort zu verlassen und nach Sydney zurückzukehren. Sie mußte an sich denken. Sie brauchte Blut, um ihren Durst zu stillen, und in der Stadt sollte irgendwo ein leichtes Opfer zu finden sein. Nach einer Jagd war ihr heute nacht nicht mehr zumute. Doch es gelang ihr nicht, die Großstadt zu erreichen. Je weiter sie sich von dem Militärgelände entfernte, desto mehr
breitete sich ein beklemmendes Gefühl in ihr aus. Ein Gefühl, das ihr den Atem raubte und beängstigende Visionen in ihr aufsteigen ließ. Lilith kannte es nur zu gut. Sie hatte es schon einmal gespürt, als Pater Lorrimer es geschafft hatte, das Kleid während eines Exorzis mus von ihrem Körper zu trennen.* Und sie wußte, wer dafür ver antwortlich war. Es war das Kleid – es ließ sie nicht los! Es schien, als wären sie wie durch ein unsichtbares Band aneinan dergekettet. Lilith gab es auf, dagegen anzukämpfen. Es hatte keinen Sinn. Statt dessen wandte sie sich um und machte sich auf den Weg zu rück zum Militärgelände. Sie hatte keine andere Wahl.
* Major Bradley beugte sich über die Trage, auf der man Dr. Romano in den herbeigerufenen Ambulanzwagen lud. Das Gesicht des Chef arztes der St. Margarete’s Clinic war fahl und wächsern. Er hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. »Wird er durchkommen?« fragte Bradley die Sanitäter. »Schwer zu sagen. Als wir ihn unten geholt haben, sah es nicht da nach aus. Aber sein Zustand scheint sich zunehmend zu stabilisie ren. In vierundzwanzig Stunden werden Ihnen die Ärzte der Klinik mehr sagen können.« Bradley nickte, nur halbwegs beruhigt, und wandte sich ab. Er *siehe VAMPIRA 3: »Besessen«
fühlte Schuld in sich. Schuld für das, was geschehen war. Er fragte sich, wie er das alles seinen Vorgesetzten erklären sollte. Vielleicht würden die Ergebnisse, die eine eingehende Untersu chung des Kleides versprachen, sie etwas gnädiger stimmen. Bei dieser Masse handelte es sich zweifelsohne um eine unbekannte, möglicherweise sogar intelligente Lebensform. Zumindest ließ die Art, wie es ihn und Dr. Romano durch die Gänge verfolgt hatte, dar auf schließen. Nachdem die Toten abtransportiert waren, ließ Bradley das Ge bäude von Dutzenden Wachen abriegeln. Allein er selbst betrat es noch einmal. Als er durch das Treppenhaus nach unten gehen wollte, löste sich neben ihm ein Schatten aus einer dunklen Nische. Major Bradley zuckte zurück, als er die junge Frau erkannte. Voll kommen nackt stand sie vor ihm. »Sie?« entfuhr es ihm. Lilith lächelte kalt. »Ja, ich. Mich haben Sie hier sicherlich zuletzt erwartet.« Er wollte fliehen, aber sie war schneller. Mit einem Satz sprang sie auf ihn zu, und einen Moment später gruben sich ihre Zähne in sei ne Halsschlagader. Begierig saugte sie das Blut, das daraus hervor schoß. Die Kräfte, die mit jedem Schluck ihren Körper durchström ten, waren eine Wohltat. »So, und nun gehen wir beide nach unten«, sagte sie, nachdem sie ihr Mahl beendet hatte. »Ich glaube, ihr habt hier etwas, das mir ge hört.« Major Bradley brachte sie hinunter und führte sie zu der Kammer, in der sich das Kleid befand. Auf Liliths Befehl hin öffnete er das Schott. Sofort kam die amorphe Masse aus der Öffnung herausgeflossen,
ohne den Major anzufallen. Es schien zu begreifen, daß er keine Ge fahr mehr darstellte. Lilith streckte ihre Hand fast widerwillig nach dem Symbionten aus. Doch sie wußte, daß ihr keine andere Wahl blieb. Das Kleid floß auf ihre Haut zurück. Wieder gefangen, dachte sie. Sie brachte den Symbionten dazu, sich wie ein enger schwarzer Overall um ihren Körper zu legen, und er gehorchte anstandslos. Aber etwas war anders, das fühlte sie. Irgend etwas von dem, was früher dagewesen war, als sie es auf ihrer Haut gefühlt hatte, fehlte nun, ohne daß Lilith hätte erfassen können, worum es sich dabei handelte. Sie horchte in sich hinein, ob der Symbiont ihr etwas zu übermit teln hatte. Doch er blieb stumm. Lilith wandte sich an Major Bradley und suggerierte ihm, alles zu vergessen, was er erlebt hatte. Statt dessen befahl sie ihm zu glau ben, daß dies alles ein technischer Unfall – eine Verquickung un glücklicher Umstände – gewesen war. Bevor sie sich aufmachte, um das Gebäude zu verlassen, hielt sie noch einmal inne. Hatte sie irgend etwas vergessen? Nein. Sie ließ den Major allein und strebte zum Erdgeschoß hinauf. Das Gebäude war mittlerweile ringsum von Militärposten abgeriegelt. Noch vor einer halben Stunde wäre es ihr schwergefallen, unbe merkt an den vielen Wachen vorbeizukommen. Aber jetzt – da das Blut des Majors sie gestärkt hatte und sie wieder über ihre vollen Kräfte verfügte – bereitete ihr das keine Schwierigkeiten mehr. Sie fand im ersten Stock ein offenes Fenster, und in der Gestalt ei ner Fledermaus flatterte sie hinaus und stieg in den Nachthimmel
empor. Als sie dabei zwei Wachen überflog, hob einer von ihnen den Kopf und spähte nach oben. »Was hast du?« fragte der andere. »Ich weiß nicht. Ich dachte gerade, ich hätte da oben einen großen Vogel gesehen. Oder eine Fledermaus.« »Eine Fledermaus! Pah! Halt lieber nach wirklich wichtigen Din gen Ausschau! Oder glaubst du etwa, eine Fledermaus wäre für den ganzen Aufruhr hier verantwortlich?«
* Epilog Der Mann im dunklen Anzug machte einen mitgenommenen Ein druck. Sein Gesicht war totenbleich, nur die dünnen Lippen stachen rot hervor. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, wie mit Schminke aufgetragen. »Fehlt Ihnen etwas?« fragte die junge Frau hinter dem Schalter be sorgt. »Soll ich einen Arzt kommen lassen?« Ein undeutbares Lächeln glitt über das Gesicht des Mannes, doch es erreichte seine Augen nicht, die seltsam trocken und starr schie nen. »Nein, danke«, erwiderte er abwesend. Eine seltsame Stimmung hielt ihn gefangen, als wären seine Gedanken aus dem Takt geraten, als hingen sie hinter dem Hier und Jetzt zurück. Als wäre er noch immer auf der Flucht aus dem Krankenhaus, in das man ihn ge bracht und in dem man seinen Tod festgestellt hatte.
Es war nicht schwierig gewesen, aus der Leichenkammer zu ent kommen und sich im Personalzimmer einen Anzug zu organisieren. Doch auf dem Weg nach draußen war er dem Arzt über den Weg gelaufen, der seinen Totenschein ausgestellt hatte – und der jetzt na türlich leicht befremdet darüber war, daß »seine« Leiche in den Flu ren umherwanderte. Er hatte ihn niedergeschlagen und in einen Abstellraum verfrach tet. Niemand durfte ihn aufhalten. Er hatte ein Ziel. Es stand so klar vor seinen Augen, daß alles andere daneben zur Nichtigkeit ver blaßte. »Sir?« drang die Stimme der Schalterbeamtin in seine Gedanken, und er sah auf. »Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?« »Uruk«, sagte Dr. Romano und lächelte wieder abwesend. »Ich möchte einen Flug nach Uruk buchen.« ENDE
Felidae von Adrian Doyle Zwei Tote sind unterwegs. Ihr Ziel liegt im Irak, dem früheren Me sopotamien. Warum sie dorthin streben, bleibt ihnen selbst ver schlossen. Sie wissen nicht, daß sie einer magischen Programmierung folgen, daß sie einen Plan erfüllen, der vor über 260 Jahren ersonnen wurde. Von einer geheimnisvollen, rothaarigen Frau, die damals auch nur einem Plan folgte, der noch weitaus älter ist. Und als die Toten den Ort ihrer Bestimmung erreichen, erwacht sie …