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Ein schüchterner, aber nicht unfreundli cher Mann, der Finne Heikki Koskinen, nutzt seinen Urlaub in Schweden, um von Malmö aus einen Abstecher nach Kopenha gen zu machen. Willig läßt er sich in der dänischen Metropole in einen Sightseeing bus schleppen und die Schönheiten der Stadt vorführen. Er ist der geduldigste Tourist, denn er versteht kein Wort Schwedisch oder Dänisch. Die junge, attraktive Fremdenführerin Marianne, eine schwedische Studentin, die sich mit diesem Job ihre Finanzen aufbes sert, nimmt sich des etwas hilflosen Man nes an und bringt ihn abends wieder nach Schweden zurück. Um so erstaunter ist sie, als sie am nächsten Tag in der Zeitung liest, daß Heikki Koskinen in Kopenhagen ermordet worden sein soll. Auf eigene Faust wollen Marianne und ihre Kommilitonen dieses Rätsel lösen. Elvy Ahlbeck, eine angesehene schwedi sche Kriminalschriftstellerin, legt hier einen an Verwicklungen reichen Detektivroman vor, der flott, spannend und erheiternd ge schrieben ist. Der Titel spielt auf das vor Fluten geschützte Kopenhagener Hafen viertel Nyhavn an, das aber gerade für Fremde nicht immer der sicherste Ort ist – wie im Roman bewiesen wird.
Scanned and Corrected by
Pegasus37
Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Elvy Ahlbeck
Auf der siche-
ren Seite
Eulenspiegel Verlag Berlin
Titel des schwedischen Originals: På den säkra sidan Deutsch von Udo Birckholz
Die Beteiligten: Marianne, Brita-Clara Patrik, Natan, Vennerlind, Frid Heikki Koskinen
………. ………. ……….
Studentinnen und Fremdenführer Studenten und Fremdenführer Ein verirrter Tourist Ein zielbewußter Tourist Ein Malmöer Vagabund
Luigi Corelli
……….
Arimatea
……….
Eino und Pirkko Kivilainen
………. Heikkis Wirtsleute
Preben und seine Frau Jensen Lundby Ellen
Besitzer der „Borgerstuen“ ………. Chauffeur ………. Kriminalkommissar ………. Lundbys Sekretärin ……….
Ort der Handlung ist außer Dänemark und Schweden auch der Sund, über den einige Dänen nach dem schwedischen Malmö und viele Schweden nach dem dänischen Kopenhagen fahren.
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An einem schönen Juninachmittag des Jahres 1954 saß Patrik auf seinem Zimmer in der Landbygatan in Mal mö und las „Eugenie Grandet“ – teils, weil der Titel zur Pflichtlektüre eines Literaturstudenten gehörte, und teils, weil er Balzac mochte. Vor ihm lag ein fuchsroter Hund undefinierbarer Rasse auf dem Teppich und kau te mißmutig an „Schwedens Kommunalgesetzgebung“. Der für den Einband verwendete Leim schmeckte ihm nicht sonderlich, jedenfalls nicht so gut wie der von Frödings gesammelten Werken. Patrik warf hin und wieder einen Blick auf die Pro menadenmischung, fühlte sich aber nicht veranlaßt, „Schwedens Kommunalgesetzgebung“ vor ihr in Schutz zu nehmen. Das war Natans Aufgabe, der sich der Juristerei verschrieben hatte. Das Fenster stand offen. Dies hatte den erwünsch ten Effekt, daß der Qualm aus Patriks Pfeife schnell abzog, und den unerwünschten, daß ein leichter Wind die Gerüche des gesamten Viertels in den Raum weh te: die von der nicht einmal im Sommer völlig trock nenden Brandmauer aufsteigende Moderluft, den Ge stank von den Latrinenklosetts hinter den Lattentüren an der Hofecke, den Essensdunst aus der „Druvan“ in der Engelbrektsgatan und darüber den frischen Duft der Blüten des denkmalähnlichen Lindenbaums auf dem Hof. Patrik hörte die Haustür zuschlagen und nahm an, einer der Kneipbrüder sei hinausgegangen, die immer im Treppenflur herumlungerten, um außer Sichtweite der Polizei zu sein. Hin und wieder mußte sich ja je 6
mand auf den Weg machen, um neuen Stoff zu holen. Vielleicht war aber auch der alte Arimatea gekommen. Ob der Alte wirklich so hieß, wußte Patrik nicht, doch alle nannten ihn so. Er war der König des Slums. Wenn der Besitzer des Textilgeschäfts unten sich ein mal ermannte, um die Zechkumpane aus dem Trep penflur zu jagen, machte er mit Arimatea immer eine Ausnahme. Arimatea durfte auch als einziger die aus gediente Kommode im Hausflur zur Aufbewahrung sei ner leeren Flaschen benutzen. Es war jedoch kaum wahrscheinlich, daß der Alte wie ein Wilder die Treppe hochstürmte und dabei einen Spektakel verursachte, als arbeitete jemand mit einem Mauerbrecher. Dann wurde die Küchentür aufgerissen, und Marianne brauste herein. Offenbar kam sie direkt von der Schiffsanlegestelle der Malmö–Kopenhagen-Linie. Sie hatte die Hände um einen Packen Broschüren gefaltet, die sie gegen den Bauch preßte, und ein Exemplar der „Politiken“ unter dem Arm, das jedoch bei dem Dauerlauf ins Rutschen geraten war. In Natans Zimmer verlor sie es. Marianne eilte in Patriks Zimmer und warf die Bro schüren aufs Bett. Der Hund, der sich bereits auf die „Politiken“ gestürzt hatte, war einen Augenblick im Zweifel, ob er nicht lieber die Broschüren untersuchen sollte, doch als Marianne sofort zurückkehrte und sich nach der Zeitung bückte, begriff er, daß er die wert vollere Beute erwischt hatte, setzte die Vorderpfoten darauf und knurrte. Ein Fußtritt von Marianne ließ ihn auf jaulen und Reißaus nehmen. Als er aber merkte, daß Marianne den Tritt bereute, begann er erbärmlich zu winseln.
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Marianne kniete nieder und nahm den Hund in ihre Arme. „Armes, kleines Wauwauchen“, sagte sie liebevoll. „Möchtest du mir nicht guten Tag sagen?“ erkundig te sich Patrik eifersüchtig. Marianne kam der Aufforde rung gemessen nach. Darauf schob sie die Broschüren etwas zur Seite und nahm auf dem Bett Platz. Der Hund setzte sich neben sie. „Hast du die ‚Politiken’ von heute gelesen?“ Patrik schüttelte den Kopf. „Der Finne, der gestern mit uns unterwegs war, hieß doch Heikki Koskinen, nicht?“ „Ja, ich glaube wohl.“ „Er war aus Vasa, stimmt’s?“ „Ja, und?“ „Natan behauptet, ihr hättet ihn am Abend zum Zug gebracht.“ „Haben wir auch.“ „Habt ihr ihn einsteigen sehen?“ „Aber ja doch. Was soll die Fragerei?“ „Lies mal.“ Sie blätterte in der „Politiken“, schlug eine Seite auf, zeigte Patrik eine Überschrift und reichte ihm die Zei tung. Der Artikel enthielt nichts Sensationelles. Man hatte in Nyhavn einen Toten gefunden. „Das war gestern nachmittag“, sagte Marianne, „in der Holbergsgade.“ Patrik las nach ihrer Meinung aufreizend langsam. Sie stellte sich hinter ihn, wies hier und da auf eine Zeile und übersetzte den dänischen Text. „…leicht zu identifizieren… der Name ist Heikki Koskinen… aus Vasa in Finnland.“
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Sie wartete einen Moment. „Was sagst du dazu?“ fragte sie dann. „Also Heikki Koskinen aus Vasa in Finnland wurde gestern nachmittag tot in Nyhavn gefunden“, faßte Pa trik verblüfft zusammen. „Aber wer zum Teufel war der Bursche, den wir gestern abend in den Zug nach Lun da gesetzt haben?“
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Im Sommer 1954 durften die Fremdenführer aus dem Dschungel der schwedischen Reisebüros noch unge hindert auf den Touristenschiffen nach Kopenhagen ihrer Tätigkeit nachgehen. Sie arbeiteten nur in einer Richtung. Neun Firmen hatten ihre Leute auf jedem Schiff von Malmö nach Kopenhagen, um die schwedi schen Touristen zu Sightseeingtouren zu verleiten. Dagegen unternahm niemand den Versuch, Kopenha gener zu einer Rundfahrt durch Malmö überreden zu wollen. Dennoch hatte Schweden zu jener Zeit seine Attrak tionen. Dort huldigte man nämlich einem besonderen Lebensstil: Alkohol war streng rationiert, in den Re staurants herrschte Eßzwang, und Varietéveranstal tungen waren verboten. In der Hauptstadt Dänemarks dagegen gab es nur die üblichen Nachtlokale, Geschäf te, wo man einfach hineingehen konnte, um Spirituo sen zu kaufen, und kleine, gemütliche Kneipen, in de nen jedermann ohne weiteres Bier erhielt. Kopenhagen bot also nichts, was man nicht auch in jeder anderen Stadt auf dem Kontinent vorfand. Trotz dem wußten die Schweden ihren exklusiven Status of fenbar nicht recht zu würdigen, da sie in solchen Scha ren nach dort hinüberfuhren, daß man zuweilen un willkürlich an Heuschreckenschwärme denken mußte. Die Fremdenführer waren zumeist Studenten aus Lund, die sich mit diesem Job über den Sommer rette ten. Unter ihnen befand sich auch das Trio Marianne, Patrik und Natan. Jener Tag, an dem sie mit Heikki Koskinen Bekannt schaft machten, war anfangs wie jeder andere gewe 10
sen. Er begann wie gewöhnlich damit, daß die Möwen im Inre Hamnen erwachten. Im Suellshamnen lag im Sommer 1954 ein rotgestrichener Kutter, der nachts von schlafenden Möwen wie von weißen Punkten über sät war und einem riesigen Fliegenpilz glich. Morgens, wenn die Kräne des Hafengebiets noch mit hängenden Hälsen dastanden und zu gähnen schienen, kam Leben in die weißen Punkte. Die Möwen taumelten schlaf trunken zur Reling, blinzelten nach allen Seiten und stiegen schließlich mißmutig auf. Doch die Bewegung brachte ihre Lebensgeister vollends in Schwung, was sie vor allem an ihrer zunehmenden Freßlust spürten. Sofort begannen sie vor Hunger und Unzufriedenheit gellend zu kreischen. Zunächst unternahmen sie individuelle Ausflüge, dicht über der Wasserfläche segelnd. Sie hielten nach Fischschwänzen Ausschau, glaubten hier und da auch ein helles Blinken wahrzunehmen, stellten aber immer wieder fest, daß es nur Blendwerk war. Es handelte sich lediglich um die Reflexe ihrer eigenen Bäuche. Dann sammelten sie sich und fegten wie eine große weiße Wolke über das Hafengebiet. Kreischend ver langten sie ihr Recht, aber niemand nahm von ihrer Demonstration Notiz. Darauf zogen sie sich ungeord net auf den Kutter zurück und veranstalteten dort ei nen Sitzstreik, wobei sie ihre Schnäbel dem Zollhaus zuwandten, sie weit aufrissen und wilde Schmähungen ausstießen. Ihre Gemeinschaft wurde sträflich vernachlässigt, kräkräk! Kein einziger Fischschwanz, kräk! Ginge das so weiter, könnten die Menschen sich woanders nach Möwen umsehen, sie jedenfalls würden ein für allemal verschwinden, krääääääääk! 11
Diese Drohung tat wie immer auch an diesem Mor gen ihre Wirkung. Vom Zollhaus drang Motorenge räusch herüber. Der weiße Dampfer „Örnen“ stand be reit, zu seiner ersten Tour nach Kopenhagen auszulau fen. Die Möwen wußten, daß der Koch nunmehr seine Arbeit aufnahm. Bald würden die Abfälle über die Re ling fliegen. Sie vergaßen, daß sie sich eben noch als eine ver schworene Gemeinschaft aufgeführt hatten, und segel ten eine nach der anderen zum Zollhaus. Jede Möwe wollte die erste am Futtertrog sein. Im gleichen Moment strömten auch die Fremdenfüh rer herbei. Nach Meinung der Besatzung war es kei neswegs ein Zufall, daß sie sich stets zusammen mit den Möwen einfanden. Jedesmal, bevor ein Schiff abging, postierten sie sich mit ihren Werbebroschüren wie Wahlschlepper vor einem Wahllokal am Zollhaus und teilten die Prospekte aus. Danach bevölkerten sie die Schiffe und verwan delten sich von Public-Relations-Leuten in „Schlepper“, das heißt, jeder versuchte für sein Reisebüro eine Bus ladung Touristen zu einer Sightseeingtour zusammen zubringen. Wer sich dazu verleiten ließ, erhielt eine Plakette mit dem Firmenzeichen des jeweiligen Unter nehmens, ein Fähnchen, das man ihm ins Knopfloch steckte. Aber da das Angebot an Touristen geringer war als die Nachfrage, wurde dieses Tabuzeichen nicht immer respektiert. „Die beißen sich um die Kopenhagenfahrer wie die Möwen um den Abfall“, hieß es unter der Besatzung. An diesem Morgen war Marianne Vedel die erste. Sie trug die Kleidung ihres Reiseunternehmens, grauen Rock und rote Jacke, und kam mit festem Schritt über 12
die Hamngatsbron. Neben der Bushaltestelle vor dem Hauptbahnhof hatten ein paar Jünglinge ihr Gepäck abgesetzt, riemenumspannte Koffer, die man auf dem Rücken tragen konnte. Sie tauschten knurrige Bemer kungen aus, hatten die Hände tief in den Taschen und die Schultern hochgezogen. Ihre Gesichter waren graubleich vor Mangel an Schlaf. Als sie Mariannes rote Jacke in der Allee erblickten, wurden sie zunehmend munter und starrten ihr entgegen. Nachdem das Mäd chen vorbei war, pfiffen ihr einige hinterher. Marianne drehte sich um und lächelte den Jünglingen zu. Wer weiß, vielleicht handelte es sich um potentielle Sight seeingtouristen. Sie bemühte sich immer, für alle Fälle einen guten Eindruck zu machen. Erfreut stellte sie fest, daß noch kein Konkurrent anwesend war. Sie hatte also Zeit, die ersten Kopen hagenfahrer zu bearbeiten, diejenigen, die immer zu früh zum Schiff kamen, um nichts zu versäumen. Ein blauer Lieferwagen fuhr aus der Toreinfahrt des Güterschuppens. Der Chauffeur legte einen anderen Gang ein, das Getriebe rasselte, und der Wagen ver schwand in Richtung Stortorget. Marianne sah ihm nach und hielt gleichzeitig hoffnungsvoll nach Touri sten Ausschau. Da hörte sie ein unterdrücktes Niesen. Sie wandte sich um und erblickte eine graue Gestalt vor der brau nen Tür des Zollhauses. Und damit beginnt die Geschichte. Der Mann stand unbeweglich und mit hängenden Schultern da. Er schaute vor sich hin und hielt die Hände in den Taschen seines Trenchcoats. Sein Ge päck war eine hohe, schmale Reisetasche, die oben 13
notdürftig durch eine Schnur zusammengehalten wur de. Der Mann gehörte zu den Touristen, die für die Fremdenführer eine leichte Beute waren; ein einsa mer, hilfloser Mensch, der sich auf Reisen begeben hatte und nicht wußte, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Marianne legte die Werbebroschüren, die sie über dem Arm hatte, so zurecht, daß die Titelblätter deut lich sichtbar wurden, setzte ihr für diese Zwecke ein studiertes, vertrauenerweckendes Lächeln auf und nä herte sich dem Fremden. Ihr Aussehen verschaffte ihr bei Menschen dieses Typs stets den erwünschten Er folg. Sie war groß, dunkel und erinnerte irgendwie an eine Kindergärtnerin. „Wollen Sie mit dem Schiff nach Kopenhagen, mein Herr?“ Der Angesprochene wandte ihr sein viereckiges Ge sicht mit den breiten Wangenknochen zu, in dem sich ein Ausdruck des Erschreckens widerspiegelte, der je doch nach einer zaghaften Betrachtung Mariannes von Hoffnung und Zutrauen verdrängt wurde. „Terve“, sagte er. Marianne nahm einen Anlauf und wiederholte ihren Satz. Der Fremde lauschte mit einem dankbaren, et was schüchternen Lächeln. „Arlöv“, erklärte er, nachdem sie geendet hatte. Marianne wurde von Verzweiflung gepackt. Da gab ein wohlwollend eingestellter Ausländer, ein Finne, of fenbar sehr liebenswürdige Bemerkungen von sich, und sie begriff kein Wort. Er schien auch nichts von dem zu verstehen, was sie sagte. Ihr Lächeln wurde breiter und krampfhaft. Sie gestikulierte mit den Bro schüren. 14
„Kopenhagen?“ fragte sie, jede Silbe überdeutlich betonend. Er nickte zustimmend, nunmehr fast mit dem gan zen Körper, lachte eifrig und musterte sie mit zutrauli chen Blicken. „Kyllä“, sagte er. „Kylläon. Ko-pen-ha-gen.“ „Rund-reise?“ Marianne beschrieb mit ihrem freien Arm einen wei ten Kreis. „Tulen Vaasasta ja olen matkalla Ko-pen-ha-gen“, erhielt sie zur Antwort. Sie lächelte noch krampfhafter, drückte dem Finnen eine Broschüre in die Hand und befestigte die blaugel be Plakette ihrer Firma an seinem Mantelaufschlag. Dann entfleuchte sie. Kurz darauf waren auch die anderen Fremdenführer zur Stelle, und die Touristen strömten zuhauf. Marian ne hatte übergenug zu tun, warf aber hin und wieder einen Blick auf den kleinen Mann, der getreulich in der Nähe des Zollhauses verharrte, um den Kontakt mit ihr nicht zu verlieren. Seine Augen hingen ununterbrochen dankbar und vertrauensvoll an ihr. Als die Türen geöffnet wurden, zog die Schlange der Wartenden ihn mit. Ein atemberaubend schöner junger Mann südländischen Typs schob sich zwischen ihn und Marianne, so daß sie ihn nicht mehr sehen konnte. An dem langen Tisch der Zollabfertigung hielten die Beamten nach Opfern Ausschau, auf die sie den Blitz strahl ihres Zorns schleudern konnten. Bei den Skan dinaviern wurden immer nur Stichprobenkontrollen vorgenommen. Der Schöne mußte auf ein Zeichen hin näher treten. Er schob den Kopf vor und arbeitete sich wie ein Dreschflegel durch die Schlange. Hinter ihm 15
passierte der Finne unbehelligt die Sperre, wie Marian ne feststellte. Er blickte sich suchend um. Als er Marianne bemerk te, strahlte er über das ganze Gesicht und faßte nach dem Mantelaufschlag, um sich zu vergewissern, daß die blaugelbe Plakette noch da war.
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Ungefähr in der Mitte des Sundes konnten sich die Fremdenführer endlich zurückziehen und sich in dem kleinen Café im Bugraum des Schiffes eine Pause gön nen. Sie hatten alle Touristen gekennzeichnet – bis auf einige halsstarrige Außenseiter. In der Hochsaison wa ren achtzig Prozent der Passagiere echte Vergnü gungsreisende und nicht nur Hausfrauen, die nach Ko penhagen fuhren, um billige Butter zu kaufen. Auf dem Deck und in den Salons flimmerte es nur so von Pla ketten. Ihre Träger glichen Angehörigen eines Ge heimbunds auf dem Wege zu einem Kongreß. Bisher gab es fast nur männliche Fremdenführer, le diglich Marianne Vedel und Brita-Clara Ljungström bil deten eine Ausnahme. Im Laufe der Saison änderte sich das Bild, da die Reiseunternehmen feststellen konnten, daß die von diesen beiden betreuten Sight seeingbusse eine weitaus höhere Quote an männlichen Touristen aufwiesen als die der anderen. Doch noch waren Marianne und Brita-Clara eine verschwindende Minderheit. Brita-Clara war ein zierliches, sommersprossiges, langhaariges und schlagfertiges Mädchen. Zwischen ihr und Marianne herrschte eine offene und unverhohlene Konkurrenz. Alle Mittel waren erlaubt, soweit sie es fertigbrachten, sie einzusetzen. Es wäre ganz natürlich gewesen, wenn sie – als die beiden einzigen weiblichen Fremdenführer – zusam mengehalten hätten, aber das war keineswegs der Fall. Jede von ihnen saß in einer anderen Ecke des Ca fés an einem Tisch, umgeben von einer Schar Auser wählter. Lediglich einige Einzelgänger, die zwischen 17
ihnen hin und her pendelten, hielten eine gewisse Kor respondenz zwischen den beiden Tischen aufrecht. Marianne hatte an diesem Tag Glück gehabt. Schon am Kai war sie auf eine Gruppe von zwölf Geschäfts leuten gestoßen, die gerade ein paar fette Schäfchen ins trockne gebracht hatten und sich einen Tag in Ko penhagen amüsieren wollten. Sie alle trugen Marian nes blaugelbe Farben am Rockaufschlag. Ermuntert durch diesen Erfolg, war es ihr dann gelungen, so viele Touristen zu becircen, daß sie im Handumdrehen eine Busladung voll hatte. Sie konnte es sich also erlauben, eine kleine Verschnaufpause einzulegen und ein wenig mit dem Ober zu flirten. Der Ober war ein kleiner, rundlicher Mann mit blon dem Haar. Sowohl Marianne als auch Brita-Clara wett eiferten um seine Gunst. Wer bei ihm zufällig am wei testen vorn lag, konnte immer mit einem Tip oder so gar damit rechnen, daß er eine noch zaudernde Reise gesellschaft an ihn verwies. Wenn er wie jetzt etwas Zeit hatte, sonnte er sich in dem Charme, den die bei den Mädchen seinetwegen versprühten, und strich ihre besonders hohen Trinkgelder mit einem Lächeln ein, dem nicht zu entnehmen war, daß er sie durchschaute. Zu seinem Ärger erschien ein Einzelgänger an Mari annes Tisch, ehe sie an das Trinkgeld gedacht hatte, und flüsterte ihr zu: „Hab ein Auge auf Brita-Clara.“ Marianne warf einen Blick in Brita-Claras Ecke und vergaß den Ober. Brita-Clara war verschwunden. Voller böser Ahnungen raffte Marianne ihre Broschü ren zusammen und eilte die Stufen zum Vorderdeck hoch. Kaum hatte sie den Aufenthaltsraum vor dem Café erreicht, als ihr klar wurde, daß etwas nicht 18
stimmte. Im Aufenthaltsraum standen mehrere Touri sten, die sich lebhaft unterhielten. An den Rockauf schlägen der Männer prangten Brita-Claras rotweiße Plaketten, und auch über den blühenden Busen der Damen wehten Brita-Claras Flaggen. Marianne warf einen Blick durch die Glastüren nach dem Mitteldeck und machte die gleiche Wahrnehmung: überall erwartungsvolle Touristen, die Brita-Claras Farben angelegt hatten. Doch Marianne konnte sich an einige von ihnen er innern. Da war die Dame, der sie einen Platz vorn ne ben dem Chauffeur garantieren mußte, und dort stan den die Geschäftsleute – sie alle hatten noch vor einer Viertelstunde ihre blaugelbe Plakette getragen. Wo aber war Brita-Clara? Sie machte sich auf die Suche nach ihr. Draußen auf Deck standen viele Passagiere an der Reling und schauten nach einem kleinen, breitbauchigen Zollboot oder nach den Möwen, die sich um einige Essensreste bissen. Mehrere drehten sich um, als Marianne näher kam, und grüßten sie freundlich. Das waren ihre Sightseeingtouristen, aber alle trugen Brita-Claras rotweiße Fähnchen an der Brust. Wenn sich die Kopenhagenfahrer für einen Reise dienst entschieden hatten, pflegten sie ihren Farben treu zu bleiben. Sie wählten sich ihre Herde und folg ten dann stets gehorsam ihren Hirten. Wie in aller Welt hatte Brita-Clara es fertiggebracht, sie abtrünnig wer den zu lassen? Vorn am Bug saß der Finne mit dem Rücken zum Fahrtwind auf einem Klappstuhl und spähte über das Deck. Sein Trenchcoat blähte sich wie ein Segel. Mit der einen Hand versuchte er, den hochflatternden 19
Mantel festzuhalten, die andere hatte er schützend über den linken Aufschlag gelegt. Sein Gesichtsaus druck war ebenso erschrocken ratlos wie am Morgen, als Marianne ihn zum erstenmal gesehen hatte. Doch sowie er sie erblickte, zeigte er sein ihr nun bereits wohlbekanntes, dankbar zutrauliches Lächeln. „Terve“, sagte er. Mit einer Miene, als hätte er die Fahne seines Vater landes unbeschädigt durch Feuer und Wasser getra gen, ließ er den Mantelaufschlag los und zeigte ihr, daß seine blaugelbe Flagge noch da war. „Terve“, erwiderte Marianne ermunternd und streck te ihm gleich einem römischen Imperator die geballte Faust mit hochgerecktem Daumen entgegen. Dann wurde sie rot, daß ihre Ohren brannten. Sie hatte ja keine Ahnung, was „terve“ bedeutete. Was hatte sie da eigentlich gesagt? Ihre Ohren wurden noch heißer, als sie einen Blick des jungen Mannes auffing, der an der Reling stand und den kleinen Finnen ironisch und arrogant muster te. Es war der „Schöne“, der ihren Schützling in der Schlange für einen Moment verdeckt hatte. Seine Herablassung war nicht ganz unberechtigt. Er bildete den denkbar größten Kontrast zu dem kleinen Finnen. Sein schmales Gesicht hatte fast weiblich feine Züge. Das nachlässig geknotete, bunte Halstuch über dem offenen weißen Hemd gab ein Stück seiner braungebrannten Brust frei. Er wirkte, als wäre er ir gendwo am Mittelmeer zu Hause, aber nach dreiwö chigen Erfahrungen auf den Schiffen nach Kopenhagen glaubte Marianne nicht mehr so recht an den Mythos, daß man die Nationalität eines Menschen an seinem Äußeren ablesen könne. Vermutlich hieß der Fremde 20
mit dem südländischen Gesicht Jönsson und stammte aus einem kleinen Nest in Schweden. Sie wandte ihm den Rücken zu und wollte gerade durch die Tür an der Steuerbordseite in den Salon drit ter Klasse gehen, als sie Brita-Clara erblickte. Sie blieb stehen und hörte ihrer Konkurrentin unbemerkt zu. Brita-Clara hatte sich einem jungen Paar genähert, das auf einer Bank saß, eine Tragetasche mit einem Baby zwischen sich. „Entschuldigen Sie, daß ich störe“, sagte sie mit ei nem unschuldsvollen und diensteifrigen Lächeln, „aber wie ich sehe, haben Sie noch unsere alten Plaketten erhalten. Ab heute geben wir nämlich neue aus. Es wäre besser, wenn Sie die anstecken würden, damit es nachher bei den Bussen kein Durcheinander gibt.“ „O gewiß doch!“ rief die junge Mama aus. „Mit dem Kleinen in der Tragetasche will ich mich keinem Ge dränge aussetzen.“ „Das verstehe ich“, pflichtete Brita-Clara ihr mit en gelsanfter Stimme bei. „Aber das läßt sich ja leicht vermeiden. Bitte sehr, hier ist die neue Plakette. Die andere können Sie wegwerfen.“ Sanft und hilfsbereit entfernte sie Mariannes blau gelbe Fähnchen und steckte den beiden dafür ihre rot weißen an. Dann nahm sie Kurs auf das nächste blau gelbe Paar. Marianne hatte nicht die geringste Möglichkeit, Brita-Clara in den Arm zu fallen. Wenn sie nun ihrerseits zu den Passagieren ginge und Brita-Claras Erklärung dementierte, würde dies nur Verwirrung stiften und zu einem Vertrauensschwund führen. Sie vermied also eine direkte Konfrontation und stieg die Stufen zum oberen Deck empor. 21
Dort sah es aus wie am dänischen Nationalfeiertag, jedermann war rotweiß dekoriert. Marianne blieb stehen und schaute sich unentschlos sen um, bis sie ein älteres Paar erblickte, offenbar Kleinbauern aus Småland. Sie klammerten sich an ihre Deckstühle und drängten sich in der ihnen fremd und unheimlich vorkommenden Umgebung eng aneinan der. Marianne legte die Broschüren über ihrem Arm ordentlich zurecht, zog ihre Jacke herunter und steuer te auf die beiden zu. „Wollen die Herrschaften eine Rundfahrt durch Ko penhagen machen?“ Natürlich wollten sie, ihre rotweißen Fähnchen wa ren ja weithin sichtbar. Dennoch machte Mariannes Frage sie unsicher. „Ja, eben war eine junge Dame hier und…“ „Ach richtig“, fiel Marianne dem Mann ins Wort und tat, als sähe sie die Fähnchen erst jetzt. „Entschuldi gen Sie, daß ich so aufdringlich war. Sie haben ja be reits einen Platz gebucht.“ Sie drehte sich um, schielte aber noch einmal nach den verhaßten rotweißen Plaketten. Brita-Clara sollte sich nicht einbilden, daß sie ihr das Feld kampflos überließe. „Ihre Wahl war gut“, meinte sie scheinheilig. „Ich arbeite zwar für eine schwedische Firma, aber ich gebe gerne zu, daß man von einem dänischen Fremdenfüh rer mehr erfährt – also, wenn man die Sprache be herrscht. Ein Däne kennt Kopenhagen selbstverständ lich noch besser als wir.“ Sie lächelte und setzte sich langsam in Bewegung. „Fräulein!“ rief ihr die biedere Bäuerin ängstlich nach. 22
Marianne blieb stehen und wandte sich um. Ihr Ge sicht war eitel Dienstbeflissenheit. „Hat diese Firma dänische Fremdenführer?“ „Ihre Plakette hat doch die Farben der dänischen Flagge“, erklärte Marianne diplomatisch. Die Bäuerin wurde unruhig. „Daß ich daran nicht gedacht habe! Dabei verstehe ich kein Wort von deren Kauderwelsch.“ „Aber nun haben wir die Plaketten einmal genom men. Wir können schließlich nicht alle fünf Minuten un sere Meinung ändern.“ Trotz dieser Grundsatzerklärung schien sich auch der Mann nicht sehr wohl zu fühlen. Marianne hatte plötzlich keine Lust mehr, die Sache auf die Spitze zu treiben. Zwar war sie es in ihrer Ei genschaft als Fremdenführer gewöhnt, sich mit Klauen und Zähnen um die Touristen zu schlagen und dabei nicht immer nach den Regeln der Fairneß zu verfah ren, aber ihre natürliche Herzlichkeit und ihre mensch liche Hilfsbereitschaft machten ihr doch hin und wieder zu schaffen. Auch diesmal schlug ihr das Gewissen. Es war nicht ihre Absicht gewesen, die beiden unbeholfe nen Småländer in Bedrängnis zu bringen, bloß, um Brita-Clara eins auszuwischen und zu verhindern, daß sie in Kopenhagen ohne einen einzigen Touristen für den Sightseeingbus ihres Reiseunternehmens an Land stieg. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte sie reumütig. „Es wird schon alles so organisiert sein, daß Sie auch etwas davon haben.“ Ihre gutgemeinte Bemerkung hatte jedoch die ent gegengesetzte Wirkung. Die beiden waren nun völlig
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davon überzeugt, fürchterlich hereingelegt worden zu sein. Der Mann sprang auf und eilte auf sie zu. „Bitte, mein Fräulein“, flehte er, „können Sie uns nicht helfen, aus dieser Geschichte herauszukommen? Wir möchten uns ja nicht mit dem anderen Fräulein zanken, aber mit einem dänischen Reiseleiter wollen wir schon gar nicht fahren.“ Marianne gab ihm zwei blaugelbe Fähnchen. „Stecken Sie sich die an. Ich werde den Mund hal ten.“ Dankbar nahm das Bäuerlein die Plaketten. Als Ma rianne zum Zwischendeck hinunterstieg und sich noch einmal umdrehte, sah sie, daß die beiden verstohlen die Farben wechselten. Auf dem Zwischendeck stellte sie sich an die Reling und schaute den Möwen zu. Die beiden Småländer ar beiteten nun für sie. Hinter vorgehaltener Hand ver breiteten sie die Kunde von ihrer Rettung aus den Klauen eines dänischen Reiseunternehmens. Eben kollidierten zwei Möwen dicht über der Was seroberfläche, die nach ein und demselben Abfallbrok ken tauchen wollten, als sich neben Mariannes Arm eine Faust über die Reling schob und halb öffnete. Zwischen den Fingern schimmerte es rotweiß. „Sie haben doch vorhin zwei Leuten aus der Patsche geholfen. Können Sie uns nicht auch den Gefallen tun, die Fähnchen auszutauschen, ohne daß jemand was merkt? Wir möchten uns keineswegs einem dänischen Reiseleiter anvertrauen.“ Das Gerücht von Mariannes Hilfsbereitschaft machte schnell die Runde, und als sich an der Steuerbordseite die Kopenhagener Uferpromenade ausbreitete, konnte sie ihre Tasche öffnen und eine Kaskade rotweißer 24
Fähnchen über Bord sprühen lassen. Ein paar Matrosen in einem Kahn vor der Werft von Burmeister & Wain sahen die glitzernden Blechtrophäen ins Wasser fallen und schrien hurra. Als die Kopenhagenfahrer an Land gingen, standen Brita-Clara und Marianne links und rechts auf der An legebrücke. Sie zählten ihre Schäfchen. Die Zahl stimmte fast genau, Brita-Clara hatte Mariannes Touri sten übernommen und Marianne die von Brita-Clara. Nur bei dem zutraulichen Finnen war Brita-Clara auf Granit gestoßen. Als er über die Landebrücke schritt, leuchtete das blaugelbe Fähnchen getreulich an sei nem Mantelaufschlag. „Terve“, sagte Marianne vorsichtig. Aber der Finne hatte ja nun einige Stunden auf ei nem Schiff zugebracht, das mit schwedischsprechen den Passagieren beladen war, und ein paar neue Wör ter gelernt. Er winkte Marianne strahlend zu und zeigte auf sein Fähnchen. „Skål!“ rief er in ihrer Muttersprache. „Prosit!“ Dank ihrem zuverlässigen Finnen hatte Marianne Brita-Clara mit einem Stadtrundfahrer übertrumpft.
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Als Marianne in den Bus stieg, saß der Finne bereits auf seinem Platz, die Reisetasche auf den Knien. Auch zwei von den Wanderburschen, die Marianne vor dem Malmöer Hauptbahnhof erblickt hatte, waren anwe send. Das freundliche Lächeln des Mädchens hatte also seine Wirkung nicht verfehlt. Die Fahrt ging wie gewöhnlich die Herluf Trollesgade hoch und dann nach Nyhavn. Die Köpfe der Touristen ruckten heftig hin und her, als der Bus auf dem Kon gens Nytorv schnell seine Runde drehte. Es galt, so wohl das Schloß Charlottenborg als auch „Det Kongeli ge Teater“, das historische Restaurant „D’Angleterre“ und Tatoo Jacks Laden blitzschnell in Augenschein zu nehmen, ehe der Bus durch die Bredgade nach Ama lienborg weiterbrauste. Der kleine Finne verstand natürlich von Mariannes Erklärungen kein Wort, machte aber dennoch einen sehr zufriedenen Eindruck. Sein viereckiges Gesicht wandte sich jedesmal gehorsam der Richtung zu, in die ihr Finger zeigte. Wenn die anderen Fahrgäste über ihre abgedroschenen Histörchen lachte, schloß er sich der allgemeinen Heiterkeit an, allerdings immer mit etwas Verspätung. An der Marmorkirken verließen die Touristen zum erstenmal den Bus und spazierten über den Schloßhof, während der Chauffeur das sechsrädrige Ungetüm vor sichtig zwischen den bereits vorher angelangten Rei segesellschaften hindurchlavierte, um in der Amalie gade zu warten. Als Marianne über den offenen Platz ging, den Finnen zur Linken, das Småländer Paar zur Rechten, entdeckte sie weit hinten in der ihr folgenden 26
Schar den „Schönen“, den „Südländer“, der nach ihrer Meinung Jönsson hieß und aus einem Nest wie Örkell junga stammte. Das war ein Triumph! Marianne würde dafür sorgen, daß Brita-Clara durch einen Einzelgänger brühwarm davon erfuhr. Ihre Konkurrentin hatte sich bestimmt alle Mühe gegeben, den „Südländer“ Jönsson zu bear beiten – trotzdem fuhr er mit Mariannes Bus. Am Reiterdenkmal Frederiks V. herrschte wie üblich Gedränge. Der Sockel war das beste Podium für Frem denführer, die den Schaulustigen von dort aus die Schloßgebäude und ihre Geschichte schilderten. Ir gendwo unter dem Pferdeschwanz erscholl Brita-Claras Stimme; sie war eben bei Sofie Amalie und Nicodemus Tessin dem Älteren angelangt. Brita-Clara hatte ein durchdringendes Organ, sie sprach zwar mit leichter Dialektfärbung, artikulierte aber sehr deutlich. Marianne erkannte mit wachsender Unruhe, zu wel chen Komplikationen es führen mußte, wenn ihre Gruppe Brita-Clara schwedisch sprechen hörte. Pflicht vergessen ließ sie Frederik V. links liegen und ging mit weit ausholenden Schritten auf die Busse zu, so daß die letzten ihr anvertrauten Touristen einen Dauerlauf einlegen mußten. Die Småländerin warf einen mitleidi gen Blick auf Brita-Claras Reisegesellschaft. „Die armen Leute“, sagte sie, „sind mit einem däni schen Reiseleiter geschlagen!“ Da sie Amalienborg so schnell passiert hatten, wa ren sie als erste am Gefionsbrunnen. Marianne stellte sich auf die Einfassung um die Fontäne und erzählte die alte Sage ausführlicher als gewöhnlich, da sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen und ihre Gruppe für die ausgefallene Geschichte über Amalienborg entschädi 27
gen wollte. Hin und wieder fuhr ein Windstoß in das um Gefions Wagen sprudelnde Wasser und überschüt tete sie mit einem Sprühregen. Der Finne stand dicht vor ihr und lachte anfangs herzlich über ihre Schilde rung, als er jedoch nach einem verstohlenen Blick in die Runde feststellte, daß die anderen ernsthafte Mie nen zeigten, verstummte er und nahm sogar den Hut ab. Marianne erzählte gerade, wie die Ochsen das Mä larlandet losgerissen hatten und damit weiter nach Westen zogen, als Brita-Claras Bus am Meteorologi schen Institut auftauchte. Marianne-Gefion überließ das weggeschleppte Land irgendwo in Östergötland seinem Schicksal und spurtete auf den Bus zu. Sie wollte die Geschichte während der Fahrt zu Ende erzählen, aber im Bus kam es zu einem kleinen Tu mult. Der „Südländer“ hatte neben dem Finnen Platz genommen und wurde unfreundlich aufgefordert, sich davonzuscheren. Er erhob sich schließlich und begab sich zu seinem Sitz weit hinten; die Ruhe war zwar wiederhergestellt, aber inzwischen hielten sie auf der Langelinie und mußten erneut hinaus. Die Fahrgäste wurden nicht mehr darüber aufge klärt, weshalb man der Frau, die alles Land aus dem schwedischen Mälaren wegpflügen ließ, im dänischen Kopenhagen ein Denkmal errichtet hatte, aber viel leicht nahmen sie dies als natürlichen Ausdruck nach barlicher Schadenfreude. Der Chauffeur hatte indessen bemerkt, daß Marian ne bei den Besichtigungen ein beachtliches Tempo vor legte. Ohne nach der Ursache zu fragen, zog er daraus den Schluß, Eile sei geboten. Deshalb brummte der Bus die Folke Bernadottes Allé mit der zulässigen 28
Höchstgeschwindigkeit entlang. Marianne mußte in ih ren Erklärungen einen Sprung von dem schwedischen Brautpaar vor der Gustavskyrkan zu den Matrosen Kri stians IV. in Nyboder machen. Dann ging es in rasen der Fahrt die breite, gerade Österbrogade hinunter. Links blinkte der Sortedam, doch ehe Marianne das Kopenhagener Seensystem auch nur halbwegs be schrieben hatte, kreuzten sie den Triangeln und lang ten am Fällesparken an. Diesmal konnte sie ihre Schil derung allerdings in aller Ruhe fortsetzen, denn der Chauffeur bog schnell in die Nörre Allé und danach in die Fredensgade ein und war mit ihnen in so kurzer Zeit wieder bei den Seen, daß die Fahrgäste kaum bemerkt hatten, ob sie inzwischen woanders gewesen waren oder nicht. Vor dem Staatlichen Museum für Kunst hielt der Bus an. Hier pflegten die Touristen ein wenig nach eigenem Gutdünken hin und her zu schlendern. Dafür gewährte man ihnen zwanzig Minuten. Eigentlich hätten sich die Reisenden von Mariannes Gruppe wie ein Mann erheben und ihr Geld zurückver langen müssen. Marianne wagte niemandem ins Auge zu blicken, um nicht eventuelle Bestrebungen in dieser Richtung zu ermuntern. Sie wandte sich dem Chauf feur zu, der atemlos, aber gutgelaunt hinter dem Steuer verschnaufte und die Fahrgäste musterte. Als Marianne keinen Abglanz von Unzufriedenheit auf seinem Gesicht wahrnahm, drehte sie sich vorsich tig zu den Reisenden um. Einige waren dabei, aufzustehen, aber die meisten saßen auf ihren Plätzen, einen Schimmer der Verklä rung im Gesicht. Sie hatten die schnelle Fahrt genossen. 29
Nach und nach machten sie sich auf den Weg zum Museum; sie unterhielten sich laut und lebhaft, bis sie den Eingang erreichten, wo ihre Stimmen von dem hemmenden Einfluß der Kultur gedämpft wurden. Der Chauffeur und Marianne ließen sich auf dem Trittbrett zum Buseinstieg nieder und zündeten sich jeder eine Zigarette an. „Handelt es sich um eine Wette?“ wollte er wissen. Er war ein großer, blonder Däne mit einem breiten, platten Gesicht und Schultern, die wirkten, als könnte er darauf Berge wegtragen. Marianne machte ihrem bedrängten Herzen durch einen Wortschwall Luft und erzählte die peinliche Geschichte. Die Beklemmung wich, und zum Schluß war sie wieder zuversichtlich. Der Chauffeur lachte. „Dann wirst du wohl liegen müssen, wie du dich ge bettet hast, Kleine“, sagte er. Als sie wieder weiterfahren wollten, war der Chauf feur nirgends zu finden. Unter ermunternden Ausrufen wie: „Er kommt sicher jeden Moment!“ und „Nur noch ein bißchen Geduld!“ wartete Marianne mit ihren Schäfchen und spürte mit Entsetzen, daß ihr Vor sprung gegenüber Brita-Clara immer kleiner wurde. Sollte sie mit ihrer Gruppe zur Öster Voldgade und zum Rosenborgs Slot spazieren? Sie unternahm be trächtliche Anstrengungen, ihre Herde zu sammeln, aber immer fehlten einige. Erst, als der Chauffeur wie der da war und den Motor laufen ließ, eilten sie von allen Seiten herbei. Es war höchste Zeit. Brita-Claras Bus hielt gerade hinter ihnen, und Mariannes ursprüngliche Gruppe quoll aus den Türen.
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Auch vom Schloß Rosenborg kamen sie im letzten Moment weg, aber in den schmalen Gassen um den Rundetårn und in dem winkligen Vimmelskaftet vor dem Gammeltorv verloren sie viel Zeit. Dann fuhren sie gemütlich die Nörregade hoch, krochen im Schnek kentempo am Örstedsparken vorbei und bogen schließlich in die Vester Voldgade zum Rådhusplatsen ein. „Was für eine Strecke fährst du eigentlich?“ fragte Marianne ungeduldig. Durch das Hin und Her wuchs ihre Verspätung. „Hä?“ stieß der Chauffeur hervor und tat, als wisse er nicht, was Marianne von ihm wolle, obwohl er bisher ihr Schwedisch ausgezeichnet verstanden hatte. Sie war hilflos. Wenn der Chauffeur so weiterfuhr, mußten sie zusammen mit Brita-Clara am Zoologisk Have an kommen. Dort würde sie keine Möglichkeit mehr ha ben, ihre Gruppe von der ihrer Konkurrentin fernzuhal ten. Der Chauffeur bog in die breite Vesterbrogade ein und beschleunigte das Tempo. Die mitten in der Stra ße stehende Freiheitssäule inspirierte Marianne zu ei nem letzten Versuch, sich gegen das Verhalten des Fahrers aufzulehnen. „Wir nehmen zuerst den Fleischmarkt“, entschied sie. „Hä?“ knurrte der Chauffeur. „Du fährst jetzt die Viktoriagade lang!“ befahl Mari anne. Der kleine Finne wurde unruhig. Sein Blick flackerte zwischen Marianne und dem Chauffeur hin und her. „Hä?“ murmelte der Chauffeur wieder und grinste.
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Ein großer, vierschrötiger Mann, der etwas von der Autorität eines Werkmeisters ausstrahlte, erhob sich von einem der vorderen Sitze. „Tun Sie gefälligst, was unsere Reiseleiterin ver langt!“ sagte er drohend. „Verfluchter Däne“, schimpften andere, die weiter hinten saßen, „gibt sich den Anschein, als verstünde er kein Schwedisch.“ Alle waren auf Mariannes Seite. „Wenn Sie mit dem Fräulein stänkern, können Sie was erleben!“ rief der Kleinbauer aus Småland. Der Chauffeur warf Marianne durch den Rückspiegel einen wütenden Blick zu und bog nach dem Fleisch markt ab. Dort ließen sie sich bei der Betrachtung von Würsten, Schinken und aushängenden Schweinehälf ten viel Zeit. „Man wird verdammt hungrig, wenn man das alles so sieht“, meinte der Werkmeister. Die Fahrt ging am Wasser entlang, an der Börse vorbei und nach Schloß Christiansborg. Die Füße, die sich schon auf dem Fleischmarkt wund gelaufen hat ten, bewegten sich nur noch mühsam über das unebe ne Pflaster vor dem Schloß. Danach wurde die Reise gesellschaft mit den riesigen Steinfiguren des Thor valdmuseums konfrontiert, die von ihrer olympischen Höhe enthusiastische Kommentare heischend auf die müden Wanderer herabstarrten. „Teufel, was bin ich hungrig!“ sagte der Werkmeister zu Jason. Als sie aus dem kühlen Dunkel des Museums wieder ins Freie traten, traf sie der strahlende Sonnenschein fast wie ein Keulenschlag. Er ließ das Wasser des Fi schereihafens wie spielende Heringsschwärme reflek 32
tieren, setzte die bleichen Farben der Wandmalereien in Brand, flimmerte über dem Höjbro Plads und ver wischte die Wipfelkonturen der Baumreihen, als hätte sie ein Kind mit Tusche ausgezogen. Der Geruch des stillstehenden Wassers mischte sich mit dem durch dringenden Duft gebratenen Fischs, der aus den offe nen Türen der Gaststätten am Gammelstrand drang. „Nun will ich essen!“ verkündete der Werkmeister. „Aber wir müssen noch in die Glyptothek und in den Zoo“, widersprach Marianne. „Ja, Museen sind seeehr interessant“, meinte eine Dame gedehnt. Doch die Reisegesellschaft hatte Mariannes Partei gegen einen dänischen Fremdenführer und einen heimtückischen Chauffeur ergriffen und erwartete nun eine Gegenleistung. Alle waren müde und hungrig. Der Werkmeister atmete den Essensduft tief ein. „Okay, fahren wir also direkt zur ,Scala’!“ entschied Marianne. Als der Bus die Vester Voldgade in Richtung Råd husplatsen entlangbrauste, stimmten die Fahrgäste ein Lied an. „Wonderful, wonderful Copenhagen“, brummte der Werkmeister im tiefsten Baß. Oben in Rich’s Turm zeigte sich das vergoldete Mäd chen mit dem goldenen Fahrrad, um darauf hinzuwei sen, daß schönes Wetter sei. Das holde Kind hätte sich die Mühe sparen können. Die Quecksilbersäule des langen Thermometers, das sich über die gesamte Fas sade hinzog, stand auf 27°, und die Luft flimmerte im grellen Sonnenlicht. Die Kopenhagenfahrer hatten al len Grund, einen herrlichen Tag zu erwarten. Marianne allerdings nicht. Vor der „National Scala“ parkte Brita-Claras Bus. 33
„Wollen wir nicht doch noch zum Zoo fahren?“ fragte sie kläglich. Da könnten sie später auch allein hingehen, meinten die Touristen, nun müßten sie erst mal was essen. Ma rianne blieb weiter nichts übrig, als zu tun, was sie verlangten, und so schnell wie möglich zu verschwin den. Ehe sie sich von ihren Schützlingen trennte, lie ßen die sie hochleben und warfen wütende Blicke auf den Chauffeur. Die freundliche Småländerin streichelte Mariannes Hand. „Es war wirklich sehr lieb von Ihnen, Fräuleinchen, daß Sie uns vor diesem dänischen Fremdenführer ge rettet haben.“
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Vor der „National Scala“ traf Marianne ihre besten Freunde, Patrik und Natan. Die beiden waren früher auf der Studentenbühne aufgetreten und teilten zur Zeit eine kleine Wohnung in der Landbygatan in Mal mö. Patrik war groß, kräftig und robust. Er hatte die An gewohnheit, seine Umgebung mit runden, frommen Augen zu betrachten und Aussprüche von sich zu ge ben, wie: „Wir müssen uns bemühen, den Menschen das unterschiedliche Denken abzugewöhnen, dadurch würde endlich die Verfolgung Andersdenkender aufhö ren.“ Wer Patrik nicht kannte, nahm ihn leicht ernst und wurde wütend, wenn er seine verworrenen Allgemein plätze zum besten gab, aber seine Freunde wußten, daß er es sarkastisch meinte. Auf der Studentenbühne hatte er immer „eine Stimme aus dem Volke“ gespielt, eine Rolle, von der er sich auch im Privatleben nicht trennen konnte. Natan war einundzwanzig, mager und bleich, lie benswürdig und intellektuell. Nach seiner Meinung war der Mensch nur dann gefährlich, wenn man ihn reizte, und die logische Konsequenz dieser Auffassung be stand darin, daß er sich nie in die Angelegenheiten an derer einmischte. Diese beiden bereiteten Marianne manchen Kum mer, der die Würze zu ihrem sonst konfliktlosen Da sein war. Alle sahen es als gegeben an, daß aus ihr und Patrik ein Paar würde. Sie bildeten bereits so lan ge eine verschworene Gemeinschaft, wie nötig war, um jedermann zu der Überzeugung zu bringen, sie 35
hätten ein festes Verhältnis miteinander. Für Patriks Freunde war Marianne tabu, und Natan war sein bester Freund. Marianne war sich jedoch über ihre Gefühle durch aus nicht im klaren. Wäre sie allerdings gefragt wor den, ob sie vielleicht in Natan verliebt sei, hätte sie es rundheraus abgestritten. Im übrigen wurde sie von den gleich Boy-Scout-Vorstellungen beherrscht wie er und vermied alles, was Patrik verletzen könnte. Natans Neutralitätspolitik traute sie jedoch nicht recht, da sie zuweilen den Eindruck hatte, daß ihn nur Patriks Ge genwart davon abhielt, seine Pfadfinderweisheiten zu vergessen. Sie fuhren mit der Straßenbahn nach Kongens Ny torv. Dort wollten sie eine Gaststätte aufsuchen, die zwar nicht so groß und überwältigend wie die „National Scala“, dafür aber ihre eigene Entdeckung war. Sie hieß „Borgerstuen“ und lag auf der „sicheren“ Seite. In der Straßenbahn spürte Marianne den Atem eines Fremden im Nacken. Als sie sich umdrehte, erblickte sie den Finnen. Er lächelte ihr wie gewöhnlich unsicher und dankbar zu. Marianne wurde noch immer von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie die Touristen so schnöde hereingelegt hatte. Als sie den Finnen vor sich sah, glaubte sie, einiges wiedergutmachen zu können. „Wir wollen ihn mitnehmen“, schlug sie vor. Patrik musterte die klägliche Gestalt und ließ sich erweichen. „Na schön“, sagte er. „So einen unbeholfenen Kerl kann man ja in Kopenhagen nicht sich selbst überlas sen.“ Mariannes Schützling durfte die drei also begleiten. 36
Die „Borgerstuen“ war eines der kleinen Lokale, von denen es in der dänischen Hauptstadt viele gab, eine Kombination von Abfütterungsstätte und Billardsalon. Das Billard war eigentlich die Hauptsache. Der vierek kige Tisch nahm fast den gesamten, zur Straße liegen den Raum ein, so daß sich jeder Gast den Zorn der Spieler zuzog, weil er sich hinter ihrem Rücken vorbei zwängen mußte und sie in ihrer Konzentration störte, wenn er das Lokal betrat oder verließ. Die Eßräume bestanden aus zwei kleinen Zimmern, und in dem größeren der beiden hatten die Fremden führer ihren Stammtisch. Er befand sich in einer Ni sche, deren eine Wand mit einer Schmetterlingssamm lung unter Glas und deren andere mit einem Porträt des Besitzers, Preben, geschmückt war. Dieses Bild hing bereits so lange im Tabakdunst, daß es unver dienterweise an einen Rembrandt erinnerte, aber es war dennoch nur Prebens Gesicht mit der großen, ein gedrückten Nase, das sich von dem verräucherten Hin tergrund abhob. Übrigens war der ganze Raum in Braun gehalten: hellbraune Wände mit dunklen Paneelen, dunkelbraune Deckenbalken, alte, nachgedunkelte Eichentische mit feinen, von Bierglasringen und schwarzen Brandflek ken lädierten Intarsien. Die Sitzbänke hatten hohe, geschnitzte Lehnen und erinnerten an die Ehrenstühle der Wikinger, wenn die Motive der Schnitzereien auch exotischer Natur waren – hier ein Ibis in einer Rücken lehne, dort ein Negerkopf als Abschluß einer Seiten lehne. Über der Bar hingen getrocknete, exotische Samenkapseln und an den Wänden ebenso exotische, grinsende Negermasken sowie Bastschilde mit Orna menten aus echtem Menschenhaar. 37
Die Beleuchtung war so, daß alle Ecken im Dunkel blieben. Vom Hoffenster her verbreitete ein großes, längliches Aquarium einen grünlichen Schein, und der übrige Raum wurde notdürftig von einer Neonröhre an der Decke erhellt, die mit der Haut einer Boa Constric tor überzogen war. Als die vier das Lokal durch den Billardsalon betra ten, schlug die große Uhr über der Bar gerade drei. Es war ein mächtiges Monstrum aus geschnitztem, dunk lem Eichenholz, das da hing. Dem Gehäuse nach zu urteilen, hätte es den erzenen Klang einer Kirchen glocke haben müssen, aber die Schläge waren spröde und kläglich. Preben kam den vieren mit der üblichen Frage ent gegen: „Was darf es heute sein?“ Es war eine rein rhetorische Frage, denn die Küche hatte stets nur ein und dasselbe Gericht anzubieten, Zusammengeschustertes mit Spiegelei, das heißt, grob geschnittene Kartoffelscheiben mit Fleischstücken, und das alles so scharf gebraten, daß es zwischen den Zähnen krachte. Der Himmel mochte wissen, weshalb es Marianne, Patrik und Natan in die „Borgerstuen“ zog, aber sie betrachteten die Gaststätte als ihr Stammlokal. „Uff“, sagte Natan, als die beängstigend großen Por tionen des Standardgerichts vor ihnen standen. Er grinste böse zu einer zähnefletschenden Negermaske hinüber. „Weshalb essen wir eigentlich nie mehr in der ,Scala’?“ erkundigte er sich. „Ich weiß nur, weshalb ich heute nicht in der ,Scala’ esse“, erwiderte Marianne und erzählte die Geschichte ihres heimtückischen Kampfes mit Brita-Clara und den daraus folgenden Konsequenzen. 38
„Eins schreib dir hinter die Ohren“, sagte Patrik, „dir und Brita-Clara fehlen einfach Prinzipien.“ „Prinzipien!“ Natan sprach dieses Wort aus, als sei es etwas Widerwärtiges „Prinzipien sind immer gut“, verkündete Patrik, „denk nur an Archimedes.“ Dann erinnerten sie sich an den Finnen. Alle drei wandten sich ihm zu und lächelten. Er lächelte zurück. „Marianne“, erklärte das Mädchen und zeigte auf sich. Der Finne nickte eifrig, tippte mit dem Daumen auf seine Brust und sagte „Heikki“. Plötzlich hatte er einen Einfall. Er nahm eine Streichholzschachtel vom Tisch, ein Reklameutensil des Lokals, und schrieb auf die Rückseite: „Heikki Koskinen, Uspenskikatu 3, Vaasa, Suomi.“ Nun wußten die anderen zwar, wie er hieß, aber das erleichterte die Konversation nicht nennenswert. Der Finne steckte die Schachtel in seine Reisetasche, und danach saß man einander freundlich lächelnd gegen über. Aus dem Billardzimmer drangen die Geräusche der Stöße und hin und her eilender Spieler, ab und an hörte man einen ermunternden Zuruf oder ein lautes Auflachen. Plötzlich fluchte jemand laut und ausgiebig auf finnisch. Patrik, der Heikki lange und geduldig schweigend zugelächelt hatte, fuhr hoch. „Spricht da jemand finnisch?“ rief er zum Billard zimmer hinüber. Die Geräusche erstarben. Dann wurde ein leises Murmeln vernehmbar. „Wir haben hier einen Finnen“, erklärte Patrik, „aber wir kriegen kein Wort aus ihm heraus.“ 39
Ein paar lange, blonde Wikingertypen tauchten in der Türöffnung auf und spähten vorsichtig in den Eß raum. „Ich lade Sie zu einem Bier, einem Carlsberg, ein, wenn Sie sich zu uns setzen und ein bißchen mit ihm reden“, sagte Patrik. Die Männer gaben ihre Zurückhaltung auf. Man schob ein paar Stühle an den Tisch. Nachdem die Männer Platz genommen hatten, legten sie los. Nun war Marianne, Patrik und Natan zumute, als seien sie an ein völlig fremdes Ufer geworfen worden. „Sie sind freundlich zu ihm gewesen, sagt er“, erläu terte einer der Wikingertypen, während der andere sich weiter mit dem Finnen unterhielt. „Sie haben sich um ihn gekümmert und ihm die ganze Stadt gezeigt.“ „Das ist ja unser Job“, meinte Marianne, „aber so viel hat er von der Stadtrundfahrt nicht gehabt. Er verstand ja kein Wort.“ ‘ „Er hat auf jeden Fall was gesehen, ohne daß er auf eigene Faust mit Bussen oder Straßenbahnen durch Kopenhagen kutschieren mußte.“ „Fragen Sie ihn doch genau, wohin er will“, bat Ma rianne. „Wir möchten ihm ja gerne helfen, sich zu rechtzufinden, aber wir können schließlich nicht den Rest unseres Lebens mit ihm verbringen.“ Wie sich herausstellte, hatte er Bekannte in Arlöv aufgesucht und die Gelegenheit zu einem kurzen Ab stecher nach Kopenhagen benutzt. Die Wikinger waren finnische Seeleute auf Landurlaub; außer Finnisch und einem dänisch-schwedischen Kauderwelsch sprachen sie auch noch ein bißchen Englisch. Der eine von den beiden sah nicht nur gut aus, er schien auch zu den Menschen zu gehören, die aus einem Abend in Kopen 40
hagen ein Abenteuer machen können. „Wollen wir uns nicht zusammentun und die Stadt auf den Kopf stel len?“ fragte er mit einem Blick auf Marianne. Marianne lebte auf. Es war erstaunlich, wie schnell sie sich veränderte. Auf einmal hatte sie nichts mehr von einer mütterlichen Kindergärtnerin an sich. „Er kann nicht mit“, übersetzte der andere Wikinger und deutete mit dem Kopf auf Heikki. „Seine Bekann ten in Arlöv erwarten ihn heute abend zurück.“ „Er wird doch wohl auch allein zum Schiff finden, wenn Sie ihm erklären, wie er gehen muß“, meinte Pa trik, „er braucht ja bloß die Straße geradeaus zu mar schieren, bis er zum Wasser kommt und nicht mehr weiter kann.“ Der Wikinger wandte sich Heikki zu und überschüt tete ihn mit einem Wortschwall. Heikki nickte und lä chelte. Schließlich stand er auf, griff nach seiner brau nen Reisetasche, drückte allen die Hand, lächelte abermals und ging. Marianne vermißte ihn ein wenig, nachdem er ver schwunden war. Obwohl sie nicht mit ihm reden konn te, hatte ihr sein zutrauliches und dankbares Lächeln das Gefühl vermittelt, ein außerordentlich netter und herzensguter Mensch zu sein. Sie diskutierten darüber, welchem Nachtlokal sie den Vorzug geben sollten, „Tokanten“ oder „De 7 små hjem“. Gerade rückte der Vergnügungspark „Tivoli“ an die erste Stelle ihrer Überlegungen, als Heikki in der Tür des Billardsalons aufkreuzte. Aber wie sah er aus! Sein Trenchcoat war über und über beschmutzt, aus einer Platzwunde auf der Stirn tropfte Blut. Am meisten jedoch nahm Marianne sein
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erschrockener, hilfloser Gesichtsausdruck mit. Sie bugsierten ihn auf eine Bank und fragten ihn aus. „Er ist überfallen worden“, übersetzte einer der Wi kinger. So nach und nach erfuhren sie die Details. Heikki berichtete nur widerwillig und stockend. Er war in Richtung Nyhavn gegangen. Plötzlich hatte sich je mand von hinten auf ihn geworfen und ihm die Reise tasche entrissen. Heikki war zu Boden gestürzt, aber schnell wieder auf die Beine gekommen. Er hatte noch den Schatten eines Mannes wahrgenommen, der in einen Hausflur lief. Sonst war die Straße menschenleer gewesen. Da der Halunke die Reisetasche fallen gelassen hat te, konnte Heikki sie wieder aufsammeln. Danach war er in die „Borgerstuen“ zurückgeeilt. Nun konnte ihn keine Macht der Welt mehr dazu bewegen, allein nach Hause zu fahren. Während der eine Wikinger beruhigend auf Heikki einredete, öffnete der andere die Reisetasche und breitete deren Inhalt auf dem Tisch aus: ein Taschen tuch, einen Kamm, ein paar Kassenzettel aus mehre ren Arlöver Geschäften, einen Federhalter – das war alles. „Dann hat er sicherlich die Brieftasche genommen“, meinte Patrik. Aber der Seemann hatte den passiven Heikki gründ lich visitiert und sowohl die Reiseschecks als auch die Brieftasche gefunden. Alles Wertvolle war vorhanden. Die anderen beeilten sich, Heikki zu trösten. Patrik zog in gutem Glauben seine erste wirklich falsche Schlußfolgerung: „Er hat ja alles behalten.“
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Nach diesem Vorkommnis konnte keine Rede mehr davon sein, die Stadt auf den Kopf zu stellen. Es war ausgeschlossen, den kleinen Mann noch einmal sich selbst zu überlassen. „Ich hätte sowieso keine Lust mehr, mich zu amü sieren“, sagte Marianne. „Man behauptet immer, wir Schweden seien langweilig, aber wenn die Kopenhage ner unter Stimmung so was verstehen, dann bin ich tatsächlich für mehr Zurückhaltung.“ „Es ist ja nicht ganz Kopenhagen über ihn hergefal len“, beschwichtigte Natan sie, „sonst sähe er be stimmt übler aus.“ „Ach was, die haben allesamt Prügel verdient, damit sie es lernen, ihre Nächsten zu lieben“, erklärte Patrik. Sie nahmen den Finnen in die Mitte und gingen zum Hafen, wo sie die „Malmö I“ rechtzeitig erreichten. Die Rückfahrt unterschied sich wesentlich von der Hin fahrt. Für die Fremdenführer gab es nichts mehr zu tun, sie hatten ihr Tagewerk vollbracht und konnten sich gemütlich zusammensetzen. Die Menschenjagd war vorüber, dafür begann nun eine andere Jagd. Da die Schiffe im Sund einen Streifen internationa len Gewässers passierten, waren die Spirituosen an Bord billig. Ein Glas Cherry kostete nur anderthalb dä nische Kronen, und die Preise für Ålborg und andere Schnäpse bewegten sich in entsprechenden Relationen dazu. Unter den Kopenhagenfahrern entwickelte sich eine Psychose, sogar die Hausfrauen mit ihren Wo cheneinkäufen wurden von ihr ergriffen. Nicht zu trin ken galt unter solchen Umständen als sinnlose Ver schwendung. 43
Heikki hatte sich zunächst in einem jämmerlichen Zustand befunden. Als ihn die drei zum Schiff brach ten, zitterte er so heftig, daß Marianne glaubte, es mit einem mißhandelten Säugling zu tun zu haben. Die Tatsache, daß sie sich mit ihm nicht verständigen konnten, machte die Angelegenheit nur noch schlim mer. Auf dem Schiff nötigten sie ihn, ein paar Gläser Ål borg hinter die Binde zu kippen. Danach hörte er zu zittern auf. Schweigend und verwundert nahm er das lebhafte Treiben an Bord wahr. In einer Ecke ragte das auseinandergefaltete Exem plar des „Sydsvenska Dagbladet“ über einen Tisch, das von zwei schmalen, weißen Händen mit kurzen, etwas brüchigen Fingernägeln gehalten wurde. Der Mann hin ter der Zeitung schlug ungeduldig ein paar Seiten um und senkte dabei das Blatt, so daß sein Gesicht zum Vorschein kam. Es war ebenso farblos wie der Rand seiner Brille. Mißmutig überflog er die Seiten, dann re signierte er, legte die Zeitung auf den Tisch und leerte sein Schnapsglas. Er war der bekannteste Fremdenführer. Trotz seiner Jugend arbeitete er bereits seit drei Jahren als Litera turkritiker für eine Abendzeitung. Zu dieser Tätigkeit war er rein zufällig gekommen. Er hatte eines Tages entdeckt, daß er dringend Taschengeld benötigte, und war aufs Geratewohl in einer Zeitungsredaktion er schienen. Dort hatte man ihm einen Auftrag gegeben, und er war mit lobenswerter Energie ans Werk gegan gen. Zu diesem Zweck kaufte er sich ein schwarzes Notizheft, in das er alle Aussprüche der bedeutendsten Schriftsteller über ihre Ansprüche an ein gutes Buch eintrug. Danach machte er sich ans Rezensieren. 44
Im ersten Jahr ging es nicht gut. Von den Büchern, die er zu kritisieren hatte, ent sprachen nur zwei den Regeln, die in seinem schwar zen Notizheft standen. Vennerlind – so der Name des strebsamen jungen Mannes – verfaßte enthusiastische Rezensionen über diese beiden Romane. Der Redak teur strich sie auf insgesamt zehn Zeilen zusammen, und das war vielleicht gut so, denn alle anderen Kriti ker bezichtigten die Autoren jener Bücher des Plagiats. Im zweiten Jahr ging es auch nicht gut. Gelehrig und ehrgeizig, wie Vennerlind nun einmal war, kam er zu dem Schluß, daß alle, die sich an die Regeln in seinem schwarzen Notizheft hielten, Plagia toren sein müßten. Von den Büchern, die er daraufhin verriß, wurden mindestens zwei bereits ein Jahr später als Klassiker betrachtet. Aber ebenso wie Runebergs zum Unglück Geborenen wurde Vennerlind schließlich wieder aufgerichtet. Im dritten Jahr ging es gut. Inzwischen hatte er gelernt, vorsichtig zu sein, und veröffentlichte keine Rezension mehr, ohne abgewar tet zu haben, was andere Literaturkritiker zu einem Buch meinten. Zwar gab es nun in der Redaktion man chen Krach, weil er sich mit seinen Beiträgen Zeit ließ, aber dafür hatte er sich endlich einen Namen gemacht. Er galt als ein Rezensent mit Sinn für Nuancen. Augenblicklich hatte er jedoch schlechte Laune. Der Kritiker vom „Sydsvenska Dagbladet“ hielt mit seiner Meinung zu einem aktuellen Buch noch hinterm Berge. Dieser verdammte Schmarotzer wartet darauf, daß ich mich zuerst äußere, dachte er. „Zieh nicht solch Gesicht, Vennerlind!“ rief ein leicht angetrunkenes Männlein von einem Tisch in der Nähe 45
der Bar ihm zu. „Genehmige dir einen, und schalte mal ab!“ Das Männlein hieß Frid. Dieser Frid gehörte zu de nen, die mit guten Vorsätzen angefangen, sie aber schnell wieder vergessen hatten. Nunmehr widmete er sich nur den angenehmen Seiten des Daseins. Die Ar beit war für ihn ein notwendiges Übel, das es auf sich zu nehmen galt, um zur Hauptsache zu gelangen, und das war die Rückreise. Nach einigen Schnäpsen wurde er immer sehr laut und begann, sich für einen Diony sos zu halten. Dieses Stadium prahlerischer Männlich keit währte jedoch nie so lange, daß er jemandem lä stig fallen konnte. Wenn vorn die Silhouetten der Krä ne des Malmöer Hafengebiets auftauchten, pflegte er zusammengekauert in einer Ecke auf einer gepolster ten Sitzbank zu liegen und – einen Daumen im Mund – wie ein braves Kind zu schlafen. Zwischen den Tischen eilte ein Kellner auf schmer zenden Füßen hin und her. Sein Gesichtsausdruck war der eines Menschen, der im Begriff steht, jegliche Selbstbeherrschung zu verlieren und Amok zu laufen. Von allen Seiten rief man ihm Bestellungen zu, und er reagierte automatisch, indem er einen Finger hob. Lei der vergaß er dabei zehn andere, die er vorher auf diese Weise angenommen hatte. Dieser Kellner warf übrigens gegen Ende der Saison eines Tages das Ta blett in eine Ecke und sprang über Bord, da eine be scheidene Dame noch in dem Moment ein Schweinsko telett bestellte, als das Schiff an der Landebrücke an legte. Marianne, Patrik und Natan waren schweigsamer als sonst. Sie hielten es für unhöflich, eine Unterhaltung zu führen, die Heikki nicht mit einbezog. 46
„Merkwürdig, daß es einem so schwerfällt, das Fin nische zu verstehen“, sagte Marianne. „Finnland ge hört doch auch zum Norden.“ „Diejenigen, die von nordischer Zusammenarbeit re den, sollten von den Kopenhagenern und Malmöitern lernen“, meinte Patrik. „Wir brauchen lediglich ein paar internationale Wendungen und ein Stück internationa les Gebiet. Schließlich sind die Kopenhagener und Malmöiter nur deshalb auf einen gemeinsamen Nenner gekommen, weil es im Sund einen kleinen Streifen in ternationalen Gewässers gibt. Billiger Schnaps und bil liger Tabak – das sind die besten Triebkräfte. Macht den Fluß Torne zu einem internationalen Gewässer, dann wird jeder Skandinavier binnen zwei Monaten finnisch sprechen, das garantiere ich dir.“ Heikki hörte, daß von Finnland und dem Torne älv gesprochen wurde, und lächelte zustimmend. Ein Einzelgänger kam zu ihrem Tisch und berichtete Neuigkeiten. Er war am Morgen mit dem nächsten Schiff gefahren. Plötzlich hatte man die Zollkontrolle verschärft. Auch Skandinavier waren gründlich durch sucht worden. „Nur, damit ihr wißt, was euch erwartet, wenn ihr an Land kommt“, erklärte er. Diese plötzlich einsetzenden, gründlichen Zollkon trollen waren längst keine Überraschungen mehr. In der Regel waren die Fremdenführer am schlimmsten dran. Ihr Verdacht, daß diese Blitzaktionen nur ihret wegen durchgeführt wurden, war vielleicht nicht völlig unbegründet. Damals war Alkohol in Schweden ratio niert, und obwohl man in Kopenhagen für Spirituosen mehr bezahlen mußte als in Malmö, lag es auf der Hand, daß jedermann versuchte, hochprozentige Ge 47
tränke zu schmuggeln. Wer aber war dieser Verlok kung mehr ausgesetzt als die Fremdenführer, die täg lich über den Sund fuhren? „Natürlich, die schlagen genau dann zu, wenn ich eine Flasche Kognak zuviel habe“, murrte Patrik. „Kannst du mir eine abnehmen?“ Die Frage war sowohl an Marianne als auch an Na tan gerichtet, aber keiner von beiden fühlte sich ange sprochen. Marianne war selbst mit einer Flasche fran zösischen Kakaolikörs belastet, und Natan schleppte einen großen Packen Broschüren mit sich herum. Wie verlautete, suchten die Zollbeamten gerade nach ei nem Paragraphen, der sich dahingehend auflegen ließ, daß man für Broschüren Zoll erheben konnte. Patrik schaute sich nach einem anderen Helfer in der Not um, doch das Schiff hatte inzwischen angelegt, und die üb rigen Fremdenführer verließen das Café. „Du wirst die Flasche wohl den Zollbeamten vorwei sen müssen“, sagte Marianne herzlos. Sie kamen jedoch unangefochten durch die Kontrol le. Von einem anderen Fremdenführer, der in der Schlange vor dem Zollhaus auf das nächste Schiff war tete, erfuhren sie, daß die Blitzaktionen nur diejenigen betrafen, die nach Kopenhagen wollten. „Das ist ziemlich ungewöhnlich“, meinte Marianne. „Was ausgeführt wird, kann denen doch schnuppe sein.“ Sie reichte dem Finnen die Hand, um sich zu verab schieden, aber Patrik kam ihr zuvor und faßte Heikki Koskinen resolut unter den Arm. „Ich habe ihm eine Kognakflasche in die Tasche ge steckt“, erklärte er. „Wir können ihn nicht laufenlas sen, bevor ich die zurück habe.“ 48
Marianne geriet in Harnisch: „Hältst du das etwa für anständig?“ „Immer mit der Ruhe“, sagte Patrik. „Meinst du et wa, ein Zollbeamter visitiert einen Kerl, der so klare blaue Augen hat?“ „Und ausgerechnet du hast vorhin große Töne über Prinzipien gespuckt!“ fauchte Marianne, aber Patrik wandte ihr bereits den Rücken zu. Er und Natan waren in Richtung Stortorget unterwegs, den Finnen in der Mitte.
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Heikki Koskinen hatte einen Tag voller Mirakel hinter sich. Bereits vor einer Woche, als er in Arlöv eintraf, hatte man ihm in den Ohren gelegen, die Gelegenheit zu nutzen und sich gründlich umzuschauen. Der Gedanke, sich mutterseelenallein in eine fremde Umgebung und unter Leute zu wagen, deren Sprache er nicht verstand, erschreckte ihn zunächst, aber seine Wirts leute gaben ihm keine Ruhe. Schließlich hatte er sich breitschlagen lassen und apathisch eine Tagesfahrt nach Kopenhagen gebucht, fest davon überzeugt, nicht mit dem Leben davonzukommen. Malmö war für ihn erschreckend genug gewesen, aber er hatte es bewältigt. Dann waren diese freundli chen jungen Leute aufgetaucht, die ihn durch ganz Kopenhagen und wieder zurück gelotst hatten. Er war zwar leicht lädiert, aber am Leben. Nun kümmerten sie sich weiter um ihn. Als sie vor dem Hauptbahnhof anlangten, nahm er anstandshal ber einen Ansatz, sich zu verabschieden, aber der jun ge Mann mit den runden Augen, der manchmal wie ein grübelndes Schaf aussah, hielt seinen Arm fest und lächelte ihm eindringlich zu. Offenbar wollte man dafür sorgen, daß er Malmö noch gründlicher kennenlernte. Heikki lächelte zurück und ging mit. Sie führten ihn zunächst über eine Brücke, die von Straßenbahnen befahren wurde, und danach zogen sie ihn über einen Platz mit Tauben und einer Reiterstatue auf ein rundes, niedriges Backsteingebäude mit ge wölbten Türen zu. Aber dort wollten sie nicht hin; kurz davor bogen sie in eine schmale Straße mit recht bau 50
fälligen, alten Häusern ein. „LANDBYGATAN“ las Heikki an einer Hauswand. Schließlich blieben sie vor einem Portal stehen. Auf der einen Seite erhob sich ein schmutzigweißes dreistöckiges Wohngebäude, auf der anderen ein zweistöckiges, das ein Geschäft mit Ar beitskleidung beherbergte. Patrik und Natan schoben Heikki in einen dunklen Hausflur, der weit hinten nach rechts abbog und ver mutlich zum Hof führte. Von rechts fiel etwas Licht herein, das ausreichte, um die Zeichnungen an den schmutzigen Wänden wahrzunehmen, deren Motive Heikki auch von Vasa her bekannt waren. Außerdem lehnten dort drei Männer, sie hatten die Hände in den Hosentaschen und schienen sich in einem dumpfen Dämmerzustand zu befinden. Keiner von ihnen rührte sich, als Heikki eintrat, sie drehten nur ein wenig den Kopf und schauten uninteressiert in seine Richtung. Offenbar konnten sie ihn im Dunkel nicht gut sehen, sie bemerkten lediglich, daß jemand kam – es ließ sie gleichgültig. In der etwas helleren Ecke kniete ein unrasierter, grauhaariger Alter in schwarzem Mantel vor einer grü nen Kommode und suchte etwas in der unteren Lade des Möbels. Auch er war nur undeutlich zu erkennen. Dann spürte Heikki, daß einer seiner jungen Beglei ter nach seinem Arm griff und ihn weiterzog. Er bekam es mit der Angst, wagte aber nicht, sich zu widerset zen. Wohin führten sie ihn? Was hatten sie mit ihm vor? Sie passierten die drei Gestalten an der Wand und danach den Alten, der einen Moment hochschaute. „Hallo, Arimatea!“ sagte derjenige von Heikkis Be gleitern, der seinen Arm festhielt. 51
Dann bogen sie um die Ecke und kamen auf einen engen, mit Kopfsteinen gepflasterten Hof mit einer mächtigen Linde, deren Krone die Dachfirste der um liegenden Häuser überragte. Die Sonne stand niedrig und warf die beweglichen Schatten des Blätterwerks auf einen unordentlichen Haufen von morschen Bret tern, Steinbrocken und Schrott, der auf der anderen Seite des Hofes vor einer Brandmauer lag. Die Rück wand des Hauses war schmutzig und baufällig. Dennoch fühlte sich Heikki wieder sicherer. Die Lin de wirkte vertraueneinflößend, und die hübsche, dunk le Frau, die gerade aus der Hintertür des Textilge schäfts trat, machte durchaus einen ehrlichen Ein druck. Sie nickte Patrik und Natan zu und verschwand. Aus einer offenen Tür links drang plötzlich ein Scharren und Bumsen. Ein Hund stürzte Hals über Kopf eine steile, hölzerne Wendeltreppe herunter. Kaum war er unten und wieder auf den Beinen, als er vor Freude jaulend auf Patrik und Natan zusprang. Es war ein echter Straßenköter mit einem fuchsroten Rücken und weißer Brust, der man allerdings ansah, daß er während seines Alleinseins dem Kohlenkeller einen Besuch abgestattet hatte. Patrik nahm den Hund auf den Arm und stieg vor Heikki und Natan die Treppe hoch, die sich an einer fahlgrünen Wand mit breiten Rissen im Putz em porschlängelte. Das ganze Haus schien in der Mitte geborsten zu sein und lediglich von der zur Straße lie genden Mauer am Auseinanderfallen gehindert zu wer den. Man hatte einige unbeholfene Versuche unternom men, den Slumeindruck zu verwischen. In einer Fen sternische standen mehrere Stearinkerzen, von herab 52
getropftem, geschmolzenem Stearin umrahmt. An ei ner brüchigen Brettertür, die im zweiten Stock nach links zum Vorderhaus führte, war ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift „Die Gräfin quietscht“ ange bracht, und auf der gegenüberliegenden Seite, wo sich eine noch gut erhaltene Tür befand, war auf einem ebensolchen Schild zu lesen: „Der Hund bellt.“ Durch diese Tür gingen Patrik und Natan, Heikki noch immer freundlich lächelnd vor sich her schiebend. Sie traten in eine kleine Küche, in der sich ein Gasherd und ein Abwaschtisch breitmachten. Ein Loch im Kork teppich verriet, daß sich darunter ein weiterer Kork teppich befand, vermutlich ebenfalls durchlöchert, weshalb man ihn zugedeckt hatte. Neben der Küche lagen zwei Zimmer hintereinander, jedes mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl möbliert. In dem letzten stand ein festes Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm und von oben bis unten voller Bücher war. Die in den unteren Reihen hatten sorgfältig zerkaute Rücken, offenbar war da der Hund am Werke gewesen. Patrik setzte den Hund ab und schaute sich zufrie den um. In einer Zeit, in der ein solcher Wohnungs mangel herrschte, daß die Studenten von Lund jeden Quadratmeter eines Zimmers in Landskrona oder Lomma fast mit Gold aufwiegen mußten, war eine Be hausung in Malmö fast ein Fund. Nur so umsichtige Studenten wie Patrik und Natan konnten auf so etwas stoßen. Allerdings sah Heikki Koskinen die Räume mit etwas anderen Augen an als die beiden glücklichen Bewohner. Dennoch war dieser Abend für den Finnen ein nahe zu legendäres Erlebnis. Patrik befreite ihn von seinem 53
Mantel und drückte ihn in einen Sessel, der auch noch in einer Ecke stand. Danach kehrte er von dort, wohin er mit dem Mantel entschwunden war, kognakfla schenbewaffnet wieder zurück. Heikki wurde in jeder Hinsicht umsorgt. Er überlegte schon, was er alles zu Hause in Vasa berichten würde. Auf jeden Fall erstaun liche Dinge. Da hausten arme Studenten in einem Slum, hatten aber ein riesiges Regal voller Bücher! Die reinsten biblischen Samariter! Wie war das eigentlich, war dieser Samariter nicht auch arm gewesen? Nach dem dritten Gläschen mußte Heikki an Dostojewski denken. Miteinander unterhalten konnten sie sich noch im mer nicht, aber sie lächelten einander freundlich zu, um zu zeigen, wie sympathisch sie sich fanden. Das einzige schwedische Wort, das Heikki beherrschte, hieß „Skål“. Dann stellte Patrik das Grammophon an. „Ottakaa palanen silliä!“ las eine Frauenstimme. Patrik und Natan beobachteten Heikkis Mienenspiel. Es war ihm anzusehen, daß da erhabene Dinge vorge tragen wurden. Heikki war bewegt, seine Augen röte ten sich ein wenig. Natan hatte diesen Linguaphonkurs vor einem Jahr gekauft, in einem plötzlichen Anfall von Energie, das Finnische zu lernen. Es handelte sich um zehn Platten und ein Lehrbuch. Unglücklicherweise war der Hund einen Nachmittag später allein in der Wohnung gewe sen. Er hatte das Lehrbuch erwischt und aufgefressen. Nun besaßen Patrik und Natan also zehn Schallplatten mit finnischem Text, von dem sie kein Wort verstan den.
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„Ottakaa palanen silliä! Ota korkkiruuvi, avaa pullot ja pane kolme pulloa pöydälle, sedälle yksi pullo, isälle yksi ja sinulle ja Mikolle yksi.“ „An der finnischen Poesie ist wirklich was dran“, meinte Patrik. Heikki lauschte, Tränen in den Augen. Wenn man al lein in einem fremden Land ist und rundherum nur un begreifliche Sätze hört, dann wird einem beim Klang der Muttersprache warm ums Herz. Auch der Inhalt des Vorgetragenen störte Heikki in dieser Situation nicht: „Nimm ein Stück Hering“, befahl die Frauenstimme. „Nimm den Korkenzieher, entkorke die Flaschen und stell drei auf den Tisch, eine für den Onkel, eine für Vater und eine für dich und Mikko.“ Ja, Heikkis Freunde taten wirklich alles, damit er sich wohl fühlte. Spät am Abend halfen sie ihm in den Mantel und begleiteten ihn zum Bahnhof. Sie blieben sogar stehen und achteten darauf, daß er in den rich tigen Zug, in den nach Arlöv stieg. Heikki wagte nicht, von sich aus ein Abteilfenster zu öffnen, aber Patrik und Natan sahen ihn hinter der Scheibe winken, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Das war das letzte, was wir von Heikki Koskinen ge sehen haben, dachte Patrik. Damit zog er in dieser Geschichte die zweite falsche Schlußfolgerung.
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Am Morgen desselben Tages, an dem Heikki dies alles in Kopenhagen und Malmö erlebte, saßen Pirkko und Eino Kivilainen in ihrer Wohnung in der Timmermans gatan in Arlöv, wo sie bereits seit drei Jahren zu Hause waren, am Frühstückstisch. Als man Eino angeboten hatte, seine Stelle als Lagerarbeiter in Vasa gegen eine bedeutend besser bezahlte in der Arlöver Zuckerfabrik zu tauschen, war er klug genug gewesen, sofort zu zugreifen. Auf dem Tisch lag ein drittes Gedeck, aber der Platz dahinter war leer. Dort sollte Heikki Koskinen sitzen, Einos früherer Kollege aus Vasa, den er den Urlaub über eingeladen hatte, teils um ein bißchen zu prah len, wie gut es ihm ging, teils, um den furchtsamen Heikki zu bewegen, ihm zu folgen. Nun also war Heikkis Platz am Frühstückstisch unbe setzt. Heikki hatte sich seit dem letzten Nachmittag nicht mehr sehen lassen. Eino war der Meinung, daran sei nur seine Frau Pirk ko schuld, aber so direkt wollte er sie nicht anklagen. „Weshalb mußtest du ihm auch ununterbrochen in den Ohren liegen“, sagte er statt dessen. „Er ging mir auf die Nerven. Schließlich hatte er doch Urlaub, da konnte er sich auch ein bißchen um sehen, statt hier tagaus, tagein herumzuhocken. Übri gens hättest du dich ruhig ein wenig um ihn kümmern sollen, du hast ihn doch zu uns eingeladen.“ „Ich habe meine Arbeit.“ „Ich etwa nicht? Lege ich etwa die Hände in den Schoß?“ „Natürlich nicht. Ich mache mir nur große Sorgen.“ 56
Es war durchaus nicht Heikkis Art, so lange wegzu bleiben. Eine ganze Woche lang hatte er Pirkko in der kleinen Zweizimmerwohnung im Wege gestanden und sich nicht einmal in den Lebensmittelladen auf der an deren Seite vom Lundavägen gewagt, jedenfalls nicht allein. „Er wollte doch nur nach Malmö fahren“, sagte Pirk ko. „Ob ihm da was passiert ist?“ „Vielleicht hat er einen Abstecher nach Kopenhagen gemacht, weil er schon mal unterwegs war.“ Pirkko biß in ein Butterbrot und vermied es, Eino anzublicken. Eigentlich hatte sie Heikki vorgeschlagen, nach Kopenhagen zu fahren, aber sie war nicht der Meinung gewesen, daß er es auch tun würde. Doch selbst, wenn er am Tage zuvor Kopenhagen einen Be such abgestattet hatte, müßte er längst wieder dasein, zumindest seit dem Abend. „Er ist wohl in den falschen Zug gestiegen“, meinte sie. „Sicherlich irrt er jetzt irgendwo in Göteborg oder Stockholm herum.“ Das hätte sie nicht sagen sollen. Ihr wurde sofort klar, daß es sich wahrscheinlich wirklich so verhielt. Sie sah förmlich, was Eino dachte: der kleine, unbehol fene Heikki, mutterseelenallein in Göteborg, verzwei felt durch die Straßen irrend, nicht wissend, wohin, außerstande, jemanden um Auskunft zu fragen! „In der Kaffeepause gehe ich zur Polizei“, entschied Eino. Ein junges Mädchen aus der Holbergsgade fand den Toten, als sie durch den Flur ihres Hauses ging. Sie glaubte erst, dort läge ein Betrunkener und schliefe seinen Rausch aus – bis sie so nahe herangekommen 57
war, daß sie seinen Hinterkopf sah. Schauer jagten ihr über den Rücken, sie schrie auf und lief dicht an der Leiche vorbei auf die Straße, die menschenleer war. Wie von Furien gehetzt überquerte sie die Holbergsga de und eilte auf die Hintertür der „Borgerstuen“ zu. Ihre Schreie gellten im Diskant. Die Wirtin stürzte herbei. Die Bewohner der umlie genden Häuser rissen die Fenster auf und schauten hinaus. Unten stand das Mädchen nun vor der Wirtin, gestikulierte heftig und zeigte nach dem Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Die Leute begriffen, daß es dort drin etwas zu sehen gab, und stürmten die Treppen hinunter. Der Mann blutete nicht mehr. Er hatte überhaupt nicht viel Blut verloren, nur aus dem einen Mundwinkel war ein kleines Rinnsal auf den Asphalt gesickert. Sein Hinterkopf war jedoch gräßlich zerschmettert. Einer der Zuschauer trat näher und tastete nach dem Hand gelenk des reglos Daliegenden, ohne natürlich noch einen Pulsschlag zu spüren. Die anderen hielten sich unangenehm berührt abseits. Als die Polizei, aus der „Borgerstuen“ herbeigerufen, fünf Minuten später er schien, waren kaum irgendwelche Spuren verwischt. Zunächst kam eine Funkwagenstreife. Die Polizisten errichteten mit Hilfe einiger Freiwilliger eine Sperre und verständigten dann vom Funkwagen aus die Kri minalpolizei. Kurz darauf war die Mordkommission zur Stelle. Er staunt und enttäuscht konstatierten die Zuschauer, daß die Kriminalbeamten zunächst nichts weiter unter nahmen. Sie schienen die Anweisungen eines großen, graugekleideten Mannes abzuwarten, der – die Hände in den Taschen seines Mantels – lange im Hauseingang 58
stand und sich umblickte, während die Polizisten aus dem Funkwagen Bericht erstatteten. Sie hatten auch nicht mehr mitzuteilen als das, was jeder der Umstehenden bereits wußte. Der Mann war tot, und alles deutete darauf hin, daß es sich nicht um ein Unglück oder einen Selbstmord handelte. Der Graugekleidete rührte sich nicht von der Stelle und schaute sich weiterhin nachdenklich um. Die Neu gierigen wurden ungeduldig. „Der arbeitet mit seinen kleinen, grauen Zellen“, sagte jemand. „Paß mal auf, gleich weiß er genau, wie alles zusammenhängt.“ Plötzlich entfalteten die Kriminalbeamten eine fie berhafte Tätigkeit, ohne daß jemand hätte sagen kön nen, wie sie eingesetzt hatte. Der Graugekleidete sag te etwas zu seinen Assistenten, und sofort herrschte eine emsige Geschäftigkeit. Die Kriminalbeamten wa ren überall, im Hausflur, auf der Straße, zwischen den Gaffenden. Diejenigen, die die Leiche zuerst gesehen hatten, wurden von den übrigen getrennt. Alle anderen fanden sich langsam in eine Position zurückgedrängt, von der aus sie weder etwas hören noch sehen konnten. Nachdem der Tote fotografiert worden war, unter suchte der Grauhaarige ihn behutsam, ohne seine Stellung zu verändern. Ein anderer Kriminalbeamter skizzierte inzwischen die Lage der Leiche und des Hauseingangs. Der Hinterkopf des Toten war eingedrückt, offenbar infolge eines Schlages mit einem kantigen Gegen stand. Sein Gesicht deutete darauf hin, daß er vorher mißhandelt worden war. Hinsichtlich seiner Kleidung gab es nichts Auffälliges zu notieren. Die Jacke war 59
hinten hochgerutscht und die Hose staubiger, als sie in einem Hauseingang hätte werden können. Der Grau gekleidete vermutete, daß der Mann ein kurzes Stück geschleift worden war, aber nicht so weit, daß der Stoff reißen konnte. Ebenso sorgfältig durchsuchte er die Taschen. Sie waren nicht nach außen gekehrt und wieder hineinge stopft worden. Wenn hier ein Raubmörder am Werke gewesen war, dann hatte er sich Zeit gelassen. In der Jacke steckte eine Brieftasche mit zirka sechzig Kronen in Scheinen und Münzen, schwedische und dänische. Sprach dies nun für oder gegen einen Raubüberfall? Nun ja, der Tote konnte irgendwelche Wertgegenstän de besessen haben, die dem Täter wichtiger gewesen waren. Handelte es sich um einen Schweden oder um einen Dänen? In der linken Jackentasche steckte ein Taschentuch ohne Initialen, in der rechten eine Sonnenbrille und eine Streichholzschachtel mit einem Reklametext für die „Borgerstuen“. Auf der Rückseite dieser Schachtel entdeckte der Graugekleidete die erste, wichtige Spur. „Heikki Koskinen, Uspenskikatu 3, Vaasa, Suomi“ stand dort, mit Kugelschreiber notiert. Es handelte sich also offenbar um einen Finnen. Das erklärte dann auch das dänische und schwedische Geld sowie die Fabrikmarke des Anzugs. „Cason“ war auf einem Stoffschild zu lesen, der Name einer Malmöer Firma. Ein Finne auf Besuch in Kopenhagen nach ei nem kurzen Aufenthalt in Schweden? Was der Graugekleidete bei seiner Untersuchung feststellte, blieb den Zuschauern verborgen. Sie muß ten sich damit begnügen, zuzusehen, wie der Bür
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gersteig vor dem Hauseingang fotografiert und skiz ziert wurde. „Da führt eine Schleifspur zum Eingang“, teilte je mand den anderen mit, der eine bessere Übersicht hatte. Ein Kriminalist war damit beschäftigt, ein Stück Straßenpflaster nahe der Straßenecke zu untersuchen. Die Zuschauer fanden sein Treiben nicht sonderlich in teressant; sie konnten ja nicht ahnen, daß er gerade einen Blutfleck und ein paar Haare auf einem Bord stein näher in Augenschein nahm. Endlich geschah wieder etwas Neues. Ein Kranken wagen fuhr vor, ein Mann mit einer Arzttasche sprang heraus, ging hinten um das Auto herum und ver schwand im Hauseingang. Nach etwa zwanzig Minuten hoben zwei Krankenträ ger eine Trage aus dem Wagen und tauchten ebenfalls im Hausflur unter. Kurz darauf kehrten sie wieder zu rück. Als sie die Trage hinten in das Krankenauto hin einschoben, nahmen die Umstehenden die Umrisse ei nes menschlichen Körpers unter der Decke wahr. Das Krankenauto fuhr davon, und wenig später stieg der Graugekleidete in einen Polizeiwagen, der eben falls verschwand. Die Tatortuntersuchung nahm noch einige Stunden in Anspruch, ohne daß die Zuschauer auf ihre Kosten kamen. Nach und nach löste sich die Menge auf. Die Zeugenvernehmung ergab nur ein mageres Re sultat. Diejenigen, die als erste bei der Leiche gewesen waren, wußten nichts weiter zu berichten. Die Wirtin der „Borgerstuen“ hatte einen Blick auf die Streich holzschachtel und auf den Toten werfen müssen. Ge wiß, erklärte sie, den Mann habe sie schon einmal ge 61
sehen, an der Ecke Holbergsgade und Nyhavn, aber ob er in der „Borgerstuen“ gewesen sei, könne sie nicht sagen. Sie habe am Vortag kaum einen Fuß in die Gaststätte gesetzt. Preben, der Wirt, erinnerte sich überhaupt nicht daran, den Toten jemals erblickt zu haben. Der Kriminalreporter der „Politiken“ erschien zu spät, um ein Bild von der Leiche oder der Spurensiche rung machen zu können. Zum Ausgleich lieferten ihm die Umstehenden, die es noch nicht über sich gebracht hatten, so ohne weiteres nach Hause zu gehen, genü gend Stoff. Zwar war ein Mord in Nyhavn nicht so un gewöhnlich, daß er eine Schlagzeile auf der ersten Sei te rechtfertigte, aber die Geschichte wies immerhin einige beachtenswerte Nuancen auf. Der Reporter hielt sich an die Streichholzschachtel. Am nächsten Morgen erschien im Innenteil der Zei tung ein kleiner Artikel. Resümee: Finne in Nyhavn ermordet. Wurde für einen Schweden gehalten. Auch der Name des Toten wurde erwähnt: Heikki Koskinen aus Vasa in Finnland.
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Der Graugekleidete war Kommissar Lundby. Als er vom Tatort wegfuhr und es seinen Mitarbeitern über ließ, die Untersuchung abzuschließen, geschah dies, um die Polizei von Vasa in den Fall einzuschalten. Be reits gegen fünf Uhr nachmittags teilte man ihm aus Vasa mit, daß Koskinen laut Auskunft seiner Arbeits stelle zur Zeit auf Urlaub war, den er bei einem ehe maligen Kollegen namens Eino Kivilainen, nunmehr wohnhaft in Arlöv, Timmermansgatan, verbrachte. Von der Malmöer Polizei erhielt Lundby sofort Be scheid: Heikki Koskinen wurde seit dem Nachmittag des Vortages vermißt. Seine Wirtsleute hatten Meldung erstattet. Letzter bekannter Aufenthaltsort vermutlich Malmö. Möglicherweise war er jedoch nach Kopenha gen gefahren. Bereits kurz vor sechs standen zwei Malmöer Polizi sten vor Eino Kivilainens Wohnung in Arlöv. Pirkko öffnete die Tür. Als sie die Uniformen erblick te, leuchteten ihre Augen auf. „Haben Sie ihn gefunden?“ „Es scheint so.“ An den ernsten Mienen der Polizisten erkannte Pirk ko, daß sie sich zu früh gefreut hatte. Irgend etwas war passiert. Eino, der die Stimmen gehört hatte, stand nun hinter seiner Frau in der Türöffnung. Un schlüssig traten sie zur Seite, und Pirkko wies auf eine Sesselgruppe im Wohnzimmer. Ob die Herren Polizi sten nicht Platz nehmen wollten? Sie kamen herein, blieben aber im Flur.
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„Wir möchten einen von Ihnen bitte, uns zu folgen. Heikki Koskinen ist in Kopenhagen gefunden worden. Tot. Jemand muß ihn identifizieren.“ Das schafft er nie, dachte Pirkko, als sie merkte, wie Eino die Nachricht mitnahm. „Wir fahren beide“, sagte sie laut. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb die Polizisten sie so merkwürdig anschauten. Eine Weile herrschte Schweigen. „Ich halte es für besser, wenn Ihr Mann allein fährt“, meinte schließlich einer der beiden Polizisten. „Man hat ihn übel zugerichtet“, fügte der andere hinzu. Pirkko sah noch immer Eino an. In diesem Moment ging es ihr nicht um Heikki, aber wenn die Dinge so lagen, durfte sie Eino nicht allein lassen. „Wir fahren beide“, beharrte sie. Vor dem Zollhaus in der Havnegade von Kopenhagen wartete ein Polizeiauto. Pirkko und Eino stiegen ein. Die Szenerie wechselte schnell. Gebäude und Hafen einrichtungen tauchten auf und verschwanden. Zuerst sah Pirkko nur Wasser, Lastkräne und große Schiffe. Dann kam ein langgestrecktes, rotes Backsteingebäu de mit einem grünspanüberzogenen Kupferdach. Da hinter erhob sich ein riesiger, grauer Steinkoloß, links und rechts von Durchfahrten und Torbogen umgeben, die geheimnisvolle Winkel ahnen ließen. Pirkko wandte ihr Gesicht ganz dem Fenster zu, da mit niemand das Zucken darin wahrnahm. „Das ist die Börse“, sagte der Chauffeur, als er sah, wie aufmerksam Pirkko ein langes Gebäude zu be trachten schien; der Wagen bog in eine Haarnadelkur 64
ve ein und fuhr nun an der Rückseite des Bauwerks entlang. „Wie schön“, murmelte Pirkko höflich und mecha nisch. Aber ihre Phantasie gaukelte ihr völlig andere Bilder vor. Sie hatte Heikki vor Augen, Heikki in die sem fremden, erdrückenden Milieu, ratlos hin und her laufend, nicht imstande, sich bei jemandem nach dem Weg zu erkundigen. „Wie ist er umgekommen?“ fragte sie unvermittelt. Der Polizist vorn neben dem Chauffeur wirkte etwas bedrückt und versuchte, ihrer Frage auszuweichen. „Wir wissen natürlich noch nicht genau Bescheid… die Obduktion wird es ergeben…“ Als sie vor dem düsteren Steinriesen hielten, wo die Identifizierung stattfinden sollte, bemühte man sich noch einmal, Pirkko umzustimmen. „Sie brauchen doch nicht beide dabeizusein. Es ge nügt, wenn Herr Kivilainen mitgeht.“ Eino machte einen kranken Eindruck. Sein blondes Haar war naß und klebte im Nacken. Pirkko blieb bei ihrem „Wir gehen beide“. Der Tote lag auf einer flachen Pritsche, unter einem ausgebreiteten Laken verborgen; lediglich die Kontu ren seiner Füße und seines Kopfes sowie eine etwas pathetisch wirkende Erhöhung an der Stelle, wo seine Nase war, zeichneten sich ab. Pirkko bereute heftig, daß sie nicht doch draußen geblieben war. Sie wollte nicht hinsehen. „Möchten Sie nicht doch lieber hinausgehen?“ fragte ein Polizist. Sie wußte, daß ihr übel werden würde, aber sie nahm dies als eine Probe ihrer Solidarität mit Eino. Dieses Gefühl hatte sich bereits eingestellt, als die bei 65
den Polizisten in die Timmermansgatan gekommen waren und von Heikkis Tod berichteten. „Ich bleibe“, sagte sie eigensinnig und hitzig. Der Polizist nickte. Irgend jemand öffnete eine Tür weit hinten im Raum und ging hinaus. Kurz darauf er schien eine Krankenschwester und stellte sich neben Pirkko. Dann zog jemand das weiße Laken weg. Pirkko vergaß Solidarität und Würde, sie war froh, daß die Schwester neben ihr stand und ihr unter die Arme griff. Nachdem die Übelkeit vorüber war, entdeckte sie, daß sie auf einem Sofa lag und sich erbrochen hatte. Ein heftiges Schamgefühl packte sie. Dann erinnerte sie sich an das, was sie gesehen hat te, und ihr Magen zog sich erneut zusammen. Unter dem Laken hatte ein übel zugerichteter Toter gelegen, ein armer Teufel. Aber es war nicht Heikki gewesen. Als sie mit dem Schiff über den Sund zurückfuhren, spürte Pirkko noch immer die Nachwirkungen ihres An falls. Hitzewellen kamen und gingen, in ihrem Kopf schien sich ein Mühlrad zu drehen. Ein solches Gefühl war ihr völlig fremd. Wäre sie einmal im Tivoli mit der Berg-und-Tal-Bahn gefahren, hätte sie ihren Zustand genau definieren können. Natürlich war sie froh, daß es sich bei dem Toten nicht um Heikki gehandelt hatte – aber wo befand sich ihr Urlaubsgast? Als der Kellner aufkreuzte, bestellten Pirkko und Ei no belegte Brote, erkannten aber sofort, daß sie kei nen Bissen herunterbringen würden. „Ein Bier“, schlug Eino vor. 66
Es war erst ihre vierte Schiffsreise. Bier war für sie nur ein vager Begriff, aber auf den runden Untersätzen auf dem Tisch stand „Tuborg“. Also bestellten sie jeder ein Tuborg. Dann nahmen sie Kaffee und Kognak. Als sie in Malmö an Land gingen, sah die Welt für sie wie der rosiger aus. „Er ist ja genaugenommen noch nicht länger als vierundzwanzig Stunden weg“, sagte Eino mehrmals. Sie wollten schnell nach Hause. Beide hofften, Heikki im Wohnzimmer vorzufinden, wagten aber nicht, sich das einzugestehen, da sie sich nicht gegenseitig beim Wunschdenken ertappen lassen wollten. Es war spät geworden, und der Zug schien von Leu ten überzuquellen, die nach einem Tag Aufenthalt in Malmö wieder in ihre Heimatorte zurückfuhren. Pirkko und Eino suchten in mehreren durchgehenden Wagen vergeblich nach Sitzplätzen und kamen dann in einen mit geschlossenen Abteilen. In dem ersten erblickten sie Sten Broman, umgeben von jungen Studentinnen aus Lund. Im nächsten war noch etwas frei. Dort be fanden sich nur zwei Reisende. Pirkko und Eino schauten durch die Glastür und blie ben wie vom Donner gerührt stehen. Drinnen saß Heikki Koskinen und lächelte einem bleichen und mageren Studenten auf seine zutrauliche Weise zu, der geduldig zurücklächelte.
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Tags darauf wurde Heikki Koskinen verhaftet. Er war dringend des Mordes oder Totschlags verdächtig. Das Opfer hatte man noch nicht identifiziert. Nun geriet der Fall in den Mittelpunkt des Interes ses. Die Zeitungen brachten auf den ersten Seiten Fo tos und Schlagzeilen. Es war definitiv ungewöhnlich, daß ein Mörder Name und Adresse am Tatort zurück ließ. Dadurch kam Marianne abermals damit in Berüh rung. Sie las eine Reportage in der „Politiken“, als sie in der Zimmervermittlung am Kopenhagener Haupt bahnhof darauf wartete, Zimmer für mehrere Stadt rundfahrer bestellen zu dürfen. Da sich jeder, der die ses Büro aufsuchte, von vornherein resignierend auf eine lange Wartezeit einrichtete, konnte man sich dort gut aufs Lesen konzentrieren. An diesem Tag wurde sie jedoch sehr oft von einem angetrunkenen Schwe den gestört, der versuchte, das Lied vom „Gammel strand“ zu Ende zu grölen. Eine makabre Begleitmusik. Der Reportage zufolge hatte Eino seinen Gast Heikki Koskinen in Malmö zur Polizei mitgenommen und das Mißverständnis um den Toten aufgeklärt. Koskinen gab dann eine – von Eino übersetzte – Er klärung ab, wie die Streichholzschachtel in die Tasche des Toten gelangt war. Er sei überfallen worden, und der Täter habe die Streichholzschachtel gestohlen. Nur die Schachtel, unterstrich der Reporter, um Geld und Wertpapiere kümmerte sich der Täter nicht. Der Arti kelschreiber gab sich keine Mühe, zu verhehlen, daß er Koskinens Geschichte anzweifelte. Dann hatte die Malmöer Polizei Koskinen nach Ko penhagen überstellt. Dort war er ebenfalls verhört und 68
schließlich aufgefordert worden, den Ort des Überfalls anzugeben. Dabei ergaben sich neue Verdachtsmo mente, denn Koskinen behauptete, genau dort nieder geworfen worden zu sein, wo die Polizei den blutigen Bordstein entdeckt hatte. Nach Koskinens Version habe der Täter ihn zu Boden geschlagen, berichtete der Reporter, seine Reisetasche an sich gerissen und das Weite gesucht. Koskinen wollte gesehen haben, daß er in einem Hausflur ver schwand. Als der Finne wieder auf die Beine kam, habe er die Reisetasche auf dem Bürgersteig bemerkt. Of fenbar hatte der Täter sie fortgeworfen. Koskinen nahm sie auf und lief zur „Borgerstuen“ zurück, weil dort einige Freunde von ihm saßen, die ihm gegenüber sehr hilfreich gewesen wären. Auf die Frage, warum er den Überfall nicht gemeldet hätte, habe er geantwortet, daß er darauf gar nicht gekommen wäre. Er habe ja außer der wertlosen Streichholzschachtel nichts weiter eingebüßt. Marianne wußte, daß dies den Tatsachen entsprach. Sie war ja selbst dabeigewesen, als Heikkis Reiseta sche durchgesehen wurde, nichts hatte gefehlt, auch die Brieftasche nicht. Wenn man Koskinens Version glauben wolle, kom mentierte der Reporter, müsse man eine sonderbare Duplizität der Ereignisse annehmen, nämlich, daß der Dieb von einem zweiten Dieb überfallen worden sei, und noch dazu an demselben Ort, wo der erste Über fall stattgefunden habe. „… eine alte Fischermadame“, grölte der angetrun kene Schwede. „Wie geht es weiter? He, Alte, wie geht es weiter?“
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Das wußte die Alte auch nicht, und so wandte sich der Schwede an Marianne. „Du, Fremdenführerin, wie geht das Lied weiter?“ Er schmetterte wieder von vorn los und stockte an derselben Stelle: „Am Gammelstrand, am Gammel strand, da sitzt eine alte Fischermadame…“ „… den Hintern im Wasser und weiter nichts an“, vollendete Marianne hilfreich die Zeile. Der Schwede geriet aus dem Konzept und starrte Marianne mit offenem Mund an. Dann kicherte er trun ken und vergnügt vor sich hin. „Du bist ganz schön frech, Kleine“, lallte er. Marianne versuchte weiterzulesen. Die Polizei ließ mitteilen, daß sie die Gesellschaft gerne um einige Auskünfte gebeten hätte, die an dem fraglichen Tag mit Koskinen in der „Borgerstuen“ gewesen sei. „Nummer 743!“ rief jemand vorn am Schalter. Es war Mariannes Nummer. Gerade steckte sie die Zettel mit den Adressen der zugewiesenen Zimmer in die Tasche, als der Angetrunkene sie wieder erblickte und mit weit ausholenden Gesten auf sie zusteuerte. „Sie dürfen hier nicht so langweilig ‘rumstehen, Fräulein, machen sie lieber eine kleine Spritztour.“ Er steckte ihr ein Zehn-Öre-Stück zu. Sein men schenfreundlicher Impuls trieb ihm Tränen der Rüh rung ins Auge. „Vielen Dank“, sagte Marianne herzlich. Die Wirklichkeit ist nun einmal so: Kein Handlungs verlauf geht im luftleeren Raum vor sich. Rundherum spielen sich immer andere Ereignisse ab. Manchmal kollidieren sie miteinander, ohne daß wir es merken, und bewirken eine Kursänderung.
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Hätte Marianne die Reportage auf dem Schiff oder zu Hause in Malmö gelesen, wäre sie sicher zu Patrik und Natan geeilt, um mit ihnen die nächsten Schritte zu erwägen. Das Resultat einer solchen Erörterung hätte sehr gut sein können, daß sie zu dem Schluß ge langt wären, Natans üblicher Linie zu folgen und sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen. Nun aber erfuhr Marianne in ihrer Eigenschaft als Fremdenführer von dem Appell der Polizei, und da diese Tätigkeit bei denen, die sie ausüben, immer einen sonderbaren Ammeninstinkt wachruft, betrat sie, das Zehn-ÖreStück in der Faust, den Hauptbahnhof, um die dortige Polizeiwache aufzusuchen. Die Polizisten sorgten dafür, daß sie gleich zu der richtigen Instanz kam. Eine Viertelstunde später stand sie vor dem Kopenhagener Polizeipräsidium. Das Kopenhagener Polizeipräsidium erweckt den Eindruck, als diene es vor allem dem Zweck, bei den Besuchern die gegensätzlichsten Stimmungen hervor zurufen. Von außen ist es düster, massiv und wuchtig wie der Buchstabe des Gesetzes. Gelangt man jedoch an den dunkelgrauen Pfeilern vorbei in die Vorhalle, so glaubt man, sich in einem Kloster oder einer alten Rit terburg zu befinden. Dort steigt man eine breite Stein treppe mit auffällig niedrigen Stufen empor, die wie geschaffen war für fette Äbte in langen Talaren. Ober halb dieser imposanten Eingangshalle kommt man zwischen zwei ionischen Säulen hindurch auf einen neuen Absatz, wo sich die gesamte Anlage plötzlich zu einer schmalen Treppe verengt, die gleich einer Ja kobsleiter zwischen spartanisch weißgekalkten Wänden wenn auch nicht in den Himmel, so doch zu einem Schild mit der Aufschrift „Kriminalpolizei“ führt. 71
Dort oben entdeckte Marianne einen langen, schma len und hohen Korridor, in dem sie schließlich eine Tür mit der Aufschrift „Lundby“ fand. Sie drückte vorsichtig die Klinke herab und betrat das Arbeitszimmer des Kriminalkommissars. Der Raum sah keinesfalls so aus, wie Marianne sich das Arbeitszimmer eines Kriminalkommissars vorge stellt hatte. Er war nicht groß. In der Wand, die sich der Tür gegenüber befand, war ein Fenster, daneben hing ein lebensgroßes Porträt von Valdemar Atterdag, und unter dem Fenster stand ein Barocksofa. Durch die Scheiben erblickte sie einen runden, offenen Hof, umgeben von weißen Pfeilern. Die rechte Wand wurde von einer Tür und einem mächtigen Mahagonischreib tisch mit Bronzebeschlägen eingenommen. In der lin ken Ecke stand ein schmaler Sockel mit einem runden Drahtkäfig, in dem gelbe Wellensittiche hockten. Ein menschliches Wesen war nirgendwo zu erblicken. Marianne blieb unschlüssig an der Schwelle stehen. Eine Minute nach der anderen verstrich, ohne daß et was geschah. Plötzlich kam vom Schreibtisch her ein kräftiges Schnarchen. Marianne fuhr zusammen, denn sie konnte noch immer niemanden entdecken. Sie war verwirrt. Wie sollte sie die Aufmerksamkeit des Kommissars auf sich lenken? Marianne hustete vorsichtig und klopfte an die In nenseite der Tür. Ein neuer Schnarcher, der sich gera de unter dem Schreibtisch entwickelte, brach jäh ab, als sei er im Halse des Schlafenden steckengeblieben. Dann wurde ein Schaben und Kratzen sowie ein ange strengtes Keuchen vernehmbar. Schließlich tauchte der ziemlich menschlich wirkende Kopf einer alten
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Bulldogge auf, sie guckte verschlafen und verdrossen hoch. „Rrrr“, knurrte der Hund und bemühte sich, Angst und Schrecken zu verbreiten. Dann sank sein Kopf wieder auf die Vorderpfoten, und er schlief weiter. Während Marianne ihre Aufmerksamkeit auf den Hund konzentriert hatte, war ein Mann durch die rech te Tür eingetreten. Er stand nun unter Valdemar At terdags Porträt und betrachtete sie. Die schweren Möbel in der rechten Hälfte des Zim mers hatten in Marianne die Vorstellung aufkommen lassen, daß der Mann, der dort Tag für Tag arbeitete, ein hünenhafter Kriegertyp sein müsse, etwa wie Gu stav Adolf II. Allerdings sprach das zierliche Vogelbau er auf dem schmalen Sockel dagegen. Das deutete eher auf einen pedantischen Menschen mit Tendenz zur Weltflucht hin. Der Mann, der nun im Zimmer stand, gehörte weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie; er war groß, graugekleidet und hatte kräftige, vor Müdigkeit graue Gesichtszüge. Mariannes Anblick schien ihn zu irritieren, offenbar überstieg ein neuer Eindruck in die sem Moment die Grenze dessen, was er ertragen konnte. Lundby hatte einen hektischen und sorgenreichen Tag hinter sich. Nach einem neuen Verhör von Koski nen war er gezwungen gewesen, sich mit einem Eifer suchtsdrama in Amager und einem Selbstmord in Sundby zu beschäftigen. In der Nacht zuvor hatte er nur zwei Stunden geschlafen. Marianne störte ihn ge rade in dem Augenblick, als er im Zimmer seiner Se kretärin die einzige Mahlzeit zu sich nahm, die er seit
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dem letzten Abend gesehen hatte – zwei belegte Brote und ein Bier, von seiner Sekretärin besorgt. „Was tun Sie hier?“ fragte er und bohrte seine Au gen in die Mariannes. „Sie wollten eine Auskunft von mir“, erwiderte sie schnell, um zu beweisen, daß sie rechtmäßig bei ihm eingedrungen war. „Es handelt sich um den Toten in Nyhavn.“ Lundby ging zu seinem Schreibtisch. Ehe er sich setzte, bückte er sich und weckte den Hund mit einem Klaps, um ihm zu sagen, daß er ruhig weiterschlafen könne. Offenbar durfte man in diesem Zimmer nur auf Anweisung schlafen. „Setzen Sie sich“, forderte er Marianne auf. Da es keine andere Sitzgelegenheit gab, mußte sie zu dem Barocksofa unter dem Fenster gehen. Die Wel lensittiche protestierten zwitschernd, als sie dort Platz nahm. Nachdem sie von ihrer Begegnung mit Heikki Koski nen in Malmö, von der Rundfahrt durch Kopenhagen und der Zusammenkunft in der „Borgerstuen“ berich tet hatte, stand Lundby auf und näherte sich ihr mit einem Aschenbecher und einem geöffneten Zigaret tenetui. Er setzte sich neben sie und stellte den Aschenbecher in die Mitte. Der Hund begann zu schnarchen. „Wir waren also die ganze Zeit über zusammen“, hob Marianne hervor. „Aber eine Weile war Heikki Koskinen weg, und in dieser Zeit wurde er überfallen.“ „Gewiß, doch keineswegs länger als zehn, fünfzehn Minuten.“
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„In diesen zehn bis fünfzehn Minuten konnte er den Mann durchaus umbringen. Es war kein kompliziertes Verbrechen. Den Schädel zerschmetterte sich das Op fer, als es mit dem Hinterkopf auf den Bordstein schlug.“ „Verdächtigen Sie Heikki Koskinen im Ernst? Diesen unbeholfenen, armen Teufel?“ „Wir wissen noch nicht viel von ihm“, gab Lundby zu. „Aber was wir wissen, macht ihn durchaus ver dächtig. Er ist in Vasa geboren und aufgewachsen, wo er noch immer wohnt. Übrigens hat er die Stadt bisher noch nie verlassen. Ein ruhiger Mensch also, der sehr zurückgezogen lebt. Er hat ein durchschnittliches Ein kommen, arbeitet in einem Speicher, stellt keine gro ßen Ansprüche – er gehört in jeder Beziehung zum Durchschnitt. Nur in bezug auf sein Hobby weicht er vom Durchschnitt ab. Drei Abende in der Woche trai niert er in einem Boxklub. Zwei Jahre lang hat er den Wanderpokal seines Vereins im Federgewicht gehabt.“ „Ach, Unsinn!“ platzte Marianne heraus. Das war zwar nicht gerade eine passende Aus drucksweise in diesem Raum, aber sie drückte Marian nes Einstellung aus. „Sie sind sehr jung“, sagte Lundby, „und Sie schei nen ein hilfsbereites Mädchen zu sein. Der ,arme Teu fel’ tut Ihnen leid, nicht?“ Marianne nickte. „Sie haben den Toten nicht gesehen“, fuhr Lundby fort, „und wir werden Ihnen den Anblick auch erspa ren. Aber eins steht fest: Er ist regelrecht k. o. ge schlagen worden. Machen Sie also Ihre Zeugenaussa ge, und mischen Sie sich nicht weiter in die Sache ein. Versprechen Sie mir das?“ 75
Marianne blieb nichts weiter übrig, als das Verspre chen abzugeben. Was konnte sie allein gegen die ge samte dänische Polizei ausrichten? Niedergeschlagen fuhr sie zur „Borgerstuen“, um Patrik und Natan mit ihren Sorgen zu überschütten. Die beiden waren mitten in einer Diskussion über Koskinen. „Merkwürdig“, sagte Patrik, „jemand wird überfallen, um ihm eine Streichholzschachtel zu stehlen.“ „Dir ist doch wohl klar, daß der Mann auf was ande res aus war“, erwiderte Marianne. „Das begreife ich durchaus. Er durchsuchte die Rei setasche, die nichts Wertvolles enthielt. Nur einen Kamm, einen Füllfederhalter, ein Taschentuch, einige Quittungen und dann diese Streichholzschachtel. Wenn er unbedingt was davon haben wollte, weshalb nahm er dann nicht den Füller? Der war doch immerhin mehr wert als eine gewöhnliche Streichholzschachtel.“ Preben erschien mit dem Zusammengeschusterten. Er balancierte die drei übervollen Teller auf dem linken Arm und trug Bier, Tomatenmark und Worcestersoße zwischen den gespreizten Fingern der rechten Hand. Mit einer leichten Neigung des Oberkörpers nach vorn ließ er die Teller auf das Tischtuch gleiten. Jeder lan dete genau vor einem der drei studentischen Fremden führer. Dann blieb Preben hinter Patrik stehen. Die Hand mit den Flaschen pendelte in Höhe von Patriks rechtem Ohr hin und her. „Haben Sie von dem gestrigen Mord hier draußen gehört?“ fragte er. Die drei klärten ihn darüber auf, daß sie den verhaf teten Heikki Koskinen kannten.
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„Ach so“, sagte Preben und beugte sich ein wenig vor. „Meine Frau hat den Toten gesehen. Ein hübscher Kerl. Schade um ihn.“ „So“, warf Marianne uninteressiert ein. „Er sah also gut aus.“ „Na ja, nicht als Leiche. Aber vorher.“ „Was, sie hat ihn auch vorher gesehen? Wo denn?“ „Hier draußen in der Holbergsgade. Sie war ganz aus dem Häuschen, als sie hereinkam, weil…“ „Halt den Mund, Preben! Wärm die Geschichte nicht schon wieder auf“, sagte seine Frau von der Küchentür her. Sie kam näher und setzte sich neben Natan auf die Bank. Natan rückte etwas dichter an Marianne heran, und Patrik deutete auf die Bierflaschen in Prebens Hand. „Trinken Sie doch ein Glas mit uns. Dann können Sie uns die Geschichte ja selbst erzählen.“ Preben streckte den Arm vor und ließ die Flaschen auf den Tisch rutschen. Danach wischte er seine Fin ger, die tomatenmarkbetupft waren, an der Schürze ab. „Ein Glas Bier trinke ich gerne mit“, sagte seine Frau. Sie sah noch recht gut aus. Ihr Kopf war wohl ge formt und ihr Gesicht fein modelliert, aber die Wan genhaut erschlaffte bereits und vergröberte die zarten Linien darin. Sie hatte ein sorgfältiges Make-up, und ihr Kleid wurde über der Brust von einer offensichtlich kostbaren Brosche zusammengehalten. „Ich war draußen, um ein paar belegte Brote zu be sorgen“, erzählte sie, „auf die Dauer hängt einem das ewige Zusammengeschusterte ja zum Hals ‘raus… Al 77
so, da stand dieser Mann oben an der Ecke Holbergs gade, so, als beaufsichtige er den Nyhavn.“ „Und was dann?“ „Dann? Nichts. Ich kaufte meine belegten Brote und ging wieder zurück. Wegen der Schlange vor dem La den hat es fünfzehn bis zwanzig Minuten gedauert. Als ich die Holbergsgade überquerte, wollte ich mir den Mann noch mal ansehen, aber da war er weg.“ „Und jemand anders haben Sie nicht bemerkt?“ „Nein, niemanden.“ „Und keine Spur von einem Überfall?“ Irrten die drei sich, oder warf die Frau Preben wirk lich einen warnenden Blick zu? „Alles war wie sonst“, versicherte sie. Die Sache war wirklich sehr bedenklich für Heikki. Außer dem Mann war offenbar niemand in der Nähe gewesen, und für den Überfall gab es keinen Augenzeugen. Nicht das leiseste entlastende Moment für den Finnen war sicht bar. „Wirklich ein Jammer um den hübschen jungen Mann“, schwärmte Prebens Frau melancholisch. „Er war schlank, braungebrannt, hatte so schönes, schwarzes Haar und…“ „Danke, aber das habe ich schon oft genug gehört“, unterbrach Preben sie, einen Blick auf sein Porträt an der Wand werfend, das seine eingedrückte Nase voll zur Geltung brachte. Fürchtete er, daß seine Frau Ver gleiche anstellte? Ließ er sie deshalb nicht zu Ende re den? Doch die Wirtin näherte sich ihrem Thema nun von einer anderen Seite. „Es ist doch sonderbar, daß die ihn noch nicht identifiziert haben“, sagte sie. „Jemand muß sich doch an ihn erinnern! Ein so hübscher junger 78
Mann! Und er war auch sehr auffällig angezogen, er trug einen hellbraunen Anzug, ein weißes Hemd und ein buntes Halstuch…“ „Ooo!“ stöhnte Marianne auf und steckte die Finger ihrer rechten Hand in den Mund. Prebens Frau stellte mit Zufriedenheit fest, daß sie Eindruck gemacht hatte. „Die haben heute ein Foto von ihm veröffentlicht. Wer den Mann kennt, soll sich melden. Warten Sie, ich hole die Zeitung.“ Ja, es stimmte. Der Tote war der „Schöne“, den Ma rianne trotz seines südländischen Aussehens insge heim „Jönsson aus Örkelljunga“ getauft hatte.
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11 „Ehrlich währt am längsten“, sagte Patrik. „Spar dir deine Tiraden“, murrte Natan. Sie waren von der „Borgerstuen“ direkt zum Polizei präsidium gefahren und hatten dort zu Protokoll gege ben, wann und unter welchen Umständen ihnen der Unbekannte über den Weg gelaufen war. Danach hat ten sie sich immer wieder die Frage vorgelegt, ob es nicht besser gewesen wäre zu schweigen. Ihre Angaben über den „Schönen“ hatten nämlich das Problem seiner Identität nicht gelöst, dafür aber die Polizei auf den Gedanken gebracht, nach einer frü heren Verbindung zwischen ihm und Heikki Koskinen zu suchen. Deshalb bereuten sie ihren Gang zur Poli zei. Auf der anderen Seite hatte das Bild in den Zeitun gen einige Kopenhagenfahrer mobilisiert, die mit dem „Schönen“ in Mariannes Sightseeingbus gewesen wa ren. Zwei, die beiden Wandervögel, hatten sich gemel det, ohne allerdings sagen zu können, wie der Mann hieß. Daraufhin wäre es zumindest Marianne sehr schwer gefallen, ein Schweigen ihrerseits vor der Poli zei zu motivieren. Aus diesem Grund hatte sich Patrik in die Weisheit des Ausspruchs „Ehrlich währt am längsten“ gehüllt. Die beiden Wandervögel waren be reits nahe der deutschen Grenze gewesen, als sie das Bild in der Zeitung sahen. Als gute Pfadfinder waren sie sofort umgekehrt, um der Polizei mitzuteilen, was sie wußten oder vermuteten. Ihre Zeugenaussage stärkte Heikkis Position nicht im mindesten. Sie hatten Heikki und den Unbekannten während der Busfahrt beobachtet und den Eindruck gewonnen, 80
daß der Dunkelhaarige den Finnen verfolgte. Sie be richteten auch von seinem Versuch, jemand anders den Platz neben Heikki Koskinen streitig zu machen. Als Marianne, Patrik und Natan mit Heikki die „Borger stuen“ betraten, waren die beiden Wandervögel auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers in Tatoo Jacks Laden gewesen. Da sie sich auf die Auslagen konzentriert hatten, wollten sie es nicht beschwören – aber sie waren fast sicher, den Unbekannten etwa zehn Meter hinter Heikki und den drei Freunden er blickt zu haben. Es sah unleugbar so aus, als steckte Heikki mächtig in der Tinte. „Trotzdem glaube ich ihm“, erklärte Marianne, als sie, Patrik und Natan wiederum in der „Borgerstuen“ saßen und die Sache durchsprachen. „Ein so klägli cher, unbeholfener Bursche! Wir dürfen ihn nicht so ohne weiteres der Kopenhagener Kriminalpolizei über lassen.“ „Du meinst, mit uns drei im Rücken würde er aus der Geschichte wieder ‘rauskommen?“ Marianne trank betrübt einen Schluck Bier. „Wir drei sind vielleicht nicht genug“, sagte sie nach einer Weile. „Aber auf den Schiffen sind ja neun Reise unternehmen tätig, und jedes hat fünf Fremdenführer. Fünfundvierzig Mann – das wird ein ziemlich großes Detektivbüro.“ „Du bist ja nicht bei Trost“, sagte Patrik. „So was läßt sich nicht mit der linken Hand durch führen“, meinte Natan. „Nee“, gab Marianne zu. Ihr Einfall ließ ihr jedoch keine Ruhe. Außerdem tauchten immer wieder einige Bilder in ihrer Erinne 81
rung auf, die auf kompliziertere Zusammenhänge hin deuteten. Das erste Bild war, wie Heikki auf seinem Klappstuhl an Deck der „Örnen“ saß. Hatte ihn der „Schöne“ nicht bereits da im Auge? Bis auf die beiden war das Vor derdeck menschenleer gewesen. Das zweite Bild: Heikki geht an Land, er lacht und winkt ihr zu, und statt des üblichen „terve“ ruft er „Skål“. Sicher, „Skål“ war wohl das erste schwedische Wort, das ein Ausländer an Bord eines Schiffes nach Kopenhagen lernte, aber kaum, wenn er allein auf ei nem Klappstuhl am Bug saß. Auf der Rückreise auf der „Örnen“ zeigte Marianne die Zeitung mit dem Foto herum. Es dauerte nicht lan ge, bis sie eine Serviererin fand, die sich an den „Schönen“ erinnerte. Etwas mehr Zeit brauchte sie, um jemanden zu erwischen, der Heikki gesehen hatte. Aber mit etwas Geduld gelang ihr auch dies. Er hatte sich hinten im Salon niedergelassen, belegte Brote ge gessen und dazu Bier und mehrere „Harte“ getrunken. Es zeigte sich, daß der „Schöne“ zwei Tische hinter Heikki Platz genommen hatte. Er war ihm also auch schon an Bord gefolgt. Weshalb? Kaum in Malmö angekommen, eilte Marianne in die Landbygatan. Die Haustür war offen. Schon im Trep penflur hörte sie eine Kakophonie von Stimmen aus dem Fenster schallen. Patrik und Natan waren zu Hause. In Patriks Sessel erblickte sie außerdem Vennerlinds Hosenbeine unter einer auseinandergefalteten Zeitung. Diesmal war es das „Aftonbladet“. Auf dem Bett lag Brita-Clara, sie kraulte den Hund hinter dem Ohr, und in der Ecke ne ben dem Bücherregal saß Frid, einen Grog neben sich. 82
„Ich habe die Fremdenführer gefragt“, erklärte Pa trik. „Sie machen mit, alle fünfundvierzig, wenn wir sie brauchen. Das hier ist nur der Hirntrust. Darf ich vor stellen: Das Detektivbüro der Landbygatan.“ Natan reichte Marianne einen Grog. „Das ist alles mächtig spannend“, sagte Brita-Clara vom Bett her. „Aber was sollen wir eigentlich tun?“ Genau das war im Augenblick das Problem. „Fangen wir damit an, die Sache durchzudiskutie ren“, schlug Patrik vor. Marianne berichtete, was sie auf der „Örnen“ ermit telt hatte. Dann nahm Frid das Wort. „Der Tote ist nun immerhin identifiziert worden. Er war Italiener und arbeitete bei Mab & Mya. Es handelt sich um einen gewissen Luigi Corelli.“ „Was denn, er war wirklich Italiener?“ rief Marianne überrascht aus. „Das hätte ich nicht geglaubt. Er sah mir eigentlich ein bißchen zu italienisch aus.“ „Ich habe mir über die Sache Gedanken gemacht“, sagte Natan würdevoll, worauf die anderen spöttische Mienen zogen, denn sie hatten in den letzten Tagen auch nichts anderes getan. „Heikki hatte nichts in der Reisetasche, was für einen Dieb von Wert gewesen wäre“, fuhr Natan unbeirrt fort. „Dennoch beschattete Corelli ihn bereits seit Malmö. Offenbar suchte er eine günstige Gelegenheit, ihm die Tasche zu entreißen. Ist es nicht möglich, daß sich irgend etwas darin befand, wovon nur Corelli wußte? Vielleicht, weil er es ihm selbst hineingeschmuggelt hatte?“ „Weshalb soll er so was Blödes getan haben?“ wand te Patrik ein.
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„Erinnerst du dich noch, daß du ihm eine Kognakfla sche in die Tasche geschoben hast, weil du meintest, er sähe so ehrlich aus, daß kein Zollbeamter auf den Einfall kommen würde, ihn zu visitieren? Glaubst du etwa, du hättest ein Patent auf solche Überlegungen?“ „Natürlich nicht“, gab Patrik zu. „Nach meiner Ansicht ist es so gewesen“, erklärte Natan. „Luigi Corelli hatte etwas bei sich, was den Zollbeamten nicht in die Hände fallen durfte. Meistens schauen die ja nicht in die Koffer und Taschen der Skandinavier. Corelli aber mußte mit einer Kontrolle rechnen, da er zu sehr nach einem Italiener aussah.“ „Sie haben ihn ja tatsächlich aus der Schlange ge holt“, erinnerte sich Marianne. „Ich habe es gesehen. Als er sich zur Zollschranke durchdrängelte, beugte er sich einen Moment vor. Ja, und da konnte er natürlich etwas in Heikkis Reisetasche gesteckt haben, wenn deine Hypothese richtig ist.“ „Er schmuggelte also etwas in Heikkis Reisetasche“, fuhr Natan fort, völlig sicher nun, da er sich durch Ma rianne bestätigt fand, „und danach mußte er ihn be schatten, um es ihm wieder abzunehmen.“ „Der Ärmste“, meinte Frid spöttisch. „Er konnte ja nicht ahnen, daß der Finne eine Stadtrundfahrt unter nehmen und immer unter so vielen Leuten sein wür de.“ „Deshalb ist er also mit meinem Bus gefahren“, stieß Marianne enttäuscht hervor. „Nur, weil Heikki auch dabei war.“ „Was aber kann es gewesen sein?“ überlegte Natan. „Es muß sich ja um eine kleine und sehr leichte Sache gehandelt haben, da er sie in Heikkis Reisetasche schummelte, ohne daß der etwas merkte.“ 84
„Auf jeden Fall war der Gegenstand sehr wertvoll“, sagte Marianne. „Man bringt doch niemanden wegen eines Päckchens Zigaretten um.“ „Marihuanazigaretten?“ mutmaßte Brita-Clara. Patrik war nicht überzeugt. „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er Heikkis Reise tasche nach einem Päckchen Marihuanazigaretten durchwühlt hat. Aber danach wurde er erschlagen, und in seinen Taschen hat man derartiges nicht gefunden. Der Mörder müßte sie also an sich genommen haben. Sind aber Marihuanazigaretten ein solches Objekt, daß sie eine ganze Kette von Verbrechen auslösen? Nein, es muß etwas noch Wertvolleres gewesen sein – reines Rauschgift vielleicht, Heroin oder so was.“ „Der Rauschgiftschmuggel geht über andere Wege. In Schweden ist kein Klima für solche Gewächse“, warf Natan ein. „Heroin wächst nicht auf Bäumen“, hob Patrik her vor. „Betreib hier keine Haarspalterei. Heroin wird aus Morphium hergestellt, und das wiederum gewinnt man aus Opium, das man einer bestimmten Mohnsorte ent zieht. Hast du schon mal in Schonen Felder mit Opi ummohnkulturen gesehen?“ „Pilocarpin“, sagte Vennerlind plötzlich hinter seiner Zeitung. „Ich dachte, du hörst gar nicht zu“, meinte BritaClara. „Pilocarpin – was ist das?“ „Euer Hauptfehler ist, daß ihr die Zeitungen nicht richtig lest.“ Vennerlind schlug ein Blatt um, kniffte die Zeitung in der Mitte und reichte sie Patrik so, daß ihm ein be stimmter Artikel ins Auge fiel. 85
„Lies laut!“ forderte Brita-Clara ihn auf. Patrik räus perte sich und las: „Die Diebe, die in der Nacht zum Dienstag in die Malmöer Husaren-Apotheke eingedrun gen sind, haben fast ½ Kilo des gefährlichen Giftes Pi locarpini Hydrochloridum gestohlen. Vermutlich wissen sie nicht, daß bereits 20 mg dieses Giftes tödlich wir ken. Das Gift kommt in sehr geringen Dosen in Augen tropfen und Salben vor. Es vermindert die Spannung der Augenmuskulatur. In reiner Form ist es ein weißes, kristallines Pulver von bitterem Geschmack, das an Heroin erinnert. Ohne Zusätze eingenommen, bringt es die Muskulatur zum Erschlaffen. Dadurch werden Krämpfe ausgelöst, die tödliche Folgen haben. Die Menge, die den Dieben in die Hände gefallen ist, reicht aus, um eine Stadt von 25.000 Einwohnern aus zurotten. Das Gift wurde auf demselben Regal wie einige Fla schen Heroinlösung aufbewahrt. Es ist daher anzu nehmen, daß die Diebe glauben, an ein Heroinkonzen trat gekommen zu sein, das sie auf dem illegalen Rauschgiftmarkt veräußern können. Sollte dies ge schehen, gäbe es eine entsetzliche Katastrophe. Da damit gerechnet werden muß, daß die Diebe das ver meintliche Rauschgift zu einer Kontaktstelle nach Ko penhagen schmuggeln wollen, hat man die Zollkontrol len an den nach Kopenhagen abgehenden Schiffen verschärft. Bisher liegen allerdings noch keine Ergeb nisse vor. Als die verschärfte Zollkontrolle einsetzte, war ein Schiff bereits ausgelaufen. Die Möglichkeit, daß die Diebe mit diesem Schiff nach Kopenhagen ge fahren sind, ist gering, dennoch wurde die Kopenha
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gener Polizei im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Gif tes sicherheitshalber unterrichtet.“ Natan stieß einen gedehnten Pfiff aus. „Da haben wir es ja. Das Schiff, das bereits unter wegs war, ist die ,Örnen’ gewesen, und an Bord der ,Örnen’ befand sich Corelli.“ „Ja, das ist einleuchtend“, gab Vennerlind zu. „Co relli war einer der Diebe und hatte den Auftrag, das vermeintliche Heroin zu einem Mittelsmann nach Ko penhagen zu schaffen.“ „Und dann hatte er das Pech, sich einer Kontrolle unterwerfen zu müssen“, fügte Marianne hinzu. „Des halb wollte er das Gift loswerden. Er steckte es also in die nächstbeste, oben nur verschnürte Reisetasche – und das war Heikkis.“ „Hätte Heikki das nicht merken müssen?“ fragte Vennerlind. „Bei dem Gedränge? Du weißt doch, wie die einan der vorwärtsschieben, wenn die Sperre geöffnet wird. Ein so kleiner Bursche wie Heikki hatte sicherlich ge nug zu tun, um sich von all den Ellbogen nicht die Rip pen einquetschen zu lassen.“ „Aber – ein halbes Kilo! Er muß doch festgestellt ha ben, daß seine Reisetasche schwerer wurde.“ „Corelli hatte nicht soviel bei sich“, behauptete Brita-Clara. „Er sollte nur einen Teil der Beute ‘rüberbrin gen, so viel, wie ein Schmuggler bestellt hatte – eine Streichholzschachtel voll Heroin.“ „Du redest, als wärst du dabeigewesen“, sagte Mari anne spitz. „Ich strenge nur meinen Grips an. Das, was Corelli in Koskinens Reisetasche steckte, muß etwa die Form und Größe einer Streichholzschachtel gehabt haben.“ 87
„Donnerwetter – natürlich!“ rief Natan. „Was ist natürlich?“ fragte Frid. Brita-Clara setzte es ihm geduldig auseinander: „Als Corelli dem Finnen die Reisetasche entriß, hatte er es sehr eilig, weil er sie durchwühlen mußte, ehe Koski nen wieder auf die Beine kam. Er öffnete sie nicht erst, sondern steckte einfach seine Hand durch den Spalt. Dabei stieß er auf zwei Schachteln, zog sie heraus und eilte damit in einen Hausflur. Die Streichholzschachtel schob er in seine Tasche, denn um die ging es ihm ja nicht. Wenn es wirklich so gewesen ist, bleibt nur der Schluß offen, daß die Heroinschachtel das gleiche For mat wie die Streichholzschachtel hatte.“ „Und wo ist die Heroinschachtel geblieben?“ erkun digte sich Marianne. „Die Polizei hat bei Corelli nichts gefunden, was man als Schmuggelgut bezeichnen kann.“ „Natürlich nicht. Und Koskinen besaß sie auch nicht. Eine dritte Person muß sie an sich genommen haben – und aus diesem Grund wurde Corelli umgebracht.“ Diese Lösung stimmte mit allen bekannten Fakten überein. „O. K. Lundby mag zu der Kognakflasche in Heikkis Tasche sagen, was er will, aber wir müssen ihm unsere Theorie mitteilen“, meinte Patrik. Ehe sie sich für diesen Tag verabschiedeten, verteil ten sie die Aufgaben. Patrik und Natan wurden beauf tragt, Lundby aufzusuchen, Vennerlind und Frid sollten die Husaren-Apotheke beehren, und Marianne hatte sich in die Holbergsgade zu begeben, um dort Indizien zu sammeln, die ihre Theorie stützen könnten. BritaClara schwieg sich über ihr Vorhaben aus – es war streng geheim. 88
Das Detektivbüro der Landbygatan hatte seine Tä tigkeit aufgenommen.
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Vennerlind und Frid hatten nur noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Husaren-Apotheke zumachte. Ziemlich nervös hasteten sie durch die Straßen. Was und wen sollten sie eigentlich fragen? „Wir müssen zumindest warten, bis keine Kunden mehr da sind“, entschied Vennerlind. Kurz vor Ladenschluß standen sie vor der Apotheke. „Geh ‘rein und sieh nach, ob viele Leute drin sind“, sagte Vennerlind und schob Frid auf die Eingangstür zu. Frid schaute vorsichtig um die Ecke. Die Apotheke rin, die eben eine Kundin bediente, erblickte einen runden Kopf und eine runde Schulter im Türspalt. Sie zuckte zusammen. Seit dem Einbruch in die Apotheke herrschte dort eine nervöse Stimmung. Frid war im Handumdrehen wieder bei Vennerlind. „Nur eine Kundin und eine Apothekerin“, sagte er. Darauf guckten sie durch das Fenster. Sie warteten darauf, daß die Kundin ging. Die Apothekerin – eine junge, blonde Frau – füllte gerade eine Schachtel mit Tabletten gegen Seekrankheit, als ihr Blick zufällig auf das Fenster fiel. Der untere Teil war weiß übermalt, damit niemand von draußen hereinsehen konnte. Im oberen Teil des Fensters schwebten jedoch zwei am Hals abgeschnittene Köpfe. Der eine war schmal und bleich und starrte sie aus wasserblauen Augen hinter einer farblosen Brille unverwandt an. Der andere sau ste nach unten weg und tauchte ebenso schnell wieder auf, was darauf zurückzuführen war, daß der an die sem Kopf befestigte Körper auf und nieder hüpfte. 90
Die Apothekerin blickte fasziniert nach den beiden Köpfen. Vennerlind und Frid eilten um die Ecke. Nach einer Weile wagten sie sich wieder vor. Frid sprang erneut hoch, es gelang ihm auf Anhieb, über die bemalte Fläche hinweg in die Apotheke zu spähen. Die Apothekerin tat gerade Geld in die Kasse und schaute dann hoch. Abermals sah sie Frids Kopf auftauchen und verschwinden. Nun bekam sie es mit der Angst. Endlich verließ die Kundin die Apotheke. Die Blonde war allein. „Laß mich das in die Hand nehmen“, sagte Venner lind. „Wir tun zunächst so, als wollten wir was kaufen.“ Noch immer unschlüssig, ob und wie sie ihre Re cherchen durchführen sollten, betraten sie den Ver kaufsraum. In dem Maße, wie sie sich dem Ladentisch näherten, wich die Apothekerin von dort zurück. Frid musterte die Regale. Die Flaschen, Büchsen und Schachteln kamen ihm alle gleich vor, sie verrieten ihm nicht im mindesten, ob ihr Inhalt harmlos oder gefährlich, wertvoll oder wertlos war. Die Apothekerin verfolgte wie hypnotisiert seinen Blick, der schließlich an der Stelle verharrte, wo vor dem Einbruch das Pilo carpin gestanden hatte. In diesem Moment schrie sie los. „Jynsson!“ gellte ihre Stimme. „Jynsson, Jynsson!“ Ein schmächtiger Mann in einer Art Uniformkittel stürzte aus einer Tür im Hintergrund herbei, blieb aber dann wie angewurzelt stehen und blinzelte die beiden ängstlich an. „Wir sind vom ,Aftonbladet’“, log Vennerlind, der seine Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte. 91
„Ach, Sie sind Reporter“, sagte die Apothekerin sichtlich erleichtert. Sie griff automatisch nach ihrem weißen Häubchen und vergewisserte sich vor der Glas scheibe einer Vitrine mit Verbandszeug, ob es noch richtig saß. „Wir machen zu, damit wir ungestört sind“, ent schied Jynsson. Kurz darauf saßen sie in einem Zimmer hinter dem Verkaufsraum. Die Wangen der Blonden röteten sich. „Ich hatte schon Angst, die Diebe seien wieder da“, entschuldigte sie sich. „Wenn mal so was vorgefallen ist, sieht man leicht Gespenster.“ „Die Diebe?“ hakte Vennerlind nach. „Es waren also mehrere?“ „Ja, zwei.“ „Haben Sie die gesehen?“ „Wir nicht, aber die Apothekerin, die Nachtdienst hatte. Sie ruht sich meistens in diesem Zimmer hier aus, wenn niemand klingelt. An jenem Abend hörte sie, daß jemand vorn in der Apotheke war. Zuerst wagte sie nicht, ‘rauszugehen, aber dann faßte sie sich ein Herz und machte sich bemerkbar. Als sie feststell te, daß die Diebe daraufhin das Weite suchten, eilte sie hinaus und nahm noch zwei Gestalten wahr, die um die Ecke bogen.“ „Um welche Zeit war das?“ „Zehn nach zwölf.“ „Also nicht abends, sondern nachts. Kann sie die beiden beschreiben?“ „Nein. Die Polizei hat sie auch schon danach gefragt. Sie sah ja die beiden nur von hinten, außerdem war sie ein wenig schlaftrunken.“ Nun meldete sich Jynsson zu Wort. 92
„Es war ziemlich dumm von uns, Sie für die Diebe zu halten. Ja, auf Sie könnte die Beschreibung vielleicht zutreffen“ – er deutete auf Frid – „aber auf Sie nicht. Sie sind zu groß. Es handelte sich um zwei kleine Män ner.“ „Wie sind die Diebe ‘reingekommen?“ wollte Frid wissen. „Sie haben ein Loch in die Tür geschnitten, eine Hand durchgeschoben und den Schlüssel umgedreht, der von innen steckte. Ja, unsere Sicherheitsvorrich tungen sind erbärmlich. Jeder x-beliebige kann ohne weiteres eindringen.“ „Und sie haben keine Spuren hinterlassen? Finge rabdrücke oder so was?“ „Fingerabdrücke!“ Jynsson schnaufte verächtlich. „Heute weiß doch jedes Kind, daß man bei solch einem Unternehmen Handschuhe tragen muß.“ „Ja, richtig“, gab Vennerlind zu. „Das hat ja auch schon in der Zeitung gestanden. Die haben also nur das Pilocarpin genommen? Weiter nichts?“ „Sie sind nicht mehr dazu gekommen. Sie wurden ja fast sofort bemerkt.“ Mehr konnten sie von Jynsson und der Apothekerin nicht erfahren, aber was sie nun wußten, genügte fürs erste. Zwei kleine Männer also – und Corelli war höchstens mittelgroß gewesen. Vennerlind und Frid bedankten sich und gingen. Sie waren mit dem Ergebnis ihrer Befragung recht zufrie den. Die anderen vier mußten die Ausführung ihres Auf trags bis zum nächsten Tag aufschieben, da ihr Akti onsgebiet auf der anderen Seite, in Kopenhagen, lag. 93
Nach ihrer Ankunft in Kopenhagen und der üblichen Sightseeingtour machte sich Marianne daran, die Hol bergsgade durchzukämmen. Mehrere Fremdenführer von einem anderen Reiseunternehmen halfen ihr da bei. Da sich Marianne als Leiter der Gruppe betrachte te, nahm sie für sich das Recht in Anspruch, sich die interessantesten Häuser auszuwählen, das, in dessen Eingang man den Toten gefunden hatte, und dann das Haus gegenüber, das Nachbargebäude der „Borger stuen“. Wie sich herausstellte, befand sich neben der „Bor gerstuen“ eine Bank. Hinter einer Schranke, die sich durch den gesamten Raum hinzog, saß ein Bankange stellter, den Rücken zum Fenster. Der untere Teil des Fensters war mit Pappschildern verdeckt, auf denen der Name der Bank stand, so daß es unmöglich war, die Straße im Auge zu behalten. Nachdem Marianne kurz in den Raum hineingeblickt hatte, überquerte sie die Straße. Es war sinnlos, dem Bankangestellten Fragen vorzulegen. Im Treppenflur des „Mordhauses“ schwang ein Mann einen Kehrbesen. „Guten Tag, ich bin Reporterin von einer Malmöer Zeitung“, sagte Marianne schnell. „Ich soll Erkundigungen über den Mord hier einziehen – wer was gesehen hat und so weiter.“ Der Mann gab bereitwillig Auskunft, aber er wußte auch nichts anderes zu berichten als das, was bereits in den Zeitungen gestanden hatte. Marianne machte pro forma einige Notizen und knipste den Mann, dann stieg sie die Treppe hoch. Natürlich hat die Polizei bereits alle in Frage kom menden Leute aus der Holbergsgade verhört und die wesentlichsten Indizien über den Fall zusammengetra 94
gen, dachte Marianne. Sie selbst war auf andere Dinge aus, von denen sie jedoch nur eine verschwommene Vorstellung hatte. Sie begann in der oberen Etage, teils der Ordnung halber und teils, weil sie dort von außen etwas so Alt modisches und Vielversprechendes wie einen Spion entdeckt hatte. Marianne drückte entschlossen auf den Klingelknopf. Einen Moment blieb alles still, dann aber brach ein Höl lenspektakel los. Die Wohnungstür wurde weit aufge rissen, und ein Knäuel wild fechtender Arme und Beine quoll auf den Treppenabsatz hinaus, die, soviel Mari anne bei dem Wirbel feststellen konnte, zu einer unbe stimmten Anzahl von Kindern verschiedenen Alters sowie zu einem Hund gehörten. Bei Mariannes Anblick fiel das Knäuel blitzartig aus einander – sechs Kinder und ein Hund umringten sie. Eine noch ziemlich junge Frau tauchte im Flur auf. Sie blieb in der Türöffnung stehen und schaute Mari anne fragend an. Dann merkte sie, daß sie aus einem ihr selbst unbekannten Grund ein Frottiertuch in der Hand hielt. Sie trocknete ihre keineswegs nassen Hän de daran ab und musterte Marianne. „Das sind nicht alles meine“, sagte sie, Marianne unablässig im Auge behaltend. Plötzlich gellte eine Stimme durch den Flur: „Mama, ich bin fertig!“ „Ja, mein Liebling“, erwiderte die Mama und ent schuldigte sich bei Marianne. Dann nahm sie Kurs auf die Tür, hinter der immer lautere Rufe ertönten. Sie wirkte wie eine radargesteuerte Maschine. Der Hund folgte ihr, und die anderen Kinder verwandelten sich wieder in ein unübersichtliches Knäuel durcheinander 95
wirbelnder Arme und Beine, das im Fahrwasser des Vierbeiners über den Flur toste. Marianne schloß die Tür von außen und stieg eine Etage tiefer. Diese Frau hatte bestimmt keine Zeit, tagsüber vor dem Spion zu sitzen. Im ersten Stock öffnete eine Alte, die von den Haa ren bis zu den Schuhen schmutzigbraun war. „Kommen Sie von da oben?“ fragte sie und deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe. Marianne leierte ihren Vers von der Zeitungsrepor tage herunter. „Ja, da sind Sie bei mir richtig“, sagte die Alte. Sie bat Marianne in einen kleinen, dunklen Raum, der mit alten, ebenso dunklen Möbeln vollgestopft war und braune Vorhänge an den Fenstern hatte. Dann legte sie los. Ihr Eifer, mit sensationellen Enthüllungen aufzuwar ten, nur, um Marianne möglichst lange festzuhalten, deutete darauf hin, daß sie nicht oft Gelegenheit hatte, mit jemandem zu reden. Doch wenn nur die Hälfte dessen, was sie Marianne auftischte, den Tatsachen entsprach, dann hatte das Detektivbüro eine Menge Neuigkeiten zu verarbeiten. Wollte man der Alten glauben, so war das gesamte Viertel ein einziges So dom und Gomorrha und die „Borgerstuen“ eine Rauschgifthöhle sowie der Tummelplatz aller licht scheuen Elemente von Nyhavn. Das Unglück war nur, daß die Alte alles andere als glaubwürdig wirkte. Sie beobachtete Marianne ängst lich, und sowie sie den Eindruck hatte, daß ihre Worte bezweifelt wurden, nahm sie ihre letzte Version zurück und kam sofort mit einer neuen. 96
Als Marianne die Treppe hinunterstieg, war sie ziem lich durcheinander. Sie wußte nicht, ob die Mitteilun gen der Alten Zündstoff oder lediglich Schaumblasen waren, mit der Absicht erzeugt, sich interessant zu machen. Die Tür der Parterrewohnung war nur angelehnt. Ei ne schmale, winkende Hand zeigte sich in dem Spalt. Marianne blieb verblüfft stehen. Wieder winkte die Hand, und die Tür ging ein Stück weiter auf, so daß die Amateurdetektivin denjenigen sehen konnte, der sich dahinter befand. Es war ein Troll. Nur der Schwanz fehlte. Ein Paar dünne, krumme Beine balancierten einen überdimen sionalen Bauch, die Schultern darüber waren jedoch sehr schmal. Das Gesicht der sonderbaren Gestalt wurde von einer fleischigen Nase beherrscht. Als Marianne an dem Männlein vorbeigehen wollte, wurde sie am Ärmel festgehalten und nach der Tür ge zogen. „Kommen Sie ‘rein“, flüsterte es und warf schuldbe wußte Blicke nach oben. Der trollartige Mann wirkte zwar gebrechlich, aber seine Finger schienen aus Eisen zu sein. Marianne blieb nichts weiter übrig, als die Wohnung zu betreten. „Sie sind doch da oben gewesen, nicht wahr?“ sagte das Männlein, wiederum im Flüsterton, und schloß die Tür. Danach redete es in normaler Lautstärke weiter: „Sie dürfen nicht glauben, was die alte Karen so er zählt. Sie ist den ganzen Tag über allein und erfindet die merkwürdigsten Geschichten. Sie meint es nicht böse und richtet auch keinen Schaden an, wenn man weiß, wie sie ist.“
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Er bot Marianne einen Stuhl an. Das Zimmer, in dem sie sich befand, hatte sehr viel Ähnlichkeit mit dem der Alten darüber. Marianne überlegte nicht lange. Ihr Vertrauen zu den Angaben der Alten war ohnehin stark ins Wanken geraten. Sie erzählte also, was sie von der Frau erfah ren hatte. Das Männlein hörte zu und nickte hin und wieder. „Ich werde Ihnen sagen, wie es sich wirklich ver hält“, erklärte es freundlich, nachdem sie zu Ende war. „Aber bringen Sie das nicht in Ihrer Reportage. Die Wahrheit ist nichts für Zeitungen.“ Der Bericht des Männleins war weit weniger sensa tionell, dafür aber viel glaubwürdiger. Seiner Darstel lung nach war Preben durch seine Tätigkeit als Gast wirt in Nyhavn mit einigen rauschgiftsüchtigen Seeleu ten in Berührung gekommen – insofern hatte die Alte also nichts Falsches behauptet. „Aber Preben hat ihnen nichts verschafft“, versicher te das Männlein. „Vor knapp einem Monat ertrank vorn im Hafen einer seiner besten Freunde. Er war total he roinverseucht. Offenbar war er ins Wasser gefallen und nicht mehr imstande gewesen, sich herauszuarbeiten. Die Sache traf Preben dermaßen, daß wir glaubten, er verlöre den Verstand. Er dachte sich die sonderbar sten Methoden aus, um alle umzubringen, die mit Rauschgift zu tun haben, sowohl die Händler als auch ihre Kunden. ,Nicht nur die Schmuggler sind daran schuld, daß die Leute süchtig werden’, sagte er, ,nein, auch die Narkomanen selbst. Sie verleiten andere und bringen ihnen bei, wie man sich das Zeug besorgt. Das beste wäre, sie allesamt auszurotten, mit Stumpf und Stiel.’ 98
Wir waren seinetwegen eine Zeitlang sehr besorgt, aber so nach und nach fand er dann sein Gleichgewicht wieder. Nun ist er wie vorher. Aber schreiben Sie um Gottes willen nichts davon in Ihrer Zeitung – Preben hat schon genug auszustehen gehabt.“ Marianne konnte mit gutem Gewissen geloben, daß nichts von dem jemals in irgendeiner Zeitung veröf fentlicht würde.
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Patrik und Natan waren am selben Tag bei Lundby, um ihm ihre Theorie über das Pilocarpin auseinanderzuset zen. Lundby hörte freundlich, aber nicht begeistert zu. Gewiß, er werde die Untersuchung auch in dieser Rich tung betreiben, und er sei natürlich für jeden Hinweis seitens der Bevölkerung dankbar. Auf der Rückreise waren sie bester Stimmung. Sie betrachteten ihr Eingreifen als einen hochherzigen Akt menschlicher Güte. Nun würde die Polizei bald den Richtigen fassen und Heikki auf freien Fuß setzen – und das wäre dann zum größten Teil das Verdienst ih rer Detektei. Brita-Clara fuhr mit demselben Schiff; entgegen ih rer Gewohnheit war sie recht einsilbig, außerdem sah sie ziemlich blaß aus. „Hast du deinen Geheimauftrag schon ausgeführt?“ erkundigte sich Patrik. Brita-Clara hatte offenbar nicht die Absicht, sich zu der Frage zu äußern, aber andere erwiesen sich als weniger zurückhaltend. Sie hatte sich natürlich den abenteuerlichsten Auf trag ausgewählt, den, im Nyhavn nach Rauschgifthaien zu fahnden. Nachdem sie mit ihrer Kopenhagentour fertig war, hatte sie sich aufgemacht, die Organisato ren des Lasters zu suchen. Sie wußte zwar nicht recht, wie man so etwas an packt, begab sich aber frisch ans Werk. Ohne mit der Wimper zu zucken, spielte sie die rauschgiftsüchtige Schwedin, die in Kopenhagen nach einem neuen Liefe ranten unterwegs ist. Zunächst sah sie sich in der 100
Fährgaststätte um, dann durchstreifte sie jede See mannskneipe. Einige der von ihr nach Heroin Befragten suchten schleunigst das Weite, andere wurden wütend oder bekamen einen Schock. Im „Schifferkrug“ biß endlich einer an. Dort stieß sie auf eine finstere Type, die we der schockiert war noch davonlief. „Komm mit!“ sagte der Kerl. Mit zitternden Knien folgte Brita-Clara ihm auf die Straße. Der Kerl schlug die Richtung nach Kongens Ny torv ein. Erst da wurde Brita-Clara bewußt, auf was sie sich eingelassen hatte, aber es war zu spät. Der Kerl machte einen gefährlichen Eindruck. Er war offenbar imstande, sonstwas mit ihr anzustellen. Nachdem er sich ihr gegenüber verraten hatte, würde sie nicht so leichten Kaufs davonkommen, wenn sie behauptete, sie hätte sich nur einen Spaß erlaubt. Auf dem Kongens Nytorv wartete ein Polizeiauto. Die Fahrt endete im Polizeipräsidium, wo Lundby sich sehr anstrengen mußte, , um seinen verkleideten Polizisten davon zu überzeugen, daß die auf frischer Tat ertappte Kontaktperson nur eine harmlose Amateurdetektivin war. Die studentischen Fremdenführer lachten roh und herzlich, und Brita-Clara hielt es für das klügste mitzu lachen. Plötzlich kletterte Patrik auf den Tisch. Der ge plagte Schiffskellner starrte ihn an und wollte eigent lich eingreifen, resignierte aber im letzten Moment, da er genug andere Sorgen hatte. „Brüder und Schwestern!“ begann Patrik. „Was ihr wollt, das man euch tu, das fügt auch allen andern zu – so heißt es bereits in der Bibel. Wer von euch möchte nicht, daß ich ihn zu einem Kognak einlade? Tut mir 101
dasselbe! Ein jeder, der im Besitz einer Flasche Ko gnak oder anderer trinkbarer Sachen ist, soll mir nach der Ankunft in Malmö auf meiner und Natans Bude willkommen sein. Alle, die sich getroffen fühlen, mö gen die Hand heben!“ Brita-Claras Hand flog hoch, sie spreizte Zeige- und Mittelfinger zum V-Zeichen. Der Kellner bewegte sich automatisch auf ihren Tisch zu, da er der irrigen An nahme war, es handle sich um eine Bestellung. Über der Stockholmer Zeitung in Vennerlinds Ecke stieg langsam eine schmale Hand auf. Frid winkte eifrig. Als Patrik zu ihm hinschaute, kehrte er die Taschen nach außen, um anzudeuten, daß er total abgebrannt sei, aber gerne mitgekommen wäre. Patrik erhob keine Einwände. Frid schlief immer sehr schnell ein. Er vertrug nicht viel. Patriks Aufforderung galt nur den beiden, von Frem denführern besetzten Tischen. Deshalb mußte Marian ne ihn durch einen Rippenstoß darauf hinweisen, daß sich an einem etwas entfernteren Tisch ebenfalls zwei Hände hochreckten. Dort saßen zwei rundliche, fröhliche Hausfrauen in den Sechzigern, deren Hüte aus dem Kopenhagener Magasin du Nord und deren Einholebeutel aus Frede riksens Diversehandel stammten. Sie erhoben sich halb von ihren Plätzen und wedelten mit den Händen, voller Eifer und mit einem beschwörenden Blick, wie ihn strebsame Schülerinnen an sich haben, die be fürchten, vom Lehrer übergangen zu werden. Verblüfft nickte Patrik den beiden zu, worauf sie erleichtert auf ihre Plätze zurücksanken, ihre Hüte zurechtdrückten und vor sich hin kicherten.
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Nachdem sie in Malmö die Sperre passiert hatten, schienen ihnen jedoch Bedenken zu kommen, aber Pa trik und Natan nahmen ihnen höflich die schweren Ein kaufsbeutel ab, worauf sie mit den anderen Fremden führern über den Stortorget nach der Landbygatan zo gen. An ihren Ausrufen konnte ein Eingeweihter leicht feststellen, wo sie sich gerade befanden: „Nein, ist das dunkel!“ – im Hausflur, „Herrgott, wie pittoresk!“ – im Hof, „Was für ein süßes Hündchen!“ – in Patriks und Natans Behausung. Trinkbares war reichlich vorhanden, und die beiden Hausfrauen spendierten Brot und Käse. „So was wagt man keinem zu erzählen“, sagte eine von ihnen nach mehreren Stunden. „Wenn wir hier in Kopenhagen wären, dann ja. Aber in Malmö? Sich in Schweden einen so gemütlichen Abend zu machen verstößt bestimmt gegen das Gesetz.“ Um neunzehn Uhr stürmte Natan die Treppen hinun ter, um eine Abendzeitung zu kaufen und sich über den neuesten Stand der Dinge im Fall Heikki Koskinen zu informieren. Er kehrte sehr still zurück und reichte Patrik die Zeitung. Ja, das waren Schlagzeilen! „Zusammenhang Giftdiebstahl – Kopenhagenmord!“ „Sensationelle Zeugenaussagen!“ Es zeigte sich, daß die Polizei ein gutes Stück Arbeit geleistet hatte, um zu ermitteln, was Heikki bis zum Zeitpunkt des Mordes unternahm. Von Eino und Pirkko Kivilainen wußten die Kriminalbeamten, daß er bereits an dem Abend vor seiner Kopenhagenfahrt nicht in Ar löv gewesen war, und Heikki behauptete, den Abend und die Nacht in Malmö verbracht zu haben, um sich die Hafenstadt „by night“ anzuschauen, wenn er schon 103
mal in der Nähe war. Pirkko habe ihn dazu gedrängt. Auf die Frage, was er in Malmö getrieben habe, war er mit einer Geschichte herausgerückt, die deutlich von den Erlebnissen während seines KopenhagenAufenthalts inspiriert war. Er wollte einen freundlichen Schweden getroffen haben, der sich seiner annahm. Allerdings behauptete er, weder dessen Name noch Adresse zu kennen. Dann beschäftigte sich die Zeitung mit den Zeugen aussagen der Fremdenführer. Leider war ihr Effekt ein völlig anderer gewesen, als Patrik und seine Amateur detektive erwartet hatten. Der Reporter schrieb näm lich, daß die Polizei infolgedessen zu der Auffassung gelangt sei, Koskinens Malmöreise hinge mit dem Ein bruch in der Husaren-Apotheke zusammen, der ja in eben der Nacht stattgefunden hatte, für die der Finne kein Alibi nachweisen konnte. Auch Corellis Tun und Treiben in jener Nacht sei unklar. Außerdem – so hieß es in dem Artikel – verfolge die Polizei auf Grund der Hinweise der tüchtigen Detektive nunmehr eine neue Fährte. Da feststehe, daß Corelli und Koskinen ge meinsam mit der „Örnen“ nach Kopenhagen gefahren wären und dort im selben Bus eine Stadtrundfahrt un ternommen hätten, versuche man zu ermitteln, ob Heikki Koskinen bereits in Malmö mit Corelli Kontakt aufgenommen habe. „Am besten, wir lassen die Finger davon, ehe wir Heikki in noch schlimmere Dinge verwickeln“, meinte Patrik. Die anderen schlossen sich seiner Auffassung an. Langsam sank die Stimmung auf den Nullpunkt. Auch die beiden unternehmungslustigen Hausfrauen amüsierten sich nicht mehr. Sie griffen nach ihren rie 104
sigen Einkaufsbeuteln und erinnerten sich an Mann und Kind. Natan unternahm nur einen sehr lahmen Versuch, sie zurückzuhalten. Lediglich der Hund ließ sich nicht die Laune verder ben. Er legte die Schnauze auf den Teppich, schielte nach allen Seiten und bemühte sich, Aufmerksamkeit zu erregen. Die ältere der beiden Hausfrauen streichel te seinen Kopf. Als sie Patrik mit aufgestützten Ellbo gen trübsinnig am Tisch sitzen sah, stand sie auf und streichelte ihn ebenso. „Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen“, sagte sie tröstend, „morgen ist auch noch ein Tag, und auf Re gen folgt Sonne.“ Patrik wußte auf diese Weisheiten nichts zu erwi dern, er war mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden. Marianne ging in Gedanken nochmals alle Fakten durch. Vielleicht hatte der Artikelschreiber recht? Ihr mütterliches Gefühl revoltierte gegen diese Schlußfolgerung. Es wollte ihr nicht in den Kopf, daß dieser kleine, unbeholfene Finne etwas mit einem Ein bruch, mit Rauschgiftschmuggel und Mord zu tun ha ben sollte, aber sie mußte zugeben, daß die Indizien auch so ausgelegt werden konnten. Es war durchaus möglich, daß Corelli das Gift nur deshalb in Heikkis Reisetasche gesteckt hatte, weil er sein Komplize war. Zwei kleine Männer hatten das Pilocarpin gestohlen, und sowohl Corelli als auch Koskinen waren knapp mit telgroß. Der freundliche Schwede, der sich in Malmö um Koskinen gekümmert hatte, konnte sehr wohl Corelli gewesen sein. In diesem Fall war völlig klar, weshalb
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der Finne sich über Namen und Adresse des Betreffen den ausschwieg. Sollte sie sich in Heikki so getäuscht haben? Der Alkoholvorrat war inzwischen sehr geschrumpft, aber außer einem Krug Genever war noch eine unge öffnete Flasche Kognak da. Als Marianne die beiden Hausfrauen zur Haustür hinunterbrachte, nahm sie die Kognakflasche an sich und wickelte sie in die Zeitung mit dem zerschmetternden Artikel. Wenn schon Trüb sal geblasen wurde und das Fest vorbei war, dann brauchte auch nicht mehr getrunken zu werden, fand sie. Ihr mißlungener Versuch, Heikki aus der Klemme zu helfen, trieb sie dazu, nun zumindest jemand an ders eine Freude zu bereiten. Menschenfreundlich, wie sie nun einmal war, malte sie sich aus, wie Arimatea zumute sein würde, wenn er in seiner Kommode eine volle Kognakflasche fand. Mitten auf dem Hof saß Frid einsam auf einem lee ren Bierfaß. Er hatte sich die Jacke ausgezogen, schwenkte sie über seinen Kopf hin und her und sang aus voller Kehle: „Was nutzt es mir schon, daß ich le be, da ich ja doch zum Grabe strebe…“ Marianne ließ die beiden Hausmütterlein hinaus, verstaute die Flasche in Arimateas Kommode und widmete sich sodann ihrer üblichen Aufgabe. „Komm, Frid“, sagte sie, „nun mußt du nach Hause.“ Er sprang gehorsam von dem leeren Faß herab, zog sich die Jacke an und folgte Marianne. Wie so oft en dete auch dieser Abend für Marianne damit, daß sie Frid sicher durch die Tür des Hauses in der Amiralsga tan brachte, wo er seine Bude hatte.
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Tags darauf erlebte Marianne ihr größtes Fiasko als Fremdenführerin. Sie konnte nur drei Touristen für ei ne Sightseeingtour begeistern. Als sie kurz vor dem Einlaufen des Schiffs in Kopenhagen sah, daß BritaClara sich erfolgreich bemühte, ihr die drei abspenstig zu machen, war sie fast froh darüber. Ein Bus für drei Passagiere – das wäre ohnehin nur ein schlechtes Ge schäft gewesen. Im Büro in der Havnegade wartete derselbe Chauf feur, der den Bus an jenem denkwürdigen Tag gefah ren hatte, an dem Heikki und Corelli mit von der Partie gewesen waren. Er hieß Jensen. Infolge Mariannes Versagen war Jensen nunmehr arbeitslos. „Es tut mir leid“, sagte Marianne, „aber ich kann nichts dafür. Heute geht alles schief. Darf ich dich da für zu einem Bier oder so einladen?“ Jensens Antwort wurde von einem lauten Knall ver schluckt. Ein zweiter Bus war auf den seinen gefahren. Wie von der Tarantel gestochen, sprang Jensen auf und lief auf die Straße. Der Chauffeur des anderen Busses kletterte hochroten Kopfes aus der Fahrerkabi ne. Vor Wut kochend, standen sich die beiden gegen über, abwechselnd einander in die Gesichter und nach der Beule in Jensens Bus starrend. „Was ist passiert?“ krächzte Madsen, der Besitzer der Busse, der aus dem Zollschuppen herbeistürzte. Dem Chauffeur des zweiten Busses wurde klar, daß er etwas zu seiner Verteidigung sagen müsse. „Das ist Jensens Schuld“, erklärte er. „Der parkt sei ne verdammte Karre nie an der richtigen Stelle.“ 107
„Du hättest dich ja auch ein bißchen vorsehen kön nen“, erwiderte Jensen. „Am Montag hielt er von halb drei bis um vier direkt vor dem Eingang zur ,Scala’, so daß ich bis zum ,Wivex’ fahren mußte, um parken zu können. Die Tou risten durften fast einen Kilometer zu Fuß gehen. Jen sen nimmt nicht die geringste Rücksicht“, rechtfertigte sich der andere. „Macht hier bloß kein Faß auf“, schrie Madsen. „Haut mit euren Vehikeln ab, ehe die Polizei da ist und merkt, daß es geknallt hat. Langwierige Untersuchun gen oder vielleicht noch ein Fahrverbot oder so was kann ich mir nicht leisten.“ Jensen wurde aufgefordert, mit seinem Bus abzu dampfen und ihn vor seiner Haustür abzustellen. Na tan, der aus dem zweiten Bus gestiegen und mit seiner Tour fertig war, nahm mit Marianne neben Jensen Platz. Dann fuhren sie los. Jensen hatte in einem weißen, fünfstöckigen Haus in der Øster Tvaergade eine Zweizimmerwohnung. Er lud Marianne und Natan zu sich ein. Sie betraten die Kü che. Dahinter befanden sich zwei kleine Räume. Von einer Frau Jensen war nichts zu sehen. Der Chauffeur verschwand unter dem Abwaschtisch und tauchte mit einer halbvollen Flasche „Ålborg“ und zwei Flaschen lauwarmer Zitronenlimonade auf. „Du scheinst eine gewisse Vorliebe für Kollisionen zu haben“, sagte Marianne, als sie mit ihrem Cocktail be quem in einem Sessel saß. Jensen fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Ober- und unterhalb des einen Auges schillerte gelb grün eine Schwellung. Die Nase hatte ebenfalls etwas abbekommen. 108
„Diesmal war es kein Bus“, erklärte er verlegen. „Ich habe mir selbst eine verpaßt, als ich eine Tür zu hastig aufmachte.“ Marianne tat der verlegen dastehende Jensen leid. „So was ist uns allen schon mal passiert“, tröstete sie ihn. Aber Natan hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Er war sehr schweigsam, antwortete einsilbig oder völlig falsch, wenn man ihn etwas fragte, und musterte Jensen scharf, sowie er ihnen den Rücken zuwandte. „Ich muß mal in der Havnegade anrufen“, sagte Jensen nach einer Weile. „Mal hören, ob Madsen mich heute noch braucht. Entschuldigt mich einen Moment. Das Telefon ist unten.“ Als seine Schritte auf der Treppe verklungen waren, wurde Natan lebendig. Zunächst durchsuchte er sorg fältig alle Schreibtischladen, die unverschlossen waren. Marianne protestierte, aber als Natan ihr bedeutete, ruhig zu sein, fraß sie ihre moralische Entrüstung in sich hinein. Endlich fand Natan, was er suchte. Triumphierend hielt er ein Päckchen Geldscheine hoch, das er schnell durchgeblättert hatte. „Das sind mindestens drei- bis viertausend!“ verkündete er. „Was fällt dir ein!“ fuhr Marianne ihn an. „Leg das Geld sofort wieder ‘rein, ehe Jensen zurückkommt.“ Aber Jensen war bereits zurück. Wie ein gereizter Stier näherte er sich Natan, den Kopf gesenkt, als wollte er ihn mit seinem Horn aufspießen, das nun mehr vor Wut in allen Regenbogenfarben glühte.
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„So einer bist du also!“ brüllte er. „Sowie man dir den Rücken zukehrt, wühlst du einem die Schreibtisch fächer durch!“ Marianne trat zwischen die beiden. Sie wäre zwar nicht imstande gewesen, gegen Natan oder Jensen et was auszurichten, aber sie vertraute darauf, daß deren Zorn noch nicht die Siedehitze erreicht hatte, um Hand an ein weibliches Wesen zu legen, das mit ihrem Streit nichts zu tun hatte und sich ihnen nur in den Weg stellte. „Setzt euch!“ befahl sie. „Vielleicht äußert ihr euch mal, was hier gespielt wird. Das ist wohl das mindeste, was ich verlangen kann.“ Jensen schüttelte den Kopf und ließ die Hände sin ken. Mariannes Andeutung, daß er mit Natan die Ver antwortung für das, was der andere angerichtet hatte, teilen sollte, verwirrte ihn. Natan nutzte die Chance schamlos aus. Blitzschnell tauchte er an Marianne vorbei und landete einen rech ten Haken auf Jensens ungeschütztem Kinn. Natans Stärke entsprach keineswegs seiner Länge. Wenn Jensen trotzdem zu Boden ging, so nur deshalb, weil er völlig überrascht wurde und nicht das Gleich gewicht halten konnte. „Herrgott!“ schrie Marianne auf und kniete neben dem gefällten Goliath nieder. Sie war zwar Atheist, aber in Augenblicken der Erregung rief sie gerne ir gendeinen über- oder unterirdischen Potentaten an. Benommen von dem Schlag, nahm Jensen plötzlich eine neue Drohung wahr, die – von weißen Nebel schwaden umwallt – auf ihn losfuhr. Er zielte und stieß mitten in den Nebel hinein.
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Marianne hatte Glück, daß Jensen auf dem Rücken lag und noch nicht völlig zu sich gekommen war. Sein Stoß traf sie nicht sehr heftig, dennoch stiegen ihr die Tränen in die Augen, als sie unsanft und ungraziös auf ihr Hinterteil plumpste. „Du verdammter Strauchdieb!“ brüllte Natan. „Ein Mädchen schlagen – dir werd ich’s zeigen!“ Er duckte sich, um einen neuen Boxhieb auszuteilen, mußte aber die Erfahrung machen, daß es gar nicht so leicht ist, jemandem einen Kinnhaken zu versetzen, der bereits am Boden liegt. Seine rechte Faust rammte die Stelle des Fußbodens, wo sich eben noch Jensens Kopf befunden hatte. Ein rasender Schmerz durch zuckte ihn von den Knöcheln bis ins Rückgrat und wurde von einem Gefühl der Benommenheit abgelöst. Als die Welt für Natan wieder klare Konturen annahm, fand er sich rücklings auf dem Boden liegend, Jensen über sich. Der breitschultrige Chauffeur saß auf Natans Knien und preßte dessen Arme auf das Linoleum. Über seine Schultern hinweg nahm er Marianne wahr, sie hockte in einem Sessel und hielt sich eine Rolle Haus haltspapier unter die Nase. „Wirst du dich anständig benehmen, wenn ich dich jetzt loslasse?“ wollte Jensen wissen. Natan antwortete mit einem leichten Jammerschrei, den der Chauffeur als Zustimmung auffaßte. Er stand auf, warf sich in einen Sessel und trank seinen lau warmen Cocktail in einem Zug aus. „Wie wäre es nun mit einer Erklärung?“ fragte er. Natan kam wieder auf die Beine, mit der linken Hand die Knöchel seiner rechten umklammernd. Er war sich zwar irgendwie darüber klar, daß er sich ver
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antworten müßte, doch bis sich der Schmerz in seiner Hand gelegt hatte, war ihm das gleichgültig. „Du hast Luigi Corelli ermordet“, sagte er statt des sen. Jensens Verhältnis zu Natan war zwar bisher nicht gerade durch besonderes Vertrauen gekennzeichnet, doch nun schien er ihn endgültig für tollwütig zu hal ten. „Weshalb sollte Corelli das Gift nach Kopenhagen geschmuggelt haben, wenn er hier keinen Mittelsmann hatte?“ beharrte Natan. „Als man seine Leiche fand, hatte er das Gift nicht mehr bei sich. Wenn jemand eine andere Erklärung weiß als die, daß es der Mörder an sich nahm, dann heraus damit.“ „Bis dahin bin ich deiner Meinung“, sagte Marianne, „aber weshalb muß das ausgerechnet Jensen gewesen sein?“ „Du willst doch nicht etwa behaupten, daß ein Au ßenstehender die Zusammenhänge durchschaut haben kann! Es muß so gewesen sein, daß Corellis Mittels mann in Kopenhagen wartete. Dann erfuhr er, daß sich das vermeintliche Heroin in Koskinens Reisetasche be fand, und beschattete sowohl Corelli als auch Koski nen, um sicher zu gehen, daß ihn der Italiener nicht hereinlegte.“ „Damit ist also bewiesen, daß ich der Mörder bin“, kommentierte Jensen verwundert Natans Ausführun gen. „Nicht so hastig! Als Corelli in Kopenhagen ankam, mußte er schnell in den Bus steigen, um Koskinen nicht aus dem Auge zu verlieren. Bis zu dem Zeit punkt, da er ermordet wurde, war er damit beschäf tigt, dem Finnen zu folgen. Wenn er mit seinem Kum 112
pan Kontakt hatte, dann mußte der ebenfalls im Bus gewesen sein.“ „Schön und gut, aber im Bus befanden sich sechzig Personen“, wandte Marianne ein. Natan warf ihr einen Blick zu, der deutlich die Frage enthielt: „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ „Nun ja“, gab er zu, „es kann auch einer von denen gewesen sein, aber Jensen hat sich am meisten ver dächtig gemacht. Wir wissen, daß er eine ganze Weile verschwunden war, als der Bus vor dem Kunstmuseum stand. Was tat er in dieser Zeit?“ „Ich habe doch nur Marianne ein wenig ärgern wol len!“ protestierte Jensen. „Nur darum bin ich wegge gangen.“ „Oder um ein Gespräch mit Corelli zu führen“, sagte Natan. „Der Mörder muß während der Busfahrt mit Co relli gesprochen haben. Dann folgte er ihm. Hat dein Bus nicht deshalb anderthalb Stunden allein vor der ,Scala’ gestanden, genau zu der Zeit, in der Corelli bis zum Nyhavn verfolgt und ermordet wurde?“ „Ich habe in der ,Scala’ gesessen und mir den Bauch vollgeschlagen“, behauptete Jensen. „Und woher hast du die Schrammen und das blaue Auge?“ „Das habe ich ja schon gesagt.“ „Und das klingt hundertprozentig glaubwürdig“, kommentierte Natan ironisch. Nun wurde Jensen wieder wütend. Die Muskeln sei nes Oberarms spannten sich, und er erhob sich halb aus seinem Sessel. Es bestand kein Zweifel, daß er die Fäuste sprechen lassen wollte, wenn seine Zunge nicht mehr zur Verteidigung ausreichte. Plötzlich aber sank
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er wieder zurück und begann zu lachen, laut, verwun dert und fassungslos. „Ich glaube, ihr seid alle beide total plemplem!“ keuchte er. Aber Natan ließ sich nicht so leicht abspeisen. „Ich habe in deinen Schubladen nach dem Gift ge sucht“, sagte er, „doch statt des Pilocarpins habe ich das Geld gefunden. Du hast es sicherlich schon ver kauft, nicht wahr?“ Jensen schüttelte ergeben den Kopf. „Das ist doch Madsens Geld, zum Teufel! Denkst du etwa, der läuft jeden Abend in die Havnegade? Der hat genug anderes zu tun. Ich habe gestern die Kasse mitgenommen und will heute mit ihm abrechnen.“ Natans Sicherheit schwand, und er spürte wieder seine schmerzenden Knöchel. „Du bist ein Idiot!“ sagte Marianne herzlos. „Bitte Jensen gefälligst um Entschuldigung!“ Aber so weit brauchte Natan nicht zu gehen. Jensen stand auf, er war bereits versöhnt, und erklärte, daß er weg müsse. Madsen brauche sein Geld. „Ihr könnt ruhig solange hier bleiben, bis ihr das Zeug ausgetrunken habt“, bot er ihnen großzügig an. „Du bist uns nicht böse?“ erkundigte sich Marianne vorsichtig. „Nicht mehr. Ich verstehe euch. Eure Schlußfolge rung war zwar für die Katz, aber logisch.“ Marianne und Natan sahen vom Fenster aus den großen, gelben Bus der Firma Madsen in Richtung Kongens Nytorv davonfahren. „Er war ja schon vorher leicht lädiert“, entschuldigte Natan sich beschämt. „Also Jensen.“ „Wir sind richtige Idioten“, meinte Marianne. 114
„Du hast dir wohl am allerwenigsten vorzuwerfen“, wandte Natan großmütig ein. „Ich habe mich doch hin reißen lassen.“ „Ja, und alles andere ist mein Fehler. Während wir hier seinen übriggebliebenen Schnaps und seine laue Zitronenlimonade trinken, verschwindet er mit dem Geld!“
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Sie stürmten die Treppen hinunter. Auf dem Kongens Nytorv bestiegen sie ein Taxi, um so schnell wie mög lich zur Havnegade zu kommen. Gerade war ein Schiff eingelaufen. Die Hitze lastete über dem Indre Havnen und fiel schwer auf die Passa giere, als sie durch die Tür des Zollschuppens dräng ten, sich innerhalb der Seile sammelten und schließlich gleich einem Strom hinter den Sperren weiterzogen. Die Individuen in der vorwärtsdrängenden Menge wa ren verschieden – reisemüde, betrunken, fußschwach, ängstlich oder mürrisch – , aber eines hatten sie ge meinsam: Sie bewegten sich im ersten Moment fast automatisch weiter. Diesen Zeitpunkt paßten die Fremdenführer ab, um sie auf einen bestimmten Kurs zu lenken. Wenn die Touristen zu sich kamen, waren die meisten von ihnen auf dem Weg zu einem Sight seeingbus. Bei dem Gedränge hatte niemand für Natan und Ma rianne Zeit. Ein Stück von den Bushaltestellen entfernt stießen sie auf Patrik und den Kassierer der Firma. Diese beiden konnten nur sagen, daß Jensen diese Tour nicht fahren sollte. Das bedeutete jedoch, daß nicht nur Jensen, sondern auch sein Bus weg war. Wie so oft, wenn sie Probleme hatten, gingen sie die Stufen zu Herrn und Frau Frederiksens Gemischtwa renhandlung hinunter und kauften jeder ein Zitronen wasser. Dabei war es ihnen weniger um die Limonade als um Herrn und Frau Frederiksens beruhigende Phi losophie zu tun, die darauf hinauslief, daß früher oder später alles wieder ins Lot komme. Madsen war vor einer halben Stunde dagewesen, aber Jensen hatten 116
Frederiksens nicht mehr gesehen, seit er mit seinem Bus nach dem Zusammenstoß davongefahren war. „Jensen kann längst in Seeland sein“, sagte Marian ne, „und das ist unser Fehler. Wir haben nichts weiter ausgerichtet, als ihn zu warnen.“ Während sie zur „Borgerstuen“ unterwegs waren, wurde Patrik über die letzten Ereignisse informiert. Die Sonne brannte immer heißer und ließ die Fassa den der Gaststätten und Kneipen von Nyhavn weiß, rosa, grün und blau aufleuchten und mit all ihren Fen sterscheiben vergnügt blinken. Als stünde alles auf Jensens Seite, dachte Natan be drückt. „Wir sind durch und durch Idioten?“ fragte er. Ob wohl der Satz eigentlich mehr eine Feststellung war, nickten Patrick und Marianne. „Sie schauen aber finster drein!“ sagte Preben, nachdem er die zum Ritual gehörende Frage nach dem gewünschten Gericht gestellt und die ebenso stereoty pe Antwort „Zusammengeschustertes mit Spiegelei“ erhalten hatte. „Meine Frau und ich haben uns heute ein paar Beef steaks besorgt“, eröffnete Preben ihnen daraufhin überraschend. „Soll ich Ihnen die zubereiten? Mit viel Zwiebel! Sie machen ganz den Eindruck, als könnten Sie ein bißchen was Aufmunterndes gebrauchen.“ Er eilte in die Küche, von seiner guten Idee begei stert, und ließ die drei mit je einem Glas Bier zurück. Aus dem Billardsalon trat eine ziemlich herunterge kommene Type ein. Der Mann erinnerte an Arimatea, strahlte aber nicht die gleiche Würde wie der Alte aus. Seine Augen flackerten und seine Hände zitterten in den Jackentaschen. Er blieb in der Türöffnung stehen 117
und schaute sich um. Dann gab er sich einen Ruck und ging auf die drei zu. „Möchten Sie schwedische Kronen einwechseln?“ fragte er, offenbar auf eine Ablehnung gefaßt, aber dennoch voller Hoffnung. Marianne, Patrik und Natan kannten den Trick. Die Eckensteher des Nyhavn verdienten sich zuweilen ihr Geld dadurch, daß sie schwedische Kronen weit unter dem offiziellen Tageskurs eintauschten. Viele arglose Schweden krochen ihnen in der Annahme auf den Leim, ein gutes Geschäft zu machen. „Nein, danke“, sagte Marianne. Er nahm die Ablehnung hin, blieb aber am Tisch ste hen. „Ich bin Seemann und habe mein Schiff versäumt“, begann er dann mit müder Stimme. „Ich brauche Geld für eine Busfahrkarte, um mein Schiff in Helsingör zu erreichen.“ Vielleicht war er selbst einmal auf diese Weise her eingelegt worden, jedenfalls hörte man ihm deutlich an, daß er es zum erstenmal auf diese Tour versuchte. Er schien selbst nicht recht zu glauben, daß er jeman den betrügen könne. „Wir haben kein Geld“, log Natan. „Aber der Wirt brät uns gerade ein paar Beefsteaks. Wenn Sie wollen, geben wir Ihnen eins ab.“ Aber darauf war der Mann offensichtlich nicht aus. Das Wort „Beefsteak“ schien bei ihm einen Brechreiz hervorzurufen. Er zog eine zittrige Hand aus der Ta sche und zeigte den dreien einen billigen Kugelschrei ber, wie man ihn überall zu einsfünfzig kaufen konnte. Flehend hielt er ihn hoch.
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„Das ist ein ,Parker’„, sagte er kläglich. „Ich habe ihn für hundertfünfzig Kronen erhalten und überlasse ihn den Herrschaften für fünfundsiebzig, nur, weil ich dringend Geld für eine Fahrkarte brauche.“ Die Wirtsfrau kam aus der Küche. Als sie den neuen Gast erblickte, lief sie dunkelrot an. „Aagesen!“ rief sie. „Was tust du hier?“ Dann sah sie den Kugelschreiber. „Kaufen Sie dem nichts ab!“ warnte sie die drei Fremdenführer. „Der ist bloß auf Koks aus!“ Darauf wandte sie sich wieder dem Alten zu. „Schämst du dich nicht, hier aufzukreuzen? Was, wenn Preben dich erwischt?“ Preben verließ die Küche, auf dem rechten Arm die Teller mit Beefsteak und Zwiebel balancierend und in der rechten Hand Tomatenmark, Worcestersoße und Salz haltend. Als er den Alten sah, blieb er stehen und musterte ihn. „Ich habe ihm gesagt, er soll machen daß er weg kommt“, entschuldigte sich seine Frau nervös. Preben ließ die Teller auf den Tisch gleiten, stellte die Gläser daneben und faßte den Alten unter dem Arm. „Hier geht’s lang, Aagesen!“ Die Wirtsfrau schaute den beiden nach, bis sie hinter der Tür verschwanden. Dann sank sie auf einen Stuhl, die Hände schlaff auf den Knien. „Ich dachte, Preben würde ihn umbringen, wenn er ihn noch einmal hier erwischte“, sagte sie in einem Ton, als mißtraue sie ihren Sinnen. Verwirrt starrte sie nach der Küchentür. Den Geräu schen nach zu urteilen, fand dahinter keine Schlägerei statt.
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„Da soll sich einer in Preben auskennen!“ murmelte sie. Nachdem sie die „Borgerstuen“ verlassen hatten, schlugen sie den Weg nach der Havnegade ein. Ein Schiff mit einem schwarzen Strich über der Wasserlinie – vielleicht die „Absalon“ – lief in den Hafen ein. „Ich habe keine Lust, nach Hause zu fahren“, erklär te Marianne. „Es ist alles so öde.“ Plötzlich versetzte ihr Natan einen Stoß. Patrik be griff sofort und tat das Seine, um Marianne gegen die Hauswand zu drängen. „Pssst!“ zischte Patrik.
Gegen die Mauer gepreßt, spähten sie um die Ecke.
Ein gelber Madsenbus rollte langsam die Holbergs
gade entlang. Er blieb vor dem Hintereingang der „Borgerstuen“ stehen, ein Mann sprang heraus und verschwand schnell durch die Tür. Es war Jensen.
„Wollen wir ‘reingehen und uns mit ihm unterhal
ten?“ erkundigte sich Patrik. „Und welchen Zweck soll das haben?“ fragte Natan. Nein, es war kaum anzunehmen, daß sie Jensen durch Gerede ein Geheimnis entreißen würden. „Wir warten, bis er wieder ‘rauskommt, und dann folgen wir ihm“, schlug Patrik vor. „Du bist sehr intelligent“, erwiderte Natan hämisch. „Du kannst ja versuchen, mit dem Bus um die Wette zu laufen“, sagte Marianne. „Seid ihr so dumm oder tut ihr nur so?“ wollte Patrik wissen. „Natürlich müssen wir ein Auto haben. Wartet hier, ich besorg’ uns ein Taxi.“
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„Und wer soll es bezahlen?“ fragte Natan. „Ich habe nur soviel, daß es zur Heimreise reicht. Die paar Kro nen drüber sind kaum der Rede wert.“ Sie zogen sich hinter die Ecke zurück und leerten ih re Taschen. Wenn sie das Geld für die Rückfahrt abzo gen, besaßen sie nicht mehr als zweiunddreißig Kro nen. „Damit kommen wir nicht weit“, gab Patrik zu. „Vielleicht fährt er nur noch ein kurzes Stück“, mein te Natan. Aber darauf konnte man sich nicht verlassen, das war zu riskant. Patrik fand schließlich das Ei des Ko lumbus. „Ihr beide wartet hier, damit er uns nicht entwischt. Ich sause inzwischen nach dem Hafen und pumpe die anderen an. Sie haben ja alle versprochen, mitzuhel fen. Es müssen noch genug Fremdenführer da sein, so daß ich wohl das Geld für ein Taxi zusammenkriege.“ Er verschwand in Richtung Havnegade. Da er es eilig hatte, lief er wie ein echter Sprinter mit geballten Fäu sten, angewinkelten Armen und zurückgeworfenem Kopf nach dem Nyhavn. Er kam sich allerdings ausge sprochen albern vor. Ich bin ein Idiot, dachte er. Aber Gott ist der Beschützer der Toren, wie man be hauptet. Als Patrik um die Ecke der Havnegade bog, waren die Passagiere der „Absalon“ gerade dabei, in die Busse zu steigen. Da sie in Kopenhagen spannende Abenteuer erwarteten, fanden sie es nur natürlich, daß plötzlich ein kräftiger, junger Mann mit kurzem Haar um die Ecke kam und auf die Busse zurannte, als gälte es das Leben. Offenbar war er schon lange auf der Flucht vor irgendwelchen Verfolgern, denn er lief
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schwerfällig und atmete wie ein asthmatisches Nil pferd. Hoffnungsvoll verharrten sie an ihren Plätzen. Der Kurzhaarige blieb vor einem Fremdenführer ste hen, und die Worte, die er heftig atmend hervorstieß, enttäuschten sie nicht. „Ich beschatte da einen Kerl. Kannst du mir ein biß chen Geld pumpen, für ein Taxi?“ Der Fremdenführer konnte nur einen Zehner ent behren, aber die Passagiere verlangten, auch ein Scherflein beitragen zu dürfen. Als Patrik sich nach vielen erstaunten Danksagungen den hilfreichen Spen dern entziehen konnte und auf ein Taxi lossteuerte, klimperte es in seinen prall gefüllten Taschen. Er sank aufatmend neben dem Fahrer aufs Polster und brauch te eine Verschnaufpause, ehe er sein Fahrtziel ange ben konnte. Immerhin, alles lief wie geschmiert. Als das Taxi vor dem Hintereingang der „Borgerstuen“ hielt, warteten dort Marianne und Natan. Sie brauchten bloß einzu steigen, aber sie rührten sich nicht vom Fleck. Erst, als Patrik hinaussprang, merkte er, daß das Taxi genau an der Stelle stand, wo vorher der Bus geparkt hatte. Der Bus war nicht mehr da. „Bezahl den Chauffeur und schick ihn weg“, sagte Natan. „Wir erwischen Jensen doch nicht mehr.“ Patrik war noch immer außer Atem und noch immer irritiert, weil er den Eindruck hatte, sich recht dämlich benommen zu haben. „Ich hetze mir die Seele aus dem Leib“, brüllte er deshalb die beiden an, „und ihr hattet nichts weiter zu tun, als…“ „… mit einem Bus um die Wette zu laufen, was?“ fiel ihm Natan ins Wort. 122
Patrik bezahlte den Chauffeur. „Wir können ja ein Bier trinken“, sagte er, nachdem das Taxi weg war. „Geld haben wir genug.“ Er steckte die Hände in die Jackentaschen und schlug damit gegen seine Hüften. Es klimperte vielversprechend. Marianne war im allgemeinen recht resolut und stets diejenige, die andere tröstete, doch nun lehnte sie sich plötzlich an die Hauswand und brach in heftiges Schluchzen aus. Patrik und Natan betrachteten sie er schrocken, und Natan strich ihr unbeholfen über den Kopf. Patrik versuchte, sie mit der Bemerkung aufzu muntern, daß jede Wolke einen Silberrand habe. Marianne gab so hohe Töne von sich, daß die Möwen verstört von den Fischkuttern aufstiegen. Es dauerte ein Weile, ehe Patrik und Natan merkten, daß sie ir gend etwas sagte. Dann bekamen sie es mit. „Ich will mich amüsieren. Ich will ins .Tivoli’!“ schluchzte sie laut. Natan holte ein großes Taschentuch hervor und wischte ihr die Tränen vom Gesicht, soweit das zwi schen den gespreizten Fingern möglich war. „Natürlich gehen wir ins ,Tivoli’“, versicherte er ihr. „Wir gehen sonstwohin, Hauptsache, du hörst auf zu heulen.“ Sie faßten sie beide um die Schultern und führten sie in Richtung Kongens Nytorv. „Huhuhu“, sagte der Straßenbahnschaffner. „Wie kann man nur an einem so herrlichen Tag Tränen ver gießen!“ „Sie hat Zahnschmerzen“, schwindelte Natan. „Huhuhu!“ jammerte der Schaffner spöttisch. Als sie am Rathausplatz ausstiegen, weinte Marian ne nicht mehr. Ihr Make-up war von dem Orkan total verwüstet, ihre Augen glänzten unter den rot ge 123
schwollenen Lidern, ihre Nase schillerte in allen Re genbogenfarben und war infolge Jensens Faustschlag um einiges größer geworden, und ihr Haar war völlig zerzaust. Als dieses Zerrbild der adretten Fremdenführerin Marianne Vedel vom Trittbrett sprang, landete sie di rekt in den Armen von Kommissar Lundby.
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Hatte Mariannes verschwollenes Gesicht das Mitleid des Kommissars erweckt oder Patriks und Natans tiefe Niedergeschlagenheit? Was es auch war, auf jeden Fall saßen die drei kurz darauf auf dem Barocksofa in Lundbys Büro im Polizeipräsidium, jeder eine Kaffee tasse auf dem Knie und ein Stück Kuchen vor sich auf dem Tisch. „Na, wie steht’s mit den Ermittlungen, verehrte De tektive?“ erkundigte sich Lundby. „Mies“, antwortete Patrik lakonisch. „Am besten wir legen gleich die Karten auf den Tisch“, meinte Natan. Er erzählte die Geschichte mit Jensen, ohne den Versuch zu machen, sich selbst oder die anderen heldenmütiger oder intelligenter darzu stellen, als sie sich erwiesen hatten. „Wenn er wenigstens die Stadt verlassen hätte“, sagte Marianne, „aber er war die ganze Zeit über in Nyhavn. Er hat nicht mal ein schlechtes Gewissen.“ „Ihr Verhalten ist ziemlich unvernünftig“, fand Lund by. „Ich verstehe zwar, daß Sie Koskinen entlasten wollen, aber das ist doch noch lange kein Grund, den erstbesten zu verdächtigen.“ „Alles wies eindeutig auf Jensen hin“, sagte Marian ne. Diesmal kam Lundby mit dem Einwand, daß doch noch mehr Leute als der Chauffeur im Bus gewesen seien. Die Polizei hatte die ominöse Bustour rekonstru iert und ermittelt, daß nur noch zwei Drittel der Touri sten in der „Scala“ angekommen waren. Die anderen hatten sich bereits vorher aus dem Staube gemacht. „Außerdem wissen wir noch nicht, ob der Diebstahl des Pilocarpin mit dem Fall Koskinen zusammen 125
hängt“, sagte Lundby. „Wenn dem so wäre, dann hät ten wir längst einen Hinweis aus irgendeinem Kran kenhaus erhalten. Das ist noch nicht geschehen – bis jetzt.“ Einen Moment herrschte Schweigen. „Ist Koskinen sehr übel dran?“ fragte Natan dann. „Es hat ja so einiges in den Zeitungen gestanden, das nicht gerade zu seinem Gunsten sprach.“ Lundby zögerte. Er war alles andere als mitteilsam, aber die drei Fremdenführer nahmen die Geschichte offenbar sehr ernst, und das gab den Ausschlag. „Ich weiß nicht recht“, räumte er ein. „Er war zwar in der Nacht in Malmö, als dort der Einbruch begangen wur de, und er ist leicht zu lenken. Außerdem muß es ja einen plausiblen Grund dafür geben, daß Corelli ihn verfolgt und dann überfallen hat. Aber solange wir hier in Kopenhagen kein Pilocarpin gefunden haben, kön nen wir kaum etwas unternehmen, da er hartnäckig leugnet.“ Marianne holte tief Luft und fuhr sich mit Natans Ta schentuch energisch über die Nase. Waren sie nicht Heikkis selbsternannte Verteidiger? Da durfte man nicht einfach so dasitzen und heulen. „Haben Sie hier eine Damentoilette? Ich möchte mir die Nase pudern“, sagte sie. Lundby klingelte. Eine freundliche Sekretärin er schien und geleitete Marianne hinaus. Die junge Dame war eine zierliche, blonde Dänin, die ebenso elegant wie selbstsicher aussah. Patrik schaute ihr mit runden Augen nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Danach gab er keinen Ton mehr von sich. Armer Patrik! Seitdem er in der zehnten Klasse der Oberschule von einer pummligen Mitschülerin einen 126
Korb bekommen hatte, behauptete er, die Liebe sei nur ein innersekretorisches Problem. Das Lied von der „Einzigen“ war nicht sein Schlager. Doch nun hatte es nur eines kurzen Moments bedurft, um sich Hals über Kopf in eine niedliche Dänin zu verlieben. Er rang ver stört um sein inneres Gleichgewicht. Marianne kehrte gekämmt, gepudert, lippenstiftre noviert und kampfbereit wieder zurück. Die drei bra chen auf. Patrik verrenkte sich den Hals nach der Se kretärin, aber die Tür zu ihrem Zimmer war zu, und man hörte emsiges Schreibmaschinengeklapper. „Nun wissen wir endlich, worauf es ankommt“, sagte Marianne, als sie wieder auf der Straße standen. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Pilocarpin ermittelt wird, und dann sitzt Heikki fest. Wir müssen uns beei len, um endlich den wirklichen Mörder zu finden.“ Es begann zu dunkeln; als die drei am Kongens Ny torv aus der Straßenbahn stiegen, flammte die Leucht reklame des „Magasin du Nord“ auf, und an der Kreu zung Nyhavn-Bredgade blinkte das große CinzanoSchild von einem Eckhaus. Holberg und Oehlenschlä ger saßen wie immer mit dem Rücken zum „Det Kon gelige Teater“ und schauten sehnsüchtig zum Restau rant „d’Angleterre“ hinüber. Marianne, Patrik und Natan gingen auf der „siche ren“ Seite weiter. Auf der anderen Seite des Kanals erstrahlten all die kleinen Seemannskneipen im Glanz gelber, grüner, roter und blauer Lichter, die von dem schwarzen Wasser reflektiert wurden. Jazzmusik, Schuhplattler, Hillbilly, Mamborhythmen und Foxtrott klänge strömten mit dem Lichtschein heraus und lock ten eine lärmende Menschenmenge an, die sich bei Einbruch der Dunkelheit in dem tagsüber so stillen und 127
leeren Nyhavn sammelte. Es waren vorwiegend Leute ohne bestimmtes Ziel, die gleich aufgescheuchten Ameisen in das erste beste Loch krochen, um schnell wieder herauszukommen und im nächsten zu ver schwinden. Vom „Faergekroen“ zum „Hong Kong“, vom „Safari“ zum „Café West“, von dort zum „Nyhavn 17“, zum „Skipperkroen“ und zur „Havfruen“. Die Be sucher des Nyhavn besuchen kein Lokal, sie machen eine Kneiptour. Rastlos irren sie umher, um irgendwo die kitzelnde Spannung zu finden, von der ganz Ny havn knistern soll, wie alle behaupten. Um den großen Anker auf dem Kongens Nytorv hat ten sich mehrere Menschen versammelt. Die drei ent deckten unter ihnen Brita-Clara und die beiden Wan dervögel. Darauf hasteten sie schnell weiter. Marianne hatte keine Lust, weitere Fragen wegen ihres rampo nierten Aussehens über sich ergehen lassen zu müs sen. Schließlich erreichten sie die nächste Schiffsanlege stelle und langten spät, aber ohne irgendwelche Zwi schenfälle in Malmö an. Die Fremdenführer waren kaum eine halbe Stunde weg, als Lundby eine Mitteilung erhielt, die ihn veran laßte, seinen Wagen vorfahren zu lassen. Wenig später war er zum Kongens Nytorv unterwegs. Eigentlich ge hörte das, was ihn zu diesem Aufbruch veranlaßt hat te, zu den Obliegenheiten des Rauschgiftdezernats, aber die Ordnungspolizei war aufgefordert worden, ihn über alle verdächtigen Rauschgiftfälle zu unterrichten. Nunmehr war etwas eingetreten, was er erwartet hatte. Dort, wo Kongens Nytorv mit dem Nyhavn zusam menstößt, parkten mehrere Streifenwagen, umlagert 128
von Neugierigen. Lundby entdeckte zwischen ihnen die beiden Wandervögel, die ihn im Fall Heikki Koskinen wichtige Hinweise gegeben hatten. Ein Krankenwagen wartete mit eingeschaltetem Blinklicht. Hinten waren gerade zwei Polizisten dabei, eine mit einer Decke um hüllte Trage hochzuheben. „Der rappelt sich bestimmt wieder auf“, sagte einer der Polizisten, „solche Kerle kratzen nicht so leicht ab.“ Lundby nickte und drängte sich durch die Menge um den großen Anker nach vorn. „Wissen Sie, um wen es sich handelt?“ „Laut Aussage einer Zeugin ist der Mann im ganzen Viertel hier bekannt. Früher soll er Seemann gewesen sein, aber in den letzten Jahren wohnte er in einem Ledigenheim und beschäftigte sich nur damit, an Hero in heranzukommen. Der Mann ist physisch völlig her unter.“ „Und das hat niemand gemeldet?“ „Hier kümmere sich jeder nur um sich selbst, hat die Zeugin gesagt. Leben und leben lassen. Sie hat uns nur deshalb geholt, weil sie dachte, er sei tot.“ Lundby kehrte zu seinem Wagen zurück. Das, was er wissen wollte, konnte er erst nach der ärztlichen Untersuchung des Mannes erfahren. „Informieren Sie mich, sobald Sie etwas aus dem Krankenhaus hören!“ Dann fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, nach dem Namen des Rauschgiftsüchtigen zu fragen. „Er heißt Aagesen“, antwortete der Polizist. Lundby nickte und stieg ein. Der Name sagte ihm nichts.
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Schon im Treppenflur merkte Patrik, daß etwas nicht stimmte. Der Hund meldete sich nicht. Normalerweise sprang er ihnen bereits entgegen, wenn der Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. „Malin!“ rief Patrik leise. Auf dem Hof rührte sich nichts, doch als Patrik noch einmal rief, wurde in der Ecke, wo sich die Lattentüren der Klosetts befanden, eine Taschenlampe angeknipst. Der Lichtkegel blendete die drei. Eine scharfe Stimme, der man jedoch deutlich Überraschung und Furcht ent nehmen konnte, fragte: „Was tun Sie hier?“ „Wir wohnen hier“, erwiderte Patrik sanft. Ein Schlüsselbund rasselte, der Lichtkegel glitt von ihren Gesichtern weg und erfaßte das Laubwerk der Bäume. Die drei Ankömmlinge sahen ein Mützenschild blinken – sie hatten den Nachtwächter aufgeschreckt. Er legte die Hand an die Mütze und ging dann auf die Hintertür des Textilgeschäfts zu. „Einen Moment noch“, sagte Patrik leise. Der Nachtwächter machte blitzschnell kehrt, wieder wurde Patrik vom Strahl der Taschenlampe geblendet, dann erfaßte sie Natan und verweilte schließlich unnö tig lange auf Marianne. Offenbar fand der Nachtwäch ter wie jeder andere das Mädchen hübsch und vertrau enerweckend, denn er knipste die Lampe aus und trat näher. „Hier stimmt was nicht“, flüsterte Natan. „Könnten Sie nicht sicherheitshalber mit hochgehen?“ Sie schalteten die Außenlampe und das Treppenlicht ein. Vor ihrer Wohnung entdeckten sie die Ursache für das Schweigen des Hundes. Gegen die Küchentür ge 130
lehnt, saß Arimatea da und schlief, und der zottige Vierbeiner hatte seinen Kopf auf dessen Knie gelegt und schlief ebenfalls. „Soll ich ihn ‘rauswerfen?“ fragte der Nachtwächter. Der Hund erwachte, sprang an Patrik hoch und leck te ihm das Gesicht ab. Auch Arimatea öffnete die Au gen; er starrte erschrocken die Uniform des Nacht wächters an, beruhigte sich aber, als er Patrik und Na tan erkannte. „Wenn er Ihnen lästig fällt, setze ich ihn gerne an die frische Luft“, sagte der Nachtwächter dienstwillig. „Aber ganz und gar nicht“, versicherte Patrik, „er ist eingeladen.“ Marianne faßte den Alten am Arm und half ihm hoch. „Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte sie kurz zu dem Nachtwächter. Der legte wieder die Hand an die Mütze und eilte die Treppe hinunter. Kurz darauf hörten sie seine Schlüssel unten an der Hintertür des Textilge schäfts rasseln. Patrik schloß die Tür auf und ließ Arimatea eintre ten. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und warf sich freudig aufjaulend auf einen Band Henry Miller, der auf dem niedrigen Sofatisch lag. Natan stürzte hinterher. „Laß ihm den“, sagte Patrik. Natan drehte das Buch um, las den Titel und warf es dann auf den Teppich, dem Hund vor die Pfoten. Arimatea schaute sich blinzelnd in den kleinen Räu men um, die Gardinen waren rauchbraun, und auf den Stühlen lagen noch Kleidungsstücke vom Abend vor her. Er musterte interessiert das Bücherregal mit den zerkauten Bänden. 131
„Wie fein es bei euch ist!“ sagte er beeindruckt. Marianne wollte ihm den Mantel abnehmen, aber er hielt ihn mit beiden Händen oben fest. Dennoch nahm sie einen Streifen nackter Haut wahr und begriff, daß er unter dem schmutzigen, aber im übrigen völlig kor rekten weißen Kragen kein Hemd trug. Patrik schob dem Alten einen Sessel zu, aber der weigerte sich, mit seinen staubigen und speckigen Sa chen darin Platz zu nehmen. Er werde doch nicht ihren feinen Sessel dreckig machen, nein, was er zu sagen habe, könne er auch stehend vorbringen! Aber es kam eine Phase in seinem Bericht, wo er seine Schüchtern heit vergaß und sich doch niederließ, weil er merkte, wie sehr er sein Auditorium beeindruckte. „Ihr seid prima Kerle“, begann Arimatea, „bringt ei nem alten Herumtreiber wie mir eine ganze Flasche Kognak! Die anderen Saufnasen da unten behaupten immer, mit der heutigen Jugend sei nicht viel los, kei nen Unternehmungsgeist, sagen sie, aber das mit dem Kognak hat mir mächtig imponiert.“ Er zog ein zerknit tertes Exemplar einer Abendzeitung aus der Tasche. „Ist etwas fettig geworden, weil ich ein paar Butterbro te drin eingewickelt habe, die ich von jemandem krieg te“, entschuldigte er sich, „aber als ich die aß, sah ich zufällig, was da so über den Finnen geschrieben wird.“ Er breitete die Zeitung auf dem Tisch aus und zeigte auf den Artikel, um zu unterstreichen, daß er die Wahrheit sprach. „Ich verzinke keinen“, versicherte er, „die Bullen sollen ihre Arbeit tun, ich bleibe bei meiner. Aber da euch nun mal so viel daran liegt…“ Er schwieg einen Moment, senkte den Kopf und schielte mißtrauisch von einem zum anderen. Sein üp 132
pig wucherndes graues Haar fiel ihm in die Stirn, so daß er wirklich schielte. „Aber ich will nichts mit den Bullen zu tun haben“, sagte er, „ich erzähle das nur euch.“ Marianne nickte ihm beruhigend zu. Patrik und Na tan machten nur verblüffte Gesichter. Sie wußten nichts von der Kognakflasche in Arimateas Kommode. „Der Finne hat in der Nacht nicht in die HusarenApotheke eingebrochen“, erklärte Arimatea. „Wir wa ren nicht mal da in der Nähe.“ Nach diesem Satz ließ er sich in den Sessel fallen. Marianne bettelte und flehte, Natan versuchte es mit der Kunst der Überzeugung und Patrik mit Bestechung. Es war Demokratie in Aktion: Arimatea wurde klar, daß auch er ein wertvoller Mensch sei. Gegen ein Uhr wußte er dann auch, daß er zwischen einem Leben im Verborgenen und voller Gewissensbisse und einem Le ben im Scheinwerferlicht und mit Glorienschein zu wählen hatte. Doch das beeindruckte ihn nicht sonder lich, ersteres war er gewöhnt, und letzteres konnte er sich nicht vorstellen. Schließlich kam Natan zufällig mit dem richtigen Argument: „Wir brauchen ja nicht zur Malmöer Polizei zu gehen. Wir fahren nach Kopenha gen und suchen Kommissar Lundby auf. Er benimmt sich so wenig polizeimäßig, wie ich es bei einem Ge setzeshüter noch nie erlebt habe… empfängt einen in einem Zimmer mit Wellensittichen und serviert einem Kaffee.“ Arimatea versank in tiefe Gedanken. Gespannt ver suchten die anderen, in seinem Gesicht zu lesen; darin stand, daß sie bei dem Alten eine empfindsame Saite angeschlagen hatten.
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„Wellensittiche“, sagte Arimatea verträumt. „Ich hatte früher mal ‘ne Tante in Davidshallstorg. Die hat te auch Wellensittiche.“ Marianne, Patrik und Natan hielten den Atem an, damit sich die sentimentale Anwandlung in dem Alten ungehindert entfalten konnte. Als Arimatea wieder in die Wirklichkeit zurückfand, musterte er das zerrissene Oberleder seiner Schuhe. „Aber mit den Dingern hier kann ich nicht so ‘ne weite Reise machen“, sagte er. Die anderen begriffen, daß er besiegt war. Offenbar hatte die Erinnerung an die Wellensittiche seiner Tante bewirkt, daß der Gedanke von der Fahrt nach Kopen hagen unter seiner grauen Mähne Fuß faßte. „Was zum Anziehen werden wir schon auftreiben“, sagte Patrik. Sie scheuchten Marianne in die Küche, damit sie ih nen etwas zu essen bereitete und aus dem Wege war, wenn Arimatea seine Kleidung wechselte. Ratlos mu sterte sie den Inhalt des blauen Schränkchens über dem Abwaschtisch. Wie sollte sie aus einem paar Kar toffeln, einer angebrochenen Büchse Sardinen, einem halben Weißbrot und einem Stück dänischen Käse eine Abendmahlzeit für vier Personen zustande bringen? Schließlich hielt sie sich mit der linken Hand die Nase zu, stemmte den Ellbogen auf ein Reibeisen, rieb den stinkenden Käse, streute ihn über das aufgeschnittene Brot, schob es in den Backofen, öffnete sperrangelweit das Fenster und holte tief Luft, ehe sie sich an die Sar dinen machte. Patrik tauchte in der Küche auf.
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„Hast du ein bißchen warmes Wasser und eine Schüssel? Er muß sich erst die Füße waschen, ehe er neue Strümpfe anzieht.“ Marianne zündete das Gas an und setzte den Was serkessel auf. Die Gasflamme puffte und zischte, blieb aber brennen. Wie eine Greisin mit Gliederreißen, dachte Marianne. Zu Weihnachten, wenn der erste Frost kommt, zieht sie sich langsam zurück, und im Februar, wenn die Fenster Eisblumen haben und das Mauerwerk vor Kälte knackt, läßt sie sich überhaupt nicht blicken. Dann müssen Patrik und Natan ihre Eier mit Speck drinnen auf dem eisernen Ofen braten. Aber nun, mitten im Sommer, war das Leben in der Landbygatan einigermaßen erträglich. Patrik erhielt seine Schüssel mit heißem Wasser. Als Marianne den Käsetoast und die Sardinen auf ein Ta blett stellte, war er wieder da. Er kippte das schwarze Wasser in den Ausguß und verlangte neues. „Aber der Käsetoast wird kalt!“ „Gib her, wir essen schon immer, bis das Wasser heiß ist.“ Er entschwand mit dem Tablett. Marianne setzte abermals einen Kessel mit Wasser auf, sprang auf den Abwaschtisch und hörte mit knurrendem Magen das Knacken des Toastbrots durch die dünne Wand. Der Kessel begann zu summen. Patrik brachte das Tablett zurück. „Du bist gut“, lobte er sie, „es hat großartig geschmeckt.“ Auf dem Tablett befanden sich nur noch leere Teller und zerknüllte Papierservietten. Marianne machte sich an den Abwasch, in ihrem Magen kollerte es förmlich. Patrik entfleuchte mit dem heißen Wasser. Dann er schien Natan. 135
„Unsere Sachen sind ihm zu groß“, erklärte er. „Ich sause zu Frid und wecke ihn. Er hat etwa die gleiche Größe wie Arimatea.“ Kurz darauf war Patrik erneut in der Küche, um eine undefinierbare Brühe wegzukippen und wieder heißes Wasser zu verlangen. Marianne kam sich vor, als assistiere sie einer Heb amme. Sie mußte ununterbrochen heißes Wasser in Bereitschaft halten. Nun ja, in den Zimmern hinter der Tür wurde ja tatsächlich ein neuer Mensch geboren, ein neuer Arimatea. Nachdem sie das Geschirr gespült hatte, nahm sie wieder auf der einzigen Sitzgelegenheit in der Küche, auf dem Abwaschtisch, Platz. Aus den Zimmern dran gen halblaute Proteste, die in einem Prusten untergin gen, und dann ein ersticktes Stöhnen; offenbar wurde Arimatea kräftig das Gesicht abgerieben. Schließlich zeigte sich Patrik wieder an der Tür. „Gib mir eine Schere!“ forderte er, nun wirklich wie eine Hebamme. Demnach war bald alles überstanden. Natan kehrte mit einem Sakko und einer Hose unter dem Arm zurück. „Einer von uns muß morgen Frids Bus übernehmen“, murmelte er. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, Patrik und Na tan standen links und rechts am Pfosten, sie luden Ma rianne ein, näher zu treten. In dem Zimmer war nicht etwas so relativ Einfaches wie eine Geburt vor sich gegangen, sondern ein Ver jüngungsprozeß. Der vorher wie ein Neunzigjähriger wirkende Arimatea hatte sich in einen Sechzigjährigen verwandelt. Sein Gesicht glänzte rosig, und sein Haar war kurzgeschnitten, wenn auch die Löcher und Stufen verrieten, daß da Amateure am Werk gewesen waren. 136
Frids Jacke war ihm an den Schultern zu eng, saß aber sonst einigermaßen. Zu seinen übrigen Attributen ge hörten ein Hemd von Patrik und ein Paar Schuhe von Natan. Die Schalen, aus denen dieser Vogel Phönix ge schlüpft war, lagen auf dem Bett. Arimatea roch nicht mehr nach Schmutz und getrocknetem Schweiß – er duftete nach Seife und frischem Wasser. Marianne trat den Heimweg an. Arimatea durfte in Patriks Bett schlafen, und Patrik zwängte sich in Na tans, das im Mittelzimmer stand. So ganz sicher waren sie sich des Alten nicht. Wenn sie nicht zwischen ihm und der Tür waren, konnte er womöglich auf den Ein fall kommen, heimlich, still und leise zu verschwinden.
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Kommissar Lundby war nicht anwesend, als sie am nächsten Tag sein Dienstzimmer betraten. Aber die Sekretärin erkannte die drei wieder. Sie bat sie, auf dem Barocksofa Platz zu nehmen; und zog sich mit einem neugierigen Blick auf den vierten, auf Arimatea, zurück. Der Hund öffnete ein Auge, nahm Marianne wahr und wollte wieder einschlafen, als er plötzlich Arimatea entdeckte. Zögernd erhob er sich und trottete näher. Sein Instinkt sagte ihm, daß dieser Mensch eine Type war, der er als guterzogener Polizeihund ins Bein zu beißen hatte. Vorsichtig umkreiste er Arimatea und beschnüffelte ihn. Der Mann fürchtete sich, das merkte er. Vielleicht sollte er ihn nur ein bißchen beißen? Doch der Geruch von Seife und frischem Wasser verwirrte ihn. „Schlaf!“ befahl Patrik ihm mit fester Stimme. Der Hund blieb stehen, äugte zu Patrik hoch, tapste dann zum Schreibtisch und kroch schnaufend darun ter. Er legte zwar den Kopf auf die Vorderpfoten, blin zelte aber unablässig zu den Besuchern hinüber. End lich kam sein Herrchen. Lundby begrüßte die drei Fremdenführer wie alte Freunde, musterte aber die vierte Person ziemlich er staunt, wie der Hund zu seiner Befriedigung feststellte. Darauf schloß er die Augen und sank mit dem ruhigen Bewußtsein in Morpheus’ Arme, die Dinge richtig beur teilt zu haben. Lundby fühlte Arimatea auf den Zahn. Da dieser mit dem Dänischen nicht zurechtkam, fungierte Patrik als Dolmetscher. Die Sekretärin wurde hereingerufen, sie 138
nahm die Aussage Arimateas zu Protokoll. Als der ihre Hand über den Stenoblock fliegen sah, hatte er das Gefühl, jedes Wort werde nur zu dem Zweck festgehal ten, damit es später gegen ihn verwandt würde. Wä ren die Fremdenführer nicht gewesen, hätte er die Beine in die Hand genommen. Mit Geduld brachte der Kommissar den Alten dazu, seine Geschichte einigermaßen zusammenhängend zu erzählen. Danach hatte er Heikki Koskinen vor dem Malmöer Hauptbahnhof gesehen und ihn angespro chen. („Dort lungern oft Alkoholschmuggler herum“, sagte Marianne schnell auf dänisch. „Arimatea saß vielleicht auf dem trocknen.“) Als Arimatea dann durch die Södergatan und Södra förstadsgatan zum Mölle vångstorget zog, hängte sich Heikki an ihn. Auf dem Möllevångstorget gelang es ihm, eine halbe Flasche Selbstgebrannten zu erwischen, die er dann in einem seiner vielen Schlupfwinkel mit dem Finnen teilte, diesmal in einem Haus in der Balzarsgatan. Da Arima tea außer dem Wort „Kopenhagen“ nichts von dem verstand, was der Finne sagte, brachte er ihn am Mor gen zu der Schiffsanlegestelle und ließ ihn dort stehen. Bei der Personenbeschreibung wurde er unsicher. Was er in diesem Zusammenhang vorbrachte, konnte auf jeden x-beliebigen untersetzten Mann zutreffen. Darauf führte Lundby sie in einen Raum, wo sechs mittelgroße Männer in Trenchcoats auf einem Podium standen. Marianne schlug das Herz bis zum Halse, und sie faßte unwillkürlich nach Natans Hand. Nun kam es darauf an! „Erkennen Sie einen dieser Leute wieder?“ fragte Lundby.
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„Den da“, erwiderte Arimatea, ohne zu zögern, und zeigte auf einen Mann. Marianne stieß einen kleinen Schrei aus; Lundby be deutete ihr, ruhig zu bleiben. „Wen meinen Sie? Den zweiten von links?“ Arimatea nickte. Der zweite von links trat vor. Er war mittelgroß, dunkelblond und trug einen Trenchcoat, aber er war nicht Heikki. „Den erkenne ich wieder“, beharrte Arimatea. „Das ist ein Bulle. Er stand vor der Tür, als wir ‘reinkamen.“ Marianne konnte wieder ruhig atmen. Natan spürte, wie ihre Fingernägel in seine Hand drangen, hatte aber nicht das Herz, seine Hand zurückzuziehen. „Ja, und der dritte von rechts ist der Finne, mit dem ich in Malmö zusammen war“, sagte Arimatea. „Gott sei Dank!“ seufzte Marianne. Diesmal war es Heikki. Sie konnten ihn jedoch nicht gleich mitnehmen. „Rufen Sie am Nachmittag nach fünf Uhr an“, sagte Lundby. Heikki hatte also in Malmö keinen Kontakt mit Corel li gehabt. Arimateas Aussage befreite ihn außerdem von dem Verdacht, mit Rauschgiftschmugglern in Ver bindung zu stehen. Dennoch wollte Lundby den Festgenommenen nicht so ohne weiteres laufenlassen; erst mußte er noch mit dem Staatsanwalt sprechen. Bestimmte Indizien im Zusammenhang mit dem Mord an Corelli belasteten Heikki noch immer. Zudem war bewiesen, daß Corelli den Finnen von Malmö an verfolgt hatte. Offenbar war die Erklärung der Fremdenführer richtig: Corelli mußte dem Finnen etwas so Wertvolles in die Reisetasche ge
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schmuggelt haben, daß er ihm deshalb durch ganz Ko penhagen hinterherfuhr. Wo aber war dieser Gegenstand geblieben? Da er weder bei Koskinen noch bei Corelli aufgetaucht war, mußte ihn ein dritter an sich genommen haben. Lundby erwartete den Staatsanwalt zu einer Bespre chung. Die Frage war, ob sie Koskinen unter Anklage stellen sollten oder nicht. Der Kommissar kannte die Antwort schon im voraus: Der Staatsanwalt würde keinen Fall übernehmen, der auf so wackligen Füßen stand. Während er über das Problem nachdachte, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück, faltete die Hände über dem Bauch und streckte die Beine aus. Der Hund hatte den Kopf auf seine Füße gelegt und konnte nicht schlafen. Er spürte, daß sein Herrchen nicht zufrieden war. Bis zum Eintreffen des Staatsanwalts hatte Lundby noch eine halbe Stunde Zeit. Bis dahin mußte er die dritte Person herbeigeschafft haben, denjenigen, der das Pilocarpin an sich genommen hatte. Er brauchte bloß ganz Kopenhagen nach ihm abzusuchen. Mit einem Ruck zog der Kommissar die Beine zu rück, so daß der Hund endgültig erwachte. Lundby drückte auf den Knopf der Sprechanlage und rief: „Der Fuhrunternehmer Madsen hat einen Chauffeur namens Jensen. Er wohnt in der Øster Tvaergade. Bringt ihn her!“ Natan übernahm an diesem Tag Frids Tour, da dieser sein Zimmer nicht verlassen konnte, ehe er seine Ho sen von Arimatea wiederhatte. Deshalb kehrte Natan nach dem Besuch bei dem Kommissar nach Malmö zu 141
rück, um mit dem nächsten Schiff abermals nach Ko penhagen zu fahren und Touristen für Frids Reiseun ternehmen zu „schleppen“. Patrik und Marianne blie ben mit Arimatea in Kopenhagen, um dabeizusein, wenn Heikki auf freien Fuß gesetzt wurde. Vorher gingen sie in die „National Scala“ essen. Ari mateas wegen wollten sie nicht die „Borgerstuen“ auf suchen, denn für den Alten mußte eine Mahlzeit in der „Scala“ ein ungewöhnliches Erlebnis sein. Sie gingen die Treppe zum Holbergshaven hoch und nahmen am Geländer Platz, an einem Tisch mit Aussicht auf das kalte Büfett und den großen Saal, wo die Kapelle eben den Champagnergalopp spielte. Sie freuten sich darauf, Arimatea mit den kulinari schen Delikatessen der „Scala“ zu konfrontieren. Da gab es marinierte Heringe, eingerollt, gefüllt und in Stücke geschnitten, Krebs in Mayonnaise, Krabben auf Eis, geräucherten Aal, geräucherten und gesalzenen Lachs in Öl, Geflügelpasteten, Nierenragout in Weiß wein, Rinderpasteten, mit Käse überbackenen Schin ken in Wein, aufgeschnittene oder ganze Würste, ge räuchert, gekocht und geröstet, Kompotte und Käse. In der Mitte des kalten Büfetts lag die Leiche eines Au erhahns auf einer silbernen Platte. Die Schwanzfedern hatte man ihm gelassen, sonst aber war er bis auf die Haut gerupft worden. Arimatea versorgte sich mit Brot und Butter, machte sodann eine Runde um das Büfett und betrachtete mißtrauisch die verschiedenen kulinarischen Genüsse. Vieles konnte er nicht definieren, denn fast alles verbarg sich in Soßen und Mayonnaisen, wer weiß, als was es sich entpuppte, wenn er es herausangelte. Zum Schluß entdeckte er zu seiner Erleichterung eine 142
Schüssel mit guter, alter Speckgriebenwurst. Er spieß te einen ganzen Stapel davon auf seine Gabel. Die übrigen Gäste betrachteten ihn mit Interesse. Seine schlechtsitzende Kleidung und sein in Stufen ge schnittenes Haar hatten sofort ihre Aufmerksamkeit erregt, und sein Verhalten am kalten Büfett überzeug te sie endgültig: Er war ein berühmter Schauspieler, maskiert für eine Rolle. Sie spitzten die Ohren und hörten, daß er mit den Fremdenführern schwedisch sprach. Also ein berühmter schwedischer Schauspieler. Bald wußten alle im Holbergshaven, daß sie mit John Elfström dinierten. Als der Ober erschien, um die Schüssel wieder auf zufüllen, folgte ihm Brita-Clara auf den Fersen. „Wo habt ihr denn gesteckt?“ fragte Brita-Clara. „Ich habe euch den ganzen Tag über gesucht. Gestern sah ich euch im Nyhavn, aber ihr habt mich nicht bemerkt. Schade, denn da ist einiges passiert.“ „Soso“, sagte Marianne uninteressiert und ein wenig verärgert, weil Brita-Clara offenbar keine Antwort auf ihre Frage hören wollte. „Die haben einen alten Heroinsüchtigen am Anker gefunden“, berichtete Brita-Clara. „Die Polizei war da, und Lundby auch.“ Das elektrisierte Patrik. „Teufel auch, das ist das, worauf Lundby gewartet hat. Das erste Pilocarpin-Opfer, darauf will ich wetten. Hast du noch mehr erfahren?“ „Nichts von Bedeutung, glaube ich. Ja, der Kerl hieß Aagesen, aber das ist wohl nicht weiter wichtig, wie?“ Patrik fuhr auf. „Was ist denn mit dir los?“ erkundigte sich BritaClara. Ihre Frage blieb unbeantwortet. Marianne eilte 143
hinter Patrik her. Nur Arimatea saß da und kaute seine Wurst. Die Leute schauten mit großen Augen. Offenbar spielte sich um John Elfström ein spannendes Drama ab. Ein Dreieckskonflikt.
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Patrik und Marianne fuhren per Taxi zum Präsidium. Lundbys Tür war verschlossen. Im Nebenzimmer saß die Sekretärin vor der Schreibmaschine und sorgte da für, daß der Kommissar ungestört blieb. „Er hat eine Besprechung mit dem Staatsanwalt“, erklärte sie. „Bestellen Sie ihm, daß wir das ganze Problem ge löst haben“, prahlte Patrik. Die Sekretärin lächelte und schrieb weiter. „Wir haben wirklich wichtige Neuigkeiten“, versi cherte Marianne. Die Sekretärin vertippte sich. Gedul dig radierte sie auf allen Kopien, ehe sie sich wieder den beiden zuwandte. „Sie können sich ja setzen und warten. Die sind schon eine Stunde da drin, lange wird es nicht mehr dauern.“ „Arimatea!“ rief Marianne aus. Sie hatten die Verantwortung für den Alten und konnten ihn Brita-Clara nicht bis in alle Ewigkeit über lassen. Patrik hinterließ die Telefonnummer der „Scala“ und bat die Sekretärin, sie dort anzurufen, sowie sich etwas Neues ergab. Dann gingen sie. In der klosterähnlichen Vorhalle blieb Patrik unent schlossen stehen. „Am besten, wir geben ihr die Nummer der ,Scala’“, sagte er. „Die hat sie ja“, erwiderte Marianne verblüfft. „Hast du das schon vergessen?“ „Bist du sicher? Am besten, ich vergewissere mich noch mal.“ Er machte kehrt und sauste die Treppen wieder hoch. Die hübsche Sekretärin war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit er sie das erstemal gesehen hatte. Nun kam er sich wie ein Todeskandidat 145
vor, wie ein Nichtschwimmer, der vom Zehnmeterturm springt. Gleich einem Verzweifelten stürzte er sich in das unsichere Element, um hinter sich zu bringen, was sich nicht umgehen ließ. Er stürzte in ihr Zimmer. Sie saß da und tippte. „Gehen Sie heute abend mit mir essen?“ fragte er ohne Vorrede. Die Sekretärin vertippte sich wieder, radierte abermals auf allen Kopien und sagte dann: „Ein ausgezeichneter Einfall. Holen Sie mich um acht Uhr hier ab.“ Patrik nickte, schluckte und bewegte sich auf die Tür zu. Doch da fiel ihm ein, daß er sich wenigstens vor stellen müsse. „Ich heiße Patrik“, sagte er. „Ich weiß. Ich heiße Ellen.“ Sie lächelte – Herrgott, was für ein Lächeln! – und klapperte weiter auf der Maschine. Irgendwie gelangte Patrik aus dem Zimmer und nach unten. Du bist nicht ganz bei Trost, Junge, dachte er. Du bist sogar ganz schön meschugge. Was soll so ein Mädchen wohl an dir finden? Als sie in die Vesterbrogade kamen, schaute er in die Fenster von „Wivex“. Marianne stellte fest, daß er sich selbst Grimassen schnitt, und glaubte, er habe sich bei einem albernen Einfall erwischt. „Was meinst du, wie die Sache laufen wird?“ fragte sie vorsichtig. „Geradenwegs in den siebenten Himmel“, erwiderte Patrik. Marianne merkte, daß sie von verschiedenen Dingen sprachen. „Es ist klar, sie müssen ihn freilassen“, sag te sie schließlich.
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So sicher waren sie sich ihrer Sache jedoch nicht. Während der nächsten halben Stunde in der „Scala“ liefen sie abwechseln jede Minute in die Garderobe, um zu fragen, ob jemand für sie angerufen habe. „Wenn sie ihn unter Anklage stellen, wird das der Mißgriff ihres Lebens“, sagte Patrik. „Warte nur, bis ich mit Lundby gesprochen habe.“ „Du weißt also, wer der Mörder ist?“ erkundigte Ma rianne sich unsicher. „Du doch wohl auch?“ „Nicht so genau“, gab Marianne zu. „Aber Mädchen, du kannst doch noch zwei plus zwei zusammenzählen!“ Ihren Gesichtern nach zu urteilen, war dazu weder Marianne noch Brita-Clara imstande. Arimatea ver suchte es nicht einmal, er widmete sich noch immer der Speckgriebenwurst. Patrik setzte ihnen alles aus einander. „Wir sind davon ausgegangen, daß der Dieb einen Fehlgriff tat, als er das Pilocarpin stahl, aber das war nicht der Fall. Er nahm das Pilocarpin, weil er den Auf trag hatte, das Pilocarpin an sich zu bringen und nichts anderes. Der Alte in dem Haus gegenüber der ,Borgerstuen’ hat Marianne alles gesagt, wir sind bloß nicht dahintergekommen. Nachdem Prebens Freund ertrunken war, grübelte Preben darüber nach, wie er alle Süchtigen und Schmuggler umbringen könne. Dann hörte er mit seinen Grübeleien auf. und alle nahmen an, er sei über die Geschichte hinweg.“ „Du meinst doch nicht etwa…?“ sagte Brita-Clara. „Doch, genau das, Preben hörte zu grübeln auf, weil er eine perfekte Lösung gefunden hatte. Er wußte, daß es ein Gift gab, das dem Heroin so ähnlich sieht, um 147
sogar Rauschgiftsüchtige damit zu täuschen. Der ein zige Unterschied ist nur, daß man drauf geht, wenn man es statt des Heroins nimmt. Einfach und genial.“ „Teuflisch“, sagte Marianne. „Da er unter den Süchtigen Freunde hatte, wußte er bald, an wen er sich wenden mußte, wenn es um dunkle Geschäfte ging: an Jensen. Der nahm mit Co relli Kontakt auf, vermutlich bereits vor einiger Zeit, als Corelli einmal in Kopenhagen war, und bot ihm ei ne Stange Geld, wenn er ihm das Gift besorge. Darauf schmuggelte Corelli das Gift in Koskinens Reisetasche, und als Marianne vor dem Kunstmuseum vergebens auf Jensen wartete, sprach dieser mit Corelli und er fuhr, daß Koskinen das Pilocarpin bei sich hatte, ohne es zu wissen. Nachdem die Passagiere vor der ,Scala’ aus dem Bus gestiegen waren, beschattete Corelli Koskinen, und Jensen wiederum verfolgte Corelli. Vermutlich fürchtete er, von Corelli hereingelegt zu werden. Als der in Richtung ,Borgerstuen’ ging, wuchs Jensens Mißtrauen. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß Corelli das Gift ohne seine Vermittlung an Preben verkaufen wollte. So kam es zu einem Zusammenstoß und… nun, ihr kennt ja Jensens Bärenstärke und Cha rakter…“ „Aber das sind doch nur Vermutungen“, wandte Brita-Clara ein. „Vielleicht. Aber wir haben einen Beweis, daß Preben das Gift besitzt. Jener Aagesen gehörte zu denen, die Preben aus dem Wege räumen wollte. Wir haben den Mann zuletzt in der ,Borgerstuen’ gesehen – danach fand man ihn im Nyhavn. Und er war hinter Heroin her.“ „Preben gab ihm also… o Herrgott!“ 148
Der Garderobier tauchte an der Tür auf und machte Patrik ein Zeichen. Patrik eilte davon. Die Mädchen warteten bleich und mit unter dem Tisch gekreuzten Daumen. Plötzlich drang ein lautes Brüllen aus der Garderobe, die Tür wurde aufgerissen, und Patrik stürmte, wie ei ne Schiffssirene lärmend, zum Tisch. Der Kellner kniff schmerzhaft die Augen zu. Die anderen Gäste schau ten auf und lächelten verständnisvoll. Ja, ja, Schau spieler! „Sie haben ihn freigelassen!“ johlte Patrik. Ein wilder Tumult brach an dem Tisch aus. Nachdem sich die ersten Wogen der Begeisterung gelegt hatten, kam so etwas wie ein Beschluß zustande: Heikki sollte mit einem Fest willkommen geheißen werden, wie es die Landbygatan noch nie erlebt hatte. „Teufel!“ fluchte Patrik plötzlich. „Das habe ich ja vergessen!“ „Was?“ „Ich habe Lundby nicht gesagt, wer der Mörder ist!“
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Alle Fremdenführer halfen mit, Heikkis Rückkehr in die Freiheit zu einem überwältigenden Erlebnis werden zu lassen. Nachdem sie ihr Geld zusammengelegt hatten, verfügten sie über enorme Mittel. Patrik, Natan, Mari anne, Brita-Clara und Vennerlind kauften in Kopenha gen Spirituosen ein, andere Fremdenführer sorgten dafür, daß alles sicher durch den Zoll gelangte. Die Beamten durchwühlten verzweifelt ihre Reisetaschen, aber keiner der Fremdenführer von den neun Reiseun ternehmen hatte mehr als die zugelassene Höchst menge mit – die Höchstmenge, aber keinen Tropfen darüber. Marianne und Natan, der sie in der „Scala“ gefunden hatte, fuhren vor den anderen zurück, um in der Land bygatan alles vorzubereiten. Patrik hatte darauf be standen, zum Polizeipräsidium zu gehen und Lundby zur Festnahme von Jensen und Preben zu veranlassen. Kleinlaut und zum erstenmal von allen überstimmt, fand sich Brita-Clara mit Arimatea im Büro in der Hav negade ein, wohin Lundby Heikki Koskinen mit dem Polizeiwagen schicken wollte. Auch Pirkko und Eino Ki vilainen waren alarmiert worden. Sie hatten verspro chen, an der Schiffsanlegestelle zu sein und auf dem Fest zu erscheinen. Während Marianne die Wohnung saubermachte und die Wendeltreppe scheuerte, mußte Natan die weniger angenehme Aufgabe erledigen, die Klosetts hinter den Lattentüren auf dem Hof zu schrubben und den Hof selbst zu fegen. Mitten im Schmutz stehend, lachte er plötzlich laut auf. Er erinnerte sich an eine Episode mit Vennerlind. 150
Bei einem Budenzauber in Natans und Patriks Zim mern war Vennerlind mit einem Mädchen aufgetaucht, das die Patriziermanieren von Generationen geerbt hatte. Da die Zusammenkünfte bei Natan und Patrik selten trocken abgingen, dauerte es nicht lange, bis sie Vennerlind zur Seite nahm und sich flüsternd nach der Toilette erkundigte. Vennerlind zeigte ihr natürlich nicht den Verschlag auf dem Hof, weit gefehlt! Er rief ein Taxi, fuhr mit dem Mädchen zum Hotel „Kramer“, bot ihr den Arm und führte sie ins Foyer. Dort zeigte man ihr mit einer eleganten Geste die mit einer weichen Matte belegte Treppe zur Damentoilette des Hotels. Natan lächelte in Gedanken an Vennerlinds Art, das Gesicht zu wahren, und schrubbte emsig weiter. Schließlich hing ein so durchdringender Duft von Seife und Scheuerpulver über dem Hof, daß sich die Zech brüder von selbst aus dem Hausflur entfernten. Als die Dämmerung hereinbrach, hatte sich der Hof verwandelt. An den Treppenfenstern flackerten Stearinkerzen, von der Regenrinne über der Hintertür des Textilge schäfts liefen Leinen kreuz und quer zum Hinterhaus, an denen bunte Laternen hingen und ein Dach über dem Hofbrunnen bildeten, das dort am dichtesten war, wo man einige Bretter aus dem Bodenverschlag über leere Ölfässer gelegt und mit Papierservietten bedeckt hatte. Der Besitzer des Textilgeschäfts war mit allem einverstanden gewesen und hatte einige große Fässer und ein Dutzend Teller beigesteuert. Auf einer Quer seite des „Tischs“ standen Gläser, nicht etwa Patriks und Natans Zahn- und Senfgläser, die sonst bei feierli chen Anlässen zweckentfremdet verwendet wurden, 151
sondern ein Satz aus der „Druvan“, den man sich für den Abend geliehen hatte. Noch fehlten die Speisen und Getränke. Die sollten die Gäste mitbringen. Natan war damit beschäftigt, einen der oberen Bo denverschläge aufzuräumen, die sich hinter der Tür mit der Aufschrift „Die Gräfin quietscht“ verbargen. Er schrubbte und scheuerte anschließend, aber das war recht mühsam, denn diese Verschläge hatten einen etwa dreißigjährigen Dornröschenschlaf hinter sich und sich langsam mit Staub, Spinnweben und einem Mo dergeruch angefüllt, gegen den nicht einmal Natan et was ausrichten konnte, trotz Kraftreiniger. Aber dort war viel Platz, und so stellte er ein Grammophon auf, denn dort sollte getanzt werden. Alle Fenster zum Hof waren offen, um frische Luft hereinzulassen. Natan schaute hinaus und erblickte Marianne. Sie saß in Höhe des Dachfirsts über dem Textilgeschäft in der Linde und pflückte Zweige ab. Um ihr Kleid nicht zu beschmutzen, hatte sie es bereits vor dem Saubermachen ausgezogen und sich Patriks Kü chenschürze umgebunden, die sehr groß war und hin ten und vorne alles bedeckte. Das galt jedoch nur fürs Saubermachen, nicht für Kletterpartien in den Baum. Sie saß bequem auf einem Ast und trällerte: „Ich schaukle mich auf dem höchsten Zweig.“ Patrik kniete hinter dem Bodenfenster und machte einen langen Hals, wie eine Schwalbe, die aus ihrem Nest sieht. Ma rianne hatte lange, kräftige Schenkel, und von seinem Fenster aus ergab sich für Natan auch ein guter Ein blick von oben. „Mach weiter, Peeping Tom!“ rief Marianne übermü tig.
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Natan zog den Kopf ein und schmückte eine Ecke mit Zweigen, die er bereits hochgebracht hatte. Trotz des bevorstehenden Festes war er schlechter Laune. Erst, als er einen Zweig so festklemmte, als wollte er ihn bestrafen, wurde ihm bewußt, daß er auf Patrik wütend war. Der arme Patrik war ebenfalls nicht in bester Stim mung, als er Lundbys Zimmer verließ, um Ellen abzu holen. Voller Selbstbewußtsein hatte er das Zimmer des Kommissars betreten und ihm seine neuesten Kombinationen mitgeteilt. „Rufen Sie das Krankenhaus an“, hatte er ihn aufge fordert, „wenn sich bestätigt, daß Aagesen eine Pilo carpinvergiftung hat, dann ist das der endgültige Be weis.“ „Ich habe das Krankenhaus angerufen“, antwortete Lundby ruhig und mit einem onkelhaften Lächeln, das Patrik außer sich brachte. „Aagesen hat nicht ein Milli gramm Pilocarpin im Körper – nur Heroin.“ „Wie ein geplatzter Ballon zusammensinken“ war ei ne Redewendung, die Patrik schon irgendwo gehört hatte. Nun aber wußte er erst, wie demjenigen zumute war, der diese Metapher auf sich anwenden konnte. Lundby stellte mit Befriedigung fest, wie die Luft aus Patrik entwich. Er hätte ihn am liebsten auch noch mit der Ätzsäure des Spotts übergossen. Völlig erschöpft und verärgert über den Fehlgriff, hatte er nämlich Jen sen nach einem ergebnislosen Verhör wieder auf freien Fuß setzen müssen, so daß seine freundschaftliche Einstellung zu den Amateurdetektiven dem Gelüst ge wichen war, jemandem einen Tritt zu versetzen – am liebsten Patrik. Aber er beherrschte sich.
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Der strahlende Held Patrik hatte sich jedenfalls in einen niedergeschlagenen Tropf verwandelt. Ellen da gegen erwartete ihn elegant und selbstbewußt. Ihr Anblick konnte einem gewöhnlichen, konfektions gekleideten Schweden, der noch dazu stark erschüttert war, vollends den Garaus machen. „Ich möchte nicht gerne in ein zu vornehmes Re staurant“, erklärte sie. Patrik war zuerst empört. Glaubte sie etwa, er wer de sich lumpen lassen? Doch ihre Aufmachung deutete darauf hin, daß sie offenbar Restaurants wie die „Sca la“ und „Wivex“ nicht als zu vornehm ansah. Nach einer langen Diskussion, in der Ellen sehr schnell niederschmetternde Urteile über drei Viertel der Kopenhagener Gaststätten und Bars abgab, sagte sie schließlich: „Marianne hat einmal davon gespro chen, daß ihr ein eigenes Lokal hättet. Können wir nicht dahin gehen?“ Patrik wollte erst protestieren, Ellen war in der „Bor gerstuen“ entschieden fehl am Platze – aber anderer seits mochte sie das ungewohnte Milieu reizen. Kaum waren sie die Stufen zum Billardsalon hinab gestiegen, als er aufatmend konstatieren konnte, daß es gut gewesen war, ihrem Einfall nachzugeben. Ellen war begeistert. Sie drängte sich durch die Spieler und schaute sich freudestrahlend um. Ein Spieler pfiff an erkennend durch die Zähne. Das Speiselokal selbst machte einen ebenso großen Eindruck auf sie, und als die Wirtin mit dem Zusammengeschusterten erschien, geriet sie in Verzückung. Das war doch etwas völlig andres als „Wivex“! Ellen war hübsch, schick und ziemlich verwöhnt, und Patrik befand sich im siebenten Himmel. Aber seine 154
Verliebtheit stand ihm nicht sonderlich. Sie machte ihn linkisch und verlegen. Als er sich umblickte und sich selbst in dem alten, buckligen Spiegel Prebens sah, meinte er, daß es für ihn kaum mildernde Umstände geben könne. Dann fiel ihm Marianne ein, und das verschaffte ihm sowohl ein schlechtes Gewissen als auch etwas Selbst vertrauen. „Ich hielt Marianne für deine Freundin“, sagte Ellen. „Das denkt Marianne leider auch“, erwiderte Patrik. „Die Sache ist ein bißchen kompliziert.“ Er erzählte, wie er sie im Literaturseminar kennen gelernt und mit ihr gemeinsam gebüffelt hatte, bis alle sie zu einem Liebespaar stempelten. „Ich will sie nicht verletzen“, erklärte er. Ihm schwoll der Kamm. Zwar begriff er nicht, was die Mädchen an ihm fanden, aber es mußte wohl eine ganz bestimmte Ausstrahlung sein. Plötzlich vergaß er seinneuerworbenes Selbstver trauen. Aus der Küche drangen Stimmen. Eine gehörte zu Preben und die andere zu Jensen. „Aber müßtest du nicht…“, begann Ellen, wurde aber durch eine Handbewegung Patriks gestoppt. Dann lauschten beide gespannt auf die Worte, die aus der Küche drangen. „Hast du das Versprochene mitgebracht?“ fragte Preben. „Ja, endlich“, antwortete Jensen. „Gestern konnte ich nicht kommen, weil die schwedischen Fremdenfüh rer mir Scherereien machten.“ „Na großartig“, sagte Preben, „ja, ich meine, daß du es besorgt hast. Das Geld hat dir meine Frau wohl schon gegeben?“ 155
„Ja, die Sache ist in Ordnung“, erwiderte Jensen. Patrik war schon auf den Beinen und vorn bei dem Vorhang, der den Gästen den Einblick in die Küche verwehrte. Vorsichtig schob er ihn einen Millimeter zur Seite. Preben stand mit dem Rücken zur Tür am Herd und beschäftigte sich mit der Bratpfanne. Jensen saß ne ben ihm auf einer Bank – auch mit dem Rücken zur Tür. Er zog gerade eine Hand aus der Tasche und holte etwas heraus. Patrik konnte nur sehen, daß es etwas Kleines, Weißes war. Jensen ließ es in den Brotkasten gleiten. Ellen war ebenfalls aufgestanden. Nun schaute sie neben Patrik durch den Spalt. Auch sie sah, daß Jen sen etwas in den Brotkasten legte. Patrik hielt ihr schnell seine Hand auf den Mund, damit sie nichts sag te, führte sie zu der Ecke mit Prebens Porträt zurück und nahm wieder Platz. „Preben, wir möchten zahlen!“ rief er. Erst, als sie bei dem Anker angelangt waren, wagten sie über das Gesehene zu reden. „Deshalb also“, sagte Ellen. „Als Aagesen auftauch te, hatte er das Gift noch nicht. Deshalb gab er dem Alten wohl nur Geld für Heroin. Aber nun soll Lundby ihn auf frischer Tat ertappen!“ „Er glaubt uns ja doch nicht“, meinte Patrik. „Nein, von nun an nehme ich die Sache allein in die Hand.“ „Das tust du nicht“, erklärte Ellen. „Ich will bei der endgültigen Klärung des Falls dabeisein.“
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In der Landbygatan interessierte sich zu dieser Zeit niemand mehr für die endgültige Klärung des Falls. Das Mahl war vorbei, Käse, Schinken, Würste, Krab ben, Hummer, Tintenfische, chinesischer Chow-Chow, dänische Butter und Pumpernickel waren in den Mägen der Festteilnehmer verschwunden. Das Bier war alle, und die Whiskyflaschen mit „Long John“ und „Light Heart“ leerten sich nach und nach. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Nur Heikki, dem das Fest galt, saß still in einer Ecke. Viel leicht hatte er sich noch nicht an den Gedanken ge wöhnt, daß er frei war. Er lächelte tapfer und tat, was er konnte, um zu zeigen, wie überwältigt er war, aber sein zutrauliches Lächeln wirkte nicht ganz echt. Die anderen waren ein wenig enttäuscht. Um ihn aus seinen Grübeleien zu reißen, redeten sie laut und lachten lärmend. Zur gleichen Zeit, als Patrik und Ellen durch den Nyhavn zum Anker gingen, waren die lauten Stimmen und das Gelächter in der Landbygatan jedoch nicht mehr Mittel zum Zweck. Die Gäste hatten Heikki und ihre Enttäuschung vergessen. Oben auf dem Dachboden spielte das Grammophon. Es genügte ihnen, daß Heikki frei war, nur Patrik war vom Jagdfieber gepackt und darauf aus, den Mör der zur Strecke zu bringen. Er trennte sich am Anker von Ellen. Die beiden wollten sich etwas später am „Skipperkroen“ treffen. Solange die „Borgerstuen“ noch geöffnet war, konnten sie gegen Preben nichts unternehmen. Bis vor einer Woche hatte Ellen beim Einbruchsde zernat gearbeitet. Ihre Beförderung zu Lundbys Sekre 157
tärin verdankte sie ihren ausgezeichneten Steno- und Schreibmaschinenkenntnissen, aber außer diesen nützlichen Fähigkeiten hatte sie sich im Einbruchsde zernat auch dieses und jenes angeeignet, was jeman dem, der einen Einbruch begehen wollte, von Nutzen sein konnte. Ihre Familie und Freunde wurden alle Schlüssel los, da sie so schnell nicht an Dietriche herankam. Ein Gla ser, der sie noch als Mitarbeiterin im Einbruchsdezer nat kannte, lieh ihr im Vertrauen auf ihre Ehrlichkeit und gegen das feierliche Versprechen, gut darauf acht zugeben, einen Diamantenschneider. Mit diesen Geräten müßten sie es schaffen, meinte sie. Sie kannte noch eine dritte Art, einzubrechen, nämlich mit Dynamit, aber so weit wollte sie nicht ge hen. Dann warteten sie und Patrik an einem Tisch im „Skipperkroen“ darauf, daß das Licht in der „Borger stuen“ verlosch. Gegen elf Uhr versank die „sichere“ Seite des Nyhavn plötzlich im Dunkel. Sie warteten noch eine halbe Stunde, um Preben und seiner Frau Gelegenheit zu geben, in ihre Woh nung über der „Borgerstuen“ zu gehen und ahnungslos ins Bett zu steigen. Dann machten sie sich auf den Weg. Wie sie in das Lokal eindringen sollten, war Patrik völlig schleierhaft. Ellen übernahm von Anfang an das Kommando. Die Tür zur vorderen Seite wollten sie nicht aufbre chen. Zwar war die Straße um diese Zeit fast men schenleer, aber einige Nachtschwärmer konnten sich immerhin nach dort verirren. Deshalb war es sicherer,
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von der Holbergsgade aus durch die Hintertür zu schlüpfen. Sie spazierten so auffällig harmlos tuend nach dort, daß jeder, der ihnen begegnet wäre, Verdacht ge schöpft hätte. Bis sie in die Holbergsgade einbogen, begegnete ihnen jedoch niemand. Dann allerdings hör ten sie Schritte, und noch ehe sie die Uniform sahen, wußten sie, daß sie von den Stiefeln eines Polizisten herrührten. Patrik zog Ellen in den nächsten Hauseingang. An die Wand gedrückt und hinter einem Pfeiler verborgen, lauschten sie, bis die Schritte verhallten. Doch dann näherten sie sich wieder. Der Schein einer Taschen lampe fiel in den Eingang, erlosch. Die Schritte ent fernten sich in Richtung Kanal. Sicherheitshalber warteten Patrik und Ellen noch ei nen Moment hinter dem Pfeiler. Dann hasteten sie durch den Flur nach dem Hof und stellten fest, daß sie sich an der Hinterseite der „Borgerstuen“ befanden. Dieser Hof erinnerte in vieler Hinsicht an den in der Landbygatan. Das gleiche Kopfsteinpflaster, die glei chen verwahrlosten Hauswände. Eine schmale Stein treppe führte zu der bescheidenen Hintertür der „Bor gerstuen“ hinab. „Laß mich!“ sagte Ellen. Sie hatte die Tasche voller Schlüssel und probierte einen nach dem anderen aus; Patrik wurde zusehends nervöser. Bei dem vierzehnten oder fünfzehnten – er hatte längst zu zählen aufgehört – fiel ihm Marianne ein. Ellen war elegant, reizend und entschlossen, aber bei einem solchen Unternehmen wäre ihm Marianne
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lieber gewesen. Sie wäre bestimmt mit dem Schloß fertig geworden. Endlich hielt er es nicht mehr aus. Ellens Gefummel brachte ihn fast zur Weißglut. Er nahm ihr den näch sten Schlüssel aus der Hand, zwängte ihn ins Schloß und drehte. Es klappte, jedenfalls beinahe. Im letzten Moment verweigerte er jedoch den Dienst. Zurückdre hen ließ er sich auch nicht. Patrik riß und zerrte – der Schlüssel steckte unverrückbar fest. „Na, da wird mein Vater morgen zu Fuß zur Arbeit gehen müssen“, meinte Ellen. „Das war nämlich der Garagenschlüssel.“ „Am besten, wir steigen durchs Fenster ein“, emp fahl Patrik. Das Fenster befand sich nur wenige Dezimeter über dem Kopfsteinpflaster. Ellen kniete sich hin und ließ den Diamantenschneider vorsichtig über den Rand der Scheibe gleiten. Kurz darauf hob sie die Scheibe her aus und kroch als erste durchs Fenster. „Aufpassen!“ flüsterte Patrik. „Vor uns steht das Aquarium!“ Sie bewegten sich seitwärts auf dem Fensterbrett entlang. Der Raum unter ihnen war pechschwarz. „Nun halten wir die Daumen und springen“, flüsterte Ellen. „Wenn wir Glück haben, landen wir weder im Aquarium noch zwischen den Flaschen der Bar.“ „Nein, zum Donnerwetter! Nicht so hastig!“ Ellen setzte sich auf das Fensterbrett und tastete mit den Beinen nach links und rechts. Links spürte sie die Kühle des Aquariumglases. Das rechte Bein stieß auf kein Hindernis. „Ich springe“, flüsterte sie, fürchtete aber im letzten Augenblick eine neue Komplikation. Sie erinnerte sich 160
undeutlich, neben dem Aquarium einige Kästen mit Bierflaschen gesehen zu haben. Sie stieß sich deshalb kräftig ab, schloß die Augen und warf sich nach vorn. Es ging gut. Sie landete weich mitten im Raum. Auf den Knien weiter kriechend, flüsterte sie: „Spring!“
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Zur gleichen Zeit prosteten sich Heikki und Arimatea an dem Tisch in der Landbygatan über Frids Kopf hin weg freundschaftlich zu. Frid, der zwischen ihnen hockte, hatte die Arme auf den Tisch gelegt. Er schnarchte. Die Fremdenführer hatten ihm ein Paar neue Hosen besorgt, damit er an dem Fest teilnehmen konnte. In Natans Zimmer weinte Vennerlind über einem Krimi. „Ist der so gut?“ fragte Marianne, die mit Natan hereinkam. Vennerlind gab einen Laut von sich, der sowohl Zu stimmung als auch Protest bedeuten konnte. Gut oder nicht gut, das war Vennerlinds ewiges Dilemma. Das Buch handelte von einem armen Flüchtlings mädchen, das nach gräßlichen Strapazen nach England gelangte. Sie war eine Waise und so arm, daß sie als Dienstmädchen bei einer alten Dame arbeiten mußte. Die alte Dame wurde ermordet und das Mädchen unter Anklage gestellt. Das arme Kind konnte sich nicht ver teidigen, denn es hatte gerade einen Unfall erlitten und das Gedächtnis verloren. Das war außerordentlich ergreifend. Vennerlinds Au gen brannten, seine Kehle wurde trocken. „Wenn die ses Buch nicht gut ist, dann fresse ich einen Besen“, murmelte er vor sich hin. Sobald die Bibliotheken am Morgen aufmachten, würde er hingehen und in einem Handbuch nachschla gen, um sich über den Autor und seinen Rang zu in formieren. „Wo ist Patrik eigentlich?“ erkundigte Marianne sich. „Er feiert mit Lundbys Sekretärin“, sagte Vennerlind. 162
Natan warf ihm einen mörderischen Blick zu und widmete sich sodann der Aufgabe, Marianne zu trö sten. „Vennerlind erzählt Märchen“, versicherte er ihr, als sie zusammen auf dem laubgeschmückten Dachboden tanzten. „Das ist mir völlig schnuppe“, sagte Marianne wahr heitsgemäß. „Ich war nie in Patrik verliebt.“ Natan war gerührt. Er nahm ihre Worte als einen Versuch, über ihren verletzten Stolz hinwegzutäu schen, und zog sie mitleidig fester an sich. Marianne fand es sehr schön, sich enger an Natan zu schmiegen, nachdem das Mißverständnis über sie und Patrik endlich aufgeklärt war. Sie nahm die Gele genheit wahr, faßte Natan um den Nacken und küßte ihn. Er sträubte sich anfangs, aber nicht lange. Als sie ihn losließ, erinnerte er an einen Ertrinkenden, der zum letztenmal an die Oberfläche gelangt, ehe er end gültig versinkt. „Ich pfeife auf Patrik!“ bekräftigte Marianne trium phierend. Natan zog sich von ihr zurück. „Das darfst du nicht tun!“ sagte er heiser. „Du darfst mich nicht küssen, nur, um dich an Patrik zu rächen.“ Hals über Kopf eilte er die Treppe hinunter. Verdammter Patrik! dachte Marianne. Patrik saß zur selben Minute unter dem großen, dunk len Eichentisch in der „Borgerstuen“ und dachte: Ver dammte Ellen! Er war ebenso gesprungen wie sie, nur war sein Körper schwerer und seine Beine länger. Er hatte sich den Kopf an dem Stammtisch gestoßen.
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„Versuch, einen Lichtschalter zu finden!“ fauchte er. Er blieb sitzen, wo er saß, und hörte, wie sie durch den Raum tappte. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandle rin in einem Stummfilm, hielt beide Arme nach vorn ausgestreckt und tastete erst mit den Füßen, ehe sie den nächsten Schritt tat. Plötzlich stieß sie mit der Fußspitze gegen ein Stuhl bein. Vorsichtig wich sie nach rechts aus. Sie merkte, daß sie die Schwelle zum Billardsalon erreicht hatte. Dort drin war es heller. Durch die niedrigen Kellerfen ster sah man die bunten Lichter der Seemannsknei pen. Ellen faßte mit der Hand hinter den Türpfosten, fand aber keinen Schalter. Darauf wandte sie sich wieder nach links, ins Dunkle, und untersuchte die Wand hin ter einer Tischgruppe. Plötzlich verstummte das Geräusch ihrer vorsichti gen Schritte. Patrik hörte einen Laut, der ein Mittelding zwischen einem erstickten Aufschrei und einem Gur geln war. Ellen tastete entsetzt einen Gegenstand ab, auf den ihre Finger gestoßen waren. Er war kalt und steif. Sie spürte die Rundung einer Wange… ein Paar Augenhöh len… einen Nasenrücken… einen Mund, der offen zu sein schien… Plötzlich schrie sie los, gellend, langgezogen. Der Schrei durchschnitt die Stille des Viertels um die Hol bergsgade, drang an das Ohr des Streife gehenden Po lizisten und schreckte Preben und seine Frau auf. Der Polizist unterbrach seinen Rundgang und eilte zurück, Preben und seine Frau warfen sich die Mor genmäntel über, schlichen die Treppe nach unten und öffneten die Tür zum Billardzimmer, um den Polizisten 164
hereinzulassen. Der Schrei war inzwischen verstummt. Aus dem Nebenzimmer drang Schluchzen. Preben drehte am Lichtschalter, und alle Räume er hellten sich auf einmal. Das Schluchzen hörte ebenfalls auf. Als sie vorsichtig hinter dem Polizisten nach dem Speiseraum gingen und um die Ecke der Türöffnung spähten, hörten sie ein keuchendes „O!“. Verdutzt blieben die anderen stehen. Die Szene, die sich ihnen bot, kam ihnen sehr unwirklich vor. Unter dem großen Eichentisch saß ein junger Mann und warf wütende Blicke um sich, und an der rechten Wand stand eine junge Dame und starrte ungläubig auf Prebens Eingeborenenmasken. Preben wollte die beiden laufenlassen. Das könnte dir so passen, dachte Patrik. Je eher du uns und den Polizisten los wirst, um so besser für dich. Er verlangte kategorisch, Lundby herbeizurufen. Der Polizist war beleidigt. Glaubten die beiden etwa, er sei nicht imstande, einen Einbruch aufzuklären, nachdem er die Täter auf frischer Tat ertappt hatte? „Dieser Fall ist unsere Sache“, sagte er. „Damit brauchen wir nicht die Kripo zu behelligen.“ „Ich bin Lundbys Sekretärin“, erklärte Ellen. Das entschied die Sache. Während sie auf Lundby warteten, zog sich die Wir tin an. Preben ging in die Küche, um Kaffee zu kochen, hartnäckig gefolgt von Patrik, der vor dem Brotkasten Aufstellung nahm und Preben nicht aus dem Auge ließ. Ihm war klar, daß Preben nur deshalb Kaffee kochte, um allein in der Küche zu sein. Das Unternehmen war zwar ziemlich schiefgegan gen, aber noch war nicht alles verloren. Prebens offen sichtliches Verlangen, allein in der Küche zu sein, war 165
der Beweis dafür, daß er bisher noch nicht auf den Ein fall gekommen war, den weißen Umschlag aus dem Brotkasten zu entfernen. In dem Bewußtsein, zum Schluß doch noch ein Ka ninchen aus dem Jackenärmel zu schütteln, ließen sie die Schimpfkanonade geduldig über sich ergehen, die Lundby auf sie losließ, nachdem er übernächtig und gereizt erschienen war. „Ich hätte mir ja denken können, daß ihr noch mehr Unfug anrichten werdet“, war sein erster Kommentar gewesen. Patriks Versicherung, daß sie wichtige Beweise für ihre Theorie hätten, hörte er sich mit resigniertem Kopfschütteln an. Darauf holte Patrik den Brotkasten und stellte ihn sowohl ärgerlich als auch triumphierend vor Lundby auf den Tisch. Ellen beobachtete unterdessen Preben. Als der Brot kasten auf dem Eichentisch stand, zeigte Prebens Ge sicht einen Ausdruck völliger Verblüffung. Offenbar wurde ihm erst jetzt klar, worum es überhaupt ging. „Hier ist das Pilocarpin drin“, erklärte Patrik. Preben servierte den Kaffee, Lundby schlürfte das heiße Getränk und kümmerte sich nicht im mindesten um den Brotkasten. „Das Geld, das wir bei Jensen fanden, hatte er für das Pilocarpin erhalten“, berichtete Patrik. „Die Vermu tung war richtig. Und heute nachmittag lieferte er das Gift ab. Wir haben gesehen, daß er es in den Brotka sten schob.“ „Pilocarpin!“ äffte Lundby ihn nach und zog eine Grimasse. Dann schnitt er ein Brötchen auf, bestrich es mit Butter und fuhr fort: „In dem Brotkasten da ist kein Pilocarpin. Und das Geld in Jensens Schreibtisch 166
schublade gehörte wirklich Madsen. Wir haben es nachgeprüft.“ Patrik hatte vor der Polizei im allgemeinen und vor Lundby im besonderen einen tiefen Respekt, aber nun ging ihm der Kommissar zu weit. Nach all dem, was Ellen und er wegen des Brotkastens ausgestanden hat ten, warf er nicht einmal einen Blick darauf! „Wollen Sie nicht wenigstens den Kasten öffnen?“ brauste er auf. Lundby musterte ihn aufmerksam. Auf Patriks Stirn wuchs eine blauschimmernde Beule, und seine Augen füllten sich mit den Tränen der gekränkten Unschuld. Er glich einem Bernhardinerhund, der meilenweit mit seinem Rettungsbeutel um den Hals durch den Schnee gestapft war und sich dann anhören muß, daß er stö re. „Na, geben Sie das Ding her“, sagte Lundby. „Doch ehe ich den Kasten öffne, will ich Ihnen nur mitteilen, was ich heute nachmittag von der Malmöer Polizei er fahren habe: Der Einbruch in der Husaren-Apotheke ist aufgeklärt.“ „Aber…“, stammelte Patrik. „Die Diebe waren zwei Jungen, einer nicht älter als dreizehn. Nachdem sie in der Zeitung gelesen hatten, was ihnen in die Hände gefallen war, versteckten sie das Gift in einer Garderobe. Dort hat es gestanden, bis die Polizei es fand. Weder Koskinen noch Corelli hatte etwas mit dem Pilocarpin zu tun.“ „Aber wir haben doch gesehen…“, sagte Ellen. Sie und Patrik wechselten einen Blick. Waren sie vielleicht durch reinen Zufall auf eine heiße Heroinspur gekommen? Versorgte Preben Aagesen und die ande
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ren mit dem Rauschgift? War Preben vielleicht selbst Rauschgiftschmuggler? „Zügelt eure Phantasie“, ermahnte Lundby die bei den. Konnte er Gedanken lesen, oder dachte er dasselbe? „Woher Aagesen das Heroin hatte, erfahren wir von ihm nie. Darüber schweigen sich Süchtige wie er aus. Aber wir wissen, daß er an verschiedenen Stellen um Geld gebettelt hat, nachdem er die ,Borgerstuen’ ver ließ. Die Polizei sitzt schließlich auch nicht untätig her um, auch, wenn wir keineswegs bei anderen Leuten einbrechen.“ Er öffnete den Brotkasten und steckte seine Hand hinein. „Damit also wollte Preben die Menschheit nach eurer Meinung ausrotten!“ sagte Lundby und zeigte den bei den einen Umschlag. Er war tatsächlich weiß, aber er enthielt zwei Karten für die Sonnabendvorstellung im „Ny Ravnsborg teatern“.
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„Nun bittet Preben hübsch um Entschuldigung“, sagte Lundby. „Und dann wird die Fensterscheibe bezahlt!“ Das Geld nahm Preben gerne entgegen, aber von einer Entschuldigung wollte er nichts hören. Er brach in schallendes Gelächter aus, nachdem ihm die Zu sammenhänge klargeworden waren, und solange sie noch zusammensaßen, gluckste es immer wieder in seiner Kehle. Auch seine Frau lachte, ihr Gesicht wurde förmlich lebendig. Sie hatte vorher, als alle auf Lundby warteten, ein ordentliches Make-up aufgelegt, nun wirkte sie neben dem armen Preben, der noch recht verschlafen und ungekämmt war und dessen gestreifte Pyjamahosen unter dem Morgenmantel hervorlugten, auffallend jung und schön. Nur ihr Hals verriet, daß sie nicht mehr zu den Jüngsten gehörte. Sie sollte kein Kleid tragen, das am Hals offen ist, dachte Ellen, besser, sie hielte es oben mit einer Bro sche zu. Ellen und Patrik lachten mit, froh darüber, so billig davongekommen zu sein. Nur Lundby blieb verdros sen. Alter Bärbeißer, dachte Ellen. Aber dann wurde ihr klar, was es für ihn bedeutete, daß der Einbruch in die Husaren-Apotheke nichts mit dem Mord im Nyhavn zu tun hatte. Er war faktisch nicht einen Schritt vorangekommen. Alle Spuren, de nen er gefolgt war, um den dritten Mann zu finden, waren im Sande verlaufen. Er hatte tatsächlich keinen Grund zum Lachen. Als ihr das aufging, nahm sie Lundby gegen ihre früheren Gedanken in Schutz, sie lief zu ihm über. 169
Plötzlich ärgerte es sie, daß sich Preben und seine Frau so amüsierten, während der Fall noch gar nicht abge schlossen war. Sie fand die Fröhlichkeit der beiden übertrieben. Ih re und Patriks Handlungsweise war gar nicht so ko misch, wie es den Anschein hatte, als Lundby zutage förderte, was in dem Brotkasten lag. Bisher hatten ja alle Spuren in bezug auf den dritten Mann zur „Borger stuen“ geführt. Plötzlich hatte sie einen Einfall, den sie zunächst weit von sich wies; aber je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, daß sie auf die Lösung gestoßen sein mußte. Wenn man alle Spuren ausschloß, die sich bisher als falsch erwiesen hatten, so blieb nur noch eine winzige Spur übrig – und die deutete ja noch immer auf die „Borgerstuen“! In der Zeit, die zwischen dem Mord und der Entdek kung der Leiche verstrichen war, hatte sich tatsächlich eine dritte Person in der Holbergsgade befunden, und die Polizei wußte das auch. Alles paßte zusammen, Prebens Verblüffung, als er merkte, daß sie es auf den Brotkasten abgesehen hat ten, die unvollständige Aufmachung seiner Frau und ihre auffällige Fröhlichkeit jetzt – eine Fröhlichkeit, die auf Erleichterung beruhte. „Ich muß mal kurz zum Präsidium“, erklärte sie. „Trinken Sie einen in der Zwischenzeit, ich bin gleich wieder da.“ Lundby ließ ihr den Willen, verlangte aber, daß sie mit dem Polizeiauto nach dort fuhr und einen Polizisten als Eskorte erhielt. Ellen war nach einer knappen halben Stunde wieder zurück. Sie hielt ein Schriftstück in der Hand, das den 170
Stempel des Einbruchsdezernats trug. Ohne ein Wort legte sie es vor Lundby auf den Tisch. Der Rückschlag mit dem Brotkasten hatte ihr die Lust auf dramatische Effekte genommen. Lundby las, wußte aber nichts mit dem Schriftstück anzufangen, das eine detaillierte Aufstellung enthielt. „Das war eine der letzten Anzeigen, die ich noch bear beitete, ehe ich versetzt wurde“, erklärte Ellen. „Fra gen Sie die Wirtin, ob sie weiß, was das ist.“ Lundby unterwarf die Wirtin einem Verhör, aus dem sie mit rotgeweinten Augen und erleichtert hervorging. Die fehlende dritte Person, die in dem Drama so viel Verwirrung gestiftet hatte, war gefunden. Das Fest in der Landbygatan war in die zweite Runde gekommen. Wenn Natan und Patrik bei sich etwas veranstalteten, war es oft so, daß die Gäste gegen Mit ternacht müde wurden und daran dachten aufzubre chen, aber um die ersten Morgenstunden erwachten sie dann zu neuen Taten und begannen nachzuholen, was sie in den schläfrigen Stunden versäumt hatten. Frid schnarchte natürlich. Neben ihm saß Vennerlind am Tisch und erzählte Heikki Koskinen den Inhalt des Krimis; die Getränke und die späte Stunde hatten ihn vergessen lassen, daß Heikki kein Wort Schwedisch verstand. Heikki nickte und lächelte und erhob keine Einwände. Es war lange her, daß Vennerlind einem so interessierten Zuhörer begegnet war. Arimatea erwachte zu der Einsicht, daß morgen auch noch ein Tag sei – eigentlich war es bereits Mor gen. Still und zufrieden sammelte er leere Flaschen für seine Kommode ein.
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Brita-Clara, Marianne, Pirkko und Eino Kivilainen sowie Natan probierten auf dem Dachboden eine neu en Tanz aus, den Brita-Clara erfunden hatte. Der erste, der Patrik, Ellen, Lundby und einen Mal möer Kriminalbeamten durch den Flur kommen sah, war Arimatea. Er kniete gerade vor seiner Kommode und grübelte über das Problem nach, ob sich die Häu ser in der Mäster Johansgatan zur Aufnahme leerer Flaschen eigneten oder nicht. Als er Lundby erblickte, reagierte er mit einem schlechten Gewissen, wie im mer, wenn er auf einen Polizisten stieß. Doch Lundby nickte ihm nur freundlich zu, er interessierte sich ab solut nicht für Arimateas Kommode. Die Männer betraten den Hof. Vennerlind schaute auf und sah Patrik vor sich. Er unterbrach seine Erzäh lung, um zu fragen, wo er solange gesteckt habe, war sich dann aber nicht sicher, ob Patrik überhaupt weg gewesen war. Lundby sagte ihm nichts, er hatte ihn nie gesehen. Er nahm den Faden seiner Geschichte wieder auf und machte Heikki klar, daß sich der junge Kriminalkom missar in das Mädchen verliebte und… Heikki hörte nicht mehr auf den Schall seiner Worte. Er starrte Lundby erschrocken an, lächelte dann aber, wie er jedermann anlächelte. Lundby nickte ihm zu und wandte sich dann an Vennerlind. „Ist Eino Kivilainen hier?“ „Er ist da oben“, sagte Vennerlind und zeigte nach dem Dachboden, aus dessen Fenster laute Musik schallte. Dann wollte er weiter von der Liebe des jun gen Kommissars zu dem Mädchen erzählen, aber Heikki achtete nicht mehr auf ihn.
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„Ich hole ihn“, sagte Ellen schnell. Sie wäre am lieb sten vor dem, was sich nun bald abspielen würde, da vongelaufen. Ein Schnellboot der Küstenwache hatte sie über den Sund gebracht. Während der Fahrt war es ihr gelun gen, sich gut zu beherrschen, da sie wußte, daß Lund by aus der Rolle fallen würde, wenn sie sich weiterhin kindisch aufführte. Nun aber sehnte sie sich nur nach einem stillen Winkel, wo sie sich verkriechen und aus weinen konnte. Was jetzt folgte, war nämlich alles ihre Schuld. Hätte sie ihrer naiven Sucht nicht nachgege ben, sich als tüchtig erweisen zu wollen, wäre der Fall Corelli wahrscheinlich als unaufgeklärt zu den Akten gelegt worden. Die Tanzenden nahmen keine Notiz von ihr. Ellen mußte Eino Kivilainen erst am Ärmel ziehen, damit er auf sie aufmerksam wurde. „Lundby ist unten, er möchte, daß Sie herunter kommen.“ Die Tanzenden erstarrten in grotesken Stellungen, die Ellen sonst zum Lachen gereizt hätten, aber nun war sie nicht in der Stimmung. „Was will er von mir?“ fragte Eino. „Das werden Sie schon hören. Kommen Sie.“ Ellen wirkte brüsk und unfreundlich. Die anderen be trachteten sie erstaunt. Dann ging Eino Kivilainen, ge folgt von den anderen, zur Tür. Natan wollte eben als letzter den Boden verlassen, als er hinter sich ver dächtige Laute hörte. Er drehte sich um und sah Ellen in einer Ecke unter einem Lindenzweig kauern. Tat sächlich, das Mädchen weinte! Natan konnte weinende Mädchen einfach nicht ertragen. Er holte sein Taschen tuch hervor und kroch zu ihr in die Ecke. 173
„Nun, nun“, sagte er besänftigend. Lundby schenkte den Fragen, die ihm die anderen von allen Seiten zuriefen, als sie die Treppe herunter kamen, nicht die mindeste Beachtung. Er ging gera denwegs auf Eino Kivilainen zu und machte eine Geste in Heikkis Richtung. „Sagen Sie ihm, daß er uns folgen muß“, sagte er. „Er ist verhaftet.“
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Lundby und der Malmöer Kriminalbeamte führten Heikki ab. Sie überließen es Patrik, den anderen die Zusammenhänge zu erklären. Anfangs hatten die Amateurdetektive richtig kombi niert, dann aber waren sie durch vage Vermutungen in die Irre geführt worden. Luigi Corelli hatte wirklich versucht, etwas nach Ko penhagen zu schaffen, was die Zollbeamten nicht fin den durften. Deshalb ließ er die „heiße Ware“ in Heik kis Tasche gleiten, weil sie zufällig in seiner Reichweite war, als er zur Kontrolle gerufen wurde. Danach such te er nach einer Gelegenheit, den Gegenstand wieder an sich zu bringen. Auf dem Schiff konnte er Heikki nur im Auge behalten. Hätte er ihn dort überfallen, wäre es zu einem Tumult gekommen, der sicherlich mit seiner Festnahme geendet hätte. Er mußte also bis nach Kopenhagen warten. In der Havnegade zeigte sich jedoch, daß Heikki Koskinen einen Platz in Mariannes Bus gebucht hatte. Corelli blieb nichts anderes übrig, als das gleiche zu tun. Später setzte er sich einfach neben Koskinen, weil er hoffte, unter irgendeinem Vorwand an dessen Ta sche zu gelangen. Das scheiterte jedoch an dem Pro test desjenigen, der den Platz neben Heikki innehatte. Als die Fahrgäste den Bus vor der „Scala“ verließen, rechnete Corelli damit, daß Heikki Koskinen nun auf eigene Faust durch Kopenhagen bummeln würde. Doch der hielt sich weiterhin an die Fremdenführer. Das war für Corelli eine böse Überraschung. Er verfolgte sie bis zur „Borgerstuen“ und postierte sich an der Straßenecke. Wäre Koskinen in Gesell 175
schaft der Fremdenführer wieder herausgekommen, hätte Corelli ihn vermutlich bis nach Malmö zurückbe gleitet. Aber diesmal hatte er Glück – oder eigentlich Unglück, wenn man in Betracht zog, was dann ge schah. Koskinen kam allein heraus. Corelli benutzte die Gelegenheit. Er ließ Koskinen vorbei und schlug ihn von hinten nieder. Dann entriß er ihm die Reisetasche. Bis dahin hatte Heikki Koskinen die Wahrheit gesagt. Alles andere war erfunden. Alles deutete darauf hin, daß Koskinen den Italiener umgebracht hatte. Offensichtlich war kein anderer mit ihm in Berührung gekommen. Die Blut- und Schleif spuren an der Stelle, wo Koskinen überfallen worden war, bewiesen, daß man ihn auch dort getötet hatte. Wenn der Mörder ein anderer als Koskinen gewesen war, mußte der Corelli nach der Stelle zurückgelockt haben, von der aus der Italiener nach Koskinens An gaben in einen Hausflur geeilt war. Das klang sehr unwahrscheinlich. Der einzige Haken war, daß sich der in Koskinens Tasche geschmuggelte Gegenstand weder bei ihm noch bei Corelli noch irgendwo anders am Tat ort befand. Die Fremdenführer konnten bezeugen, daß der Finne nichts Besonderes bei sich hatte, da sie ihn ja nach dem Überfall praktisch visitierten. Demzufolge blieb nur die Möglichkeit offen, daß eine dritte Person den Gegenstand an sich genommen hat te. Die vermutete Existenz dieser dritten Person war entscheidend – Koskinen wurde freigelassen. Wenn die Fremdenführer, oder richtiger Patrik und Ellen, die Sache nicht weiter verfolgt hätten, wäre es auch dabei geblieben.
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Deshalb vergoß Ellen so bittere Tränen. Durch ihre Schuld war es gelungen, den unbekannten Dritten zu finden. Damit verflüchtigten sich die wenigen Fakto ren, die zu Heikki Koskinens Gunsten sprachen. Nun mehr ließ sich der Hergang genau skizzieren, und der war so: Corelli durchwühlte hastig die Reisetasche nach dem Gegenstand, der das richtige Format hatte. Zuerst stieß er auf eine Streichholzschachtel, die er einfach in seine Tasche steckte. Dann erwischte er die gesuchte Schachtel und öffnete sie, um nachzusehen, ob ihr Inhalt noch da war. Aber inzwischen war Koski nen wieder zu sich gekommen und auf den Beinen. Koskinen war der Schreck heftig in die Glieder ge fahren. Schon vorher war ihm Kopenhagen und der Nyhavn unheimlich gewesen. Doch seine Reaktion un terschied sich von der anderer Menschen, die vor Furcht nicht aus noch ein wissen, dahingehend, daß er nicht davonlief, sondern instinktiv mit den Fäusten auf denjenigen losschlug, der ihn überfallen hatte – für einen Boxer mit zwei Meisterschaftstiteln eine völlig natürliche Handlung. Er verteidigte sich also. Corelli wurde offenbar überrumpelt. Er ließ fallen, was er in der Hand hielt, um der Attacke zu begegnen. Reisetasche und Schachtel mit Inhalt lagen auf dem Pflaster. Darauf wurde er regelrecht knockout geschlagen, stürzte zu Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf den Bordstein. Als Koskinen sah, was geschehen war, verlor er vollends die Übersicht. Er hatte nur eins im Sinn: den Toten zu verstecken. Seine Handlungsweise erinnerte an die eines Kindes, das einen zerbrochenen Gegenstand verbirgt, um nicht bestraft zu werden. Dann nahm er seine Reisetasche auf und eilte in die 177
„Borgerstuen“ zurück, um bei denjenigen Schutz zu suchen, die sich bereits vorher um ihn gekümmert hatten. Die Schachtel mit dem nach Kopenhagen ge schmuggelten Gegenstand lag noch immer auf dem Pflaster. Als Prebens Frau mit ihren belegten Broten zurückkam, sah sie zwar keine Spur von einem Kampf, dafür aber die Schachtel. Sie nahm sie einfach an sich. „Aber was war drin?“ fragten Marianne und BritaClara gleichzeitig. „Wir haben es direkt vor der Nase gehabt“, antwor tete Patrik. „Wir mit unserem Pilocarpin! Es war eine Brosche. Prebens Frau dachte gar nicht daran, sie zu verbergen. Sie gefiel ihr, und da sie gerne ein wenig brillierte, steckte sie die Brosche an. Sie kam auch nicht darauf, daß etwas, was so achtlos auf der Straße gelegen hatte, wertvoll sein könne. Erst bei unserem Einbruch ging ihr auf, daß es vielleicht doch anders war. Sie und Preben glaubten nämlich, wir seien hinter der Brosche her. Deshalb steckte sie die nicht an, als sie sich anzog, bevor Lundby aufkreuzte.“ „Und wo hatte Corelli die Brosche her?“ fragte Mari anne. „Die Frau seines Chefs wurde die Brosche auf einem Betriebsfest los. Es war kein sehr kostbares Schmuck stück, aber immerhin wertvoll genug, daß sie eine An zeige machte und daß Corelli den guten Koskinen da mit nicht einfach davonziehen lassen wollte.“ „Na ja, dann hat Heikki ihn wohl wirklich umge bracht“, gab Marianne zu. Sie fühlte sich sehr müde, nicht nur wegen der Vorbereitungen zu dem nun in ein makabres Licht geratenen Fest. Am liebsten hätte sie sich in einer finsteren Garderobe verkrochen und vier 178
zehn Tage lang vor allem die Augen verschlossen. „Da haben wir uns nun ins Zeug gelegt, um Heikki zu ent lasten, und statt dessen den letzten Beweis für seine Schuld geliefert, nachdem die Polizei schon die Segel gestrichen hatte“, sagte sie. „Wir sind wirklich gut.“ „Es war ja Notwehr“, beschwichtigte Patrik sie. „Vielleicht klagt man ihn nur wegen Totschlags an.“ Marianne stellte Teller und Gläser zusammen. Jemand mußte es ja tun, und es sah nicht so aus, als würde Patrik sich dieser Beschäftigung widmen wollen. Nach dem sie den Tisch abgedeckt hatte, kontrollierte sie im Treppenflur, ob nicht noch irgendwo eine brennende Kerze stand. Oben auf dem Dachboden hockten Ellen und Natan in einer Ecke. Marianne war es gleichgültig. Sie war in einer Verfassung, daß sie eher darüber lachen als wü tend werden konnte. Doch sie mußte Natan zumindest eine Spitze verpassen. „Laß die Finger von Patriks Freundin!“ Natan schaute erstaunt auf. „Patriks Freundin bist du doch“, sagte er. Marianne betrachtete vom Fenster aus die bunten Laternen auf dem Hof. Ja, tatsächlich, nichts war auch nur im mindesten verändert. Alles sah so aus wie im mer in der Landbygatan, so, als hätten sie nie einen Heikki Koskinen gekannt. Vennerlind, Patrik und BritaClara saßen am Tisch, tranken Whisky und fielen sich gegenseitig ins Wort. Zwischen ihnen schlief Frid, den Kopf auf der Platte und den Daumen im Mund. Marianne ging nach unten, trat hinter Frid und schüttelte ihn. „Komm, Frid, nun mußt du nach Hause.“ 179
© Elvy Ahlbeck 1965 Alb. Bonniers boktryckerei 1965 Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage ● 1970 Eulenspiegel Verlag, Berlin Lizenz-Nr.: 540/15/70 ● ES 8C Lektor: Horst Roatsch Umschlagentwurf: Eberhard Binder-Staßfurt Satz, Druck und Bindearbeiten: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden