BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 11 ARCHITEKTEN DER ZEIT von Michael Marcus Thurner
Die irdischen Astrona...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 11 ARCHITEKTEN DER ZEIT von Michael Marcus Thurner
Die irdischen Astronauten Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden und sich zur verhassten Geißel der Galaxis entwickelt haben. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten und schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen. Als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den Aqua-Kubus flüchten, einem geheimnisumwitterten Objekt von einer Lichtstunde Kantenlänge, das vollständig mit Wasser gefüllt zu sein scheint. Auf der Flucht vor den Vaaren, den Beherrschern des Kubus, finden die Menschen und Darnok ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückzugehen scheint: ein rochenförmiges, gewaltiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme und die Flucht aus dem Kubus, in deren Verlauf die Herrscherin der Vaaren ums Leben kommt. Endlich wieder im freien All, warten bereits die nächsten unliebsamen Überraschungen auf sie. Aber nicht nur, denn endlich lüftet Darnok ein Geheimnis. Das Geheimnis seiner Herkunft...
Prolog »Okay«, erklärte John Cloud. »Es wird Zeit, dass wir uns hier endlich genauer umschauen.« Mit »Hier« meinte er das Raumschiff, das sie im Zentrum des Aqua-Kubus entdeckt und mehr oder weniger übernommen hatten. Die vier Menschen befanden sich in der Zentrale und standen um den Außerirdischen Darnok herum. Der molluskenartige Keelon ruhte auf einem der sieben Sitze inmitten des großen Raumes und wirkte seltsam teilnahmslos. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Dafür war Jarvis umso begeisterter. »Ja, mich würde auch interessieren, was die neue RUBIKON so alles zu bieten hat. Wenn sie tatsächlich den Erbauern des Aqua-Kubus gehörte, dann hat sie bestimmt mehr Feuerkraft, als das Meiste, was sonst noch im All rumfliegt.« »Wir müssen aber erst mal lernen, wie hier alles gesteuert wird«, warf der bedächtigere Resnick ein. »Sag ich doch!«, rief Jarvis. »Und wer weiß, was für unliebsame Überraschungen uns noch an Bord erwarten – Kampfroboter, verrückte KIs, menschenfressende Aliens... Ich würde mich jedenfalls besser fü hlen, wenn ich bis dahin die eine oder andere Kanone gefunden hätte.« »Guter Punkt«, sagte Scobee, die einzige Frau an Bord. »Wir sollten Zweier-Teams bilden. Ich gehe mit John. Und Resnick du mit G.T.?« Mit »G.T.« meinte sie Jarvis. Er hatte sich das Kürzel, das ihn als genetisch optimierten Klon kennzeichnete, als Vornamen gewählt. Die beiden männlichen GenTecs nickten. »Wir gehen erst mal auf die andere Seite dieses gewöhnungsbedürftigen Schotts«, sagte Jarvis.
Cloud nickte und wollte ihnen gerade folgen, als Darnok sein Schweigen brach. »John Cloud«, drang es aus einem der Geräte, die er fast unsichtbar am Körper trug. »Ich habe mich entschieden.« Die GenTecs blieben stehen und wandten sich um. Auch Cloud selbst zögerte. »Was meinst du mit entschieden?« »Zum einen, dass ich den Zeitpunkt für geraten halte, die Menschen Jarvis und Resnick zu untersuchen – du weißt, was mit ihnen im Kubus geschah, wie sie unter Schwächeanfällen litten, die gerade ihnen nicht widerfahren dürften –, und zum anderen haben wir beide, du und ich, etwas zu bereden.« Resnick und Jarvis warfen sich einen Blick zu. »Es ist vorbei. Uns geht es wieder blendend«, sagte Resnick schließlich. Aber es klang hörbar unsicher. »Blendend!«, bekräftigte Jarvis. »Selbst wenn«, mischte sich Scobee ein. »Es kann nicht schaden. Wenn Darnok es uns schon anbietet, sollten wir uns nicht querstellen.« »Uns?«, echote Resnick. »Ich bin natürlich mit dabei.« Nach einigem Zögern sagte Jarvis: »Okay, aber nur, wenn sich Darnok diesmal deutlich mehr anstrengt als letztens bei John...« Sie alle wussten, worauf er anspielte. Beim Versuch, Clouds Wissensimplantate, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatten, zu entfernen, war es zu einer schweren Krise gekommen, und es hätte nicht viel gefehlt, dem Ex-Commander nicht nur seine Gespenster, sondern gleich sein Leben auszutreiben. »Es ist eine absolut harmlose Prozedur«, versicherte Darnok, und es war nicht erkennbar, ob er sich beleidigt fü hlte. »Ihr werdet weder narkotisiert noch...« »Fang einfach an«, unterbrach ihn Scobee.
Und so geschah es. Sie begaben sich zwecks Untersuchung an Bord des Karnuts, das in einem anderen Raum parkte. Das Ganze dauerte insgesamt kaum mehr als eine Viertelstunde. Danach fragte Cloud: »Und? Ergebnis?« »Die KI meines Schiffes wird etwas Zeit benötigen, euren andersgearteten Metabolismus zu berücksichtigen.« »Wie lange?« »Es kann durchaus ein paar eurer Stunden dauern.« »Dann erzähl in der Zwischenzeit, was du auf dem Herzen hast.« Cloud verzog sein Gesicht zu einem Schmunzeln, dessen Grund Darnok verborgen blieb – Darnok, der insgesamt wie ein riesiges Herz aussah... »Und wir knöpfen uns in der Zwischenzeit das Schiff vor«, schlug Scobee vor. »Um euch zwei Turteltäubchen nicht zu stören.« Ihre Augen lachten. Cloud spürte einen kurzen Stich, tat alles andere ab, was ihm zu der attraktiven GenTec einfiel, indem er sich schulterzuckend auf Darnok konzentrierte. Im Gegensatz zu ihm und dem Keelon, kehrten die GenTecs nicht in die Zentrale zurück. »Was hältst du von den seltsamen Türen in diesem Schiff?«, fragte Cloud wenig später. »Sind das... Transmitter?« »Es bedarf eingehender Untersuchungen, um dies herauszufinden. Wenden wir uns zunächst den Dingen zu, die unser beider Verhältnis betreffen oder anders ausgedrückt: mein gestörtes Verhältnis zu deinem Volk.« Ein Moment, auf den Cloud lange gewartet hatte. »Ich bin ganz Ohr.« »Nein«, erwiderte Darnok ernsthaft, da er die Redensart nicht verstand. »Du bist ganz Erinjij. Und jetzt hör zu. Denn ich werde dir meine Geschichte erzählen, die meines Planeten und warum ich die Spezies, der auch du angehörst, so abgrundtief hassen muss...«
* Die Dimensionen des Schiffes, obwohl von außen bereits außergewöhnlich, waren im Inneren einfach atemberaubend. Nach allen Seiten öffneten sich von der Zentrale aus Korridore. Häufig endeten sie scheinbar vor einer glatten Wand. Dann wieder bildeten sie schwer durchschaubare Labyrinthe mit zahlreichen kleinen Räumen, oder sie mündeten in großen Hallen. Durch die verwirrende Anlage der Gänge schien die RUBIKON von innen fast größer zu sein als von außen. Zuerst wollen wir das Ding einmal erkunden, ermahnte sich Scobee. Ein Muster in der Raumaufteilung erkennen, dann einen Plan anfertigen. Immer einen kleinen Schritt nach dem anderen tun. »Wir nehmen diesen Weg«, sagte sie entschlossen und wählte einen beliebigen Gang. Die beiden GenTecs folgten ihr ohne weiteren Kommentar. Die verborgene Beleuchtung wechselte, während sie den Gang entlanggingen, von kaltem Weiß in ein kräftiges Gelb und schließlich in ein dunkles Rot. Ob Rot auch für die Erbauer dieses Schiffes eine Warnfarbe war? »Spürt ihr das?«, fragte Jarvis plötzlich und blieb stehen. Ein sanfter Luftzug fuhr durch Scobees Haar, brachte einen Hauch von Feuchte und Meeresgeruch mit sich. »Das kann keine Illusion sein, wenn wir es alle gleichzeitig bemerken«, sagte Resnick wider besseres Wissen. Eine künstlich erzeugte Sinnestäuschung kann sehr wohl uns alle erfassen. Wenn ich das technische Know-How, das in diesem Raumer steckt, in Betracht ziehe, ist den Erbauern so ziemlich alles zuzutrauen, widersprach Scobee in Gedanken. Sie sagte aber nichts, denn auch Resnick und G.T. wussten das. Der Wind steigerte sich, wurde böiger und kühler. Brach
sich an vielen, scheinbar sinnlosen Kanten, die dem Gang eine optische Unruhe gaben. Und ließ schließlich, als er anfing, unangenehm zu werden, abrupt nach. »Weiter«, sagte Scobee nach einem Moment. »Was auch immer diesen Effekt erzeugt hat – es ist vorbei.« Nur nicht ins Grübeln geraten, sagte sie sich. Immer einen kleinen Schritt nach dem anderen tun. Das rote Licht wurde wieder heller und nahm schließlich eine angenehm gelbliche Tönung an. »Da vorne ist eine Art Vorhang«, sagte Resnick plötzlich. Scobee nickte, schließlich war das Ding kaum zu übersehen. Nur wenige Meter voraus, nach einer sanften Biegung des Ganges, schimmerte und glitzerte ein Vorhang wie aus schwerem Brokatstoff mit vielen Tausend blitzenden Steinen. Zögernd traten sie näher heran, bis auf Griffweite. »Sind das Diamanten? Seht nur, wie sie glitzern...« Jarvis tastete vorsichtig nach dem wallenden Vorhangstoff. Er wollte ihn hochheben, um nachzusehen, was sich dahinter verbarg. Gespannt, was sich offenbaren würde, sobald er den Vorhang zur Seite geschoben hatte, starrte Scobee in die entsprechende Richtung. Jarvis berührte den Stoff. Doch er stieß auf keinerlei Widerstand, sondern durchdrang ihn. Er bewegte den Arm tastend hin und her, wandte den Kopf, um etwas zu sagen. Plötzlich riss er die Augen auf, stolperte vorwärts, als würde jemand kräftig an seinem Arm ziehen. Sein überraschter Aufschrei endete abrupt, er war verschwunden. Scobee zögerte so wie Resnick keinen Mome nt. Mit Hilfe ihrer optimierten Reflexe erkannte sie die mögliche Gefahr augenblicklich, hechtete hinterher, wollte Jarvis zu Hilfe eilen und landete wie dieser im Nirgendwo...
1. Darnoks Geschichte »Es... tut weh«, presste Zerptem angestrengt hechelnd hervor. »Jammere nicht, Frau! Entspanne dich!«, entgegnete der Geburtshelfer. Er massierte ihr mit kräftigen, kreisenden Bewegungen den aufgeblähten Leib. Zerptem schluckte den Schmerzensschrei, der ihr auf den Lippen lag und sah in den milchigtrüben, von rötlichen Blitzen zerfurchten Himmel. Ihr Liegebecken stand auf einer weiten, offenen Fläche und war der stürmischen Witterung ausgesetzt. Der Geburtshelfer folgte ihren Blicken nach oben. »Wir schaffen es, Gefährtin. Primogender steht hoch im Himmel, Akto senkt sich nur langsam hinab in die Dunkelheit, und Terzenwohl geht in wenigen Minuten auf. Alle drei Sterne werden für geraume Zeit gemeinsam auf uns herabstrahlen. Wenn du dich zusammenreißt und meinen Anweisungen folgst, bringen wir den gesamten Laich zu Bokan auf die Welt.« Bokan – jene kurze Periode, zu der alle drei Muttergestirne gleichzeitig am Himmel zu sehen waren... Die Zeit wollte einfach nicht vergehen, sie schien regelrecht still zu stehen. Zeit... unser engster Verbündeter und gleichzeitig unser grimmigster Feind, dachte Zerptem. Wie durch einen Schleier hörte sie die raschen, teilnahmslos artikulierten Anweisungen des Geburtshelfers. Instinktiv gehorchte sie. Sie machte ihren Leib breit, streckte alle Strünke möglichst entspannt von sich und wippte auf ihrem biegsamen Knorpelgerüst hin und her. So, wie sie es gelernt hatte. »Jetzt drücken!«, kam der gebrüllte Befehl des Geburtshelfers, und sie presste mit allen verbliebenen Kräften, bis ihr schwarz vor den Augen wurde.
»Sie sind da. Sechs, sieben – nein! – acht Eier...« Nervös gab der Keelon seine Instruktionen. »Schnell, macht die Imprints«, befahl er den Helferinnen, die wie aufgescheuchte Hendreks umherliefen. Zerptem sah nach wie vor in den Himmel, ließ sich vom Mischlicht der drei Heimatsonnen bestrahlen und genoss die Leere, die wieder in ihrem Körper war. »Willst du einen Blick auf die Eier werfen, Frau?« Die Stimme des Geburtshelfers durchdrang ihre müden Gedanken. »Nein«, antwortete Zerptem rasch und drehte ihren Leib mit Hilfe mehrerer Strünke zur Seite. Sie hatte es hinter sich gebracht. Sie war müde und wollte schlafen, nichts als schlafen... Sie schloss die Augen, fuhr die Hautlappen darüber und merkte nicht mehr, wie die großen, schwarz gesprenkelten Eier verschwanden. Sie lösten sich von einem Moment zum nächsten in Nichts auf... * Jahre später Planetenwahrer Kerz lenkte seinen Gleiter mit gemächlichem Tempo über die kaum bewachsene, sturmumtoste Ebene und beobachtete aufmerksam die Vielzahl seiner Instrumente. Die berüchtigte Endres-Falte, die sich längs des Hauptkontinents dahinzog, war in den letzten Tagen tektonisch hoch aktiv gewesen. Erdbeben, Vulkanausbrüche und immer wieder neue, tiefe Risse in der Planetenkruste waren die sichtbaren Folgen. Mehr als tausend Keelon hatten vor kurzem umgesiedelt werden müssen. Doch der ständige Wechsel ihres Wohnortes stellte für die knapp acht Millionen Männer und Frauen seines Volkes nichts Ungewöhnliches dar. Primogender, der rote Überriese, stand einsam und
majestätisch im Himmel. Sein Licht tauchte die Landschaft in düstere Farben. Kerz hatte keine Augen für das größte der drei Muttergestirne. Ein enervierender Piepston erregte seine Aufmerksamkeit. »Sieh an, ein Ei«, murmelte er griesgrämig. Es war bereits das dritte, das er in diesem noch jungen Jahr fand. Und jedes Mal bedeutete der Fund nur eine Menge zusätzliche Arbeit. Bei den beiden vorherigen Eiern war er jeweils zu spät gekommen; zu lange waren die Jungkeelon den schädlichen Witterungswechseln seines Heimatplaneten Roogal ausgesetzt gewesen, um noch eine Rettung zu ermöglichen. Auch diesmal standen die Chancen schlecht. Mehr als drei Stunden, so zeigte ihm der hoch sensible Eispürer, waren seit dem Auftauchen bereits vergangen. Mit geübten Bewegungen vermerkte er den Scan-Code des Eis, verglich den Imprint mit der Datenbank. Der Rechner benötigte lange, viel zu lange für die Identifikation. Gehörte das Ei vielleicht zu einem Fehlwurf? War es erst heute geboren worden und zu schwach, um einen gesunden Zeitsprung hinter sich gebracht zu haben? Oder handelte es sich gar um eine der seltenen Totgeburten? »Rückgriff auf externe, ältere Datenbanken läuft«, verkündete die nüchterne Stimme des Bordrechners. Und, nur wenige Zeiteinheiten später: »Positiv. Imprint identifiziert. Stattgefundener Zeitsprung nach der Geburt: zehn Jahre und zwölf Tage.« Zehn Jahre? Wenn das stimmte, musste sich Kerz wahrlich sputen. Soviel er wusste, war seit mehr als einer Generation kein Kind geboren worden, das einen auch nur annähernd so weiten Geburtssprung zustande gebracht hatte. Er konnte und würde das Sorgerecht geltend machen – sofern er das Ei rechtzeitig fand. Wie lange schon hatten er und Obinaka, seine Frau, auf
diesen Moment gewartet? Hastig schob er alle Gedanken beiseite, die ihn vom raschen Handeln ablenkten. Sein seidenmatter, etwas schwerfälliger Körper begann regelmäßig zu pulsieren, als er das Fahrzeug mit wenigen Griffen seiner Handlungsstrünke auf Kurs brachte. Ein Kind – ein Wunderkind – wartete da draußen auf ihn. »Beim Dreigestirn! Ein Sprung von mehr als zehn Jahren«, murmelte Kerz. Er konnte es gar nicht glauben. Er wollte dieses Kind lebend haben. Er musste es einfach haben! Nach kurzem Flug erreichte Kerz das Zielgebiet – ein enges, den ständigen Winden widerstehendes Schluchtenwirrwarr, aus dem das Signal deutlich zu hören war. Er schaltete auf Autopilot, machte den Boden unter sich durchlässig und erzeugte gleichzeitig aus den Nanokulturen des Gleiters die Hülle eines Schutzanzuges. Er fiel quasi hinein. Es war eine tausendfach geübte und erprobte Handlung, an die er kaum einen Gedanken verschwendete. Der letzte, dünne Rest der Nanokulturen tropfte vom Gleiter ab und verband sich am Herzspitz seines gedrungenen Körpers vollends mit der vorerst noch ballonartigen Umhüllung. Nach wenigen Momenten wurde überflüssige Luft rausgedrückt, sodass ihn der Anzug nun eng anliegend umgab. Er war vor Kälte und Wind geschützt. »Halte durch, mein Eiling«, presste Kerz zwischen seinen schmalen Kauleisten hervor, die hinter einem schützenden Hautlappen versteckt lagen. Eine seltsame Erregung ergriff ihn. Ihn, den sonst so mürrischen und schweigsamen Keelon, der normalerweise um jede Aufregung einen weiten Bogen machte. Der Anzug und seine Technologie projizierten das Suchbild auf die transparente Hülle. Kerz orientierte sich eilig. Der Sturm war unberechenbar geworden. Die Anzeige der
Energiebelastung kletterte in den grünen, in den gefährlichen Bereich. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich ein rostroter Felsbrocken, doppelt so breit wie er, von der Spitze einer Felsnadel lö ste und in einer gewaltigen Staubwolke am Boden zerschellte. Die Nadel selbst brach daraufhin in sich zusammen. Weitere, tiefe Risse bildeten sich sofort im Gestein. Dann war Kerz vollends in das Felslabyrinth eingetaucht. Die Intensität des Sturmes ließ nach. Nur noch ein hohles, enervierendes Pfeifen deutete auf die tobenden Naturgewalten hin. »Links, geradeaus, links«, murmelte der Planetenwahrer und folgte seinen eigenen Worten durch das Halbdunkel. Als die Sicht noch schlechter wurde, illuminierte er Teile seines Anzugs, formte einen kleinen Reflektor in das NanoMaterial und leuchtete damit die Flugrichtung aus. Ein plötzlicher Windstoß, der von der Seite zwischen mehreren glatt geschliffenen Steinblöcken hindurchpfiff, belastete selbst seine Stabilisierungsaggregate aufs Äußerste. Kerz hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, sich gegen den Wind stemmen zu müssen dann hatte er den Luftwirbel hinter sich gelassen. Und vor ihm, in einer gut geschützten Ecke, lag das Ei, halb von gelblich-rotem Sand bedeckt. Kerz landete und putzte es mit seinen Handlungsstrünken frei. Es war ein wenig flacher als die vielen, die er bislang zu sehen bekommen hatte. Viele schwarze Sprenkel zeichneten ein eigentümliches Muster auf der Schale. »Komm, mein kleiner Eiling«, flüsterte Kerz und hob das zerbrechliche Ding vorsichtig hoch. Er verstärkte die Nervenrezeptoren an der Außenseite seines Anzugs und versuchte, ein Anzeichen von Leben zu spüren. Nichts. Vorsichtig, ganz sachte, schüttelte der Planetenwahrer das
Ei. Nichts. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Er hielt einen Quell des Reichtums in Händen, der ihm die nächsten Jahre ein angenehmes Leben bescheren würde. Einen Sohn, ein Wunderkind. Wenn er sich nur bewegte... »Los, mach schon, du kleiner Kretin! Zeig mir, dass du noch am Leben bist!« Da! Ein leises Pochen. Eigentlich mehr ein Kratzen oder Schaben. Sehr schwach und unregelmäßig. Mit einem Schnalzen seiner Zunge aktivierte Kerz die Spracherkennung des Anzugs. »Ei in den Anzug einbinden. Temperatur vorsichtig steigern. Leichte Reiz-Massage der EiOberfläche«, befahl er und erhob sich in die Luft, zurück zum Gleiter. Die Hülle des Schutzanzuges stülpte sich fließend über das ungeschlüpfte Junge. Nun trug er das Ei direkt an seinem Körper. Der Planetenwahrer schaltete den Autopiloten ein, der ihn auf schnellstem Wege aus dem Felsenwirrwarr brachte. Im Freien angekommen, wurde er erneut vom Sandsturm durchgeschüttelt. Die Energieanzeige wanderte bedenklich rasch in den grünen Bereich. Nur mühsam konnte Kerz den Kurs halten. Ohne den Anzug, ein Produkt keelonischer Hochtechnologie, hätte er es keinesfalls geschafft, das Junge zu retten. War es tatsächlich gerettet? Zweifel nagten an Kerz, als er von unten in den Gleiter eintauchte und die Anzugsmasse an sein Transportmittel zurückgab. Da stand er nun, ein wegen seiner ständig schlechten Laune bekannter Planetenwahrer. Das Leben hatte es bislang nicht gut gemeint mit ihm. Seine Frau, eine keifende, fettleibige Vettel, ließ ihn
tagtäglich den Abend verfluchen, wenn er nach Hause musste. Sein Zeesta hatte ihn als Planetenwahrer eingestuft. Eine Arbeit ohne Prestige, weit weg von den Städten und schlecht bezahlt. Aber er war unfruchtbar. Wenigstens etwas. Kerz hörte mit bangem Herzen auf das schwächliche Kratzen unter der dünnen Eischale. Würde es der Junge schaffen? An der schwarzen Zeichnung erkannte er, dass es tatsächlich ein Junge war. Darnok würde sein Name sein. Darnok das Sturmwunder. * Wiederum vergingen Jahre. »Darnok, komm sofort ins Haus und mach deine Hausaufgaben«, schrie Obinaka eines Tages mit jener schrillen Stimme, die ihm regelmäßig Magenschmerzen bereitete. »Bitte, Mama, ich möchte noch ein bisschen mit den Springwölfen spielen«, rief er bettelnd zurück. Aber er wusste bereits, dass die Mutter sich nicht erweichen lassen würde. Wenn sie sich etwas einbildete, hatte er zu gehorchen. »Komm sofort her, sonst verknote ich dir alle neun Marschierstrünke!« Seufzend ließ Darnok von den zutraulichen Wölfen mit den markanten, platten Schnauzen ab. Er schnalzte dreimal laut. Sie erschraken, quakten und entfernten sich laut schimpfend. Mit weiten Sprüngen verschwanden sie zwischen dem Geröll, das ihr einfaches Wohnhaus weiträumig umgab. Darnok hatte gehört, dass es in anderen Gegenden des Kontinents viel größere, viel angriffslustigere Verwandte der Springwölfe gab. Wann würde er sie endlich zu sehen bekommen? Würde er sie zu sehen bekommen, oder würde man auch ihn vergessen,
hier, in der Mitte des Nirgendwo? Die stets gehässige Pflegemutter ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn für einen zurückgebliebenen, labilen Jungen hielt, der es nicht Wert war, auf die Große Reise geschickt zu werden. Kerz, sein Pflegevater, wurde jeden Tag griesgrämiger. Wenn er den Jungen ausnahmsweise direkt ansprach, handelte es sich ausschließlich um Maßregelungen oder um die Bekanntgabe neuer Tabus, die das Leben des jungen Keelon noch weiter einschränkten. »DARNOK!«, tönte es noch mal, viel lauter, und diesmal wusste der Junge, dass er sich wirklich zu sputen hatte. Er ließ sich auf die kräftigen Marschierstrünke fallen und trabte widerwillig ins kuppelförmige Haus zurück. Sofort umfing ihn Dämmerlicht. Das stetige Pieksen der vom Wind hochgewehten Sandkörner hörte abrupt auf. Darnok knickte demütig vorne ein und bot der Mutter die hornhäutige Rückseite, den Spitz des herzförmigen Körpers. Soll sie mich doch schlagen, die alte Grausbeere, dachte Darnok. Erschrocken über seine eigenen Gedanken, senkte er den Körper noch weiter, sodass er fast flach auf dem Boden la g. »Ja, schäm dich nur, du dreister Bengel«, zischte Obinaka und spuckte Geifer. »Was hatten wir nur für Hoffnungen, damals, als dich Kerz nach Hause brachte. Dich, den Wunderknaben, der zehn Jahre in die Zukunft gesprungen war. Pah!« Die Mutter wuchtete den schweren, gluckernden Körper wütend um ihn herum und fuhr fort: »Was waren sie alle schlau, die Wissenschaftler, als sie kamen und dich untersuchten. Sie tasteten dich ab und stellten Versuche mit dir an. Ich, die arme Obinaka, musste sie hofieren und bedienen, laufend Getränke und Speisen herbeischaffen. Ständig saß einer dieser grauhäutigen, widerlich altersbehaarten Wissenschaftler irgendeiner Fakultät der Hohen Universität in unserer besten
Kuhle. Ständig, sag ich dir...« Ja ja, das kenne ich alles, dachte Darnok. Dass ihr für eure Mithilfe mehr als großzügig aus einem Forschungsfonds entschädigt wurdet, verschweigst du allerdings. Aber mich täuschst du nicht mehr – ich habe die Kontoaufzeichnungen über die Gelder gefunden, die ihr mit mir verdient habt. Und außerdem: Es war nicht mein Wunsch, von euch aufgenommen zu werden. Keelon wie ihr sollten gar kein Recht haben, Kinder groß zu ziehen. »... und alles war umsonst«, fuhr Obinaka mit ihrer Litanei fort. »Du hast anscheinend nur eine verkümmerte Begabung, nicht viel mehr als die einer kümmelschwarzen Pflegerin. Dein Geburts-Zeitsprung war eine Laune der Natur, ein Strohfeuer.« Sie seufzte. »Was haben wir also für unsere Gutmütigkeit bekommen? Einen zurückgebliebenen, mickrigen Jungen, der sich vom Leben treiben lässt und nicht folgt. Na, warte nur! Ich werde Vater heute Abend erzählen, dass du mir wieder nicht gehorcht hast. Du wirst schon sehen!« Alles in Darnok verkrampfte sich. Er bemühte sich, äußerlich ruhig zu bleiben. Wenn Kerz schlechter Laune war – und das war er nahezu jeden Tag –, würde er ihn mit seinem Halsriemen schlagen. Auf die Gehstrünke, auf die Handlungsstrünke und vor allem auf die empfindlichen Hautstellen zwischen und über den Augen. So lange, bis Darnok blutete oder er zumindest kein Gefühl mehr in den Gliedmaßen besaß. Ruhig blieb der kleine Junge liegen, demütig und dennoch trotzig. Er war zu alt, um um Verzeihung zu flehen. Sollte ihn der Alte doch schlagen, solange er noch die Möglichkeit hatte. In absehbarer Zeit, so hoffte er, würde seine Kindheit zu Ende gehen, und der Zeesta würde ihn zur Großen Reise abholen. Wenn ihn nur der Vater vorher nicht zu Tode geprügelt hatte.
* »Es ist noch zu früh, du kannst uns den kleinen, armen Jungen nicht schon jetzt wegnehmen, Zeesta!« Obinaka wand ihren wabbeligen Körper flach auf dem Boden. Gelbgrüne Schweißflüssigkeit sammelte sich am Rande ihrer Liegekuhle. »Hab Mitleid mit ihm und mit uns! Siehst du denn nicht, wie ausgemergelt er ist, wie schlaff sein Körper, wie grau seine Hautfarbe? Er kann die Große Reise doch niemals überleben!« Was für eine Lügnerin die Mutter war! Es ging ihr nur um die bislang beständig geflossenen Gelder staatlicher Stellen, die immer wieder die Fortschritte seiner Begabung überprüft hatten. Ohne ihm zu sagen, worin diese Begabung eigentlich bestand... Doch sobald Darnok mit dem Zeesta, dem Lehrer, unterwegs war, würden alle Zahlungen eingestellt werden. Kerz lag in seiner schwarz eingefassten Lieblingskuhle und hatte die Hautfalten zur Mimik der Verdrossenheit verzogen. Nein! Er hat sie nicht verzogen – die Falten sind bereits altersstarr in die Haut eingeprägt und auf herkömmlichem Wege nicht mehr zu entfernen. Kein Wunder, wenn man tagtäglich neben diesem fetten, zeternden Weib aufwachen muss... Darnok spürte tatsächlich so etwas wie Mitleid für seinen Pflegevater. Trotz der vielen Schläge und trotz der wenigen Liebe, die ihm der alte Mann entgegengebracht hatte. Der Zeesta sagte mit ruhiger und fester Stimme: »Der Moment, in dem die Vormundschaft auf mich übergeht, ist gekommen, Frau. Die nächsten Jahre liegen in meiner Verantwortung und im Schicksal der Drei Gestirne.« Ehrfürchtig flappten alle Versammelten mit den Strünken laut auf den Boden. Glaube und Religiösität war etwas, das Darnok akzeptiert hatte, aber, so wie vieles anderes, nicht verstand. Er hatte tausende Fragen an den Lehrer...
»Ihr hattet seine Jugend, ich habe seine Ausbildungsjahre«, erklärte der fast schwarze Keelon im rituellen Singsang. »Sodass er hilft, die Keelon vor Unheil zu bewahren«, setzten die Eltern ebenso förmlich fort. Darnok zitterte wissbegierig mit seinen Handlungsstrünken. Ein Zeichen der Unhöflichkeit, das der Zeesta glücklicherweise kommentarlos überging. Darnok hatte, abgeschirmt von Obinaka und in der Einsamkeit des vorgeschobenen Postens eines Planetenwahrers, noch nicht viel vom Leben gesehen. Würde ihm der Lehrer das notwendige Wissen während seiner Wanderjahre auch einprügeln? »Verabschiede dich nun von Obinaka und Kerz, kleiner Keelon. Wir gehen auf die Große Reise.« Das kurze, zeremonielle Gespräch war zu Ende. Erleichtert umarmte Darnok den Vater und murmelte leise ein höfliches »Dankeschön«. Seine Mutter wollte ihn nicht loslassen, herzte und liebkoste ihn wie noch niemals zuvor. Ihre ständig sprudelnde Geldquelle ging verloren. Ein für allemal. »Komm, Junge, es ist so weit«, sagte der Zeesta nach einer endlos scheinenden Zeitspanne und trennte Obinakas Handlungsstrünke von seinem Körper. Ich bin frei, jubilierte Darnok innerlich und sprang, draußen vor der Türe, nahe zu eine halbe Körperbreite in die Höhe. * »Du bist also das Wunderkind, hm?«, brummte der Zeesta. Er war eine mächtige, erhabene Gestalt. Groß, breit, mit kräftig pulsierendem Körper und zwei Gehstrünken mehr als Darnok. Die ledrige Haut war vom stetigen Sandwind glatt geschmirgelt, kein Ansatz von Falten war zu sehen. Und dennoch hatte der junge Keelon das unbestimmte Gefühl, dass der Lehrer viel älter war als er aussah.
»Ja, ich bin das Wunderkind«, bestätigte Darnok höflich. »Arabim.« »Wie bitte?« »Mein Name ist Arabim«, wiederholte der Lehrer geduldig und half ihm mit festen Strunkgriffen die zwei Stufen hinauf ins Innere des Gleiters. Er selbst hüpfte behände nach, aktivierte die verborgenen Antriebsaggregate und den Autopiloten. Ansatzlos und ohne einen spürbaren Ruck schoss das Fahrzeug vorwärts. Die Stille im Inneren des Gleiters war erdrückend. Zumindest empfand es Darnok so. Was erwartete der Lehrer von ihm? Was sollte er sagen? Hilflos begann er, seinen Körper zu massieren und so den Kreislauf anzuregen. Unter ihnen huschte die monotone Landschaft dahin, nur selten von kleinen Ansiedlungen unterbrochen. »Haben sie dich oft geschlagen, kleiner Keelon?« Darnok zuckte zusammen. Der Spitz seines Körpers wackelte nervös im Rhythmus seiner Atmung. Woher wusste der Lehrer...? »Dein Schicksal ist nicht so außergewöhnlich, wie du vielleicht glaubst.« Arabim seufzte vernehmlich. »Wir Keelon tun uns schwer, Liebe für unsere Kinder zu entwickeln. Das hat in weitestem Sinne mit unserer außergewöhnlichen Begabung zu tun.« Welche Begabung? Der Lehrer sprach in Rätseln. »Ich kann mir vorstellen, dass dir tausende Fragen auf den Kauleisten brennen, aber du musst Geduld haben.« Aber Darnok hatte vorerst nur eine, eine einzige dringende Frage auf dem Herzen: »Wirst du mich schlagen?«, meinte er zaghaft. Arabim ließ verblüfft zwei Augen unter den Schutzhäuten hervorlugen und begann zu lachen. Es war ein herzerfrischendes, fröhliches Lachen. Das erste ehrliche Lachen, das Darnok in seinem Leben zu
hören bekam. * »... Perzephal, Bodor, Jonke und Lisee. Damit sind wir komplett.« Arabim hakte die letzten Namen auf der Liste ab, die vor ihm in der Luft flimmerte, unterschrieb mit einem eleganten Schwung seines Feinfühlstrunks und übermittelte die Übernahmebestätigung an eine Datensammelzentrale. Er richtete sich auf. Er war tatsächlich eine beeindruckende Gestalt, ein Hüne. Sie standen auf einem weiten Feld, der sogenannten Ebene des Beginns, geschützt durch windbrechende Hecken kräftiger Hann-Pflanzen. Hinter ihnen lag ein staubiges Flugfeld, und in der Ferne waren die bescheidenen Baracken zu erkennen, in denen sie die Nacht verbracht hatten. »Seht euch gut um, ihr jungen Keelon. Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein, dass ihr den Errungenschaften unserer modernen Zivilisation begegnet. Die nächsten Jahre, auf der Großen Reise, werden wir rund um Roogal wandern. Ohne Hilfsmittel. Nur mit den Mitteln ausgestattet, die der Heimatplanet uns bietet. Ihr werdet alles lernen, was ihr für euer weiteres Leben benötigt.« Der Lehrer holte kurz Luft. »Es wird beileibe kein Spaziergang werden. Manch einer wird die Reise nicht überleben.« Betroffen schlossen die meisten der vielleicht fünfunddreißig Keelon die Hautlappen über ihre Augen. »Manch einer«, fuhr Arabim unbarmherzig fort, »mag auch mental scheitern, nicht genug Willenskraft für das Leben in der Wildnis aufbringen. Auch diejenigen werden zurückgelassen.« Während er diese bedrohlichen Worte aussprach, schien sein gewaltiger Leib noch weiter in die Höhe zu wachsen, sich vor Darnok aufzubauen wie ein unüberwindlicher Felsblock. Die
Haut des Lehrers pulsierte so stark, dass eine Vielzahl dunkelroter, fein gemaserter Adern aus seinem Körper hervorgedrückt wurden. Doch der angsterregende Moment war rasch vorbei. Arabim entspannte sich und fuhr fort. »Diejenigen, die den Einklang zwischen sich und der Natur finden und alle Schwierigkeiten auf der Großen Reise meistern, werden gestärkt und erfüllt vom Gefühl höchster Befriedigung ihr Lebensziel entdecken. Ihr werdet eure Begabung zu beherrschen lernen. Viele von euch werden auch Partner fürs Leben finden.« Verächtlich blickte Darnok zur zehnköpfigen Fraktion der Mädchen, die sich eng zusammengedrängt hielten. Sie glucksten amüsiert und deuteten mit schamgrün werdenden Strünken immer wieder zu manch einem der Jungen. Mädchen, pah! Wenn sie sich alle so wie Mutter verhielten, war es wohl besser, kein einziges Wort mit ihnen zu wechseln. »Gibt es Fragen, bevor wir losmarschieren?« Arabim war die Unruhe unter den Kindern sicherlich nicht entgangen, doch er ging mit keinem Wort darauf ein. »Nicht? Gut, dann nehmt euer Gepäck. Es geht los.« * Nach einem Viertel- Tag wünschte sich Darnok nichts sehnlicher, als wieder bei Mutter und Vater sein zu dürfen. Sobald sie den Hannfeld-Gürtel verlassen hatten, waren die Urgewalten der stetigen Südstürme über sie hereingebrochen. Die Jugendlichen drückten sich mit den Körpern so flach wie möglich an den Boden und versuchten so, den Winden den geringsten Widerstand zu leisten. Dennoch wurden sie immer wieder von Böen hochgerissen und viele Körperlängen weiter unsanft zu Boden geschleudert. Darnok hörte mit seinem feinen Gehör Wimmern, Klagen und auch unterdrücktes Weinen in der Gruppe. Auch ihm war
nach Weinen zumute, aber die bitteren Erfahrungen seiner eben zu Ende gegangenen Kindheit hatten ihn gelehrt, dass bernsteinfarbene Tränen nichts an einer unangenehmen Situation änderten. Im Gegenteil. So nahm er alle Kraft zusammen und kroch weiter. Immer dem unermüdlichen Arabim nach. Er bemühte sich, den Windschatten von dessen breitem Körper möglichst auszunutzen und den Schmerz zu ignorieren, der durch die groben Sandkörner verursacht wurde. Er würde sich von nichts beirren lassen, denn die unbestimmte Wut, die in ihm kochte, gab ihm die Kraft, immer weiterzumarschieren. Nach mehreren Ewigkeiten – Primogender war längst untergegangen, lediglich Akto stand fahl und kalt am Firmament – führte sie Arabim in den zweifelhaften Schutz eines tiefen Erdrisses hinab. Der Wind erstarb abrupt, blieb jedoch als schrilles Pfeifen über ihnen gegenwärtig. Bibbernd und völlig erschöpft drängten sich die Jugendlichen aneinander. Sie verschränkten ihre Strünke zu grotesken Gebilden, um die Muskelkrämpfe aus ihnen zu schütteln. »Dort unten findet ihr Wasser«, rief Arabim und deut ete weiter hinab ins Erdinnere. »Auch wilde Hann-Pflanzen wachsen hier. Sie schmecken möglicherweise ein wenig seltsam, aber ihr werdet euch daran gewöhnen.« Der Lehrer schien keineswegs müde zu sein. Zu geschwächt, um zu reden, drängte Darnok hinter den anderen den engen Weg hinab. Er musste die Augen weit aufreißen, um im Halbdunkel etwas zu erkennen. Er hörte das Plätschern des dünnen Wasserrinnsals mehr, als dass er es sah, und tunkte die Gehstrünke mit einem Seufzer der Erleichterung in das kühle Nass. »Tut das gut«, piepste ein Mädchen neben ihm.
Automatisch rückte Darnok ein Stück ab. Ihm war jetzt nicht nach Unterhaltung zumute. Schon gar nicht mit einem Mädchen. Er hatte sich den Namen des hellhäutigen Plappermauls bereits gemerkt. Lisee hatte während des Marsches mehr geredet als alle anderen. Scheinbar kam ihr Mund zu keiner Zeit des Tages zum Stillstand. »Hmph«, murmelte er verdrießlich, und verschloss die Ohrlappen so weit wie möglich. »Na, du bist aber nicht besonders gesprächig, mein Lieber. Hast wohl noch nie etwas von Höflichkeit gehört, hm? Hast du übrigens schon die Hann-Pflanzen gekostet? Ausgezeichnet schmecken die, auch wenn man auf die Gelbwürmer achten muss. Aber die flüchten aus den Wurzeln, sobald man die Pflanzen ins Wasser tunkt. Weißt du, wo die Quelle des Baches entspringt? Eine Sage meiner Heimatstadt erzählt von einem Schatz, der immer am Ursprung eines fließenden Gewässers wartet. Der Schatz wird von einem schrecklichen Grauflattler bewacht, und nur ein Mädchen reinen Herzens kann diesen Schatz bergen, wenn sie von einem tapferen, jungen Siebzehnstrünkler begleitet wird. Wie viele Strünke hast du denn, sag mal? Drei, vier – haben dir deine Eltern nie anständig die Hornhäute geschrubbt, das sieht ja grässlich aus! – sieben, acht... Heh, warte! Warum lä ufst du weg? Bleib da! Denk an den Schatz!« Darnok sehnte sich unendlich nach seiner Mutter. * Aufgereiht wie auf einer Schwarzperlenkette saßen sie nebeneinander und schauten zu Arabim, der es sich auf einem kleinen Vorsprung jenseits des Erdrisses bequem gemacht hatte. »Nun«, tönte seine volle Stimme, »habt ihr einen Vorschlag, wie der Marsch morgen leichter werden könnte? Habt ihr heute etwas gelernt?«
»Ja. Dass du ein widerlicher Keelon-Schinder bist«, flüsterte ein kräftiger Junge neben Darnok. Mit vier seiner Handlungsstrünke vollzog er eindeutige, obszöne Gesten in Richtung des Lehrers. Eines der Mädchen kicherte leise. »Hast du etwas zu sagen, Bodor?« Arabim deutete in Richtung des vorlauten Jungen. »Nein, Lehrer.« Arabim sah mit kalten, weit aufgerissenen Augen herüber. Darnok meinte zu spüren, dass er Bodor mühelos durchschaute. Nach einer Weile wandte der Lehrer seinen Blick ab und fragte nochmals: »Habt ihr heute wirklich nichts gelernt?« Erneut blieb es ruhig. Zögernd erklang eine weiche, Darnok nur all zu bekannte Stimme. »Es war leichter, in deinem Windschatten zu marschieren«, sagte Lisee. Gelächter erklang ringsherum. »Das ist ein guter Ansatz, meine Kleine«, sagte Arabim jedoch lobend. »Aber kannst du diesen Gedanken noch weiterspinnen?« »Hm... das... wenn... ob... nein.« Leise verstummte das Mädchen und lief knallgrün an. Ein peinliches Schweigen entstand. Endlich sagte der Lehrer mit scheinbar gleichgültiger Stimme: »Nun gut. Ich sehe, ihr braucht noch einige Zeit, um zu begreifen, um was es hier geht. Der Unterricht ist damit beendet.« Arabim schaufelte mit seinen kräftigen Handlungsstrünken den Körper in von der Oberfläche herabgewehten Sand und schlief von einem Moment zum nächsten ein. Verwirrt sahen sich die Schüler an. Was meinte der Lehrer? Was wollte er von ihnen? Leises Getuschel entstand, und aus mancher selbst gegrabenen Liegekuhle drang mühsam unterdrücktes Stöhnen. Viele Strünke brannten oder waren geprellt, fast alle der
Jugendlichen hatten unter abgeschmirgelter Körperhaut zu leiden. Rasch verstummten die Stimmen. Sie waren zu erschöpft, um über die rätselhaften Andeutungen nachdenken zu können. Mit einem letzten Blick in den wolkenverhangenen Himmel, der nur in einem kleinen Ausschnitt oberhalb seiner selbst gegrabenen Schlafkuhle zu sehen war, schlief auch Darnok ein. * Der zweite Tag der Großen Reise fing genauso schwierig an, wie der erste geendet hatte. Nicht enden wollende Stürme fegten über die trostlose Landschaft. Kaum einmal fanden sie die Möglichkeit, sich im Schutz ausgetrockneter Flussbetten, niedriger Felswände oder halb verschütteter Erdfalten zu bewegen. Immer wieder suchte Darnok Ruhe im Schatten des breit gebauten Arabim. Aber auch andere Keelon stritten sich um diesen höchst begehrten Platz. Bodor, der fü nf Jahre älter war als er, setzte seine Kräfte rücksichtslos gegenüber dem Jüngeren ein und vertrieb ihn immer wieder. Was für ein... ein Schlammkotzer der Bursche nur war! Von Zeit zu Zeit blieb Darnok erschöpft liegen, ruhte sich kurz aus und reihte sich am Ende des langgezogenen Trecks wieder ein. Nein. Das stimmte nicht ganz. Lisee, das zierliche Mädchen mit der großen Klappe schleppte sich noch einige Körperlängen hinter ihm dahin. Mühsam und unkoordiniert taumelte sie auf ihren Strünken voran. Ihre körperliche Schwäche war unübersehbar. Darnok spielte kurz mit dem Gedanken, Arabim über ihren Zustand zu informieren. Doch ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass der Lehrer nicht helfen würde. Der riesige Keelon wartete auf etwas.
Darauf, dass sie ihren Verstand gebrauchten. »Hilf... mir! Bitte!«, keuchte das Mädchen hinter Darnok. Geschieht ihr ganz Recht!, dachte er wütend. Wahrscheinlich hat sie ihre ganze Energie beim Plappern verbraucht. »Na schön«, brummte er und wartete auf Lisee. »Aber du darfst nicht zu viel schwafeln.« Das Mädchen reagierte nicht. Ein schlechtes, ja, ein beunruhigendes Zeichen. »Geh meinetwegen eine Zeitlang in meinem Windschatten«, sagte Darnok schroff. Er bewegte sich ein wenig seitwärts, sodass Lisee weitgehend geschützt weitermarschieren konnte. Eine endlos scheinende Zeitspanne lang marschierten, krochen und taumelten sie so dahin und waren knapp davor, den Anschluss an die Gruppe zu verlieren, als endlich der ersehnte Befehl zum Halten ertönte. Arabim war weiter vorne gerade noch im trüben Sandnebel erkennbar. Er gab lautstark Befehl, rote Beeren von einem niedrig wachsenden Gestrüpp zu pflücken. Mit dem letzten Rest seiner Kräfte taumelte Darnok näher, die kleine Lisee im Windschatten und ließ sich hinter einem umgestürzten Silberbaum fallen. Das Mädchen plumpste neben ihm zu Boden und rieb ihre Haut seufzend an der groben Borke. »Danke«, murmelte sie. Im nächsten Moment war sie erschöpft eingeschlafen. Nachdem er ein wenig zu Kräften gekommen war, rappelte sich Darnok hoch und pflückte ein paar der Beeren. Sie schmeckten bitter, doch sättigten sie einigermaßen und löschten gleichzeitig den Durst. Langsam kehrte sein Lebensmut zurück. Er sammelte noch mehr der Früchte und trippelte, an den anderen erschöpften Keelon vorbei, zu seinem Ruheplatz. Arabim wartete bereits. Er betrachtete sorgenvoll das kleine Mädchen. »Wirst du sie zurücklassen, wenn sie nicht mehr weiter
kann?«, fragte Darnok den Lehrer. »Natürlich«, sagte der Zeesta lapidar. Ein merkwürdiger, hohler Klang lag in der Stimme. »Ihr Schicksal liegt jetzt in deiner Hand«, fügte er geheimnisvoll hinzu und marschierte davon. Beim Dreigestirn, sprach Arabim denn nur in Rätseln? Er war doch nicht Lisees Pflegevater und hatte keinerlei Verantwortung für sie übernommen. »Ich weiß jetzt, was... der Lehrer gestern für eine Antwort... erwartet hat.« Das Mädchen war aufgewacht und nahm dankbar die Früchte entgegen, die Darnok für sie gepflückt hatte. »Dabei ist es... so einfach, so nahe liegend.« »Kann denn hier niemand Klartext sprechen? Ich habe keine Lust auf dieses Rätselraten«, sagte Darnok wütend. »Arabim erwartet, dass wir uns gegenseitig Windschutz geben.« Sie hustete trocken und spie ein paar der Beeren wieder aus. »Soll ich die ganze Zeit neben dir her laufen und den Prellbock spielen?«, fuhr er sie an. »Denk dir mal... ein großes Feld von fünfunddreißig Keelon, die eng aneinander gedrängt vorwärts marschieren. In Fünferreihe nebeneinander, sodass nur die äußerste oder vorderste Reihe der Gruppe vom Wind angegriffen wird. Die anderen bleiben weitgehend von der Witterung verschont. Nach einer gewissen Zeitspanne wechseln sich die Gruppen ab, und die nächsten fünf Keelon machen den Windfänger.« Lisee schwieg erschöpft. Beim Dreigestirn – warum war er nicht bereits früher auf diese Idee gekommen? Darnok erinnerte sich plötzlich an Abbildungen in verstaubten Schriften, die er zu Hause heimlich durchgesehen hatte. Die Alten, die Vorfahren, waren in urtümlichen Zeiten stets in einer besonderen Gruppenform durch die Weiten Roogals marschiert, die sie selbst »Schirm« nannten.
Bewundernd sah Darnok das kleine, zarte Mädchen an. »Keine schlechte Idee... für ein Mädchen«, sagte er. In den Augen der kleinen Lisee blitzte es erfreut auf. Es war nicht schwer, die anderen Jugendlichen von ihrer Idee zu überzeugen. Lediglich Bodor knurrte verächtlich in Darnoks Richtung, reihte sich aber letztendlich in der Formation ein. Der Effekt war erstaunlich. Der Wind fing sich tatsächlich nur jeweils an einer Seite des Schirmes. Das Weiterkommen war zwar nach wie vor schwierig, aber durchaus erträglich. Am Abend, als sie ihr Nachtlager aufschlugen, hatte Darnok das Gefühl, heute etwas ganz besonders Wichtiges gelernt zu haben. Er tätschelte der kleinen Lisee mehrmals freundschaftlich das hornhäutige Hinterteil – was das Mädchen ermutigte, bis weit nach dem Untergang Primogenders zu reden, zu reden und zu reden... Arabim, der Lehrer, strahlte vor Freude über den ganzen Körper und hatte für jeden seiner Schüler ein freundliches Wort parat. Es war so schön, auf der Großen Reise zu sein! * Die Tage kamen und gingen nun in rascher Folge. Fröhliche Ausgelassenheit nahm überhand. Nichts und niemand schien Arabim und seine Gruppe gefährden zu können. Die Jugendlichen wuchsen immer mehr zusammen, bildeten bald eine perfekt funktionierende Einheit. Jungen und Mädchen bauten die gegenseitigen Vorbehalte rasch ab. Besser gesagt: Während des Marschierens folgten sie den Regeln eines nicht ausgesprochenen Zweckbündnisses, um während der kargen Freizeit wie Blau-Wurrle auseinander zu schießen und geschlechtstypischen Rollenspielen zu folgen. »Mädchen sind der Untergang des Keelontums«, schimpfte
Darnok. Er schüttelte sich das Juckpulver, das aus getrockneten und zerstampften Hann-Blättern bestand, aus den Hautfalten. »Jungen sind der Untergang des Universums«, keifte Lisee zurück und zupfte mühsam eine Kolonie stinkender Springflöhe aus ihrem kurzen, hellgrauen Bauchfell. Die beiden mochten sich einfach gern. Bald wurden sie »Die Unzertrennlichen« gerufe n. Bodor hingegen war der geborene Anführer. Er war ein düsterer, manchmal erschreckend jähzorniger Junge, der die Macht über alles liebte und sie auch rücksichtslos einsetzte. Doch sein Verstand und seine abstrakte Logik kamen der Gruppe ein ums andere Mal zu Hilfe. Der Lehrer nahm kaum Einfluss auf das soziale Gruppenverhalten. Dann und wann übernahm er die Rolle eines Mediators, doch nur selten kam es zu offen ausgetragenen Zwistigkeiten. Bald nannte er seine Klasse liebevoll die »Trippel-Viels«, und wie es bei solchen Sachen nun mal ist, übernahmen die Jugendlichen den Begriff mit gehörigem Stolz. Nach mehr als sechzig Tagen änderte sich die Landschaft. Die Winde ließen nach, die Regengüsse hingegen nahmen zu. Fruchtbare, gut bestellte Gehöfte waren aus der Ferne zu sehen. Auch im gewohnten Lehrbetrieb, den Arabim jeden Abend abhielt, änderte sich Einiges. Die grundlegenden Dinge wie Tier und Pflanzenkunde sowie Nahrungs- und Flüssigkeitssuche waren endlos durchgekaut und in der Praxis noch reichlicher geübt worden. Eines Abends, es blitzte gerade heftig über ihrem Lager, fragte der Lehrer: »Warum, glaubt ihr, unternehmen wir die Große Reise?« Alle schwiegen, selbst die sonst so vorlaute Lisee. »Da sieht man's«, ließ Bodor seine knarrende Stimme vernehmen. »Niemand weiß es mehr. Es ist ein sinnloses, archaisches Ritual.« Er streckte seinen Körper, der fast so groß wie der Arabims war.
»Du irrst dich«, entgegnete der Zeesta und zeichnete eine rasche Geste der Gelassenheit mit zweien seiner Handlungsstrünke. »Die Bedeutung der Großen Reise liegt hauptsächlich in unserer einzigartigen Begabung begründet. Seht nach oben!« Sie richteten ihre Blicke hoch. »Terzenwohl steht alleine am Himmel, knapp über dem Horizont. Es herrscht ein Dämmerlicht, wie es nur alle paar Wochen vorkommt. Fühlt ihr euch nicht auch unwohl, bedroht vom Dunkel?« Unruhe kam auf. Der Lehrer hatte die unangenehme Angewohnheit, seinen Feinfühlstrunk mit Vorliebe auf die schwärendste Wunde zu legen. Nervös kratzte sich Darnok am Bauchfell, das in den letzten Wochen immer dichter und struppiger geworden war. Natürlich fühlte er sich schlecht, wenn das allgegenwärtige Licht der drei Sonnen verblasste. »Seht ihr die matt leuchtenden Punkte in der anderen Himmelshälfte?«, fuhr Arabim fort. »Die Sterne«, murmelte Lisee. Fiebrig putzte sie einen ihrer zarten Strünke. »Jawohl, die Sterne«, sagte Arabim. »Sonnen wie die unseren, die weit entfernt leuchten und Lebewesen auf fremden Planeten das Leben schenken.« Darnok drehte sich um. Überall pulsierten die Körper der jungen Keelon, zuckten und wanden sich in den Erdmulden, die sie gegraben hatten. Ein greller Blitz mit vielen feinen Verästelungen nahm für einen Moment die dunklere Seite des Himmels ein und malte ein schauerliches, blasses Bild der Gruppe. Ein Donnerrollen ließ nicht lange auf sich warten. »Die Sterne und fremde Lebewesen sind etwas, das wir, das Volk der Keelon, gerne als tabu darstellen. Wir tun so, als ob wir alleine im Universum wären obwohl wir es besser wissen.«
Die Nervosität wurde immer deutlicher spürbar. Der Lehrer beging einen Tabubruch. Es schickte sich nicht, über fremdes Leben zu reden. »Ich weiß, dass eure Pflegeeltern selten und meist nur hinter vorgehaltener Hand über dieses Thema gesprochen haben. Ich weiß, dass ihr nur Gerüchte über andere Planeten und Lebewesen kennt. Ich weiß, dass euch verboten wurde, darüber nachzudenken. Wir Keelon leben aus Furcht in einer selbst gewählten Isolation. Furcht, die mit unserer fantastischen, aber auch erschreckenden Gabe zu tun hat.« Es war einer dieser Momente, in denen der Zeesta überdimensional zu werden schien, wie ein unüberwindlicher Felsblock in die Höhe ragte. »Viele Keelon sind der Ansicht«, fuhr er unerbittlich fort, »dass unangenehme Dinge nicht auszusprechen sind. Aber ich als Lehrer betrachte es als meine Pflicht, euch die Angst bewusst zu machen. Merkt euch meine Worte! Dämonen, die man kennt, verlieren ihren Schrecken!« Arabim sprach immer lauter, um die Unruhe zu übertönen. Zwei der Mädchen weinten. Bodor schlug zornbebend mit mehreren seiner kräftigen Strünke gegen einen verrotteten Baumstamm. »Blasphemie«, schrie er aufgeregt. Darnok juckte es am ganzen Körper. Wie verrückt kratzte er sich mit all seinen Handlungsstrünken. Der Lehrer hingegen blieb ruhig und wartete, bis sich die Unruhe legte. »Wir sprechen nicht gerne über das Leben im Universum«, fuhr er fort, »weil wir uns durch eine Gabe zum Reisen durch die Zeit prägnant von anderen Rassen unterscheiden. Dieses Talent – das auch gleichzeitig ein Fluch ist – geht von unserem Magoo aus...« Wieder ertönte Ächzen und Stöhnen, wieder schrien die Halbwüchsigen wild durcheinander. Bodor, schwarz vor Wut, peitschte mit allen Strünken gegen
den Boden. Er stieß einen schrecklichen, zornerfüllten Ruf aus und stürzte geradewegs auf den Lehrer zu. Er hielt mehrere Handlungsfühler zum Schlag erhoben. »Tabubrecher«, brüllte er und drosch blindlings auf Arabim ein. Atemlos beobachtete Darnok, wie sich der Zeesta zur Wehr setzte. Scheinbar mühelos blockte er die Angriffe des Jungen ab und neutralisierte nach und nach alle von Bodors Strünken. Arabims waren äl nger und kräftiger, seine Bewegungen wohl überlegt und gezielt. Er drückte den tobenden Bodor gegen den sandigen Untergrund, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Mehrere Blitze, zehn oder zwölf auf einmal, zerfurchten das Firmament. Bedrohlicher Donner antwortete. Es dauerte lange, bis sich Bodor beruhigte. Schließlich ließ Arabim ihn los, und schluchzend lief der Junge davon. Die Bewegungen seiner Gehstrünke waren unkoordiniert. Mehr als einmal stolperte er. Als ob nichts geschehen wäre, sagte der Lehrer: »Wir treten nun in einen neuen Abschnitt der Großen Reise, in dem wir manches Tabu hinter uns lassen und uns die Wirkung des Magoo bewusst machen werden. Dann werdet ihr wissen, warum wir den Kontakt zu den anderen Völkern des Universums meiden.« Sprach's, rollte sich in seiner Kuhle ein und war im nächsten Moment eingeschlafen. * Der nächste Tag forderte den Jugendlichen alles ab. Es ging stetig bergauf in die Ausläufer eines mächtigen Gebirgszuges. Scharfkantige Granitblöcke schnitten schmerzhaft in die Unterkörper der Keelon. Sie mussten immer wieder Felslawinen ausweichen, die donnernd hinabstürzten und alles mit sich rissen. Für kurze Zeit peitschte Regen auf sie herab.
Schmale Rinnsale verwandelten sich binnen weniger Momente in alles mitreißende Ströme. Die Strahlung der drei Sonnen war an diesem Abend schmerzhaft spürbar. Ständig standen zwei von ihnen am Himmel und brachten Darnoks Leib fast zum Kochen. Zumindest glaubte er, dass er innerlich kochen würde. Irgendwo, dort, wo sein Körper am breitesten war, machte sich der Hitzeschmerz besonders stark bemerkbar. Etwas pochte, zuckte und ruckte in ihm. Es erzeugte schier unerträgliche Wärme. Erst, nachdem Primogender untergegangen war und nur noch Akto am Himmel stand, ließ der Lehrer Halt machen. Über ihnen reckte sich der Berg steil und bedrohlich in die Höhe. Ein schmaler Überhang bot bescheidenen Schutz gegen die verrückt spielenden Naturgewalten. Lisee streckte sofort alle Neunzehn von sich. Darnok und Perzephal, ein kleiner, unterernährt wirkender Junge, machten sich auf die Suche nach essbaren Beeren, die in dieser Höhe noch sporadisch wuchsen. Sie teilten ihren bescheidenen Fund anschließend mit dem Mädchen. »Findest du nic ht, dass heute selbst Arabim ein wenig matt wirkt?«, fragte Lisee kauend. »Es ist das erste Mal, dass ich Müdigkeit bei ihm entdecke«, antwortete Darnok. »Vielleicht hat es etwas mit der Attacke von Bodor zu tun.« »Bodor, pah«, stieß Perzephal hervor, und spuckte ein paar unreife Beeren zu Boden. »Wenn er nur nicht so ein verdammt guter Spurensucher wäre...« »Wenn er nur nicht so ein toller Organisator wäre...«, seufzte Lisee. »Wenn er nur nicht immer Recht hätte...«, sagte Darnok. Eine kurze Pause entstand. »Die kleine Jonke ist ständig bei ihm«, murmelte Perzephal. »Steht sie etwa auf diesen fahlhäutigen Motz?«
»Ich kann mir zwar nicht erklären, was an einem einzigen von euch Jungen liebenswert sein sollte«, antwortete Lisee, »aber ich glaube tatsächlich, dass sie ihn nett findet.« »Nett, pah!« Perzephal trommelte mit seinen Handlungsstrünken verächtlich gegen den felsigen Boden. »Sieh nur, wie sie ihn anhimmelt, ihn sogar füttert und mit ihrem Leib auch noch demütig über den Boden schleift.« Plötzlich presste er zwei Strünke gegen den Körper. »Was ist los?«, fragten Darnok und Lisee erschrocken wie aus einem Mund. »Aua! Ich habe die Sonnenstrahlung... au!... heute ganz besonders gespürt.« Perzephal rollte sich zusammen, so weit es sein Knorpelgerüst zuließ. Arabim kam mit raschen, raumgreifenden Strunkschritten heran. »Sonnenschmerzen?«, fragte er kurz angebunden. »Ja... verdammt, tut das weh!« »Zieht sich der Schmerz immer weiter an einem einzigen Punkt zusammen?« »Ja... ungefähr hier.« Perzephal presste die Handlungsstrünke noch fester gegen den Körper. »Hör mir jetzt ganz genau zu, mein Kleiner«, sagte der Lehrer. »Du brauchst keine Angst vor dem haben, was nun passiert. Du wirst dich plötzlich in einer anderen Umgebung wiederfinden und wahrscheinlich alleine sein. Rufe, so laut du kannst, sodass wir dich finden können.« Kaum hatte Arabim ausgesprochen, ertönte gegen den eisig gewordenen Wind ein lauter, heiserer Schrei. Darnok und Lisee sahen sich um. Das war die Stimme Perzephals, der doch... vor ihnen la g?! Nochmals ertönte der Schrei, verzweifelter diesmal. »Massiert seinen Leib und haltet seine Strünke«, sagte der Lehrer hastig und – löste sich in Luft auf! Der verdutzte Darnok glaubte noch, einen huschenden Schatten zu sehen, doch dieser Eindruck erlosch sofort wieder.
Automatisch begann er, die Leibesmitte des Freundes zu reiben. Lisee, die neben ihm stand, war genau so erschrocken und betroffen von den Vorgängen. Perzephals Fleisch wurde weicher und instabiler unter seinen Strünken. Der Körper verlor an Form, wurde geleeartig und schließlich halb transparent. Immer noch massierte Darnok, obwohl er kaum noch etwas zum Greifen fand. Dann war der Junge ganz verschwunden. Wortlos und schockiert sahen sie auf den leeren Fels hinab. Darnok berührte das Gestein. Es war kalt. Eisig kalt. »Was, beim Dreigestirn, geht hier vor?«, fragte er mit heiserer Stimme, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Lisees Strünke wurden blass. Sie zitterte. Laute, durcheinander schreiende Stimmen lenkten sie ab. Aufregung herrschte unter den anderen Trippel-Viels, die sich zwanzig Körperlängen von ihnen entfernt versammelt hatten. Mittelpunkt des Interesses war – Perzephal! Lisee und Darnok eilten näher heran. Arabim hielt den Jungen an den Strünken. Halb trug er ihn, halb schleppte er ihn hinter sich her. »Keine Ahnung, was passiert war«, antwortete Perzephal gerade auf die Fragen, die ihm zugerufen wurden. »Auf einmal hing ich unter dem Felsvorsprung... Nein, der Schmerz ging gleich vorbei, auch die innere Hitze... Noch ein paar Momente, und ich hätte mich nicht mehr halten können... Nein, es war sehr schön...« »Ruhe«, rief Arabim und richtete sich so weit wie möglich auf. Im Nu herrschte Stille. »Das, was ihr gerade gesehen habt, war die Wirkung von Perzephals Magoo. Heute, während des Tages, herrschten außergewöhnliche Bedingungen, verursacht durch die drei Himmelsgestime. Die starke Reizung verursachte Perzephals ersten, noch unkontrollierten Sprung wenige
Momente in die Vergangenheit.« Wieder wurde es laut, wieder bot Arabim all seine Autorität auf, um das Stimmenwirrwarr einzudämmen. »Das, was ihr soeben gesehen habt, wird hoffentlich euch allen im Laufe der Großen Reise zuteil werden. Es ist das größte Wunder unserer Existenz. Die bewusste Bewegung durch die Zeit.« * Die Aufregung wollte und wollte sich nicht legen. Arabim hatte sich nach diesen wenigen, bedeutungsschweren Worten zurückgezogen und die Jungen ihren Spekulationen überlassen. »... ich gehe zurück und werde mein eigener Vater...« »... deswegen habe ich dauernd diese Schmerzen im Leib...« »... das ist die Gelegenheit, meiner Pflegemutter die Meinung zu sagen...« »... ich werde mir selbst Süßigkeiten ins Kinderzimmer schmuggeln...« Perzephal, der Held des Tages, musste seinen Zeitsprung immer und immer wieder neu schildern. Keiner störte sich daran, dass er seine Erzählung mit jeder Wiederholung noch ein wenig mehr ausschmückte. »... als ich in der Vergangenheit auftauchte, packte ich instinktiv mit meinem stärksten Strunk – da, fühl die Muskeln – nach der Felsnase und hielt mich fest. Der Wind beutelte mich hin und her, aber mit einem kräftigen Schwung zog ich mich über den Vorsprung. Ich blickte in den drei nein, viertausend Körperlängen tiefen Abgrund. Der Sprung in die Vergangenheit war ganz leicht...« Die Aahs und Oohs nahmen kein Ende. Selbst Bodor mischte sich mehrmals in die lebhaften Gespräche ein. »Jetzt ist es aber genug«, war plötzlich Arabims strenge Stimme zu vernehmen. »Ihr habt bereits die Hälfte eurer
Schlafenszeit vertan. Morgen wartet ein anstrengender Tagesmarsch auf euch.« Erschrocken sahen sie hoch. Tatsächlich: Akto, der weiße Zwerg, ging bereits wieder unter. Terzenwohl, die dunkelgelbe Sonne, würde bald aufgehen. Darnok spürte mit einem Mal die Müdigkeit. Er sah zu Lisee, doch die war bereits auf ihren Strünken eingeschlafen. Sanft zog er sie mit sich und schubste sie vorsichtig in die kleine Schlafkuhle, die er aus Kies und Geröll für sie gebaut hatte. »Danke«, murmelte sie im Halbschlaf und zog die entzückenden Strünke grazil unter den zarten Körper. »Mädchen«, brummelte Darnok, »halten einfach nichts aus.« Er quetschte sich in seinen eigenen Liegebereich und war im nächsten Moment eingeschlafen.
2. RUBIKON Nach unbestimmter Zeit erreichten Scobee, Resnick und Jarvis das Ende des Ganges. Sie waren an keiner einzigen Abzweigung vorbeigekommen. Ein großer – nein! – ein gewaltiger Raum öffnete sich vor ihnen. Quaderförmige Konstrukte versperrten ihnen die Sicht ans andere Ende der Halle. Lediglich an der Rundung der Decke, die sich vielleicht fünfzig Meter oberhalb ihres Standortes halbkuppelförmig hinzog, konnten sie die ungefähren Dimensionen des Raumes erahnen. »Mindestens hundertfünfzig Meter breit«, sagte Jarvis schließlich. »Wie kann das sein bei den äußeren Dimensionen des Rochens, die wir vom Karnut aus angemessen haben? Und nach dem Gewirr von Gängen, das wir bereits orteten?«
Ein merkwürdig verzerrtes Echo antwortete ihm nach mehreren Sekunden. Schulterzuckend übernahm Scobee wieder die Initiative und ging in den Raum hinein. Ihre klobigen Schuhe erzeugten kein Geräusch auf dem glänzenden und dennoch rutschfesten Bodenbelag. Instinktiv wählte sie einen etwas breiteren Weg, der annähernd durch die Mitte der Halle führte. Links und rechts ragten die unterschiedlich großen Quader hoch. Ein leises, kaum wahrnehmbares Brummen ging von ihnen aus. Berühre mich, heb mich auf!, schienen leise Stimmen zu locken, wenn sie näher an ein Objekt herantrat. Ich bin eine Waffe, eine gefährliche Waffe. Ich töte, töte, töte, flüsterte ein Geisterchor, als sie an einem hohen Stapel gleich großer, länglicher Boxen vorbeikam. Ich bin ein Antriebsblock... Ich bin ein Versorgungsspender. Ich gebe Nahrung... Ich bin ein Schutzschildgenerator. Ich schütze Leben... Die Stimmen erklangen lediglich in Scobees Kopf, waren nicht wirklich zu hören. Eine leichte, suggestive Verlockung ging von ihnen aus, die aber nicht all zu schwer abzublocken war. Sie näherten sich dem Zentrum der Halle. Die beiden Männer gingen misstrauisch wenige Schritte hinter ihr. Auch sie hatten offenbar die Stimmen gehört, aber wohlweislich nichts berührt. Ein zylindrisches, lä ngliches Gebilde ragte vor ihnen hoch. Schwere, ölig glitzernde Tropfen sammelten sich an der Unterseite des Körpers und schwebten, immer schneller werdend, hoch zur Decke, wo sie in einem Funkenregen zerplatzten. Ich bin der Verwalter, flüsterte wiederum eine Stimme, die aus dem Inneren des Zylinders zu dringen schien. Ich gebe Auskunft über Inhalt und Funktion meines Lagers.
»Habt ihr es auch gehört?«, fragte Scobee freudig überrascht. »Vielleicht bekommen wir hier ein paar Informationen. Wir sollten...« »Seht mal!«, unterbrach sie Resnick und deutete mit einer Hand in einen Gang links von ihr. Sie drehte sich zur Seite. Ein Vorhang! Genau wie der, den sie vor wenigen Minuten im Korridor durchschritten hatten. Scobee sah die beiden Männer an. Dachten sie das Gleiche? Sollten sie noch einmal hindurchgehen? Wie auf Kommando setzten sie sich in Bewegung, vergaßen den Verwalter und alles andere um sich. Näherten sich dem Vorhang, blieben kurz stehen, atmeten tief ein und marschierten schließlich gemeinsam hindurch.
3. Darnoks Geschichte Die Durchquerung des Gebirges dauerte neun Tage und verlangte ihnen alles ab. Sie marschierten und schliefen, schliefen und marschierten. Es blieb kaum Zeit, weiter über das Magoo nachzudenken, obwohl zwei weitere Burschen ihren Erstsprung taten. Darnok spürte weiterhin eine Reizung, die ein merkwürdiges Ziehen in seiner Leibesmitte verursachte. Es war, als ob jemand einen Widerhaken in seiner Haut verankert hätte und kräftig daran zog. Doch das Ding, das er in seinem Körper spürte, wollte und wollte einfach nicht heraus. Endlich ließen sie Eis, Schnee und Geröllfelder hinter sich. Eine endlos weite Ebene lag vor ihnen. Risse, kreuz und quer, durchzogen das flache Land. Da und dort glitzerte Wasser, und hohes Steppengras wiegte sich sanft im Wind. »Dies ist das Land Gol«, sagte Arabim, »die wahrscheinliche
Wiege unseres Volkes.« Andächtiges Raunen wurde laut. Gol, das Land ihrer Urahnen! »Ihr habt eine bewundernswerte Leistung vollbracht, meine kleinen Trippel-Viels«, fuhr Arabim fort. »Die Tradition verlangt es, dass die Ankunft im Land Gol besonders gefeiert wird. Deswegen werden wir die nächsten paar Tage und Nächte hier verbringen und uns ausruhen.« Jubelrufe erklangen. Darnok und Perzephal hörten erst auf, Lisee ausgelassen hoch in die Luft zu werfen, als sie lautstark drohte, zur Strafe die ganze Nacht hindurch zu plaudern. Der Zeesta führte sie noch ein Stückchen über sanfte Wiesen hinab, auf ein sichtlich schon oft genutztes Stück Land, das der Vorstellung eines keelonischen Paradieses sehr, sehr nahe kam. Der Boden dampfte förmlich vor Fruchtbarkeit. Fettes, gut riechendes Gras und dicke Erdklumpen waren unter den Strünken zu spüren. Eine sanfte Brise wehte einen Hauch von süßlich duftendem Wasser heran. Terzenwohl tauchte das Land in mattgoldenen Glanz. »Es ist so schön, dass ich weinen könnte«, murmelte Darnok ehrfürchtig. »Findest du nicht?« Lisee antwortete nicht. Sie stand knapp hinter ihm. Er drehte sich um. Da war sie, mit zitternden Strünken und bebendem Körper. Ihr felliger Bauch ragte kaum aus dem dichten Gras hervor. »Du weinst ja wirklich«, sagte Darnok ratlos. Ihre Blicke pendelten zwischen dem Land Gol und ihm hin und her. Bernsteinfarbene Tränen kullerten langsam aus ihren Augen. »So etwas Idiotisches, einfach zu weinen«, sagte er heftig, und ihm selben Moment bedauerte er es. Also tat er, was endlose Generationen männlicher Keelon vor ihm getan hatten. Er zog ihre Stiünke an die seinen, streichelte über die Haut zwischen ihren Augen und küsste sanft
ihren Mund. * Ausgelassen tanzten die Jungen und Mädchen um das helllodernde Feuer. Arabim verschwand für eine Weile. Die Aufregung war groß, als er mit einem ausgewachsenen Gwirks, nahezu halb so groß wie er, zurückkehrte. Bald darauf brutzelte der leckere Wildbraten auf einem provisorischen Spieß. Blasen voller Fett tropften ins Feuer und verbrannten zischend. Darnok und Lisee hielten sich ein wenig abseits, ganz in ihrem eigenen Universum versunken. Immer wieder berührten sich ihre Strünke, immer wieder rieben sie ihre Bauchfelle zärtlich aneinander. Arabim löste sich aus dem Schein des Feuers und trat mit ruhigen Schritten an sie heran. »Seid ihr euch eurer Verantwortung bewusst?«, fragte er leise und riss sie aus allen Träumen. Darnok sah ihn verwirrt an. »Was meinst du, Lehrer?« Arabim ließ sich vor ihnen nieder. Nervös kratzte er sich zwischen den Augen. »Das Familienleben unseres Volkes gestaltet sich äußerst kompliziert und verläuft oft tragisch.« Seine Stimme änderte sich, die Augen richteten sich wehmütig hinaus auf das wiegende Gras des Landes Gol. »Es ist ein seltsames Schicksal, das die keelonischen Zeitphilosophen seit Anbeginn unserer Geschichte zu ergründen versuchen. Neunzig Prozent aller Verbindungen zwischen Mann und Frau werden auf der Großen Reise geschlossen und halten ein Leben lang.« Kurz unterbrach er sich und blickte Darnok und Lisee stechend an. »Absolute Treue zu unserem Partner ist etwas, das uns von den meisten anderen Bewohnern des Universums unterscheidet. Treue, die bis über den Tod hinaus andauert. Wie ihr sehen
könnt«, mit einer weiten Bewegung seines Feinfühlstrunkes deutete er auf das ausgelassene Treiben hinter ihm, »sind wir viel mehr Burschen als Mädchen. Das Verhältnis beträgt annähernd zwei zu eins. Mit absolut unbestechlichem Instinkt suchen sich die weiblichen Keelon den zu ihnen passenden Lebenspartner. Dies ist ein vom Unterbewusstsein gesteuerter Vorgang, für den es einfach keine Worte gibt. Wir Männer können darauf keinen Einfluss ausüben.« Lisees Strünke liefen schamgrün an. »Zielgerichtet«, fuhr Arabim fort, »suchen sie sich Partner, die sie gegen Ende ihres Lebens, nach vielleicht dreihundert Jahren, befruchten werden. Der männliche Partner stirbt gleich danach, alle Energie fließt aus ihm wie Wasser aus einem kaputten Gefäß.« Darnoks Strünke wurden schwer. Sterben sollte er, nachdem er der Liebe seines Lebens Kinder geschenkt hatte? »Aber wann... wie...« »Das ist etwas, was euch jetzt nicht zu berühren hat«, fiel ihm der Lehrer ins Wort. »Dein Tod, Darnok, wird wohl vorbereitet kommen, und dein Anteil ist der leichtere. Denn Lisee wird sechs bis zehn Eilinge gebären. Kinder ihres toten Partners. Sie wird diese Eier hassen, sie wahrscheinlich nicht einmal nach der Entbindung anblicken können. Wie auch – sind doch die Kinder im übertragenen Sinne die Mörder des Vaters!« Arabim seufzte tief. »Kurz nach der Geburt werden die Jungen, noch in ihren Schalen, einen instinktiven Geburtssprung ausführen, der sie in die Zukunft bringt. Drei, vier, manchmal fü nf Jahre. In ganz besonderen Fällen acht bis zehn Jahre. Damit ist das Magoo der Eilinge erschöpft. Es wird sich erst wieder während der Großen Reise aufladen, während sie erwachsen werden. Und selbst wenn es wieder aktiv wird, wird der Keelon nie wieder in die Zukunft reisen können. Manche, wenige unseres Volkes erlangen die Stärke, sich selbst in einen Zustand der Zeitschnelligkeit zu versetzen. So, wie ihr
es bei Perzephals erster Zeitreise sehen konntet, habe ich mich dem normalen Zeitverlauf entzogen und konnte mich für wenige Augenblicke schneller vorwärts bewegen.« Er seufzte erneut. »Dies ist übrigens ein sehr anstrengender Vorgang.« Darnok und Lisee sahen sich betroffen an. »Vielleicht begreift ihr nun das Ungleichgewicht der Natur bei der Geschlechterverteilung«, sagte der Lehrer. »Die übrig gebliebenen Burschen, die während der Großen Reise nicht von den Mädchen ausgewählt wurden, sind zu einem Großteil unfruchtbar. Sie dienen als Pflegevater, als Zweitmann, wenn in der Zukunft gestrandete Eier gefunden und an Ersatzmütter verteilt werden. Ihr werdet nun vielleicht die Bitterkeit, ja den Hass, den eure Pflegeeltern für euch empfanden, ein wenig verstehen. Die Mütter verloren mit der Befruchtung ihre geliebten Männer und bekommen irgendwann Eier zugeteilt, zu denen sie keine Beziehung haben. Die Pflegeväter hingegen sind von der Natur gebrandmarkt als Wesen zweiter Klasse. Dies sind nicht gerade optimale Voraussetzungen für ein glückliches Leben, nicht wahr?« Arabim verschränkte verlegen mehrere seiner Strünke. »Es ist meine Pflicht als Zeesta, euch all diese Dinge zu verdeutlichen. Aber ich bitte euch: Lasst euch dadurch nicht euer gemeinsames Leben verderben! Es mag zwar zeitlich begrenzt sein, doch es wird wunderschön werden. Niemand kann so lieben, wie wir Keelon es vermögen. Glaubt mir und nutzt die Zeit.« Mit diesen Worten, denen jeder Hohn fehlte, schlich er davon, als trüge er eine schwere Last auf seinen Schultern. Lisee, die die Augen vor Verlegenheit erst jetzt wieder öffnen konnte, rief ihm hinterher: »Zu welcher Art Männer gehörst denn du, Lehrer?« »Ich bin«, antwortete Arabim zögernd, »ein Sonderfall.« Der Zeesta trat aus dem Schein des Feuers und lief im trüben Sonnenlicht Primogenders hinab in die Ebene des Landes Gol.
* Arabim legte von nun an mehr Reserviertheit als zuvor an den Tag. Er machte deutlich, dass er den jungen Pärchen, die sich nach und nach fanden, mehr Privatsphäre gönnen wollte. Perzephal war den üppigen Reizen der behäbig wirkenden Mestra erlegen, die ein herzliches Wesen an den Tag legte. Jonke buhlte nach wie vor um Bodors Gunst. Grimm ging mit Zetus, Kerma mit Ernste, Teopha mit Insber... Am Ende der nun weiter auseinander gezogenen Gruppe marschierten die Junggesellen. Verbittert und griesgrämig hatten sie das Urteil der Mädchen hingenommen. Unfruchtbar, als Lebenspartner vorerst nicht geeignet, zweite Wahl! Wenn die Frauen den ersten Teil ihres Lebenszyklusses durchlaufen hatten und ihre Lebensgefährten nach der Befruchtung gestorben waren, würden sie zum Zug kommen. Um den Frauen Sicherheit zu bieten. Bis dahin hieß es warten... Arabim kümmerte sich intensiv um diese Gruppe und bemühte sich redlich, den jungen Männern die Vorteile eines längeren Lebens schmackhaft zu machen. Aber was nutzten all die schönen Worte...? Auch an einer anderen Front gab es grundlegende Veränderungen. Mehr als die Hälfte der Trippel-Viels hatte mittlerweile erste Erfahrungen mit ihrem Magoo gemacht. Bodor beherrschte seine neu gewonnene n Fähigkeiten am besten und nahm mehr denn je eine Führungsrolle ein, obwohl ihn kaum einer der Jugendlichen mochte. Kerma, ein schlaksiger, breit gewachsener Junge, hatte eine Gelegenheit genutzt, ein paar Worte mit sich selbst zu wechseln. Arabim war zuerst hellgrau und schließlich beinahe rasend vor Wut geworden. Eine Begegnung mit sich selbst – dies war ein Tabubruch, der im Leben der Erwachsenen schwerste Strafen nach sich zog.
Darnok spürte nach wie vor die Schmerzen im Leib, doch sein Magoo wollte und wollte nicht ansprechen. Vorerst. Eines schönen Tages suhlte er sich mit den anderen Jungen in einem sumpfigen Teich. Behäbig ließ er die Handlungsstrünke kreisen, um die Schwärme der Stechfliegen zu vertreiben. Schließlich schwamm er zurück zum Ufer, wartete, bis er die schnell aushärtende Schlammkruste abbrechen konnte und lief schnurstracks zu Arabim, der das bunte Treiben von einer kleinen Erhebung aus beobachtete. »Warum...?« »Der Tag ist voll von ›Warums‹, aber die wenigsten stammen von dir«, sagte der Lehrer mit gespieltem Ärger. »Interessiert dich nichts, was um dich herum so vorgeht?« »Ich bin nicht besonders neugierig«, entgegnete Darnok irritiert und ließ sich sanft im Gras nieder. »Außerdem redet Lisee ohnehin genug für uns beide.« Das Wetter war wunderschön. Die Große Reise hätte eine Ewigkeit lang andauern können. »Also: Welches ›Warum‹ willst du beantwortet haben?«, fragte der Zeesta. Darnok zögerte kurz. »Warum... besitzen wir das Magoo? Gibt es dafür einen Grund?« Arabim strich mit seinem Feinfühlstrunk auf seinem Bauch auf und ab. War dies ein Zeichen von Unsicherheit? »Viele Keelon vertreten einen religiösen Standpunkt«, sagte er schließlich. »Die Dreiheit der Gestirne, so heißt es, ließ vor undenklichen Zeiten einen Boten in Form einer sich windenden Schlange vom Himmel fallen. Als die Schlange auf dem Boden Roogals aufprallte, zerschellte sie wie ein gewaltig großer Kristall. Myriaden winziger Splitter schwebten in einer Wolke über dem gesegneten Land Gol. Erst als die Urahnen der Keelon aus den blutenden Erdfurchen an die Oberfläche traten, senkte sich die Wolke. Die kristallene Schlange, deren Geist
noch immer wach war, erfüllte schlussendlich ihre Aufgabe und drang mit winzigsten Bewusstseinssplittern in den Geist und in den Leib der ersten Keelon. Seitdem besitzen wir das Magoo, das vom Schein des Dreigestirns immer wieder erneuert wird.« Er sah Darnok prüfend an. »Ist dir das genügend Wissen für heute?« Bei den Erdteufeln, warum hatten ihm die Pflegeeltern gar so wenig Wissen, so wenig Umgangsformen vermittelt? Er stand vor dem Lehrer wie ein frisch gelegter Eiling und hatte keine Ahnung, was er auf diese Frage antworten sollte. Wollte Arabim seinen Glauben prüfen? »Nun«, sagte Darnok zögernd, »diese Geschichte lässt alle Fragen unbeant wortet. Vor allem die nach dem Warum...« »Es gab vor einiger Zeit eine kleine, konservative Gruppe einflussreicher Keelon«, unterbrach ihn der Lehrer, »die die Gabe des Magoo als von den drei Gestirnen gegeben hinstellte und behauptete, dass sie helfen soll, uns das Universum untertan zu machen. Denk darüber nach, was wir alles bewirken könnten, wenn wir die Zeitläufe beliebig manipulierten...« Erschrocken fuhr Darnok zurück und hob mehrere Strünke an seine empfindlichen Ohren. »Schrecklich«, prustete er, »wer kann nur an so etwas denken?« »Die Narren sterben nie aus, glaube mir«, sagte Arabim. »Unsere Regierung, der Planetare Rat, hat den Bemühungen dieser Verrückten mittlerweile einen Riegel vorgeschoben und ein Tabu verhängt.« Der Lehrer reckte sich im Licht Primogenders und drehte Darnok den Spitz zu. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. Enttäuscht über die vagen Auskünfte des Zeesta, lief er langsam zurück zum Sumpfteich. Da erklang noch einmal die Stimme Arabims. Der Lehrer sprach so leise, dass Darnok ihn mit Mühe gerade noch verstehen konnte: »Es gibt einige Wissenschaftler, die unsere drei Gestirne und deren Position keinesfalls als übernatürlich
ansehen. Sie gehen so weit zu behaupten, dass Primogender, Akto und Terzenwohl von irgendjemandem oder irgendetwas über Roogal in Stellung gebracht wurden. Um das Magoo zu erzeugen oder zu reizen. Um uns zu befähigen, durch die Zeit zu reisen. Vielleicht wurden wir extra für diesen Zweck gezüchtet? Ein merkwürdiger, unangenehmer Gedanke, nicht wahr?« Die Stimme brach ab, und Darnok ging langsam, mit zitternden Strünken weiter. Er sagte niemandem ein Wort von den seltsamen Andeutungen des Zeesta. Nicht einmal Lisee. * »... Primogender, die erste Sonne, ist ein so genannter Überriese mit niedriger Oberflächen-Temperatur. Akto, die zweite Sonne, ist hingegen ein weißer Zwerg, besonders heiß, aber mit extrem kleinem Durchmesser und hoch verdichtetem Körper. Terzenwohl, die dritte Sonne, ist vom gelben Typus. Im Mittelpunkt des Dreiecks, das die drei Sterne bilden, befindet sich Roogal, unsere Heimatwelt. Es erschütterte unser Weltbild, als wir erfuhren, dass überall sonst im Weltall die Planeten um die Sonnen, zumeist sogar nur um eine einzige, kreisen, und nicht, wie in unserer Heimat, still stehen...« Darnok brummte der Schädel. Jeden Abend stopfte sie der Zeesta nunmehr mit theoretischem Wissen voll. Ärgerte sie mit Geschichte und Geschichten, technischen und chemischen Formelspielchen, Biologie, Temporalkunde und so weiter. Vor allem die Tabulehre nahm einen breiten Platz im Lehrstoff ein. »Das Leben eines Keelon ist von straffen Regeln gekennzeichnet«, sagte Arabim immer wieder, »von Ordnung und Vernunft. Das Magoo erzwingt eine solche Disziplinierung, wie ihr noch später in eurem Leben erfahren werdet.« Eine Erklärung über das Warum und Wieso gab er nicht.
Das Land Gol, ruhig, naturbelassen und geschützt, lag hinter ihnen. Der alltägliche Kampf gegen Widrigkeiten aller Art hatte sie wieder. Lange, schwierige Fußmärsche durch das so genannte Feuerland erschöpften sie. Hier schien die Erdkruste bis auf wenige Festlandinseln auf einem Meer aus Lava zu schwimmen. Mehr als einmal mussten sie trotz des brillanten Orientierungssinnes von Arabim umkehren und einen neuen Weg suchen. Immer wieder bildeten sich neue Inseln, immer wieder wurde das eben erst gewonnene Land vom Feuer zurückerobert. Wasser und Nahrung waren kaum zu finden. Der Zeesta hetzte sie erbarmungslos durch die Gluthölle. Und wenn sie sich zerkratzt, blutig und erschöpft zur Ruhe niederließen, begann der Lehrer mit dem theoretischen Unterricht. Selbst Bodor, der zäheste unter ihnen, ächzte hörbar, wenn Arabim seine Stimme erhob. Aber auch dieser Abschnitt der Großen Reise fand ein Ende. Seit mehr als eineinhalb Jahren waren die Trippel- Viels nun unterwegs. Wenn Darnok zurückdachte, sah er den kleinen, unbedarften Jungen, als der er aufgebrochen war. Nun war er ein kräftiger, gestählter und fast erwachsener Keelon, den kaum eine Gefahr erschüttern konnte. Glaubte er zumindest. Denn als Teopha und Insber beim Übergang zum Land der Wüste Netsch bei einem einzigen Fehltritt verunglückten und von wilden Springwölfen bis auf die Knorpel zerfetzt wurden, war sein eben erst errungenes Selbstbewusstsein dahin. Sie waren verletzlich, und er fühlte sich noch empfindlicher als die anderen. Titsch, einer der Junggesellen, wagte kurz darauf ohne Beaufsichtigung des Lehrers einen scheinbar gezielten Sprung. Die leichte räumliche Versetzung, die bei ungeübten Schülern mit nahezu jedem Zeitsprung einherging, ließ ihn in einem Treibsandloch verschwinden. Selbst die Zeitschnelligkeit, jenes
wahnwitzige Tempo, mit dem sich Arabim unter Aufbietung aller Konzentration bewegen konnte, half nichts mehr. Darnok, so wie alle anderen Trippel- Viels schwer geschockt, sah den Lehrer weinen. Der Zeesta verbarg die Tränen nicht. Bodor und Jonke – die immer mehr in den Bann des großen Keelon gerieten – wandten sich verächtlich ab. Doch Darnok erkannte, welch intensives Verhältnis der Zeesta zu seiner Gruppe mittlerweile aufgebaut hatte. Trotz der tragischen Zwischenfälle ging die Reise weiter. Unermüdlich stapften sie dahin, sahen und spürten die Wunder einer unzähmbaren Natur. Das eisige Land Pentze, in dem die Haare des Bauchfells gefroren und wie Splitter abbrachen, das Land Karim, in dem sie sich einmal sonderbar leicht, dann wieder schwer wie Stein fühlten, die Wilde See Chereb, die sie binnen zwanzig Tagen durchschwammen und die Perzephal fast das Leben kostete, die Landbrücke Pers, von der sich einer der griesgr ämigen Einzelgänger namens Zenta in den Freitod stürzte. Ein weiteres Jahr verging und noch eines. Mehr als drei Viertel des Weges lagen bereits hinter ihnen. Und Darnoks Magoo war noch immer nicht zum Vorschein gekommen. »Manchmal sind die Schmerzen im Leib schier unerträglich«, sagte er eines Tages zum Lehrer, »aber dieses... Gefühl – es will und will nicht heraus.« »Geduld«, mahnte Arabim, »lass der Natur ihren Lauf.« Doch die Unsicherheit war dem Lehrer anzumerken. War Darnoks Magoo tatsächlich verkümmert, so wie es die Pflegemutter angedeutet hatte? »Warum vertraust du nicht einfach deinen und meinen Instinkten?«, meinte Lisee während einer der kurzen Ruhepausen und fuhr zärtlich durch sein Bauchfell. Er liebte es, die feinen Noppen ihres Feinfühlstrunks auf seiner Haut zu spüren.
»Ich hätte dich niemals ausgesucht«, fuhr sie fort, »wenn ich nicht deine besonderen Fähigkeiten gespürt hätte. Verkrampf dich nicht und lass alles einfach auf dich zukommen.« Sie hatte leicht reden! Mittlerweile sprangen die meisten Trippel-Viels punktgenau in die Vergangenheit. Bodor, der Anzeichen zeigte, auch die Gabe der Zeitschnelligkeit zu besitzen, verhöhnte ihn offen. Auch die meisten anderen ließen ihn ihre Verachtung sehr deutlich spüren. »Wir nähern uns dem letzten Abschnitt der Großen Reise«, verkündete Arabim eines Abends und reckte seinen Körper. »Viele von euch beherrschen ihr Magoo mittlerweile und besitzen auch das theoretische Rüstzeug, um allen Herausforderungen des Lebens zu trotzen.« Er machte eine kurze, bedeutungsschwangere Pause. »Wenn wir nun langsam tiefer in das Land Arkim eindringen, dem Land der tausend Wunder, obliegt es mir, die Fähigkeiten jedes einzelnen von euch einzuschätzen. Ich werde beurteilen, für welche zukünftige Aufgabe ihr am besten geeignet seid. Seid versichert, dass ich nur euer Bestes will. Ein einfacher Planetenwahrer hat im Gefüge unserer Welt den gleichen Stellenwert wie ein hochdekorierter Zeitforscher oder Planetarer Rat.« Geraune und Gemurmel erklang. Zeitforscher und Planetare Räte gehörten zur geheimnisvollen Clique jener Entscheidungsträger, die das Leben auf Keelon regelten und leiteten. »Das Land Arkim, nahe des Äquators von Roogal gelegen, steht unter permanent wechselnden Einflüssen der drei Sonnen. Nichts ist hier sicher. Es kann an einem Tag schneien, am nächsten Tag mag ein Sandsturm wüten. Es hängt von Mut, Lebenswillen und Konzentrationsfähigkeit ab, ob und wie schnell wir das Land durchqueren.« Arabim stieg von dem kleinen Hügel hinab, den er sich für
die Ansprache ausgesucht hatte. Er grub sich ganz in der Nähe seine Schlafkuhle. Die Trippel-Viels gingen ohne weitere Worte auseinander. Es war alles gesagt. Wenn der Lehrer meinte, es würde eine harte Zeit werden, konnten sie sich auf Einiges gefasst machen. »Glaubst du wirklich, dass du dein kümmerliches Magoo im Land Arkim endlich findest?«, höhnte Bodor zu Darnok herüber. Jonke und zwei, drei der Einzelgänger fielen in das Gelächter ein. »Wenn nicht – ich kann dir ja ein wenig von mir abgeben, Wunderkind!« »Lass ihn reden«, flüsterte Lisee. Sie hielt Darnok an den Handlungsstrünken fest. »Er will dich provozieren. Im Grunde ist er nur neidisch.« »Neidisch? Auf was?«, fragte Darnok bitter. »Darauf, dass ich einstmals als Wunderkind galt? Diese Zeit ist lange vorbei. Was mich wirklich trifft, ist, dass er Recht hat. Ohne Magoo bin ich nur ein halber Mann – nein! – gar kein Mann!« Er befreite sich von den zierlichen Strünken Lisees, wandte sich abrupt ab und verließ das Lager. Terzenwohl war die einzige annähernde Konstante im Land Arkim. Mehr als vier Fünftel des Tages war die gelbe Sonne zu sehen. So auch jetzt. Darnok marschierte ziellos drauflos und ließ sich auf einem moosbewachsenen Felsblock fallen. Zornig hieb er auf das niedrig stehende Gras. »Darf ich mich zu dir setzen?«, erklang plötzlich Arabims Stimme hinter ihm. Der junge Keelon zuckte heftig zusammen. Was wollte der Lehrer von ihm? Darnok hatte geglaubt, dass er schon lä ngst in seiner Kuhle schlief. »Gerne«, antwortete er zögernd. Arabim kam näher heran und ließ seinen Körper elegant auf den Felsblock gleiten. »Eine schöne Nacht, nicht wahr? Auch wenn Terzenwohl
hell scheint. Doch man glaubt, die Sterne sehen zu können. Erkennst du diesen hellen, milchigen Schleier dort? Millionen von Sternen, sagt man, sind darunter verborgen. So viele, dass tausend Generationen nicht ausreichten, um sie alle zu besuchen.« »Besuchen?«, fragte Darnok irritiert. »Ich dachte, dass wir uns nicht in die Belange der Milchstraßenvölker einmischen!« »Das heißt noch lange nicht, dass wir nicht forschen und beobachten dürfen. Und... suchen, oder?« Zum ersten Mal betrachtete Darnok die Haut seines Lehrers bewusst aus der Nähe. Sie war glatt und sah gesund aus, aber die runden Alterssprenkel waren nun deutlich zu sehen. Arabim musste zweihundert, vielleicht sogar zweihundertfünfzig Jahre alt sein. Er war jedenfalls dem Ende seiner Lebensspanne ziemlich nahe. Was wollte er nur von ihm? Der Lehrer starrte in den Himmel. »Schon seit meiner Jugend, und das ist verdammt lange her, sehe ich die Sterne vor mir«, sagte Arabim. Er redete kaum zu Darnok, vielmehr zu sich selbst. »Ich muss sie nicht wirklich sehen. Ich kann sie spüren. Die Kraft – die Anziehungskraft –, die von ihnen ausgeht. Jede Nacht, in meinen Träumen, greife ich nach ihnen. Sie locken und versprechen die Antworten auf all unsere Fragen und Probleme. Wie sehr habe ich den Planetaren Rat bekniet, mir eine Chance zu geben, mir all diese Antworten abzuholen!« Er seufzte abgrundtief. »Ist es nicht widersinnig, dass wir seit langem die technischen Möglichkeiten und Voraussetzungen besitzen, den Weltraum zu bereisen, und wegen unserer Ängste darauf verzichten? ›Suchen wir die Antwort auf unsere Probleme in der Vergangenheit‹, sagten die Alten, und vergruben sich in Büchern und Schriften früherer Jahrhunderte.« Unruhig erhob er sich von seinem Platz. »Die Zeit arbeitete für uns, für die Jungen, Hungrigen, die Änderungen herbeiführen wollten. Die alten Narren starben
einer nach dem anderen und mit ihnen ihre überholten Tabus und Werte. Wir glaubten, gesiegt zu haben.« Arabim lachte bitter. »Bis wir merkten, dass die Zeit uns genauso gnadenlos ausgetrickst hatte. Nun waren wir die Alten geworden. Beziehungsweise zu müde geworden, um die Reise ins Unbekannte, ins All, antreten zu können. Also beschlossen wir, uns auf die Suche zu machen nach den Jungen und Mädchen, die unsere Wünsche, Träume und Vorstellungen umsetzen würden. Und unsere Probleme lösen würden. Wir suchten und forschten, wir brachen alle bekannten Tabus.« Er blickte Darnok streng an. »Die nächste Zeit ist entscheidend für die Erfüllung unseres meines Traums.« Der Zeesta wechselte scheinbar das Thema. »Das Land Arkim wird dein Magoo bis an die Grenze des Erträglichen reizen. Der Strahleneinfluss der drei Sonnen wird ein Wechselbad der Gefühle in deinem Körper erzeugen, dem du dich nicht wirst entziehen können. Wenn das Magoo anspringt, wird es mit einer Naturgewalt kommen, die all das an Vorstellungen sprengen wird, was deine Altersgenossen erlebt haben. Vertraue mir! Du bist das Wunderkind. Du wirst mich nicht enttäuschen. Du bist die große Hoffnung fü r die Zukunft der Keelon. Vielleicht die einzige und letzte. Wenn du nur erfassen könntest, was das Schicksal uns vorherbestimmt hat. Dir und... und...« Arabim verstummte, streichelte dem halbwüchsigen Jungen sanft über die Augen und wandte sich ab. Verwirrt blieb Darnok sitzen. Er versuchte, sich einen Reim auf die Worte des Lehrers zu machen. Was erwartete der Zeesta von ihm? Wer waren diese anderen Keelon, von denen er erzählt hatte? Was hatte ein einfacher Lehrer mit dem Planetaren Rat zu tun, der höchsten politischen und moralischen Instanz auf Roogal? Fragen über Fragen... Hätte er nur die Kraft und die Durchsetzungsfähigkeit
Bodors! Darnok fühlte sich so schwach und müde, erdrückt von den mysteriösen Andeutungen Arabims. Gedankenverloren kratzte er sich am Körperspitz und marschierte schließlich bedrückt ins Lager zurück. * Die großen Hoffnungen Arabims wollten sich einfach nicht erfüllen. Primogender, Akto und Terzenwo hl ließen die Trippel- Viels ihre ganze Macht spüren. Sie formten die Umgebung mit jedem Tag neu und machten den Marsch zur Tortur. Gleichzeitig reizten die Gestirne die Magoos der jungen Keelon, animierten sie zu immer weiter in die Vergangenheit reichende Sprünge, nun bereits im Verbund von zweien oder dreien. Auch die Rückkehr in die Gegenwart gelang unter der praktischen Leitung Arabims von Mal zu Mal besser. Bis zu zwanzig Tage zurück schafften es Bodor, Jonke und Perzephal bereits, um anschließend punktgenau wieder im Jetzt zu landen. Nur Darnok war vom Geschehen ausgenommen. Das unangenehme Ziehen in seinem Körper war zu einer einzigen Qual geworden. Lisee musste ihn mehr als einmal über ganze Tagesmärsche hinweg stützen. Eis vermischt mit schmutzigrotem Lavastaub, sich ständig ändernde Gravitationseinflüsse, unvermutete Hitzeschübe, halbe Berge, die in sich zusammenkrachten, Stampedes panischer Großtiere waren an der Tagesordnung. Nichts war sicher. Nichts. Nur der Schmerz in Darnoks Leib. Eines Tages machten sie in einem schmalen, ausgetrockneten Kerbtal Rast, das von abscheulich stinkenden Schwefelquellen beherrscht wurde. Nahrung war rar, die wenigen Schwefelbeerensträucher waren wohl von wilden
Tieren weitgehend abgeäst worden. Das Abendmahl fiel äußerst karg aus. »Warum beeinflussen die Sonnen unser Magoo?«, wollte Perzephal während des Unterrichts wissen. »Ich höre immer noch nur Fragen nach dem Warum«, sinnierte der Lehrer mit einem kleinen Lächeln, wurde aber abrupt wieder ernst. »Behaltet euch diesen Wissensdurst, hinterfragt die Dinge, immer und überall. Das gilt vor allem für dich, Darnok. Du kümmerst dich zu wenig um die Geschehnisse um dich herum.« Der Junge zuckte zusammen. Die Last des Versagens hatte sich schwer auf seinen Körper gelegt. Er hätte im Moment eher Aufmunterung benötigt als Vorwürfe. Bodor machte eine höhnische Geste. Der Lehrer fuhr übergangslos fort: »Vielleicht steht ihr eines Tages vor euren Schülern und müsst ihre neugierigen und verfänglichen Fragen beantworten. Denn, ehrlich gesagt, was die Natur des Magoo betrifft, stockt die Forschung seit Ewigkeiten. Man weiß heute, dass es die durchmischte Strahlung der drei Sonnen ist, die eine Reizung verursacht. Röntgenwellen, LW-Strahlung, IR-Strahlung, Radiostrahlung, Korpuskularstrahlung sowie Einflüsse aus einem ultrahochfrequenten Bereich, den wir universell als Hyperstrahlung bezeichnen. Sie alle geraten zu einer bunten Mischung, die tagtäglich unsere äußerst dünne und labile Atmosphäre bombardiert. Und das aus drei unterschiedlichen Quellen, mit unterschiedlicher Intensität, ständig wechselnd.« Arabim seufzte. Blauviolette Adern traten auf seinem herzförmigen Körper hervor. »Das allein macht noch nicht den eigentlichen Effekt aus. Erst, wenn ein Keelon die Große Reise vollendet und eine schier unglaubliche Menge an Umwelteinflüssen absorbiert hat, ist sein Magoo gefestigt. Mehr Wissen kann ich euch nicht geben. Die Forschung hinkt in diesem Bereich, wie gesagt, deutlich unserer technischen
Entwicklung hinterher.« Die Kritik an den Zeitdesignern, jener geheimnisvollen Kaste von Wissenschaftlern, war deutlich in den Worten des Lehrers zu spüren. Das Rätsel um den Zeesta, der sich derart deutliche Worte gegen die Obersten auf Roogal erlaubte, wurde damit nicht kleiner. Hatte Arabim nicht zu befürchten, dass die jungen Keelon nach ihrer Rückkehr von der Großen Reise seine blasphemischen und tabulosen Aussagen an eine Behörde weitermelden würde? Darnok schaute zu Bodor. Der würde den Lehrer sicherlich mit allergrößter Freude verraten. Bevor er ernsthaft darüber nachdenken konnte, fuhr Arabim fort: »Doch das Thema heute Abend ist ein weiteres Tabu, das ich schon öfters angedeutet habe. Das Maximale oder Oberste Tabu.« Unruhe wurde laut. Der Zeesta hatte eine besondere Art, unbarmherzig auf die schmerzhaftesten Stellen zu drücken. Vor allem, wenn man am Wenigsten damit rechnete. »Unsere Vorfahren haben vor ewig langer Zeit Gesetzmäßigkeiten in endlos langen Denksprüchen niedergeschrieben«, erklärte Arabim. »Kein Keelon außer ein paar vertrockneten Zirbelflohfängern«, lautes Gelächter war die Folge, »liest heutzutage diese Schriften, obwohl sie viel über die Anfänge unseres Volkes erzählen.« Arabim peitschte mit drei Strünken durch die Luft. »Schon die Urahnen waren sich dessen bewusst, dass die Fähigkeit zur Zeitreise nicht nur Gabe, sondern in erster Linie auch Fluch ist. Denkt darüber nach! Mit Hilfe des Magoo könnten wir den Lauf der Geschichte ändern! Wer von euch ist noch nicht auf die Idee gekommen, sich selbst zu besuchen und alles über die Große Reise zu erzählen«, Gekicher wurde laut, »oder mit sich selbst Karten zu spielen.« Perzephal wurde schamgrün wie eine Hann-Pflanze und duckte sich tief in den Sand.
»Doch wo ziehen wir die Grenze? Was darf man den Keelon der Vergangenheit sagen, was nicht? Eine jede Tat, ein jedes Wort, könnte unsere Historie verändern.« Totenstille. »Es gibt sogar eine zugegebenennaßen gewagte Theorie«, fuhr der Lehrer fort, »dass der letzte lebende Keelon der Zukunft zurück an den Beginn der Zeit reisen und das Universum neu begründen wird. Eine phantastische, aber auch gefährliche Idee. Hoffen wir, dass sie nicht wahr ist oder wahr wird.« Wieder hielt Arabim inne und blickte über die versammelten Tippel- Viels. »Deswegen haben die Vorfahren mit viel Ausschmückung ein Regelwerk verfasst, dass sich im Prinzip auf vier simple Worte reduzieren lä sst. Diese Worte, meine Lieben, müssen für alle Zeiten in eurem Gedächtnis eingebrannt stehen. Ihr müsst an sie denken, wann immer ihr einen Zeitsprung macht. Immer. Die Worte lauten: Verändere nicht, sondern beobachte.« Da war er wieder, der unbeugsame, unfassbar kräftige Arabim, der um so viel größer schien und vor ihnen hochragte wie ein unbezwingbarer Fels. Wer hätte ihm in diesem Moment widersprechen können? Selbst Bodor duckte sich tief zu Boden. Das heftig pulsierende Blut war in Arabims Adern deutlich zu erkennen. Sein Körper war währenddessen schwarz wie der eines Dämons aus der Vergangenheit geworden. »Das Ende der Großen Reise ist absehbar, und damit auch das Training eures Magoos. Ich bin über diese Zeit hinaus für die Taten meiner Schüler verantwortlich und auch berechtigt, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn ich also erfahre, dass einer von euch nach der Rückkehr in die Zivilisation eine Änderung der Vergangenheit und sei es auch nur die Geringste, begeht, werde ich ihn persönlich töten. Ohne Bedauern.« Darnok schüttete sich Sand über den Körper, um den
stechenden Blicken des Lehrers zu entgehen. Dies war ein Dämon der Vergangenheit, der da vor ihnen stand. Der jugendliche, inzwischen fast erwachsene Keelon empfand eine Form der Angst, die weit über alles hinausging, was er bis dahin kannte. Wieder ruhig geworden, fuhr Arabim fort: »Die Zeit der Spielereien ist ab heute vorbei. Ihr beherrscht das Magoo einigermaßen«, Bodor peitschte seine Strünke spöttisch in Darnoks Richtung, »und ab morgen werde ich mit einer spezifischen Berufsberatung fü r euch beginnen. Jetzt legt euch nieder«
4. RUBIKON »Wo ist Scobee?« Die Ratlosigkeit sprach aus Resnick, nachdem ihre Begleiterin auch nach längerem Abwarten nicht durch das Schott getreten war. »Verdammt! Wir müssen zurück. Da stimmt was nicht.« Jarvis marschierte bereits los. Der Raum, in dem sie herausgekommen waren, barg nichts, was ihr Interesse geweckt hätte. Er war augenscheinlich leer und eine Sackgasse. Wieder erfolgte die Passage in Nullzeit, doch sie wurden nicht dorthin zurückversetzt, wo sie Scobee aus den Augen verloren hatten, sondern in einen gänzlich neuen Bereich! »Ob die Sache mit dem Erforschen eine so gute Idee war?« Resnicks Unmut war kaum zu übersehen. »Wir hätten uns von Darnok etwas geben lassen sollen, das Sprechfunk ermöglicht. Ist dir eigentlich klar, dass wir ziemlich naiv drauflos gestürmt sind?« »Scobee ist Schuld«, knurrte Jarvis. »Du meinst, weil sie nicht da ist und sich nicht wehren
kann?«, übte sich Resnick in Sarkasmus. Jarvis ging nicht näher darauf ein. »Wie sieht es denn hier aus?« Dieser Raum war nicht leer, auch nicht riesig – aber groß auf jeden Fall. Die Decke erhob sich in etwa fünf Meter hoch, der Raum selbst maß dreißig mal dreißig Meter. Darin standen in einer Doppelreihe mehrere achteckige »Gehäuse«, ein jedes etwa sieben Meter lang und vier Meter hoch. »Maschinen«, seufzte Resnick. »Irgendwelche unbekannten Maschinen.« »Wollten wir die RUBIKON nicht ohnehin erforschen?« »Scobee hat Vorrang.« »So wie unser Verschwinden für sie Vorrang hat?«, gab G.T. zu bedenken. »Du meinst...?« »Ich meine, dass sie momentan höchstwahrscheinlich genauso nach uns sucht wie wir nach ihr. Diese seltsamen Tore versetzen offenbar willkürlich.« »Wir beide wurden nicht getrennt.« »Wie auch immer...« Jarvis stapfte auf eines der Gehäuse zu. Im Näherkommen sah er, dass es gar nicht fest mit Boden, Wand oder Decke verbunden war, sondern mit unterschiedlichem Abstand davon schwebte! Bevor ihn Resnick stoppen konnte, berührte Jarvis bereits die Oberfläche des nächstgelegenen Gebildes. Ein seltsamer Ton hallte durch den Raum. »Idiot!«, keuchte Resnick. Dann brach das Gehäuse auseinander, spaltete sich. Aber nur so weit, dass ein Mensch durch die entstandene Lücke hätte gehen können. Verblüfft winkte Jarvis Resnick zu sich heran. »Schau nur...« Tatsächlich war das Innere des Dings erhellt. Merkwürdige Apparaturen erinnerten an ein Cockpit. Bevor Resnick etwas erwidern konnte, ertönte abermals ein
Klang, wie sie ihn noch niemals gehört hatten. Gleichzeitig entstand ein Sog. »Verdammt!« Resnicks Fluch kam zu spät. Jarvis war bereits in dem kapselartigen Gebilde verschwunden, regelrecht hineingezogen worden. Und er selbst... Ihm blieben ein paar Sekunden mehr. Selbst unter Aufbietung aller Kraft gelang es ihm nicht, sich gegen die Anziehungskraft zu stemmen. Im nächsten Augenblick verstummte der Klang, der Spalt schloss sich hinter Jarvis und Resnick, die sich zu diesem Zeitpunkt beide im Inneren des Gebildes aufhielten. Plötzlich ging das Licht aus und ein Ruck riss ihnen die Beine weg. Es wurde dunkel und kalt, und für eine lange Zeit änderte sich daran nichts...
5. Darnoks Geschichte Er lag in seiner Schlafkuhle, die Hautlappen straff über die Augen gezogen. Seine linke Seite berührte die warme Haut Lisees. Die Frau bewegte sich unruhig auf ihren Strünken auf und ab. Der Dämon gewordene Arabim stand über ihm. Sein schwarzer Körper pulsierte, die Adern traten so weit hervor, dass sie schier zu platzen drohten, der Mund spie grünen Geifer, die Strünke peitschten wie wild. Die verzerrte Faltung des Lehrers hatte etwas absolut Bedrohliches, Furchterregendes an sich. Doch dies war bei weitem nicht so schlimm wie der Dämon, der in Darnoks Innerem tobte.
»Lass mich raus«, schrie er, »lass mich raus!« Er wütete in seinen Eingeweiden, zerriss ihm Herz, Leber und Lunge. Verknotete den Darm, fuhr mit seinen Krallen durch das Fleisch. Zerfetzte ihm das Magoo. Eine Reihe seltsam entrückter Gestalten überlagerte das Bild Arabims. Kerz, der Pflegevater, und Obinaka, die Pflegemutter. Bodor und Jonke, die ihn grausam verhöhnten. Lisee, Teopha und Insber, die verunglückten Keelon. Dann war wieder Arabim im Vordergrund, dessen Leib groß und größer wurde. Groß wie ein Gebirge, schwer wie der Planet, heiß wie eine Sonne. Arabim fiel auf ihn herab, stundenlang, fiel, fiel, fiel... »NEIN!«, schrie Darnok und vertrieb die Gesichter und hielt Arabims Fall auf und vernichtete den Dämon in seinem Leib und tötete den Schmerz und... ... wachte auf. Er war alleine. * Das Land Arkim lag vor ihm, öd und leer. Niemand und nichts war zu sehen. Eine stinkende Schwefelquelle spie blubbernd schweren, blaugrauen Schlamm in die Luft. Darnok spürte einen leichten Erdstoß unter seinen feinfühligen Strünken und verspreizte sich instinktiv. »Lisee! Arabim!«, schrie er mit aller Kraft. Panik stieg langsam in ihm hoch. Warum waren die Trippel- Viels ohne ihn weitermarschiert? Warum hatten sie ihn nicht geweckt? Hatten sie ihn zurückgelassen, weil sein Magoo nicht funktionierte? Hektisch sah er sich um. Da vorne war die kleine Erhebung, von der herab Arabim gelehrt hatte. Merkwürdig – die selbst gegrabenen Schlafkuhlen
waren allesamt verschwunden. Keine Brandspuren eines Lagerfeuers waren zu sehen, keine arttypischen Strunkabdrücke. Und... die Schwefelbeeren-Sträucher, die sie geplündert hatten, trugen wieder Früchte. Allerdings gelbliche, noch nicht gänzlich gereifte Früchte. Plötzlich kam die Erkenntnis! »Das Magoo ist angesprungen!«, rief er. »Ich bin in der Vergangenheit!« Jetzt wurde ihm klar, warum die Sträucher nahezu abgeerntet gewesen waren, als die Trippel- Viels gerastet hatten. Darnok selbst hatte sich von ihnen ernährt. Besser gesagt: Er würde sich von ihnen ernähren. Denn ohne Hilfestellung durch den Lehrer traute er sich die Reise zurück in die subjektive Gegenwart nicht zu. So, wie er den Fruchtstand der Beeren abschätzte, hatte er gut zwanzig Tage zu warten, bis die Trippel-Viels in die Schlucht kommen würden. * »Dreiundzwanzig Tage?« Die zur Mimik der Fassungslosigkeit verschobenen Hautlappen des Lehrers boten ein Bild, das sich Darnok sein Leben lang einprägen würde. Hatte er sich nicht richtig verhalten? Hätte er den TrippelViels entgegenmarschieren sollen? Aber nein, damit hätte er das Maximale Tabu gebrochen! Darnok hatte geduldig gewartet, bis die Gruppe herangekommen war, sich etwas tiefer ins Tal zurückgezogen und war am Morgen nach dem Verschwinden seines zukünftigen – oder vergangenen? – Ichs ins Lager zurückgekehrt. Die Versuchung, sich selbst beim Eintritt in den Zeitsprung
zu beobachten, war groß gewesen. Aber die Erinnerung an das Bild des Dämons, des Lehrers, hatte ihn davon abgehalten. »Dreiundzwanzig Tage«, wiederholte Arabim immer wieder. Sein Herzkörper war blassgrau geworden. Er kam auf Darnok zu und wischte ihm mit allen Handlungsstrünken über das zottig gewordene Bauchfell. Fassungslos ließ der Junge die Prozedur über sich ergehen. Dieses Zeichen der Hochachtung gebührte eigentlich nur Familienangehörigen oder gleichrangigen Keelon, und selbst dann nur zu außergewöhnlichen Anlässen. »Es gibt keinen einzigen Bericht über einen Erstsprung, der so weit in die Vergangenheit führte. Es ist... es ist... das Wunder, das ich mir erwünscht und erhofft habe.« »Und wenn er uns anlügt?« Bodor trat näher und beobachtete Darnok hasserfüllt. »Vielleicht will er uns alles nur weismachen, und war in Wirklichkeit nur wenige Yarks weg?« »Schweig«, fuhr ihn Arabim an und richtete seinen Körper bedrohlich auf. Erschrocken sprang Bodor zurück und duckte sich ins Moos. Langsam und rückwärts gehend, entfernte sich der Junge aus dem Kreis der Trippel-Viels. Jonke, das kleine, unterwürfige Mädchen, folgte ihm zögernd. Warum nur war Bodor so voll Hass? Was hatte Darnok ihm angetan? Da war zu viel Zorn, um sein Verhalten schlicht als Eifersucht abzutun. Es musste mehr dahinter stecken. Etwas, das ganz tief in dem kräftigen Jungen brodelte. Dem Dreigestirn sei Dank, hatte Darnok in Arabim einen mächtigen Fürsprecher. Der Lehrer wandte sich wieder ihm zu. »Ich wusste, dass du es schaffen würdest«, sagte er mit Stolz in der Stimme. »Das Magoo ist so stark in dir, dass ich es spüren, ja fast riechen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es hervordrängte.« »Ich weiß aber nicht, wie ich es noch mal anwenden soll«, sagte Darnok schüchtern. »Der Sprung ist mir einfach passiert..
Es war wie in einem Traum.« »Glaube mir, der zweite Sprung wird ganz von alleine passieren. Nur muss ich dir einige Tricks und Kniffe beibringen, damit du die Zeitdosierung und die Rückreise möglichst rasch beherrschst. Ich glaube nicht, dass du nach jedem Versuch zwanzig oder mehr Tage auf uns warten willst. Oder?« Das Lächeln des Lehrers war vertrauenerweckend. Verschwunden war jegliche Spannung, jegliche Angst vor dem nächsten Sprung. * Während sie mühselig das Land Arkim durchquerten, kümmerte sich Arabim im besonderen Maße um seine Ausbildung und gab ihm unzählige Ratschläge. »... horche mehr auf dein Inneres und konzentriere dich nicht so sehr auf die Umgebung...« und »... orientiere dich anfänglich anhand des Sonnenstandes. Wünsche dich zu dem Moment, in dem Akto aufgeht...« waren noch die am einfachsten verständlichen. Tagaus, tagein gab es Training. Kleine Reisen, große Reisen. Zielsprünge, Seriensprünge, Gruppensprünge. Am Schönsten war es gemeinsam mit Lisee. Sie hielten sich vorsichtig an ihren Strünken fest und glitten hinab in die Vergangenheit. Das Umfeld verschwamm, drehte sich um sie, floss und wirbelte durcheinander und bildete ein Gemisch aus Farben, Gerüchen und Geräuschen, in dessen Mittelpunkt sie schwebten. Zeit wurde zu einer Substanz, die sie greifen und formen konnten. Die sie beherrschten und die Bestandteil ihrer Ichs wurde. Es waren die glücklichsten Momente in Darnoks Lebens.
Vom Begreifen der Zeit als Substanz war es nur noch ein kleiner Schritt zum Beherrschen der Zeitschnelligkeit. Zu seinem Bedauern musste er Lisee zurücklassen, sobald er in die Stasis eintrat. Sie hatte zwar ein relativ stark ausgeprägtes Magoo, doch im Vergleich zu seinen Fähigkeiten war sie wie ein frisch gelegter Eiling zu einem Erwachsenen. Der Sprung in die Stasis erforderte Kraft und Geschicklichkeit. Manchmal, wenn er unerkannt um die Trippel-Viels wirbelte und alle Gesetze der normalen Zeitabläufe brach, glaubte er schier, vor Lust und Anstrengung gleichzeitig zu platzen. Kehrte er aus der Stasis zurück – nach wenigen Momenten, wie ihm Lisee jedes Mal bestätigte, oder nach mehr als zwanzig Yarks, wie er es selbst empfand – fiel er sofort in einen todesähnlichen Erschöpfungsschlaf, der mehr als einen DrittelTag andauerte. Die anderen behandelten ihn anfänglich mit Respekt. Es war wiederum Bodor, der hässliche Gerüchte streute und die anfängliche Bewunderung in Abscheu wandelte. »Kretin«, zischte er, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. »Kein normaler Keelon ist zu all den Dingen imstande, die du machen kannst. Eine Missgeburt bist du!« Selbst Perzephal und Mestra, ihre besten Freunde, gingen auf Distanz zu ihm und Lisee. »Ich mache ihnen Angst«, sagte Darnok verbittert und zog seinen Körper krumm. »Sie haben lediglich übergroßen Respekt vor dir.« Lisee streichelte zärtlich sein Bauchfell. »Lass dich bloß nicht so leicht verletzen. Du solltest dir eine dickere Haut wachsen lassen.« Sie hatte leicht reden! Ein jedes böse Wort reizte und verletzte ihn, tat ihm weh. Er war nun mal sensibel. Und schwach...
* »Lehrer, wie sieht das Magoo eigentlich aus?« Arabim öffnete die Kauleisten und lächelte Perzephal an. »Was meinst du denn – was meint ihr denn –, wie es aussieht?« »Wie ein großer, rot brennender Edelstein!« »Wie eine bunte vielblättrige Blume!« »Wie eine zarte, elegant geschwungene Figurine!« »Wie eine gelbe, sanft strahlende Sonne!« Verblüfft hielten die Trippel- Viels inne. Arabim ließ ein glucksendes Geräusch hören, das ein unterdrücktes Lachen sein mochte. »Wie ihr merkt, hat jeder von euch eine ganz eigene Vorstellung von seinem Magoo, die er in ein Bild von etwas außerordentlich Schönem umsetzt.« Der Zeesta räusperte sich. »Schon vor endlos langer Zeit stellten sich unsere Vorfahren bereits diese Frage nach dem Aussehen des Magoo. Sie untersuchten ihre Toten. Besser gesagt: Sie zerrissen und zerschnitten die Leichen, um das Organ zu finden. Ohne Erfolg. Denn das Ziehen, das wir zumeis t hier, in der ungefähren Leibesmitte spüren, ist nichts anderes als ein Phantomschmerz, den unser Gehirn, unser Denken projiziert. Dieser Haken, den wir im Moment des Sprunges lösen, ist nichts anderes als eine psychische Krücke. Ein Sinnbild.« Amüsiert wedelte Arabim mit seinen Handlungsstrünken. »Das glaube ich einfach nicht«, platzte Perzephal heraus. »Diese Schmerzen vor meinem ersten Sprung sie waren echt!« »Wie ich schon sagte: Du glaubtest, sie im Bereich der Leibesmitte zu spüren! Aber der Schmerz entsteht im Gehirn aufgrund übermäßiger Hormonausschüttung und einer DrüsenÜberfunktion, die während der Pubertät vorkommen kann.« »Aber ihr habt mich doch massiert!« »Nun... sagen wir mal so – es handelte sich um eine Art Placebo-Massage. Sie hat dir geholfen, weil du glaubtest, dass
sie helfen würde.« Arabim wurde übergangslos ernst. »Die Macht der Vorstellung und der Fantasie ist größer als jede Wirklichkeit, merkt euch das. Wir Keelon benötigen diese Hilfskonstruktion eines Magoo-Organs in der Jugend, um der Vorstellung zu entgehen, dass sich alles nur in unserem Denken abspielt. Nur all zu schnell hätte manch einer von euch auf merkwürdige Ideen kommen können. Wenn die Zeitmanipulation nur in unseren Gehirnen passiert, wer sagt uns denn, dass unsere Realität wirklich existent ist? Dass nicht alles, was wir zu sehen und zu spüren glauben, gar nicht da ist? Dass die Zeitreise... nur ein Schwindel ist?« Er richtete sich auf. »Ihr musstet in eurem Glauben an das Magoo gefestigt genug sein, bevor ich euch die Wahrheit sagen konnte. Es haben sich zu viele gute, gesunde Keelon in eine Scheinwelt zurückgezogen, weil sie die Wahrheit zu früh erfuhren. Unsere Pflegeheime sind voll von diesen armen Kreaturen.« * Von nun an verlief die Große Reise in reichlich gedämpfter Stimmung. Der Enthusiasmus über das Erwachsen-Werden war durch die letzten Enthüllungen des Lehrers dahin. Die abschließenden Lehreinheiten nahmen sie wie notwendige Pflichtübungen hin. Nichts würde mehr sein, wie es einmal war. Die Unschuld der Kindheit und der Enthusiasmus der Jugend waren vollends von ihnen abgefallen. Sie waren brutal in die Welt der Erwachsenen geworfen worden und würden sich der kommenden Erwartung stellen müssen. Die männlichen Einzelgänger, brummeliger und missmutiger als je zuvor, bereiteten sich auf ein Leben vor, das für Dekaden, möglicherweise für mehr als ein Jahrhundert, einsam und ohne Sinn sein würde. Die Pärchen, noch acht an der Zahl, würden bald nach der
Rückkehr ihr Zusammenleben legitimieren und die von Arabim empfohlenen Berufe ausüben. Perzephal als Pflanzer und Landwirt, worüber er keineswegs unglücklich schien. Mestra an seiner Seite hatte eine Empfehlung Arabims, die sie zu einem Studium an der Hohen Universität zulassen würde, mit Schwerpunkt Nano-Design. Bodor in einem keelonischen Forschungsinstitut, das sich mit möglichen interstellaren Begegnungen auseinander setzte. Diese Entscheidung ließ Darnok überrascht aufzischen. Gerade der bornierte Junge, der alles Andersartige mit Verachtung strafte, sollte in einem derart sensiblen Bereich tätig werden? Die kleine, demütige Jonke würde seine kleine, demütige Assistentin werden. Lisee, nunmehr eine prachtvoll entwickelte Frau mit wunderbar dichtem Bauchfell, würde so wie Darnok ein Zeitpraktikum abschließen, um mit ihm... »Zeittechniker?«, fragte Darnok den Lehrer erschüttert. »Ich... wir... sollen Fehlsprünge junger, unausgebildeter Keelon aufzeichnen und überwachen? Aber ich dachte...« »Ja? Was dachtest du?« »... ich glaubte, wir beide wären für... Besseres geeignet!« »Glaubst du denn, der Beruf des Zeittechnikers würde nur belanglose Routine mit sich bringen?«, erkundigte sich Arabim. »Nein, aber...« »Vertraue einfach auf mein Urteilsvermögen!« Damit war die Diskussion beendet. Das wandelbare Land Arkim wich allmählich jener staubigen, trockenen und windigen Ebene, die sie vor mehr als vier Jahren betreten hatten. Als abenteuerlustige Kinder waren sie gegangen, als junge Erwachsene, die sich ihren Pflichten zu stellen hatten, kehrten sie zurück.
»Ich entlasse euc h nun. Das Dreigestirn sei mit euch und überwache die Wege, die ihr zu gehen habt«, sagte Arabim, dem strengen Zeremoniell folgend. »Danke, Zeesta, für die Hilfe und die Lehren«, entgegneten die Trippel- Viels im Chor. Die einen mehr, die anderen weniger begeistert. Die Schüler schüttelten sich die Strünke, während Arabim regungslos liegen blieb. »Mach's gut, Perzephal«, sagte Darnok und seufzte laut. »Vielleicht, wenn unsere Ausbildungszeit vorüber ist...« »Ja, vielleicht...«, schnitt ihm der gedrungene junge Mann das Wort ab. Zu mehr als diesem mageren Kauleistenbekenntnis würde es nicht kommen. Zu unterschiedlich waren die Wege, die sie gehen würden. Sie wussten es beide und übertünchten ihre Trauer, indem sie sich besonders heftig umarmten. Bodor kam herangestampft. Er reichte Lisee und Darnok förmlich die Strünke. »Wir sehen uns sicherlich wieder«, murmelte er kalt. »Komm, Jonke«, sagte er dann zu seiner treuen Begleiterin und eilte den wartenden Gleitern entgegen. Warum sollten wir uns wiedersehen?, sinnierte Darnok verblüfft. Er blickte sich um. Langsam und in kleinen Gruppen verschwanden die Trippel-Viels, machten sich auf in eine vorbestimmte Zukunft. Lediglich Arabim lag noch da wie ein steinernes Monument. Darnok gab sich einen Ruck. »Lehrer, ich... möchte mich auch informell bedanken und... verabschieden«, sagte er, und legte sich ehrergiebig vor dem Zeesta auf den Bauch. Ein Zittern ging durch Arabims Leib. War er wütend? Hatte Darnok das Zeremoniell entweiht? Nein! Langsam, ganz sanft, kam der Feinfühlstrunk des Lehrers unter dessen Bauchfell zum Vorschein, tastete sich
sorgfältig an seinem Körper empor und streichelte ihm die empfindliche Stelle zwischen den Augen. Die Berührung war so... sanft so angenehm... »Ich habe zu danken, mein Kleiner«, murmelte Arabim zärtlich. Abrupt, nach nur wenigen Momenten, zog er den Strunk zurück und eilte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Verstört blieb Darnok zurück...
6. RUBIKON »Alles in Ordnung?«, fragte Scobee. Keine Antwort. Sie drehte sich um die eigene Achse. »Resnick! G.T.!« rief sie immer wieder, immer lauter, immer drängender. Lediglich das Echo antwortete ihr, tausendfach gebrochen und verzerrt, so laut, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. Sie lief zurück, ins Zentrum der Halle. Zum Verwalter. »Wo sind meine Begleiter?«, fragte sie. Keine Antwort. Das zylindrische Gebilde stand stumm da. Der Tropfenvorhang, der zur Decke hin geschwebt war, war verschwunden. Ebenso die flüsternde Stimme. Scobee eilte zum nächsten Objekt, einem riesigen, schwarzen Kubus. Keine Stimme war zu hören. Der Raum war mit einem Mal leblos. Ein Hauch von Panik erfasste sie, und nur mühsam kontrollierte sie ihre Gefühle. Sie blickte auf die Uhr. Fünf Stunden waren vergangen, seitdem sie den Vorhang
gemeinsam durchschritten hatten! Wo war die Zeit bloß geblieben? »Du brauchst Hilfe, altes Mädchen«, sagte sich Scobee und erschrak vor dem Zittern in ihrer Stimme. Dann setzte sie sich in Bewegung und suchte den Weg zurück zur Zentrale. * »Er wollte euch den Abschied erleichtern, nicht wahr?«, fragte John Cloud dort in diesem Moment. Er saß in einem sanft abgedunkelten Raum jenes unheimlichen und mysteriösen Raumschiffes, das die vier Menschen und der Keelon im Inneren des Aqua-Kubus in Besitz genommen hatten. Besser gesagt: Sie hatten es gestohlen. Darnok, ein mysteriöses Lebewesen, das auf eine unbegreifliche Art und Weise durch die Zeit gleiten konnte, lag vor ihm. Die herzförmige, von Zeit zu Zeit heftig pulsierende Gestalt ließ die Auswüchse ziellos über den Boden gleiten. Er nannte sie Handlungs- und Gehstrünke, dachte Cloud. Warum der Keelon vor mehreren Stunden einfach hereingeplatzt war und seine Lebensgeschichte vor dem Menschen ausgebreitet hatte – Cloud wusste es nicht. Die Motivation des fremdartigen Lebewesens war so gänzlich anders und unberechenbar. Zumindest für menschliche Begriffe. »Ja, so war es wahrscheinlich«, antwortete Darnok unvermittelt auf die Frage, die Cloud vor mehr als einer Minute gestellt hatte. »Arabim stieß uns hinaus in eine neue Welt, die der Erwachsenen, in der wir uns erneut mühsam zurechtfinden mussten. Er trennte das Band, das wir während unserer gemeinsamen vier Jahre aufgebaut hatten, mit einem Schnitt. Was wären wir denn wert gewesen, hätten wir nach wie vor am Strunk eines Zeesta gehangen?« Er ließ keine Antwort auf die
wohl rhetorische Fiage zu, sondern fuhr fort: »Doch ich bin mit meiner Erzählung noch lange nicht fertig...«
7. Darnoks Geschichte Er empfand Kantaria, die Hauptstadt des Planeten Roogal, als riesengroß und erdrückend zugleich. »Mehr als zwanzigtausend Keelon leben hier«, sagte Lisee begeistert und zog ihren Lebenspartner mit sich. Seit heute war ihre Verbindung offiziell. Ein gelangweilter, grauhäutiger Beamter hatte ihr Zusammenleben unter dem von keinen Wolken getrübten Schein der Sonnen Akto und Primoge nder bestätigt. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Darnok. Er war ratlos. Diese schier unglaubliche Masse an Keelon drückte auf sein Gemüt. Zeit seines Lebens war er gerade mal mit den annähernd gleichaltrigen Trippel- Viels, den Pflegeeltern, einigen Wissenschaftlern und nur wenigen Nachbarn zusammengetroffen. »Wir lassen uns beim Koordinator vermitteln«, antwortete Lisee. »Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen. Mach dir nur keine Sorgen.« Sie streichelte ihn sanft zwischen den Augen. »Wir erledigen die notwendigen Behördenwege und verschwinden so rasch wie möglich. « Sie zog ihn mit sich. Vorbei an mehrstöckigen Häusern, vorbei an schnittigen Fluggleitern, vorbei an Dutzenden fremden Keelon. Endlich betraten sie ein dunkles, kühl wirkendes Gebäude, dessen künstliches Licht seinen Augen nach Jahren in der freien Natur schmerzte. Eine Erinnerung an seine Pflegemutter drängte sich ihm auf, als er eine schwabbelige, unappetitlich grün geschminkte Vettel
in einer abgenutzten Ruhekuhle auf sie warten sah. »Amt für Neueingliederung, Sachbearbeiterin Manta«, stellte sie sich vor. »Legt euch nieder! Rasch, rasch! Also: Mit welchem Zeesta wart ihr unterwegs?« »Ähm... er heißt Arabim«, sagte Darnok leise. »Arabim... Arabim... sagt mir nichts. Moment, da muss ich im Archiv nachsehen...« Sie benutzte ein winzig kleines Terminal, das bei der ersten Berührung ein Hologramm vor ihr aufbaute. Darnok schrak zurück. Er fühlte sich wie ein zurückgebliebener Hinterdörfler, als er diese lang vergessenen Errungenschaften einer modernen Zivilisation wiedersah. »Namen?« »Wie bitte?« Darnoks Körper zuckte schreckhaft. Lisee wedelte amüsiert mit ihrem Feinfühlstrunk. »Eure Namen will ich wissen. Beeilung gefälligst! Ich habe Besseres zu tun, als hinterdörflerischen Hendreks die Würmer aus den Ohren zu ziehen!« O nein! War es wirklich so offensichtlich, dass er auf dem Land aufgewachsen war? »Lisee und Darnok«, sagte er. »Na bitte, geht ja! Hm... hm... für euch haben wir etwas ziemlich Gewöhnliches. War wohl nicht ganz zufrieden mit euch, der Zeesta, nicht wahr? Aber was geht's mich an; ein zweijähriges Zeitpraktikum, dann gemeinsamer Einsatz als Zeittechniker im Außendienst, hauptsächlich im Land Arkim. Dienstgleiter, durchschnittliches Beamtengehalt, bescheidene Aufstiegsmöglichkeiten, das übliche halt. Du sagtest Arabim, nicht wahr? Ja, hier steht's. Interessant. Hm.« Sie verkroch sich tiefer in ihrer unangenehm miefenden Liegekuhle, als ob sie mit einem Mal mehr Respekt vor den Beiden bekommen hätte. »Gut, das war's. Vorne, zweiter Schalter rechts, ist die Ausgabestelle eurer Stellenzuteilung. Nehmt die Papiere und zeigt sie in den nächsten drei Tagen euren Vorgesetzten.«
»Das war's?«, fragte Darnok ratlos. »Ja, das war's. Ab heute zahlt ihr die Schulden für eure Erziehung an die keelonische Gesellschaft zurück. Während der nächsten einhundertachtzig Jahre!« * »Warum hat uns Arabim bloß für einen derart einfachen Posten empfohlen? Er hat mich gefördert, Einzelunterricht gegeben und war von meinem Magoo so begeistert...« »Beunruhige dich nicht, Darnok. Natürlich ist Zeittechniker zu sein nicht unbedingt das Größte. Aber sehen wir uns die Arbeit mal an. Und schließlich können wir zusammenbleiben.« »Alles gut und schön, aber ich habe mir einfach mehr von meinem Leben erwartet.« »Jetzt lass die trüben Gedanken beiseite. Bevor es mit dem Berufsalltag losgeht, sollten wir richtig feiern...« * Jahre danach... Das erste Mal, als er einen der grellblauen Gleiter bestiegen hatte, war es ihm schwer gefallen, die wenigen Stufen emporzuklettem. Wehmütig dachte Darnok an Arabim zurück, der ihm damals geholfen hatte. Was mochte aus dem Zeesta geworden sein? Sicherlich war er wieder mit einer Gruppe Halbwüchsiger unterwegs, jahrelang, um sie auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten. Er spürte keinen Ärger mehr gegen den ehemaligen Lehrer, denn die Arbeit gefiel ihm und Lisee. Mit einer beiläufigen Strunkbewegung startete er das Aggregat und flog los. In einer sanften, weiten Kurve zog er den Gleiter hoch vom Boden.
»Der Planetare Rat unter der Führung von Zimbara trat heute erneut zusammen«, berichtete seine Gefährtin. »Eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung unseres Dreigestirns und die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel dafür waren zentrale Themen der Besprechungen...« »Was interessieren mich die Nachrichten«, sagte Darnok leichthin. »Das sollten sie sehr wohl«, meinte Lisee vorwurfsvoll. »Willst du weiterhin so blind für alles, was um dich herum passiert, durchs Leben gehen? Interessiert dich denn wirklich nur deine Arbeit?« »Ja«, antwortete Darnok lakonisch und schaute nach draußen. Das Land Arkim, in dem vor geraumer Zeit sein Magoo erwacht war, faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Alles, was die Natur an Schrecklichem und gleichzeitig Schönem zu geben hatte, war hier zu finden. Dieses wunderbare Land war Sinnbild für den ewigen Kreislauf des keelonischen Lebens: Die in einem unberechenbaren Zyk lus wiederkehrenden Naturkatastrophen brachten Tod und Untergang. Und jeder Untergang provozierte neue, fantastische Lebensformen. Primogender, Akto und Terzenwohl bestrichen das Land Arkim mit ihren gewöhnlichen und auch ungewöhnlichen Strahlungen. Darnok fuhr sich instinktiv über den Leib und betastete die Haut über dem Magoo. Ein Organ, das angeblich nur in seiner Einbildung existierte. Aber der Schmerz war real. Die Reizung durch die Sonnen war teilweise so intensiv, dass er sich immer wieder in der Sitzkuhle zusammenkrümmen musste. Es wurde Zeit, das Magoo zu entlasten. »Wie viele Gruppen sind heute unterwegs?«, fragte er Lisee.
»Sechzehn«, antwortete sie knapp. Damit waren zwei Gruppen mehr als noch gestern im Land Arkim. »Irgendwelche Probleme?« »Momentan ist alles ruhig.« »Zeig mir doch die Routen aller Gruppen«, bat er sie. Ein Hologramm erschien wie von Zauberhand in der Luft. Das Land mit all seinen topographischen Besonderheiten breitete sich vor ihm aus. Sechzehn unterschiedlich eingefärbte Linien zogen sich kreuz und quer durch das Land, ohne sich zu berühren. »Blende mir bitte die aktuellen Messergebnisse ein«, sagte Darnok. Mehrere Felder und Flächen standen mit einem Mal vom übrigen Hologrammbild ab. Gravitationsschwankungen, Erdrisse, vulkanische Tätigkeiten und Wirbelwinde wurden sichtbar. Darnok und Lisee nahmen der Reihe nach Kontakt mit den sechzehn Zeestas auf und informierten sie über drohende Gefahren. Die Lehrer besaßen alle im Körper integrierte Empfangs und Sendeeinheiten. Es war eine weitere Überraschung für Darnok gewesen zu erfahren, dass Arabim während ihrer Großen Reise permanent Kontakt zur Außenwelt gehalten hatte. Die vielen, scheinbar grundlosen Umwege, die er während des Marsches genommen hatte, wurden damit im nachhinein nachvollziehbar. Darnok fü hlte sich desillusioniert. Sie hatten den Planeten nicht gänzlich aus eigener Kraft umrundet und damit bezwungen. Sie hatten immer unsichtbare Helfer um sich gehabt. »Notruf wegen eines Zeitsprunges bei Gruppe Jurtin!«, meldete die KI des Gleiters. »Flexschirm einschalten. Gruppe mit Höchsttempo anfliegen«, befahl Lisee, die um weniges rascher als Darnok
reagierte. Er konnte die irrsinnigen Beschleunigungswerte nicht spüren. Doch an der nur schattenhaft vorbeihuschenden Landschaft erkannten sie, wie schnell sie plötzlich waren. Zehn Atemzüge später sahen sie die Gruppe, einige hundert Körperlängen unter ihnen. »Jurtin, was ist passiert?«, fragte Darnok den Zeesta über Normalfunk. »Bakota, einer meiner Junggesellen, ist seit gestern Abend in der Zeit verschwunden«, antwortete der Lehrer leise. »Ein eifersüchtiger und eitler junger Bursche, der zu Beginn der Reise von einem Mädchen zurückgewiesen wurde.« »Glaubst du, dass er Schaden anrichten kann?« »Er besitzt zwar nicht allzu viel Zeit-Talent, handelt aber stur und konsequent. Ich halte ihn fü r gefährlich. Ich glaube, dass er in seinem Zorn vor keinem Tabubruch zurückschreckt.« »Gut. Wir werden ihn verfolgen.« Darnok kappte den Kontakt. Der Lehrer würde genügend damit zu tun haben, den Jugendlichen seiner Gruppe eine triftige Erklärung für das Verschwinden ihres Kameraden zu liefern. »Zeitspuren anmessen!«, befahl Lisee der Künstlichen Intelligenz des Gleiters. Der Quantenrechner machte sich still an die Arbeit, während Darnok eine Zeitboje im Luftraum aussetzte. Sie würde ihnen und vor allem dem Gleiter eine problemlose Rückkehr in ihre Zeitebene erleichtern. »Messung des Rechners abgeschlossen«, sagte Lisee. »Er erkennt Fluktuationen während des Sprunges. Anscheinend stand der Junge unter großer nervlicher Belastung.« »Wie weit zurück hat es Bakota geschafft?« »Achtzehn Tage«, antwortete Lisee knapp. Sobald es emst wurde, arbeitete das Paar bestens aufeinander abgestimmt zusammen.
»Mehr als beachtlich für einen Jugendlichen, der noch dazu alleine reist«, sagte Darnok. »Sprung vorbereiten«, befahl er der KI. Sie konzentrierten sich. Lisee griff zärtlich nach seinen Strünken. Es würde gut tun, das immer stärker schmerzende Magoo mit einem Zeitsprung zu entlasten. Die Reizimpulse im Land Arkim waren enorm stark. Kein Wunder, dass es nur wenige Einzelgänger und Nomaden vorzogen, hier zu leben. »Fünf, vier, drei, zwei, eins.. . Sprung.« Darnok löste routiniert den Haken in seinem Leib, konzentrierte sich auf die sanfte Berührung seiner Frau. Verstärkte seine Kräfte, sendete sie an die Spitzen seiner Handlungsstrünke, empfing die Energie, die heiße Energie, die von Lisee ausging, und bündelte beider Zeitpotenzial. Vor seinem geistigen Auge erschien sein Magoo – eine wunderbare Blume, mit weit geschwungenen, kräftiggrünen Blättern und einer weißen Blüte. Längst hatte er die Führung übernommen. Lisee stellte als schwächeres Glied während der Reise lediglich ihre Kräfte zur Verfügung und verhielt sich sonst still. Die Blume in seiner Vorstellung wuchs, bis er den Eindruck hatte, dass sie achtzehn Tage groß war. Die Blütenblätter lösten sich, wirbelten herum, umhüllten die beiden Keelon und den Gleiter und trieben sie sanft in die Vergangenheit. Es war weniger ein Sprung als ein Gleiten. Die Umgebung verschwamm. Ein stetiger, angenehmer Wechsel von Hell und Halbdunkel endete nach wenigen Augenblicken. Sie waren, wie geplant, am gleichen Ort aus der Zeittransition herausgekommen. Diesmal stand Akto allein am Himmel. Die Tage, an denen sie kleine, unmotivierte Ortswechsel hatten hinnehmen müssen, waren endgültig vorbei. Mit
bestechender Präzision führte sie Darnok an sein zeitliches und räumliches Ziel. Der Gleiter, den sie in die Vergangenheit mitgerissen hatten, glänzte schwarz und war von einer dünnen Reifschicht überzogen. Knistern und Klackern erklang, als die wärmere Außenluft auf die Zeitkälte des Materials prallte. Diese hyperphysikalische Erscheinung war ein unerklärliches Phänomen, das sich dem Forschungsdrang der Keelon nach wie vor widersetzte. Darnoks Haut hatte lediglich eine etwas dunklere Färbung angenommen, während Lisee fast schwarz wirkte. Er spürte die Belastung durch den Sprung kaum, auch wenn sie den Gleiter mit sich gerissen hatten. Der Haken in seinem Magoo war jedoch verschwunden. »Ziel erreicht. Abweichung nur wenige Yarks«, sagte Lisee. »Gut gemacht.« »Danke. Hast du eine Fährte des Jungen? « »Nein... ja! Ich erkenne eine Wärmespur. Er hat sich nordöstlich bewegt, den schmalen Grat ins Hochgebirge hinauf.« »Also in Richtung Stadt. Er dürfte tatsächlich nichts Gutes im Sinn haben. Also, ihm nach. Wir bleiben im Schutz desFlexschirms.« Langsam nahm der Gleiter die Verfolgung auf. Das KälteKnistern auf der Außenhaut ließ allmählich nach. Einige Yarks lang passierte nichts. Lisee verfolgte konzentriert die Wärmespur des Ausreißers. »Ich befürchte, wir haben ein Problem, Darnok«, sagte sie. »Was ist denn passiert?« »Bakota ist nochmals gesprungen. Du weißt, was das bedeutet.« »Ja«, antwortete er zögernd. »Große Schwierigkeiten.« *
Die Künstliche Intelligenz konnte die Reichweite des zweiten Sprunges ohne Probleme anmessen. Es waren fünfeinhalb Tage. Doch wohin die Reise nunmehr gegangen war, noch tiefer in die subjektive Vergangenheit oder aber in die Vor- Zukunft des Reisenden das konnte selbst der fähigste Quantencomputer nicht bestimmen. Vor jedem weiteren Sprung gelangte Bakota an eine Weggabelung. Kehrte er näher zurück an die Gegenwart, aus der er entstammte, oder tauchte er noch tiefer in die Verga ngenheit ein? Mischte er gar die Sprünge, vor und zurück, um mögliche Verfolger zu verwirren? »Der Junge fürchtet sich bestenfalls vor seinem Zeesta«, überlegte Lisee laut. »Er wird also ein paar Sprünge in beide Richtungen unternehmen, um seinen vermeintlich einzigen Verfolger abzuschütteln. Dann wird er sich auf sein Ziel konzentrieren, und das sollte auch unsere Aufgabe sein.« »Du hast Recht«, ergänzte Darnok. »Ich schätze, dass er zurück an den Beginn seiner Großen Reise will, sowohl zeitlich als auch räumlich. Und dort werden wir ihn schnappen.« »Aber das sind nahezu vier Jahre!« »Ja, ich weiß. Wir fliegen im Schutz des Flexschirmes zur Ebene des Beginns und machen dort unseren Sprung, ohne den Gleiter in die Vergangenheit mitzunehmen.« »Das schaffe ich einfach nicht, Darnok.« »Wir schaffen es gemeinsam, verlass dich auf mich.« * Zeit war etwas Unabänderliches. Oder etwa nicht? Bestand nicht die Gefahr, dass die geringste Veränderung, die ein Keelon durch seine Zeitreisen verursachte, enorme Einflüsse auf zukünftige Geschehnisse ausübte?
Bewirkte nicht bereits die Tatsache, dass sie sich durch die Zeit bewegten, eine stetige Änderung des Raum- ZeitKontinuums? Die Antwort auf diese und viele andere Fragen fielen in den Bereich der Zeit-Philosophie, in der sich zwei gegensätzliche Schulen stritten. Die eine Seite behauptete, dass eine glatte Straße in der Zeit vor ihnen läge, die durch nichts geändert werden konnte. Alles sei bereits vorherbestimmt, und sie, die Keelon, wären nur die Sklaven ihrer Gabe. Die andere Seite vertrat die Ansicht, dass alleine das Vollziehen eines jeden Sprunges neue Verästelungen in einer unendlich breiten Zeitebene auftat. Die stetige Veränderung jeglicher Kausalität sei die Grundlage keelonischen Daseins. So sehr sich die beiden Schulen auch stritten – in einem Punkt waren sie sich einig: Keelon durften bei ihren Zeitreisen immer nur beobachten und keinesfalls in Geschehnisse bestimmend eingreifen. Kein ausgewachsener Keelon wäre zum Beispiel auf die Idee gekommen, in der Zeit zurückzugehen und einen geliebten Partner vor dem Tod zu warnen. Das stärkste aller Tabus, das der Nichteinmischung, beherrschte das Leben und Denken von Darnok und seinen Zeitgenossen bis in die letzten Strunkspitzen. Aber ein noch nicht gefestigter Jugendlicher, voll Frustration über seine Unfruchtbarkeit und unerwiderte Liebe, konnte durchaus auf dumme Gedanken kommen. So stellte sich die Situation für Darnok und Lisee dar. Sie mussten den jungen Bakota finden und ihn vor einem Eingriff in die kausale Kette der bereits Realität gewordenen Geschehnisse seit dem Beginn seiner Großen Reise bewahren. Deswegen wurden die beiden Keelon Zeittechniker genannt. Darnok ergriff wiederum Lisees Handlungsstrünke und konzentrierte sich, bis er sein Magoo sehen konnte. Die Blume
wuchs vor ihm empor, immer schneller, immer höher. Sie wuchs und wuchs. Ein Jahr groß, zwei Jahre groß, drei Jahre groß, nochmals hundert, zweihundert, dreihundert Tage groß, nochmals acht, neun, zehn, elf Tage groß... Ein fiebriges Brennen erfasste seinen Leib. Am Rande seines Bewusstseins hörte er Lisee leise wimmern. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr! Die Blütenblätter lösten sich. Doch diesmal umwirbelten sie ihn nicht nur. Sie durchdrangen ihn und seine Gefährtin, zerrissen sie, zerteilten sie und trieben sie wie Sandkörner durch die Zeit. Heiß, es war so heiß... Der Schmerz ließ abrupt nach. Sie lagen am Rande der Ebene des Beginns.Von ihrem Gleiter war nichts zu sehen. Lisee war zusammengebrochen und atmete nur flach. Sie war in eine Ohnmacht der Erschöpfung gefallen. Darnok schwindelte. Nur mit Mühe konnte er sich aufrichten. Waren sie zur rechten Zeit angekommen? Weit voraus sah er eine Gruppe junger Keelon, die aufgeregt um ihren Zeesta herumwirbelte. Das mussten sie sein. Er überprüfte hastig seinen persönlichen Flexschirm und eine leichte Waffe, die Denkvermögen und damit das Magoo eines Keelon außer Gefecht setzte. Er roch, dass Bakota hier war und etwas vorhatte. Darnok fluchte. Mit Hilfe des Gleiters hätte er die Zeitspur des Jungen ausfindig machen können. Doch seine und Lisees Kraft hatte einfach nicht gereicht, auch noch das Fahrzeug mitzunehmen. Das Land war eben, so wie er es in Erinnerung hatte und nur von wenigen, niedrigen Felsblöcken unterbrochen, die rötlich glänzten. Sie lagen vielleicht zwanzig Körperlängen von der Gruppe entfernt im Sand. Nur einer von ihnen war dunkel. Nein, schwarz.
Der leichte Wind trieb Wortfetzen heran. Fünfzig Körperlängen trennten ihn von der Gruppe, die sich soeben daran machte, ihre Große Reise zu beginnen.. Sollte er nochmals, nur für wenige Yarks, in die Vergangenheit reisen? Noch früher ansetzen? Nein. Er fü hlte sich erschöpft und würde den Rest seiner verbliebenen Energie für die Rückreise benötigen. Der dunkle Felsblock bewegte sich leicht. Keiner in der Gruppe sah hin. Darnok beschleunigte, lief mit höchster Geschwindigkeit auf sein Ziel zu. Die Jungen und Mädchen sammelten sich in kleinen Gruppen, ordneten ihre wenigen Habseligkeiten und machten ihre ersten Schritte in eine unbekannte Welt hinaus. Der Felsblock in ihrem Rücken bäumte sich auf. Der Lichtreflex eines spitzen Gegenstandes blendete Darnok für einen Moment. Doch da war der Zeittechniker bereits heran, hüllte Bakota in die rasch erweiterte Blase des Flexschirmes. Instinktiv drückte er auf den Auslöser der Waffe, und der Junge brach zusammen. Jurtin, der Zeesta, der soeben losmarschieren wollte, drehte sich um. Er schien etwas gehört zu haben. Darnok meinte für einen Moment, dass ihn die Blicke des Lehrers getroffen hätten. Ich... wir sind unter dem Schutz des Flexschirmes, sagte er sich und hielt den Atem an. Er kann uns nicht sehen. Nur ja keine Veränderung der Zeitlinie. Bitte! Nun geh endlich weiter, beim Dreigestirn! Als ob der Lehrer seine Gedanken gelesen hätte, wandte er sich um und befahl: »Es geht los, meine Kleinen. Die Große Reise beginnt!« Sie marschierten ab. Sie alle. Auch Bakota, der in nahezu vier Jahren auf den wahnwitzigen Gedanken kommen würde, in der Zeit
zurückzureisen, um seinen Nebenbuhler zu töten. Jener Bakota, der gleichzeitig bewusstlos neben ihm im Staub lag. * »Fast vier Jahre Zeitreise«, sagte Jurtin schockiert. »Ich wusste nicht, dass der Junge solche Kräfte entwickeln würde.« »Nun...«, flüsterte Darnok. Er und der Lehrer trafen sich in aller Heimlichkeit während der Nachtruhe seiner Gruppe. »Es kostete ihn mehr als fünfzig Tage subjektiver Zeitrechnung. Es waren über fünfhundert Sprünge. Sein Magoo ist vollständig erschöpft. Es ist... aufgebraucht.« Betrübt ließen sie beide die Hautfalten über die Augen gleiten. Die Tat des Jugendlichen mochte noch so verwerflich sein. Doch sein Magoo zu verlieren war für einen Keelon eine ungleich härtere Strafe als der Tod. »Tragisch, wirklich tragisch. Mir ist ein solcher Fall noch niemals untergekommen.« Der Lehrer zögerte kurz. »Ich hatte bereits ein ungutes Gefühl zu Beginn der Großen Reise. Ich glaube, ich habe den Jungen... euch... kurz während der Festnahme gesehen. Vor vier Jahren. Ich hielt es für eine Täuschung. Ein Hirngespinst.« Darnok stockte der Atem. Um Haaresbreite waren sie an einer Zeitänderung vorbeigeschrammt. »Warum warst du dir so sicher, dass Bakota ausgerechnet zu Beginn seiner Großen Reise auftauchen würde?« »Instinkt«, antwortete Darnok. »Ich hätte es genauso gemacht.« Der sicherlich doppelt so alte Keelon blickte ihn prüfend an und ging nicht näher auf das Thema ein. »Wie geht es deiner Partnerin? Hat sie sich erholt?« »Sie ist noch etwas schwach. In wenigen Tagen aber wird sie wieder in Ordnung sein. Die Rückreise hat sie ziemlich viel Kraft gekostet.« Darnok ächzte. »Und mich auch. Wenn du jetzt
entschuldigst...« * »Sag einmal: Hörst du mir überhaupt zu?« »Wie sollte ich mich deinem Redeschwall entziehen, mein Liebes? Seitdem wir die Große Reise angetreten haben, hast du nicht mehr aufgehört zu reden«, antwortete Darnok mit einem schweren Seufzer. »Frauen, pah!«, fügte er hinzu und verzog lächelnd die Kauleisten. »Männer, pfui!«, sagte Lisee in ihrer Ruhekuhle. Sie kitzelte ihn an einer sehr empfindlichen Stelle. »Also: Was wolltest du mir sagen?« »Du hast mir also nicht zugehört!« Sie machte eine Pause, um ihm Gelegenheit zu geben, ihr zu widersprechen. Als er still blieb, fuhr sie fort. »Stell dir vor, ich habe Neuigkeiten von Bodor erfahren.« »Sieh an. Ist er wieder in ein neues Konsortium oder gar in den Planetaren Rat gewählt worden?« Der große, düstere Junge war in den letzten Jahren emsig die Karriereleiter emporgeklettert. »Nahe dran, mein Lieber. Er wurde zu Zimbaras persönlichen Berater ernannt.« »Zimbara«, überlegte Darnok laut. »Ist das nicht der Leiter des Planetaren Rates?« »Es wird Zeit, dass du dich für Politik zu interessieren beginnst, du Hendrek! Natürlich ist Zimbara der Leiter des Planetaren Rates!« »Entschuldige mal, aber ich konzentriere mich auf meine Arbeit als Zeittechniker und beschäftige mich nicht mit den Wortblähungen selbst ernannter Volksvertreter.« »Jetzt reicht's aber, mein Bester!« Lisee wurde allmählich wirklich wütend. »Seit Jahren hast du Scheuklappen auf, kümmerst dich nicht um das, was um dich herum passiert. Die
Leute reden über dich, das Wunderkind. Deine Spürfähigkeiten, dein Zeitgefühl, deine Sprungkraft sind bereits heute legend är. Alle schätzen dich, alle kennen dich – nur du selbst bekommst davon nichts mit.« »Tatsächlich?« Darnok lief schamgrün an. »Ja, du Dummstrunk. Und stell dir vor: Du hast eine Einladung zu Zimbara.« »Was? Wer? Ich?« »Heute, sobald Terzenwohl untergeht, will dich der Rat in der Planetaren Loge sehen.« »Und du meinst, ich soll wirklich hingehen?« »Du treibst mich noch an den Rand des Wahnsinns, du... du... Mann! Siehst du nicht, was es für eine Ehre ist, vom Leiter des Rates empfangen zu werden? Zimbaras öffentliche Auftritte sind schließlich ausgesprochen selten. Es gibt nicht mal ein Holo von ihm. Mehrere Jahre lang war er verschwunden. Man munkelt, dass er eine besonders gefährliche Zeitreise unternommen hätte.« Darnok sagte nichts. »Und das Dreigestirn möge dich strafen, wenn du dir nicht anständig die Hornhäute putzt, bevor du hingehst«, schimpfte sie. * Terzenwohl war schon längst nicht mehr zu sehen, als Darnok die Fließbänder zur Planetaren Loge hinaufglitt. So sehr er auch ein Beherrscher der Zeit geworden war – sein persönliches Zeitmanagement bekam er einfach nicht unter Kontrolle. Das Vordringen zum Leiter des Planetaren Rates war kompliziert. Die Vielzahl nieder- und hochrangiger Beamter, die ihn umständlich auf den Treppen der Macht weiterreichte bereitete ihm Unbehagen.
Schließlich, nachdem er Sicherheitsund Kontrollmaßnahmen ohne Za hl über sich hatte ergehen lassen, stand er im Vorzimmer der höchsten Macht des Planeten. Genauer gesagt: Er stand vor Bodor. »Lange nicht gesehen,Wunderkind«, sagte sein ehemaliger Wegbegleiter und reichte ihm bewusst provokant keinen Strunk zur Begrüßung. »Ich habe dich auch sehr vermisst«, entgegnete Darnok kalt. An ihrer gegenseitigen Antipathie schien sich nichts geändert zu haben. Bodor war äußerlich unverändert. Er wirkte lediglich noch düsterer, noch beherrschender, als Darnok ihn in Erinnerung hatte. Er besaß unweifelhaft große Ausstrahlungskraft und Präsenz. Darnok empfand seine Gegenwart als erdrückend. »Wann kann ich Zimbara sehen?«, fragte er unbeholfen. »In wenigen Augenblicken«, antwortete Bodor kühl lächelnd. »Leg dich bitte in eine der Besuc herkuhlen.« Es war gut, dass Darnok den Rat befolgte. Denn wenige Momente später schwang ein silberner Energievorhang beiseite, und Zimbara trat ein. Besser gesagt: Arabim, ihr Zeesta. * Darnok war sprachlos. Sein alter Lehrer reichte ihm mit offener Sympathie die Strünke, streichelte ihm zärtlich über die empfindliche Fläche zwischen den Augen und legte sich in eine hölzern umrahmte, mit weichem Leder ausgelegte Kuhle. »Na, ist die Überraschung gelungen?«, fragte er sichtlich abgespannt, aber mit einem freundlichen Lächeln. »Aber wie. .. aber was...« Darnoks Körper zitterte unbeherrscht. »Nur die Ruhe, mein Junge. Es gibt für alles eine
Erklärung.« Der Lehrer, der unübersehbar gealtert war, wurde übergangslos ernst. »Es gibt Dinge, die du wahrscheinlich nicht unbedingt hören willst. Aber die Zeit, da du dich damit auseinander setzen musst, ist gekommen. Bodor, leg dich bitte ebenfalls hin.« Der düstere Keelon zögerte kurz und wählte letztlich jene Kuhle, die am weitesten von Darnok entfernt war. »Dies ist ein seltsames Zusammenkommen«, sagte Zimbara, »das der keelonischen Moral und Etikette zutiefst widerspricht. Auch muss ich zugeben, dass ich es war, der euer beider Leben gelenkt hat. Nein, seid jetzt beide ruhig, ich werde euch eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte.« * Ich war, so wie ihr beide, ein außerordentlich begabter Keelon. Mein Magoo war kräftig, und Intellekt sowie Charisma befähigten mich, bereits kurze Zeit nach dem Ende meiner Großen Reise in den Planetaren Rat aufzusteigen. Man vertraute mir bald das heikle Amt des Zeitbewahrers an. Jenes Amt, dem auch du unterstehst, Darnok. Wir verfolgen Zeitverbrecher und kontrollieren, wie du ja weißt, auch die Zeitläufe. Die ratsinternen Streitigkeiten, ob unser Volk Kontakt zu Außerkeelonischen aufnehmen sollte oder nicht, weiteten sich damals aus, vor mehr als 150 Jahren und arteten beinahe in einen blutigen Bürgerkrieg aus. Die alteingesessenen Räte, verknorpelt und starrsinnig, setzten sich schlussendlich durch und belegten jeglichen Versuch zur Kontaktaufnahme mit einem starken Tabu. Unsere technische Weiterentwicklung wurde damit auf manchen Gebieten für lange Zeit verzögert. Erst als eine jüngere, ehrgeizige Generation, der ich und noch einige andere angehörten, allmählich die Zügel
übernahm, konnten wir manche Tabus, wenn schon nicht abschaffen, so zumindest aufweichen. Just zu dieser Zeit machte ich in meinem Amt eine verstörende Entdeckung. Es handelte sich um eine Flüchtlingswelle, die aus der Zukunft in unsere Gegenwart überschwappte! Ihr kennt das Maximale Tabu: Kein Keelon, der in die Vergangenheit reist, ist zur Kontaktaufnahme bereit. Eher würde er sich seine Strünke selbst ausreißen oder sich selbst entleiben. Hunderte, ja tausende Keelon waren mit einem Mal im Schutz ihrer Flexschirme unter uns! Geflohen vor einem offensichtlich schrecklichen Ereignis. Über kurz oder lang würden sie eine riesige Belastung darstellen. Wovon sollten sie leben? Wie sollten wir ihren Kontakt mit uns Gegenwarts-Keelon auf Dauer unterbinden? Alleine das Wissen der Räte, dass die Flüchtlinge unter uns waren, stellte einen Grenzfall zum Tabubruch dar. Und vor allem mussten wir herausfinden, wovor sie geflohen waren. Nun, das erste Problem war bald gelöst. Es erforderte einen kleinen Trick und eine logistische Meisterleistung. Wir erklärten das Land Gol anhand von Funden, die wir fingierten, zum Land unserer Vorfahren und zum Naturschutzgebiet. Gleichzeitig positionierten wir programmierte Zeitbojen überall auf Roogal. Sie sprachen lediglich an, wenn eine Gruppe Keelon in unserer Zeit auftauchte, die einen Sprung von mehr als zweihundert Jahren hinter sich gebracht hatten. Ja, da schaut ihr! Während wir als Einzel-Keelon kaum weiter als ein paar Monate – Anwesende ausgeschlossen – springen können, erreichen starke Verbünde, die auf ein Ziel fokussiert sind, tatsächlich eine derart große Zeit-Reichweite. Wir gingen davon aus, dass diese Verbünde sich spontan
zusammengeschlossen und panikartig reagiert hatten. Jedenfalls informierten sie Zeitbojen, dass das Land Gol auf sie wartete. Dort konnten sie ihr Exil in der Vergangenheit antreten und unter bescheidenen Verhältnissen leben. Kaum jemand von uns betritt dieses herrliche Naturschutzgebiet. Es beruhte auf meinem Sonder-Status, dass ihr Trippel-Viels es queren durftet. Euch ist sicherlich die große Lagerwiese in Erinnerung geblieben, auf der wir unsere erste Nacht im Land Gol verbrachten? Nun wisst ihr, wer sich dort zumeist aufhält. Doch wovor waren die Keelon der Zukunft geflohen? Welches schreckliche Ereignis hatte sie dazu bewogen? Der Umstand musste elementar sein, die Existenz Roogals bedrohen. Mit all unseren Vermutungen und Ahnungen hatten wir die Grenze des Maximalen Tabus weit überschritten. Wir, die achtzehn Planetaren Räte. Wir wussten um die Schuld, die wir auf uns genommen hatten. Nicht alle brachten es fertig, mit diesem Wissen zu leben. Wir hatten den Freitod mehrerer prominenter Ratsmitglieder zu verkraften, und die neuen weihten wir aus guten Gründen nicht in unsere Kenntnisse ein. Was waren die Alten verblendet gewesen, als sie ein Tabu über die Kontaktaufnahme mit Nicht-Keelonischen gelegt hatten. Ein Tabu, so stark, dass es heute noch weiterhin wirksam ist. Ein Tabu, das gleichzeitig die Forschung auf mehreren Fachgebieten behindert hatte. Der Verdacht lag nahe, dass die bevorstehende Katastrophe mit unserem Dreigestirn zu tun hat. Zu fragil und zu labil ist dieses Konstrukt sich gegenseitig beeinflussender Sonnen, dass nicht die Gefahr bestünde, es würde eines Tages kollabieren. Es dauerte lange und bedurfte mühsamer Überzeugungsarbeit, bis wir die unbemannte Raumfahrt initiieren, Sonden und Forschungsgeräte in einen Orbit um die Gestirne bringen konnten. Vielleicht ist es bereits zu spät, denn
die Forschungsergebnisse fließen noch immer recht spärlich. Auch auf einer anderen Ebene wurden wir aktiv. Wie ich euch während der Großen Reise erzählte, stelle ich in der keelonischen Gesellschaft einen Sonderfall dar. Ich war fruchtbar und wurde dennoch von meiner Partnerin verlassen. Wir hatten beide trotz unserer großen Liebe zu ausgeprägte Persönlichkeiten, um harmonisch miteinander leben zu können. Ich hatte zweifellos das stärkste Magoo aller Räte und war auch derjenige, von dem rasch klar wurde, dass er die Geschicke Roogals über lange Jahrzehnte hinweg lenken würde. Doch was würde danach passieren, nach dem Tod der anderen Räte und mir? Wir benötigten Nachfolger, besonders begabt, die unsere Arbeit im Stillen fortsetzen würden. Wir wagten uns an genetische Experimente. Schaut nicht so erschreckt... Es war einfach ein weiteres Tabu, das wir brachen. Ungewöhnliche Zeiten erforderten ungewöhnliche Mittel, so einfach ist das. Auch auf diesem Fachgebiet war die Forschung stagniert. Es dauerte Ewigkeiten, bis wir die künstliche Befruchtung in Angriff nahmen. Das hatte den Vorteil, dass ich, als der genetische Vater, dabei nicht sterben würde. Die Mutter sollte Zerptem sein, eine Hohe Rätin von außerordentlichem Scharfsinn und starkem Magoo, aber leider auch sehr sprödem und engstirnigem Wesen. Sie war die einzige Übriggebliebene der Wissenden, die noch Eier ausbrüten konnte. Die Befruchtung funktionierte. Von den acht Eiern überlebten zwei. Das eine sprang nach der Geburt sieben Jahre, das andere gar zwölf Jahre in die Zukunft. Einerseits ein unübersehbares Zeichen ihrer Magoo-Stärke, andererseits viel verlorene Zeit für den Planetaren Rat. Es kam uns wie ein Hohn vor, dass ausgerechnet uns die Zeit zu knapp werden könnte... Der Erstgeborene besaß bereits in der Jugend starke Anzeichen für höchsten Intellekt und scharfen Verstand, war
aber auch kaltherzig und berechnend. Der Zweitgeborene war ein Junge mit begnadetem Magoo, wie es äonenlang nicht mehr vorgekommen war. Er war ein richtiger Künstler auf diesem Gebiet. Ein Träumer und Forscher, leider auch mit einem Hang zur Lethargie, dem wir mit einem geeigneten Lebenspartner entgegenzusteuern versuchten. Nachdem ich euch das alles erzählt habe, wird es euch, Bodor und Darnok, wahrscheinlich nicht mehr überraschen, dass ihr Laichbrüder seid. * Darnok lag sprachlos in der Kuhle, nicht fähig, sich zu rühren. Sein Bauchfell hatte während des Vortrags Zimbaras immer mehr zu jucken begonnen. Schmerzhaft steif standen die kurzen, stoppeligen Haare vom Körper ab. Bodor wirkte genauso erschüttert, aber er reagierte rascher. So wie immer. »Du bist also... mein genetischer Vater? Und der da ist mein Bruder?« »Ja«, antwortete Zimbara schlicht. Beziehungsweise Arabim, wie er sich während der Großen Reise genannt hatte. »Es war natürlich kein Zufall, dass wir gemeinsam unterwegs waren?«, hakte Bodor nach. »Nein. Alles war geplant. Ihr beide zusammen mit mir als Zeesta. Die Anwesenheit von Jonke und Lisee, die strunkgenau jenem Typ Frau entsprechen, der euren Charakteren zu Gute kommt. Die sorgfältig geplante Route. Der Aufenthalt im Land Gol...« »Was ist mit unserer beruflichen Laufbahn?«, warf Darnok ein. »Dein Ehrgeiz und kühler Intellekt, Bodor, prädestinierten dich für die politische Arbeit. Du weißt ohnehin, dass du mein logischer Nachfolger als Oberster Planetarer Rat bist. Du,
Darnok, wurdest gemeinsam mit Lisee als Zeittechniker im Land Arkim eingesetzt, um dein Magoo weiter zu reizen, deine Gabe noch weiter zu verbessern. Wir haben noch viel mit dir vor...« »Wir wurden von vorne bis hinten manipuliert«, sagte Darnok mit schwacher, fast tonloser Stimme. »Ich werde dafür im ewigen Feuer des Dreigestirns schmoren. Ich, Zerptem, Jerus, Hanbal und die anderen – wenn sie es nicht schon ohnehin tun.« Zimbara sprach ruhig, fast gelassen, doch die heftig zitternden Strünke verrieten ihn. Er litt Höllenqualen. Seit – wie lange? – seit einhundertfünfzig Jahren! »Was ist aus deinen Mitverschwörern geworden?«, fragte Bodor, mittlerweile wieder vollends gefasst. »Einige sind natürlichen Todes gestorben, zwei sind in ihrer Verzweiflung so lange durch die Zeit gesprungen, dass es sie in den Wahnsinn trieb. Manche haben sich in selbst gewählte Einsamkeit zurückgezogen. Ich bin der Letzte, der an den Hebeln der Macht sitzt und die Wahrheit kennt. Ich konnte mich niemandem mehr anvertrauen, der nicht von Anfang an Bescheid wusste.« »Warum habt ihr das keelonische Volk nie eingeweiht?« Zimbara seufzte schwer. »Die Tabus. Panik. Unkontrollierte Zeitsprünge. Geänderte Zeitrealitäten. Bürgerkrieg. Was soll ich euch noch sagen?« »Was ist mit... Mutter?«, hakte Bodor nach. »Sie lebt. Aber sie will euch nicht sehen.« Zimbara zögerte. »Das genetische Konzept der Keelon sieht es einfach nicht vor, dass unsere Mütter uns lieben.« »Was erwartest du genau von mir... von uns?«, fragte Darnok, der sich nur langsam vom Schock erholte. Der Planetare Rat krabbelte aus seiner Nobelkuhle und begann, unruhig im Raum auf und ab zu laufen. Schließlich sagte er, den Kopf von ihnen abgewandt: »Meine
Zeit neigt sich ihrem Ende zu. Einige Jahre noch werde ich im Amt bleiben. Den Tag X, an dem uns die Zukunft verloren geht, werde ich sicherlich nicht mehr erleben. Der ist noch etwa fünfzig Jahre voraus, genauer wissen wir es allerdings nicht. Von euch erwarte ich – nein! – fordere ich, dass ihr von mir alle Verantwortung übernehmt. Bodor wird an meiner Stelle die Last des Regierens und des Wissens übernehmen. Darnok hingegen soll ein Karnut, ein Raumschiff erhalten, das bereits im Bau ist. Das erste unseres Volkes. Ein wahres Wunderwerk. Ein Forschungsschiff. Seine Aufgabe und die seiner Frau, die wir einweihen müssen, wird es sein, das Dreigestirn vor Ort zu vermessen. Nur ihm mit seinem mächtigen Magoo wird es möglich sein, die Strahlungen der Sonnen zu ertragen und gleichzeitig Lisee davor zu schützen. Er soll feststellen, ob die Sonnen tatsächlich mit dem drohenden Untergang unseres Volkes zu tun haben werden.« Zimbara zögerte nicht zum ersten Mal bevor er ergänzte: »Sollten sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten, musst du ein Sonnensystem finden, in das unser Volk auswandern kann. Dies ist die einzige mögliche Antwort auf unsere Probleme.«
8. RUBIKON Darnok schwieg, als müsse er einen neuen Anlauf nehmen, Kraft tanken. John Cloud hatte längst jegliches Interesse an seiner Umgebung verloren. Gebannt lauschte er der Erzählung des fremdartigen Lebewesens, dessen zarter Eigengeruch ihn an Moschus erinnerte. Langsam formte sich ein Bild, ein Gesamteindruck dessen, was das Volk der Keelon einmal gewesen war. Die Geschichte Darnoks steuerte unabänderlich einem tragischen Höhepunkt
zu. Nachdenklich nippte der Commander am kühlen, aber metallisch schmeckenden Wasser, das er den noch weitgehend unbekannten Mechanismen des gestohlenen Raumschiffes abgerungen hatte. »Wie ging es weiter?«, fragte er, als ihm die Pause gar zu lang wurde. Die Strünke des Keelon zuckten unruhig. Wie suchend glitten sie über den glatten, spiegelnden Boden. Endlich fuhr Darnok mit seiner Erzählung fort.
9. Darnoks Geschichte Es war wie das Fliegen eines sportlichen Gleiters nur viel schöner! Das Nonplusultra keelonischer Technik war in die Entwicklung des kleinen, kompakten Raumschiffs eingeflossen. Erzeugnisse der Nanotechnologie, wohin man nur sah. Zeitsprungtechnik auf höchstem Niveau, Flexschirme, Energieträger, Nahrungsversorger... Die Bevölkerung Roogals wusste nach wie vor nichts vom drohenden Schicksal. Noch immer gingen die Keelo n ihren gewohnten Beschäftigungen nach. Sie aßen, tranken und schliefen ihrem Untergang entgegen. Auch die am Bau des Karnut beteiligten Techniker hatten keine Ahnung, an was für einem bedeutenden Projekt sie mitwirkten. Bodors äußerst geschicktem Vorgehen war es zu verdanken, dass vielerlei Gruppen am Schiff arbeiteten. Strahlungstechniker, Mechaniker, Antriebsingenieure, Funker, Vermessungsspezialisten – sie alle waren voneinander ferngehalten worden. Darnok landete das Karnut im Schutze des Flexfeldes. Lisee eilte auf ihn zu. Sie würde ihn begleiten, seine Stütze
und seine Antriebskraft sein. Die Einzige, die neben ihm, dem Bruder und dem Vater mit dem Wissen um das Kommende belastet war. Darnok bewunderte ihre mentale Stärke, mit der sie die Bedrohung akzeptierte. Was würde er nur ohne sie anfangen? »Alles funktioniert blendend«, sagte Darnok an Stelle einer Begrüßung. »Die Größe des Karnut bedingt zwar mehr Magoo beim Zeitsprung, aber mit Lisees Hilfe könnte ich ohne weiteres mehr als fünf Jahre in die Vergangenheit springen...« »Du sollst nicht... reisen, sondern die Sonnen untersuchen«, tadelte ihn Zimbara sanft und unter sichtbaren Schmerzen. »Euer Magoo wird in der nächsten Zeit bis aufs Äußerste gereizt werden.« Er hustete unterdrückt. »Dies ist wahrscheinlich... ein Abschied für immer«, flüsterte der Vater, und streichelte beiden Trippel- Viels ein letztes Mal zärtlich über die empfindliche Haut zwischen den Augen. »Es ist ein Fluch, dass wir den Tag X nicht präzise anmessen können. Bodors neueste Tachyonen-Berechnung besagt, dass es noch zirka fünfundvierzig Jahre dauern wird. So... viel Zeit, und doch so wenig...« Zimbara atmete rasselnd und wandte sich sowohl an Darnok als auch an Bodor. »Ich weiß, dass ihr beiden nie etwas miteinander anfangen konntet. Aber ihr seid aus einem Laich, vom selben Blut. Legt die Strünke ineinander und vergesst eure Streitigkeiten. Mir zu Liebe.« Zögernd gingen die beiden Jüngeren aufeinander zu, verschränkten ihre Handlungsstrünke vorsichtig und umarmten sich zögernd. Für einen Moment, ganz kurz nur, vermeinte Darnok einen ehrlichen, ernst gemeinten Druck gespürt zu haben. Doch im nächsten Moment war dieses Gefühl auch schon wieder vorbei. »Ich habe alle Sünden dieser Welt auf mich genommen«, sagte Zimbara zum Abschluss, »und sollte unser Volk diese schwere Zeit überstehen, wird es meinen Namen als Fluch aussprechen. Doch das Herz wird mir leicht, wenn ich daran
denke, dass ich etwas erfahren durfte, was noch nie ein Mann zuvor gespürt hat: die Liebe zu seinen beiden Söhnen.« Der alte Keelon drehte sich um und torkelte mit leichter Schlagseite davon. Eine Spur bernsteinfarbener Tränen blieb zurück. Darnok und Lisee schlüpften ohne weitere Abschiedsworte in das gedrungen gebaute Karnut und starteten. Ihre zweite Große Reise begann. * Sie lagen gemeinsam in ihren Steuerungskuhlen und schauten hinab auf den Heimatplaneten. Das Dreieck der Sonnen Primogender, Akto und Terzenwohl rückte langsam und stetig in ihr Blickfeld. Lisee machte die unterschiedlichen Strahlungen, die Roogal bombardierten, mit ein paar Handgriffen am Holobildschirm sichtbar. Darnok verschlug es den Atem. Vielfarbige Schatten tanzten durch das All und um den Heimatplaneten. Sie durchdrangen sich, umarmten sich oder kämpften gegeneinander. Es war ein beständiges Wüten, das scheinbar gezielt auf Roogal ausgerichtet war »Kein Keelon«, murmelte Lisee andächtig, »hatte bislang die Möglichkeit, seine Heimat von oben zu sehen.« »Fühlst du dich dabei unwohl?«, fragte Darnok seine Partnerin. »Du meinst, wegen all der Tabubrüche, die wir begehen?« Sie lachte bitter. »In unserem Starrsinn haben wir uns auf Roogal eingekuhlt, alle äußeren Einflüsse abgelehnt oder ignoriert. Wir hatten solche Angst, mit unserem Magoo die Zeitlinien des Universums zu beeinflussen, dass wir Hautlappen über Augen und Ohren hängen ließen. Und was, so frage ich dich, haben uns Passivität und Tabu-Ängste gebracht? Sie
machten uns zu Sonderlingen – genial zwar in unserem technischen Geschick und einzigartig in unseren Fähigkeiten, doch unfähig, über unser eigenes Schicksal zu bestimmen. Lethargisch sitzen wir in unseren Heimen, lassen uns von den Planetaren Räten leiten, und dämmern einem vorbestimmten Schicksal entgegen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Eigentlich sind wir nicht die Beherrscher, sondern die Sklaven der Zeit.« Darnok war von der heftigen Reaktion Lisees überrascht. Sie war um so vieles stärker, als er es jemals sein würde. Sie hatte Mut und Kraft, ihre Gedanken in Wörter zu fassen und bestehende Konventionen niederzureißen. Und sie hatte ja so verdammt Recht... Das Karnut näherte sich in einem flachen Winkel jener virtuellen Ebene, auf der die drei Sonnen um Roogal standen. Was auf den Bildschirmen und Hologrammwürfeln noch wie ein abstraktes Kunstwerk ausgesehen hatte, wurde zum unvergesslichen Erlebnis, als Lisee mit einer Schaltung die Rundumsicht erwirkte. Die Wände des Karnut wurden transparent. Die beiden Keelon standen im Weltraum. Darnok stockte der Atem. Er spürte, ohne hinzusehen, dass es Lisee nicht besser erging. Sanft nahm er sie bei den Strünken und umarmte sie... * Die Arbeit zog sich dahin. Immer und immer wieder änderte das Karnut seine Position, ließ sich von der harten Strahlung baden und nahm die notwendigen Messungen vor. Es war zum Verzweifeln. Lisee, die umfangreich in Strahlungstechnologie ausgebildet worden war, ging gänzlich in ihrer Arbeit auf. Jede kleine Regelmäßigkeit im Strahlungsbad und dem Verhältnis der Sonnen zueinander, die sie algorithmisch errechnen konnte,
entfachte neue Hoffnung – um kurze Zeit später wieder zerstört zu werden. Die merkwürdige Konstellation der drei Sterne zueinander entzog sich jeglichem Verständnis, jeder Logik. Darnok musste das Karnut und damit Lisee immer wieder aus dem Nahbereich der Sonnen fliegen. Ständig war er damit beschäftigt, das Magoo seiner Frau zu entlasten. Ihre Strünke zu fassen, wie ein Blitzableiter ihre überschüssige Zeit-Energie abzusaugen und in seinem Körper zu speichern. So lange, bis auch sein Leib zu explodieren drohte. Dann sprang er in die Vergangenheit. Fünf, manchmal zehn Jahre. Immer wieder ging er an seine persönliche Leistungsgrenze, trieb sie weiter vor sich her. Immer wieder fand er sich, nur von einem dünnen, elastischen Raumanzug eingeschlossen, im Weltall wieder. In einer Zeit, in der es das Karnut noch nicht gegeben hatte, in das er hätte flüchten können. Erst nachdem sich sein Magoo beruhigt hatte, wagte er es, in die Gegenwart zurückzukehren. Schier unendliche Schmerzen waren das einzig zählbare Ergebnis seiner aufopfernden Arbeit. Die Tage an Bord des Karnut summierten sich und wurden schließlich zu Jahren. Alles wäre zur ermüdenden Routine verkommen – wäre nicht die düstere Bedrohung des Weltuntergangs ständig drohend in ihrem Denken gewesen. Und hätten sie nicht einander gehabt. Bis Lisee am Ende einer Arbeitsschicht lapidar verkündete: »Ich habe ein Resultat. Ich glaube, wir sollten es Zimbara mitteilen.« So machten sie sich auf den Weg in Richtung Roogal, denn das tobende Strahlungsinferno ließ keine Form der
Kommunikation in der Nähe der drei Sonnen zu. * Wiederum verging Zeit. Jahre... »Ah, du bist es, Bruder! Der Überbringer schlechter Nachrichten, fürchte ich?«, fragte Bodor. Er wirkte unverändert nach all der Zeit. Darnok reagierte nicht auf den Zynismus des anderen. »Das Sonnendreieck wird instabil«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »So, wie wir es befürchtet haben. Lisee hat einen Pulsrhythmus und einen Abhängigkeitszyklus der drei Sonnen zueinander errechnet, der während der letzten zweihundert Jahre langsam instabil wurde und auf ein Auseinanderdriften der Körper schließen lässt.« Er ertappte sich dabei, so etwas wie Freude zu empfinden, als er dem Bruder ihre Ergebnisse übermittelte. So, als ob er ihn damit persönlich demütigen könnte. Im nächsten Moment schämte sich Darnok seiner Gefühle und lief zartgrün an. Die Bildverbindung via Hyperfunk war, dem Dreigestirn sei Dank, zu kränkelnd, um seine Körperfarbe übermitteln zu können. Hoffte er zumindest. Bodor wirkte zwar getroffen und erschüttert, doch er fing sich erstaunlich rasch. »Wie lange haben wir noch?« »Noch vierzig Jahre«, mischte sich Lisee ein. »Dann wird Terzenwohl, die gelbe Sonne, aus dem Verbund ausbrechen und damit ein Kraftvakuum erzeugen. Primogender und Akto werden einander bekämpfen. Wer als Sieger hervorgehen wird, ist nicht von Belang. Roogal wird bereits im ersten Moment des Kampfes mit Sicherheit vergehen. Zerdrückt, zerrissen oder zerschmolzen – das kannst du dir aussuchen.« Bodor schien zu rechnen. Mit einer Kaltblütigkeit ohnegleichen na hm er die Fakten zur Kenntnis.
»Gut«, sagte er schließlich. »Wir fahren fort wie besprochen. Auch wenn die Chance noch so gering ist, werdet ihr beide einen Asylplaneten für unser Volk suchen. Ihr kennt die Direktiven: Überleben geht vor Bequemlichkeit. Zur Not nehmen wir alles, selbst den miesesten kleinen Steinbrocken. Ich und Zimbara«, er zögerte merklich und deutete damit an, wer in Wirklichkeit das Sagen im Planetaren Rat hatte, »werden mittlerweile versuchen, das Unglück zu verhindern.« Grimmig schlug er mit den Strünken auf den Boden. »Wir werden jedes Tabu brechen, sollte es notwendig sein. Wir werden die Bevölkerung informieren. Die ersten, vorsichtigen Schritte dazu haben wir in den Jahren, die ihr weg wart, schon vollzogen. Wir werden die Raumschifffahrt ankurbeln. Die Keelon werden nicht untergehen! Niemals!« Darnok schrak zurück vor der Leidenschaft und Überzeugungskraft des Bruders, der fö rmlich in die Höhe zu wachsen begann. Sein Körper pulsierte, wie er es zuvor nur bei einem Keelon gesehen hatte: bei ihrem Vater. »Du weißt, dass die Zeit gegen uns ist?«, wandte Lisee ein. »Die in die Vergangenheit geflüchteten Keelon sprechen eine deutliche Sprache. Roogal wird sterben.« »Aber nicht die Keelon!« Es war mehr als Trotz, der aus Bodor sprach. Es war Sicherheit und aus tiefstem Herzen empfundene Überzeugung. Darnok wünschte sich, dass er sich ein einziges Mal in seinem Leben einer Sache derart sicher sein würde. »Wird es nicht«, hallten die Worte nach, als sie ohne weiteren Abschiedsgruß ins schwarze Nichts davon flogen. Auf eine unmögliche Mission. * Das All war furcht erregend – und schrecklich und dennoch atemberaubend schön.
Das All war auch öd und leer – und barst gleichzeitig vor Leben. Sie flogen und forschten, lernten unfassbar fremdartige Zivilisationen kennen. Organisches und anorganisches Leben – worin lag der Sinn, um die Vorherrschaft des einen oder des anderen zu streiten? Was unterschied die ausschließlich in brüderlichen Paaren auftauchenden Aorii von den zu Kriegstreibern verkommenen Schöngeistern des Barschieri-Volkes? Was trennte die Jay'nac von den Ovoanern? Sie alle waren Leben! Bunt, vielfältig, oftmals skurril... doch eindeutig Leben. Manche Beobachtungen machten Lisee und Darnok durchaus auch Angst. So zum Beispiel die Sichtung gewaltiger Flottenbewegungen der Erinjij, die sich selbst angeblich Menschen nannten. In allen Teilen der Milchstraße wurden wildeste Gerüchte über die unheimlichen, stets überraschend zuschlagenden Aggressoren verbreitet. Kaum zu besiegende, waffenstarrende Raumschiffe, geheimnisvolle Antriebssysteme, unbändiger Kampfeswille – nichts und niemand schien sich ihnen entgegensetzen zu können. Die beiden Keelon wichen den Verbänden der Erinjij aus, wo immer es ging. Auch die Entdeckung des Aqua-Kubus versetzte Darnok und Lisee in Aufregung. Ein mysteriöses Gebilde, gefüllt mit einer grünlich- lumineszierenden Flüssigkeit und mit einer Kantenlänge von einer Lichtstunde! Einen Tag lang zogen die beiden Forscher an dem Objekt vorbei und kamen aus dem Staunen nicht heraus. All ihre Beobachtungen waren nur von peripherer Bedeutung. Mit Hingabe suchten sie nach einem geeigneten Sonnensystem, das das Volk der Keelon aufnehmen konnte. Ein ernüchterndes, ja deprimierendes Vorhaben. Nicht die Anzahl der Sonnen und auch nicht ihre Stellung zueinander war das Kriterium. Es zählte einzig und allein die
Strahlungsmischung, die sie benötigten, um ihr Magoo langfristig am Leben zu erhalten. Denn ohne ihr Zeitorgan konnte kein Keelon auf Dauer zufrieden sein. Lisee hatte an Bord des Karnut schon lä ngst die einzelnen Parameter identifiziert, die zur Sättigung des Magoos dienten. Ein ständiger, vom Raumschiff künstlich erzeugter Strahlenschauer berieselte die beiden Forscher und erzeugte ein gewisses Wohlbefinden. Doch war die Wirkung bei weitem nicht ausreichend, um es dem Volk der Keelon beständig zuzumuten. Sie benötigten eine natürliche Bestrahlung! War denn Roogal tatsächlich so einzigartig? So suchten sie, reisten mal willkürlich, dann wieder einem groben Raster folgend, von einem Sonnensystem zum nächsten. Oder sie stahlen Informationen aus Datenbänken fremder Völker. Tage vergingen, addierten sich schneller, als die beiden Keelon akzeptieren wollten, zu Jahren. »Fünf Jahre sind wir bereits unterwegs! Was haben wir bislang gefunden? Nichts!« Darnok schlug wütend gegen die Wand des Karnut. »Beruhige dich«, sagte Lisee und fuhr ihm durch die Bauchhaare. »Wir wussten, dass es eine beinahe unmögliche Suche werden würde. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen weitersuchen. Koste es, was es wolle!« Sie machten weiter, unermüdlich, von einem Raumsektor zum nächsten, führten hastig ihre Vermessunge n durch und flogen zum nächsten Ziel. Bis, eines Tages... »Das Zentrum«, flüsterte Darnok ehrfürchtig, »ich kann es fühlen.« »Das Schwarze Loch im Mlchstraßen- Zentrum! Ich wusste nicht, dass wir uns bereits so weit angenähert hatten. Was genau spürst du?« Darnok, der weitaus Sensiblere der beiden, antwortete: »Es
schmeckt nach... unendlich viel Zeit, die von einem unbestimmten Etwas verschlungen wird. Es spricht mein Magoo an, als ob Strahlung vorhanden wäre, die es füttern könnte. Doch gleichzeitig erzeugt es einen Heißhunger in mir...« »Du machst mich neugierig, Liebster.Wir sollten näher rangehen. Alles, was mit Zeit zu tun hat und unser Magoo reizt, kann uns bei unseren Erforschungen nur weiterhelfen.« »Ich weiß nicht... ich habe ein unbestimmtes Gefühl für Gefahr.« »Ach, du bist ein ewiger Zauderer. Ohne Risiko kein Gewinn!« Energisch bediente Lisee die wenigen, einfachen Armaturen und programmierte den Kursvektor. »Los geht's!« * »Spürst du es jetzt?«, fragte Darnok seine Begleiterin. »Ja«, antwortete sie und erschauderte sichtlich. »Du hattest Recht. Es zieht und zerrt an mir.« Sie blickten aus sicherem Abstand hinauf in die unergr ündliche Dunkelheit eines Schwarzen Lochs. »Die Masse ist nicht mehr messbar«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Und siehst du hier?« Lisee deutete mit dem Feinfühlstrunk auf eine kleine Ausbuchtung im Leuchtholo. »Da wird gerade ein kleineres Schwarzes Loch mit maximal eintausend Sonnenmassen verschlungen. Das muss ich mir genauer ansehen. Ich möchte noch weiter an den Ereignishorizont heran.« »Ich halte das für gefährlich«, sagte Darnok zögernd. »Die Zeit verläuft hier nicht gradlinig.« Schaudernd sah er immer wieder durch die scheinbar gläsernen Wände des Karnuts hinauf in den Schlund, der alles mit sich riss. Masse, Energie, Gravitation, Zeit. Nichts entkam dem Allesfresser. »Spürst du es denn nicht? Wirkung geht hier vor Ursache. Es wirkt mehr
als nur bedrohlich.« »Ich fühle lediglich, dass es mein Magoo anspricht und zwar in enormem Maße. Darnok, das ist DIE Chance! Wenn sich herausstellt, dass es gerade die Nähe zu einem Schwarzen Loch ist, die wir Keelon zum Leben benötigen – es wäre die wichtigste Erkenntnis unserer Reise.« »Lisee, ich bitte dich...« Sie machte eine ärgerliche Geste. »Jetzt hab dich nicht so. Ich bin alt genug, um die Risiken richtig einzuschätzen.« Spiralförmig bewegte sie das Karnut immer weiter an die Schwärze heran. »Genug!«, schrie Darnok. Der Ereignishorizont war in unmittelbare Reichweite gerückt. Er spürte den Druck auf sein Magoo, das Phantomorgan, schnell anwachsen. Zeit verlor ihren Sinn, wurde ein ums andere Mal umgekehrt. Zukunft wurde zur Vergangenheit, das Gestern zum Morgen und verschwand plötzlich. Ein endloser, gierig von der Schwärze aufgesogener Strom wollte ihn mit sich reißen... »Zurück, Lisee! Der Sog wird zu stark! Die verkehrte Zeit zieht uns hinab...« »Näher ran! Beim Dreigestirn, es schmerzt... und ist dennoch so schön...« »Weg!«, brüllte Darnok und drängte Lisee von den Steuergeräten weg. Sie fühlte sich so leicht an, so substanzlos... »Ich hänge fest!« Plötzlich war Panik in ihrer Stimme zu hören. »Es zieht mich mit sich!« »Lisee, konzentriere dich auf mich! Da, halte meine Strünke. O beim Dreigestirn...« Unwillkürlich verfiel Darnok in Zeitschnelligkeit. In wahnwitzigem Tempo raste er um sie herum, steuerte das Karnut gleichzeitig weg, nur weg aus der Gefahrenzone, errichtete Strahlenschutzschirme, verdunkelte das Raumschiff , massierte ihr Bauchfell, streichelte die Haut zwischen ihren Augen... ... während die Frau neben ihm, die Geliebte, immer
körperloser wurde. Sie löste sich auf. In der Zeit. Unaufhaltsam. »Lisee!«, schrie der Keelon. »... liebe dich...«, hörte er ihre Stimme verwehen, durch sein anderes Zeitempfinden merkwürdig verzerrt klingend. Seine Handlungsstrünke griffen ins Nichts. Lisee war verschwunden.
10. RUBIKON Darnok schwieg, sein Körper bebte leicht. John Cloud sah betroffen weg. Was hätte er schon sagen können? Die Verbindung zwischen dem Keelon-Paar musste so intensiv gewesen sein, dass es mit menschlichen Maßstäben nicht nachvollziehbar war. So wartete er, bis sich Darnok langsam wieder regte. Langsam, unendlich mühsam kamen zwei Strünke unter seinem herzförmigen Körper hervor und wischten über die scheinbar glatte Haut. Hellbraune Flüssigkeit tropfte langsam zu Boden. Tränen... Die Löcher, die Cloud für grobe Poren gehalten hatte, waren offensichtlich die Sehorgane des Keelon. Langsam kräuselte sich eine dünne Hautschicht über den Körper und verschloss die Augen. »Als ich wieder zu klarem Verstand kam«, fuhr Darnok endlich fort, »waren mehrere Tage vergangen...« * Was war das Leben eines Keelon ohne seine Frau? Nichts,
beantwortete er sich die Frage. Gar nichts. Ich spüre nur Leere. Gab es denn selbst in der Leere noch Aufgaben, gab es denn noch Pflichten? Wozu? Nichts macht mehr Sinn. Ohne Sinn kein Leben. Aber das Leben bestand aus Pflichten. Aus täglichen Dingen, Ritualen, wie zum Beispiel Nahrungsaufnahme, die man erledigen musste, um sich selbst am Leben zu erhalten. Um sich selbst davon zu überzeugen, dass man existierte. Soll ich nun wie ein stinkendes Hendrek dahinvegetieren? Einfach darauf warten, dass die Körpermechanismen eines Tages aufhören zu funktionieren? Es war nun mal seine Pflicht. Es war seine Verantwortung. Er dachte an den Vater, der jegliche Achtung vor sich selbst aufgegeben hatte, indem er alle Tabus, die ihm heilig gewesen waren, bewusst gebrochen hatte. Und dennoch hatte er weitergelebt! Er dachte an den Bruder, der das dreigestirngegebene Schicksal vom Untergang des Planeten Roogal nicht akzeptieren wollte, weil er... Hoffnung hatte? Hoffnung, die auf der Stärke seines Willens beruhte. Und auf dem Glauben an ihn und sein Pflichtbewusstsein. Sie besitzen übergroße Willenskraft. Ich hingegen bin schwach. Er war der Sohn seines Vaters. Der Bruder seines Bruders. Und er war möglicherweise die letzte Hoffnung. Nach langem Kampf mit seinen inneren Dämonen akzeptierte Darnok sein Schicksal. Er begrub Lisee in seinem Herzen und stürzte sich mit aller Kraft auf seine Aufgabe. Er musste einen Asylplaneten für die Keelon finden. * Es war Zeit, zurückzukehren. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.
Er
hatte
alles
unternommen, was in seiner Macht gestanden hatte. Darnok trat die Heimreise in dem Wissen an, dass Roogal und seine Sonnen einzigartig waren. Es gab keine Flucht vor dem Untergang seines Volkes. Die letzte Hoffnung – der letzte Funken einer Hoffnung! – beruhte auf jener politischen Radikalkur, die Bodor dem Volk der Keelon hatte angedeihen lassen wollen: dem Niederreißen jeglicher Tabus, dem Erschließen neuer, nach außen gerichteter Technologien, dem Erschaffen einer neuen keelonischen Gesellschaft. Um in einer letzten, verzweifelten Gewaltanstrengung die drei Gestirne abstützen zu können. So viel Zeit war vergangen, seitdem er die Heimat das letzte Mal gesehen hatte. War Zimbara tot? Mit Sicherheit. Genauso tot wie Lisee... Hatte sich Bodor durchsetzen können? Wahrscheinlich. Die unmäßige Selbstsicherheit des Bruders wurde nur von dessen Führungsstärke übertroffen. Darnok seufzte, tief. »Wie lange noch, bis wir Roogal erreichen?«, fragte er das Karnut. »Nur noch wenige Yarks«, antwortete die KI des Raumschiffes mit wohl modulierter Stimme. Sie hatte sich zu seinem Bedauern keineswegs als adäquater Gesprächspartner bewiesen. Sie reflektierte bestenfalls seine Gedanken. Darnok erhöhte den Strahlenschauer, den vor so langer Zeit Lisee für ihre Bedürfnisse eingestellt hatte. Er spürte, wie sein Magoo allmählich gekitzelt und gereizt wurde und fühlte sich ein wenig besser. Ein aktiviertes Zeitorgan wirkte sich sofort positiv auf sein Gemüt aus. »Eintritt – jetzt«, sagte die KI, und übergangslos saß Darnok in einem Albtraum.
* Zeit... Zeit verwehte und verlor jegliche Bedeutung. Denn unter ihm verging die Heimat. Endlos lange, vom Quantencomputer grün dargestellte Strahlen griffen nach Roogal. Sie stammten von jenen Schiffen, deren Form Darnok mehr als bekannt war. Die Erinjij oder Menschen, jene überall verhassten Eroberer, waren mit zahllosen Einheiten über das Dreisonnensystem hergefallen und schossen Salve um Salve ab. Fremdartige, schnörkellos gezeichnete Schriftzeichen blitzten immer wieder grell im Widerschein der Strahlenschüsse auf. Darnok würde niemals mehr den Anblick der so glatten und dunklen Schiffe vergessen, aus denen das massive Offensivfeuer drang. »Nein!«, schrie Darnok und nochmals: »Nein!«, während die KI in einer Vielzahl überdimensionaler Holos, die binnen weniger Momente vor seiner Kuhle entstanden, den Untergang des Planeten nachvollzog. »Hyperfunkverbindung zu Bodor, rasch!«, befahl Darnok dem Rechner mit sich überschlagender Stimme. Es dauerte Ewigkeiten, bis die Verbindung zustande kam. Während er wartete, musste er im Holo mit ansehen, wie das Land Gol starb, der Ursprung der Keelon. »Setzt euch zu Verbünden zusammen und flüchtet in die Vergangenheit!«, schrie er den Bruder an. Die Landbrücke Pers explodierte. »Du...?«, fragte Bodor krächzend. Seine Haut war schweißnass. Eine gewaltige Strahlenfurche zerschnitt die Wüste Netsch und brachte sie zum Glühen. »Rettet euch, verdammt! Brecht die Tabus! Sucht Asyl in der
Vergangenheit!« Die wilde See Chereb trocknete aus, von einer furchtbaren Feuerlohe weggedampft. »... les... ve rsagt.« Lediglich Fragmente dessen, was Bodor sagen wollte, durchdrangen das Chaos, das im Dreisonnensystem herrschte. Das eisige Land Pentze verging im gezielten Beschuss mehrerer Erinjij-Kampfraumer. »Du bist der letzte... wenn du... verschwindest... erwischen... dich doch noch«, fuhr der Bruder fort. Die Verbindung brach ab. Darnok reimte sich den Rest zusammen. Bodor wollte, dass er flüchtete und das Erbe der Keelon bewahrte. Auch die Planetare Loge war wohl vernichtet worden. Die Hologramme implodierten. Es gab keine Daten mehr, die die KI vom Planeten Roogal übernehmen konnte. Der Autopilot hielt das Karnut außerhalb der Spürortung der Zerstörer. Denn der Kreislauf des Piloten, des letzten Keelon, versagte. Eine Ohnmacht umfing Darnok. * Als er wieder zu sich kam, von kreislaufunterstützenden Medikamenten der Künstlichen Intelligenz ins Wachsein zurückgerufen, herrschte Dunkelheit. Schwärze im All. Schwärze im Karnut. Schwärze in seinem Denken. Er konnte das Bewusstsein nicht lange verloren gehabt haben, denn die Schiffe der Erinjij waren noch da. Kleine, metallisch reflektierende Punkte in einem Holo-Display. Sie sammelten sich, zogen sich überheblich langsam in einem Sektor, wenige Lichtsekunden vo raus, zusammen. »Den Schiffen in sicherem Abstand folgen«, befahl er der Künstlichen Intelligenz leise.
Zornig leise. Der Hass, den er verspürte, überdeckte jedes Gefühl der Trauer. Er wagte nicht zurückzublicken, zurückzudenken. Alles, was an Leben noch in Darnok verblieben war, konzentrierte sich auf den Feind. Menschen, Erinjij oder wie auch immer sie sich nannten – er würde sich an ihnen rächen. Oder bei dem Versuch dabei umkommen. Rache. Zorn. Hass. Nichts anderes mehr hatte Platz in seinen Gedanken. »Der Schiffsverband nimmt Fahrt auf. Ich folge in ortungssicherer Entfernung«, erklärte die KI des Karnut. Darnok sagte nichts darauf. Bedeutungslos gewordene Zeit verging. Darnok verbrachte sie in der Stase seiner leer gefegten Gedankenwelt. »Endziel des Flugs erreicht«, flüsterte die Stimme des Karnut irgendwann. »Die Flotte der Menschen hat sich in einem System mit gelber Sonne gesammelt. Sieben Planeten, dem Anschein nach unbewohnt.« Mit kleiner Verzögerung fügte die künstliche Stimme hinzu: »In diesem System existiert ein Wurmloch.« Ein Wurmloch! Ein kleines, künstlich erzeugtes Schwarzes Loch, wie es die Erinjij bevorzugt für großräumige Flottenbewegungen nutzten.Von hier aus hatten sie wohl den Angriff gegen Roogal gestartet, hierher kehrten sie zurück. Ein Gedanke, so wagemutig, dass Darnoks Strünke zu zittern begannen, formte sich in seinem Gehirn.
11. RUBIKON »In der Zeit darauf spionierte ich die Erinjij aus – wo immer ich sie antraf oder Wesen traf, die etwas über sie wussten«,
schloss Darnok. »Auf diese Weise fand ich nach Jahren und Jahren eine Spur, die ins System der Nargen und zu deren Welt Kalser führte. Der Hinweis barg den Schlüssel zu allem – ich fand die Reste einer erbauten Flotte und die seismischen Nachwehen eines Vorfalls, der sich vor langer Zeit dort ereignete.« »Seismische Nachwehen?«, echote Cloud verständnislos. »Erschütterungen der Raumzeit, die noch immer in der Nachbarschaft Kalsers nachhallen.« »Bitte etwas präziser.« »Der Nachhall eines Wurmlochs, das dort einmal existierte.« Verblüfft starrte Cloud den Keelon an. »Eines...?« »Es wurde destabilisiert – nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte.« »Zweck? Ich fürchte, ich begreife immer noch nicht...« »Nachdem es die Flotte, die Kalser verließ, in ein fernes Sonnensystem befördert hatte, das dir nicht ganz unbekannt sein dürfte...« »Zur Erde!« Darnok bestätigte dies. »Aber wie kannst du so sicher sein? Auch wenn die Schiffe, die wir auf Kalser entdeckt haben, so aussahen wie die Äskulaps, die die Erde überfallen haben, heißt das nicht...« »Du vergisst, dass ich zum Ursprung zurückreiste – dorthin, wo alles Übel wurzelt. In deine Zeit.« »In meine Zeit. Erzähl! Wie bist du dorthin gelangt? Wie kamst du an Bord des Äskulaps, mit dem wir durch das JupiterWurmloch stürzten?« »Kalser bewirkte eine Initialzündung in mir. Ich hatte eine Spur, eine erste viel versprechende Spur, um die Erinjij zu enträtseln, von denen niemand weiß, woher sie wirklich kommen, was sie wirklich treibt. Es gibt ein Sonnensystem – das, in dem ihr nach dem Wurmlochtransfer gestrandet seid –, von dem aus sie operieren. Dort hatten die Barschieri sie
angegriffen. Das künstliche Wurmloch wurde von den Erinjij errichtet und ist stark bewacht. Die Barschieri hatten nie eine Chance, auch nur in seine Nähe zu kommen. Ich schon. Das Karnut wurde von mir auf eine andere Zeitebene gehoben, und nachdem ich mich erst einmal zum Bruch des Obersten Tabus entschlossen hatte, war der Rest leicht. Ich drang in das Wurmloch dieser Zeit ein... und nutzte die darin wohnenden Kräfte, die mein Magoo verstärkten, um in deine Zeit zu gelangen. Dorthin, wo ich den Moment erlebte, als die ÄskulapSchiffe in eurem System erschienen und zu deiner Welt reisten...« John Cloud schluckte hart, sammelte seine Gedanken. »Du bist also von dort, wo die Schlacht zwischen Erinjij und Barschieri entbrannt war, durch das Wurmloch zur Erde gereist... Und gleichzeitig in die Vergangenheit, um zu beobachten, wie die Invasion vonstatten ging, in deren Verlauf auch meine Besatzung und ich durch das Jupiter-Wurmloch gerissen wurden... Aber warum sind wir nicht im System der Nargen herausgekommen? Wir sind der Äskulap-Flotte doch im Grunde entgegengeflogen. Und warum in der Zukunft?« »Weil ich es so wollte. Weil ich den Äskulap durch die Zeit zurück in meine Gegenwart lenkte und das Wurmloch zu dem Zeitpunkt zum Ort der Schlacht zwischen den Erinjij und den Barschieri führte.« »Warum?« »Es war mir nur mit Hilfe der Wurmloch-Energie möglich, so weit in die Vergangenheit zu reisen. Es wäre ungeheuer anstrengend, wenn nicht sogar unmöglich, mich über einen längeren Zeitraum auf diesem Niveau zu halten. Ich hätte sterben können.« Cloud nickte überlegend, als er über diese Erklärung nachdachte. Da kam ihm ein unerfreulicher Gedanke. »Was ist mit uns, die wir so weit in die Zukunft gereist sind?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Darnok trocken. »Aber es ist
ein interessantes Experiment, nicht wahr?« John starrte den Außerirdischen fassungslos an. Trotz allem hatte er ihm nicht eine derartige Kaltschnäuzigkeit zugetraut. »Jene beiden Reisen durch das Wurmloch – einmal tief in die Vergangenheit, einmal zurück in meine Zeit – hat mich fast zu Tode erschöpft«, fuhr der letzte der Keelon fort. »Zuvor hatte ich beobachten können, wie die Erde von den ÄskulapRaumern besetzt wurde, die ich keiner bestimmten Spezies zuordnen konnte und kann. Ich war... verwirrt. Die Bedeutung der Geschehnisse entzog sich meinem Verstehen. Auch heute noch kann ich die Logik dieser Vorgänge nicht restlos nachvollziehen.« Mehrere Strünke Darnoks ragten steil nach oben. »Ich sah dich und deine Crew auf dem kleinen Nachbarplaneten der Erde landen. Und ich sah, wie der Äskulap-Raumer euch attackierte.« »Warum bist du uns zu Hilfe gekommen? Du warst es doch, der den Schutzschirm des fremden Schiffes aktivierte, als wir nach dem Sturz durch das Wurmloch von den Menschen... äh... den Erinjij beschossen wurden, oder? Du hast uns im Karnut aus dem explodierenden Äskulap-Raumer gerettet. Du hast uns...« »Du verkennst immer noch die Realität, John Cloud von der Erde. Ich bin euch niemals zu Hilfe gekommen. Die Errichtung des Schutzschirmes erfolgte primär aus Eigeninteresse und weil mir die Grundzüge der Technolo gie des Äskulaps als Standard der weltraumreisenden Völker im Laufe der Jahre vertraut geworden war.« Darnok blies Luft aus, was wohl einem Laut der Verächtlichkeit gleich kam. »Es war eine Mixtur aus Hass, Neugierde, Interesse des Wissenschaftlers, der ic h nun mal bin, und Rachegelüsten, die mich dazu trieb, euch zu beobachten. Und euch in weiterer Folge mit den Taten eures Volkes zu konfrontieren. Wäre ich anfänglich bei klarem Verstand gewesen, so hätte ich euch sicherlich eurem Schicksal überlassen.«
Fröstelnd zog Cloud die Schultern hoch. Hatten sie ihre Errettung nur der kurzzeitigen Verwirrung eines Fremdwesens zu verdanken? Hatten sie denn keinerlei Einfluss auf den Gang der Geschehnisse gehabt? Er musste mehr erfahren, solange Darnok zugänglich für Fragen blieb. Er benötigte mehr Informationen... Scobee stürmte mit forschen Schritten in den Raum. »Stör uns jetzt nicht«, sagte Cloud ungehalten. Die GenTec ließ sich nicht beirren. »Jarvis und Resnick sind spurlos verschwunden!«, rief sie. »Was? Wie?« »Gute Frage. Wir durchsuchten zu dritt eine mit Maschinenteilen gefüllte Halle in der Nähe der Antriebsaggregate, als ich die beiden aus den Augen verlor. Es gibt nur einen Ausgang, allerdings besteht er aus einem dieser offenbar unberechenbaren Tore...« Bevor Cloud antworten konnte, sagte Darnok: »Ich werde euch helfen, nach ihnen zu suchen.« »Scob, bring uns zu der Stelle, wo du sie verloren hast!«, verlangte Cloud nervös. Sie eilte mit weit ausholenden Schritten voraus, Cloud und Darnok folgten ihr durch das Labyrinth der Torverbindungen. Schließlich erreichten sie die große Halle, von der Scobee gesprochen hatte. Kastenförmige Aggregate in verschiedensten Größen und Formen standen umher, unter einer merkwürdig wächsernen Schicht konserviert. Nach stundenlangem Suchen erreichten sie schließlich einen Raum voller seltsamer Hülsen, die in einer Doppelreihe angeordnet waren. An einer Stelle gab es eine Lücke. Mehr an Indizien fand sich nicht. Was war hier vorgegangen? »Darnok?« Cloud blickte Darnok an. »Könntest du?« Der Keelon verneinte. »Aber ich messe eine nicht lange
zurückliegende Aktivität energetischer Natur. Diese Kapseln könnten Transportbehälter sein. Und das wiederum hieße, dass – falls eure Gefährten hier waren –, sie sich nicht mehr an Bord befinden müssen...« »Das ist Wahnsinn!« Niemand unternahm den Versuch, Cloud etwas anderes weismachen zu wollen. »Wohin können sie geraten sein, falls das stimmt? Darnok, wir brauchen deine Hilfe!« Doch der Keelon verließ schweigend die Halle. Cloud schlug fluche nd mit der Faust gegen eines der Gehäuse. Ein Ton erklang. Ein Spalt wurde sichtbar... »Schnell!«, rief Scobee und zerrte Cloud bereits am Arm mit sich auf das Torschott zu. Cloud fü hlte sich von einer Gegenkraft erfasst, konnte aber mit Scobees Hilfe gerade noch durch das Tor gehen. Halb im Schock langte er Minuten später in der Zentrale an. Wo er und Scobee Darnok vergeblich suchten. War auch er verschwunden?
Epilog Das einsamste Wesen des Universums lag in seiner Kuhle an Bord des Karnut und betrachtete versonnen ein Hologramm, das sich langsam um die eigene Achse drehte. »Lisee«, flüsterte Darnok. Er griff in die Projektion und stellte sich vor, die darin abgebildete Frau tatsächlich zu berühren, zu streicheln. Bernsteinfarbene Tränen rannen aus seinen Augen. Nach einer langen Weile fand er wieder zum Einklang mit sich und der ihn umgebenden Welt zurück. Die KI seines Schiffes präsentierte ihm die Auswertung der Untersuchungen an den Menschen Scobee, Resnick und Jarvis.
Bei Scobee war alles in Ordnung. Bei den beiden anderen nicht. Erneut kehrte die Traurigkeit in Darnok zurück. Es war immer eine Tragödie, wenn Leben ging... ENDE
BAD EARTH Resnick und Jarvis, die beiden GenTecs, bleiben verschwunden. Ihr Schicksal wird sich auch im kommenden Band
Planet der Kriege nicht aufhellen. Denn dieser versetzt uns auf einen fremden Planeten, der zwei intelligente Arten hervorgebracht hat – die seit Urzeiten Krieg gegeneinander führen. Doch endlich findet sich Hoffnung auf Frieden... Die renommierte Autorin Susan Schwartz feiert mit diesem Bund ihren Einstand bei BAD EARTH. In grandioser Manier schildert sie das Leben auf einer Weit, die vom Hass beherrscht wird. Ab dem 30.09.2003 bei eurem Zeitschriftenhändler.