Matthias Dammert Angehörige im Visier der Pflegepolitik
Matthias Dammert
Angehörige im Visier der Pflegepolitik Wie ...
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Matthias Dammert Angehörige im Visier der Pflegepolitik
Matthias Dammert
Angehörige im Visier der Pflegepolitik Wie zukunftsfähig ist die subsidiäre Logik der deutschen Pflegeversicherung?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tilmann Ziegenhain VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16658-2
Inhalt
Einleitung:
Problemstellung und Leitfragen .............................................. 9
1 Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung als sozial- und gesundheitspolitische Herausforderung...................................................... 19 1.1
Die unzureichende Absicherung des Pflegerisikos vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung ..........................................................19
1.2
Aushandlungsprozesse – Wie die soziale Pflegeversicherung wurde, was sie ist .............................................................................................28
1.2.1
Die erste Phase: Sozialpolitik....................................................28
1.2.2
Die zweite Phase: Finanzpolitik ................................................32
1.2.3
Die dritte Phase: Partei- und Ordnungspolitik ..........................33
1.3
Grundzüge, Ziele und Zielkonflikte des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos bei Pflegebedürftigkeit ................................36
1.3.1
Soziale Absicherung der Pflegebedürftigen mittels eigenen Sozialversicherungszweigs und eine hierüber intendierte Entlastung der Sozialhilfeträger ................................................37
1.3.2
Verbesserung der Pflegequalität................................................44
1.3.3
Öffnung des Pflegemarktes (Verbesserung der Pflegeinfrastruktur) ...................................................................47
1.3.4
Stärkung der informellen Pflegebereitschaft .............................51
1.3.4.1
Die Bereitstellung von Pflegegeld und Sachleistungen (Pflegedienste) ......................................................................52
1.3.4.2
Leistungen bei teilstationärer Pflege und Kurzzeitpflege .....57
1.3.4.3
Leistungen zur sozialen Sicherung pflegender Angehöriger und Bekannter (informelles Pflegepotential)...57 5
1.3.5
Zusammenfassung: Das Pflegeversicherungsgesetz – „unbestreitbar ein Erfolg“? ..........................................................59
2 Eigenverantwortung und Gemeinsinn als Reformoption für eine andere Sozialstaatlichkeit............................................................................. 65 2.1
Die Stärkung informeller Selbsthilfe und eine „neue Kultur des Helfens“ als Leitbild eines neuen Gesellschaftsvertrages ...................65
2.2
Die Pflegeversicherung und die „neue Kultur des Helfens“ im Kontext einer „Neuen Subsidiarität“ ...................................................70
2.3
Kommunitarismus und Bürgergesellschaft: Soziales Kapital und Selbsthilfeverantwortung – zwischen demokratischer Erneuerung und moralischer Pflicht ........................................................................78
2.4
Wohlfahrtspluralismus: Informelle Selbsthilfeverantwortung in der pluralistischen Wohlfahrtsgesellschaft ................................................82
2.5
Der „Aktivierende Sozialstaat“: Soziales Kapital, Eigenverantwortung und Gerechtigkeit ...............................................86
2.6
Zusammenfassung: Eine „Sozialpolitik aus der Nähe“ als „neue Antwort auf neue Fragen“ im Kontext der sozialen Pflegeversicherung...............................................................................89
3 Der „Vorrang der häuslichen Pflege“ seit Einführung der Pflegeversicherung ........................................................................................ 92
6
3.1
Zur Prävalenz von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Deutschland .....97
3.2
Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in privaten Haushalten ......................100
3.3
Ist die Pflegeversicherung als familienergänzende Sozialversicherung bislang ein Erfolg? .............................................102
3.4
Strukturmerkmale von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in privaten Haushalten .........................................................................................112
3.4.1
Lebens- und Strukturmerkmale Hilfe- und Pflegebedürftiger in privaten Haushalten ...............................................................114
3.4.2
Lebens- und Strukturmerkmale informeller privater Pflegepersonen ...........................................................................128
Exkurs: „Zwischen Kalkül und Moral“: Normative und motivationale Grundlagen bei der Übernahme informeller Pflegetätigkeiten .......134 3.5
Zusammenfassung und Resümee.......................................................146
4 Stabile familiale Angehörigenpflege vor öffentlicher Fürsorge – wie fraglos ist die subsidiäre Logik der Pflegeversicherung in die Zukunft verlängerbar? ............................................................................... 158 4.1
Zur künftigen Entwicklung der Anzahl Hilfe- und Pflegebedürftiger ...............................................................................160
Exkurs: Einige Bemerkungen zur Demographiedebatte...............................160 4.2
Zur räumlichen Dimension der Altersstrukturverteilung...................173
4.3
Lebensverläufe, Erwerbsbeteiligung und Erwerbsformen im deregulierten Kapitalismus – Konsequenzen für die informelle Pflege .................................................................................................177
4.4
Der Einfluss der (künftigen) Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf die Sicherstellung der häuslichen Pflege .................202
4.5
Die Pluralisierung der Lebens- und Beziehungsformen und ihr Einfluss auf die Sicherstellung der informellen Pflege .....................225
4.6
Zusammenfassung .............................................................................247
5 Optionen für eine Reform der Pflegeversicherung.................................. 252 Exkurs: Pflegesicherung in den Niederlanden und Dänemark .....................258 6 Schlussbemerkung ...................................................................................... 263 7 Anhang:........................................................................................................ 272 7.1
Abbildungsverzeichnis: .....................................................................272
7.2
Tabellenverzeichnis: ..........................................................................272
7.3
Abkürzungsverzeichnis:.....................................................................275
7.4
Literatur: ............................................................................................278 7
„Es geht bei der Pflegeversicherung nicht nur darum, ein bisschen Geld unter die Leute zu bringen, sondern um eine neue Antwort auf neue Fragen. Es geht um eine Sozialpolitik aus der Nähe. Wir brauchen eine Sozialpolitik aus der Nachbarschaft (…) Ich glaube, dass die großen Institutionen, so unverzichtbar und wichtig sie auch sind, Gefahr laufen, zu einer kalten Verteilungsmaschine zu werden, wenn wir nicht eine Infrastruktur nachbarschaftlicher Hilfen, Hilfen aus der Nähe, aufbauen. (…) Diese Pflegeversicherung soll einen Anschub für eine nachbarschaftliche Sozialpolitik, für eine neue Kultur des Helfens geben. Es bleibt die Familie, die dabei gestützt wird, die Familie als Schule der Solidarität“. (Rede Norbert Blüms, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, bei der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes; in: Das Parlament, 44/Nr. 1213; S. 2, 1995, Hervorh. M.D.)
8
Einleitung: Problemstellung und Leitfragen
Seit nunmehr rund dreißig Jahren wird über die so genannte „Krise des Sozialstaats“ mit zunehmender Heftigkeit debattiert. Auslöser waren vor allem die Wirkungen der Wachstums- und Beschäftigungseinbrüche, die Mitte der 1970er Jahre als Folge der ersten Ölpreis-Explosion auftraten, und einerseits eine Erhöhung der Sozialausgaben, insbesondere des Arbeitslosengeldes, und andererseits eine Verringerung der Beitragseinnahmen der Sozialversicherung nach sich zogen (vgl. Butterwegge 1999). Es wäre allerdings verkürzt, die Diskussion um die Sozialstaatskrise ausschließlich als eine Krise der Kosten zu interpretieren. Parallel zur Debatte um die Kosten des Sozialstaats wuchs auch die Kritik an den entfremdenden Wirkungen der verrechtlichten, bürokratisierten und professionalisierten sozialpolitischen Institutionen. Und in eben diesem Zusammenhang, zwischen zunehmend leerer öffentlicher Kassen einerseits und den dysfunktionalen gesellschaftlichen Folgen wohlfahrtsstaatlicher Expansion andererseits, wird seitdem darüber nachgedacht, wie der Sozialstaat zu reformieren sei. Im Herbst 1982 zerbrach nach 13 Jahren die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt an den gegensätzlichen Vorstellungen ihrer Partner zur Sozialpolitik. In einem Memorandum, das der damalige Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) vorlegte, erhoben die Liberalen für die Sozialdemokraten unannehmbare Forderungen nach spürbarer Verbesserung der Kapitalerträge und Verbilligung des Faktors Arbeit durch Senkung der Sozialleistungsquote (vgl. Butterwegge 1999). Der daraufhin neu gewählte Bundeskanzler Helmut Kohl verkündete in seiner Regierungserklärung 1982, dass die von ihm geführte konservativ-christliche Regierung den Staat auf seine ursprünglichen und wirklichen Aufgaben zurückführen wolle (vgl. Lamping et al. 2002:12). Entsprechend wurden eine Reihe von Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen sowie sukzessive Einschnitte in die Sozialpolitik vorgenommen (vgl. Lampert 1997:57ff). Diese „Schlankheitskur“ für den Sozialstaat wurde mit dem gesellschaftlichen Umbruch in Ost-Mitteleuropa 1989/91 noch forciert und bewirkte einen erheblichen Funktionsverlust und –wandel der Sozialpolitik: „Hatte sie [die Sozialpolitik, M.D.] bisher die größten Härten, Leistungsdefizite und Schwächen des Kapitalismus (periodische Anfälligkeit für Konjunkturkrisen, Existenzunsicherheit, verbreitete Angst vor Arbeitslosigkeit, Armut und sozialem Abstieg) in der Systemkonkurrenz abgemildert, wurde ihr nunmehr 9
die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit einzelner Wirtschaftsstandorte auf dem Weltmarkt überantwortet. ‚Standortsicherheit’ hieß der Schlachtruf, mit dem das Kapital die sich intensivierenden Verteilungskämpfe zum ideologischen Frontalangriff auf die Sicherheitsinteressen der übergroßen Bevölkerungsanteile nutzte“ (vgl. Butterwegge 1999:46). Und entsprechend lang ist die Liste der Maßnahmen, mit denen die CDU/CSU/FDP-Regierung während der 1990er Jahre in die sozialen Leistungsgesetze eingriff (vgl. Lampert 1997:65). Am 26. Mai 1994 nahm das „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“ (PflegeVG, institutionalisiert als SGB XI) die letzten parlamentarischen Hürden. Den vier etablierten Sozialversicherungszweigen für die Risiken Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit wurde mit diesem Gesetz die soziale Pflegeversicherung als fünfter Zweig an die Seite gestellt. Inmitten einer Phase, die vorrangig durch einen Abbau sozialstaatlicher Leistungen und einer anschwellenden Debatte über die „Standortsicherheit“ gekennzeichnet war, kam es zu einem Ausbau des Sozialstaates. Der Sozialstaat expandierte. Vor dem Hintergrund einer (Sozial-)Politik, die zunehmend darauf abzielte, sozialstaatliche Leistungen systematisch zu „verschlanken“ und den Sozialstaat in diesem Sinne zu reformieren, muss die Schaffung eines neuen Sozialversicherungszweiges als bemerkenswertes Ereignis gelten. Bemerkenswert ist dieses jüngste Kind im deutschen Sozialversicherungssystem gleich in mehrerer Hinsicht. Bereits die Rede des damals verantwortlichen Arbeits- und Sozialministers Norbert Blüm (CDU) zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung legt dies nahe, sprach er doch davon, dass es nicht nur darum gehe, „ein bisschen Geld unter die Leute zu bringen, sondern um eine neue Antwort auf neue Fragen“.1 Doch worin bestand oder besteht die Innovation der sozialen Pflegeversicherung? Fast alle Analytiker und Kommentatoren der sozialen Pflegeversicherung sind sich darin einig, dass diese, mag sie zunächst auch vordergründig als Expansion des Sozialstaats erscheinen, doch „kein reines expansives Stück Sozialreform“ ist (vgl. Dietz 2002:117). „Die Pflegeversicherung wurde als Leistungsgesetz diskutiert, ist aber letztlich eine Strategie zur Kostendämpfung im Pflegebereich“ (vgl. Watzlawick 1995:98). Weshalb? Wurde die „Verschlankung“ des Sozialstaates im Grunde also nur mit neuen Mitteln fortgeführt und als Expansion „verkauft“? Im Zusammenhang mit dieser Frage muss man zunächst darauf verweisen, dass mit der sozialen Pflegversicherung ein Versicherungstypus implementiert wurde, der von Anfang an nur als Teil- oder Grundabsicherung („Teilkasko-Versicherung“) des allgemeinen Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit mit engen Ausgabengrenzen ohne Bedarfsdeckungsprinzip und pauschalierten und festgelegten Leistungssätzen konzipiert 1
10
Blüm, N., in: Das Parlament, 44/Nr. 12-13; S. 2, 1995, Hervorh. M.D.)
wurde. Zwar wurde ein Übergang vom Bedarfs- zum Budgetprinzip auch schon vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung – bspw. durch Reformen im SGB V der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – markiert, doch geht die Pflegeversicherung einen erheblichen Schritt weiter, indem sie ein nicht die eigentlichen Bedarfe deckendes Budget von Anfang an zu ihrem Grundprinzip erhebt: „Die soziale Pflegeversicherung dient ausschließlich der Grundversorgung, sie ist keine Vollversicherung (im Sinne einer Vollkaskoversicherung), sie ist beitragsmäßig begrenzt, nicht primär auf den individuellen Bedarf ausgerichtet und beinhaltet eine Reihe sonstiger Einschränkungen, die zur Reduzierung bzw. zum Verlust von Leistungen führen können (wie z. B. Vorversicherungszeiten). Sie bietet somit lediglich eine punktuelle Absicherung nur pflegebedingten Aufwands mit relativ enger Abgrenzung“ (vgl. Juch 1999:67).
In der sozialen Pflegeversicherung zeigt sich also eine veränderte neue Form von Sicherheit gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird Sicherheit reduziert, insofern sie nicht mehr allumfassend angelegt ist – in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gilt bspw. zumindest dem Grundsatz nach immer noch das Bedarfsdeckungsprinzip – und zum anderen wird Sicherheit abgestuft, indem sie in drei deutlich voneinander abgegrenzten Pflegestufen gewährt wird (vgl. Möhle 2001:194). Eine bemerkenswerte Innovation ist die Pflegeversicherung aber auch vor dem Hintergrund, dass hier eine Sozialversicherung geschaffen wurde, die durch die Streichung eines gesetzlichen Feiertages de facto nicht mehr paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert wird.2 Insbesondere vor dem Hintergrund enger Ausgabengrenzen ohne Bedarfsdeckungsprinzip mit pauschalierten und festgelegten Leistungssätzen sowie der Regelung zum Arbeitgeberbeitrag wird die soziale Pflegeversicherung häufig auch als „Nivellement von klassischer Sozialversicherung“ bezeichnet (vgl. Meier 1997:314). In diesem Zusammenhang weisen Analytiker und Kommentatoren der sozialen Pflegeversicherung immer wieder darauf hin, dass hierdurch die maßgeblichen sozialpolitischen Grundabsichten der Pflegeversicherung unterlaufen würden. Jedoch darf bei dieser sehr berechtigten Kritik nicht versäumt werden darauf hinzuweisen, dass gerade in diesem Zusammenhang die spezifische Konzeption und inhaltliche Ausgestaltung der sozialen Pflegeversicherung programmatisch auch auf eine normativ-ideologische Neuprogrammierung des sozialen Hilfe2
Auf Druck der Arbeitgeberverbände, der FDP und des Arbeitgeberflügels der Unionsparteien wurde in allen Bundeländern, außer in Sachsen, ein gesetzlicher Feiertag (Buß- und Bettag) gestrichen. Durch diesen Modus tragen die Versicherten de facto alleine die Beitragslast. Ohne diese Entlastung für die Wirtschaft wäre der damalige Koalitionspartner FDP nicht bereit gewesen, der Regierungsvorlage für eine Pflegeversicherung zuzustimmen.
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und Verantwortungssystems abzielt. Denn die im PflegeVG (bewusst) eingelassene Pflege- bzw. Versorgungslücke zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot („Teilkasko-Prinzip“) soll durch die aktive Mitarbeit pflegender Angehöriger, Freunde oder Hilfen aus der Nachbarschaft (informelles Pflegepotential) im Sinne einer „neuen Kultur des Helfens“ (vgl. § 8 SGB XI) geschlossen werden. Salopp formuliert: Die Familie oder andere Mitglieder der sozialen Nahbereiche sollen es richten. Kann man der Regierung Kohl bis dahin „vorwerfen“, dass diese zwar sukzessive Einschnitte in der Sozialpolitik vorgenommen hatte, ohne jedoch eine systematische Aufgabenanalyse und Aufgabenkritik hinsichtlich einer Modernisierung des Sozialstaats vorzunehmen (vgl. Lamping et al. 2002:12), so muss man dies durch die Einführung der sozialen Pflegeversicherung sicherlich revidieren. Denn die soziale Pflegeversicherung zielt über das Leitbild jener „neuen Kultur des Helfens“ auf einen sozialpolitischen Modernisierungs- und Aktivierungsansatz, der im Kern ein grundsätzliches Neuüberdenken von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Sozialstaat berührt. Also auf eine Debatte darüber, welche „innovative“ Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den verschieden wohlfahrtsproduzierenden Institutionen vorgenommen werden soll, bzw. welche gesellschaftlichen (Selbsthilfe-)Potenziale jenseits des Daseinsfürsorgestaates und des Marktes genutzt und eingebunden werden sollen, um den Staat selbst zu entlasten. Das Modalverb sollen deutet in diesem Zusammenhang bereits auf einen Aufgaben- und Funktionswandel herkömmlicher Sozialpolitik in normativer Absicht hin. Und in der Tat nimmt die Pflegeversicherung eine grundlegende Aufgaben- und Verantwortungsteilung bei der „Absicherung“ des Pflegerisikos vor. Die Verantwortungsräume zwischen Staat, Markt und Gesellschaft werden, wie aufzuzeigen sein wird, gleichsam neu vermessen und verteilt. Der in der sozialen Pflegeversicherung so augenfällige – und kritisierte – Primat finanzpolitischer vor sozialpolitischer Absicht, d. h. letztlich der Rückzug kollektiv-sozialstaatlicher Sicherheit, lässt also gerade vor diesem Hintergrund durchaus eine gewisse Methodik erkennen. Erinnern wir an Norbert Blüms Anmerkung zur Einführung der Pflegeversicherung: Nach Blüm geht es bei der Pflegeversicherung um „…eine neue Antwort auf neue Fragen. Es geht um eine Sozialpolitik aus der Nähe“. Im Grunde verbirgt sich hinter dieser Formulierung nichts anderes als die Pflege- und Versorgungslücke der sozialen Pflegeversicherung, die durch die aktive Mitarbeit pflegender Angehöriger („Sozialpolitik aus der Nähe“) geschlossen werden soll. Dies ist die eigentliche „Innovation“ der sozialen Pflegeversicherung. Und in eben diesem Sinne erweist sich die Konzeption und die Umsetzung der sozialen Pflegeversicherung auch als ein groß angelegtes empirisches Testfeld für eine alte Grundsatzfrage sozialstaatlicher Absicherung. Nämlich: Wie viel Sozialstaat braucht der Mensch, d. h. wie stark und wie umfassend soll – oder muss – die soziale Sicherung innerhalb des 12
Sozialstaates ausgebildet sein? Mit anderen Worten: Ist auf der Grundlage eines einnahmeorientierten und budgetierten Grundversorgungsmodells plus einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ nach dem Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“ (Sozial-) Staat zu machen, und lässt sich hierüber das allgemeine Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit ausreichend sozial absichern? Dem aufmerksamen Beobachter kann nicht entgehen, dass die gesamte Konzeption und inhaltliche Ausgestaltung der sozialen Pflegeversicherung in diesem Zusammenhang bestimmte gesellschafts- und wohlfahrtstheoretische Grundentwürfe aufgreift, und diese dann auch praktisch umsetzt, wie sie seit der aufkommenden Debatte um die Notwendigkeit einer Reform des Sozialstaates angesichts der Sozialstaatskrise verstärkt diskutiert werden: Indem die soziale Pflegeversicherung auf die informellen (Selbst-) Hilfepotentiale der Familien zurückgreift, rekurriert sie bis in die Terminologie jener „neuen Kultur des Helfens“ hinein auf das Konzept einer „Neuen Subsidiarität“, wie es in den 1980er Jahren, insbesondere in neokonservativen Ansätzen zur Sozialstaatskrise, vertreten und gefordert wurde. Des Weiteren transportiert sie gerade hierüber auch einen tugend-, wert- und pflichtbasierten Gemeinschaftsgedanken, wie er in den gesellschaftspolitischen und sozialphilosophischen Programmen der Kommunitarier zum Ausdruck kommt. Auch ist sie ein Beispiel für das Modell eines Wohlfahrtspluralismus, das unübersehbar die theoretischen Beiträge von Neuer Subsidiarität und Kommunitarismus aufgreift, um die verschiedenen Instanzen der Wohlfahrtsproduktion grundsätzlich neu zu ordnen und zu verhandeln. Und indem die soziale Pflegeversicherung Maßnahmen vorsieht, die informellen Selbsthilfe- und Solidarpotentiale einerseits in die Verantwortung zu nehmen andererseits diese aber auch aktiv zu fördern, steht sie schließlich für eine Sozialpolitik nach dem Konzept des „Aktivierenden Staates“. So unterschiedlich die Annahmen und die Ziele dieser gesellschafts- und wohlfahrtstheoretischen Modelle auch sein mögen, ist ihnen doch gemeinsam, dass die staatliche Garantie sozialer Absicherung, und die damit verbundenen Rechte, zunächst aus welchen Gründen auch immer, reduziert werden sollen, „zugunsten“ privater bürger-/zivilgesellschaftlicher Selbsthilfe- und Solidarpotentiale. Durch eine solche Aufgaben- und Verantwortungsteilung in Bezug auf die soziale Sicherung rückt zwangsläufig der Begriff des sozialen Kapitals in den Fokus von Sozialpolitik. Sozialgebilde wie Familienhaushalte, Verwandtschaftsgruppen oder Nachbarschaften – und deren Fähigkeit und Bereitschaft zur informellen Hilfeleistung – avancieren zu sozialpolitischen Gestaltungs- und Steuerungsprinzipien und mithin zu einem maßgeblichen Faktor der Wohlfahrtsproduktion. Doch obgleich dieser Sektor der informellen sozialen Grundsicherung vielfach immer noch als der Bereich des Privaten gilt, der der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und den gesellschaftlichen Einflüssen weitgehend entzogen ist (vgl. 13
Evers/Olk 1996), wird gerade dieser im Kontext der Pflegeversicherung zum Kern eines sozialstaatspolitischen Modernisierungsprozesses gemacht, ja zum eigentlichen „Manifest der sozialen Pflegeversicherung“ (vgl. Dietz 2002:39). Wir müssen uns nun fragen, weshalb bei der Konzeption des deutschen Pflegeversicherungsmodells den informellen Hilfe- bzw. Pflegepotentialen der sozialen Nahbereiche eine so bedeutsame Rolle zugemessen wurde. Aus welchem Grund wurde der geradezu pathetische Appell an eine „neue Kultur des Helfens“ zum „großtönenden Prolog der sozialen Pflegeversicherung“ (vgl. Dietz 2002:135) erhoben? Nun, man hielt eine Konzeption der Pflegeversicherung als Vollversicherung für nicht finanzierbar. Eine Konzeption der Pflegeversicherung als Grund- oder Teilkasko-Versicherung war aber nur mit der Gewissheit der Hintergrundsicherung möglich, die durch die Familien gewährt wird, die als „eine Art informelle Rückversicherung der Leistungserbringung im häuslichen Pflegebereich“ fungieren (vgl. Möhle 2001:193).3 So wird in § 8 Absatz 1 SGB XI dann auch explizit darauf verwiesen, dass die „pflegerische Versorgung (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (ist)“. Damit wird bereits angedeutet, dass Solidarität in der sozialen Pflegeversicherung hier „nicht alleine als durch die mit dem Solidarvertrag der Versichertengemeinschaft hergestellte Form der Solidarität“ anzusehen ist (vgl. Möhle 2001:190). Konsequenterweise wird hinsichtlich der „Art und Umfang der Leistungen“ dann auch wie in keinem anderen Gesetzeswerk aus dem Sozialgesetzbuch, in § 4 Abs. 1 SGB XI auf die informelle Solidarität verwiesen, die durch die Familie oder andere informelle Netzwerke zu erbringen ist: „§ 4 Art und Umfang der Leistungen (…) (2) Bei häuslicher und teilstationärer Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiären, nachbarschaftlichen und sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung“.
Die soziale Pflegeversicherung ist vor allem also eine familienergänzende Sozialversicherung, und das gesetzlich verankerte Gebot, informellen Solidarleistungen Vorrang zu gewähren, kann durchaus so verstanden werden, dass hier auch in Zukunft auf die bereits vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung erbrachte Fähigkeit und Bereitschaft zur informellen Pflege durch Familienangehörige gesetzt wird. Man kann dies nun einerseits so bewerten, dass der Gesetz-
3
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In den ersten Entwürfen zur Einführung einer Pflegeversicherung gab es Überlegungen, diese neue Versicherung ebenso wie die Gesetzliche Krankenversicherung als Vollversicherung zu konzipieren. Dieser Gedanke musste jedoch bald der dominierenden Meinung weichen, dass das Pflegerisiko aus Gründen der Finanzierbarkeit nur in Form einer Grundsicherung abgesichert werden sollte (vgl. Meyer 1996).
geber hier an das vorherrschende Leitbild der Pflege in der Bevölkerung anknüpft, denn: „Es sei der Wunsch der weit überwiegenden Zahl pflegebedürftiger Menschen, Pflege und Betreuung solange wie möglich in der vertrauten Umgebung zu erhalten“ (Deutscher Bundestag 1992; BT-Drucks. 12/5262, S.90).
Andererseits kann man aber auch gerade unterstellen, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass der Kostenvorteil bei häuslicher Pflege liegt. Mit dem gesetzlich verankerten „Vorrang der häuslichen Pflege“ (§ 3 SGB XI) und dem Vorrang der informellen Solidarleistungen verbände sich dann die Hoffnung, dass die Familien auch weiterhin als kostengünstige Alternative zur Sozialstaatsbürokratie fungieren. Das heißt, in dem Maße, wie der Gesetzgeber aus Kostengründen die soziale Pflegeversicherung lediglich als familienergänzende Sozialversicherung konzipierte, avanciert seither, und geradezu zwangsläufig, das informelle Pflegepotential und dessen Bereitschaft und Fähigkeit auch zukünftig informelle Pflege zu leisten, zur „Kalkulationsbasis der Pflegeversicherung“ (vgl. Simon 2003:13). Oder, wie wir eigentlich sagen würden, zu deren Kalkulationsrisiko. Denn die soziale Pflegeversicherung „funktioniert“ im Sinne des Gesetzgebers nur so lange, wie das informell pflegende soziale Kapital seinen Beitrag zur Schließung der Pflegelücke zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot auch tatsächlich leistet. Drücken wir es so aus: Eine „neue Antwort auf neue Fragen“ (Norbert Blüm) einerseits, aber auch neue Risiken und neue Nebenwirkungen andererseits. Doch so ganz mochte der Gesetzgeber an das Potential informeller Solidarleistungen bei der pflegerischen häuslichen Versorgung selbst nicht glauben, heißt es in der Begründung des Gesetzgebers für sein Werk doch: „Aufgrund der Belastung der pflegenden Angehörigen droht ‚die Bereitschaft zur häuslichen Pflege zurückzugehen’. Diese Entwicklung ist insofern noch ernster zu nehmen, als häusliche Pflege aufgrund der demographischen Entwicklung und Veränderungen in den Lebensbedingungen und familiären Beziehungen ohnehin unwahrscheinlicher wird“. (Vgl. RegE-BR-Drs. 505/93:61).
Da der Gesetzgeber offensichtlich einerseits um die Fragilität der traditionellen informellen Pflegearrangements aufgrund gesellschaftlicher und soziodemographischer Modernisierungs- und Veränderungsprozesse weiß, im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung aber dennoch gerade hierüber zukunftsfähige Sozialpolitik gestalten will, hat er in das PflegeVG gleichsam einen „Aktivierungsmechanismus“ hinein konzipiert, der eine Stärkung der informellen familiären Pflegebereitschaft bewirken soll. Dieses Bemühen kommt u. a. darin zum Ausdruck, dass die informellen Pflegepersonen renten- und unfallversichert 15
sind sowie Anspruch auf Teilnahme an Pflegekursen haben, die von den Pflegekassen unentgeltlich angeboten werden sollen. Darüber hinaus eröffnet der Gesetzgeber die Möglichkeit, über Geld- und/oder Sachleistungen bei häuslicher Pflege ein individuell präferiertes Versorgungs- und Pflegearrangement zusammenzustellen. Dadurch wird in der deutschen Sozialgesetzgebung erstmals ein Freiheitsspielraum geschaffen, der es den Betroffenen selbst überlässt, in welcher Form sie die staatliche Rechtsleistung für sich in ein konkretes Hilfearrangement umsetzen wollen (vgl. Evers 1998; Möhle 2001). Doch es bleibt dabei: Auch und gerade über die Medien Recht und Geld zur Aktivierung informeller Pflegebereitschaften wird die Sicherung des allgemeinen Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit in einem erheblichen Maße den „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ (vgl. Kaufmann 1997:109) überantwortet. Denn „die Pflegeversicherung als sozialpolitische Antwort auf die Entsolidarisierung der Generationen unterstellt hier als weiterhin vorhanden, was sie vorgeblich an Lücken beseitigen helfen wollte – eine Problematik von enormer sozialpolitischer Brisanz“ (vgl. Kantel 2000:12). Und wir sollten in diesem Zusammenhang grundsätzlich daran erinnern, dass es „einst gerade die Grenzen freiwillig-gemeinschaftlicher Solidarität in (vorpolitischen) Instanzen der Produktion sozialer Sicherheit (waren), die den Ausgangspunkt kollektiv-sozialstaatlicher Gesellschaftspolitik darstellten“ (vgl. Lamping et al. 2002:19; Hervorh. M.D.) Doch fällt die „innovative“ Sozialreform einer explizit familienergänzenden Sozialversicherung, die die nicht mehr gedeckten Versorgungsbedarfe durch eine „Sozialpolitik aus der Nähe“ nach dem Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“ (vorpolitisch) kompensieren will, nicht geradezu vormodern hinter diese Erkenntnis zurück? Verlaufen die „Grenzen freiwillig-gemeinschaftlicher Solidarität“ bspw. nicht längst auch und gerade mitten durch die Institution Familie? Ist nicht auch längst die „Krise der Familie“ ebenso wie die „Krise des Sozialstaates“ zu einem vertrauten und allgemeinen Topos avanciert? Anders formuliert: Ist die soziale Pflegeversicherung und mit ihr die „Sozialpolitik aus der Nähe“ nicht auch ein Stück Sozialpolitik nach dem Prinzip Hoffnung? Hoffnung darauf, dass die Rahmenbedingungen, unter denen informelle Pflege bislang geleistet wurde, so bleiben werden wie sie sind sowie darauf, dass die aktivierenden Maßnahmen zur Stärkung des informellen Pflegepotentials zunächst überhaupt – und dann auch in Zukunft – ihre Wirkung entfalten werden? Eine Sozialpolitik mit Risiken und Nebenwirkungen haben wir dies genannt. Es ist vor allem das Risiko, dass sich eine solche Sozialpolitik von externen gesellschaftlichen und sozialstrukturellen Prozessen und Einflussfaktoren abhängig macht, die sie selbst nicht, oder nur kaum gestalten und kontrollieren kann. Oder, und auch das darf man nicht vergessen, es ist das Risiko, dass sich die Sozialpolitik hier in ein permanentes Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Politikbereichen begibt. Das heißt, einer Sozialpolitik, die 16
in normativer Absicht darauf anlegt ist, eine neue Verantwortungs- und Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen wohlfahrtsproduzierenden Institutionen vornehmen zu sollen, steht also empirisch die Frage entgegen, ob und inwieweit die ins Visier genommenen Grundmuster informeller sozialer Sicherung, wie pflegende Angehörige, Freunde oder Hilfen aus der Nachbarschaft, dies überhaupt (noch) können. So wird von den Menschen bspw. einerseits ein immer höheres Maß an Flexibilität gefordert, sei es in Bezug auf die räumliche und soziale Mobilität oder in Bezug auf ihre Arbeitszeit- und Erwerbsverhältnisse, und gleichzeitig wird aber auch erwartet, dass die Einzelnen u.U. bereit – und auch in der Lage sind – notfalls 24 Std. am Tag die Versorgungs- und Pflegelücke der sozialen Pflegeversicherung durch häusliche Pflegetätigkeit zu schließen. Und es ist eben nicht zuletzt die Politik selbst, die bspw. auf dem Sektor von Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik diese Flexibilität auch immer deutlicher einfordert. Aus der Perspektive der „Betroffenen“ nennt man dies in der Psychologie eine klassische Double-Bind-Situation, also eine Situation widersprüchlicher Handlungsaufforderungen. Hier zeigt sich also sehr deutlich, wie sehr die Logik der sozialen Pflegeversicherung – Subsidiarität im Sinne von Eigen- und Selbsthilfeverantwortung vor kollektiv-sozialstaatlicher Solidarität und Sicherung – in ein erhebliches, außerordentlich komplexes und in vielerlei Hinsicht (eigen-) dynamisches gesamtgesellschaftliches und gesamtpolitisches Spannungsverhältnis eingebunden ist. Und die subsidiäre Logik des deutschen TeilkaskoPflegesicherungssystems impliziert mithin auch, und dies wird selten in aller Deutlichkeit wahrgenommen, in welch hohem Maße dadurch die Lebensqualität, die die Einzelnen im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu erwarten haben, immer auch den Wechselfällen und Schicksalen der je eigenen Lebensbiographien überlassen und überantwortet wird. Denn ob jemand im Bedarfsfall die Pflege- und Versorgungslücke im deutschen Pflegeversicherungssystem durch pflegende Angehörige des sozialen und räumlichen Nahbereichs und/oder durch in der Regel erhebliche einkommensunabhängige finanzielle Zuzahlungen (Eigenleistungen) zu schließen vermag, dies liegt nicht immer, und vielleicht auch immer weniger, in der Macht der oder des Einzelnen. Denn die moderne Lebenswelt, und dies stellen nicht nur die Sozialwissenschaften seit längerer Zeit fest, sondern dies ist mittlerweile wohl auch immer häufiger in den sehr realen persönlichen Erfahrungsbereichen verankert, wird zunehmend von individuellen wie gesellschaftlichen Risikolagen durchdrungen. Man könnte auch sagen, eine Reduktion von Sicherheit findet nicht nur im Bereich der sozialstaatlichen Absicherung statt. In diesem vielschichtigen Sinne wäre also zu überprüfen, ob sich mit dem deutschen Pflegeversicherungsmodell, das seine Teilleistungen so dezidiert mit dem Vorrang von Subsidiarität vor Solidarität verknüpft, eine zeitge17
mäße, zukunftsfähige, gerechte und menschenwürdige Absicherung des Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit vornehmen lässt? Also: Welches sind die individuellen, gesellschaftlichen, aber auch die politischen (Eigen-) Dynamiken, die bislang auf die informelle Angehörigenpflege („neue Kultur des Helfens“) einwirken, und wie werden sich diese in welchem Zeitraum und in welchem Ausmaß möglicherweise verändern und sich dann entsprechend wiederum auf die subsidiäre Logik der deutschen Pflegeversicherung auswirken? Betrachtet man die gegenwärtige Reformdebatte zur Pflegeversicherung, so scheint eines ganz sicher, die subsidiäre Vorrangstellung der informellen Hilfepotentiale – bei gleichzeitiger Beibehaltung der Pflegeversicherung als Teilkasko-Grundversicherung – gehört nach wie vor zum erklärten politischen Willen nicht nur der Regierungsparteien. Ob jedoch die subsidiäre Logik der deutschen Pflegeversicherung nicht grundsätzlich in Frage zu stellen ist, ob also nicht eine gänzliche Revision dieser Vorrangregelung im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes anzumahnen ist, dies soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. In diesem Sinne sollen zunächst die maßgeblichen gesetzlichen Grundlagen zur Absicherung des Pflegerisikos einer kritischen Inhaltsanalyse unterzogen werden. Sodann wird zu untersuchen sein, in welcher Weise die „innovative“ Aufgaben- und Verantwortungsteilung der deutschen Pflegeversicherung in einem wohlfahrtstheoretischen Diskurs zu verorten ist, um abschließend anhand einer Analyse empirischer Sekundärdaten zu überprüfen, in welchem Maße sich die formale Wirklichkeit des Pflegeversicherungsgesetzes (einschließlich ihres wohlfahrtstheoretischen Überbaus) in Divergenz zur sozialen Wirklichkeit der häuslichen Pflege – gegenwärtig sowie bereits kurz- bis mittelfristig – befindet.
18
1 Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung als sozial- und gesundheitspolitische Herausforderung
Im Rahmen des nachfolgenden Kapitels soll ein Überblick über die Absicherung des allgemeinen Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit in Deutschland gegeben werden. Zunächst wird die nur unzureichende Absicherung des Pflegerisikos vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung skizziert, und der Weg bis zur Verabschiedung des PflegeVG anhand der maßgeblich beteiligten Positionen, Akteure und Politikprozesse nachgezeichnet. Nach einer Darstellung der wichtigsten Grundzüge des PflegeVG soll abschließend erörtert werden, was das „mixtum compositum“ (vgl. Evers 1995) soziale Pflegeversicherung bislang erreicht hat. Im Fokus der Analyse steht weniger ein Vergleich ausgewählter Leistungsdaten der sozialen Pflegeversicherung im Sinne eines bloßen „Vorher/Nachher“, sondern es soll vielmehr der Versuch unternommen werden, die soziale Pflegeversicherung als politisches Programm zu bilanzieren und zu bewerten. Es soll also danach gefragt werden, ob die soziale Pflegeversicherung, als das Resultat eines politisch ausgehandelten Prozesses, jene sozial- und finanzpolitischen Effekte erreicht hat, die durch sie erreicht werden sollten, oder ob hier von Anfang an ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der erst gar nicht die angestrebten Wirkungen erreichen konnte, die er zur Folge hätte haben sollen. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, ob und welche Zielkonflikte und Zielverfehlungen im PflegeVG selbst konzeptionell angelegt sind und ob die Pflegeversicherung bislang „einen Anschub für eine nachbarschaftliche Sozialpolitik, für eine neue Kultur des Helfens“ (vgl. Blüm 1995) gegeben hat?
1.1 Die unzureichende Absicherung des Pflegerisikos vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung Aufgrund der sich abzeichnenden demographischen Alterung der Gesellschaft, der Befürchtung eines abnehmenden informellen Hilfepotentials durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse sowie aufgrund des seit ca. Mitte der 1980er Jahre thematisierten Pflegenotstands, insbesondere aber aufgrund der nur 19
ungenügenden Absicherung des finanziellen Risikos bei Pflegebedürftigkeit, bestand schon lange vor Einführung der Pflegeversicherung ein Problembewusstsein darüber, dass die Absicherung des Pflegerisikos, und mithin die entsprechenden Pflege- und Versorgungsbedarfe, auf eine umfassendere Basis als bisher gestellt werden sollte. (vgl. Meier:1997:7ff; Skuban 2000:4ff)4. Während fast jedes andere soziale Risiko, wie bspw. Arbeitslosigkeit oder Krankheit, verhältnismäßig umfassend abgesichert ist, galt dies für das Pflegerisiko bis zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung am 1.1.1995 nicht, oder nur sehr unzureichend (vgl. u.a. Meyer 1995; Sievering 1996; Rothgang 1997). Denn Pflegebedürftigkeit galt nicht als leistungsbegründeter Tatbestand an sich, sondern vielmehr als ein im Großen und Ganzen privat abzusicherndes Lebensrisiko. Das heißt, im Falle von Pflegebedürftigkeit konnte bis dahin nur auf vereinzelte einkommens- und vermögensunabhängige Leistungen in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung zurückgegriffen werden, die zudem auch nur einen begrenzten Personenkreis absicherten. Entsprechende Leistungen fanden sich insbesondere:
4
20
Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Dort werden Leistungen bei Pflegebedürftigkeit dann gewährt, wenn ein Versicherter infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit so hilflos ist, dass er nicht ohne Hilfe und Pflege sein kann. Relevant ist hierfür die Kausalität eines Arbeitsunfalls bzw. einer Berufskrankheit, woraus sich notwendigerweise ergibt, dass die Anzahl der potentiell Anspruchsberechtigten begrenzt ist. Im sozialen Entschädigungsrecht beziehen sich die Leistungen in erster Linie auf Kriegsopfer und ihre Angehörigen sowie auf Impfgeschädigte und Opfer von Gewalttaten. Das Entschädigungsrecht knüpft hier an das Vorliegen bestimmter entschädigungsrelevanter Tatbestände an und gilt mithin, ähnlich wie bei der gesetzlichen Unfallversicherung, nur für einen bestimmten Personenkreis. Im Bundesversorgungsgesetz, im Soldatenversorgungsgesetz, im Zivildienstgesetz, im Häftlingshilfegesetz, im Bundesseuchengesetz, im Opferentschädigungsgesetz; jeweils bei Schädigungen infolge staatlicher Tätigkeiten sowie bei Dienstunfällen im Rahmen des Beamtenversorgungsgesetzes (vgl. Meyer 1996; Sievering 1996; Roth/Rothgang 2002). Öffentlichkeitswirksam wurde das Problem einer nur unzureichenden (finanziellen) Absicherung des Pflegerisikos erstmals 1973 vom Bremer Senatsrat Galperin gemacht, der darauf hinwies, dass insbesondere die vollstationäre Pflege immer mehr Pflegebedürftige zu Sozialhilfeempfängern mache (vgl. Galperin 1973). Als eigentlicher Auslöser der Debatte gilt jedoch das ein Jahr später veröffentlichte Gutachten des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), in dem Pflegebedürftigkeit erstmals als „allgemeines Lebensrisiko“ gekennzeichnet wurde (vgl. Rothgang 1997:12).
Das Manko dieser gesetzlichen Leistungen bei Pflegebedürftigkeit bestand freilich darin, dass sie eben nur auf einen vergleichsweise kleinen Nutzerkreis beschränkt waren. So erhielten 1993 nur etwa 2,1 Prozent der Pflegebedürftigen die vergleichsweise umfassend angelegten Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung oder Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (vgl. Meyer 1996:31). Ein erster „entscheidender Durchbruch“ zur Absicherung des allgemeinen Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit in der Sozialversicherung gelang zunächst jedoch mit dem Gesundheits-Reformgesetz (GRG), das am 1.1.1989 in Kraft trat (vgl. Zemann 2000:102). Mit diesem „Einstieg in die Pflegeversicherung“ (vgl. Asam/Altmann 1995:55) wurden erstmals Leistungen bei Pflegebedürftigkeit unabhängig von ihrer Ursache in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen. Somit wurde mit dieser Reform die bis dahin gültige Beschränkung der Gesetzlichen Krankenversicherung auf die Kranken- und Krankenhausbehandlung, unter Ausgrenzung reiner Pflegeleistungen, erstmals durchbrochen. Damit wurde der Umstand korrigiert, dass sich die Krankenkassen bis dahin als nicht zuständig für das Pflegefallrisiko erklärten (vgl. Meyer 1996:31). Allerdings beschränkten sich die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes ausschließlich auf Schwerpflegebedürftige, die in der häuslichen Umgebung gepflegt wurden. Diese nur rudimentäre Absicherung hatte in der Vergangenheit vor allem zur Folge, dass das finanzielle Risiko bei Pflegebedürftigkeit überwiegend aus Eigenmitteln der Betroffenen selbst oder ihrer Angehörigen getragen werden musste. Waren diese nicht ausreichend vorhanden, wurde das finanzielle Risiko von einem Leistungsbereich übernommen, der hierfür von seiner Zielsetzung her eigentlich nicht geschaffen ist, der steuerfinanzierten Sozialhilfe.
21
Tabelle 1: Anzahl der Empfänger und Gesamtaufwand für Pflegeleistungen im Jahre 1991; (alte Bundesländer) Institution / Gesetz
Anzahl der Empfänger
Gesamtaufwand
absolut
in Mrd. DM
in v. H.
Bundessozialhilfegesetz
655.328
11,055
70,99
Gesetzl. Krankenversicherung
583.334
1,755
11,27
Gesetzl. Unfallversicherung
10.244
0,146
0,94
Kriegsopferversorgung
20.433
0,180
1016
Kriegsopferfürsorge
60.234
1,305
58,38
--
0,710 (b)
4,56
Lastenausgleichsgesetz
44.500
0,123
0,77
Länderpflegegesetz
39.270
0,302
1,94
(a)
15,573
100,00
Beihilfe
Summe
(a) Da sich die Personengruppen, die beispielsweise Leistungen nach SGB V und BSHG beziehen, überschneiden, können diese Zahlen nicht addiert werden, um die Gesamtzahl der Leistungsempfänger zu ermitteln. Aus diesem Grund können auch keine Anteilswerte für die Zahl der auf die einzelnen Kostenträger entfallenen Leistungsberechtigten angegeben werden (vgl. BundestagsDrucksache 12/5262:73 (b) Geschätzter Wert
Quelle: Bundestags-Drucksache 12/5262:186, zit. nach Rothgang (1997:165) Wie aus dieser Tabelle zu entnehmen ist, dominierte bei den Aufwendungen für Pflegeleistungen vom Finanzierungsvolumen her eindeutig die Sozialhilfe. Grundsätzlich wird die Sozialhilfe entsprechend der Prinzipien der Subsidiarität und Bedürftigkeit gewährt. Sie tritt ein, wenn eine Selbsthilfe der Betroffenen nicht möglich ist. Da beim Eintritt eines Pflegefalls sehr schnell erhebliche finanzielle Belastungen zu tragen sind, konnten diese häufig von den Einzelnen nicht aufgebracht werden. Das Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit war auf die Formel zu bringen: „Pflegebedürftigkeit = Armut“ (vgl. Skuban 2000:4). Dadurch avancierte die Sozialhilfe im Rahmen der „Hilfe zur Pflege“ (nach §§ 68/69 BSHG), die eine Unterkategorie der „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ darstellt, zumindest in der vollstationären Pflege immer mehr zur Regelabsicherung. Daraus resultierte zum einen der sozialpolitisch nicht wünschenswerte Umstand, dass Menschen auch bei „normalem“ Verlauf ihrer Erwerbsbiographie
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regelmäßig bei Pflegebedürftigkeit zu Sozialhilfeempfängern5 wurden, und zum anderen das vielmehr finanzpolitische Problem einer steigenden finanziellen Belastung der Sozialhilfeträger, also der Länder und Kommunen durch die Ausgaben für die „Hilfe zur Pflege“. Insgesamt stiegen die Ausgaben für Sozialhilfeleistungen von 1970 bis 1993 von ca. 3 Mrd. DM auf 43 Mrd. DM, wobei sich diese Steigerung zu einem beträchtlichen Teil auf die „Hilfe zur Pflege“ nach §§ 68/69 BSHG zurückführen lässt. Die Ausgaben für die „Hilfe zur Pflege“ stiegen in diesem Zeitraum von 1,1 Mrd. DM auf knapp 13,8 Mrd. DM. Die gesamten Sozialhilfeausgaben (einschließlich der neuen Bundesländer und Ost-Berlin) betrugen im Jahr 1993 48,9 Mrd. DM, wobei die „Hilfe zur Pflege“ mit 16,5 Mrd. DM ziemlich genau 1/3 der Gesamtausgaben ausmachte. Bezogen auf die Ausgaben für „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ entspricht dies mehr als die Hälfte: Tabelle 2: Entwicklung der Sozialhilfe, der „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ und der „Hilfe zur Pflege“ von 1970 bis 1993; (alte Bundesländer) Jahr
Sozialhilfe
HbL
Hilfe zur Pflege
Aufwand in Mill. DM
Empfänger Tsd.
1970
3.3351,1
2.154,5
1.106,6
260
1975
8.405,1
5.380,3
2.956,2
402
1980
13.265,9
8.927,3
5.003,1
463
1985
20.845,6
12.821,0
7.151,6
467
1990
31.781,6
18.805,3
10.154,3
546
1993
43.035,5
26.550,6
13.756,3
518
Quelle: Statistisches Bundesamt; Fachserie 13, Reihe 2; zit. nach: Sievering (1996:23) 1993 erhielten im gesamten Bundesgebiet mehr als 660.000 Personen „Hilfe zur Pflege“ (vgl. Tabelle 3). Darunter befanden sich ca. 394.000 Personen in Pflegeeinrichtungen, während knapp 267.000 häuslich betreut wurden. Obwohl der 5
So bezogen vor Einführung der Pflegeversicherung in Westdeutschland mehr als 2/3 der Bewohner stationärer Pflegeinrichtungen „Hilfe zur Pflege“ nach § 68ff BSHG. In den neuen Bundesländern lag die Quote sogar noch deutlich höher (vgl. Rothgang 1997:215ff). Auf die Problematik der Sozialhilfeabhängigkeit bei Pflegebedürftigkeit machte das bereits erwähnte Gutachten des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA 1974) aufmerksam. Aus einer sozialpolitischen Argumentation her aus wurde dort erklärt, dass diese Praxis eines modernen Wohlfahrtsstaats unwürdig sei.
23
Anteil derer, die Hilfe innerhalb von Einrichtungen empfingen, „nur“ knapp 60 Prozent an den gesamten Empfängern ausmachte, erforderte die stationäre Pflege mit ca. 14,9 Mrd. DM 90 Prozent aller Ausgaben für Pflegeleistungen.6 Als weitaus weniger kostenintensiv erwies sich für die Sozialhilfeträger die häusliche Pflegeunterstützung, die mit knapp 1,6 Mrd. DM nur ca. zehn Prozent der gesamten Ausgaben der „Hilfe zur Pflege“ ausmachte. Diese (Vor-) Erfahrung kann sicherlich als maßgeblich für den später dann im PflegeVG verankerten Grundsatz „ambulant vor stationär“ und für die dort verankerten Maßnahmen zur Aktivierung des informellen Pflegepotentials zur Unterstützung der häuslichen Pflege betrachtet werden. Tabelle 3: Ausgaben und Empfänger der Hilfe zur Pflege in Deutschland, differenziert nach der Art der Einrichtung (1993) Ausgaben in 1000
Empfänger Insgesamt
Männlich
Weiblich
Außerhalb und in Einrichtungen
16.481.398
660.434
197.764
462.670
Außerhalb von Einrichtungen
1.557.513
266.681
100.140
166.541
Innerhalb von Einrichtungen
14.923.875
394.012
97.697
296.315
Quelle: Statistisches Bundesamt; Fachserie 13, Reihe 2; zit. nach Sievering (1996:24)
6
24
Bis zum Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes wurde die Finanzierung von Pflegeeinrichtungen durch die Kostenübernahmeerklärung der Sozialhilfeträger nach § 93 BSHG gesichert. Grundlage der Vergütungsvereinbarungen zwischen den Sozialhilfeträgern und Pflegeeinrichtungen waren dabei die Selbstkosten des Einrichtungsträgers, die vom Sozialhilfeträger refinanziert wurden (vgl. Hirnschützer 1988). Obgleich sich im BSHG keine ausdrückliche „Kostendeckungsgarantie“ findet, konnten sich die Pflegeeinrichtungen, insbesondere im stationären Bereich, aber auf die Geltung des Selbstkostendeckungsprinzips verlassen. Während Wirtschaftlichkeitsprüfungen im Krankenhausbereich seit Inkrafttreten der Bundespflegesatzverordnung bereits seit 1973 zum Instrumentarium der Kostenträger gehören, wurden Wirtschaftlichkeitsprüfungen im Pflegebereich erst mit dem PflegeVG eingeführt. Rothgang (1997) macht darauf aufmerksam, dass dieses Verfahren mutmaßlich erheblich zu den Preissteigerungen der Pflegesätze und damit zu einer immer stärkeren finanziellen Belastung der Sozialhilfeträger geführt hat.
Tabelle 4: Pflegebedürftige in Privathaushalten in Deutschland vor Einführung der Pflegeversicherung Bundesgebiet
West
Ost
Abs. in Tsd.
in %
Abs. in Tsd.
in %
Abs. in Tsd.
in %
Gesamtbevölkerung
79.112
100,00
62.679
100,00
16.433
100,00
Regelmäßiger Pflegebedarf insgesamt
1.123
1,4
894
1,4
229
1,4
Ständiger Pflegebedarf
190
0,2
161
0,2
29
0,2
Täglicher Pflegebedarf
468
0,6
376
0,6
92
0,6
Mehrfach wöchentlicher Pflegebedarf
465
0,6
357
0,6
108
0,6
Personen in Privathaushalten, hochgerechnet und in Prozent der Gesamtbevölkerung. Quelle: Schneekloth/Potthoff (1993:61) Die Versorgung pflegebedürftiger Personen im früheren Bundesgebiet vor Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes ist durch zwei Erhebungen aus den Jahren 1978 und 1991 gut dokumentiert: Demnach wurden zu beiden Zeitpunkten rund 75 Prozent der Hilfe- und Pflegebedürftigen in der häuslichen Umgebung versorgt, und von diesen nahmen lediglich zehn bis zwanzig Prozent zusätzlich professionelle Hilfe in Anspruch (vgl. Brög 1980; Schneekloth 1996), wobei diese professionelle Hilfe traditionell zunächst überwiegend von der konfessionellen Gemeindekrankenpflege (Gemeindeschwestern-Modell) und seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt von den Sozialstationen in der Trägerschaft der Freien Wohlfahrtsverbände geleistet wurde.7 Durch die Zunahme der Sozialstationen, als nunmehr bevorzugte Organisationsform im ambulanten Krankenpflegesektor, erfolgte „erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg ein Strukturbruch innerhalb des ambulanten Pflegesektors“ (vgl. Eisenbart 2000:17). Dadurch sollte erstmalig die ambulante Versorgung hilfebedürftiger Menschen „als vorrangige Alternative vor der stationären erfolgen“ (vgl. Windisch 1995:15). Die leistungsbezogene Finanzierung der Sozialstationen erfolgte überwiegend aus den Leistungen der Krankenkassen, der Sozialämter, aus Kirchensteuermitteln, aus Eigenmitteln der verschiedenen Träger (Spenden, Mitgliederbeiträgen, Kirchengeld), aus verschiedenen Förderungsmitteln der Länder sowie durch Selbstzah7
Zur ausführlichen Darstellung vgl. Schölkopf 1999
25
lungen (vgl. Eisenbart 2000:28). 1993 existierten bundesweit lediglich ca. 4000 Sozial- und Diakoniestationen.8 Seit etwa Mitte der 1980er Jahre entwickelten sich in der alten Bundesrepublik darüber hinaus zögerlich und nur in kleiner Zahl privatwirtschaftlich orientierte ambulante Hilfsdienste, die ihre Leistungen soweit als möglich mit den Krankenkassen abrechneten. Da die Krankenkassen aber in vielen Fällen das Leistungsangebot nicht anerkannten, blieb die Inanspruchnahme privater Anbieter oft nur denjenigen Hilfebedürftigen vorbehalten, die zur Selbstzahlung in der Lage waren (vgl. Windisch 1995:16). In der ehemaligen DDR waren Gemeindeschwestern, die an den Polikliniken und Ambulatorien angesiedelt waren, für die ambulante gesundheitspflegerische Versorgung der Bevölkerung zuständig. Ausgehend von ca. 5000 staatlichen und ca. 100 konfessionell gebundenen Gemeindeschwesternstationen wurde die Versorgung der Bevölkerung regional organisiert. Ergänzend hierzu wurden hauswirtschaftliche Leistungen meist über die Volkssolidarität sichergestellt. Daneben existierte auch eine betrieblich gestützte Versorgung mit pflegerischen und gesundheitsrelevanten Leistungen. Zwischen 1990 und 1992 wurde das ostdeutsche Gemeindeschwesternmodell von anfänglich rund 1000 Sozialstationen in Trägerschaft der Freien Wohlfahrt abgelöst (vgl. Damkowski et al. 1997). Vor dem Hintergrund, dass die Pflegeleistungen überwiegend in den Familien erbracht wurden (und immer noch werden, vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit), musste die quantitative und qualitative ambulante Versorgung durch Pflegedienste zur Unterstützung der häuslichen Pflege vor Einführung der Pflegeversicherung jedoch – auch im internationalen Vergleich – als unzureichend angesehen werden (vgl. Rothgang 2003:97ff). Nicht zuletzt der viel bemühte Begriff des „Pflegenotstands“ verweist auf den starken Mangel an Pflegekräften und die damit verbundenen Probleme in der ambulanten, aber auch in der stationären Versorgung Pflegebedürftiger.9 Insgesamt lassen sich folgende maßgebliche Problembereiche ausmachen, die, obwohl längst bekannt, erst in einem jahrzehntelangen politischen Diskussions- und Aushandlungsprozess schließlich zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung führten:
Die mit der Pflegebedürftigkeit verbundenen Kosten überfordern „die individuelle Leistungsfähigkeit und führen regelmäßig zum Abstieg in die Sozi-
8
Unmittelbar vor und kurz nach Einführung der Pflegeversicherung stieg die Zahl der ambulanten Pflegedienste jedoch sprunghaft auf über 11.000 Dienste an (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [Hrsg.]: Dritter Altenbericht: Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Bundesdrucksache 14/5130 vom 19.01.2001, S. 108). So überstieg seit Mitte der 1980er Jahre der Bedarf die vorhandenen Personalkapazitäten im ambulanten wie auch im stationären Bereich um das Dreifache (vgl. Bornkamp-Baake 1998:8).
9
26
alhilfe“. Dadurch kommt es zu einer als ungerecht anzusehenden „sozialen Nivellierung“; ein Pflegebedürftiger wird „zum Taschengeldempfänger, auch wenn er in einem erfüllten Arbeitsleben jahrzehntelang Beiträge und Steuern zum Ausbau des sozialen Sicherungssystems entrichtet hat“. Die pflegenden Angehörigen erbringen erhebliche „persönliche Opfer“ und sind überlastet. Durch soziale Dienste werden sie nur ungenügend entlastet. Unter Gerechtigkeitsaspekten betrachtet, erfahren sie keinen als angemessen anzusehenden Ausgleich ihrer Benachteiligungen. Aufgrund der Belastung der pflegenden Angehörigen droht „die Bereitschaft zur häuslichen Pflege zurückzugehen“. Diese Entwicklung ist insofern noch ernster zu nehmen, als häusliche Pflege aufgrund der demographischen Entwicklung und Veränderungen in den Lebensbedingungen und familiären Beziehungen ohnehin unwahrscheinlicher wird. Die Pflegeinfrastruktur ist „unzureichend“. Die Regelfinanzierung der Pflegekosten durch die Sozialhilfe ist „systemwidrig“ und führt zu „hohen und ständig steigenden Ausgaben der Sozialhilfe, die die Finanzierung der Sozialhilfeträger, insbesondere der Kommunen, überfordern“. (vgl. Bundesregierung 1993, BR-Drs. 505/93, S. 61ff)
Bevor nun allmählich zur Pflegeversicherung übergeleitet wird, ist jedoch folgendes anzumerken (vgl. auch Bode 2004:5): Die Versorgungsstrukturen hilfe- und pflegebedürftiger Mensch waren bis zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung sicherlich sehr lückenhaft. Gleichwohl muss man doch konstatieren, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein stationärer Heimsektor entwickelt wurde, der durch umfassende öffentliche Investitionshilfe sowie durch einrichtungsspezifische Pflegesätze öffentlicher Kostenträger finanziert wurde (vgl. Fußnote sechs). Die überwiegende Anzahl der Anbieter waren Wahlfahrtsverbände, denen von diesen Kostenträgern die Übernahme nachgewiesener Aufwendungen garantiert wurde. Die Festlegung der Versorgungskapazitäten erfolgte (meist auf Landesebene) in Altenhilfeplänen, wobei die freien Träger an entsprechenden Planungen beteiligt wurden. Im Bereich der (außerfamilialen) ambulanten Altenhilfe traten im gleichen Zeitraum Hauspflege – bzw. Krankenpflegevereine sowie Gemeindestationen an die Stelle des traditionellen Ordenswesens. In den 1960er Jahren entstanden die ersten Sozialstationen. Viele waren als „Gemischtwarenladen“ konzipiert, welche hauswirtschaftliche, medizinische und grundpflegerische Leistungen verknüpften und dabei auf verschiedene öffentliche Ressourcen zurückgreifen konnten, wobei die Fallkosten für die Behandlungspflege von den Krankenkassen und – in geringerem Maße – von der Sozialhilfe übernommen wurden, in zunehmendem Maße erhielten diese öffentliche und kirchliche Fördermittel. Das 27
heißt, es wurden, auch wenn die Angebotsstrukturen lückenhaft waren, so doch „ganze Versorgungsstrukturen finanziert“ und nicht, wie es zum Grundprinzip der sozialen Pflegeversicherung gehört, „einzelne Versorgungs(leistungs)pakete“. Man könnte also – bei allen Mängeln – bis zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung durchaus von einem „Trend zu einer universellen Option auf bedarfsorientierte Pflege(unterstützung)“ sprechen (vgl. Bode 2004:15). Außerdem kann man durchaus über die Frage nachdenken, ob die Abhängigkeit von der steuerfinanzierten Sozialhilfe, die ja zumindest im stationären Sektor die Regel und nicht die Ausnahme war, von den Betroffenen deshalb tatsächlich als „unwürdig“ empfunden wurde.
1.2 Aushandlungsprozesse – Wie die soziale Pflegeversicherung wurde, was sie ist Die vorangegangen geschilderte Problemwahrnehmung führte seit ca. Mitte der 1970er Jahre zu einem zwanzig Jahre andauernden Diskussions- und Politikprozess, der 1994 mit der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes „endete“. Nachfolgend soll nun der Entwicklungsverlauf dieses langjährigen Konsensbildungsprozesses nachgezeichnet werden. Durch diesen Exkurs in die „Geschichte der Pflegeversicherung“ soll ein Grundverständnis dafür geschaffen werden, wie die Pflegversicherung zu dem in vielerlei Hinsicht unzulänglichen Stück Sozialreform werden konnte, das sie bis heute in weiten Teilen ist. Die Vielzahl der beteiligten Akteure, die Komplexität des Gegenstandes sowie der beträchtliche Zeitrahmen erfordern dabei freilich eine vereinfachende Darstellung der Ereignisse. Ohne also Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, wollen wir uns hierbei an das Vorgehen von Rothgang (1997) anlehnen, der in diesem Zusammenhang die Konfliktlinien zwischen „Sozial-„ „Finanz-“ sowie „Parteiund Ordnungspolitikern“ herausarbeitet hat. Jeweils in Bezug auf einen dieser Akteurstypen bzw. Interessenvertreter kann der Entwicklungsverlauf der Pflegedebatte demnach in jeweils drei Phasen eingeteilt werden. 1.2.1 Die erste Phase: Sozialpolitik Es gilt in der Literatur zur Entstehungsgeschichte der sozialen Pflegeversicherung weithin als Konsens, die Initialzündung zur Debatte um die Absicherung des Pflegerisikos im Jahre 1974 zu verorten, als das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) in einem Gutachten das Problem der Sozialhilfeabhängigkeit von in Heimen betreuten Pflegebedürftigen erstmals explizit thematisierte (KDA 28
1974). In diesem Gutachten wurde Pflegebedürftigkeit erstmals als „allgemeines Lebensrisiko“ bezeichnet. Das KDA forderte die Gewährleistung eines „Mindeststandards“ für Pflegebedürftigkeit durch die Krankenkassen, d. h. die Aufnahme von Leistungen bei Pflegebedürftigkeit in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), „weil es keine sachliche Begründung für eine Unterscheidung von Krankenhausbehandlung und Krankenhauspflege gibt“ (vgl. Meyer 1996:31). Des Weiteren kritisierte das KDA, dass Menschen nach „normalem“ Verlauf ihrer Erwerbsbiographie im Alter aufgrund von Pflegebedürftigkeit regelmäßig zu Sozialhilfeempfängern würden, was eines modernen Sozialstaates unwürdig sei.10 Während zur Absicherung gegen andere allgemeine Lebensrisiken eigenständige Sozialsicherungssysteme bestünden, gäbe es – abgesehen von der Sozialhilfe – keine umfassende öffentliche Absicherung gegen Pflegebedürftigkeit (vgl. Rothgang 1997:13, vgl. auch das vorangegangene Kapitel). Der Kritik und den Forderungen des KDA schloss sich noch im gleichen Jahr der Deutsche Städtetag an. Meyer (vgl. 1996:156) sieht hier bereits die „gemeinsame Schlachtformation“, bestehend aus freier Wohlfahrtspflege und Sozialhilfeträgern, konstituiert, die sich in dem Ziel traf, die pflegebedürftigen Heimbewohner aus der Sozialhilfe herauszuholen. Diese Gemeinsamkeit war indes nur eine scheinbare, da man zwar in dem Ziel übereinstimmte, die Sozialhilfe zurückzuführen, die Motive indes, die diese Forderung begründeten, waren nicht deckungsgleich und unterschieden sich auch stark von den sozialpolitischen des KDA (vgl. Skuban 2000:17).11 So verfolgten die Kommunen – als die primären Träger der Sozialhilfe – und die Wohlfahrtsverbände – als primäre Anbieter von Pflegeleistungen – gewichtige Eigeninteressen. Erstere wollten insbesondere die finanziellen Belastungen verlagern, letzteren ging es vor allem darum, angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten der Sozialhilfeträger, nicht unter Rationalisierungsdruck zu geraten. In diesem Sinne versuchten Sozialhilfe10 11
Zum quantitativen Aspekt dieser Problematik vgl. das vorangegangene Kapitel. Interessanterweise lässt sich durchaus darüber streiten, inwieweit die Forderungen des KDA bzw. überhaupt die Anfangsphase der Diskussion um die Absicherung des Pflegerisikos vor dem Hintergrund einer genuin sozialpolitischen Motivation heraus zu betrachten ist. Ganz anders als bspw. Rothgang (1997) stellt Meyer (1996) darauf ab, dass die Anfangsphase der Diskussion nicht aus sozialpolitischer Perspektive diskutiert worden sei, sondern lediglich als „Finanzierungsproblem“. Den Grund sieht Meyer in der deutschen Sozialrechtstradition begründet, die auf Rechtsansprüche und monetäre Leistungen abstelle, "ohne immer für die Herstellung und Förderung einer entsprechenden Versorgungsstruktur zu sorgen“ (vgl. Meyer 1996:158). Auch nach Kantel (2000) zielte die Einrichtung einer Pflegeversicherung von Anfang an nicht auf ein sozialpolitisches Ansinnen, das die soziale Notlage Pflegebedürftiger lindern und/oder beseitigen sollte, sondern im Wesentlichen auf eine Veränderung der finanziellen Trägerschaft. Diese Programmatik sei bereits im Titel des KDA-Gutachtens angelegt „Gutachten über die stationäre Behandlung von Krankheiten im Alter und über die Kostenübernahme durch die Gesetzlichen Krankenkassen“ (vgl. Kantel 2000).
29
träger und Wohlfahrtsverbänden gemeinsam „die Finanzierungsverantwortung für Pflegeleistungen zu externalisieren“ (vgl. Rothgang 1997:15). In den öffentlichen Erklärungen wurden diese Eigeninteressen der Kommunen und Wohlfahrtsverbände jedoch nicht formuliert, sondern es wurde hauptsächlich auf die Interessen der Pflegebedürftigen abgestellt, d. h. es wurde eben die pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit problematisiert sowie darüber hinaus Forderungen nach einer Stärkung der häuslichen Pflege („ambulant vor stationär“ und „Rehabilitation vor Pflege“) als auch nach einer Verbesserung der Pflegeinfrastruktur erhoben (vgl. Roth:2000:184; Skuban 2000:18; Rothgang 1997:13). In der Folge kam es aus den Reihen diese Akteure zu einer Vielzahl von Vorschlägen, von denen an dieser Stelle der sog. Dreiteilungsvorschlag hervorgehoben werden soll. Diesen machte 1976 zunächst die Arbeiterwohlfahrt (AWO), dem sich 1979 der Deutsche Städtetag anschloss. Der Dreiteilungsvorschlag sah ein Kostensplitting bei der Finanzierung der Pflegebedürftigkeit vor. Die Krankenkassen sollten demnach die pflegebedingten Aufwendungen tragen. Unterkunft und Verpflegung sollten von den Pflegebedürftigen übernommen werden, während die sonstigen Kosten (also vorrangig die Investitionskosten) von den Sozialhilfeträgern zu finanzieren wären. Unter Federführung des Deutschen Vereins erarbeitete man 1983 – nachdem bereits das Ergebnis der BundLänder-Kommission vorlag (s. u.) – den Gemeinsamen Vorschlag, welcher vorsah, eine Pflegesozialversicherung unter dem Dach der GKV einzuführen. Dieser Vorschlag hatte jedoch zunächst keine Chance, da die Krankenkassen und der Bund als entscheidende Akteure bis dahin nicht aktiv in den Diskussionsprozess von Wohlfahrtsverbänden und Sozialhilfeträgern eingebunden waren (vgl. Rothgang 1997:15). Diese reagierten folglich mit Ablehnung. So scheiterte der erste Anlauf zur institutionellen Neuordnung der Absicherung des Pflegerisikos. Interessanterweise wurde damals also eine Lösung verworfen, die weitgehend jener Konzeption der sozialen Pflegeversicherung entspricht, wie sie 1994 verabschiedet wurde. Auf Initiative der Länder wurde 1977 eine Bund-Länder-Kommission eingerichtet, die Lösungen „zur Zuordnung und Finanzierung ambulanter und stationärer Pflegedienste“ vorschlagen sollte (vgl. Skuban 2000:19). 1980 erschien eine 1978 vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in Auftrag gegebene Studie, die als Socialdata-Studie veröffentlicht wurde, und anhand derer man sich eine Vorstellung von den zu Haus lebenden Pflegebedürftigen machen wollte (vgl. Socialdata 1980). Damit rückte ab Ende der 1970er Jahre die häusliche Pflege in den Fokus. Erst auf der Grundlage der Socialdata-Studie war es erstmals überhaupt möglich, die tatsächliche Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland zu beziffern. Die Ergebnisse dieser Studie zeigten auf, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen deutlich über den Schätzungen lag, und dass so30
wohl in der häuslichen als auch in der stationären Pflege Versorgungsdefizite bestanden und die finanzielle Absicherung der Pflegebedürftigen nur unzureichend war. Die Diskussionsverlagerung auf die häusliche Pflege veränderte die Perspektive in Bezug auf die Heimpflege. Das heißt, die Situation der in den Heimen lebenden Pflegebedürftigen geriet tendenziell aus dem Blickfeld, und es galt nun – aus Kosten- und Effizienzgründen – diese soweit als möglich überhaupt zu vermeiden (vgl. Meyer 1996:158). Obgleich in dieser Phase bereits über eine sozialgesetzliche Lösung diskutiert wurde, führte der hierfür jedoch weit unterschätze Finanzbedarf dazu, zunächst nur an die Einführung eines Bündels von Einzelmaßnahmen zu denken. Das heißt, es sollte aufgrund finanzieller Erwägungen lediglich zu einem geringfügigen Ausbau des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung kommen, ohne aber ein eigenständiges und umfassendes Pflegeversicherungsgesetz zu schaffen.12 Wie wir also sehen können, kam es bereits in der ersten Phase des zwanzigjährigen Diskussionsprozesses um die Absicherung des Pflegerisikos zu einer Verlagerung der Dimensionen innerhalb der Pflegedebatte: Ausgehend von sozialpolitischen Überlegungen, die auf die Heimpflege abzielten, geriet diese, vorrangig bedingt durch die Socialdata-Studie, zunehmend aus dem Blick bzw. wurde aus finanzpolitischen Erwägungen heraus als eine zu vermeidende Versorgungsform betrachtet.13 Der bis dahin prägende sozialpolitische Diskurs begann allmählich eine finanzpolitische Dimension anzunehmen. Das heißt, die sozialpolitische Ausgangsforderung einer Emanzipation der Pflegebedürftigen von der Sozialhilfe wurde in die (finanzpolitische) Absicht transformiert vorrangig die Sozialhilfeträger, also die Länder und Kommunen, zu entlasten und die häusliche Pflege zu priorisieren. Vor diesem Hintergrund kam es in der darauf folgenden Phase dann auch zu einer verstärkten Einflussnahme dieser Akteure.
12
13
Im Blickfeld lagen hier Einzelmaßnahmen, die schließlich ausschließlich auf den ambulanten und häuslichen Bereich abzielten. Der Bereich der Heimpflege, um den es den Befürworten einer besseren Pflegeabsicherung ursprünglich überhaupt nur gegangen war, sollte im Sinne der damaligen Bundesregierungen der privaten Vorsorge überlassen bleiben (vgl. Meyer 1996:161). Der damalige Bundesarbeitsminister Blüm (CDU) forderte die private Versicherungswirtschaft dazu auf, die Pflegeabsicherung in ihren Leistungskatalog aufzunehmen. Die Strategie der neu gewählten christlich-liberalen Regierung, besonders der FDP, zielte in Richtung „mehr Eigenverantwortung: Privatisierung, Abbau sozialstaatlicher Leistungen und „Effizienzorientierung durch marktwirtschaftliche Instrumente“ (vgl. Bandelow 1998:109). Diese „Trendverlagerung“ sollte sich noch verstärken und 1994 als Norm – im Vorrang der häuslichen Pflege - Eingang in das Pflegeversicherungsgesetz finden.
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1.2.2 Die zweite Phase: Finanzpolitik Die zweite Phase der Diskussion um die Pflegeabsicherung wurde von finanzpolitischen Fragen dominiert. Diese Dominanz erklärt sich, wie bereits angedeutet, dadurch, dass sich nun in verstärktem Maße die Länder und Kommunen mit ihren spezifischen Interessenlagen (Vermeidung der Ausgaben für Sozialhilfe) in die Diskussion einschalteten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Diskussion auch schon längst von den sozialpolitischen Argumenten der ersten Phase abgelöst. Da das 1984 von der Bundesregierung vorgelegte Konzept, lediglich im Rahmen von Einzelmaßnahmen für den ambulanten und häuslichen Bereich in die pflegerische Versorgung einzugreifen (vgl. Fußnote 12), keine Zustimmung finden konnte, da es völlig am Bedarf vorbeiplante, wurden zunehmend die Bundesländer gesetzgeberisch aktiv. 1986 brachten die Bundesländer Hessen, RheinlandPfalz und Bayern Gesetzesvorschläge zur Absicherung des Pflegerisikos in den Bundesrat ein, mit denen sie, ganz anders als die damalige Bundesregierung, eine umfassende Lösung anstrebten: Bayern (CSU) und Hessen (SPD) plädierten für sozialversicherungsrechtliche Lösungen, wobei Bayern die Einbindung einer Pflegeversicherung in die GKV vorsah. Hessen stellte sich einen eigenen Sozialversicherungszweig vor. Rheinland-Pfalz (SPD) plädierte für eine steuerfinanzierte Lösung. Der Bundesrat entschied sich schließlich für den bayerischen Entwurf einer sozialen Pflegeversicherung, dem auch die SPD geführten Länder zustimmten. Über den von der Länderkammer eingebrachten Entwurf konnte jedoch im Laufe der 10. Legislaturperiode nicht mehr entschieden werden, was die Opposition zum Anlass nahm, der Bundesregierung „Verzögerungstaktik“ vorzuwerfen. Ungeachtet dessen verabschiedete der Bundestag 1988 das Gesundheitsreformgesetz, das zwar als ein erster „Einstieg in die Pflegeversicherung“ (vgl. Asam/Altmann 1995:55) interpretiert werden kann, doch beinhaltete diese „kleine Lösung“ (vgl. Skuban 2000:25) lediglich, den Leistungskatalog der GKV um Leistungen für Schwerpflegebedürftige im häuslichen Bereich zu erweitern. Immerhin konnte eineinhalb Jahrzehnte nach Veröffentlichung des KDA-Gutachtens zumindest ein erster Erfolg all derer erzielt werden, die sich um eine neue Form der Absicherung von Pflegebedürftigkeit bemühten. Das finanzpolitische Problem der überlasteten Sozialhilfeträger war damit jedoch noch nicht gelöst, da rund 90 Prozent aller Sozialhilfeaufwendungen für Pflegebedürftige auf die Hilfe in Einrichtungen entfielen (vgl. Tabelle 3). Durch die Einführungen von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit wurde allerdings ein Handlungsbedarf in dieser Frage auf Bundesebene grundsätzlich anerkannt, und die Thematik mithin endgültig auf die politische Agenda gesetzt. Die Aktivitäten und die finanzpolitischen Interessenlagen der Bundesländer, bei einer relativen Zurückhaltung der Bundesregierung, zeigen, dass jene 32
zunächst von der Finanzpolitik dominierte Phase zunehmend ein parteipolitisches Gepräge angenommen hatte. Und obgleich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den politischen Akteuren darüber bestand, dass ein sozialund insbesondere finanzpolitischer Handlungsbedarf dringend geboten sei, so gingen die Absichten über das Wie einer Lösung gleichwohl noch weit auseinander. 1.2.3 Die dritte Phase: Partei- und Ordnungspolitik Mit der überraschenden Kehrtwende des damaligen Bundesministers für Arbeit und Soziales, Norbert Blüm (CDU), der zunächst eine Gesetzliche Pflegeversicherung ablehnte,14 sich auf dem Ersatzkassentag 1990 jedoch überraschend für eine Pflegesozialversicherung aussprach, und diese Forderung von nun am zum Wahlkampfthema machte, wurde die partei- und ordnungspolitische Dimension im Aushandlungsprozess um die Absicherung des Pflegerisikos eingeleitet (vgl. Meyer 1997:270; Rothgang 1997:22). Damit zwang Blüm alle an der Debatte beteiligten sich entweder für oder gegen einen fünften Sozialversicherungszweig zu entscheiden und erreichte somit letztlich den Durchbruch für das absehbare Gesetz. Neben den Parteien versuchten auch andere Gruppierungen, wie die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, Einfluss auf die Ausgestaltung der institutionellen Reform der Absicherung des Pflegerisikos zu nehmen, um ihre Interessen hinsichtlich der Finanzierung der pflegebedingten Kosten durchzusetzen. In partei- und ordnungspolitischer Hinsicht stand nun das Wie einer Lösung, also die Frage nach der organisatorischen Ausgestaltung des Pflegerisikos auf der Tagesordnung, das im parlamentarischen Konsenszwang bedient und vereinigt werden musste. Die oppositionelle SPD befürwortete in den achtziger Jahren noch ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz und schwenkte erst Anfang der neunziger Jahre aufgrund der Kosten der deutschen Einheit auf das Sozialversicherungsmodell um. In der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP tat sich zwischen den wirtschaftsnahen Teilen der Union und der FDP, die eine sozialversicherungsrechtliche Lösung strikt ablehnten, und den Verfechtern im Unionslager, die das Blüm-Modell einer Sozialversicherung ebenso wie die SPD favorisierten, eine Kluft auf. Der grundsätzliche Widerspruch zwischen den Positionen bestand in der entscheidenden Frage, wie die Absicherung des Pflegerisikos zu finanzieren sei: Private eigenverantwortliche Finanzierung oder paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer (vgl. Skuban 2000:29). Damit wurde durch die Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Bürger 14
vgl. Fußnote zwölf
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einerseits und dem Prinzip einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung im Rahmen des Solidarprinzips andererseits, ein grundsätzlicher struktureller Konflikt in ordnungspolitischer Hinsicht offenbar. Im September 1991 kam es in einem Tendenzbeschluss zunächst zu einer unionsinternen Einigung in Richtung Sozialversicherung. Allerdings musste auch Blüm Abstriche hinnehmen, da die Pflegeversicherung keine Vollabsicherung, sondern lediglich eine Grundabsicherung garantieren sollte. Der Tendenzbeschluss von 1991 mündete im Sommer 1992 in die Vereinbarung, eine Pflegeversicherung unter dem Dach der Gesetzlichen Krankenversicherung mit einem umlagefinanzierten einheitlichen Beitragssatz von 1,7 Prozent einzuführen. Die sich daran anschließende Kontroverse entzündete sich insbesondere an dem Vorschlag, eine hundertprozentige Kompensation des Arbeitgeberbeitrages durch einen Karenztag bei der Lohnfortzahlung einzuführen. Hier waren es vor allem die SPD und die Gewerkschaften, die die Arbeitgeber nicht aus der Pflicht zur Beteiligung an der neuen Versicherung entlassen wollten. An dieser Debatte drohte schließlich im Laufe des Jahres 1993 das gesamte Werk zu scheitern, doch konnte schließlich im Streit um die Art und Weise der Einbindung der Arbeitgeber – nicht zuletzt vor dem Hintergrund anstehender Wahlen15 – durch die Streichung eines gesetzlichen Feiertages ein Kompromiss16 erreicht werden, dem alle Parteien zustimmten. Ein Scheitern des Projekts hielt in dieser Phase schließlich auch niemand mehr für politisch verantwortbar. So kam es am 27. Mai 1993 zum Koalitionsbeschluss, wobei die im Frühsommer 1992 getroffenen Grundsätze – Umlagefinanzierung unter dem Dach der Gesetzlichen Krankenversicherung – erneut bestätigt wurden (vgl. Meyer 1997:333ff). Neben der Frage, auf welcher organisatorischen Grundlage die Absicherung des Pflegerisikos auszugestalten sei, gerieten darüber hinaus stabilitätspolitische Ziele in den Fokus der Partei- und Ordnungspolitiker. Dabei ging es vor allem um die Frage, durch welche Mittel eine strikte Leistungs- und Ausgabenbegrenzung zu erreichen sei, um eine „Kostenexplosion“ in der sozialen Pflegeversicherung zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund wurde im PflegeVG eine strikte einnahmeorientierte Leistungsfestlegung verankert. Das heißt, die Leistungserbringung soll sich nicht nach dem Bedarf richten, sondern diese wird den Pfle15
16
34
Gerade am Beispiel der Pflegeversicherung zeigt sich exemplarisch die Auffassung politikwissenschaftlicher Theorie, wonach sozialpolitische Steuerung nicht nur von sozialen Problemen und defizitären Lebenslagen einzelner Gruppen ausgelöst wird, sondern sozialpolitische Interventionen vielmehr immer auch an politisch-strategischen Zielen wie Wahlerfolg, Konsolidierung öffentlicher Haushalte u. a. orientiert sind (vgl. Kaufmann 1983:6ff). Von einem Kompromiss zwischen den Maximalpositionen kann insofern gesprochen werden, als sich in ordnungspolitischer Hinsicht weder die FDP durchsetzen konnte, die eine private Pflegeversicherung favorisierte, noch die SPD, die ursprünglich eine gesetzliche „Volksabsicherung“ anstrebte.
gekassen durch ein kombiniertes System von pauschalierten, festgelegten Leistungssätzen in Abhängigkeit und im Rahmen des durch die Beitragseinnahmen – mit einem gesetzlich festgelegten Beitragssatz – insgesamt verfügbaren Ausgabenpotentials fest vorgegeben (vgl. Meier 1997:8). Tabelle 5: Systematisierung der hinsichtlich der Absicherung des Pflegerisikos von den verschiedenen Akteuren vertretenen Ziele Akteure/Zieldimensionen Sozialpolitiker
Finanzpolitiker
Allokation
Distribution
Stabilität
Verbesserung der Qualität; Beendigung der ambulant vor stationär aus Sozialhilfeabhänsozialen Gründen; gigkeit Förderung der Rehabilitation Ambulant vor stationär aus finanziellen Gründen; Angebotssteuerung
Verringerung der Sozialhilfeausgaben
Verbesserung der Effizienz; Verhinderung einer ÜberinPartei- und „soziale“ Finanzieanspruchnahme und eines Ordnungspolitiker Heimsogs; ambulant vor rung stationär aus ordnungspolitischen Gründen
Kostenbegrenzung in der Pflege
Ausgabenbegrenzung in der Pflegeversicherung
Quelle: Rothgang 1997:23 Wie die Tabelle nahe legt, kann und muss das PflegeVG als Kompromiss zwischen vielen heterogenen Zielvorstellungen und Interessenslagen beschrieben werden: Als ein „mixtum compositum“ aus verschiedenen Bestandteilen (vgl. Evers 1995) oder als „Mehrzweckgesetz“ (vgl. Dietz 2002:23; Landenberger 1994). Und so liegt es auf der Hand, dass mit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung und dem PflegeVG eine Sozialreform geschaffen wurde, die insbesondere von ihren Zielkonflikten her zu interpretieren ist. Im diesem Sinne sollen nun nachfolgend die wesentlichen Ziele, Zielkonflikte und Zielverfehlungen des PflegeVG dargestellt werden.
35
1.3 Grundzüge, Ziele und Zielkonflikte des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos bei Pflegebedürftigkeit Wie im vorangegangenen Kapitel deutlich werden sollte, wurde die Debatte um die Absicherung des Pflegerisikos im Wesentlichen durch drei Interessenlagen bestimmt: Dem sozialpolitischen Interesse die Pflegebedürftigen aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu befreien und die Qualität der pflegerischen Versorgung zu verbessern, dem Interesse um eine Veränderung der finanziellen Trägerschaft für die Kosten der Pflegebedürftigkeit sowie dem Interesse die Ausgaben und Kosten im Rahmen des PflegeVG soweit als möglich zu begrenzen. Und obwohl sich alle Analytiker und Kommentatoren des PflegeVG darin einig sind, dass diesem, je mehr es sich der Zielgeraden näherte, die sozialpolitischen Intentionen immer mehr abhanden kamen und das Gesetz so schließlich ganz im Zeichen fiskal- und haushaltspolitischer Perspektiven stand, werden die offiziellen Zielsetzungen, wie sie im „Ersten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung“ (vgl. Bundesregierung 1997) formuliert wurden, doch auffällig von sozialpolitischen Grundabsichten dominiert: „(…) die Pflegeversicherung wurde mit folgenden Grundabsichten eingeführt: 1. Mit der Pflegeversicherung soll das Risiko der Pflegebedürftigkeit vergleichbar den Versicherungen gegen Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit sowie zur Sicherung des Alterseinkommens sozial abgesichert werden. 2. Die Pflegeversicherung soll dazu beitragen, die aus der Pflegebedürftigkeit entstehenden physischen, psychischen und finanziellen Belastungen zu mildern. Sie soll eine Grundversorgung sicherstellen, die im Regelfall ausreicht, die pflegebedingten Aufwendungen abzudecken, und dadurch gewährleisten, dass in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Betroffenen aufgrund der Pflegebedürftigkeit nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind. 3. Die Pflegeversicherung soll der künftigen demographischen Entwicklung die durch steigende Lebenserwartung und die Zunahme des Anteils der älteren Menschen gekennzeichnet ist, Rechnung tragen. 4. Die Leistungen der Pflegeversicherung orientieren sich an den Grundsätzen „Prävention und Rehabilitation vor Pflege, ambulante und stationäre Pflege und teilstationäre vor vollstationärer Pflege“. Die Pflegeversicherung stellt vorrangig Hilfen zur häuslichen Pflege zur Verfügung, um den Pflegebedürftigen möglichst lange das Verbleiben in der gewohnten häuslichen und familiären Umgebung zu ermöglichen. 5. Die soziale Sicherung der nicht erwerbsmäßigen Pflegepersonen (zum Beispiel Angehörige, Nachbarn) soll verbessert werden, um die Pflegebereitschaft im häuslichen Bereich zu fördern. Damit soll der hohe Einsatz der Pflegepersonen anerkannt werden, die wegen der Pflegetätigkeit auch häufig auf eine eigene Berufstätigkeit ganz oder teilweise verzichten. 6. Die Pflegeversicherung und ihre Leistungen sollen dazu beitragen, dass die Pfleginfrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland weiter auf- und ausgebaut
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wird. Denn die Pflege braucht ein durch ambulante soziale Dienste sowie teilstationäre und vollstationäre Einrichtungen gestütztes sicheres Fundament. Zur Förderung des Wettbewerbs wird dabei die Zulassung von ambulanten und stationären Pflegeinrichtungen als Leistungserbringer nicht vom Bedarf abhängig gemacht“ (vgl. Bundesregierung 1997:8).
Betrachtet man diese Auflistung, so muss man konzedieren, dass darin durchaus die sozialpolitischen Forderungen aus den Jahren vor der Pflegeversicherung zum Ausdruck kommen. So weit so gut, müsste man vor dem Hintergrund der Beitragssatzstabilität der sozialen Pflegeversicherung, also dem Gesetzesbefehl mit den Ausgaben unter den Einnahmen zu bleiben, nicht immer wieder darauf hinweisen, dass diese sozialpolitischen Grundabsichten immer nur so weit zum Tragen kommen (können), wie es der finanz- und ordnungspolitische Rahmen der sozialen Pflegeversicherung zulässt. Nachfolgend werden nun die offiziellen Ziele der Pflegeversicherung einer Wirkungsanalyse unterzogen, wobei wir die aufgelisteten offiziellen Grundabsichten der sozialen Pflegeversicherung zunächst auf insgesamt vier Grundabsichten aggregieren: 1. 2. 3. 4.
Soziale Absicherung der Pflegebedürftigen mittels eigenem Sozialversicherungszweig und eine hierüber intendierte Entlastung der Sozialhilfeträger Verbesserung der Pflegequalität Öffnung des Pflegemarktes, Infrastrukturverbesserung Stärkung der Pflegebereitschaft
1.3.1 Soziale Absicherung der Pflegebedürftigen mittels eigenen Sozialversicherungszweigs und eine hierüber intendierte Entlastung der Sozialhilfeträger § 1 (SBG XI) weißt darauf hin, dass „zur sozialen Absicherung des Risikos bei Pflegebedürftigkeit (….) eine soziale Pflegeversicherung geschaffen (wird)“. Die Pflegeversicherung soll Pflegebedürftigen helfen, die „wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf solidarische Unterstützung angewiesen sind“ (§ 1 Absatz 4 SGB XI). In diesem Zusammenhang dient es dem analytischen Blick, den Adjektiven „sozial“ und „solidarisch“ größere Aufmerksamkeit zu schenken. Im Gegensatz zum Eindruck, den die Absicherungsvorschrift erweckt, hängt es gerade nicht davon ab, ob jemand der (finanziellen) solidarischen Hilfe der sozialen Pflegeversicherung tatsächlich bedarf, denn Versicherte, die aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Situation die Pflegebedürftigkeit aus eigener Kraft sicherstellen könnten, also nicht auf die solidarische Unterstützung angewiesen sind, erhalten 37
diese geradeso. Hier zeigt sich das aus den beitragsfinanzierten Sozialversicherungen bekannte Phänomen der Mittelschicht-Orientierung, da diejenigen Gruppen am meisten profitieren, die zuvor kein Geld aus den öffentlichen Kassen für Pflegeleistungen erhalten hätten, und nun gegen einen vergleichsweise niedrigen Beitragssatz erstmals kollektiv finanzierte Leistungen in Anspruch nehmen können (vgl. Strünck 2000:73). Das heißt, ein Teil der umlagefinanzierten Pflegeleistungen geht an Personen, die die Pflegekosten ganz oder teilweise selbst tragen können und dies heute auch schon tun. Mit anderen Worten: Die Pflegeversicherung erzeugt eine „inverse Umverteilung von unten nach oben“ (vgl. Rothgang 1997:163ff). Darüber hinaus wird das Absicherungsgebot selbst unter Vorbehalt gestellt. Nicht jede Pflegebedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit an sich wird zum Gegenstand des Wirkens der Pflegeversicherung, sondern es muss bereits eine Pflegebedürftigkeit mit einem gewissen Schweregrad vorliegen, bevor die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen einsetzt. Das heißt, alle Vorstufen der Pflegebedürftigkeit sind, bis zu einem gewissen Schweregrad, nicht Gegenstand der Pflegeversicherung und ihrer Leistungen. In der Grundtendenz wird hier festgelegt, dass die Pflegversicherung kein präventives Gesetz ist, sondern ein reaktives, auch wenn die §§ 5 und 6 SGB XI explizit einen Hinweis auf Prävention enthalten (vgl. Kantel:2000). Wie sich eine „ausreichende“ Pflegebedürftigkeit bemisst, wird in § 14 SGB XI („Begriff der Pflegebedürftigkeit“) sowie in § 15 SGB XI („Stufen der Pflegebedürftigkeit“) festgelegt. Problematisch am Begriff der Pflegebedürftigkeit ist, dass dieser nur schwer eingrenzbar ist, da es sowohl medizinische als auch versicherungs- und sozialrechtliche Definitionsversuche gibt. Im Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland finden sich Regelungen zur Pflegebedürftigkeit im Sozialhilferecht, im sozialen Entschädigungsrecht (Bundesversorgungsgesetz) und im Pflegeversicherungsgesetz. Zwar ist der Tatbestand der Pflegebedürftigkeit in den einzelnen Gesetzen unterschiedlich definiert. Er orientiert sich im Wesentlichen aber an zwei Grundvoraussetzungen: So muss zum einen wegen Krankheit, Behinderung oder eines Unfalls Hilflosigkeit vorliegen, und zum anderen muss diese Hilflosigkeit so gravierend sein, dass der/die Pflegebedürftige für die gewöhnlichen regelmäßigen wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens im erheblichen Umfang einen Bedarf an Pflege aufweist. Die beiden zentralen Begriffe „Hilflosigkeit“ und „Bedarf“ lassen einen weiten Interpretationsspielraum zu, so dass eine Abgrenzung, wann ein Individuum als gesund, krank oder pflegebedürftig gilt, wegen teilweise fließender Übergänge nicht exakt möglich ist. Pflegebedürftigkeit wird nicht mit Krankheit identifiziert, der Zustand der Pflegebedürftigkeit gilt nach Ausschöpfen der Möglichkeiten der Krankenbehandlung als voraussichtlich von Dauer (vgl. Möhle 2001:186ff). Das SGB XI versucht nun in § 14 den Begriff der Pflegebedürftigkeit so genau wie möglich zu definieren, um 38
exakt zu klären, welche Voraussetzungen zum Erhalt von Leistungen erfüllt sein müssen. Bei der Begriffsformulierung galt es von vornherein Rechtssicherheit zu schaffen und eine möglicherweise ausufernde Entwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs (mit folglich evtl. unkontrolliert anwachsenden Ausgaben der Pflegeversicherung) zu vermeiden. Seinem Wesen nach ist das SGB XI, worauf bereits mehrfach hingewiesen wurde, nämlich stabilitätsorientiert und folglich limitierend. Dies gilt demnach auch für die Definition von Pflegebedürftigkeit. Im Wortlaut des SGB XI heißt es: §14 (1) „Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßigen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.“
§ 14 SGB XI bestimmt weiterhin im Einzelnen diejenigen Krankheiten und Behinderungen, die für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit von Bedeutung sind. Ebenso wird der Begriff der Hilfe konkretisiert. Dieser reicht von der Unterstützung über die teilweise, bis hin zur vollständigen Übernahme von Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Zur Hilfe zählen dabei auch Beaufsichtigung und Anleitung im Hinblick auf die genannten Verrichtungen, mit dem Ziel der selbstständigen Übernahme durch den Pflegebedürftigen. Diese sogenannten „Verrichtungen“ lassen sich in vier Hauptbereiche gliedern: Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung:
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Tabelle 6: Pflegebedürftigkeit, Hilfebedarf und Stufen der Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftigkeit (14 Abs.1 SGB XI)
erforderlicher Hilfebedarf (§ 14 Abs.4 Nr.1-4 SGB XI)
Wer auf Dauer, mindestens sechs Monate, wegen Krankheit oder Behinderung bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen ist
Körperpflege
Ernährung
- Waschen - Duschen - Baden - Zahnpflege - Kämmen - Rasieren - Darm- und - Blasenentleerung
- Mundgerech- - Selbständiges Aufstehen tes Zubereiten und Zubettoder Aufnahgehen me der Nah- An- und Ausrung kleiden - Gehen - Stehen - Treppensteigen - Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung
Stufe I
mindestens einmal täglich bei wenigstens zwei zusätzlich mehrfach Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen wöchentlich
erheblich Pflegebedürftige (§15 Abs.1 Nr.1 i.V.m. Abs.3 Nr1 SGB XI) Stufe II
Mobilität
Hauswirtschaftliche Versorgung - Einkaufen - Kochen - Reinigen der Wohnung - Spülen - Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung - Beheizen
mindestens 90 Minuten im Tagesdurchschnitt. Pflegerischer Aufwand muss gegenüber dem hauswirtschaftlichen Aufwand im Vordergrund stehen (mehr als 45 Minuten) mindestens dreimal täglich, zu verschiedenen Tageszeiten
zusätzlich mehrfach wöchentlich
Schwerpflegebedürftige (§15 Abs.1 Nr.2 i.V.m. Abs.3 Nr2 SGB XI)
mindestens drei Stunden im Tagesdurchschnitt. Pflegerischer Aufwand muss deutliches Übergewicht gegenüber dem hauswirtschaftlichen Aufwand haben (mindestens zwei Stunden)
Stufe III
Rund um die Uhr, auch nachts
Schwerstpflegebedürftige (§15 Abs.1 Nr.3 i.V.m. Abs.3 Nr3 SGB XI)
mindestens drei Stunden im Tagesdurchschnitt. Pflegerischer Aufwand muss deutliches Übergewicht gegenüber dem hauswirtschaftlichen Aufwand haben (mindestens vier Stunden)
Quelle: zit. nach: Meier 1997:54 40
zusätzlich mehrfach wöchentlich
Äußerst problematisch an diesen Festlegungen ist jedoch, dass nur ein Teil der pflegefachlich bedeutsamen Hilfebedarfe bei Feststellung der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt wird (vgl. Klie 1999:16). Das heißt, der Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI ist nur „wenig vereinbar mit dem allgemeinen Stand in der pflegewissenschaftlichen Diskussion“ (vgl. ebenda, S. 16). Durch den stark verengten medizinisch-somatischen Pflegebegriff des Gesetzes finden deshalb die psycho-sozialen Elemente der Pflege kaum Beachtung. Dies widerspricht einerseits einer ganzheitlichen Betrachtung von Pflege, die alle Lebensbezüge des Menschen zu berücksichtigen hat, d. h. Körper, Psyche und soziales Umfeld gleichermaßen in ein Konzept einschließen muss (vgl. Schäffler et al. 1998:10ff), und andererseits beschert diese Nicht-Beachtung den Leistungserbringern große Probleme in den Vergütungsverhandlungen, da die Pflegekassen solche Leistungen in der Regel nicht finanzieren wollen. Problematisch daran ist auch, dass viele andere Berufsgruppen, wie Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter, nicht als verantwortliche Kräfte anerkannt werden (vgl. Strünck 2000:67). Benötigt der Pflegebedürftige also Hilfen in Bereichen, die nicht zu den im Gesetz normierten Verrichtungen gehören, so ist er nicht pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Dies führt dazu, dass der Bedarf wichtiger Gruppen von Pflegebedürftigen im Pflegebedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung nur selektiv abgebildet wird. Diese Problematik zeigt sich – trotz gesetzlicher Nachbesserungen – insbesondere an der nach wie vor nur ungenügenden Berücksichtigung von Demenzerkrankungen im Rahmen des PflegeVG. Die in Tabelle 6 ausgewiesenen definierten Hilfebedarfe, die die Voraussetzungen darstellen, um Leistungen der Pflegeversicherung zu beziehen, bringen deutlich zum Ausdruck, dass die Pflegeversicherung lediglich eine pflegerische Grundversorgung leisten soll, die nicht primär auf den individuellen Bedarf ausgerichtet ist. Hier wird Sicherheit also nicht nur a priori reduziert, sondern darüber hinaus auch noch abgestuft, indem sie auf der Grundlage von drei deutlich voneinander abgegrenzten Pflegestufen gewährt wird, deren Leistungen sich nicht am Bedarf, sondern, wie sich aus der nachfolgenden Tabelle entnehmen lässt, nach pauschalierten und festgelegten Leistungssätzen ausrichten (§ 36–43a SGB XI):
41
Tabelle 7: Leistungen der Pflegeversicherung im Überblick Pflegestufe I Erheblich Pflegebedürftige Häusliche Pflege
Pflegesachleistung bis monatlich
Pflegestufe II Schwerpflegebedürftige
Pflegestufe III Schwerstpflegebedürftige (in Härtefällen)
384
921
1.432 (1.918)
205
410
655
205
410
665
1.432
1.432
1.432
Pflegeaufwendungen bis im Jahr
1.432
1.432
1.432
Teilstationäre Tages- und Nachtpflege
Pflegeaufwendungen bis monatlich
384
921
1.432
Ergänzende Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgem. Betreuungsbedarf
Leistungsbetrag bis jährlich 460
460
460
Vollstationäre Pflege
Pflegeaufwendungen pauschal bis monatlich
1.023
1.279
1.432 (1.688)
Pflege in vollstationären Einrichtungen für behinderte Menschen
Pflegeaufwendungen in Höhe von
Hilfsmittel, die zum Gebrauch bestimmt sind.
Aufwendungen bis monatlich
Technische Hilfsmittel
Aufwendungen in Höhe von
90% der Kosten, unter Berücksichtigung von höchstens 25 Eigenbeteiligung je Hilfsmittel
Maßnahmen zur
Aufwendungen in
2.557 je Maßnahme, unter Berücksichtigung
Pflegegeld monatlich Pflegevertretung - durch nahe Angehörige
Pflegeaufwendungen für bis zu vier Wochen im Kalenderjahr bis
- durch sonstige Personen Kurzzeitpflege
42
10 % des Heimentgelts, höchstens 256 monatlich
31
Verbesserung des Wohnumfeldes
Höhe von
Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen für Pflegepersonen
Je nach Umfang der Pflegetätigkeit bis monatlich (Beitrittsgebiet)
einer angemessenen Eigenbeteiligung
125 (105)
251 (211)
376 (316)
Quelle: Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung (01/05): BMGS (InternetURL:http://www.bmgs.bund.de/deu/txt/datenbanken/gkv/5524.cfm) Wie bislang in Bezug auf das Gebot einer „sozialen Absicherung des Pflegerisikos“ aufgezeigt wurde, erzeugt die Pflegeversicherung eine Umverteilung von oben nach unten. Auch wird die Absicherung selbst unter Vorbehalt gestellt, indem ihre Leistungen erst dann einsetzen, wenn bereits ein bestimmter Schweregrad an Pflegebedürftigkeit vorliegt. Damit wird die (Weiter-)Existenz von sozialer Not bei Pflegebedürftigkeit im Vorfeld der Pflegeversicherung geradezu zur Voraussetzung des Pflegeversicherungsgesetzes (vgl. Kantel 2000). Darüber hinaus verfolgt ein weiterer sozialer Aspekt der Pflegeversicherung das Ziel, die Pflegebedürftigen von Sozialhilfe zu befreien, wenngleich diese eigentlich sozialpolitische Dimension schon sehr früh in die Absicht transformiert wurde, vorrangig die Sozialhilfeträger, also die Länder und Kommunen, zu entlasten.17 Vor dem Hintergrund jedoch, dass sich die Leistungen der Pflegeversicherung nach einem kombinierten System von pauschalierten, festgelegten Leistungssätzen in Abhängigkeit und im Rahmen des durch die Beitragseinnahmen – mit einem gesetzlich festgelegten Beitragssatz – fest vorgegebenen Ausgabenpotentials richten, wird dieses Ziel konterkariert. Denn der Grundabsicherungscharakter der Pflegeversicherung (ohne Bedarfsdeckung) führt zwangsläufig zu einer hohen finanziellen Eigenbeteiligung bei Pflegebedürftigkeit. Legt man beispielsweise einen äußerst niedrigen Pflegestundensatz von 25 Euro für die ambulante Pflege zugrunde, dann ergeben sich bei Pflegestufe I (mit dem gesetzlich festgelegten Mindestbedarf von 1,5 Stunden Pflege/Tag) monatliche Kosten von rund 1125 Euro. Bei einer Berücksichtigung nur der zeitlichen Entlastung, übernimmt die Pflegeversicherung einen Betrag von 384 Euro/Monat. Das heißt, die verbleibende Eigenbeteiligung liegt bei 741 Euro/Monat. Nehmen wir nun die so ge17
Hier muss angemerkt werden, dass die Sozialhilfeträger die Kosten nicht selbstverständlich übernehmen, sondern ggf. in Regress gehen. Das heißt, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip werden zunächst die Kinder der Hilfe- und Pflegebedürftigen zur Kostendeckung herangezogen. Den Kindern wird ein Mindestbetrag vom eigenen Einkommen belassen, geht das Einkommen der Kinder darüber hinaus, „haften“ sie für ihre Eltern. Der Mindestbetrag vom eigenen Einkommen, der „Selbstbehalt“, beträgt nach Rechtssprechung der westdeutschen OLGs (ohne Schleswig) 1400 Euro, nach OLG Brandenburg, Dresden, Jena, Naumburg, Rostock 1300 Euro.
43
nannte Eckrente im Jahr 2003 (1028 West/989 Ost), so würde diese Rente bereits allemal für Pflege und Miete aufgebraucht sein. Und die Deckungslücke der sozialen Pflegeversicherung wird bei steigender Pflegestufe umso prekärer (vgl. Kantel 2000). Mit anderen Worten: Wenn Pflegebedürftige nicht auf „billige“ pflegende Angehörige, d. h. auf deren Bereitschaft und Fähigkeit informelle Pflegeleistungen zu erbringen, zurückgreifen können, oder wahlweise auf einen billigeren „Pflegeschwarzmarkt“, muss die Sozialhilfe auch weiterhin erhebliche Beträge zur Verfügung stellen. Äquivalent stellt sich diese Problematik in der stationären Pflege, da die Pflegeversicherung nur für die pflegebedingten Kosten aufkommt, nicht aber für die so genannten Hotelkosten, d. h. für Unterkunft und Verpflegung. Die „Unangemessenheit der Leistungssätze“ (vgl. Meier 1997:90), und die sich hieraus ergebende finanzielle Deckungslücke, führt also dazu, dass die Betroffenen einen großen Teil der Kosten nach wie vor selbst zu tragen haben. Das heißt, seit Einführung der Pflegeversicherung ändert sich summa summarum lediglich das Maß der Abhängigkeit von der Sozialhilfe bzw. der Punkt, ab dem das Leistungserfordernis und damit die Abhängigkeit von der Sozialhilfe besteht. 1.3.2
Verbesserung der Pflegequalität
Die Grundabsicht der sozialen Pflegeversicherung, die Qualität der Pflege zu verbessern, wird insbesondere durch folgende zwei Aspekte maßgeblich beeinträchtigt, um nicht zu sagen verhindert. Zum einen durch die strenge Ausgabenund Kostenkontrolle mit ihren gedeckelten Leistungen und zum anderen durch die institutionelle Trennung in Kranken- und Pflegekassen unter dem gemeinsamen Dach der Krankenversicherung. Allein die im Gesetz enthaltenen Kostendämpfungsziele konfligieren erheblich mit dem Ziel der Verbesserung der Pflegequalität. Dies kann sehr anschaulich am Beispiel der Entwicklung der Kaufkraft bzw. des Kaufkraftverlusts der Pflegeversicherungsleistungen illustriert werden. Rothgang (1997:268ff) hat vier ausschlaggebende Faktoren herausgearbeitet, die sich expansiv auf die Ausgaben der Pflegeversicherung auswirken können: 1. 2. 3.
44
Die demographische Entwicklung Veränderungen im Inanspruchnahmeverhalten Überproportionale Preissteigerungen für Pflegeleistungen aufgrund geringer Rationalisierbarkeit
4.
Entsprechende Preissteigerungen aufgrund überproportionaler Lohnsteigerungen zur Verhinderung eines Pflegenotstandes sowie als Nebeneffekt einer Aufwertung der Pflege
Sofern die Pflegeversicherungsleistungen nicht dynamisiert, d. h. an die allgemeinen Preisentwicklungen der Pflegemärkte angepasst werden, was seit Einführung der Pflegeversicherung aufgrund des gesetzlich vorgegebenen Beitragssatzes nicht geschehen ist, muss zwangsläufig die Kaufkraft, und damit die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherungsleistungen, sinken: Entweder qualitativ (weniger oder schlechtere Leistungen) oder quantitativ (weniger Leistungsberechtigte) (vgl. Dietz 2002:55). Besonders eindringlich illustriert diesen Sachverhalt das vom „Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung“ herausgegebene „Pflege-Thermometer“. In dieser Studie aus dem Jahr 2004 wird darauf hingewiesen, dass sich durch eine Unterlassung der Leistungsdynamisierung mittlerweile 86 Prozent der ambulanten Pflegedienste in ihrer Existenz bedroht fühlen (vgl. Pflege-Thermometer 2004:10). Was dies für den im Gesetz so auffallend priorisierten Grundsatz des Vorrangs der häuslichen Pflege nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht bedeutet, bedarf kaum noch der Erläuterung. Und ebenso wie die ambulanten Pflegeeinrichtungen unterliegen auch die stationären Einrichtungen durch die Deckelung der Pflegesätze einem enormen Kostendruck, der sich auf die Qualität der pflegerischen Versorgung in den Heimen alles andere als förderlich auswirkt. Aus institutionenökonomischer Sicht zeigen sich gleich mehrere AnreizMechanismen, die Fehlsteuerungen hinsichtlich der Verbesserung der Qualität der Pflege und der Förderung präventiver Potentiale bei Pflegebedürftigkeit auslösen können. Institutionenökonomische Fehlsteuerungen kommen beispielsweise bei der Umsetzung des Grundsatzes „Vorrang von Prävention und Rehabilitation“ (§ 5 SGB XI) zum Tragen. Dieser Grundsatz soll einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Pflegequalität leisten. Medizinische und ergänzende Maßnahmen der Rehabilitation sollen im Sinne des PflegeVG nunmehr immer dann vorrangig gewährt werden, wenn dies der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit oder der Überwindung, Minderung und Verhinderung einer Verschlimmerung von Pflegebedürftigkeit dient. Zuständig für die Rehabilitation ist aber nicht die Pflegekasse, die von einer erfolgreichen Rehabilitation auch finanziell profitieren würde, sondern die Krankenkasse bzw. der Rentenversicherungsträger, sofern es sich um Erwerbstätige handelt. Da aber zumeist schon das Alter der Betroffenen eine Erwerbstätigkeit ausschließt, fällt die Trägerschaft an die Krankenkasse. Von entscheidender Bedeutung ist nun, dass durchaus eine Interessendivergenz von Kranken- und Pflegekasse gegeben ist, da für die Krankenkassen Anreize bestehen auf sinnvolle Rehabilitationsmaßnahmen zu verzichten, 45
d. h. eine Verschlechterung der Pflegebedürftigkeit in Kauf zu nehmen, um sich selbst finanziell zu entlasten (vgl. u.a. Rothgang 1997:155; Strünck 2000:68; Dietz 2002:56). In eben diesen Zusammenhang sind auch die Maßnahmen der „Aktivierenden Pflege“ (§ 28 SGB XI) einzuordnen, die häufig nur schwer von Rehabilitationsmaßnahmen zu unterscheiden sind. Im Extremfall können die gesetzlich vorgesehenen unterschiedlichen Kostenträgerschaften als „informelle politische Aufforderung Hilfeleistungen zu unterlassen“ verstanden werden (vgl. Frieling-Sonnenberg 1996:471). Negativ wirkt sich auch das so genannte „Defizitmodell“ auf die Pflegequalität aus, das die Leistungen der Pflegeversicherung an die Pflegestufen koppelt, die ihrerseits über Defizite bei den basalen und instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens definiert sind (vgl. Tabelle 6). Das heißt, auch hier bestehen hinsichtlich einer aktivierenden Pflege Fehlanreize, da bei jeder „Verbesserung“ der Situation des Pflegebedürftigen mit einer Leistungskürzung in Folge einer niedrigeren Einstufung zu rechnen ist und der Pflegebedürftige dann, insbesondere bei ambulanter und teilstationärer Pflege, über weniger Geld zum Kauf von Pflegeleistungen verfügt.18 Als zumindest ambivalent muss die im Rahmen des PflegeVG geschaffene Möglichkeit gewertet werden, bei häuslicher Pflege zwischen Geld- und Sachleistungen wählen zu können. Diese Wahlmöglichkeit erhöht einerseits die Autonomie und schafft die Voraussetzungen dafür, den jeweils „optimalen Leistungsmix“ realisieren zu können, andererseits muss die Frage gestellt werden, ob Pflegebedürftige selbst oder ihre Familien letztendlich über die Inanspruchnahme von Geld- und/oder Sachleistungen entscheiden. Sofern Familienangehörige entscheidenden Einfluss nehmen, besteht die Gefahr, dass nicht sichergestellt werden kann, ob die Entscheidung nur zum Besten des Pflegebedürftigen gefällt wird. Gerade durch die Geldleistungen werden vielmehr auch Anreize geschaffen, auf eine professionelle Unterstützung oder eine stationäre Unterbringung des Pflegebedürftigen zu verzichten, auch wenn dies zur Sicherung der Qualität notwendig wäre (vgl. u. a. Möhle 2001 : 196 ; Rothgang 1997 : 85).
18
46
Eine Verringerung des Hilfebedarfs aufgrund einer „Verbesserung“ der Pflegebedürftigkeit kann bspw. daraus resultieren, dass ein Blasenkatheder gelegt wird und dadurch die bis dahin notwendige zeitaufwändige Begleitung zur Toilette entfällt. Oder die Ernährung erfolgt nunmehr über eine Magensonde, so dass sich dadurch die zeitliche Unterstützung bei der normalen Nahrungsaufnahme verringert. Das heißt, obwohl sich der Zustand der Pflegebedürftigkeit de facto verschlechtert, führt aber der geringere Zeitaufwand zu der Absurdität, dass die Leistungen der Pflegeversicherung gekürzt werden (vgl. Simon 2003:29ff).
1.3.3 Öffnung des Pflegemarktes (Verbesserung der Pflegeinfrastruktur) Im Zusammenhang mit dem Ziel des PflegeVG, eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung sicherzustellen, legt der Gesetzgeber wert darauf, dass diese Pflege effizient und Ressourcen schonend erbracht wird.19 Zur Umsetzung dieser Absicht betrachtet der Gesetzgeber die Schaffung eines Pflege-Marktes als ein wesentliches Instrument, dieses Ziel zu erreichen. Wie bereits dargestellt wurde, dominierten vor dem Inkrafttreten des PflegeVG die freigemeinnützigen Träger den Pflegesektor. Zwischen dem Staat und den Wohlfahrtsverbänden bestand ein gegenseitiges Wechselverhältnis, welches den privat-gewerblichen Anbietern den Zugang zum Markt erschwerte. Auch die Krankenkassen waren ganz auf die Wohlfahrtsverbände ausgerichtet und zeigten aus verschiedenen Gründen kein großes Interesse daran, mit den privaten Anbietern von Pflegeleistungen zu kooperieren. Allerdings klagten die Sozialhilfeträger in zunehmendem Maße darüber, dass die Wohlfahrtsverbände ihre Rationalisierungspotentiale nicht genügend ausschöpfen würden und dass bestimmte Angebote regional ungleich verteilt oder gar nicht vorhanden seien, bspw. Angebote der Nacht- und Wochenendpflege (vgl. Haug 1995:29). Im Rahmen des PflegeVG wollte der Gesetzgeber den Zugang zum Pflegemarkt für private Anbieter erleichtern und hierüber den Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern fördern. Durch konkurrierende Anbieter sollten positive Effekte hinsichtlich der Pflegequalität, der Preise und einer Ausweitung des Angebots erzielt werden. Darüber hinaus sollte durch den Ausbau professioneller Unterstützung die pflegerische Bewältigungskraft der Familie, als das vorherrschende Muster in der Altenpflege, gestärkt werden. Die Absicht, die Qualität und die Effizienz in der pflegerischen Leistungserbringung durch einen Ausbau des Wettbewerbs zwischen den Anbietern von Pflegeleistungen zu befördern, verfolgt der Gesetzgeber insbesondere durch eine Abkehr von den vormaligen Prinzipien der Bedarfssteuerung und der Kostenerstattung. Durch eine „Marktöffnungsregelung“ (vgl. Meyer 1996:137) soll in Abkehrung vom Prinzip der Bedarfssteuerung eine „Trägervielfalt“ (vgl. Klie 1999:124) auf dem Pflegemarkt etabliert werden, um die Konkurrenz zwischen den jeweiligen Pflegeeinrichtungen zu verstärken. Wurden vor Einführung der Pflegeversicherung Pflegeeinrichtungen auf der Grundlage einer Bedarfsprüfung zugelassen, oder eben auch nicht, so hat nun hat nun jede Pflegeinrichtung Anspruch auf Abschluss eines Versorgungsvertrages nach § 72(1) SGB XI. Der Versorgungsvertrag regelt „Art, Inhalt und Umfang der allgemeinen Pflegelei19
Mit dem Begriff der „Effizienz“ wird gemeinhin das Verhältnis von eingesetzten Mitteln und realisiertem Erfolg bezeichnet. Mit anderen Worten: Ein möglichst hohes Leistungsniveau zu möglichst geringen Kosten.
47
stungen“ und ist zwischen Pflegekassen und den Leistungsanbietern im Einvernehmen mit dem zuständigen Sozialhilfeträger abzuschließen. Dabei sind freigemeinnützige und private Träger gleichrangig zu betrachten. Die Marktöffnung ist allerdings insofern eingeschränkt, als die Entscheidung über die Investitionskostenförderung von Pflegeinrichtungen bei den Ländern liegt, die somit nach wie vor bedarfssteuernd tätig sein können.20 Die Beförderung des Wettbewerbs, zur Steigerung der Effizienz in der pflegerischen Versorgung, soll darüber hinaus durch die Abkehr vom Prinzip der Kostenerstattung erreicht werden. Das heißt, das PflegeVG sieht in diesem Sinne keine Erstattung der Selbstkosten mehr vor (vgl. Fußnote 6). Nunmehr sollen die Pflegeinrichtungen durch eine „leistungsgerechte Vergütung bei wirtschaftlicher Betriebsführung“ ihren Versorgungsauftrag erfüllen (vgl. Klie/ Krahmer 1998:763). Dabei ist das Leistungsangebot im ambulanten Sektor an die gesetzliche vorgeschriebenen Vergütungsvereinbarungen zwischen Pflegekassen, Wohlfahrtsverbänden, privaten Anbietern und den Kommunen gebunden (§ 89 SGB XI). Diese Vergütungsvereinbarungen beinhalten die Leistungskataloge und die ihnen zugeordneten Vergütungssätze. Hierüber sind die Preise für Sachleistungen – mit wenigen Ausnahmen – festgelegt. Durch die Verbindlichkeit der Vergütungssätze tragen diese allerdings eher die „Züge einer kartellartigen Preisabsprache“ denn eines freien Marktes per Preiswettbewerb (vgl. Dietz 2002:155). Hier findet man also lediglich einen „Quasi-Markt“ (vgl. Schmid 2002:137ff) vor, der sich des Weiteren auch dadurch auszeichnet, dass er den Verbraucher einzig auf die Konsumentenrolle beschränkt. Denn fällt im sog. einfachen Marktwettbewerb – in Form einer dyadischen Beziehung – die Position des Verbrauchers mit der Rolle des Entscheidungsträgers, Konsumenten und Finanzierungsträgers in der Regel zusammen, sind sie im sog. dreiseitigen Markt des SGB XI auseinander gerissen, da die notwendige Verfügbarkeit und Auswahlbreite der Dienstleistungen normiert ist und entsprechenden Aushandlungsprozessen unterliegt, auf die die „Kunden“ und „Kundinnen“ des Pflegemarkts keinen Einfluss haben. In der Wahl der Dienstleistungen sind die Pflegebedürftigen 20
48
Der für den Auf- und Ausbau der pflegerischen Infrastruktur notwendige Kostenaufwand soll durch ein Finanzierungssystem gewährleistet werden, in dem die Länder für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlich pflegerischen Versorgungsstruktur verantwortlich sind. zur Finanzierung der erforderlichen Investitionsmittel sollen die Länder Einsparungen einsetzen, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung zukommen (§ 9 SGB XI). Im Unterschied zum dualen Finanzierungssystem nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz haben die Pflegeeinrichtungen jedoch keine bundesgesetzlich abgesicherten Rechtsansprüche auf Förderung ihrer Investitionskosten durch die Länder. Durch die Soll-Bestimmung war allerdings allen Beteiligten von Anfang an klar, dass nur ein Teil der Einsparungen investiert würde (vgl. Roth/Rothgang 2002:47; auch Pabst 1997:11).
und/oder deren Angehörige den Leistungskatalogen unterworfen, welche kartellartig die Kostentragenden und Dienstleistenden aushandeln. Dadurch werden aber die Wettbewerbsbedingungen über das Dienstleistungsangebot sowie die Dienstleistungsqualität auf genau das Maß eingegrenzt, welches zwischen Kassen und Pflegeeinrichtungen gerade noch refinanzierbar ist (vgl. Dietz 2002:155). Daran schließt sich unmittelbar der schon vertraute Widerspruch von Qualität und Budget an. Je mehr ein Dienst Pflegeversicherungsleistungen bspw. durch höher qualifiziertes Personal erbringen würde, und dadurch auch höhere Personalkosten in die Vergütungsverhandlungen einbrächte, desto mehr würden die Preise für diese Leistungen steigen und die Kaufkraft für die Versicherten sinken. Lassen sich die Kassen also auf qualitätsbedingte Preissteigerungen ein, verringern sie direkt die versicherungsgetragenen Leistungsmengen. Mit anderen Worten: Pflegedienste handeln dann effizient, d. h. kassen- und gesetzeskonform, wenn sie sich auf eine basale Pflege, also auf das im jeweiligen Fall Notwendigste, beschränken. Dies führte in der Vergangenheit – und auch nach wie vor – zu einer Niedrigpreisstrategie, die die Pflegeeinrichtungen entweder durch Mengeneffekte (die Versorgung von mehr Pflegebedürftigen in kürzerer Zeit) oder durch Einnahmeeffekte (stärkere Konzentration auf „teuere“ Leistungen) zu kompensieren versuchten (vgl. u. a. Skuban 2000:67ff; Dietz 2002:153ff). Hinsichtlich des Ziels, durch Leistungen der Pflegeversicherung die Pflegeinfrastruktur auf- und auszubauen, kann im Groben folgendes resümiert werden: Im ambulanten Bereich breitete sich das Marktsegment „ambulante Pflege“ kurz vor und nach Einführung der Pflegeversicherung zwar rasant aus, doch sehen sich, wie bereits dargelegt, mittlerweile 86 Prozent der ambulanten Pflegedienste aufgrund der beschriebenen Finanzierungsmodalitäten in ihrer Existenz bedroht (vgl. Pflege-Thermometer 2004:17). Auch gestaltet sich nach Erkenntnissen des Pflege-Thermometers (2004) die Personalrekrutierung der ambulanten Pflegedienste als zunehmend schwierig. Interessant ist hier auch die Beobachtung, dass die größten Schwierigkeit in dieser Hinsicht in den Neuen Bundesländern zu verzeichnen sind. Eine mögliche Erklärung hierfür sehen die Autoren der Studie in der Abwanderung von Arbeitnehmern aus den neuen in die alten Bundesländer (vgl. Pflege-Thermometer 2004:32ff, vgl. auch Kapitel 4.2 dieser Arbeit). Allerdings werden hierfür auch die hohe Arbeitsbelastung und die vergleichsweise schlechte Bezahlung der Pflegekräfte verantwortlich gemacht. Ähnlich wie im ambulanten Pflegebereich kam es im Zusammenhang mit der Einführung der Pflegeversicherung auch im teilstationären Sektor zu einer, wenn auch nicht flächendeckenden und ausreichenden21, Expansion an Einrichtungen der Tagespflege (vgl. Deutscher Bundestag 2001:120ff). Allerdings ver21
Dies ist insbesondere auf den Effekt der Soll-Bestimmung bei den Investitionsmitteln für Pflegeeinrichtungen zurückzuführen.
49
zeichnet diese „sehr sinnvolle Versorgungsalternative“ (vgl. ebenda, S. 123) erhebliche Auslastungsprobleme. Zurückzuführen ist dies vor allem darauf, dass die Hauptnutzergruppe Pflegebedürftige in den Pflegestufen I und II sind, die Pflegesätze dieser Stufen allerdings nicht ausreichen, die Sätze der Tagespflegeeinrichtungen abzudecken. Das heißt, die Inanspruchnahme beschränkt sich in vielen Fällen auf das, was der Sachleistungsbetrag übrig lässt oder was man sich an privaten Zuzahlungen gestatten kann. Der Effekt einer Ausweitung des Angebots im teilstationären Bereich wird also auch hier durch eine nicht ausreichende Finanzierung über Pflegeversicherungsleistungen wieder zunichte gemacht (vgl. Runde et al. 2003:72; Dietz 2002:165ff).22 Dabei darf nicht vergessen werden, dass dieser Effekt vor allem auch vor dem Hintergrund gesehen werden muss, dass die teilstationäre Pflege zum einen mit einer gesetzlichen Vorrangstellung (§ 3 SGB XI) versehen wurde und zum anderen gerade Angebote zur Tages- und Kurzzeitpflege idealerweise dazu beitragen sollten, pflegende Angehörige zu unterstützen.23 Ebenso sind die Effekte der Infrastrukturverbesserungen im stationären Bereich mit ähnlicher Ernüchterung zu betrachten. Zwar hat sich die Anzahl der vollstationären Pflegeinrichtungen in den Jahren 1992 bis 2001 etwas mehr als verdoppelt24 – obgleich dieser Struktureffekt eigentlich gar nicht gewollt sein kann (§ 3 SGB XI: „Vorrang ambulanter und teilstationärer vor stationärer Dauerpflege“). Jedoch ist dieser Effekt vor allem das Resultat einer erheblichen Umwidmung bereits bestehender Heimplätze in versorgungsvertraglich anerkannte Pflegeinrichtungen. Dieser „Umwidmungseffekt“ ist dem Leistungs- und Vergütungsrecht der Pflegeversicherung geschuldet, denn im Falle nicht als Pflegeeinrichtungen anerkannter Wohnheime wird die vollstationäre Pflege behandelt (also bezahlt) wie die in der eigenen häuslichen Umgebung. Vor diesem Hintergrund kam es in Folge der Pflegeversicherung zu einer massenhaften Umdefinition bspw. von Altenheimen in vollstationäre Pflegeeinrichtungen, um die höheren Pflegesätze für vollstationäre Pflege abrechnen zu können. Entsprechend muss die Ausweitung von Pflegeplätzen deshalb als „eine nur fiktive“ bezeichnet werden (vgl. Dietz 2001:172ff).
22 23
24
50
Auch im Rahmen der Sozialhilfe werden Tagespflegeaufenthalte mit Verweis auf die Pflegekassen kaum noch finanziert (vgl. Dietz 2001:167). Wie dem dritten und aktuellen Bericht zur Entwicklung der Pflegeversicherung der Bundesregierung zu entnehmen ist, nahmen von den insgesamt fast 2 Mio. Pflegebedürftigen gerade mal knapp 35 Tsd. die Angebote der Tages- Nacht- Urlaubs- und Kurzzeitpflege wahr (vgl. Bundesregierung 2004:225ff). Diese Angaben ergeben sich aus einem Vergleich der Daten aus dem „Ersten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung“ (vgl. Bundesregierung 1997) mit dem jüngsten Bericht (vgl. Bundesregierung 2004).
1.3.4 Stärkung der informellen Pflegebereitschaft Vor dem Hintergrundwissen des Gesetzgebers, dass die pflegerische Versorgung von Pflegebedürftigen bislang in einem hohen Ausmaß von der Pflegeinstitution Familie erbracht wurde (vgl. Socialdata 1980), und – in diesem direkten Zusammenhang – getragen von der Befürchtung, dass die Bereitschaft zur häuslichen Pflege aufgrund demographischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Veränderungen in Zukunft zurückgehen könnte (vgl. Bundesregierung 1993), muss der Versuch des Gesetzgebers, das informelle Pflegepotential im Rahmen des neuen PflegeVG zu stärken, als eines der wesentlichen Ziele der Pflegeversicherung gesehen werden. Es galt im Diskussionsprozess zur Einführung der Pflegeversicherung weitgehend als Konsens, dass Angehörige und andere informell Pflegende zumindest soweit honoriert und/oder entlastet werden müssten, „dass häusliche Pflege eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher“ würde (vgl. Meyer 1996:39). Entsprechend sollte vorrangig die häusliche Pflege, im Wesentlichen also die informell Pflegenden, durch konkrete und im PflegeVG verankerte „aktivierende Unterstützungsleistungen“ (vgl. Evers 1998:8ff) gestärkt werden. Damit knüpft der Gesetzgeber offensichtlich an das vorherrschende Leitbild der Pflege in der Bevölkerung an: „Es sei der Wunsch der weit überwiegenden Zahl pflegebedürftiger“ Menschen, Pflege und Betreuung solange wie möglich in der vertrauten Umgebung zu erhalten“ (vgl. Koalitionsentwurf des Pflegeversicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 24. Juni 1993, BT-Drucks. 12/5262, S.90).
Darüber hinaus geht der Gesetzgeber aber auch davon aus, dass der Kostenvorteil bei der häuslichen (informellen) Pflege liegt. Denn bereits bei einem mittleren Grad an Pflegebedürftigkeit können auch ambulante Dienste erheblich teurer kommen als selbst eine stationäre Unterbringung in vergleichbarer Qualität und von ähnlichem Umfang (vgl. Runde et al. 1998:89). Damit erhält der Vorrang „ambulant vor stationär“ Programmcharakter und findet sich entsprechend sowohl bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit und der häuslichen Pflegesituation wie auch im Leistungsrecht wieder, das eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Stützung der häuslichen Pflege bereithält. Die besondere Tragweite dieses Grundsatzes wird vor allem dann deutlich, wenn der „Vorrang der häuslichen Pflege“ mit der Förderung der Unterstützung von Angehörigen in Verbindung gebracht wird. Denn unter ökonomischen Gesichtspunkten erzielt das Bekenntnis zur häuslichen Pflege nur dann einen Effekt, wenn sich damit die gesellschaftliche Norm zur Verpflichtung gegenüber der Angehörigenpflege auf-
51
rechterhalten bzw. fördern lässt.25 Um dies zu erreichen, werden auf der leistungsrechtlichen Ebene verschiedene Leistungen angeboten, die als Anreize, sich für die häusliche Pflege zu entscheiden, zu interpretieren sind. Ebenso sollen diese als Ressourcenunterstützung für die Angehörigen dienen, um die informelle Pflege möglichst lange aufrechtzuerhalten. Im Folgenden werden nun die wesentlichen Maßnahmen im Rahmen des PflegeVG zur Unterstützung der informellen häuslichen Pflege dargestellt und mit kritischen Anmerkungen versehen. Dabei müssen wir im Auge behalten, dass es sich hierbei um eben jene institutionellen Rahmenbedingungen innerhalb des PflegeVG handelt, über die auf eine Verantwortungs- und Aufgabenteilung bei der Absicherung des Pflegerisikos („Sozialpolitik aus der Nähe“) hingewirkt werden soll. Zu nennen sind hier insbesondere: 1.3.4.1 Die Bereitstellung von Pflegegeld und Sachleistungen (Pflegedienste) Sofern Pflegebedürftige zu Hause gepflegt werden, werden Grundpflege26 und hauswirtschaftliche Versorgung als Pflegesachleistung gewährt. Die Sachleistungen müssen von ambulanten Diensten oder Pflegefachkräften erbracht werden, mit denen die Pflegekasse einen Vertrag abgeschlossen hat. Durch die Möglichkeit, Pflegesachleistungen in Anspruch zu nehmen, wird dem einzelnen Pflegebedürftigen nicht nur die benötigte professionelle Hilfe zur Verfügung gestellt, sondern diese soll auch zu einer spürbaren Entlastung der Angehörigen führen und so einer Überforderung der Pflegepersonen entgegenwirken. Die Option Pflegegeld wird vom Gesetzgeber als Pflegesachleistungssurrogat gesehen. Unabdingbare Voraussetzung ist, dass der Pflegebedürftige zu Hause gepflegt wird. Dabei soll das Pflegegeld kein Entgelt für die von den Pflegepersonen erbrachten Pflegeleistungen darstellen, sondern den Pflegebedürftigen in die Lage versetzen, den Angehörigen eine materielle Anerkennung für ihren Pflegeeinsatz zukommen zu lassen. Der Pflegebedürftige muss mit dem Pflegegeld die notwendige Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung selbst sicherstellen. Ist dies nicht gewährleistet, wird das Pflegegeld nicht gewährt. Beziehen Pflegebedürftige Pflegegeld, wird regelmäßig überprüft, ob die Quali25 26
52
Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass der Gesetzgeber andererseits die Übernahme der Pflege durch Angehörige über die Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Grundsicherung geradezu erzwingt (vgl. Runde 1998:90). Der Begriff „Grundpflege“ bezeichnet Hilfeleistungen, bei den personenbezogenen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, die der Pflegebedürftige nicht (mehr) selbst wahrnehmen oder nur noch durch Unterstützung verrichten kann. Dies sind Aktivitäten bei der Körperpflege, bei der Ernährung sowie Hilfeleistungen die im Zusammenhang mit der Mobilität des Pflegebedürftigen stehen (§ 14 IV Nr. 1-3 SGB XI, vgl. auch Tabelle 6).
tät der häuslichen Pflege gesichert ist. Der Pflegebedürftige ist verpflichtet in regelmäßigen Abständen einen Pflegeeinsatz durch eine Pflegeeinrichtung, mit der die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, abzurufen (§ 37 III SGB XI). Das Leistungsrecht der sozialen Pflegeversicherung ermöglicht auch eine Kombination von Geld- und Sachleistungen. Sofern der Pflegebedürftige die ihm nach § 36 III SGB XI zustehende Sachleistung nur teilweise in Anspruch nimmt, erhält er ein anteiliges Pflegegeld. Durch die Möglichkeit nach § 37 Abs. 1 SGBXI anstatt professionelle Hilfe (Sachleistung) auch eine Geldleistung, das so genannte Pflegegeld, zu wählen, ist im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung „… ein Novum entstanden, für das es im gesamten Gebiet der Garantien von sozialen Anrechten auf gesundheitliche und soziale Dienste in der Bundesrepublik weder vergleichbare Beispiele noch Traditionen gibt“ (vgl. Evers 1997:510). Die Wahlfreiheit zwischen Geld- und Sachleistungen zielt vorrangig darauf ab, ein individuell präferiertes Versorgungs- und Pflegearrangement zusammenzustellen: „Die durch das Gesetz gegebene Möglichkeit zwischen einem bestimmten Deputat an Hilfen durch von den Pflegekassen anerkannte Pflegedienste und einer Geldleistung zu wählen, eröffnet erstmals in der deutschen Sozialgesetzgebung einen Freiheitsspielraum, der es den Betroffenen selbst überlässt, in welcher Form sie die staatliche Rechtsleistung für sich in ein konkretes Hilfearrangement umsetzen wollen“ (vgl. Evers 1998:12).
Zu beachten ist allerdings, dass die Umsetzung dieses „Freiheitsspielraums“ seitens des Gesetzgebers allerdings nur unter explizitem Einbezug familialer oder anderweitiger informeller Unterstützung möglich ist. Der Sozialstaat delegiert also Verantwortung an die Familien und informellen Netzwerke und gesteht dafür ein größeres Wahlspektrum zu. Mit der subsidiären Vorrangstellung der häuslichen vor der stationären Pflege (Grundsatz: „ambulant vor stationär“) wird die multiple Freiheit allerdings wiederum eingeschränkt. Denn, und darauf haben wir bereits hingewiesen, durch die Ausgestaltung der sozialen Pflegeversicherung als Grundsicherung erzwingt der Gesetzgeber geradezu die informelle Angehörigenpflege. Diese sollte der Regelfall sein und nicht die (teil-) stationäre Pflege. Der hier geworfene Blick auf einen zentralen Wirkungsmechanismus der Pflegeversicherung offenbart eine Sichtweise von Pflegebedürftigkeit, die in der sozialen Praxis zu enormen Problem führen muss, denn der Gesetzgeber macht sich hier in einem hohen Maße von den Eigendynamiken der privaten Wohlfahrtsproduktion abhängig. Das heißt, die unterstellte eigene Hilfefähigkeit ist eben nur so lange kein Problem, wie die Pflegebedürftigen auf familiäre oder 53
sonstige informelle Pflegekapazitäten zurückgreifen können. Da hier der zentrale Punkt der vorliegenden Arbeit berührt wird, soll an dieser Stelle auf diese Problematik noch nicht näher eingegangen werden. Zunächst ist aber festzuhalten, dass in dem Maße, in dem die Fähigkeit oder die Bereitschaft informelle Pflegeleistungen zu erbringen, nicht oder nicht ausreichend vorhanden ist, aus Gründen, die noch herauszuarbeiten sind, muss entweder verstärkt auf professionelle Pflegedienste zurückgegriffen werden oder aber ein Wechsel in eine stationäre Einrichtung erfolgen. Obgleich die durch das PflegeVG geschaffene Option, über die Pflegesachleistung Unterstützung „einkaufen“ zu können, grundsätzlich sicherlich zu begrüßen ist, ist der Sachleistungsumfang jedoch ganz offensichtlich zu gering, um damit eine nennenswerte Entlastung für pflegende Angehörige oder eine vollständige Kompensation für erst gar nicht vorhandene Angehörige zu erzielen. Der vorangegangenen Beispielsrechnung für die Pflegestufe I zufolge resultiert bereits aus dem Mindestversorgungsbedarf von 1,5 Stunden/täglich ein monatliches Versorgungsdefizit, d. h. eine Eigenbeteiligung von 741 Euro/Monat. Das Preis-Leistungsverhältnis der Pflegedienste ist also völlig unzureichend, um es zu nutzen und um damit wirklich entlastende Effekte für die informelle häusliche Pflege zu erzielen. In der Praxis führt dieser Umstand dazu, dass professionelle Pflegedienste möglichst viel Notwendiges in möglichst kurzer Zeit erledigen müssen, damit am Ende nicht doch wieder auf die Sozialhilfe zurückgegriffen werden muss. Ohne erhebliche Zuzahlungen bleiben den Versicherten und ihren Angehörigen also täglich nur Minuten, in denen sie von Pflegediensten versorgt und entlastet werden können. Dadurch werden „durch die Vergütungsmechanismen der Pflegeversicherung (bedarfsignorierende Deckelung) also genau jene Versorgungsmängel verfestigt, die es in der vorgesetzlichen Bestandaufnahme zu beseitigen galt“ (vgl. Dietz 2000:158; auch Kantel 2000:6ff; Runde et al 2003): „Die durchschnittliche Zeitdauer für einen Hausbesuch beträgt nur 20 Minuten. Für ein Gespräch bleibt nur nebenbei, für aktivierende Pflege bleibt keine Zeit“ (vgl. Deutscher Bundestag 1992:BT-Drucks. 12/5262, S.90).
Durch den im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung gewährten Freiheitsspielraum zwischen Geld- und Sachleistungen wählen zu können, ergibt sich des Weiteren der mindestens als problematisch zu benennende Umstand, dass die pflegebedürftigen Personen und deren Angehörige gewissermaßen qua Gesetz zu autonomen Marktteilnehmern avancieren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die in der hergebrachten Dyade „Sozialstaat – Individuum“ angelegten „Fehlfunktionen“ (Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger als passive Empfangsobjekte sozialstaatlicher Leistungen) durch die angebotspolitische Logik ausge54
schaltet werden sollte. Mit dem Markt als Zwischenakteur und nicht mit dem Staat sollen die betroffenen Pflegebedürftigen und deren Angehörige nun über Umfänge und Qualität einer sozialen Dienstleistung verhandeln und darüber an Souveränität zurückgewinnen (vgl. Dietz 2002:13ff). Dadurch wird ein vollkommen gewandeltes Bild des Empfängers oder der Empfängerin von Sozialleistungen entworfen, für das es in den traditionellen Sozialversicherungszweigen, wie der Gesetzlichen Krankenversicherung oder der Gesetzlichen Rentenversicherung, kein ähnliches Beispiel gibt. Durch die Wahlmöglichkeit zwischen nicht bedarfsdeckenden Geld- und Sachleistungen – und einer dadurch letztendlich erneuten Reprivatisierung des Pflegerisikos – wird also nicht nur ein strukturelles Problem der sozialen Pflegeversicherung angezeigt, sondern ebenso das gewissermaßen vorgelagerte Problem, dass diese Wahlfreiheit von den Pflegebedürftigen Kompetenzen und Ressourcen voraussetzt, die geschult werden müssen oder vielmehr müssten (vgl. Möhle 2001:197). Anders ausgedrückt: Gesetze, die Möglichkeiten eröffnen und neue Anrechte schaffen, sind darauf angewiesen, dass die Adressaten selbst die Möglichkeiten nicht nur erkennen, sondern diese auch praktisch annehmen und umsetzen. Geld und dessen Wirkung entfaltet sich hier nur in dem Maße, wie es die oder der Leistungsbeziehende selbst zulässt und entsprechend mitwirkt. Wie unschwer zu erkennen ist, befinden wir uns hier auf dem Terrain aktivierender Sozialpolitik. Aus dieser Perspektive wäre es vordringlich geboten, „Lernstrategien zur Reorientierung eines herkömmlichen Versorgungssystems“ einzuleiten, in Richtung auf ein „Mitverantwortung förderndes Unterstützungssystem“, in dessen Rahmen staatliche Leistungsträger nicht nur schützen und versorgen, sondern Partner und Ressourcen anerkennen und aktivieren helfen (vgl. Evers 1998:18ff). Zwar sind im Pflegeversicherungsgesetz eine Reihe solcher Elemente vorgesehen, die auf Aktivierung und Unterstützung Angehöriger durch Beratung, Schulung und Anleitung zielen, jedoch bleiben diese weitgehend aus (vgl. Evers 1998:14ff, Dietz 2002:35ff, Runde et al 2003:18ff). Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen ist dies auf die begrenzten finanziellen Mittel der Pflegekassen, z. T. aber auch der Kommunen und der Länder, zurückzuführen, und zum anderen ist der Umstand zu benennen, dass eine Verantwortungsteilung bei der Produktion von Wohlfahrt nicht nur Lernprozesse bei den (privaten) Adressaten voraussetzt, sondern ebenso bei den Pflegekassen und den professionellen Pflegediensten. Das heißt, Pflegebedürftige und pflegende Angehörige sollten von letzteren auch als Akteure angesprochen werden, die an der Pflege als Koproduzenten und als Mitentscheidende zu beteiligen sind. Die Vergütungsvereinbarungen im häuslichen Pflegebereich fördern jedoch ein Selbstverständnis der Pflegekassen sowie der professionellen Pflegedienste, das daraufhin orientiert ist, Pflege als eine Form quasimedizinischer Versorgung vorrangig effizienter zu managen. Doch je „fachli55
cher“ der gesamte Vorgang drapiert ist, „desto weniger erscheint es möglich und legitim, dass Hilfe- und Pflegebedürftige sowie pflegende Angehörige im Pflegeprozess nicht nur mithelfen, sondern auch mitentscheiden und mitplanen. (…) Es werden also eher traditionelle Formen der Verantwortungsbereitschaft kolonialisiert, statt zu arbeitsteiligen Mitverpflichtungen und Mitsprachemöglichkeiten zu ermuntern“ (vgl. Evers 1998:17). In kritischer Perspektive muss auch drauf hingewiesen werden, dass aktivierende Unterstützungsleistungen zur Stärkung des informellen Pflegepotentials häufig eine gewisse „Janusköpfigkeit“ aufweisen, und zwar immer dann, wenn diesen implizit auch eine „Steuerungs/Kontrollfunktion, Beratungsfunktion oder eine Marketingfunktion“ zukommt (vgl. Dietz 2002:36; 131ff). Um die Qualität der Pflege auch bei Pflegegeldbezug durch Hilfestellung und Beratung zu sichern, hat der Gesetzgeber beispielsweise verfügt, dass der Pflegegeldbezieher in regelmäßigen Abständen einen Pflegeinsatz durch eine Pflegeinrichtung abruft, mit der die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat (§ 37 SGB XI). Gerade an diesem Beispiel zeige sich, so Dietz (2002:132ff), die Ambivalenz und die Konfliktlinien des neuen Dreiecksverhältnisses zwischen Markt, Staat und Individuum: Durch den Vorschaltmechanismus „Pflichtpflegeinsatz“ spiegelt sich das heimliche Misstrauen des gewährenden Staates gegenüber der Pflegequalität durch Angehörige als „Laien“ wider, nicht sachgemäß mit dem Sachleistungsersatz umzugehen und die Pflegeleistung nicht einem professionell ausgerichteten ideellen Standard gemäß zu erbringen. Hier wird das Machtgefälle zwischen Individuum und Staat deutlich, wenn die Versicherungsträger durch ihre Beratungs- und Kontrollfunktion daraufhin steuern, dass die Arbeitskraft der Laien ganz wie die von berufsmäßigen Versorgungsvertragspartnern erbracht werden soll. Es besteht dadurch die Gefahr vorprogrammierter Konfliktlinien zwischen kontrollierten Laien und kontrollierenden professionellen Anbietern. In diesem Zusammenhang ist auch darauf aufmerksam zu machen, dass pflegende Angehörige häufig nicht unterscheiden können, ob ein Hilfsangebot eines kontrollierenden Pflegedienstes begründet ist, oder ob es sich quasi nur um ein „Verkaufsangebot“ des ambulanten Pflegedienstes handelt (vgl. ebenda). Wir sehen also wie mannigfach sich die Schwierigkeiten und Gefahren darstellen, die sich aus dem Versuch ergeben, die Stärkung des informellen Pflegepotentials durch die Medien Recht und Geld zu beeinflussen. Abschließend schulden wir noch eine kritische Anmerkung, die seit Beginn der Pflegeversicherung, insbesondere im Zusammenhang mit der Sachleistungsoption bei häuslicher Pflege, vorgetragen wird. Denn die Möglichkeit, häusliche Pflege ausschließlich durch Sachleistungen zu gestalten, eröffnet eben auch das Denken in Alternativen und Möglichkeiten. Das heißt, pflegende Angehörige könnten sich
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durch den Sachleistungsbezug auch grundsätzlich für einen „Ausstieg“ aus der Pflege entscheiden. 1.3.4.2 Leistungen bei teilstationärer Pflege und Kurzzeitpflege Ist die häusliche Pflege eines Pflegebedürftigen nicht ausreichend sichergestellt, besteht ein Anspruch auf teilstationäre Pflege (§ 41 SGB XI) in Einrichtungen der Tages- und Nachtpflege. Mit dieser Regelung soll die Pflegebereitschaft und Pflegefähigkeit im häuslichen Bereich erhalten und gefördert werden. Kann die häusliche Pflege nicht, noch nicht, oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, und reicht auch die teilstationäre Pflege nicht aus, besteht für eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung oder in sonstigen Krisensituationen, in denen vorübergehend häusliche Pflege oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist, Anspruch auf Pflege in einer vollstationären Einrichtung. Dieser Anspruch ist auf vier Wochen im Kalenderjahr begrenzt. Durch diese Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI) sollen die Pflegepersonen, die die häusliche Pflege sicherstellen, entlastet werden. Es soll verhindert werden, dass der oder die Pflegebedürftige bei einem Ausfall der Pflegeperson(en) auf Dauer in die vollstationäre Pflege überwechseln muss. Auch hier sind die Möglichkeiten einer teilstationären Pflege sowie der Kurzzeitpflege grundsätzlich zu begrüßen. Diese könnten sicherlich zu einer persönlichen Entlastung und dadurch zu einer Stärkung des informellen Pflegepotentials beitragen, jedoch gilt auch hier, was im Prinzip bereits zur Pflegeinfrastruktur herausgearbeitet wurde, nämlich die nur unzureichende Finanzierung dieser Angebote durch die Pflegeversicherungsleistungen sowie ein bislang nicht flächendeckendes entsprechendes Versorgungsangebot (Stichwort: SollBestimmung bei den Investitionskosten). Auch ist zu beachten, dass Angebote der Tages- und Nachtpflege für die Betroffenen nur dann praktikabel sind, wenn sich diese Versorgungsoption in unmittelbarer räumlicher Nähe bietet, da Transportzeiten von mehr als 30 Minuten je Wegstrecke nur ausnahmsweise akzeptabel und durchführbar sind (vgl. Deutscher Bundestag 2001:123; Runde et al. 2003:72). 1.3.4.3 Leistungen zur sozialen Sicherung pflegender Angehöriger und Bekannter (informelles Pflegepotential) Zur Verbesserung der sozialen Absicherung der Pflegepersonen (vgl. §44 SGB XI) sieht das Gesetz vor, dass die soziale Pflegeversicherung, oder das private 57
Versicherungsunternehmen, bei dem eine private Pflege-Pflichtversicherung abgeschlossen wurde, Beiträge an den zuständigen Träger der Gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Dabei richtet sich die Höhe der Beiträge nach dem Schweregrad der Pflegebedürftigkeit. Während ihrer Pflegetätigkeit sind die Pflegepersonen ebenso unfallversichert, jedoch nicht krankenversichert. Wollen sie nach der Pflegetätigkeit wieder ins Arbeitsleben zurückkehren, haben sie Anspruch auf Unterhaltsgeld nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Voraussetzung ist jeweils, dass die Pflegeperson, die nicht unbedingt ein Angehöriger des Pflegebedürftigen zu sein braucht, einen Bedürftigen im Sinne des § 14 SGB XI mindestens 14 Std. pro Woche in seiner häuslichen Umgebung nicht erwerbsmäßig pflegt und selbst nicht mehr als 30 Stunden die Woche erwerbstätig ist. Pflegepersonen erhalten, sofern sie einen von Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe I Betroffenen mindesten 14 Std./wöchentlich betreuen, eine monatliche Rente von 6,74 /West (5,92/Ost) pro Jahr Pflegetätigkeit, und in Pflegestufe III, bei einem Pflegeumfang von mindestens 28 Std./wöchentlich, eine monatliche Rente von 20,21/West (17,77/Ost). Mit anderen Worten: Pflegepersonen, die ihre eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der Übernahme von informellen häuslichen Pflegeleistungen aufgeben, müssen, zumal bei niedriger Pflegestufe des Hilfebedürftigen, mit erheblichen persönlichen (finanziellen) Einbußen rechnen, weshalb eine häusliche Pflegeübernahme in der Regel nur für Verheiratete mit einem Ehepartner(in) in Frage kommt, der/die über ein ausreichendes übriges Familieneinkommen verfügt (vgl. auch Kapitel 3.4.2.1 dieser Arbeit). Der Versicherungsschutz für Pflegepersonen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung ist also in keiner Weise ausreichend, um eine angemessene Kompensation dafür zu sein, eine vollsozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder Vollerwerbstätigkeit zugunsten der informellen Angehörigenpflege aufzugeben. Während sich sowohl die Ausgaben, als auch die Zahl der Pflegepersonen für die Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden, in den ersten Jahren nach Einführung der Pflegeversicherung deutlich erhöht haben, ist seit 1998 ein kontinuierlicher Rückgang der Ausgaben zu verzeichnen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziales 2004). Darin spiegeln sich zum einen die Strukturverschiebungen bei der Inanspruchnahme hin zu mehr Sach- und vollstationären Leistungen wider, bei denen weniger bzw. keine Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden, und zum anderen möglicherweise eine Zunahme des Anteils der Pflegebedürftigen, die von Partnern oder Kindern gepflegt werden, die schon selbst im Rentenalter sind. Letzteres ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, da Untersuchungen zu den Strukturmerkmalen informeller Hilfe- und Pflegepersonen – selbst im 10Jahresvergleich – ergeben haben, dass diese zu zwei Dritteln im erwerbsfähigen Alter sind (vgl. Kapitel 3.4.2 dieser Arbeit). Interessant ist auch, dass es sich bei den rentenversicherungspflichtigen Pflegepersonen zu über 90 Prozent um Frau58
en handelt (vgl. Deutscher Bundestag 2004:49), was wiederum auf die Rollenverteilung bei den häuslichen Pflegearrangements rückschließen lässt und an anderer Stelle noch ausführlich zu erörtern sein wird. 1.3.5 Zusammenfassung: Das Pflegeversicherungsgesetz – „unbestreitbar ein Erfolg“? Zunächst wurde dargelegt, dass das allgemeine Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit bis zur Einführung der Pflegeversicherung weitgehend kein leistungsbegründender Tatbestand an sich darstellte. Im Falle von Pflegebedürftigkeit konnte nur vereinzelt auf einkommens- und vermögensunabhängige Leistungen in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung zurückgegriffen werden. Dadurch war das finanzielle Risiko bei Pflegebedürftigkeit überwiegend aus Eigenmitteln der Betroffenen oder ihrer Angehörigen zu tragen (Stichwort: Problem der Sozialhilfeabhängigkeit bzw. der Verarmung bei Pflegebedürftigkeit). Nach einem langjährigen und langwierigen Konsensbildungsprozess trat 1995 schließlich die „soziale Pflegeversicherung zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“ als neuer eigenständiger Zweig des deutschen Sozialversicherungssystems in Kraft. Die soziale Pflegeversicherung hat die gesetzliche Aufgabe, „Pflegebedürftigen Hilfe zu leisten, die wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf solidarische Unterstützung angewiesen sind“ (§ 1 Absatz 4 SGB XI). „Die Leistungen sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte des Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten“ (§ 2 SGB XI). Und schließlich bestimmt § 3 SGB XI: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Leistungen der teilstationären Pflege und Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor“. Im jüngsten vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziales vorgelegten „Bericht zur Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung“ (vgl. Bundesregierung 2004) wird darauf hingewiesen, die Pflegeversicherung sei vor dem Hintergrund einer weiterhin sehr großen Akzeptanz in der Bevölkerung „unbestreitbar ein Erfolg in der Geschichte der sozialen Absicherung“ und aus dem Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr wegzudenken, auch wenn es Schwächen bei der Ausgestaltung und Probleme, wie z. B. bei der Einbeziehung der Demenzkranken, gebe. Diese Probleme beträfen jedoch die Wei59
terentwicklung der Pflegeversicherung, könnten aber „nicht die getroffenen Grundentscheidungen zur Konzeption und inhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Absicherung des Pflegerisikos in Frage stellen“ (vgl. ebenda, S. 28). Folgt man der Einschätzung des BMGS, so gewinnt man den Eindruck, als würde die soziale Pflegeversicherung im Großen und Ganzen jene Grundabsichten erreichen, die durch sie erreicht werden sollten, und aufgrund dessen seien die vorhandenen Probleme und Schwächen der Pflegeversicherung, die ja durchaus eingeräumt werden, lediglich vereinzelte Probleme der Nach- oder Feinjustierung („Weiterentwicklung“). Doch ist dies wirklich so, oder müsste die soziale Absicherung des Risikos bei Pflegebedürftigkeit nicht vielmehr neu überdacht, ja geradezu grundsätzlich neu konzipiert werden? Erfüllt die soziale Pflegeversicherung ihre gesetzlichen Aufgaben? Resümieren wir die Ergebnisse der vorangegangenen Analyse zur Konzeption und inhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Pflegeversicherung, scheint es doch eher so, als ob hier ein Stück Sozialreform in Gang gesetzt wurde, das von Anfang an erst gar nicht die angestrebten Effekte erreichen konnte, die es zur Folge hätte haben sollen. Denn, wie vorangegangen beschrieben, sind die Verfehlungen der Grundabsichten der Pflegeversicherung zu offenbar und zu gravierend, als dass diese alleine auf gewisse Einführungsund Ausführungsschwierigkeiten des noch relativ jungen Sozialversicherungsgesetzes zurückgeführt werden könnten. „Theorieversagen bei den wesentlichsten Sicherungszielen“ nennen das die Fachleute (vgl. Dietz 2002:275). Das PflegeVG weist also vielmehr grundsätzliche Planungsfehler auf, die sich insbesondere in der Divergenz der formalen Wirklichkeit des Gesetzes zur sozialen Wirklichkeit zeigen. Ohne die zahlreichen Widersprüche und dysfunktionalen Wirkungen des PflegeVG selbst im Einzelnen zu wiederholen, wollen wir abschließend auf insgesamt vier entscheidende Grundmerkmale der sozialen Pflegeversicherung hinweisen, die wesentlich dazu beitragen, die Aufgaben und Ziele dieser Sozialreform zu konterkarieren und die es u. E. gerade nicht zulassen, sich der Bewertung der sozialen Pflegeversicherung durch das BMGS anzuschließen: 1.
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Da die sozialpolitische Ausgangsforderung einer Emanzipation der Pflegebedürftigen von der Sozialhilfe schon sehr früh in die Absicht transformiert wurde, die Sozialhilfeträger zu entlasten, muss man im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Analyse zu dem Ergebnis kommen, dass im Zentrum des neuen PflegeVG nicht die inhaltlich-sozialpolitischen Dimensionen standen und stehen, sondern das Gesetz von seiner Wirkung her primär als „Sanierungskonzept der Kommunalfinanzen“ (vgl. Strünck 2000:58) zu begreifen ist. In der Absicht eine „Kostenexplosion“ des neuen Sozialversicherungszweiges zu vermeiden, wurden erstmalig die Leistungsausgaben ausdrücklich an
3.
4.
den Beitragseinnahmen orientiert. In diesem Fall kann von einer einnahmebezogenen Ausgaben – bzw. Leistungspolitik gesprochen werden, die sich nicht mehr wie in den anderen Sozialversicherungszweigen nach einer leistungs- bzw. ausgabenorientierten Beitragsfestlegung richtet. Da die soziale Pflegeversicherung also beitragsmäßig begrenzt ist, ist sie nicht auf den individuellen Bedarf ausgerichtet, sondern nur noch auf eine Grundsicherung mit festgelegten und beschränkten Leistungssätzen bzw. einem normierten Leistungsumfang. Obgleich man die Zukunftsfähigkeit einer Pflegeabsicherung für das eigentliche stabilitätspolitische Ziel halten müsste, führt der Grundsatz der Beitragssatzstabilität, also die Forderung mit den Ausgaben unter den Einnahmen zu bleiben, bei einer wachsenden Pflegebedürftigkeit (Inanspruchnahme) geradezu zwangsläufig zu dem Dilemma entweder die Leistungen zu kürzen oder die Zahl der Leistungsberechtigten so niedrig wie möglich zu halten (Stichwort: Kaufkraftverlust der Pflegeversicherung). Daher gilt: Auch wenn die Pflegeversicherung als Leistungsgesetz diskutiert wurde, ist sie aber „letztlich eine Strategie zur Kostendämpfung im Pflegebereich“ (vgl. Watzlawick 1995:98). Das dritte wesentliche Grundmerkmal des neuen PflegeVG ergibt sich unmittelbar aus dem Letztgenannten. Denn durch die strikte Politik der Ausgabenbegrenzung ist es weder möglich, die im Gesetz enthaltenen Qualitätsund Infrastrukturverbesserungsziele zu erreichen, noch die Entlastung der Sozialhilfeträger voll zu verwirklichen, da die eingeschränkte und nicht bedarfsgerechte Leistungsgewährung im Rahmen des PflegeVG dazu führt, dass die Betroffenen alle darüber hinaus gehenden Kosten – notfalls durch die Sozialhilfe – selbst zu tragen haben. Dadurch wird also auch das „heimliche Ziel“ der sozialen Pflegeversicherung, nämlich die Länder und Kommunen finanziell zu entlasten, verfehlt. Zwar ist die Sozialhilfeabhängigkeit seit Einführung der Pflegeversicherung gesunken, jedoch beträgt diese im stationären Sektor immer noch rund 50% – mit ansteigender Tendenz (vgl. Skuban 2004). Die Konzeption der sozialen Pflegeversicherung als Grund- oder TeilKasko-Versicherung im Falle von Pflegebedürftigkeit führt im Zusammenhang mit einer strikten Politik der Ausgabenbegrenzung dazu, dass ein hohes Maß an Eigen- und Vorsorgeverantwortung an die von Pflegebedürftigkeit Betroffenen bzw. deren Angehörige delegiert wird: Sowohl in finanzieller Hinsicht als auch hinsichtlich des Umgangs mit den Anforderungen einer aktivierenden Sozialpolitik und des Marktes zur Stärkung der informellen häuslichen Pflege sowie in Hinsicht auf eine grundsätzliche Bereitschaft und Fähigkeit des informellen Pflegepotentials notfalls 24 Stunden am Tag Pflegeleistungen zu erbringen. Die soziale Pflegeversicherung folgt 61
vor diesem Hintergrund dem „liberalistische(n) Primat eines möglichst geringen Staatseinsatzes bei gleichzeitiger Betonung der Familie und ersatzweise des Marktes“ (vgl. Dietz 2002:272). Seit dem sechsten Jahr ihres Bestehens „erwirtschaftet“ die soziale Pflegeversicherung Jahr für Jahr steigende Defizite. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales (BMGS) werden die finanziellen Reserven der Pflegeversicherung im Jahr 2008 vollständig aufgebraucht sein (vgl. BMGS 2005). Kaum dass das finanzielle Fundament des „Jahrhundertwerk(s) Pflegeversicherung“ (Norbert Blüm) gegossen war, begann es also zu bröckeln. Sicher, man mag dies – wie bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – mit einem konjunkturellen Problem auf der Einnahmeseite begründen: Stagnierende Beschäftigung einschließlich nur langsam steigender Löhne. Für die GKV ist das mittlerweile sowohl von der Wissenschaft als auch von der Politik weitgehend anerkannt und gilt aufgrund der gleichen Grundlage der Finanzierung deshalb wohl auch für die soziale Pflegeversicherung. Wie kurzsichtig jedoch der Blick allein auf die Einnahmeseite der sozialen Pflegversicherung ist, zeigt eine analytische Betrachtung der Leistungsentwicklung dieses Sozialversicherungszweiges. Ein solcher wird späterhin ausführlich erfolgen (vgl. Kapitel 3.3). Um es kurz vorweg zunehmen: Seit Jahren gehen die „kostengünstigeren“ Geldleistungen zurück, wohingegen die „teureren“ Sachleistungen sowie die „teure“ stationäre Inanspruchnahme ansteigt. Der Trend zu den (teureren) Pflegesachleistungen und zur vollstationären Pflege muss nach Simon (2003:77ff) als ein Anzeichen dafür interpretiert werden, dass die Pflegeversicherung eines ihrer zentralen Ziele bislang verfehlt hat, nämlich die informelle häusliche Pflege wirkungsvoll zu unterstützen. Die Maßnahmen des PflegeVG zur Stärkung und Aktivierung des informellen Pflegepotentials oder ersatzweise des Marktes sind nicht nur in finanzieller Hinsicht unzulänglich. Um auf dieser Ebene Effekte zu erzielen, sind die Voraussetzungen insgesamt außerordentlich voraussetzungsvoll (Stichwort: Lernprozesse, ungleich verteilte Kompetenzen und Ressourcen). Betrachtet man jedoch nur die maßgeblichen ökonomischen Mittel zur Aktivierung des informellen Pflegepotentials (Geld- und Sachleistungen), kommt man nicht umhin, auf das Paradoxon aufmerksam zu machen, dass gerade der unbedingte Wille der Pflegeversicherung zur Beitragssatzstabilität, und einer damit verbundenen programmatischen Abkehr von der Bedarfsdeckung, gerade zu einem Ausgabenzuwachs der Pflegeversicherung führt. Denn der Mangel an bedarfsgerechten Leistungen in der ambulanten Versorgung muss zwangsläufig zu einer Überforderung der informellen Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder Freude führen. Dadurch steigt das Risiko, dass das informelle Pflegepotential verstärkt nach teureren Ersatzlösungen suchen muss. Doch ist der Trend zu den teureren Sach62
leistungen und zur vollstationären Pflege nicht nur Ausdruck des „handwerklichen“ Fehlers, die Leistungssätze für die häusliche Pflege zu niedrig zu bemessen, sondern dieser kann auch als Resultat sozialer Prozesse interpretiert werden, die – unabhängig von der Höhe der Geldleistungen – auf eine Erosion familiärer Pflegepotentiale hindeuten. Dies wird jedoch an anderer Stelle noch im Einzelnen zu erörtern sein. Nachdem nun die sozial- und finanzpolitischen Hintergründe und Ziele zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung, als auch deren institutionelle Umsetzung und Ausgestaltung aus einer kritisch-analytischen Perspektive beschrieben wurden, muss man zu der Erkenntnis gelangen, dass die Pflege in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs „sicher“ ist – auch oder gerade wegen der Pflegeversicherung. Sicher ist sie weder in finanzieller Hinsicht noch in Hinsicht darauf, dass von Pflegebedürftigkeit Betroffene kausal einen menschenwürdigeren Umgang oder eine qualitativ verbesserte Versorgung durch die Pflegeversicherung erwarten dürften. Mag der Gesetzgeber auch davon sprechen, dass sie „unbestreitbar ein Erfolg“ (vgl. BMGS 2004:28) sei, so sprechen Fachleute, aber vor allem die soziale Wirklichkeit, eine andere Sprache.27 Die zahlreichen über die Medien vermittelten „Pflegeskandale“ in, aber auch außerhalb stationärer Einrichtungen, mögen verkürzt, populistisch oder auch nur der TV-Quote oder der Auflage geschuldet sein, strukturell haben sie – die Argumente haben wir gerade vorgetragen – durchaus ein Fundament. Andererseits: Sicherheit ist ein relativer Begriff. Das heißt, muss man den Vorwurf an die Pflegeversicherung, dass deren „Plafondierungslogik mit ihren anderen (sozialen) Ansprüchen eben nicht zusammengeht“ (vgl. Dietz 2002:275) nicht zumindest relativieren, wenn man bedenkt, dass eine bedarfsgerechte und mithin ausreichende Absicherung des Pflegerisikos von Anfang erst gar nicht in der Absicht der sozialen Pflegeversicherung lag? Etwas provokant formuliert: Ist vor diesem Hintergrund die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die Grundentscheidungen zur Konzeption und inhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Absicherung des Pflegerisikos nicht in Frage zu stellen seien, nicht nur richtig, sondern geradezu konsequent, wenn dieser die Grundentscheidungen zur sozialen Pflegeversicherung an Grundabsichten bemisst, die eben ganz offen nicht mehr an den protektionistischen Linien kollektiv-sozialstaatlicher Sicherung orientiert sind, sondern vor allem an der Absicht, die Verantwortung des (Sozial-) Staats und die Verantwortung des Ein27
In einer besonders dramatischen Weise kommt dies in einer Studie des Rechtsmediziners Peter Klostermann von der Charité Berlin zum Ausdruck, der die Selbstmordmotive kranker Menschen untersucht hat, die älter als 65 Jahre waren. Aus den Abschiedsbriefen sei hervorgegangen, dass ein großer Teil der von Pflegebedürftigkeit Betroffenen mit dem Suizid ihrer Einweisung in ein Pflegeheim zuvorkommen wollte. (vgl. Berliner Zeitung, 14.09.2004, in: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2004/0914/politik/0030/).
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zelnen in eine neues Verhältnis zu setzen, was wiederum korrespondiert mit der Verschiebung des Paradigmas sozialer Sicherheit von der Versorgung zur Vorsorge und Eigenverantwortung. Diese Verschiebung findet eben in der Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Grundsicherungsmodell und in den aktivierenden Maßnahmen zur Stärkung der informellen Pflegebereitschaft ihren Ausdruck: Die Familie soll es richten. Auf diese saloppe Formulierung haben wir es bereits in der Einleitung gebracht. Freilich, „handwerklich“ kann die „Lösung“ im Rahmen des PflegeVG nicht befriedigen, doch davon abgesehen, die sozialpolitische Zielrichtung der sozialen Pflegeversicherung ist dafür umso klarer. Anders ausgedrückt: Wer sich im Rahmen der sozialen Pflegversicherung nicht ausreichend versorgt oder „gesichert“ fühlt, wozu er, wie wir dargestellt haben, gute Gründe anführen kann, kann hier nur bedingt von einem „Theorieversagen“ der Pflegeversicherung selbst sprechen, denn der reformierte (Sozial-) Staat nach neuem Selbstverständnis kann nun wiederum argumentieren, dass sich die Pflegebedürftigen nur zu wenig eigenverantwortlich verhalten oder nicht genügend vorgesorgt haben, indem sie bspw. auf Kinder verzichtet oder sich nicht frühzeitig um den Aufbau eines informellen Netzwerks aus Freunden, Verwandten oder aus der Nachbarschaft bemüht haben oder sie es aber versäumt haben, eine finanzielle Rücklage für den Fall von Pflegebedürftigkeit zu bilden, um die Versorgungslücke der Pflegeversicherung durch eine „neue Kultur des Helfens“ oder durch finanzielle Eigenmittel zu schließen. Kritik an der Ausgestaltung und inhaltlichen Konzeption der sozialen Pflegeversicherung muss also immer zweierlei beinhalten: Zum einen Kritik an ihren Verfahrensprinzipien, die eher technischer Natur sind, also „handwerkliche“ Fehler, wie bspw. die gegenläufigen institutionellen Anreizmechanismen, die Soll-Bestimmung bei den Investitionskosten oder die medizinisch-somatisch verengte Definition von Pflegebedürftigkeit, zum anderen aber auch Kritik an ihren grundsätzlichen Gestaltungsprinzipien. Nicht zuletzt zeigt ein Blick auf die aktuelle Reformdebatte zur Pflegeversicherung, dass all diese „handwerklichen“ Fehler aufgegriffen und entsprechende einzelne Nachbesserungen angemahnt werden (vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit), jedoch werden ganz im Sinne des Gesetzgebers die „getroffenen Grundentscheidungen zur Konzeption und inhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Absicherung des Pflegerisikos“ (vgl. Bundesregierung 2004) im Großen und Ganzen nicht in Frage gestellt. Hierzu gehört vor allem das Leitbild der „neuen Kultur des Helfens“, also des Vorrangs von Subsidiarität vor Solidarität. In diesem Sinne soll nun nachfolgend ein wohlfahrtstheoretischer Einordnungsversuch der sozialen Pflegeversicherung erfolgen, der gleichsam über die Kritik an einzelnen „handwerklichen“ Fehlern innerhalb des PflegeVG selbst hinausgeht.
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2 Eigenverantwortung und Gemeinsinn als Reformoption für eine andere Sozialstaatlichkeit 2.1 Die Stärkung informeller Selbsthilfe und eine „neue Kultur des Helfens“ als Leitbild eines neuen Gesellschaftsvertrages In den Ausführungen zur Stärkung der Pflegebereitschaft im Rahmen des PflegeVG wurde bereits darauf hingewiesen, dass es im Diskussionsprozess zur Einführung der Pflegeversicherung als Konsens galt, Angehörige und andere informell Pflegende zumindest soweit zu honorieren und/oder zu entlasten, damit häusliche Pflege eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher würde. In diesem Zusammenhang haben wir auch die entsprechenden „aktivierenden Unterstützungsmaßnahmen“ (vgl. Evers 1998:8ff) zur Stärkung des informellen Pflegepotentials dargestellt und bewertet (vgl. Kapitel 1.3.4). Dadurch wurde durch die Einführung der Pflegeversicherung ein „auf Eigenverantwortung basierendes vorgelagertes Sicherungssystem“ (vgl. Articus 2003:260) implementiert, welches man mit Kaufmann als „die sozialpolitische Entdeckung des informellen Sektors“ (vgl. Kaufmann 1997:9) bezeichnen kann. Doch als wüsste der Gesetzgeber ebenso gut um die „Grenzen ökonomischer Mittel“ und um die „Reichweite des Rechts“ (vgl. ebenda, S. 109), appelliert er darüber hinaus, gleichsam auf einer moralischen Ebene, an das Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“, die Dietz (vgl. 2002:135) als den „großtönende(n) Prolog der Pflegeversicherung“ bezeichnet. Lassen wir noch einmal Norbert Blüm zur Einführung der Pflegeversicherung zu Wort kommen: „Es geht bei der Pflegeversicherung nicht nur darum, ein bisschen Geld unter die Leute zu bringen, sondern um eine neue Antwort auf neue Fragen. Es geht um eine Sozialpolitik aus der Nähe. Wir brauchen eine Sozialpolitik aus der Nachbarschaft (…) Ich glaube, dass die großen Institutionen, so unverzichtbar und wichtig sie auch sind, Gefahr laufen, zu einer kalten Verteilungsmaschine zu werden, wenn wir nicht eine Infrastruktur nachbarschaftlicher Hilfen, Hilfen aus der Nähe, aufbauen. (…) Diese Pflegeversicherung soll einen Anschub für eine nachbarschaftliche Sozialpolitik, für eine neue Kultur des Helfens geben. Es bleibt die Familie, die dabei gestützt wird, die Familie als Schule der Solidarität“ (Rede Norbert Blüms, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, bei der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes; in: Das Parlament, 44/Nr. 12-13; S. 2, 1995).
So überzeugend die Blüm’sche Formulierung zunächst auch klingen mag, vermag sie aus kritischer Perspektive heraus betrachtet doch nicht darüber hinweg65
zutäuschen, dass die sozialpolitische Entdeckung der Haushaltsproduktion und Selbsthilfe – „Sozialpolitik aus der Nähe“ – nicht nur als eine späte Anerkennung und sozialpolitische Aufwertung der „Pflegeinstitution“ Familie, als „die verschwiegene Leistungsbasis“ im Pflegebereich (vgl. Zeman:2000:125ff), interpretiert werden kann, sondern ebenso gut auch als ein möglicher kostengünstiger Ersatz für eine an sich hoch organisierte Dienstleistung (vgl. Kaufmann 1997; Runde 1998; Döbler 1999; Meyer 1996). Vor dem Hintergrund der Substitution (teurer) professioneller Dienstleistung durch (billigere) informelle Selbsthilfe sehen wir also, dass die proklamatorische Aufwertung der Selbsthilfe und des informellen Sektors zur „neuen Kultur des Helfens“, die der SPIEGEL auch zehn Jahre nach Einführung der Pflegversicherung immer noch als „ehrenwerte Absicht“ bezeichnet, durchaus nicht unschuldig ist.28 Döbler wendet kritisch gegen die „neue Kultur des Helfens“ ein, dass diese ein besonders anschlussfähiger gedanklicher Ansatz sei, da sie durch die Forderung nach einer Wiederbelebung des Gemeinschaftssinns dazu neige, über sehr unterschiedliche soziale und politische Interessen hinweg die Alternative zu einer aufgeblähten Sozialbürokratie und zur staatlichen Regulierung in lokalen und selbstorganisierten von Bürgersinn getragenen Gemeinschaftsbildungen zu suchen. Doch ein Staat, der soziale Netzwerke fördere und Selbsthilfepotentiale maximiere, sei untrennbar verbunden mit jenem Staat, der Kostendämpfungen durchsetze, der Ausgabenvolumina begrenze und der Leistungen auf Mindestsicherungen reduziere (vgl. Döbler 1999:10). Und tatsächlich muss immer wieder daran erinnern werden, dass die Leistungen der Pflegeversicherung von Anfang nur als Mindestsicherung konzipiert wurden, und dass dieser Sozialversicherungszweig gerade deshalb „wie kein anderer Leistungsbereich des Sozialversicherungssystems auf die Eigenverantwortung der Versicherten und der pflegenden Personen setzt“ (vgl. Möhle 2001:189). Dadurch zielt die Pflegeversicherung, gerade im Kontext mit der im PflegeVG verankerten „neuen Kultur des Helfens“ (§ 8 SGB XI), sehr konkret in die gegenwärtige Debatte um die Konsolidierung des Sozialstaates ab, die sich vornehmlich als „Auseinandersetzung um das Ausmaß staatlicher Absicherung versus individuelle Eigenvorsorge und Verantwortung“ präsentiert (vgl. Ettwig 2000:44). Und in eben diesem Sinne nimmt die Pflegeversicherung eine grundlegende Aufgaben- und Verantwortungsteilung bei der „Absicherung“ des Pflegerisikos vor: Sie reduziert Sicherheit zum einen durch ihre Konzeption als Grundsicherung, die ganz offen keine Bedarfe mehr decken will, und zum anderen wird diese Sicherung noch einmal reduziert, indem Sicherheit nur auf der Grundlage 28
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vgl. Der SPIEGEL, Nr. 19/9.5.2005, S. 89
definierter Pflegestufen gewährt wird. Und sie setzt in erheblichem Maße auf das informelle Selbsthilfe- bzw. Pflegepotential, das als vorgelagertes Sicherungssystem gestärkt und in die Verantwortung genommen werden soll, und sie setzt darauf, über den Wettbewerb des Marktes die Qualität und Effizienz der pflegerischen Versorgung zu steigern, indem der Vorrang der freien Wohlfahrtsverbände aufkündigt wurde, um diese in Konkurrenz zu den privatgewerblichen Anbietern treten zu lassen. Hier wird also deutlich eine groß angelegte Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den verschiedenen wohlfahrtsproduzierenden Institutionen erkennbar. Eine „Dezentralisierung von Sozialpolitik“. (vgl. Möhle 2001:271ff). Gerade durch die Implementierung eines auf Eigenverantwortung basierenden vorgelagerten Sicherungssystems setzt die Pflegeversicherung institutionelle Verantwortung sowie Eigenverantwortung und subsidiäre Selbsthilfe, wie sie in der „neuen Kultur des Helfens“ zum Ausdruck kommt, in ein neues Verhältnis. Natürlich sind Versorgung, Solidarität, Eigenverantwortung und Partizipation schon immer und grundsätzlich Eckpfeiler des sozialen Sicherungssystems. Doch im sozialpolitischen Reformkontext um die „Grenzen des Sozialstaats“ gewinnt die „programmatische Aufwertung der subsidiären Selbsthilfe“ auch in der öffentlichen Debatte „eine ganz neue Qualität“ (vgl. Butterwegge 1999:45). Diese zeigt sich für Schöning (vgl. 1996:101) vor allem darin, dass „Gestaltungsprinzipien“ des Sozialstaats, zu denen er das „Solidaritäts-, das Subsidiaritäts- und das Individualprinzip“ zählt, im Diskurs um die Grenzen des Sozialstaates vermehrt zum eigentlichen Ziel von Reformen werden, während „Verfahrensprinzipien“ in den Hintergrund geraten. Die wachsende Bedeutung der Gestaltungsprinzipien, also Prinzipien letztlich der Zuordnung, wer diese Aufgaben übernehmen soll, kommt u. E. exemplarisch in der Rede Blüms zur Einführung der Pflegeversicherung zum Ausdruck, wenn dieser die „kalte Verteilungsmaschine“ der „großen Institutionen“ und eine „Sozialpolitik aus der Nähe“ in ein neues Verhältnis zugunsten der privaten subsidiären Selbsthilfe gesetzt sehen will. Mit anderen Worten: Die Pflegeversicherung ist ein Sozialversicherungszweig, dessen Innovation sich nicht nur darin zeigt, dass de facto bspw. mit der paritätischen Beitragsfinanzierung zwischen Arbeitsgebern und Arbeitnehmern gebrochen wird oder dass im Vergleich zu Gesetzlichen Krankenversicherung keine Bedarfe mehr gedeckt werden sollen. Die Pflegeversicherung ist darüber hinaus vor allem auch eine neue Zuordnungsregel gesellschaftlicher oder staatlicher Hilfen zur individuellen Selbsthilfe des Einzelnen und zur solidarischen Selbsthilfe in kleinen Gruppen. In diesem Sinne finden bestimmte gesellschafts- und wohlfahrtstheoretische Grundentwürfe in der sozialen Pflegeversicherung ihren Ausdruck, die im Kontext der Reformdebatte um den Sozialstaat für mehr Eigenverantwortung und Gemeinsinn bei der sozialen Sicherung plädieren. Flankiert von solcherlei „Modernisierungsoptio67
nen“, die im einzelnen noch herauszuarbeiten sein werden, bringt die soziale Pflegeversicherung so einen Funktionswandel von Sozialpolitik auf den Weg, der direkt auf eine normativ-ideologische Neuprogrammierung des informellen sozialen Hilfe- und Verantwortungssystems hinzielt. Doch „… indem sich staatliche Sozialpolitik nun nicht mehr nur der unmittelbaren Konsequenzen marktwirtschaftlicher Prozesse auf die Lebenslagen der Bevölkerung annimmt, sondern sich anschickt, auch solidarische Lebensformen einer wohlmeinenden Stützung und damit Beeinflussung zu unterwerfen, geschieht etwas Neuartiges oder zumindest Andersartiges als in der herkömmlichen Sozialpolitik. Denn hier sind es nicht nur die Grenzen ökonomischer Mittel und die Reichweite des Rechtes, welche die möglichen Wohlfahrtseffekte in Fragen stellen, sondern die Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs, über die wir bisher so gut wie nichts wissen“ (vgl. Kaufmann 1997:109). Kaufmann drückt hier sehr prägnant die Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Funktionswandels von Sozialpolitik aus, der kollektiv-sozialstaatliche Absicherung reduziert und die Eigenverantwortung und Vorsorge entsprechend aufwertet. Das heißt, indem die Pflegeversicherung durch „aktivierende Unterstützungsmaßnahmen“ in den sozialen Nahbereich interveniert, will sie einerseits die Bereitschaft zur subsidiären Selbsthilfe fördern, andererseits begibt sie sich dadurch aber auch in eine hochgradige Interdependenz zwischen staatlicher Sozialpolitik und den sozialen Formen der Wohlfahrtsproduktion. Sozialpolitische Reformen, die, zunächst aus welchen Gründen auch immer, auf eine grundlegende Erneuerung des Verhältnisses zwischen Individuen, Gemeinschaft und Staat abzielen, und die in diesem Zusammenhang voraussetzen, dass insbesondere individuelle Selbsthilfe, selbstaktive Felder und soziale Unterstützungsnetzwerke dabei einen entscheidenden Beitrag leisten (sollen), sollten immer auch bedenken – und dies wird häufig jedoch gerade nicht oder nicht ausreichend bedacht – ob die gesellschaftlichen Grundverhältnisse, auf denen „herkömmliche“ Sozialpolitik bislang aufbauen konnte, überhaupt noch vorausgesetzt werden können. Anders ausgedrückt, und dies ist unseres Erachtens nicht nur im Kontext der Pflegeversicherung sehr entscheidend: Wohlfahrtstheorien, die auf eine Entlastung oder gar auf die Substitution kollektivistisch-sozialstaatlicher Sicherung durch Konzeptionen von Selbsthilfe als zwischenmenschlicher Hilfe abzielen, und diese zu Prinzipien einer sozial- und gesellschaftspolitischen Erneuerung machen wollen, mögen „besonders anschlussfähig“ (vgl. Döbler 1999:10) sein29, verkennen aber, dass Neujustierungen in der Logik der sozialen Sicherung nicht nur eingebettet sind in je spezifische Diskurse über das (abstrakte) Verhältnis von sozialen Rechten und Pflichten bzw. moralischen Verpflichtungen gegenüber der 29
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Dies zeigt sich beispielsweise auch in den Diskussionen um die „Bürger- oder Zivilgesellschaft“ oder zum so genannten „Neuen Ehrenamt“.
Gemeinschaft und/oder der Gesellschaft als ganzer, sondern immer auch in dynamische und sehr reale gesellschaftliche Grundverhältnisse: Das heißt, ob und in welchem Maße in modernen Gesellschaften subsidiäre Selbsthilfe von den vorgelagerten informellen Sicherungssystemen erbracht wird oder erbracht werden kann, und diese These würden wir mit Nachdruck vertreten, ist vorrangig keine abstrakte normative Frage der moralischen oder ethischen Verpflichtung, sondern vielmehr ein ganz konkreter empirischer Sachverhalt, der durch eben jene „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs, über die wir bisher so gut wie nichts wissen“ (vgl. Kaufmann 1997:109), entschieden wird. Gerade neoliberale und neokonservative Ansätze, die, wie noch zu zeigen sein wird, in der „neuen Kultur des Helfens“ vorrangig ein Mittel zur Sozialstaatsentlastung aus Kostengründen sehen, geraten dabei bspw. in den Grundwiderspruch, dass einerseits der gesellschaftliche Modernisierungs- und Differenzierungsprozess – u. a. durch Forderungen nach immer größere Mobilität und Flexibilität des so genannten „Sozial- oder Humankapitals“ – im Interessen der internationalen ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit vorangetrieben werden soll, doch im Kontext der sozialpolitischen Aufwertung der subsidiären Selbsthilfe wird hier gleichzeitig und wie selbstverständlich auf eine letztendlich idealisierte konservative Restauration des „Sozialkapitals Familie“ rekurriert. Wie bereits dargelegt, bleiben u. E. Bewertungen und Analysen zur Konzeption der sozialen Pflegeversicherung unvollständig, solange sie sich hauptsächlich auf einzelne Planungs- und Konstruktionsfehler im Rahmen des PflegeVG selbst konzentrieren. Wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde, beinhaltet das PflegeVG zwar erhebliche „handwerkliche“ Mängel, die dazu beitragen, dass wesentliche Grundabsichten der Pflegeversicherung unterlaufen und verfehlt werden. Zur vollständigen theoretischen Einordnung der sozialen Pflegeversicherung muss darüber hinaus aber auch danach gefragt werden, welchen gesellschafts- und wohlfahrtstheoretischen Modernisierungs- und Reformoptionen jene Maßnahmen entnommen sind, die Selbsthilfe und Gemeinsinn zu Prinzipien einer sozial- und gesellschaftspolitischen Erneuerung machen wollen. Welche politischen Perspektiven sollen oder können darüber verfolgt werden und welche Defizite weisen diese Reformoptionen jeweils auf? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei sollen zunächst die inhaltlichen Positionen der Neuen Subsidiarität und des Kommunitarismus aufgezeigt werden, die wiederum von sozialpolitischen Modellen wie Wohlfahrtspluralismus und Aktivierender Staat aufgegriffen werden, und die so geradezu paradigmatisch auf eine ideologisch-normative Neuorientierung des Hilfe- und Verantwortungssystems sozialer Sicherung hinwirken. Kurz: Wir fragen nach dem sozialphilosophischen und wohlfahrtstheoretischen Überbau der sozialen Pflegeversicherung, um dann in einem weiteren Schritt auf der Grundlage empirischer Da69
ten danach zu fragen, inwieweit die gesellschaftlichen Grundverhältnisse, die jene wohlfahrtsstaatstheoretischen Philosophien und Theorien in den Blick nehmen, gerade hinsichtlich der höchst voraussetzungsvollen Pflege überhaupt in der sozialen Wirklichkeit von den Einzelnen (noch) vorausgesetzt werden können.
2.2 Die Pflegeversicherung und die „neue Kultur des Helfens“ im Kontext einer „Neuen Subsidiarität“ Die Erneuerung von Gemeingeist und Bürgersinn könnte zum Kernbestandteil eines „neuen Gesellschaftsvertrages“ werden, in dem Solidarität und Selbstverantwortung in ein neues Gleichgewicht zu bringen sind. Dem Staat wäre vorrangig die Sicherung der Grundversorgung und die Ermöglichung gesellschaftlicher Selbsthilfe zugewiesen. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip sollten die freiwilligen, kleinen und bürgernahen Einheiten den Vorrang vor zentralisierten Versorgungsstrukturen haben. (Erwin Teufel, 2003)
Kaum ein anderer Wert wie der der Subsidiarität (Subsidiarität: abgeleitet von lat. Subsiduum=Hilfe) ist für den deutschen Wohlfahrtsstaat gleichermaßen konstitutiv. Es ist jedoch weitgehend unüblich, Subsidiarität als Wert zu kennzeichnen, sondern vielmehr als Prinzip, da Subsidiarität zunächst als neutrale gesellschaftliche Zuordnungsregel begriffen wird, die inhaltlich nicht gefüllt ist. Hierdurch wird bereits angezeigt, dass das Subsidiaritätsprinzip sehr offen gefasst ist und daher ein weiter Interpretationsspielraum für die nähere Auslegung dieses Prinzips gegeben ist. Als Leitlinie oder Orientierungsnorm ist das Subsidiaritätsprinzip zunächst „ohne besondere analytische Präzision“ und besagt im Grundsatz, „dass eine gesellschaftliche oder staatliche Aufgabe soweit als möglich von der jeweils unteren (kleineren) Einheit wahrgenommen werden soll“ (vgl. Waschkuhn 1995:14). Im Sinne dieses klassischen Subsidiaritätsverständnisses bezieht sich der Subsidiaritätsbegriff also vornehmlich auf eine institutionellorganisatorische Ebene. Im Bereich sozialstaatlicher Ordnungspolitik insbesondere auf die Abgrenzung und Aufgabenzuständigkeit zwischen öffentlichen und freien Trägern, also auf das Gebot der Nachrangigkeit der öffentlichen zu den freigemeinnützigen Trägern der Wohlfahrtsverbände (vgl. Heinze 1985; Münder 70
1990). In diesem Sinne kann das Subsidiaritätsprinzip als Strukturprinzip verstanden werden, das sich auf den formalen Aufbau der Gesellschaft als mehrgliedriges Phänomen bezieht, wobei lediglich darüber Auskunft gegeben wird, dass Zuständigkeiten entsprechend der Leistungsfähigkeit verteilt werden sollen, nicht aber darüber, welche Kriterien über diese Leistungsfähigkeit entscheiden (vgl. Lampert 1997:52; Möhle 2001:160). Bis in die 1970er Jahre hinein wurde das Subsidiaritätsprinzip auf dieses starre und formale Vorrang-NachrangVerhältnis verkürzt und weder in zentralen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen noch in sozialwissenschaftlichen Analysen zur Sozialpolitik konzeptionell verwandt (vgl. Heinze 1985:13ff). Dies änderte sich jedoch spätestens 1982, als die christlich-liberale Koalition an die Regierung gelangte und der neue Bundeskanzler Helmut Kohl bereits in seiner Regierungserklärung dem Begriff der Subsidiarität neue Bedeutung gab. Im Sinne der neuen Regierungskoalition sollte der Subsidiaritätsbegriff nun als politisches Strukturprinzip verstanden werden, das unter größerer Beachtung von Selbsthilfe und Eigenverantwortung eine stärkere Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger füreinander einleiten sollte. Mit der „geistig-moralischen Wende“ wurde also gleichsam eine Wendepolitik im Sozialsektor proklamiert, die unter der Programmformel „Neue Subsidiarität“ heftige Auseinandersetzungen und Debatten zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen und Parteien hervorrief (vgl. Olk 1985; Heinze 1985; Ettwig 2000). Das Subsidiaritätsprinzip wurde nun als „Tätigkeitsprinzip“ verstanden und hierüber gleichsam individualethisch aufgerüstet, indem nun auch die Kriterien benannt werden sollten, nach denen ein Hilfsangebot gemacht werden sollte (vgl. Möhle 2001:162). Der veränderte Bedeutungsgehalt des Subsidiaritätsbegriffs wurde insbesondere durch zwei Entwicklungen flankiert: Zum einen durch die Sozialstaatskrise, d. h. angesichts abnehmender Wachstumsraten, einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und empfindlicher Finanzierungsprobleme öffentlicher Sozialleistungen, wurde zunehmend deutlicher, dass eine kurzfristige Politik des Krisenmanagements, etwa durch Umschichtung der Finanzmassen zwischen den verschiedenen Institutionen sozialer Sicherung, den veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr gerecht werden konnte. Und zum anderen wuchs aber auch die Kritik an den entfremdenden Wirkungen der verrechtlichten, bürokratisierten und professionalisierten sozialpolitischen Institutionen. Vor dem Hintergrund, dass die sozialpolitischen Institutionen selbst einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wurden, wäre es also verkürzt, die Krise des Sozialstaates ausschließlich als eine wie immer dramatisierte Krise der Kosten zu interpretieren. Die Kritik an den dysfunktionalen Folgen wohlfahrtsstaatlicher Expansion wurde – bei jeweils unterschiedlichen Grundannahmen und politischen Absich-
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ten – vom gesamten politischen Spektrum, „links“ wie „rechts“, vollzogen.30 Der konservative Blick auf den mit neuen Inhalten gefüllten Subsidiaritätsbegriff unterstreicht dabei vorrangig, dass sozialpolitische Programme Ansprüche der Leistungsempfänger an den Staat erzeugen, und dadurch traditionelle Sicherungssysteme, wie Familie, verwandtschaftliche oder nachbarschaftliche Unterstützungsnetzwerke, geschwächt würden (vgl. Glazer 1975; Schelsky 1978; Dettling 1990). Wichtige Argumente zur Präzisierung dieses individualisierten konservativen Verständnisses von Neuer Subsidiarität lieferte Spieker, der mit sozialphilosophischen Argumenten für eben jene „neue Kultur des Helfens“ plädierte, die ihre Grundlage vor allem auch in einem „Ethos des Staatsbürgers“ finden soll (vgl. Spieker 1986:343, zit. nach Möhle 2001:273). Spieker versucht mit seinem Konzept Subsidiarität nicht nur als Strukturprinzip des Sozialstaats, sondern sehr viel weitreichender sowohl als normative Legitimationsgrundlage zu fassen und darüber hinaus hieraus eine Individualethik des Sozialstaatsbürgers zu leisten: „Die Therapie der aktuellen Probleme des Sozialstaates hat nicht nur beim sozialstaatlichen Leistungssystem, sondern auch beim Ethos des Sozialstaatsbürgers anzusetzen. Sie erfordert vom Gesetzgeber, das sozialstaatliche Leistungssystem klug zu gestalten, d. h. die Frage seiner Expansion oder Reduktion nach jenen Kriterien zu entscheiden, die die Subsidiarität des Sozialstaates gewährleisten. Zugleich erfordert sie vom Sozialstaatsbürger, seine Einstellungen und Verhaltensweisen nach jenem Ethos zu bestimmen, das sowohl für das Gelingen des individuellen Lebens als auch für die Stabilität und die Subsidiarität des Sozialstaats Bedingung ist“ (vgl. Spieker 19986:343).
In der Interpretation von Spieker wird das Subsidiaritätsprinzip, wie wir sehen, also zu einem zweiseitigen Konzept, das nicht nur in der Verantwortungsteilung, je nach Leistungsfähigkeit, einen wesentlichen Schwerpunkt setzt, sondern gleichzeitig untrennbar eine personale und damit moralische Komponente aufweist (vgl. Möhle 2001:276). Selbsthilfe wird hier verstanden als zwischenmenschliche Hilfe, wobei der Sozialstaat nicht nur bedingt, sondern in jedem Falle nachrangig ist. In diesem Zusammenhang versteht eine konservativ orientierte Sozialpolitik das Subsidiaritätsprinzip vor allem als eine Strategie der Stärkung traditioneller Gemeinschaften – allen voran der Familie. Primär soll über die Einbindung der Bürger in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde die Neigung zur Anmeldung von Ansprüchen an den Sozialstaat reduziert „und die traditionellen Werte der Selbstgenügsamkeit, Bescheidenheit und Unterordnung unter Autoritäten konserviert“ werden (vgl. Olk 1985:284). Die konservative Interpre30
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Zur damaligen Diskussion vgl. Alber (1980), Gross (1979), Voruba (1984)
tation der Neuen Subsidiarität fordert in diese Sinne vor allem ideelle, aber zum Teil auch finanzielle Unterstützung, die sich allerdings nur auf die Anliegen dieser traditionellen Erscheinungsformen von Gemeinschaft beziehen soll (vgl. Dettling 1990). Räumt das konservative Subsidiaritätsverständnis also zumindest noch teilweise eine finanzielle Unterstützung der subsidiären Selbsthilfepotentiale, und damit ein Eingreifen des Staates ein, wird dies in einem „paläoliberalen Verständnis von Subsidiarität“ (vgl. Dettling 1990) abgelehnt. Hier wird dem Staat ausschließlich die Aufgabe zugeschrieben, Grundprinzipien bürgerlichen Zusammenlebens zu sichern, wie bspw. Schutz des Eigentums oder von öffentlicher Ordnung. Darüber hinaus soll sich der Staat aber jeglicher Einmischung in die gesellschaftliche Sphäre von Privatpersonen enthalten (vgl. Lampert 1997:50ff). Vor diesem Hintergrund wird die Neue Subsidiarität zu einer dezidierten Staatsentlastungstheorie, die sich am neoliberalen Fluchtpunkt des „Minimalstaats“ ausrichtet, da sie schon immer das sichere Wissen mit sich herumträgt, dass weite Bereiche staatlicher Aufgabenwahrnehmung illegitim seien und dass es ein zu viel an Staat bzw. ein zu viel an Bürokratie gebe und dass „Ineffizienz und Staat eigentlich Synonyme“ seien (vgl. Sandfort 2002:102). Konsequenterweise wird deshalb über die Berufung auf eine Neue Subsidiarität eine Politik der Einschränkung sozialstaatlicher Interventionstätigkeit und eine Stärkung der freien Kräfte des Marktes favorisiert. Dass die Grenzen zwischen einer konservativen und einer neoliberalen Interpretation des Prinzips des Neuen Subsidiarität allerdings fließend sind, lässt sich anhand des gewandelten Subsidiaritätsverständnisses Wolfgang Schäubles (CDU) demonstrieren (vgl. Ettwig 2000:44ff): In drei Beiträgen im Zeitraum vom 1991 bis 1996 erklärt Schäuble31 die Konsolidierung des Sozialstaats sowie die des Staatshaushalts allgemein zu den vorrangig zu lösenden Aufgaben der Politik und hinterfragt in diesem Zusammenhang die bisherige Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft, um die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den übrigen europäischen Mitgliedsstaates zu erhalten. In allen drei Beiträgen finden sich Ausführungen zur „Gemeinverträglichkeit der Ordnung“ sowie zur „Rekrutierung sozialen Kapitals“. In seinem Beitrag von 1991 erklärte Schäuble „Eigenverantwortung“, „Delegation“ und „Subsidiarität als Vorrang der kleineren, problemnäheren Regelungskreise“ zu „neuen sozialstaatlichen Maximen“. Dabei sah er die institutionelle Versor31
Wolfgang Schäuble: Europa darf kein kaltes Projekt sein, in: Frankfurter Allgemeine Magazin v. 25.4.1997, S. 38-41; ders. Bürgertugenden und Gemeinsinn in der liberalen Gesellschaft, in: Teufel, E. (Hrsg.): Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Frankfurt/M. 1996, S. 6377; ders. Gibt es einen Ausweg aus der Wohlstandsfalle? Deutschland muss die wohlfahrtsstaatliche Lähmung überwinden, in: FAZ v. 26.11.1996, S. 11, vgl. auch Ettwig 2000
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gung für die großen Lebensrisiken, so Ettwig (2000:44fff), aber immer noch als Voraussetzung für die Gewährung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität an. Fünf Jahr später hielt Schäuble die sozialstaatlichen Beiträge „nach aller Erfahrung eher geeignet, moralische Anreize zu zerstören, als sie irgendwo sinnvoll zu ergänzen“: „Materielle Anreize sind nach aller Erfahrung eher geeignet, moralische Anreize zu zerstören, als sie irgendwo sinnvoll zu ergänzen. In Koexistenz mit monetärer Entlohnung wird ehrenamtliche Tätigkeit zur Naivität ‚entwertet’ (…) Das Prinzip der Subsidiarität darf auch in der Sozialpolitik nicht außer acht gelassen werden, die grundsätzliche Nachrangigkeit sozialstaatlicher Bürokratie gegenüber privater Selbsthilfe, freiwilligen Zusammenschlüssen und Selbsthilfe-Netzwerken der Bürger. Das Problem scheint mir heute weniger zu sein, dass die Menschen mit vermehrten Anforderungen an Gemeinsinn und die Bereitschaft zu persönlichem Einsatz überfordert wären, sondern im Gegenteil, dass ein Zuviel an staatlicher Entlastung und Fürsorge das Potential solidarischer Kräfte mehr als notwendig zuschüttet. Insofern kann ein Übermaß an kollektiver Sicherung demotivierend wirken, weil sie von Eigenverantwortung und freiwilliger Solidarität zu sehr entlastet. Die Höhe von Staats-, Steuer- und Abgabenquote hat also durchaus einen Bezug zu unserem Thema“ (vgl. Schäuble 1996:72,73).
Lässt die erste Variante noch Raum für Umbau und Umbewertung sozialstaatlicher Beiträge, setzt die zweite eher auf Abbau und Abwertung derselben (vgl. auch Evers/Olk 1996:48). Im Kontext der Verwendung der Begriffe „Delegation“ beziehungsweise „Dezentralisation“ (vgl. Schäuble 1996:68) erhält das Subsidiaritätsprinzip eine neoliberale Prägung. Und in dem Maße, wie Schäuble in seinem FAZ-Beitrag von 1996 den Vorrang von Subsidiarität vor Solidarität propagiert, wird das Paradigma der Kooperation gegen das der Konkurrenz ausgespielt. Die Wettbewerbsdynamik soll über den Markt hinaus auch die gesellschaftlichen Bereiche erfassen und eigennütziges Handeln entfesseln. Dieses stark von Markt- und Wettbewerbsmechanismen geprägte Demokratieverständnis zielt auf effizientere staatliche Strukturen durch Reduzierung von Staatstätigkeit auf der einen und Erhöhung von Eigeninitiative und Eigenverantwortung auf der anderen Seite (vgl. Ettwig 2000). Unter Berufung auf den amerikanischen Kommunitaristen Robert Putnam nimmt Schäuble den Begriff des „sozialen Kapitals“ auf, um über den Weg der Stärkung sozialer Bindungen das gesellschaftliche Selbsthilfepotential zu erhöhen, „damit eine Gesellschaft, damit Wirtschaft, Politik und andere Lebensbereich überhaupt erst funktionieren können“ (vgl. Schäuble 1996:70). Des Weiteren sagt uns Schäuble auch, wo das „soziale Kapital“ seine moralischen Wurzeln hat: „Die Vermittlung von Gemeinsinn, von sozialen Verhaltensstandards, von Wertüberzeugungen vollzieht sich in erster Linie in der Familie, und in dieser 74
Vermittlungsleistung müssen die Familien gestärkt werden“ (vgl. ebenda, S. 70). Gemeinsinn ist dabei „das Wissen und das Angewiesensein auf Zusammenleben mit anderen“, aus dem letztlich die Bereitschaft folgen müsse, sich für die anderen, für die Gemeinschaft, einzusetzen. Der Gemeinsinn dient somit dem Zweck, „die Berechenbarkeit und die Verlässlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen“ sicherzustellen (vgl. ebenda, S. 67). Unter dem Vorzeichen einer Neuen Subsidiarität wird der Bürger hier also zu einer Art sozialem Dienstleister. Der einzelne soll als Quelle gesellschaftlicher Solidarität erschlossen werden, um ihn für staatliche Interessen nutzbar zu machen. Die Verantwortung für die individuelle Lebensgestaltung soll „im Prinzip beim Individuum verbleiben“, und auch „im Sozialstaat nicht an den Staat übergehen“ (vgl. Spieker 1986:314ff). Der Sozialstaat wird im neokonservativen und neoliberalen Verständnis als Gegenpol zum Sozialstaatsbürger gedacht und entsprechend soll der Sozialstaat in den privaten Bereich nicht eingreifen. Selbst den intermediären Organisationen soll hier kein Raum mehr gegeben werden – als Ort der Eigenverantwortung wird „ausschließlich die Familie“ gesehen (vgl. Möhle 2001:276). Eine etwas andere Gewichtung bei der Interpretation einer Neuen Subsidiarität nehmen dem Prinzip nach sozialdemokratische und grün-alternative Ansätze vor, die im Gegensatz zur neokonservativen und neoliberalen Polarisierung von Staat und Individuum zu einer Dezentralisierung von Sozialpolitik auffordern, bei der ein alternatives sozialstaatliches Interventionsmuster für eine „größere Kontextbezogenheit und situative Entscheidungsfindung“ bevorzugt wird (vgl. Möhle 2001:277). In diesem Zusammenhang wird insbesondere das emanzipatorische Potential einer Neuen Subsidiarität herausgestellt, um es mit der Forderung nach größeren Freiräumen für Selbstorganisationen und selbstbestimmten Lebensstilen sowie der wechselseitigen Solidarität und Unterstützung zu versehen (vgl. Butterwegge 1999:39ff). Die Kritik an sozialstaatlicher Intervention richtet sich hier insbesondere gegen die Befürchtung, dass durch ein Zuviel an sozialstaatlich-rechtlich-bürokratischen Mitteln in die lebensweltlichen Freiräume der Individuen eingedrungen wird und mithin eine verrechtlichte Fremdbestimmung der Sozialstaatsklienten gefördert würde.32 „Was in kleinen Einheiten, häufig in Selbstorganisation der Betroffenen, in nachbarschaftlicher Hilfe oder von einzelnen selbst geleistet werden kann, das sollten staatliche Behörden und Wohlfahrtsverbände nicht an sich reißen, sondern es vielmehr unterstützen. Gegen Tendenzen der Entmündigung im Zeichen zunehmender Professionalisierung und Verrechtlichung zwischenmenschlicher Lebensbezüge kommt es darauf an, durch Dezentralisierung und Selbstverantwortung mehr Selbstverantwortung 32
vgl. auch: Habermas, J. (1981), ders. (1985), Sachße, Ch. (1986)
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zu stimulieren und zur Entfaltung zu bringen“ (vgl. Eppler 1984:155ff). Zwar hat auch dies eine partielle Entmachtung des Staats zur Folge, insofern substaatlichen Instanzen Problemlösungskompetenzen zugewiesen werden, die bislang allein im sozialstaatlichen Handlungsfeld lagen. Allerdings darf dies im sozialdemokratischen oder auch grün-alternativen Verständnis nicht zu einem Minimalstaat führen, der die Bürger und Bürgerinnen sich selbst überlässt oder zu einem autoritativen Staat, der neben der privaten familiären Selbsthilfe keinen Raum mehr für andere Formen der sozialpolitischen Öffentlichkeit zulässt (vgl. Waschkuhn 1995:98ff). Es bedarf also staatlicher Eingriffe, Strukturgestaltungen und Hilfen, um „die soziale Produktivität der kleineren Einheiten freizusetzen und zu erhalten. Wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe ist unter unseren Bedingungen nur möglich, wenn man (…) staatliche Maßnahmen und selbstorganisierte Aktivitäten der Bürger als sich ergänzende Formen sozialen Handelns begreift“ (vgl. Strasser 1980:230, zit. nach Möhle 2001:275). Ettwig (2000:52ff) macht allerdings darauf aufmerksam, dass mit der Regierung Gerhard Schröders auch das sozialdemokratische Verständnis von Subsidiarität mit neuen Sinngehalten versehen wurde. Anhand der „Eckpunkte einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik“33 weist Ettwig nach, dass Schröder nur noch vordergründig an sozialdemokratische Werte wie Konsens, Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit anknüpfe, der Tenor seiner Thesen allerdings Schäubles Modell von der Wettbewerbsdemokratie schon sehr nahe komme. Schröder lege der Tendenz nach ein auf die negative Seite des Subsidiaritätsprinzips begrenztes Verständnis zugrunde, das Freiheit auf individuelle Wahlfreiheit beschränke, ohne Möglichkeiten kooperativer Freiheit aufzuzeichnen. „Eigeninitiative“ und „Selbstverantwortung“ sowie das „Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaften“ würden im Interesse einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit mittels staatlicher Autorität vorgegeben und machten so einen „Rückzug des Staats aus vielen Bereichen“ möglich. Obgleich sich, wie wir herausgearbeitet haben, hinter der Renaissance des Subsidiaritätsbegriffs – im Kontext äußerer sozialstaatlicher Grenzen (vorwiegend fiskalischer) sowie innerer Grenzen (vorwiegend Grenzen der Steuerungsmedien Recht und Geld) – konträre ideologische Auslegungsmöglichkeiten verbergen, lässt sich in den Forderungen nach Entstaatlichung, Entbürokratisierung, Entprofessionalisierung und Dezentralisierung doch ein gemeinsamer Nenner finden. Dabei sollen die ins Visier genommenen Entinstitutionalisierungsprozesse durch eine Stärkung, insbesondere der informellen Selbsthilfepotentiale und der Eigenverantwortung, zu einem Prinzip der sozial- und gesellschaftspoliti33
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Schröder, G.: Mit Mut und neuer Kraft für Innovation und Wachstum in Deutschland – Eckpunkte einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik (www.zeit.de/ archiv/1997/39/ schroed.txt.19970919.xml)
schen Erneuerung gemacht werden. Gänzlich uneinheitlich sind demgegenüber jedoch die Ansichten darüber, in welchem Ausmaß, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck der institutionelle Rückzug erfolgen soll. Mit anderen Worten: Soll das Prinzip der Neuen Subsidiarität ein ergänzendes, also komplementäres oder auch korrigierendes Prinzip sein, oder ein Gegen-Prinzip zur sozialstaatlichen Versorgung? Nach Waschkuhn (1995:48) hängt Subsidiarität in der Sozialpolitik vor allem davon ab, auf welche Grundlagen eines „Sozialvertrauens“ sie sich bezieht: (1) Übertragung sozialer Lasten auf „primäre Netze wie Familien und Nachbarschaften“, (2) auf freie Träger wie „Wohlfahrtsverbände und Selbsthilfegruppen“, oder (3) auf die „Kommunikation und Interaktion zwischen politisch-administrativen Systemen und sozialaktiven Feldern“. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs selbst hat sich weitgehend ein Verständnis von neuer Subsidiaritätspolitik durchgesetzt, welches dafür plädiert, alle diese aufgeführten Grundlagen eines „Sozialvertrauens“ einzubeziehen, um so eine Neuordnung der Beziehungen und eine komplementäre Vernetzung zwischen den unterschiedlichen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion durch mediatisierende Verfahren und intermediäre Instanzen zu erreichen. Nach Lamping et al. sollte „neue“ Subsidiaritätspolitik darauf abzielen, mittels des Einbezugs der intermediären Stellung der Wohlfahrtsverbände die Funktionsweise und Überlebensbedingungen primärer Netzwerke (Familie), selbstorganisierter Gruppen und freiwilliger Initiativen durch Einräumung geeigneter Rahmenbedingungen zu verbessern (vgl. Lampig et al. 2002:23). Gleichwohl wird jedoch bereits seit Mitte der 1980er Jahre eine faktisch vorherrschende Tendenz konstatiert, durch bloße Subsidiariätsrhetorik soziale Risiken zu reprivatisieren (vgl. Heinze 1985; Waschkuhn 1995). Gerade in diesem Zusammenhang wird das Hauptproblem „neuer“ Subsidiaritätspolitik deutlich, nämlich die weitgehend offene Frage, wie solidarisch-kooperative Verhaltensweisen und normative Selbstverpflichtungen im Rahmen der Aktivierung subsidiärer Selbsthilfepotentiale überhaupt aufzubauen seien. Und dies zeigt sich nicht nur darin, wie diese am Gemeinsinn (oder an der Sozialstaatsentlastung) orientierten Verhaltensweisen und Selbstverpflichtungen in einem ganz praktischen Sinn umzusetzen wären, sondern hier stellt sich auch die Frage, ob es hierfür nicht sogar grundlegend eine moralische Pflicht gebe. Eine moralische Pflicht zum Gemeinsinn und zur Eigenverantwortung, gedacht auch als Gegenprinzip zu den voranschreitenden und atomisierenden Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen moderner Gesellschaften. An dieser Stelle kann nun direkt zu den Beiträgen der kommunitaristischen Gesellschafstheorie übergeleitet werden.
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2.3 Kommunitarismus und Bürgergesellschaft: Soziales Kapital und Selbsthilfeverantwortung – zwischen demokratischer Erneuerung und moralischer Pflicht Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Strukturkrise und dem voranschreiten globalisierter Kapitalkonzentration- und zentralisation seit Mitte der 1970er Jahre wurde unter dem Begriff des Kommunitarismus eine ebenso sozialphilosophische wie politik-wissenschaftliche Diskussion darüber entfacht, ob angesichts auseinander driftender moderner Industriegesellschaften nicht über einen neuen Gesellschaftsvertrag nachgedacht werden müsste, der auf die Bedingungen der postmodernen Gesellschaft zielt, um angesichts von Individualisierung und Atomisierung neue Verbindlichkeiten und Ziele für einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu formulieren. Denn, so könnte man im Zusammenhang mit Richard Sennetts Analyse eines modernen flexiblen Kapitalismus argumentieren, „ein Regime, das Menschen keinen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten“ (vgl. Sennett 1998:203). Diese Gefahr vor Augen, stehen kommunitaristische Gesellschaftsentwürfe für einen ganzen Komplex von Ideen, deren einigendes Band die Vorstellung eines tugend-, wert- und pflichtbasierten neuen Gemeinschaftsgedankens ist. Allgemein formuliert, geht es dem Kommunitarismus um die „Rekonstruktion der Gemeinschaft, der community, um die Wiederherstellung von Bürgertugenden, um ein neues Verantwortungsbewusstsein der Menschen, um die Stärkung der moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft“ (vgl. Etzioni 1995:IX). Der Kommunitarismus versteht sich in diesem Sinne als Initiator eines stetigen sozialen Aushandlungsprozesses mit dem Ziel, soziale Ordnung und individuelle Autonomie in eine für die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder akzeptable Balance zu bringen. Oder, um es pointierter auf eine beliebte kommunitaristische Formel zu bringen: Wo Ich ist, soll Wir werden. Damit versucht der Kommunitarismus gewissermaßen die moralischen Ressourcen zu stärken, die die liberale Gesellschaft selbst nicht reproduzieren kann. Die kommunitaristische Sozial- und Moralphilosophie denkt Individualismus und individuelles Handeln deshalb nur und untrennbar in Kategorien von Gemeinschaftlichkeit und privaten Verantwortungsgemeinschaften. Obgleich Probleme und Fragen zur Sozialpolitik von den Kommunitariern selbst zumeist nur am Rande behandelt werden, zeichnet sich der Kommunitarismus doch gerade in diesem Feld durch eine hohe Anschlussfähigkeit über das gesamte politische Spektrum hinweg aus. Dies kann zum einen auf das „sympathisch, positiv besetzte Vokabular“ (vgl. Lamping 2002:18) des Kommunitarismus zurückgeführt werden und zum anderen sicherlich auch darauf, dass die Kommunitarier selbst eine höchst heterogene Gruppe darzustellen, zu der man 78
„Linksliberale, Sozialdemokraten skandinavischen Typus und auch einige Konservative“ rechnen kann (vgl. Reese-Schäfer 1996:3). Werden kommunitaristische Ideen im sozialpolitischen Kontext aufgenommen, so zielen diese zumeist auf Fragen nach dem „richtigen“ Umfang und der Ausgestaltung des Sozialstaats. Doch wie auch in der Debatte um die Neue Subsidiarität sind auch die kommunitaristischen Positionen hier weitgehend uneinheitlich. Die Frage, auf welches Minimum der (Sozial-) Staat zu reduzieren sei, wird von den verschiedenen Vertretern des Kommunitarismus unterschiedlich beantwortet. Grundsätzlich beruht die „kommunitaristische Emphase aber nicht auf den Ansichten und Absichten des methodologischen Individualismus der neoklassischen ökonomischen Theorie“ und seiner Vorstellung von der „Selbstgenügsamkeit des einzelnen Menschen“ (vgl. Taylor 1995:76). Die kommunitaristische Forderung nach einem Minimalstaat meint also gerade nicht die unbedingte Entstaatlichung aller Bereiche, auch nicht die unkonditionierte Privatisierung der Daseinsvorsorge. Kommunitaristen denken im Kontext sozialstaatlicher Gestaltungsprinzipien zuerst an die Wiederbelebung der Traditionen von Selbsthilfe und an die Bereitschaft der Bürger lieber auf die Familie, die Nachbarschaft und die Gemeinde und ihre Problemlösungskapazitäten zu vertrauen, als sich auf zentralisierte staatliche Verwaltungs- und Wohlfahrtsbehörden zu verlassen (vgl. Vorländer: 2001:8). Gerade im Rekurs auf diese privaten Gemeinschaften stellt der Kommunitarismus also eine Reflektion auf das Prinzip der Neuen Subsidiarität dar, also auf den Versuch, das Subsidiaritätsprinzip im Sinne einer tätigen Verantwortung als „Tätigkeitsprinzip“ neu zu definieren. Exemplarisch kommt dies bei Etzioni zum Ausdruck, wenn er in seinem kommunitaristischen Ansatz ein Stufenmodell der Verantwortung entwickelt, das in subsidiärer Abfolge die Zuständigkeiten für die Lebensführung der Individuen bestimmt. Er konzipiert als erste Stufe der Verantwortung die Eigenverantwortung der Person, während die zweite Stufe auf der Ebene der Familie angesiedelt ist. Die dritte Stufe bildet die Gemeinschaft, Nachbarschaft und Gemeinde, während erst die vierte Stufe die Gesellschaft insgesamt betrifft (vgl. Etzioni 1997:236ff). Dabei ist es für Etzioni unbestritten, dass die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abgebaut werden müssen – auch, aber nicht zuerst, weil finanzielle Überlastungen hierzu zwingen, sondern vor allem zur Stärkung einer neuen Verantwortung, die letztlich zu einer „Verantwortungsgesellschaft“ führen soll. Die Förderung einer öffentlichen Moral, die auf die Werte Gemeinsinn und Verantwortung aufbaut, ist deshalb das wesentliche Kriterium seines Ansatzes. Hierzu hat aber auch der Staat selber seinen Anteil zu leisten: „Schließlich kann der Staat auch dabei helfen, den besonders wichtigen moralischen Dialog in Gang zu setzen und zu fördern: Es muss diskutiert werden, in welche
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Richtung die Gesellschaft gehen soll. Ein Dialog, der bereits begonnen hat und der durch Anhörungen, Reden öffentlicher Persönlichkeiten usw. unterstützt werden muss“ (vgl. Etzioni 1997:242).34
Es ist wenig erstaunlich, dass sich die kommunitaristische Idee ursprünglich dort entwickelt hat, und auch am weitesten entwickelt wurde, wo liberale Traditionen zu einer sehr eingeschränkten Staatstätigkeit und einem hohen Maß an privatisierter sozialer Leistungserbringung geführt haben – bspw. in den USA. Dort stößt die kommunitäre Forderung nach neuen moral- und tugendhaften Formen des gemeinschaftlichen Für- und Miteinanders gewissermaßen in ein „(wohlfahrts-)staatliches Vakuum“ (vgl. Lamping et al. 2002:18). Im Kontext der deutschen Sozialstaatstradition trifft die Kommunitarismus-Debatte jedoch auf ein mit den USA nicht vergleichbares kulturelles und gesellschaftliches Umfeld. Deshalb wird die kommunitaristische Frage in Deutschland in einem grundlegend anderen wohlfahrtskulturellen Kontext als in den USA diskutiert. Im deutschen kommunitaristischen Diskurs geht es, anders als bspw. im neokonservativen Verständnis der Neuen Subsidiarität, deshalb nicht vorrangig um die Rückbesinnung auf traditionelle Gemeinschaften, d. h. auf primäre soziale Netzwerke wie die Familie. Die Bundesrepublik Deutschland gilt, verglichen mit vielen anderen Ländern, zwar nach wie vor (noch) als eine staatszentrierte Wohlfahrtskultur mit einem umfassenden sozialen Sicherungssystem, doch es existiert auch ein breites Spektrum moderner Vergemeinschaftungsformen, von Verbänden und Vereinen über selbst organisierte Initiativen bis hin zu Selbsthilfegruppen. Vor diesem Hintergrund wird in der deutschen kommunitaristischen Diskussion in einem ordnungspolitischen Sinn zugunsten einer sozial- und förderpolitischen Aufwertung und Aktivierung moderner Vergemeinschaftungsformen argumentiert. Letztlich geht es dabei um eine normativ anspruchsvolle Liberalisierung und Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (vgl. Dathe et al. 2003:6). Und in diesem Sinn soll die politische Macht etablierter Institutionen zugunsten individueller Entscheidungsspielräume und politischer Gestaltungsspielräume für selbstorganisierte Gruppen eingeschränkt werden (vgl. Backhaus-Mail/ Brandhorst 1999:5ff). In gleichsam emanzipatorischer Absicht werden hier ein anderes Rollenverständnis vom Staat und ein anderes Konzept für die Gestaltung des Wohlfahrtsstaats eingefordert. Damit rückt der Kommunitarismus in eine Position programmatischer Selbstverortung ein, welche die vermeintlichen Auswüchse eines utilitaristischen Liberalismus und eines etaistischen Sozialismus kritisiert. 34
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Man kann wohl sagen, dass Blüm diesen Anteil gerade in seiner Rede zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung, in der er an die „neue Kultur des Helfens“ appelliert und sich gegen die „kalten Verteilungsmaschinen“ der „großen Institutionen“ wendet, geradezu „vorbildlich“ leistet.
Mit der kommunitaristischen Idee in emanzipatorischer Absicht verbindet sich in diesem Zusammenhang in erster Linie eine „neue Kultur der Einmischung“, eine „offenere Politik“ (vgl. Guggenberger et al. 1997: 652ff). In diesem Kontext knüpft hier auch das Konzept einer Bürger- oder Zivilgesellschaft an, die als ein Interaktionsbereich zwischen Markt und Staat begriffen wird und aus einem Netzwerk von freiwilligen Assoziationen gebildet werden soll, um gemeinwohlorientierte Bürgertugenden zu entwickeln und zu stabilisieren. Im Zuge der Rezeption kommunitaristischen Gedankenguts hat sich in der Bundesrepublik in den 1990er Jahren vielfach die Vorstellung eines „Modernisierungs- und Aktivierungsansatzes von oben“ durchgesetzt, um neue Akzente in der Gewichtung und Funktionsverteilung zwischen Staat, Markt und Vergemeinschaftungsformen zu setzen (vgl. Lamping 2002:18). Dabei soll vor allem auch auf mehr Selbsthilfe und bürgerschaftliche Eigenverantwortung gesetzt werden. Allerdings, und auch hier sehen wir eine weitere Parallele zur Debatte um die Neue Subsidiarität, sind die Beweggründe für den „emphatischen Bezug auf Selbsthilfe und bürgerschaftliches Sozialengagement“ (vgl. Backhaus-Mail/Brandhorst 1999:2) äußerst unterschiedlich. Denn es besteht durchaus die Gefahr, dass der Kommunitarismus seinen emanzipatorischen Impuls verliert und er stattdessen die Rolle einer Legitimationsformel einer rein fiskalischen Konsolidierungsstrategie für die in die Krise geratenen öffentlichen Haushalte annimmt. Lamping et al. machen vor diesem Hintergrund darauf aufmerksam, dass der kommunitaristisch begründete Aktivierungsbegriff in Deutschland stark in Richtung Staatsentlastung und einer damit einhergehenden schleichenden Privatisierung interpretiert werden müsse. Damit verquickt sei eine dezidierte Debatte über Pflichten in und an der Gesellschaft, die versuche, das moralische Denken in Wechselseitigkeiten der Gemeinschaft auf die Gesellschaft zu übertragen (vgl. Lamping et al. 2002:19). Dabei ist auch zu beachten, dass Solidarität und Verantwortung aufgrund des unübersehbaren moralischen Appells des politischen Kommunitarismus nicht lediglich als wünschenswerte Begleiterscheinungen bürgerschaftlichen Engagements betrachtet werden, sondern als quasi „verordnete Werte“ erscheinen (vgl. Möhle 2001:291). Gerade in diesem Sinne muss kritisch gegen den Kommunitarismus eingewendet werden, dass er – gerade im Zusammenhang mit seinen eigenen Prämissen – unter dem theoretischen Zwang steht, einen normativen Begriff von Gemeinschaft zu entwickeln, der, eben aufgrund dieser Prämissen, geradezu notwendigerweise äußerst wert-konservative Züge tragen muss. Man kann sich deshalb im Zusammenhang mit dem kommunitaristischen Gesellschaftsmodell durchaus die Frage stellen, ob es sich hierbei nicht letztendlich um ein „rückwärts gewandtes Reformmodell“ handelt, das auf den Bedingungen vormoderner und vorindustrieller Gesellschaften mit ihren entsprechenden Sozialstrukturen basiert (vgl. Vorländer 2001:6). 81
2.4 Wohlfahrtspluralismus: Informelle Selbsthilfeverantwortung in der pluralistischen Wohlfahrtsgesellschaft Die Debatte um den Wohlfahrtspluralismus kann in verschiedener Hinsicht als Fortführung der Diskussion um eine Neue Subsidiarität und den Gestaltungsprinzipien einer kommunitaristischen Gesellschaft gesehen werden. Denn im Kern geht es auch bei dieser sozialstaatlichen Reform- und Modernisierungsoption um ein Klassifikationskriterium, das jenseits von Staat und Markt nach den sozialen Beiträgen von Familien und Organisationen der Bürgergesellschaft fragt. Doch auch unter dem Begriff des Wohlfahrtspluralismus versammelt sich eine Vielzahl an verschiedenen Konzeptionen, die sich nach Evers und Olk (vgl. 1996: 41ff) in vier Idealtypen klassifizieren lassen. Allen Typen gemein sei eine Verschiebung im Gleichgewicht der Wohlfahrtsproduktion zwischen den Basisinstitutionen von Staat und Markt, den intermediären Institutionen sowie den privaten Haushalten: Dabei stellt der erste Typus des Wohlfahrtspluralismus ein marktliberales Konzept dar, bei dem in erster Linie Fragen der „Effizienz des Marktes und managerielle sowie konsumistische Überlegungen“ im Mittelpunkt stehen. Diesem Modell zufolge sollen grundsätzlich so viele gesellschaftliche Lebensbereiche wie möglich nach Maßgabe individueller Wahlakte geregelt werden. Das sich hiermit verbindende Leitbild vom „schlanken Staat“ zielt im persönlichen Bereich auf eine „Stärkung der Rolle nicht-staatlicher Träger“. In diesem Zusammenhang wird jedoch der informelle Bereich weniger als ein Geflecht sozial produktiver Formen der Gemeinschaftsbildung gedacht, sondern eher als ein Feld „mobiler Konsumenten“, deren „Erwerbsorientierung und knappe Zeitbudgets die Hoffnung auf wachsende Servicemärkte“ nähren. Der zweite Typus bezeichnet ein liberales Konzept des gesellschaftlichen Wettbewerbs, über das sich zwar auch die Dominanz von Orientierungen auf Markt, Wettbewerb und Effizienz verfolgen lässt. Jedoch zeichnet es sich darüber hinaus auch durch den Einbezug intermediärer und informeller Bereiche aus. Doch trotz dieses Einbezugs versucht dieser zweite Typus von Wohlfahrtspluralismus weitgehend ohne besondere normative Ansprüche hinsichtlich einer sozialen Leistungsbeteilung oder einer politischen Partizipation auszukommen. Dem gegenüber steht der dritte Typus wohlfahrtspluralistischer Konzepte für eine Entwicklungspolitik, die auf einen Umbau des Wohlfahrtsstaats zur Stärkung gesellschaftlicher Wohlfahrtsbeiträge zielt. Hier finden sich vor allem – und nicht von ungefähr – vor allem die Vertreter des Kommunitarismus und der Bürgergesellschaft wieder. Dies lässt sich vor allem an dem Ausmaß ablesen, in dem Formen der Gemeinschaftsbildung, wie Familie und Nachbarschaft, als 82
„durchaus bestandsfähige und wünschenswerte Elemente zukünftiger Gesellschafts- und Sozialpolitik“ diskutiert werden. Entsprechend erfordert dieses Verständnis von Wohlfahrtspluralismus aber auch „angemessene Entwicklungspolitiken“ und Investitionen in diesen spezifischen „Kapitalstock“, um einer „Entwertung sozialen Kapitals“ entgegen zu wirken. Denn die „pflegliche Erneuerung der entsprechenden Bestände sozialen Kapitals“ ist die notwendige Voraussetzung für einen Wohlfahrtspluralismus bzw. für eine Wohlfahrtsgesellschaft im so verstandenen Sinne. Obgleich es also, wie aufgezeigt, keinen einheitlichen Entwurf eines oder des Wohlfahrtspluralismus gibt, kann zunächst jedoch festgehalten werden, dass in normativ-politischer Perspektive versucht wird, im Rahmen einer Formulierung und Propagierung wohlfahrtspluralistischer Konzepte und Strategien festzulegen, welche (relative) Bedeutung die einzelnen gesellschaftlichen Sektoren im Zusammenhang mit der Erreichung gesellschaftlicher Ziele wie Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt spielen und gegebenenfalls welche horizontalen bzw. hierarchischen Beziehungen zwischen ihnen hergestellt werden sollen. Zu diesem Zweck systematisieren Evers und Olk (1996:22, Hervorhebung M.D.) „vier Sektoren der Wohlfahrtsproduktion und ihrer Handlungslogiken“:
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Tabelle 8: Sektoren und Merkmale der Wohlfahrtsproduktion Institution
Markt
Staat
Gemeinschaft
Zivilgesellschaft
Zentraler Akteur
Unternehmen Öffentliche Verwaltung
Familien, soziale Netzwerke
Assoziation, Verbände
Handlungskoordination
Wettbewerb
Hierarchie
persönliche Verpflichtung
Freiwilligkeit
KomplementärKonsument, Kunde rolle auf Nachfrageseite
Sozialbürger
Gemeinschaftsmitglied
Assoziationsmitglied
Zugangsregel
Zahlungsfähigkeit
Anspruchsberechtigte
Akription/Kooption
Bedürftigkeit
Austauschmedium
Geld
Recht
Wertschätzung
Argumente
Bezugswert
Wahlfreiheit
Gleichheit
Reziprozität, Altruismus
Solidarität
Gütekriterium
Wohlstand
Sicherheit
Persönliche Teilhabe
Soziale und politische Aktivierung
Defizit
Ungleichheit
Vernachlässigung v. Minderheitsbedürfnissen
Ausschluss von Reduzierte Nicht-Mitgliedern Effektivität der Managementund Organisationsstrukturen
Im Gegensatz zu herkömmlichen Ansätzen der Sozialwissenschaften, die in der Regel die „Demarkationslinien“ der einzelnen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion gegeneinander abgrenzen und auf diese Weise eine „Innen-/Außendifferenzierung“ etablieren, da sich nur so die sektorspezifischen Funktion- und Handlungslogiken ermöglichen lassen, plädieren Evers und Olk (1996:28) dafür, die Gegensatzpaare „Staat – Gesellschaft“ bzw. „öffentlich – privat“ zu überwinden. In wohlfahrtspluralistischer Absicht sollen die Grenzen zwischen den einzelnen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion durchlässiger werden und in der Folge die Interaktionen zwischen ihnen intensiver werden. Denn eine Steigerung des Niveaus individueller und kollektiver Wohlfahrt sei zunehmend weniger von Substitutions- und Verdrängungsprozessen zwischen klar abgegrenzten Sektoren,
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sondern vielmehr eher von synergetischen „mixes“ von unterschiedlichen Ressourcen und Handlungsrationalitäten, zu erwarten (vgl. ebenda, S. 29). In diesem Zusammenhang kann man jedoch kritisch einwenden, dass durch die geforderte Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion auch deren „Handlungslogiken in Bewegung geraten“. Dadurch besteht die Gefahr, dass die originären Handlungslogiken des wohlfahrtlichen Sektors zunehmend auch mit betriebswirtschaftlichen Kriterien durchsetzt werden – bspw. wenn Wohlfahrtsverbände nun mit privaten Trägern konkurrieren müssen und diese dadurch zu „betriebswirtschaftlichen Einheiten mutieren“35 (vgl. Hartmann 2000:172). Ebenso kritisch ist zu werten, dass bei wohlfahrtspluralistischen Konzepten, sofern sie in sozialpolitischer Entwicklungsperspektive die hierarchischen Beziehungen zwischen Staat, Markt, intermediären und familiären Bereichen zu modernisieren versuchen, unterschwellig immer auch Vorwürfe gegenüber einer individualistischen Kultur mitschwingen. Das heißt, in dem Maße, wie Wohlfahrtspluralisten in synergie-orientierter Perspektive auf das soziale Kapital rekurrieren, sollte hier auch immer die Frage nach den empirischen gesellschaftlichen Grundlagen eines wohlfahrtspluralistischen Entwicklungskonzeptes gestellt werden. Insofern wohlfahrtspluralistische Konzepte in diesem Sinne Elemente der kommunitaristischen Gesellschaftstheorie oder der Neuen Subsidiarität aufnehmen, übernehmen diese geradezu zwangsläufig auch deren Probleme. Evers und Olk (1996:54ff) räumen dann auch selbst ein, dass die Kultur der Staaten der EU durch eine „Kombination starker individualistischer Orientierungen“ und einer wohlfahrtsstaatlichen Absicherung geprägt sei, ohne die die heute existierenden Spielräume für ein Leben in weitgehender Unabhängigkeit von familialen Hilfebeziehungen und von Strukturen, die auf soziales Engagement verwiesen sind, das Privileg nur weniger darstellen würde. Deshalb seien aber auch die Möglichkeiten speziell der staatlichen Gesellschafts- und Sozialpolitik zur Veränderung der vorhandenen politischen Kultur und der „Kultur des Helfens“ in einer demokratischen Gesellschaft „prinzipiell begrenzt“: „Ihre Bürger können weder zum Glück noch zur Tugend gezwungen werden“. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund seien sozialpolitische Programme, die auf eine „Resozialisierung“ des Wohlfahrtsstaates in wohlfahrtsgesellschaftlicher Perspektive verweisen, kulturell und politische enorm voraussetzungsvoll: „Offenbar besteht ein komplexes und bislang analytisch kaum bearbeitetes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Projekt einer pluralistischen Wohlfahrtsgesellschaft 35
Exemplarisch wird dies an der Gleichstellung von frei-gemeinnützigen und privatgewerblichen Trägern in § 11 Absatz 2 SGB XI durch die Einführung der sozialen Pflegeversicherung deutlich.
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und einer auf die Stärkung der Dimension der Bürgerschaftlichkeit, des „civic engagement“, setzenden zivilgesellschaftlichen Perspektive. Die weitgehende Ausblendung dieses Problems in der landläufigen Diskussion um Selbsthilfe, soziale Leistungsbeteiligung, Eigeninitiative und Wohlfahrtspluralismus ergibt ein ‚politisches Defizit’ im Konzept der Wohlfahrtsgesellschaft“ (vgl. Evers/Olk 1996:56).
2.5 Der „Aktivierende Sozialstaat“: Soziales Kapital, Eigenverantwortung und Gerechtigkeit Wohlfahrt in einem wohlfahrtspluralistischen Sinne ist also das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure und Instanzen. Doch insbesondere im Bereich der personenbezogenen sozialen Dienstleistung gilt, dass die Wirksamkeit der leistungsproduzierenden Institutionen von der „aktiven Mitwirkungsbereitschaft“ der Adressaten abhängt (vgl. Olk 2000:119). Während der Kommunitarismus hier vor allem gesellschaftsphilosophisch „theoretisiert“, setzt der Aktivierende Staat gleichsam zur Praxis über. Aktivierende Strategien zur Wohlfahrtsproduktion zielen darauf ab, wirksame Mechanismen und Prozesse der „Ko-Produktion“ bewusst zu machen und die Strukturen und Abläufe in diesen Einrichtungen so zu gestalten, dass Ko-Produktion „nicht entmutigt und behindert“, sondern „unterstützt und gefördert“ wird (vgl. ebenda, S. 119). Das heißt, Staatlichkeit ist nicht mehr als eine den Bürgern und Bürgerinnen ferne „invisible hand“ zu betrachten, sondern diese soll als Handlungskategorie in die Hände der in ihren Kompetenzen ermächtigten Bürger und Bürgerinnen selbst gelegt werden. Dies soll jedoch nicht ein Verschwinden des Staats bedeuten, sondern durch permanente Demokratisierung eine immer wieder neu auszuhandelnde Zuständigkeit nach sich ziehen (vgl. Strünck 2000a:14ff). Ganz ähnlich wie im Wohlfahrtspluralismus soll auch beim Konzept des Aktivierenden Staats eine neue Architektur der Wohlfahrtsproduktion entworfen werden. Allerdings wird hier „vom Staat her gedacht“, d. h. im Zentrum der Betrachtung steht die „neue Rolle und Funktion des Staats“ in einer wohlfahrtspluralistischen Gesellschaft. Die Diskussion um den aktivierenden Staat kann deshalb auch als ein Versuch gesehen werden, das „politische Defizit“ der Wohlfahrtsgesellschaft (vgl. Evers/Olk 1996:56) zu beseitigen, indem nun gleichsam die praktischen Voraussetzungen für bürgerschaftliches Engagement geklärt werden (vgl. Möhle 2001). Der Wohlfahrtsstaat soll nun nicht mehr Fürsorgestaat sein, sondern als „ermunternder“ und ermächtigender“ Staat Selbsthilfepotentiale wecken und durch konkrete Maßnahmen unterstützen (vgl. Schwengel 1999; Mezger/West 2000). Ebenso wie im Wohlfahrtspluralismus und in der kommunitaristischen Gesellschaftstheorie ist auch im Diskurs um den Aktivierenden Staat zumindest 86
indirekt eine Renaissance der Subsidiaritäts-Debatte feststellbar. Denn insofern Subsidiarität bedeutet, dass Hilfen des Staats und der Politik, die sich an den Einzelnen oder an die Gemeinschaften richten, vorrangig als Hilfe zur Selbsthilfe gegeben werden sollen, beinhaltet das Subsidiaritätsmodell in gewisser Weise schon immer eine Aktivierungsthese eigener Art. In einem engen Zusammenhang zum Konzept des Aktivierenden Staats steht auch eine zunächst in den USA noch unter der Reagan und Bush Administration geführte Debatte um den so genannten „Enabling State“, die unter Clinton unter dem Schlagwort des „Reinventing Government“ fortgeführt wurde. “Reinventing Government“ verweist dabei auf einen Begriff des Regierens, der über engere und passivierende staatlich-administrative Strukturen hinausweist, insofern „reinventing government“ dazu auffordert, Politik als einen öffentlichen Diskussions-, Entscheidungs- und Handlungsprozess zu betrachten, der auch Fragen der Repräsentativität und Partizipation ansprechen soll (vgl. Evers 2000:15, auch Möhle 2001). Auch das Konzept des Aktivierenden Staates steht also letztendlich für den Versuch einer Modernisierung des Staates durch neue Kooperationsformen zwischen Staat und Gesellschaft. In diesem Zusammenhang hat auch die NewPublic-Management-Bewegung zunehmend an Einfluss gewonnen, die dem staatlichen Verwaltungsapparat das Gepräge eines Unternehmens geben möchte und dabei großen Wert auf effiziente und innovative Steuerungsmodelle legt (vgl. Blanke/ von Bandemer 1999:327; Lamping et al 2000:31). Der normative Gehalt dieser staatstheoretischen Debatte über den Wohlfahrtsstaat liegt insbesondere in einer Neubestimmung des Verhältnisses von (wohlfahrts-)staatlicher Verantwortung und Eigenverantwortung von Bürgern und Bürgerinnen. Doch auch hier gilt, ebenso wie bei den vorangegangenen gesellschafts- und wohlfahrtstheoretischen Konzepten, die auf eine Neujustierung des Verantwortungsverhältnisses und der Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft hinzielen, dass sich auch hinter dem Konzept des Aktivierenden Staates eine Vielzahl an Diskussionssträngen über die Zukunft des Wohlfahrtsstaats verbergen. Das (neo-) liberalistische Verständnis des Aktivierenden Staats plädiert durch die Betonung der Eigenverantwortung und des bürgerschaftlichen Engagements vorrangig für einen generellen Rückbau des Wohlfahrtsstaats. „Aktivierung’“ meint hier vor allen Dingen die Privatisierung sozialer Risiken durch Marktprinzipien. Entsprechend soll die Selbstverpflichtung des Bürgers auf eine marktkonforme Lebensführung im Mittelpunkt stehen. Insofern die Bevölkerung dazu neigt, an „Sozialpolitik als öffentlichem Gut“ festzuhalten, wird aktivierende Politik hier vor allem als Herausforderung einer „politischen Umerziehung der Bevölkerung“ begriffen (vgl. Opielka 2003:548). Am gleichsam entgegen gesetzten Pol finden sich Vertreter, denen es bei „Aktivierung“ vor allem um die Entwicklung einer Politik geht, die es versteht, 87
Beteiligungsformen entlang der individuellen Interessen und Gruppenanliegen zu entwickeln und deren Konfliktaustragungen durch wechselseitigen Respekt und die Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen geprägt ist. Eine derart aktivierende Politik, so die Hoffnung, könnte Marktkräfte zivilisieren, aber auch entwickeln und zu Nutze machen (vgl. Lamping et al 2002; Opielka 2003; Evers 2000). Die Legitimationsbasis für den Diskurs um den Aktivierenden Staat bildet die Annahme, dass sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels eine zunehmende Tendenz zur Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen feststellen lässt, die eine pauschalierte soziale Absicherung nicht mehr zulässt oder doch zumindest deutlich erschwert (vgl. Möhle 2002:287). Olk spricht in diesem Zusammenhang von einer „subjektbezogenen Sozialpolitik“. Das heißt, die der Hilfe bedürftigen Menschen werden nun nicht mehr als „passive Leistungsempfänger“ betrachtet, sondern als handelnde Subjekte mit eigenen Kompetenzen und Ressourcen. Insofern bezieht aktivierende Sozialpolitik, gemäß den Prinzipien der Förderung und der Aktivierung, ihre Zielgruppen als Handelnde in die Leistungserbringung ein „und unterstützt und fördert deren Problemlösungspotenzial“ (vgl. Olk 2000:111). Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass eine „Politik des Gebens und Nehmens“ nur unter der Bedingung keine neuen Ungerechtigkeiten schafft, dass die Mitglieder tatsächlich über die Kompetenzen und Ressourcen für aktive Bewältigungsstrategien verfügen36. Es ist also sorgfältig zu prüfen, ob und unter welchen Bedingungen die stärkere Betonung von Pflichten gerade die schwächsten Gruppen erneut benachteiligt (vgl. ebenda, S. 121). Wird dennoch von allen in gleichem Maße Eigenverantwortung verlangt, so bedarf es des Einbezugs einer Reihe von intervenierenden normativen Aspekten, wie den einer Neubestimmung des Wertes der institutionellen Verantwortung oder auch der Solidarität, um eine Kollision mit den Werten Freiheit und Gerechtigkeit zu vermeiden (vgl. Möhle 2001:288). Denn die gesellschaftlichen Ressourcen, auf die eine aktivierende Sozialpolitik abzielt, sind keineswegs in jedem Fall individuell zurechenbar. Auch hier stellt sich also die Frage nach dem sozialen Kapital, das als „… höchst flüchtiges Gut und (…) Vertrauenskapital keineswegs einfach technisch zu regenerieren (ist). Sozialkapital entsteht nämlich unbeabsichtigt hinter dem Rücken der Akteure“ (vgl. Olk 2000:120).
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An dieser Stelle ist exemplarisch an die Wahlfreiheit im Rahmen der Pflegeversicherung zu denken, (Stichwort: Geld und Sachleistungen) und an die Kompetenzen und Ressourcen, die es erfordert, hierüber ggf. mit den Anbietern auf dem Markt in ein Einvernehmen zu kommen.
2.6 Zusammenfassung: Eine „Sozialpolitik aus der Nähe“ als „neue Antwort auf neue Fragen“ im Kontext der sozialen Pflegeversicherung Bereits zu anfangs dieser Arbeit wurde die soziale Pflegeversicherung auf folgende Formel gebracht: Grundversorgungsmodell plus „Sozialpolitik aus der Nähe“ nach dem Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“ = soziale Pflegeversicherung. Es ist dies die gleichsam „mathematische“ Übersetzung dessen, was Blüm zur Einführung der sozialen Pflegeversicherung als „neue Antwort auf neue Fragen“ inhaltlich umschreibt. Doch lässt sich mit dieser „innovativen“ Formel „rechnen“, also letztlich gegenwärtig und zukünftig (Sozial-) Staat machen? Nehmen wir uns also die soziale Pflegeversicherung als „mathematische Gleichung“ vor. Der Faktor Grundversorgungsmodell ist dabei durchaus bekannt und berechenbar. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als der gesetzlich festgelegte Beitragssatz der Pflegeversicherung: „… in der Zeit ab 1. Juli 1996 1,7 vom Hundert der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, er wird durch Gesetz festgelegt“ (vgl. § 55 Absatz 1 Satz 1 SGB XI). Das Geld, das in die soziale Pflegeversicherung „fließt“, variiert zwar je nach Konjunktur der Einnahmeseite, doch selbst unter besseren Einnahmebedingungen als gegenwärtig dürfte dies nicht ausreichen, um die soziale Pflegeversicherung bei steigender Pflegebedürftigkeit und bei entsprechenden Preissteigerungen für Pflegeleistungen langfristig auf ein sicheres finanzielles Fundament zu stellen. Die Plafondierungslogik des PflegeVG im Zusammenhang mit dem gesetzlich festgelegten und nicht bedarfsdeckenden Beitragssatz sind es auch, die in ganz erheblichem Maße dazu beitragen, dass die Grundabsichten der sozialen Pflegeversicherung nicht erreicht werden. Andererseits: Es handelt sich hier um ein Grundversorgungsmodell. Trotz gesetzlich hochgesteckter Ziele ist und sollte die Pflegeversicherung nie etwas anderes sein als eben ein Grundversorgungsmodell, „…eine gute Zulage zum Leben mit Pflegebedürftigkeit“ (vgl. Runde et al. 2003:14). Dieses Grundversorgungsmodell ist notfalls durch eine Erhöhung des Beitragssatzes beeinflussbar oder wahlweise, und dies dürfte gegenwärtig wohl die wahrscheinlichere Variante sein, durch eine zusätzliche private Absicherung zu ergänzen. Der Umfang und das Ausmaß einer Grundsicherung ist also durchaus „kalkulationsfähig“- berechenbar. Die größere Unbekannte in dieser Gleichung ist die „Sozialpolitik aus der Nähe“, also das so genannte soziale Kapital und dessen Verhalten, oder vielmehr die Bedingungen, die das Verhalten und die Mitwirkungsbereitschaft des Sozialkapitals im gewünschten und vorgesehenen Maße positiv oder negativ beeinflussen. Doch gerade dieses „höchst flüchtige Gut“, das „unbeabsichtigt hinter dem Rücken der Akteure“ entsteht (vgl. Olk 2000:120), wird in der Arithmetik der sozialen Pflegeversicherung zu deren Kalkulationsbasis 89
gemacht. Hierzu rekurriert die Pflegeversicherung im Wesentlichen auf eben jene wohlfahrts- und gesellschaftstheoretischen Modelle und Konzepte zur Reform des Sozialstaats, die wir vorangegangen dargestellt haben und die gewissermaßen den sozialphilosophisch-theoretischen Überbau für die Gestaltungsprinzipien der sozialen Pflegeversicherung liefern. Alle diese Modelle weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie auf eine stärkere Verantwortungs- und Aufgabenteilung als bisher bei der institutionellen Produktion von Wohlfahrt „zugunsten“ der Grundmuster informeller sozialer Sicherung abzielen, denen gleichsam eine „Korrektiv- und Kompensationsfunktion in der gegenwärtigen Umbruchsituation“ (vgl. Dathe et al. 2003:8) zugesprochen werden. Die damit einhergehende Reduktion kollektiv-sozialstaatlicher Sicherheit kann beschrieben werden als ein Spannungsfeld zwischen der Absicht, die Kosten des Sozialstaats zu senken, oder den Sozialstaat gar liberalistisch zu überwinden, und der Hoffnung, durch bürgerschaftliches Engagement und subsidiäre Selbsthilfe die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens zu erneuern. Doch ganz unabhängig von der politischen Absicht einer programmatischen Aufwertung von Gemeinsinn und subsidiärer Selbsthilfe, es sind, in der Kaufmann’schen Formulierung, eben jene „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ (vgl. Kaufmann 1997:109), die zum Gestaltungsprinzip in der Debatte um die Reform des Sozialstaats erhoben werden. Die soziale Pflegeversicherung mag hier nur die Vorbotin einer solchen „Modernisierungsoption“ des Sozialstaats sein, denn die „neue Kultur des Helfens“ hat viele Gesichter und ist mittlerweile auch zu einem Prinzip der Reformgesetze zum Arbeitslosengeld II – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen – avanciert. Denn nach der gängigen Harz IV-Praxis (Arbeitslosengeld II) muss bspw. die Arbeitsagentur einem an sich anspruchsberechtigten Arbeitslosen kein Arbeitslosengeld II zahlen, oder kann dies zumindest kürzen, wenn sie nachweisen kann, dass dieser in einer so genannten Lebens- oder Bedarfsgemeinschaft lebt. Doch wo der Pflegebedürftige darauf angewiesen ist, dass er auf die aktive Mitarbeit und Unterstützung informeller Netzwerke im eigenen Haushalt zurückgreifen kann, um die Pflege- bzw. Versorgungslücke der Pflegeversicherung zu schließen, gereicht gerade dies dem Arbeitslosen, sofern er einen Antrag auf Arbeitslosengeld II stellt und die Lebens- oder Bedarfsgemeinschaft über ausreichende Unterstützungsmöglichkeiten verfügt, wiederum zum Nachteil. Die so Betroffenen sehen sich deshalb häufig gezwungen ihren gemeinsamen Haushalt aufzulösen. Auch dies ist „Sozialpolitik aus der Nähe“. Doch unabhängig davon, wie widersprüchlich eine „Sozialpolitik aus der Nähe“ aus Sicht des Bürgers oder der Bürgerin auch sein mag, die grundsätzliche Frage ist, wie modern, d. h. den von den Sozialwissenschaften bereits im Wesentlichen herausgearbeiteten gesellschaftlichen und sozio-demographischen Veränderungs- und Wandlungsprozessen angemessen, eine solche Sozialpolitik 90
nach dem Muster einer neuen Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den staatlichen und den informell privaten Institutionen ist oder sein kann? Dies ist, wie aufgezeigt wurde, das unhintergehbare Grundproblem, oder sagen wir besser, der blinde Fleck, all jener „innovativen“ Wohlfahrtsmodelle, die soeben skizziert wurden. Denn: „Bildeten in der Vormoderne der Familienverband und Clanstrukturen die sozialen Klammern, so stellten sich mit der Entwicklung von Städten und spätestens mit der Ausprägung des Nationalstaats sowie im Zuge von Modernisierung, Industrialisierung und Demokratisierung die Frage nach der Art der sozialen Absicherung völlig neu. (…) Relativ unstrittig ist, dass es … in Anbetracht der Auflösung familiärer Strukturen und der veränderten ökonomischen Zusammenhänge immer weniger möglich (war), die soziale Sicherung wie bisher subsidiär, d. h. als helfende Ergänzung der Selbstverantwortung der kleinen Gemeinschaften, zu organisieren“ (vgl. Christen et al. 2003:10ff). Damit wäre eine der „zentralen Voraussetzungen“ (vgl. ebenda. S.11) beschrieben, die historisch betrachtet zur Entstehung des Sozialstaats führten. Erzeugen also nicht gerade ökonomische, sozio-demographische und sozio-kulturelle Veränderungsund Modernisierungsprozesse ein steigendes Maß an sozialstaatlicher Sicherheit, die deshalb Forderungen nach mehr Eigenleistung und Eigenverantwortung in hoch flexibilisierten und individualisierten Gesellschaften völlig an der Kernproblematik vorbeigehen lassen? Wenn dies so ist, dann wäre die „neue Kultur des Helfens“, als der „Prolog zur sozialen Pflegeversicherung“ (vgl. Dietz 2002:135), gleichsam deren Nekrolog. In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde bereits die Zunahme individueller und gesellschaftlicher Risikolagen angesprochen, ohne diese jedoch zunächst mit Inhalten zu füllen. Dies soll nun Aufgabe der nachfolgenden Kapitel sein.
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3 Der „Vorrang der häuslichen Pflege“ seit Einführung der Pflegeversicherung
Im vorangegangenen Kapitel wurde die Konzeption der sozialen Pflegeversicherung als die Summe eines Grundversorgungsmodells mit einem gesetzlich festgelegten und nicht bedarfsdeckenden Beitragssatz plus einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ beschrieben, wobei letztere nichts anderes darstellt als die in das Pflegeversicherungsgesetz eingelassene Pflege- und Versorgungslücke zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot, die durch private Solidarpotentiale (subsidiär) kompensiert bzw. ergänzt werden soll. Im Nachfolgenden wollen wir uns nun der Zukunft der sozialen Pflegeversicherung zuwenden und schwerpunktmäßig danach fragen, ob eine solche „Innovation“, die die Fähigkeit und die Bereitschaft privater Solidarpotentiale zur informellen Pflege wie selbstverständlich37 voraussetzt, und zu ihrem Gestaltungsprinzip und damit auch zu ihrer Kalkulationsbasis macht, eine Option für eine tragfähige und zukunftssichere Sozial- bzw. Pflegepolitik sein kann. Das jüngste Kind im deutschen Sozialversicherungssystem lag noch auf der Geburtsstation als bereits sowohl von fachwissenschaftlicher als auch von politischer Seite sehr ernsthaft über dessen kurz- bis mittelfristige Zukunft nachgedacht wurde. Der Fokus dieses Nachdenkens lag und liegt in diesem Zusammenhang seither insbesondere auf der bangen Frage, wie sich die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung entwickeln werden und in welcher Höhe und ab welchem Zeitpunkt gegebenenfalls der gesetzlich festgelegte Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung entsprechend angepasst, d. h. erhöht werden muss. Und obgleich über die angemessene und notwendige Höhe des Beitragssatzes sowie über den Zeitpunkt der Anpassung durchaus Uneinigkeit besteht, waren und sind sich doch alle Experten in dem Punkt einig, dass selbst bei einer positiven oder positiveren Entwicklung auf der Einnahmeseite, die Ausgaben bzw. das Versorgungsniveau der sozialen Pflegeversicherung schon allein aufgrund der Preissteigerungen im Bereich der Pflege – selbst bei einer konstanten Anzahl der Leistungsempfänger und unveränderter Leistungsstruktur – mit einem gleich 37
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Natürlich müsste es heißen „fast wie selbstverständlich“. Denn die Maßnahmen zur Aktivierung des informellen Pflegepotentials sind ja gerade ein Anzeichen dafür, dass sich der Gesetzgeber nicht „sicher“ ist.
bleibenden Beitragssatz nicht zu decken bzw. zu halten sein wird (vgl. u. a. Rothgang 1997:235ff; Arntz/ Spermann 2003:7). Das heißt, über kurz oder lang befindet sich die Politik in dem „unlösbaren Dilemma“ (vgl. Rothgang 1997:295), entweder das Ziel der Beitragssatzstabilität oder das der Kaufkraftstabilität der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung zu verletzen. Anders ausgedrückt: Entweder Ausgabenexplosion mit steigenden Beitragssätzen oder Leistungsimplosion mit stark sinkender Leistung pro Pflegefall (vgl. Arntz/Spermann 2003: 3ff.).38 Nun sind die Ausgaben der Pflegeversicherung das Produkt aus der Anzahl der leistungsberechtigten Pflegebedürftigen und der Durchschnittsausgaben pro Pflegebedürftigem (vgl. Rothgang 1997:237). Um eine möglichst genaue Annäherung an die (zukünftigen) Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung zu erhalten, ist es notwendig, diejenigen Faktoren so umfassend und exakt als möglich zu bestimmen, die auf die jeweiligen Multiplikanden, d. h. die Entwicklung der Anzahl der leistungsberechtigten Pflegebedürftigen sowie der Entwicklung der Durchschnittsausgaben pro Pflegebedürftigem, Einfluss nehmen. Die Anzahl der leistungsberechtigten Pflegebedürftigen wird bspw. beeinflusst von der nach Alter und Geschlecht gegliederten Bevölkerungszahl sowie von alters- und geschlechtsspezifischen Pflege-Wahrscheinlichkeiten, die ihrerseits – aufgrund der demographischen Entwicklung und den Veränderungen von Morbidität und Mortalität – im Zeitablauf variieren können. Die durchschnittlichen Ausgaben pro Leistungsfall werden wiederum beeinflusst u.a. von den gesetzlich fixierten Leistungshöhen, der Verteilung der Pflegebedürftigen auf die Leistungsstufen sowie dem gewählten Leistungstyp, d. h. der Entscheidung für stationäre oder ambulante Pflege und innerhalb der letztgenannten für Pflegegeld oder Pflegesachleistungen; kurz: nach dem Grad der Veränderungen des jeweiligen Inanspruchnahmeverhaltens (vgl. Rothgang 1997:237). Und gerade die möglichen Veränderungen des Inanspruchnahmeverhaltens von Pflegeversicherungsleistungen unterliegen wiederum einer Vielzahl vorgelagerter externer Faktoren, die im Sinne verhaltens- und verhältnisabhängiger privater Lebensumstände mit Kaufmann (1997:109) auf den schon häufiger zitierten Begriff der „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ gebracht werden können. Bezogen auf die Ausgabenarithmetik der sozialen Pflegeversicherung bedeutet dies, dass die sozialen und privaten Netzwerkkonstellationen, solange sie stabil sind, zur finanziellen Stabilität der Pflegeversicherung beitragen. Entsprechend prekäre Netzwerkkonstellationen zeitigen den gegenteiligen Effekt; die Ausgaben der sozialen Pflegeversi38
Da das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales jüngst selbst darauf aufmerksam machte, dass die finanziellen Reserven der sozialen Pflegeversicherung ab dem Jahre 2008 vollständig aufgebraucht sein werden (vgl. BMGS 2005), wird das beschriebene „Dilemma“ also spätestens ab diesem Zeitpunkt unausweichlich zur politischen Entscheidung anstehen.
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cherung steigen, nicht zuletzt aufgrund frühzeitiger stationärer Inanspruchnahme und selbst bei minder schwerer Pflegebedürftigkeit, entsprechend an. Wäre letzteres der Entwicklungstrend, bei nach wie vor nicht bedarfsdeckenden Pflegeversicherungsleistungen, hätte dies im Übrigen auch einen erneuten und erheblichen Anstieg der „Hilfe zur Pflege“, sprich der Sozialhilfeausgaben, zur Folge. Da die Pflegeversicherung jedoch gerade mit dem, wenn auch eher verdeckten Ziel angetreten war, die Abhängigkeit von der Sozialhilfe bei Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, d. h. im Eigentlichen, die Länder und Kommunen finanziell bei den Ausgaben für die Sozialhilfe zu entlasten, bedeutete dies auch in dieser Hinsicht das Scheitern der Pflegeversicherung in einem ihrer hauptsächlichen Ziele. Etwas salopp formuliert könnte man es auf die Formel bringen: „Zurück auf Los“. Und vor eben jenem Hintergrund sprachen wir bereits vom Kalkulationsrisiko einer nur familienergänzenden Sozialversicherung bzw. von einer Sozialpolitik nach dem Prinzip Hoffnung. Jedoch sind die (möglicherweise) zukünftig nicht mehr in jeder Hinsicht als selbstverständlich vorauszusetzenden privaten Solidarpotentiale, die den „Vorrang der häuslichen Pflege“ (§ 3 SGB XI) sicherstellen sollen, nicht nur, wie dies im fachwissenschaftlichen Kontext bislang vorrangig zu beobachten ist, in Bezug auf die Ausgabendynamik der sozialen Pflegeversicherung zu diskutieren, sondern vor allem auch vor dem Hintergrund der Frage, durch welche innovativen Pflege- und Versorgungsmodelle und Handlungsempfehlungen die dann expandierende Pflege- und Versorgungslücke, die zu vermeiden ja eigentlich der „Sozialpolitik aus der Nähe“ zugedacht war, zu schließen wäre. Das heißt, es stellt sich nicht nur die Frage nach der finanziellen Zukunft der sozialen Pflegeversicherung und möglicher Reformoptionen zu deren Finanzierung, sondern wir stehen ganz grundsätzlich auch vor der Frage, wo und in welchen Bereichen und durch welche konkreten Maßnahmen die Angebote und Strukturen der pflegerischen Versorgung ab welchem Zeitpunkt gegebenenfalls angepasst, beeinflusst bzw. verändert werden müssten, wenn die informellen Solidarpotentiale zunehmend weniger als bislang als eine Art traditionelle informelle Rückversicherung der Leistungserbringung im häuslichen Pflegebereich fungieren können, oder vielleicht auch wollen. Die Frage nach der Entwicklung des informellen Pflegepotentials ist also vorrangig auch eine Frage nach der zukünftigen Bedarfsentwicklung und den notwendigen Angebotsstrukturen in der pflegerischen Versorgung. Und es kann hier im Interesse aller Beteiligter, insbesondere der Pflegebedürftigen selbst, eben nicht darum gehen, die vollstationäre Versorgung bereits ab den unteren Graden der Pflegebedürftigkeit zu einem Mittel erster Wahl zu machen. Selbstverständlich wurde die Frage nach der Entwicklung und der Tragfähigkeit privater Solidarpotentiale in der informellen Angehörigenpflege von 94
Anfang an in der Diskussion um die Konzeption der sozialen Pflegeversicherung aufgeworfen, jedoch wird diese Frage, wie bereits angedeutet, seitdem insbesondere vor dem Hintergrund ihres Einflusses auf die Ausgabenentwicklung der sozialen Pflegeversicherung diskutiert. Doch ebenso wie alle Modellrechnungen zur zukünftigen Ausgabenentwicklung der sozialen Pflegeversicherung schon allein aufgrund der Schwierigkeit, die Anzahl der zukünftigen leistungsberechtigten Pflegebedürftigen möglichst exakt zu bestimmen, ausgesprochen problematisch sind (vgl. Kapitel 4.1), gilt dies für seriöse quantifizierte Prognosen zur Entwicklung des informellen Pflegepotentials aufgrund der Vielzahl vorgelagerter Determinanten und Einflussfaktoren erst recht. Denn das Sozialkapital, und darauf wurde bereits verwiesen, es ist „ein höchst flüchtiges Gut“, das „unbeabsichtigt hinter dem Rücken der Akteure“ entsteht (vgl. Olk 2000:120), und dessen individuelle Entscheidungs- und Abwägungsprozesse sich deshalb nur schwer voraussehen und quantifizieren lassen. Wir stoßen hier also direkt auf das „politische Defizit“ (vgl. Evers/Olk 1996:56) oder auf den „blinden Fleck“ all derjenigen sozialstaatlichen Reformmodelle, die, in welcher Absicht auch immer, für ein mehr an Eigenverantwortung und Gemeinsinn plädieren und zu ihren Gestaltungsprinzipien erheben. Diese Schwierigkeit führt dazu, dass in den Modellrechnungen zur zukünftigen (finanziellen) Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung gemeinhin ein gewisser Grad an potentiellen Veränderungen im Inanspruchnahmeverhalten nach Pflegeversicherungsleistungen pauschal zwar berücksichtigt und unterstellt wird. Diejenigen zahlreichen Parameter, die im Einzelnen auf die Entwicklung des informellen Pflegepotentials einwirken (könnten), finden aufgrund ihrer Komplexität in der Regel jedoch selbst keine systematische Berücksichtigung (vgl. Rothgang 1997:236ff). Der Grad der Verunsicherung ist und bleibt also entsprechend hoch. Dies lässt sich anhand einer „Modellrechnung“ von Blinkert und Klie zur „zukünftige(n) Entwicklung des Verhältnisses von professioneller und häuslicher Pflege“ im Rahmen der vom Deutschen Bundestag veranlassten EnqueteKommission „Demographischer Wandel“ aufzeigen (vgl. Blinkert/Klie 2002). In dieser Studie wird versucht, eine Abschätzung des Verhältnisses von häuslicher und professioneller Pflege für den Zeitraum bis 2050 vorzunehmen. Die Prognose baut im Großen und Ganzen lediglich auf drei Faktoren auf: Der allgemeinen, nicht regional differenzierten demographischen Entwicklung, der allgemeinen Entwicklung der Haushaltsstrukturen, sowie der Entwicklung der Frauenerwerbsquote, wobei diese letzten beiden sozialen Kennziffern wiederum als Maß für gesellschaftliche Individualisierungsprozesse betrachtet werden. Nimmt man alle drei Faktoren zusammen, so wird nach den Ergebnissen dieser Studie mit einer erheblichen Abnahme des informellen Pflegepotentials bis zum Jahr 2050 zu rechnen sein. Allerdings machen die Autoren darauf aufmerksam, dass 95
„die Ergebnisse unserer Modellrechnung nicht als ‚Prophezeiungen’ verstanden werden (dürfen). Wir können nur beschreiben, mit welcher Entwicklung zu rechnen wäre, wenn die vorausgesetzten Änderungen eintreten und alle anderen ‚relevanten Bedingungen’ unverändert bleiben würden. In dieser Formulierung verbergen sich allergrößte Probleme, denn der Stand der Forschung ist noch nicht einmal so weit, dass sich mit einiger Sicherheit sagen ließe, was denn diese ceteris-paribus-Klausel – ‚alles andere bleibt konstant’ überhaupt bedeutet“ (vgl. ebenda, S. 57).
Diese Anmerkung macht die ganze Komplexität des Sachverhalts deutlich. Mit Blinkert und Klie, und zugleich über diese hinausgehend, wollen wir uns also der weithin offenen Frage zuwenden, welche Vielzahl an Faktoren („alle anderen relevanten Bedingungen“) noch in Betracht zu ziehen wären, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die zukünftige Entwicklung des informellen Pflegepotentials Einfluss nehmen (könnten). Nun hat bereits die aktuelle sozialrechtliche Ausgestaltung der sozialen Pflegeversicherung die Gefahr vor Augen, dass die informellen Hilfe- und Pflegepotentiale zunehmend erodieren könnten. Und entsprechend besteht ein Hauptanliegen dieses Sozialversicherungszweiges darin, durch bestimmte Maßnahmen eine solche Erosion zu vermeiden und den gesetzlichen Vorrang häuslicher vor stationärer Pflege durch die jeweiligen Leistungen der Pflegeversicherung zu unterstützen (vgl. Kapitel 1.3.4). Ob und inwieweit dies seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung gelungen ist, darüber gehen die Einschätzungen bislang auseinander. Dass die Einschätzungen zu den Wirkungen der sozialrechtlichen Maßnahmen zur Stützung des Vorrangs der häuslichen Pflege und zur Zukunft der Pflegeversicherung als familienergänzende Sozialversicherung, wie wir noch sehen werden, durchaus divergent sind, mag zum einen auf bestimmte Interessenlagen zurückführbar sein, jedoch wird hierüber vor allem ersichtlich, wie schwierig es ist, die soziale Realität, also den Gesamtrahmen innerhalb dessen die konkreten Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zur Übernahme häuslicher Hilfe- und Pflegeleistungen gegenwärtig und zukünftig stattfinden und ausgehandelt werden, in seiner ganzen Bandbreite einzubeziehen, richtig einzuschätzen und zu interpretieren. Als sicher kann u. E. jedoch gelten, dass angesichts der Vielzahl von Einflussfaktoren bei der häuslichen Versorgung Pflegebedürftiger monokausale Wirkungsketten, oder eben nur wenige ausgewählte und voneinander isolierte Determinanten, nicht in Betracht kommen können. Doch nur vor dem Hintergrund differenzierterer und umfangreicherer Erkenntnisse über jene Bedingungen, von denen man annehmen kann, dass sie verstärkt auf die Entwicklung des Inanspruchnahmeverhaltens nach Pflegeversicherungsleistungen Einfluss nehmen (werden), ist es möglich, rechtzeitig die gegebenenfalls veränderten Bedarfe durch die unterschiedlichen Ebenen der pflege- und gesellschaftspolitischen Gestaltung zu steuern, und sowohl im Sinne 96
der Pflegebedürftigen selbst als auch der pflegenden Angehörigen sicherzustellen sowie eine Aussage darüber zu treffen, ob das familienergänzende Sozialversicherungsmodell Pflegeversicherung nicht doch nur ein Prinzip Hoffnung ist, das, vielleicht nicht von Anbeginn, aber doch ab einem vorhersehbaren Zeitpunkt, unweigerlichen von der demographischen, sozialen und ökonomischen Realität und deren Veränderungsprozessen eingeholt werden musste. Mithin würde dies die Gestaltungsprinzipien Eigenverantwortung und Eigenleistung völlig an der eigentlichen Kernproblematik vorbeigehen lassen. Doch bevor wir uns dieser Kernfrage der vorliegenden Arbeit zuwenden, also danach fragen, ob die privaten Solidarpotentiale zukünftig überhaupt in der Lage sind, die in das Pflegeversicherungsgesetz eingelassene Deckungslücke zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot schließen zu können, und welche Faktoren in den Lebensbedingungen sowohl der Pflegebedürftigen selbst als auch, und vor allem, der informellen Pflegepersonen, hierauf Einfluss nehmen, soll der Blick zunächst auf den Status Quo gerichtet und danach gefragt werden, wie es bislang um die konkrete Umsetzung einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ bzw. um eine „neue Kultur des Helfens“ im Bereich der informellen häuslichen Pflege bestellt ist. Anders ausgedrückt: Wie erfolgreich ist das Modell der familienergänzenden Pflegeversicherung bislang, ist sie „ein Anschub für eine nachbarschaftliche Sozialpolitik, für eine neue Kultur des Helfens“ (vgl. Blüm 1995)?
3.1 Zur Prävalenz von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Deutschland Wie bereits anfangs dargelegt wurde, wurde erst im Rahmen der Überlegungen zur Einführung einer Pflegeversicherung in Deutschland damit begonnen, sich überhaupt ein Bild über das Ausmaß von Pflegebedürftigkeit (in Privathaushalten) zu machen (Stichwort: Socialdata-Studie 1980, vgl. Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit). Jedoch konnten all diese Daten bis zur Einführung der Pflegeversicherung kaum Anspruch auf Repräsentativität erheben, was im Übrigen auch für die damals richtungweisende Socialdata-Studie gilt (vgl. Schneekloth/Wahl 2005:9). So wurde beispielsweise noch kurz vor Einführung der Pflegeversicherung in Deutschland die Gesamtzahl der Leistungsempfänger für das Jahr 2030 auf ca. 2 Millionen Menschen prognostiziert (vgl. VdAK/AEV 2004). Doch erst seit Einführung der Pflegeversicherung lässt sich im Bereich von Pflegebedürftigkeit und pflegerischer Versorgung auf umfassenderes Datenmaterial39 zurückgreifen.
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§ 109 SGB XI ermächtigt die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates jährliche Erhebungen über ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen sowie über die häusliche Pflege als Bundesstatistik anzuordnen. Auskunftspflichtig sind die Träger
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Demnach wurde die anfängliche Prognose von 2 Millionen Leistungsempfängern für das Jahr 2030 bereits im Jahre 2003 von der Wirklichkeit überholt, denn bereits acht Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung wies das Statistische Bundesamt etwas mehr als 2 Millionen Leistungsempfänger der gesetzlichen wie der privaten Pflegeversicherung auf, die im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) als pflegebedürftig gelten.
Abbildung 1:
Eckdaten Pflegestatistik 2003
Quelle: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2003, Bonn 2005 Vergleicht man also die Prognose kurz vor oder bei Einführung der Pflegeversicherung mit den Daten der amtlichen Pflegestatistik, auf die, wie gerade dargelegt, erst seit Einführung der Pflegeversicherung, zurückgegriffen werden kann, der Pflegeeinrichtungen, die Träger der Pflegeversicherung sowie die privaten Versicherungsunternehmen gegenüber den statistischen Ämtern der Länder.
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so wird deutlich, wie schwierig es offensichtlich ist, die aktuelle aber auch zukünftige Prävalenz von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, und mithin den entsprechenden Versorgungsbedarf, zu bestimmen. Denn ab wann jemand der Hilfe und Pflege bedürftig ist, hängt ganz entschieden davon ab, welcher Begriff von Hilfeund Pflegebedürftigkeit zu Grunde gelegt wird, d. h. in welchem Bezugssystem Hilfe- und Pflegebedürftigkeit definiert wird. Seit Einführung der Pflegeversicherung lässt sich die Gruppe der Pflegebedürftigen in Deutschland als Personen mit Leistungsbezug nach dem SGB XI eindeutig abgrenzen. Der Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung setzt eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) voraus, bei der anhand eines standardisierten Verfahrens ein so genannter „erheblicher Pflegebedarf“ (Pflegestufe I) festgestellt worden ist. Voraussetzung hierfür ist, dass aufgrund von Einschränkungen sowohl bei den relevanten körperbezogenen als auch bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen, ein Hilfe- und Pflegebedarf von mindestens 90 Min. täglich vorliegt. Das heißt, und darauf wurde bereits ausführlich aufmerksam gemacht, nicht jede Pflegebedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit an sich wird zum Gegenstand des Wirkens der Pflegeversicherung, sondern es muss bereits eine Pflegebedürftigkeit mit einem gewissen Schweregrad vorliegen, bevor die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen einsetzt. Mit anderen Worten: Alle Vorstufen der Pflegebedürftigkeit sind, bis zu einem gewissen Schweregrad, nicht Gegenstand der Pflegeversicherung und ihrer Leistungen. Und dies bedeutet nichts anderes, als dass die amtlichen Statistiken der Pflegeversicherung, die weitgehend die öffentliche Wahrnehmung und den politischen Umgang mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit bestimmen, keineswegs ein repräsentatives Gesamtbild der Prävalenz von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, und damit auch des eigentlichen Versorgungsbedarfs bzw. der Versorgungssituation in Deutschland, wiedergeben. Denn wir haben wir nach wie vor keine gesicherten und umfassende Kenntnisse oder Daten über die Anzahl der Menschen, deren Hilfe- und Pflegebedürftigkeit unterhalb der Schwelle der „erheblichen Pflegebedürftigkeit“ (Pflegestufe I) liegt, die aber dennoch regelmäßig auf Hilfe bei körperbezogenen und/oder hauswirtschaftlichen Verrichtungen angewiesen sind. Nach einer Schätzung handelte es sich hierbei im Jahre 2002 immerhin um ca. 3 Millionen Menschen (vgl. Infratest Sozialforschung 2003:7ff), von denen „ca. 1,4 Millionen einen täglichen und ca. 1 Million einen mehrfach wöchentlichen Hilfebedarf aufweisen“. Man stößt hier also auf eine grundsätzliche Problematik und es zeigt sich, dass die Daten der amtlichen Statistiken der Pflegeversicherung ihre Repräsentativität verlieren, sobald ein anderer Begriff bzw. eine andere Definition von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zugrunde gelegt wird. Das heißt, man sollte sich stets darüber im Klaren sein, dass, sobald und solange im pflegepolitischen Diskurs ausschließlich anhand von Daten der Pflegeversicherungsstatistik argumentiert 99
wird, mögliche Problemlagen im Bereich der Versorgung Hilfe- und Pflegebedürftiger niemals in ihrer Gesamtheit erfasst werden. Denn Daten der Pflegeversicherung sind immer nur das Ergebnis von Begutachtungs- und Bewilligungsverfahren, im Kern also Daten über die Vorbereitung und Durchführung von Verwaltungsakten. Nicht mehr und nicht weniger (vgl. Simon 2003).
3.2 Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in privaten Haushalten Bleiben wir zunächst bei den Daten der amtlichen Pflegeversicherungsstatistik. Wie bereits anhand der vorangegangenen Abbildung (1) ersichtlich wurde, kann auf dieser Grundlage ermittelt werden, wie sich der Anteil der Leistungsarten der Pflegeversicherung über die Anzahl der Leistungsempfänger verteilt. Für die gesetzliche wie die private Pflegeversicherung ergibt sich demnach für das Jahr 2003, dass von den insgesamt amtlichen 2,08 Millionen Pflegebedürftigen (nach SGB XI) rund 48 Prozent zu Hause und ausschließlich durch informelle Pflegepersonen gepflegt wurden (ermittelbar auf der Grundlage der Empfänger von Pflegegeldleistungen) und rund 21 Prozent, die ebenfalls zu Hause von informellen Helfern, jedoch unter Zuhilfenahme professioneller Pflegedienste (Empfänger von Pflegesach- und Kombinationsleistungen), betreut wurden. Demnach leben zurzeit fast 70 Prozent der gesamten Leistungsempfänger der Pflegeversicherung in einem privaten Haushalt, wobei von diesen fast 50 Prozent ausschließlich informelle Hilfe- und Betreuungsleistungen durch Angehörige oder sonstige Bezugspersonen aus dem sozialen Nahbereich erhalten. Das heißt, der private Haushalt ist der zentrale Ort der Betreuung und Versorgung und damit die grundlegende Versorgungsform Hilfe- und Pflegebedürftiger in Deutschland. Es ist vor diesem Hintergrund also völlig gerechtfertigt, die Familie nach wie vor als den „größte(n) Pflegedienst der Nation“ (vgl. Steylaers 2005) zu bezeichnen. Die bedeutende Rolle der informellen Angehörigenpflege wird auch im Rahmen des von Infratest Sozialforschung durchgeführten und vom Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend in Auftrag gegebene Forschungsprojekts „Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in privaten Haushalten“ (nachfolgend als MuG-Forschungsprojekt abgekürzt) bestätigt. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts wurden im Jahre 1991 (also noch vor Einführung der Pflegeversicherung; vgl. Schneekloth et al. 1996) zum ersten Mal überhaupt belastbare Repräsentativdaten in Deutschland zu Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten für das gesamte Bundesgebiet erhoben und vertiefende Untersuchungen zu den Bedingungen und Konsequenzen von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit unternommen (nachfolgend abgekürzt als MuG I-Studie). Im Jahre 2002 wurden im Rahmen des MuG-Forschungsprojekts erneut Repräsentativda100
ten gesammelt sowie weitere vertiefende Analysen zur Situation von Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten durchgeführt (nachfolgend abgekürzt als MuG III-Studie; vgl. Schneekloth/ Wahl 2005). Bei einem Querschnittsvergleich der 1991 gesammelten Daten (MuG I-Studie) mit den Daten von 2002 (MuG IIIStudie) konnte Infratest Sozialforschung anhand von Repräsentativdaten die relative Stabilität der häuslichen Pflegearrangements seit Einführung der Pflegeversicherung nachweisen: Abbildung 2:
Häusliche Pflegearrangements (in %)
Quelle: TNS Infratest Sozialforschung 2005 Die Abbildung zeigt, dass sich die ausschließlich private informelle Pflege zwischen 1991 und 2002 zwar um 3%-Punkte zurückentwickelt hat, wohingegen die private und professionelle Pflege um 4%-Punkte angestiegen ist, jedoch resümieren die Autoren der MuG III-Studie in ihrem Abschlussbericht, dass „die ‚informelle Trägerschaft’ der Pflege und Betreuung stabil (bleibt)“ (vgl. Infratest Sozialforschung 2005). Zwar erweist sich „die häusliche Pflege gleichzeitig noch immer als fragil. Die pflegenden Angehörigen sind überlastet und auch bei der Pflege zu Hause finden sich Lücken in der Versorgung“ (vgl. ebenda). Jedoch: „Von einer Tendenz zur Aufkündigung der Solidarität zwischen unbeeinträchtigt und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmenden Menschen sowie Hilfebedürftigen, die entsprechende Einschränkungen aufweisen, kann in der empirischen Wirklichkeit momentan keine Rede sein. (…) Zentral für diese Entwicklung sind die Effekte der Mitte der 90er Jahre eingeführten Pflegeversicherung, die als Rahmenbedingung einen maßgeblichen Anteil an dieser Stabilisierung der häuslichen Pflege gehabt haben dürfte. Die häuslichen Pflegearrangements er101
weisen sich vor dem Hintergrund der Effekte des demographischen Wandels als flexibel und anpassungsfähig. Es finden sich Lösungen, bei denen neue Akteure einbezogen sind und bei denen Elemente einer neuen Kultur des Helfens aufscheinen“ (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:230,231). Und der Dritte Altenbericht zur Lage der älteren Generation der Bundesregierung resümiert: „Im häuslichen Bereich hat die Pflegeversicherung einen bemerkenswerten Beitrag zur Stabilisierung geleistet und insbesondere zu einer spürbaren Entlastung der Angehörigen beigetragen“ (vgl. Dritter Altenbericht 2001:24). Wie wir wissen, postuliert das SGB XI einen grundsätzlichen „Vorrang der häuslichen Pflege“: „Die Pflege soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können“ (§ 3 SGB XI).
Sehen wir uns die Daten der amtlichen Pflegeversicherungsstatistik 2003 an (vgl. Abbildung 1) sowie die Repräsentativdaten im Rahmen des MuG-Forschungsprojekts (vgl. Abbildung 2), so scheint die Pflegeversicherung das in § 3 SGB XI postulierte Ziel zu erreichen. Fragen wir also: Ist die Pflegeversicherung als familienergänzende Sozialversicherung samt ihrer Forderung nach einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ nach dem Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“ bislang ein Erfolgsmodell?
3.3 Ist die Pflegeversicherung als familienergänzende Sozialversicherung bislang ein Erfolg? Rufen wir uns das im vorangegangenen Kapitel Dargestellte in Erinnerung, so erscheint diese Frage fast schon überflüssig. Angesichts der verfügbaren Daten der Pflegeversicherungsstatistik des Statistischen Bundesamtes sowie der Ergebnisse der aktuellen MuG-Studie (III) deutet nichts darauf hin, dass der von der Pflegeversicherung fiktiv unterstellte Sockel vorhandener familiärer, nachbarschaftlicher oder sonstiger ehrenamtlichen Unterstützungsleistungen, auf den die explizit nicht bedarfsdeckende Pflegeversicherung mit sämtlichen ihrer Leistungen im ambulanten Bereich aufbaut, von Erosion befallen sein könnte. Immerhin, wenn gegenwärtig über zwei Drittel der Empfänger von Pflegeversicherungsleistungen in privaten Haushalten versorgt werden, so ist dieses ein beachtlicher Wert. Und auch wenn zwischen 1991 und 2002 – trotz Einführung der Pflegeversicherung und ihrer Leistungen – ein Rückgang der ausschließlich privat geleisteten Pflege im Rahmen häuslicher Pflegearrangements von 3 Pro102
zent zu verzeichnen ist (vgl. Infratest Sozialforschung 2005), so ist auch dies sicherlich noch kein ausreichender Anlass, die Fähigkeit und die Bereitschaft der privaten Solidarpotentiale zur informellen Pflege grundsätzlich in Gefahr zu sehen. Die Frage sei dennoch gestellt: Ist die informelle Trägerschaft der Pflege und Betreuung tatsächlich so stabil wie es zu sein scheint, und trägt gerade die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen hierzu bei, oder verfehlt die Pflegeversicherung bei genauerer Betrachtung doch eines ihrer wesentlichsten Ziele, nämlich den „Vorrang der häuslichen Pflege“ und die Stabilisierung der häuslichen Pflegearrangements? Und zu eben diesem, und vor dem Hintergrund der soeben vorgestellten Daten sicherlich erstaunlichen Ergebnis, gelangt Simon (2003) auf der Grundlage einer Analyse der Leistungsentwicklung der Gesetzlichen Pflegeversicherung in den Jahren zwischen 1997 und 2001: „Dieses Ziel (der „Vorrang der häuslichen Pflege“, Anm. M.D.) scheint nach sieben Jahren Umsetzung der Pflegeversicherung nicht erreicht worden zu sein“ (vgl. ebenda, S. 48). „Vor allem aber ist es Zeit Abschied zu nehmen von der Vorstellung, die Pflegeversicherung könne über lediglich famlienergänzende Leistungen ein Verbleiben in der gewohnten häuslichen Umgebung ermöglichen. Diese Annahme verfehlt derzeit offenbar in zunehmendem Maße die soziale Realität“ (vgl. ebenda, S. 78, 79). Und Simon empfiehlt deshalb die „Aufgabe der Leitvorstellung von einer lediglich famlienergänzenden Pflegeversicherung und Anpassung an die soziale Realität … .“ (vgl. ebenda, S. 76).
Empirische Grundlage für das ernüchternde, wenn nicht gar vernichtende Resümee, die Pflegeversicherung sei als familienergänzende Sozialversicherung bereits heute gescheitert, ist, wie bereits angemerkt, eine Analyse der Leistungsentwicklung der Gesetzlichen Pflegeversicherung, insbesondere hinsichtlich einer zu beobachtenden Verschiebung des Spektrums der Pflegstufen sowie der Veränderungen in der Inanspruchnahme der Leistungsarten der Gesetzlichen Pflegeversicherung. Nachfolgend soll nun die Simon’sche Analyse nachvollzogen, jedoch durch aktuellere Daten ergänzt werden. Demnach zeigt sich für die Jahre 1997 bis 2003 folgendes Bild:40
40
Obgleich die Pflegeversicherung bereits 1995 in Kraft trat, wird für die folgenden Ausführungen das Jahr 1997 zur Ausgangsbasis genommen, da in diesem Jahr erstmals auch die stationären Leistungen vollständig in die Pflegeversicherungsstatistik eingegangen sind (Beginn der stationären Leistungen: 1.7.1996).
103
Tabelle 9: Gesetzliche Pflegeversicherung: Veränderungen der Anzahl der Leistungsempfänger nach Pflegestufen 1997-2003, absolut und in Prozent 1997
2003
1997-2003 in (%)
1.198.103
1.279.907
+ 6,8
Pflegestufe I
568.768
732.495
+ 28,8
Pflegestufe II
486.338
424.202
- 12,7
Pflegestufe III
142.997
123.210
- 13,8
Stationär
462.607
613.274
+ 32,6
Pflegestufe I
159.467
237.768
+ 49,1
Pflegestufe II
189.862
254.065
+ 33,8
Pflegestufe III
113.278
121.441
+ 7,2
1.660.710
1.893.181
+ 14
Pflegstufe I
782.235
970.263
+ 33,2
Pflegestufe II
676.200
678.267
+ 0,3
Pflegestufe III
256.275
244.651
- 4,5
Ambulant
Insgesamt
Quelle: Bundesregierung 2004:115, eigene Berechnungen
104
Tabelle 10: Leistungsempfänger der Gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach Leistungsarten, 1997-2003, absolut Leistungsart
3.716
5.065
5.633
425.682
38.408
1.727.414
1998
962.669
133.895
171.764
4.070
6.774
6.199
452.750
56.543
1.794.664
1999
982.877
152.648
192.556
5.716
8.673
7.146
485.014
53.875
1.888.505
2000
954.684
159.693
193.018
6.313
10.287
7.696
494.793
55.641
1.882.125
2001
962.130
161.653
201.667
7.495
12.177
8.108
513.377
58.446
1.925.053
2002
977.327
165.679
205.322
8.841
13.148
8.615
532.278
60.428
1.971.638
2003
968.289
169.580
202.710
10.362
13.864
9.317
540.070
63.104
1.977.296
Insges.
Kombinationsleistung
Vollstationäre Pflege in Behindertenheimen
Vollstationäre Pflege
157.543
Tages- und Nachtpflege
119.428
Urlaubspflege
971.936
Pflegesachleistung
1997
Pflegegeld
Kurzzeitpflege
Jahr
Quelle Bundesregierung 2004:116 Auf der Grundlage von Tabelle 10 ergeben sich nun Veränderungen in der Inanspruchnahme von Pflegeversicherungsleistungen zwischen 1997-2003: Tabelle 11: Gesetzliche Pflegeversicherung: Leistungsarten – Veränderungen in den Jahren 1997-2003 in Prozent Leistungsart
Veränderungen 1997-2003 in (%)
Pflegegeld
- 0,4
Pflegesachleistungen
+ 42
Kombinationsleistungen
+ 28,6
Urlaubspflege
+ 178,8
Tages- und Nachtpflege
+ 173,7
Kurzzeitpflege
+ 65,4
Vollstationäre Pflege
+ 26,8
Vollstationäre Pflege in Behindertenheimen
+ 64,3
Eigene Berechnungen 105
Wie aus den Tabellen 9-11 entnommen werden kann, lassen sich auf der Basis der statistischen Angaben des „Dritten Berichts über die Entwicklung der Pflegeversicherung“ (vgl. Bundesregierung 2004) in den Jahren zwischen 1997 und 2003 folgende dominierende Trends zusammenfassen:
Eine deutliche Verlagerung von den Geld- zu den Sachleistungen Eine deutliche Verschiebung im Pflegestufenspektrum von den höheren zu niedrigeren Pflegestufen Eine deutlich überproportionale Zunahme der vollstationären Pflege (vgl. auch Simon 2003:11)
Diese drei Trends lassen sich auf den ersten Blick nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Tabelle 9 zeigt insbesondere im ambulanten Bereich eine eindeutige Verschiebung im Pflegestufenspektrum hin zur niedrigsten Pflegestufe I. In Pflegestufe I ist die Anzahl der Leistungsempfänger im ambulanten Sektor der häuslichen Pflege zwischen 1997 und 2003 um +28,8 Prozent angestiegen, während im gleichen Zeitraum die Anzahl der Leistungsempfänger in der Pflegestufe II um -12,7 Prozent zurück ging und in der Pflegestufe III um 13,8 Prozent. Gleichzeitig ist während dieses Zeitraums die Inanspruchnahme von Pflegegeldleistungen insgesamt um -0,4 Prozent gesunken, wohingegen die Pflegesachleistungen um +42 Prozent und die Kombinationsleistungen um +28,6 Prozent angestiegen sind. Simon (2003) kann in seiner Untersuchung bis zum Jahre 2001 aufzeigen, dass der Anstieg von Pflegesach- und Kombinationsleistungen vor allem in der niedrigsten Pflegestufe I erfolgt ist:
106
Tabelle 12: Gesetzliche Pflegeversicherung: Leistungsempfänger nach Leistungsarten Pflegestufen; Veränderungen von 1997 bis 2001, in Prozent Leistungsart
Leistungsempfänger Pflegestufen I
II
insgesamt
III
Härtefälle
Pflegesachl.
56,2
17,0
15,1
Pflegegeld.
18,0
- 18,3
- 21,2
Kombinationsl.
71,6
16,3
- 3,4
32,6
28,0
Vollstationäre Pflege
33,8
27,2
-4,3
73,2
20,6
Vollstationäre Pflege in Behindertenheimen
23,2
3,6
35,4 1,0
52,2
Quelle: Simon 2003:13, gekürzte Darstellung Nun sollte man die auffällige Verschiebung des Pflegestufenspektrums seit Einführung der Pflegeversicherung hin zu den niedrigsten Pflegestufen (vgl. Tabelle 9) eigentlich als ein gravierender Rückgang der durchschnittlichen Schwere der Pflegebedürftigkeit innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums deuten. Jedoch gibt es hierfür keinerlei empirische Anhaltspunkte. So wird beispielsweise auch im Rahmen der MuG-III Studie festgestellt, dass sich im Untersuchungszeitraum zwischen 1991 und 2002 „am grundsätzlichen Risiko einer möglichen Pflegebedürftigkeit … nichts relevantes verändert hat“ (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:67). Gegen die Deutung einer erheblichen Verbesserung des Gesundheitszustandes Hilfe- und Pflegebedürftiger innerhalb der letzten Jahre sprechen aber vor allem der Rückgang der Pflegegeldleistungen sowie der gleichzeitige erhebliche Anstieg der Inanspruchnahme von Pflegesach- und Kombinationsleistungen41 (also die Inanspruchnahme professioneller pflegerischer Dienstleistung, insbesondere bereits in Pflegestufe I) sowie der deutliche Trend hin zur stationären Versor41
Im Rahmen von MuG-III konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass insbesondere solche Pflegehaushalte bzw. Hilfe- und Pflegebedürftige die professionellen Sachleistungen der Pflegeversicherung nutzen, bei denen ein intensiverer medizinischer Behandlungs- und Versorgungsbedarf vorliegt (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:82).
107
gung (auch hier vornehmlich in den niedrigsten Pflegestufen I und II) und ebenso der Anstieg der Härtefälle, also jener Leistungsempfänger, die aufgrund der besonderen Schwere der Pflegebedürftigkeit, Leistungen erhalten, die über die Pflegestufe III hinausgehen. Es stellt sich also die Frage, wie es seit 1997 zu einer solchen Verschiebung im Pflegestufenspektrum hin zu den niedrigeren Pflegestufen kommen kann, wenn dieser Wandel im Spektrum „objektiv gegebener“ Pflegebedürftigkeit nicht zu erklären ist. Neben einer Reihe anderer Faktoren, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird, sieht Simon (2003) die auffälligen Verwerfungen in der Pflegestufenverteilung innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums vor allem als das Ergebnis finanzwirtschaftlicher Steuerungen der Pflegeversicherung, zumindest „kann die Konstruktion der Pflegeversicherung einen solchen Verdacht nahe legen“ (vgl. ebenda, S. 37ff). Denn, wie bereits an mehreren Stellen dieser Arbeit deutlich wurde, verfolgt die Pflegeversicherung den Grundsatz der Beitragssatzstabilität. Dieser verpflichtet die Pflegekassen sicherzustellen, „dass ihre Leistungsausgaben die Beitragseinnahmen nicht überschreiten“ (vgl. § 70 SGB XI). Und dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass Pflegebedarfe im Prinzip nur bis zu der Grenze von MDK und Pflegekassen berücksichtigt und anerkannt werden (dürfen), die mit dem gegebenen Beitragssatz auch finanzierbar sind. Angesichts einer Zunahme der Zahl der Leistungsempfänger und des beschriebenen und seit Jahren anhaltenden Trends von den Geldleistungen zu den teureren Sach- und Kombinationsleistungen sowie insbesondere des deutlichen Anstiegs der erheblich teureren stationären Inanspruchnahme, hätte es eigentlich in den letzten Jahren zu einem überproportionalen Anstieg der Ausgaben der Gesetzlichen Pflegeversicherung kommen müssen. Jedoch zeigt ein Blick auf die Ausgabenstatistik der Gesetzlichen Pflegeversicherung, dass sich der Anstieg der Anzahl der Leistungsempfänger sowie der Anstieg der Ausgaben der Gesetzlichen Pflegeversicherung erstaunlicherweise recht genau die Waage halten.
108
Tabelle 13: Anzahl der Leistungsempfänger und Ausgaben der Gesetzlichen Pflegeversicherung in Deutschland 1997-2004, Stand Mai 2005 Jahr
Leistungsempfänger, absolut
Ausgaben, in Mill. Euro
1997
1.661.000
15178
2004 (1)
1.926.000
17692
+ 16%
+ 16,56%
Veränderungen zwischen 1997 und 2004, in%
(1) 2004 vorläufiges Ist-Ergebnis ohne Berücksichtigung der zeitlichen Rechnungsabgrenzung Quelle: BMGS, eigene Berechnungen Dass es trotz der beschriebenen Veränderungen im Inanspruchnahmeverhalten der Empfänger von Pflegeversicherungsleistungen hin zu den teureren Pflegeversicherungsleistungen nicht zu einem überproportionalen Anstieg der Ausgaben der Pflegeversicherung gekommen ist, lässt sich auf eben jene auffällige Verschiebung im Pflegestufenspektrum, insbesondere im ambulanten Sektor, zurückführen (vgl. Simon 2003:39). Weitere Auffälligkeiten in der Leistungsstatistik der Pflegeversicherung, die kaum durch Zufälle erklärt werden können, können auf der Grundlage einer Analyse der Verteilung oder Entwicklung der von den MDKs empfohlenen und den Pflegekassen bewilligten Pflegeminuten herausgearbeitet werden: Trotz einer Zunahme der Gesamtzahl der Leistungsempfänger um 10,8 Prozent im Zeitraum zwischen 1997 und 2001 und der teilweise erheblichen Veränderungen im Pflegestufenmix stieg die Gesamtsumme der bewilligten Pflegeminuten in diesem Zeitraum nur um 5,2 Prozent und blieb damit vollkommen im Rahmen der Entwicklung der Einnahmen, die im gleichen Zeitraum um 5,4 Prozent anstiegen. Dies lasse, so Simon (2003:40), die Schlussfolgerung zu, den Pflegestufenmix als ein System kommunizierender Röhren zu betrachten. Sobald in eine Röhre (Neuzugänge/vor allem Pflegestufe I in der ambulanten Pflege) mehr eingefüllt wird, kann ein Überlaufen des Gesamtsystems nur dann verhindert werden, wenn an anderer Stelle Volumen abgelassen wird, mit anderen Worten also deutlich niedriger eingestuft wird. Obwohl es für die Existenz derartigen Steuerungsprozesse in den MDKs und Pflegekassen bislang keine Hinweise in der Literatur oder gar Belege gebe, könne sich angesichts der vorliegenden Zahlen allerdings „sehr wohl die Frage danach aufdrängen“ (vgl. ebenda.). Und in der Summe bedeutet dies auch, dass die Validität der Begutachtungen durch den MDK weitgehend in Zweifel zu ziehen ist, womit gleichzeitig ausgesagt wäre, dass die statistischen Daten der Pflegeversicherung für die Beurteilung der Schwere der Pflegebedürftigkeit in Deutschland als 109
„weitgehend wertlos“ einzuschätzen sind (vgl. ebenda, S. 43). Unter diesen Annahmen lässt sich allerdings sehr gut erklären, und damit kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, wie es zu dieser auffälligen Verschiebung im Pflegestufenspektrum hin zu den niedrigeren Pflegestufen kommen konnte. Immer unter der Voraussetzung, dass es gerechtfertigt ist, die auffällige Zunahme der Leistungsempfänger in Pflegestufe I bei einer gleichzeitigen Abnahme der Zahl der Leistungsempfänger in den Pflegestufen I und II – gerade im ambulanten Sektor – (vgl. Tabelle 9) maßgeblich als das Ergebnis finanzwirtschaftlicher Steuerung im Rahmen einer unbedingt auf Beitragssatzstabilität ausgerichteten Sozialversicherung zu sehen, hieße dies eben – nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren – dass aus Gründen der Kostenersparnis bzw. der Beitragssatzstabilität zunehmend mehr Hilfe- und Pflegebedürftige in Pflegestufe I gewissermaßen „hinein begutachtet“ werden, obwohl bei ihnen ein Schweregrad an Hilfe- und Pflegebedürftigkeit vorliegt, der unter „objektiveren“ Gesichtspunkten die höheren Leistungen der Stufe II oder III rechtfertigen – und auch notwendig machen würde. Und gerade dadurch trägt die nicht bedarfsdeckende und auf Beitragssatzstabilität verpflichtete Konstruktion der Pflegeversicherung selbst in steigendem Maße zur frühzeitigen Überforderung pflegender Angehöriger bei, die sich schließlich nicht mehr in der Lage sehen, eine ausreichende häusliche Pflege aus eigener Kraft zu gewährleisten. Zumindest ließen sich vor diesem Hintergrund der kontinuierliche Rückgang der Inanspruchnahme von Pflegegeldleistungen, also der reinen Angehörigenpflege sowie die gleichzeitige Zunahme professioneller Pflegedienstleistungen durch die Inanspruchnahme von Pflegesach- und Kombinationsleistungen bereits in der niedrigsten Pflegestufe durchaus schlüssig deuten (vgl. Tabellen 11/12). Und wenn wir uns nun erneut in Erinnerung rufen, dass der Grundabsicherungscharakter der Pflegeversicherung dazu führt, dass bei einem zu Grunde gelegten Pflegestundensatz von 25 Euro für die ambulante Pflege und bei 1,5 Stunden täglicher Pflege durch eine Pflegefachkraft bereits in Pflegestufe I eine finanzielle Eigenbeteiligung von rund 740Euro/Monat aufzubringen ist, dann wird deutlich, dass auch der Bezug von Pflegesachleistungen, auch wenn dieser zunehmend in Anspruch genommen wird, oder sagen wir besser, aus den genannten Gründen in Anspruch genommen werden muss, kaum nennenswert zur Stabilisierung der häuslichen Pflegearrangements beitragen kann.42 Und wenn man nun im Sinne einer Wirkungskette zu Grunde legt, dass 42
110
Im Rahmen einer Studie zu den „Wirkungen der Pflegeversicherung“ hat eine InfratestRepräsentativerhebung ergeben, dass im Jahre 1998 39 Prozent der Pflegebedürftigen West und 43 Prozent der Pflegebedürftigen Ost in Privathaushalten über ein verfügbares Nettoäquivalenzeinkommen unter 1500DM pro Person im Haushalt verfügten (vgl. Schneekloth/ Müller 1999:37). Das heißt, um eine ausreichende Entlastung und Stabilisierung der häuslichen Pflegearrangements zu erreichen, müssten finanzielle Eigenleistungen in einem Ausmaß erbracht
„der Wechsel von der häuslichen Umgebung in ein Heim in der Regel (…) dann erfolgt, wenn häusliche Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder aber einen professionellen Pflegedienst nicht oder nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleistet ist“ (vgl. MDS 2000:64) bzw. der Wechsel in ein Heim für Pflegebedürftige und Angehörige in der Regel „… dann in Frage kommt, wenn die ‚Grenzen der häuslichen Pflege’ erreicht (sind)“ (vgl. Schneekloth/ Müller 1999:86), dann lässt sich hierüber wiederum auch der überproportionale und anhaltende Trend hin zur stationären Versorgung Pflegebedürftiger mit einem Zuwachs von immerhin +32,6 Prozent (!) (Zuwachs ambulanter Sektor + 6,8 Prozent) zwischen 1997 und 2003 erklären (vgl. Tabelle 9). Zurück zur Ausgangsfrage: Ist die Pflegeversicherung als familienergänzende Sozialversicherung bislang ein Erfolg und ist es ihr gelungen, den Grundsatz „ambulant vor stationär“ durch den „Vorrang der häuslichen Pflege“ sowie die Unterstützung der Angehörigen zu gewährleisten und umzusetzen? Was anfangs als fast schon überflüssige Frage angesichts der nach wie vor immer noch „bedeutendsten Versorgungsform informelle Pflege im Privathaushalt“ erschien, muss bei einer näheren Betrachtung im Zeitverlauf doch erheblicher Ernüchterung und Relativierung weichen. Fassen wir zusammen: Ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl der reinen Pflegegeldempfänger, eine ebenso kontinuierliche Zunahme der Empfänger von Pflegesach- und Kombinationsleistungen (bereits in der untersten Pflegestufe) sowie vor allem der überaus deutliche und überproportionale Anstieg der stationären Inanspruchnahme (auch hier in den unteren Pflegestufen) – und all dies in einem Zeitraum von nur sechs Jahren – sprechen wahrlich nicht dafür, dass die Pflegeversicherung das Ziel „ambulant vor stationär“ durch eine Unterstützung und Stabilisierung der häuslichen Pflege erreicht hätte. Und, wie aufgezeigt wurde, gibt es gute Gründe für die Annahme, dass es die Pflegeversicherung selbst ist, die auf der Grundlage ihre finanzwirtschaftlichen Konzeption dazu beiträgt, die informelle Pflege in den häuslichen Pflegearrangements frühzeitig zu überfordern und dadurch zu destabilisieren. Kurz: „Die Kosten zu deckeln und gleichzeitig die ambulante Pflege zu priorisieren, funktioniert nicht“ (vgl. Runde et al. 2003:64). So lapidar kann und muss man das wohl ausrücken. Und dies zeigt, dass auch eine „Sozialpolitik aus der Nähe“ bzw. „eine neue Kultur des Helfens“, selbst bei einer unterstellten hohen Bereitschaft und Fähigkeit zur informellen Pflege, nicht (fast) umsonst zu haben ist. Eigenleistungen, mit anderen Worten, der „Vorrang der häuslichen Pflege“, kann nicht erzwungen werden. Die Zielverfehlung der Pflegeversicherung, nämlich den „Vorrang der ambulanten Pflege“ offensichtlich nicht zu erreichen und die häusliche Pflege tendenziell eher zu destabilisieren, sei (nach Simon 2003) werden, das vom Gros der Pflegehaushalte, wie die Infratest-Studie aufzeigt, nicht erbracht werden kann. Vgl. auch Kapitel 4.4.
111
jedoch nicht nur auf spezifische und der Pflegeversicherung inhärente Ursachen zurückzuführen, sondern der Gesamtzusammenhang der vorliegenden Daten43 deute auch auf „einen Rückzug durchschnittlicher familiärer Pflegeleistungen je Pflegebedürftigem hin“ (vgl. Simon 2003:14). Also auf einen Prozess der „Erosion familiärer Pflegepotentiale“, der „wesentlich durch externe Faktoren beeinflusst“ ist (vgl. ebenda, S.15; auch Schulz/ Leidl/ König 2001). Und spätestens an dieser Stelle stellt sich nun die Frage nach den Lebens- und Strukturmerkmalen (Lebensbedingungen) sowohl der Hilfe- und Pflegebedürftigen selbst als auch ihrer informellen privaten Pflegepersonen.
3.4 Strukturmerkmale von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in privaten Haushalten Nun weiß man auf der Grundlage der Daten der Pflegeversicherungsstatistik zwar wie sich die Zahl der Leistungsbezieher in einem bestimmten Zeitraum entwickelt und auch wie sich deren Inanspruchnahme von Pflegeversicherungsleistungen verändert. Und aus einer entsprechenden Analyse des Gesamtzusammenhangs dieser Daten ergeben sich, wie dargestellt, bereits Hinweise darauf, dass die familiären, informellen Hilfe- und Pflegeleistungen je Pflegebedürftigem bereits seit Einführung der Pflegeversicherung rückläufig sind. Wie sich die Pflege im Rahmen der häuslichen Pflegearrangements jedoch konkret gestaltet, also wer insbesondere unter soziodemographischen Gesichtspunkten die informelle Pflege leistet, unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Bedingungen, darüber geben die Daten der Pflegeversicherungsstatistik selbst keine Auskunft. Wenn also auf der Ebene der Versorgung und Betreuung von Hilfe- und Pflegebedürftigen im Rahmen häuslicher Pflegearrangements der Frage nachgegangen werden soll, ob sich hier tatsächlich bereits Erosionstendenzen hinsichtlich der Fähigkeit und Bereitschaft informelle Pflegeleistungen zu erbringen abzeichnen, und auf welche maßgeblichen, der Pflegeversicherung externen Einflussfaktoren dieser Rückgang zurückzuführen ist, dann können wir nach wie vor nur auf „wenige belastbare empirische Informationen“ zurückgreifen (vgl. Schupp/ Künnemund 2004:1). Das heißt, es kann oder vielmehr muss an dieser Stelle zunächst ein erhebliches Missverhältnis konstatiert werden zwischen der 43
112
In den Gesamtzusammenhang der aus der Leistungsentwicklung der Pflegeversicherung zu entnehmenden Daten wäre bspw. auch der seit dem Jahre 1997 kontinuierliche Rückgang der Zahl der pflichtversicherten Pflegepersonen in der Gesetzlichen Rentenversicherung einzureihen (vgl. „Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung, in: http://www.bmg.bund.de/cln_041/nn _604244/DE/Themenschwerpunkte/Pflegeversicherung/Zahlen-und-Fakten/zahlen-und-faktennode,param=.html__nnn=true). Auch dies kann als Indiz rückläufiger familiärer Pflegeleistungen gedeutet werden.
außerordentlich hohen Bedeutung der informellen häuslichen Pflege im Rahmen der Gesamtkalkulation der Pflegeversicherung einerseits und dem vergleichsweise geringen wissenschaftlichen Kenntnisstand hierüber andererseits. Auf welche empirischen Informationen können wir und also dennoch stützen? An erster Stelle wäre hier das bereits zitierte und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebene und von Infratest Sozialforschung durchgeführte Forschungsprojekt „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in privaten Haushalten“ (MuG I- und MuG III-Studie) zu erwähnen sowie die vom Bundesministerium für Arbeit in Auftrag gegebene und ebenfalls von Infratest Sozialforschung durchgeführte Studie „Wirkungen der Pflegeversicherung“ (vgl. Schneekloth/ Müller 1999). Diese Studie ist gerade in Zusammenhang mit dem MuG-Forschungsprojekt interessant, und somit auch im vorliegenden Fragekontext, da die Erhebungen im Rahmen dieser Studie so angelegt waren, dass „ein möglichst großer Teil der Ergebnisse mit den bereits von Infratest im Vorfeld der Einführung der Pflegeversicherung in privaten Haushalten (Infratest 1991, [also die MuG I-Studie, Anm. M.D.]) … vergleichbar wurde (vgl. Schneekloth/ Müller 1999:5). Das heißt, wenn man die Ergebnisse der MuG I/III-Studie sowie die Ergebnisse der Studie „Wirkungen der Pflegeversicherung“ zusammenführt, kann man in einem Querschnittsvergleich über die Jahre 1991, 1998, 2002 mögliche Veränderungen in den Lebenslagen und den Strukturmerkmalen bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in privaten Haushalten nachvollziehen. Neben diesen Repräsentativstudien kann des Weiteren auf Untersuchungsergebnisse der Arbeitsstelle für Rehabilitations- und Präventionsforschung der Universität Hamburg zurückgegriffen werden, die seit 1996 die Auswirkungen des Pflegeversicherungsgesetzes auf die häusliche Pflege unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels erforscht (vgl. Runde et al. 2003). Auf der Grundlage mehrerer Befragungen können die hier gewonnen Ergebnisse als Querschnittsvergleich der Jahre 1997 und 2002 wiedergegeben werden. Allerdings resultiert das Datenmaterial dieser Untersuchung ausschließlich aus schriftlichen, bundesweit durchgeführten Befragungen unter AOK-Leistungsempfängern: „Wegen der Begrenzung auf AOK-Versicherte sind die Zahlen nicht repräsentativ für alle gesetzliche und privat Versicherten, geben aber durchaus die relevanten Größenordnungen wieder“ (vgl. ebenda, S. 6).44 Obgleich also das über mehrere Jahre angelegte Forschungsprojekt der Hamburger Arbeitsstelle für Rehabilitations- und Präventionsforschung keine repräsentativen Daten liefert, ist diese Studie dennoch ausgesprochen interessant, da diese, anders als das MuG-Forschungsprojekt, auch einen Schwerpunkt auf die Erforschung des Wandels von Einstellungen und Verhalten von Hilfe- und Pflegebe44
Bei den AOKen sind derzeit deutlich mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen versichert (vgl. Rothgang 2005).
113
dürftigen und deren Pflegepersonen zur häuslichen Pflege legt. Neben diesen wenigen, aber umfassenden Forschungsprojekten, die ein verhältnismäßig breites Spektrum der Merkmale häuslicher Pflege in Betracht nehmen, kann darüber hinaus auf verschiedene einzelne Untersuchungen rekurriert werden, die jeweils bestimmte Aspekte der häuslichen Pflege beleuchten, bspw. zu den physischen wie psychischen Belastungen der Hauptpflegepersonen oder den Einfluss der Übernahme häuslicher Pflege auf das Erwerbsverhalten informell pflegender Personen. Obgleich wir uns also im Vergleich zur außerordentlichen Bedeutung der informellen Pflege bzw. einer „neuen Kultur des Helfens“ im Kontext der konzeptionellen Ausgestaltung der Pflegeversicherung nur auf vergleichsweise wenige vorhandene empirische Daten zu den Merkmalen der häuslichen Pflegearrangements stützen können, sollen nachfolgend diese Daten unter der gezielten Fragestellung nach möglichen Erosionstendenzen der informellen ambulanten Pflegleistungen zusammengeführt und analysiert werden. Dabei soll zunächst der Blick auf die Lebenslagen und Strukturmerkmale der Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten selbst gerichtet werden und sodann auf die privaten Pflegepersonen, die diese Pflege leisten. Daran anschließend werden die normativen und motivationalen Grundlagen zur Übernahme informeller häuslicher Pflegeleistungen beleuchtet und abschließend im Gesamtzusammenhang nach möglichen Erosionstendenzen der informellen Pflege bzw. der häuslichen Pflegearrangements gefragt. 3.4.1 Lebens- und Strukturmerkmale Hilfe- und Pflegebedürftiger in privaten Haushalten Wie bereits an vorangegangener Stelle beschrieben, ist es – trotz Pflegeversicherungsstatistik – nach wie vor ausgesprochen schwierig, sich ein Gesamtbild über die Anzahl der Menschen zu machen, bei denen eine Hilfe- und Pflegebedürftigkeit vorliegt, da nicht jede Hilfe- und Pflegebedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit an sich Gegenstand des Wirkens der Pflegeversicherung und ihrer Leistungen ist. Ebenso wurde aufgezeigt, dass sich die amtlichen Daten der Pflegeversicherungsstatistik auch hinsichtlich einer Einschätzung oder Beurteilung der Entwicklung des durchschnittlichen Grades der Schwere der Pflegebedürftigkeit als nicht valide erweisen (Stichwort: Prinzip der kommunizierenden Röhren, vgl. Kapitel 3.3). Gerade im Zusammenhang einer nur mangelhaften Repräsentativität und Belastbarkeit der Daten der amtlichen Pflegeversicherungsstatistik gebührt dem Forschungsprojekt „Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in Privathaushalten“ (MuG-Forschungsprojekt) das Verdienst, me114
thodisch auch solche Daten zu Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu erfassen, durch die sich unterschiedliche Größenordnungen bei unterschiedlichen Definitionen von Pflegebedürftigkeit – die auch vom PflegeVG abweichen können – berechnen lassen. Die Untersuchung im Rahmen der jüngsten MuG-Studie (MuG III, vgl. Schneekloth/ Wahl 2005) basiert auf einer repräsentativen Querschnittsbefragung der in Deutschland ansässigen Wohnbevölkerung in Privathaushalten und stützt sich auf Informationen über n = 57.617 streng zufällig ausgewählte Personen aller Altersgruppen. Für die Erhebung wurde eine repräsentative Haushaltsstichprobe gebildet (Stichprobe A: Persönlich-mündliche Befragung im Haushalt), die gezielt durch eine zusätzliche Aufstockungsstichprobe von Haushalten mit Personen ab 70 Jahren ergänzt wurde (Stichprobe B: Nachbefragung von Zielhaushalten aus unabhängig voneinander und vorab durchgeführten Random-Route-Erhebungen). Beide Stichproben wurden zusammengeführt und einheitlich anhand der demographischen Struktur der Wohnbevölkerung in Privathaushalten hochgerechnet (Referenz: Mikrozensus 2002). Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit wird in der Infratest-Studie im Rahmen des MuGForschungsprojekts begrifflich anhand der Regelmäßigkeit mit der typische körperbezogene alltägliche Verrichtungen im Tagesverlauf gemeinhin anfallen, abgegrenzt. Zu diesem Zweck wurde eigens ein Infratest-Pflegeintervallmodell entwickelt (vgl. Schneekloth/ Potthoff 1996:5ff). Im Repräsentativteil der Studie MuG III erfolgte die Einstufung als pflegebedürftig sowie die Zuordnung zu den drei Pflegestufen auf der Grundlage einer Selbst- und Fremdeinschätzung von insgesamt 24 „Aktivitäten des täglichen Lebens“ (ADL) bzw. IADLs („Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens“). Bei ADLs handelt es sich um grundlegende Aktivitäten des täglichen Lebens wie Anziehen und Waschen, während bei IADLs komplexere Aktivitäten des täglichen Lebens wie Mahlzeitenzubereitung oder die Erledigung von Bankangelegenheiten angesprochen sind (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:11). Dabei wurde in der MuG III-Studie auf das gleiche Erhebungsinstrument zurückgegriffen wie bereits in der MuG I-Studie von Anfang der 1990er Jahre (vgl. Schneekloth/ Potthoff 1996). Durch diese Vorgehensweise wird ein direkter Vergleich mit den im Rahmen von MuG I erhobenen Daten (1991) möglich. Entscheidend ist, dass hier eben auch Personen erfasst wurden, die nicht den Pflegestufen des PflegeVG zuordenbar sind. In der aktuellen MuG III-Studie konnten von den insgesamt 57.617 streng zufällig ausgewählten Personen aller Altersgruppen 3.622 Personen mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Haushalten durch Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen identifiziert werden (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:57). Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Vergleich der Daten zu Beginn der 1990er Jahre mit den im Jahre 2002 erhobenen Daten um einen Querschnittsvergleich und nicht um eine Längsschnittstudie handelt. Bislang liegen entspre115
chende Längsschnittstudien, anders als in anderen Ländern, für Deutschland noch nicht vor. Bei einem Vergleich der Ergebnisse der beiden Repräsentativerhebungen von 1991 und 2002 hinsichtlich der Anteile Hilfe- und Pflegebedürftiger in den verschiedenen Altersgruppen erhalten wir zunächst folgende Übersicht: Tabelle 14: Infratest-Pflegeintervallmodell Anteil Hilfe- und Pflegebedürftiger in verschiedenen Altersgruppen der Bevölkerung in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002 1991 (1)
Angaben in % Vorrangig Hilfebedürftige(2)
Regelm. Pflegebedürftige(2)
2002 Vorrangig Hilfebedürftige(2)
Regelm. Pflegebedürftige(2)
Pflegebedürftige SGB XI(3)
Altersgruppen Bis 39 Jahre
0,4
0,4
0,7
0,5
0,4
40-54 Jahre
0,8
0,4
1,4
0,6
0,5
55-64 Jahre
3,0
1,0
3,7
1,1
0,9
65-74 Jahre
7,8
2,7
8,6
2,9
2,8
75-84 Jahre
18,0
8,9
17,7
8,2
8,9
85 Jahre und älter
38,4
31,4
35,0
30,4
29,3
2.150
1.120
2.940
1.450
1.400
Hochgerechnete Absolutzahl (Tsd.)
(1) Korrigierte Hochrechnung: Bevölkerung in Privathaushalten, Stand 1991 (2) Abgrenzung gemäß Infratest-Pflegeinterfallmodell (3) Referenz: Leistungsbezieher gemäß SGB XI
Quelle: Schneekloth/ Wahl 2005:63, TNS Infratest Sozialforschung, MuG III Die Daten der MuG III-Repräsentativerhebung zeigen zunächst, dass Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten erst ab einem Alter über 75 Jahre in relevantem Ausmaß in Erscheinung tritt sowie eine absolute und bedeutsame Zunahme der Anzahl hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in Privathaushalten im Untersuchungszeitraum von 1991 auf 2002. So ist der Anteil der „regelmäßig 116
Pflegebedürftigen“ relativ um etwa 29 Prozent angestiegen und der Anteil der „vorrangig Hilfebedürftigen“, also derjenigen, die Einschränkungen bei den alltäglichen Verrichtungen aufweisen und deshalb einen „täglichen“ (1.361Mio.), „mehrfach wöchentlichen“ (1.064 Mio.) oder „eher seltenen Hilfebedarf“ (0.564 Mio.) benötigen, jedoch ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI sind (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:62), um rund 37 Prozent. Betrachtet man nicht allein die Absolutzahlen, sondern auch den relativen Anteil der Hilfe- und Pflegebedürftigen an den jeweiligen Altersgruppen, so wird sichtbar, dass sich – gemessen am Infratest-Pflegeintervall – die Prävalenz von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit bzw. das Pflegerisiko in der Bevölkerung im Dekadenvergleich nicht wesentlich verändert hat. Der absolute Anstieg von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit muss deshalb primär auf den im Zuge des demographischen Wandels sich vollziehenden Altersstrukturaufbau der Bevölkerung zurückgeführt werden. Und an dieser Stelle wollen wir daran erinnern, dass dieses Ergebnis erneut deutlich zeigt, dass es in den letzten Jahren aufgrund des gleich bleibenden Pflegewahrscheinlichkeitsrisikos auf keinen Fall zu einer solch erheblichen Verschiebung im Pflegestufenspektrum hätte kommen können oder dürfen, wie es die amtliche Pflegeversicherungsstatistik jedoch gerade für den ambulanten Sektor aufweist (vgl. Tabelle 9). Bemerkenswert an den Infratest-Daten ist auch, gemessen an den „regelmäßig Pflegebedürftigen“, der überproportionale Anstieg der „vorrangig Hilfebedürftigen“, also derjenigen, die (noch) keine Leistungen im Sinne des SGB XI beziehen. Hierbei handelt es sich insbesondere unter sekundären und tertiären Präventionsgesichtspunkten um eine hochrelevante Gruppe und dies zeigt zum einen die Bedeutung und Notwendigkeit rechtzeitiger rehabilitativer Intervention45 und andererseits den hohen Bedarf an so genannten niederschwelligen Angeboten (z. B. Beratungsangebote für Angehörige sowie Strukturen, die dazu dienen auch ehrenamtliche Helfer und Helferinnen zu qualifizieren und zu begleiten) oder auch an primär hauswirtschaftlichen Hilfeleistungen. Da der Pflegebedürftigkeitsbegriff nach SGB XI jedoch einen stark medizinischsomatischen Bezug aufweist und Leistungen der Pflegeversicherung eben erst dann einsetzen, wenn bereits eine „erhebliche Pflegebedürftigkeit“ vorliegt, ist damit auch festgelegt, dass es sich beim PflegeVG eben gerade nicht um ein umfassend präventives Gesetz handelt. Entsprechend würde der Aufbau präventiv wirkender Angebote Eigeninvestitionen voraussetzen, die jedoch nicht unmittelbar über die Leistungen der Pflegeversicherung abgerechnet werden können. 45
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass im PflegeVG (§5) Prävention und Rehabilitation zwar ein Handlungsvorrang eingeräumt wird, dieser jedoch, wie bereits dargelegt wurde, insbesondere aufgrund institutionenökonomischer Fehlsteuerung weitgehend verhindert wird (vgl. Kapitel 1.3.2).
117
Hinsichtlich der Beeinträchtigungsprofile der Hilfe- und Pflegebedürftigen zeigt sich, dass sich diese insbesondere in Einschränkungen bei körperbezogenen sowie hauswirtschaftlich-instrumentellen alltäglichen Verrichtungen äußern. Ohne nun im Detail auf die einzelnen Beeinträchtigungsprofile und Ergebnisse einzugehen, konnte die MuG III-Studie aufzeigen, dass Pflegebedürftige der Pflegestufe III bei der Gesamtheit der Verrichtungen, die sich auf die basalen Voraussetzungen einer selbstständigen Lebensführung beziehen, weitgehend hilflos sind. Und bei den Pflegebedürftigen der Stufe II wurde ermittelt, dass immerhin 62 Prozent unmöglich in der Lage sind, sich alleine zu duschen oder zu waschen, fast die Hälfte kann sich nicht alleine an- oder ausziehen. Für die Hilfe- und Pflegebedürftigen der Pflegestufe I gilt, dass sich auch hier immerhin noch 36 Prozent unmöglich alleine waschen können und weitere 48 Prozent können dies nur unter erheblichen Schwierigkeiten. Für den Bereich der hauswirtschaftlich-instrumentellen Verrichtungen wie „einkaufen“, „saubermachen“ oder „Mahlzeiten zubereiten“ zeigen sich über alle Pflegestufen hinweg noch erheblich höhere Werte (vgl. Infratest Sozialforschung 2003:12ff). Nun sind diese Ergebnisse sicherlich nicht sonderlich überraschend, setzt doch bereits die Pflegestufe I per definitionem eine „erhebliche Pflegebedürftigkeit“ voraus. Überraschender sind die Ergebnisse bezüglich des Ausmaßes der kognitiven Beeinträchtigungen, das bei Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten vorliegt. Auf der Grundlage der sog. 6CIT Testung nach Brooke/Bullock (1999) zeigte sich, dass bei immerhin fast der Hälfte der insgesamt 1,4 Mio. Hilfe- und Pflegebedürftigen (Leistungsbezieher nach SGB XI) in Privathaushalten eine „möglicherweise beginnende oder aber bereits vorhandene Demenz“ vorliegt sowie bei 24 Prozent derjenigen, die (noch) keine Leistungen der Pflegeversicherung beziehen:
118
Abbildung 3:
Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten nach vorhandenen kognitiven Einschränkungen(1) – Leistungsbezieher der Sozialen und der Privaten Pflegeversicherung sowie sonstige Hilfebedürftige in Privathaushalten zum Jahresende 2002 (in%):
Quelle: Infratest Sozialforschung 2003:15, (1) 6-CIT>7 (Brook/Bullock 1999) Wenn man nun berücksichtigt, dass die mittlere Prävalenzrate manifester Demenzen, also degenerativer Erkrankungen des Gehirns mit „schwerwiegenden Beeinträchtigungen“, bei den 85 bis 89-Jährigen bei 23,9 Prozent liegt und bei den über 90-Jährigen bei 34,9 Prozent (vgl. Bickel 2002:1) sowie dass fast 30 Prozent der Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten über 85 Jahre alt sind (vgl. Tabelle 14 dieser Arbeit), so wird deutlich, dass bei einem großen Teil der Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten eher eine schwerere kognitive Beeinträchtigung bzw. Demenz anzunehmen ist, die neben der notwendigen Hilfe bei den typischen alltäglichen Verrichtungen ebenfalls einen ganz erheblichen allgemeinen Betreuungs- und Aufsichtsbedarf mit den entsprechenden zeitlichen und vor allem auch psychischen Belastungen für die informellen Pflegepersonen bedingt.46 Hinsichtlich des verfügbaren Einkommens, so die MuG III-Studie, würden sich die Hilfe- und Pflegebedürftigen nicht wesentlich von den Senioren und Seniorinnen insgesamt unterschieden, allerdings geben die Haushalte von Pfle46
So hat die Infratest-Repräsentativerhebung ergeben, dass es für 31 Prozent der kognitiv beeinträchtigten Bezieher von Pflegeversicherungsleistungen in Privathaushalten unmöglich ist, auch nur stundenweise allein zu bleiben (vgl. Infratest-Sozialforschung 2003:16).
119
gebedürftigen deutlich häufiger an, „mit dem verfügbaren Geld nicht gut zurecht kommen zu können“ (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:70;71). Aufgrund des nicht die eigentlichen Bedarfe deckenden Charakters der Pflegeversicherung gehört jedoch die Höhe des Einkommens der Pflegehaushalte, und davon abhängig die Fähigkeit finanzielle Eigenleistungen zu erbringen, wie auch die Bereitschaft hierzu, zu den wichtigsten Ressourcen bei der Sicherstellung der häuslichen Pflege. Es ist also eine entscheidende Frage, und darauf wurde bereits mehrfach aufmerksam gemacht, ob die Pflegehaushalte aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse überhaupt in der Lage sind, gegebenenfalls Pflegedienstleistungen zur Entlastung und Stabilisierung der häuslichen Pflegearrangements in einem nennenswerten Umfang einzukaufen, um so die politische Grundsatzentscheidung der Pflegeversicherung, nämlich den „Vorrang der häusliche Pflege“, letztlich selbst (!) sicherzustellen. Doch sowohl die Infratest-Repräsentativerhebung im Rahmen der Studie „Wirkungen der Pflegeversicherung“ macht deutlich, dass dies für einen großen Teil der Pflegehaushalte aufgrund ihrer Einkommenssituation geradezu unmöglich ist, als auch die Untersuchung von Runde et al. (2003:55) zeichnet in dieser Hinsicht ein eher ernüchterndes Bild:
Haushaltseinkommen
Einpersonenhaushalt (n=210)
Ehepaarhaushalt (n=214)
Zweipersonenhaushalt (n=85)
Mehrpersonenhaushalt (n=321)
Angehörigenhaushalt (n=85)
Haushalt mit pflegebedürftigem Kind bis 18 Jahre (n=31)
Tabelle 15: Haushaltsnettoeinkommen nach Haushaltstyp (Befragung 2002)
bis 499 Euro
10,0
4,7
14,1
4,7
9,4
6,5
500 bis 999 Euro
55,2
21,5
44,7
25,9
38,8
16,1
1000 bis 1499 Euro
31,0
43,3
22,4
28,7
37,6
22,6
1500 bis 2499 Euro
3,3
28,5
14,1
29,9
14,1
41,9
2500 und mehr Euro
0,5
2,3
4,7
10,9
-
12,9
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Gesamt
Quelle: Runde et al 2003:55 120
Tabelle 15 macht deutlich, weshalb es aufgrund der Haushaltseinkommen, insbesondere der Einpersonenhaushalte, aber auch der Zweipersonenhaushalte und der Angehörigenhaushalte, „nicht vorstellbar ist, dass selbst Pflegedienste in größerem Umfang finanziert werden können“ (vgl. Runde et al 2003:55). Ein nennenswerter Anstieg bei den selbstfinanzierten Pflegediensten findet sich entsprechend erst ab einem Haushaltseinkommen von 2500 Euro und mehr (vgl. ebenda, S. 58). Gerade im Zusammenhang mit der Einkommenssituation von Pflegehaushalten ist der Befund interessant, dass auch das Pflegerisiko, ebenso wie das Krankheitsrisiko, sozial ungleich verteilt ist. So konnte beispielsweise eine statistisch hoch signifikante Korrelation zwischen Pflegebedürftigkeit und niedrigem Einkommen nachgewiesen werden. Angestellte und Beamte sind, verglichen mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, unterdurchschnittlich oft von Pflegebedürftigkeit betroffen, Arbeiter, nie erwerbstätig gewesene sowie mithelfende Angehörige hingegen überdurchschnittlich häufig (vgl. Schneekloth/ Müller 1999:37ff). Das heißt, wenn man von einer sozial ungleichen Verteilung des Risikos der Pflegebedürftigkeit ausgeht, so bedeutet dies, dass in Pflegehaushalten die unteren Einkommenssegmente – im Vergleich zur Gesamtheit der Senioren und Seniorinnen, und damit abweichend zum Befund aus MuG III – überrepräsentiert sein müssten. Ob der „Vorrang der häuslichen Pflege“ in Privathaushalten langfristig aufrechterhalten werden kann, hängt jedoch nicht nur vom Schweregrad der körperlichen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen ab, oder von der Höhe der finanziellen Eigenleistungen, die ein Pflegehaushalt gegebenenfalls aufbringen kann, um so für eine nennenswerte Entlastung und Stabilisierung der häuslichen Pflegearrangements zu sorgen, sondern auch, und vor allem, von den Strukturmerkmalen der jeweiligen Familien- und Lebensformen der Hilfe- und Pflegebedürftigen:
121
Tabelle 16: Familien-/Lebensformen – Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002 Angaben in %
Geschlecht Männlich Weiblich Haushaltsgröße 1 Person 2 Personen 3 Personen 4 Personen u. mehr Familienstand Verheiratet Verwitwet Geschieden Ledig Familienform Alleinlebend (Ehe-)Paar im Zweipersonenhaushalt Bei den eigenen Kindern wohnend „Betreutes Wohnen“/Wohngemeinschaft Sonstige Alleinstehende in Mehrpersonenhaushalten Kinder unter 16J. bei den Eltern
Pflegebedürftige (1)
Sonstige Hilfebedürftige (2)
1991
2002
1991
2002
36 64
37 63
34 66
36 64
20 34 23
31 41 16
42 35 13
41 40 11
24
12
10
8
32 43 6 19
31 43 7 19
37 44 5 13
41 36 6 17
20 27 24 0
29 27 25 3
42 28 15 0
40 34 12 1
23 6
11 5
14 1
11 2
(1) Leistungsbezieher der Sozialen (SPV) und der Privaten Pflegeversicherung(PPV) (2) Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI
Quelle: Schneekloth/ Wahl 2005:70, MuG III Betrachtet man zunächst das Geschlecht der in Privathaushalten lebenden Hilfeund Pflegebedürftigen, so wird anhand der Daten aus MuG III, aber auch anhand von Daten des Mikrozensus (vgl. nachfolgend Tabelle 17) deutlich, dass fast zwei Drittel sowohl der Pflegebedürftigen nach SGB XI als auch der „sonstigen Hilfebedürftigen“ weiblichen Geschlechts sind. Dies ist zum einen, und ganz überwiegend, auf die nach wie vor sechs Jahre höhere Lebenserwartung der Frauen den Männer gegenüber zurückzuführen, und zum anderen dürfte zumin122
dest ein gewisser Teil dieser unausgeglichenen Geschlechterproportion auch darauf zurückzuführen sein, dass unter den Pflegebedürftigen seit Einführung der Pflegeversicherung in einem hohen Maße noch die so genannte Kriegsgeneration repräsentiert ist. Auf der Grundlage der nachfolgenden Daten des Mikrozensus 2003 lassen sich die Lebens- und Strukturmerkmale Hilfe- und Pflegebedürftiger in Privathaushalten (Leistungsbezieher nach SGB XI) nach Alter, Geschlecht, Familienstand und Haushaltsgröße differenzierter betrachten:47
47
Da das Risiko der Pflegebedürftigkeit vor dem 75 Lebensjahr fast zu vernachlässigen ist (vgl. Tabelle 14), werden die Daten des Mikrozensus verkürzt und erst für die Altersgruppe der ab 75-Jährigen wiedergegeben.
123
Tabelle 17: Zu Hause (ambulant) versorgte Pflegebedürftige nach Alter, Geschlecht, Familienstand und Haushaltsgröße, Ergebnisse des Mikrozensus Mai 2003 Alter von … bis unter … Jahren
Davon lebten in einem Personenhaushalt mit … Person(en) 1
2
3
Familienstand Ledig
Verheiratet
Verwitwet
Geschieden
46,6 34,2 17,8 11,1
43,2 58,2 74,2 82,4
3,7 3,7 / /
74,3 71,4 48,9 38,1
18,4 25,1 45,4 60,6
/ / / /
32,9 20,7 9,1 5,0
55,5 70,2 82,6 87,4
/ 4,5 / /
% Insgesamt 75-80 80-85 85-90 90 u. mehr
41,7 51,4 60,8 62,2
48,3 37,3 22,0 17,0
10,0 11,4 17,3 20,9
6,5 3,9 5,0 /
Männlich 75-80 80-85 85-90 90 u. mehr
19,8 23,7 34,6 49,0
71,8 67,1 50,9 40,1
/ / 14,5 /
/ / / /
Weiblich 75-80 80-85 85-90 90 u. mehr
52,5 61,4 68,1 65,2
36,6 26,4 13,9 11,7
10,8 12,2 18,0 23,1
7,5 4,6 5,0 /
Quelle: Statistisches Bundesamt 2004:9/10, zusammengefasste und gekürzte Darstellung Die Daten des Mikrozensus machen zunächst deutlich, dass es bei den über 75Jährigen pflegebedürftigen Männern in Privathaushalten keinen, oder zumindest keinen statistisch nennenswerten Anteil an „Ledigen“ oder „Geschiedenen“ gibt. Ein ganz ähnliches, wenn auch nicht ganz so ausgeprägtes Bild, zeigt sich bei den über 75-Jährigen Frauen. Das heißt, wenn ältere pflegebedürftige Männer 124
und Frauen in Privathaushalten gegenwärtig ohne Ehepartner sind, so ist dies fast ausschließlich auf „Verwitwung“ zurückzuführen. Da Verwitwung eine Verheiratung voraussetzt, impliziert dies, dass allein stehende ältere pflegebedürftige Männer und Frauen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit jedoch auf Kinder als potentielle informelle Pflegepersonen zurückgreifen können, bzw. im Falle der Frauen, aufgrund des höheren Wertes bei Verwitwung, auch müssen.48 Pflegebedürftige Männer im Allgemeinen können, zumindest theoretisch, jedoch selbst bei Hochaltrigkeit noch über eine Ehepartnerin als informelle Pflegeperson „verfügen“. Betrachtet man nun im Weiteren die Daten zur Haushaltsgröße, also darüber, mit wie vielen weiteren Personen Hilfe- und Pflegebedürftige in einem Privathaushalt zusammenleben, so wird der Einfluss des jeweiligen Familienstandes deutlich erkennbar. Aufgrund der höheren Werte bei „Verwitwung“ leben durchschnittlich fast 62 Prozent der über 75-Jährigen pflegebedürftigen Frauen ohne eine weitere Person im Haushalt (Männer: ca. 32 Prozent). Hingegen leben ab dieser Altersgruppe mehr als doppelt soviele pflegebedürftige Männer (Männer: 57 Prozent, Frauen: 22 Prozent) mit einer weiteren Person im Haushalt zusammen, wobei es sich hierbei mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Ehefrau handeln dürfte. Dafür leben fast fünfmal mehr pflegebedürftige Frauen als Männer in einem Privathaushalt mit mehr als drei Personen zusammen, höchstwahrscheinlich also in der Familie des oder eines der Kinder (Frauen: 16 Prozent, Männer 3,6 Prozent). Fassen wir kurz zusammen: Von den 1,4 Mio. Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten (Leistungsbezieher nach SGB XI) ist der allergrößte Teil älter als 75 Jahre, wobei der Anteil der Frauen an den insgesamt Hilfe- und Pflegebedürftigen rund zwei Drittel beträgt. Von den über 75-Jährigen pflegebedürftigen Frauen sind rund 74 Prozent verwitwet und fast 62 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe leben alleine in einem Haushalt, wobei die Einpersonenhaushalte in der Untersuchung von Runde et al. (2003) als die Pflegehaushalte identifiziert wurden, die durchschnittlich über das geringste Haushaltsnettoeinkommen verfügen. Mithin stellen also ältere und hochaltrige allein stehende und allein lebende Frauen mit vergleichsweise geringen finanziellen Ressourcen die maßgebliche Personengruppe dar – und dies sicherlich bereits seit Einführung der Pflegeversicherung – die von den Leistungen der Pflegeversicherung gebraucht macht bzw. Gebrauch machen muss. Dabei ist der gesamte Leistungskatalog der Pflegeversicherung hinsichtlich des „Vorrangs der häuslichen Pflege“ auf einen fiktiv unterstellten Sockel familiärer Hilfeleistungen aufgebaut und, vielleicht nicht weniger als das, 48
Vorwiegend bedingt durch die höhere Lebenserwartung der Frauen, Kriegseffekte (Stichwort: Kriegerwitwe) sowie des Effekts, dass Frauen bei Heirat in der Regel jünger sind als Männer.
125
auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Pflegehaushalte gegebenenfalls finanzielle Eigenleistungen zu erbringen. Wer jedoch bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in der Situation ist, weder auf einen stabilen Sockel familiärer Hilfeleistungen zurückgreifen zu können noch über die finanziellen Mittel verfügt Pflegedienstleistungen hinzukaufen zu können, dem bleibt bei Pflegebedürftigkeit, und zumal bei einer Verschlechterung des Zustandes der Pflegebedürftigkeit, nur die stationäre Inanspruchnahme und zwangsläufig der Rückgriff auf die Sozialhilfe bzw. ggf. auf vorhandene finanzielle Ressourcen der Kinder (vgl. Fußnote 17). Hierüber dürfte sich zumindest zu einem gewissen Teil auch der überproportionale Anstieg der Inanspruchnahme stationärer Versorgungsleistungen seit Einführung der Pflegeversicherung erklären lassen (vgl. Tabelle 9 dieser Arbeit). Und gerade im Zusammenhang eines von der Pflegeversicherung fiktiv unterstellten Sockels familiärer Hilfeleistungen ist der Befund im Rahmen des MuG-Forschungsprojekts zur Entwicklung der Haushaltsgröße sowie der Familienformen im Zeitvergleich 1991/2002 interessant (vgl. Tabelle 16 dieser Arbeit). Demnach lebten im Jahr 2002 zwar sieben Prozent mehr Leistungsbezieher der Pflegeversicherung in einem 2-Personenhaushalt als 1991 – und konnten damit zumindest potentiell über eine informelle Hilfeperson im eigenen Haushalt verfügen – allerdings verzeichnet die Untersuchung auch einen elfprozentigen Anstieg bei den 1-Personenhaushalten sowie einen siebenprozentigen Rückgang bei den 3-Personenhaushalten und einen zwölfprozentigen Rückgang bei den Haushalten mit mehr als vier Personen. Auch bei den Familienformen sehen wir einen Anstieg der Alleinlebenden um neun Prozent und einen zwölfprozentigen Rückgang bei den sonstigen Alleinstehenden in Mehrpersonenhaushalten. Die Daten zeigen, dass im Zeitvergleich in der Tendenz zwar etwas mehr Hilfe- und Pflegebedürftige auf potentiell eine private Hilfeperson im selben Haushalt zurückgreifen können, allerdings steigt auch der Anteil derjenigen, die alleine im Haushalt leben sowie der Anteil derer, die auf weniger als zwei und mehr potentielle private Hilfepersonen im selben Haushalt zurückgreifen können, was wiederum die Vermutung nahe legt, dass tendenziell immer weniger Pflegebedürftige im Haushalt der eigenen Kinder leben. Dieses Ergebnis korrespondiert auffällig mit den Untersuchungsergebnissen zu einem Vergleich der Entwicklung der Zahl der privaten Helfer und Helferinnen, die tatsächlich an der Hilfe und Pflege im Falle von Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten beteiligt sind. Nimmt man das Ergebnis der Untersuchung von Infratest im Rahmen der MuG III-Studie und vergleicht dieses mit Ergebnissen der Studie „Wirkungen der Pflegeversicherung“ die, wie bereits beschrieben, ebenfalls von Infratest durchgeführt wurde und extra auf methodische Vergleichbarkeit gegenüber dem MuG-Forschungsprojekt hin angelegt wurde (vgl.
126
Schneekloth/ Müller 1999:5), so ist für den Zeitraum 1998/2002 folgende Entwicklung erkennbar: Tabelle 18: Zahl der an der Hilfe beteiligten privaten Helfer und Helferinnen 1998
2002
Veränderungen 1998-2002, in%
Keine private Hilfeperson
4
8
100,00
1 Hilfeperson
26
36
38,5
2 Hilfepersonen
27
29
7,4
3 Hilfepersonen
20
16
- 20,00
4 Hilfepersonen und mehr
23
11
- 52,2
Private Helfer u. Helferinnen
Quelle: Schneekloth/ Müller 1999:51, Infratest Sozialforschung 2003:18, eigene Darstellung und Berechnung Diese Daten spiegeln die Entwicklung der zuvor dargestellten Haushaltsgrößen in Pflegehaushalten wider. In einem Fünfjahreszeitraum kam es zu einer Verdopplung der Anzahl derjenigen Hilfe- und Pflegebedürftigen in Privathaushalten, an deren Pflege keine private Hilfeperson mehr beteiligt ist, und zu einem immerhin fast vierzigprozentigen Anstieg derjenigen, an deren Pflege eine Hilfeperson beteiligt ist sowie zu einem gleichzeitigen Rückgang der häuslichen Pflegearrangements mit einer Beteiligung von mehr als drei privaten Hilfepersonen.49 Diese Daten als auch die Daten zur Entwicklung der Haushaltsgröße zeigen, dass in der Tendenz immer mehr Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten entweder auf gar keine oder nur noch auf eine private Hilfeperson zurückgreifen können, die in der Konsequenz als alleinige Pflegeperson wiederum erhöhten Belastungen bei der Pflege und Betreuung ausgesetzt ist. Und spätestens an dieser Stelle stellt sich nicht nur die Frage nach den Struktur- und Lebensmerkmalen der Hilfe- und Pflegebedürftigen selbst, sondern ebenso danach, wer vorrangig die informelle Pflege in Privathaushalten leistet, zu welchen Bedingungen und mit welchen persönlichen Konsequenzen.
49
Von der Gruppe der alleinlebenden Pflegebedürftigen konnten 1991 lediglich 8 Prozent auf keine privaten Helfer zurückgreifen, 2002 betrug dieser Wert immerhin bereits 21 Prozent (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:76).
127
3.4.2 Lebens- und Strukturmerkmale informeller privater Pflegepersonen Im Rahmen des MuG-Forschungsprojekts konnten von Infratest-Sozialforschung folgende Daten ermittelt werden: Tabelle 19: Merkmale von privaten Pflegepersonen; Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002 Angaben in %
Pflegebedürftige (1)
Sonstige Hilfebedürftige (2)
1991
2002
1991
2002
37 14 0 26 9 3 1 6 4 0
28 12 1 26 6 10 2 7 8 0
43 4 0 23 6 6 2 7 7 0
36 7 1 20 5 8 2 8 12 1
/ / / /
69 12 5 12
/ / / /
78 8 4 10
Geschlecht Männlich Weiblich
17 83
27 73
30 70
30 70
Alter Unter 45 Jahren 45-54 Jahre 55-64 Jahre 65-79 Jahre 80 Jahre und älter Keine Angabe Durchschnitt (in Jahren)
19 26 26 25 3 1 57
16 21 27 26 7 3 59
20 23 25 25 5 2 56
21 18 23 28 4 6 57
Beziehung (Ehe-)Partner Mutter Vater Tochter Schwiegertochter Sohn Enkel Sonstige/r Verwandte/r Freunde, Nachbarn, Bekannte Keine Angabe Familienstand Verheiratet Verwitwet Geschieden Ledig
(1) Leistungsbezieher der Sozialen (SVP) und der Privaten Pflegeversicherung (PPV) (2) Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI
Quelle: Schneekloth/ Wahl 2005:77; Infratest Sozialforschung 2003, eigene Darstellung 128
Tabelle 20: Konsequenzen der Pflege für die Erwerbstätigkeit der Hauptpflegeperson, Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002 Angaben in %
Pflegebedürftige (1)
Sonstige Hilfebedürftige (2)
1991
2002
1991
2002
52 14 12 21 1
51 10 11 26 2
45 5 5 44 2
48 4 5 40 3
Konsequenzen Zu Beginn der Pflege nicht erwerbstätig Tätigkeit aufgegeben Tätigkeit eingeschränkt Tätigkeit fortgesetzt Weiß nicht/keine Angabe
(1) Leistungsbezieher der Sozialen (SVP) und der Privaten Pflegeversicherung (PPV) (2) Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI Quelle Schneekloth/ Wahl 2005:79 Tabelle 21: Durchschnittlicher wöchentlicher Zeitaufwand für die Pflege und Betreuung, Hilfe- und Pflegebedürftiger in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002 Mittlerer Aufwand in Stunden pro Woche (1)
Insgesamt
Kognitiv beeinträchtigt
Kognitiv unbeeinträchtigt
Pflegebedürftige (2) Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Insgesamt
29,4 42,2 54,2 36,7
31,4 43,7 61,9 39,7
28,1 40,0 46,6 33,7
Sonstige Hilfebedürftige (3) insgesamt
14,7
19,3
13,2
(1) Gemäß Selbsteinschätzung der Haushalte (2) Leistungsbezieher der Sozialen (SVP) und der Privaten Pflegeversicherung (PPV) (3) Personen mit Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen ohne Pflegebedarf im Sinne des SGB XI
Quelle: Schneekloth/ Wahl 2005:78 Tabelle 19 zeigt zunächst, dass die informelle Pflege in Privathaushalten – gleichsam der Tradition entsprechend – noch immer zu einem erheblichen Teil 129
von Frauen geleistet wird, auch wenn sich zunehmend Männer an Hilfe- und Pflegetätigkeiten in Privathaushalten beteiligen (vgl. auch Runde et al. 2003; Schupp/ Künnemund 2004). Diese Entwicklung spiegelt sicherlich auch einen grundlegenden Einstellungswandel bezüglich der privaten Pflegeunterstützung wider. So sind beispielsweise immer weniger Pflegehaushalte der Meinung, dass Pflege „in erster Linie Aufgabe der Frauen“ sei, obwohl diese traditionell von Frauen geleistet wurde und auch nach wie vor geleistet wird (vgl. Runde 2003: 44; 45). Man kann es auch so formulieren: Frauen leisten zwar vorwiegend die Pflege, betrachten dies aber mehrheitlich nicht (mehr) als ihre Aufgabe. Doch obgleich der Anteil informell pflegender Männer zunimmt und dies sicherlich zu begrüßen ist, zeigen Studien aber auch, dass sich Männer eher an der Organisation der Pflege beteiligen als an der direkten Pflege im Sinne einer „hands on“ Pflege (vgl. Bracker 1990). Das heißt, Männer beteiligen sich vorwiegend insbesondere an den als männlich typisierten instrumentellen Hilfen, wie bspw. Kontakte zu Behörden oder das Regeln finanzieller Angelegenheiten (vgl. Dallinger 1997). Auch verweisen Studien darauf, dass informell pflegende Männer einen größeren inneren Abstand wahren, sie sind weniger durch soziale Werte zur Pflege verpflichtet, setzen ihre Belastungsgrenzen früher und leisten deswegen seltener Schwerstpflege, auch entscheiden sie sich früher und schneller für eine Heimunterbringung als Frauen (vgl. 4. Altenbericht 2002:198). Interessanterweise wird „männliches Geschlecht“ im Rahmen der MuG III-Untersuchung gar als „signifikanter Prädiktor für instabiles Versorgungsarrangement“ identifiziert (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:133). Und dies könnte auch damit zusammen hängen, dass Männer vor allem dann pflegen, wenn es keine andere Alternative gibt (vgl. Lamprecht et al. 1992). Natürlich ist eine nachweislich wachsende Beteiligung von Männern an der häuslichen Pflege positiv zu werten, und in vielen Fällen mag sich die von Männern geleistet Pflege weder im Ausmaß noch in der praktischen Ausübung wesentlich von der der Frauen unterscheiden. Wenn allerdings zunehmend Männer als Hauptpflegepersonen fungieren, auch weil es keine andere Alternative gibt, da bspw. entweder keine Kinder vorhanden sind, diese zu weit entfernt wohnen oder es die Erwerbstätigkeit der Kinder, insbesondere aber der Tochter/Töchter, nicht zulässt, die Pflegetätigkeit zu übernehmen und unter der Voraussetzung, dass die soeben vorgestellten Befunde zum Pflegeverhalten von Männern zumindest in der Tendenz zutreffen, dann könnte ein wachsender Anteil an Männern als Hauptpflegepersonen in der häuslichen Pflege durchaus, und im Sinne des Ergebnisses der MuG III-Studie, auch als ein Zeichen zunehmend prekärer häuslicher Pflegearrangements interpretiert werden. Jedoch zeigen, trotz eines wachsenden Anteils informell pflegender Männer, alle entsprechenden Studien auf, dass nach wie vor 70-80 Prozent der Hauptpflegepersonen weiblichen Ge130
schlechts sind. Nach Daten der Infratest-Repräsentativerhebung sind rund 70 Prozent der Hauptpflegepersonen verheiratet und rund die Hälfte war bereits zu Beginn der Pflegeübernahme nicht erwerbstätig, obwohl fast zwei Drittel der Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Alter unter 64 Jahre sind (vgl. die Tabellen 19/20 dieser Arbeit). Diese Daten lassen die Interpretation zu, dass gegenwärtig informelle Hauptpflegepersonen bereits zu Anfang der Übernahme häuslicher Pflegeleistungen nur zu einem geringeren Teil von jenem Konflikt betroffen sind, der als einer der Hauptfaktoren prekärer häuslicher Pflegearrangements gilt, nämlich dem Konflikt zwischen Erwerbstätigkeit einerseits und der Übernahme häuslicher Pflegeleistungen andererseits. Insgesamt zeigen die Daten, dass häusliche Pflege seit Beginn der Einführung der Pflegeversicherung überwiegend von nicht erwerbstätigen, verheirateten Töchtern/Schwiegertöchtern erbracht wird, gefolgt von (Ehe-)Partnern, wobei auch hier die Pflege überwiegend von den Ehefrauen geleistet wird (vgl. auch Schneekloth/ Müller 1999:52; Runde et al. 2003:70ff). Anhand der Daten aus Tabelle 21 wird ersichtlich, mit welchem enormen Zeitaufwand die Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit für die Pflegepersonen verbunden ist. Ein über alle Pflegestufen hinweg durchschnittlicher zeitlicher Aufwand von fast 37 Std./Wochen entspricht ca. einer Vollzeiterwerbstätigkeit. Entsprechend geben 64 Prozent der Hauptpflegepersonen Pflegebedürftiger (nach SGB XI) sogar an, täglich rund um die Uhr verfügbar sein zu müssen und immerhin noch 44 Prozent bei den „sonstigen Hilfebedürftigen“ (vgl. Infratest Sozialforschung 2003:22). Dies zeigt, welch weitreichende Konsequenzen die Übernahme informellen Pflegeleistungen hat, insbesondere hinsichtlich des psychischen wie physischen Belastungserlebens informell Pflegender. Dieses ist in einer Reihe von Studien ausführlich beschrieben und dokumentiert worden (vgl. Halsig 1998; Gräßel 1998; Reggentin/ Dettbarn-Reggentin 2003; Dietl 2003). Als Belastungsquellen konnten insbesondere Faktoren gefunden werden, die sich aus dem Krankheitsbild selbst ergeben sowie Stressoren, die im Zusammenhang mit der Umstrukturierung und Neuorganisation der Haushalte und der Übernahme veränderter Rollenverpflichtungen zu sehen sind. Beispielsweise: Die Notwendigkeit zu ständiger Anwesenheit, gestörte Nachtruhe, Abscheu oder Ekel, insbesondere vor Einnässen und Einkoten, keine Hoffnung auf Besserung der Symptomatik, Ungewissheit und Furcht wie es mit dem/der Pflegebedürftigen weitergehen soll, die Konfrontation mit Leid und Sterben, die veränderte eigene Lebensplanung, Mangel an Freizeit, der zur Einschränkung oder Aufgabe persönlicher Aktivitäten, sozialer Unternehmungen und Kontakte führt, wobei diese Entwicklung in eine soziale Isolation münden kann, Reduktion oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit sowie Verschlechterung der finanziellen Situation. Des Weiteren konnte festgestellt werden, dass informelle Pflegepersonen aufgrund der 131
Vielzahl der Belastungsfaktoren durch die Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten im Vergleich zur alters- und geschlechtsentsprechenden Allgemeinbevölkerung deutlich stärker unter körperlichen Beschwerden leiden. Etwa 40 Prozent aller informell Pflegenden leiden an Krankheiten des Herz-/ Kreislauf- und des Muskel-/ Skelettsystems, insbesondere unter allgemeiner Erschöpfung, Magenbeschwerden, Gliederschmerzen und Herzbeschwerden (vgl. Adler et al. 1996; Gräßel 1998a). Insgesamt steigt der Grad der psychischen wie physischen Belastung von privaten Hauptpflegepersonen noch durch das Vorhandensein dementieller Symptome bei der zu pflegenden Person an (vgl. Gräßel 1998a, Schaufele et al. 2005). Dabei ist Hilfe- und Pflegebedarf keinesfalls eine kurze, überschaubare Episode. Die Daten der Infratest-Repräsentativerhebung weisen eine durchschnittliche Dauer des Hilfe – und Pflegebedarfs bei Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten von 8,2 Jahren aus (Pflegebedürftige nach SGB XI) sowie von durchschnittlich 9,7 Jahren bei den „sonstigen Hilfebedürftigen“. Und bei immerhin 28 Prozent besteht der Unterstützungsbedarf bereits über zehn Jahre (vgl. Infratest Sozialforschung 2003:17, auch Runde et al. 2003:50). Diese Ergebnisse veranschaulichen deutlich das Ausmaß der Einschränkungen und Belastungen, die mit der Übernahme informeller häuslicher Pflegetätigkeiten, die vorrangig von Töchtern/Schwiegertöchtern im mittleren Alter sowie von älteren Ehefrauen geleistet wird, verbunden sind. Entsprechend fühlten sich zum Erhebungszeitpunkt (2002) der Infratest-Repräsentativerhebung 42 Prozent der Hauptpflegepersonen Pflegebedürftiger „eher stark“ und 41 Prozent „stark belastet“ (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:86). Verglichen mit den Werten vor Einführung der Pflegeversicherung ist dies zwar ein Rückgang um insgesamt 7 Prozent, jedoch „von einer Trendwende sollte hier (…) in Anbetracht des nach wie vor außerordentlichen hohen Niveaus an artikulierten Belastungen kaum gesprochen werden“ (vgl. ebenda, S. 87). Runde et al. (2003:77) kommen in ihrer Untersuchung auf ähnlich hohe Werte. Im Fünf-Jahres-Vergleich (1997/2002) zeigte sich hier ein konstantes Niveau von 42,5 Prozent von Pflegepersonen in Privathaushalten, die angeben, „sehr belastet“ zu sein. Vergegenwärtigt man sich, dass es eines der Hauptziele der Pflegeversicherung ist, die informellen Pflegepersonen in den häuslichen Pflegearrangements durch entsprechende Leistungen zu entlasten und zu unterstützen, dann sind dies sehr ernüchternde Werte. Neben dem Bezug von Geld-, Sach-, und Kombinationsleistungen soll der Vorrang und die Unterstützung der häuslichen Pflege auch durch Leistungen, wie bspw. Pflegehilfsmittel und technische Hilfen (§ 40 SGB XI) oder auch durch Pflegekurse (§ 45 SGB XI) für informell Pflegende unterstützt und gewährleistet werden. Nun zeigt aber auch hier ein Blick auf die Ausgabenentwicklung der Pflegeversicherung, dass die Ausgaben für Pflegehilfsmittel, technische Hilfsmittel sowie für Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen seit 132
1999 rückläufig sind, und selbst im Jahr 2004 noch unter dem Wert von 1996 lagen, obwohl die Anzahl der ambulant versorgten Hilfe- und Pflegebedürftigen seit Einführung der Pflegeversicherung kontinuierlich ansteigt, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau als die stationäre Pflege. Und die Ausgaben für Pflegekurse, die die Pflegekassen unentgeltlich anbieten sollen, um „soziales Engagement im Bereich der Pflege zu fördern und zu stärken, Pflege und Betreuung zu erleichtern und zu verbessern sowie pflegebedingte körperliche und seelische Belastungen zu mindern“ (vgl. § 45 SGB XI) betrugen für das Jahr 2002 gerade einmal 0,1 Prozent der Gesamtausgaben50, wobei die Untersuchung von Rund et al. (2003:87) ergab, dass die Pflegekurse von noch nicht mal zehn Prozent der informell Pflegenden wahrgenommen werden und auch der Anteil der bewilligten Pflegekurse im Fünf-Jahres-Vergleich stagnierte. Nun könnte der Ausgabenrückgang der Leistungen für Pflegehilfsmittel, technische Hilfsmittel sowie Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen, ebenso wie der Überproportionale Anstieg von Pflegebedürftigen in der Pflegestufe I, dadurch erklärt werden, dass sich der durchschnittliche Schweregrad der Pflegebedürftigkeit in den letzten Jahren erheblich verringert hat, jedoch liegen hierfür, worauf bereits hingewiesen wurde, keinerlei Anzeichen vor. Eine andere mögliche Erklärung wäre allerdings – analog zur Verschiebung des Pflegestufenspektrums hin zu den niedrigsten Pflegestufen – dass dieser Rückgang vielmehr auf finanzwirtschaftliche Steuerungsmechanismen der Pflegeversicherung selbst zurückzuführen ist (vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit) oder/und, dass auch über zehn Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung die Kenntnisse über ergänzende versicherungsrechtliche Leistungen und deren Nutzung nur sehr gering sind und es bislang noch nicht gelungen ist, niederschwellige Beratungs- Qualifizierungs- und Unterstützungsangebote (Stichwort: Qualitätssicherung der häuslichen Pflege) sowohl für die Pflegebedürftigen selbst, als auch für pflegende Angehörige, aufzubauen. In Anbetracht der geschilderten außerordentlichen zeitlichen, physischen und psychischen Konsequenzen bzw. Belastungen, die mit der Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten verbunden sind, ist die Bereitschaft der informellen Pflegepersonen, überhaupt häusliche Pflegetätigkeiten zu übernehmen, ein entscheidender Faktor. Denn ohne diese grundsätzliche Bereitschaft kann ein häusliches Pflegearrangement, selbst bei insgesamt positiven Umfeldbedingungen, nicht zustande kommen. 50
Insgesamt machen die Ausgaben zur Unterstützung der häuslichen Pflege, wie Pflegekurse, Pflegehilfsmittel, technische Hilfen, Kurz- und Urlaubspflege, Tag- und Nachtpflege, einschließlich soziale Sicherung der Pflegepersonen (!) lediglich zehn Prozent der Gesamtausgaben aus der Pflegeversicherung aus, vgl. http://www.bmg. bund.de/cln_040/nn_604244/DE /Themenschwerpunkte/Pflegeversicherung/Zahlen-und-Fakten/zahlen-und-fakten-node ,param =.html__nnn=true
133
Exkurs: „Zwischen Kalkül und Moral“: Normative und motivationale Grundlagen bei der Übernahme informeller Pflegetätigkeiten Im Zusammenhang mit der Einführung der Pflegeversicherung sprach Blüm von der „Familie als Schule der Solidarität“ (Blüm 1995). In der Familienzentriertheit der Pflegeversicherung kommt mithin die Überzeugung zum Ausdruck, dass – selbst wenn dies u. U. der Einübung bedarf – die Familie der gleichsam natürliche, selbstverständliche Ort für ein würdiges und solidarisches Miteinander ist. Entsprechend setzt das familienergänzende Sozialversicherungsmodell Pflegeversicherung einen „Solidaritätskern“ familialer Beziehungen voraus. Doch wie ist es um diesen Solidaritätskern bestellt? Wie soeben aufgezeigt wurde, wird die informelle Pflege in Privathaushalten zu einem hohen, wenn auch rückläufigen Anteil von Ehepartnern geleistet, den weitaus größten Anteil stellen jedoch die Töchter/Schwiegertöchter und (mittlerweile) mit langsam ansteigender Tendenz auch die Söhne. Das heißt, vor diesem Hintergrund wäre insbesondere nach der intergenerationalen familialen Solidarität zu fragen, also nach jenen vertikalen Familienbeziehungen, die lange Zeit von der Forschung unterschätzt wurden und erst Mitte der 1990er Jahre unter dem Begriff der Generationensolidarität in den Blickpunkt von Familienpolitik und- forschung gerückt wurden (vgl. Bertram 1996). Damit setzt sich die neuere Familienforschung auch von einem engen und traditionellen Familienbegriff, „verstanden als alle in einer Haushaltsgemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern lebenden Menschen“, ab (vgl. Enquete-Kommission 1998:497). Familie beschreibt mithin nicht nur ein Eltern-Kind-Verhältnis, sondern gilt als lebenslange soziale Gemeinschaft, die „durch ein wechselseitiges Netz sozialer Beziehungen und materieller wie immaterieller Leistungen geprägt ist“ (vgl. ebenda, S. 261). Die Familienphase ist mit der Pflege und Betreuung von Kindern also nicht zu Ende, sondern umfasst auch umgekehrt die (spätere) Pflege und Betreuung der Eltern durch die Kinder. Mit anderen Worten: „Neben die Sozialisationsfunktion tritt die Generationensolidarität als Kernelement familialer Beziehungen“ (vgl. Bertram 1996:250). Erstaunlicherweise scheinen diese neueren Forschungsarbeiten zur Generationensolidarität den spätestens seit den 1980er Jahren in die Sozialwissenschaften eingeführten und häufig gebrauchten Topos von der Krise und dem Zerfall der Familie in weiten Teilen zu relativieren. In zahlreichen Veröffentlichungen wurde in den letzten Jahren auf die gestiegene Instabilität von Ehe und Familie und auf ihre sinkende Verbindlichkeit aufmerksam gemacht. Dieser Entwicklungsprozess wird gemeinhin als DeInstitutionalisierungsprozess der Familie gedeutet und beschrieben. Der DeInstitutionalisierungsthese, die vor allem den gestiegenen Traditions- und Bedeu134
tungsverlust von Familie, auch hinsichtlich eines quantitativen Rückgangs der „Normalfamilie“, betont, wird in der Familiensoziologie, häufig als Ergänzung, die so genannte Individualisierungs/-Pluralisierungsthese zur Seite gestellt, die gar die Aufgabe des begrifflichen Konstrukts Familie fordert und insbesondere die Pluralität von Familienformen herausstellt. Im Rahmen der Individualisierungs- und Pluralisierungsthese (vgl. Beck 1986; Beck-Gernsheim 1990; Zapf 1992) wird der Traditionsverlust von Familie, also die zunehmende Auflösung fester Verbindlichkeiten, mit einem Gewinn an individueller Freiheit verbunden und vielmehr als Chance gesehen, zwischen verschiedenen Formen (Optionen) des menschlichen Zusammenlebens wählen zu können. Gemeinsam ist beiden Thesen, dass sie diesen zeitgeschichtlichen Wandel des Ehe- und Familiensystems (ab ca. Mitte/Ende der 1970er Jahre) von einem bestimmten und eng gefassten Familienbegriff ausgehend beschreiben. Das heißt, in Abkehr eines traditionell-konservativen Familienbegriffs, wie er bspw. in systemtheoretischer Perspektive in den 1950er und 1960er Jahren von Parsons (vgl. Parsons 1964) beschrieben wurde, nämlich als das Zusammenleben von Vater, Mutter und Kind/ern in einem Haushalt und in einer spezifischen funktionalen Binnendifferenzierung, z. B. als eindeutige interne und externe Aufgabentrennung zwischen den Ehepartnern. Das heißt, der Ehemann und Vater hatte für die ökonomische Sicherheit zu sorgen, die Ehefrau und Mutter war für den Haushalt und vor allem für die Pflege und Erziehung der Kinder verantwortlich. Konnte man bis in die 1970er Jahre noch davon ausgehen, dass ein solches strukturfunktionalistisches Familienmodell in den Industriegesellschaften in der Realität überwog, so ist seitdem jedoch zu beobachten, dass dieses Modell – auch in Folge vielfältiger Veränderungsprozesse in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen – mittlerweile nur noch für eine Minorität zutrifft (vgl. Nave-Herz 2002, vgl. auch Kapitel 4.5 dieser Arbeit). Obgleich man einer Bewertung des Wandels der Familie durch De-Institutionalisierungs- und Individualisierungssowie Pluralisierungsprozesse – nicht zuletzt durch eben jene Zunahme individueller Freiheitsgewinne – durchaus positiv gegenüber stehen kann, ist dieser Wandel in den letzten Jahren doch vor allem als Topos von der „Krise der Familie“ von einem großen Teil der Sozialwissenschaften beschrieben worden und auch weitgehend in das Alltagsbewusstsein der Menschen vorgedrungen. Und dies mag sicherlich auch damit zusammenhängen, dass die Wandlungs- und Auflösungsprozesse der modernen Kleinfamilie, anders als andere, eher abstrakte Veränderungsprozesse der (post-)modernen Gesellschaft, wie bspw. eine zunehmende räumliche, politische oder soziale Mobilität, mit ungleich elementarerer Kraft in den Erfahrungsraum beinahe eines jeden Gesellschaftsmitglieds hereinbrechen (vgl. Honneth 1995).
135
Seit die Familiensoziologe jedoch ihren Fokus nicht mehr vorrangig auf die Auflösungs- und Wandlungsprozesse der traditionellen Kernfamilie richtet, sondern darüber hinaus auch die intergenerationale Solidarität in den Blick nimmt und zu ihrem Forschungsgegenstand macht, zeigt sich, dass trotz aller, und sicherlich zu recht konstatierter De-Institutionalisierungs- und Pluralisierungsprozesse der Kernfamilie der letzten Jahrzehnte, ein erstaunlich hohes Maß an intergenerationaler Solidarität – von den Enkeln bis zu den Ur-Großeltern – besteht. Zentrale Elemente des Solidaritätsbegriffs im Kontext der intergenerationalen Familienforschung sind einerseits das Gefühl der Zusammengehörigkeit und enger Verbundenheit und anderseits spezifische Handlungen, spezifisches aufeinander bezogenes Verhalten. Solidarität kann sich somit ausschließlich über ein nahes Gefühl zu einer bestimmten Person manifestieren, ohne unmittelbar in tatsächliche Handlungen übergehen zu müssen. Umgekehrt kann Solidarität aber auch nur über bestimmte Aktivitäten zum Ausdruck gebracht werden, mit denen letztendlich kein Gefühl enger Verbundenheit zu diesen Personen einhergehen muss (vgl. Szydlik 2000:37). Machen wir es kurz: Alle empirischen Studien der letzten Jahre, die die Generationendynamik innerhalb familiärer Netzwerkstrukturen untersucht haben, kommen zu dem Ergebnis, dass entgegen der Thesen von der Krise und dem Zerfall der Familie ein hohes Maß an intergenerationaler Solidarität besteht (vgl. auch Enquete-Kommission 2002:514). Beispielsweise seien Generationenbeziehungen per se zwar von Ambivalenzen geprägt, jedoch führten diese nicht zu einem Auseinanderleben der Familiengenerationen. In der Realität gelte das Stichwort von der „lebenslangen Solidarität“ (vgl. Szydlik 2000:233). Intergenerationale familiale Solidarität gilt für alle Altersgruppen: „Sie zeigt sich bei den Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Erwachsenen, die gerade von zu Hause ausgezogen sind und ebenso bei dem Verhältnis zwischen älteren Kindern und ihren Eltern. Familiale Generationensolidarität ist tatsächlich lebenslang“ (vgl. ebenda, S. 234). Und der Zukunftsforscher Opaschowski kommt auf der Grundlage einer Repräsentativuntersuchung zu dem Ergebnis, dass das staatliche Sozialsystem zwar erschüttert sein mag und der Generationenvertrag alter Prägung überholt, „der Generationenpakt auf familiärer Basis aber lebt“ (vgl. Opaschowski 2004). Im Rahmen des Alterssurveys 1996 wurde ermittelt, dass über 90 Prozent der 40-85-Jährigen bereit sind. auch den Angehörigen Hilfe im Notfall zu geben. Mehr als 80 Prozent sehen sich in der Pflicht, ihren Angehörigen zu helfen und annähernd ebenso viele würden ihren Eltern gerne etwas zurückgeben, weil sie soviel für sie getan haben (vgl. Alterssurvey 1996). Und der Alterssurvey 2002 mit dem Schwerpunkt „Die Entwicklung sozialer Beziehungen in der zweiten Lebenshälfte“ resümiert: „Im Großen und Ganzen besteht kein Anlass zur Sorge. 136
Die überwiegende Mehrheit der Menschen in der zweiten Lebenshälfte ist gut integriert in regelmäßigen Beziehungen zu Menschen, die ihnen wichtig sind“ (vgl. Hoff 2003:5). Trotz aller Diskussionen um Wertewandel und die Krise oder gar dem Zerfall der Familie scheint also insbesondere im engeren persönlichen Umfeld immer noch ein beachtliches solidarisches Engagement zu existieren, das vor allem auf Austausch- und Verpflichtungsmotive zurückzuführen ist („Wenn ich meinen Angehörigen helfe, kann ich von ihnen auch selbst Hilfe erwarten“), auf Altruismusmotive („Was soll ich in meinem Alter noch Geld sparen? Meine Angehörigen können es jetzt viel besser gebrauchen“) sowie auf Zuneigungsmotive („Wen ich von meinen Angehörigen nicht mag, dem helfe ich auch nicht„) (vgl. Kohli et al. 2000:197). Vor diesem Hintergrund wird die Bereitschaft in den vorhandenen Familien informelle Unterstützungsleistungen anzubieten in den kommenden 20 bis 30 Jahren für die Mehrheit der Pflegebedürftigen als stabil angesehen (vgl. Kohli 2000; Dritter [2001] und Vierter [2002] Altenbericht der Bundesregierung; Enquete-Kommission 2002). Ähnlich zuversichtlich bewertet Opaschowski die Zukunft familiär-subsidiärer Versorgung von Pflegebedürftigen. Demnach scheinen sich eine „Wertesynthese“ und ein neuer „Wertemix“ „von materiellen und immateriellen Lebensbedürfnissen“ abzuzeichnen, in dessen Zentrum Ehe, Kinder und Familie rücken. Gegenüber früheren Untersuchungen erreichten die Prozentwerte im Jahre 2003 wieder das Niveau der 80-er Jahre: 56 Prozent äußern sich zustimmend zu dem Wert Familie (vgl. Opaschowski 2004). Insofern solidarisches Verhalten und die Bereitschaft zu informellen Unterstützungsleistungen die Grundvoraussetzungen sind, damit ein häusliches Pflegearrangement überhaupt zustande kommen kann, so müsste es auch um die tatsächliche Pflegebereitschaft, entsprechend den überwiegend positiven Befunden zur intergenerationalen Solidarität, gut, geradezu bestens bestellt sein. Oder besteht – entgegen der weitgehend positiven und zuversichtlichen Befunde zur Generationensolidarität – doch Anlass zur Sorge? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zum einen, da explizit zur Pflegebereitschaft der privaten Solidarpotentiale, ebenso wie zu den Lebens- und Strukturmerkmalen Pflegebedürftiger/private Pflegepersonen, bislang nur verhältnismäßig wenige repräsentative Studien vorliegen. Und zum anderen, da sich die Bereitschaft zur Pflege nicht zwangsläufig auch in eine tatsächlich übernommene Pflegetätigkeit niederschlagen muss. Wir haben es bereits gehört: Familiale Solidarität kann sich auch ausschließlich über ein Gefühl der Nähe zu einer bestimmten Person manifestieren, ohne jedoch tatsächlich in Handlungen übergehen zu müssen (vgl. Szydlik 2000:37). Als sicher kann jedoch gelten, dass für die offenbar nach wie vor kulturell legitimierte Selbstverständlichkeit „intergenerationale Solidarität“ im Falle der Übernahme häuslicher Pflegeleistungen 137
durch Angehörige ein hoher Preis zu zahlen ist. Angesicht der beschriebenen massiven zeitlichen, physischen und psychischen Belastungen informeller Pflegepersonen nimmt die solidarische Unterstützung fast schon einen „bedingungslosen Charakter“ an (vgl. Blüher 2002:113) und ist mithin ausgesprochen voraussetzungsvoll. Anders ausgedrückt: Selbst bei einem hohen Maß an familialer Solidarität bleibt die Frage, ob das, was man unter normativen und motivationalen Gesichtspunkten grundsätzlich bereit ist an solidarischer Hilfeleistungen zu erbringen, auch tatsächlich (instrumentell) erbracht werden kann. Dem „Wollen“ und „Sollen“ auf der einen Seite steht also gerade hinsichtlich der sehr voraussetzungsvollen häuslichen Pflegeleistungen ein entschiedenes „Können“ entgegen. Doch zunächst scheint die Bereitschaft zur Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten durchaus vorhanden zu sein. Eine Untersuchung von Fuchs (1998) zur „Pflegebereitschaft von Personen, die selbst nicht pflegen“, ergab, dass es für 95,6 Prozent der Befragten vorstellbar ist, den Ehepartner zu pflegen, 91,0 Prozent die Kinder, 86,4 Prozent die Eltern, 62,5 Prozent die Schwiegereltern, 29,9 Prozent andere Verwandte, 29,4 Prozent Freunde, 16,7 Prozent Nachbarn und 5,9 Prozent Fremde. Mit Ausnahme der Rubrik Ehepartner zeigte sich, dass die Pflegebereitschaft von Frauen höher ausgeprägt ist als die der Männer und die der jüngeren Altersgruppen höher als die der 75-Jährigen und älteren, wobei Fuchs die niedrigere Pflegebereitschaft von Älteren vor allem auf den altersbedingten Abbau, und die damit einhergehende verminderte Leistungsfähigkeit, zurückführt, und die hohen Werte in den jüngeren Altersgruppen auf die geringe Wahrscheinlichkeit in diesem Alter pflegebedürftig zu werden (vgl. ebenda, S. 395). Eine Umfrage der GfK-Meinungsforschung im Auftrag der Apotheken Umschau zeigte auf, dass sich 50,1 Prozent von insgesamt 1957 befragten Bundesbürgern ab 14 Jahre vorstellen können, die Pflege eines Angehörigen bei sich zu Hause zu übernehmen, 31 Prozent können sich dies „nicht vorstellen“ und 18,8 Prozent „vielleicht“. Obgleich sich also nur jeder Zweite vorstellen kann, die Pflege von Angehörigen zu übernehmen, resümiert die Studie: „Am guten Willen scheint es den Deutschen nicht zu mangeln“ (vgl. Apotheken Umschau 2003/12A:43ff). Jedoch werden diese zuversichtlichen Prognosen hinsichtlich einer auch zukünftig hohen Bereitschaft von Familienmitgliedern häusliche Pflegetätigkeiten zu übernehmen (vgl. Kohli 2000:3; Dritter [2001] und Vierter [2002] Altenbericht der Bundesregierung; Enquete-Kommission 2002; Opaschowski 2004) in der Wissenschaft nicht uneingeschränkt geteilt und durchaus unterschiedlich eingeschätzt. So zeigt bspw. die Untersuchung von Runde et al. (2003:46), die auf Befragungen in Pflegehaushalten selbst beruht, im 5-Jahres-Vergleich einen Rückgang moralisch begründeter Pflegemotive: „Angehörige sind moralisch 138
verpflichtet die Pflege zu übernehmen (1997:58,7%; 2002:52,1%); „Eltern haben Anspruch auf Pflege durch ihre Kinder“ (1997:55%; 2002:45,3%); „In der Ehe gibt es Anspruch auf gegenseitige Pflege“ (1997:71,1%; 2002:62,3%). Insgesamt scheint es, als würden die zuversichtlichen Prognose zur zukünftigen Pflegebereitschaft, und damit auch zur Sicherstellung der häuslichen Pflege, umso verhaltener, je mehr diese mit der Frage verknüpft werden, ob und unter welchen Voraussetzungen die informelle solidarische Pflege überhaupt erbracht werden kann. Und gerade die Frage nach dem „Können“ scheint nicht unerheblich mit dem sozialen Wandel, also mit Modernisierungs- und Veränderungsprozessen der Gesellschaft, in einem engen Zusammenhang zu stehen. Hierauf deutet ein Vergleich der Ergebnisse des Alterssurveys 1996 mit den Ergebnissen des Alterssurveys 2002 hin. Der Alterssurvey untersuchte u. a. das Ausmaß geleisteter vs. erhaltener instrumenteller Unterstützungsleitungen in der zweiten Lebenshälfte. Hierzu wurden in der Alterssurveyuntersuchug vier Unterstützungstypen differenziert (vgl. Hoff 2004:5): 1. 2. 3. 4.
Kognitive Unterstützung, bspw. Rat und Entscheidungshilfen Emotionale Unterstützung, bspw. trösten und aufmuntern Instrumentelle Unterstützung, bspw. Hilfe im Haushalt Finanzielle Unterstützung, bspw. finanzielle Transferleistungen
Obgleich die Autoren des Alterssurveys 2002 insgesamt keinen Anlass zur Sorge sehen (vgl. Hoff 2003:5), zeigt der 6-Jahres-Vergleich doch, dass „Leistung und Erhalt sozialer Unterstützung zwischen 1996 und 2002 in Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beobachtungszeitraums erheblichen Veränderungen ausgesetzt (waren). Insgesamt erhalten Menschen in der zweiten Lebenshälfte 2002 weniger Unterstützung als noch sechs Jahre zuvor“ (vgl. Hoff 2004:6). Besonders deutlich fällt der Rückgang instrumenteller Unterstützung über alle Altersgruppen (40-54; 55-69; 70-85 Jahre) aus. Erhielten 1996 bspw. noch 41,3 Prozent der im Sinne des Pflegewahrscheinlichkeitsrisikos relevanten Altersgruppe der 70-85-Jährigen instrumentelle Unterstützung durch Angehörige oder Freunde, so waren es 2002 nur noch 36,2 Prozent (vgl. ebenda, S. 6). Nun könnte der Rückgang der instrumentellen Unterstützungsleistungen, die ältere Menschen von ihren jüngeren Angehörigen erhalten, so gedeutet werden, dass sich die Lebens- und auch Gesundheitsbedingungen bspw. der 70-85-Jährigen in den vergangenen sechs Jahren soweit verbessert haben, dass sie der Hilfe ganz einfach nicht mehr bedürfen. Der überproportionale Rückgang gerade der informellen instrumentellen Unterstützungsleistungen gegenüber den anderen Unterstützungsleistungen könnte aber auch dadurch erklärt werden, dass Hilfe im Haushalt eine persönliche Anwesenheit voraussetzt und u. U. zeitintensiver und vor139
aussetzungsvoller ist als bspw. das Führen eines Telefonats, um einen Ratschlag zu erteilen oder zu trösten (kognitive und emotionale Unterstützung). Die Autoren des Alterssurvey 2002 halten letztere Erklärung dann auch für wahrscheinlicher und führen dies u. a. darauf zurück, dass informell Hilfeleistende, wie erwachsene Kinder, aufgrund der zunehmend schwierigen Arbeitsmarktsituation bspw. gezwungen waren, eine Arbeitsstelle in größerer Entfernung anzunehmen, worauf zumindest auch die 2002 durchschnittliche größere Wohnentfernung zwischen Eltern und ihrem nächstwohnenden Kind hindeuten würde (vgl. ebenda, S. 6). Das Resümee: „Das Subsidiaritätsprinzip, auf dem der deutsche Sozialstaat beruht, hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass Familien in Deutschland eine Vielzahl an Aufgaben übernommen haben, die in anderen Gesellschaften von anderen Institutionen getragen werden. (…) Indem Menschen informelle Unterstützung leisten, entlasten sie den Sozialstaat um Milliardenbeträge, die andernfalls in die Bereitstellung formeller Hilfestrukturen investiert werden müssten. (…) Gerade die wenigen Angehörigen der geburtenschwachen Jahrgänge werden für die Pflege und Unterstützung der ‚Babyboom’-Generation aufkommen müssen. Ein Szenario, in dem sich eine Person um die Unterstützung mehrerer Familienangehöriger kümmern muss, wird in Zukunft immer wahrscheinlicher. (…) War bisher die Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausschließlich auf Eltern mit kleinen Kindern gerichtet, sollte sie künftig auch Anwendung finden auf die Forderung von Frauen (und Männern), die bedürftige Familienangehörige betreuen“ (vgl. Hoff 2004:6). In einer vom Sozialministerium Baden-Württemberg in Auftrag gegebenen Studie zur „Situation der Pflegebedürftigen nach Einführung der Pflegeversicherung“, die zum Ziel hatte, ein differenziertes Bild über die soziale und biographische Situation von pflegebedürftigen älteren Menschen und deren Unterstützungsnetzwerken zu zeichnen, kommen Blinkert/ Klie (1999) zu der Auffassung, dass in wachsendem Umfang die Übernahme der Pflegeaufgaben nicht mehr als selbstverständlich erscheint und individuelle Gestaltungsoptionen des eigenen Lebens auch bei der Konfrontation mit Pflegeaufgaben in hohem Maß relevant bleiben. Beispielsweise wurden auf die Interviewfrage, was jemand tun würde, wenn eine nahe stehende Person pflegebedürftig wird, folgende zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben:
Den Verwandten alleine und ohne fremde Hilfe zu Hause pflegen Für den Verwandten einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim in der Nachbarschaft suchen
21 Prozent der Befragten sprachen sich für „selberpflegen“ oder „eher selberpflegen“ aus, 34 Prozent waren „unentschlossen“, 38 Prozent würden sich für die 140
„Heimpflege“ oder „eher Heimpflege“ entscheiden und sechs Prozent waren „ratlos“, zwei Prozent „erratisch“ (vgl. Blinkert/ Klie 2000). Es zeigte sich nicht nur, dass ein größerer Teil der Befragten zur Heimpflege tendierte, sondern auch, dass moralische Begründungen bei der Entscheidung Selberpflegen oder Heimpflege seltener genannt wurden als dies von den Wissenschaftlern ursprünglich erwartet wurde. Bei rund 60 Prozent der Befragten standen finanzielle Erwägungen im Vordergrund, insbesondere (vgl. Blaumeister 2001:17):
Direkte ökonomische Kosten: Aufwendung für professionelle Hilfe und Kosten für die Heimunterbringung Opportunitätskosten: (angenommene) Statuseinbußen und bedrohte beruflichwirtschaftliche Chancen beim Selberpflegen
Im Zentrum der Untersuchung stand dann die Frage, in welcher Weise und wie deutlich „pflegekulturelle Orientierungen“ – verstanden als Einstellungen bzw. Disposition über das eigene Verhalten gegenüber pflegenden Angehörigen – in der Sozialstruktur (soziale Milieus) verankert sind. Dabei zeigte sich „die Produktion von pflegekulturellen Orientierungen durch die Sozialstruktur“, wobei die Sozialstruktur gegliedert wurde nach dem Ausmaß bzw. der Verfügbarkeit über „strukturelles Kapital“ (z. B. Einkommen und kulturelles Kapital in Form von Titeln bzw. von Schulabschlüssen) sowie „symbolisches Kapital/Ressourcen“ (z. B. der Besitz von Überzeugungen, die von zentraler und weitgehend anerkannter Bedeutung für die Vorstellung von einem den modernen Bedingungen optimal angepassten Lebensentwurf sind, also gewissermaßen die Teilhabe am „legitimen Modernitätsdiskurs“) (vgl. Blinkert/ Klie 2000:240). Solidarität in der Form einer Bereitschaft zur Pflege von Angehörigen ließ sich am ehesten in Gruppen beobachten, die man zu den „Verlierern von Modernisierungsprozessen“ rechnen kann, also in Gruppen mit niedrigem strukturellen Kapitel und bei denen, die in ihrem Weltbild an den Modernisierungsprozess (symbolisches Kapital) weniger gut angepasst sind. Der Gegenpol dazu sind die „gut Angepassten“, also Leute mit höherem Einkommen, hohen Bildungsabschlüssen und einer auf moderne Lebensbedingungen zugeschnittenen Sicht der Dinge. „Die Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen durch Eigentätigkeit ist für die meisten von ihnen (den Modernisierungsgewinnern mit hohen Einkommen, Anm. M.D.) kein Thema“ (vgl. ebenda, S. 237ff). Die Autoren deuten dieses Ergebnis so, dass in den unteren Milieus die Heimpflege als zu teuer gelte und von vielen so eingeschätzt werde, dass sie – trotz Pflegeversicherung – nicht bezahlbar sei. Selberpflegen sei hingegen relativ preisgünstig, vor allem wenn über die Wahl von Geldleistungen sich das Haushaltsbudget in bescheidenem Maße aufbessern ließe. Auch seien die Opportunitätskosten aufgrund des niedrigen Schulabschlus141
ses und der wenig aussichtsreichen beruflichen Situation, besonders von Frauen, eher gering. Hingegen könnten sich die mittleren und höheren Milieus eine Heimunterbringung aufgrund der besseren Einkommenssituation eher leisten, zumal die Bezieher höherer Einkommen vor Einführung der Pflegeversicherung nicht damit rechnen konnten, dass Heimkosten für einen Angehörigen durch die Sozialhilfe getragen wurden.51 Auch seien die Opportunitätskosten bei den mittleren und höheren Milieus entsprechend höher, also die sozialen und kulturellen Ambitionen, verbunden mit einer höheren Schul- und Berufsausbildung, die man beim Selberpflegen aufgeben müsste. Gender-Aspekte seien jedoch in keinem der Milieus relevant, mit der allgemeinen Ausnahme, dass nichterwerbstätige Frauen in allen Milieus überdurchschnittlich zum Selberpflegen bereit sind. Ihre abschließende Brisanz gewinnt die Studie durch die Feststellung, dass gerade jene Milieus, in denen die größte Bereitschaft zum Selberpflegen vorherrscht, stark abnehmen (im Zeitraum 1982-1996 von 41 auf 20 Prozent), wohingegen jene Milieus stark anwachsen, die in stärkerem Maße die Heimpflege befürworten (im gleichen Zeitraum von 22 auf 39 Prozent) [Die Daten zu den Milieuverschiebungen bezieht die Untersuchung auf der Grundlage einer Auswertung der ALLBUS-Studie 1996]. Des Weiteren macht das Forschungsprojekt darauf aufmerksam, dass die sozialen Unterstützungsnetzwerke umso prekärer sind, je mehr der Lebensstil der Pflegebedürftigen selbst durch eine individualisierte Lebensweise gekennzeichnet ist – bspw. alleinlebend, kinderlos, im Lebensverlauf räumlich mobil. Dies führe dazu, dass Pflegebedürftige mit individualisiertem Lebensstil in deutlich höherem Maße auf professionelle Hilfeleistungen angewiesen seien, wobei sich derartige Tendenzen zu einer stärkeren Individualisierung bereits bei jeder/jedem zweiten Pflegebedürftigen erkennen ließen. Der Anteil Pflegebedürftiger mit tatsächlich individualisierter Lebensweise liege aktuell jedoch noch unter zehn Prozent der Pflegebedürftigen (vgl. Blinkert/ Klie 2003). Die von Blinkert und Klie zunächst in der schwäbischen Kleinstadt Munderkingen durchgeführte Studie wurde einige Jahre später in der Großstadt Kassel wiederholt, wobei die Ergebnisse aus Munderkingen bestätigt wurden, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Großstadt Kassel ein höherer Individualisierungsgrad sowohl der Pflegebedürftigen als auch der pflegenden Angehörigen festgestellt werden konnte als in der ländlichen Kleinstadt Munderkingen (vgl. Blinkert/ Klie 2004). Aufgrund eines vorhersehbaren demographischen Rückgangs der Menschen in den Altersgruppen der 30-60-Jährigen, einer steigenden 51
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Blinkert und Klie verweisen hier also auf das aus den beitragsfinanzierten Sozialversicherungen bekannte Phänomen der Mittelschicht-Orientierung hin, wonach diejenigen Gruppen am meisten profitieren, die zuvor kein Geld aus den öffentlichen Kassen für Pflegeleistungen erhalten hätten, und nun gegen einen vergleichsweise niedrigen Beitragssatz erstmals kollektiv finanzierte Leistungen in Anspruch nehmen können.
Erwerbsbeteiligung von Frauen in allen Altersgruppen und von Männern in der Altersgruppe 50-65 Jahre sowie eines abnehmenden Anteils von Zusammenlebenden in den höheren Altersgruppen ab 65 Jahre, kommen die Autoren in der Untersuchung für die Stadt Kassel zum Ergebnis, dass sich bereits ab 2010/2015 die Verhältnisse in Bezug auf eine Verringerung des informellen Pflegepotentials „grundlegend und dramatisch ändern“ (vgl. Blinkert/ Klie 2004:83). Wie dargelegt, betonen die Arbeiten von Blinkert/ Klie insbesondere den milieuspezifischen Einfluss auf die Pflegebereitschaft. Hingegen kommt der Alterssurvey 1996 zu dem Ergebnis, dass der Schichteneinfluss durch die Unterstützungspotentiale im Altersverlauf zurückgehe (hier wurde Schicht mit Einkommen, Anteil der Sparer, keine gesundheitliche Einschränkung, keine Wohnmängel, Wohnen im Eigenheim verknüpft) und einer klaren Destrukturierung unterliege (vgl. Kohli et al. 2000). Und die bereits erwähnte Untersuchung von Fuchs (1998) betont zwar ebenso wie die Untersuchungen von Blinkert und Klie einen milieuspezifischen Einfluss auf die Pflegebereitschaft, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Das heißt, Fuchs kommt zum Ergebnis einer vergleichsweise weniger stark ausgeprägten Bereitschaft der untersten (in Ansätzen auch der zweituntersten) Schicht, enge Verwandte, Partner, Kinder und Eltern zu pflegen. Fuchs deutet dieses Ergebnis insbesondere vor dem Hintergrund unterschiedlicher Einkommensverhältnisse: „Personen aus den unteren beiden Schichten können unter Umständen eine Versorgung nicht aufnehmen, da sonst die Erwerbstätigkeit eingeschränkt werden müsste und somit das Grundeinkommen nicht mehr gesichert sei. Auch räumliche Gründe könnten ausschlaggebend sein: Weniger gutsituierte Personen verfügen in der Regel über weniger Wohnraum, so dass die Aufnahme einer Person in den Haushalt nicht ohne weiteres möglich ist. Bei der höheren Pflegebereitschaft der oberen Schichten in Bezug auf Partner/in und Kinder ist es nicht auszuschließen, dass infolge des höheren Familieneinkommens auch eher die Möglichkeit besteht, zusätzliche Unterstützungsleistungen (Pflegedienste o. ä.) zur Entlastung finanzieren zu können (vgl. ebenda, S. 396). Unabhängig davon, welche Milieuzugehörigkeit eher zum Selberpflegen oder zum Pflegen lassen in einem Heim disponiert, einig sind sich sowohl Fuchs als auch Blinkert und Klie darin, dass die Höhe des verfügbaren Familieneinkommens in einem Pflegehaushalt eine ganz entscheidende Ressource dafür ist, ob eine grundsätzliche Pflegebereitschaft auch tatsächlich in eine Tat umgesetzt wird. Anders ausgedrückt: Intergenerationale Solidarität oder eine „neue Kultur des Helfens“ muss man sich im Zusammenhang mit der Entscheidung für eine Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten, und ganz im ökonomischen Sinn des Wortes, vor allem auch leisten können. Und im Zusammenhang, dass bislang 7080 Prozent der informellen Hauptpflegepersonen Frauen sind, und die meisten 143
davon im erwerbsfähigen Alter, stellt sich vor allem die Frage, wie die Anwesenheit pflegebedürftiger Personen das Erwerbsverhalten dieser Frauen beeinflusst und inwieweit Frauen überhaupt bereit sind, und zukünftig bereit sein werden, die weitergehenden Konsequenzen, die aus der Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten resultieren, zu tragen. Eine entsprechende Untersuchung von Schneider et al. (2001) zeigt auf, dass die Anwesenheit pflegebedürftiger Personen im Privathaushalt das Erwerbsverhalten von Frauen stärker beeinflusst als die Betreuung und Versorgung von Kleinkindern. Auch sei ein Übergang in ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis, wie dieser sich in den letzten Jahrzehnten als Kompromisslösung bei der Betreuung von Kleinkindern durchgesetzt habe, im Falle einer häuslichen Pflegeübernahme durch bislang vollzeiterwerbstätige Frauen keine Option. Dies führen Schneider et al. (2001) zum einen auf die bei Pflegetätigkeiten höhere zeitliche, physische und psychische Belastung zurück und zum anderen aber auch darauf, dass es für vollzeiterwerbstätige Frauen aufgrund der hohen Kosten für Pflegedienstleistungen nicht sinnvoll ist, in ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis zu wechseln. Und dass die Pflegeversicherung und ihre Leistungen keinerlei Steuerungseffekte hinsichtlich der Option „Einschränkung der Erwerbstätigkeit“ hat, dies zeigt die Untersuchung im Rahmen des MuG-Forschungsprojekts (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:79, vgl. auch Tabelle 20 dieser Arbeit). Das heißt, im Falle der Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten tendieren weibliche Hauptpflegepersonen – nicht immer freiwillig – dazu, ihre Erwerbstätigkeit vielmehr vollständig aufzugeben. Dies ist mit einer Reihe von Nachteilen verbunden. Da die Pflege hauptsächlich von Frauen im Alter über 40 Jahre geleistet wird, haben diese Frauen häufig besondere Schwierigkeiten nach Beendigung der Pflege den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben zu finden, weshalb eine Erwerbsunterbrechung oft auch zu einem vorzeitigen Ende der Berufsbiographie führt oder doch zumindest gravierende Nachteile im weiteren Einkommens- und Karriereverlauf sowie der eigenen Alterssicherung mit sich bringt (vgl. Dallinger 1997).52 Die sozialpolitische Priorität der häuslichen Pflege durch Angehörige des sozialen Nahbereichs blendet also mit der Annahme, dass diese die gegenüber institutioneller Versorgung kostengünstigere Pflege sei, weitgehend die direkten und indirekten Kosten der privaten Hauptpflegepersonen aus. Besonders groß ist der Konflikt zwischen Erwerbsarbeit und häuslicher Pflegetätigkeit vor allem für Frauen, die selbst ein hohes Einkommen erzielen (vgl. Schneider et al. 2001). Der Effekt eines hohen Erwerbseinkommens wirkt hier jedoch in zweierlei Richtung. Zum einen verringert ein eigenes hohen Einkom52
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Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Versicherungsschutz für Pflegepersonen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung in keiner Weise ausreichend ist, um eine angemessene Kompensation dafür zu sein, eine teil- oder vollsozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zugunsten der informellen Angehörigenpflege aufzugeben.
mens, welches wiederum mit hoher Bildung assoziiert ist, die Wahrscheinlichkeit, dass die Vollzeiterwerbstätigkeit zugunsten häuslicher Pflege aufgegeben wird (Stichwort: Opportunitätskosten), andererseits unterbrechen Frauen aus finanziell besser positionierten Haushalten ihre Erwerbstätigkeit häufiger, da diese Frauen einem geringeren ökonomischen Druck ausgesetzt sind, auch weiterhin erwerbstätig sein zu müssen. Ob insbesondere weibliche Hauptpflegepersonen ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, einschränken oder unterbrechen (können), hängt also maßgeblich von der Höhe des übrigen Familieneinkommens ab, also letztendlich davon, ob es das Einkommen des (Ehe-) Partners zulässt, auf das bislang erzielte Einkommen der Hauptpflegeperson zu verzichten. Oder aber – vergessen wir es nicht – von der politisch durchaus steuerbaren Höhe der finanziellen Aufwendungen für professionelle Pflegedienstleistungen. Grundsätzlich aber, und das ist das entscheidende an der Untersuchung von Schneider et al. (2001), kommt eine Erwerbsunterbrechung zugunsten der Übernahme häuslicher Pflegetätigkeiten überhaupt nur für verheiratete Frauen aus finanziell besser positionierten Haushalten in Betracht. Die Sicherstellung der informellen Pflege wird also umso prekärer, je häufiger ledige, alleinstehende, geschiedene Frauen oder aber verheiratete Frauen aus Verhältnissen mit einem geringen übrigen Haushaltseinkommen mit Pflegeaufgaben konfrontiert sind. Damit zeigt die Untersuchung grundsätzlich, dass die Alterung der Gesellschaft im Zusammenhang mit einer nur familienergänzenden Pflegeversicherung als Nebeneffekt zu einem zusätzlichen Arbeitsmarktrisiko für ältere, verheiratete Frauen führt, und so den politischen Bemühungen um eine Verstetigung der Erwerbsverläufe von Frauen diametral entgegen läuft. Mögen die Befunde zur intergenerationalen Solidarität im Allgemeinen eher positiv sein, ob daraus jedoch selbst für die nächsten 20 bis 30 Jahre stabile instrumentelle Unterstützungsleistungen zwischen den Generationen abgeleitet werden können (vgl. u. a. Kohli 2000:3, Dritter [2001] und Vierter [2002] Altenbericht der Bundesregierung), scheint gerade hinsichtlich der überaus voraussetzungsvollen informellen häuslichen Pflegeunterstützung doch fraglich. Denn wir sehen, wie sehr intergenerationale Austauschbeziehungen hinsichtlich der Übernahme häuslicher Pflegeleistungen an die Pole normativer Prägung einerseits und individueller Nutzenorientierung bzw. pragmatischer Aushandlungsprozesse andererseits gebunden sind. Eine „Verschränkung von Kalkül und Moral“ nennt dies Dallinger (1997) und sie macht in diesem Sinne deutlich, wie Hilfeleistungen in Generationenbeziehungen zustande kommen, nämlich „aus den Beziehungen sozial differenzierter Erwerbschancen, sozialpolitisch sowie rechtlich gesetzter Rahmenbedingungen der Kosten und der Zugänglichkeit von Alternativen zur familiären Pflege, der Bewertung der Machbarkeit und Notwendigkeit
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einer eigenständigen, eheunabhängigen Biographie sowie dem moralischen Wert der Elternpflege“ , kurz: Einer „Ökonomie der Moral“ (vgl. Dallinger 1997:339). Interessant und bislang kaum beachtet ist aber auch, und gewissermaßen in Umkehrung der Frage zur normativen und motivationalen Ausprägung der Pflegebereitschaft potentieller informeller Hilfepersonen, ob und in welchem Maße Hilfe- und Pflegebedürftige selbst überhaupt Unterstützungsleistungen in welcher Form und von welchen Angehörigen erwarten oder auch verlangen. So konnte Kuhlmey (1997) bspw. folgende Erwartungen ermitteln: „Ich möchte nicht zur Last fallen“, „Ich erwarte Hilfe im Notfall, aber diese Unterstützung darf das Leben meiner Kinder nicht verändern“, und, „Ich erwarte gefühlsmäßigen Beistand bzw. emotionale Unterstützung“. Nicht erwartet wird, dass „Kinder mich zuhause aufnehmen“, dass sie „das Gleiche tun wie ich es für meine Eltern tat“ und „eine materielle Unterstützung“. Und Runde et al. (2003) konnten in diesem Zusammenhang aufzeigen, dass im Fünf-Jahres-Vergleich zwischen 1997 und 2002 der Wunsch nach „Angehörige als Wunschpflegeperson“ weniger häufig geäußert wurde, hingehen „Pflegefachkräfte“ oder „Kein besonderer Wunsch“ häufiger: „Das Leistungswahlprinzip fördert somit das Ziel eines Selbstbestimmten und selbstständigen Lebens der Pflegebedürftigen und nicht das Ziel, Angehörige für die Pflege zu gewinnen. Kompatibel sind beide Ziele nur dort, wo Pflegebedürftige und Angehörige zusammenwohnen bzw. in unmittelbarer Nähe wohnen“ (vgl. ebenda, S. 67). Und dies zeigt, dass offensichtlich nicht nur pflegende Angehörige ihre Bereitschaft zur Übernahme informeller häuslicher Pflegeleistungen im Sinne einer „Ökonomie der Moral“ von ihren jeweils für die Pflegeübernahme günstigen oder ungünstigen individuellen Lebens- und Strukturmerkmalen abhängig machen, sondern, dass auch die Hilfeund Pflegebedürftigen selbst ihre Erwartungshaltung nach den jeweiligen Lebensumständen ihrer Angehörigen ausrichten oder aber verstärkt dazu tendieren, eigene Versorgungsstrategien für den Fall der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit unabhängig von Angehörigen zu entwickeln und umzusetzen.
3.5 Zusammenfassung und Resümee Die „neue Kultur des Helfens“, der „Prolog zur Pflegeversicherung“ (vgl. Dietz 2000:135) und zugleich deren Kalkulationsbasis bzw. Kalkulationsrisiko, wurde bereits an anderer Stelle gleichsam als eine empirische Versuchsanordnung auf die Frage bezeichnet, ob sich durch einen solchen sozialpolitischen Modernisierungs- und Aktivierungsansatz („Sozialpolitik aus der Nähe“, „neue Antworten auf neue Fragen“, vgl. Blüm 1995) das Pflegerisiko gegenwärtig und insbesondere in der Zukunft ausreichend absichern lässt. In diesem Sinne wurde in den 146
vorangegangenen Kapiteln danach gefragt, ob die Pflegeversicherung, die im Zuge einer politischen Grundsatzentscheidung als familienergänzendes Sicherungssystem konzipiert und mit dem „Vorrang der häuslichen Pflege“ ausgestattet wurde, bislang ein Erfolg ist. Dabei konnte festgestellt werden, dass gegenwärtig von den ca. offiziell 2 Millionen Pflegebedürftigen (nach SGB XI) rund 70 Prozent in einem privaten Haushalt versorgt werden und von diesen knapp 50 Prozent ausschließlich durch informelle Hilfeleistungen ohne darüber hinausgehende Unterstützungsleistungen durch professionelle Pflegedienste. Und diese Relationen sind zunächst sicherlich beeindruckend und sprechen nicht nur für eine hohe Pflegebereitschaft im Allgemeinen, sondern für ein stabiles Fundament einer solidarischen Kultur tatsächlich erbrachter informeller Hilfe- und Austauschbeziehungen zwischen Hilfe- und Pflegebedürftigen und deren privater Helfer: „Im häuslichen Bereich hat die Pflegeversicherung einen bemerkenswerten Beitrag zur Stabilisierung geleistet und insbesondere zu einer spürbaren Entlastung der Angehörigen beigetragen“ (vgl. Dritter Altenbericht 2001:24) und „die häuslichen Pflegearrangements erweisen sich vor dem Hintergrund der Effekte des demographischen Wandels als flexibel und anpassungsfähig“ (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005: 230; 231).
Allerdings zeigt eine Analyse der Leistungsentwicklung der Pflegeversicherung im Zeitverlauf, dass das Fundament der Pflegeversicherung, also die informellen Hilfeleistungen im Rahmen der häuslichen Pflegearrangements, weniger stabil zu sein scheint, als es dies zunächst den Anschein hat (vgl. Kapitel 3.3). Dies lässt sich bereits seit Einführung der Pflegeversicherung aufgrund eines deutlichen Wandels des Inanspruchnahmeverhaltens in Bezug auf die Leistungen der Pflegeversicherung ablesen: Ein kontinuierlicher Rückgang der Inanspruchnahme der Pflegegeldleistungen, bei einem ebenso kontinuierlichen Anstieg von Sach- und Kombinationsleistungen (insbesondere in den untersten Pflegestufen) sowie ein, im Vergleich zur Entwicklung im ambulanten Sektor, deutlich überproportionaler Anstieg der stationären Inanspruchnahme. Diese Entwicklung zeigt, dass der im PflegeVG verankerte „Vorrang der häuslichen Pflege“ sowie das eher verdeckte Ziel – oder vielmehr die Hoffnung – die häusliche pflegerische Versorgung vorrangig und langfristig durch eine mindestens stabile Inanspruchnahme der kostengünstigeren Pflegegeldleistungen, in andern Worten, durch eine „neue Kultur des Helfens“, finanzierbar zu halten, bislang nicht erreicht wurde: „Vor allem aber ist es Zeit Abschied zu nehmen von der Vorstellung, die Pflegeversicherung könne über lediglich familienergänzende Leistungen ein Verbleiben in der
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gewohnten häuslichen Umgebung ermöglichen. Diese Annahme verfehlt derzeit offenbar in zunehmendem Maße die soziale Realität“ (vgl. Simon 2003:78; 79). „Eine durchgreifende Entlastung von pflegenden Angehörigen ist nicht erreicht worden. (…) … die Pflegeversicherung (leistet) durchaus Unterstützung im Pflegefall, aber auf keinem sehr effektiven und effizienten Niveau, gemessen an den selbstgesetzten Zielen“ (vgl. Runde et al. 2003:22).
Interessanterweise spricht vieles dafür, dass es gerade die politischen Grundsatzentscheidungen zur Ausgestaltung des PflegeVG selbst sind – und deren Auswirkungen – (Stichwort: u. a. unbedingte Beitragssatzstabilität, Teilleistungen für Teilbedarfe, zunehmender Kaufkraftverlust von Pflegeversicherungsleistungen), die in nicht unerheblichem Maße dazu beitragen, dass die informelle (Angehörigen-)Pflege offenbar immer mehr und immer früher an ihre Grenzen gelangt. Darüber hinaus stellte sich jedoch auch die Frage, ob über diese, der Pflegeversicherung inhärenten Ursachen hinausgehend, externe Einflussfaktoren zu identifizieren sind, die auf einen Rückzug der durchschnittlichen familiären Pflegeleistungen je Pflegebedürftigem hindeuten. Also letztlich die Frage nach dem Verhalten und den Verhältnissen der privaten Solidarpotentiale, welches bereits an anderer Stelle unter dem Begriff der „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ (vgl. Kaufmann 1997:109) als die weitgehend unbekannte Größe in der Gesamtkalkulation der Pflegeversicherung bezeichnet wurde, oder auch als das „politische Defizit“ im Konzept pluralistischer Wohlfahrtsgesellschaften (Vgl. Evers/Olk 1996:56). Obgleich die „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ eine so herausragende Rolle in der Gesamtkalkulation der Pflegeversicherung einnehmen, sind diese bislang kaum empirisch im Rahmen repräsentativer Studien erforscht (vgl. Schupp/ Künnemund 2004:1). Entsprechend uneinheitlich sind auch die Befunde darüber, ob die gesellschaftlichen (Selbsthilfe-)Potentiale jenseits von Daseinsfürsorgestaat und des Marktes ihrer „Eigenverantwortung“ bei der normativideologischen Neuprogrammierung des sozialen Hilfe- und Verantwortungssystems „zugunsten“ einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ nachkommen (können). Einfacher formuliert: Ob das „innovative“ Sozialversicherungsmodell Pflegeversicherung bislang in diesem Sinne ein Erfolg ist. Obgleich, wie gerade noch einmal dargelegt wurde, die Einschätzungen hierüber bislang durchaus auseinander gehen, sind sich doch alle Experten, die im engeren oder weiteren Sinne mit dieser Thematik befasst sind, darüber einig, dass die privat organisierten und informell getragenen häuslichen Pflegearrangements ausgesprochen voraussetzungsvolle und fragile (Sozial-) Gebilde sind. Voraussetzungsvoll sind diese, wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde, gleich in mehrerer Hinsicht: Zum einen sind sie es aufgrund des hohen physischen wie psychischen Belastungsgrads sowie insbesondere aufgrund des hohen Zeitaufwands, der mit der Über148
nahme häuslicher Pflegeleistungen durch informelle Pflegepersonen in Privathaushalten verbunden ist – eine eigene Berufstätigkeit, selbst eine Teilzeitbeschäftigung, ist in der Regel neben der häuslichen Pflege kaum zu bewältigen. Die häusliche Pflege ist deshalb geradezu „auf erwerbslose Angehörige angewiesen“ (vgl. Runde et al. 2003:17).53 In traditioneller Perspektive also auf (verheiratete) Töchter/(Schwiegertöchter), die entweder bereits zu Beginn der Pflegeübernahme nicht erwerbstätig waren (also typischerweise Hausfrauen im mittleren Alter mit verhältnismäßig hohen und flexiblen zeitlichen Ressourcen) oder die dazu bereit, und aufgrund eines ausreichend hohen übrigen Familieneinkommens auch in der Lage sind, die eigene Erwerbstätigkeit ggf. vollständig aufzugeben. Und zum anderen, und in diesem direkten Zusammenhang, sind sie voraussetzungsvoll, da eine auf Langfristigkeit und Stabilität hin angelegte häusliche Pflegeübernahme im Grunde nur durch Personen des engen sozialen und räumlichen Nahbereichs zu leisten, aufrechtzuerhalten und letztlich auch zumutbar ist. Mit anderen Worte also durch Ehepartner, die, trotz des in der Regel selbst schon fortgeschrittenen Alters noch in der Lage sein müssen, die schwierige Pflegetätigkeit zu bewältigen oder aber, und vor allem, durch die eigenen, im selben Haushalt oder in unmittelbarer Nähe lebender (verheirateter) Kinder. Wie das MuG-Forschungsprojekt im 10-Jahres-Vergleich ermitteln konnte, sind zwar zunehmend auch „sonstige Verwandte“, „Freunde, Nachbarn oder Bekannte“ an häuslichen Pflegetätigkeiten beteiligt, jedoch sind sie dies nach wie vor auf sehr niedrigem Niveau (vgl. Tabelle 19 dieser Arbeit) und es ist zu vermuten, dass sie in der Regel nicht als Hauptpflegepersonen an der häuslichen Pflege beteiligt sind. Denn, und darauf weisen alle einschlägig damit befassten Studien hin, Personen des weiteren sozialen Nahbereichs unterstützen das häusliche Pflegearrangement vielmehr, als dass dieses von ihnen im eigentlichen Sinne getragen wird (vgl. Gilberg 2000). Freunde und Nachbarn leisten bisher vor allem Unterstützung im emotionalen Bereich, indem sie trösten oder immer wieder motivieren. Praktische Unterstützung leisten sie durch Einkäufe und Behördengänge, kochen oder Essen bringen sowie Beaufsichtigung des zu Pflegenden (vgl. Reichert et al. 2002). Auch sind die sozialen Netze mit Freunden und Bekannten in der Regel nicht generationenübergreifend angelegt, sondern auf der Basis eines gleichen Lebensabschnittsalters. Das heißt, für Freunde und Bekannte gilt dasselbe wie für die Ehepartner der Pflegebedürftigen. Sie sind größtenteils im selben Alter wie die pflegebedürftigen Personen und stehen deshalb für solch schwierige 53
In diesem Zusammenhang liegt es nahe zu vermuten, dass die Pflegeversicherung bislang in nicht unerheblichem Maße auch von der hohen Arbeitslosenquote im Allgemeinen und der niedrigen Erwerbstätigenquote bei den über 55-Jährigen Frauen im Besonderen profitiert haben müsste, da diese Altersgruppe, wie wir gesehen haben, zu einem erheblichen Teil an der informellen Pflege Angehöriger beteiligt ist (vgl. auch Kapitel 4.3).
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Tätigkeiten entweder nicht oder nur eingeschränkt und nicht langfristig zur Verfügung. Es ist deshalb wohl auch nicht damit zu rechnen, dass die Angehörigenpflege durch andere informelle soziale Netze aufgefangen werden kann oder künftig in erheblichem Maße aufgefangen werden wird (vgl. Runde et al. 2003). Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Pflegeversicherung ihrer subsidiären Logik zufolge – stabile familiale Angehörigenpflege vor öffentlicher Fürsorge – nicht nur einen fiktiv unterstellten Sockel familiärer Hilfeleistungen im Allgemeinen voraussetzt oder häusliche Pflegetätigkeiten durch eine „Infrastruktur nachbarschaftlicher Hilfen“ (vgl. Blüm 1995) zu bewältigen wären, sondern dass sie letztlich sowohl in struktureller als auch in funktionaler Hinsicht auf das „vormoderne“ Leitbild der so genannten „Normalfamilie“ angewiesen ist. Ohne dies selbst näher auszuführen weiß (oder wusste) auch der Gesetzgeber, dass strukturell bestimmte Verhältnisse in den Lebensbedingungen der Mensch das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung eines informellen häuslichen Pflegearrangements wahrscheinlicher machen, schreibt er kurz vor Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes doch: „Aufgrund der Belastung der pflegenden Angehörigen droht die Bereitschaft zur häuslichen Pflege zurückzugehen. Diese Entwicklung ist insofern noch ernster zu nehmen, als häusliche Pflege aufgrund der demographischen Entwicklung und Veränderungen in den Lebensbedingungen und familiären Beziehungen ohnehin unwahrscheinlicher wird“ (vgl. RegE-BR-Drs. 505/93:61). In familiensoziologischer Perspektive entwickelte sich das Modell der „Normalfamilie“ während des so genannten Ersten Demographischen Übergangs ab Ende des 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre hinein: Die hohen Geburtenraten des 19. Jahrhunderts wurden zwar nicht mehr erreicht, jedoch wurde mehr geheiratet, das Heiratsalter sank, die Scheidungsraten waren sehr gering, die Wiederverheiratungsquote hoch, außereheliche Geburten gingen zurück und die Kinderlosigkeit verheirateter Paare war kaum nennenswert. Unter gesellschaftlicher Perspektive dominierten Aspekte der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung: Einkommen, Arbeitsbedingungen, Gesundheit, soziale Sicherheit, Solidarität und soziale Kohäsion waren wichtig; und es gab starke normative Regulierungen durch Staat und Kirche zum Schutz der Ehe und Familie; die Geschlechterrollen waren klar ausdifferenziert das Modell des Familienvaters als Haupternährer wurde so strukturiert, dass Familiengründung und ökonomische Tätigkeit gut zueinander passten (vgl. 7. Familienbericht 2005:31). Zumindest in Westdeutschland hielt sich das hierauf basierende Familienbild der „Versorgerehe“ mit sicherer ökonomischer Perspektive für den Ehemann und hierüber gebotener Freistellungschancen der Frau für Familienbelange noch bis in die 1970er Jahre (vgl. ebenda, S. 118). Die Hochzeit dieses Familienmodells des Ersten Demographischen Übergangs wird von der Forschung auf den Begriff des „Golden 150
Age of Marriage“ bzw. des „Zeitalters der Normalfamilie“ der 1950er bis Ende 1960er Jahre gebracht. Dieses zeichnete sich durch eine strukturelle Vollständigkeit und „funktionale Vollkommenheit“ der Familien aus (Vater, Mutter, Kind/er in einem gemeinsamen Haushalt und dem Ideal der nichterwerbstätigen Mutter; vgl. auch Parsons 1964) und galt damals als eine kulturelle Selbstverständlichkeit und ein millionenfach fraglos gelebtes Grundmuster. Für die große Bevölkerungsmehrheit war dieses Familienmodell die einzig „richtige“ und rechtlich legitimierte private Lebensform. Unkonventionelle und alternative Lebensformen wurden bestenfalls als „Notlösungen“ toleriert, in der Regel aber mit offenen oder verdeckten Sanktionen bedacht (vgl. Nave-Herz 2002; Nave-Herz 2004; Peuckert:2004). Hochschild (2002) bezeichnet dieses Familienmodell als „warmtraditionell“. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beruhten im Wesentlichen auf den personalen und emotionalen Bindungen zwischen den Mitgliedern dieser Gruppe. Dabei wird für die Frau die Rolle als „gute Mutter“, die Leistungen der Fürsorge für andere (Care) erbringt, als wesentlicher Teil ihrer eigenen Frauenrolle gesehen. Obgleich im Kontext der Analysen und Kommentare zur Pflegeversicherung bislang kaum eine entsprechende Erörterung erfolgt ist, liegt im gerade geschilderten Zusammenhang die Überlegung doch nahe, zunächst danach zu fragen, inwieweit hinsichtlich der spezifischen strukturellen und funktionalen Anforderungen und Voraussetzungen (Hintergrundsicherung), die die Übernahme einer häuslichen Pflegetätigkeit stellt, die kennzeichnenden Merkmale eines solchen, und aus heutiger Perspektive als traditionell zu bezeichnenden Familienmodells, vor und seit Einführung der Pflegeversicherung bei den Hilfe- und Pflegebedürftigen selbst vorliegen, aber auch bei denjenigen, die als deren Kinder maßgeblich das informelle Pflegepotential stellen bzw. bislang stellten. Da diese Frage im weiteren Verlauf noch ausführlicher abgehandelt wird, soll zur vorläufigen Orientierung zunächst folgender Gedankengang genügen: Bei einem deutlich ansteigenden Pflegerisiko ab dem 80. Lebensjahr (2/3 der Hilfe- und Pflegebedürftigen nach SGB XI sind über 80 Jahre alt; vgl. Dritter Altenbericht 2001:329) und einem gleich bleibendem Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko der vergangenen zehn Jahre (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:67) bedeutet dies, dass die Mehrzahl der Hilfe- und Pflegebedürftigen seit Einführung der Pflegeversicherung (1995) ca. den Geburtsjahrgängen 1900-1925 zuzuordnen ist. In dieser Geburtskohorte wären dann all diejenigen eingeschlossen, die im Jahr 2005 achtzig Jahre und älter sind sowie diejenigen, die bereits bei Einführung der Pflegeversicherung das fünfundneunzigste Lebensjahr vollendet hatten. Auf der Grundlage einer Zuordnung der „Geburtsjahre der Frauen“ zu den „Geburtsjahren der Kinder“ kann entnommen werden, dass die Kinder der zwischen 1900 und 1925 Geborenen ca. zwischen 1925 und 1950 geboren wurden: 151
Abbildung 4:
Zusammengefasste Geburtenziffern für die Kalenderjahre 1871 bis 1995 und endgültige Kinderzahl der 1865 bis 1960 geborenen Frauen
Quelle: Enquete-Kommission 1998:31 Die Abbildung zeigt einen gemäßigten und nur kurzen Einbruch bei den Geburten ca. 1930 bis 1933 sowie einen stärkeren, aber ebenso nur kurzfristigen Einbruch zwischen 1942 bis 1945 (vgl. auch Roloff 2003:11). Diese Abweichungen lassen sich ca. den Geburtsjahren der Frauen 1905 bis 1908 sowie 1917 bis 1920 zuordnen. Dazwischen ist aber auch ein erhöhtes Geburtenniveau zwischen 1933 und 1942 (Geburtsjahre der Frauen ca. zwischen 1908 und 1916) zu beobachten, welches auf die geburtenfördernde Politik des Dritten Reiches zurückzuführen ist. Nach einer Untersuchung von Schwarz (2001) seien aufgrund des Männermangels als Folge der beiden Weltkriege ca. 25 Prozent der 1900/1905 geborenen Frauen kinderlos geblieben, allerdings mit kontinuierlich abfallender Tendenz bis zu den Geburtsjahrgängen ca. 1932/1935. Von den Geburtsjahrgängen 1900-1925, die wir als die Geburtsjahrgänge identifiziert haben, denen seit Einführung der Pflegeversicherung das Gros der Hilfe- und Pflegebedürftigen zuzurechnen sein dürfte, haben nach den Untersuchungsergebnissen von Schwarz (2001) über 50 Prozent der Frauen zwei, drei oder mehr Kinder zu Welt gebracht. Nach Angaben des Alterssurvey 1996 (vgl. Kohli/ Künnemund 1999) 152
hatten von den über 70-Jährigen Männern und Frauen 86 Prozent Kinder. Beziehen wir dieses Ergebnis auf das Jahr 2006, so bedeutet dies, dass eben nur 14 Prozent der über 80-Jährigen, also der ca. vor 1925 Geborenen, kinderlos sind. Und so konnten auch Blinkert und Klie (1999:47) in ihrer Studie zur „Situation von häuslich versorgten Pflegebedürftigen seit Einführung der Pflegeversicherung“ ermittelten, dass derzeit fast 90 Prozent der häuslich versorgten Pflegebedürftigen eines oder mehrere Kinder haben. Richtet man nun den Blick auf die Kinder der zwischen 1900 und 1925 Geborenen, so können diese der Geburtskohorte ca. zwischen 1925 und 1950 zugeordnet werden. Hierbei handelt es sich nicht ausschließlich, aber doch zu einem erheblich Teil um jene Geburtsjahrgänge, die zum einen als die Eltern (ca. 19211946, vgl. Abbildung 4) der so genannten Babyboomer-Generation bezeichnet werden können, und zum anderen um diejenigen, die maßgeblich noch jenes „goldenen Zeitalter der Normalfamilie“ bis Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre geprägt haben. Also jenes „warmtraditionelle“ Familienmodell der „Versorgerehe“, das sich durch frühe Heirat, niedrige Kinderlosigkeit und dem Ideal der nicht erwerbstätigen und für die Familienarbeit zuständigen, „guten Mutter“ auszeichnete (vgl. Hochschild 2002). Nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben bspw. von den 1930-1940 geborenen westdeutschen Frauen 95 bis 96 Prozent geheiratet (vgl. Dritter Altenbericht 2002:218) Vor diesem Hintergrund ist es nun auch wenig erstaunlich, dass sich die sozialstrukturellen Kennzeichen des Ersten Demographischen Übergangs bei genauerer Betrachtung gegenwärtig noch deutlich in den ermittelten Daten zu den Merkmalen von privaten Pflegepersonen widerspiegeln: Rund 70 Prozent der privaten Pflegepersonen sind verheiratet, lediglich 5% sind geschieden, 70-80 Prozent der Hauptpflegepersonen sind weiblichen Geschlechts und obwohl rund 2/3 der privaten, und eben zumeist weiblichen Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter sind, waren selbst im 10-Jahres-Vergleich rund die Hälfte davon bereits zu Beginn der Pflege nicht erwerbstätig (vgl. die Tabellen 19/20; auch Schupp/ Künnemund 2004). Das heißt, mit Ausnahme des (Risiko-) Faktors, dass der Anteil der (kriegsbedingt) verwitweten Frauen vor und seit Einführung der Pflegeversicherung etwas höher sein dürfte als dies zukünftig der Fall sein wird, kann man davon ausgehen, dass in familiendemographischer Hinsicht die Lebens- und Strukturmerkmale eines erheblichen Teils der seit Einführung der Pflegeversicherung Hilfe- und Pflegebedürftigen, als auch derer Kinder, die die Pflegebedürftigen von morgen sein werden (!), weitgehend (noch) eben jenen Merkmalen der so genannten „Normalfamilie“ entsprechen, wie sie für den Ersten Demographischen Übergang kennzeichnend sind, einschließlich der Adaption einer traditio-
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nellen Frauenrolle, wie sie insbesondere von Parsons in strukturfunktionalistischer Perspektive beschrieben wurde. Entsprechend ist im Kapitel über künftige „Generationenkonstellationen“ des Dritten Altenberichts der Bundesregierung (2001:217) zu lesen: „Die große Mehrzahl älterer Menschen hat Kinder und somit die strukturellen Voraussetzungen für Kommunikation, Austausch und Unterstützung seitens der Kinder. (…) … an dem Vorhandensein erwachsener Kinder als wichtige soziale Ressource (wird sich) in den nächsten zwei Jahrzehnten nur wenig ändern“.
Und der Schlussbericht der „Enquete-Kommission Demographischer Wandel“ resümiert: „Gegenwärtig gibt es … von den tatsächlichen Beziehungsmustern her keine Anzeichen, die auf eine Destabilisierung der familialen Unterstützungsnetzwerke hindeuten würden. (…) In den nächsten 30 Jahren führen daher allein die soziodemographischen Veränderungen nicht zu einer Abnahme des familialen Hilfepotenzials für Pflegebedürftige“ (vgl. Enquete-Kommission 2002: Demographischer Wandel, S.515; 516).
Und: „…die aktuellen Partnerschafts- und Familienstrukturen geben insgesamt keinen Anlass zu Befürchtungen, dass es in nächster Zeit zu gravierenden quantitativen Einbrüchen und Veränderungen im familialen Netzwerk älterer Menschen kommen werde. Zumindest für die nächsten beiden Jahrzehnte lässt sich aus der zahlenmäßigen Entwicklung der Partnerschafts- und Familienkonstellationen der ins Alter kommenden Bevölkerung noch kein Abbau des familialen Hilfe- und Unterstützungspotentials vorhersagen. Insofern ergibt sich aus der familiendemographischen Entwicklung nicht zwangsläufig ein höherer Bedarf an staatlichen oder privaten Dienstleistungen“ (vgl. Dritter Altenbericht 2001:222).
Der aktuelle, Fünfte Altenbericht der Bundesregierung (2005), verweist zwar auf sich verändernde Partnerschaftsbeziehungen und auf einen höheren Anteil von Menschen ohne Kinder, so dass dem nicht-familialen privaten Netz der Zukunft möglicherweise ein stärkere Bedeutung zukommen wird als heutzutage, jedoch „ist aber zu bedenken, dass diese Entwicklung einen Zeitraum von zwei bis drei Dekaden umfassen wird“ (vgl. Fünfter Altenbericht 2005:314). Wenn hier davon gesprochen wird, dass in einem Zeitraum für die nächsten 20 bis 30 Jahre aus familiendemographischen Gründen nicht mit einem gravierenden Abbau der familialen Hilfe- und Unterstützungspotentiale zu rechnen sei, so ist davon auszugehen, dass hier, auch wenn dies nicht explizit formuliert wird, eben jene Geburtskohorte (als künftige Hilfe- und Pflegebedürftige) in den Blick genommen wird, die bislang das Kinderpflegepotential der Mehrheit der Hilfe154
und Pflegebedürftigen seit Einführung der Pflegeversicherung stellten. Also jene ca. zwischen 1925 und 1950 Geborenen, deren Ehe- und Familiensystem – zumal im Vergleich zur darauffolgenden Generation – noch weitgehend dem Modell der „Normalfamilie“, wie es für den Ersten Demographischen Übergang kennzeichnend ist, entspricht, und die, wie bereits dargelegt, mehrheitlich als die Eltern der so genannten „Babyboomer-Generation“ bezeichnet werden können. Nun wurde bereits mehrfach darauf verwiesen, dass die Meinungen und Einschätzungen darüber, ob das familienergänzende Sozialversicherungsmodell Pflegeversicherung bislang zu einer Stabilisierung des informellen Pflegepotentials beigetragen hat, durchaus divergent sind. Unter der Voraussetzung, dass die Einschätzung zutrifft, wonach die Pflegeversicherung bislang vorrangig auf solche familiendemographischen und strukturellen Rahmenbedingungen traf, die weitgehend noch jenen Grundvoraussetzungen entsprechen, die das Zustandekommen eines häuslichen Pflegearrangements eher wahrscheinlich machen, so bedeutete dies jedoch zweierlei: Zum einen wäre dann ein Erfolg der subsidiär ausgerichteten Pflegeversicherung nicht „maßgeblich“ auf jene “Effekte der Mitte der 90er Jahre eingeführten Pflegeversicherung, die als Rahmenbedingung einen maßgeblichen Anteil an der Stabilisierung der häuslichen Pflege gehabt haben dürfte“ (vgl. MuG-Forschungsprojekt: Schneekloth/ Wahl 2005:231) zurückzuführen, sondern darauf, dass das familienergänzende Pflegeversicherungsmodell bislang vorrangig von eben solchen strukturellen und funktionalen Hintergrundbedingungen (Hintergrundsicherheit) profitierte, die eine Übernahme häuslicher Pflegeleistungen – selbst ohne die Einführung der Pflegeversicherung und derer (Teil-) Leistungen – ohnehin wahrscheinlich gemacht hätte. Vergessen wir nicht, dass auch vor Einführung der Pflegeversicherung die Versorgung Hilfe- und Pflegebedürftiger traditionell – und sogar in noch höherem Ausmaß als gegenwärtig – in den Privathaushalten von informellen Hilfepersonen geleistet wurde (vgl. Brög 1980; Schneekloth 1996, auch Kapitel 1.1 dieser Arbeit). Und es würde andererseits aber auch bedeuten: Wenn es der Pflegeversicherung bislang tatsächlich nicht gelungen sein sollte, eines ihrer wesentlichsten Steuerungsziele zu erreichen, nämlich den „Vorrang der häuslichen Pflege“ durch eine Stabilisierung der häuslichen Pflegearrangements (vgl. Simon 2003; Runde et al 2003), obwohl die der Pflegeversicherung vorgelagerten externen Rahmenbedingungen häusliche Pflegetätigkeiten übernehmen und bewältigen zu können in den vergangenen Jahren günstig waren, und selbst in den kommenden 20 bis 30 Jahren – zumindest in familiendemographischer Perspektive aus Sicht der zukünftigen Hilfe- und Pflegebedürftigen – noch sein werden (vgl. Dritter Altenbericht 2001:222; Enquete-Kommission 2002: Demographischer Wandel, S. 515, 516), wie erklärt sich dann jener durchaus gravierende Wandel in der Inanspruchnahme von Pflegeversicherungsleistungen, der bereits heute auf einen 155
Rückgang der durchschnittlichen familiären Hilfeleistung pro Hilfebedürftigem hinweist (vgl. Simon 2003; Schulz/ Leidl/ König 2001)? Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass die der Pflegeversicherung inhärenten (finanzwirtschaftlichen) Steuerungswirkungen, die häusliche Pflege eher zu destabilisieren als sie zu fördern (vgl. Kapitel 3.3. dieser Arbeit), tendenziell eher noch unterschätzt werden. Oder/und es ließe sich dadurch erklären, dass der Blick vor allem verstärkt auch auf solche externen Faktoren zu richten ist, der über die gängigen Parameter „familiendemographische Entwicklung“ und „intergenerationale Solidarität“ hinausgehen muss. Sicher, bestimmte Partnerschafts- und Familienstrukturen – nennen wir sie „harte Faktoren“ – sind essentielle Grundvoraussetzungen dafür, ob im Rahmen eines familienergänzenden Sicherungssystems ein langfristiges und stabiles informelles Pflegearrangements überhaupt zustande kommen kann. Menschen, die im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit nicht auf (verheiratete) Angehörige des sozialen und räumlichen Nahbereichs zurückgreifen können (Ehepartner/Kinder), sind für den Leistungskatalog der Pflegeversicherung im ambulanten Bereich nichts anderes als ein „Fremdkörper“. Doch vor dem Hintergrund des sich bereits gegenwärtig deutlich abzeichnenden Wandels in der Inanspruchnahme von Pflegeversicherungsleistungen sind bestimmte Partnerschafts- und Familienstrukturen allein zwar notwendige, aber offensichtlich noch keine hinreichenden Voraussetzungen dafür, informelle Pflegetätigkeiten übernehmen zu können. Das heißt, der gängigen These gegenüber, oder nennen wir es besser der Hoffnung, dass auch in den kommenden 20 bis 30 Jahren aufgrund der „aktuellen Partnerschafts- und Beziehungsstrukturen“ (vgl. Dritter Altenbericht 2001:222) nicht mit einem Abbau der familiären Hilfe- und Unterstützungsleistungen zu rechnen sein wird, da nun verstärkt die Eltern der so genannten Babyboomer-Generation in das hilfe- und pflegebedürftige Alter kämen, wäre doch erhebliche, und im weitern noch zu begründende Skepsis, entgegenzubringen. Denn offensichtlich werden bereits gegenwärtig solche Faktoren unterschätzt, die wir als „weiche Faktoren“ für die Hintergrundsicherung der häuslichen Pflege bezeichnen würden, wie bspw. eine zunehmende räumliche Mobilität, erodierende Normalarbeitsverhältnisse, steigende berufliche Belastungen, sinkende finanzielle Ressourcen, sich verändernde Geschlechtsrollenmodelle u. ä. Das heißt, die entscheidende Frage, ob es – entgegen des Resümees der Altenberichte der Bundesregierung oder der EnqueteKommission Demographischer Wandel – in den nächsten 20-30 Jahren nicht doch einen höheren Bedarf an privaten und staatlichen Dienstleistungen wird geben müssen oder gar eine gänzliche Revision des vorrangig auf subsidiäre Eigenleistungen hin angelegten Sozialversicherungsmodells Pflegeversicherung, wird sich u. E. zwar auch, aber eben nicht allein, an den noch relativ „günstigen“ Partnerschafts- und Familienkonstellationen derjenigen entscheiden, die bereits 156
kurzfristig in das Hilfe- und Pflegebedürftige Alter kommen werden. In diesem Sinne wir nun nachfolgend danach zu fragen sein, welche Faktoren noch zu identifizieren sind, die das Konfliktpotential einer „Ökonomie der Moral“ (vgl. Dallinger 1997, vgl. auch Kapitel 3.5 dieser Arbeit), also jene Abwägungs- und Entscheidungsprozesses zwischen den Polen des „Sollens“ und des „Könnens“, bereits kurzfristig noch beträchtlich erhöhen werden.
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4 Stabile familiale Angehörigenpflege vor öffentlicher Fürsorge – wie fraglos ist die subsidiäre Logik der Pflegeversicherung in die Zukunft verlängerbar?
Wie bereits ausführlich dargelegt, gipfelt das Kalkulationsrisiko der Pflegeversicherung in der entscheidenden Frage, inwieweit die Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse sowohl der Pflegebedürftigen selbst als auch derer informeller Helfer strukturell wie funktional die Voraussetzungen dafür bieten, ob ein informelles Pflegearrangement und dessen u. U. längerfristige und höchst voraussetzungsvolle Aufrechterhaltung überhaupt zustande kommen kann. Allerdings „ist der Stand der Forschung bislang nicht einmal soweit, dass sich mit einiger Sicherheit sagen ließe“, welche Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse als „relevante Bedingungen“ in Betracht zu ziehen wären, von denen sich sagen ließe, ob und in welcher Hinsicht sie die Stabilität einer informellen (Angehörigen-)Pflege künftig beeinflussen könnten (vgl. Blinkert/ Klie 2002:57). Wenn wir nun nachfolgend diese bislang offene Frage aufgreifen, fragen wir also vor allem in alltagspraktischer Hinsicht nach jenen „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ (vgl. Kaufmann 1997:109), denen im Sinne der Pflegeversicherung die Absicherung des Pflegerisikos in so erheblichem Maße überantwortet wird. Aufgrund der Komplexität des Gegenstands soll und kann es dabei nicht darum gehen, zu arithmetischen Ergebnissen zu gelangen, also darum, um wie viele Prozentpunkte das informelle Pflegepotential in einem bestimmten Zeitraum ab- oder zunehmen wird. Eine Orientierung auf einer Zeitachse ist jedoch gleichwohl unabdingbar. Denn, wie vorangegangen aufgezeigt wurde, lässt sich u. E. auch die Frage, ob die Pflegeversicherung und deren Zielsetzung, die häusliche Pflege zu stabilisieren, nicht allein auf der Grundlage der Wirkungen des PflegeVG allein beantworten. Man kann es auch so formulieren: Die im Pflege VG verankerten Maßnahmen zur Stabilisierung der informellen (Angehörigen-) pflege wirken nicht aus sich selbst heraus, sondern sind im hohen Maße von dynamischen sozialstrukturellen äußeren Rahmenbedingungen bzw. gesellschaftlichen Wandlungsprozessen abhängig. Insofern vorangegangen die These vertreten wurde, dass die Pflegeversicherung bislang in erheblichem Maße von solchen sozialstrukturellen und funktionalen Hintergrundbedingungen profitierte, die als 158
weitgehend passförmig zu den höchst voraussetzungsvollen Anforderungen einer häuslichen Pflegeübernahme gelten können, soll nun danach gefragt werden, wie es um diese „Passförmigkeit“ in mittel- bis längerfristiger Perspektive bestellt sein wird, wobei hierbei unterstellt wird, dass die Anforderungen an die Übernahme und Aufrechterhaltung eines häuslichen Pflegearrangements selbst (u. a. räumliche Nähe, hohe zeitliche Ressourcen, ausreichendes übriges Familieneinkommen usw.), weitgehend unveränderlich sind. Bei der Frage nach der zu erwartenden Stabilität des informellen Pflegepotentials wollen wir uns, wie bereits dargelegt und begründet, vor allem auf die Geburtskohorte der ca. zwischen 1950 und 1970 Geborenen konzentrieren, also auf das informelle Kinderpflegepotential der kommenden zwei bis drei Jahrzehnte. In familiensoziologischer und familiendemographischer Hinsicht handelt es sich bei den ab ca. 1950 Geborenen um jene Generation, die nun nicht mehr für das Modell des Ersten Demographischen Übergangs steht, sondern vielmehr für das Modell des Zweiten Demographischen Übergangs. Das heißt, ab dieser Generation löste sich der bis in die 1960er Jahre bestehende strukturelle und normative Zwang zur Eheschließung weitgehend auf. In den 1970er Jahren verlor die Institution Ehe „plötzlich“ ihre regulative Bedeutung. Galt „Ehe und Heirat als kulturelle Selbstverständlichkeit“, so vollzog sich nun ein Übergang zur „Ehe als ambivalenter Entscheidung“. Dies verdeutlicht zum einen die seit Anfang der 1970er Jahre sinkende Geburtenrate sowie „die sprunghafte Zunahme“ allein erziehender Väter sowie die Ausweitung des Phänomens allein erziehender Mütter über die bis dahin eher verwitwungsbedingten Fälle hinaus. Ebenso wird die Pluralisierung der Lebensformen in partnerschaftlichen Beziehungen ohne Trauschein ebenfalls auf diesen Zeitrahmen datiert (vgl. 7. Familienbericht 2005: 32ff; 129ff; 151ff). Mit diesem Übergang zerbricht aber auch die Basis jenes „warm-traditionellen Familienmodells“ (vgl. Hochschild 2002). Und im Ergebnis führte dieser Übergang „zu einer tief greifenden Reorganisation des Lebenslaufs von Frauen, Männern und Paaren“. Und mithin ist aber auch zwangsläufig das Profil der traditionellen Aufteilung der Haus- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern durch die Pluralisierung der Lebensformen und die sich verändernde „externe Verzahnung der Familie mit außerfamilialen Realitäten“ (vgl. 7. Familienbericht 2005) vor neue Herausforderungen gestellt.
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4.1 Zur künftigen Entwicklung der Anzahl Hilfe- und Pflegebedürftiger Exkurs: Einige Bemerkungen zur Demographiedebatte Wenn hier nach der Zukunft des „Vorrangs der häuslichen Pflege“ durch informelle Pflegetätigkeiten gefragt wird bzw. danach, wie fraglos die subsidiäre Logik der Pflegeversicherung in die Zukunft verlängert werden kann, so stellt sich hinsichtlich der veränderten familialen und außerfamilialen Realitäten und deren Passförmigkeit zu den Anforderungen einer informellen Pflegeübernahme zunächst die Frage, wie sich der Bedarf nach informeller Angehörigenpflege überhaupt entwickeln wird und in welchem Verhältnis „Bedarf und Angebot“ zukünftig zueinander stehen werden. Da sich aus den Daten der Pflegeversicherungsstatistik gegenwärtig ein deutlicher Zusammenhang zwischen Alter und Pflegebedürftigkeit herauslesen lässt – wir erinnern daran, dass rund 2/3 der Pflegebedürftigen nach SGB XI über 80 Jahre alt sind, da das Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko ab diesem Alter signifikant ansteigt -, und insofern man zunächst unterstellt, dass ein solcher Zusammenhang, in welchem Ausmaß auch immer, auch in Zukunft bestehen wird, so liegt es nahe, den Blick zunächst auf die zu erwartende demographische Entwicklung der Bevölkerung zu richten. Obgleich die Zahl der geborenen Kinder pro Frau bereits seit über 30 Jahren unterhalb des Wertes von 2,1 liegt, der zur Bestandhaltung der Elterngeneration nötig wäre, wurde der Demographiediskurs erst in jüngster Zeit für die gesellschaftspolitische Bühne „entdeckt“ und dominiert diese seither mit dem Argument, die sozialen Sicherungssysteme seien aufgrund der zu erwartenden demographischen Entwicklung („Bevölkerungsrückgang“, „Überalterung der Gesellschaft“) nicht mehr zu finanzieren. Wer gegenwärtig ohne Kinder ist, der soll sich verantwortlich fühlen: „Für den Kollaps des Rentensystems, den ökonomischen Niedergang, die Erosion der Werte, der Verlust von Liebe, Solidarität und Familie und insgesamt für das Aussterben der Deutschen“ (vgl. Schwentker 2006). Und es ist die Demographie, die als wissenschaftliche Autorität zur Erklärung dieses gesamten Spektrums, von der „Erosion der Werte“ bis zum „Aussterben der Deutschen“, herangezogen wird. Doch obgleich die Demographie eine durchaus umstrittene Wissenschaft ist, wird seitdem eine Politik des forcierten Sozialabbaus mit ihren Prognosen begründet und als weithin alternativlos hingestellt (vgl. Krieser 2004; Müller 2004). Gleichsam so, als handele es sich bei demographischen Prognosen um naturgesetzliche Entwicklungen. Dabei ist die Demographie, wie kaum eine andere Wissenschaft, auf den Gebrauch des Konjunktivs angewiesen. Das heißt, ihre Prognosen sind immer nur so treffsicher, wie die Annahmen, die sie diesen Prognosen unterlegt, in einem bestimmten Zeitraum auch tatsächlich zutreffen werden, wobei der Unsicherheitsfaktor 160
steigt, je weiter die Annahmen in die Zukunft projiziert werden. Und so ist es recht unwahrscheinlich, dass Schätzungen zur Entwicklung der Gesamtbevölkerungszahl vor 50 Jahren Einflussfaktoren wie bspw. die Entwicklung und Verbreitung der Antibabypille bis hin zur Öffnung der Grenzen Osteuropas hätten voraussehen und berücksichtigen können (vgl. Bosbach 2004). Dessen ungeachtet stellt die 50 Jahres-Prognose gegenwärtig wie selbstverständlich den gängigen Bezugsrahmen zur Deutung der demographischen Entwicklung dar. Wie problematisch dies jedoch ist, zeigen die jüngsten Vorausschätzungen der Bevölkerungszahl des Statistischen Bundesamtes. Die Spannbreit ist erheblich: Nach der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Bundesamtes wird bspw. die Einwohnerzahl Deutschlands im Jahre 2050 zwischen 54 Mio. und 81 Mio. Menschen liegen, je nach Annahme bzw. Variante, die den Berechnungen jeweils zugrunde gelegt wird, also insbesondere der Entwicklung der Geburtenrate, der Zuwanderung sowie der Entwicklung der Lebenserwartung.54 Weitaus weniger „gespreizt“ gibt sich eine Bevölkerungsvorausberechnung bis 2050 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Dort werden den Parametern Zuwanderung (Nettozuzüge) und Entwicklung der Lebenserwartung lediglich 2 Varianten unterlegt. Einmal durchschnittliche jährliche Nettozuzüge von 222.000 bzw. 270.000 (der Wanderungssaldo der BRD war in den vergangenen 50 Jahren durchweg positiv und betrug durchschnittlich jährlich 200.000, vgl. Statistisches Bundesamt 2003:22) sowie eine Lebenserwartung mit einer abgeschwächten und einer konstanten Lebenserwartung. In der einen Variante sinkt die Einwohnerzahl Deutschlands bis zum Jahre 2050 auf 79 Mio., und liegt damit nur geringfügig unter dem heutigen Bevölkerungsstand (82,5 Mio.), in der anderen Variante wird „die Einwohnerzahl auch langfristig nicht unter das gegenwärtige Niveau fallen“ (vgl. Schulz 2004:1). Vom „Der letzte Deutsche“ (SPIEGEL- Titel 2/2004) oder vom „Raum ohne Volk“ (SPIEGEL-Online, vom 17.5.2001) kann hier also keine Rede mehr sein und diese Beispiele zeigen, wie fließend die Grenzen zwischen Demographie und öffentlicher Hysterie sein können, je nachdem, welche Annahmen unterlegt und lanciert werden und welche (sozialpolitischen) Absichten u. U. damit verfolgt werden sollen (vgl. Butterwegge 2006).
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So wird die Bevölkerungszahl in Deutschland im Jahre 2050 81. Mio. Mensch betragen, wenn man eine „hohe Wanderung“ (jährlicher Saldo mindestens 300.000 Menschen) unterlegt sowie eine hohe Lebenserwartungsannahme (durchschnittliche Lebenserwartung 2050 bei 83 bzw. 88 Jahren); eine Bevölkerungszahl von 54 Mio. Menschen im Jahr 2050 wird hingegen auf der Grundlage eines ausgeglichenen Wanderungssaldos und einer im Vergleich zu heute unveränderten Lebenserwartung vorausberechnet. Insgesamt unterlegen die Berechnungen des Bundesamtes 9 (!) verschiedene Varianten. (vgl. Statistisches Bundesamt 2003:26;27).
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Bei aller Vorsicht, die bei langfristigen Bevölkerungsprognosen und ihrer politischen wie publizistischen Rezeption bzw. Meinungsbildung anzumahnen ist, sind die zu berücksichtigenden Faktoren und deren Einfluss auf das Gesamtergebnis jedoch durchaus bekannt, nur deren eigene Entwicklung ist eben nicht vorauszusehen – wenngleich auch durchaus politisch beeinflussbar, wie das Beispiel der skandinavischen Länder oder auch Frankreichs mit vergleichsweise „hohen“ Geburtenraten zeigt. Verhältnismäßig sicher sind jedoch Bevölkerungsprognosen, deren Ursachen teils bereits weit zurückliegen. In diesem Sinne ist neben der „Entwicklung der Gesamtbevölkerungszahl“ die „Alterung“ der Bevölkerung eine weitere Komponente demographischer Vorhersagen. So ist die Alterung bzw. die Altersstrukturverschiebung im Aufbau einer Bevölkerung eine unmittelbare Folge gesunkener Fertilität. Sie wird verstärkt durch eine steigende Lebenserwartung und abgeschwächt durch internationale Wanderungen, da Migranten in der Regel jünger sind als die ansässige Bevölkerung. Ebenso trägt das Binnenwanderungsverhalten, je nach Wanderungsgewinnen oder -verlusten zur Altersstrukturverschiebung in den Regionen bei. Da die Fertilitätsrate bereits seit 1970 das so genannte Bestandhaltungsniveau beständig unterschreitet, die Lebenserwartung in der Vergangenheit kontinuierlich angestiegen ist, und auch ein stärkerer Zuwanderungssaldo den Altersaufbau jenseits der 60- beziehungsweise 65-Jährigen kaum beeinflusst, ist damit zu rechnen, dass im Zeitverlauf – trotz der verstärkten Zuwanderung der vergangenen Jahre – der Anteil jüngerer Altersgruppen sinkt und der Anteil älterer Menschen ansteigt (vgl. Dietz 2002; BRB 2004). Das heißt, eine Verschiebung in der Altersstruktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft hin zu den älteren Bevölkerungsanteilen kann für die nächsten Jahrzehnte als sicher angenommen werden. Ob die zu erwartende Altersstrukturverschiebung im Bevölkerungsaufbau jedoch – dem in der gesellschaftspolitischen Diskussion dominierenden Argument zufolge – zwangsläufig dazu führen muss, dass die sozialen Sicherungssysteme selbst nicht mehr sichergestellt werden können, ist hingegen durchaus weniger eindeutig, als es die Art und Weise, wie die öffentliche Debatte hierüber gegenwärtig geführt wird, zunächst glauben macht. Würden die Daten für die aktuelle Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes ganzheitlicher betrachtet, so müsste man beispielsweise auch darauf aufmerksam machen, dass der demographischen Entwicklung bereits ein Teil ihrer „Dramatik“ dadurch genommen würde, betrachtete man in diesem Zusammenhang nicht nur einseitig den „Altenquotient“, sondern ebenso den „Jugendquotient“, also den „Gesamtquotient“. Im Sinne des Gesamtquotienten würden dann den steigenden „Belastungen“ bei den Ausgaben für die ältere Bevölkerung auch „Entlastungen“ bei den Ausgaben für die jüngere
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Bevölkerung gegenüberstehen.55 Auch unterstellen die pessimistischen Prognosen im Rahmen der politisch-ökonomischen Diskussion eine gleich bleibende Leistungsfähigkeit eines heutigen Beschäftigten bis in das Jahr 2050. Hierbei wird jedoch ausgeblendet, dass aufgrund des technischen Fortschritts auch die Arbeitsproduktivität steigt. Würde die zu erwartende Produktivitätssteigerung mitberücksichtigt, so würde dies dazu führen, dass auch in Zukunft steigende Einkommen und steigende Renten/Gesundheitsausgaben durch ein wachsendes Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung erwirtschaftet werden kann. Immerhin, die Relation zwischen dem Anteil der Erwerbstätigen, die für einen Rentner aufkommen müssen, verschlechtert sich seit langem beständig ohne dass dies den kontinuierlichen Ausbau des Sozialstaates bis ca. Mitte der 1970er Jahre verhindert hätte. Kamen 1900 auf eine Person über 65 Jahre rund zwölf Erwerbstätige, sind es im Jahre 2000 gerade noch vier. Gleichwohl ist der Lebensstandard in den vergangenen 100 Jahren deutlich angestiegen und der Sozialstaat ein Dreivierteljahrhundert lang ausgebaut worden. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Verteilung der Produktivitätsgewinne künftig gleichmäßig zwischen Jung und Alt, Arm und Reich sowie Arbeit und Kapital geschieht. Das heißt, sofern künftig einzelne Gruppen der Gesellschaft schlechter gestellt werden, ist dies nicht ausschließlich der demographischen Entwicklung zuzuschreiben, sondern Problemen bei der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums (vgl. u.a. Reuter 2004; Bosbach 2004; Butterwegge 2006). Erstaunlicherweise wird gegenwärtig auch keine Diskussion darüber geführt, wie Deutschland heute aussähe, hätte es den mittlerweile so vehement beklagten Rückgang der Geburten seit Ende der 1960er Jahre nicht gegeben. Deutschland hätte dann ca. 21 Millionen Einwohner mehr (Geburtenjahrgang 1965 hochgerechnet), es wären rund doppelt so viele Menschen mit Ausbildungsplätzen und weiterführenden Bildungsgängen zu versorgen wie heute, und das Erwerbspersonenpotential würde anstatt heute 53 Millionen knapp 63 Menschen umfassen (vgl. Voß 2006). Angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Lehrstellenknappheit resümiert Voß: „Die ausgefallene Generation ist ein Glück“ (vgl. ebenda). Oder in anderen Worten: „Die Situation der sozialen Sicherungssysteme und deren Probleme ist kein demographisches Problem, sondern in erster Linie durch die Wirtschaft gemacht, und zwar nicht durch ihr Erlahmen, sondern durch ihre Effizienz“. Und es ist „zweites ein Problem der offenen Gesellschaft, das die Politik auf die Sozialsysteme übergewälzt hat. Sie hat in den vergangenen 15 Jahren die Bundesrepublik geöffnet wie nie zuvor: für 17 Millionen DDR-Bürger, dazu Spätaussiedler und 55
So macht beispielsweise die Prognos AG in ihrer jüngsten Studie „Demographie als Chance“ darauf aufmerksam, dass allein durch die sinkenden Schülerzahlen bis zum Jahr 2020 bis zu 100 Milliarden Euro „frei werden könnten“ (vgl. http://www.prognos.com/cgi-bin/cms/ start/news/D/show/news/1153147540)
163
Übersiedler aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion. … Summa summarum eine politische Erfolgsgeschichte, in der sich die Probleme des Kalten Krieges endlich lösen – auf Kosten, unseligerweise, der Systeme sozialer Sicherung (vgl. Hondrich 2005:2). Obgleich die Frage nach der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme aufgrund der zu erwartenden Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung im Hinblick auf eine möglicherweise notwendige Revision des Teilkasko-Modell famlienergänzende Pflegeversicherung bedeutsam ist, soll diese jedoch nicht vorderster Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein, sondern die Frage danach, was die sich verändernde Altersverteilung für die Sicherstellung des „Vorrangs der häuslichen Pflege“ durch informelle Pflegepersonen zunächst und eigentlich bedeutet. Stellen wir nun also die Frage nach der Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen, um daraus den zu erwartenden Bedarf nach informellen Hilfeleistungen abzuleiten: Um die Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen über einen längeren Zeitraum zu prognostizieren, bedarf es insbesondere genauer Kenntnisse zur zukünftigen Altersstrukturentwicklung der Bevölkerung sowie Annahmen über die Entwicklung der Pflegefallhäufigkeiten (Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko) je Altersgruppe. Doch wie bereits angemerkt wurde, hängt die Zuverlässigkeit von Prognosen immer vom Grad der (langfristigen) Gültigkeit derjenigen Annahmen ab, die diesen Prognosen unterlegt werden. Und wie schwierig es offensichtlich ist, möglichst exakte Prognosen zur Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen zu erstellen, lässt sich aus nachfolgender Tabelle entnehmen. Hier werden entsprechende Modellrechnungen vorgestellt, die zwischen den Jahren 1997 und 2000 angefertigt wurden. Zum einen lässt sich hieraus ersehen, wie sehr die Annahmen zur Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen bereits in einem Prognosezeitraum von nur wenigen Jahren von den meisten Autoren eher unterschätzt wurden – zur Erinnerung, die Anzahl der Pflegebedürftigen i. S. d . SGB XI hat bereits im Jahre 2003 die Schwelle von 2 Mio. überschritten – und zum anderen zeigt sich, wie sehr die Annahmen bei Betrachtung eines längeren Prognosezeitraums auseinander gehen – von 2,26 Mio. im Jahre 2040 (vgl. Rothgang/ Vogler 1997) bis hin zu 4,02 Mio. im Jahre 2050 (vgl. DIW 1999).
164
Tabelle 22: Modellrechnungen zur Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland Modellrechnung (Autoren) Zentrum für Sozialpolitik Bremen (Rothgang/ Vogler 1997)
Annahmen (1) zur Entwicklung der …. altersspezifischen Pflegefallhäufigkeiten An die Bestimmungen des SGBXI angepasste Pflegefallwahrscheinlichkeiten der Infratest Studien (vgl. Fachinger et al 1995); konstant bleibend
Lebenserwartung (LE)
Geschätzte Zahl der Pflegebedürftigen
konstante LE ab 2000 (nach Bomsdorf (1994), Modell 1)
1993: 1,52 Mio. 2010: 1,85 Mio. 2030: 2,16 Mio. 2040:2,26 Mio.
- mittleres Szenario dito.
abgeschwächt steigende LE (nach Bomsdorf (1994), Modell 2)
2010: 1,87 Mio. 2030: 2,32 Mio. 2040: 2,52 Mio.
dito.
kontinuierlich steigende LE (nach Bomsdorf (1994), Modell 2)
2010: 1,90 Mio. 2030: 2,49 Mio. 2040: 2,78 Mio.
dito.
8. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung (stagnierende LE) mit 2 Migrationsvarianten
- unteres Szenario
- oberes Szenario
Modellrechnung für die EnqueteKommission „Demographischer Wandel“ (Wille et al. 1999) - Szenario 1+2
dito. - Szenario 3+4
Kuratorium Deut-
Leistungsempfänger der
1995: 1,66 Mio. 2010: 1,97-1,98 Mio. 2030: 2,30-2,34 Mio. 2040: 2,41-2,48 BMI Bevölkerungsvorausschätzung Mio. (abgeschwächte LE) mit 2 1995: 1,64 Mio. Migrationsvarianten 2010: 1,92-1,94 Mio. 2030: 2,52-2,57 Mio. 2040: 2,70-2,79 Mio.
BMI
Ende 1997: 1,75
165
sche Altershilfe (Rückert 1998)
Pflegeversicherung Ende 1997; konstant bleibende Prävalenzzahlen
Bevölkerungsvorausschätzung
Mio. Ende 1997: 1,75 Mio. Ende 2010: 2,04 Mio.
Prognos-Gutachten für den VDR (Eckerle/Oczipka 1998)
Leistungsempfänger der Pflegeversicherung Ende 1996; konstant bleibende Prävalenzzahlen
bis 2002 kontinuierlicher, danach abgeschwächter Anstieg der LE. Restliche LE 65-Jähriger im Jahr 2030: Männer: 16,8 Jahre Frauen: 21 Jahre
1996: 1,55 Mio. 2010: 1,87 Mio. 2040: 2,46 Mio.
DIW 1999
ambulante Pflegefallquoten (1995), konstant bleibend
kontinuierlich ansteigende Le (Variante B)
1997: 1,31 Mio. 2020: 2,25-2,26 Mio. 2050: 3,88-4,02 Mio.
nicht veröffentlicht
Ende 1998: 1,81 2010: bis 2,14 Mio.
Bundesministerium Leistungsempfänger der Pflegeversicherung Ende für Gesundheit 1998 2000
(1) Auf die Darstellung zur Migrationsentwicklung wird verzichtet. Gegenüber Mortalitätsannahmen haben diese einen vergleichsweise geringern Einfluss auf die zukünftige Zahl der Pflegebedürftigen. Quelle: Dritter Altenbericht 2001:88 Die besonderen Schwierigkeiten, die zukünftige Anzahl der Pflegebedürftigen über einen längeren Zeitraum vorherzusagen, sind vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die künftige Entwicklung von Mortalität und Morbidität nur schwer einschätzen lässt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berechnete bspw. auf der Grundlage einer eigenen Bevölkerungsvorausschätzung aus dem Jahre 199956, dass die Zahl der 70-Jährigen und Älteren bis 2020 um 4,8 Mio. und bis 2050 um weitere 6,4 Mio. steigen wird. Prozentual wird der Zuwachs innerhalb dieser Altersgruppen bis 2020 mit rund 170 Prozent bei den 80bis 85-Jährigen und im Zeitraum 2020 bis 2050 mit rund 160 Prozent bei den 90Jährigen und Älteren am größten sein. Insgesamt ist also der Zuwachs gerade in den bislang am stärksten von Pflegebedürftigkeit betroffenen Altersgruppen bis 2050 mit rund 280 Prozent (80- bis 85-Jährige), 240 Prozent (85- bis 90-Jährige) 56
166
Die Berechnungen des DIW gehen von einem nahezu konstanten Geburtenniveau, einer weiteren Erhöhung der Lebenserwartung auf 81,4 Jahre bei den Männern und auf 86,4 Jahre bei den Frauen sowie einem durchschnittlichen Wanderungssaldo von 260.000 aus (vgl. Schulz/ Leidl/ König 2001b:8).
und 410 Prozent (90-Jährige und Ältere) beträchtlich (vgl. Schulz/ Leidl/ König 2001a:2ff). Entsprechend resümiert das DIW: „Starker Anstieg der Pflegebedürftigkeit zu erwarten“ (vgl. ebenda, S. 1). Das Statistische Bundesamt prognostiziert auf der Grundlage seiner jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung bis zum Jahr 2050 folgenden Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands: Tabelle 23: Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands (1) Davon im Alter von…bis…Jahren Insgesamt am Jahresende
Unter 20
60 und älter
20-59
Millionen
Insgesamt
80 und älter
In %
1950
69,3
30,4
55,0
14,6
1,0
1970
78,1
30,0
50,1
19,9
2,0
1990
79,8
21,7
57,9
20,4
3,8
2001
82,4
20,9
55,0
24,1
3,9
2010
83,1
18,7
55,7
25,6
5,0
2030
81,2
17,1
48,5
34,4
7,3
2050
75,1
16,1
47,2
36,7
12,1
(1) Ab dem Jahr 2010 Schätzwerte der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 5 „mittlere“ Bevölkerung: mittlere Wanderungsannahme W2 (jährlicher Saldo 200.000 Personen) und mittlere Lebenserwartungsannahme L2 (durchschnittliche Lebenserwartung 2050 bei 81 bzw. 87 Jahren), vgl. Statistisches Bundesamt 2003:31 Nach den Schätzwerten des Statistischen Bundesamtes wird sich also die Anzahl der 80-Jährigen und Älteren im Zeitraum zwischen 2001 und 2050 verdreifachen, wohingegen der Bevölkerungsanteil im Alter zwischen 20 und 59 Jahren bis zu diesem Zeitpunkt rückläufig sein wird. Diese erhebliche Diskrepanz im Altersstrukturaufbau zwischen Älteren und Jüngeren muss auch unter dem Aspekt gesehen werden, dass die Altersgruppe der bis 59-Jährigen nicht nur einen Teil des zukünftigen informellen Kinderpflegepotentials beinhaltet, sondern auch diejenigen repräsentiert, die im erwerbsfähigen Alter sind. Mit anderen Worten also diejenige Alters- oder Personengruppe, aus der sich auch das professionelle Pflegepotential zur Versorgung älterer, pflegebedürftiger Menschen
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sowohl in den stationären Einrichtungen als auch bei den ambulanten Diensten rekrutiert. Da also vor allem der Bevölkerungsanteil hoch- und höchstaltriger überproportional anwachsen wird, verweisen die Autoren der DIW-Studie entsprechend darauf, dass die Zahl der „Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen“ (Pflegestufe II und III) stärker steigen wird als die Zahl der „erheblich Pflegebedürftigen“ (Pflegestufe I). Damit weist der Versorgungs- und Betreuungsbedarf eine dynamischere Entwicklung auf als die Zahl der Pflegefälle (vgl. Schulz/ Leidl/ König 2001a:1). Ein überproportional wachsender Versorgungs- und Betreuungsbedarf ist aufgrund der Altersstrukturverschiebung hin zu den Höchstaltrigen insbesondere für die Gruppe der dementiell Erkrankten anzunehmen. Unter der Voraussetzung, dass die gegenwärtigen Prävalenzraten für dementielle Erkrankungen bis zum Jahre 2050 konstant blieben, so würde auf der Basis der 5. Variante der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung die Zahl der Demenzkranken von 0,97 Mio. im Jahr 2005 auf etwa 1,58 Mio. im Jahr 2030 und auf über 2,2 Mio. im Jahr 2050 ansteigen (bei Betrachtung aller Demenzkranken, gleich, ob pflegebedürftig i. S. d. SGB XI § 14 oder nicht). Verglichen mit der Entwicklung der „übrigen Pflegebedürftigen“ i. S .d. SGBXI§14 zeigt sich, dass die Gruppe der dementiell Erkrankten stärker wächst als die Gruppe der „übrigen Pflegebedürftigen“ (vgl. Häcker/ Raffelhüschen 2005:3). Richten wir die Perspektive auf die häusliche Pflege, würde die zu erwartende Altersstrukturverschiebung zu den hoch- und höchstaltrigen sowie das überproportionale Anwachsen dementieller Erkrankungen sicherlich einen ansteigenden allgemeinen Betreuungs- und Aufsichtsbedarf bedeuten, einschließlich entsprechender zeitlicher, psychischer wie auch physischer (Mehr-)Belastungen für die informellen Pflegekräfte. Wenn also zu erwarten ist, dass die Anforderungen an die informellen Pflegeleistungen aus den genannten Gründen zukünftig eher ansteigen, so ist aber auch zu vermuten, dass die informelle Pflege zunehmend weniger von den Ehepartnern wird erbracht werden können und schon gar nicht über informelle Hilfeleistungen von Freunden oder aus der Nachbarschaft, sondern vor allem die Kinder der Pflegebedürftigen als informelle Hauptpflegepersonen künftig verstärkt gefragt sein werden. Nun kann man allerdings grundsätzlich nicht häufig genug daran erinnern, dass Zukunftsszenarien eben immer nur so treffsicher sind wie die Annahmen, die den vermuteten und in die Zukunft projizierten Entwicklungsprozessen unterlegt werden, auch zutreffend sind. So macht dann beispielsweise auch das DIW in seiner Vorausberechnung zur Anzahl der zukünftigen Pflegebedürftigen darauf aufmerksam, dass bei einer veränderten Berechnungsgrundlage, die bspw. eine um fünf Jahre geringere Lebenserwartung (im Jahre 2020) zugrunde legt, die Zahl der Pflegefälle bis 2020 „nur“ auf 2,7 Mio. (statt 2,9 Mio.) und bis 2050 168
auf 3,3 Mio. (statt 4,7 Mio.) ansteigen würde (vgl. Schulz/ Leidl/ König 2001b:13ff). Und in einer grundsätzlichen methodenkritischen Perspektive muss darauf hingewiesen werden, dass bislang fast alle aktuellen Berechnungen zur künftigen Entwicklung der Pflegefallquoten auf der Grundlage der Leistungsempfänger der gesetzlichen und privaten Pflegeversicherung basieren. Berechnungsgrundlage für die in der Zukunft zu erwartenden Pflegefallquoten ist also jene Definition von Pflegebedürftigkeit, wie sie gegenwärtig im Pflegeversicherungsgesetz verankert ist. Das heißt jedoch, je nachdem, ob und in welche Richtung der „offizielle“ Pflegegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI zukünftig möglicherweise modifiziert werden wird, wird die Höhe der zu erwartenden Pflegefallquoten heute entweder entsprechend über- oder unterschätzt, geradeso wie die „offiziell“ rund 2 Mio. Hilfe und Pflegebedürftigen (nach SGB XI) – aus eben jenem Grund – bereits gegenwärtig durchaus kein Gesamtbild von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Deutschland wiedergeben (vgl. Kapitel 3.1). Ebenso wird den Vorausberechnungen über die zu erwartende Anzahl der Pflegebedürftigen in aller Regel ein konstant bleibendes Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko unterstellt. Gegenwärtig sind zwar 2/3 der Empfänger von Pflegeversicherungsleistungen achtzig Jahre und älter, wobei die Ausprägung der Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Lebensalter ansteigt. Eine sehr entscheidende und weitgehend offene Frage ist jedoch, ob und in welchem Ausmaß dieser Zusammenhang zwischen Alter und Pflegebedürftigkeit auch in Zukunft bestehen wird. Anders formuliert: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird die Formel „Je älter, desto Pflegebedürftiger“ auch in Zukunft zutreffen? Zur Entwicklung der Morbidität im Alter gibt es eine Reihe von Thesen, die bspw. Fragen darüber aufgreifen, welche Krankheiten und Störungen altersabhängig sind und welche nicht, welche Krankheiten gewissermaßen demographisch „mitwachsen“ und welche aufgrund des medizinischen Fortschritts zurückgedrängt werden könnten. Es geht hier also um eine Einschätzung der künftigen altersspezifischen Pflegefallwahrscheinlichkeit bei einer unterstellten Zunahme der Lebenserwartung. Vorrangig sind in diesem Kontext drei Theorien zu benennen, von denen die eine, die so genannte „Expansions- oder auch Medikalisierungsthese“, eher pessimistisch von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Altenbevölkerung ausgeht, da die Bekämpfung tödlicher Krankheiten erfolgreicher verlaufen sei und auch weiterhin erfolgreicher verlaufen werde als die Vorbeugung chronischer Erkrankungen, was zur Folge habe, dass immer mehr Menschen ein Alter erreichen, in dem sich chronische Erkrankungen einstellen. So könnten diese Menschen Dank des medizinischen Fortschritts zwar immer länger am Leben erhalten werden, doch es verbessere sich nicht der Gesundheitszustand, sondern es verlängere sich nur die Dauer der Erkrankung(en) bzw. es erhöhe sich das Zusammenwirken und die Kumulation verschiedener alters- und krankheitsbedingter Ursachen für Hilfe169
und Pflegebedürftigkeit; beispielsweise das Vorherrschen und Zusammenwirken von Akuterkrankungen mit bleibenden Einschränkungen (Schlaganfall, Unfälle), chronisch-degenerativer Erkrankungen, altersbedingte physische Funktionseinschränkungen sowie altersbedingte psychische und dementielle Erkrankungen. Mit anderen Worten: Eine Zunahme des Anteils alter und sehr alter Menschen bedingt, trotz des medizinischen Fortschritts, oder besser gesagt gerade deswegen, demnach auch einen Anstieg der Zahl hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (vgl. Verbrugge 1984; auch Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ 1998:220; Bickel 2001). Für die Gültigkeit der Expansionsthese würde bspw. die heute durchschnittlich längere Lebenserwartung der Frauen sprechen, denn die deutlich längere Lebensspanne der Frauen den Männern gegenüber geht gleichzeitig mit einer erhöhten Betroffenheit von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit einher (zwei Drittel der Leistungsbezieher von Pflegeversicherungsleistungen sind gegenwärtig Frauen, vgl. Statistisches Bundesamt 2004). Demgegenüber vertritt die so genannte „Kompressionsthese“ die eher optimistische Auffassung, dass ein gesundheitsbewusstes Verhalten sowie der medizinisch-technische Fortschritt künftig altersspezifische Krankheiten sowohl in ihrer Prävalenz als auch in ihrer Ausprägung reduziere und sich so die Spanne der „kranken“ Jahre insgesamt verkürze, Pflegebedürftigkeit mithin also bis kurz vor Eintritt des Todes bzw. des „biologischen Maximalalters“ vermieden/komprimiert werden könne (vgl. Fries 1990). Eine dritte These, die so genannte „Bimodal-These“, versucht beide vorangegangen dargestellten Thesen miteinander zu verbinden. So geht diese These davon aus, dass es primär altersabhängige Krankheiten gebe, die sich im Sinne der Kompressionsthese in die späteren bzw. ganz späten Lebensjahre verlagern ließen und Erkrankungen, die zwar überwiegend im Alter auftreten, die aber eigentlich nicht in einem kausalen Zusammenhang mit einer steigenden Lebenserwartung stünden. Diese, vor allem chronischen Erkrankungen und andere sekundäre Beeinträchtigungen, die bereits in jüngeren Jahren erworben werden, jedoch meist erst in Alter auftreten, könnten sich gleichsam als „Massenphänomen“ auf die gesamte Altersspanne ausdehnen und bis ins hohe Alter hinein „expandieren“ (Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ 1998:220). Welcher These man auch immer zuneigt, so wird folgendes doch sehr deutlich: Die für die Gegenwart gültige statistische Wahrscheinlichkeit, ab einem bestimmten Alter pflegebedürftig zu werden bzw. das Maß der Ausprägung von Pflegebedürftigkeit, ist durchaus keine feste Konstante. Ob der medizinischtechnische Fortschritt zukünftig tatsächlich in der Lage sein wird, altersspezifische (Mehrfach-) Erkrankungen bis kurz vor Eintritt des Todes zu komprimieren, und dadurch längere Phasen von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, oder ob gerade der medizinisch-technische Fortschritt im Sinne der Expansionsthese das 170
Erkrankungsspektrum immer weiter in Richtung langwieriger, chronischdegenerativer Erkrankungen verändert, darüber kann nur spekuliert werden. In jedem Fall aber würde ein Rückgang der Prävalenz von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit oder auch der Ausprägung von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit durch entsprechende Fortschritte im medizinisch-technischen Bereich bedeuten, dass künftig auch alle gleichermaßen an diesen Fortschritten teilhaben. Und obgleich dies eine Selbstverständlichkeit sein sollte, kann angesichts der seit Jahren zu beobachtenden Privatisierungstendenzen im Bereich der sozialen- und gesundheitlichen Absicherung sowie einer zunehmend sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich (vgl. Armuts- und Reichtumsbericht 2005) auch darüber durchaus spekuliert werden, zumal das Risiko pflegebedürftig zu werden bereits heute eine soziale Ungleichverteilung aufweist (vgl. Schneekloth/ Müller 1999). Von größerer Bedeutung als der medizinisch-technische Fortschritt, das Pflegefallwahrscheinlichkeitsrisiko zukünftig zu beeinflussen, scheinen jedoch Aspekte der frühzeitigen Prävention und Rehabilitation bereits ab dem mittleren Lebensalter zu sein. So macht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen darauf aufmerksam, dass eine wesentliche Reduktion von Mortalität und Morbidität nicht so sehr von den Fortschritten der kurativen Medizin, sondern vielmehr von der Realisierung definierbarer präventiver Maßnahmen – im Sinne einer Verhaltens- und Verhältnisprävention – abhänge (SvRGesundheit/Gutachten 1996). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegen in den amtlichen Statistiken die chronischen Krankheiten gegenüber den Akuterkrankungen, bspw. Herz-Kreislaufstörungen, bösartige Neubildungen (Krebs), Beeinträchtigung der Atemwege und der Verdauung sowie psychosomatische und psychovegetative Befindlichkeitsstörungen (vgl. Hurrelmann 2000). Zu den dominanten Gesundheitsproblemen im Alter gehören insbesondere HerzKreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ II, Atemwegserkrankungen, Osteoporose und Stürze, Infektionskrankheiten, Inkontinenz sowie Depressionen und Demenzen. Bereits im mittleren Erwachsenenalter werden die Grundlagen dafür gelegt, inwieweit es gelingt, ein hohes Alter in Gesundheit zu erreichen. Dabei ist die Chance, mit frühzeitiger Prävention altersbedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen bis hin zu altersspezifischer Multimorbidität, insbesondere in der letzten Lebensphase, zu vermeiden oder zumindest auf einen vergleichsweise kurzen Lebensabschnitt zu komprimieren, bei der Altersgruppe der 40- bis 60Jährigen am stärksten ausgeprägt (vgl. Dritter Altenbericht 2001). Doch auch bei alten Menschen werden hohe präventive Potenziale traditionell erheblich unterschätzt, die sich jedoch durch Veränderungen der Lebensweise, vor allem im Hinblick auf Bewegungsverhalten, Ernährung, das Lebensumfeld sowie durch eine moderne funktionale Durchdringung ärztlicher Versorgung mit Elementen der klinischen Präventionsmedizin ausschöpfen ließen. Gesellschaftli171
ches und professionelles Leitbild sollte entsprechend die Ermöglichung „erfolgreichen Alterns“ sein. Eine nicht bedarfs- und ergebnisorientierte altersgerechte Prävention und Versorgung sowohl im mittleren Lebensalter als auch im Alter, so der Sachverständigenrat bereits in seinem Gutachten aus dem Jahre 1996, werde langfristig einen „Bumerang-Effekt“ haben. Zur Vermeidung des „demographisch bedingten Zusatzbedarfs an Versorgung“ sei deshalb für die Zukunft eine „vorausschauende, risikominimierende Gesundheitspolitik“ notwendig (vgl. SvR-Gutachten 1996:31). Nun muss man allerdings – und immer wieder – zum einen darauf aufmerksam machen, dass das Pflegeversicherungsgesetz, obwohl in den §§ 5 und 6 SGB XI explizit der „Vorrang von Prävention und Rehabilitation“ verankert ist, aus verschiedenen Gründen, die bereits ausgeführt wurden, eben kein präventives, sondern vielmehr ein reaktives Gesetzt ist. Und zum anderen ist eine „Vermeidung, Abschwächung oder zeitliche Verschiebung von Mortalität und Morbidität“ durch rechtzeitige, vor allem primärpräventive Strategien, nicht alleine Gegenstandbereich expliziter Gesundheitspolitik, sondern ebenso verschiedener anderer impliziter Politikbereiche wie „Wirtschafts- und Sozialpolitik, darunter Arbeitsmarktpolitik, Bildungspolitik, darunter Schulpolitik, Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und Umweltpolitik“ (vgl. SvR-Gutachten 2005:23). Ob die aktuellen sozialpolitischen- und gesundheitspolitischen Entwicklungslinien in diesem Sinne explizit und implizit vorausschauend und risikominimierend auf eine Vermeidung des „Bumerang-Effekts“ hinwirken, mit anderen Worten also „erfolgreiches Altern“, und damit eine Reduktion des Pflegefallwahrscheinlichkeitsrisikos, begünstigen, dies wird an anderer Stelle in bestimmten Punkten noch ausführlicher zu behandeln sein. An diese Stelle kann jedoch zunächst festgehalten werden, wie außerordentlich komplex und vielschichtig die Einflussflaktoren sind, die in den nächsten Jahrzehnten über die Entwicklung der Anzahl der zu erwartenden Pflegebedürftigen mitbestimmten werden. Jedoch wäre es schon allein aufgrund der zu erwartenden beträchtlichen Altersstrukturverschiebung im Altersaufbau der Bevölkerung sicherlich naiv, und auch wenig verantwortungsvoll, gewissermaßen nach dem Prinzip Hoffnung davon auszugehen, dass sich mittel- und langfristig die Anzahl der Pflegebedürftigen, und damit auch der Bedarf an informellen und formellen Pflegepersonen, kaum nennenswert erhöhen wird, denn es deutet tatsächlich vieles darauf hin, dass sich nicht nur die Anzahl der Hoch- und Höchstaltrigen erhöhen wird, sondern auch die Schwere der Ausprägung von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit (Stichwort: dementielle Erkrankungen).
172
4.2 Zur räumlichen Dimension der Altersstrukturverteilung Altersstrukturverschiebungen im Altersaufbau einer Bevölkerung sind, so wurde es im vorangegangenen Kapitel dargestellt, das Ergebnis einer relativ zeitgleichen Abnahme der Geburtenrate und der Zunahme der Lebenserwartung. Im Folgenden soll nun ein Blick auf die räumliche Dimension der zu erwartenden Altersstrukturentwicklung, und damit auch auf die zu erwartende räumliche Struktur von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, gerichtet werden. Vorrangig für Ostdeutschland muss hinsichtlich der Faktoren „Abnahme der Geburtenrate“ und „Zunahme der Lebenserwartung“ nicht nur von einem „Double-Ageing-Prozess“ gesprochen werden, sondern von einem „Triple-Ageing-Prozess“, der vor allem auf die massiven Abwanderungsbewegungen aus den neune Bundesländern seit der so genannten Wende zurückzuführen ist (vgl. Dietz 2002:219). Seit dem Zusammenbruch des ehemaligen DDR-Systems vollzieht sich in Ostdeutschland eine deutliche Veränderung der natürlichen und räumlichen Bevölkerungsbewegung. Zum einen wanderten zwischen 1989 bis 2003 rund 1,8 Mio. Menschen vor allem in die alten Bundesländer ab (vgl. Schulz 2004) und zum anderen ist die ostdeutsche Binnenwanderung immer stärker angewachsen, so dass diese bald den Großteil der Wanderungen ausmachte (vgl. Mai 2004). Interessant an den ostdeutschen Wanderungsmustern ist insbesondere deren alters-, geschlechts- und regionenspezifische Ausdifferenzierung. Entsprechende Untersuchungen zeigen auf, dass sowohl die Abwanderung von Ost nach West als auch die ostdeutsche Binnenwanderung vor allem von den jüngeren bis mittleren Altersgruppen (bis 50 Jahre) getragen wird, von den Frauen mehr als von den Männern, und die Abwanderung überwiegend aus den strukturschwachen, ländlichen Gebieten sowie den ebenso strukturschwachen, altindustrialisierten Mittelstädten, wie bspw. Cottbus, Frankfurt/Oder, Brandenburg/Havel, Hoyerswerda, Suhl oder Görlitz erfolgt (vgl. Mai 2004; Kröhmert/ Medicus/ Klingholz 2006; Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung [BBR] 2004). Obgleich die neuen Bundesländer noch vor der Wende, bedingt durch die geburtenfördernde Politik der DDR-Regierung, eine bessere Ausgangslage hatten als Westdeutschland, werden dort in den nächsten Jahren die altersstrukturellen Veränderungen aufgrund der Ost-West-Abwanderungsprozesse dynamischer verlaufen als die in den alten Ländern. Bis zum Jahre 2020 errechnete die Raumordnungsprognose des BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung) folgende Dynamik:
173
Tabelle 24: Altersstrukturelle Veränderungen 1999-2020; Veränderungen des Bevölkerungsstandes einer jeweiligen Altersgruppe in Prozent der entsprechenden Ausgangsbevölkerung 1999 Alte Länder
Neue Länder
75 Jahre und älter
+ 44,1
+ 73,8
60 bis unter 75 Jahre
+ 11,7
+ 13,2
40 bis unter 60 Jahre
+ 11,3
+ 1,1
26 bis unter 40 Jahre
- 20,4
- 18,0
20 bis unter 26 Jahre
+ 5,3
- 26,7
16 bis unter 20 Jahre
- 8,9
- 40,7
6 bis unter 16 Jahre
- 21,3
- 23,5
bis unter 6 Jahre
- 19,9
+ 14,1
Quelle: Raumordnungsprognose 2020, BBR 2004, S.123, eigene Darstellung Der Raumprognose 2020 kann man entnehmen, dass die Anzahl der 75-Jährigen und älteren, also der Bevölkerungsanteil mit einem – zur Zeit – erhöhten Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko in den neuen Ländern bis zum Jahre 2020 um fast 74 Prozent anwachsen wird, und damit weitaus dynamischer als in den alten Ländern. Hingegen wird in diesem Zeitraum der Anteil der 40 bis unter 60-Jährigen, also der Anteil aus dem sich im statistischen Mittel ein erheblicher Teil des informellen Pflegepotentials (Kinderpflegepotential) rekrutiert (vgl. Tabelle 19 dieser Arbeit), in den alten Ländern nur um 11,3 Prozent anwachsen und in den neuen Ländern fast auf einem Stagnationsniveau verharren. Im gleichen Zeitraum wird der Bevölkerungsanteil der 26 bis unter 40-Jährigen um – 20,4 Prozent (West) und um – 18,0 Prozent (Ost) zurückgehen. Und der Bevölkerungsanteil der 20 bis unter 26-Jährigen wird in Ostdeutschland um -26,7 Prozent abnehmen und in Westdeutschland mit +5,7 Prozent nur moderat anwachsen. Betrachtet man also die erwerbsfähigen Bevölkerungsanteile der 20 bis 60Jährigen, so wird deutlich, dass in den kommenden ca. 15 Jahren vor allem in Ostdeutschland nicht nur mit einem wanderungsbedingten Rückgang des informellen (Kinder-)Pflegepotentials (40 bis unter 60-Jährige) in bestimmten Regionen gerechnet werden muss, sondern ebenso damit, dass sich auch professionelle Mitarbeiter – ebenso wanderungsbedingt – für die ambulante, aber auch stationä-
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re Pflege zunehmend schwieriger werden rekrutieren lassen.57 Das Rekrutierungsproblem sowohl für die informelle als auch für die professionelle Pflege dürfte sich noch dadurch erhöhen, dass sich insbesondere Frauen, die heute im Durchschnitt die besseren Schul- und Ausbildungsergebnisse zeigen, seit der Wende als räumlich mobil erweisen (vgl. Kröhmert/ Medicus/ Klingholz 2006; Mai 2004). So wanderten bspw. noch im Jahre 2004 20 Prozent mehr Frauen als Männer in den Westen. In der Altersgruppe der 18-29-Jährigen fehlen in den neuen Bundesländern (einschließlich Berlin) mittlerweile zehn Prozent der weiblichen Bevölkerung und in manchen, besonders strukturschwachen Gebieten/Kreisen Ostdeutschlands, wie etwa Vorpommern, Ostsachsen, der Prignitz oder Nordthüringen, kommen auf 100 Männer nur noch 80 Frauen (vgl. Kröhmert/ Medicus/ Klingholz 2006). Dabei stehen sowohl die Verwerfungen im Altersstrukturaufbau als auch im Geschlechterverhältnis in einem engen Zusammenhang mit den sozioökonomischen Standortqualitäten einer Region: „Vor allem bei jüngeren und mittleren Altersgruppen werden Wanderungen vorrangig ökonomisch motiviert interpretiert. Sie sind in erste Linie von Arbeitsmarkt-, Lohn- und Einkommensdisparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland bzw. innerhalb Ostdeutschlands abhängig. Eine Wanderung wird dann realisiert, wenn Disparitäten vorherrschen und als solche wahrgenommen werden, wobei die Wahrscheinlichkeit mit dem sozioökonomischen Gefälle steigt und die Bewertung altersspezifisch differiert. (…) In gleichem Maße beeinflussen die regionsspezifischen Standortqualitäten die Wanderungen: sie tragen dazu bei, dass sich ein bestimmtes Wanderungsmilieu entwickelt und auf die Entscheidung einwirkt“ (vgl. Mai 2004:217).
Eine nennenswerte durchschnittliche bis stark unterdurchschnittliche Alterung der Bevölkerung in Ostdeutschland weisen in einem Prognosezeitraum bis 2020 lediglich vergleichsweise strukturstarke Groß- oder Universitätsstädte wie Dresden, Leipzig, Erfurt, Jena sowie Potsdam (jeweils mit Umland) auf (vgl. BBR 2004). Und dies bedeutet für große Teile der neuen Länder: „Alterung, Frauendefizit und eine Konzentration gering qualifizierter Personen“ (vgl. Kröhnert 2002:2). Jedoch wäre es verkürzt, die offensichtlich sehr diffizilen Prozesse der Altersstrukturentwicklung in ihrer räumlichen Dimension ausschließlich als ein Phänomen Ostdeutschlands zu betrachten. Denn Ost und West haben durchaus gleichgerichtete Tendenzen, die lediglich in ihrer Intensität unterschiedlich ablaufen (vgl. BRB 2004). So zeigt sich, betrachtet man Deutschland insgesamt, nicht nur ein Ost-West-Gefälle im Binnenwanderungsverhalten, und damit auch 57
Im Gegensatz zu den alten Bundesländern verzeichnen bereits heute die ambulanten Pflegediensten in alle neuen Bundesländer Probleme bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter (vgl. Pflege-Thermometer 2004).
175
der Altersstrukturverschiebung mit entsprechenden Auswirkungen auf das quantitative Verhältnis von Hilfe- und Pflegebedürftigen zu informellen sowie professionellen Helfern, sondern auch ein Nord-Süd-Gefälle (vgl. Rostocker Zentrum zur Erforschung des demographischen Wandels 2005 [ZDWA]). Insgesamt sind bspw. im Jahr 2004 knapp 3,8 Mio. Menschen innerhalb Deutschlands in eine andere Gemeinde umgezogen. Die höchsten innerdeutschen Wanderungsgewinne, die „stark von den Erwerbsmöglichkeiten in den jeweiligen Bundesländern beeinflusst“ werden, erzielten die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen (vgl. Statistisches Bundesamt 2006:14). Obgleich es evident ist, dass der Prozess einer in seiner räumlichen Dimension unterschiedlich verlaufenden Altersstrukturverschiebung bereits kurz- bis mittelfristig Auswirkungen auf die Organisation informeller Unterstützungsnetzwerke – vor allem in den neuen Bundesländern – haben wird, wurde bislang die Frage, was dies für einen Sozialversicherungszweig bedeutet, der das Vorhandensein solcher Unterstützungsnetzwerke (im räumlichen Nahbereich) stillschweigend voraussetzt, kaum von der Wissenschaft aufgegriffen. Zwar liegen Daten zur siedlungsstrukturellen Altersverteilung durchaus vor, jedoch gibt es bislang fast keine Untersuchung über die Verteilung von Pflegebedürftigkeit und pflegerischer Versorgung in ihrem räumlichen Bezug. Hier lassen sich erst allmählich einige örtliche und kreisbezogene Ansätze beobachten. Am Beispiel der Dynamik der aktuellen Altersstrukturentwicklung in ihrer räumlichen Dimension wird deutlich, dass diese eben nicht nur von zu- oder abnehmenden Geburtenraten in der Vergangenheit abhängt, sondern eben auch wesentlich von den je spezifischen Arbeitsmarktchancen und ökonomischen Entwicklungsperspektiven für die jüngeren Bevölkerungsteile in den Regionen. Und diese vor allem ökonomische und arbeitsmarktpolitische Dynamik beeinflusst wiederum die generativen Ressourcen, die für das Zustandekommen und die Sicherstellung eines informellen (aber auch formell unterstützten) häuslichen Pflegearrangements bei Pflegebedürftigkeit älterer Menschen, insbesondere im Sinne des Kinderpflegepotentials, notwendig sind. Der Faktor „Arbeit und Ökonomie“ ist jedoch nicht nur im Besonderen in quantitativer Hinsicht und in regionaler Perspektive zu betrachten, also dahingehend, ob und wie viele Arbeitsplätze in einer Region für diejenigen Bevölkerungsanteile mittleren und jüngeren Alters bereit stehen, die bereits gegenwärtig und noch vielmehr künftig mit informeller Pflegetätigkeit konfrontiert sein werden, sondern es ist auch danach zu fragen, ob und wie sich die Erwerbsformen und die Anforderungen, die sich aus den Beschäftigungsverhältnissen für die familiale Haus- und Sorgearbeit ergeben, möglicherweise in den letzten Jahren auch qualitativ gewandelt haben und was dies wiederum für das Zustandekommen und die Sicherstellung häuslicher Pflegearrangements (zukünftig) bedeuten kann. 176
4.3 Lebensverläufe, Erwerbsbeteiligung und Erwerbsformen im deregulierten Kapitalismus – Konsequenzen für die informelle Pflege Den entsprechenden wenigen empirischen Untersuchungen zufolge, und wie es sicherlich aber auch der Lebenserfahrung vieler Menschen entsprechen wird, ist die Übernahme und u. U. langfristige Aufrechterhaltung eines häuslichen Pflegearrangements durch informelle (Angehörigen-) Pflege eine ausgesprochen voraussetzungsvolle Tätigkeit, welche erbracht werden zu können dann umso wahrscheinlicher wird, je mehr strukturell und funktional die Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse sowohl der Pflegebedürftigen selbst als auch ihrer Helfer hierfür die entsprechenden Voraussetzungen bieten. Man kann es auch so formulieren: Je komplexer die sozialen, ökonomischen und (familien-) demographischen Verhältnisse sind, desto komplexer und schwieriger sind die entsprechenden Betreuungs- und Aushandlungsarrangements zur Gewährleistung informeller Pflegeleistungen (vgl. Dallinger 1997; Blinkert/ Klie 1999, 2002, 2003; Brömme 1999; Schneekloth/ Müller 1999; Runde et al. 2003; Schneekloth/ Wahl 2005). In einem ersten Schritt haben wir daraus bereits geschlossen, dass das Modell der so genannten traditionellen „Normalfamilie“ zu den eher „günstigen“ Hintergrundvoraussetzungen gerechnet werden kann, das die Übernahme einer informellen (Angehörigen-)Pflege wahrscheinlicher macht, und es wurde bereits aufgrund einer groben Einschätzung darauf hingewiesen, dass der Großteil sowohl der Pflegebedürftigen selbst als auch deren Kinderpflegepotential strukturell und funktional bislang noch weitgehend diesem (vormodernen) Modell entsprochen haben dürfte. Gleichwohl ist allerdings auch davon auszugehen, dass bestimmte traditionelle Familien- und Partnerschaftskonstellationen zwar notwendige, aber eben noch keine hinreichenden Voraussetzungen dafür sind, ob im sozialen und räumlichen Nahbereich informelle Pflegeleistungen im Sinne einer „neuen Kultur des Helfens“ überhaupt erbracht werden können. Das heißt, der Blick ist im weiteren eben auch drauf zu richten, ob und wie sich, über die familiendemographischen Beziehungskonstellationen hinaus, die Lebensverläufe, und damit auch die alltagspraktischen Lebensverhältnisse der Menschen, in den letzten Jahren verändert haben. In diesem Zusammenhang ist vor allem daran zu erinnern, dass die Übernahme und die langfristige Aufrechterhaltung eines häuslichen Pflegearrangements u. a. hohe zeitliche Ressourcen der informellen Pflegepersonen voraussetzt, mit anderen Worten also eine nur geringe oder gar keine Erwerbstätigkeit der Hauptpflegeperson, ausreichende ökonomische Ressourcen (Stichwort: übriges Familieneinkommen), aber auch eine möglichst unmittelbare räumliche Nähe zur hilfe- und pflegebedürftigen Person. Ob und in welchem Maße diese Voraussetzungen in den Lebensverhältnissen der Pflegepersonen, und insbesondere in Bezug auf das künftige informelle Kinderpflegepotential 177
gegeben sind, um in alltagspraktischer Hinsicht häusliche Pflege überhaupt leisten zu können, darüber entscheidet wiederum, wie bereits dargelegt, ganz entscheidend der Faktor „Erwerbstätigkeit der informellen Pflegeperson(en)“ (vgl. auch Kapitel 3.5). Es wurde bereits drauf aufmerksam gemacht, dass in (familien-) soziologischer Perspektive das „warm-traditionelle“ Familienmodell der „Normalfamilie“, wie es als „kulturelle Selbstverständlichkeit“ für den so genannten Ersten Demographischen Übergang kennzeichnend war, seit ca. der 1970er Jahre zunehmend erodiert, so dass seit dem Zweiten Demographischen Übergang auch die „Hausund Sorgearbeit“, einerseits durch die Pluralisierung der Lebensformen in partnerschaftlichen Beziehungen sowie andererseits durch sich verändernde „außerfamiliale Realitäten“, „vor neue Herausforderungen“ gestellt ist (vgl. 7. Familienbericht 2005: 32ff; 129ff; 151ff). Und zu fragen ist nun, welche veränderten außerfamilialen Realitäten denn eigentlich und vorrangig zu benennen sind, die jene „Haus- und Fürsorgearbeit“ im Besonderen bei der Hintergrundsicherung der häuslichen Pflege vor neue und in welcher Hinsicht erschwerte Aushandlungs- und Neuordnungsprozesse stellt? Zu den maßgeblichen Veränderungen, die in diesem Sinne auf die so genannte Familienarbeit einwirken, dürfte sicherlich die seit den 1970er Jahren ansteigende Bildungsbeteiligung, insbesondere der Frauen – und damit verbunden einer steigenden Frauenerwerbsquote – zu rechnen sein, als auch strukturelle Veränderungen in den Erwerbsformen und den Arbeitsbedingungen für nunmehr beide Geschlechter. Interessant ist nun in diesem Zusammenhang, dass das Modell der „Normalfamilie“ mit seinem klaren Bezug zur geschlechterspezifischen Arbeitsteilung in einer engen Verbindung zur Herausbildung der Leitbilder des so genannten „Normalarbeitsverhältnisses“ und der „Ernährerehe“ – letzteres zumindest in westdeutscher Perspektive – steht. Beide Leitbilder sehen die Vollzeiterwerbstätigkeit des Mannes vor, der damit die materielle Versorgung der Ehefrau und der Kinder sicherstellen soll, was die (Ehe-)Frau wiederum für Familienbelange, wie die Erziehung und Betreuung der Kinder und/oder die Pflege älterer Angehöriger, wenn auch um den Preis der Desintegration in anderen Bereichen, freistellt (vgl. Osterland 1990; Schmid 2000; Mayer-Ahuja 2002). Im Allgemeinen kann das (männlich dominierte) „Normalarbeitsverhältnis“ beschrieben werden als ein Arbeitsverhältnis in Form einer arbeits- und sozialrechtlich abgesicherten, in Einklang mit tarifrechtlichen Vereinbarungen stehenden, kontinuierlichen, auf Dauer angelegten Vollzeitbeschäftigung, die es erlaubt, über einen hinreichenden Lohn die Reproduktion zu sichern, ohne dass während der Beschäftigung finanzielle Leistungen des Familien- bzw. Haushaltsverbundes und/oder existenzsichernde Transferzahlungen des Staates in Anspruch genommen werden müssen: Arbeitsrecht, Arbeitszeit und der Arbeits178
ort sind dabei in einem hohen Maße standardisiert. Obgleich das „Normalarbeitsverhältnis“ nie die ausschließliche Form der Verrichtung von Arbeit, darstellte, setzte es sich als allgemeines normatives Leitbild doch durch und wurde über Jahrzehnte hinweg zum beschäftigungspolitischen Maßstab und zur Grundlage arbeits- und auch familienpolitischer (Schutz-)Regelungen (vgl. Mückenberger 1985; Beck 1986, Bosch 1986; Schmid 2000). Dabei stellte das ökonomische Wachstum und die hohe Nachfrage an Arbeitskräften in den 1950er bis zum Ende der 1970er Jahre die Voraussetzungen und auch den Nährboden dar, auf dem die Herausbildung des „normativ“ wie „faktisch“ männlich geprägten „Normalarbeitsverhältnisses“, und damit auch die Prägung der „Normalbiographien“ des „goldenen Zeitalters der Familie“, entstehen und gedeihen konnte (vgl. Osterland 1990:351). Und wenn wir uns nun für die Bedingungen interessieren, die zukünftig verstärkt dazu beitragen könnten, das Zustandekommen informeller häuslicher Pflegearrangements zu gefährden oder zu destabilisieren, so ist zum einen der Blick auf die Erosion der „Normalfamilie“ zu richten, der späterhin noch ausführlicher erfolgen soll, als auch, und in diesem Zusammenhang, eben auch auf die Erosion von „Normalarbeitsverhältnis“ und „Ernährerehe“. Zunächst wurde die Erosion des „Alleinernährer-Modells“ kulturell bereits in den 1960er Jahren vorbereitet, also zu einer Zeit, als steigende „Versorgerlöhne“ es selbst Arbeiterfamilien erstmals erlaubten, von nur einem einzigen Verdienst zu leben. Doch galt Erwerbsarbeit inzwischen – auch als Resultat der „Neuen Frauenbewegung“ der späten 1960er Jahre – als legitimes Recht von Frauen (vgl. Mayer-Ahuja 2002:58). In Verbindung mit der westdeutschen Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre erreichten immer mehr junge Menschen einen höheren Bildungsstand, von dem insbesondere die jungen Frauen profitierten. Hinsichtlich des formalen Qualifikationsniveaus 28-30-Jähriger abhängig erwerbstätiger Frauen und Männer nach Geburtskohorten zeigt sich folgendes Bild: Von den zwischen 1920 und 1922 geborenen Frauen wiesen 74,8 Prozent einen Hauptschulabschluss mit oder ohne Lehre auf und lediglich 2,7 Prozent einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, von den Männern dieser Geburtskohorte hatten 71,3 Prozent einen Hauptschulabschluss mit oder ohne Lehre und 4,7 Prozent einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. (vgl. Handl 1996:256). Noch 1960 waren die Abiturienten eine kleine exklusive Gruppe, lediglich sechs Prozent eines Schülerjahrgangs erwarb die allgemeine Hochschulreife (vgl. Geißler 2004). Im Jahr 1965 waren in beiden deutschen Gesellschaften fast drei Viertel aller Studierenden Männer. In der ehemaligen DDR konnten damals die Studienchancen der Frauen innerhalb eines Jahrzehnts angeglichen werden. In der Bundesrepublik vollzog sich die Entwicklung zögerlicher, gleichwohl stieg die Studienanfängerquote in einem Zeitraum von 1970 179
bis 1989 bei den Männern von 15 auf 31 Prozent an und bei den Frauen von neun auf 21 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2004b). Bezogen auf ihren Anteil an den Studienanfängern konnten die jungen westdeutschen Frauen Mitte der 1990er Jahre erstmals die Männer überholen und 2003 lag der Anteil der Frauen an den Studienanfängern bei 54 Prozent und die Studienanfängerquote eines Jahrgangs betrug 2002 37 Prozent (vgl. 7. Familienbericht 2005). Wenn wir nun davon ausgehen, dass ein Studium mit ca. 20 Jahren begonnen wird, so bildet der Zeitraum zwischen 1970 und 1989 ziemlich exakt die so genannte „Babyboomer-Generation“ ab, also die ca. zwischen 1950 und 1970 Geborenen und mithin jene, die bereits heute zu einem geringeren Teil, bereits kurzfristig aber verstärkt, mit der Übernahme informeller Pflegetätigkeiten konfrontiert sein werden. Das heißt, diese Generation, und insbesondere die Frauen, konnten im Vergleich zu deren Elterngeneration, d. h. im Vergleich zu der Generation, die bisher das Gros der Pflegebedürftigen als auch das informelle Kinderpflegepotential gestellt haben dürfte, ihr formales Qualifikationsniveau erheblich steigern. Insbesondere die sich allmählich auflösenden Geschlechtsrollenmodelle in Verbindung mit der gestiegenen Bildungsbeteiligung der Frauen führte in der Folge dazu, dass die Erwerbsquote der Frauen in den letzten drei Jahrzehnten stetig zunahm und sich das männliche „Alleinernährermodell“ seither zunehmend in Richtung des „Ernährer-Zuverdienermodells“ oder auch des „Doppelverdienermodells“ verschiebt.58 Zweifelsohne führten die qualifizierteren Bildungsabschlüsse zu einem Einstellungswandel der jungen Frauen hinsichtlich des Stellenwerts einer eigenen Erwerbstätigkeit oder beruflichen Karriere. Aber auch der Umstand, dass es für junge Frauen aus verschiedenen Gründen (Stichwort: Pluralisierung der Beziehungsformen, Anstieg der Ehescheidungsquote, Absinken der Wiederverheiratungsquote usw.) immer schwieriger und riskanter wurde, sich allein auf Ehe und Familie als finanzielle Absicherung und Altersvorsorge zu verlassen, dürfte dazu beigetragen haben, dass eine eigene und kontinuierliche Berufstätigkeit – anders als bei den Repräsentantinnen des „Goldenen Zeitalters der Normalfamilie“ – mittlerweile von den Frauen nicht mehr lediglich als eine begrenzte Phase vor Ehe und Mutterschaft betrachtet wird (vgl. Meyer/ Schulze 1993). Doch trotz einer zwischenzeitlich allmählichen Angleichung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern, weisen Frauenerwerbstätigkeit und weibliche Erwerbsmuster vor allem zwei Besonderheiten auf. Zum einen erfolgte 58
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Zumindest in der amerikanischen Forschungsliteratur wird angesichts entsprechender Veränderungen der Lebensformen im Zeitabstand von nur einer familialen Generation fast durchgängig von einer „genderrevolution“ bei der „Neuverteilung von Erwerbs- und Familienarbeit“ gesprochen (vgl. 7. Familienbericht 2005:128). In Deutschland stieg bspw. die Erwerbsquote bei verheirateten Frauen von 25 Prozent im Jahr 1950 auf 50,3 Prozent im Jahr 2000 an (vgl. Statistisches Bundesamt 2002).
und erfolgt die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen vor allem im (häufig schlechter bezahlten) Dienstleistungssektor, dessen Beschäftigungspotential, im Gegensatz zum männlich dominierten Industriearbeitsbereich (produzierendes Gewerbe), seit Jahrzehnten expandiert. So sind gegenwärtig beispielsweise acht von zehn erwerbstätigen Frauen im Dienstleistungsbereich zu finden, wohingegen „nur“ ca. jeder zweite Mann in diesem Sektor beschäftigt ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2005b). Und zum anderen wird die weibliche Erwerbstätigkeit vor allem durch Beschäftigungsverhältnisse in Teilzeit dominiert. So arbeiten 45,3 Prozent der Frauen (West) – 27,8 Prozent Ost – in Teilzeit, wohingegen nur 6,2 Prozent der Männer (West) – 6,3 Prozent Ost – einer Teilzeitarbeit nachgehen (vgl. Statistisches Bundesamt 2005c). Ebenso sind Frauen in höherem Maße geringfügig erwerbstätig. Nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit werden Mini- und Midijobs vor allem von Frauen genutzt. Besonders ausgeprägt ist dies bei den Minijobs: hier machen Ende 2003 Frauen 75 Prozent der Beschäftigten aus. Bei den ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten beträgt der Frauenanteil 68,1 Prozent und bei den Nebenjobbern 56,4 Prozent. (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2004). Obwohl Frauen durch die Umstrukturierung des Arbeitsmarktes – vom Industriesektor zum Dienstleistungssektors – als die „Gewinnerinnen“ bezeichnet werden können, beinhalten diese Veränderungen „nicht zwingend auch den Zuwachs an Beschäftigung mit familienernährendem Einkommen“, denn zumindest „in den letzten 10 Jahren erfolgte der Beschäftigungsgewinn vorrangig im Niedriglohnsektor der personenbezogenen Dienstleistungen“ (vgl. 7. Familienbericht 2005:147). Vor allem in Westdeutschland waren und sind Frauen in Teilzeit erwerbstätig oder geringfügig beschäftigt, was vor allem auf die unterschiedlichen „Erwerbstraditionen“ zwischen West- und Ostdeutschland zurückzuführen ist. Da die Erwerbstätigkeit auch für verheiratete Frauen und Mütter zu DDR-Zeiten eine Selbstverständlichkeit war, sind Frauen in Ostdeutschland auch heute noch häufiger vollzeiterwerbstätig als verheiratete Frauen und Mütter im Westen, allerdings ist mittlerweile auch in Ostdeutschland ein Anstieg von Teilzeitbeschäftigung und geringfügiger Beschäftigung bei den Frauen zu beobachten, wobei das Motiv, keine Vollzeiterwerbstätigkeit auszuüben, von den Frauen in Ostdeutschland anders als bei den Frauen in Westdeutschland nicht auf die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zurückgeführt wird, sondern vor allem darauf, dass eine Vollzeiterwerbstätigkeit nicht gefunden werden konnte (vgl. Dressel 2005). Obgleich Frauen in den letzten Jahrzehnten insgesamt mehr ökonomische und rechtliche Unabhängigkeit erlangten und sich deren Erwerbstätigenquote, insbesondere durch den kräftigen Anstieg der Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen und Mütter, denen der Männer mittlerweile fast angleicht, bezeichnet Mayer-Ahuja (2002) Frauenarbeit doch weitgehend „als Bewahrerin und Wegbe181
reiterin prekärer Beschäftigung“. Sie macht deutlich, dass selbst in Zeiten der Vollbeschäftigung, als sich das „Normalarbeitsverhältnis“ etablierte, die Beschäftigungsverhältnisse von Frauen meist hinter den dadurch etablierten materiellen, rechtlichen und betrieblichen Integrationsstandards zurückblieben: „In materieller Hinsicht ließ die Erwerbsarbeit von anderweitig abgesicherten Frauen selbst in einer Zeit steigender Realeinkommen die Zahlung nicht existenzsichernder Löhne und Gehälter akzeptabel erscheinen, da diese nach weit verbreiteter Überzeugung nur das ‚Normaleinkommen’ eines ‚Ernährers’ ergänzen sollten“ (vgl. Mayer-Ahuja 2002:89). Mayer Ahuja (vgl. ebenda) merkt an, dass diese Position selbst 1991 noch in einem Gutachten für das Bundeswirtschaftsministerium vertreten wurde. Auch würde „sozialversicherungsfreie Beschäftigung (…) bis heute sogar im versicherungszentrierten westdeutschen Sozialsystem akzeptiert, weil den betroffenen Frauen seit den 1960er Jahren pauschal der Status von Erwerbstätigen abgesprochen wird, die an existenzsichernden Einkommen oder einer Absicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter interessiert sein könnten. Entsprechend fänden sich geringfügig beschäftigte Frauen – zusammen mit befristet Beschäftigten, welche die Anwartszeiten der Versicherung nicht erfüllen, und marginal Selbständige, die nicht sozialversichert sind – wie ehedem bestenfalls mittelbar abgesichert in der westdeutschen Arbeitsnehmergesellschaft wieder, gleichsam als moderne mithelfende Familienangehörige“ (vgl. ebenda, S. 90, auch Oertzen 1999). Natürlich gehen heute viele Frauen vor allem im jüngeren und mittleren Alter einer Erwerbstätigkeit nach, die dem materiellen und rechtlichen Standard vieler Männer entspricht. Gleichwohl ist der Analyse von Mayer-Ahuja (2002) sicherlich zuzustimmen, dass zu einem erheblichen Teil die Erwerbstätigkeit und die Erwerbsformen, zumindest der westdeutschen Frauen, und gemessen am Leitbild des „Normalarbeitsverhältnisses“, schon immer einen höheren Grad an so genannter „prekärer Beschäftigung“ aufwiesen und bis heute aufweisen als die der Männer. Allerdings ist auch das männlich dominierte Leitbild des „Normalarbeitsverhältnisses“ mit seinem hohen Standardisierungsgrad der Dimensionen des Arbeitsrechts, der Arbeitszeit und des Arbeitsorts seit ca. Mitte der 1980er Jahre zunehmend in Auflösung begriffen. Das heißt, das „weitgehende Gleichgewicht“ zwischen „Normalarbeitsverhältnis“, „Normalfamilie“ und „Normalbiographie“ (vgl. Osterland 1990), wie es für das „ goldenen Zeitalter der Normalfamilie“ kennzeichnend war, geriet vor allem durch die „ökonomischen Krisenerscheinungen, die Ende der 1970er Jahre einsetzten“, zunehmend ins Wanken (vgl. Schmid 2005).59 Um die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmark59
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Neben den ökonomischen Krisenerscheinungen seit Ende der 1970er Jahre ist jedoch sicherlich auch die zunehmend sich verändernde Einstellung zur Rolle der Frau zu nennen, die das traditionelle Gleichgewicht zwischen „Normalarbeitsverhältnis“/“Ernährerehe“, Normalfamilie“
tes zu erhalten, kamen in der Folgezeit umfassende Maßnahmen der Deregulierung zum Tragen, wobei diese sich vor allem in zahlreichen arbeits- und sozialrechtlichen Neuregelungen niederschlagen: u. a. in flexibleren Arbeitszeitregelungen (Wochenendarbeit, Schichtarbeit, Gleitzeit, Arbeit auf Abruf etc.), Neuregelungen des Renteneintritts, vermindertem Kündigungsschutz, der Erleichterung befristeter Arbeitsverträge sowie einer Abkehr von den Flächentarifverträgen (vgl. Mückenberger 1989, Osterland 1990; Rauscher 2002). Und so ist die Erwerbstätigkeit in Deutschland, in Abgrenzung zu den Kennzeichen des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses, nicht nur in Bezug auf die weibliche, sondern mittlerweile ebenso in Bezug auf die männliche Erwerbsarbeit seit ca. Mitte der 1980er Jahre durch einen starken Wandel hin zu einer deutlichen Zunahme atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet. Als atypisch können hierbei solche Beschäftigungsverhältnisse bezeichnet werden, die nicht den Referenzgrößen des traditionellen „Normalarbeitsverhältnisses“, vor allem im Sinne einer unbefristeten Vollzeittätigkeit mit entsprechendem Einkommen und einer Integration in die sozialen Sicherungssysteme, entsprechen (vgl. Böcklerimpuls 5/2006). Prekär werden Beschäftigungsverhältnisse, die häufig atypische Merkmale aufweisen, dann, wenn die Beschäftigten deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und Integrationsniveau sinken, das in der Gesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Job-Unsicherheit und Löhne unterhalb des Existenzminimums sind dabei aus Arbeitnehmersicht die zentralen Merkmale der prekären Beschäftigung (vgl. Böcklerimpuls 2005). Dass die „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses kein bloßes soziales Konstrukt ist, sondern ein objektives Faktum“ (vgl. Schmidt 2000:271), zeigen folgende Daten: In den Jahren zwischen 1991 und 2004 ist vor allem der Bestand an Vollzeit arbeitenden Arbeitnehmern um ein Fünftel gesunken, damit sind fast 6 Millionen Personen aus diesem Kernsegment des Arbeitsmarktes ausgeschieden (von 29,5 Millionen auf 23,75 Millionen). 18 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten verdienen mit ihrer Arbeit weniger als das kulturelle Existenzminimum (Stichwort: Ausund „Normalbiographie“ auf neue Grundlagen, aber auch vor neue Herausforderungen für die so genannte Familienarbeit stellt. So ist bspw. im Verlauf von mehr als zwei Jahrzehnten die Zustimmung zur traditionellen Arbeitsteilung von 1982 bis 2004 in Westdeutschland stark zurückgegangen. Im Jahre 2000 waren noch insgesamt ca. 50 Prozent der Befragten im Westen der Ansicht, dass „es für alle Beteiligten viel besser sei, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt“, im Jahre 2004 sind nur noch 40 Prozent der Befragten dieser Ansicht. Dabei sind junge Menschen bezüglich der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau weitaus moderner eingestellt als die älteren. So stimmten im Jahr 2004 beispielsweise nur 22 Prozent der unter 30-Jährigen einer traditionellen Arbeitsteilung zu während dies bei 71 Prozent der über 65-Jährigen der Fall ist. War in Ostdeutschland zwischen 1996 und 2000 noch eine „Wiederbelebung“ traditioneller Werte zu beobachten, war diese im Jahr 2004 nicht mehr festzustellen. Insgesamt zeigt sich, dass mit steigender Bildung die Zustimmung zur traditionellen Arbeitsteilung sinkt (vgl. Datenreport 2006:519ff).
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weitung des Niedriglohnsektors). Das Gegengewicht zu den Vollzeitbeschäftigten bilden vor allem die Arbeitnehmer in Teilzeit, und obwohl dies traditionell eine Domäne der Frauen ist, hat sich in diesem Sektor die Zahl der mit eingeschränkter Arbeitszeit tätigen Männer im zurückliegenden Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Die Gesamtzahl der Arbeitnehmer mit eingeschränkter Arbeitszeit ist von 5,5 Millionen (1991) auf knapp 11 Millionen (2004) angestiegen. Ebenso hat sich seit Anfang der 1990er Jahre die Anzahl der geringfügig Beschäftigten (2004: 4,75 Millionen) verdoppelt. Und zwischen 1991 und 2004 ist eine Zunahme der Selbstständigen um ein Fünftel auf 4,25 Millionen zu beobachten, wobei der kräftigste Zuwachs bei den allein ein Geschäft betreibenden Selbständigen zu verzeichnen ist (Stichwort: Ich-AG) (vgl. Deutsche Bundesbank 2005). Insgesamt ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, bei der nicht nach Arbeitszeit unterschieden wird, in einem Zeitraum zwischen 1992 und 2004 von 29,3 Million auf 26,7 Millionen gesunken (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2005) und jedes dritte Arbeitsverhältnis in Deutschland dauert mittlerweile kein ganzes Jahr mehr. Fast vier Millionen Beschäftigte haben lediglich eine befristete Anstellung und damit auch kein kontinuierliches Einkommen (vgl. Opaschowski 2004). Besonders eindringlich zeigt sich die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses am Phänomen des „Flexibilitätsmotors Zeitarbeit“. So weist der Sektor Leiharbeit oder Zeitarbeit jährliche Zuwachsraten von 20-25 Prozent auf, wobei die Zeitarbeitsfirmen im Dienstleistungsbereich vor allem Frauen vermitteln (vgl. Bundesverband für Zeitarbeit und PersonalDienstleistungen [www.bza.de], vgl. auch Berliner Zeitung vom 15.8.2006). Aus einstmals lebenslang und kontinuierlich (männlichen) Beschäftigten mit einem weithin ausreichenden Familieneinkommen sowie ausreichenden Anwartszeiten für die Rente werden seit ca. Mitte der 1980er Jahre –nachweisbar – immer häufiger atypisch und prekär Beschäftigte beiderlei Geschlechts, wobei sich die zunehmende Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse sicherlich vor allem am Ausmaß der Erfahrung von Episoden der Arbeitslosigkeit zeigt. Bereits in den zurückliegenden 1990er Jahren hat die überwiegende Mehrheit der Erwerbspersonen solche Arbeitslosigkeitsphasen erfahren. Dabei handelte es sich bei (vgl. Mutz 1997:23ff):
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21 Prozent um einmalige Arbeitslosigkeit, bei 39 Prozent um eine häufige kurze Arbeitslosigkeit, bei 25 Prozent um häufige kurze und lange Arbeitslosigkeit und bei 12 Prozent um lange andauernde Arbeitslosigkeit oder gar um das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
Bourdieu (1998:96) weist darauf hin, dass „Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten. (…) Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaf sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind“. Dabei geht die Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ hin zu ökonomisch und rechtlich immer unsichereren Beschäftigungsverhältnissen ebenso einher mit einem erheblichen arbeitszeitpolitischen Modellwechsel. Das heißt, tendenziell kürzere Arbeitszeiten für einige Beschäftigte, längere Arbeitszeiten für andere Beschäftigte und insgesamt eine variablere Arbeitszeitgestaltung für immer mehr Beschäftigte (vgl. Seifert 2005). Empirisch eindeutig zu beobachten ist, dass sich die Arbeitszeit immer mehr in Richtung Rund-um-die-UhrGesellschaft entwickelt. Ein wesentlicher Impuls für diese Entwicklung ist vor allem in der bereits angesprochenen Tertiarisierung der Wirtschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft zu sehen, deren Dienstleistungen zumeist nur im Uno-Actu-Verfahren zu erbringen sind und die zu jeder Tageszeit nachgefragt oder angeboten werden. Entsprechend ist die Anzahl der Erwerbstätigen, die in Samstags-, Sonntags-, Abend-, Nacht- bzw. Wechselschicht arbeiten nach Mikrozensusdaten zwischen 1992 und 2003 von 36,7 auf 53 Prozent angestiegen (vgl. ebenda, S. 45, 55). Da der Dienstleistungssektor insbesondere von weiblichen Beschäftigten dominiert wird, sind hiervon zwangsläufig zunehmend Frauen betroffen. Im Vergleich zu 1991 stieg bei den Frauen im Jahr 2004 beispielsweise die Samstagsarbeit (+8%), Sonn- und/oder Feiertagsarbeit (+17%), Nachtarbeit (+4%) und die Schichtarbeit um 10% an (vgl. Statistisches Bundesamt 2005c:46). Insgesamt lässt sich sagen, dass alle vom Normalarbeitstag abweichenden Konfigurationen hinsichtlich der Flexibilisierung von Arbeitszeiten in den letzten Jahren erhebliche Steigerungen erfahren haben (vgl. 7. Familienbericht 2005). Zum einen ist dies, wie gerade angesprochen, auf die spezifischen arbeitszeitlichen Erfordernisse des expandierenden Dienstleistungssektors zurückzuführen und zum anderen aber auch auf den Trend, die Gestaltung der Arbeitszeit zunehmend ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen zu unterwerfen. So bieten vor allem variable Arbeitszeiten auf Basis von Zeitkonten bei volatiler Nachfrage eine spürbare Kostenminderung gegenüber gleichförmigen Normalarbeitszeiten, da sie es erlauben, den betrieblichen Arbeitseinsatz rasch und ko185
stengünstig der aktuellen Auftragslage anzupassen (vgl. Seifert 2005:48). Insofern der „Marktdruck die zentrale Herausforderung an die betriebliche Arbeitszeitregulierung ist“, müssen die Beschäftigten „die Arbeitszeit zunehmend eigenverantwortlich regulieren, getroffene Zielvereinbarungen und Leistungsvorgaben einhalten und Engpässe in der betrieblichen Personaldecke durch flexible Mehrarbeit ausgleichen.60 „Individuelles Zeitmanagement, Verhandlungsgeschick und Kommunikationsfähigkeit erweisen sich dabei als Ressourcen, die nötig sind, um sich an Veränderungen in der Arbeitswelt anzupassen und beruflich erfolgreich zu sein“ (vgl. 7. Familienbericht 2005:414, auch Goldmann et al. 2003; Seifert 2005). Als kennzeichnende Merkmale des arbeitszeitpolitischen Modellwechsels der letzten Jahre sind also vor allem das verstärkte Ineinandergreifen von Arbeitszeitverkürzung,- flexibilisierung und –intensivierung zu sehen, wobei hier offenbar die Gefahr besteht, dass diese Entwicklung insgesamt und insbesondere bei Vollerwerbstätigen, den Zeitdruck und damit auch das psychische und physische Belastungsempfinden deutlich erhöht.61 So gaben in einer repräsentativen Gfk-FOCUS-Umfrage in einem Zehn-Jahreszeitraum fast doppelt so viele vollerwerbstätige Befragte an, sie würden „häufig unter Zeitnot“ leiden und doppelt so viele möchten „mehr Zeit für mich selbst haben“ als noch zehn Jahre zuvor (vgl. Seifert 2005:70). Ein Erklärung dafür, weshalb sich Vollerwerbstätige immer stärker belastet fühlen, ist bspw. in der Umwandlung von Vollzeitstellen in Teilzeitstellen zu sehen, die, worauf bereits hingewiesen wurde, in den letzten Jahren in erheblichem Ausmaß vollzogen wurde. Denn die Umwandlung eines Full-time-Jobs in Teilzeitarbeit führt erfahrungsgemäß dazu, dass die verbleibenden Aufgaben des früheren Vollzeitbeschäftigten auf andere Beschäftigte 60
61
186
Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, die vor allem mit einer Erhöhung der Eigenverantwortlichkeit einhergeht, zeigt sich bspw. auch am Konzept der so genannten „Vertrauensarbeitszeit“. Das heißt, die Leistungen, die einst im Rahmen verbindlicher und fester Arbeitszeiten erbracht wurden, sind nun im Rahmen so genannter „Deadlines“ zu erbringen, was häufig dazu führt, dass es zwar „keinen Stundenplan“ mehr gibt, jedoch häufig mehr ergebnisorientierte Leistung eigenverantwortlich in weniger Zeit erbracht werden muss (vgl. Mair 2002:24). Nahezu alle auf der Analyse von Arbeitsunfähigkeitsdaten der Gesetzlichen Krankenkassen beruhenden Gesundheitsberichte (z.B. die Berichte von AOK, GEK, DAK) zeigen die für Erwerbstätige wachsende Bedeutung psychischer Erkrankungen. Dass es sich dabei keineswegs um vorübergehende oder bagatellisierbare individuelle Befindlichkeitsstörungen oder schwankungen handelt, zeigt die Tatsache, dass psychische Erkrankungen seit einiger Zeit auch zu den häufigsten Ursachen von Frühinvalidität in teilweise sehr jungem Alter gehören. Seelische Leiden gelten mittlerweile als die Hauptursache für Berufsunfähigkeit: „Nahezu jede dritte Frühberentung in Deutschland geht auf das Konto einer kranken Psyche – 1985 hatten noch Herz- Kreislauferkrankungen diese Spitzenposition inne. Ihr Anteil an den Frühberentungen sank in diesem Zeitraum von 30,7 Prozent auf 11,4 Prozent, der Anteil der Skelett- und Muskelerkrankungen von 25 auf 18,7 Prozent“ (vgl. „Spiegel-online“ vom 24.September 2006).
verteilt werden oder die zweite halbe Stelle einfach wegfällt bzw. wegrationalisiert wird: „Nach Erfahrungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) führt nur etwa jede siebte Umwandlung von Vollzeit in Teilzeit dazu, dass zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden. Bevor eine neue Stelle geschaffen wird, müssen erst einmal sechs Kollegen Mehrarbeit leisten. (…) Mehr Teilzeitarbeit lastet Menschen und Maschinen besser aus, ermöglicht flexibleres Reagieren auf saisonale Marktschwankungen, verringert die Ausfälle durch Krankheiten, Betriebsunfälle und Fehlzeiten für Besorgungen. Hauptgewinner sind auf jeden Fall die Betriebe. Die Beschäftigten hingegen haben eine doppelte Last zu tragen: Vollzeitbeschäftigte müssen noch mehr leisten …“ (vgl. Opaschowski 2005:93). Und Teilzeitbeschäftigte müssen mit einem Einkommen auskommen, mit dem sich in der Regel kaum der Lebensunterhalt für ein Familie bestreiten lässt und/oder eine ausreichende Altersabsicherung, was wiederum dazu führen kann, dass Arbeitnehmer gezwungen sind, mehrere Beschäftigungsverhältnisse bei verschiedenen Arbeitgebern an u. U. verschiedenen Orten eingehen zu müssen. So ist nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung der Anteil derjenigen, die ihren Lebensunterhalt mit zwei oder mehr Arbeitsverhältnissen bestreiten, allein zwischen 2002 und 2004 von 2,9 auf 4,7 Prozent gestiegen, wobei der Anteil der Mehrfach-Jobber bei den Frauen deutlich höher sei als bei den Männern (vgl. IAB-Kurzbericht Nr. 22/2006). Nun sind die gestiegenen Flexibilitätsanforderungen der Betriebe vor allem dann problematisch, wenn einseitig die jederzeitige Einsatzbereitschaft der Beschäftigten verlangt, ihnen jedoch keine Zeitsouveränität zugestanden wird, um bspw. die eigenen Flexibilitätsbedarfe in Bezug auf familiäre Belange und Anforderungen zu realisieren. Dabei kann Zeitsouveränität verstanden werden als „die Möglichkeit, die Arbeitszeit möglichst uneingeschränkt von Vorgaben anderer Personen oder Institutionen gestalten zu können“ (vgl. Seifert 2005:58). Im Rahmen einer Untersuchung von Merz/ Burger auf der Basis eines Vergleichs der Zeitbudgetuntersuchungen 1991 und 2001 des Statistischen Bundesamtes konnte jedoch ermittelt werden, dass bei 81 Prozent der Beschäftigten mit betrieblich bedingten wöchentlichen Arbeitszeitschwankungen diese unregelmäßig auftreten, auch bei Schwankungen der täglichen Arbeitszeit handelt es sich größtenteils (76 Prozent) um unregelmäßige Schwankungen. Und 42 Prozent der Beschäftigten sind von betrieblich bedingten Schwankungen des täglichen und/oder des wöchentlichen Arbeitsvolumens betroffen. Insgesamt resultiere hieraus ein erheblicher Planungsverlust für die berufliche und private Zeitverwendung (vgl. Merz/ Burger 2004). Das heißt, gerade unter den Bedingungen abhängiger Beschäftigung und arbeitsteiliger Arbeitsorganisation dürfte Zeitsouveränität stets nur eingeschränkt existieren, was auch daran zu erkennen ist, dass 187
die Debatte um die Zeitautonomie schon früh an die Perspektive einer weitgehenden Missachtung der sozial-kooperativen Bezüge, in die die Beschäftigten mit ihrem Zeitbedürfnissen eingebunden sind, fixiert war (vgl. Trinczek 2005). Im Kontext arbeitszeitlicher Flexibilitätsanforderungen sowie eines rapiden Anstiegs von Stressbelastungen und psychosomatischen Beschwerden einerseits und einer zunehmenden Herausforderung, Erwerbsarbeit und Familie (sozialkooperative Bezüge) miteinander in Einklang zu bringen andererseits, werden seit einiger Zeit jedoch Konzepte wie das des „Work-Life-Balance“ entwickelt. Dieses Konzept sieht vor, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern, indem die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fließender gestaltet werden sollen. Dabei kann die „Euphorie“, mit der das „Work-Life-Balance-Konzept“ derzeit auf der Seite betrieblicher Personalpolitik “entdeckt wird“, allerdings gleichsam auch als Ausdruck eines massiver werdenden gesellschaftlichen Problems gedeutet werden (vgl. Jurcyk 2005:108). Work-Life-Balance-Konzepte zielen auf einen Ausgleich, also auf eine verbesserte zeitliche Plan- und Vereinbarkeit der Lebenssphären des Privatlebens/Familie und des Berufs ab. Im Mittelpunkt soll der „ganze“ Mensch stehen, mithin also der Versuch erfolgen, die unterschiedlichen Bedürfnissen in den einzelnen Lebensphasen eines Arbeitslebens miteinander in Einklang zu bringen. Work-Life-Balance-Maßnahmen sollen es Beschäftigten ermöglichen, dass Phasen der Qualifizierung, der Familiengründung, ggf. karitative und ehrenamtliche Tätigkeiten, Auslandsaufenthalte u. a. m. mit einer kontinuierlichen Erwerbsarbeit vereinbar bleiben und sich diese unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen von Arbeits- und Lebenszielen nicht wechselseitig ausschließen. Entsprechende betriebliche Maßnahmen lassen sich in der Regel in folgenden drei Schwerpunkten zusammenfassen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005:15):
Maßnahmen zur intelligenten Verteilung der Arbeitszeit im Lebensverlauf und zu einer ergebnisorientierten Leistungserbringung, Maßnahmen zur Flexibilisierung von Zeit und Ort der Leistungserbringung, Maßnahmen, die auf Mitarbeiterbindung zielen.
Soweit jedoch häufig nur die Theorie, in den Unternehmen selbst sieht es meist anders aus: „Hier sind traditionelle Werte wie Pflichtbewusstsein, Fleiß und eine ausgedehnte Arbeitszeit immer noch karriereentscheidend. (…) In den meisten Firmen steigt eher der permanente Leistungsdruck. Es wurde kein einziges Unternehmen gefunden, das ein umfassendes Konzept zur Work-Life-Balance eingeführt hat“, so das Ergebnis einer Untersuchung der Zeitschrift mangagement&training (vgl. Schneider 2001:3). Den Anspruch der Unternehmen, sich im Rahmen von Work-Life-Balance gewissermaßen um die Reproduktion und 188
Regeneration ihrer Mitarbeiter zu kümmern, bringt Jurczyk auf folgende pointierte These: „Maßnahmen zur Work-Life-Balance sind so verstanden die unternehmensstrategische Antwort sowohl zur Implementation als auch zur Kompensation der fortgeschrittenen Entgrenzung von Erwerbsarbeit und damit nichts anderes als ‚human ressource-managament’“ (vgl. Jurczyk 2005:113). Und so zeigt sich auch immer wieder, dass sich Work-Life-BalanceKonzepte oftmals darin erschöpfen, dass immer häufiger typische Freizeitelemente wie Schlafen, Fitness, Sport oder auch das Bedürfnis nach Unterhaltung und Ablenkung in die Arbeitswelt integriert werden, aber auch familiäre Aufgaben wie die der Kinderbetreuung, indem der Arbeitgeber bspw. einen Kinderhort oder ein Fitnessstudio auf dem Firmengelände integriert oder so genannte „Work-Out-Partys“ organisiert. Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild konnte anhand ihrer Untersuchungen überzeugend nachweisen, dass immer mehr Unternehmen höchst erfinderische kulturelle Systeme entwickeln, um die Beschäftigten an das Unternehmen zu binden, um sie gleichzeitig ihre Zeitnöte und Zeitfallen nicht spüren zu lassen. Und dabei erweise sich die so genannte Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht selten als Selbsttäuschung, denn in dem Maße, wie Freizeitelemente in das Arbeitsleben integriert würden, werde die familiäre Situation zu Hause oftmals eher verschärft als entspannt, da gleichzeitig die freie Zeit häufig verbetrieblicht werde (vgl. Hochschild 2002b). Wir können also zunächst zusammenfassen, dass das über ca. drei Jahrzehnte für die Mehrheit der Arbeitnehmer gültige und hochgradig standardisierte „Normalarbeitsverhältnis“ ab ca. Mitte der 1980er Jahre zunehmend von einem Anstieg unübersichtlicherer prekärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowohl in ökonomischer, in arbeitsrechtlicher als auch in arbeitszeitlicher Perspektive abgelöst wird. Dabei erzeugt die zunehmende Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsverhältnisse in der „Kultur des neuen Kapitalismus“ einen Anpassungsdruck der Arbeitnehmer, der sich nicht nur darin äußert, dass sich diese in der Abstimmung zwischen Arbeit- und Privatleben zunehmend – und in der Regel zugunsten des Unternehmens – als flexibel erweisen sollen, sondern auch darin, dass von den Arbeitnehmern immer selbstverständlicher auch die Bereitschaft zur räumlichen Mobilität/Flexibilität erwartet wird (vgl. Sennett 2000). Und so macht auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend deutlich, dass „die Bereitschaft zur Mobilität in der Berufswelt mehr erwartet wird denn je: Nur das ‚mobile Subjekt’, so heißt es, kann den Anforderungen der modernen Wirtschaftsweise genügen. (…) Das hat zur Folge, dass Familien durch erwerbsbedingte Mobilität entweder wenig Zeit miteinander verbringen können oder – bei Umzug – ihr nahräumliches soziales Netzwerk aufgeben und ein neues wieder aufbauen müssen. In allen Fällen wird das Familienleben auf eine harte Probe gestellt; bei Wochenend-Pendlern ist es ja zum 189
Beispiel nicht nur die fehlende Zeit füreinander, sondern auch der erhöhte organisatorische Aufwand und das Mobilsein, was psychisch wie physisch verkraftet werden muss“ (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002:9). Entsprechend der „Probleme auf dem Arbeitsmarkt“ ermittelte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung auf der Grundlage empirischer Untersuchungen im Zeitraum zwischen 1980 und 1995, dass die „regionale Mobilität auf allen untersuchten Regionalebenen sowohl bei Männern als auch bei Frauen gestiegen ist“. Dabei zeigten „Personen mit Fachhochschul- und Hochschulabschluss die höchste regionale Mobilität“ sowie ehemals Arbeitslose, die zunehmend bereit seien, überregionale Angebote zu akzeptieren (vgl. IAB 2000), wobei man gerade im Falle von Arbeitslosigkeit bzw. bei Bedrohung von Arbeitslosigkeit auch darauf aufmerksam machen muss, dass räumliche Mobilität zwischenzeitlich durch zahlreiche gesetzliche Verankerung bspw. in der Arbeitslosenversicherung (AVG), im Arbeitsförderungsgesetz (AFG, SGB III) nicht nur gefördert, sondern auch gefordert wird (vgl. auch Schuhmann 2002). Untersuchungen über mobile Lebensformen unterscheiden zwischenzeitlich die so genannten „shuttles“, das sind Paare, bei denen ein Partner ein Wochenendpendler mit einer Zweitwohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes ist; „Fernpendler“, die für den einfachen täglichen Arbeitsweg mehr als eine Stunde benötigen; „Umzugsmobile“, Paare, die beruflich bedingt einen Wohnortwechsel vornehmen sowie „Variomobile, die an variierenden Orten arbeiten und teils längere Zeit vom Wohnort abwesend sind“ (vgl. Schneider et al. 2002). Mittlerweile lebt jedes achte Paar in Deutschland berufsbedingt in einer Fernbeziehung, das sind doppelt so viele wie noch Mitte der 1980er Jahre (vgl. Opaschowski 2004). Und die Statistiken zeigen, dass gerade in den strukturschwachen Bundesländern und Landkreisen die Menschen immer längere Anfahrtswege (Pendeln) zur Arbeit in Kauf nehmen. Beispielsweise arbeiten von den 40.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten des Landkreises Uckermark 10.000 nicht an ihrem Wohnort. Mehr als die Hälfte hiervon pendelt täglich sogar in ein anderes Bundesland (vgl. Spiegel-Online, vom 3. August 2005). Der 7. Familienbericht der Bundesregierung sieht durch die „zunehmenden Flexibilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt“ einen „Trend in Richtung größere Wohnentfernungen“, wobei entsprechende Befunde zur Bildungsschicht nahe legten, dass „allein schon die Zunahme an höherer Bildung zu einer größeren geographischen Entfernung zwischen den Generationen beiträgt“. Zwar stünden dem neue bzw. weiterentwickelte Technologien gegenüber, die Kommunikation auf Distanz erleichterten und Entfernungen schneller überbrückbar machten, dennoch bliebe der unmittelbare persönliche Kontakt besonders in den Bildungsschichten seltener, die für Ausbildung und Beruf mobil sein müssen (vgl. 7. Familienbericht 2005:239). Obgleich, wie im 7. Familienbericht der Bundesregierung angesprochen, berufliche 190
Mobilität oftmals mit höherer Bildung assoziiert ist, ist – nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktsituation im Allgemeinen (vgl. IAB-Kurzbericht 2000) – berufsbedingte Mobilität zwischenzeitlich jedoch „immer weniger wie in der Vergangenheit auf Chefetagen beschränkt“, sondern heute eine „ständige Herausforderung für viele“ geworden (vgl. Schneider et al. 2002:14).62 Bei der Lösung der Vereinbarkeitsproblematik, so Schneider et al. (2002) in ihrer Untersuchung zu „Familie und Beruf in der mobilen Gesellschaft“, gehe es „für eine wachende Zahl von Männern und Frauen zunehmend auch um das Ausbalancieren beruflicher Mobilitätserfordernisse mit den persönlichen Bedürfnissen und den familialen Erfordernissen nach Stabilität, Nähe und Vertrautheit, nach einem gemeinsamen Lebensmittelpunkt. Diesen gemeinsamen Lebensmittelpunkt verkörperte in der Vergangenheit ganz selbstverständliche die Familie. (…) Heute ist Familie zunehmend durch das Auseinanderfallen der Lebensräume der einzelnen Familienmitglieder gekennzeichnet. Das herzustellen, was einst selbstverständlich war, ist jetzt eine oftmals schwer zu lösende Gestaltungsaufgabe“ (vgl. Schneider et al. 2002:14). Und entsprechend sei auch „soziale Mobilität“ nicht länger nur im klassischen soziologischen Verständnis von sozialem Aufstieg und Abstieg zu denken, sondern im Zusammenhang mit der Zunahme räumlicher Mobilität auch „mit Prozessen der Einbindung, des Verlassens und der Wiedereinbindung in soziale Netzwerke“ (vgl. ebenda, S. 25). Der „flexible Kapitalismus“, und damit verbunden der moderne, flexible und deregulierte Arbeitsmarkt, fordert also in zunehmendem Maße, so ließe sich sagen, das idealerweise von sozialen, und damit auch von familiären und räumlichen Abhängigkeiten und Bindungen freie Individuum als Akteur, wobei der strukturelle Widerspruch zwischen Familie und Beruf noch dadurch verschärft werden dürfte, dass heute immer mehr Mütter erwerbstätig sind oder sein wollen, oder sie es aufgrund der Zunahme ökonomisch prekärer Beschäftigungsverhältnisse wohl auch sein müssen. Und in letzterem Sinne reflektiert der 7. Familienbericht der Bundesregierung auch darüber, ob „wir nicht in der Tat eher auf dem Weg zu US-amerikanischen oder britischen Verhältnissen sind und die Orientierung am Ernährermodell als Leitbild der 60er Jahre, aber auch am Ernährer/Zuverdienermodell der 80er Jahre aufgeben sollten zugunsten der Erkenntnis, dass die familiale Existenzabsicherung am besten durch zwei am Arbeitsmarkt verankerte Personen gesichert ist …“ (vgl. 7. Familienbericht 2005:148). In sozialwissenschaftlicher Perspektive sind, so wurde es am Anfang dieses Kapitels dargelegt, die Institutionen des Erwerbs- und des Lebensverlaufs eng aufeinander bezogen (vgl. Osterland 1990; Beck 1999; Kohli 2000). Und so wird auf der Grundlage der nachfolgenden tabellarischen Darstellung noch einmal 62
Was sich, wie bereits beschrieben, vor allem in den zu beobachtenden und erheblichen Altersstrukturverschiebungen auf dem Gebiet der Neuen Bundesländer bemerkbar macht.
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sehr deutlich, wie entscheidend sich die Institutionen des Lebens- und Erwerbsverlaufs, insbesondere durch die gesamtwirtschaftlichen Veränderungen, aber auch durch Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, in den ca. letzten beiden Jahrzehnte verändert haben. Und man muss immer wieder darauf aufmerksam machen, dass die hier aufgeführten Veränderungen in den Lebensverläufen, und damit auch in den alltagspraktischen Lebensverhältnissen der Einzelnen (wir erinnern an die schon häufiger zitierten „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“, vgl. Kaufmann 1997:109), keineswegs eine soziale Konstruktion sind, sondern, wie es vorangegangen für die „außerfamiliale Realität“ Erwerbsarbeit/Erwerbsformen aufgezeigt wurde, eine empirisch nachweisbare Realität. Tabelle 25: Lebensverläufe im regulierten und deregulierten Kapitalismus
Lebensverlauf
Wohlfahrtsstaatlicher, korporatistischer Kapitalismus
Deregulierter, globalisierter Kapitalismus
Standardisierung Dreigliederung von Jungend – Arbeit – Ruhestand Zeitinstitutionen: Jugend u. Ruhestand Feierabend Wochenende Jahresurlaub
Deinstitutionalisierung Entgrenzung von Jugend – Arbeit – Ruhestand Erosion der Zeitinstitutionen
Familienverlauf
standardisierte Normalfamilie
Pluralisierung v. Verläufen BastelBiographie
Produktionskonzept
industrielle Massenproduktion= „Fordismus“
flexible Spezialisierung „Postfordismus“ globalisierte riskante Märkte
Beschäftigungs- Pflege der Stammbelegschaft konzept
Risikoexternalisierung just-in-time Aktivierung
Arbeitsrecht
Normalarbeitsverhältnis: Unbefristet, Vollzeit …
Regulierungsmodus
korporatistische Regulierung
Liberalisierung des Arbeitsrechts Globalisierung der Arbeitsmärkte Hybride von Arbeits- und Kaufverträgen
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Anforderungen an die Arbeit
Facharbeitergesellschaft
Arbeitskraftunternehmer – employability
Leitbild der Arbeit
Lebensberuf
life-long-learning
Wert in der Lebensführung
Sicherheit einen Beruf lernen
Flexibilität Mobilität
Zeitpersperspek- BerufsBiographie kalkulierbar tive
starke Anpassung an Markterfordernisse
Räumliche Perspektive
Arbeit im Betrieb Freizeit privat
Reintegration beruflicher Arbeit in den Haushalt
Typische Freizeitaktivitäten
Fernsehen, Urlaub
Internet, Weiterbildung
Quelle: Garhammer (2005:81) Arbeitsorganisation, so der Lebenslaufforscher Kohli, sei über weite Strecken auch Lebenslauforganisation und Arbeitspolitik mithin immer auch Lebenslaufpolitik. Dies sei nichts Neues, jedoch hätten die Paradoxien der Einbettung der Erwerbsarbeit in den Lebenslauf „in jüngster Zeit“ unverkennbar „eine Zuspitzung“ erfahren (vgl. Kohli 2002:362). Der Mensch im flexiblen oder deregulierten Kapitalismus muss sich vor allem im Kontext der Erfordernisse des Arbeitsmarktes den Leitwerten Flexibilität und Mobilität öffnen, die durchaus auch positiv verstanden werden können, er muss sich andererseits aber auch gegenüber deren Risiken öffnen, die immer mehr der Normalfall werden, ohne zu wissen, in welcher Weise er sich genau darauf einstellen soll (vgl. Sennett 2000). Wie auch immer man die veränderte Rationalität in den Lebensläufen der Menschen interpretieren mag, als sicher kann gelten, dass im Vergleich zu den Kennzeichen von „Normalarbeitsverhältnis“ und „Ernährerehe“ die neuen „Arbeitsgestaltungs- und organisations-Modelle“ neuartige und komplexere Herausforderungen zur „Flexibilisierung und Ökonomisierung der Lebensorganisation in alltagsbezogener und biographischer Perspektive“ bedeuten (vgl. Goldmann et al. 2003). Entsprechend lautet nach eigenem Bekunden auch die „Kernthese“ des aktuellen Familienberichts der Bundesregierung, „dass die Balance zwischen Bildungs- und Berufsverläufen auf der einen Seite und der Entwicklung von Familienbeziehungen im Lebenslauf auf der anderen Seite ebenso kompliziert geworden ist wie die Organisation alltäglicher Erwerbsarbeit und die Fürsorge für Andere“. Vor diesem Hintergrund bestünde die „Gefahr“, dass in „spätmodernen Gesellschaften“ ein „erhebliches Defizit an Fürsorge/Care“ entstehe, das 193
selbst in der moderneren Variante der Verteilung der Fürsorgeaufgaben auf beide Partner besteht (vgl. 7. Familienbericht 2005:13). Und die Autoren des Berichts merken an, dass es zu den „erstaunlichen Phänomenen der politischen Diskussion“ gehöre, die Leistungen von Familien für die Gesellschaft als eine quasi „natürliche Ressource“ zu betrachten, die als gegeben unterstellt werden könne, während andere Ressourcen wie Energie als knapp und einer besonders nachhaltigen Förderung bedürftig angesehen würden (vgl. ebenda, S.12). Gleichwohl findet jedoch die Frage, wie mit der Entgrenzung der Arbeit einerseits und einer gleichzeitig entgrenzten Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen und Lebenswerten andererseits im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Lebensräume Erwerbsarbeit und Familienarbeit umzugehen sei, seit einiger Zeit sowohl in sozialwissenschaftlicher Perspektive als auch in der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung durchaus breiteren Raum, wovon nicht zuletzt der 7. Familienbericht selbst Zeugnis abgibt. Und es gehört hierbei aber auch zu den erstaunlichen Phänomenen, dass diese Frage – nicht zuletzt im Kontext der aktuellen Demographiedebatte um die seit Jahrzehnten sinkenden Geburtenzahlen – fast ausschließlich vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familiengründung bzw. der Betreuung von Kindern bei Erwerbstätigkeit der Mütter diskutiert wird. Und der nun schon häufiger zitierte jüngste Familienbericht der Bundesregierung: „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für einen Lebenslaufbezogene Familienpolitik“, so der komplette Titel, macht hiervon keine Ausnahme. Der insgesamt rund 600 Seiten umfassende Bericht handelt bspw. die Verschränkung zwischen Familie, Erwerbstätigkeit und der Pflege älterer Angehöriger explizit auf gerade einmal ca. 3,5 Seiten ab. Im Rahmen einer „detaillierten Literaturrecherche und –dokumentation“ macht Reichert (2003:203) darauf aufmerksam, dass „diese besondere Vereinbarkeitsproblematik“ (von Erwerbstätigkeit und Pflege, Anmerk. M.D.) „bisher nur wenig erforscht“ sei. Ebenso konstatiert DIE ZEIT: „in einer Gesellschaft, in der seit Jahren leidenschaftlich über die Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft diskutiert wird, fruchtlos natürlich, hat das Nachdenken über die Vereinbarkeit von Altenfürsorge und Familie und Beruf noch gar nicht eingesetzt“ (vgl. DIE ZEIT, Nr. 41/2006:63). Dass „diese besondere Vereinbarkeitsproblematik“ bisher nur wenig erforscht ist, und im Gegensatz zur Vereinbarkeitsproblematik von Erwerbstätigkeit und Familiengründung/Kinderbetreuung bislang auch vergleichsweise wenig öffentliche oder politische Aufmerksamkeit erfahren hat, mag durchaus damit zusammenhängen, dass vor und seit Einführung der Pflegeversicherung informelle Pflegepersonen (noch) nicht in erheblichem Maße von diesem Konfliktfeld „Erwerbstätigkeit und Pflege“ betroffen sind. Wenn wir an die Untersuchungsergebnisse von Schneekloth/ Wahl (2005:79) erinnern, so sind fast zwei Drittel der informellen Hauptpflegepersonen zwar im erwerbsfähigen 194
Alter, und im Durchschnitt zwischen 57 bzw. 59 Jahre alt (je nachdem, ob es sich bei den zu Pflegenden um pflegebedürftige nach SGBXI handelt oder um „sonstige Hilfebedürftige“ (vgl. Tabelle 19), jedoch waren auch etwas mehr als die Hälfte der informellen Hauptpflegepersonen – selbst im 10-Jahres-Vergleich zwischen 1991 und 2002 – bereits bei Übernahme der häuslichen Pflege nicht erwerbstätig. Vor dem Hintergrund, dass der Konflikt zwischen Erwerbstätigkeit und Pflege jedoch als einer der Hauptfaktoren für die Verursachung prekärer häuslicher Pflegearrangements gelten kann, so ist an dieser Stelle grundsätzlich auf folgende Faktoren hinzuweisen, von denen anzunehmen ist, dass sie das Konfliktfeld Erwerbstätigkeit und Pflege bislang in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß entschärft haben dürften: 1. Die Erwerbsquote der 55-64-Jährigen – mithin also jener Altersgruppe, die in einem erheblichen Umfang informelle häusliche Pflege leistet – ist seit Jahren grundsätzlich sehr gering. In dieser Altersgruppe waren bspw. im Jahre 2004 nur 39,4 Prozent der Personen dieses Alters erwerbstätig. (vgl. Statistisches Bundesamt 2004c). Die Gründe für die geringe Erwerbsquote älterer erwerbsfähiger Menschen sind vor allem in einem „sprunghaften Anstieg“ der (Langzeit-) Erwerbslosigkeit ab einem Alter von 50 Jahren zu sehen, wobei sich dieser Trend in beiden Regionen Deutschlands zeigt, in den neuen Bundesländern jedoch besonders deutlich ausgeprägt ist (vgl. Dritter Altenbericht 2001:171). So waren im Jahr 2004 bspw. in Ostdeutschland über 20 Prozent der Erwerbspersonen zwischen 50 und 65 Jahren erwerbslos (vgl. Statistisches Bundesamt 2005c:71) und 55,9 Prozent der ost- wie westdeutschen Erwerbslosen in dieser Altersgruppe zählten zu den Langzeitarbeitslosen (vgl. IG-Metall-direkt 20/2006). Und zum anderen ist die geringe Erwerbsquote ältere Menschen vor allem auf das hohe Maß staatlich geförderter Frühausgliederung aus dem Erwerbsleben (Frühverrentung) zurückzuführen, das in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts den Übergangszeitpunkt in den Ruhestand biographisch immer weiter in ein jüngeres Alter verlagerte und auch möglich machte (vgl. Büttner 2005). Dieser Trend zur Frühausgliederung, der im Jahre 1989 noch dazu führte, dass rund jeder zweite männliche Rentner vorzeitig in den Ruhestand ging, war lange Zeit von einem Konsens zwischen Staat, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften getragen, denn damit sollte nach dem Auslaufen des Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegsdekaden und dem Zwang zur Neustrukturierung der Volkswirtschaft der strukturell begründete Anstieg der Arbeitslosigkeit durch das Mittel der sozial verträglichen Frühverrentung gemildert werden.63 Einen Höhepunkt erreichten 63
Bereits 1957 wurde die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit eingeführt. Da arbeitslos geworden ältere Arbeitnehmer – ähnlich wie heute – geringere Vermittlungschancen auf dem Arbeits-
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die Frühverrentungen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Innerhalb kurzer Zeit wurden zur Entlastung des Arbeitsmarkts die meisten Beschäftigten im Alter ab 57 Jahren, viele schon ab 55 Jahren in den Vorruhestand mit anschließendem Rentenbezug geschickt (vgl. Engslter 2004:2). Seit Mitte der 1990 Jahre nehmen in Deutschland jedoch die staatlichen Bemühungen, insbesondere durch die Verabschiedung mehrerer Rentenreformgesetze, zu, die lange Zeit geförderten Anreize eines frühzeitigen Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu beseitigen und einen längeren Verbleib im Erwerbsleben zu fordern.64 So empfehlen fast alle neueren Sachverständigengutachten und Kommissionsberichte zur Thematik die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (u. a. Hartz-, Rürup- und Herzog-Kommission, Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“, Dritter [2001] und Fünfter [2005] Altenbericht der Bundesregierung). Durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sollen zum einen die Rentenkassen entlastet werden, wobei man allerdings darauf aufmerksam machen muss,
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markt hatten, sollte diese Altersrente die Zeit der Arbeitslosigkeit bis zum eigentlichen Renteneintrittsalter von 65 Jahren kompensieren, um einen sozialen Abstieg dieses Personenkreises zu verhindern. Als frühestmögliches Renteneintrittsalter wurde daher das 60. Lebensjahr gewählt. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 wurde die Altersgrenze von 60 Jahren jedoch stufenweise (beginnend mit dem Jahr 2001) auf 65 Jahre angehoben. Eine vorzeitige Inanspruchnahme mit vollendetem 60. Lebensjahr blieb zwar weiterhin möglich, jedoch wurde für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme ein Abschlag von 0,3 Prozent eingeführt. Der Zeitrahmen der Abschläge wurde nachfolgend mehrfach geändert, so 1996 durch das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand, 1997 durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz und 1999 durch das Rentenreformgesetz 1999. Diese Regelung eines vorzeitigen Renteneintritts unter in Kaufnahme von Abschlägen gilt seit 2006 nur noch für vor 1946 geborene Versicherte und für Menschen, die am 1. Januar 2004 bereits arbeitslos waren. 1952 und später Geborene können nun grundsätzlich erst ab dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand gehen, auch wenn sie arbeitslos sind. Eine Ausnahme gibt es nur für diejenigen, die 35 Jahre oder länger rentenversichert sind.1972 wurde die Altersrente für langjährig Versicherte eingeführt. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 wurde die Altersgrenze für langjährig Versicherte von 63 Jahren jedoch stufenweise (beginnend mit dem Jahr 2001) auf 65 Jahre angehoben. Gegenwärtig ergibt sich aus den vorangegangenen Rentenreformgesetzen für langjährig Versicherte ein frühestmögliches Renteneintrittsalter von 62 Jahren für ab November 1949 geborene Versicherte, allerdings müssen diese dann teilweise erhebliche versicherungsmathematische Abschläge hinnehmen. So ergeben sich für langjährig Versicherte, die mit 62 Jahren in Rente gehen noch Abschläge in Höhe von 10,8 Prozent und selbst bei einem Renteneintritt mit 64 Jahren noch ein Abschlag von 3,6 Prozent. Auch auf EU-Ebene werden Ziele hinsichtlich der Beschäftigung älterer Menschen gesetzt. So legte der Europäische Rat von Stockholm im März 2001 fest, dass bis 2010 mindestens die Hälfte der EU-Bevölkerung zwischen 55-64 Jahren einer Beschäftigung nachgehen sollte. Der Europäische Rat von Barcelona vom März 2002 kam zu dem Schluss, dass verstärkt Anstrengungen unternommen werden sollten, um älteren Arbeitskräften mehr Möglichkeiten für den Verbleib im Arbeitsleben zu bieten. In diesem Zusammenhang wurde das Anliegen formuliert, das tatsächliche Durchschnittsalter des Eintritts in den Ruhestand bis zum Ende des Jahrzehnts um fünf Jahre zu steigern (vgl. Europäische Kommission 2003:156).
dass bei einem anhaltenden gesamtwirtschaftlichen Arbeitskräfteüberschuss für eine längere Übergangsfrist dadurch nicht die Beschäftigungsquote älterer Arbeitsnehmer erhöht würde, sondern vom allem die Arbeitslosenquote der Älteren noch weiter anstiege, wobei einer erhöhte Arbeitslosenquote Älterer dann wiederum Auswirkungen auf die im Falle von Pflegebedürftigkeit zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen hätte. Und zum anderen soll durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf den demographischen Wandel reagiert werden. Demographischen Prognosen zufolge wird bereits bis zum Jahr 2020 das Erwerbspersonenpotenzial der über 50-Jährigen in Deutschland um fast 5 Millionen steigen, wohingegen die Anteile an den übrigen Altersklassen eher sinken. Damit müssten die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen und übermorgen somit von insgesamt weniger und zugleich älteren Erwerbspersonen bewältigt werden, was, so die entsprechenden Sachverständigengutachten und EnqueteKommissionen, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit unvermeidlich mache. Auf die Forderung nach einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit hat die Bundesregierung bereits durch vergangene Rentenreformgesetze reagiert und erst kürzlich hat sie durch eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ab 2012 bis 2029 von 65 auf 67 Jahre eine weitere Maßnahme ergriffen, um die Anreize zur Frühverrentung weiter abzusenken und eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit voranzutreiben. Diese Maßnahme bedeutet, dass bereits die ab 1947 Geborenen, also alle die heute jünger als 60 Jahre alt sind, jeweils einen Monat länger arbeiten müssen als bislang. Wer beispielsweise 1964 geboren ist und mit 65 Jahren in Rente gehen will, wird dann beispielsweise immerhin noch einen Abschlag von 7,2 Prozent hinnehmen müssen. Grundsätzlich gilt, wer früher in Rente gehen will als es die gesetzliche Regelaltersgrenze vorsieht, muss bereits heute, zukünftig aber noch verstärkt, mit erheblichen Abschlägen bei der Rente rechnen.65 Insofern das Einkommens- und Vermögenspotential der Bevöl65
Wie im Rahmen des Alterssurvey 2002 ermittelt wurde, zeigen sich bei den Erwerbstätigen bereits seit einigen Jahren zunehmende Unsicherheiten was das Austrittsalter aus dem Erwerbsleben anbelangt. Im Jahr 1996 plante die Hälfte aller Erwerbstätigen ab dem 40 Lebensjahr, mit spätestens 60 Jahren aus dem Erwerbsleben auszuscheiden (40-bis 59-Jährige: 52,1%). Nur 18 Prozent beabsichtigten, bis zum Alter von 65 Jahren erwerbstätig zu bleiben. Sechs Jahre später, im Jahr 2002, sehen die Austrittspläne der Erwerbstätigen deutlich anders aus: Nur noch 35 Prozent (40- bis 59-Jährige: 37%) planen, spätestens mit 60 Jahren aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Diese wachsende Unsicherheit hat nicht nur die Erwerbstätigen mittleren Alters erfasst, sondern auch rentennähere Altersgruppen. So verdoppelte sich bei den 55- bis 59-Jährigen Erwerbstätigen nahezu der Anteil derer (von 12 auf 23%), die nicht sagen können, in welchem Alter sie aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden planen. Auch zeigte sich, dass die Abkehr von einem sehr früh geplanten Ausstiegs aus dem Erwerbsleben bei Frauen stärker als bei Männern und im Westen ausgeprägter als im Osten Deutschland ist. Die Autoren des Alterssurveys führen die „markante Abkehr von der Perspektive des frühen Ruhestands“ vor allem auf die zwischenzeitlich eingeführten Rentenreformmaßnahmen und die öffentliche
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kerung jedoch erheblich an die Erwerbstätigkeit gebunden ist bzw. im Alter an die vorgelagerte Erwerbsphase, und die eigenen ökonomische Ressourcen sowohl der Pflegebedürftigen selbst als auch die der informellen Helfer bei einem nicht die eigentlichen Bedarfe deckenden Sozialversicherungszweig wesentlich darüber mitentscheiden, ob ein häusliches Pflegearrangement langfristig aufrechterhalten werden kann, wird diese Thematik im folgenden Kapitel noch ausführlicher zu diskutieren sein. Unabhängig davon, wie realistisch es aus verschiedenen Gründen überhaupt einzuschätzen ist, ältere Arbeitnehmer tatsächlich in größerem Umfang möglichst bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter im Arbeitsleben zu halten, so kann an dieser Stelle zunächst darauf hingewiesen werden, dass alle renten- und arbeitsmarktpolitischen Bemühungen, älteren erwerbsfähige Menschen einen längeren Verbleib im Erwerbsleben zu ermöglichen oder auch zu fordern, und ob dies sinnvoll und notwendig sein mag oder auch nicht, dazu führen, dass sich dadurch das in der Vergangenheit und bislang noch weitgehend unverschränkte Konfliktpotential zwischen Erwerbstätigkeit und informeller Pflege bereits kurz- bis mittelfristig erheblich erhöhen wird. Und dies umso mehr, je häufiger sich künftig auch Männer in größerem Umfang als bisher an der informellen Pflege beteiligen sollten – weil es für sie aufgrund eines veränderten Geschlechtsrollenverständnisses einfach selbstverständlicher wird oder weil es für sie aufgrund veränderter Familien- und Beziehungskonstellationen zunehmend unabdingbar sein wird. 2. Bei einem Durchschnittsalter der informellen Hauptpflegepersonen von 57 bzw. 59 Jahren und einem Frauenanteil zwischen 70-80 Prozent an den informellen Hauptpflegepersonen ist nicht nur die Beschäftigungsquote älterer Menschen im Allgemeinen zu betrachten, sondern im Besonderen natürlich die der Frauen. Zwischen 1970 und 2000 sank die Erwerbsquote der 55-64-Jährigen Männer vor allem aufgrund der schon angesprochenen für lange Zeit möglichen Nutzung von Vorruhestandsmöglichkeiten von 80,7 auf 53,4 Prozent ab. Hingegen stieg die Erwerbsquote der Frauen in dieser Altersgruppe und in diesem Zeitraum von 31,1 auf 33,5 Prozent an (vgl. Europäische Kommission 2003:167). Hinter diesem leichten Anstieg stehen zwei sich schneidende Entwicklungstendenzen. Zum einen verringert(e) sich durch die Nutzung von Vorruhestandsregelungen auch bei den Frauen die Erwerbsquote, und zum anderen erhöht sich die Erwerbsquote in dieser Altersgruppe durch nachwachsende besser ausgebildete und erwerbsorientiertere Frauen (vgl. Fünfter Altenbericht der Bundesregierung 2005). Interessant an den Daten zur weiblichen Erwerbsquote ist nicht nur, dass diese (erwartungsgemäß) erheblich geringer ist als die der Männer, sondern vor allem, Diskussion über die Notwendigkeit eines längeren Erwerbslebens zurück (vgl. Engslter 2004:3ff, auch Büttner 2005b).
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dass die Erwerbsquote in dieser Altersgruppe über einen Zeitraum von immerhin dreißig Jahren in Deutschland fast unverändert auf niedrigem Niveau blieb.66 Bezogen auf die Geburtsjahre dieser (westdeutschen) Frauen bedeutet dies, dass die Frauen, die ca. zwischen 1906 und 1945 geboren sind, zu fast 70 Prozent im Alter zwischen 55 und 64 Jahren keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind. Die Autoren des Fünften Altenberichts (2005:47ff) führen die konstant niedrige Frauenerwerbsquote in dieser Altersgruppe vor allem auf „geringere berufliche Aufstiegschancen, geringere Arbeitseinkommen, ein geringeres Arbeitszeitvolumen, bedingt vor allem durch den hohen Anteil von (arbeitszeitlich geringerer) Teilzeitbeschäftigung, sowie häufigere Beschäftigung in sozial weniger abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen“, zurück (vgl. auch Mayer-Ahuja 2002) Aber auch auf den „Verzicht von Erwerbsarbeit von Frauen zugunsten von Familienarbeit“ bzw. auf die „traditionellen Familienmodelle“ im Allgemeinen. Und dies bedeutet, dass die kontinuierlich geringe Erwerbsquote der Frauen dieser Altersklasse in einem Zeitraum zwischen 1970 und 2000 eben auch die über Jahrzehnte andauernde, und vorangegangen beschriebene Kontinuität zwischen „Normalfamilie“, geringer formaler Qualifikation der Frauen und männlich dominiertem „Normalarbeitsverhältnis“/“Ernährerehe“, widerspiegelt. Betrachtet man die Höhe der Rentenzahlungen westdeutscher Frauen, so zeigt sich, dass ca. die Hälfte der westdeutschen Rentnerinnen eine Rente von weniger als 450 Euro bezieht (vgl. Tabelle 28). Insofern die Höhe der Rentenzahlung sowohl eine Aussage über die Dauer der der Rente vorhergehenden Erwerbsphase zulässt als auch über die Höhe des während der Erwerbsphase erzielten Einkommens, haben wir hier einen weiteren deutlichen Hinweis für die Dominanz des (westdeutschen) Modells der „Ernährer“- oder „Zuverdienerehe“, welches es ermöglichte und auch vorsah, zumal bei einer „Normalerwerbsbiographie“ des Ehemannes, Ehefrauen bei Bedarf als informelle Leistungsreserve für die familiale Haus- und Sorgearbeit, und damit eben auch für die informelle Pflegearbeit, freizustellen.67 Für ostdeutsche Frauen galt das Modell der „Ernährerehe“ gleichwohl nicht in dem Maße wie für westdeutsche Frauen, da im System der ehemaligen DDR eine kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit der Frauen als Selbstverständlichkeit vorgesehen war. In unserem Kontext muss man allerdings darauf hinweisen, 66 67
Ganz anders bspw. in Dänemark oder Schweden. Dort ist die Erwerbsquote 55-64 Jahre alter Frauen zwischen 1970 und 2000 um 14,8 bzw. 27,9% angestiegen (vgl. Europäische Kommission 2003:52). So ist beispielsweise im jüngsten Alterssicherungsbericht (2005:19) der Bundesregierung zu lesen: „Da für einen Großteil der 65-Jährigen und älteren Seniorinnen die Alterssicherung noch über den Ehepartner erfolgt, ist bei dieser Generation ein enger Zusammenhang von Einkommensniveau und Familienstand zu konstatieren. Verheirateten Frauen in den alten Ländern gelingt es, die niedrigen eigenen Alterssicherungsleistungen im Ehekontext weitgehend auszugleichen.
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dass im Jahre 1995, also im Jahr der Einführung der Pflegeversicherung, die Arbeitslosenquote ostdeutscher Männer und Frauen, insbesondere aber der Frauen, einen „dramatischen Verlauf nimmt“. „1995 suchte jede vierte bis fünfte Frau in Alter zwischen 55 und 57 Jahren erfolglos nach einer neuen Beschäftigung. Mit 58 Jahren fiel die Arbeitslosenquote dann deutlich von 25 Prozent auf etwas mehr als 8 Prozent. 60-Jährige arbeitslose Frauen gab es praktisch nicht“. Dies ist vor allem darauf zurück zuführen, dass sich im Alter von 60 Jahren über zwei Drittel der ostdeutschen Frauen bereits im Ruhestand befanden, da sie aufgrund einer kontinuierlich vorangegangenen (Vollzeit-) Erwerbsphase zu DDR-Zeiten die Zugangsvoraussetzungen für die Altersrente für Frauen ab 60 Jahren erfüllten (vgl. Böttcher 2004:51ff). Wir sehen also, dass, obwohl ostdeutsche Frauen nicht dem westdeutschen Modell der „Ernährer“-oder „Zuverdienerehe“ entsprachen, diese aufgrund von Arbeitslosigkeit oder früher Verrentung in einem Alter, das ungefähr dem durchschnittlichen Alter informeller Pflegepersonen entspricht, in den vergangenen Jahren als Leistungsreserve für Familienaufgaben zur Verfügung stehen konnten. Erinnern wir nun jedoch daran, dass (1) die Bildungsbeteiligung insbesondere der Frauen ab der so genannten Babybommer-Generation, also der ca. ab 1950 Geborenen deutlich angestiegen ist (Stichwort: steigende Opportunitätskosten)68, und dass sich (2) Frauen ab ca. dieser Generation aufgrund zunehmend pluralisierter und diskontinuierlicherer Lebens- und Beziehungsformen immer weniger auf Ehe und Familie als Alterssicherung verlassen können oder auch wollen, sowie daran, dass (3) durch die Erosion des männlichen dominierten „Normalerwerbsverhältnisses“/“Ernährerehe“ und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse für beiderlei Geschlechter, Frauen vermehrt – auch im fortgeschrittenen Alter – zu so genannten „Doppelverdienermodellen“ gezwungen sind, und künftig wohl auch verstärkt sein werden, dann ist anzunehmen, dass sich der Konflikt zwischen Erwerbstätigkeit und Pflege bereits in absehbarer Zeit auch für ältere Frauen im erwerbsfähigen Alter erheblich verschärfen wird. 3. Der Konflikt zwischen (weiblicher) Erwerbstätigkeit und Pflege dürfte bislang nicht nur dadurch entschärft worden sein, dass die zumeist älteren und weiblichen informellen Pflegepersonen größtenteils langjährig verheiratet sind („Normalfamilie“) und sie dadurch, sofern sie überhaupt erwerbstätig waren, selbst bei einer Unterbrechung der eigenen (häufig gering entlohnten) Erwerbstätigkeit 68
200
Es kann bereits heute beobachtet werden, dass die Beschäftigungsquote der höher Qualifizierten - sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen - in der Altersgruppe der 55- bis 64Jährigen doppelt so hoch ist wie die der gering Qualifizierten (vgl. Europäische Kommission 2003:170).
immer noch auf ein für die Übernahme einer häuslichen Pflegetätigkeit so entscheidendes „übriges Familieneinkommen“ (vgl. Schneider et al 2001) zurückgreifen konnten, sondern auch dadurch, dass über lange Jahre hinweg die Altersgrenze für den Renteneintritt der Frauen bei 60 Jahren lag. Mit dem Rentenreformgesetz von 1992 wurde die 1957 eingeführte Altersgrenze von 60 Jahren für Frauen jedoch stufenweise (beginnend mit dem Jahr 2001) auf 65 Jahre angehoben. Damit ist die neue Altersrente ab 65 Jahren für alle Frauen bindend, die nach Dezember 1944 geboren sind, mithin also für all diejenigen Frauen, die in den kommenden Jahren verstärkt mit der Frage nach einer häuslichen Pflegeübernahme konfrontiert sein werden. Zusammenfassend ließe sich also sagen, dass in soziologischer Perspektive und auf einer Zeitachse diejenigen informellen Hauptpflegepersonen, die vor und größtenteils sicherlich auch noch seit Einführung der Pflegeversicherung häusliche Pflege geleistet haben, seien es pflegende Ehepartner oder deren Kinder, mehrheitlich und strukturell noch jenen Lebens- und Erwerbsverläufen zuzuordnen sind, wie sie von Garhammer (2005:81) unter „wohlfahrtsstaatlichkorporatistischen“ Bedingungen beschrieben wurden (vgl. Tabelle 25 dieser Arbeit). Natürlich waren auch die Erwerbs- und Lebensmodelle „Normalarbeitsverhältnis“/“Normalfamilie“ sicherlich nur auf den ersten Blick passförmiger für die Familienarbeit und die Übernahme informeller familiäre Pflegeleistungen. Funktionieren konnte es vor allem aber deshalb, da alle familiären Anforderungen durch die unhinterfragte Einsatzreserve der Frauen abgepuffert werden konnten. Und wenn Schneider et al. (2002:14) davon sprechen, dass es für Familie einst „selbstverständlich“ war, das „Ineinandergreifen der Lebensräume der einzelnen Familienmitglieder herzustellen“, dann bezog sich diese „Selbstverständlichkeit“ wohl zu einem erheblichen Teil darauf, dass diese Herstellung eben vor allem auf Kosten der Frauen ging. Neue Fragen des Aushandelns und des Planens hinsichtlich der Verschränkung von Erwerbsarbeit und Familienarbeit werden sich zukünftig jedoch nicht nur durch einen Anstieg der weiblichen Erwerbstätigkeit im Allgemeinen ergeben und eines, aus den dargelegten Gründen, zu erwartenden Anstiegs auch der Erwerbstätigkeit älterer Frauen im Besonderen, sondern ebenso, und vielleicht noch mehr, durch die sich für beide Geschlechter wandelnden Erwerbsformen und Erwerbsbedingungen, wie sie vorangegangen beschrieben wurden. Und so ist es deshalb dringend anzuraten, die wissenschaftliche wie auch die politische Diskussion über die Vereinbarkeitsproblematik von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit in stärkerem Maße, als dies bislang geschehen ist und geschieht auch auf die Vereinbarkeitsproblematik von Erwerbstätigkeit und Pflege zu richten. Denn es deutet sehr vieles darauf hin, dass die Pflegeversicherung und die von ihr priorisierte informelle Pflege, die häufig von älteren, aber noch erwerbsfähigen Menschen – und insbesondere 201
von Frauen – geleistet wird, bislang strukturell und in erheblichem Ausmaß noch von solchen (vormodernen) Lebens- und Erwerbsverläufen profitiert hat, aber auch von politischen Rahmenbedingungen, wie bspw. die über lange Zeit ermöglichte Nutzung von Vorruhestandsregelungen, die einerseits die Übernahme und Aufrechterhaltung eines häuslichen Pflegearrangements in alltagspraktischer Hinsicht bislang erleichterten, die andererseits aber bereits kurz- bis mittelfristig nur noch für eine Minderheit von Männer und Frauen Gültigkeit haben werden. 4.4 Der Einfluss der (künftigen) Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf die Sicherstellung der häuslichen Pflege Da die Pflegeversicherung, anders als dem Prinzip nach die Gesetzliche Krankenversicherung, von Anfang an nicht dem Bedarfs- sondern dem Budgetprinzip folgt, und mithin also nur einen geringen Teil der durch die Pflegebedürftigkeit entstehenden Kosten erstattet, entscheidet die Frage, ob und in welcher Höhe eigenes Einkommen bzw. Vermögen ggf. bei Bedarf zur Deckung der Versorgungslücke zur Verfügung steht, ganz wesentlich darüber, ob und wie weit der im PflegeVG verankerte Grundsatz des Vorrangs der häuslichen Pflege umgesetzt werden kann. Aus der Perspektive der Hilfe- und Pflegebedürftigen selbst dürfte sich vor allem die Frage stellen, ob das Gesamtnettoeinkommen sowie – falls vorhanden – die sonstigen Vermögensbestände ausreichend sind, um im Bedarfsfall die Menge an unterstützenden Leistungen durch ambulante Pflegedienste einzukaufen, die u. U. notwendig sind, um ein häusliches Pflegearrangements (unterstützend) aufrechtzuerhalten. Erinnern wir erneut an unsere Modellrechnung, so wären gegenwärtig bspw. bei einem durchschnittlichen Stundensatz eines ambulanten Pflegedienstes von ca. 25 Euro und bei einem gesetzlichen festgelegten Mindestbedarf von 1,5 Stunden Pflege/pro Tag in Pflegestufe 1 bereits 1125 Euro zu entrichten, wobei die Pflegeversicherung hiervon lediglich 385 Euro als Sachleistung (Pflegestufe 1) übernehmen würde. Ebenso sind bei der Inanspruchnahme von Kurzzeit- oder Tagespflege, die der Intention des Gesetzgebers nach ein häusliches Pflegearrangement unterstützen soll, erhebliche private Zuzahlungen zu leisten, da auch hier die Pflegekassen nur einen Teilbetrag entrichten. Aus der Perspektive der informellen Pflegepersonen, insbesondere der (erwerbstätigen) Kinder der Hilfe- und Pflegebedürftigen, dürfte sich vor allem die Frage stellen, ob das (übrige) Familieneinkommen ausreichend ist, um bei Bedarf – bspw. bei einer Verschlechterung des Zustands der Pflegebedürftigkeit – die eigene Erwerbstätigkeit einzuschränken oder gar ganz aufgeben zu können. 202
Und an dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass es aufgrund der hohen physischen, psychischen und zeitlichen Belastungen durch die häusliche Pflege einerseits und die nur geringen Leistungen der Pflegeversicherung andererseits für vollzeiterwerbstätige Hauptpflegepersonen zumeist nicht sinnvoll ist, in ein Teilzeitverhältnis zu wechseln. Das heißt, im Falle von Erwerbstätigkeit und der Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit stellt auch die Teilzeitarbeit, wie sie sich in den vergangenen Jahren als Kompromisslösung häufig bei der Betreuung von Kleinkindern durchgesetzt hat, zumeist keine Option dar (vgl. Schneider et al 2001). Ebenso muss daran erinnert werden, dass die Höhe des im Rahmen der Pflegeversicherung gewährten Versicherungsschutzes (Rente) für informelle Pflegepersonen keinesfalls ausreichend ist, um die vorzeitige Aufgabe eines sozialversicherten Erwerbsverhältnisses auch nur annähernd zu kompensieren. Nachfolgend soll nun der Blick auf die gegenwärtige Einkommens- und Vermögenssituation der Betroffenen gerichtet werden als auch in einem weiteren Schritt auf entsprechende in die Zukunft projizierte Entwicklungstendenzen der Einkommens- und Vermögensentwicklung der (künftig) von Pflegebedürftigkeit Betroffenen als auch ihres informellen Hilfepotentials: Da das Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko ab dem 80. Lebensjahr signifikant ansteigt, handelt es sich bei den Hilfe- und Pflegebedürftigen in der Regel um Bezieher von Altersrenten. Grundsätzlich gilt, dass das Einkommensverwendungspotenzial im Alter durch Einkommen (Altersrenten) und Vermögen geprägt wird, und beides wird wiederum maßgeblich durch ökonomische, demographische und politische Bedingungen, aber auch durch individuelle Entscheidungen in der vorgelagerten Erwerbsphase beeinflusst (vgl. Schmähl 2004; Fünfter Altenbericht der Bundesregierung 2005). Unter der Annahme, dass das derzeitige Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko auch zukünftig weitgehend konstant bleibt, wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass in den kommen beiden Jahrzehnten vor allem diejenigen von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit betroffen sein werden, die in soziologischer Perspektive als die Eltern der so genannten Babyboomer bezeichnet werden können, also die ca. ab 1925 Geborenen und mithin diejenigen älteren Menschen, die seit ca. Mitte der 1980er Jahre eine Altersrente beziehen. Mit Ausnahme des Faktors „Kriegerwitwe“ bedeutet dies, dass es sich bei den Hilfe- und Pflegebedürftigen vor und seit Einführung der Pflegeversicherung, aber auch noch für die kommenden ca. beiden Jahrzehnte, mehrheitlich – jedoch mit „absteigender“ Tendenz – um solche Hilfe- und Pflegebedürftige handelt, deren Lebenslaufs- und Erwerbsbiographien weitgehend den Kennzeichen von „Normalfamilie“/“Ernährerehe“ und „Vollzeit-Normalarbeitsverhältnis“ entsprochen haben dürfte. Und dies bedeutet hinsichtlich der gesetzlichen Alterssicherung bzw. des Rentenbezugs, dass kurz- bis mittelfristig noch 203
ein Großteil der Hilfe- und Pflegebedürftigen jenen Grundannahmen entsprechen wird, auf denen das deutsche Sozialversicherungs- bzw. Rentensystem letztendlich beruht. Das heißt vor allem: Eine kontinuierliche, langjährige und sozialversicherte Erwerbstätigkeit (40-45 Versicherungsjahre)69 bei einem durchschnittlichen Erwerbseinkommen, eine steigende Lohnentwicklung mit Löhnen, in der Funktion eines Familienlohns sowie die Annahme, dass Frauen über Ehe und Familie auch im Alter abgesichert sind (vgl. Veil 1999, Böcklerimpuls 10/2006). Dies dürfte in den kommenden ca. beiden Jahrzehnten mehrheitlich noch für die Pflegebedürftigkeitsrisikogruppe älterer Rentner und Rentnerinnen (West) sowie aufgrund staatlich verordneter Vollbeschäftigung und einer Frauenerwerbsquote, die über Jahrzehnte das Niveau der Männer erreichte, erst recht für ältere Rentner(innen) (Ost) gelten.70 Und so sind auch Hinweise auf das „hohe Konsumpotential“ Älterer oder eine Aussage wie:“ Wer in den vergangenen Jahren in Rente gegangen ist, zählt in der Regel zu den reichsten Rentnern, die es je gab und geben wird“ (Reiner Braun, vom Berliner Wirtschaftsforschungsinstitut Empirica, zit. nach DIE ZEIT; 11.08.2005, Nr. 33) sicherlich auch nur vor eben jenem (historischen) Hintergrund zu verstehen, dass die Lebens- und Erwerbsbiographien der älteren und alten Rentner, die entweder bereits von Pflegebedürftigkeit 69
70
204
Im Jahre 2004 erreichten allerdings nur noch 29,9 Prozent der Männer und 10,7 Prozent der Frauen 45 Beitragsjahre, also eines der Kriterien für die Höhe der so genannten Ecke- bzw. Standardrente (vgl. IG-Metall-direkt 20/2006). Diejenigen, die heute in Rente gehen, werden – bei gleich bleibendem Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko – ab ca. 2015/2020 mehrheitlich die Gruppe der Hilfe- und Pflegebedürftigen dominieren. Die Integration ostdeutscher Rentner in das westdeutsche Rentenversicherungssystem im Juli 1992 führte zu einer beträchtlichen Verbesserung der Einkommenslage, vor allem für diejenigen, deren Rentenbeginn schon mehrere Jahre zurücklag. Der Grund ist darin zu sehen, dass im statisch konzipierten ostdeutschen Rentensystem, in dem nur in größeren Abständen AD-hocAnpassungen der Rentenhöhe erfolgten – selbst bei vergleichbarer Erwerbsbiographie – eine große Kluft in der Rentenhöhe bestand, je nach dem Kalenderjahr, in dem die Rente erstmals bezogen wurde. Diese Unterschiede wurde jedoch beseitigt und zugleich eine Anhebung der Renten in der DDR zum Zeitpunkt der Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 durchgeführt. Vor allem erfolgte nachfolgend eine zunächst im halbjährigen Abstand durchgeführte Anpassung der Renten auf der Basis der Entwicklung des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts in Ostdeutschland, das damals hohe Zuwachsraten aufwies. Berücksichtigt man die aus den jeweiligen Erwerbsbiographien resultierenden tatsächlichen Rentenzahlbeträge, so liegen im Durchschnitt die Männer-Renten bereits seit Mitte 1997 und die der Frauen seit 1991 über den entsprechenden Renten in Westdeutschland (vgl. Dritter Altenbericht 2001). Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Renten in Ostdeutschland ist jedoch zu unterscheiden zwischen denjenigen, die sich bereits im Rentenalter befinden, und deren Renten im Zuge der Dynamisierung angehoben und dem westdeutschen generellen Leistungsniveau weitgehend angeglichen wurden, und den neu zugehenden Rentnern, die zumeist gegen Ende ihrer Erwerbsphase tief greifende Veränderungen im ihrem Erwerbsleben ausgesetzt waren. So waren bspw. bereits im Jahr 2004 über die Hälfte der Ostdeutschen, die in Rente gingen, zuvor arbeitslos gewesen (vgl. DIE ZEIT; vom 11.08.2006, Nr. 33).
betroffen sind oder es kurz- bis mittelfristig sein werden, eben noch weitgehend passförmig zu jenen beschriebenen Grundannahmen sind, die dem deutschen Sozial- und insbesondere dem Rentenversicherungssystem unterlegt sind. Aufgrund der im vorangegangenen Kapitel besprochenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sowie aufgrund der sich seit langem verändernden Haushalts- und Beziehungsstrukturen erodieren gleichwohl jedoch auch die wesentlichen Grundannahmen des deutschen Sozialversicherungssystems, was wiederum dazu führt, dass es vollkommen verfehlt wäre, aus der gegenwärtigen Einkommenslage im Alter auch auf die in der Zukunft rückzuschließen und entsprechende „Abstriche“ in der Alterssicherungspolitik zu fordern. Doch zunächst ist nun danach zu fragen, ob die Gesamtnettoeinkommen und Vermögensverhältnisse der Hilfeund Pflegebedürftigen gegenwärtig ausreichend sind, und vor allem zukünftig noch ausreichend sein werden, um den im PflegeVG verankerten Grundsatz des „Vorrang der häuslichen Pflege“ ggf. durch Eigenbeteiligungen/Zuzahlungen sicherstellen zu können. Bei dieser Frage stoßen wir jedoch sogleich auf die Schwierigkeit, dass zwar Untersuchungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen älterer Menschen im Allgemeinen vorliegen (vgl. u. a. Alterssicherungsberichte der Bundesregierung, Daten des sozioökonomisches Panels, Daten der verschiedenen Einkommens- und Verbrauchsstichproben [EVS]), gesonderte empirische Untersuchungen über die Einkommensverteilung von Privathaushalten mit pflegebedürftigen Mitgliedern bislang jedoch kaum vorgenommen wurden. Eine Ausnahme bildet die Infratest-Repräsentativerhebung 1998, wonach sich die Netto- und Äquivalenzeinkommen bei Haushalten mit hilfe- und pflegebedürftigen Mitgliedern wie folgt darstellen (vgl. Schneekloth/ Müller 1999):
205
Tabelle 26: Schichtung des haushaltsspezifischen Netto- und Äquivalenzeinkommens bei Hausalten mit pflegebedürftigen Mitgliedern (ohne die Leistungen der Pflegeversicherung) Westdeutschland Einkommensklasse in Euro
Einkommen
Äquivalenzeinkommen
Ostdeutschland Einkommen
Äquivalenzeinkommen
Anteil der Haushalte in der jeweiligen Einkommensklasse (in%) Unter 511
4
14
1
12
511 bis unter 767
7
25
10
31
767 bis unter 1023
9
30
9
33
1023 bis unter 1534
22
17
25
20
1534 bis unter 2566
40
5
45
1
2566 und mehr
13
1
6
0
keine Angabe
6
8
3
3
Quelle: Fachinger (2001), nach Daten von Schneekloth/Müller 2000:36ff. sowie Berechnungen, zit. nach Vierter Altenbericht 2002:94 Die Infratest-Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass immerhin 69 Prozent der Haushalte (West) und 76 Prozent der Haushalte (Ost) mit pflegebedürftigen Mitgliedern lediglich über ein Nettoäquivalenzeinkommen von bis unter 1023 Euro verfügen.71 Stellt man diese Einkommensangaben solchen Daten gegenüber, die auf der Basis der „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998“ (EVS’98, vgl. Fachinger 2001) gewonnen wurden, so zeigen sich deutliche Unterschiede, die auf eine schlechtere finanzielle Situation der Haushalte von Pflegebedürftigen hindeuten. Für Westdeutschland ergibt sich gemäß EVS’98, dass insgesamt 5 Prozent der Haushalte mit einer 85 Jahre oder älteren und drei Prozent derjenigen mit einer 65-74-Jährigen Bezugsperson ein äquivalenzgewichtetes Einkommen unter 511 Euro aufweisen, im Gegensatz zu 14 Prozent unter den Haushalten mit pflegebedürftigen Mitglieder in der Infratest-Erhebung. Beträcht71
206
In der Infratest-Untersuchung von Schneekloth und Müller wurden die folgenden Gewichte verwendet: 1,00 für einen Einpersonenhaushalt, 1,69 für einen Zweipersonenhaushalt, 2,30 für einen Dreipersonenhaushalt, 2,86 für einen Vierpersonenhaushalt und 3,67 für einen Haushalt mit fünf oder mehr Personen (vgl. Schneekloth/ Müller 2000:37).
liche Abweichungen gibt es auch für den Bereich der Einkommen zwischen 511 Euro und 1023 Euro. Hier betragen die Anteile für die beiden Altersgruppen 39 bzw. 36 Prozent gegenüber 55 Prozent. Für Ostdeutschland betragen die Anteile für die unterste Einkommensklasse 25 Prozent bei den Haushalten mit einer 85Jährigen Bezugsperson bzw. ein Prozent für die jüngere Gruppe im Gegensatz zu zwölf Prozent der Infratest-Repräsentativerhebung 1998, und für die Einkommen zwischen 511 Euro und 1023 Euro liegen die Werte bei 44 respektive 47 Prozent im Vergleich zu 64 Prozent. Insgesamt gesehen weist also die Infratest-Erhebung für Haushalte mit Pflegebedürftigen in den unteren Einkommen eine höhere Besetzung auf (vgl. auch Vierter Altenbericht der Bundesregierung 2002:94ff). Und dies spiegelt letztlich auch die Forschungsergebnisse der Gesundheitswissenschaften wider, wonach weniger privilegierte Einkommens- und Bildungsschichten, gerade im Alter, ein höheres gesundheitliches Risiko tragen (vgl. Clemens/ Naegele 2004; Mielk 2005). Aufgrund der insgesamt noch sehr unbefriedigenden Datenlagen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen von Haushalten mit pflegebedürftigen Menschen muss nachfolgend also auf Daten zurückgegriffen werden, die über die ökonomischen Ressourcen älterer Menschen im Allgemeinen Aufschluss geben. Allerdings gilt es im Kontext der Einkommens- und Vermögensverhältnisse älterer Menschen und dem Vorliegen von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit eben immer auch mit zu bedenken, dass es sich vor dem Hintergrund einer sozialen Ungleichverteilung des Pflegerisikos bei Haushalten mit Hilfe- und pflegebedürftigen Menschen eher um Haushalte mit unterdurchschnittlichen ökonomischen Ressourcen handeln dürfte.72 Aus der nachfolgenden Tabelle kann nun zunächst entnommen werden, wie sich die Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 Jahren zusammensetzen:
72
Eine sozial ungleiche Verteilung des Pflegerisikos spiegelt nicht zuletzt auch die unterschiedliche Ausgabenhöhe zwischen den Privatversicherten und den gesetzlich Versicherten wider. So belaufen sich die Ausgaben pro Privatversicherten auf 88 Euro pro Jahr, während die gesetzlich Versicherten Ausgaben in Höhe von 236 Euro produzieren. Allerdings sind die Beihilfezahlungen für Beamte in der erstgenannten Summe nicht enthalten. Wird ein Anteil der Beamten unter den Privatversicherten von rund 50 Prozent und ein Beihilfeanteil von durchschnittlich mehr als 50 Prozent unterstellt, lassen sich die tatsächlichen Ausgaben der Privatversicherten auf rund 120 Euro schätzen. Sie liegen damit aber immer noch um die Hälfte niedriger als die Ausgaben der gesetzlich Versicherten (vgl. Rothgang 2006:217). Während in der sozialen Pflegeversicherung rund 2,7 Prozent der Versicherten Pflegeleistungen beziehen, sind es bei der Privaten ca. 1,3 Prozent (vgl. Lang et al. 2005).
207
Tabelle 27: Die wichtigsten Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 Jahren (in Prozent des Bruttoeinkommens) Einkommensquelle
Alle
Ehepaare
Alleinst. Männer Alleinst. Frauen
West
Ost
West
Ost
West
Ost
Gesetzliche Rentenversicherung
66
57
89
60
87
68
95
Andere Alterssicherungssysteme
21
26
2
26
5
22
2
Erwerbstätigkeit, Zinsen, Vermietung,
4
7
5
3
1
1
0
Lebensversicherung u.a.
7
9
3
9
6
6
2
Wohngeld/Sozialhilfe/ Grundsicherung
1
0
0
1
1
1
1
100
100
100
100
100
100
100
Summe
0=weniger als 0,%, jedoch mehr als 0 Abweichungen der Summen von 100% sind rundungsbedingt Quelle: Alterssicherung in Deutschland 2003 (ASID`03), zit. nach: Fünfter Altenbericht 2005:198 Wie die Daten des Alterssicherungsberichts 2003 der Bundesregierung aufzeigen, gehören die Zahlungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung nach wie vor zu den bedeutendsten Einkommensquellen der älteren Bevölkerung. Erhebliche Unterschiede zeigen sich jedoch zwischen Ost- und Westdeutschland. So dominieren in Ostdeutschland derzeit deutlich die Fälle, in denen die Alterseinkommen ausschließlich auf den Bezug von Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung basieren. Betriebliche Alterssicherungen in der Privatwirtschaft wie im öffentlichen Dienst als auch die Privatvorsorge sind für die Einkommenslage ostdeutscher Rentner bislang kaum relevant. Da die auf Kapitalfundierung basierende private Vorsorge als auch die betriebliche Alterssicherung längere Vorlaufzeiten benötigen, kann davon ausgegangen werden, dass diese Heterogenität in der Einkommensstruktur der älteren Bevölkerung zwischen Ost- und Westdeutschland noch für längere Zeit bedeutsam sein wird. Hinsichtlich der Unterschiede in den Einkommensstrukturen ist auch zu beachten, dass bspw. reduzierende Maßnahmen in der Gesetzlichen Rentenversicherung, die insbesondere seit dem Jahre 2001 vorgenommen wurden, vor allem diejenigen treffen, deren Al208
terseinkommen, wie in Ostdeutschland, hauptsächlich aus Renteneinkünften der Gesetzlichen Rentenversicherung bestehen. Insofern den Einkommen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung, wie dargelegt, nach wie vor eine dominierende Bedeutung zukommt, soll nun ein Blick auf die Verteilung der Renten in Ost- und Westdeutschland nach Rentenhöhe und Geschlecht geworfen werden: Tabelle 28: Verteilung der Renten in West- und Ostdeutschland; in Prozent der Rentenempfänger nach Rentenhöhe und Geschlecht, Deutschland 2003 Euro pro Monat
Männer West
Frauen West
Männer Ost
Frauen Ost
> 1500
11,8
0,4
6,5
0,2
1350-1500
9,8
0,7
8,0
0,6
1200-1350
13,5
1,4
12,1
1,6
1050-1200
14,7
2,6
18,2
3,3
900-1050
11,8
4,7
23,0
7,0
750-900
9,2
10,2
18,3
16,3
600-750
7,4
14,6
9,0
36,0
450-600
5,8
14,6
2,6
20,1
300-450
5,1
14,3
0,9
8,8
150-300
5,2
22,4
1,1
5,6
< 150
5,7
14,2
0,3
0,7
Quelle: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Stand 11.2004, zit. nach: Bundeszentrale für politische Bildung (2005) Nach den Angaben des Verbands der Deutschen Rentenversicherungsträger erhalten rund 50 Prozent der ost- und westdeutschen Männer (und jeweils rund 95 Prozent der Frauen) eine gesetzliche Rente in Höhe von bis 1050 Euro. Und rund die Hälfte der westdeutschen Rentnerinnen verfügen über eine Rente von lediglich bis 450 Euro. Gleichwohl muss in Bezug auf die Einkommen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung mitbedacht werden, dass fast alle Hilfe- und Pflegebedürftigen Männer und Frauen ab 75 Jahren verheiratet sind oder verheiratet waren (vgl. Tabelle 17). Das heißt, dass es – zumindest in dieser Generation – vor allem den (verheirateten) Frauen in den alten Ländern noch gelingt, die sehr niedrigen eigenen Alterssicherungsleistungen im Ehekontext weitgehend 209
auszugleichen (vgl. Alterssicherungsbericht 2005:19). Interessant ist nun ein Blick auf die so genannte Eck- oder Standardrente. Bei der Eckrente handelt es sich um einen hypothetischen Rentenfall, der auf 45 Entgeltpunkten basiert und bspw. bei 45 Versicherungsjahren und einem durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt erreichbar ist.73 Nach Abzug der Kranken- und Pflegeversicherung betrug die (hypothetische) Eckrente – wohlgemerkt auf der Grundlage von 45 Versicherungsjahren – im Jahresdurchschnitt rund 1060 Euro monatlich; in Ostdeutschland aufgrund des niedrigeren aktuellen Rentenwerts knapp 930 Euro. Dennoch sind die tatsächlichen Zahlbeträge ostdeutscher Renten im Mittel höher als in Westdeutschland, insbesondere aufgrund der höheren Zahl von Versicherungsjahren sowie einer höheren Entgeltposition. Im Mittel ergeben sich demnach folgende Zahlbeträge aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (2002): Tabelle 29: Mittelwerte der Zahlbeträge und Berechnungsgrundlagen von Altersrenten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung 2002 Maßzahl
bezogen auf
Westdeutschland
Ostdeutschland
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Rente (in )
997
466
1.085
654
Entgeltpunkte
44,8
19,4
51,1
33,3
Versicherungsjahre
40,4
25,5
45,7
39,7
Median*
Rente (in )
1.055
382
1.030
627
Modus**
Rente (in )
1.175
175
975
675
Durchschnitt (arithmetisches Mittel)
Erläuterungen: Monatliche Zahlbeträge. Von den Zahlbeträgen sind Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung bereits abgezogen worden Alle Angaben wurde aus klassifizierten Daten (Klassenbreite 50 Euro/0,1 Entgeltpunkte) errechnet * 50% der Renten liegen unter bzw. über dem Median ** Klassenmitte der am stärksten besetzten Klasse Quelle: Viebrok, Himmelreicher&Schmähl 2004. Datenbasis Statistik des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) 2003, zit. nach Fünfter Altenbericht 2005:194 73
210
Entgeltpunkte determinieren in der Gesetzlichen Rentenversicherung die relative (individuelle) Rentenhöhe (z.B. wir bei Durchschnittsverdienst in einem Jahr ein Entgeltpunkt gutgeschrieben), während für die absolute Höhe der Rente die insgesamt während der Versicherungsdauer akkumulierten Entgeltpunkte mit den „aktuellen Rentenwert“, der bspw. im Jahresdurchschnitt 2002 25,58Euro in West- und 22,38 Euro in Ostdeutschland betrug, multipliziert werden. Dabei verändert sich der aktuelle Rentenwert im Ausmaß der jeweiligen Rentenanpassungssätze.
Aus diesen Daten wird deutlich, dass männliche west- wie ostdeutsche Rentenbezieher im Durchschnitt 44,8 bzw. 45,7 Versicherungsjahre aufweisen und damit bei einem durchschnittlichen Bruttoerwerbseinkommen auf eine durchschnittliche Rente von 997 Euro (West) und 1085 Euro (Ost) kommen, wobei, wie schon aus Tabelle 28 deutlich werden konnte, rund die Hälfte der ost- wie westdeutschen Männer eine Rente erhalten, die noch unterhalb der Eckrente liegt. Ein Blick auf die Modus-Verteilung zeigt, dass trotz einer niedrigeren Durchschnittsrente die Häufung der Rentenfälle in Westdeutschland in den höheren Zahlbetragsklassen liegt, und ebenso zeigt die Häufung in der extrem niedrigen Zahlbetragsklasse von 175 Euro bei den westdeutschen Frauen die erhebliche Diskrepanz in der Verteilung der Rentenhöhe zwischen den Geschlechtern in Westdeutschland an sowie die Diskrepanz in der Rentenhöhe zwischen westund ostdeutschen Frauen. Von der Höhe der Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung kann jedoch nicht auf das Gesamteinkommen rückgeschlossen werden, da die Zahlungen – zumindest in Westdeutschland – noch durch weitere Einkommensquellen ergänzt werden (vgl. Tabelle 27 dieser Arbeit). Nach Daten des Alterssicherungsberichts 2003 stellt sich das Nettogesamteinkommen im Alter ab 65 Jahren nach Geschlecht und Familienstand in West- und Ostdeutschland wie folgt dar: Tabelle 30: Nettoeinkommen im Alter ab 65 – nach Geschlecht und Familienstand in West- und Ostdeutschland 2003 in Euro/Monat Familienstand
Männer
Frauen
West
Ost
Ost:West (in%)
West
Ost
Ost:West (in%)
Ehepaare(1)
2.209
1.938
88
Alleinstehende
1.513
1.282
85
1.166
1.119
96
Verwitwete
1.598.
1.314
82
1.176
1.195
102
Geschiedene(2)
1.427
1.132
79
1.050
827
79
Ledige
1.386
1.403
101
1.187
953
80
Darunter:
(1) Ehemann ab 65 (2) Einschließlich getrennt lebender Ehemänner Quelle: Alterssicherung in Deutschland 2003 (ASID’03), zit. nach Fünfter Altenbericht 2005:197 211
Trotz der im Durchschnitt höheren Renten in Ostdeutschland zeigen diese Daten, dass das Gesamtnettoeinkommen in Westdeutschland höher liegt, was, wie dargelegt, vor allem auf zusätzliche Einkommensquellen neben der gesetzlichen Rente zurückzuführen ist. Erwartungsgemäß ist das Durchschnittseinkommen von Ehepaaren höher als das von Alleinstehenden. Allerdings ist im Kontext von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu bedenken, dass, wie wir es bereits dargestellt haben, es sich zumindest gegenwärtig bei zwei Drittel der häuslich versorgten Hilfe- und Pflegebedürftigen um Frauen handelt, die wiederum zu rund drei Viertel verwitwet sind. Bei einem statistischen Durchschnittsgesamteinkommen verwitweter Frauen von 1176 Euro (West) bzw. 1195 Euro (Ost) – wobei Mittelwerte bei den Einkommensangaben in der Regel einen für die Masse der Haushalte nach oben verzerrten Eindruck wiedergeben74 (vgl. auch Fünfter Altenbericht 2005:203) – und unter Berücksichtigung einer sozialen Ungleichverteilung des Hilfe- und Pflegebedürftigkeitsrisikos, wird an dieser Stelle jedoch schnell deutlich, in welch hohem Ausmaß der „Vorrang der häuslichen Pflege“ im Rahmen der Pflegeversicherung auf die unentgeltliche Mitwirkung informeller Hilfepersonen angewiesen ist. Oder anders ausgedrückt: Dass selbst die Gesamtnettoeinkommen für die zumindest gegenwärtig dominierende Gruppe der Hilfe- und Pflegebedürftigen, also der verwitweten Frauen, nicht ausreichend sein dürften, um in den jeweiligen Pflegestufen auch nur den gesetzlich festgelegten Mindestbedarf an professioneller Pflegeunterstützung „einzukaufen“. Das ökonomische Potenzial Hilfe- und Pflegebedürftiger ältere Menschen wird jedoch nicht nur durch Einkommen, sondern ebenso durch Vermögensbesitz bestimmt. Auf Datenbasis des Sozioökonomischen Panels konnten MotelKlingebiel et al. (2004) in einer Studie zur den „Alterseinkommen der Zukunft“ aufzeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Älteren zwischen 65 und 85 Jahren gegenwärtig Zugriff auf Vermögensbestände von durchschnittlich 124.912 Euro hat und hinsichtlich dieser Vermögensbestände „durchaus nennenswerte Beträge derzeit in allen Einkommenslagen verbreitet sind“ (vgl. Motel-Klingebiel et al. 2004:5ff) Allerdings macht „selbst genutztes Wohneigentum“ bei den rund drei Viertel der Älteren, die überhaupt im Besitz eigenen Vermögens sind, mit knapp 44 Prozent den höchsten Anteil am Vermögensbesitz aus, wobei ganz entschieden angemerkt werden muss, dass diese Vermögensart im Bedarfsfall nur schwer kapitalisierbar sein dürfte. Wertpapiere, Spar- bzw. 74
212
Dies zeigt bspw. auch eine Untersuchung vom Motel-Klingebiel et al. (2004). In dieser wird auf der Grundlage von Daten des Sozioökonomischen Panels das mittlere jährliche Haushaltsnetto-Einkommen von Älteren zwischen 65 und 85 Jahren mit 15.490 Euro angegeben, wobei gezeigt werden konnte, dass rund 70 Prozent der Haushalte über weniger als das Durchschnittseinkommen verfügen konnten (vgl. Motel-Klingebiel 2004:4).
Versicherungsrücklagen gehören nach dem selbst genutzten Wohneigentum zu den weiteren häufigsten Vermögensarten, wogegen weiterer Immobilienbesitz, Betriebs- und Sachvermögen lediglich bei einem kleineren Bevölkerungsanteil zu finden ist. Obgleich Vermögensbesitz in allen Einkommenslagen verbreitet ist, machen Motel-Klingebiel et al. in ihrer Analyse doch auch auf eine beträchtliche Ungleichheit in der Vermögensverteilung aufmerksam. Nicht zuletzt deshalb, da für den Aufbau von Vermögen dem Prozess des Vermögensansparens im Verlaufe der Biographie eine entscheidende Bedeutung zukommt. Entsprechend finden sich die höchsten Vermögenswerte bei den Hocheinkommensbeziehern. Ganz ähnliche, aber etwas differenziertere Angaben zu den Nettovermögen von Rentnerhaushalten finden sich auch im jüngsten, Fünften Altenbericht der Bundesregierung (2005:204): Tabelle 31: Nettovermögen von „Altenhaushalten“ (65 Jahre und älter) 2003 Haushaltstyp
Arithmetisches Mittel – in 1000 Euro West
Ost
Deutschland
Alleinlebender Mann
135,7
35,7
128,1
Alleinlebende Frau
103,6
22,5
88,8
Ehepaar
231,7
72,5
200,4
Quelle: Zusammengestellt aus Ammermüller, Weber & Westerheide 2005, Tab., 85, Datenbasis EVS 2003, ZEW-Berechnungen, zit. nach Fünfter Altenbericht 2005:204 Hier zeigt sich, dass das Nettovermögen aus Geld- und Immobilienwerten allein lebender Männer und Frauen, ebenso wie die Gesamtnettoeinkommen, deutlich unter dem von Ehepaaren liegt, und die Vermögenswerte ostdeutscher Altenhaushalten beträchtlich unter denen westdeutscher Haushalte. Aus der nachfolgende Tabelle (32) lässt sich zudem anhand der Median-Verteilung entnehmen, dass die Mittelwerte über den Vermögensbesitz von „Altenhaushalten“ „einen nach oben verzerrten“ Eindruck wiedergeben, was wiederum, so der Fünfte Altenbericht, deutlich mache, warum Geld- und Immobilienvermögen in dieser Größe bei den laufenden Einkommen „im Gesamtbudget älterer Haushalte in der Regel eine untergeordnete Bedeutung besitzen …“ (vgl. Fünfter Altenbericht der Bundesregierung 2005:204).
213
Tabelle 32: Nettovermögen von Rentnern 2003 (in 1000 Euro) Arithmetisches Mittel
Median
Westdeutschland
150,0
70,2
Ostdeutschland
48,8
20,4
Deutschland insgesamt
129,2
49,2
Quelle: ZEW-Berechnungen, EVS 2003, Sonderauswertung, zit. nach Fünfter Altenbericht 2005:204 Werfen wir einen kurzen Blick zurück auf die Geschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung. Bis zur Rentenreform 1957 (in den alten Bundesländern) hatte diese primär Unterstützungscharakter und noch nicht das Ziel der Lebensstandardsicherung im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit. Die Rente war primär gedacht als ein Altersarmut vermeidendes Zubrot. Dies veränderte sich jedoch mit der Einführung der „dynamischen Rente“ durch die Reform von 1957 und einen dadurch verbunden Paradigmenwechsel von der Rente als „Zubrot“ zur Rente als „Lohnersatz“. Und obgleich bereits in den Jahren 1977 und 1983/84 die ersten Konsolidierungsschritte zur Entlastung der Rentenkassen eingeleitet wurden, die insbesondere auf Einsparungen auf der Ausgabenseite abzielten, ist gegenwärtig – gemessen an der Gesamtbevölkerung wie auch an anderen Bevölkerungsgruppen – eine unterdurchschnittliche Armutsquote älterer Menschen zu verzeichnen. Im Rahmen des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung (2005) wird darauf hingewiesen, dass der Anteil von Altenhaushalten, die in Einkommensarmut leben, in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt gesunken sei. Gleichwohl bestehen, so zeigt es der Fünfte Altenbericht der Bundesregierung (2005:201) auf, vor allem erhebliche Unterschiede zwischen Ein- und Zweipersonenhaushalten: „Hiernach sind die Armutsrisikoquoten der ‚alten’ Einpersonenhaushalte weit überdurchschnittlich…“. Je nach dem, ob Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe oder des Sozioökonomischen Panels zugrunde gelegt werden, zeigen sich folgende gruppenspezifischen Armutsrisiken von „Altenhaushalten“:
214
Tabelle 33: Gruppenspezifische Armutsrisiken (1) von „Altenhaushalten“ 2003 nach Haushaltstyp – in Prozent EVS
SOEP
Einpersonenhaushalte (65 Jahre und älter)
18,2
21,5
Zweipersonenhaushalte (2)
7,7
7,0
Alle Haushalte
16,5
15,4
(1) 60% des Medians des Nettoäquivalenzvolumens ; neue OECD-Skala (2) Bezugsperson 65 Jahre und älter Quelle: Zusammengestellt aus Becker&Hauser 2004, Tab. 3.2.2.4., zit. nach Fünfter Altenbericht 2005:201 Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels dargelegt, dürfte die Mehrheit der älteren und alten Menschen, die sich bereits gegenwärtig im Ruhestand befinden, und die, gemessen an einem auch in Zukunft ansteigenden Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko ab dem achtzigsten Lebensjahr in den kommenden ca. beiden Jahrzehnten den größten Teil der Hilfe- und Pflegebedürftigen stellen werden, noch weitgehend den Grundannahmen entsprechen, die dem deutschen Rentenversicherungssystem unterlegt sind. Dies zeigt sich u. a. daran, dass heutige Rentner im Durchschnitt noch zwischen 40 und 45 Versicherungsjahre aufweisen (vgl. Tabelle 29) und dass das Gros der westdeutschen älteren Frauen, bei mehrheitlich sehr niedrigen eigenen gesetzlichen Rentenansprüchen, über einen Ehepartner abgesichert ist. Ebenso ist zu bedenken, dass diejenigen, die sich bereits seit einigen Jahren im Altersruhestand befinden, mehrheitlich noch von den Regelungen der staatlich geförderten Frühverrentung profitieren und im Allgemeinen auch noch nicht von den Wirkungen jener Rentenreformgesetze betroffen sind, wie sie seit Anfang der 1990er Jahre mit stufenweiser Wirkung verabschiedet wurden (Stichwort: u. a. Anhebung der Altersgrenze, Abschlagsregelungen). Doch auch wenn ältere Menschen zurzeit ein statistisch unterdurchschnittliches Armutsrisiko aufweisen, gemessen an anderen Bevölkerungsgruppen wie Arbeitslosen oder Alleinerziehenden75, so darf dies doch nicht darüber hinwegtäu75
In der Diskussion um die anhaltenden Finanzierungsprobleme des Sozialstaats wird dies seit einigen Jahren geradezu gegen die Bevölkerungsgruppe der Älteren gewandt: „Arme Junge, reiche Alte“, so lautet in diesem Zusammenhang oft genug die plakative Botschaft. Deshalb müsse, um den „Generationenkonflikt“ zu entschärfen, der Sozialstaat im Allgemeinen und die Gesetzliche Rentenversicherung im Besonderen um- oder rückgebaut werden. Bei der Diskussion um die Ungleichverteilung zwischen den Generationen wird jedoch häufig die Ungleichverteilung innerhalb einer Generation (der Älteren) häufig genug ausgeblendet (vgl. Bäcker 2002; Butterwege 2003).
215
schen, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse dieser Bevölkerungsgruppe, ebenso wie in der Gesamtbevölkerung (vgl. Goebel et al. 2004), äußerst heterogen, d. h. ungleich verteilt sind (vgl. Schmähl 2004). Immerhin erhalten 50 Prozent der ost- wie westdeutschen Männer Rentenzahlbeträge aus der nach wie vor die Alterseinkommen dominierenden Gesetzlichen Rentenversicherung in einer Höhe, die noch unterhalb der Eckrente von z. Zt. 1060 Euro liegt, und lediglich 11,8 Prozent der Männer (West) und 6,8 Prozent der Männer (Ost) erhalten eine Rente von mehr als 1500 Euro, wobei der Anteil der Frauen in den höheren Zahlbetragsklassen fast zu vernachlässigen ist (vgl. Tabelle 28). Und wenn wir bedenken, dass 50 Prozent der westdeutschen Frauen eine Rente von lediglich bis 450 Euro monatlich beziehen (jede Dritte sogar eine Rente von nur bis 300 Euro) und die so genannte „Große Witwenrente“ seit dem Jahre 2001 nur noch 55 Prozent (früher 60 Prozent) der auf den Todestag des Versicherten berechneten Rente beträgt, so erklärt sich hierüber sehr deutlich, weshalb immerhin rund jeder fünfte Einpersonenhaushalt (ab 65 Jahre) –der aufgrund höherer Lebenserwartung und kriegsbedingter Einflüsse zum überwiegenden Teil weiblich ist (vgl. Tabelle 16) – ein weit überdurchschnittliches Armutsrisiko trägt. Es sei denn, es kann über die Bezüge aus der Gesetzlichen Rentenversicherung hinaus noch auf weitere Einkommensquellen oder auf Geldvermögen zurückgegriffen werden. Dies dürfte jedoch vor allem für den vergleichsweise geringen Anteil derjenigen zutreffen, die eine überdurchschnittlich hohe Rente beziehen und die bereits während ihrer Erwerbsphase – durch ein überdurchschnittliches Einkommen – entsprechende Vorsorge leisten konnten. Und dies sind jedoch allerdings wiederum diejenigen, die, entsprechend der sozialen Ungleichverteilung des Pflegerisikos, ein geringeres Hilfe- und Pflegebedürftigkeitsrisiko aufweisen. Insofern entgegen der Zielsetzung der Pflegeversicherung bereits seit Jahren eine überproportionale stationäre Inanspruchnahme zu beobachten ist (vgl. Kapitel 3.3), könnte diese Entwicklung im soeben dargestellten Zusammenhang nun nicht nur auf ein bereits gegenwärtig zurückgehendes informelles Hilfepotential hindeuten (vgl. Simon 2003), sondern auch darauf, dass die ökonomischen Ressourcen der Hilfe- und Pflegebedürftigen – zumal bei einer bislang nicht erfolgten Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen – (zunehmend) nicht ausreichend sind, um die Versorgungslücke der Pflegeversicherung, nicht nur durch familiäre Pflegeunterstützung, wie im PflegeVG vorgesehen, sondern auch im ökonomisch Sinne durch finanzielle Eigenleistungen zur Aufrechterhaltung des häuslichen Pflegearrangements, zu decken. Vor diesem Hintergrund wollen wir nun einen Blick auf die Perspektiven der Einkommens- und Vermögensentwicklung heutiger und künftiger Rentner- bzw. Altenhaushalte richten: Vorangehend wurden bereits die Rentenreformgesetze der 1990-Jahre gestreift (vgl. Fußnote 63). Mit diesen sollte vor allem das Alter für den frühest216
möglichen Renteneintritt heraufgesetzt und durch entsprechende Abschlagsregelungen das bis dahin mögliche – häufig zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einvernehmliche – Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vor dem regulären Renteneintrittsalter erschwert werden. Wie der Altersübergangsreport (vgl. Büttner 2005:1) aufzeigen konnte, wird „seit 2003 auch die Regelaltersrente (65 Jahre) wieder stärker in Anspruch genommen. Das unterstreicht den Trend: Renteneintritte erfolgen später, um Rentenminderungen durch Abschläge zu vermeiden bzw. zu minimieren“. Was hier einerseits die Rentenkassen entlasten soll, wird andererseits, wie dargelegt, zumal bei einer ansteigenden Frauenerwerbstätigkeit, zunehmend jedoch auch das Konfliktfeld zwischen Erwerbstätigkeit und informeller Pflegetätigkeit verschärfen. Obgleich die Rentenreformgesetze der 1990er Jahre bereits für eine Reihe von Leistungseinschränkungen stehen, so verfolgten diese doch zumindest noch ein Verteilungs-(Leistungs-)ziel. So war beispielsweise durch das „Renten-Rentenreformgesetz 1992“ als Ziel für die so genannte Eckrente ein Niveau von 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts festgelegt worden. Seit dem Jahre 2001 muss jedoch von einem „Paradigmenwechsel“ in der deutschen Alterssicherungspolitik gesprochen werden (vgl. Schmähl 2006:2). Insbesondere durch die Beschlüsse des Rentenreformgesetzes des Jahres 2001 und die Maßnahmen des „Nachhaltigkeitsgesetzes“ aus dem Jahre 2004 wird das Leistungsziel der Gesetzlichen Rentenversicherung nun durch die Dominanz eines Beitragsziels abgelöst. Das heißt, bis 2020 soll der Beitragssatz nicht über 20 und bis 2030 nicht über 22 Prozent steigen. Vor allem durch den 2004 eingeführten Nachhaltigkeitsfaktor, der die Entwicklung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentnern zu Beitragszahlern zueinander berücksichtigt – steigt die Zahl der Rentner pro 100 Beitragszahler, wird die Rentenanpassung gemindert; sinkt die Zahl der Rentner im Verhältnis zu den Beitragszahlern, werden die Renten stärker erhöht – sinkt das Rentenniveau schneller als beim bisherigen Rechtsstand. Das Rentenniveau wird demnach von heute 53 Prozent des Bruttorentenniveaus auf 46 Prozent im Jahr 2020 und auf 43 Prozent im Jahr 2030 absinken.76 In Nettozahlen bedeuten die Leistungskürzungen des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes eine Absenkung des Nettorentenniveaus von heute rund 70 auf 52,2 Prozent im Jahre 2030. Diese Änderung des Rentenniveaus entspricht einer Verringerung der Rentenzahlbeträge von 16 bis 18 Prozent. Darüber hinaus wird seit dem 1. Januar 2004 der volle Krankenversicherungsbeitrag auf Betriebsrenten erhoben – statt der Hälfte des Beitrages wie bislang. Ebenso wird seit April 2004 der volle Pflegebeitrag auf Renten 76
Berücksichtig man nicht nur den „Nachhaltigkeitsfaktor“, sondern die Gesamtheit der Leistungs-Kürzungen, so wird nach Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger das Bruttorentenniveau bis 2030 sogar auf 39 Prozent absinken (vgl. Sozialverband Deutschland, Sozial-Info Nr. 5, März 2004).
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fällig, was einer Mehrbelastung bzw. einer Rentenkürzung von 0,85 Prozent entspricht. Der Schulbesuch oder das Studium wird durch die Rentenreform 2004 ab 2009 nicht mehr als rentenerhöhend bewertet – bislang wurden noch drei Jahre rentenerhöhende Anrechnungszeiten gewährt. Für Rentner(innen), die länger arbeitslos waren, verringert sich die Rente ab 2005 zusätzlich: Für längere Phasen von Arbeitslosigkeit entstehen lediglich Ansprüche, die vergleichbar sind mit denen von Arbeitnehmer(innen) mit einem Jahreseinkommen von ca. 4800 Euro – bislang erwarben Arbeitslosenhilfe-Empfänger Rentenansprüche die einem Jahresgehalt von 9800 Euro entsprachen. Doch vor allem durch die Maßnahmen eines „stufenweise steigenden Altersvorsorgeanteils“ sowie des „Nachhaltigkeitsfaktors“ wurden bereits 2001 zwei Faktoren in die Rentenformel eingebaut, die bewirken sollen, dass es zu einem positiven Anstieg der Renten erst dann kommt, wenn das relevante durchschnittliche Bruttoentgelt um etwa 1,3 Prozent pro Jahr steigt. Die Folgen dieses Beschlusses sind bereits heute durch die so genannten „Nullrunden“ sichtbar und es besteht durchaus die Gefahr, dass hierüber „für lange Zeit“ der Abschied von der 1957 eingeführten dynamischen Rente eingeläutet wird – mit der Folge, dass die Renten im Realwert und in Relation zum allgemeinen Einkommensniveau sinken (vgl. Schmähl 2006; Fuchs 2006). Ohne nun auf sämtliche Maßnahmen und Beschlüsse der Reformmaßnahen der vergangenen Jahre einzugehen, so zeigt der Trend doch eindeutig, dass bereits gegenwärtig und künftig noch verstärkt vor allem die Privathaushalte stärker belastet und die öffentlichen Haushalte sowie die Arbeitgeber entlastet werden, wobei die Leistungseinschränkungen insbesondere diejenigen treffen, die ihr Alterseinkommen fast ausschließlich aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen, was, wie dargestellt, annähernd für die Gesamtheit der ostdeutschen Rentner zutrifft. Werfen wir nun einen Blick in die Zukunft und unterstellen, die 2001 bis 2004 beschlossenen Maßnahmen, die stufenweise ihre Wirkung zur Absenkung des Rentenniveaus entfallen sollen, wären bereits heute voll wirksam, so würde z.B. eine Rente der Gesetzlichen Rentenversicherung von 1000 Euro, die ungefähr der aktuellen Netto-Eckrente entspricht, bei optimistischer Rechnung nur noch 750 Euro betragen (vgl. Fünfter Altenbericht 2005:214). Nach Berechnungen des Rentenexperten Wilhelm Schmähl wird vor dem Hintergrund der beschlossenen Absenkung des Nettorentenniveaus von 70 auf 52 Prozent ein Durchschnittsverdiener künftig 35 Beitragsjahre aufweisen müssen, um gerade mal eine Rente in Höhe einer armutsvermeidenden bedarfsorientierten Grundsicherung zu erhalten und jemand, der über seinen gesamten Lebensverlauf unterdurchschnittlich verdient (86 Prozent des Durchschnitts), bräuchte bereits 40 Versicherungsjahre – gemessen jeweils an der Annahme, dass etwa weiterhin eine Rente in Höhe von 40 Prozent des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts zur Armutsvermeidung angemessen ist (vgl. Schmähl 2004; 218
2006; auch Fünfter Altenbericht 2005). Und an dieser Stelle muss man daran erinnern, dass die sich ändernden Erwerbsbiographien, wie wir sie im Zusammenhang mit der Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ sei ca. Mitte der 1980 er Jahre beschrieben haben, zusätzlich zu den generellen Leistungsreduktionen vielfach zu noch erheblich niedrigeren Rentenansprüchen führen werden. Das heißt, künftige Alterseinkünfte werden weitaus mehr als die jetzigen Renten von den verschlechterten Arbeitsmarktbedingungen und veränderten Erwerbsbiographien/Erwerbsformen (u. a. erhebliche Ausweitung des Niedriglohn- und Teilzeitbereichs, längere Phasen von Arbeitslosigkeit oder nicht sozialversicherter Beschäftigungsverhältnisse usw.) beeinflusst sein, was nicht nur die Ansprüche auf die GRV-Renten berührt, sondern ebenso die Möglichkeit zur Privatvorsorge. Gleichwohl zeigen sich die verschlechterten Arbeitsmarktbedingungen, insbesondere für ältere Arbeitnehmer(innen) und in Verbindung mit den bereits beschlossenen Rentenreformgesetzen der letzten Jahre, bereits gegenwärtig: 2004 gingen in der deutschen Rentenversicherung 24 Prozent der Neurentner nach Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit „in Rente“. In Ostdeutschland waren es fast 55 Prozent. Die Abschläge von der vollen Rente betrugen in diesen Fällen beim Rentenzugang 2004 im gesamtdeutschen Durchschnitt gut 14 Prozent (ca. 175 Euro/Monat). Und zu bedenken ist auch, dass nach den neuen Beschlüssen der Großen Koalition die Rentenansprüche bei Arbeitslosengeld II nur noch 1/12 der Rentenansprüche eines Durchschnittsverdieners betragen. Das heißt, nach einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld II werden Rentenansprüche erworben, die ein Durchschnittsverdiener bereits in einem Monat erreicht. Auch wird Arbeitslosengeld II erst unter der Voraussetzung gewährt, dass eigene Ersparnisse, falls vorhanden, bereits weitgehend aufgebraucht sind. Durch diese Praxis dürfte sich im Allgemeinen, aber vor allem in den neuen Bundesländern, das Geldvermögen von künftigen Altenhaushalten, das im Vergleich zu den westdeutschen Bundesländern bereits gegenwärtig schon erheblich geringere Größen aufweist (vgl. Tabelle 32), noch weiter reduzieren. Da sich die durchschnittliche Rentenhöhe für künftige Rentnergenerationen aufgrund der bereits beschlossenen Reformmaßnahmen sowie aufgrund der Erosion traditioneller Normalerwerbsbiographien immer mehr lediglich der Höhe eines Grundsicherungsniveaus annähern wird, soll die von Arbeitnehmer(innen) und Arbeitgebern hälftig per Umlage finanzierte Rente nun durch eine allein von den Arbeitnehmer(innen) finanzierte, dafür staatlich geförderte, kapitalgedeckte Zusatzrente ergänzt werden – so sieht es der „Paradigmenwechsel“ im deutschen Alterssicherungssystem durch die Reform aus dem Jahre 2001 vor (vgl. Schmähl 2006). Das heißt, alle gesetzlichen Rentenversicherten sollen – über ihren jetzigen Rentenbeitrag hinaus – zusätzlich einen Teil ihrer Altersvorsorge aus eigenen Mitteln ansparen, entweder privat oder betrieblich. Ob, von wem und in219
wieweit die Leistungsminderungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung jedoch tatsächlich durch private Vorsorge kompensiert werden können, ist bislang noch eine offenen Frage. Sicher ist jedoch bereits jetzt, dass für diejenigen, die bereits Rentner sind oder es in der nächsten Zeit sein werden, eine solche Kompensation durch eigene Vorsorgeaktivitäten aufgrund eines mangelnden zeitlichen Vorlaufs nicht mehr möglich ist oder sein wird. Und in Perspektive auf die Generation, die heute im jüngeren oder mittleren Alter ist, ist zu beachten, dass deren Spar- und damit Vorsorgefähigkeit, nicht zuletzt wiederum aufgrund der beschriebenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, durchaus Grenzen gesetzt sind. Zum Erhebungszeitpunkt im März 2004 hatten nach Ergebnissen des Mikrozensus 25,9 Prozent aller Haushalte in Deutschland ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 900 und 1500 Euro und 15,6 Prozent der Haushalte ein Einkommen, das weniger als 900 Euro betrug (vgl. Datenreport 2006:117). Und nach Angaben des 2. Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung (2005) leben 13,5 Prozent der Bevölkerung in Armut, rund 10,68 Prozent aller Personen in Privathaushalten sind nach Angaben des Schuldenatlas 2006 – mit steigender Tendenz – überschuldet (vgl. Creditreform 2006). Letztere können zwar formal ein möglicherweise über der Armutsschwelle liegendes Einkommen aufweisen, aber faktisch darüber wegen Schuldendienst oder Verpfändung nicht verfügen, wobei die Pfändungsfreigrenze bei Überschuldung ungefähr der einkommens-verwendungsbedingten Armutsschwelle entspricht. Beide Armutsquoten lassen sich selbstverständlich nicht ohne weiteres addieren, da zwischen beiden Armutsquoten Überschneidungen anzunehmen sind. Gleichwohl bedeutet dies, dass die Armutsquote in Deutschland nicht, wie im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ausgewiesen, bei 13,5 Prozent liegt, sondern vielmehr eine „echte Armutsquote“ zwischen 13,5 und 24,1 Prozent (13,5 plus 10,68%) anzunehmen ist (vgl. Schäfer 2005). Zieht man also in Betracht, dass etwas über 40 Prozent der Haushalte über ein Nettoeinkommen von bis 1500 Euro verfügen, dass die echte Armutsquote zwischen 13,5 und 24,18 Prozent liegen dürfte sowie dass Einkommen und Vermögen zunehmend ungleich verteilt sind, so lässt sich zumindest sehr gut nachvollziehen, weshalb „39% befürchten, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein“, so eines der Untersuchungsergebnisse der von Infratest-Sozialforschung durchgeführten Erhebung „Gesellschaft im Reformprozess“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Infratest Sozialforschung 2006). Dieses Untersuchungsergebnis bringt nicht nur zum Ausdruck, wie gering das Vertrauen in die Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung mittlerweile ist, sondern es sagt implizit auch etwas darüber aus, wie die eigene Vorsorgefähigkeit hinsichtlich einer über den Kapitalmarkt
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abgedeckten – zusätzlichen – Altersvorsorge von einem großen Teil der Bevölkerung eingeschätzt wird.77 Entsprechend ermittelte auch eine Studie zum Vorsorgeverhalten 30- bis 50-Jähriger, dass eine Drittel der Befragten eine private Zusatzvorsorge aus Geldmangel unterlässt, da insgesamt die finanziellen Möglichkeiten zur privaten Altersvorsorge für Durchschnittshaushalte begrenzt seien (vgl. Bertelsmann Stiftung 2003). Wenn jedoch die Bevölkerungsteile der unteren und selbst der mittleren Einkommensbezieher die Förderung der privaten Vorsorge nicht (werden) nutzen (können), so wird dies in Zukunft zusätzlich zu einer weiteren Spreizung der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der Gruppe der Älteren führen (vgl. Motel-Klingebiel et al. 2004; Schmähl 2004, 2006; Fünfter Altenbericht 2005). Ebenso ist zu beachten, dass bei einer privaten Altersvorsorge die Einkünfte in der Regel statisch und nicht dynamisch sind, also nicht analog der Lohnentwicklung steigen. Das heißt, eine nominal konstante Rente würde bei einer Inflationsrate von lediglich zwei Prozent innerhalb von 15 Jahren bereits auf Dreiviertel sinken. Im Zusammenhang mit den Neuregelungen zur Rentenbesteuerung bedeutet dies, dass selbst bei einer vollständigen und optimalen Ausnutzung der privaten Altersvorsorge und selbst dann, wenn man einem Versicherten einen ununterbrochenen Erwerbsverlauf von 45 Versicherungsjahren unterstellt, die Realeinkommen für einen ledigen Eckrentner des Jahrgang 1965 im Rentenalter noch unterhalb der Einkommen liegen, die ohne die Reformmaßnahmen von 2001 erzielt worden wären (vgl. Viebrock 2004). Vor dem Hintergrund der bereits beschlossenen Leistungsminderungen der Gesetzlichen Rentenversicherung und einer nur begrenzten Vorsorgefähigkeit eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung, diese Leistungsminderungen durch kapitalgedeckte private Absicherungen zu kompensieren, ist nun auch danach zu fragen, ob und in welchem Maße Altenhaushalte reduzierte Alterseinkommen künftig möglicherweise durch Erbschaften werden ausgleichen können. Einerseits deuten hier alle verfügbaren Daten auf eine Zunahme von Wahrscheinlichkeiten und Umfang von Erbschaften hin (vgl. Braun et al. 2002; Szydlik 1999), andererseits betreffen dabei Vermögen und Zuflüsse von Erbschaften vor allem Personen mit höheren Einkommen (vgl. Braun et al 2002). Mit anderen Worten: Erbschaften perpetuieren vor allem bereits bestehende Ungleichheiten in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Kohorten. MotelKlingebiel et al. (2004:16) kommen in ihrer Studie zu den „Alterseinkommen der Zukunft“ insgesamt zu dem Ergebnis, dass „eine generelle Kompensation für 77
Zwar machen inzwischen über 5,6 Millionen Menschen von der so genannten Riester-Rente Gebrauch, doch die wenigsten Abschlüsse planen die Haushalte, die im Alter am wenigsten zur Verfügung haben: Von den Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von bis zu 1500 Euro planen fast drei Viertel keinen Abschluss einer privaten Zusatzversorgung (vgl. IGMetall- direkt 20/2006).
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fehlende individuelle Alterssicherung durch Erbschaften (…) nicht zu erwarten (sei), da die Erbschaften auch künftig nur einen Umfang haben, der für längerfristige substantielle Veränderungen der Einkommensposition nicht ausreichen dürfte“. Und gerade bei kleineren und mittleren Vermögen, seien diese durch Erbschaft erworben oder nicht, dürfte zukünftig generell die „Gefahr“ bestehen, dass diese, vor allem infolge der Minderungen der Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung und/oder der verschlechterten bzw. veränderten Situation auf dem Arbeitsmarkt und der Erwerbsbiographien, bereits vor Eintritt einer Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im höheren oder hochbetagten Lebensalter aufgezehrt sein könnten. Fassen wir kurz zusammen: Nach der Statistik weisen Altenhaushalte gegenwärtig, gemessen an anderen Bevölkerungsgruppen, einen unterdurchschnittlichen Anteil an Haushalten auf, die in Einkommensarmut leben. Und es ist zu vermuten, dass dies vor allem auf folgende Faktoren zurückzuführen ist: (1) auf ein dem Ruhestand vorgelagertes Erwerbsleben, das durch (männliche dominierte) „Normalarbeitsverhältnisse“ gekennzeichnet war, (2) auf die lange Jahre staatlich geförderte Möglichkeit zur Frühverrentung ohne nennenswerte Abschläge in Kauf nehmen zu müssen, (3) auf die im Ehekontext mögliche Kompensation sehr geringer Rentenansprüche. Doch obwohl im Vergleich zur darauffolgenden Generation die heute älteren und alten Menschen noch in sehr viel höherem Maß den Grundannahmen entsprechen dürften, die dem gesetzlichen Rentensystem unterlegt sind, zeigt eine genauere Betrachtung jedoch, dass die Hälfte der ost- und westdeutschen Männer gegenwärtig Zahlbeträge aus der Gesetzlichen Rentenversicherung bezieht, die weniger als 1000 Euro monatlich betragen. Dass Altenhaushalte dennoch unterdurchschnittlich von Armut betroffen sind, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass westdeutsche Altenhaushalte über die gesetzliche Rente des (Ehe-)Mannes hinaus noch auf weitere Einkommensquellen (z. B. betriebliche Altersvorsorge, Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst etc.) zurückgreifen können und in Ostdeutschland durch die hohe Frauenerwerbstätigkeit zu Zeiten des DDR-Systems in der Regel zwei („höhere“) Renten zusammenkommen. Dies bedeutet jedoch, wer im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und häuslicher Pflege auf professionelle Pflegeleistungen (Sachleistungen) angewiesen ist, und über die gesetzliche Rente hinaus nicht noch auf weitere nennenswerte Einkommensquellen zurückgreifen kann oder alleinstehend ist, dürfte bereits heute kaum über die ökonomischen Mittel verfügen, um die im PflegeVG eingelassene Versorgungslücke zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot ohne erhebliche Einschränkungen in den sonstigen Lebensbereichen schließen zu können, zumal es zu den Kennzeichen von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit gehört, dass hiervon untere Einkommensgruppen überdurchschnittlich betroffen sind 222
sowie aufgrund einer höheren Lebenserwartung, die wiederum ein erhöhtes Risiko der Verwitwung birgt, vor allem (alleinstehende) Frauen. Und es liegt auf der Hand, dass eine Alterssicherungspolitik, die zunehmend darum bemüht ist, insbesondere Arbeitgeber (GRV-Beitrag) sowie öffentliche Haushalte zu entlasten und private Haushalte stärker zu belasten (vgl. Schmähl 2006), zunehmend dazu beiträgt, die in das PflegeVG eingelassenen Versorgungslücke zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot zu vergrößern. Dies wird mittel- bis langfristig vor allem jene (künftigen) Hilfe- und Pflegebedürftigen treffen, die die bereits beschlossene Absenkung des Rentenniveaus der Gesetzlichen Rentenversicherung, zumal in Verbindung mit einer zunehmenden Erosion der dem Rentensystem unterlegten Normal(-erwerbs)-biographien – entweder aus Gründen mangelnden zeitlichen Vorlaufs oder aus Gründen mangelnder finanzieller Mittel – nicht durch private Vorsorgemaßnahmen werden kompensieren können. Wie bereits angesprochen, gehen die Altenberichte der Bundesregierung als auch die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ davon aus, dass die große Mehrzahl älterer Menschen Kinder hat und somit auch die strukturellen Voraussetzungen für Kommunikation, Austausch und Unterstützung. An dieser sozialen Ressource würde sich auch in den nächsten zwei Jahrzehnten nichts ändern, weshalb sich „nicht zwangsläufig ein höherer Bedarf an staatlichen oder privaten Dienstleistungen“ ergebe. Nun ist die Übernahme eines häuslichen Pflegearrangements in der Regel jedoch so voraussetzungsvoll, dass diese aus der Perspektive der informellen Pflegepersonen nicht „nebenher“ erbracht werden kann. Wir erinnern an die hohen psychischen und physischen Belastungen, denen informelle Pflegepersonen ausgesetzt sind als auch, und vor allem, an die hohen zeitlichen Ressourcen, die die Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit notwendig machen. Vor diesem Hintergrund sind häusliche Pflegearrangements selbst dann, wenn informelle Pflegepersonen zur Verfügung stehen, häufig zusätzlich auf die Unterstützung durch professionelle Pflegedienste angewiesen. Dies zeigt sich vor allem an der steigenden Inanspruchnahme von Sach- und Kombinationsleistungen seit Einführung der Pflegeversicherung. Da die Pflegeversicherung jedoch nur geringe Teilbedarfe deckt, reichen diese in der Regel nicht aus, um im Pflegefall Unterstützung auf effektivem und effizientem Niveau zu leisten (vgl. Runde et al 2003:22). Die Versorgungslücke der Pflegeversicherung ist deshalb vor allem durch finanzielle Eigenbeteiligungen zu füllen, zumal, wenn man unterstellt, dass aufgrund finanzwirtschaftlicher Steuerungsmechanismen zunehmend Hilfe- und Pflegebedürftige in niedrigere Pflegestufen „hinein begutachtet“ werden, obwohl bei ihnen unter objektiveren Kriterien eine höherer Bedarf an Versorgung vorliegt (vgl. Kapitel 3.3). Berücksichtigt man einerseits die soziale Ungleichverteilung des Pflegerisikos sowie die Ungleichverteilung in der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der Genera223
tion der Älteren und unterstellt andererseits, dass die ökonomischen Ressourcen älterer Menschen, auch wenn deren Normal(-erwerbs)-biographie strukturell noch weitgehend den beschriebenen Grundannehmen des deutschen Rentenversicherungssystems entspricht, eher abnehmen – nicht zuletzt aufgrund der politischen Weichenstellungen der vergangenen Jahre (Stichwort: Nachhaltigkeitsfaktor, voller Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeitrag, Reform der Rentenbesteuerung etc.) – dann ist davon auszugehen, dass die Versorgungslücke der Pflegeversicherung in den nächsten Jahren tendenziell eher zunehmen wird. Soll jedoch bei sinkenden ökonomischen Ressourcen der Hilfe- und Pflegebedürftigen ein häusliches Pflegearrangement dennoch aufrechterhalten und ein Wechsel in eine stationäre Einrichtung vermieden werden, so bedeutet dies, dass sich entweder deren Kinder stärker an der Finanzierung zusätzlicher pflegerischer Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen beteiligen müssen oder aber, falls ihnen dies nicht möglich ist, dass die physische, psychische und zeitliche Belastung im Rahmen der häuslichen Pflegetätigkeit entsprechend ansteigt. Nun mag es einerseits zwar richtig sein, dass diejenigen, die in den nächsten beiden Jahrzehnten in das Hilfe- und Pflegebedürftige Alter kommen, statistisch gesehen noch über ausreichend informelle Unterstützungsmöglichkeiten verfügen werden, denn anhand des Pflegewahrscheinlichkeitsrisikos kann diese Gruppe als die Eltern der so genannten Babyboomer-Generation identifiziert werden, jedoch ist es u. E. eine weitgehend offene Frage, ob das künftige informelle Hilfepotential diese Unterstützung in alltagspraktischer Hinsicht auch wird erbringen können. Denn es handelt sich hierbei um jene, die anders als ihre Eltern gegenwärtig noch erwerbstätig sind, und mithin für eine viel weitergehende Flexibilisierung und Ökonomisierung der Lebensorganisation in alltagspraktischer und biographischer Perspektive (vgl. Goldman er al. 2003) stehen, so dass selbst in der modernen Variante der Verteilung der Fürsorgearbeit auf beide Partner, „in spätmodernen Gesellschaften“ durchaus die „Gefahr“ eines „erheblichen Defizits an Fürsorge/Care“ gegeben ist (vgl. 7. Familienbericht, auch Kapitel 4.3 dieser Arbeit). Abgesehen von dem Aspekt, ob die Lebensverhältnisse der informellen Pflegepersonen aufgrund zunehmend flexibilisierter und atypischer Arbeitszeitund Erwerbsverhältnisse noch genügend planbar sind, um informelle Pflegetätigkeiten übernehmen zu können, ist hierbei vor allem aber auch entscheidend, ob deren Einkommen ausreichend sind, um bei Bedarf das häusliche Pflegearrangement durch finanzielle Eigenbeteiligungen, also durch Zuzahlungen der Kinder selbst und nicht der Hilfe- und Pflegebedürftigen, zu unterstützen und zu stabilisieren bzw. ob die eigene Erwerbstätigkeit ggf. eingeschränkt oder gar ganz aufgegeben werden kann. Wenn wir uns nun in Erinnerung rufen, dass rund 40 Prozent der Haushalte über ein Nettoeinkommen von lediglich bis 1500 Euro verfügen (vgl. Datenreport 2006:117) und die „echte“ Armutsquote in Deutsch224
land zwischen 13,5 und 24,18 Prozent liegt (vgl. 2. Armuts- und Reichtumsbericht 2005, Schäfer 2005), worüber sich u. a. wohl auch erklären lässt, weshalb immerhin 39 Prozent der Befragten fürchten, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein (vgl. Infratest Sozialforschung 2006), dann kann auf der Grundlage dieser Daten wohl angenommen werden, dass die finanziellen Mittel eines erheblichen Teils des (künftigen) informellen (Kinder-) Pflegepotentials in dieser Hinsicht nicht ausreichend sein werden, um – bei gleichzeitig tendenziell abnehmenden ökonomischen Ressourcen der Hilfe- und Pflegebedürftigen selbst – nennenswerte professionelle pflege- und betreuerische Unterstützungsleistungen über die (Teil-) Leistungen der Pflegeversicherung hinzukaufen zu können. Doch ist dies nicht der Fall, steigen die Belastungen der informellen Pflegepersonen entsprechend an, so dass sich dann umso mehr die Frage stellt, ob die Erwerbstätigkeit der (Haupt-) Pflegeperson(en) eingeschränkt oder aufgegeben werden kann. Und dies wiederum steht aber in einem engen Zusammenhang damit, ob zusätzlich noch auf ein ausreichendes übriges Familieneinkommen zurückgegriffen werden kann, was in der Regel jedoch doch nur dann der Fall ist, wenn die informellen Pflegepersonen verheiratet sind (vgl. Kapitel 3.5). Vor diesem Hintergrund ist es also, wie bereits beschrieben, nicht allein entscheidend, dass die künftigen Hilfe- und Pflegebedürftigen überhaupt auf eigene Kinder zur pflegerischen Betreuung und Unterstützung zurückgreifen können, sondern entscheidend sind vor allem auch die Beziehungs- und Partnerschaftskonstellationen des informellen Kinderpflegepotentials. 4.5 Die Pluralisierung der Lebens- und Beziehungsformen und ihr Einfluss auf die Sicherstellung der informellen Pflege Der Intention des Gesetzgebers nach sollen „Art und Umfang der Leistungen“ (vgl. § 8 SGB XI) der Pflegeversicherung die „familiäre, nachbarschaftliche und ehrenamtliche Pflege und Betreuung“ bei häuslicher und teilstationärer Pflege im Sinne einer „neuen Kultur des Helfens“ lediglich „ergänzen“ (vgl. § 4[2] SGB XI). Solidarität in der sozialen Pflegeversicherung ist also nicht alleine als durch die mit dem Solidarvertrag der Versichertengemeinschaft hergestellte Form der Solidarität zu sehen. Und entsprechend wird, wie in keinem anderen Gesetzeswerk aus dem Sozialgesetzbuch, auf die informelle Solidarität verwiesen, die durch die Familie oder andere informelle Netzwerke zu erbringen ist (vgl. Möhle 2001). Wir haben diesen sozialpolitischen Aktivierungsansatz („Sozialpolitik aus der Nähe“, „Familie als Schule der Solidarität“, vgl. Blüm 1995) bereits als die eigentliche „Innovation“ der Pflegeversicherung bezeichnet. Da die Leistungen der Pflegeversicherung jedoch erst dann einsetzen, wenn bereits mindestens eine 225
„erhebliche Pflegebedürftigkeit“ vorliegt (Pflegestufe I), weisen alle einschlägig damit befassten Studien darauf hin, dass Personen des weiteren sozialen Nahbereichs, wie Nachbarn oder ehrenamtliche Helfer, ein häusliches Pflegearrangement in zunehmendem Maße zwar unterstützen, dieses im eigentlichen Sinne aber nicht tragen (können) (vgl. Gilberg 2000). Und dies hat seinen Grund: Die Übernahme einer ausreichend unterstützenden informellen häuslichen Pflegetätigkeit ist ausgesprochen voraussetzungsvoll (vgl. Kap. 3.4.2 dieser Arbeit) und ist mit Tätigkeiten wie bspw. Blumen gießen oder Einkaufen gehen, die gewissermaßen „nebenher“ und aus Gefälligkeit erbracht werden können, nicht zu vergleichen. Das heißt, die Pflegeversicherung setzt eines unabdingbar voraus: Eine Familie. Denn Menschen, die im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit nicht auf Angehörige des sozialen und räumlichen Nahbereichs zurückgreifen können (Ehepartner/Kinder) sind für den Leistungskatalog der Pflegeversicherung im ambulanten Bereich nichts anderes als ein „Fremdkörper“ (vgl. Simon 2003:49). Dass die Leistungen der Pflegeversicherung die Leistungen der Familie lediglich ergänzen, ist sicherlich vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass (Familien-) Haushalte traditionell als „die Basis der individuellen Wohlfahrtsproduktion“ betrachtet werden (vgl. Schäfers 2002:127), deren Aufgabe in der „Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität“ zu sehen ist (vgl. Glatzer 1998:180). Vor allem in den 1950er und 60er Jahren wurde in den westlichen Industriegesellschaften „das Hohelied der Familie gesungen“. In der Bundesrepublik wurde sie im Grundgesetz verankert und unter den besonderen Schutz des Staates gestellt; im Alltag war sie „das anerkannte und allgemein angestrebte Lebensmodell; der vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Theorie galt sie als notwendig für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft“ (vgl. BeckGernsheim 2000:9) In diesem Zusammenhang knüpft die Konzeption der Pflegeversicherung unmittelbar an das Subsidiaritätsprinzip, aber auch an andere, neuere wohlfahrtstheoretische Konzeptionen (vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit) an, wonach Einzelne bzw. die jeweils kleinere soziale Einheit (soziale Gruppe) helfend und fürsorgend tätig werden sollen). Das heißt, erst die Familie, dann die Verwandtschaften, ggf. die Nachbarschaft, dann die kommunalen und kirchlichkaritativen Einrichtungen, schließlich die Kommune und dann die staatlichen Organisationen. Soweit so gut ließe sich sagen, wäre es nicht so, dass das, was die Pflegeversicherung abzusichern versucht, nämlich das Pflegerisiko, nicht irgendeine Familie, oder besser gesagt irgendein Familienmodell voraussetzte, sondern im Eigentlichen ein solches, und an diesem Punkt zeigt sich eben das Kalkulationsrisiko der Pflegeversicherung, das strukturell und funktional passförmig zu den Anforderungen informeller Pflegetätigkeiten sein muss (vgl. Kapitel 3.5. dieser Arbeit). Passförmig also insbesondere hinsichtlich bestimmter personeller, ökonomischer, zeitlicher, aber auch psychischer und physischer 226
Ressourcen der informellen Pflegepersonen sowie einer grundsätzlichen Bereitschaft, sei diese nun freiwillig oder auch nicht, informelle Pflegeleistungen solidarisch erbringen zu sollen bzw. zu wollen. Den intergenerationalen Austauschund Aushandlungsprozess zwischen den individuellen Lebensumständen aus der Perspektive der Helfer des sozialen Nahbereichs einerseits und dem alltagspraktischen Anforderungsprofil der informellen Pflege sowie dem moralischen Wert der Elternpflege andererseits bringt Dallinger, und darauf wurde bereits verwiesen, auf den Begriff einer „Ökonomie der Moral“ (vgl. Dallinger 1997:339). Eine solche pragmatische „Verschränkung von Kalkül und Moral“ (vgl. ebenda) scheint, und davon geht der Gesetzgeber, wenn auch nur implizit selbst aus (vgl. RegE-BR-Drs. 505/93:61), vor allem dann passförmig zu sein, trifft diese auf die strukturellen und funktionalen Merkmale der traditionellen Normalfamilie bzw. des bürgerlichen Familienideals, wie es insbesondere für die 1950er und 1960er Jahre von Parsons beschrieben wurde; nämlich verstanden als das Zusammenleben von Vater, Mutter und Kind/ern in einem Haushalt und in einer spezifischen funktionalen Binnendifferenzierung, z. B. als eindeutige interne und externe Aufgabentrennung zwischen den Ehepartnern, d. h. der Ehemann und Vater hatte für die ökonomische Sicherheit zu sorgen, die Ehefrau und Mutter war für den Haushalt und vor allem für die Erziehung der Kinder und die Pflege der älteren Familienmitglieder verantwortlich (vgl. Parsons 1964). Seit etwa 20 Jahren wird in der deutschen Familienforschung jedoch eine „Pluralisierung der Lebensformen“ konstatiert. Obgleich die Verwendung dieser Begrifflichkeit nicht ganz eindeutig ist, verbinden die meisten Autoren damit jedoch die Vorstellung, dass es „einen Trend weg von der Parsons’schen Normalfamilie hin zu einer höheren Vielfalt der Lebensformen“ gegeben hat: Die Heiratsrate ist gesunken, die Scheidungsrate gestiegen. Gesunken sind ebenfalls die Wiederverheiratungs- und die Fertilitätsrate. Dafür haben ehemals seltene Lebensformen wie nichteheliche Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende an Bedeutung gewonnen. (vgl. Brüderl 2004:3). Dass es sich hierbei, ebenso wie bei der Erosion des „Normalerwerbsverhältnisses“, nicht nur um eine soziales Konstrukt handelt, sondern um eine nachweisbare Realität, zeigt sich bspw. sehr eindrücklich daran, dass familienbezogene Untersuchungen im Rahmen des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes seit dem Berichtsjahr 2005 nicht mehr das „traditionelle Familienkonzept“ als Standard zugrunde legen, sondern das so genannte „Lebensformenkonzept“, das inhaltlich – neben dem traditionellen Familienkonzept – insbesondere „alternative Lebensformen“, wie „nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften“, „allein erziehende Mütter und Väter sowie Alleinstehende und Alleinlebende“ erfasst. Nicht erfasst werden hingegen Eltern-Kind-Beziehungen, die über Haushaltsgrenzen hinweg bestehen oder Partnerschaften mit getrennter Haushaltsführung („Living-apart227
together“) (vgl. Statistisches Bundesamt 2006c:5). Am neuen familienstatistischen Auswertungskonzept des Statistischen Bundesamtes wird nicht nur deutlich, dass sich die Lebenswirklichkeit der Menschen hinsichtlich ihrer Partnerschafts- und Beziehungskonstellationen entlang des traditionellen Familienkonzeptes offensichtlich nicht mehr ausreichend erfassen lässt, sondern es zeigt auch, dass das, was unter Familie oder einer alternativen Lebensform verstanden wird, von vornherein nicht (mehr) selbstverständlich ist und einer Definition bedarf, die durchaus verhandelbar ist (vgl. Heß-Meining/ Tölke 2005:226ff). Warum sollte es sich beispielsweise bei Eltern-Kind-Beziehungen, die über Haushaltsgrenzen hinweg bestehen, und die in den familienbezogenen Mikrozensusdaten nicht erfasst werden, weder um eine Familie noch um eine alternative Lebensform handeln? Wer Einblicke in neue Lebensformen gewinnen will, gerät also sogleich in die Schwierigkeit, dass nicht mehr ganz klar ist, wer oder was zur Familie gehört und was demnach überhaupt unter Familie zu verstehen ist. Die Grenzen werden unscharf, die Definitionen schwanken und dies gilt nicht nur für die Wissenschaft, sondern ebenso für Politik und Alltag. Die Vergleichsebenen und Begriffe werden immer zahlreicher. Wenn der Bundespräsident im Rahmen einer Konferenz zum demographischen Wandel einerseits die Familie als „die Keimzelle der Gesellschaft“ bezeichnet und andererseits beklagt, dass die Politik an „überholten Familienbildern“ festhalte (vgl. Berliner Zeitung, Nr. 286/2006:4), wen oder was meint er überhaupt mit Familie? Die Alleinerziehendenfamilie, die Einkindfamilie, die Großfamilie, die Mehrelternfamilie, die Stieffamilie, die Fortsetzungsfamilie, die Verhandlungsfamilie, die Patchworkfamilie? Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass diese Diagnose für den Bereich von Partnerschaft, Ehe und Familie – mehr Instabilität, mehr Wechsel, mehr Übergänge und Zwischenformen im Lebensverlauf – im Kern auffallend ähnlich ist zu den Befunden der neueren Forschung zu den Berufs- und Erwerbsverläufen. Parallel zur Erosion der Normalerwerbsbiographien, insbesondere durch die Zunahme atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie, und in diesem unmittelbaren Zusammenhang, zunehmend beweglicheren Armutslagen, sei, so Beck-Gernsheim, als Fazit aus der neueren Familienforschung zu ziehen, dass Familie immer mehr zur „transitorischen Lebensphase“ werde, ja zur „Teilzeitgemeinschaft“. Die traditionelle Familie würde demnach zwar nicht verschwinden, aber doch seltener werden, da daneben andere Lebens- und Beziehungsformen entstünden. Und erst recht würde Familie Menschen „nicht mehr lebenslang binden, sondern nur noch über bestimmte Zeiträume und Phasen“ (vgl. Beck-Gernsheim 2000:55ff). Für die Erosion der Normalerwerbsbiographien, die, wie aufgezeigt wurde, insbesondere die zeitlichen und ökonomischen Ressourcen derjenigen beeinflussen und verändern werden, die verstärkt in den kommenden Jahren als Kinderpflegepotential mit der Übernahme informel228
ler Pflegetätigkeiten konfrontiert sein werden, lassen sich mühelos empirische Belege finden. Und dies gilt, wie gleich aufzuzeigen sein wird, ebenso für die Erosion der so genannten traditionellen Normalfamilie, die sich nach Peuckert (2004:27) vor allem an „demographischen Wandlungsprozessen“, wie der Entwicklung der Geburtenzahlen, der Heiratshäufigkeit und der Zahl der Ehescheidungen zeige. Im Einzelnen lässt sich nach den vorliegenden empirischen Daten folgendes Bild dieses demographischen Wandlungsprozesses zeichnen:
Im früheren Bundesgebiet sank die Zahl der Lebendgeborenen zwischen 1964 und 1978 von 1,1 Millionen auf 575.000 im Jahre 1978, im Jahre 2002 wurden in Westdeutschland 594.000 Kinder geboren. In der ehemaligen DDR ging die Zahl der Geburten ebenfalls deutlich zurück: Von 301.000 im Jahr 1961 auf 199.000 im Jahr 1989. Im Jahre 2002 wurden dort 96.000 Kinder geboren (vgl. Peuckert 2004:28). Das heißt, abgesehen von kürzeren Unterbrechungen (z. B. zwischen 1975 und 1980 in der ehemaligen DDR) und vom „Echoeffekt“ des westdeutschen Geburtenbooms Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre in Form des Hineinwachsens dieser Geburtenstarken Jahrgänge in das Familiengründungsalter sinken die Geburtenzahlen in Deutschland seit Mitte der 1960er Jahre (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:70). Auch zeigt sich, dass vor allem der Anteil der Frauen mit drei und mehr Kindern rückläufig ist. So haben 27,0 Prozent der 1940 geborenen Frauen noch drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht, wohingegen dies nur noch für 17,8 Prozent der 1960 geborenen Frauen zutrifft (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:74). Vor diesem Hintergrund sollten die Geburtenrückgänge entsprechend nicht allein auf einen Anstieg der Kinderlosigkeit an sich zurückgeführt werden, sondern auch vor dem Hintergrund des Rückgangs der Familien mit drei oder mehr Kindern interpretiert werden (vgl. 7. Familienbericht 2005:35). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mehren sich die Anzeichen, dass, bei weiter steigender Kinderlosigkeit, der Anteil der Ein-Kind-Familien zunimmt, während der Anteil der Familien mit zwei oder mehr Kindern stagniert (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:73). Es wird geschätzt, dass von den 1965 geborenen Frauen ca. 30 Prozent kinderlos bleiben wird, im Gegensatz zu nur ca. zehn Prozent der 1940 geborenen Frauen (vgl. ebenda.) Ob von den „jüngeren“ Geburtsjahrgängen der Frauen tatsächlich rund ein Drittel dauerhaft kinderlos bleiben wird, ist allerdings durchaus unsicher. Denn es gibt zumindest bei westdeutschen Frauen einen klaren Zusammenhang zwischen schulischem Bildungsniveau und (später) Mutterschaft. Das heißt, je höher der Schulabschluss, desto größer der Anteil von Frauen, bei denen einerseits im Alter von 35 bis 39 Jahren (noch) kein Kind im Haushalt lebt (vgl. Heß-Meining/ 229
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Tölke 2005:256). Und wir erinnern daran, dass in einem Zeitraum zwischen 1970 und 1989 die Studienanfängerquote bei den Frauen von neun auf 21 Prozent angestiegen ist und mittlerweile bei 37 Prozent eines Jahrgangs liegt. Es ist auch festzustellen, dass die späte Mutterschaft gerade bei hochqualifizierten Frauen deutlich zugenommen hat. Bei Frauen mit Abitur lebte im Alter von Ende 30 bei 40,7 Prozent kein Kind im Haushalt, in der Altersgruppe von 40 bis 44 Jahren liegt der entsprechende Anteil hingegen „nur“ noch bei 34,1 Prozent. Ein entsprechend sinkender Anteil kinderloser Frauen findet sich in dieser Altersgruppe auch bei den Akademikerinnen (vgl. Heß-Meining/ Tölke 2005:256). Obgleich die sinkende Geburtenrate in der Regel mit einer Zunahme der Kinderlosigkeit von Frauen in Verbindung gebracht wird, zeigt eine genauere Betrachtung jedoch, dass Männer häufiger kinderlos sind als Frauen. Zwar gibt es in Deutschland nur wenige repräsentativen Studien, in denen Angaben zur Kinderlosigkeit der Männer erhoben werden, jedoch konnte beispielsweise im Rahen des Alterssurvey 1996 ermittelt werden, dass dort 15,8 Prozent der 40-54-jährigen Männer gegenüber 9,7 Prozent der gleichaltrigen Frauen angaben, keine eigenen Kinder zu haben (Kohli et al. 2000:87). Die Zahl der jährlichen Eheschließungen ist im früheren Bundesgebiet von 531.000 im Jahr 1962 (dem „Golden Age of Marriage“) auf 328.000 im Jahr 1978 gesunken, wobei dieser Rückgang ganz überwiegend auf eine Änderung des Heiratsverhaltens – auf eine abnehmende Heiratsneigung – und nicht auf demographische Faktoren (Veränderungen der Jahrgangsgrößen im heiratsintensiven Alter) zurückzuführen ist. Der darauf folgende Anstieg der Heiratszahlen bis auf 414.000 im Jahr 1990 ist dagegen im wesentlichen ein Ergebnis des Aufrückens der starken Geburtsjahre der späten 1950er und frühen 1960er Jahre ins heiratsintensive Alter. Seit 1993 wird die 400.000 Marke wieder unterschritten; 2002 wurden noch 329.000 Ehen geschlossen. In der ehemaligen DDR sanken die Heiratszahlen von 169.000 im Jahre 1961 auf 131.000 im Jahre 1989. Mit der Vereinigung erfolgte ein erheblicher Einbruch. 1991 wurden nur noch 51.000 Ehen geschlossen, woran sich bis zum Jahre 2002 (ebenso 51.000 Eheschließungen) nicht viel geändert hat (vgl. Peuckert 2004:27ff.). Entsprechend des sinkenden Niveaus der Heiratshäufigkeit steigt seit Jahren die Ledigenquote bei allen Bildungsgruppen. Die höchste Ledigenquote unter den 35- bis 44-Jährigen weisen die westdeutschen Männer und Frauen mit Hochschulabschluss auf. Von den hochqualifizierten Männern waren im Jahr 2000 29 Prozent ledig (gegenüber 9 Prozent Mitte der 1970er Jahre), von den Männern mit Volksoder Hauptschulabschluss 23 Prozent (gegenüber neun Prozent). Von den Frauen um 40 mit Hochschulabschluss waren im Jahr 2000 knapp 28 Pro-
zent ledig (gegenüber 19 Prozent Mitte der 1970er Jahre), von den geringer qualifizierten 10 Prozent (gegenüber fünf Prozent) (vgl. Peuckert 2004:47). Aber auch bei den Älteren (45-49-Jährigen) ist der Anteil der Ledigen, insbesondere bei den Männern, in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:67). Nach der Statistik wird also weniger geheiratet und wenn geheiratet wird, dann geschieht dies, ebenso wie der Übergang zur ersten Elternschaft, in einem immer späteren Lebensalter (vgl. ebenda, S. 128). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2003b:66) weist das durchschnittliche Erstheiratsalter bei den Männern eine Zunahme zwischen 1970 und 2000 von 25,6 auf 31,3 Jahren und bei den Frauen von 23,0 auf 28,5 Jahren auf. Westdeutsche Frauen waren 1970 bei der Geburt des ersten Kindes der bestehenden Ehe durchschnittlich 24,3 Jahre, im Jahr 2000 hingegen schon 29,0 Jahre alt. Auch in Ostdeutschland gründen Frauen erst in einem immer höheren Alter eine Familie. 1980 betrug das durchschnittliche Alter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes noch 22,1 Jahre; im Jahr 2000 lag es mit 28,4 Jahren nur noch knapp unter dem Alter der westdeutschen Mutterschaft. Ebenso hat sich das Gebäralter derer, die unverheiratet Mutter werden, stark erhöht (vgl. ebenda, S. 76). Die entsprechenden Daten zeigen, dass nicht nur aufgrund einer abnehmenden Heiratsneigung weniger geheiratet wird, sondern dass die Ehen in den vergangenen Jahren auch zunehmend zerbrechlicher geworden sind. Dies zeigt sich vor allem an der Zahl der jährlichen Ehescheidungen, die sich im früheren Bundesgebiet zwischen 1960 und 2002 von 49.000 auf 175.000 mehr als verdreifacht hat. Man schätzt, dass von den nach 1970 geschossenen Ehen jede vierte und von den nach 1980 eingegangenen Ehen mindestens jede dritte geschieden wird. (vgl. Peuckert 2004:29). Interessant in unserem Zusammenhang ist vor allem die gestiegene Scheidungsanfälligkeit der Ehen bezogen auf verschiedene Heiratsjahrgänge (Stichwort: die Notwendigkeit des Vorhandensein eines übrigens Familieneinkommens bei Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit). So erhöhte sich der Anteil der Ehen, die keine 15 Jahre bestand hatten, im früheren Bundesgebiet von 8,2 Prozent beim Heiratsjahrgang 1950 auf 26,1 Prozent bei den 1985 geschlossenen Ehen (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:82). Von den 1950 geschlossenen Ehen wurden in den darauf folgenden 25 Jahren nur 10 Prozent geschiedenen, von den 1990 geschlossenen Ehen wurden bereits nach einer Ehedauer von nur fünf Jahren ebenfalls zehn Prozent geschiedenen und nach einer Ehedauer von zwölf Jahren 24 Prozent. Nach einer Ehedauer von 25 Jahren waren bereits 30 Prozent des Heiratsjahrgangs 1977 wieder geschieden (vgl. Emmerling 2002). Seit den 1980er Jahren ist auch das Ri231
siko der späten Scheidung (ab dem 20. Ehejahr in der „empty-nest“-Phase) sichtlich angewachsen. Nach Dorbitz und Gärtner (1998) zeichne sich ein neues Verhaltensmuster, das der späten Ehescheidung, ab. Als Ursachen werden die gestiegene Lebenserwartung, die gestiegene Erwerbstätigkeit der Frauen im mittleren Lebensalter und der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus genannt (vgl. auch Statistisches Bundesamt 2003b:82; HeßMeining/ Tölke 2005). Während der Anteil der Geschiedenen an der Gesamtzahl der Eheschließungen zunimmt, ist die Wiederverheiratungsneigung der Geschiedenen rückläufig. Die zusammengefasste Wiederverheiratungsziffer gibt an, wie viele von 100 geschiedenen Frauen und Männern nach der Wiederverheiratungsneigung des jeweiligen Kalenderjahres erneut heiraten. Nach den errechneten Wiederverheiratungsziffern von 1997 heirateten im früheren Bundesgebiet 62 Prozent der geschiedenen Frauen und 56 Prozent der geschiedenen Männer erneut. 1980 waren es noch 70 Prozent der Frauen und 71 Prozent der Männer (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:69; vgl. auch Heß-Meining/ Tölke 2005). In der ehemaligen DDR hat sich die Zahl der geschiedenen Ehen zwischen 1960 und 1989 verdoppelt. Bedingt durch die Umstellung auf das bundesdeutsche Scheidungsrecht setzte kurz nach der Vereinigung jedoch ein deutlicher Rückgang der Ehescheidungen ein, wobei sich die Zahl der Ehescheidungen seit einigen Jahren wieder erhöht. Im Jahre 2002 gab es in Westdeutschland 137.000 und in Ostdeutschland 23.00 neue „Scheidungswaisen“ (vgl. Peuckert 2004:29). Hiermit wären zunächst die wesentlichen Eckpfeiler jener demographischen Wandlungsprozesse der vergangenen ca. drei Jahrzehnte benannt, die, um daran zu erinnern, auch auf den Begriff des Zweiten Demographischen Übergangs gebracht werden können. Doch sind insbesondere die Abnahme der Heiratsneigung, der Anstieg der Ehescheidungen sowie der Ledigenquote keineswegs gleichbedeutend mit einer Zunahme der Beziehungs- oder Bindungslosigkeit. Die Herauslösung aus den früheren Formen der gemeinschaftlichen Lebensführung und (informellen) Existenzsicherung im Sinne der traditionellen Normalfamilie und des bürgerlichen Familienideals sucht sich vielmehr neue Formen des Zusammenlebens. Während vor allem in den 1950er und 1960er Jahren das traditionelle Normalfamilienmodell als kulturelle Selbstverständlichkeit galt und ein millionenfach fraglos gelebtes Grundmuster darstellte, wobei alternative Familienformen bestenfalls als Notlösungen toleriert wurden, in der Regel aber mit offenen oder verdeckten Sanktionen bedacht wurden (vgl. u. a. Nave-Herz 2002; Nave-Herz 2004; Peuckert 2004), können mittlerweile nur noch rund 55 Prozent der Bevölkerung im Alter von 35 und 44 Jahren, das in der Gesamtschau der Bevölkerung als das „familienintensivste Alter“ gilt, einer traditionellen 232
Familienform (verheiratet und mindestens ein Kind) zugerechnet werden (vgl. Heß-Meining/ Tölke 2005:248). Da nicht zuletzt aufgrund der kulturellen Liberalisierungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte Ehe und Familie immer weniger als normativ vorgegebene Lebensperspektive gelten, ist, entsprechend des Rückgangs traditioneller Familienformen, der Anteil so genannter „alternativer Lebensformen“ in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Nach der Definition im Rahmen der Mikrozensuserhebungen des Statistischen Bundesamtes zählen hierzu „Alleinerziehende und nichteheliche oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern im selben Haushalt“. Diese seien immer zahlreicher geworden, wobei diese Zunahme vor allem „zulasten der Ehepaare mit Kindern“ ging. Im Jahre 2004 zählten 26 Prozent der insgesamt 12,5 Millionen Familien zu den „alternativen“ Lebensformen; gemessen an allen Familie waren 20 Prozent – also ein Fünftel – allein erziehend und sechs Prozent Lebensgemeinschaften mit Kindern. Auffällig sei, so das Statistische Bundesamt, wie rasch sich vor allem in den neuen Bundesländern und Berlin die Ausbreitung „alternativer“ Familienformen vollziehe. 1996 zählten noch 28 Prozent der ostdeutschen Familien zu den „alternativen Lebensformen, im Jahre 2004 waren es schon 37 Prozent. In Westdeutschland stieg deren Anteil im gleichen Zeitraum von 19 auf 23 Prozent (vgl. Statistischen Bundesamt 2006c:9).78 Bei diesen Daten muss allerdings, wie bereits beschrieben, darauf aufmerksam gemacht werden, dass hier nur Lebensformen in einem Haushalt erfasst werden. Zählte man Eltern-Kind-Beziehungen, die über Haushaltsgrenzen hinweg bestehen hinzu, so dürfte der tatsächliche Anteil „alternativer“ Lebensformen entsprechend noch höher sein. Nach Peuckert (2004:196ff.) sei der Prozess der Pluralisierung der Lebensformen vor allem auf den Anstieg der Scheidungszahlen zurückzuführen: „Ein beträchtlicher Teil (vor allem kinderloser) Geschiedener wohnt nach der Trennung/Scheidung entweder allein oder in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Daneben besteht die Möglichkeit der Wiederheirat (‚Zweitehe’, ‚Fortsetzungsehe’). Sind minderjährige Kinder (‚Scheidungswaisen’) betroffen, kommen als Lebensformen die Ein-Eltern-Familie, das Leben in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft und – im Falle der Wiederheirat – die Stieffamilie in Betracht“. Nach Brüderl (2004) liegt eine Pluralisierung der Lebensverläufe dann vor, wenn die Vielfalt/Heterogenität der partnerschaftlichen bzw. familialen Lebensverläufe seit der Normalfamilie der 1950 und 1960er Jahre zugenommen hat. Anhand eines Vergleichs verschiedener Geburtskohorten (1944-1957; 19581967; 1968-1982) ließen sich in der Untersuchung von Brüderl tatsächlich An78
Der Anstieg der nichtehelichen Lebensgemeinschaften wird noch deutlicher, betrachtet man die absoluten Zahlen über einen längeren Zeitraum. Im Jahre 1972 gab es 137.000 nichtehelicher Lebensgemeinschaften (davon 25.000 mit Kindern), im Jahre 2000 waren es knapp 1,6 Millionen (371.000 mit Kindern) (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:44).
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zeichen für eine Pluralisierung der Lebensformen, gekennzeichnet durch einen Anstieg der Zahl der Lebensformwechsel, finden. Demnach hätte der Anteil so genannter „bunter Lebensverläufe“, d. h. Lebensverläufe mit „4-7 Ereignissen“ (nichteheliche Partnerschaften, Trennung, Heirat, Scheidung usw.) über die Geburtskohorten kontinuierlich zugenommen. Gleichzeitig konnte aber auch die „Singularisierungsthese eindrucksvoll bestätigt werden“, die davon ausgeht, dass ein immer höherer Anteil von Personen ohne festen Partner lebt, sich also in den Lebensformen (oder Stufen) „ledig“, „getrennt“ und „verwitwet“ ohne Partner befindet. Entsprechend haben über die verschieden Geburtskohorten Lebensformen mit Partner/in abgenommen. Der höchste Singularisierungsgrad fand sich also in der jüngsten Geburtskohorte. Der Trend weg von der Normalfamilie führe, so Brüderl, jedoch nicht notwendigerweise zu einer Pluralisierung, da sich ein „neuer Standardlebenslauf“ – ledig bleiben bis in die Dreißiger – abzeichne. Sollte ein erheblicher Teil jedoch erst im Alter von 40 bis 45 Jahren heiraten, verlöre der Typus „ledig“ wieder seine Dominanz und die Verteilung der Lebensformen würde in der jüngsten Geburtskohorte wieder „bunter“ (vgl. Brüderl 2004:7). Wir sehen also anhand der Untersuchung von Brüderl, dass sowohl von einer Polarisierung als auch von einer Pluralisierung der Lebensformen gesprochen werden muss. Mit der Pluralisierung der Lebensformen, insbesondere durch Scheidung und anschließender Wiederverheiratung oder eine nichteheliche neue Lebensgemeinschaft, kommt es in deren Folge häufiger auch zu einer zunehmenden Entkoppelung von biologischer und sozialer Elternschaft. Das heißt, immer häufiger fallen biologische und soziale Elternschaft auseinander, was insbesondere am Phänomen der Stieffamilien deutlich wird. Bei Steiffamilien handelt es sich um das quantitativ gesehen bedeutsamste Beispiel fragmentierter Elternschaft. Bis in die 1970er Jahre fand eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Stieffamilien kaum statt, dies änderte sich erst durch die Ausbreitung dieser Familienform im Gefolge zunehmender Scheidungsziffern. Stieffamilien erstrecken sich in der Regel über mehrere Haushalte. Viele Kinder haben sowohl einen Stiefvater als auch eine Stiefmutter, da beide leiblichen Eltern wieder geheiratet haben. Diejenige Familie, in deren Haushalt das Kind mit seinem leiblichen Elternteil und dessen Partner/in, unabhängig von der jeweiligen Sorgerechtsregelung, überwiegend wohnt, wird als primäre Stieffamilie bezeichnet. Lebt das Kind nur zeitweise, bspw. in den Ferien oder am Wochenende in der Familie des außerhalb lebenden Elternteils mit neuem Partner/in, so handelt es sich um eine sekundäre Steiffamilie. Nach Bien et al. (2002) lassen sich folgende Formen primärer Stieffamilien unterscheiden: „einfache Stieffamilien“, bei denen ein Partner Kinder in die Beziehung bringt, ohne dass weitere gemeinsame Kinder im Haushalt leben; „zusammengesetzte Stieffamilien“, bei denen beide Partner Kinder in die Beziehung einbringen, ohne dass weitere gemeinsame 234
Kinder im Haushalt leben und „komplexe Stieffamilien“; hier treten zu den Steifkindern gemeinsame leibliche Kinder hinzu. Bei „mehrfach fragmentierten Stieffamilien“ verändert sich die Zusammensetzung der Familie aufgrund wiederholter Scheidung bzw. wiederholten Todes eines Elternteils mit anschließender Wiederverheiratung mehr als einmal. Die Familienform Stieffamilie wird vom Statistischen Bundesamt wegen erhebungstechnischer Probleme und rechtlicher Bedenken (Datenschutz) nicht gesondert erfasst. Die einzige repräsentative Studie über Stieffamilien und Stiefkinder von Bien et al. (2002) schätzt, dehnt man die Definition von Stieffamilien auf nichteheliche Partnerschaften und auf Partnerschaften mit getrennten Haushalten aus, dass im Jahre 2000 in Deutschland rund 1,7 Millionen Stiefkinder (das sind 7,6 Prozent aller Kinder) lebten, wobei der Anteil in den neuen Bundesländern mit 12,5 Prozent doppelt so hoch ist wie in den alten Bundesländern (6,6 Prozent). Durch das veränderte Scheidungs- und Wiederverheiratungsverhalten entstehen immer mehr Beziehungen für die es bislang keine allgemein akzeptierte Terminologie gibt. Und teilweise, so Peuckert (20004:343), könne man noch nicht einmal sicher sein, ob es sich überhaupt noch um Verwandtschaftsbeziehungen handelt, ob z. B. die Eltern einer Stiefmutter (einer „sozialen Mutter) tatsächlich als Großeltern („soziale Großeltern“) anzusehen sind. Die demographischen Wandlungsprozesse des Zweiten Demographischen Übergangs oder besser gesagt die Ursachen und Erklärungsversuche, die mit diesem in Verbindung gebracht werden, wie u. a. die enorme Optionssteigerung infolge der allgemeinen Wohlstandssteigerung, also steigende Mobilitäts- und Konsummöglichkeiten sowie die Ausweitung der Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten vor allem der (verheirateten) Frauen, die kulturelle Liberalisierung von Ehe und Familie, die Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung (vgl. Kaufmann 1990; 1995), wirken sich nicht nur strukturell auf veränderte und sich verändernde Formen der Lebens- und Beziehungsformen aus, sondern in diesem Zusammenhang ebenso auf die Entwicklung der Haushaltsstrukturen. So hat beispielsweise die Zahl der Einpersonenhaushalte von Männern und Frauen in den vergangenen Jahrzehnten in allen Altersgruppen absolut und relativ (bezogen auf alle Haushalte) stark zugenommen. Zwischen 1961 und 2002 hat sich die Gesamtzahl der Alleinwohnenden von 4 Millionen auf 11,7 Millionen erhöht, wobei die Zunahme des Alleinwohnens teilweise auf den Einfluss demographischer Faktoren, also auf Veränderungen nach Alter und Geschlecht und teilweise auf Verhaltensänderungen zurückzuführen ist. Das heißt, zumindest ab ca. den 1970er Jahren ist der Anstieg der Zahl Alleinwohnender immer weniger als Altersstruktureffekt (Vergrößerung des Anteils der über 65-Jährigen) zu interpretieren, sondern „in erster Linie auf einen Wandel im Haushaltsgründungsverhalten der verwitweten Frauen und der ledigen Männer und Frauen sowie auf Familien235
standsstrukturveränderungen durch die Zunahme der Scheidungen zurückzuführen“ (vgl. Hullen/Schulz 1993:52). Während sich bei der Bevölkerung ab 50 Jahren der Schwerpunkt zunächst immer mehr auf den Haushaltstyp Ehepaar ohne Kinder verlagert, stellt bei den älteren Menschen ab 65 Jahren der Einpersonenhaushalt mit 49 Prozent die häufigste Lebensform (die so genannte „Singularisierung des Alters“) dar. Wie bereits im Kapitel (3.4.1) über die Strukturmerkmale häuslich versorgter Pflegebedürftiger deutlich wurde, gibt es hierbei jedoch auffallende Unterschiede zwischen den Geschlechtern (vgl. Tabelle 17 dieser Arbeit). So lebten im Jahr 2000 drei Viertel aller hochaltrigen Frauen ab 80 Jahren, aber nur ein Drittel aller hochaltrigen Männer, alleine im Haushalt. Die Gründe hierfür wurden ebenso bereits benannt. Diese liegen überwiegend in der höheren Lebenserwartung der Frauen, dem Altersunterschied zwischen den Ehegatten, und damit in einem erhöhten Verwitwungsrisiko der Frauen, als auch, jedoch mit absteigender Tendenz, in kriegsbedingten Einflüssen (Kriegerwitwe). Nun ist, wie dargelegt wurde, mit guten Gründen davon auszugehen, dass in den kommenden ca. beiden Jahrzehnten die Gruppe hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zunehmend von jenen dominiert wird, die als die typischen Vertreter der Normalfamilie der 1950 und 1960er Jahre und als die Eltern der so genannten Babyboomer-Generation bezeichnet werden können, gleichzeitig wird in diesem Zeitraum der Faktor „Kriegerwitwe“ keine Rolle mehr spielen. Sollte sich darüber hinaus zukünftig auch noch die Lebenserwartung der Männer an die der Frauen annähern, so wird zukünftig vermehrt damit zu rechnen sein, dass immer mehr Menschen, auch höheren Alters, mithin also auch der Hilfe- und Pflegebedürftigen, in einem Zweipersonenhaushalt, d. h. mit einem Ehepartner/in zusammenleben werden, der/die potentiell informelle Pflegeleistungen erbringen könnte. Ruft man sich den Vergleich der Familien- und Haushaltsformen Hilfe und Pflegebedürftiger in Privathaushalten zwischen 1991 und 2002 in Erinnerung (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005:70), so ist der Anteil derjenigen Pflegebedürftigen nach SGBXI, aber auch der „sonstigen Hilfebedürftigen“, die in einem Haushalt mit zwei Personen leben, in einem ca. 10-Jahreszeitraum von 34 auf 41 Prozent bzw. von 35 auf 40 Prozent angestiegen (vgl. Tabelle 16 dieser Arbeit).79 Dieser Anstieg könnte bereits auf die genannten Gründe zurückzuführen sein. Demnach könnte dieser Trend einerseits noch mittelfristig anhalten, und sich durchaus durch das vermehrte Hineinwachsen der heiratsstarken Jahrgänge in das höhere Lebensalter noch verstärken, andererseits ist aber auch damit zu rechnen, dass dieser Trend andererseits aufgrund steigender Scheidungsraten (mittlerweile auch bei lang anhaltenden Ehen und einer abnehmenden Wieder79
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Gleichwohl, und auch daran muss erinnert werden, ist seit Einführung der Pflegeversicherung die ausschließliche Inanspruchnahme von Geldleistungen gesunken und die vollstationäre Inanspruchnahme deutlich angestiegen.
verheiratungsquote) sowie einer steigenden Ledigenquote wiederum, wenn auch nur allmählich, abgeschwächt werden könnte.80 Vor eben diesem Hintergrund hat Hullen (2000) in einer Lebensformen-Modellrechnung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung vorausberechnet, dass bei den über 80-Jährigen Männern die Zahl der Alleinlebenden aufgrund von Scheidung oder Ledigseins von 3,8 Prozent im Jahre 2000 auf 10,3 Prozent im Jahre 2020 und auf 20,2 Prozent im Jahre 2040 ansteigen wird. Der Anteil an Einpersonenhaushalten aufgrund von Verwitwung wird hingegen in diesem Zeitraum bei den hochaltrigen Männern um 11,3 Prozent zurückgehen. Bei den über 80-Jährigen Frauen wird der Anteil der Einpersonenhaushalte aufgrund von Scheidung oder Ledigseins von 8,2 Prozent im Jahr 2000 auf 9,3 Prozent im Jahre 2020 und im Jahre 2040 auf 14,0 Prozent ansteigen. Hingegen werden verwitwungsbedingte Einpersonenhaushalte in diesem Zeitraum um 20,8% zurückgehen (vgl. Dritter Altenbericht 2001:219ff.). Ebenso wie einerseits der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten, ob nun aus demographischen Gründen oder aus Gründen des Verhaltens oder der Neigung, in den vergangen Jahren stark angewachsen ist, sind andererseits die Mehrgenerationenhaushalte zurückgegangen: 1962 wohnten in Westdeutschland noch elf Prozent der Gesamtbevölkerung in einem Haushalt mit mindestens drei Generationen, im Jahr 2000 waren es noch 1,8 Prozent in den alten und 1,75 Prozent in den neuen Bundesländern (vgl. Statistisches Bundesamt 2003b:33). Wesentlich verbreiteter als Mehrgenerationenhaushalte sind jedoch so genannte Hausfamilien, bei denen mehrere Generationen eines Familienverbandes zwar in separaten Wohnungen, aber unter einem Dach, in einem Haus zusammenwohnen. Nach einer Erhebung von Fuchs (2003) findet man deutschlandweit einen Anteil von 6,9 Prozent Hausfamilien, in denen 13,1 Prozent der Bevölkerung wohnen, wobei man Hausfamilien mit ihrer starken Verwandtschaftsorientierung vor allem in kleinen und kleinsten Gemeinden im traditionellen Milieu findet, das von konfessioneller Bindung und konservativer politischer Orientierung geprägt ist. Andererseits zeigen Forschungsarbeiten zu den sozialen Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, dass gerade dieses Milieu im Vergleich zu den Milieus, die als „liberal“, „modern“ oder „moderne Mitte“ bezeichnet werden, seit Jahren rückläufig ist (vgl. Vester 2001; Schäfers 2002; Geißler 2006; Hradil 2006). Entsprechend kann vermutet werden, dass auch der Bevölkerungsanteil, der in solchen Hausfamilien lebt, zukünftig tendenziell eher abnehmen wird. Denkbar ist aber auch, dass, obwohl es möglicherweise „gegen die Neigung“ geht, die Anzahl der Hausfamilien wieder zunimmt, und zwar in 80
Wie die Mikrozensusdaten (2003, vgl. Tabelle 17) zeigen, ist der Familienstand „Ledig“ oder „Geschieden“ bei den aktuell hilfe- und pflegebedürftigen allerdings (noch) fast zu vernachlässigen.
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dem Maße, wie die als prekär zu bezeichnenden Lebensverhältnisse der jüngeren Generation ansteigen. Während einerseits die Anzahl der Haushalte mit mehreren Generationen sinkt, hat die Anzahl der Drei- und Mehrgenerationenfamilien stark zugenommen. Das heißt, aufgrund der steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung und der sinkenden Geburtenrate hat sich die generationale Familienstruktur in einer solchen Weise verändert, dass immer mehr Kinder Großeltern und Urgroßeltern erleben, gleichzeitig führt der Rückgang der Kinderzahl jedoch auch zu einer Verkleinerung der verwandtschaftlichen Netzwerke. Heiraten bspw. zwei Einzelkinder und bekommen sie wiederum nur ein Kind, so verfügt dieses über zwei Eltern, vier Großeltern und evtl. noch über Urgroßeltern, jedoch weder über Geschwister, noch Onkel, Tanten, Cousinen oder Cousins. Diese Entwicklung, die „ein historisch völlig neues Phänomen“ sei, wird von der Familienforschung mittlerweile auf den Begriff der so genannten „Bohnenstangenfamilie“ gebracht (vgl. Nave-Herz 2002:26; auch Peuckert 2004). Die Abnahme horizontaler und die Zunahme vertikaler Verwandtschaftsbeziehungen bedeutet aber auch, dass sich die so genannte „Haus- und Sorgearbeit“ auf immer weniger Schultern verteilt. Allerdings ist abzusehen, dass sich diese Entwicklung aufgrund des biographischen Hinausschiebens der Elternschaft auf mittlere bis längere Sicht nicht fortsetzen wird. Kehren wir an dieser Stelle an den Ausgangspunkt dieses Kapitels zurück. Die Pflegeversicherung als Grund- oder Teilkaskoversicherung ist ein familienergänzendes Sozialversicherungsmodell, oder sagen wir besser ein Sozialversicherungskonstrukt, das mit den Hilfebeziehungen, die zwischen den Generationen gewissermaßen als solidarische Hintergrundsicherung zur Deckung der Pflege- und Versorgungslücke erbracht wird, rechnet. Und zwar, wie bereits mehrfach dargelegt, durchaus im doppelten Sinne des Wortes. Doch nicht nur in den Massenmedien wird die sozialstrukturelle und demographische Entwicklung der Beziehungs- und Partnerschaftsstrukturen der letzten Jahrzehnte, einschließlich der seit langem konstant niedrigen Geburtenrate, als Indikator für eine „Krise der Familie“ interpretiert. Gleichwohl muss man sich fragen, was der Begriff einer „Krise“ in diesem Zusammenhang überhaupt meint. Als sicher kann wohl zunächst gelten, dass sich strukturell die Formen gemeinsamer Lebensführung und Existenzsicherung, wie soeben anhand empirischer Daten ausgeführt, seit ca. den 1970er Jahren stark gewandelt haben. Uns so besteht auch in der wissenschaftlichen Diskussion kein Dissens darüber, dass – zumindest auf der quantitativen Ebene – diesen Wandlungsprozessen ein erheblicher Realitätsgehalt zuzumessen ist. Andererseits gibt es erhebliche und wachsende Unsicherheiten darüber, als was und wie Familie und soziale Netze überhaupt zu definieren seien. Und diese Unsicherheiten liegen wohl auch darin begründet, dass Familie immer schon 238
historisch veränderbar und im ständigen, mehr oder weniger kontinuierlichen Wandel begriffen war (vgl. Backes 1998). Vor diesem Hintergrund kann nun auch mit Recht danach gefragt werden, was an den veränderten Familien- und Lebensformen überhaupt so neu bzw. anders ist, dass von einer „Krise der Familie“ zu sprechen wäre. Denn auch in früheren Jahrhunderten gab es keine Einheitsfamilie, sondern durchaus verschieden Lebensformen. Könige und andere Adlige führten „Ehen zur linken Hand“, unterhielten Maitressen und illegitime Sprösslinge und in manchen sozialhistorischen Berichten, so Beck-Gernsheim (2002:21), könne man Statistiken entdecken, wonach einige Regionen bereits im 19. Jahrhundert einen höheren Anteil an unehelichen Kindern aufwiesen als heute. Auch waren aufgrund einer hohen Sterblichkeit im Allgemeinen sowie insbesondere aufgrund der hohen Sterblichkeit von Müttern (Stichwort: Tod im Kindbett) Zweit- und Drittehen mit allerlei Stiefgeschwistern durchaus verbreitet. Und einem beträchtlichen Anteil der Bevölkerung (bspw. Dienstbooten, Mägde, Knechte) war eine Heirat kaum möglich, was allerdings nicht ausschloss, dass diese Kinder zeugten. Wenn also heute zumeist ein Bild von der „heilen“ (Groß-)Familie vergangener Zeiten gezeichnet wird, so ist diesem kaum ein historischer Realitätsgehalt zuzumessen, ja dieses Bild entpuppt sich bei genauerer Betrachtung gar als „Mythos“ (vgl. Rosenbaum 1982). Und ganz ähnlich steht es mit der weit verbreiteten Annahme, wonach aus historischer Perspektive für europäische Gesellschaften eine familiäre Pflegeübernahme eine Selbstverständlichkeit oder ein normativ geregeltes Handlungsmuster war. Zum einen wurde die Versorgung der Lebensgrundlage in der Regel weniger durch die Familie gesichert als vielmehr durch eigene Arbeit (vgl. Borscheid 1992), und im Falle von Pflegebedürftigkeit trat diese als dauerhafter Zustand aufgrund geringer medizinischer Kenntnisse und Versorgung sowie schlechter Lebensbedingungen nur äußerst selten auf: Die Krankheiten waren kurz und der Tod kam schnell. (vgl. Tews 1994). Das heißt, die Rede von der „Krise der Familie“ oder gar vom „Tod der Familie“ in Bezug auf die aktuellen strukturellen Veränderungen der privaten Beziehungs- und Lebensformen erscheinen vor allem dann krisenhaft, interpretiert man diese ausschließlich vor dem Hintergrund des Leitbilds der Normalfamilie und des bürgerlichen Familienideals wie es sich faktisch und normativ (als unhinterfragtes Leitbild) in den 1950er und 1960er Jahren – gleichwohl als historische Ausnahmesituation! – nahezu universell durchgesetzt hatte. Im Kontext um die „Krise der Familie“ oder, um es nun zu präzisieren, im Eigentlichen um die strukturellen Wandlungsprozesse der Parons’schen Normalfamilie der Nachkriegsjahrzehnte, schließt sich eine zweite Frage an, nämlich die nach einem Funktionswandel oder gar einem Funktionsverlust von Familie. Erinnern wir daran: Die Familie gilt bis heute weithin als „notwendig für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft“ (vgl. Beck-Gernsheim 2000:9), als Ort der 239
Gemeinschaftsbildung und als „Basis der individuellen Wohlfahrtsproduktion“ (vgl. Schäfers 2002:127) zur „Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität“ (vgl. Glatzer 1998:180). Kurz, um eben jene „Schule der Solidarität“, von der Blüm (vgl. 1995) zur Einführung der Pflegeversicherung sprach. So unzweifelhaft sich die strukturellen Kennzeichen der Normalfamilie in den vergangen Jahrzehnten von der Dominanz zu einer Option unter Vielen verändert haben, so offen ist jedoch die Frage, ob mit diesem Strukturwandel, mit der Pluralisierung der Lebensformen und den veränderten Formen des Zusammen- und Alleinwohnens, ebenso ein Verlust an Gemeinschaft, an solidarischer Verbundenheit einhergeht. Hier ist also die Frage anzusprechen, wie Gesellschaft, oder in unserem Kontext im Eigentlichen die Pflegeversicherung, bei einer Veränderung oder gar Infragestellung des in der Nachkriegszeit zum Normaltyp avancierten bürgerlichen Familienmodells – solidarisch -, funktionieren kann. Handelt es sich hierbei nicht nur in struktureller, sondern ebenso in funktionaler Hinsicht um „krisenhafte“ Veränderungen, die Familien und Individuen in ihrem solidarischen Aufeinanderbezogensein gefährden, oder handelt es sich um Wandlungsprozesse, die immer auch neue Möglichkeiten der Erfüllung existentieller gesellschaftlicher und individueller Funktionen hervorbringen? Wie ist es also um die Familie als „Schule der Solidarität“ bestellt? Es wurde bereits an vorangegangener Stelle erläutert (vgl. Kapitel 3.5), dass trotz der zu beobachtenden DeInstitutionalisierungs- und Pluralisierungsprozesse in Bezug auf die traditionelle Kernfamilie nicht notwendigerweise auch auf von einem Verlust an intergenerationaler Solidarität gesprochen werden kann. Denn trotz aller Diskussionen um Wertewandel, dem Verlust des normativen Leitbilds des bürgerlichen Familienmodells und der quantitative Abnahme der traditionellen Kernfamilie, kommen alle empirischen Studien, die die Generationendynamik innerhalb familiärer Netzwerkstrukturen in den vergangenen Jahren untersucht haben, mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass ein hohes Maß an intergenerationaler Solidarität nach wie vor besteht und von einem Bindungszerfall hinsichtlich der gesamten Kontaktund Unterstützungspotentiale einer Person nicht gesprochen werden kann (vgl. u. a. Sydlik 2000; Dritter Altenbericht 2001; Enquete-Kommission 2002; Hoff 2003; Opaschowski 2004; Fünfter Altenbericht 2005). Mehr noch: Gerade Individualisierung und Pluralisierung bedingten sogar „neue Formen von Solidarität“, von „erweiterter Familie“, von „informellen sozialen Netzen, die durch Nachbarschaft, Bekanntschaft oder Freundschaft entstehen“. Diese „haben zumindest nicht abgenommen, im Bedarfsfall sogar eher zugenommen“ (vgl. Backes 1998:20). „Nach Diewald (1991) haben im Laufe der 1980er Jahre insbesondere die haushaltsübergreifenden Hilfebeziehungen, vor allem zwischen Freunden, deutlich zugenommen. Am sichtbarsten ist dies bei Bevölkerungsgruppen, die traditionell eher verwandtschaftlich orientiert sind (z.B. Frauen, 240
Angehörige der Arbeiterschicht). Die Hilfeleistungen beziehen sich auch nicht nur auf gelegentliche praktische Hilfe. Besonders die gegenseitige Unterstützung bei persönlichen Problemen (mit Ausnahme der Betreuung von Kranken und Behinderten) hat deutlich zugenommen. Gemeinschaftsbildung wird also generell zu einer immer mehr individuell zu erbringenden Leistung“ (zit. nach Peuckert 2004:42, Hervorhebung: M.D.). Hier wird noch einmal folgendes deutlich: Auch bei einer Ausweitung „neuer Formen der Solidarität“ – selbst bei oder gerade wegen einer gleichzeitigen Abnahme des bürgerlichen Familienmodells – gelangen informelle Hilfebeziehungen jedoch dann an ihre Grenze, sobald die Betreuung Kranker und Behinderter, mithin also auch die Betreuung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, betroffen ist. Und dies zeigt erneut, dass im Falle häuslicher Pflegeunterstützung in der Regel ein so hoher Preis zu zahlen ist, dass die informelle und solidarische Unterstützung im Falle von Pflegebedürftigkeit einen fast schon „bedingungslosen Charakter“ annimmt (vgl. Blüher 2002:113), der durch informelle Netzwerke zwischen Freunden oder aus der Nachbarschaft kaum zu erbringen ist. Doch was für die „neuen Formen der Solidarität“ gilt, gilt offenbar, und zumindest in einem entscheidenden Teilbereich, auch für die traditionellen Solidaritätsformen innerhalb des familialen Nahbereichs. Wir erinnern hier an die Untersuchungsergebnisse des Alterssurveys 2002, in dem ermittelt wurde, dass sich „kognitive“, „emotionale“ und „finanzielle“ Unterstützungsleistungen innerhalb der mittleren und älteren Generation in einem 6-Jahres-Vergleich zwar nicht oder nur kaum verringert hätten, die „instrumentellen Unterstützungsleistungen“ innerhalb der Familien allerdings über alle untersuchten Altersgruppen (40-85 Jahre) merklich zurückgegangen seien (vgl. Hoff 2004:6). Zwar werden die „instrumentellen Unterstützungsleistungen“ hier nicht explizit mit informellen Pflegeleistungen in Verbindung gebracht, jedoch setzen „instrumentelle Unterstützungsleistungen“, im Gegensatz zu den anderen Formen der Unterstützung, notwendigerweise eine persönliche Anwesenheit – ebenso wie bei der informellen Pflegetätigkeit – voraus. Unter der Annahme, dass der Rückgang instrumenteller Unterstützung zwischen der mittleren und älteren Generation nicht darauf zurückzuführen ist, dass sich die Lebens- und Gesundheitsbedingungen der älteren Menschen in den vergangen Jahren soweit verbessert haben, dass diese der Hilfe einfach weniger bedürfen –wofür es bei einem unveränderten Pflegewahrscheinlichkeitsrisiko zumindest der vergangenen zehn Jahre keinen Anhaltspunkt gibt (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005) – sei dieser Rückgang, so auch die Autoren des Alterssurveys, vor allem auf die wachsenden modernisierungsbedingten Anforderungen an die Lebens- und Arbeitsgestaltung der jüngeren und mittleren Generation zurückzuführen. Also auf jene modernisierungsbedingten und veränderten Anforderungen in der Lebens- und Arbeitsgestaltung wie sie vorangehend ge241
schildert und herausgearbeitet wurden, insbesondere hinsichtlich einer Zunahme flexibilisierter und prekärer Arbeits (-zeit)verhältnisse, eines wachsenden Bedürfnisses nach, oder auch einen Zwang zur Mobilität usw. Familiale Solidarität meint im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung vor allem Solidarität im Generationenverhältnis. Eine der Voraussetzungen im Generationenverhältnis ist, dass „im menschlichen Lebenslauf Phasen der Autonomie und der Abhängigkeit abwechseln“ (vgl. Beck-Gernsheim 2000:85). Vor allem am Anfang und am Ende sei der Mensch auf Unterstützung durch andere Personen angewiesen. Dabei sei der Ausdruck „andere Person“, so Beck Gernsheim (vgl. ebenda), in der Praxis keineswegs geschlechtsneutral, denn in unserer Gesellschaft seien es überwiegend die Frauen, die Unterstützungsaufgaben im Generationenverhältnis übernehmen, sie fungieren gleichsam als „heimliche Ressource“. Das heißt, in diesem Zusammenhang ist, wenn vom Generationenverhältnis die Rede ist, eben immer auch vom Geschlechterverhältnis zu reden. Denn so unhinterfragt das bürgerliche Familienmodell der 1950er und 1960er Jahre als Leitbild angestrebt und auch gelebt wurde, so verbreitet war auch die funktionale Binnendifferenzierung hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als ein Bestandteils dieses Familienmodells. Das „Gleichberechtigungsgesetz von 1957“, das nebenbei bemerkt diesen Namen wohl kaum zu Recht trägt, orientierte sich noch ganz am bürgerlichen Rollenverständnis. Demnach war eine Ehefrau nur dann „berechtigt erwerbstätig zu sein, soweit das mit den Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“ (§ 1356 I 2 BGB). Dass ein solches Rollenverständnis durchaus auch im Selbstverständnis der Bevölkerung verankert war, zeigt eine 1958 durchgeführte Untersuchung, wonach 55 Prozent der Männer und 61 Prozent der Frauen (!) in Westdeutschland ein Gesetz befürworteten, das Müttern von Kindern unter 10 Jahren die Erwerbsarbeit verbot. Nur 9 Prozent der Befragten hatten keine Bedenken gegen eine Erwerbsbeteiligung von Müttern (vgl. Peuckert 2004:260). Erst mit dem „1. Ehereformgesetz von 1976“ wurde nur noch der äußere Rahmen der Ehe abgesteckt und damit auch der „offizielle“ Abschied vom Leitbild der Hausfrauenehe eingeleitet. Den Eheleuten wurden von Seiten des Gesetzgebers nun keine nach Sphären (BerufFamilie) getrennten Rollen mehr zugeordnet. Der tief greifende Wandel der weiblichen Normalbiographie, wie er in den vergangenen Jahrzehnten durch Veränderungen in Bildung, Beruf, Familienzyklen und Rechtssystem in Gang gesetzt wurde, berührt demnach also auch jene „heimliche Ressource“, auf der das Generationenverhältnis in alltagspraktischer Hinsicht über lange Zeit hinweg beruhte, und auf die es auch aufbauen konnte. Doch mit dem Wandel der weiblichen Normalbiographie wird intergenerationale Solidarität zu einer offenen Frage: Wer soll diese leisten? Das heißt, wer kümmert sich am Anfang, und in unserem Falle vor allem am Ende eines Lebens, um abhängige Familienangehörige? 242
Nach Beck-Gernsheim (2000:109) „wird die Zukunft des Generationenvertrags davon abhängen, ob es gelingt, das Geschlechterverhältnis neu zu gestalten“. Mit anderen Worten: Mehr Familienarbeit für Männer. Konnte diese Forderung vor einigen Jahrzehnten noch als revolutionär gelten, hat sich hier in den letzten Jahren zumindest bei den Jüngeren doch ein erheblicher Einstellungswandel vollzogen. So stimmten im Jahr 2004 nur noch 22 Prozent der unter 30-Jährigen einer traditionellen Arbeitsteilung zu (vgl. Datenreport 2006:519ff). Ob sich dieser Einstellungswandel, der mittlerweile durchaus als öffentlich legitimiertes Leitbild gelten kann, jedoch auch in der Praxis zeigt oder zunehmend zeigen wird, ist eine andere Frage. Doch ob und wer in welchem Maße in familialen Generationenverhältnissen welche Funktion solidarisch wahrnimmt, ist nicht nur eine Frage des Geschlechts bzw. der Geschlechtergerechtigkeit. Denn bevor überhaupt ausgehandelt wird, wer unter den komplexen Anforderungen und Belastungen moderner Arbeits- und Lebensbedingungen – von denen bei einer geschlechtergerechten Aufteilung dann eben auch beide Geschlechter betroffen sind – Familienarbeit, im Konkreten informelle Pflegetätigkeiten übernimmt, muss unter den Bedingungen zunehmend unübersichtlicherer Beziehungs- und Verwandtschaftsstrukturen u. U. erst einmal geklärt bzw. individuelle entschieden werden. Wem soll die Solidarität und mit welcher Priorität überhaupt gelten? Denn je mehr Heirats- und Scheidungsketten, Fortsetzungsehen, Mehr-ElternFamilien usw., sprich Patchworkfamilien, zur Normalität werden, desto unklarer werden die alten Solidaritäts- und Loyalitätsregeln. Auch wenn die so genannte Normalfamilie sicherlich häufig kein Ort allseitiger und fortwährender Zuneigung und Gefühlsbindungen war, so war in der Regel doch klar, wer zur Familie gehörte, dass man zusammengehörte und wer füreinander verantwortlich war und dass Gefühle, wenn sie auch nicht da waren, so doch sein sollten. Je komplexer die familialen biologischen und/oder sozialen Beziehungsnetze werden, desto mehr wird jedoch das, was einst weitgehend auf freiwilliger oder auch unfreiwilliger gegenseitiger Verpflichtung beruhte, zur individuellen Entscheidungsfreiheit. „Management der Gefühle und Bindungen in komplexen sozialen Netzwerken“ nennt dies Beck Gernsheim (vgl. 2000:52ff). Und entsprechende Beispiel lassen sich in Bezug auf die informelle Pflegetätigkeit unschwer finden: Wem werden sich Scheidungskinder im Bedarfsfall der Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit mehr verpflichtet fühlen, dem biologischen oder dem sozialen Elternteil. Soll oder muss man beide pflegen, auch wenn bspw. der biologische Elternteil schon früh aus dem eigenen Leben trat und der Stiefelternteil erst spät in dieses trat? Und wem gilt jeweils der Vorrang? Sollen geschiedene Frauen oder Männer ihre langjährigen Ex-Schwiegereltern, die möglicherweise einst eine große Hilfe bei der Kindererziehung waren und die heute das Studium ihrer Enkel bezahlen, noch pflegen? Ist er/sie diesen ehemaligen Schwieger243
eltern, die ja eben immerhin noch die Großeltern der eigenen Kinder sind, vielleicht mehr verpflichtet als den neuen Schwiegereltern, die u. U. ebenso pflegebedürftig sind, die aber erst seit kurzer Zeit zur Familie gehören? Sollen Enkel ihre biologischen Großeltern, die sie aufgrund früher Scheidung der Eltern vielleicht kaum kennen gelernt haben ebenso unterstützen wie die langjährigen Stiefgroßeltern? Und was ist, wenn Stiefgroßeltern zusätzlich noch biologische Enkel haben, liegt dann die Verpflichtung vielleicht doch eher bei diesen Enkeln, zumal wenn u. U. absehbar ist, dass das Erbe unterschiedlich zwischen biologischen Enkeln und Stiefenkeln aufgeteilt wird? Ist man der pflegebedürftigen Mutter oder dem pflegebedürftigen Vater des/der Lebensgefährt/in vielleicht weniger oder doch genauso verpflichtet als wenn man verheiratet wäre? Und wenn (erneut) eheliche oder aber vor allem uneheliche Lebenspartnerschaften im fortgeschrittenen Alter eingegangen werden, werden sich die neuen Partner im Falle von Pflegebedürftigkeit genauso umeinander kümmern, als wenn diese bereits seit Jahrzehnten verheiratet wären? Soll oder muss man auch noch die dritte Ehefrau oder die Lebensgefährtin des verstorbenen Vaters pflegen, wenn diese keine eigenen Kinder hat? Und so weiter und so fort. Sicher, diejenigen, die ca. in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten in das Alter einer erhöhten Pflegewahrscheinlichkeit kommen werden, werden selbst – im Gegensatz zu ihren Kindern – noch weitgehend den Merkmalen eines traditionellen Familienmodells entsprechen. Entsprechend ist damit zu rechnen, dass die informelle Pflege innerhalb langjähriger ehelicher Partnerschaften (in einem gemeinsamen Haushalt) in den nächsten Jahren nicht nur zunehmen, sondern auch (noch) weitgehend entlang der traditionellen, eher auf selbstverständlicher Verpflichtung beruhender Solidaritäts- und Loyalitätsregeln beruhen wird. Doch die Kinder derjenigen, die mittelfristig die Gruppe der Hilfe- und Pflegebedürftigen dominieren werden, werden – auch wenn die Unterscheidung zwischen biologischen und sozialen Eltern und Großeltern aus Sicht dieser Kinder hier noch kein bedeutsames Ausmaß erreichen wird – aufgrund der strukturellen Wandlungsprozesse seit der Generation der so genannten Babyboomer bereits kurzfristig immer häufiger individuell entscheiden müssen, ob die informellen solidarischen Hilfeleistungen bspw. eher den aktuellen oder den ehemaligen Schwiegereltern gelten soll oder wie hoch die Verpflichtung eigentlich ist, die Eltern der/des (neuen) Lebensgefährten/in zu pflegen usw. Und so ist bereits heute abzusehen, dass die individuellen Herausforderungen, die sich entlang dieser so genannten „neuen Solidaritätsregeln“ stellen, zunehmend zu einer weit verbreiteten und zwei Generationen in vollem Umfang umfassenden Herausforderung werden; spätestens dann, wenn die Vertreter der Babyboomer-Generation selbst in das hilfe- und pflegebedürftige Alter kommen werden. Kurzfristig ist bereits abzusehen, dass die deutliche Zunahme der Ehescheidungen (zunehmend auch 244
nach langjährigen Ehen), die sinkende Wiederverheiratungsquote, der Anstieg der Ledigenquote sowie der nichtehelichen Partnerschaften, verstärkt Auswirkungen auf die Frage haben wird, ob aus Sicht des informellen (Kinder-) Pflegepotentials der für die Übernahme eines informellen Pflegearrangements fast schon unabdingbare Umstand gegeben ist, dass im Falle informeller Pflegeunterstützung auf ein übriges Familieneinkommen zurückgegriffen werden kann, um im Bedarfsfall die eigene Erwerbstätigkeit einzuschränken oder gar ganz aufgeben zu können (vgl. u. a. Backes 1998; Schneider et al. 2001). Aufgrund der vor allem soeben genannten strukturellen Wandlungsprozesse der vergangenen ca. drei Jahrzehnte muss jedoch davon ausgegangen werden, dass dies im Vergleich zur vorangegangen Generation derer, die bislang überwiegend das informelle Pflegepotential stellten, immer weniger der Fall sein wird. Doch selbst wenn informell pflegende Kinder in einer Beziehungskonstellation mit einem übrigen Familieneinkommen leben, so muss dieses übrige Einkommen darüber hinaus auch ausreichend, und nicht zuletzt auch „sicher“ sein. Aufgrund der Ausweitung des Niedriglohnsektors, von (unsicherer) Zeitarbeit, der Zunahme von Teilzeitarbeit (auch bei Männern) sowie befristeter Arbeitsverhältnisse; kurz, also aufgrund der Erosion der traditionellen Normalarbeitsverhältnisse und Normalerwerbsbiographien, dürfte auch dieser Umstand zunehmend weniger selbstverständlich gegeben sein. Zu bedenken ist auch, dass sich das Alter der Erstgeburt in den vergangenen Jahren deutlich nach hinter verschoben hat. Da viele Frauen heute ihr erstes Kind erst in einem Alter um oder ab 30 Jahren oder sogar noch später bekommen, dürfte auch die mögliche Doppelbelastung einerseits noch eigene Kinder im Haushalt zu haben, oder die noch kleinen Enkel zu betreuen, sowie andererseits gleichzeitig u. U. pflegebedürftige Eltern oder Schwiegereltern versorgen zu „müssen“, tendenziell eher anwachsen. Und je später Kinder geboren werden, in desto fortgeschrittenerem Alter werden Eltern, zumal dann wenn diese Kinder ein Studium aufnehmen oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, ihre Kinder noch finanziell unterstützen „müssen“. Sollten diese Eltern dann gleichzeitig noch mit der Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit konfrontiert sein, so werden in solchen Familien häufig nicht genügend finanzielle Ressourcen vorhanden sein, um ggf. auch in einem Alter bspw. zwischen 55 und 65 Jahren auf ein zweites Erwerbseinkommen zugunsten informeller Pflegetätigkeiten verzichten zu können. Erinnern wir an eine Aussage im Rahmen des 7. Familienberichts, wonach „die familiale Existenzsicherung am besten durch zwei am Arbeitsmarkt verankerte Personen gesichert ist …“ (vgl. 7. Familienbericht 20005:148). Und dies dürfte – aus sehr vielen verschiedenen Gründen – in wachsendem Maße immer häufiger auch bis ins höhere Lebensalter gelten.
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Allerdings werden künftig vermehrt auch Frauen, und insbesondere aber Männer, mit der Pflege ihrer Eltern konfrontiert sein, die selbst keine eigenen Kinder haben. Das heißt, und auch das ist eine Auswirkung des demographischen Wandlungsprozesses, der jedoch häufig übersehen wird, dass Menschen immer weniger Pflegeleistungen für Kinder erbringen müssen. Heißt dies jedoch, dass kinderlose Menschen deshalb umso besser oder umstandsloser die Pflege ihrer Eltern übernehmen können? Nun, sollten kinderlose Menschen wiederum keinen Lebens- oder Ehepartner haben, so dürfte sich jedoch auch hier die Übernahme einer zeitaufwendigen informellen Pflege äußerst schwierig gestalten (Stichwort: übriges fehlendes Familieneinkommen). Und auch wenn Kinderlose zwar keinen Ehe-, dafür aber einen Lebenspartner haben sollten, wobei dies selbstverständlich nicht nur für Kinderlose gilt, dann ist zu bedenken, dass Lebenspartnerschaften vor allem in rechtlicher Hinsicht jederzeit problemlos kündbar sind, so dass bei einer Trennung dann eben auch keinerlei rechtliche Absicherung oder Unterstützung in finanzieller Hinsicht besteht oder zu erwarten ist. Das heißt, für den Fall unehelicher Partnerschaften dürfte grundsätzlich die Überlegung gelten, ob für den Bedarfsfall, informelle Pflegeunterstützung leisten zu sollen, das Risiko eingegangen werden kann, auf ein eigenes, unabhängiges Einkommen aus Erwerbsarbeit ganz zu verzichten oder eine Erwerbsarbeit nur noch eingeschränkt wahrzunehmen (Stichwort: u. a. auch Alters-sicherung) Und im eben gar nicht mehr so besonderen Fall der Kinderlosen dürfte weiterhin die Überlegung eine Rolle spielen, dass diese von vornherein wissen, dass sie selbst im Alter vielleicht noch auf die Unterstützung von Geschwistern (zumeist im ähnlichen [hohen] Alter) oder auf die von Neffen oder Nichten zurückgreifen können, aber eben nicht auf Unterstützungsleistungen eigener Kinder, so dass hier aus durchaus rationalen Gründen ein im Vergleich zu Menschen mit Kindern noch erhöhtes Bedürfnis nach einer möglichst hohen finanziellen Alterssicherung unterstellt werden kann. Und dies heißt dann aber auch, dass auch bei kinderlosen Menschen, und ob sie nun einen Ehe- oder Lebenspartner haben oder nicht, nicht unbedingt damit zu rechnen ist, dass diese, sobald sie mit der informellen Pflege ihrer Eltern konfrontiert sind, sie ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der informellen Pflege frühzeitig beenden oder einschränken werden. Summa summarum: Auch wenn in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten die Gruppe der Hilfe- und Pflegebedürftigen, als die Eltern der so genannten „Babyboomer“, in erheblicher Ausprägung noch die Kennzeichen der Normalfamilie und des bürgerlichen Familienideals im Parsons‘schen Sinne aufweisen wird, so wäre es u. E. aus den dargelegten Gründen doch verfehlt, würde die Pflegeversicherung – im durchaus konkreten Sinn des Wortes – auch weiterhin damit rechnen, dass allein aufgrund dieses Umstands kein höherer Bedarf an privaten oder staatlichen Dienstleistungen resultieren wird (vgl. Dritter [2001] 246
und Fünfter [2005] Altenbericht der Bundesregierung; Enquete-Kommission 2002: Demographischer Wandel). Vielmehr würden wir an dieser Stelle gegen die einschlägigen Expertenberichte einwenden, dass hier der Fehler begangen wird, diese Rechnung ohne den Einbezug der erheblichen sozialstrukturellen Wandlungsprozesse in den Familien- und Beziehungsstrukturen derer Kinder aufzumachen. Und diese verkürzte Sichtweise wiegt vor allem dann umso schwerer, wenn über die veränderten Partnerschafts- und Familienkonstellationen des künftigen informellen Kinderpflegepotentials hinaus, ebenso ein Blick auf deren veränderte Anforderungen in den Lebens- und Arbeitsgestaltungen unterlassen wird. Doch es sind u. E. auch nicht nur diese beiden letztgenannten Faktoren, die darüber mitentscheiden werden, ob die subsidiäre Logik der Pflegeversicherung, und in diesem direkten Zusammenhang auch deren Konzeption als Teilversicherung für Teilleistungen aufrechterhalten werden kann, sondern es wären, wie in diesem Kapitel deutlich werden sollte, ein überaus komplexes Bündel an weiteren Einflussfaktoren zu benennen. In diesem Sinne sollen nachfolgend nun die wichtigsten Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels zusammengefasst werden: 4.6 Zusammenfassung Zunächst wurde die Frage danach gestellt, wie sich die Anzahl der Hilfe- und Pflegebedürftigen sowie die Ausprägung der Schwere der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit mittel- bis langfristig entwickeln wird. Hierüber kann zum einen der künftige Bedarf an informellen Pflegeleistungen abgeleitet werden als auch Informationen darüber gewonnen werden, ob und in welchem Maße sich die Belastungen für die informellen Pflegepersonen möglicherweise erhöhen werden. Obgleich, anders als bei langfristigen demographischen Prognosen über die Entwicklung der Gesamtbevölkerungszahl im Allgemeinen, diejenigen Faktoren, die auf die künftige Altersstrukturentwicklung einer Bevölkerung Einfluss nehmen werden, weitgehend bereits in der Vergangenheit liegen, und von daher bekannt sind, konnte oder vielmehr musste aufgezeigt werden, dass Einschätzungen darüber, wie sich die Anzahl der künftigen Anzahl der (alten und höchstaltrigen) Hilfe- und Pflegebedürftigen entwickeln wird, dennoch vor große Unsicherheiten gestellt sind. Hier können durchaus Extrempositionen aufeinander treffen. Das heißt, je nachdem welche Annahmen man vor allem hinsichtlich der künftigen Entwicklung von Mortalität und Morbidität unterlegt, wird sich die Anzahl der Hilfe- und Pflegebedürftigen, und auch die Ausprägung und die Dauer der Schwere einer Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, trotz einer recht sicheren Zunahme alter und höchstaltriger Bevölkerungsanteile, entweder kaum oder nur leicht 247
erhöhen oder aber beides auch drastische Steigerungen erfahren. Unterstellt man, dass die „Wahrheit“ irgendwo in der Mitte dieser beiden Positionen liegt, so wird man immer noch mit einer deutlichen und in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlichen Zunahme der Anzahl hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, und damit auch mit einem wachsenden Bedarf nach informellen, aber eben auch nach professionellen Hilfeleistungen im Bereich der häuslichen wie der stationären Pflege, rechnen müssen. Und insofern man unterstellt, dass vor allem aufgrund einer weiterhin steigenden Lebenserwartung die Gruppe der Höchstaltrigen deutlich anwachsen wird, so wird die informelle Pflege immer weniger von den Ehepartnern (im gleichen oder ähnlichen Alter) geleistet werden können, sondern es werden dann vorrangig deren Kinder, die dann eben auch schon im fortgeschrittenen Alter sind, gefragt sein. Im Weiteren wurde darauf aufmerksam gemacht, dass in einer regionalen Perspektive Altersstrukturverschiebungen in einer Bevölkerung nicht nur das Resultat der zurückliegenden Geburtenentwicklung oder der Entwicklung der Lebenserwartung sind, sondern, sofern in der Vergangenheit deutliche Binnenwanderungsbewegungen stattgefunden haben, und diese vorwiegend von Personen jüngeren und mittleren Lebensalters getragen wurden, ebenso das Resultat dieser Wanderungsbewegungen. Und dies hat zur Folge, dass das Verhältnis zwischen der Anzahl Hilfe- und Pflegebedürftiger einerseits und derjenigen, die im jüngeren oder mittleren Alter professionelle oder informelle Unterstützungsleistungen erbringen könnten, in den Regionen unterschiedlich verteilt ist. Dabei sind Wanderungsbewegungen vor allem bei jüngeren und mittleren Altersgruppen vorrangig als ökonomisch bedingt zu interpretieren. Das heißt, die Motivation zu wandern, ist in erster Linie von Arbeitsmarkt-, Lohnund Einkommensdisparitäten zwischen den Regionen abhängig. Und so wird künftig verstärkt nicht nur, aber vor allem in Ostdeutschland, mit einem wachsenden Problem der alten und älteren Bevölkerungsanteile zu rechnen sein, im Bedarfsfall einer Hilfe- und Pflegebedürftigkeit auf eigene Kinder – selbst wenn diese (statistisch gesehen) vorhanden sind – als informelles Pflegepotentials zurückgreifen zu können. Erstaunlicherweise hat sich die wissenschaftliche Forschung dieser abzusehenden Entwicklung bzw. Problemlage, insbesondere bezogen auf die neuen Bundesländer, bislang noch nicht oder zumindest nicht in der Weise angenommen, wie dies u. E. eigentlich notwendig wäre. Besonders die weitgehend ökonomisch bedingte unterschiedliche regionale Altersstrukturentwicklung und deren abzusehenden Auswirkungen auf die Sicherstellung der häuslichen Pflege durch informelle Hilfepersonen zeigt erneut, wie verkürzt die Sichtweise ist, Prognosen über die Entwicklung des informellen Hilfepotentials vorrangig und fast ausschließlich an nur wenigen Lebens- und Strukturmerkmalen der Hilfe- und Pflegebedürftigen festzumachen (Kinder/keine Kinder; Ehepartner/kein Ehepartner), ohne diese Merkmale darüber hinaus in einem umfas248
senderen gesellschaftlichen Zusammenhang zu interpretieren. Doch auch wenn es strukturell zu den Merkmalen einer Geburts- oder Alterskohorte gehört, jeweils Kinder und Ehepartner zu haben, so ist dies zwar eine notwendige, aber eben noch keine hinreichende Bedingung dafür, ob Ehepartner und Kinder eine häusliche informelle Pflege ggf. auch werden leisten können. Und so haben wir auch darauf verwiesen, dass nicht nur die unterschiedliche regionale ökonomische Entwicklung, und damit verbunden eine unterschiedliche Verteilung des Arbeitsplatzangebots, Auswirkungen auf die künftige Sicherstellung der informellen Pflege haben wird, sondern ebenso, und unabhängig von regionalen Gegebenheiten, auch die ökonomischen und modernisierungsbedingten Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsstrukturen im Allgemeinen. Hier muss vor allem auf die Erosion der Normalerwerbsverhältnisse und Normalerwerbsbiographien verwiesen werden. Weitgehend parallel zur Erosion der strukturellen und funktionalen Merkmale der so genannten Normalfamilie, des bürgerlichen Familienideals und der so genannten Ernährer- oder Hausfrauenehe, ist seit ca. Anfang der 1970 insbesondere die Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen deutlich angestiegen sowie seit ca. Mitte der 1980er Jahre auch die Anzahl und Verbreitung so genannter prekärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse, einschließlich eines tief greifenden arbeitszeitpolitischen Modellwechsels für beide Geschlechter. Und dies wird, so ist es u. E. mit hoher Wahrscheinlichkeit abzusehen, die Planungssicherheit für die familiale Haus- und Sorgearbeit, die gerade hinsichtlich der (langfristigen) Aufrechterhaltung eines informellen Pflegearrangements höchst voraussetzungsvoll ist, in den kommenden Jahren zunehmend beeinträchtigen. Insofern, bedingt durch die nicht bedarfsdeckende Konzeption der Pflegeversicherung, das Vorhandensein entsprechender ökonomischer Ressourcen der Hilfe- und Pflegebedürftigen eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, ob ein häusliches Pflegearrangement ggf. durch den Zukauf professioneller Pflegedienstleistungen unterstützt und aufrechterhalten werden kann, sind die Einkommens- und Vermögensverhältnisse älterer oder alter Menschen, aber darüber hinaus auch die der informell pflegenden Kinder, ein wesentlicher Faktor, der auf die Sicherstellung der häuslichen Pflege einwirkt. Obwohl nach der Statistik die älteren Bevölkerungsanteile unterdurchschnittlich von Armut betroffen sind, so ist doch darauf hinzuweisen, dass sich notwendige Zuzahlungen zur Unterstützung des häuslichen Pflegearrangements, über die vergleichsweise geringen finanziellen (Teil-)Leistungen der Pflegeversicherung hinaus, vor allem bei einer weiterhin ausbleibenden Dynamisierung dieser Leistungen, leicht in einer Höhe bewegen können, die selbst Pflegehaushalte mit überdurchschnittlichen Einkommen und Vermögen schnell an ihre finanziellen Grenzen bringen können, zumal festzustellen ist, dass die Prävalenz von Hilfeund Pflegebedürftigkeit sozial unterschiedlich verteilt ist, d. h. von dieser sind 249
häufiger die unteren Einkommens- und Bildungsschichten betroffen. Auch ist eine Relativierung hinsichtlich der in der öffentlichen wie politischen Diskussion häufig gebrauchten Rede von den „reichen Alten“ anzumahnen. Denn unterdurchschnittlich „arm“ sind die älteren Bevölkerungsanteile vor allem gemessen an Bevölkerungsgruppen wie den Arbeitslosen oder den Alleinerziehenden. Und ein genauerer Blick auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Rentnerbevölkerung zeigt zum einen eine erheblich ungleiche Verteilung innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe und zum anderen, und dies ist logische Konsequenz dieser Ungleichverteilung, verhältnismäßig geringe Einkommensverhältnisse und Vermögensbestände bei einem größeren Teil der Rentnerbevölkerung. Betrachtet man die aktuellen Ausrichtungen und Entwicklungstendenzen der Renten- und Alterssicherungspolitik, so führt diese bereits heute de facto zu Rentenkürzungen, und damit zu Einkommensverlusten bei den Rentnern und, zumal in Verbindung mit den veränderten Erwerbs- und Berufsbiographien, zu einer durchaus drastisch zu nennenden Reduzierung der gesetzlichen Alterssicherung der heute noch Erwerbstätigen. Und so ist wohl anzunehmen, dass Erwerbstätige, die im mittleren oder auch bereits im fortgeschrittenen Alter sind, einerseits aufgrund der Auswirkungen erodierter Normalerwerbsverhältnisse, wie sie vorangehend beschrieben wurden, und andererseits – gerade auch im Hinblick auf die eigenen Altersabsicherung – immer weniger bereit und auch in der Lage sein werden, auf ein eigenes oder übriges Einkommen zugunsten einer informellen Pflegetätigkeit zu verzichten. Ganz abgesehen von weiteren Faktoren, die die Übernahme einer informellen Pflegetätigkeit eher unwahrscheinlicher machen, wie z. B. die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (für beide Geschlechter), ein verändertes Rollenverständnis zwischen Männern und Frauen sowie die zahlreichen und zuletzt beschriebenen Auswirkungen der strukturellen und funktionalen Wandlungsprozesse der Familien- und Beziehungskonstellationen der vergangenen Jahre. Und bei alledem sollte ein weiterer Aspekt nicht vergessen werden, der die Pflegeversicherung als subsidiäres Grundsicherungsmodell zukünftig immer mehr in Frage stellen könnte: Der Appell der Pflegeversicherung an eine „neue Kultur des Helfens“, also die Aufforderung an die Personen des engeren oder weiteren sozialen Nahbereichs („Sozialpolitik aus der Nähe“) informelle Pflege im häuslichen Bereich leisten zu sollen, geht wie selbstverständlich von der Annahme aus, dass dies ältere (hilfe- und pflegebedürftige) Menschen auch wollen. Doch sollte auch die Möglichkeit nicht außer Betracht gelassen werden, dass diese Grundannahme zukünftig in zunehmendem Maße an Selbstverständlichkeit verlieren wird. Und zwar deshalb, da den Hilfe – und Pflegebedürftigen nicht unterstellt werden sollte, sie wüssten nicht, wie voraussetzungsvoll die Übernahme einer informellen häuslichen Pflegetätigkeit ist. Unter der Annahme, dass 250
sich die äußeren Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, ein informelles Pflegearrangement übernehmen und u. U. auch langfristig aufrecht zu erhalten, bereits kurzfristig so verändern werden, dass hierfür vor allem aus der Perspektive des Kinderpflegepotentials ein immer höherer Preis zu zahlen ist – und hierfür gibt es, wie wir gesehen haben, viele gute Gründe – so ist es eben auch nicht auszuschließen, dass viele ältere Menschen im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zugunsten ihrer Kinder auf eine entsprechende Unterstützung von vornherein verzichten werden wollen. Auch vor dem Hintergrund dieses Szenarios, also diesmal aus der Perspektive der (künftigen) Hilfe- und Pflegebedürftigen selbst, ergibt sich allein aus dem Umstand, dass diese über eines oder mehrere Kinder werden „verfügen“ können, nicht zwangsläufig der Schluss, dass deshalb in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten nicht mit einem ansteigenden Bedarf an staatlichen Hilfeleistungen zu rechnen sein wird.
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5 Optionen für eine Reform der Pflegeversicherung
Auch wenn das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales in seinem „Bericht zur Entwicklung der Pflegeversicherung“ (vgl. Bundesregierung 2004) davon spricht, dass diese „weiterhin sehr große Akzeptanz in der Bevölkerung“ erfahre und „unbestreitbar ein Erfolg in der Geschichte der sozialen Absicherung“ sei, so sind die Zielverfehlungen in vielen Bereichen der Pflegeversicherung doch so evident (vgl. Kapitel 1.4), dass man durchaus bereits von Anfang an von einem „Theorieversagen bei den wesentlichsten Sicherungszielen“ (vgl. Dietz 2002:275) sprechen kann. Entsprechend gilt das „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“ (SGBXI) bereits seit mehreren Jahren weithin unwidersprochen als dringend reformbedürftig. Im Großen und Ganzen lässt sich die aktuelle Reformdebatte um die Absicherung des Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit entlang der folgenden drei Dimensionen systematisieren: 1. 2. 3.
die Dimension der Leistungsausweitung die Dimension der Versorgungssteuerung die Dimension der Finanzierung
Im Kontext um (1) die Dimension der Leistungsausweitung zählen insbesondere eine Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zur besseren Bewertung der (besonderen) Bedarfslagen sowie die Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen zu den zentralen Stichwörtern. Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Pflegebedürftigkeit, wie er im SGB XI definiert ist, ausgesprochen eng ist. Hier werden primär körperbezogene Verrichtungen ins Zentrum gestellt, wobei bereits eine „erhebliche Pflegebedürftigkeit“ (Pflegestufe I) vorliegen muss, damit überhaupt Pflegeversicherungs-leistungen beantragt werden können. Dadurch werden a priori all diejenigen von Leistungen ausgeschlossen, bei denen ein täglicher oder mehrfach wöchentlicher Hilfebedarf zwar vorliegt, die nach sozialrechtlicher Definition jedoch nicht als mindestens „erheblich Pflegebedürftig“ gelten. Nach Schätzungen handelt es sich hier immerhin um ca. 3 Millionen Menschen (vgl. Infratest-Sozialforschung 2003). Auch wird der Hilfebedarf bspw. von an Demenz Erkrankten oder Behinderte nicht erfasst bzw. deren Hilfebedarfe nur teilweise abgebildet. Denn: Je weiter 252
man damals bei der Konzeption der Pflegeversicherung den Begriff der Pflegebedürftigkeit gefasst hätte, desto zwingender hätte sich der leistungsberechtigte Personenkreis ausgeweitet. Und umgekehrt gilt: Je enger der Begriff der Pflegebedürftigkeit, desto weitreichender sind die Leistungsausschlüsse. Der enge, „gerichtsfeste“ Pflegedürftigkeitsbegriff im Rahmen der deutschen Pflegeversicherung entspricht insofern insgesamt der verfolgten Strategie der finanziellen Stabilitätsorientierung des Gesetzes, sprich der im deutschen Sozialversicherungssystem einzigartigen Einnahmeorientierung dieses Versicherungszweiges. Und so wird dem deutschen Konzept auch immer wieder vorgeworfen, dass es ein wirklichkeitsfremdes juristisches Konstrukt sei, um Pflegebedürftige von Leistungen auszuschließen. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen, wie sie von den Pflegewissenschaften verfolgt und angemahnt wird, wurde also bei der Formulierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs von vornherein explizit vermieden, was, wie bereits mehrfach dargelegt, zur Folge hat, dass das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung häufig am individuellen Bedarf der Betroffenen, also der Versicherten und ihrer Angehörigen vorbeigeht, indem bspw. Leistungen der allgemeinen Beaufsichtigung, der Kommunikation sowie der systematischen geistigen Aktivierung, insbesondere in der häuslichen Pflege, nur unzureichend berücksichtigt werden (vgl. Arbeiter-Samariter-Bund 2004; Robert-Koch-Institut 2004; Volkssolidarität 2005; Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe 2006). Eng verbunden mit dem (stabilitätsorientierten) Pflegebedürftigkeitsbegriff ist das System der Pflegestufen. Dadurch werden alle Aspekte der Pflege, wie bspw. das Feststellungsverfahren der Pflegebedürftigkeit, die Erstellung der Dienstleistung und die Überprüfung der Qualität, standardisiert und mit Zeitwerten versehen. Das (sozialrechtliche) Konstrukt der Pflegestufen gilt wiederum gleichzeitig als Grundlage für die Personalbemessung, die Qualitätserfordernisse sowie die Vergütungsstrukturen. Kurz: Alltagswirklichkeiten werden in Zeitkorridore gezwängt, Hilfebedürftigkeit in Minutenskalen dargestellt und Leben in Punkte umgerechnet (vgl. auch Skuban 2004). Dass der aktuell im SGB XI verankerte Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie das System der Pflegestufen eine ganzheitliche, bedarfsorientierte und damit auch menschenwürdige Pflege weitgehend ausschließt, darauf weisen in der aktuellen Reformdebatte vor allem die Pflegewissenschaften sowie die Erbringer der Pflegeleistungen hin. Ebenso zur Dimension der Leistungsausweitung im Rahmen einer angemahnten Reform der Pflegeversicherung zählt die bislang ausgebliebene Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen. Deren „Kaufkraftverlust“ wird mittlerweile auf ca. 15 Prozent geschätzt. Würde man auch künftig die allgemeine Preisentwicklung nicht an die Ausgaben anpassen, so würde dies die sozialversicherungsrechtliche Absicherung des Pflegerisikos vor erhebliche Legitima253
tionsprobleme stellen und deren gesamte Existenzberechtigung in Zweifel ziehen (vgl. Schmidt 2005). Mit anderen Worten: Eine Reform der Pflegeversicherung wird nicht umhin kommen, die Leistungen zu dynamisieren, um steigende Eigenbeteiligungen, und damit in letzter Konsequenz eine wachsende (erneute) Sozialhilfebedürftigkeit, wenn auch nicht zu vermeiden, so doch abzuschwächen. Die im Jahre 2003 unter großem Medieninteresse übergebenen Berichte der Herzog-Kommission (im Auftrag er damaligen Oppositionsführerin Angela Merkel) sowie der Rürup-Kommission (im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder), jeweils zur Vorschlagsunterbreitung einer Reform der sozialen Sicherungssysteme, kommen in diesem Sinne zu dem Ergebnis, dass eine Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen zukünftig zu gewährleisten sei. Die Herzog-Kommission befürwortet eine Dynamisierung der Leistungen, ohne dass eine genaue Höhe bzw. ein Verfahrung zur Berechnung genannt wird. Es wird lediglich festgestellt, dass eine über der allgemeinen Inflationsrate hinausgehende spezifische Kostensteigerung im Pflegebereich in Höhe von 1,5 Prozent angenommen wird. Der Dynamisierungsfaktor soll so gewählt sein, dass ein real konstantes Niveau der Pflegeleistung sicherzustellen ist. Der von der Rürup-Kommission unterbreitete Vorschlag sieht vor, die Leistungspauschalen der sozialen Pflegeversicherung ab 2005 in der Höhe des Durchschnitts aus Inflation und Lohnsteigerung zu dynamisieren. Auf Grundlage des Kommissionsszenarios, welches eine Inflationsrate in Höhe von 1,5 Prozent p. a. und eine Lohnsteigerung in Höhe von 3 Prozent p. a. beinhaltet, ergibt sich eine Anhebung der Leistung in Höhe von 2,25 Prozent pro Jahr. Die Kommission geht davon aus, dass die Lohnsteigerung im personalintensiven Pflegebereich ebenfalls 3 Prozent p. a. beträgt. Die Differenz zur Dynamisierung in Höhe von 2,25 Prozent p. a. könne innerhalb des Systems durch vorhandene Rationalisierungspotenziale erwirtschaftet werden. Trifft diese sehr optimistische Annahme jedoch nicht zu, so käme es erneut zu einer schleichenden realen Entwertung der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung. Im Rahmen um die Diskussion um die Dynamisierung von Pflegeversicherungsleistungen wird von einigen Experten (bspw. Rürup-Kommission, Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) auch die Angleichung der Pflegesätze für häusliche und stationäre Leistungen für sinnvoll erachtet. Das heißt, eine Absenkung der Beträge für die stationäre Pflege bei gleichzeitiger Anhebung der Beträge für die häusliche Pflege. Mit dieser Maßnahme soll die häusliche Pflege, mithin also der Grundsatz „ambulant vor stationär“, gestärkt werden und gleichzeitig, so die unterstellte Annahme, die bestehenden ökonomischen Anreizwirkungen zur stationären Pflege aufgrund der erheblichen Finanzierungsunterschiede vermieden werden. Hierzu muss man allerdings einwenden, dass eine radikale Absenkung der Zuzahlungen für die 254
stationäre Pflege auf das Niveau der ambulanten Pflege unweigerlich eine Ausweitung der Sozialhilfeabhängigkeit nach sich zöge81, was wiederum einem der zentralen Ziele der Einführung der Pflegeversicherung zuwider liefe, zumal dann, wenn man davon ausgeht, dass zukünftig die stationäre Inanspruchnahme noch stärker ansteigen wird als dies heute bereits der Fall ist, und was, aus den in dieser Arbeit dargelegten Gründen, durchaus bereits kurzfristig zu erwarten ist: Zum einen aufgrund eines überproportionalen Anstiegs der Höchstaltrigen in der Bevölkerung, und damit mutmaßlich auch der Schwere der Pflegebedürftigkeit, als auch aufgrund eines nachlassenden informellen Hilfepotentials für die häusliche Pflege. Auch scheint es durchaus fraglich, dass die bislang höheren Versicherungsleistungen für die stationäre Inanspruchnahme unweigerlich einen Anreiz setzt, diese auch in Anspruch zu nehmen, denn Umfragen zufolge möchte die Mehrheit der Pflegebedürftigen so lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung bleiben (vgl. Jacobs/ Drähter 2005). (2) die Dimension der Versorgungssteuerung impliziert insbesondere eine Verbesserung der Versorgungssteuerung mittels derer die Prävalenz von Pflegebedürftigkeit beeinflusst werden soll. Dass der gesetzliche Vorrang von Prävention und medizinischer Rehabilitation vor Pflege bislang gar nicht oder nur sehr mangelhaft umgesetzt wurde, darüber sind sich alle Beteiligten einig. Einigkeit besteht auch darüber, dass der Ausbau von Prävention und Rehabilitation nur dann gelingen kann, wenn die bislang vorhandene Interessendivergenz von Krankenversicherung und Pflegeversicherung (vgl. auch Kapitel 1.3.2) künftig vermieden wird. Hierzu sollten, so sieht es bspw. die Empfehlung der Enquete-Kommission Demographischer Wandel (2002) vor, vor allem die Schnittstellen zwischen SGB V und SGB XI durchlässiger gestaltet werden. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen geht noch einen Schritt weiter und empfiehlt in seinem Gutachten zur „Koordination und Qualität im Gesundheitswesen“ (vgl. SvR-Gesundheit 2005) die Integration von Krankenund Pflegeversicherung. (3) die Dimension der Finanzierung wird weitgehend durch volkswirtschaftliche Analysen geprägt und konzentriert sich vornehmlich auf die Neugestaltung der Einnahmeseite. Wie bereits dargelegt, „erwirtschaftet“ die Pflegeversicherung bereits seit dem sechsten Jahr ihres Bestehens steigende Defizite. Bereits im Jahr 2008 werden die finanziellen Reserven der Pflegeversicherung weitgehend aufgebraucht sein (vgl. BMGS 2005). Dies ist wesentlich zum einen darauf zurück81
Bereits gegenwärtig sind rund 50% der stationär versorgten Pflegebedürftigen – trotz Pflegeversicherung und mit ansteigender Tendenz – (nach wie vor) von Sozialhilfe abhängig (vgl. Skuban 2004).
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zuführen, dass das Konzept der Pflegeversicherung von Beginn an vielmehr politischer als versicherungstechnischer Logik folgte. Man verzichtete auf den Aufbau eines soliden Kapitalstocks, aus dem die künftigen Leistungen zu erbringen gewesen wären und gibt seither das Geld, das von den Lohnabhängigen und späteren Anspruchsberechtigten über Beiträge eingenommen wird sofort wieder für diejenigen aus, die noch nie oder nur sehr wenig in die Pflegekasse eingezahlt haben (vgl. Baureithel 2004). In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die Frage der Generationengerechtigkeit im System der Pflegeversicherung diskutiert. Und zum anderen teilt die Pflegeversicherung die Anfälligkeit aller Versicherungssysteme, die – im Sinne des so genannten Bismarck-Modells – an die Erwerbstätigkeit, zumeist eingegrenzt auf die abhängig Beschäftigten, gebunden ist. Das heißt, je geringer die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und je geringer die Löhne bzw. die Lohnzuwächse, desto schwieriger gestaltet sich die Einnahmeseite. Hinzu kommt, dass durch die bereits beschriebene und zu erwartende Altersstrukturentwicklung der Bevölkerung mit einem wachsenden Pflegebedarf, und damit auch mit einem wachsenden Finanzbedarf, zu rechnen sein wird, der, so der Sachverständigenrat Gesundheit, auch durch eine weitere Verbesserung der Gesundheit der nachrückenden Generation nicht wesentlich abgemildert werden kann (vgl. SvR-Gesundheit 2005). Die Vorschläge, die im Zuge der Reformdebatte der Pflegeversicherung zur Neugestaltung der Einnahmeseite diskutiert werden, sind bereits weithin aus der Diskussion um die Gesundheitsreform bekannt. Im Wesentlichen geht es dabei um die Kontroverse, das bisherige System im Prinzip beizubehalten versus die vollständige Umstellung auf ein Kapitaldeckungsverfahren. Denkbar sind hierbei auch verschiedene Zwischenformen, also bspw. umlagefinanzierte Sozialversicherung plus privater kapitalgedeckter Zusatzvorsorge. Das Für und Wider der jeweiligen Finanzierungsoptionen soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Eine entsprechende und kommentierte Übersicht über die Optionen einer Finanzierungsreform der Pflegeversicherung findet sich u a. bei Jacobs/ Drähter 2005, auch Rothgang 2004. Für jede der aufgeführten Dimensionen, die gegenwärtig in der Hauptsache die Debatte um eine Reform der Pflegeversicherung bestimmen, ließen sich, wie dies im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt wurde, noch zahlreiche weitere Aspekte finden, die jeweils im Sinne von Fehlentwicklungen und Mängeln sowohl qualitätssenkend als auch kostensteigernd wirken. Und so wäre vernünftigerweise davon auszugehen, dass eine Reform der Pflegeversicherung nicht darum herumkommen sollte, alle drei Dimensionen miteinander zu verschränken. Gleichwohl fällt bei der seit Sommer/Herbst 2003 geführten Diskussion um die Reform der Pflegeversicherung auf, dass diese drei Reformdimensionen eher 256
selten zusammenhängend erörtert werden. Hier scheinen sich jene Diskussionsprozesse und Konfliktlinien zu wiederholen, die wir bereits aus der langjährigen Debatte zur Absicherung des Pflegerisikos vor Einführung der Pflegeversicherung kennen (vgl. Kap. 1.2). Das heißt, vorwiegend sozialpolitisch bestimmte Reformabsichten konfligieren mit weitgehend finanzpolitisch bestimmten Absichten. Ohne Zweifel dominiert hier bislang die Reformdimension der neu zu gestaltenden Finanzierung der Pflegeversicherung (vgl. Jacobs/ Drähter 2005; Schmidt 2005). Wie auch immer, im Diskussionsprozess um die Pflegeversicherungsreform fällt noch ein weiteres auf: Von einer Reform der Pflegeversicherung, die sich in Richtung Bedarfsdeckung bewegt, ist, abgesehen von einigen wenigen Stimmen von Seiten der Leistungsanbieter, nicht die Rede. Kommen wir an dieser Stelle kurz auf den Begriff der Pflegebedürftigkeit zurück, so scheint es bspw. unrealistisch, dass dieser nennenswert, d. h. ohne die bisherige Fixierung auf die verrichtungsbezogene Pflege, ausgeweitet werden wird. Zu erwarten ist hier allenfalls eine „kleine Reform“, die bspw. bei der Begutachtung demenzbedingter Funktionsstörungen einen Zeitzuschlag von 30 Minuten vorsieht (vgl. Rothgang 2005). Und betrachten wir die Vorschläge von Herzog- und Rürup-Kommission zur Dynamisierung der Pflegeversicherungsleistungen, so geht es auch hier keineswegs darum, zum einen die bislang unterlassene Dynamisierung nachzuholen und zum anderen die künftige Dynamisierung der Leistungen so zu gestalten, dass hier mit einer Ausweitung von Pflegeversicherungsleistungen im Sinne eines ganzheitlicheren Versorgungsgeschehens zu rechnen wäre. Als Ziel wird allenfalls anvisiert, das Leistungsniveau nicht noch weiter abzusenken, d. h. die Versorgungsleistungen sollen zukünftig im weiteren Zeitverlauf durch eine gesetzlich verankerte Dynamisierung wenigstens auf heutigem Niveau konstant gehalten werden können. Ebenso geht es bei den Überlegungen zur Angleichung der Leistungen in den jeweiligen Pflegestufen (ambulant/stationär) nicht darum, die Leistungen jeweils auszuweiten, sondern darum, diese – eben durch Angleichung bzw. Umschichtung – gemessen am gegenwärtigen Leistungsniveau weitgehend „kostenneutral“ zu gestalten. Da das Prinzip der Pflegeversicherung als Teilkasko-Versicherung ohne Bedarfsdeckung also beibehalten werden soll, wird konsequenterweise auch der subsidiäre Vorrang der kostengünstig pflegenden Angehörigen in der gegenwärtigen Reformdebatte nicht weiter in Frage gestellt. Dies verdeutlicht ganz explizit ein Blick auf den Passus zur Pflegeversicherung im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (2005:107). Dort heißt es: „Eigenverantwortung und Eigeninitiative müssen gestärkt werden und Solidarität ist nicht nur innerhalb der einzelnen Generationen, sondern auch zwischen den Generationen gefordert. Dabei kommt der Bereitschaft zur Selbsthilfe und zum ehrenamtlichen Engagement besondere Bedeutung zu“.
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Die Pflegeversicherung ist eine familienergänzende Versicherung und anderes ist wohl auch für die Zukunft nicht geplant. Dass es gleichwohl auch anders geht, zeigt das Beispiel der Pflegesicherung in den Niederlanden und Dänemark: Exkurs: Pflegesicherung in den Niederlanden und Dänemark Im Folgenden soll nun kurz das System der Pflegesicherung in den Niederlanden und Dänemark gestreift werden. Dabei greifen wir auf eine Untersuchung zur „Pflegesicherung in Europa“ von Skuban (2004) zurück. Das Ziel dieses Exkurses ist es nicht, die jeweiligen Pflegesicherungssysteme in Gänze darzustellen, sondern der Schwerpunkt soll darauf gerichtet sein, den Pflegebedürftigkeitsbegriff, die Höhe der Bedarfsdeckung sowie die Bedeutung des informellen Pflegepotentials in diesen Nachbarländern zu erläutern: (1) Das Pflegesicherungssystem in den Niederlanden Zunächst ist festzuhalten, dass bei genauerer Betrachtung in den Niederlanden kein eigenständiges Pflegeversicherungssystem existiert. Ein Gesetz zur Sicherung der Pflege (Algemente Wet Bijzondere Ziektenkosten [AWBZ] – Das allgemeine Gesetz gegen besondere Krankheitskosten) wurde gleichwohl bereits im Jahre 1967 als Teil des niederländischen Krankenversicherungssystems verabschiedet. Dabei geht die Absicherung der Pflegebedürftigkeit in den Niederlanden in relevanten Kriterien vollkommen andere Wege als in Deutschland: Bei der Finanzierung, dem erfassten Personenkreis, dem Leistungskatalog sowie der sozialrechtlichen Einordnung. Die Finanzierung des AWBZ erfolgt über einkommensabhängige Beiträge, die allein von den Versicherten aufzubringen sind, wobei anzumerken ist, dass auch in Deutschland die Pflegeversicherungsleistungen durch die Streichung eines gesetzlichen Feiertages de facto von den Versicherten alleine getragen werden. Zur Bemessungsgrundlage gehören, ebenso wie in Dänemark, alle steuerpflichtigen Einkommen bis zu Beitragsbemessungsgrenze. Insofern ist das beitragspflichtige Aufkommen sehr viel breiter als in Deutschland, erfasst es doch alle Einkunftsarten. Der leistungsberechtigte Personenkreis ist dabei nicht an einen bestimmten Erwerbsstatus gebunden, sondern umfasst – analog zum dänischen Modell – alle steuerpflichtigen Einwohner der Niederlande. Im Jahre 1999 wurden für den Pflegesektor rund 15.600 Euro pro pflegebedürftige Person ausgegeben, in Deutschland lediglich 9.800 Euro (1997). Gleichwohl deckt das niederländische System ebenso wie in Deutschland nicht 100 Prozent der Lei258
stungen ab. Ein Teil ist von den Pflegebedürftigen einkommensabhängig (in Deutschland einkommensunabhängig) selbst zu tragen. Die durchschnittliche monatliche Eigenbeteiligung beträgt bei Heimunterbringung ca. 11 Prozent der Gesamtkosten, rund 367 Euro/Monat. Zum Vergleich, in Deutschland sind bei Heimunterbringung (Pflegestufe III) durchschnittlich 50 Prozent selbst zu tragen, rund 1500 Euro/Monat. Im ambulanten Sektor beträgt der Deckungsgrad des AWBZ etwa 85 Prozent, die durchschnittliche Eigenbeteiligung beträgt hier rund 424 Euro. Insgesamt müssen die Einwohner der Niederlande durch den relativ hohen Deckungsgrad weitaus weniger an Eigenleistungen erbringen, was dazu führt, „dass die Abhängigkeit von Sozialhilfe als Folge von Pflegebedarf unter allen Umständen vermieden wird“. Allerdings um den Preis, dass wohlhabende niederländische Pflegebedürftige – anders als in Deutschland – höhere und teilweise ganz erhebliche Eigenleistungen aufzubringen haben. Anders als der restriktiv „gedeckelte“ Leistungskatalog in Deutschland ist der des AWBZ sehr umfangreich. Der Katalog beinhaltet Leistungen aus den Bereichen Kranken- und Altenpflege, der Behindertenversorgung sowie rehabilitative und präventive Maßnahmen. Hier zeigt sich vor allem das unterschiedliche Grundverständnis zwischen dem niederländischen und dem deutschen System. Das niederländische System ist insgesamt ganzheitlicher angelegt, da es keine scharfe definitorische und sozialrechtliche Trennung zwischen Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit vornimmt. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist der Anteil der Bevölkerung, welcher professionelle Pflegedienstleistungen im institutionalisierten System erhält, um ca. 50 Prozent höher als in Deutschland, was jedoch nicht bedeutet, dass Niederländer im Durchschnitt pflegebedürftiger sind als Deutsche, der Kreis der für Leistungen in Frage kommenden Personen ist allerdings größer als in Deutschland. Dadurch werden im niederländischen System auch Vorstufen der Pflegebedürftigkeit besser erfasst, die Leistungen setzen nicht erst ein, wenn bereits ein gewisser Schweregrad an Pflegebedürftigkeit („erhebliche Pflegebedürftigkeit“, Pflegestufe I) vorliegt. Insofern ist das AWBZ der Grundtendenz nach, anders als in Deutschland, kein „reaktives“, sondern in stärkerem Maße ein präventives Gesetz. (2) Das Pflegesicherungssystem in Dänemark Die Finanzierung der Pflegeleistungen erfolgt, wie fast alle anderen Sozialleistungen auch, aus Steuermitteln, die dem Zentralstaat, den Regionen sowie den Gemeinden zufließen. Die Höhe der maximal zu entrichtenden Steuern wird jährlich zwischen Regierung, Regionalrat und Gemeinderat vereinbart, wobei die einzelnen staatlichen Ebenen ihre Steuern autonom erheben. Das heißt, von Ge259
meinde zu Gemeinde und von Region zu Region können die zu entrichtenden Steuern variieren und mithin aber auch die Leistungen, die von den Ländern und Gemeinden im Falle von Pflegebedürftigkeit gewährt werden. Allerdings sorgt ein jährlicher Finanzausgleich zwischen den Ländern und Gemeinden für eine Kompensation größerer Unterschiede in der sozialen Struktur. Gesetzliche Grundlage für das Pflegesystem Dänemarks ist zum einen das so genannte Sozialfürsorgegesetz (Lov om sociale bistand) sowie das Gesetz über häusliche Krankenpflege (Lov om hjemmesygeplejerskeordninger), welches häusliche, teilstationäre und stationäre Leistungen gewährt. Einen formalen Pflegebedürftigkeitsbegriff wie in Deutschland kennen die Dänen nicht, und ebenso wie die Niederländer trennen sie nicht Krankheit und Pflegebedürftigkeit im Sinne einer formellen sozialrechtlichen Konstruktion. Eine gewisse Trennung findet allerdings insofern statt, als die Gemeinden für die Pflegeleistungen zuständig sind, für die medizinische Versorgung sind es indes die Regionen. Das Sozialfürsorgegesetz formuliert in sehr allgemeiner Art Ziele der pflegerischen Versorgung. Auffallend ist die breite und ganzheitliche Zielsetzung, die den Menschen nicht nur als körperliches, sondern auch als individuellgeistiges und soziales Wesen in den Dimensionen von Aktivität und Partizipation erfasst. Ein national vorgegebener Leistungskatalog besteht nicht, sowohl bei der Ausgestaltung der häuslichen wie der stationären Pflege haben die Gemeinden dafür Sorge zu tragen, dass pflegebedürftige Personen bedarfsgerechte Pflege erhalten. Hier finden wir also einen diametralen Gegensatz zum deutschen System vor, das bis ins Detail versucht, den Pflegebedarf systematisch, d. h. nach Minutenskalen zu bemessen und den Pflegebedürftigen in ein standardisiertes und obendrein budgetiertes Leistungssystem einzuordnen. Häusliche Pflege kann in Dänemark sowohl befristet als auch auf Dauer gewährt werden, in der Regel erbringen Gemeindearbeiter die Leistungen, wenngleich einige Gemeinden auch private Dienstleister beauftragen. Für die befristete häusliche Pflege sind einkommensabhängige Zuschläge zu bezahlen, die Dauerpflege wird hingegen kostenlos zu Verfügung gestellt. Diese kann im professionalisierten System auch eine „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ bei Schwerstpflegebedürftigkeit umfassen. Der Leistungsumfang kann bspw. Hilfen beim Einkaufen, bei der Pflege der Kleidung und selbst Gartenarbeit usw. umfassen. Ebenso gehören zu den weitergehenden Betreuungsleistungen die Begleitung zu Arztbesuchen, bei Behördengängen, Bankbesuchen u. ä. Daran wird deutlich, dass die pflegerische Versorgung in Dänemark fast ausschließlich von professionellen Diensten geleistet wird.82 Damit gehört Dänemark zusammen mit Schweden und den Niederlanden zu den am stärksten institutionalisierten Pflegesystemen in Europa, entsprechend 82
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Mit etwa 17.060 Euro pro Person stellt das institutionalisierte Pflegesicherungsarrangement Dänemarks sogar mehr Geld zur Verfügung als die Niederlande.
sind Angehörige nur in einem sehr geringen Maße pflegende Angehörige, sie sind vor allem „Logistiker“ der Pflegebedürftigen, die vor allem damit befasst sind, die Pflegebedürftigen bei der Suche nach geeigneten professionellen Diensten zu unterstützen. Sicher, auch die Pflegesicherung in den Niederlanden und in Dänemark weißt Schwachstellen auf: So besteht in den Niederlanden anders als in Deutschland bspw. kein gesetzlicher Anspruch darauf, als Leistungsanbieter auf den Markt zu gehen. Zur Erbringung der professionellen Pflegeleistung bedarf es der staatlichen Zulassung. Ausschlaggebend ist die jeweilige regionale Bedarfslage, der Zentralstaat steuert so die pflegerische Infrastruktur, wodurch die Pflegesteuerung auch einer gewissen „Willkür“ unterliegt. Das niederländische Pflegesystem kann derzeit nicht alle Hilfebedürftigen mit Pflegeleistungen versorgen, rund acht Prozent der Pflegebedürftigen sind auf Wartelisten registriert. Im dezentralen dänischen System führt die Autonomie der Gemeinden bei der Erbringung von Pflegeleistungen dazu, dass es je nach Gemeinde zu großen Variationen hinsichtlich der Qualität als auch des Niveaus von Pflegeleistungen kommen kann, wobei man allerdings versucht, diese Gefahr durch einen Finanzausgleich abzumildern. Insgesamt mag es durchaus so sein, dass auch in den Niederlanden und in Dänemark die formale Wirklichkeit des Gesetzes zur sozialen Wirklichkeit – ebenso wie in Deutschland – erhebliche Divergenzen aufweist. Dies können wir an dieser Stelle leider nicht beurteilen. Prinzipiell ist allerdings zu konstatieren, dass in beiden Ländern der Pflegebedürftigkeitsbegriff sehr viel weiter gefasst ist als in Deutschland, die in Deutschland sozialrechtliche Trennung zwischen Kranken- und Pflegebehandlung wird weitgehend vermieden, der Kreis der Anspruchsberechtigten ist größer, die Leistungen sind weitgehender und das Maß der Bedarfsdeckung insgesamt beträchtlich höher.83 Sofern Bedarfe, wie in den Niederlanden oder bei befristeter Pflege in Dänemark aus Eigenmitteln zu decken sind, so richten sich diese Zuzahlungen jeweils nach den Einkommen der Pflegebedürftigen. Hier zeigt sich also ein gänzlich anderes Grundverständnis zwischen dem deutschen Pflegesystem und den Systemen seiner beiden Nachbarländer. Das heißt, vor allem weisen sowohl das niederländische als auch das dänische System jeweils über den Modus der Steuerfinanzierung, der Dominanz des Bedarfs- über das Budgetprinzip sowie, sofern sie überhaupt zu entrichten sind, der einkommensabhängigen Zuzahlungen, ein höheres Solidaritätsmoment auf als das deutsche System. Entsprechend dominiert der Solidaritäts- über dem 83
Auch die japanische Pflegeversicherung unterscheidet sich, trotz einiger Ähnlichkeiten zum deutschen System, in signifikanten Punkten von diesem: So gibt es in der japanischen Pflegeversicherung fünf Pflegestufen und das Leistungsniveau deckt immerhin 90 Prozent der Pflegekosten ab. Die Leistungen werden je zur Hälfte aus Beitrags- und Steuermitteln bestritten, Geldleistungen sind nicht vorgesehen (vgl. Campbell 2002, zit. nach Skuban 2004:157).
261
Subsidiaritätsgedanken. In beiden Ländern wird kein vergleichbares familiäres Engagement gefordert, obgleich auch hier unbedingt der Vorrang der häuslichen Pflege, und durchaus auch aus ökonomischen Erwägungen, gilt. Dennoch, in diesem Zusammenhang sucht man normative Aufforderungen an die privaten Solidarpotentiale, informelle häusliche Pflege im Sinne einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ nach dem Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“ leisten zu sollen, wie es zum „Manifest der deutschen Pflegeversicherung“ (vgl. Dietz 2002:39) gehört, vergebens. Weder das niederländische noch das dänische Pflegesystem erwartet von den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen ggf. bis an die Grenzen ihrer finanziellen, physischen und psychischen Erschöpfung zu gehen.
262
6 Schlussbemerkung
Zum Kernprinzip der deutschen Pflegeversicherung gehört, wie in allen anderen europäischen Ländern auch, die unbedingte Vorrangstellung der häuslichen Pflege (vgl. Skuban 2004). Dagegen gibt es nichts einzuwenden, denn es ist in der Tat davon auszugehen, dass es dem Wunsch der meisten Menschen entspricht, im Falle von Pflegebedürftigkeit ein Leben zu Hause und in der vertrauten Umgebung führen zu können. Und dies gilt sicherlich nicht nur für diejenigen, die gegenwärtig hilfe- und pflegebedürftig sind, sondern wohl auch für diejenigen, die es in der Zukunft sein werden. Anders als beispielsweise in der Gesetzlichen Krankenversicherung, die dem Prinzip nach immer noch dem Bedarfsdeckungsprinzip folgt, und anders als in manchen anderen europäischen Ländern, hat der deutsche Gesetzgeber bei der „Absicherung“ des allgemeinen Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit von vornherein jedoch keine bedarfsdeckenden oder auch nur annähernd bedarfsdeckenden Leistungen vorgesehen. Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen, einem engen stabilitätsorientierten und „gerichtsfesten“ Pflegebedürftigkeitsbegriff folgend, im Sinne einer „Sozialpolitik aus der Nähe“ (Norbert Blüm) nach dem Leitbild einer „neuen Kultur des Helfens“ (§ 8 SGBXI) lediglich die „familiären, nachbarschaftlichen und sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung (ergänzen)“ (§ 4 SGBXI). In diesem Sinne verknüpft das deutsche Pflege(ver-) sicherungssystem den „Vorrang der häuslichen Pflege“ (§ 3 SGBXI) eng mit dem Subsidiaritätsgedanken, dem gleichsam Vorrang vor dem Solidaritätsgedanken eingeräumt wird. Dies bedeutet für die Betroffenen Hilfe- und Pflegebedürftigen zweierlei: Wer im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit (bedarfsdeckende und/oder bedarfsgerechte) Hilfen benötigt, die über vorwiegend körperbezogene Verrichtungen hinausgehen, und die nach einem minutengenauen Abrechnungssystem nach Punkten definiert und geplant werden, der ist eben auf jene im Gesetz angemahnte „neue Kultur des Helfens“ (informell pflegende Angehörige) angewiesen und/oder auf eigene finanzielle Ressourcen, die es ermöglichen, weitergehende Hilfen durch teilweise erhebliche einkommensunabhängige Zuzahlungen hinzukaufen zu können.84 Dies wird auch 84
Am Rande bemerkt: Das deutsche Pflegeversicherungssystem drängt dadurch geradezu zur Schaffung eines wachsenden Schwarzmarkts im Bereich der Pflege. Wer keine (ausreichende) informelle Hilfe erhält oder erhalten kann und wer sich diese dann nicht durch entsprechende Zuzahlungen (Eigenverantwortung) auf dem legalen Markt hinzukaufen kann, der greift auf die
263
eine künftig möglicherweise gesetzlich verankerte Dynamisierung von Pflegeversicherungsleistungen nicht ändern, denn am subsidiären EigenleistungsGrundprinzip ändert dies nichts. Aus dem Blickwinkel des Gesetzgebers stellt das lediglich familienergänzende Teilkasko-Pflegeversicherungsmodell in diesem Sinne jedoch eine „innovative“ Neuvermessung der Verantwortungsräume einer Aufgabenteilung zwischen Staat, Markt und Gesellschaft dar. Immerhin, das Subsidiaritätsprinzip hat im deutschen Wohlfahrtsstaat zweifelsohne Tradition. Und so gilt eben auch die Familie – als die kleinste subsidiäre Einheit – traditionell als die „Basis der individuellen Wohlfahrtsproduktion“ (vgl. Schäfers 2002:127) zur „Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität“ (vgl. Glatzer 1998:180) – der Staat hat hier nur nachgeordnete Funktion. Diese Tradition einer subsidiär ausgerichteten Kultur des privaten Helfens der kleinsten Einheit wird in den verschiedenen Reformperspektiven eines zu modernisierenden Sozialstaats, wie dies im Laufe der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wurde, nicht nur reaktiviert, sondern dort (erneut) mit verstärktem Nachdruck vertreten. Beispielsweise in Form einer Neuen Subsidiarität, im Gewand kommunitaristischer Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie, als moderner Wohlfahrtspluralismus oder auch innerhalb des Konzepts des Aktivierenden Staates: Eigen- und Selbsthilfeverantwortung und die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement gehören zu den grundlegenden Vokabeln jener wohlfahrtstheoretischen Sozialstaats- und Gesellschaftsentwürfe. Seit der Sozialstaat zu reformieren sei, begleiten diese Begrifflichkeiten unübersehbar die zu reformierende Sozialpolitik auf mittlerweile allen Ebenen der sozialen Sicherung, gleichsam als kostengünstiger „Rettungsanker“ aus der so genannten Sozialstaatskrise. Es stellt sich jedoch durchaus die Frage, ob sich gerade im Bereich der Pflege mit „Eigenverantwortung“, „Eigeninitiative“, „Bereitschaft zur Selbsthilfe und zum bürgerschaftlichen Engagement“ (vgl. den Passus zur Pflegeversicherung im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien; 2005:107) das allgemeine Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit in einer zunehmend individualisierten, pluralisierten, beschleunigten und flexibilisierten Gesellschaft absichern lässt. Zumal, erinnern wir noch einmal kurz daran, die Übernahme und Aufrechterhaltung eines informellen Pflegearrangements überaus voraussetzungsvoll ist und beispielsweise der wöchentliche zeitliche Aufwand einer informellen Pflegetätigkeit bereits in der niedrigsten Pflegestufe durchschnittlich knapp 30 Stunden beträgt und selbst eine Teilzeitarbeit, anders als bei der Erziehung und Betreuung von Kleinkindern, für die meientsprechenden Angebotsstrukturen des Pflegeschwarzmarkts zurück. Dieser wird gegenwärtig durch zumeist nicht professionell ausgebildete und auf heimischem Lohnniveau bezahlte Pflegekräfte aus Osteuropa dominiert. Das heißt, wer sich den Gang ins Pflegeheim ersparen will, dem steht häufig genug nur noch der Gang in die Illegalität offen. Doch abgesehen davon, auch die „billigen“ Pflegekräfte aus Osteuropa muss man sich erst einmal leisten können.
264
sten dann kaum noch in Frage kommt. Der in der Konzeption der deutschen Pflegesicherung individualethisch aufgerüstete und reaktivierte Vorrang des Subsidiaritätsgedankens im Sinne von Eigenverantwortung und einer Bereitschaft zur Selbsthilfe (Subsidiarität als „Tätigkeitsprinzip“) mag sich als modern verstehen, die Gesellschaft, auf die das familienergänzende TeilkaskoPflegeversicherungs-modell damit trifft, ist es jedoch gleichwohl auch. Als sicher kann zunächst gelten, dass die informellen Solidarpotentiale in dem Maße, wie sie der Gesetzgeber im Sinne des Subsidiaritätsgedankens zu einem maßgeblichen Faktor der Wohlfahrtsproduktion, zur „Kalkulationsbasis“ bei der Absicherung des Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit, machte, diese seither ebenso zu einem „Kalkulationsrisiko“ avancieren. Denn wollen oder können die informell Pflegenden, d. h. im Eigentlichen, die Angehörigen des sozialen und räumlichen Nahbereichs der Hilfe- und Pflegebedürftigen, die voraussetzungsvolle informelle Pflegetätigkeit nicht (mehr) oder nicht ausreichend erbringen, so bedeutet dies sowohl für den Gesetzgeber als auch für die Hilfe- und Pflegebedürftigen ein erhebliches Risiko. Vor allem: Eine steigende Inanspruchnahme teurerer stationärer Leistungen und ein (erneuter) Anstieg der Sozialhilfeausgaben einerseits bzw. ein Anstieg der Eigenbeteiligung/Zuzahlung oder eine Verschlechterung der pflegerischen Versorgung andererseits. Mit anderen Worten: Ob jemand im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in der vertrauten Umgebung gepflegt werden kann und wie gut oder wie schlecht die pflegerische Versorgung dann für den jeweils Einzelnen ist, hängt in erheblichem Maße von dem ab, was wir in dieser Arbeit im Sinne von Kaufmann (1997) als die „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“ bezeichnet haben. In letzter Konsequenz bedeutet der Vorrang des Subsidiaritäts- vor dem Solidaritätsgedanken im System der deutschen Pflegeversicherung also, dass die Lebensqualität, die ein Mensch im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu erwarten hat, maßgeblich auch von den Unwägbarkeiten, Wechselfällen und Zufällen der je eigenen Lebensbiographie abhängt. Jeder ist seines Glückes Schmied, so heißt das alte Sprichwort. Eigenverantwortung – auf diesen kurzen Nenner bringt es das deutsche Pflegeversicherungssystem. Allein, ob jemand im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit auf eine, wie es der Gesetzgeber nennt, „neue Kultur des Helfens“ zurückgreifen kann, also auf Ehepartner und/oder Kinder und/oder auf ausreichende eigene finanzielle Ressourcen, um eine menschenwürdige Pflege in der vertrauten häuslichen Umgebung oder in einem „guten Pflegeheim“ zu gewährleisten, dies steht jedoch immer nur – und vielleicht immer weniger – in der begrenzten Macht des Einzelnen. Und nicht zuletzt: Die jeweils privaten Lebensumstände, also jene „Eigendynamiken des sozialen Nahbereichs“, werden selbstverständlich in einem nicht unerheblichen Maße wiederum von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen beeinflusst, die – auch in einer Demokratie – 265
nicht unbedingt immer im Einflussbereich des Einzelnen und z. T. auch immer weniger im Einflussbereich der Politik selbst liegen. Ein paar Beispiele: Auch Kinder, Ehepartner und Lebensgefährten können „vor ihrer Zeit“ sterben, ebenso Freunde oder Nachbarn, die ggf. zumindest einen Teil der Fürsorge erbracht hätten, die das minutengenaue Abrechnungssystem nach Punkten und die enge sozialrechtliche Definition von Pflegebedürftigkeit wohl selten zulässt. Oder: Ich habe mir immer Kinder gewünscht, aus biologischen Gründen war dies nicht möglich. Meine Tochter, mein Sohn würden mich pflegen, wechselnde Arbeitszeiten lassen dies jedoch nicht zu. Mein Kind, meine Kinder leben aus beruflichen Gründen nicht in unmittelbarer räumlicher Nähe. Der Mann meiner Tochter wurde arbeitslos oder kann nur noch in Teilzeit arbeiten, sie kann aus finanziellen Gründen nicht auf ihre Erwerbstätigkeit verzichten oder diese einschränken. Der Mann meiner Tochter arbeitet für eine Zeitarbeitsfirma, sie kann ihre sichere Arbeitsstelle nicht aufgeben, um mich zu pflegen. Ich habe immer gut verdient, wurde jedoch mit 50 Jahren arbeitslos und habe keine Beschäftigung mehr gefunden, die Rente reicht nun nicht mehr aus, um mir die eigentlich notwendigen Pflegeleistungen hinzukaufen zu können. Ich habe bei der privaten Altersvorsorge auf die falsche Anlage vertraut. Meine Tochter hat sich scheiden lassen, sie muss nun (Vollzeit) arbeiten, um ihren Lebensunterhalt und die eigene Altersvorsorge abzusichern. Meine Kinder müssen beide arbeiten, das Geld reicht sonst zu ihrem eignen Lebensunterhalt nicht aus, die Enkel studieren noch, brauchen finanzielle Unterstützung. Bei meinen Kindern wechselten Phasen von Arbeitslosigkeit, selbstständiger und geringfügiger Beschäftigung ab, sie müssen, obwohl mittlerweile selbst im Rentenalter, noch etwas hinzuverdienen, ihre freie Zeit ist beschränkt. Der Gesetzgeber hat das Renteneintrittsalter angehoben und das Rentenniveau abgesenkt, meine Kinder können auch nicht vorzeitig in den Ruhestand gehen, deren Rente würde sonst nicht ausreichen. Meine Kinder haben studiert, der Berufseinstieg war schwierig, sie haben dadurch erst sehr spät eigene Kinder bekommen, ich kann ihnen diese Doppelbelastung nicht zumuten. Mein Sohn hat nach der Scheidung eine neue Lebensgefährtin, ich kann kaum erwarten, dass diese, die ich kaum kenne, mich pflegt usw. usf. All dies hat mit Eigenverantwortung wenig zu tun. Der Einzelne kann ganz einfach (unverschuldet) Pech (gehabt) haben. Und es ist ganz und gar nicht auszuschließen, dass immer mehr Hilfe- und Pflegebedürftige in einer Lebensphase, die wie keine andere Lebensphase von Krankheit, dem Gedanken an den eigenen Tod und einer fast vollständigen Abhängigkeit von Anderen gekennzeichnet ist, eben dieses Pech „ganz einfach“ haben werden. Drücken wir es etwas wissenschaftlicher aus: Es steigt offenbar die Kontingenz sozialer Ungleichheit im Alter. Sozialstrukturanalytisch gewendet bedeutet dies, dass ungleichheitsstiftende soziale Faktoren zunehmend weniger und unsystematischer mit einander 266
zusammenhängen und insgesamt intransparenter werden. Es können eben „unglückliche“ und „glückliche“ Umstände vorliegen. Das heißt, auch die traditionellen Determinanten sozialer Ungleichheit im Alter, die sozialstrukturelle Differenzierung der Voraltersphase bspw. durch Bildung und Einkommen wird immer brüchiger: Liegt Kinderlosigkeit vor oder können die Kinder die Pflege nicht erbringen, arbeitet der Pflegedienst mit Qualitätsmängeln, rutschen auch Pflegebedürftige mit mittleren Einkommen bzw. Vermögen in Problemzonen ab, umgekehrt bestehen bessere Wohlfahrts(sicherungs)chancen für Personen, die zwar einkommensschwach sind, die aber ansonsten auf „günstigere“ Umstände treffen, bspw. auf langzeitarbeitslose Kinder im unmittelbaren räumlichen Umfeld (vgl. Bode 2004). Die genannten Beispiele ließen sich noch zahlreich fortsetzen und es lag in der Absicht dieser Arbeit, eben darauf hinzuweisen, wie vielfältig die Faktoren sind, die auf die Möglichkeit, eine informelle Pflegetätigkeit übernehmen zu können, einwirken (werden).85 Und dabei ist die Möglichkeit noch gar nicht angesprochen, dass die informellen Solidarpotentiale, die die „neu Kultur des Helfens“ übernehmen sollen, dies vielleicht immer weniger wollen, selbst dann wenn sie es könnten – aus welchen Gründen auch immer. Bislang, so ist zu vermuten, profitiert(e) die Pflegeversicherung weniger von den gesetzlichen Maßnahmen zur Aktivierung der informellen Pflegepotentiale86 als vielmehr davon, dass viele Angehörige tatsächlich (noch) bereit und auch in der Lage sind, bis an den Rande ihrer physischen, psychischen und fi85
86
Nun lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen, welche dieser zahlreichen Einflussfaktoren, die sich gegenwärtig zum Teil erst abzeichnen, (zukünftig) dann auch tatsächlich (noch) einen entsprechenden Einfluss auf die Sicherstellung der häuslichen Pflege haben werden und in welchem Ausmaß. Denn zumindest ein Teil diese Faktoren, von denen anzunehmen ist, dass sie die informelle Pflege erheblich erschweren, wäre durchaus politisch (rechtzeitig) beeinflussbar. Beispielsweise hinsichtlich der Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen, die die so genannten prekären Beschäftigungs- und Armutsverhältnisse zurückdrängen (Stichworte: Kündigungsschutz, Mindestlöhne, kein Anstieg des Renteneintrittsalters, ausreichende gesetzliche Alterssicherung usw.). Teilweise werden diese Einflussfaktoren politischer Handhabung aber auch weitgehend entzogen sein, wie beispielsweise die zunehmende Nachfrage der Unternehmen nach möglichst mobilen und sozial wie zeitlich ungebundenen Mitarbeitern. Und teilweise, auch das darf man nicht vergessen, kann ein „rückgängig machen“ dieser Einflussfaktoren, die in der Hauptsache ja auf soziale und gesellschaftliche Wandlungsprozesse zurückgeführt werden können, gar nicht wünschbar sein. So beispielsweise hinsichtlich der gestiegenen Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen und deren Emanzipation von den traditionellen Arbeits- und Geschlechtsrollenmodellen. Die, um daran zu erinnern, abgesehen von den Geld- und Sachleistungen, bspw. in Form von Pflegeurlaub, Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Pflegehilfsmitteln, technischen Hilfe, Pflegekurse, Wohnumfeldverbesserungsmaßahmen und einschließlich (!) der sozialen Sicherung der Pflegepersonen, gerade einmal zehn Prozent der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Pflegeversicherung ausmachen.
267
nanziellen Erschöpfung zu pflegen und zum anderen aber sicherlich auch davon, was wir als das bis in die Gegenwart hineinreichende sozialstrukturelle gesellschaftliche Hintergrundrauschen der 1950er bis 1970er Jahre bezeichnen würden. Das heißt also überwiegend von traditionellen Familienmodellen, einschließlich einer traditionellen geschlechtsspezifischen Aufgaben- und Arbeitsteilung sowie insbesondere auch von Normalarbeitsverhältnissen bzw. Normalerwerbsbiographien usw. Dies nicht dezidiert in Betracht zu ziehen – was jedoch erstaunlicherweise zu beobachten ist – würde bedeuten, die Wirkungen der gesetzlich verankerten Aktivierungsmaßnahmen, und mithin die Frage, ob die subsidiäre Pflegeversicherung als familienergänzende Teilkasko-Versicherung bislang ein Erfolg ist – und ggf. auch in der Zukunft sein kann – nur unzureichend „objektiv“ einzuschätzen bzw. gänzlich zu verkennen, denn ein solches Versicherungsmodell, das auf bestimmte gesellschaftliche Grundbedingungen aufsetzt, kann notwendigerweise seine Wirkungen niemals alleine aus sich selbst heraus zeitigen und erklären. Sicher, die Partnerschafts- und Familienstrukturen derjenigen, die künftig das Gros der Hilfe- und Pflegebedürftigen ausmachen werden, werden noch für die kommenden zwei bis drei Jahrzehnte „günstig“ sein. Und diese mögen durchaus selbst noch günstiger sein als jene der Hilfe- und Pflegebedürftigen, die bislang die Gruppe der von Pflegebedürftigkeit betroffenen stellten (Stichwort: Kriegsgeneration, relativ hoher Anteil an einkommensarmen „Kriegerwitwen“). Ob dies jedoch ausreichen wird, ist zu bezweifeln. Denn jene sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die als sozialstrukturelles Hintergrundrauschen des so genannten Ersten Demographischen Übergangs bislang noch gewirkt haben mögen, diese lösen sich bereits seit ca. Mitte der 1970er Jahre zunehmend auf. Das heißt, die Lebenswirklichkeit vor allem derjenigen, die bereits kurzfristig das informelle Pflegepotential stellen werden, ist mittlerweile eine andere. Die Sozialwissenschaften haben die Art und das Ausmaß sozialer Wandlungsprozesse in den vergangenen Jahren deutlich und für beinahe alle Teilbereich der Gesellschaft herausgearbeitet und bei Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 waren diese Erkenntnisse nicht nur längst bekannt, sondern auch schon längst in den praktischen Alltagswirklichkeiten und im Erfahrungshorizont der Menschen verankert – man hätte dies wissen können und wissen müssen. Gleichwohl, eine breite Auseinandersetzung damit, was all dies für die Sicherstellung der informellen Pflege teilweise bereits gegenwärtig und in absehbarer Zukunft bedeutet, und zumal in einem direktem Bezug zu den unabdingbaren Voraussetzungen, eine informelle Pflegetätigkeit überhaupt übernehmen zu können, dies hat bislang in einer Gesamtschau noch so gut wie nicht stattgefunden. So ist beispielsweise die hohe politische und öffentliche Aufmerksamkeit, die die Vereinbarkeitsproblematik von Kinderbetreuung und Erwerbstä268
tigkeit gegenwärtig erhält, auch nicht annähernd vergleichbar mit dem Problemfeld Pflege und Erwerbstätigkeit. Womit dies im ganz praktischen Sinne zu erklären sein könnte, dies wurde im Laufe dieser Arbeit bereits angesprochen, doch woran könnte es darüber hinaus noch liegen? Zum einen könnten wir spekulieren, dass das Thema Pflegebedürftigkeit auch bei den Einzelnen gewissen Verdrängungsmechanismen unterliegt. Das heißt, eine Beschäftigung mit der Frage, wer eigentlich Vater und/oder Mutter pflegt und ob und wie dies unter welchen Voraussetzungen eigentlich zu bewerkstelligen ist, findet wohl häufig genug erst dann statt, wenn der Fall tatsächlich eintritt. Das Thema mag immer (noch) zu fern sein, zu unangenehm – bis es zu spät ist. Und zum anderen, betrachten wir die wissenschaftliche Forschung, könnte es daran liegen, dass bei einer solchen Gesamtbetrachtung die Einflussfaktoren ebenso zahlreich wie komplex sind, so dass sich hier keine „seriösen“ Prozentzahlen aufgrund einfacher Wirkungsketten mehr „berechnen“ lassen, zumal, wie Blinkert und Klie (2002) feststellen, die Forschung eben noch nicht einmal so weit sei zu sagen, welche Faktoren als die eigentlich relevanten Bedingungen in diesem Kontext überhaupt zu benennen wären. Es liegt also möglicherweise gerade an der Komplexität des Gegenstands, dass sich die empirisch wissenschaftliche Forschung in diesem Zusammenhang zumeist auf eine Untersuchung der Partnerschafts- und Familienstrukturen der zukünftigen Pflegebedürftigen beschränkt. Die konkreten und alltagspraktischen Lebensumstände vor allem der pflegenden Kinder, also derjenigen, die bereits heute und in absehbarer Zeit, und nicht erst in zwei bis drei Jahrzehnten als maßgebliches informelles Pflegepotential gefragt sein werden, diese werden dabei selten ins Auge gefasst. Allenfalls verweist man noch recht pauschal auf die gestiegene Erwerbsbeteiligung der Frauen. Nicht nur die Altenberichte der Bundesregierung oder die Enquete-Kommission Demographischer Wandel sind hier, wie aufgezeigt, zu benennen, auch das FELICIE- Forschungsprojekt der Europäischen Union (Future elderly living conditions in Europe) wäre hier als ein weiteres solches Beispiel zu zitieren. Dieses Forschungsprojekt soll „Prognosen über die Zusammensetzung der zukünftigen pflegebedürftigen Bevölkerungsgruppen (berechnen) und mögliche sozialpolitische Konsequenzen und Handlungsoptionen diskutieren“. Ausschließlich anhand von Berechnungen anhand der Familienformen der zukünftigen pflegebedürftigen Bevölkerung („Partner und Kind“, „Partner oder Kind“, „kein Partner, kinderlos“) kommt das Forschungsprojekt zu dem Ergebnis: „Die FELICIEPrognosen zeigen, dass in Zukunft die Familie verstärkt als potenzieller Pflegegeber vorhaben sein wird“. Zumindest, so das Forschungsprojekt, „bis zum Jahr 2030“ (vgl. Doblhammer et al. 2006). Es ist zu vermuten, dass Hinweise auf eben jene noch günstigen Partnerschafts- und Familienstrukturen der Hilfe- und Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren immer wieder als Argument dafür 269
dienen werden, die deutsche Pflegeversicherung in ihrer subsidiären Logik zu belassen, allenfalls wird es, wie im Kapitel zu den Reformoptionen aufgezeigt, geringe Nachbesserungen in einzelnen Leistungsbereichen geben. Zweifelsohne sind bestimmte Partnerschafts- und Familienstrukturen unabdingbar zwar notwendige, aber in der modernen Lebenswelt – wie aufgezeigt – sicherlich längst noch keine hinreichenden Voraussetzungen für das Zustandekommen und die u. U. jahrelange Aufrechterhaltung eines informellen häuslichen Pflegearrangements. Hier zeichnet sich eine neue soziale Frage ab, auf die es sozialpolitisch angemessen zu reagieren gilt. Subsidiarität vor Solidarität und Teilleistungen für Teilbedarfe, dies kann eine solche Antwort, wie es die Ausführungen in dieser Arbeit nahelegen, jedenfalls nicht sein – auch kurz- bis mittelfristig nicht. Dies mag vordergründig zwar direkte ökonomische Kosten sparen. Die indirekten Kosten, die die Betroffenen, und zwar die Pflegebedürftigen selbst, wie deren informelle Helfer, in Form von physischer, psychischer und finanzieller Erschöpfung zu tragen haben, sind jedoch kaum zu beziffern. Sicher, viele der bislang häuslich wie stationär Versorgten durften und dürften nach wie vor eine fürsorgliche und von viel Engagement getragene Pflege erfahren. Und auch die Pflegeversicherung hat, dies soll nicht bestritten werden, hierzu sicherlich in einigen Punkten ihren Teil dazu beigetragen. Für viele stellen auch die Teilleistungen der Pflegeversicherung – in Form von Geld- und Sachleistungen, der Möglichkeit von Tages- und Nachtpflege, von Kurzzeitpflege etc. – in Kombination mit ihren jeweils (günstigen) privaten Lebensumständen eine erhebliche Verbesserung dar. Die Sozialhilfeabhängigkeit im Falle von Pflegebedürftigkeit ist gesunken, auch wenn sie im Bereich der stationären Pflege immer noch beträchtlich (und erneut ansteigend) ist; es gibt ein deutlich ausgebautes Angebot an ambulanten Pflegediensten und sicherlich ist auch die minutengenaue Pflege nach Abrechnungspunkten für einige bereits eine Erleichterung und sie mag dazu beitragen, ein Leben in der vertrauten Umgebung aufrechterhalten zu können und die Lebensqualität zu verbessern. Man kann von den Leistungen der Pflegeversicherung profitieren, man muss gleichzeitig aber immer auch Glück haben, das Glück, die im PflegeVG (bewusst) eingelassene „Pflege- bzw. Versorgungslücke“ zwischen Bedarf und refinanziertem Angebot irgendwie, wie auch immer, schließen zu können. Es gibt, wie hier aufgezeigt wurde, viele gute Gründe anzunehmen, dass dies bereits heute immer weniger Hilfe- und Pflegebedürftigen gelingt und es in absehbarer Zeit immer wenigeren gelingen wird – und dies nicht erst in zwei bis drei Jahrzehnten. Und es gibt deshalb viele gute Gründe bei der „Absicherung des allgemeinen Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit“, den Gedanken der kollektiv-sozialstaatlichen Solidarität vor den der Subsidiarität zu setzen. Eine Sozialpolitik, die, nicht nur im Bereich der Pflegesicherung, aber dort eben im Besonderen, diese Solidarität zunehmend reduziert, „zugunsten“ privater bürgerschaft270
lich/zivilgesellschaftlicher Selbsthilfe- und Solidarpotentiale, kann keine „innovative“ und einer modernen Gesellschaft angemessene Sozialpolitik sein, gerade nicht in einer Gesellschaft, die einerseits hochproduktiv ist, und in der andererseits aber die persönlichen Lebensrisiken für die Einzelnen immer weniger beherrschbar, planbar und vorhersehbar werden. Auf „persönlich zu verantwortende“ Zufälle und Wechselfälle im Lebensverlauf darf die Lebensqualität im Falle von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, also in einer Phase, in der die Menschen wie kaum je in ihrem Leben auf Hilfe angewiesen sind, jedenfalls nicht länger hinauslaufen.
271
7 Anhang
7.1 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:
Eckdaten Pflegestatistik 2003 ................................................... 98
Abbildung 2:
Häusliche Pflegearrangements (in %) ..................................... 101
Abbildung 3:
Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten nach vorhandenen kognitiven Einschränkungen(1) – Leistungsbezieher der Sozialen und der Privaten Pflegeversicherung sowie sonstige Hilfebedürftige in Privathaushalten zum Jahresende 2002 (in%):........................ 119
Abbildung 4:
Zusammengefasste Geburtenziffern für die Kalenderjahre 1871 bis 1995 und endgültige Kinderzahl der 1865 bis 1960 geborenen Frauen............................................. 152
7.2 Tabellenverzeichnis Tabelle 1:
Anzahl der Empfänger und Gesamtaufwand für Pflegeleistungen im Jahre 1999; (alte Bundesländer) ............... 22
Tabelle 2:
Entwicklung der Sozialhilfe, der „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ und der „Hilfe zur Pflege“ von 1970 bis 1993; (alte Bundesländer).................................................................... 23
Tabelle 3:
Ausgaben und Empfänger der Hilfe zur Pflege in Deutschland, differenziert nach Art der Einrichtung (1993)..... 24
Tabelle 4:
Pflegebedürftige in Privathaushalten in Deutschland vor Einführung der Pflegeversicherung........................................... 25
272
Tabelle 5:
Systematisierung der hinsichtlich der Absicherung des Pflegerisikos von den verschiedenen Akteuren vertretenen Ziele........................................................................ 35
Tabelle 6:
Pflegebedürftigkeit, Hilfebedarf und Stufen der Pflegebedürftigkeit .................................................................... 40
Tabelle 7:
Leistungen der Pflegeversicherung im Überblick ..................... 42
Tabelle 8:
Sektoren und Merkmale der Wohlfahrtsproduktion.................. 84
Tabelle 9:
Gesetzliche Pflegeversicherung: Veränderungen der Anzahl der Leistungsempfänger nach Pflegestufen 1997-2003, absolut und in Prozent ............................................................. 104
Tabelle 10:
Leistungsempfänger der gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach Leistungsarten, 1997-2003, absolut .................................................................. 105
Tabelle 11:
Gesetzliche Pflegeversicherung: Leistungsarten – Veränderungen in den Jahren 1997-2003 in Prozent .............. 105
Tabelle 12:
Gesetzliche Pflegeversicherungen: Leistungsempfänger nach Leistungsarten Pflegestufen; Veränderungen von 1997 bis 2001, in Prozent ........................................................ 107
Tabelle 13:
Anzahl der Leistungsempfänger und Ausgaben der Gesetzlichen Pflegeversicherung in Deutschland 1997-2004, Stand Mai 2005 .................................................... 109
Tabelle 14:
Infratest-Pflegeintervallmodell – Anteil Hilfe- und Pflegebedürftiger in verschiedenen Altersgruppen der Bevölkerung in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002................................. 116
Tabelle 15:
Haushaltsnettoeinkommen nach Haushaltstyp (Befragung 2002) .................................................................... 120 Familien-/Lebensformen – Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002............................. 122
Tabelle 16:
273
Tabelle 17:
Zu Hause (ambulant) versorgte Pflegebedürftige nach Alter, Geschlecht, Familienstand undHaushaltsgröße, Ergebnisse des Mikrozensus Mai 2003 ................................... 124
Tabelle 18:
Zahl der an der Hilfe beteiligten privaten Helfer und Helferinnen .............................................................................. 127
Tabelle 19:
Merkmale von privaten Pflegepersonen; Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002 ............................................................. 128
Tabelle 20:
Konsequenzen der Pflege für die Erwerbstätigkeit der Hauptpflegeperson, Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002................................. 129
Tabelle 21:
Durchschnittlicher wöchentlicher Zeitaufwand für die Pflege und Betreuung, Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten, Jahresende 1991/2002................................. 129
Tabelle 22:
Modellrechnungen zur Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland ........................................... 165
Tabelle 23:
Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands (1) .................... 167
Tabelle 24:
Altersstrukturelle Veränderungen 1999-2020;Veränderungen des Bevölkerungsstandes einer jeweiligen Altersgruppe in Prozent der entsprechenden Ausgangsbevölkerung 1999 .................................................................... 174
Tabelle 25:
Lebensverläufe im regulierten und deregulierten Kapitalismus............................................................................ 192
Tabelle 26:
Schichtung des haushaltsspezifischen Netto- und Äquivalenz-einkommens bei Hausalten mit pflegebedürftigen Mitgliedern (ohne die Leistungen der Pflegeversicherung)................................................................. 206
Tabelle 27:
Die wichtigsten Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 Jahren (in Prozent des Bruttoeinkommens)................... 208
274
Tabelle 28:
Verteilung der Renten in West- und Ostdeutschland; in Prozent der Rentenempfänger nach Rentenhöhe und Geschlecht, Deutschland 2003 ................................................ 209
Tabelle 29:
Mittelwerte der Zahlbeträge und Berechnungsgrundlagen von Altersrenten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung 2002 ................................................................... 210
Tabelle 30:
Nettoeinkommen im Alter ab 65 – nach Geschlecht und Familienstand in West- und Ostdeutschland 2003 in Euro/Monat.......................................................................... 211
Tabelle 31:
Nettovermögen von „Altenhaushalten“ (65 Jahre und älter) 2003......................................................... 213
Tabelle 32:
Nettovermögen von Rentnern 2003 (in 1000 Euro) ................ 214
Tabelle 33:
Gruppenspezifische Armutsrisiken (1) von „Altenhaushalten“ 2003 ..................................................................... 215
7.3 Abkürzungsverzeichnis ADL Allbus AOK AWO BBR BGB BMGS BSHG bspw. BT-Drucks. bzw. CDU CSU d. h. DIW ebd. et al.
Aktivitäten des täglichen Lebens Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften Allgemeine Ortskrankenkasse Arbeiterwohlfahrt Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesministerium für Gesundheit und Soziales Bundessozialhilfegesetz beispielsweise Bundestagsdrucksache beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union das heißt Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung ebenda et alii 275
etc. EVS ff. FDP GFK ggf. GKV GRG GRV Hervorh. Hg. Hrsg. IAB IADL KDA Kap. M.D. MDK MDS Mio. Mrd. MuG Nr. PflegeVg p. a. RegE S. s. o. s. u. SGB SGB V SGB XI SOEP SPD SVR u. a. u. E. u. U. 276
et cetera Einkommens- und Verbrauchsstichprobe fortfolgend Frei Demokratische Partei Gesellschaft für Kosumforschung gegebenenfalls Gesetzliche Krankenversicherung Gesundheits-Reformgesetz Gesetzliche Rentenversicherung Hervorhebung Herausgeber Herausgeber Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens Kuratorium Deutsche Altershilfe Kapitel Matthias Dammert Medizinischer Dienst der Krankenkassen Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen Millionen Milliarden Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in privaten Haushalten Nummer Pflegeversicherungsgesetz per annum Regierungsentwurf Seite siehe oben siehe unten Sozialgesetzbuch Fünftes Sozialgesetzbuch Elftes Sozialgesetzbuch Sozioökonomisches Panel Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen unter anderem unseres Erachtens unter Umständen
VDAK/AEV Verband der Angestellten- Krankenkassen/Arbeiter-ErsatzkassenVerband vgl. vergleiche vs. versus z. B. zum Beispiel ZDWA Rostocker Zentrum zur Erforschung des demographischen Wandels
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