Alexandra Fischer-Hunold
Amalia und die Gespensterpiraten
Freiburg • Wien • Basel
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Alexandra Fischer-Hunold
Amalia und die Gespensterpiraten
Freiburg • Wien • Basel
Die Schreibweise entspricht der neuen Rechtschreibung. Umschlag- und Innenillustrationen: Julia Ginsbach, Blaubeuren
Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © KeRLE im Verlag Herder Freiburg, Wien 2002 www.Kerle.de Druck und Einband: fgb • freiburger graphische betriebe 2002 www.fgb.de ISBN 3-451-70436-6
Amalia und ihr ehemaliger „Intimfeind“ Eduard sind Schüler des Gespensterinternats und lernen mehr oder weniger willig, wie sich Gespenster zu benehmen haben, was einen ordentlichen Spuk ausmacht und wie man seinen Kopf auf schrecklichste Weise abschrauben kann. Während die kleinen Geister Menuett tanzen lernen und sich so auf den großen Ball am Schuljahresende vorbereiten, plant ein übel beleumundeter Geisterpirat einen Überfall auf die Schule, denn dort wird ein Spiegel verwahrt, der böse Gespenster verschluckt und leider auch gute Geister umbringt. Mit der Hilfe ihres Menschenfreundes Finn und des Bibliothekars Dreistein, der nicht so recht glauben will, dass er ein Geist ist, gelingt es Amalia und Eduard, den Piraten samt seiner Mannschaft im letzten Moment außer Gefecht zu setzen. Und der Direktor hat seine liebe Mühe, den berüchtigten Spiegel aufs Neue zu verstecken.
Satz und
Mit einem tiefen, dunklen Schlag verkündete die große Standuhr im großen Saal der Gespensterschule das Ende der Geisterstunde. Die vielen, kleinen Gespenster, die eben noch aufgeregt durcheinander geschnattert hatten, wünschten sich eilig eine gute Nacht, huschten in ihre Zimmer und verschwanden in ihren Truhen. Das Gespenstermädchen Amalia kuschelte sich tief in ihre Wäschetruhe und schloss mit einem zufriedenen Seufzer den Deckel. Ihr größter Wunsch hatte sich erfüllt. Sie hatte die schwere Aufnahmeprüfung an der Königlichen Schule für angehende Schlossgespenster bestanden. Heute war sie mit Sack und Pack in der Schule eingezogen
und morgen würde ihre erste Schulnacht sein. Amalia drehte sich auf die Seite. „Schade, dass Finn nicht hier sein kann!“, dachte sie. Das war in der Tat unmöglich, denn Finn war kein Gespenst sondern ein ganz normaler Junge, der in einem ganz normalen Haus wohnte und ein ganz normales Leben führte – bis auf die eine Kleinigkeit: Seine beste Freundin war ein Gespenstermädchen, nämlich Amalia. „Aber irgendwann Schmuggel ich ihn einfach in die Schule!“, beschloss Amalia, und während sie noch darüber nachdachte, wie sie das schaffen konnte, schlief sie langsam ein. Ruhe kehrte in der Schule ein, auf deren Burgzinnen das Mondlicht tanzte. Aber während die Gespenster in der Schule friedlich ihrer ersten Schulnacht entgegenschlummerten, gingen vor der Burg unheimliche Dinge vor sich. Pfiffe hallten durch den nahe gelegenen, dunklen Wald, auf die andere Pfiffe antworteten. Äste knacksten unter schweren Schritten und einige Nachtvögel flogen erschreckt auf. Plötzlich traten aus der Dunkelheit des Waldes zwei Gestalten auf den mondbeschienenen Vorplatz der Schule. Wie bei Gespenstern üblich, schien das Mondlicht durch sie hindurch. Um ihre Köpfe hatten sie fleckige Kopftücher gebunden und an ihren Ohren baumelten schwere, goldene Ohrringe. Die Hemden, die sie trugen, waren an den Armen in Fetzen gerissen und fast ebenso dreckverschmiert wie
ihre knielangen Hosen. Und in ihren Gürteln steckten Messer und Säbel. „Das ist also die Gespensterschule“, raunte der eine von ihnen, klappte eine Augenklappe, die sein linkes Auge verdeckt hatte, hoch und ließ seinen Blick prüfend über die Burgmauern gleiten. Das Mondlicht enthüllte nun eine tiefe, grausige Narbe in seinem Gesicht, die vom linken Auge über die ganze Wange verlief und schließlich im Hemdkragen verschwand. „Was meinst du, Einauge, wird die Sache schwierig werden?“, wandte sich der andere Pirat an seinen Begleiter. Dann hob er den rechten Arm und deutete zu den Burgzinnen hinauf. Wie ein Blitz leuchtete plötzlich anstelle der Hand ein gebogener, an einigen Stellen verrosteter Haken auf. „An den Zinnen könnten wir festmachen.“ „Hmm“, stimmte Einauge zu. „Gute Idee, Kralle. – Aber komm jetzt, wir wollen uns die Schule aus der Nähe ansehen!“ „Ach, ich will nicht mehr!“, protestierte Kralle weinerlich und streckte seinem Begleiter den nackten, linken Fuß entgegen. „Ich hab mir Dornen in den Fuß getreten.“ „Du jammerst wie ein Marktweib. Reiß dich gefälligst zusammen. Der Kapitän wird uns in Eisen legen lassen, wenn er hört, dass wir unseren Erkundungsgang abgebrochen haben, bloß weil du ein paar lächerliche Dornen im Fuß stecken hast!“, schimpfte Einauge und schritt entschlossen auf die
Burg zu. Bei der Erwähnung des Kapitäns wurde Kralles ohnehin schon blasses Gesicht noch blasser und er humpelte trotz seines schmerzenden Fußes eilig hinter Einauge her. Die beiden Kumpane schlichen jetzt an der Burgmauer entlang und untersuchten das Mauerwerk ganz genau. Als sie das große Eingangsportal der Schule erreicht hatten, zückte Einauge seinen Säbel und klopfte leise gegen das schwere Holztor. „Solide gebaut! Da gibt es nix“, urteilte er bewundernd. Dann fiel sein Blick auf ein großes, weißes Plakat, das mit Nägeln an das Tor gehämmert worden war. Leise pfiff er durch die Zähne und raunte Kralle zu: „Für die Nachricht bekommen wir vom Kapitän eine doppelte Ration Rum. – Lies mal!“ Ohne an die Dornen zu denken, stampfte Kralle wütend mit dem linken Fuß auf den Boden und konnte nur mühsam einen Schmerzensschrei unterdrücken. Mit verzerrtem Gesicht rieb er sich den Fuß und zischte: „Du weißt ganz genau, dass ich nicht lesen kann! Ich bin eben nicht so gebildet wie du!“ Mit gespieltem Bedauern gab Einauge zurück: „Entschuldige, bitte! Das hab ich ganz vergessen.“ Dann wandte er sich wieder dem Plakat zu und las mit gedämpfter Stimme vor: „Die Königliche Schule für angehende Schlossgespenster gibt sich die Ehre alle guten Gespenster in der Nacht vom 31. Juli Schlag Mitternacht zu ihrer 800-Jahrfeier in den
großen Festsaal einzuladen. Gezeichnet: Der ehrenwerte Schuldirektor Alexander Stuart.“ „Die feiern ein Fest na und?“, fragte Kralle verständnislos und kratzte sich mit dem Metallhaken am Kopf. „Du Sohn eines Walrosses!“, schimpfte Einauge. „Verstehst du denn nicht? Alle guten Gespenster werden in einem Raum versammelt sein. Da haben wir leichtes Spiel. Sie werden keine Chance gegen uns haben. Los, wir müssen dem Kapitän sofort Bericht erstatten!“ Einauge zog den immer noch fragend blickenden Kralle hinter sich her und bald waren sie wieder in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.
Amalia hatte tief und fest geschlafen, bis sie jetzt von den zwölf tiefen Schlägen der großen Schulstanduhr zur nächsten Geisterstunde geweckt wurde. Von den nächtlichen Vorgängen hatte sie ebenso wenig bemerkt wie die anderen Burgbewohner. Behände schwang sie sich aus ihrer Wäschetruhe und strich mit der Hand ihr langes, weißes Kleid glatt. Dann schritt sie durch ihr Schlafgemach auf einen kleinen Frisiertisch zu, nahm eine silberne Bürste zur Hand und begann ihre langen, schwarzen Haare zu bürsten. Plötzlich wurde die Tür zu ihrem Gemach aufgerissen und ihr Freund Eduard stürmte herein. „Amalia, komm schnell!“, sprudelte er los. „Da draußen auf dem Gang steht…“ „Mein lieber Eduard“, erwiderte Amalia seelenruhig, „selbst dir als Poltergeist sollte bekannt sein, dass für
die Morgentoilette immer genug Zeit sein muss. Adel verpflichtet eben.“ „Aber da draußen steht ein wirklich furchteinflößender Ritter“, stieß Eduard ängstlich hervor. „Und er sagt kein Wort!“ Mit einem tiefen Seufzer legte Amalia die Bürste zur Seite, griff nach ihrem ledernen Schulranzen und trat dicht gefolgt von Eduard auf den steinernen Korridor hinaus. Eduard stieß sie leicht in die Seite, nickte zum Ende des Ganges herüber und raunte ihr hinter vorgehaltener Hand zu: „Da!“ Beim Anblick des Ritters überlief es Amalia eiskalt. In voller stählerner, schwarzer Rüstung, die so blank poliert war, dass sich das Licht der Wandfackeln auf ihr spiegelte, stand er unbeweglich da. Seine behandschuhten Hände ruhten auf dem Knauf eines gewaltigen Schwertes, das er vor sich in den Steinboden gerammt zu haben schien. Aber was ihn wirklich unheimlich machte, war die Tatsache, dass seine Augen trotz des schmalen Sehschlitzes in seinem kopf- und gesichtbedeckenden Helm nicht zu sehen waren. Auch den anderen kleinen Gespenstern, die nun nach und nach aus ihren Gemächern auf den Gang strömten, stellten sich beim Anblick des Ritters buchstäblich die Haare zu Berge. Plötzlich hob der schwarze Ritter langsam sein Schwert, um es dann krachend auf den Steinboden niederfahren zu lassen. Erschreckt zuckten die Gespenster zusammen.
„Folgt mir!“, befahl er mit hohler Stimme und wandte sich zum Gehen. Mucksmäuschenstill schlichen die Gespenster hinter dem schwarzen Ritter her. Während er sie über unzählige Korridore und Gänge führte, hallte das Scheppern seiner Rüstung unheimlich von den Wänden wider. „Jetzt werden wir bestimmt zum Schafott geführt und dann geköpft“, mutmaßte Eduard finster. „In den alten Ritterepen ist doch der schwarze Ritter immer der, vor dem man sich in Acht nehmen muss.“ Amalia schnalzte missbilligend mit der Zunge und flüsterte: „Eduard, Eduard, du hast eine blühende Fantasie!“ Eduard wog den Kopf zweifelnd hin und her und raunte: „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. – Ich mach mich lieber unsichtbar.“ Er hatte den letzten Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als seine Gestalt auch schon zu flimmern begann und schließlich nicht mehr zu sehen war. Poltergeister wie Eduard sind normalerweise immer unsichtbar, da Eduard aber nur zur einen Hälfte Poltergeist und zur anderen Hälfte Gespenst war, verfügte er über die Fähigkeit sich nach Belieben sichtbar und unsichtbar zu machen. Denn er konnte sowohl das, was ein Poltergeist kann, als auch das, was ein Gespenst kann. Früher hatte sich Eduard auf seine Besonderheit mächtig was eingebildet. Und dabei war er wie alle Poltergeister ein richtiger Rüpel gewesen, sodass Amalia ihn überhaupt nicht hatte leiden können. Aber nachdem
Amalia und Eduard mit Finns Hilfe die Aufnahmeprüfung an der Gespensterschule bestanden und das Geheimnis des Fledermausschlosses ergründet hatten, waren die drei gute Freunde geworden. „Feigling!“, zischte Amalia ihm zu. „Teuerste Amalia, ich tu das nur, um dich besser beschützen zu können“, log Eduard. Auch wenn er selbst unsichtbar war, so war seine Stimme doch laut und deutlich zu hören. Mit einem Ruck blieb der schwarze Ritter stehen und drehte sich um. Dann hob er sein glänzendes Schwert und deutete damit wortlos auf Amalia. Er verharrte nur einen kurzen Moment in dieser Position, aber Amalia kam es wie eine Ewigkeit vor. Sie begann am ganzen Körper zu zittern wie Espenlaub. Der Ritter nickte stumm und setzte dann seinen Weg fort. Zu gerne hätte Amalia Eduard zurechtgewiesen. Das war ja wie in alten Zeiten! Eduard machte den Blödsinn und sie musste dafür den Ärger einstecken. Aber sie traute sich nun nicht mehr, den Mund aufzumachen. Deshalb begnügte sie sich damit, dem unsichtbaren Eduard kräftig mit dem Ellenbogen in die Seite zu stoßen. Sie schienen jetzt das Ziel ihrer langen Wanderung erreicht zu haben. Der schwarze Ritter öffnete eine Tür und hieß die Gespenster mit einer ruckartigen Kopfbewegung in den dahinterliegenden Raum zu treten. Mit gesenkten Köpfen huschten die Gespenster schnell an dem schwarzen Ritter vorbei, der wortlos an der Tür
stehen geblieben war. Als alle Gespenster an den Pulten, die in dem Raum verteilt waren, Platz genommen hatten, schloss der Ritter die Tür, trat ans Lehrerpult und nahm langsam, ganz langsam den Helm vom Kopf. Schnell bedeckte Amalia ihre Augen mit den Händen, denn sie fürchtete sich vor dem Anblick, der sich ihr gleich bieten würde.
Mit angehaltenem Atem lugte Amalia zwischen ihren Fingern zum Lehrerpult. Auch wenn sie Eduard nicht sehen konnte, wusste sie, dass er neben ihr saß und mit den Zähnen klapperte. Denn zum einen war das Zähneklappern nicht zu überhören, und zum anderen drängte er sich schutzsuchend so nah an sie, dass sie beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Nun konnte Amalia beobachten, wie der schwarze Ritter langsam den Helm vom Kopf nahm. Zum Vorschein kam – entgeistert ließ Amalia die Hände sinken – ein freundliches Gesicht. Der Ritter schaute in die fragenden Gesichter der kleinen Gespenster und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Während er sich die Handschuhe auszog und sie schwungvoll auf das Lehrerpult warf, erklärte er: „Ich erlaube mir, mich
vorzustellen. Ich bin Ethelbert, Ritter der Tafelrunde des Königs Artus, und euer Klassenlehrer. Ich unterrichte euch im Fach Gespenstisch Gespenstern. Und mein Auftritt gerade als unheimlicher schwarzer Ritter war eine kleine Kostprobe, um euch zu zeigen, dass man schon mit wenigen Mitteln wahnsinnig gut gespenstisch gespenstern kann.“ „Potz Blitz – ein Ritter der Tafelrunde“, ließ sich Eduard vernehmen, wurde langsam wieder sichtbar und flüsterte Amalia zu: „Die Ritter der Tafelrunde sind die Guten.“ „Auch unter uns gab es schwarze Schafe“, wandte sich Ritter Ethelbert belehrend an Eduard. „Aber wie auch immer. – Ich werde euch das klassische, gute, alte Spuken lehren. Gewissermaßen die Grundlagen, die jedes Schlossgespenst seit Jahrhunderten beherrschen muss. Im nächsten Halbjahr werdet ihr dann noch zusätzlich im Fach Spuken in modernen Zeiten unterrichtet werden“, hier seufzte der schwarze Ritter bedauernd auf und erklärte: „Dieses Fach ist in letzter Zeit leider notwendig geworden.“ „Wieso leider?“, zischte Eduard Amalia zu. „Auch wenn ich in dieser Hinsicht ein wahrer Meister bin, gibt es bestimmt noch einige Dinge, die ich lernen kann!“ „Im ersten Halbjahr erhaltet ihr Unterricht in den Fächern:
Gespenstisch Gespenstern, Gespenstergeschichte und Würdiges Auftreten eines Schlossgespenstes.“
Mit schwungvollen Bewegungen verteilte der Ritter nun einen Stapel Blätter an seine Schüler. „Das ist euer Stundenplan. Wie ihr seht, beginnt der Unterricht jede Nacht Schlag Mitternacht und endet um drei Uhr. Danach findet im Aufenthaltsraum die Hausaufgabenbetreuung statt. Um vier Uhr ist Schlafenszeit. – Und wagt es ja nicht, später noch allein durch die Schule zu geistern. Es könnte gefährlich für euch werden!“ „Ehh“, flüsterte Eduard Amalia ins Ohr. „Das klingt ja richtig nach Arbeit!“ Aber Amalia hörte ihn gar nicht. Den Kopf in die Hände gestützt, himmelte sie verträumt Ritter Ethelbert an. Er hatte kinnlanges, lockiges, hellblondes Haar, von dem ihm eine Locke verwegen in die Stirn fiel. Amalia fand, dass seine blauen Augen strahlten wie… „Aquamarine“, hauchte Amalia. „Was?“, wollte Eduard wissen. Ohne ihren Blick von Ritter Ethelbert abzuwenden, säuselte sie: „Findest du nicht dass seine Augen strahlen wie Aquamarine?“
„Was um alles in der Welt ist das?“, fragte Eduard nach. „Blaue Edelsteine“, flüsterte Amalia verträumt. Eduard nahm seinen altmodischen Kneifer von der Nase und forschte in Amalias Gesicht. Schließlich quietschte er vor Vergnügen los: „Amalia, du bist ja verliebt!“ Augenblicklich fühlte Amalia, wie ihr Gesicht vor Scham rot wurde. Sie wusste ganz genau, wie sie jetzt aussah, nämlich wie eine überreife Tomate. Und das hasste sie. Wütend drehte sie schnell den Kopf zur Seite und erwiderte etwas zu laut: „Ich bin nicht in Ritter Ethelbert verliebt!“ Alle hatten ihren Ausruf gehört. Ein amüsiertes Gelächter ging durch die Klasse und Amalia wünschte sich, dass sich unter ihr ein Loch auftun würde, in dem sie spurlos verschwinden könnte. Der Aufschrei eines Gespenstermädchens erlöste Amalia aus ihrer misslichen Lage. Mit entsetztem Gesicht deutete das Mädchen zum Lehrerpult Amalia und ihre Klassenkameraden starrten nach vorn. Zu ihrem großen Erstaunen war Ritter Ethelbert spurlos verschwunden, das heißt sein Körper war nicht mehr zu sehen, aber dafür ruhte sein Kopf seelenruhig auf dem Lehrerpult. In einer Ecke des Zimmers entdeckte Amalia schließlich den Körper des Lehrers. Mit verschränkten Armen lehnte er lässig an der von Spinnweben überzogenen Wandtafel.
„Das ist eure erste Lektion“, verkündete der vereinsamte Kopf, „den Kopf abschrauben und ihn wieder aufsetzen!“ Mit einem Ruck setzte sich der Körper des Ritters wieder in Richtung Lehrerpult in Bewegung, wobei der Kopf erklärte: „Das kopflose Rumgeistern ist nicht so leicht, wie es vielleicht aussieht. Aber wie ihr gerade selbst erlebt habt, sehr effektvoll. – Im Jahre 1597 habe ich meinen Kopf auf dem Nachttisch der Herzogin von York aufgestellt. Als ich sie mit einem kleinen Liedchen aus dem Schlaf aufschreckte, war sie über den Anblick meines Kopfes derart entsetzt, dass sie noch im Nachtgewand in ihre Kutsche sprang und nie wieder einen Fuß in ihr Schloss gesetzt hat.“ Mit vor Bewunderung weit aufgesperrten Mündern sahen die kleinen Gespenster nun, wie Ritter Ethelbert die Hände nach seinem Kopf ausstreckte und ihn dann mit einer eleganten Bewegung wieder auf seinem Hals festschraubte. Das dabei ertönende markerschütternde – Ritsch Ratsch – signalisierte offensichtlich den Moment, in dem der Kopf einrastete. Der Ritter wog seinen Kopf einen Moment lang hin und her, wobei einige unangenehme Knackser durch das Klassenzimmer hallten, dann wandte er sich mit einem zufriedenen Grinsen wieder seiner Klasse zu. „Für die nächste Stunde bereitet ihr, bitte, das Kapitel ,Wie schraube ich meinen Kopf ab’ auf Seite 54 in eurem Buch ,Gespenstisch Gespenstern durch
die Jahrhunderte’ vor. Aber erwartet nicht, dass es sofort funktioniert, schließlich seid ihr noch blutige Anfänger!“, sagte er von oben herab, klemmte sich Helm und Handschuhe unter den rechten Arm und wollte sich gerade zur Tür umdrehen, als Eduard aufsprang und forsch rief: „Das Kopfabschrauben ist doch Kinderkram, das mach ich mit links!“ Die anderen Gespenster hielten gespannt den Atem an, während Amalia nur kopfschüttelnd die Augen verdrehte. Dass Eduard sich aber auch diese Angeberei nicht abgewöhnen konnte! Der schwarze Ritter hielt in seiner Bewegung inne und zog fragend eine Augenbraue hoch. „Eine kühne Behauptung. Darf ich deiner Äußerung entnehmen, dass du schon Erfahrung mit dem Kopfabschrauben hast?“, fragte er interessiert. „Nein, hab ich nicht. Aber das kann ja wohl nicht so schwer sein“, gab Eduard streitsüchtig zurück. „In dem Fall möchte ich gern deinen Namen erfahren, damit ich weiß, wer in der nächsten Stunde sein Können unter Beweis stellen darf!“, erwiderte der schwarze Ritter amüsiert. Hätte der Idiot uns darum gebeten, Namensschilder aufzustellen, müsste er jetzt nicht so doof fragen, dachte Eduard bei sich. Dann plusterte er sich zu seiner vollen Größe auf, holte tief Luft und verkündete mit einer angedeuteten Verbeugung: „Eduard Freiherr von Holperdingen!“
Ritter Ethelbert erwiderte die Verbeugung und sagte: „Aha, der halbe Poltergeist Na, dann bin ich ja mal auf deine Vorführung gespannt!“ „Ich werde Sie nicht enttäuschen“, erwiderte Eduard siegessicher. Der schwarze Ritter lächelte vielsagend und wandte sich dann der Klasse zu: „Ich werde euch jetzt in dem großen Festsaal geleiten. Dort wartet bereits Mademoiselle Ivette. Sie hat die schwere Aufgabe, euch das würdige Benehmen eines Schlossgespenstes beizubringen.“ Mit einem Seitenblick auf Eduard fügte er hinzu: „Einige von euch haben es dringend nötig!“ Als Amalia und Eduard inmitten ihrer Klassenkameraden dem schwarzen Ritter zum Festsaal folgten, konnte Amalia nicht länger an sich halten. „Was sollte diese unsägliche Angeberei?“, schimpfte sie. Eduard stierte wütend auf den Rücken des schwarzen Ritters, der vor ihnen den Gang entlang schritt. „Ach, ich wollte diesem Schönling nur einen Dämpfer verpassen“, gab Eduard zurück. „Der meint ja, er ist der Tollste. – Und du himmelst ihn auch noch an, dass dir beinahe die Augen aus dem Kopf fallen! – Pah! – Was der kann, kann ich schon lange. Du wirst ja sehen!“ Fassungslos über das, was Eduard da von sich gab, blieb Amalia wie angewurzelt stehen. Da donnerte ihr von hinten ein anderes Gespenst mit solcher Wucht in
den Rücken, dass Amalia vornüber fiel und sich auf dem Boden wiederfand. „Oh, Entschuldigung“, sagte das Gespenst und half Amalia wieder auf die Beine. „Du bist so plötzlich stehen geblieben, dass ich einfach nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.“ „Nicht der Rede wert“, antwortete Amalia, klopfte sich den Staub vom Kleid und lächelte das Gespenst freundlich an. Es war ungefähr im gleichen Alter wie Amalia und ebenfalls ein Mädchen. Es trug eine knielange verschlissene Hose, ein ehemals weißes Rüschenhemd und unsagbar viele Halsketten, die in allen Regenbogenfarben schimmerten. „Bist du eine Zigeunerin?“, wollte Amalia wissen. „Oh, nein“, lachte das Gespenstermädchen und warf seine roten, zotteligen Haare in den Nacken, sodass große, goldene Ohrringe darunter zum Vorschein kamen. „Mein Name ist Emily Esperanza und ich bin Piratin!“ „Ehrlich?“, fragte Amalia freudig überrascht sie hatte noch nie in ihrem Leben eine leibhaftige Piratin zu Gesicht bekommen. „Bist du echt auf einem Piratenschiff über die sieben Weltmeere gesegelt?“ „Oh, ja, das bin ich. Und ich kann dir sagen, es ist einfach herrlich, wenn die Galeone in gleißender Sonne über das blaue Meer dahinzieht“, schwärmte Emily. „Eduard“, rief Amalia ihrem Freund hinterher, der von ihrem Zusammenstoß mit Emily gar nichts
bemerkt hatte und leise vor sich hinschimpfend weitergegangen war. Da Eduard auf ihren Ruf nicht reagierte, nahm Amalia Emily bei der Hand und stürmte hinter ihm her. Nachdem sie sich im Zickzacklauf einen Weg durch die anderen kleinen Gespenster gebahnt hatten, die sich auf dem Gang drängten, holten sie Eduard schließlich keuchend ein. „Emily“, sagte Amalia, „das ist mein Freund Eduard Freiherr von Holperdingen und ach, ja, ich hab mich ja auch noch gar nicht vorgestellt, ich bin Amalia.“ „Gräfin Fidlin“, vollendete Eduard Amalias Ausführungen. „Danke“, erwiderte Amalia. „Und das ist Emily, eine waschechte Piratin.“ „Ist nicht dein Ernst!“, staunte Eduard. „Ich wusste gar nicht, dass Piraten auf die Gespensterschule dürfen!“ Aber noch bevor Emily etwas erwidern konnte, hatten sie auch schon den großen Festsaal erreicht und wurden von Mademoiselle Ivette in Empfang genommen, während Ritter Ethelbert schweigend entschwand. „Meine Lieben“, begann die Lehrerin. „In der Nacht vom 31. Juli werden wir die 800-Jahrfeier unserer Schule feierlich begehen. Und zu diesem Anlass erwarten wir eine Vielzahl von erlauchten Gästen!“
Bei dieser Nachricht brachen die kleinen Gespenster in begeisterten Jubel aus. Schließlich waren Gespensterparties immer ein großer Spaß. „Ruhe, bitte!“ Mit erhobener Hand verschaffte sich Mademoiselle Ivette Gehör. „Deshalb ist es unerlässlich, dass ihr bis dahin wenigstens die Grundlagen des würdigen Auftretens eines Schlossgespenstes erlernt!“ „Oh, ha“, entfuhr es Emily, „würdevolles Auftreten ist nicht gerade die Stärke von Piraten!“
„Wer hat das gerade gesagt?“, fragte Mademoiselle Ivette und ließ ihren Blick durch den Festsaal gleiten, dann zeigte sie mit ausgestrecktem Finger und hochgezogener Augenbraue auf Emily. „Du. Komm nach vorn zu mir, aber schreite, wie eine Dame und nicht wie ein Seebär!“, sagte sie in nicht gerade freundlichem Ton. Emily zuckte mit den Schultern und wankte breitbeinig zu der Lehrerin. Diese schlug sich die Hände vors Gesicht und schimpfte: „Nein, nein, wir sind hier nicht auf einem Schiff bei starkem Seegang! – Schau her, so schreitet eine Dame!“ Mit gespreizten Fingern, schaukelndem Po und hocherhobenem Kopf trippelte Mademoiselle Ivette nun vor ihrer Klasse auf und ab und nickte dabei majestätisch nach links und rechts. Nur mit Mühe gelang es den Gespenstern, sich nicht vor Lachen auf dem Boden zu kugeln. So was hatten sie ja noch nie gesehen! „Voilà“, rief die Lehrerin, nachdem sie ihre Darbietung mit einer schwungvollen Drehung beendet hatte. „Die Mädchen gehen bitte in die linke Ecke und üben dort schon einmal das Schreiten. Ich komme gleich zu euch herüber, um euch in die Weihen des Knicks, wie er bei Hofe üblich ist, einzuweisen. – Die Jungen bleiben bei mir und wir werden uns der eleganten Verbeugung und dem vollendeten Handkuss zuwenden!“ Ein lautes Stöhnen ging durch den Festsaal.
Während aus der Ecke der Mädchen gedämpftes Gekicher zu den Jungen hinüberdrang, wurden diese von Mademoiselle Ivette wirklich hart rangenommen. Die Sache mit der eleganten Verbeugung war ja nicht so schlimm, aber der Handkuss! „Mon dieu, du sollst der Dame nicht die Hand ablutschen“, wies sie einen zierlichen Gespensterjungen zurecht. „Ein Handkuss muss sein, wie eine Feder so leicht. Nur ein Hauch, nicht mehr!“ Die Jungen stöhnten nicht schlecht. Als Amalia, Emily und Eduard nach der Benimmstunde gemeinsam mit ihren Klassenkameraden den Weg zum Aufenthaltsraum einschlugen, stöhnte Eduard, ohne die Lippen richtig zu bewegen, auf: „Ich glaube, ich werde nie wieder richtig sprechen können. Von dieser ganzen idiotischen Handküsserei hab ich Muskelkater in den Lippen!“ Unter schallendem Gelächter bogen Emily und Amalia gefolgt von dem etwas beleidigten Eduard in den Aufenthaltsraum ein.
Je näher sie dem Unterrichtsraum kamen, desto deutlicher fühlte Eduard ein ungutes Gefühl in der Magengegend aufsteigen. Hätte er doch gestern bloß nicht so heillos angegeben! Die halbe Nacht hatte er versucht sich den Kopf abzuschrauben, aber leider ohne jeden Erfolg! Eduard fühlte sich, als ob er gerade auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung wäre. Unsicher wandte er sich an einen Riesen von Gespensterjungen, der gerade vergnügt neben ihm herschwebte, und fragte unsicher: „Haben wir jetzt gespenstisch Gespenstern?“
Der Riese blickte amüsiert auf Eduard herab und erwiderte mit einem breiten Grinsen: „Oh, du kannst es wohl gar nicht erwarten?“ „Äh – na ja“, stammelte Eduard peinlich berührt. „Es tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen“, fuhr der Riese fort, „aber du wirst dich wohl noch etwas gedulden müssen, denn gespenstisch Gespenstern haben wir erst in der zweiten Stunde. Jetzt steht erst mal Gespenstergeschichte bei Fräulein Böhmer auf dem Plan.“ Unhörbar atmete Eduard auf, denn auch wenn er den Geschichtsunterricht schon zu Lebzeiten gähnend langweilig gefunden hatte, verschaffte er ihm jetzt immerhin noch eine Stunde Galgenfrist. „Ich bin übrigens Friedrich“, sagte der Riese gutgelaunt und klopfte Eduard mit einem „Nichts für ungut!“ so fest auf die Schulter, dass dieser unweigerlich in die Knie sank und neben Friedrich nun aussah wie ein Gartenzwerg. Im Klassenzimmer angekommen, glitt Eduard neben Amalia auf seinen Stuhl und dachte fieberhaft darüber nach, wie er seinen Kopf wieder aus der Schlinge ziehen oder eher wie er sich vor dem Kopfabschrauben drücken könnte. Aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, es wollte ihm einfach nichts einfallen. Schließlich rissen ihn die Worte seiner Geschichtslehrerin aus seinen Gedanken. „Eine der wichtigsten Begebenheiten in unserer Geschichte ist die Erschaffung des Gespensterspiegels“, sagte sie und rückte ihren Dutt,
zu dem sie ihre langen weißen Haare verschlungen hatte, zu recht. War es Einbildung oder hatte Amalia recht gesehen? Nein, sie hatte sich nicht geirrt! Irgendetwas stimmte mit Emily nicht. Urplötzlich zappelte sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, tippte nervös mit den Fingern auf ihrem Pult herum und warf ständig verstohlene Blicke um sich. Seltsam, sehr seltsam! Amalia nahm sich fest vor, ihre neue Freundin nach dem Unterricht zur Rede zu stellen, aber jetzt wollte sie die Geschichte vom Gespensterspiegel hören. Fräulein Böhmer verschränkte die Arme vor der Brust und begann ihren Bericht: „Vor gar nicht allzu langer Zeit – im frühen Mittelalter, um genau zu sein – verband einen Hexenmeister und ein gutes Gespenst eine innige Freundschaft Nacht für Nacht saßen sie zusammen, spielten oder erzählten sich Geschichten. Eines Nachts vertraute das Gespenst seinem Freund an, dass es schreckliche Angst vor einem bösen, grausamen Gespenst hätte. Dieses Gespenst schaute von Zeit zu Zeit bei dem guten Gespenst vorbei, um es ganz schrecklich zu piesacken. Da versprach der Hexenmeister seinem Freund, nach einem Mittel zu suchen, um das böse Gespenst unschädlich zu machen. Als nun das gute Gespenst und der Hexenmeister Wochen später zusammen Schwarzer Peter spielten, erschien das böse Gespenst. Da zog der Hexenmeister einen Spiegel hervor, den er mit
einer besonderen Silberlegierung überzogen hatte. Mit einer List gelang es ihm, das böse Gespenst vor den Spiegel zu locken. Als es in den Spiegel sah, erschreckte es sich so sehr über das, was es da sah, dass es taumelte und buchstäblich durch den Spiegel hindurchfiel, ohne diesen zu zerstören. Seit diesem Tag ist das böse Gespenst nie wieder gesehen worden.“ Fräulein Böhmer machte eine bedeutungsschwere Pause und ließ ihren Blick über die Gespensterkinder gleiten. Sie waren so leise, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. „Was war passiert?“, fragte sie ins Klassenzimmer hinein, um ihre Frage dann selbst zu beantworten. „In dem Moment in dem das böse Gespenst in den Spiegel gefallen war, hatte es aufgehört Gespenst zu sein.“ Vor Staunen stand einigen der kleinen Gespenster der Mund sperrangelweit auf. Fräulein Böhmer erhob sich vom Lehrerpult und ging gemessenen Schrittes an den Bänken entlang, sodass ihr langes, schwarzes Kleid leise raschelte. „Und wo ist der Gespensterspiegel jetzt?“, fragte Eduard. „Lange Zeit war der Gespensterspiegel verschwunden, dann tauchte er plötzlich wieder auf und sofort gab es um ihn schreckliche Kämpfe“, erklärte Fräulein Böhmer. „Jeder wollte ihn haben, weil er natürlich demjenigen, der ihn besitzt, unwahrscheinliche Macht verleiht Die bösen Gespenster wollten ihn haben, weil sie hofften, mit
seiner Hilfe die guten Gespenster vernichten zu können und die guten wollten natürlich die bösen loswerden. Seit dreihundert Jahren befindet sich der Spiegel nun im Besitz der guten Gespenster und ist an einem sicheren Ort hier in der Schule versteckt. Wir haben uns mit den bösen Gespenstern darauf geeinigt, den Spiegel nicht zu benutzen, solange sie sich benehmen.“ Hier seufzte Frau Böhmer schwer und sagte: „Aber leider versuchen sie immer wieder den Spiegel in ihren Besitz zu bringen. Bis jetzt hatten sie damit zum Glück keinen Erfolg! – Der Schlimmste von ihnen ist Piratenkapitän Pazifico. Er ist besonders grausam und hinterhältig.“ Wie zufällig fiel da der Blick der Lehrerin auf Emily. Es dauerte zwar nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es war Amalia nicht entgangen, wie hasserfüllt dieser Blick gewesen war. Schnell drehte Emily den Kopf zur Seite. Was ging hier nur vor sich? „Und woran kann man den Gespensterspiegel erkennen?“, fragte Friedrich in den Raum hinein. Die Antwort der Lehrerin klang sehr geheimnisvoll. „Äußerlich sieht er aus wie jeder andere Spiegel auch, erst wenn man unmittelbar vor ihm steht erkennt man seine Besonderheit! – Aber, Achtung“, warnte die Lehrerin mit erhobenem Zeigefinger ihre Schüler, „wenn ihr jemals auf den Gespensterspiegel stoßen solltet, berührt um Gottes willen nicht die Glasfläche!“
Das Klingelzeichen verkündete das Ende der Geschichtsstunde und Emily packte in Windeseile ihre Unterlagen zusammen und stürmte aus dem Unterrichtsraum. Behände hechtete Amalia hinter ihr her. „Was ist los mit dir?“, fragte sie, nachdem sie ihre Freundin eingeholt hatte. „Und warum hat Fräulein Böhmer dich eben so angesehen?“ Mit Bestürzung sah Amalia da, wie Emily die Tränen in die Augen schossen. „Kannst du dir das nicht denken?“, gab Emily zurück. Amalia schüttelte nur stumm den Kopf. Als eine Gruppe von vier oder fünf anderen Gespenstern an ihnen vorüberjagte, zischte ein Gespenstermädchen Emily feindselig zu: „Mach, dass du wegkommst! – Für Piraten ist hier kein Platz!“ „Hey, was soll das?“, brüllte Amalia dem Gespenstermädchen hinterher, aber das war schon mit seinen Freundinnen um die nächste Ecke verschwunden. „Siehst du?“, schniefte Emily. „Genau das meine ich. Es ist immer das Gleiche. Sobald die Geschichte vom Gespensterspiegel und von Piratenkapitän Pazifico erzählt wird, will keiner mehr etwas mit mir zu tun haben. Alle behandeln mich dann total eklig, weil sie meinen, dass alle Piraten so schlecht sein müssen wie Pazifico!“ Emily wischte sich die Tränen von der Wange und sagte traurig: „Du willst doch
jetzt bestimmt auch nichts mehr mit mir zu tun haben, oder?“ „Blödsinn!“, entfuhr es Amalia. „Du kannst es ruhig sagen. Ich bin es gewöhnt“, erwiderte Emily tapfer. „Es ist immer das Gleiche. Auch hier auf der Schule wollte mich keiner haben. Der Einzige, der bereit war, mir eine Chance zu geben, war der Direktor. Alle anderen denken, dass ich nur hier bin, um die Schule für die Piraten auszuspionieren.“ Amalia nahm Emily in die Arme und drückte sie ganz fest an sich. „Wir werden die anderen eben davon überzeugen, dass du nicht so bist wie Pazifico. Ihre Vorurteile sind dumm“, versuchte Amalia ihre Freundin zu trösten. „Komm, lass uns zum Klassenzimmer zurückgehen!“ Emily lächelte ihre Freundin glücklich an. Als sie das Klassenzimmer erreicht hatten, tastete Emily unsicher nach Amalias Hand, ergriff sie und drückte sie ganz fest Amalia erwiderte den Händedruck und so betraten sie gemeinsam unter den feindseligen Blicken ihrer Klassenkameraden den Raum. Dicht hinter Ritter Ethelbert huschte Eduard, der nervös auf dem Gang hin und her marschier war, gesenkten Hauptes durch die Tür. Diese Unterrichtstunde Gespenstisch Gespenstern sollte in die Geschichte der Gespensterschule eingehen. So gelacht hatten die Gespenster schon seit langem nicht mehr. Natürlich musste Eduard als Erster sein
Können oder besser Nichtkönnen unter Beweis stellen. Die Gespenster grölten vor Lachen, als Eduard verzweifelt versuchte, seinen Kopf abzuschrauben. Immer wieder sprang dieser widerspenstig in seine Ausgangsposition zurück. „Na, Eduard“, triumphierte Ritter Ethelbert, „das war ja wohl gar nichts!“ „Hähähä“, meckerte Eduard in sich hinein. Nun war Friedrich, der Gespensterriese, an der Reihe. Zunächst sah es so aus, als ob ihm das Kopfabschrauben wirklich gelingen wollte, aber plötzlich krachte es und Friedrichs Kopf kippte nach hinten weg und ließ sich überhaupt nicht mehr bewegen. Ritter Ethelbert begutachtete den Schaden und stellte schließlich fest: „Tja, ich befürchte, da haben sich ein paar Halswirbel quergestellt. Ab mit dir auf die Krankenstation!“ Ritter Ethelbert wählte zwei Gespenster aus, die den armen Friedrich auf seinem Weg begleiten sollten, da er ja im Moment nicht mehr als die Decke sehen konnte. Als Amalia, Eduard und Emily auf dem Weg zum Aufenthaltsraum waren, zischte Eduard: „Dieser schwarze Ritter ist ja wohl echt die Pest!“ „Was kann er denn dafür, dass du so ein Angeber bist?“, verteidigte Amalia ihren Schwarm. „Dem werde ich es schon noch zeigen“, erwiderte Eduard bockig. „Aber die Geschichtsstunde war echt klasse, ganz anders als zu meinen Lebzeiten. – Es
scheint, als ob die Schule viele Geheimnisse bergen würde.“ Plötzlich glänzten Eduards Augen auf. „Hey, Mädels“, rief er, „ich hab eine bombastische Idee!“ „Was denn?“, wollte Emily wissen. „Kommt einfach mit!“, befahl Eduard mit einem geheimnisvollen Lächeln und zog Amalia und Emily mit sich mit.
„Eduard, was hast du denn jetzt schon wieder vor?“, fragte Amalia und ließ sich widerstrebend von ihrem Freund wegziehen. „Wir müssen doch zur Hausaufgabenbetreuung!“ „Keine Panik!“, erwiderte Eduard leichthin. Dann verkündete er hinter vorgehaltener Hand: „Es wird Zeit, dass wir eine kleine Erkundungstour durch die Schule machen. – Ist das eine gute Idee?“ „Oh, ja“, freute sich Emily. „Kerker, Verliese, Folterkammern – all das kenne ich nur aus Erzählungen.“ Nachdem sie eine Weile ziellos durch die Schule gegeistert waren, erreichten sie schließlich den von einzelnen Fackeln erleuchteten großen Saal, in dem der Direktor sie zur Aufnahmeprüfung empfangen hatte. Amalia entdeckte das hölzerne Podest von dem aus der Direktor zu ihnen gesprochen
hatte. Auch die beiden Lehnstühle standen unverändert am gegenüberliegenden Ende des Saales. Mit einer ausschweifenden Handbewegung fragte Emily interessiert: „Wer sind denn die Leute auf den vielen Gemälden?“ „Nun, meine Liebe, das kann ich dir natürlich erklären“, sagte Eduard großspurig, nahm gewichtig seinen Kneifer von der Nase, und während er die Gläser mit einem Zipfel seines Hemdes ausgiebig putzte, fuhr er belehrend fort: „Dabei handelt es sich um die Porträts der Personen, die der Schule, zum Beispiel durch Geldspenden, Gutes haben widerfahren lassen.“ Von Eduards wichtigem Getue total genervt, verdrehte Amalia die Augen. Sie konnte nur schwer an sich halten. Wie ein Fremdenführer schritt Eduard nun durch den Saal und machte Emily auf weitere Sehenswürdigkeiten aufmerksam. „Das hier ist die Schuluhr“, berichtete er und blieb vor der außergewöhnlich großen Standuhr stehen, deren Pendel ruhig und regelmäßig hin und her schwang. „Im Jahre 1701 wurde sie hier aufgestellt. Seitdem verkündet sie die Geisterstunde und alle Geisteruhren der Welt richten sich nach ihr.“ Während Emily vor lauter Staunen über Eduards Wissen der Mund offen stehen blieb, zischte Amalia Eduard im Vorbeigehen zu: „Wo hast du das denn her?“
„Tja, da bist du platt?“, erwiderte Eduard ungerührt und setzte sich seinen Kneifer wieder auf die Nase. Dann fuhr er mit seiner Führung fort. Gerade als er sich mit überkreuzten Beinen und verschränkten Armen an das Geländer der großen hölzernen Freitreppe lehnte, die von dem Saal zu der in vollkommener Dunkelheit liegenden Galerie hinaufführte, wurde er plötzlich von Amalia in seinem Redefluss unterbrochen. Beschwörend legte sie einen Finger auf die Lippen und lauschte in die Dunkelheit hinauf. „Was ist denn los?“, raunzte Eduard Amalia an. Er konnte es nun mal nicht leiden, wenn ihm jemand seinen Auftritt verdarb. „Psst“, zischte Amalia, „da kommt jemand.“ „Unfug“, schimpfte Eduard. „Die anderen machen artig ihre Hausaufgaben und die Lehrer beaufsichtigen sie. Wer soll da also kommen?“ „Aber ich glaube, ich habe eine Kerze aufflackern sehen“, ließ sich da Emily vernehmen. Und fast gleichzeitig waren sie da. Angeführt von einer wunderschönen Frau im weißen, wallenden Gewand, die eine tropfende Kerze vor sich hertrug, schwebte eine Gruppe von Hofdamen langsam die Galerie entlang. Und obwohl die drei Freunde ja selbst Gespenster waren, überlief sie dennoch beim Anblick der Anführerin und ihres Gefolges eine Gänsehaut Amalia kam es auch so vor, als ob die Temperatur in der Halle plötzlich um ein paar Grad
gefallen wäre. Als die Dame in dem weißen Gewand die Treppe erreicht hatte, blieb sie stehen, legte die rechte Hand über ihre Augen und spähte in die Ferne. Urplötzlich gellte ein Schrei durch die Halle, der die drei Kinder zusammenzucken ließ. „Gefahr! Gefahr!“, rief die Frau in Weiß. „Hört ihr denn nicht? Sie kommen!“ Damit eilten sie und ihr Gefolge unter lautem Jammergeschrei die Treppenstufen hinab und verschwanden schließlich in einem der von dem Saal abgehenden Gänge. Von den Kindern unbemerkt war während des Spukes ein Mann im weinroten Samtjackett auf die Galerie getreten. Nachdenklich blickte er den davonspukenden Damen hinterher, zog an seiner Pfeife und wollte sich gerade kopfschüttelnd wieder zum Gehen wenden, als sein Blick auf die völlig verdatterten kleinen Gespenster fiel. Emily wäre beinahe vor Schreck umgefallen, als der Herr sich räusperte und zu den Kindern sagte: „Nette Vorstellung – nicht wahr? Auf die Dauer ist es allerdings etwas ermüdend. Die Damen sind jetzt schon zum zwanzigsten Mal heute Nacht hier lang gegeistert. Und wahrscheinlich war es nicht das letzte Mal.“ „Wie… wie… wie bitte?“, stotterte Amalia, um Fassung bemüht. „Na, die Damen gerade. Lady Viviana und ihr Gefolge“, erklärte der Herr. „Kommt in die Bibliothek, da ist es wärmer und es erzählt sich auch
leichter!“ Der Herr winkte den Kindern, ihm zu folgen und verschwand in der Dunkelheit. „Sollten wir nicht lieber zusehen, dass wir hier wegkommen?“, flüsterte Eduard. „Vielleicht ist das der absolut oberböse Geist der Schule und, wer weiß, was der mit uns vorhat?“ „Nun kommt schon“, rief Emily entschlossen. „Wenn der uns ans Fell will, dann werd ich ihn ein bisschen kitzeln!“ Mit diesen Worten zog sie ein blitzendes Entermesser aus ihrem Gürtel hervor. „Attacke“, brüllte Emily und stürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Da ließen sich Amalia und Eduard auch nicht lange bitten und rannten hinter ihr her. Ein schwacher Lichtschein, der durch eine offene Tür auf die Galerie hinausstrahlte, wies den Freunden den Weg zur Bibliothek. An allen vier Wänden standen hohe Regale, in denen Hunderte von verstaubten Büchern in Reih und Glied auf ihre Leser warteten. Ehrfürchtig traten die Kinder langsam ein. Die dicken, orientalischen Teppiche, die den kalten Steinboden bedeckten, verschluckten ihre Schritte, sodass der Herr die drei Freunde erst bemerkte, als sie direkt neben ihm standen. „Da seid ihr ja“, rief er erfreut und erhob sich aus dem klobigen Ohrensessel. Er trat auf den Kamin zu und beugte sich über das prasselnde Feuer, um sich die Hände daran zu wärmen. Amalia betrachtete den Herrn eingehend. Unter seinem weinroten Samtjackett trug er eine beigefarbene Weste, aus deren kleiner
Seitentasche die Kette einer Taschenuhr baumelte. Alles an ihm war sehr gepflegt. Auf seiner beigen Hose zeigte sich kein einziges Fleckchen und seine braunen Schuhe funkelten vor Sauberkeit so sehr, dass man sich darin hätte spiegeln können. Alles in allem fand Amalia, dass der Herr sehr vornehm und überhaupt nicht böse oder gefährlich aussah. Aber dennoch beschloss sie, auf der Hut zu sein, denn schließlich kann man sich nie sicher sein. Nach einer Weile richtete sich der Herr auf und sagte amüsiert mit einem Seitenblick auf Emily: „Das Entermesser wirst du nicht brauchen. Ich bin durchaus friedlich.“ „Ich bin lieber vorsichtig!“, entgegnete Emily forsch. „Wie du meinst“, sagte der Herr nur. Amalia gab sich einen Ruck und fragte zaghaft: „Dürfen wir wissen, wer Sie sind?“ „Aber natürlich“, erwiderte der Herr und wandte sich den Kindern zu. „Mein Name ist Roderick Dreistein. Ich bin Wissenschaftler. Vor nahezu einhundert Jahren ist mir leider ein wissenschaftliches Experiment misslungen, sodass ich dahingeschieden bin. Seitdem fungiere ich hier als Schulgespenst – äh – glaub ich zumindest. Denn so genau weiß ich das eigentlich gar nicht.“ Nachdenklich kratzte sich der Wissenschaftler am Ohr. „Und wer seid ihr?“ „Wir sind neue Schüler“, stellte Emily sich und ihre Freunde vor. „Ich bin Emily, das ist Amalia und der
Dritte im Bunde ist Eduard. Wir wollten uns ein bisschen die Schule ansehen.“ „Ich bin immer hocherfreut wenn ich neue Schüler kennen lerne“, erwiderte Herr Dreistein, „denn sie können mir bei meiner Forschungsarbeit von Nutzen sein. Genau deshalb und auch wegen der umfassenden Bibliothek ist die Gespensterschule genau der richtige Ort für mich.“ Interessiert schritt er langsam um die drei Freunde herum und unterzog sie einer genauen Prüfung. „Was forschen Sie denn so?“, fragte Eduard nach und versuchte möglichst schlau dreinzuschauen. Herr Dreistein nahm seine Pfeife von einem kleinen Tischchen, das neben dem Ohrensessel stand, zündete sie an und zog ein paar Mal an ihr, bis dass sich lustige Kringel in der Luft kräuselten. „Wisst ihr, ich finde das alles interessant! Außerordentlich interessant. Denn – vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus – kann es uns alle vier und überhaupt alle Gespenster gar nicht geben“, erklärte er. „Bis jetzt gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass es Gespenster gibt!“ Amalia, Eduard und Emily blickten sich fragend an. Und Eduard tippte sich in einem unbeobachteten Moment vielsagend mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. „Zu meinen Lebzeiten habe ich selbstverständlich keinen Gedanken an Gespenster verschwendet. Für mich stand absolut fest, das all diese Geschichten
über Gespenster nichts anderes als Ammenmärchen sind“, erzählte der Wissenschaftler. „Jetzt, da ich selbst eines zu sein scheine – und ich betone – scheine, suche ich nach einem wissenschaftlichen Beweis für die Existenz von Gespenstern. Bis heute habe ich keinen gefunden. Auch nicht dafür, dass Gespenster angeblich Dinge vorhersehen können – lächerlich“, sagte Herr Dreistein und schüttelte amüsiert den Kopf. „Nehmen wir zum Beispiel Lady Viviana und ihr Gefolge. Es geht die Mär, dass Lady Viviana vor siebenhundert Jahren mit ihrem Gefolge durch die Burg gezogen ist und die Burgbewohner vor einem feindlichen Angriff gewarnt hat. Da ihr aber niemand Gehör geschenkt hatte, waren alle unvorbereitet, als die Feinde schließlich doch die Burg angriffen. Angeblich sind alle bei diesem Angriff getötet worden. Seitdem spukt Lady Viviana mit ihrem Gefolge – so heißt es zumindest – immer dann durch die Burg, wenn ihren Bewohnern Unheil droht Glaubt man diese Geschichte, so müssten wir bald unerfreulichen Besuch bekommen. Ich für meinen Teil halte das alles für Unsinn. Absolut lächerlich. Aber trotzdem bin ich sehr gespannt“, schloss Herr Dreistein seinen Bericht. „Ein Unheil?“, fragte Emily erschreckt. „Was denn für ein Unheil?“ „Es ist absolut lächerlich“, lachte Herr Dreistein auf und ließ sich wieder in seinen Ohrensessel plumpsen. „Ich neige zu der Annahme, dass Lady Viviana ein
bisschen hysterisch ist.“ Mit einem amüsierten Grinsen zog er wieder an seiner Pfeife. „Wenn Sie das Schulgespenst sind, dann haben Sie doch bestimmt beim Spuken die ganze Schule erkundet und kennen sich hier aus wie in Ihrer Westentasche“, sagte Emily zu Herrn Dreistein. „Da können Sie uns sicherlich sagen, wo die Verliese, Kerker und Folterkammern zu finden sind.“ Augenblicklich verdüsterte sich Herrn Dreisteins Miene und er blickte Emily an, als ob sie ihm gerade eine Kakerlake zum Nachtisch angeboten hätte. „Mein gutes Kind“, sagte er entrüstet, „ich habe dir doch eben erklärt, dass ich keinen Beweis dafür habe, dass ich wirklich ein Gespenst bin. Und solange das so ist, weigere ich mich, das Benehmen von Gespenstern anzunehmen. Ich spuke nicht. Ich habe es noch nie probiert und es liegt auch nicht in meiner Absicht, es in naher Zukunft zu erproben. Ich gehe wie jeder normale Mensch, und zwar durch geöffnete Türen und nicht durch Wände. Das Einzige, was sich zwangsläufig in meinem Leben verändert hat, ist die Tatsache, dass ich nun nachts wach bin und tagsüber schlafe. Und außerdem leide ich an einer unerklärlichen Appetitlosigkeit Die Bibliothek verlasse ich nur, um die so genannten Gespenster in Aktion zu sehen und sie so zu erforschen!“ Emily warf ihren beiden Freunden einen bedeutungsvollen Blick zu.
„In einigen Wochen zum Beispiel, in der Nacht vom 31. Juli“, fuhr der Wissenschaftler fort. „Ihr wisst doch bestimmt dass dann das 800-jährige Bestehen der Schule gefeiert wird.“ „Ja, richtig!“, rief Amalia. „Eine Unmenge von Gespenstern wird sich hier einfinden. Ein gefundenes Fressen für meine Studien“, freute sich Herr Dreistein und warf einen Blick auf die schöne alte Uhr, die den Kaminsims zierte. „Oh, schon so spät?“, wunderte er sich. „Höchste Zeit dass wir ein bisschen an unseren Truhen lauschen“, sagte er, erhob sich aus seinem Sessel, legte die mittlerweile verloschene Pfeife auf dem Kaminsims ab und schritt durch die Bibliothek auf eine große hölzerne Bücherkiste zu. Er öffnete den quietschenden Deckel, winkte den Kindern zum Abschied zu und legte sich in die Bücherkiste. Mit einem freundlichen „Gute Nacht!“, schloss er den Deckel. „Der hat se doch nicht mehr alle“, zischte Eduard. „Total durchgeknallt!“ „Ganz richtig im Kopf scheint Herr Dreistein wirklich nicht zu sein“, bestätigte Amalia Eduards Einschätzung. „Es heißt ja, dass viele geniale Menschen mit der Zeit seltsam werden“, meinte Emily fachkundig, zuckte gleichgültig mit den Schultern und ließ ihr Entermesser wieder in ihrem Gürtel verschwinden.
Dann rieb sie sich tatendurstig die Hände und sagte: „Wo wollen wir denn unsere Suche fortsetzen?“ „Ich glaube, für heute müssen wir unsere Entdeckungsreise beenden“, entgegnete Amalia bedauernd und zeigte mit dem Kopf in Richtung Kaminuhr, die zwanzig Minuten nach fünf anzeigte. „Wir sollten eigentlich schon längst schlafen.“ Das mussten auch Emily und Eduard einsehen. So leise wie möglich huschten die drei Freunde zurück zum Schlaftrakt der Erstklässler, der in vollkommener Dunkelheit vor ihnen lag. Aus einigen Türen drang gedämpftes Schnarchen auf den Flur hinaus. Die anderen schliefen also schon längst. Als sie sich gerade vor Amalias Zimmertür angenehme Träume wünschten, drang von ganz weit her das Rufen und Jammern von Lady Viviana und ihrem Gefolge über den Gang. „Ob uns wirklich Gefahr droht?“, fragte Eduard und erschauderte leicht. „Ich weiß es nicht“, gab Amalia ehrlich zu. „Aber wahrscheinlich haben der Direktor und die Lehrer Lady Vivianas Warnrufe auch gehört, und wenn was an ihren Prophezeiungen dran ist, dann werden die das schon wissen und gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.“ Als Amalia in ihrer Truhe lag, musste sie wieder an Finn denken. Es war wirklich zu schade, dass er nicht auch auf die Gespensterschule gehen konnte.
Da durchzuckte sie eine Idee. Die 800-Jahrfeier wäre doch die Gelegenheit, um… genau, so würde sie es machen!
Die Wochen vergingen für die kleinen Gespenster wie im Fluge. Fräulein Böhmer erzählte ihnen viele spannende Geschichten aus der frühen Zeit der Gespenster und quälte sie aber leider auch mit langweiligen Geschichtszahlen, die sie sich beim besten Willen nur sehr schwer merken konnten. Mademoiselle Ivette war unnachgiebig, wenn es darum ging, ihren kleinen Schülern das richtige Benehmen beizubringen. Und Eduard stand nach wie vor mit Ritter Ethelbert auf Kriegsfuß. Immer und immer wieder übten sie das Kopfabschrauben. Eduard wurde zwar mit der Zeit immer besser, aber richtig gelingen wollte es ihm nicht Ab und zu statteten sie nach dem Unterricht Herrn Dreistein einen Besuch ab und versuchten vergeblich ihn davon zu überzeugen,
dass er ein waschechtes Gespenst war. Und schließlich kam die Nacht der 800-Jahrfeier. Der zwölfte Schlag der großen Standuhr hallte noch durch die Schule, als Eduard aufgeregt die Tür zu Amalias Schlafgemach aufriss. „A…“, vor Staunen blieb ihm das Wort im Halse stecken. Er rieb sich die Augen und kniff sich fest in die Wange. Nein, es war kein Traum! „Amalia, ich glaube, ich muss auf die Krankenstation“, stöhnte er und starrte ungläubig auf den Schatten eines Jungen, der sich langsam aus der hintersten Zimmerecke löste. „Das kann doch nicht wahr sein!“ „Überraschung!“, rief der Junge und schritt auf Eduard zu. Immer noch verwirrt, stotterte Eduard: „Finn, wie… wie… wie kommst du denn hierher?“ „Amalia hat mich heute Nacht hergeholt Sie meinte, dass eure 800-Jahrfeier die beste Gelegenheit für mich wäre, mir unerkannt die Schule anzusehen“, antwortete Finn mit breitem Grinsen. Eduard, der langsam seine Fassung wiedergewann, rief erfreut: „Das war eine Superidee, Amalia!“ „Nicht wahr?“, freute sich Amalia. Als Amalias Zimmertür erneut knarrend aufschwang, sprang Finn mit einem gewagten Satz in Amalias offenstehende Wäschetruhe und schloss den Deckel. Emily stand in der Tür.
„Wo bleibt ihr denn?“, wollte sie wissen. „Habt ihr denn nicht die Fanfare gehört? Das Fest beginnt bereits!“ „Einen Augenblick“, sagte Amalia und zog Emily mit sich zur Wäschetruhe. „Ich möchte dir jemanden vorstellen!“ Damit hob sie den Deckel der Truhe hoch, stupste den zusammengekauerten Finn an und erklärte: „Das ist Finn. Bevor ich auf die Gespensterschule gekommen bin, habe ich auf dem Dachboden von Finns Haus gewohnt. Er ist mein bester Freund und er hat Eduard und mir geholfen, die Aufnahmeprüfung an der Gespensterschule zu bestehen.“ „Tag auch“, sagte Emily. „Wirst du uns zur Feier begleiten?“ „Natürlich, deshalb ist er ja hier“, antwortete Amalia schnell. „Aber erst muss ich ihn noch in ein richtiges Gespenst verwandeln.“ Amalia umkreiste ihren Freund und ließ ihren Blick an ihm rauf und runter gleiten. Dann blieb sie vor ihm stehen, tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn und dachte angestrengt nach. „Als Erstes brauchst du andere Kleidung! – Ich könnte dir eines meiner Kleider anbieten!“ Widerstrebend verzog Finn sein Gesicht. Also, in ein Mädchenkleid wollte er sich nun wirklich nicht stecken lassen. Zum Glück kam ihm da Eduard zu Hilfe. „Irgendwo habe ich noch einige Kleidungsstücke. Die stammen zwar alle aus den unterschiedlichsten
Jahrhunderten, aber es wird schon gehen!“ Er entschwand zur Tür hinaus. Schnell wie der Blitz war er wieder zurück und präsentierte seine Schätze. Nachdem Finn in die Sachen geschlüpft war, schaute er fragend an sich herunter: „Ein Gehrock, eine Rocker-Lederhose und eine Halskrause. Schrill!“, urteilte er und warf der kichernden Emily einen verstohlenen Blick zu. „Du siehst total… “, Emily suchte angestrengt nach dem passenden Wort, „abgefahren aus. So sagt man wohl in deinem Jahrhundert. – Aber jetzt lasst uns endlich zum Fest gehen!“ „Etwas fehlt noch“, sagte Amalia schnell und kramte in einer wurmstichigen Kommode herum. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte. Mit einem kleinen perlenbesetzten Döschen in der Hand trat sie auf Finn zu und befahl: „Augen zu!“ Das Döschen schnappte auf und zum Vorschein kam eine Puderquaste, mit der Amalia kräftig in der Dose herumrührte, um dann Finns gesamten Kopf und auch seine Hände mit dem kalkweißen Puder einzunebeln. „Genug, genug!“, schrie Finn unter ständigem Niesen. Amalia hielt inne und betrachtete höchst zufrieden mit sich ihr Werk. „So kannst du dich sehen lassen“, meinte sie. „Seid mal leise“, bat Emily plötzlich und lauschte angestrengt. Da war es wieder – es klang, als ob
Holzstücke schnell gegeneinander geschlagen würden und Stoffballen aufeinander schlügen. „Donner und Doria“, flüsterte Emily, „das Geräusch kenn ich!“ Dicht gefolgt von den anderen hechtete sie zum Fenster und suchte ebenso wie Eduard, Amalia und Finn den Sternenlosen Nachthimmel ab. „Da!“, rief Amalia plötzlich. „Da hinten – der dunkle Fleck – was ist das?“ Unaufhaltsam schwebte der dunkle Fleck auf die Gespensterschule zu. Und da waren auch wieder die seltsamen Geräusche. Je näher der Schatten herankam, desto lauter wurden sie. Als der Mond hinter einer Wolke hervorlugte, verwandelte sich der unerklärliche Schatten in die deutlichen Umrisse einer… „Galeone“, hauchte Emily tonlos. „Eine britische Galeone.“ „Booh!“ Finn war vor Begeisterung total aus dem Häuschen. „Solche Schiffe kenn ich nur aus alten Filmen über Piraten, die im Auftrag der englischen Königin spanische Schiffe gekapert haben. So ein Ding hab ich noch nie in echt gesehen. Coole Aktion! – Aber warum kann es fliegen?“ „Denk doch mal ein bisschen nach!“, gab Eduard schroff zurück. „Weil es ein Gespensterschiff ist!“ Jetzt bekam Finn vor lauter Staunen den Mund nicht mehr zu. Gespannt verfolgten die Kinder, wie das Großsegel rasselnd am Mastbaum niederfuhr und das Segeltuch peitschend aufeinander schlug. Das war
also das Geräusch gewesen, was Emily gehört hatte. Je mehr Segel eingeholt wurden, desto langsamer kam das Schiff, die Backbordseite der Schule zugewandt, voran. Mit zitterndem Finger zeigte Eduard auf das Heck des Schiffes und stöhnte: „Die Totenkopfflagge! – Piraten!“ „Hey, keiner hat mir was davon gesagt, dass Sir Francis Drake auch zu eurer Party kommt“, freute sich Finn händereibend und schwärmte: „Ich werde gleich mit dem größten englischen Piraten aller Zeiten ein Glas Cola trinken! Wenn ich das in meiner Schule erzähle…“ „Du guckst zu viel Fernsehen“, ermahnte ihn Amalia. „Hör auf zu träumen und schau dir das da an!“ Auf Deck des Schiffes herrschte reges Treiben. Geschickt kletterten einige der Piraten mit blitzenden Messern zwischen den Zähnen und Enterhaken in den Händen in die Wanden. Andere brachten die Kanonen in Stellung, während sich eine Vielzahl der düsteren Gesellen an der Backbordseite aufreihte – auch sie bewaffnet bis unter die Zähne. „Verdammt“, fluchte Amalia und deutete mit dem Kopf in Richtung Schiffsbug. Breitbeinig und gebieterisch stand dort eine Gestalt in rotem Kapitänsrock, behangen mit funkelnden Edelsteinketten. „Pazifico“, sagte Emily tonlos.
„Lady Viviana hatte mit ihrer Prophezeiung doch Recht“, schlussfolgerte Amalia. Eduard nickte stumm und bevor Finn richtig begriffen hatte, was vor sich ging, rief Emily: „Schnell, wir müssen die anderen warnen, bevor es zu spät ist!“ Augenblicklich stoben die drei Gespenster dicht gefolgt von dem verwirrten Finn in Richtung Festsaal davon. „Was habt ihr denn? Das ist doch nur ein Partyscherz von der Schulleitung“, keuchte Finn hinter den anderen her, ohne eine Antwort zu bekommen. Die Freunde schwebten oder rannten in Windeseile über Gänge, Treppen und Korridore. Mit einem Schrei des Entsetzens, dem ein dumpfer Knall folgte, prallte Emily aus vollem Lauf gegen eine Ritterrüstung, die unverhofft auf dem Gang erschienen war. Mit lautem Scheppern purzelten der Ritter und Emily über den Korridor. „Pass doch auf!“, schimpfte Ritter Ethelbert und versuchte unter Stöhnen und Ächzen wieder auf die Beine zu kommen. „Piraten!“, keuchte Emily und rang nach Atem. „Pazifico!… Sie… sie sind… direkt… vor der Burg!“ „Was soll der Unsinn?“, knurrte der schwarze Ritter. „Guck dir lieber mal an, was du aus meiner Ritterrüstung gemacht hast!“ Es schien, als ob Ritter Ethelbert beim Anblick seiner zerbeulten Rüstung gleich in Tränen ausbrechen wollte. „Aber es stimmt“, eilte Eduard Emily zu Hilfe. „Wir müssen etwas unternehmen, und zwar schnell!“
„Jetzt ist es aber langsam gut. Ich habe wirklich Wichtigeres zu tun, als mir euren Unsinn anzuhören“, entschied Ritter Ethelbert und versuchte verzweifelt seine zerzausten Haare wieder in Ordnung zu bringen. Nachdem es ihm halbwegs gelungen war, setzte er seinen Weg kopfschüttelnd fort Enttäuscht blickte ihm Amalia hinterher. Nie hätte sie gedacht dass ein Ritter der Tafelrunde, und dazu noch so ein gut aussehender, so dumm sein könnte. „Idiot!“, zischte Eduard. Lauter Donnerknall ließ die Burg in ihren Grundfesten erzittern und unmittelbar darauf hallten lautes Kampfgeschrei und eiliges Fußgetrappel durch die Gänge. „Sie sind schon im Innern der Burg!“, keuchte Emily fassungslos. „Ich bin ein Ritter der Tafelrunde des Königs Arthus und ich erwarte eine respektvollere Behandlung“, hörten die Kinder die Stimme des schwarzen Ritters. „Was ist denn nun los?“, fragte Finn und schlich sich wie ein Indianer bis zu einer Mauernische, von der aus er den Eingang zum Festsaal beobachten konnte. Dann winkte er den anderen, ihm zu folgen. Vier Köpfe lugten vorsichtig um die Ecke und Finn und die kleinen Gespenster beobachteten mit angehaltenem Atem, wie Ritter Ethelbert von zwei schaurigen Piraten unsanft in den großen Festsaal geschubst wurde. Hinter ihnen fiel die Tür krachend ins Schloss. Kurze Zeit später öffnete sie sich wieder.
In Begleitung der beiden Piraten trat unverkennbar Piratenkapitän Pazifico auf den Gang hinaus. „Jetzt dürften uns wohl alle Fische ins Netz gegangen sein“, bellte Pazifico und drehte sich zu seinen Gefolgsleuten um, sodass die Kinder sein Gesicht nicht sehen konnten. „Ihr zwei bezieht hier Stellung und dass ihr ja nicht einschlaft – ihr Schnarchnasen!“ „Ay, ay, Kapitän“, erscholl die gehorsame Antwort. Der Anblick der beiden Wachposten ließ Amalia erschauern. Während dem einen die rechte Hand fehlte, an deren Stelle ein gebogener Haken zu erkennen war, wurde das linke Auge des anderen von einer Augenklappe verdeckt. Letzteres war für einen Piraten nichts Ungewöhnliches, aber die lange, klaffende Narbe, die unter der Klappe zum Vorschein kam und sich über Wange und Hals erstreckte, verlieh ihm ein besonders grausames Aussehen. „Diesmal ist der Sieg unser“, frohlockte der Kapitän und zupfte sich eine Wollfluse von seiner mit blanken Goldknöpfen besetzten roten Jacke. „Mit Mann und Maus liegt die ganze feine Gesellschaft da drin bereits in Gespensterketten. Und der Schlüssel ist sicher aufgehoben!“ Mit diesen Worten schlug Pazifico seine rote Kapitänsjacke zurück und zum Vorschein kam ein schwerer Schlüsselbund. „Es war eine gute Idee von uns, gerade heute Nacht zuzuschlagen. Denn jetzt kann keiner mehr meine Pläne durchkreuzen“,
freute sich Pazifico. Der Wachposten mit der Hakenhand räusperte sich unsicher und fragte dann vorsichtig: „Kapitano – äh – hat der Direktor das Versteck preisgegeben?“ Da drehte sich der Kapitän mit einem Ruck um, sodass die Kinder nun direkt in sein sonnengegerbtes, vernarbtes Gesicht sehen konnten. Er war über und über mit edlen Ketten behängt. Um seinen nackten Bauch hatte er eine blaue Schärpe geschlungen, aus der nicht nur der Schlüsselbund, sondern auch ein langer Dolch hervorlugte. „Der sture Esel macht sein Maul nicht auf“, schimpfte er wütend und verzog sein Gesicht zu einer bösen Grimasse. „Aber – Kanonenschlag und Musketen – ich wäre nicht Pazifico, wenn ich den Gespensterspiegel nicht auch so finden würde!“ Gebieterisch begann er vor der Tür auf und ab zu schreiten und gleichzeitig erklang ein markerschütterndes, hohles Pock, Pock, Pock. „Ehhh“, raunte Finn, „der hat ja ein Holzbein!“ „Psst“, zischte Amalia nur. „Und wenn wir den Spiegel erst haben, dann…“, der Piratenkapitän hielt inne und fuhr sich langsam mit dem Zeigefinger über die Kehle, „dann ist es aus mit den so genannten guten Gespenstern!“ Sein höhnisches Gelächter ließ die Kinder zusammenfahren.
„Glaubst du jetzt, dass das hier kein Partyscherz ist?“, flüsterte Emily Finn ins Ohr, der nur fassungslos nickte. „Ich werde jetzt mit den anderen losziehen, um den Gespensterspiegel zu suchen. Falls irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, schlagt Alarm“, befahl der Kapitän und wandte sich zum Gehen. „Ay, ay, Kapitän“, brüllten die zwei Piraten im Chor. Zum unbeschreiblichen Entsetzen der Kinder schritt der Piratenkapitän nun genau auf sie zu. Sie drückten sich tiefer in die Mauernische hinein und trauten sich kaum zu atmen. Unerbittlich näherte sich ihnen das gleichmäßige, hohle Pock, Pock, Pock. Die Kinder wandten ihre Köpfe zur Mauerwand und kniffen die Augen zusammen. Gerade als der Piratenkapitän auf Höhe der Kinder war, verstummte plötzlich das hohle Aufschlagen des Holzbeines auf dem Steinboden. Der Piratenkapitän war stehen geblieben. Hatte er sie entdeckt? Es war totenstill – bis auf – ein leises gleichmäßiges Atmen. Kapitän Pazifico wirbelte herum und brüllte in ohrenbetäubender Lautstärke: „Einauge, Kralle, ich warne euch jetzt zum letzten Mal. Ich kann euch auch die Peitsche geben!“ „Soll nicht mehr vorkommen, Kapitän“, versicherten die beiden Wachposten erschreckt. „Ich will es für euch hoffen“, knurrte der Kapitän und setzte humpelnd seinen Weg fort.
Erleichtert atmeten die Gespensterkinder auf. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis sie sich von ihrem Schrecken erholt hatten.
Leise und geduckt huschten die Kinder bis zu einer nahe gelegenen Tür, die nur angelehnt war und schlichen in das leere Klassenzimmer. Emily war die erste, die die Sprache wiederfand. „Verdammt“, fluchte sie. „Alle werden mich für den Überfall der Piraten verantwortlich machen!“ „Warum dich?“, wollte Finn wissen. „Ist es dir noch nicht aufgefallen, dass Emily eine Piratin ist?“, klärte Amalia ihren Freund auf. „Aber das ist doch ausgesprochenes Glück“, meinte Finn. „Dann kannst du doch zu dem Piratenkapitän gehen und ihn bitten, wieder abzuziehen!“ „Das ist keine gute Idee, denn unser Verhältnis zueinander ist alles andere als rosig“, bedauerte Emily. „Aha!“, erwiderte Finn nur, dann kratzte er sich am Hinterkopf und fragte: „Kann mich eigentlich mal einer aufklären, was das alles zu bedeuten hat?“ „Das würde mich auch interessieren“, erscholl da plötzlich eine Stimme. Die Kinder wirbelten herum
und blickten voll Entsetzen in das Gesicht eines Mannes. „Herr Dreistein“, seufzte Amalia erleichtert auf, als der erste Schreck vorüber war und sie den Wissenschaftler erkannt hatte. „Höchstpersönlich“, erwiderte Herr Dreistein. „Wieso sind Sie in Freiheit?“, wunderte sich Eduard. „Die Piraten haben doch alle Festteilnehmer gefangen genommen.“ „Nun, das lässt sich leicht erklären. – Ich habe schlicht und ergreifend verschlafen. Und bin – zum Glück – ebenso wie ihr zu spät gekommen“, erklärte der Wissenschaftler. „Weiß einer von euch, was dieser Affenzirkus hier soll?“ Wild sprudelten die Erklärungen aus Amalia, Eduard und Emily hervor. So erfuhren Herr Dreistein und Finn die Geschichte vom Gespensterspiegel und den ständigen Kämpfen zwischen den guten und den bösen Gespenstern und auch wer Piratenkapitän Pazifico war. „Lächerlich“, meinte der Wissenschaftler. „Ein Spiegel, der Gespenster ins Jenseits befördern können soll!“ „Warum nicht?“, sagte Finn. „In der Welt der Gespenster ist doch fast alles möglich!“ „Aber nicht wissenschaftlich belegbar“, wies ihn Herr Dreistein zurecht. „Und was sich wissenschaftlich nicht beweisen lässt kann es auch nicht geben! – Aber wer bist du überhaupt?“
„Das ist Finn. Er ist ein Mensch und Amalias bester Freund“, erklärte Emily. „Genug gequatscht“, sagte Eduard ungeduldig. „Wir müssen endlich handeln! – Wie wäre es, wenn einer von uns die Wachposten weglockt und die anderen die Gefangenen befreien.“ „Zwecklos“, befand Amalia hoffnungslos. „Pazifico hat den Schlüssel für die Gespensterketten und ohne die können wir niemanden befreien. Außerdem würden die Wachposten sofort Alarm schlagen und alles wäre verloren. Nein, wir haben nur eine Chance. – Wir müssen den Spiegel vor den Piraten finden!“ „Aber wie soll das gehen?“, fragte Emily verzweifelt. „Mal ganz davon abgesehen, dass überall Wachen aufgestellt sein werden; die Piraten sind in der Überzahl. Sie werden den Spiegel viel schneller finden als wir!“ „Das Zauberwort heißt: Strategie!“, sagte Herr Dreistein. „Wie meinen?“, fragte Eduard gereizt nach. Konnte dieser Mensch oder dieses Gespenst – Eduard war von Herrn Dreisteins Gerede schon ganz wirr – sich denn nicht klar ausdrücken? „Na ja, so wie ich das sehe, durchsuchen die Piraten planlos die Burg“, versuchte der Wissenschaftler seine Überlegung zu erklären. „Wenn wir ihnen zuvorkommen wollen, dann müssen wir strategisch denken. – Also lautet die Frage: Wo könnte der Spiegel versteckt sein?“
Die Gespensterkinder dachten angestrengt nach. „Überall“, antwortete Amalia mit einem tiefen Seufzer. „In den Verliesen, Geheimgängen, hinter Regalen oder Bildern.“ Herr Dreistein schüttelte triumphierend den Kopf. „Ich gebe zu, ich bin euch gegenüber im Vorteil. Als ich gerade meinen neuen Job als Schulgespenst angetreten hatte, habe ich mich auf dem Weg zur Bibliothek verlaufen. Ich endete in einem Saal voller Spiegel. Wenn man einen Spiegel verstecken will, so denke ich mir, versteckt man ihn am besten…“ „Dort, wo er nicht auffällt“, vollendete Finn den Satz. „Unter Spiegeln!“ „Schlaues Bürschchen“, lobte Herr Dreistein. „Na, dann mal los!“, rief Emily voller Tatendrang. „Daraus wird wohl nichts!“, verkündete plötzlich der Kopf eines Piraten, der an der Wand zu hängen schien. Doch die kleinen Gespenster waren lang genug Gespenster, um zu wissen, was der Kopf an der Wand zu bedeuten hatte. Langsam trat der Pirat durch die Wand hindurch und näherte sich mit gefletschten Zähnen und schwingendem Dolch der kleinen Gruppe. Finn, der in seiner Freizeit Karateunterricht nahm, vollführte blitzschnell eine gekonnte Drehung und versetzte dem Piraten einen Karatetritt in die Magengrube. Aber nichts passierte! Finns Tritt war durch das Gespenst hindurchgegangen. Höhnisch lachte das Gespenst auf und holte zum Racheschlag aus. Begleitet von bösem Gelächter ließ es seinen
Dolch auf Finn hinuntersausen. Aber da verpasste Herr Dreistein dem Piraten mit solcher Wucht einen Kinnhaken, dass er ohnmächtig zu Boden ging. Bewundernd starrten die Kinder den Wissenschaftler an. „Wieso funktioniert das bei Ihnen, wenn mein Tritt ins Leere geht?“, fragte Finn etwas beleidigt. „Wenn du, wie ich es getan habe, das bahnbrechende Werk Gespensterkunde Band I gelesen hättest, würdest du wissen, dass Menschen den Gespenstern nichts anhaben können, während Gespenster sich untereinander genauso prügeln können, wie die Menschen. Ganz einfach!“, erwiderte der Wissenschaftler, um Haltung bemüht. Er wollte nicht, dass die Kinder bemerkten, wie sehr ihn seine Hand schmerzte. „Aber sehen Sie denn nicht dass Sie dann ein Gespenst…“, setzte Eduard an. Aber ohne ihm Beachtung zu schenken, fiel ihm der Wissenschaftler ins Wort: „Wo waren wir stehen geblieben? – Ah, ja, wir wollten zum Spiegelsaal!“, beantwortete Herr Dreistein seine Frage selbst. „Aber was machen wir mit dem da?“, wollte Amalia wissen und deutete auf den am Boden liegenden Piraten. „Um den müssen wir uns keine Sorgen machen. Der schläft jetzt erst mal ein Weilchen“, meinte Herr Dreistein und rief dann kampfeslustig: „Mir nach!“
Der Wissenschaftler führte die Kinder durch ein wahres Labyrinth von Gängen. Ständig mussten sie sich verstecken oder auf andere Korridore ausweichen, weil ihnen Piraten auf Erkundungsgang in die Quere kamen. „Gleich sind wir da!“, sagte der Wissenschaftler, als sie um eine Ecke bogen, um dann wie angewurzelt stehen zu bleiben. Vor einer unscheinbaren Tür lag der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt ein Pirat und schnarchte, dass die Wände wackelten. Herr Dreistein deutete mit der ausgestreckten Hand zur Tür herüber und raunte den Kindern zu: „Hinter der Tür liegt der Spiegelsaal!“ „Verdammt und zugenäht!“, fluchte Eduard unterdrückt. „O.k.“, flüsterte Finn. „Da gibt es nur eins. Wir müssen über ihn drüberklettern!“ „Du musst klettern“, berichtigte ihn Emily. „Der Rest von uns kann schweben.“ Völlig irritiert protestierte Herr Dreistein: „Ich bin noch nie, noch überhaupt nie, geschwebt. Und ich werde auch nicht schweben. Ich kann das überhaupt nicht!“ „Aber es ist ganz einfach!“, flüsterte Amalia. „Sie müssen einfach nur so machen.“ Damit hüpfte sie leicht in die Höhe und schwebte. „Das ist schon alles. Ich zieh sie dann mit mir, denn als Anfänger sollten Sie noch nicht versuchen durch die Gegend zu schweben.“
Völlig steif federte Herr Dreistein in den Knien, aber er konnte sich einfach nicht zu einem kleinen Hüpfer überwinden. Da kniff Emily ihn beherzt in den Po, woraufhin er mit einem gedämpften Schrei hochsprang und zu seinem außerordentlichen Erstaunen tatsächlich schwebte. Amalia ergriff seine Hand und schwebte in Begleitung von Emily und Eduard in Richtung Spiegelsaal. Finn folgte, so leise er konnte. Der Pirat schien tief und fest zu schlafen. Doch als die Gespenster die Tür schon leise geöffnet hatten, brabbelte der Pirat plötzlich los. „Feinde“, schrie er. Die Gespenster hielten entsetzt den Atem an. Schnell huschten sie in den Saal und beobachteten voll Entsetzen, wie Finn im mörderischen Spagat genau über dem Piraten stand und mit ausgestreckten Armen verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. „Gebt ihnen die Peitsche“, verlangte der Pirat Dicke Schweißperlen sammelten sich auf Finns Stirn. Wenn jetzt ein Tropfen dem Piraten ins Gesicht fallen würde, wäre alles vorbei. Aber da verstummte dieser wieder und fiel in ruhigeren Schlaf. Vorsichtig hob Finn sein rechtes Bein und schwang es mit beiden Händen über den schlafenden Körper. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wischte Finn sich die Schweißperlen von der Stirn. Tausendfach wiederholten die unzähligen großen und kleinen Spiegel, die hier versammelt waren, das leuchtende
Flackern der Kristalllüster, die den kreisrunden Saal erleuchteten. „Da wären wir also“, brach Herr Dreistein das Schweigen. „Spiegel, wohin man nur sieht! – Und welcher ist nun der Gespensterspiegel?“ „Ich hab die Geschichte vom Gespensterspiegel schon in der Wiege erzählt bekommen. Ich kenne sie fast auswendig“, erklärte Emily. „Äußerlich sieht der Spiegel aus wie jeder andere auch, erst wenn man vor ihm steht, erkennt man seine Besonderheit – Aber Vorsicht! Fasst die Oberflächen der Spiegel nicht an!“ „Richtig!“, pflichtete Eduard ihr bei. „Na, dann, los geht’s!“, sagte Amalia. Eilig schwärmten die Freunde aus und unterzogen jeden Spiegel einer genauen Untersuchung. Es gab Wandspiegel, Kommodenspiegel, Taschenspiegel, Puderdosenspiegel und, und, und. „Ich kann an den Spiegeln nichts Besonderes entdecken“, schimpfte Eduard, nachdem er schon eine Vielzahl von Spiegeln begutachtet hatte. „Habt ihr auch die Rahmen genau untersucht?“, fragte Finn und trat neben Eduard und Emily, die sich gerade hingebungsvoll einem aufwendig verzierten, großen Wandspiegel widmeten. „Vielleicht gibt es irgendeinen versteckten Mechanismus, den man betätigen muss!“ „Davon hat Fräulein Böhmer aber nichts gesagt“, erwiderte Eduard.
„Dennoch ist das eine Möglichkeit, die man berücksichtigen sollte“, urteilte Herr Dreistein und baute sich vor dem Spiegel auf. Er starrte hinein. Er konnte nicht verstehen, was er da sah. Immer wieder schaute er fragend zwischen dem Spiegelbild, Finn und den beiden kleinen Gespenstern, die neben ihm standen, hin und her. „Was ist denn mit Ihnen los, Herr Dreistein?“, fragte Amalia. „Sie schauen so seltsam.“ „Emily, Eduard und ich haben kein Spiegelbild!“, wunderte sich der Wissenschaftler. „Nur Finn ist im Spiegel zu sehen.“ Dann schnipste er mit den Fingern und rief hocherfreut: „Das muss der
Gespensterspiegel sein. Seine Besonderheit liegt darin, dass er nicht jeden spiegelt!“ „Aber nein“, kicherte Amalia, „das ist vollkommen normal. Gespenster haben kein Spiegelbild. Das ist nun mal so. – Nein, der Gespensterspiegel muss irgendetwas Schreckliches zeigen, sonst hätte sich doch das böse Gespenst nicht so erschreckt“, gab Amalia zu bedenken. Aber Herrn Dreistein beschäftigte ein ganz anderer Gedanke. „Also scheine ich tatsächlich ein Gespenst zu sein“, überlegte er laut. „Obwohl natürlich ein Beweis alleine nicht ausreicht!“ Jetzt hatte Eduard aber endgültig genug von dem ewig zweifelnden Wissenschaftler. Er baute sich vor ihm auf und sagte: „Sie sind ein Gespenst! Und dafür gibt es mehr als einen Beweis: Erstens können Sie einem anderen Gespenst einen wirksamen Kinnhaken verpassen, zweitens können Sie, ob Sie wollen oder nicht, schweben und drittens haben Sie kein Spiegelbild. Also, was sind Sie? – Nichts anderes als ein Gespenst!“ Zum Erstaunen der Kinder fing Herr Dreistein urplötzlich an, im Kreis zu tanzen, wobei er immer wieder hocherfreut rief: „Ich bin ein Gespenst! Ich bin ein Gespenst!“ Die Kinder warfen sich fragende Blicke zu. Was war denn in den Wissenschaftler gefahren?
„Ewig und hundert Tage – Pardon – Nächte kann ich lesen und forschen und – nicht zu vergessen spuken!“, freute sich Herr Dreistein. Damit stieß er sich vom Boden ab und schwebte unter freudigen Ausrufen durch den Spiegelsaal. „Nein, nicht!“, rief Amalia noch gedämpft, aber da war es auch schon zu spät. Da Herr Dreistein keinerlei Übung im Steuern oder in der Regulierung der Schwebegeschwindigkeit hatte, konnte er einem der Lüster nicht mehr ausweichen und donnerte mit beträchtlicher Geschwindigkeit dagegen. Entsetzt beobachteten die Kinder, wie der Lüster schnell hin und her schaukelte, krachend aus der Verankerung riss und donnernd auf den Boden schlug. „Verdammt“, entfuhr es Emily. „Schnell, wir müssen hier weg. Das hat man bestimmt in der ganzen Burg gehört“, rief Finn. Emily und Eduard hoben gleichzeitig vom Boden ab und schwebten zu Herrn Dreistein, der vergeblich versuchte, dem nächsten Lüster auszuweichen. Noch bevor die beiden Freunde den fliegenden Wissenschaftler erreicht hatten, krachte der zweite Lüster scheppernd auf den Steinboden. Finn warf Amalia einen verzweifelten Blick zu. „Schnell“, brüllte Amalia über den Krach hinweg Finn zu. „Klettere auf meinen Rücken!“ „Ich bin doch viel zu schwer für dich“, schrie Finn zurück.
„Jetzt mach schon!“, befahl Amalia. Sie nahm Finn huckepack und stieß sich schwankend vom Boden ab. Eduard und Emily war es mittlerweile auch gelungen, Herrn Dreistein einzufangen und ins Schlepptau zu nehmen. Gemeinsam mit Amalia und Finn schwebten sie auf den Ausgang zu. Da flog auch schon die Tür auf und der Pirat, der im Korridor geschlafen hatte, stürmte mit gezücktem Dolch in den Saal hinein. In allerletzter Sekunde schafften sie es, sich unentdeckt hinter der aufschwingenden Tür zu verstecken. Als der Pirat die zerschlagenen Lüster auf dem Boden liegen sah, zog er sich langsam rückwärts gehend wieder zurück. Erst als er den Saal verlassen hatte und wie wild über den Korridor davonjagte, drang sein lautes Gebrüll durch die Gespensterschule: „Feinde! – Alle Mann an Deck!“ „Jetzt aber schnell“, zischte Amalia. So schnell sie konnten, flüchteten die Freunde aus dem Saal hinaus. Aber da hörten sie auch schon lautes Geschrei und schwere Schritte aus allen Richtungen auf sie zu jagen.
„Nichts wie weg hier!“, befahl Eduard und zerrte Herrn Dreistein und Emily unsanft hinter sich her den Gang hinunter. „Bleib hier!“, stoppte Amalia den Poltergeist, der wie angewurzelt in der Luft stehen blieb. „Du läufst ihnen direkt in die Arme.“ „Aber wir können doch nicht einfach auf sie warten“, flehte Eduard verzweifelt. „Müssen wir auch nicht“, meldete sich Finn zu Wort, der den Kopf tief in den Nacken gelegt hatte und nach oben starrte. Als die anderen seinem Blick folgten, entdeckten sie zu ihrer großen Freude, dass sich direkt über ihnen eine Glaskuppel befand, deren
Ende im Dunkeln lag. Augenblicklich schwebten die Freunde zur Glaskuppel hinauf und tauchten in die Dunkelheit ein. Kaum waren sie in Sicherheit als auch schon das hohle Pock, Pock, Pock die Ankunft des Piratenkapitäns verkündete. Gefolgt von unzähligen Piraten betrat er den Spiegelsaal. Nachdem die Kinder eine ganze Weile in der Glaskuppel ausgeharrt hatten, flüsterte Emily: „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und abhauen!“ Aber dafür war es bereits zu spät. Denn schon trat Kapitän Pazifico mit seinen Gefolgsleuten wieder auf den Gang hinaus. „Pssst!“, zischte Finn leise und die Freunde spitzten die Ohren, um besser hören zu können, was dort unten vor sich ging. Ein Pirat trat neben den Kapitän und berichtete: „Melde gehorsamst, der Saal ist gespenster- und gespensterspiegelleer!“ „Mastbaum und Enterhaken!“, klang die wütende Stimme des Kapitäns in die Kuppel hinauf. Plötzlich hörte Amalia, wie Emily einen unterdrückten Ausruf des Entsetzens ausstieß. Fast gleichzeitig sah sie, wie ein kreisrunder, goldener Gegenstand unweigerlich in Richtung Boden sauste. Mit einem leisen Klirren schlug er direkt vor dem Holzbein des Piratenkapitäns auf dem Boden auf. Die Freunde hielten gespannt den Atem an. Pazifico bückte sich umständlich und hob den Gegenstand auf. Es war einer von Emilys Ohrringen. Der Piratenkapitän drehte ihn hin und her und betrachtete ihn von allen Seiten. Nur ganz kurz
schaute er zur Glaskuppel hinauf. Aber als die Freunde gerade dachten, er hätte sie entdeckt, steckte der Piratenkapitän den Ohrring wortlos in seine Jacke und befahl: „Folgt mir, wir müssen beratschlagen!“ Damit verließen die Piraten angeführt von ihrem Kapitän den Gang und Stille kehrte ein. „Glück gehabt!“, raunte Eduard erleichtert. „Was werden die Piraten jetzt tun?“, keuchte Amalia, die schwer an Finn zu tragen hatte. „Suchtrupps aussenden“, antwortete Emily düster. „Trotzdem müssen wir unsere Suche fortsetzen“, entschied Amalia. „Aber vorsichtig!“ Damit schwebten die Freunde wieder aus der Glaskuppel herab und nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Luft rein war, folgten sie dem Gang in die entgegengesetzte Richtung. „Ich hätte einen Vorschlag“, sagte Herr Dreistein, der bis jetzt schuldbewusst geschwiegen hatte. „In der Bibliothek gibt es ein Buch über die Geschichte der Schule. Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen, es zu lesen, aber vielleicht findet sich darin ein Hinweis auf den Verbleib des Spiegels!“ „Das ist eine gute Idee“, urteilte Finn. „Finden Sie denn von hier aus den Weg?“, fragte Emily. „Ich für meinen Teil hab nicht die geringste Ahnung, wo wir sind.“ Der Wissenschaftler dachte einen Moment scharf nach und sagte dann: „Doch, ich glaube, ich weiß, wo wir lang müssen.“ Nun dirigierte sie Herr Dreistein
treppauf und treppab und eine Vielzahl von Gängen entlang. Von den Piraten war weit und breit weder etwas zu hören, noch zu sehen, sodass sie ohne weitere Zwischenfälle oder Umwege machen zu müssen, den großen Saal erreichten. „Meine Güte, Finn“, stöhnte Amalia, als sie hinter Emily und Eduard, die Herrn Dreistein hinter sich herzogen, mit Finn auf dem Rücken an der großen Standuhr vorbei zur Empore hinaufschwebte, „du bist ja schwerer als ein Elefant!“ „Stop! Stop!“, brüllte Finn ihr da in voller Lautstärke ins Ohr. „Da war was!“ „Bist du von Sinnen?“, schrie Amalia zurück und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über ihr rechtes Ohr. „Ich bin oder war noch nicht taub!“ Aber anstatt zu antworten, zerrte Finn wie wild an Amalias linker Schulter und versuchte sie in Richtung Standuhr zu lenken. Schließlich gab Amalia ihm nach und schwebte zur Standuhr zurück. „Hat unser Menschenkind etwa noch nie eine alte Standuhr gesehen?“, fragte Eduard gereizt und folgte mit Emily und Herrn Dreistein den beiden anderen. Jetzt schwebten sie alle auf Höhe des Ziffernblattes und wussten bis auf Finn gar nicht so recht, was sie dort sollten. „Bingo!“, frohlockte Finn und hüpfte vor Begeisterung auf Amalias Rücken auf und ab. „Hör auf zu zappeln!“, schimpfte Amalia. „Was ist denn nur los mit dir?“
„Der Gespensterspiegel!“, rief Finn triumphierend. „Ich seh keinen Spiegel“, erwiderte Eduard gelangweilt. „Guckt doch“, forderte Finn die anderen auf. „Da!“ Damit zeigte er ungeduldig auf das Ziffernblatt der Standuhr. Jetzt sahen es auch die anderen. Das Ziffernblatt war nichts anderes als ein Spiegel. Aber in diesem Spiegel hatten die Gespenster ein Spiegelbild, während Finn nicht zu sehen war. „Der Gespensterspiegel!“, hauchte Amalia. Wie gebannt starrten die Gespenster ihre Spiegelbilder an. Immerhin hatten sie sich schon seit Jahrhunderten nicht mehr in einem Spiegel betrachten können. Eduard und Emily ließen vor lauter Schreck Herrn Dreisteins Hände los, sodass der Wissenschaftler wie ein Heißluftballon auf dem Rücken liegend zur Decke hinauftrieb. Dann flogen sie näher an die Uhr heran und montierten ganz vorsichtig den Spiegel heraus. Sie lehnten die Scheibe gegen die Mauer und musterten ihre Spiegelbilder von oben bis unten. „Das war es also, was das böse Gespenst so sehr erschreckt hat – sein eigenes Spiegelbild“, schlussfolgerte Amalia. Schließlich drängte Finn: „Ihr habt euch jetzt lang genug bewundert. Lasst uns den Spiegel aus der Schule schaffen, bevor…“ Weiter kam er nicht, denn plötzlich schrie Herr Dreistein von der Decke herab: „Piraten!“ Finn und die Gespenster waren so sehr in den Bann des Gespensterspiegels gezogen worden,
dass sie überhaupt nicht bemerkt hatten, wie sie von den Piraten eingekreist worden waren. Überall standen sie: auf der Galerie, auf der Treppe und rings um den großen Saal herum. Da löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit und kein anderer als der Piratenkapitän höchstpersönlich schwebte langsam zu ihnen herüber. „Bravo!“, klatschte er hämisch Beifall und landete neben den Freunden. „Es ist zu freundlich von euch, dass ihr für mich den Gespensterspiegel gefunden habt!“ Langsam umkreiste der Piratenkapitän die Freunde und das hohle Pock, Pock, Pock seines Holzbeines klang bedrohlich durch den Saal. Dann blieb er vor Emily stehen und verbeugte sich mit gespielter Unterwürfigkeit. „Emily, wie schön dich wiederzusehen“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Ach, ich glaube, du hast etwas verloren, das du bestimmt gerne wiederhaben möchtest.“ Damit griff er in seine Jackentasche und förderte Emilys Ohrring zutage. Er warf den Ohrring mehrmals in die Luft und fing ihn wieder auf, bevor er ihn Emily in die Hand drückte. „Als ich deinen Ohrring erkannte, wusste ich sofort, mit wem ich es zu tun hatte. Mit dem Piratenmädchen, Emily, das auf die Seite der guten Gespenster gewechselt hat. Da du aber niemals so dumm gewesen wärest die Lüster zu ruinieren, war
mir auch klar, dass du nicht alleine warst. Also habe ich beschlossen euch zu folgen, um herauszubekommen, ob ihr den Gespensterspiegel gefunden habt oder nicht und was ihr vorhattet“, erklärte Pazifico. Er begann wieder die Freunde zu umkreisen und sie dabei immer mehr zusammenzutreiben. In dem Bemühen den Boden zu erreichen, stieß sich Herr Dreistein immer wieder unter lautem Fluchen von der Decke ab, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Pazifico blickte zur Decke herauf und fragte Emily höhnisch: „Was ist denn das für eine Schießbudenfigur? – Ich würde ja gerne noch ein Weilchen mit dir über die guten alten Zeiten plaudern, aber leider warten im großen Festsaal einige gute Gespenster auf ihre Hinrichtung und wir wollen doch ihre Geduld nicht unnötig strapazieren!“ Plötzlich packte er Emily am Kragen, schubste sie nach vorn und sagte in einem liebenswürdigen Tonfall: „Die Damen zuerst!“ Als Emily sich nicht von der Stelle rühren wollte, brüllte der Kapitän: „Geh durch den Spiegel, los!“ Emily biss sich auf die Unterlippe, was sollte sie nur tun? Da bemerkte Amalia, wie Eduard anfing, an seinem Kopf herumzuschrauben. „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um das Kopfabdrehen zu üben“, zischte sie Eduard zu.
„Ganz im Gegenteil, meine Liebe“, sagte Eduard, der zu seinem eigenen Erstaunen nach einigen Fehlversuchen tatsächlich seinen Kopf in der Hand hielt Triumphierend schwang er mit der rechten Hand seinen Kopf wie eine Bowling-Kugel. „Brauchst du eine Extraeinladung?“, brüllte der Kapitän. Gerade als er wutentbrannt einen Schritt auf Emily zumachte, schoss Eduards Kopf mit einem lauten „Attacke!“ auf den Kapitän zu. Emily warf sich blitzschnell auf den Boden, während Pazifico einen Schritt zur Seite machte, um dem Kopf auszuweichen. Dabei trat er mit einem Fuß in den Gespensterspiegel hinein. Vergeblich versuchte er seinen Fuß aus dem Spiegel zu ziehen. Es war, als ob er im Sumpf feststecken würde. Je mehr er sich bemühte, seinen Fuß zu befreien, desto tiefer sank er in den Spiegel hinein. Herr Dreistein unternahm einen letzten verzweifelten Versuch. Er stieß sich mit aller Gewalt von der Decke ab, drehte sich blitzschnell um und schoss mit flach an den Körper angelegten Armen auf den Piratenkapitän zu. Bevor er unsanft auf dem Boden aufschlug, gelang es ihm noch in allerletzter Sekunde, den Schlüsselbund aus der Schärpe des versinkenden Kapitäns zu reißen. Als die Piraten sahen, was mit ihrem Kapitän geschehen war, stoben sie wild schreiend auseinander und rannten, so schnell ihre Füße sie trugen, aus der Eingangshalle hinaus.
Fassungslos starrten Amalia, Emily und Finn auf den Spiegel, als sie plötzlich ein fernes Jammern vernahmen. „Kann mir mal jemand helfen – bitte?“ Das war Eduard, aber wo war er? Herr Dreistein rappelte sich auf und zuckte erschreckt zusammen, als er Eduards kopflosen Körper auf sich zu wanken sah. „Aber mein Junge, wo ist denn nur dein Kopf geblieben?“, fragte der Wissenschaftler, dann rief er begeistert: „Interessant! Außerordentlich interessant!“ „Ja, ja“, ertönte Eduards ferne Stimme. „Ich weiß!“ Amalia eilte zu Eduards Körper herüber und nahm ihn bei der Hand.
„Wo ist denn dein Kopf gelandet?“, wollte sie wissen. „Ich weiß nicht! Um mich herum ist alles dunkel“, war die Antwort Finn verfolgte mit den Augen die Flugbahn, die Eduards Kopf genommen hatte und stürzte dann zu einer Tür, die zu einem kleinen Holzverschlag unter der großen Freitreppe führte. „Hat’s weh getan?“, fragte er mitfühlend, als er Eduards Kopf aus der hintersten Ecke der kleinen Kammer hervorkramte. „Nicht der Rede wert“, antwortete Eduard tapfer und lächelte Finn freundlich an. Während Finn Eduards Kopf zu dessen Körper hinübertrug, fragte Eduard: „Wo ist Pazifico? Was ist passiert?“ „Der Spiegel hat ihn verschluckt“, antwortete Amalia. „Und die Piraten sind auf und davon!“ Finn drückte Eduard dessen Kopf in die Hand und sagte: „Na, dann mach mal!“ Aber so sehr Eduard sich auch bemühte, der Kopf ließ sich einfach nicht wieder anschrauben. Schließlich klemmte er sich den Kopf unter den Arm und entschied fröhlich: „Das hat so keinen Zweck. Ich brauche fachmännische Hilfe. Lasst uns in den Festsaal gehen und die anderen befreien. Dann kann Ritter Ethelbert sich um meinen Kopf kümmern!“ „Aber wir dürfen den Spiegel nicht vergessen“, sagte Amalia. Gemeinsam mit Emily hob sie ihn behutsam auf und trugen ihn gemeinsam wie eine Trophäe aus der Halle. Als sie an einem der zahllosen
Fenster vorübergingen, konnten sie gerade noch sehen, wie das Piratenschiff von der Burg ablegte und schnell das Weite suchte. „Ich schätze, die haben vorläufig genug von der Gespensterschule“, lachte Finn, dann wandte er sich an Herrn Dreistein: „Was ich noch sagen wollte, ihr Sturzflug war wirklich filmreif. Aber war das Absicht oder ein Versehen?“ Da zog Herr Dreistein triumphierend den Schlüsselbund hervor, den er dem Piratenkapitän gemopst hatte. „Absicht“, sagte er strahlend vor Stolz.
„Herr Dreistein“, sagte Eduard, „auch wenn Sie bestimmt noch viel lernen müssen, das haben Sie genial gemacht!“ „So wie es aussieht habe ich ja noch viel Zeit um ein richtiges Gespenst zu werden“, lachte Herr Dreistein, „und ich muss zugeben, dass ich mich schon richtig darauf freue. – Die Wissenschaft kann wohl doch nicht alles erklären!“ Unter fröhlichem Gelächter stürzten die Freunde in den großen Festsaal, wo sie mit lauten Freudenrufen begrüßt wurden. Während Herr Dreistein die Festteilnehmer von ihren Ketten befreite, berichteten die Gespensterkinder ihren staunenden Zuhörern, was sich ereignet hatte. Danach brachen alle in Jubelrufe aus. Der Direktor schritt auf die Kinder zu und rückte sich seine sternenförmige Brille zurecht während er zufrieden auf sie hinabsah. „Ich bin ausgesprochen stolz auf Sie. Sie alle haben der Schule und allen guten Gespenstern einen großen Dienst erwiesen“, lobte er die Gespensterkinder. „Und Sie, Fräulein Esperanza, haben mir eine große Freude gemacht“, sagte der Direktor. „Viele waren dagegen, Sie auf der Schule aufzunehmen. Sie waren der Ansicht dass Sie sich nur um die Aufnahme beworben hätten, um hier für die Piraten zu spionieren. Ich bin froh, dass Sie diese Zweifler eines Besseren belehrt haben!“ Nun wandte sich der Direktor Eduard und Amalia zu und sagte: „Auch Sie haben Mut und Besonnenheit bewiesen. – Aber, ich glaube, Sie, Freiherr von
Holperdingen, sollten jetzt schleunigst Ritter Ethelbert aufsuchen. Das mit Ihrem Kopf sollte so schnell wie möglich wieder in Ordnung gebracht werden!“ Eduards Kopf nickte zustimmend unter seinem Arm. Dann hob Eduard mit beiden Händen den Kopf hoch über die Gesellschaft und suchte den Saal nach Ritter Ethelbert ab. Als er ihn endlich in einer entlegenen Ecke entdeckt hatte, machte er sich sofort auf den Weg. Schließlich wollte der Direktor sich auch bei Finn bedanken. Aus der Erzählung der Kinder wusste er bereits, wen er da vor sich hatte. „Ich bin Alexander Stuart und Sie müssen Finn, das Menschenkind, sein“, sagte der Direktor freundlich. „Ja“, antwortete Finn etwas verlegen und machte einen Diener. „Ich hoffe, Sie sind Amalia und mir nicht allzu böse, weil Amalia mich in die Schule geschmuggelt hat!“ „Aber wie könnte ich?“, rief der Direktor. „Normalerweise ist den Menschen der Zutritt zur Gespensterschule strengstens untersagt. Aber in Ihrem Fall bin ich froh, dass Gräfin Fidlin gegen die Schulregeln verstoßen hat. Ich ernenne Sie hiermit aufgrund ihrer außerordentlichen Verdienste zum Gespenst ehrenhalber. Sie werden uns immer ein willkommener Gast sein!“ „Danke!“, krächzte Finn mit heiserer Stimme und lief unter seinem Puder dunkelrot an.
„Und ich dachte, niemand würde den Gespensterspiegel in der alten Standuhr entdecken. – Na ja, da werde ich mir jetzt wohl ein neues Versteck ausdenken müssen“, mit diesen Worten nahm der Direktor Amalia und Emily den Gespensterspiegel aus den Händen und entschwand in der Menge. „So gerne ich noch ein Weilchen bleiben würde, es wird leider Zeit für mich“, bedauerte Finn. „Für wen wird es Zeit?“, fragte Eduard und gesellte sich zu seinen Freunden. Er kippte den Kopf, der sich jetzt wieder dort befand, wo er hingehörte, nach links und rechts, nach vorne und hinten. „Auch wenn Ritter Ethelbert ein Lackaffe ist Köpfe anschrauben kann er!“, erzählte er glücklich. „Ein Ritsch, ein Ratsch und schon saß mein Kopf wieder an der richtigen Stelle. Fantastisches Gefühl nicht mehr kopflos zu sein!“ „Ich muss nach Hause“, erklärte Finn. „Was meinst du, was los ist, wenn meine Eltern morgen früh nur ein leeres Bett vorfinden!“ „Eltern!“, stöhnte Eduard verständnisvoll auf. „Da ist wohl nichts zu machen“, urteilte Amalia. „Komm, Finn, ich flieg dich schnell nach Hause“, sagte sie und zog Finn mit sich fort. Doch da stellten sich ihr Emily und Eduard in den Weg. „Wir kommen selbstverständlich mit“, entschied Emily. „Dann muss aber auch Herr Dreistein mitkommen“, sagte Finn. „Er wird sich über seinen ersten Flug
sicherlich freuen. Ich höre ihn jetzt schon: Interessant, außerordentlich interessant!“ Die Kinder brachen in schallendes Gelächter aus. Kurze Zeit später flogen zwei Truhen mit fünf Passagieren an Bord am Nachthimmel dahin und eine Stimme rief dem Mond zu: „Interessant! Außerordentlich interessant!“
Mein Name ist Amalia Gräfin Fidlin, ich bin seit 450 Jahren ein Gespenst und wie es sich für ein richtiges Gespenst gehört natürlich durchsichtig. Ich besuche die Königliche Schule für angehende Schlossgespenster, denn ich möchte ein Schlossgespenst werden. Normalerweise schwebe ich durch die Gänge und Korridore, aber wenn ich eine längere Reise vor habe, fliege ich mit meiner Wäschetruhe. Meine Freunde sagen immer, ich sei sehr wagemutig, lustig und manchmal ein bisschen (zu) forsch.
Ich bin Eduard Freiherr von Holperdingen und kein gewöhnliches Gespenst sondern ein halber Poltergeist Ich kann nicht nur alles, was Gespenster, sondern auch das, was Poltergeister können. Gespenster sind durchsichtig. Poltergeister sind immer unsichtbar. Und ich kann mich je nach Belieben sichtbar oder unsichtbar machen. Auch ich bin im Alter von zehn Jahren zum halben Gespenst und halben Poltergeist geworden. Amalia und ich gehen in die gleiche Klasse, denn auch ich möchte ein Schlossgespenst werden – allerdings ein Schlossgespenstpoltergeist!
Zu Lebzeiten war ich Ritter Ethelbert, Ritter der Tafelrunde des Königs Artus. Seit vielen hundert Jahren bin ich nun aber Gespenst und Lehrer an der Königlichen Schule für angehende Schlossgespenster. Dort unterrichte ich das Fach Gespenstisch Gespenstern. Einige Leute behaupten von mir, ich sei oberflächlich, eitel und angeberisch. Ph – der blanke Neid! Es kann sich halt nicht jeder rühmen, ein Ritter der Tafelrunde gewesen zu sein…
Ich bin Emily Esperanza und bin ein Piratengespenst Ich war neun Jahre alt, als das Piratenschiff meines Vaters in einem gewaltigen Sturm vor der Küste Südamerikas versank. Seitdem bin ich ein Gespenst Ich liebe die See und das Piratenleben. Zwar besuche ich die Königliche Schule für angehende Schlossgespenster, aber ich weiß noch nicht, ob ich danach wirklich ein Schlossgespenst werden will. Vielleicht fahre ich doch lieber wieder zur See und kapere Schiffe…
Ich heiße Finn und bin kein Gespenst, sondern ein ganz normaler 10-jähriger Junge, der mit seinen mehr oder weniger normalen Eltern in einem ganz normalen Haus wohnt. Bevor Amalia zur Gespensterschule gegangen ist, hat sie auf unserem Dachboden gewohnt und seither sind wir die besten Freunde. Wir beide gehen zusammen durch dick und dünn.
Darf ich mich vorstellen: Roderick Dreistein, zu Lebzeiten Wissenschaftler. Mein Dasein fand vor gut 100 Jahren sein abruptes Ende, als mir ein wissenschaftlicher Versuch misslang. Seitdem habe ich an der Königlichen Schule für angehende Schlossgespenster die Aufgabe des Schulgespenstes übernommen. Das ist sehr angenehm, denn ich habe nicht viel zu tun und kann die ganze Nacht in der Bibliothek sitzen, lesen und forschen. Und das reicht mir zum glücklich sein.